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German Pages 260 [261] Year 2010
De Gruyter Studium Elena Smirnova / Tanja Mortelmans Funktionale Grammatik
Elena Smirnova / Tanja Mortelmans
Funktionale Grammatik Konzepte und Theorien
De Gruyter
ISBN 978-3-11-020847-4 e-ISBN 978-3-11-022387-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort In den letzten Jahrzehnten hat die linguistische Theorie viele entscheidende Neuerungen und Entwicklungen erfahren. Eine besondere Stellung unter all diesen Entwicklungen nehmen die sogenannten funktionalen Sprachbeschreibungen ein. Angefangen mit der Funktionalen Grammatik von Simon Dik in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, hat sich das Feld der funktionalen Ansätze zur Sprachbeschreibung in den letzten Dekaden deutlich ausgeweitet, wobei sich unterschiedliche Richtungen innerhalb des ‚funktionalistischen‘ Paradigmas entwickelt haben. Das vorliegende Buch stellt die wichtigsten Strömungen dieser Entwicklung vor: die Funktionale Grammatik von Dik (Kapitel 2), die Systemisch-Funktionale Grammatik von Halliday (Kapitel 3), die Kognitive Grammatik von Langacker (Kapitel 4), die Konstruktionsgrammatik von Goldberg (Kapitel 5) und die Grammatikalisierungstheorie (Kapitel 6). Sie gehören zu den einflussreichsten Theorien der letzten vierzig Jahre. Im Anschluss an eine Vorstellung der Grundlagen und der Architektur des jeweiligen Ansatzes werden einige Aufgaben präsentiert, die im Unterricht verwendet werden können. Die Aufgaben sind so konzipiert, dass sie jederzeit von den Lehrpersonen modifiziert und erweitert werden können, sodass die speziellen Bedürfnisse der Lerngruppe berücksichtigt werden. Das Buch richtet sich in erster Linie an Studierende der Sprachwissenschaften und den Philologien. Es wird vorausgesetzt, dass die Leser bereits über linguistische Grundkenntnisse verfügen, die bspw. im Rahmen eines Einführungskurses im sprachwissenschaftlichen Studium erworben werden. Es wird von der Leserschaft allerdings kein spezielles linguistisches Wissen verlangt, sodass das Buch auch für viele Menschen von Interesse sein
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Vorwort
könnte, die sich für die neueren Entwicklungen der linguistischen Theorie interessieren. Den Anstoß zu dieser Einführung gab ein an der Leibniz Universität Hannover gehaltenes Seminar in der deutschen Sprachwissenschaft mit dem Titel „Moderne Sprachtheorien“. Wir möchten insbesondere Alihan Kabalak für die kritische Lektüre des Buches danken. Elena Smirnova Tanja Mortelmans Hannover / Antwerpen September 2009
Inhalt Vorwort.......................................................................................... v
1.
Einleitung ........................................................................... 1
1.1.
Was ist Sprache? ..........................................................................1 1.1.1. Sprache als Organismus...................................................3 1.1.2. Sprache als Organ .............................................................3 1.1.3. Sprache als Werkzeug ......................................................4 1.1.4. Sprache als Tätigkeit.........................................................5 1.1.5. Sprache als System............................................................6 Grammatiktheorie: von de Saussure bis Chomsky ................8 1.2.1. Strukturalismus .................................................................8 1.2.2. Valenz- und Dependenztheorie .....................................9 1.2.3. Generative Grammatik ................................................. 11 Formal versus funktional ........................................................ 13 Literatur ..................................................................................... 15
1.2.
1.3. 1.4.
2.
Funktionale Grammatik ................................................. 17
2.1. 2.2.
Allgemeines zur Funktionalen Grammatik .......................... 17 Satzanalyse ................................................................................. 21 2.2.1. Prädikate und Terme ..................................................... 23 2.2.2. Prädikation ...................................................................... 26 2.2.3. Proposition ..................................................................... 30 2.2.4. Sprechakt......................................................................... 32 2.2.5. Syntaktische Funktionen .............................................. 35 2.2.6. Pragmatische Funktionen ............................................. 38 2.2.7. Ausdrucksregeln............................................................. 40 Schlussbemerkungen ............................................................... 43 Aufgaben ................................................................................... 45 Literatur ..................................................................................... 46
2.3. 2.4. 2.5.
viii
Inhalt
3.
Systemisch-funktionale Grammatik.............................. 49
3.1. 3.2.
Zur systemisch-funktionalen Sprachauffassung .................. 50 Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik ............... 53 3.2.1. Struktur............................................................................ 54 3.2.2. System.............................................................................. 57 3.2.3. Stratifikation ................................................................... 61 3.2.4. Instanziierung ................................................................. 64 3.2.5. Metafunktionen.............................................................. 66 Satzanalyse ................................................................................. 68 3.3.1. Satz als Repräsentation ................................................. 73 3.3.2. Satz als Nachricht .......................................................... 77 3.3.3. Satz als Interaktion ........................................................ 79 Schlussbemerkungen ............................................................... 85 Aufgaben ................................................................................... 86 Literatur ..................................................................................... 89
3.3.
3.4. 3.5. 3.6.
4.
Kognitive Grammatik ..................................................... 91
4.1. 4.2. 4.3.
4.4. 4.5. 4.6.
Zur Sprachauffassung in der Kognitiven Grammatik........ 93 Aufbau der Kognitiven Grammatik .................................... 105 Grammatik .............................................................................. 109 4.3.1. Wortarten ...................................................................... 110 4.3.2. Nominalphrasen und finite Sätze.............................. 118 4.3.3. Satzstruktur ................................................................... 122 Schlussbemerkungen ............................................................. 124 Aufgaben ................................................................................. 126 Literatur ................................................................................... 128
5.
Konstruktionsgrammatik .............................................131
5.1. 5.2.
Allgemeines zur Konstruktionsgrammatik ........................ 132 Aufbau der Konstruktionsgrammatik ................................. 135 5.2.1. Konstruktion ................................................................ 137 5.2.2. Verben und Konstruktionen...................................... 141 5.2.3. Konstruktionsbedeutung ............................................ 145 5.2.4. Relationen zwischen Konstruktionen ...................... 149 Kombination von Verben mit Konstruktionen ................ 156 5.3.1. Partizipanten- versus Argumentrollen ..................... 157 5.3.2. Fusionierung der Rollen ............................................. 160
5.3.
Inhalt
ix
5.4. 5.5. 5.6.
Schlussbemerkungen ............................................................. 166 Aufgaben ................................................................................. 168 Literatur ................................................................................... 170
6.
Grammatikalisierungstheorie .......................................173
6.1.
6.3. 6.4. 6.5. 6.6.
Zur grammatikalisierungstheoretischen Sprachauffassung.................................................................... 174 Wie entsteht Grammatik? ..................................................... 177 6.2.1. Grammatische versus lexikalische Zeichen ............. 178 6.2.2. Grammatikalisierungsskalen ...................................... 186 6.2.3. Grammatikalisierungskanäle ...................................... 193 6.2.4. Mechanismen des Wandels ........................................ 196 Beispielanalyse: die Konjunktion weil .................................. 202 Schlussbemerkungen ............................................................. 206 Aufgaben ................................................................................. 208 Literatur ................................................................................... 209
7.
Wie funktional sind funktionale Theorien? ...............213
7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6. 7.7.
Funktion .................................................................................. 213 Interaktion und Sprechverhalten ......................................... 215 Sprachwandel .......................................................................... 217 Typologie und Universalien.................................................. 219 Spracherwerb .......................................................................... 220 Praktische Anwendung.......................................................... 220 Literatur ................................................................................... 221
6.2.
Lösungen ...................................................................................225 Register ......................................................................................249
1. Einleitung 1.1.
Was ist Sprache?
Der Begriff ‚Sprache‘ wird – sowohl im Alltäglichen als auch im Wissenschaftlichen – häufig mehrdeutig verwendet. Wir zögern gewöhnlich nicht, mit dem Wort ‚Sprache‘ eine Vielzahl von unterschiedlichen Phänomenen zu bezeichnen. So ist ein Computer normalerweise mehrerer Programmiersprachen mächtig (z.B. Java, Prolog oder C). Tieren unterstellen wir, mit ihren Artgenossen in einer bestimmten Sprache (z.B. Bienensprache oder Delphinsprache) zu kommunizieren. Menschen können verschiedene Sprachen (z.B. Deutsch oder Französisch) beherrschen, auch wenn sie diese Sprachen eigentlich gar nicht (aus)sprechen (z.B. Gebärdensprache). Im alltäglichen Sinne verstehen wir also unter ‚Sprache‘ eine besondere Form der Interaktion, die zwischen Menschen, Tieren, Maschinen oder auch zwischen Maschinen und Menschen stattfinden kann. Wissenschaftlich, genauer: sprachwissenschaftlich, hat der Begriff ‚Sprache‘ einen viel engeren Umfang. Die Linguistik beschäftigt sich mit dem Phänomen der natürlichen menschlichen Sprache. Die Sprache wird dabei als etwas verstanden, was (i) allen Menschen gemeinsam ist und (ii) den Menschen vom Tier unterscheidet. Das Attribut ‚natürlich‘ grenzt die formalen Sprachen aus (wie z.B. Programmiersprachen, Maschinensprachen), die von Menschen entwickelt werden und auf der natürlichen menschlichen Sprache basieren. Aber auch in diesem Verständnis bleibt der Begriff ‚Sprache‘ mehrdeutig. Zum einen kann darunter die Menge aller natürlichen menschlichen Sprachen aufgefasst werden, samt ihren regionalen (d.h. dialektalen) und sozialen Varietäten und auch samt ihren sukzessiven historischen Entwicklungsphasen. Zum anderen kann
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Einleitung
damit die menschliche Sprachfähigkeit gemeint sein, die auf bestimmten biologischen, kognitiven und soziokulturellen Mechanismen basiert. Zum dritten kann unter ‚Sprache‘ der grammatische Aufbau bzw. die Grammatik einer Sprache verstanden werden, d.h. das abstrakte System (aus Lauten, Morphemen, Wörtern, Wortgruppen, Sätzen usw. samt den Regeln ihrer Kombinatorik) einer konkreten Einzelsprache.1 An dieser Stelle kann bereits vorweggenommen werden, dass es in diesem Buch um Grammatiktheorien gehen wird, die sich als Sprachtheorien einordnen lassen und die Sprache als ein abstraktes System im oben erwähnten Sinne verstehen und beschreiben (wobei die Bindung an eine konkrete Einzelsprache größtenteils zugunsten einer allgemeinen Beschreibung eines – allen Sprachen innewohnenden – abstrakten Sprachsystems aufgegeben wird). Schließlich kann man die Sprache als ein Medium der menschlichen Kommunikation betrachten, d.h. als ein Kommunikationsmittel, das bestimmte interpersonale, soziale und kognitive Bedürfnisse der Menschen erfüllt und durch diese motiviert ist. So erscheint Sprache als „Menge von Sätzen“ (Chomsky 1957), als „Sprachkompetenz eines idealen Sprecher/Hörers“ (Chomsky 1965), als formale Struktur, die künstlichen Sprachen entspricht, so daß beide durch Übersetzung in eine mathematische Sprache beschreibbar sind (Montague 1970), als reaktionsauslösende Lautkette (im klassischen Behaviorismus), als „Organismus“ (junggrammatische Schule des 19.Jahrhunderts), als „Werkzeug“, „geformter Mittler“, „Gerät“ (Bühler). (Hoffmann 2000: 2)
Im Folgenden skizzieren wir in Kürze die wichtigsten Sprachauffassungen, die sich in der linguistischen Tradition der letzten zwei Jahrhunderte finden. In der Geschichte der Sprachwissenschaft haben sie eine wichtige Rolle gespielt. Heute sind sie insofern noch aktuell, als sie die verschiedenen Aspekte des Phänomens ‚natürliche menschliche Sprache‘ beleuchten, die in den verschie_____________ 1
Diese Auffassung von Sprache entspricht in etwa dem Begriff ‚langue‘ oder Sprachsystem bei Ferdinand de Saussure: „Sie ist zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen“ (de Saussure [1916]1967:11).
Was ist Sprache?
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denen Sprachtheorien mal dominant gesetzt werden, mal eher unterbelichtet bleiben. 1.1.1. Sprache als Organismus In den frühen Schriften von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) ist die Auffassung von Sprache als ein Organismus zu finden. So sagt er in seinem Aufsatz „Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung“ aus dem Jahre 1820, die Sprache teile „die Natur alles Organischen, dass Jedes in ihr nur durch das Andre, und alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende Kraft besteht. Ihr Wesen wiederholt sich immerfort“. Am deutlichsten ist die Idee von einem biologischen Organismus ‚Sprache‘ in den Werken von August Schleicher (1821-1868) vertreten, vgl.: Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstanden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen “Leben” zu verstehen pflegt. Die Glottik, die Wissenschaft der Sprache, ist demnach eine Naturwissenschaft; ihre Methode ist im ganzen und allgemeinen dieselbe wie die der übrigen Naturwissenschaften. (Schleicher 1873: 6f.; Hervorhebung ES&TM)
Die Sprache sei ein biologischer Organismus, dessen Ursprung und Existenz völlig unabhängig vom Menschen sei und dessen Entwicklung sich im Sinne der biologischen Evolution von einer Naturwissenschaft Linguistik beschreiben lasse. Diese Auffassung wird seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts von kaum einer Sprachtheorie geteilt. 1.1.2. Sprache als Organ Ebenfalls bei Wilhelm von Humboldt lesen wir: „Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken“ (1836: 426). Für Humboldt bedeutet das im Wesentlichen, dass die Sprache die entscheidende Rolle bei der Formung der Gedanken spielt.
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Einleitung
Laut dieser Auffassung ist die Sprache nicht mehr als ein eigenständiger Organismus gedacht, sondern als ein (Körper-)Teil des Menschen, vergleichbar z.B. mit dem Auge. Die Idee von der Sprache als einem Organ dominiert das Paradigma der Generativen Grammatik (s. Kapitel 1.2.3), entwickelt von Noam Chomsky (geb. 1928). Die Sprachfähigkeit wird hier als eine biologische Komponente des menschlichen Körpers angesetzt, die jedem Menschen angeboren ist. Man spricht hierbei von der sog. Universalgrammatik (UG), d.h. einer Sprachstruktur, die in einem entsprechenden körperlichen Organ gespeichert ist. The faculty of language can reasonably be regarded as a ‚language organ‘ in the sense in which scientists speak of the visual system, or immune system, or circulatory system, as organs of the body. [...] We assume further that the language organ is like others in that its basic character is an expression of the genes. (Chomsky 2000: 4)
Folglich versteht sich die Linguistik in der generativen Tradition nicht als ein autonomes Wissenschaftsgebiet, sondern als ein Teilgebiet der Biologie, die der Psychologie zugrunde liege: Linguistics, conceived as the study of I-language [...] becomes part of psychology, ultimately biology. (Chomsky 1986: 27).
1.1.3. Sprache als Werkzeug Die Auffassung von Sprache als Werkzeug entfernt sich noch weiter von der direkten Verankerung der Sprache im Menschen bzw. im menschlichen Körper. Das Werkzeug Sprache ist nicht mehr ein Teil vom Menschen, sondern ein Kommunikationsmittel, das vom Menschen zu bestimmten Zwecken gebraucht wird. Sprache ist dazu da, mit anderen Menschen zu kommunizieren (und sie dadurch zu beeinflussen, zu manipulieren, zu informieren, gemeinsame Ziele zu verfolgen u.v.a.). Diese, auch oft instrumentalistisch genannte, Position ist z.B. in der Sprachtheorie von Karl Bühler (1879-1963) vertreten: Werkzeug und Sprache gehören nach alter Einsicht zum Menschlichsten am Menschen: Homo faber gebraucht gewählte und ausgeformte Dinge als Zeug und das Zoon politikon setzt Sprache ein im Verkehr mit Sei-
Was ist Sprache?
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nesgleichen […] Die Sprache ist dem Werkzeug verwandt; auch sie gehört zu den Geräten des Lebens, ist ein Organon wie das dingliche Gerät, das leibesfremde materielle Zwischending; die Sprache ist wie das Werkzeug ein geformter Mittler. (Bühler [1934]1990: xxi; Hervorhebung im Original)
Im Bühler‘schen „Organon-Modell“ ist die Sprache demnach ein Organon (griech.: órganon ‚Werkzeug‘), mit dem „einer“ – „dem anderen“ – „etwas über die Dinge“ mitteile. Auch bei Ludwig Wittgenstein (1889-1951), einem der Begründer der linguistischen Pragmatik, ist die Sprache in erster Linie ein Werkzeug, vgl.: Die Sprache ist ein Instrument. Ihre Begriffe sind Instrumente. (Philosophische Untersuchungen §569)
Wittgensteins Auffassung zur Bedeutung sprachlicher Zeichen ist als „die Gebrauchstheorie der Bedeutung“ bekannt. Die Bedeutung eines Wortes bzw. eines sprachlichen Zeichens wird als die Regel seines Gebrauchs in einer bestimmten Sprache L definiert. Das bedeutet, dass der Sprecher, der die Regel des Gebrauchs eines Wortes in der Sprache L kennt, somit die Bedeutung des Wortes beherrscht. Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort). (Philosophische Untersuchungen §11)
1.1.4. Sprache als Tätigkeit Bei Wilhelm von Humboldt finden wir ebenfalls Passagen, in denen die Sprache vordergründig als eine Tätigkeit beschrieben wird: Die Sprache [...] ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen
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Einleitung
Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. (Humboldt 1836: 418)
Wie aus diesem Zitat hervorgeht, ist für Humboldt die Sprache in erster Linie eine Tätigkeit – ‚Energeia‘. Darin besteht für ihn das eigentliche Wesen der Sprache. Auch wenn andere Auffassungen, wie oben gezeigt, in seinem Werk zu finden sind, ist die Idee von der Sprache als eine Tätigkeit bei ihm die grundlegende. Die Sprache ist nach dieser Auffassung eine Tätigkeit, in die sowohl Sprecher als auch Hörer involviert sind. Die Sprachtätigkeit beschränkt sich dabei allerdings nicht auf die tatsächliche Verwendung der Sprache durch Sprecher und Hörer in bestimmten Kommunikationssituationen. Sie sei ein dynamischer Schaffungsprozess von interpersonalen Bedeutungen und habe als solcher zwei grundlegende Ziele: die Erkenntnis und das Kommunizieren,2 vgl.: Auch Sprache ist eine Tätigkeit […]. Die beiden obersten Ziele dieser Tätigkeit sind die kognitive Erfassung der Welt und die Kommunikation mit dem Mitmenschen. (Lehmann 2005: 160)
1.1.5. Sprache als System Der Gedanke, dass Sprache in erster Linie als ein System begriffen werden soll, geht im Wesentlichen auf Ferdinand de Saussure (1857-1913) zurück. Aber schon vor ihm war dieser Gedanke in sprachwissenschaftlichen Studien präsent, wie das folgende Zitat von Georg von Gabelentz (1840-1893) zeigt: Jede Sprache ist ein System, dessen sämtliche Teile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Teile dürfte fehlen oder anders sein, ohne daß das Ganze verändert würde. (Gabelentz 1901: 481)
_____________ 2
Im Hinblick darauf, dass Sprache als Kommunikationsmittel, d.h. als ein Instrument zur Kommunikation, aufgefasst wird (hier: das kommunikative Ziel) deckt sich diese Sprachauffassung mit der Sprachauffassung ‚Sprache als Werkzeug‘ (s. Kapitel 1.1.3).
Was ist Sprache?
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Das Wesen der Sprache liege in der gegenseitigen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile voneinander, was das Ganze zu einem System mache, vgl.: Da die Sprache ein System ist, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und indem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen sich ergeben […] So muß man zur Feststellung des Wertes von einem Fünfmarkstück wissen: 1. daß man es auswechseln kann gegen eine bestimmte Menge einer anderen Sache, z.B. Brot; 2. daß man es vergleichen kann mit einem ähnlichen Wert des gleichen Systems, z.B. einem Einmarkstück, oder mit einer Münze eines andern Systems, z.B. einem Franc. Ebenso kann ein Wort ausgewechselt werden gegen etwas Unähnliches: eine Vorstellung; außerdem kann es verglichen werden mit einer Sache gleicher Natur: einem andern Wort. Sein Wert ist also nicht bestimmt, wenn man nur feststellt, daß es ausgewechselt werden kann gegen diese oder jene Vorstellung, d.h. daß es diese oder jene Bedeutung hat; man muß es auch noch vergleichen mit ähnlichen Werten, mit andern Wörtern, die man daneben setzen kann; sein Inhalt ist richtig bestimmt nur durch die Mitwirkung dessen, was außerhalb seiner vorhanden ist. Da es Teil eines Systems ist, hat es nicht nur eine Bedeutung, sondern zugleich und hauptsächlich einen Wert, und das ist etwas ganz anderes. (de Saussure [1916]1967: 136-138)
Das System Sprache definiert sich also durch die Interdependenz seiner Bestandteile. Die Auffassung ‚Sprache ist ein System‘ ist charakteristisch für das strukturalistische Paradigma des 20. Jahrhunderts (s. Kapitel 1.2.1). Das System kann nicht nur als ein statisches, abgeschlossenes und autonomes Gebilde aufgefasst werden, sondern auch als ein dynamisches, offenes und nicht-autonomes Phänomen. Letztere Position verbindet die oben erwähnte Auffassung von Sprache als ‚Tätigkeit‘ mit der hier dargestellten Konzeption von Sprache als ‚System‘. Auf die Frage jedoch, warum es ein System gibt, läßt sich nur die Antwort geben, daß das System existiert, weil es geschaffen wird. Wenn folglich die Sprache in jedem Augenblick System ist und wir sie in jedem Augenblick ‚verändert finden‘, heißt das, daß sie sich als System wandelt, bzw. systematisch geschaffen wird. Und dieses letzte begreift […] schließlich und endlich mit ein, daß die Tätigkeit, durch die die Sprache geschaffen wird, selbst systematisch ist: ‚dasjenige, wodurch die Sprache Sprache ist‘, ist nicht nur ihre Struktur (die nur die Bedingung ihres
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Einleitung
Funktionierens ist), sondern die Sprechtätigkeit, die die Sprache als Tradition erschafft und erhält. (Coseriu 1974: 236)
1.2.
Grammatiktheorie: von de Saussure bis Chomsky
In diesem Kapitel wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten Grammatiktheorien des 20. Jahrhunderts gegeben. Sie gehen den Modellen, die im Buch vorgestellt werden, nicht nur chronologisch, sondern auch theoretisch voraus. 1.2.1. Strukturalismus Als Begründer des sog. Strukturalismus und der modernen Sprachwissenschaft überhaupt gilt Ferdinand de Saussure (18571913), dessen Vorlesungen posthum als „Cours de linguistique générale“ von seinen Schülern herausgegeben wurden. De Saussure etablierte die Unterscheidung zwischen Sprachsystem (langue) und Sprechtätigkeit bzw. Sprechen (parole). Das Sprachsystem ist ein überindividuelles Phänomen, das sich im individuellen Sprechen manifestiert. Das Sprachsystem kann aber losgelöst vom Sprechen untersucht werden, auch wenn nur das Sprechen direkt beobachtet werden kann. Die Sprachwissenschaft solle sich also der Betrachtung des Sprachsystems widmen, in dem alle Zeichen in Beziehung zueinander stehen (vgl. auch Kapitel 1.1.5). Die Sprache ist nach de Saussure ein System von Zeichen, die eine binäre innere Struktur aufweisen. Zeichen haben zwei Seiten – Lautbild (signifiant) und Vorstellung (signifié) – die untrennbar miteinander verbunden sind. Die Beziehung zwischen signifiant und signifié ist arbiträr, konventionell, und nicht motiviert. Ebenfalls auf de Saussure gehen die Begriffe Syntagma und Paradigma zurück. Sprachliche Zeichen stehen in einer syntagmatischen Beziehung zueinander, wenn sie gemeinsam in einer linearen Verkettung auftreten können (relation in praesentia), wie z.B. in der Phrase der blaue Himmel. Zeichen stehen in einer para-
Grammatiktheorie: von de Saussure bis Chomsky
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digmatischen Beziehung zueinander, wenn sie gemeinsame Merkmale teilen und gegeneinander austauschbar sind (relation in absentia), wie z.B. das Paradigma der bestimmten Artikel der – die – das oder das Paradigma der Farbadjektive blau – rot – grün – gelb usw. Man kann die Sprache entweder synchron oder diachron untersuchen und beschreiben. Eine synchrone Betrachtung befasst sich mit dem Zustand des Sprachsystems zu einem bestimmten Zeitpunkt. Eine diachrone Betrachtung dagegen bezieht sich auf den Wandel der Sprache im zeitlichen Verlauf. Der synchronen Beschreibung wird im strukturalistischen Paradigma das Primat eingeräumt. Die von de Saussure eingeführten strukturalistischen Ideen fanden eine starke Verbreitung. Im Laufe der 30er-60er Jahre des 20. Jahrhunderts haben sich verschiedene Schulen der strukturalistischen Linguistik in Europa und Amerika entwickelt. Hier seien nur einige Schulen und deren wichtigste Vertreter genannt: die Genfer Schule mit de Saussure und seinen Nachfolgern, die Prager Schule mit Nikolaj S. Trubetzkoy (vgl. z.B. Trubetzkoy 1939) und Roman Jakobson (vgl. z.B. Jakobson [1957]1971, 1974), die Kopenhagener Schule mit Louis Hjelmslev (vgl. z.B. Hjelmslev 1953) und der amerikanische Strukturalismus mit Franz Boas, Edward Sapir (vgl. Sapir 1921) und Leonard Bloomfield (vgl. Bloomfield 1933). 1.2.2. Valenz- und Dependenztheorie Die Valenz- bzw. Dependenztheorie wurde von Lucien Tesnière (1893-1954) begründet. Die zentrale Idee dieser Theorie besteht darin, dass Sätze eine hierarchische Struktur aufweisen und dass zwischen den einzelnen Elementen des Satzes bestimmte Abhängigkeitsrelationen bestehen. Die Elemente eines Satzes stehen in asymmetrischen Beziehungen zueinander, insofern als ein Element ein oder mehrere andere regiert. In der Valenztheorie (für eine sehr gute kritische Auseinandersetzung mit der Valenztheorie s. Ágel 2000) wird das Verb als
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Einleitung
das regierende Element des Satzes aufgefasst, von dem alle anderen Elemente direkt oder indirekt abhängen. Das Verb bildet den obersten Knoten in der Satz-Hierarchie, die normalerweise in Form eines Baumdiagramms (oder bei Tesnière: Stemma) notiert wird. Die berühmte Bühnen-Metapher beschreibt sehr treffend den Grundgedanken der Valenztheorie: Ein Verb, das ist so, wie wenn man im dunklen Raum das Licht anknipst. Mit einem Schlag ist eine Szene da. (Heringer 1984: 49)
Das Verb bestimme also darüber, wie viele und welche Mitspieler mit ihm gemeinsam auftreten müssen oder können. Die Mitspieler wurden von Tesnière selbst Aktanten (Subjekt und Objekte) und Zirkumstanten (Adverbiale) genannt, heute sind die Termini Ergänzungen und Angaben geläufig. Ergänzungen sind valenzgebunden, Angaben dagegen nicht. Einer anderen Metapher ist der Name der Theorie selbst verschuldet: Der Begriff Valenz kommt aus der Chemie und beschreibt die Fähigkeit eines Atoms, eine bestimmte Anzahl Bindungen einzugehen. In der Sprachwissenschaft beschreibt die Valenz entsprechend die Fähigkeit eines Verbs, sich mit einer bestimmten Anzahl von anderen Elementen zu verbinden. Man kann […] das Verb mit einem Atom vergleichen, an dem Häkchen angebracht sind, so daß es – je nach der Anzahl der Häkchen – eine wechselnde Zahl von Aktanten an sich ziehen und in Abhängigkeit halten kann. Die Anzahl der Häkchen, die ein Verb aufweist, und dementsprechend die Anzahl der Aktanten, die es regieren kann, ergibt das, was man die Valenz des Verbs nennt. (Tesnière [1959]1980: 161)
Die Verben des Deutschen werden normalerweise nach Anzahl (auch: Stelligkeit, Wertigkeit) und Typus ihrer Ergänzungen (z.B. Akkusativ-, Dativ-, Präpositionalergänzung) klassifiziert. Zu den nullstelligen Verben gehören z.B. regnen, scheinen, donnern, blitzen usw. Einstellige Verben sind intransitive Verben wie liegen, stehen, sitzen, wohnen etc. Zweistellige Verben mit (Nominativ- und) Akkusativergänzung (oder: transitive Verben) sind z.B. lesen, schlagen, nehmen, betrachten, streicheln. Ebenfalls zweistellig, allerdings mit einer (Nominativ- und einer) Dativergänzung treten Verben des Deutschen wie helfen, gehören, ähneln usw. auf.
Grammatiktheorie: von de Saussure bis Chomsky
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Es ist zu beachten, dass die Begriffe ‚Valenz‘ und ‚Dependenz‘, wenn auch sehr eng miteinander zusammenhängend, doch unterschiedliche Phänomene beschreiben. Valenz betrifft nur die Beziehungen zwischen dem Verb und seinen Ergänzungen. Dependenz ist ein weiterer Begriff und umfasst neben der Valenz auch andere Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb eines Satzes, z.B. zwischen Nomen und Attributen, zwischen Verben und nicht valenzgebundenen Angaben usw. 1.2.3. Generative Grammatik Die Geschichte der Generativen Grammatik begann mit dem Erscheinen des Buches „Syntactic Structures“ von Noam Chomsky im Jahre 1957. Seitdem hat die Theorie einige grundlegende Veränderungen durchlebt. Die Entwicklung der Generativen Grammatik verläuft von der frühen Transformationsgrammatik (1955-1964) über die Standardtheorie (1965-70) und die Erweiterte Standardtheorie (1967-1980) weiter zu der Government and Binding-Theorie (seit 1980) und dann bis hin zum sog. Minimalistischem Programm (seit 1995) (für eine kurze Einführung s. Jungen / Lohnstein 2006). Im Zentrum all dieser Modelle steht die Syntax, die als Kernteil des Sprachsystems begriffen wird. Die Syntax ist autonom, was bedeutet, dass ihre Regularitäten in keinem Zusammenhang mit anderen sprachlichen Komponenten stehen (wie z.B. Semantik oder Pragmatik). Es wird angestrebt, die Syntax algebraisch zu modellieren. Die Generative Grammatik vertritt eine modulare Position in dem Sinne, dass sie ein sprachliches Modul (Kompetenz) im Geiste des idealen Sprechers annimmt, das für die Hervorbringung von sprachlichen Strukturen verantwortlich ist. Zentral für die generative Grammatik ist die Erforschung dieser SprecherKompetenz, d.h. der Fähigkeit des idealen Sprechers einer Sprache, eine potenziell unendliche Anzahl von Sätzen in dieser Sprache zu bilden bzw. zu generieren (s. auch Kapitel 1.1.2). Das Sprechen selbst, der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen, d.h. die Performanz, spielt in dieser Theorie gegen-
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Einleitung
über der Kompetenz eine untergeordnete Rolle. Eine der grundlegenden Fragen, mit denen sich die generative Grammatiktheorie beschäftigt, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sprache, Spracherwerb und Kognition. Eine der wichtigen Grundannahmen der Generativen Grammatik ist, dass die Generierung sprachlicher Strukturen nach bestimmten Regeln abläuft, die sich als Algorithmen fassen lassen. Die Sprache wird dabei als die potenziell infinite Menge von wohlgeformten grammatischen Sätzen verstanden, die nach fest definierten Regeln aus einer finiten Anzahl von sprachlichen Elementen generiert werden. From now on I will consider a language to be a set of (finite or infinite) sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements. [...] The fundamental aim in the linguistic analysis of a language L is to separate the grammatical sequences which are the sentences of L from the ungrammatical sequences which are not sentences of L and to study the structure of the grammatical sequences. The grammar of L will thus be a device that generates all of the grammatical sequences of L and none of the ungrammatical ones. (Chomsky 1957: 13).
Der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft, die sich als ein Teil von Psychologie oder Biologie versteht, ist nach Chomsky die sog. internalized language oder I-language: The I-language [...] is some element of the mind of the person who knows the language, acquired by the learner, and used by the speakerhearer. (Chomsky 1986: 22).
Die Frage nach der Analyse von natürlichen Sprachen und den in ihnen vorkommenden Strukturen wird hier ersetzt durch die Frage nach (mentalen) sprachlichen Wissenssystemen, die den Menschen angeboren sind. Es wird davon ausgegangen, dass es dieselben universalen Prinzipien sind, die allen natürlichen Sprachen gleichermaßen zugrundeliegen (Universalgrammatik, UG). Die UG befähige unter anderem Kinder, eine Sprache in kürzester Zeit zu lernen. Dass sich die Einzelsprachen der Welt in ihrer Struktur und im Aufbau ihrer Sätze unterscheiden, wird dadurch erklärt, dass die Prinzipien, die in der Universalgammatik angelegt sind und somit jedem Menschen gleichermaßen angeboren sind, mit den Parametern kombiniert werden. Parameter seien offene Stellen,
Formal versus funktional
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die erst beim Erlernen der konkreten Sprache gesetzt bzw. spezifiziert werden. Kleinkinder, die eine bestimmte Sprache erlernen, bewältigen dementsprechend die Aufgabe, anhand des Inputs, den ihnen ihre sprachliche Umgebung biete, die Parameter der angeborenen UG so zu setzen, das als Ergebnis dieser Parametrisierung eine einzelsprachliche Grammatik entstehe.
1.3.
Formal versus funktional
In diesem Buch stellen wir die wichtigsten funktionalen Sprachtheorien vor, die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte entwickelt haben. Diese Theorien werden meist unter dem Oberbegriff ‚funktional‘ zusammengefasst, da sie sich als Gegenströmung zu der formal ausgerichteten Generativen Grammatik verstehen. Im Folgenden werden die wichtigsten funktionalen Gegenpositionen zu den Annahmen der Generativen Grammatik angeführt. Der Grundgedanke, der alle funktionalen Theorien zusammenhält, ist, dass die Sprache nicht isoliert, sondern nur in Beziehung zu ihrer Rolle in der zwischenmenschlichen Kommunikation erforscht werden kann. Die Sprache wird als ein Werkzeug, ein Kommunikationsmittel verstanden; sie sei weder eine (infinite) Menge von grammatischen Sätzen noch ein im Hirn des Menschen befindliches Grammatikmodul. Das generative Modell ist nicht funktional, d.h. es rekurriert nicht auf die Bedingungen, unter denen die menschliche Sprachtätigkeit stattfindet. Im Gegenteil, die Sprachfähigkeit wird in der Generativen Grammatik nicht weiter erklärt, da sie ja als ein angeborenes Modul im Geiste des Menschen existiere. Die funktionalen Theorien dagegen befassen sich mit den Bedingungen, unter denen menschliche Sprachtätigkeit stattfindet, und versuchen, aus den kommunikativen und kognitiven Funktionen der Sprache auf die sprachlichen Strukturen und Regeln zu schließen. Sie haben zum Ziel, psychische, kognitive, soziale, kommunikative, kulturelle und historische Aspekte der Sprache zu erfassen. Die Generative Grammatik sieht von dem tatsächlichen Sprachgebrauch und von der in der Sprache bestehenden Varia-
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Einleitung
tion völlig ab. Da sie darauf abzielt, die Kompetenz des idealen Sprechers zu modellieren und die abstrakten Regeln zu beschreiben, die jeder Sprachverwendung vorgelagert sind, kann sie letzendlich nicht empirisch überprüft werden. Was die Sprecher tatsächlich tun, wie sie die Sprache verwenden, und vor allem: wofür sie das tun, das sind die Fragen, die im Rahmen und mit dem Beschreibungsapparat dieser Theorie nicht beantwortet werden können. Das bedeutet auch, dass die Sprachdaten, wie wir sie z.B. in Korpora vorfinden, nicht der Falsifikation der generativen Behauptungen dienen können. Durch die Einengung des Untersuchungsgegenstandes Sprache auf den syntaktischen Aspekt, d.h. auf die Betrachtung und Beschreibung grammatischer (und nicht etwa: in irgendeiner Weise abweichender) Sätze werden bestimmte Bereiche der linguistischen Beschreibung von der Generativen Grammatik überhaupt nicht berücksichtigt. Die pragmatische Ebene ist z.B. völlig ausgeschlossen, da nicht relevant. Dadurch, so der Einwand der funktionalen Richtungen, werden relevante Aspekte der Sprache ausgeblendet, die eine nicht zu vernachlässigende Rolle für das Sprachsystem spielen. Die funktionalen Theorien, insbesondere die Grammatikalisierungstheorie, vertreten eine ganz andere Sicht auf den Sprachwandel. In der Generativen Grammatik werden die Veränderungen im Sprachsystem durch unterschiedliche Setzung der Parameter von Generation zu Generation erklärt. Die funktionalen Theorien dagegen betonen den Gebrauchsaspekt der Sprache und nehmen an, dass der Sprachwandel vor allem auf die (oft kreative) Sprachverwendung durch Erwachsene zurückzuführen ist. Was die Frage nach dem angeborenen Status der Universalgrammatik und ihre Rolle im Spracherwerb betrifft, so wird diese Position von den funktionalen Theorien kritisch hinterfragt. Viele Erkenntnisse sprechen dafür, dass nicht genuin sprachliches Wissen, sondern eher bestimmte kognitive Fähigkeiten und Mechanismen (wie Kategorisieren oder Abstrahieren) angeboren sind. Diese liegen unter anderem der Sprachfähigkeit zugrunde. Durch die routinierten kommunikativen Praktiken und den enormen
Literatur
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sprachlichen Input, verbunden mit diesen grundlegenden Mechanismen, seien Kinder in der Lage, eine Sprache zu erlernen. Die folgenden Abschnitte sind der Vorstellung der fünf funktionalen Grammatiktheorien gewidmet: Funktionale Grammatik (Kapitel 2), Systemisch-Funktionale Grammatik (Kapitel 3), Kognitive Grammatik (Kapitel 4), Konstruktionsgrammatik (Kapitel 5) und Grammatikalisierungstheorie (Kapitel 6). Darin werden die Grundideen der jeweiligen Theorie eingeführt und deren Beschreibungsinstrumente vorgestellt. Zum Schluss (Kapitel 7) wird eine zusammenfassende kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Theoriekonzeptionen dargeboten.
1.4.
Literatur
Ágel, Vilmos (2000): Valenztheorie. Tübingen: Narr. Bloomfield, Leonard (1933): Language. New York: Holt, Rinehart & Winston. Bühler, Karl ([1934]1990): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: G. Fischer. Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures. The Hague: Mouton. Chomsky, Noam (1965): Aspects of the theory of syntax. Cambridge: MIT Press (Special Technical Report, 11). Chomsky, Noam (1986): Knowledge of Language. Its Nature, Origin, and Use. New York: Praeger. Chomsky, Noam (1995): The Minimalist Program. Cambridge: Mass. Chomsky, Noam (2000): New Horizons in the Study of Language and Mind. Cambridge: Mass. Coseriu, Eugenio (1974): Synchronie, Diachronie und Geschichte: Das Problem des Sprachwandels. Übers. von Helga Sohre. München: Fink. Gabelentz, Georg von der (1901): Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Leipzig: Weigel Nachf. 2. Aufl.; 1. 1891. Nachdruck: Tübingen, Narr, 1972 (TBL, 1). Heringer, Hans Jürgen (1984): „Neues von der Verbalszene“. In: Stickel, Gerhard (Hg.): Pragmatik in der Grammatik. Jahrbuch 1983 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann, 34-64. Hjelmslev, Louis (1953): Prolegomena to a theory of language. Baltimore: Indiana University Publications in Anthropology and Linguistics.
16
Einleitung
Hoffmann, Lüdger (2002): „Einleitung“. In: Hoffmann, Lüdger (Hg.): Sprachwissenschaft: Ein Reader. 2., verb. Aufl. Berlin / New York: de Gruyter, 1-10. Humboldt, Wilhelm von (1836): „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ [Einleitung zu Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java. Bd.1, Berlin, 1936]. Abgedruckt in: Humboldt 1963: 368756. Humboldt, Wilhelm von (1963): Schriften zur Sprachphilosophie. [= Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Bd.III]. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 4. Nachdruck 1972. Jakobson, Roman ([1957]1971): „Shifters, verbal categories, and the Russian verb.“ In: Selected Writings, Vol. 2: Word and Language. The Hague: Mouton, 130-147. Jakobson, Roman (1974): Form und Sinn. Hrsg. von Eugenio Coseriu. München: Wilhelm Fink. Jungen, Oliver und Horst Lohnstein (2006): Einführung in die Grammatiktheorie. München: Wilhelm Fink. (UTB 2676). Lehmann, Christian (2005): „Zum Tertium Comparationis im Sprachvergleich.“ In: Schmitt, Christian und Barbara Wotjak (Hgg.): Beiträge zum romanisch-deutschen und innerromanischen Sprachvergleich. Akten der gleichnamigen internationalen Arbeitstagung. 2 Bde. Bonn: Romanistischer Verlag, 1, 157-168. Sapir, Edward (1921): Language: An introduction to the study of speech. New York: Harcourt, Brace & World. Saussure, Ferdinand de ([1916]1967): Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. Übersetzt von Herman Lommel. 2.Aufl. Berlin: Walter de Gruyter. Schleicher, August (1873): Die Darwin‘sche Theorie und die Sprachwissenschaft. 2.Aufl. Weimar: H. Böhlau. Tesnière, Lucien ([1959]1980): Grundzüge der strukturalen Syntax. Hrsg. und übersetzt von Ullrich Engel. Stuttgart: Klett. Trubetzkoy, Nikolaj S. (1939): Grundzüge der Phonologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (TCLP, 7). Wittgenstein, Ludwig (1969): Philosophische Untersuchungen. Schriften Bd.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
2. Funktionale Grammatik Das Modell der Funktionalen Grammatik (Functional Grammar, FG) wurde vom niederländischen Linguisten Simon Dik und seinen Mitarbeitern an der Universität von Amsterdam in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts als explizites Gegenmodell zur Generativen Grammatik entwickelt. Im Jahre 1978 veröffentlichte Dik den Band „Functional Grammar“, in dem das Modell zum ersten Mal in seiner Vollständigkeit dargelegt wurde. Das zweibändige Werk „The Theory of Functional Grammar”, „the major statement of the theory of Functional Grammar” (Anstey / Mackenzie 2005: vii) erschien 1989. Amsterdam ist heute noch eines der Zentren der Theoriebildung und -weiterführung; wichtige Vertreter der FG finden sich außerdem in Spanien, Dänemark und Belgien. Einschlägige Arbeiten erscheinen bis 2005 in den Functional Grammar Series (die Reihe endet mit dem von de Groot und Hengeveld herausgegebenen 27. Band “Morphosyntactic Expression in Functional Grammar”) und in den Web Papers on Functional Grammar. Die später konzipierte Functional-Discourse Grammar (vgl. Hengeveld 2004; Hengeveld / Mackenzie 2008, demn.) basiert auf Diks Funktionaler Grammatik und führt sie weiter. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf das Modell von Dik.
2.1.
Allgemeines zur Funktionalen Grammatik
Die Funktionale Grammatik versteht sich als eine allgemeine Theorie der semantischen und morphosyntaktischen Organisation natürlicher (menschlicher) Sprachen. Sie sucht eine Antwort auf die Frage, wie der natürliche Sprachbenutzer (Natural Language User, NLU) funktioniert. Als funktionale Theorie geht sie von der
18
Funktionale Grammatik
Annahme aus, dass die Sprache nur durch die Analyse ihrer Gebrauchsbedingungen verstanden werden kann. In the functional paradigm, on the other hand, a language is in the first place conceptualized as an instrument of social interaction among human beings, used with the intention of establishing communicative relationships. Within this paradigm one attempts to reveal the instrumentality of language with respect to what people do and achieve with it in social interaction. (Dik 1997a: 3)
Dik unterscheidet zwei Typen von konventionell festgelegten Regelsystemen, mit denen sich die Linguistik beschäftigen sollte. Einerseits gebe es Regeln zur Bildung sprachlicher Ausdrücke. Es handelt sich hierbei um semantische, syntaktische, morphologische und phonologische Regeln. Andererseits gebe es pragmatische Regeln, die die Interaktionsmuster, in denen die sprachlichen Ausdrücke verwendet werden, vorgeben. Eine linguistische Theorie, so Dik, sollte sich nicht mit der Beschreibung beider Regeltypen begnügen, sondern versuchen, die Regeln des ersten Typs im Hinblick auf ihre Funktionalität innerhalb des pragmatischen Systems zu erklären. A theory of language should not be content to display the rules and principles underlying the construction of linguistics expressions for their own sake, but should try, wherever this is possible at all, to explain these rules and principles in terms of their functionality with respect to the ways in which these expressions are used. (Dik 1997a: 4)
Im Gegensatz zur Generativen Grammatik, in der die Ebene der Syntax sowohl derjenigen der Semantik als auch derjenigen der Pragmatik überlegen ist, geht Dik davon aus, dass die Semantik, Morphosyntax und Phonologie der Pragmatik untergeordnet sind. Diese drei Ebenen seien bloß instrumental in Bezug auf die Ziele des pragmatischen Regelsystems (das seinerseits in die höheren kognitiven Funktionen des NLUs integriert sei). Eine grammatische Analyse sprachlicher Ausdrücke kann also nur mit Rücksicht auf das pragmatische System einer Sprache erfolgen.1 _____________ 1
Leider hat Dik die pragmatischen Regeln, die in seinem Modell eine nicht zu übersehende Rolle spielen, zu wenig formalisiert; vgl. z.B. Anstey (2004: 31): „Dik created the problem of verbal interaction [...] by setting an agenda for Functional Grammar that was never satisfied.“
Allgemeines zur Funktionalen Grammatik
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[T]he study of language use (pragmatics) precedes the study of the formal and semantic properties of linguistic expressions (Dik 1991: 248)
Die Funktionale Grammatik strebt eine praktische Anwendbarkeit auf die Analyse unterschiedlicher Aspekte verschiedenster Sprachen und des konkreten Sprachgebrauchs an. Aus diesem Grund solle die Theorie einen möglichst geringen Abstraktheitsgrad besitzen: Die Distanz zwischen den durch die Theorie postulierten Strukturen und den aktuellen sprachlichen Ausdrücken solle so klein wie möglich sein. Diese Distanz erhöhe sich mit der Zahl der Regeln, Operationen und Prozeduren, die eine Theorie benötige, um von den von ihr postulierten theoretischen Strukturen zum aktuellen sprachlichen Ausdruck zu gelangen. Daher werden in der FG Transformationen und leere (d.h. nicht zum sprachlichen Ausdruck gebrachte) Elemente ausdrücklich vermieden. Die angestrebte praktische Anwendbarkeit zeigt sich auch darin, dass die Funktionale Grammatik in ein Computerprogramm (ProfGlot) implementiert worden ist, das sprachliche Ausdrücke erzeugen und abstrakt darstellen kann. Das von Dik gesetzte Endziel ist ein komputationelles Modell des Natürlichen Sprachbenutzers, in das die FG, die die sprachliche Fähigkeit des NLUs modelliert, als sprachliche Komponente eingebettet ist (in einem komplexen Netzwerk mit anderen Komponenten bzw. Modulen, die die epistemischen, logischen, perzeptiven und sozialen Fähigkeiten des NLUs erfassen). Der Anspruch auf Implementierbarkeit in eine Programmiersprache hat zur Folge, dass das Modell ein starkes Maß an Formalismus aufweist. Der funktionale Charakter der FG geht außerdem aus der Tatsache hervor, dass funktionale Beziehungen auf verschiedenen Beschreibungsebenen eine grundlegende Rolle spielen. Für die Sprachbeschreibung bedient sich die FG funktionaler Begriffe, die drei verschiedenen Ebenen zugeordnet sind: Semantische Funktionen (z.B. Agens, Patiens,2 Rezipient) beschreiben die Rollen, die Aktanten in Sachverhalten spielen; syntaktische Funktionen (Subjekt und Objekt) legen die Perspektiven fest, aus denen _____________ 2
Die FG bevorzugt die Bezeichnung Goal (‚Ziel’) statt Patient (‚Patiens’) (vgl. Dik 1997a: 122).
20
Funktionale Grammatik
die Sachverhalte dargestellt werden; schließlich definieren pragmatische Funktionen (Topik und Fokus) den Informationsstatus der Konstituenten, wie er sich in der sprachlichen Interaktion zwischen Sprecher und Hörer entwickelt. So ist im folgenden Beispiel der Satzteil die Kinder gleichzeitig Patiens, Subjekt und Topik des Satzes: Die Kinder wurden kaltblütig erstochen. Dass die FG sich explizit als Gegenmodell zur Generativen Grammatik sieht, zeigt sich auch darin, dass eine Grammatiktheorie für Dik z.T. anderen Adäquatheitskriterien genügen soll als denjenigen, die in Chomsky (1957) eingeführt wurden. Letzterer unterscheidet drei hierarchisch geordnete Adäquatheitsebenen, an denen man eine linguistische Theorie überprüfen kann: Eine Grammatiktheorie solle beobachtungsadäquat, beschreibungsadäquat und erklärungsadäquat sein. Dik räumt ein, dass eine Grammatiktheorie beschreibungsadäquat sein soll, d.h. sie muss dazu in der Lage sein, „to specify all the linguistic expressions of a language by means of a system of rules and principles in which the most significant generalizations about the language are incorporated“ (Dik 1997a: 12). Er setzt aber andere Kritierien für die Beurteilung der Erklärungsadäquatheit an. Diese solle nämlich daran gemessen werden, ob sie pragmatisch, psychologisch und typologisch adäquat ist. Das Kriterium der pragmatischen Adäquatheit entspricht der Annahme, dass pragmatische Faktoren die Struktur linguistischer Ausdrücke bestimmen. Psychologische Adäquatheit meint, dass die Theorie mit Erkenntnissen aus der psycholinguistischen Forschung zu Spracherwerb, Sprachverarbeitung und Sprachproduktion im Einklang stehen soll. Und schließlich solle sich eine Theorie explizit auf eine Vielheit an Sprachen beziehen, d.h. typologisch adäquat sein. Als Theorie ist die FG von ihren Anfängen her nicht nur auf das Englische zugeschnitten. So entstammen die Beispiele aus Diks „Theory of Functional Grammar“ nicht weniger als achtzig ver-
Satzanalyse
21
schiedenen Sprachen (vgl. Butler 2003a: 39); auch in anderen Arbeiten wurde die Theorie auf sehr viele Sprachen angewandt.3 Die wichtigsten Elemente der Funktionalen Grammatik können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Die FG analysiert das Sprachsystem vor dem Hintergrund des Sprachgebrauchs. Das grammatische Regelsystem, dessen sich der Natural Language User bedient, muss deshalb im größeren Rahmen der pragmatischen Regeln verbaler Interaktion beschrieben und erklärt werden. 2. Die Theorie soll praktisch anwendbar und gleichzeitig komputationell implementierbar sein. Sie vereint somit funktionale und formale Merkmale. 3. Funktionale Begriffe auf der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Ebene sind für die Sprachbeschreibung grundlegend. Transformationen werden vermieden. 4. Die Theorie erhebt den Anspruch auf typologische, pragmatische und psychologische Adäquatheit.
2.2.
Satzanalyse
In der FG werden Sätze als abstrakte unterliegende Satzstrukturen (abstract underlying clause structures) beschrieben, die durch ein System von Ausdrucksregeln (expression rules) auf die aktuelle Form des entsprechenden sprachlichen Ausdrucks abgebildet werden (s. Abb. 1). Die unterliegende Satzstruktur ist eine komplexe abstrakte Struktur, in der verschiedene Ebenen formaler und semantischer Organisation miteinander interagieren. Es kann dabei – in Anlehnung an Hengeveld ([1989]2005)4 – zwischen levels und layers unterschieden werden.5 _____________ 3 4
Von den drei Adäquatheitskriterien bekennt sich Dik am explizitesten zur typologischen Adäquatheit. Die pragmatische und psychologische Adäquatheit sind insgesamt weniger zentral (vgl. Butler 2003a: 64-67). In der ursprünglichen Fassung (Dik 1978) war die Theorie nicht gestuft. Die verschiedenen Ebenen oder Schichten, in Hengeveld ([1989]2005) vorgestellt, wurden mit kleinen Anpassungen in die FG-Standardtheorie (Dik 1989, 1997) integriert und lösten lebhafte Diskussionen aus (vgl. Anstey 2002, Harder 1998,
22
Funktionale Grammatik
unterliegende Satzstruktur
Ausdrucksregeln
sprachlicher Ausdruck Abb. 1: Von der unterliegenden Satzstruktur zum sprachlichen Ausdruck
Nach Hengeveld ([1989]2005) gibt es zwei levels (im Folgenden: ‚Niveaus’): das repräsentationelle und das interpersonale, die wiederum aus mehreren layers (im Folgenden: ‚Ebenen’) bestehen. Die beiden Niveaus entsprechen zwei funktionalen Perspektiven, aus denen ein Sachverhalt betrachtet werden kann. Auf dem repräsentationellen Niveau ist die Prädikation angesiedelt, d.h. der (wirkliche oder hypothetische) Sachverhalt (state of affairs, SoA), der beschrieben wird. Auf dem interpersonalen Niveau liegt die Proposition: Hier geht es darum, dass der Adressat die kommunikative Intention des Sprechers erkennt. Jede Äußerung kann grundsätzlich auf beiden Niveaus analysiert werden. Auf dem repräsentationellen Niveau geht es um das erzählte Ereignis, um den Sachverhalt als solchen; auf dem interpersonalen Niveau steht das Sprechereignis im Vordergrund, d.h. die Einstellung des Sprechers zum Sachverhalt und die Interaktion zwischen Sprecher und Hörer. In this analysis of the clause a predication fulfills two different functions: it designates a SoA at the representational level, and it represents the content of a speech act at the interpersonal level. To distinguish these two uses of predications I use the term ‘predication’ to refer to the former and ‘proposition’ to refer to the latter function. (Hengeveld [1989] 2005: 4)
_____________
5
Nuyts 2004). Als vorläufiges Ergebnis dieser Diskussionen ist wohl Hengevelds (2004) Modell der Functional Discourse Grammar zu betrachten (vgl. auch Hengeveld/ Mackenzie 2008, demn.), das verschiedene miteinander interagierende Niveaus oder Module unterscheidet, die jeweils hierarchisch strukturiert sind. Diese Niveaus wurden in Dik (1997a) allerdings nicht unterschieden.
23
Satzanalyse
Auf dem repräsentationellen Niveau geht es im folgenden Satz darum, dass dem Subjekt Raucher ein bestimmtes Recht zugesprochen wird. Aus der interpersonalen Perspektive betrachtet, will der Sprecher (Schreiber) mit diesem Satz die dem Adressaten (Leser) vorliegenden pragmatischen Informationen bereichern bzw. verändern. Auch Raucher haben ein Recht auf schöne Zimmer. Der Satz in der FG kann mit einer Zwiebel verglichen werden. Die innere Schicht bildet das Prädikat, dessen Argumentpositionen mit den sog. Termen besetzt werden. Eine Stufe weiter außen findet sich die Prädikation. Terme, Prädikate und Prädikationen gehören zum repräsentationellen Niveau. Die Ebenen der Proposition und des Satzes befinden sich noch weiter außen und sind auf dem interpersonalen Niveau angesiedelt. Die Proposition bezeichnet eine mögliche Tatsache, der Satz einen Sprechakt. Niveau Interpersonal
Strukturelle Einheit Satz Proposition
Repräsentationell
Prädikation Prädikat Term
Bezeichnung Sprechakt mögliche Tatsache (possible fact) Sachverhalt (state of affairs) Eigenschaft / Relation Entität
Variable E X
e f x
Abb. 2: Strukturelle Einheiten, ihre Bedeutung und entsprechende Variablen
2.2.1.
Prädikate und Terme
Prädikate (predicates) bringen Relationen zwischen ihren Argumenten zum Ausdruck oder schreiben ihnen bestimmte Eigenschaften zu. So sind in folgenden Beispielen das Verb verprügeln, das Substantiv Bundeskanzlerin und das Adjektiv blond als Prädikate aufzu-
24
Funktionale Grammatik
fassen. Es handelt sich also um Inhaltswörter, die im Lexikon gespeichert sind; grammatische Elemente werden grundsätzlich nicht zu den Prädikaten einer Sprache gerechnet (s. weiter unten). Simon verprügelt seinen besten Freund. Angela ist Bundeskanzlerin. Elyne ist blond. Diks Definition der drei fundamentalen Wortarten oder Prädikatskategorien6 Verb, Substantiv und Adjektiv ist deutlich funktional geprägt: a. A Verbal predicate (V) is a predicate which is primarily used in predicative function. b. A Nominal predicate (N) is a predicate which is primarily used as head of a term. c. An Adjectival predicate (A) is a predicate which is primarily used in attributive function. (Dik 1997a: 194)
Jedes Prädikat hat einen eigenen Prädikatsrahmen (predicate frame), der die wichtigsten semantischen und morphosyntaktischen Informationen des betreffenden Elements enthält. Dazu gehören die Form (z.B. lachen, Auto, grün), die Wortartzugehörigkeit (Verb, Substantiv oder Adjektiv), die Zahl der assoziierten Argumentpositionen (die sog. ‚quantitative Valenz’; Argumente werden als x notiert) samt deren semantischen Funktionen (die sog. ‚qualitative Valenz’, z.B. Agens, Patiens, Rezipient) sowie eventuelle Selektionsbeschränkungen7 (z.B. , , _____________ 6
7
Adverbien werden nicht zu den fundamentalen Wortarten zugerechnet, da sie nicht prädikativ gebraucht werden können. Hengeveld ordnet sie allerdings dazu, mit der Begründung, dass ihre prototypische Funktion in der Modifikation eines verbalen Kopfes liege. Allgemein formuliert ist ein Adverb „a predicate which, without further measures being taken, can be used as a modifier of a nonnominal head” (Hengeveld 1992 [2005]: 85). Eines der Merkmale von Grammatikalisierungsvorgängen ist der Verlust der vom Prädikat ausgeübten Selektionsbeschränkungen. Das ist z.B. beim englischen Verb go der Fall, das als Futurauxiliar in der Konstruktion be going to fungiert: Das Agens muss nicht mehr sein (He is going to the market – Prices are going to rise, vgl. Dik 1997a: 93).
Satzanalyse
25
usw.). Die Selektionsbeschränkungen beziehen sich auf die Eigenschaften der in den Prädikatsrahmen zu integrierenden Terme. Es ist noch zu betonen, dass die Reihenfolge der Argumente im Prädikatsrahmen beliebig ist, d.h. sie sagt grundsätzlich nichts über deren lineare Abfolge in der aktuellen sprachlichen Realisierung aus; dies wird erst in einer späteren Phase durch die Ausdrucksregeln festgelegt. Das Prädikat geben hat also folgenden Prädikatsrahmen: gebenV (x1: )Ag (x2)Go (x3: )Rec Der Rahmen enthält die Information, dass geben ein dreistelliges Verb ist: Es hat drei Argumente (x1, x2, x3) mit den semantischen Rollen Agens, Ziel (Goal) und Rezipient. Für x1 und x3 gilt außerdem die Selektionsbeschränkung . Nichtverbale Prädikate (Adjektive und Substantive) sind ebenfalls mit Prädikatsrahmen assoziiert: Elyne ist blond. blondA (x1: )ø Angela ist Bundeskanzlerin. BundeskanzlerinN (x1: )ø Das Adjektiv blond und das Substantiv Bundeskanzlerin eröffnen jeweils eine Argumentposition, deren semantische Rolle ø ist, „the entity primary involved in a state“ (Dik 1997a: 118). Satelliten (σ) sind diejenigen Elemente, die keinen Argumentstatus besitzen. Sie werden nicht in den Prädikatsrahmen aufgenommen. Während Argumente für die Integrität des dargestellten Sachverhalts unentbehrlich (und also obligatorisch vorhanden) sind, enthalten Satelliten zusätzliche Informationen bezüglich des gesamten Sachverhalts (z.B. elegant in Er tanzt elegant). Der Unterschied zwischen Argumenten und Satelliten ist mit dem valenztheoretischen (vgl. Kapitel 1.2.2.) Unterschied zwischen Ergänzungen und Angaben vergleichbar (vgl. auch Dik 1997a: 87,
26
Funktionale Grammatik
Fußnote 1), wobei auch die gleichen Abgrenzungsprobleme auftauchen (vgl. Dik 1997a: 87-90). Argumente können durch die den jeweiligen Nominalphrasen zugrunde liegenden Terme ersetzt werden. Es werden dabei zwei Arten von Termen unterschieden: Grundterme (basic terms), die als fertige Bausteine im Lexikon gespeichert sind (z.B. Personalpronomen, Eigennamen, Fragewörter), und abgeleitete Terme (derived terms), die durch den Prozess der term formation gebildet werden. An diesem Prozess sind die sog. Termoperatoren (term operators) beteiligt, d.h. grammatische Marker, die Werte wie z.B. Definitheit und Numerus zum Ausdruck bringen. Im folgenden Beispiel für eine relativ einfache Termstruktur gelten die Elemente die (d = definit), ersten (1°) und zwei (2) als Termoperatoren, die den Referenten (xi) bestimmen. die ersten zwei Probleme d 1° 2 xi: ProblemN Terme bezeichnen Entitäten in der außersprachlichen Welt (z.B. Simon Dik, Rotkäppchen). Im Gegensatz dazu bezeichnen Prädikate Eigenschaften dieser Entitäten (Simon Dik ist Linguist) oder Beziehungen zwischen ihnen (Rotkäppchen hat einen Korb getragen). 2.2.2. Prädikation Sobald die geeigneten Terme in die Lücken (slots) eines Prädikatsrahmens eingetragen sind, spricht man von der sog. nuclear predication, die folgendermaßen notiert wird: Angela Merkel gibt der Automobilbranche eine neue Chance. gebenV (Angela Merkel)Ag (eine neue Chance)Go (die Automobilbranche)Rec Die nuclear predication muss nun mit weiteren syntaktischen und pragmatischen Informationen ausgestattet werden. Das geschieht mithilfe von Tempus-, Modus und Aspektoperatoren, die in der FG als Prädikatsoperatoren (predicate operators, π) bezeichnet
Satzanalyse
27
werden. Außerdem tragen auch Satelliten zur weiteren Charakterisierung der nuclear predication bei. Der Unterschied zwischen Operatoren und Satelliten geht auf eine relativ scharf angesetzte Dichotomie zwischen lexikalischen und grammatischen Elementen zurück. Operatoren und Satelliten können zwar semantisch ähnliche Informationen kodieren. Die Operatoren gehören aber dem grammatischen Repertoire der Sprache an (sie bilden geschlossene Paradigmen, werden oft durch gebundene Morpheme zum Ausdruck gebracht usw., s. Kapitel 6.2.1), während Satelliten zum Lexikon gehören. So gilt im folgenden Beispiel gestern als Satellit, während die Perfektform hat besucht als Operator aufgefasst wird: Er hat uns gestern besucht. Auf der Ebene der Prädikation werden in der FG Operatoren und Satelliten ersten und zweiten Ranges unterschieden. Mit den Ersteren (π1, σ1) wird die sog. core predication gebildet, während die Letzteren (π2, σ2) am Aufbau der extended predication beteiligt sind. [π2 ei:
[π1
[pred(arg)] σ1] σ2] [-----------] nuclear predication [----------------------------------------------] core predication [-------------------------------------------------------------------------------] extended predication Abb. 3: Die verschiedenen Schichten auf der Ebene der Prädikation
In diesem Schema (Dik 1997a: 217) ist e eine Variable für Sachverhalte (vgl. Abb. 2). Die nuclear predication (die bloß aus Prädikaten und Termen besteht) ist eine Menge von Sachverhalten (a set of states of affairs), wobei Sachverhalt ganz allgemein als „eine Konzeption von etwas, das in einer unbestimmten Welt der Fall sein kann“ (Dik 1997a: 51, Übersetzung ES&TM) zu verstehen ist. Der Sachverhalt in der nuclear predication ist noch nicht (zeitlich,
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Funktionale Grammatik
modal oder aspektuell) spezifiziert. Dies geschieht in einem weiteren Schritt mithilfe von π1-Operatoren und σ1-Satelliten. Aspektuelle π1-Operatoren bringen den Unterschied zwischen perfektiven und imperfektiven Sachverhalten zum Ausdruck, wie er z.B. im Ungarischen (und in den slawischen Sprachen) grammatikalisiert ist (vgl. Dik 1997a: 223): el-olvastam az újság-ot Pf-read-I the paper-acc ‘I read the paper.’ (from beginning to end) olvastam az újság-ot read-I the paper-acc ‚I was reading the paper.’ Der vergangene Sachverhalt wird in der durch das Präfix el- markierten perfektiven Form elolvastam in seiner Gesamtheit betrachtet, er ist konturiert und abgegrenzt. Der Satz entspricht somit dem deutschen Ich habe die Zeitung ganz gelesen. Im Gegensatz dazu wird der Sachverhalt in der imperfektiven Form olvastam so dargestellt, dass er nicht konturiert ist und somit keinen deutlichen Anfangs- oder Endpunkt hat (vergleichbar mit Ich war dabei, die Zeitung zu lesen). Zu den σ1-Satelliten gehören modale (die Art und Weise spezifizierende) und instrumentale Adverbialbestimmungen, vgl. z.B.: John is reading the book quickly prog readV (John)Ag (the book)Go (quickly)Man Operatoren und Satelliten, die der nuclear predication hinzugefügt werden, verwandeln diese in die core predication. Auf dieser Ebene kommen die syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt ins Spiel (s. Kapitel 2.2.5), mit deren Hilfe der Sachverhalt unterschiedlich perspektiviert werden kann. Die core predication kann ihrerseits um bestimmte π2-Operatoren und σ2-Satelliten ergänzt werden, wodurch die extended predication entsteht. Im Gegensatz zu π1-Operatoren und σ1-
Satzanalyse
29
Satelliten lassen π2-Operatoren und σ2-Satelliten die innere Struktur des Sachverhalts unberührt. Sie quantifizieren den Sachverhalt bzw. lokalisieren ihn innerhalb der temporalen, räumlichen und kognitiven Dimensionen. Die π2-Operatoren werden dementsprechend in zwei Kategorien eingeteilt: Es gibt lokalisierende und quantifizierende Operatoren. Lokalisierende π2-Operatoren sind Tempus- und Modusmarker sowie Marker des perspektivierenden Aspekts. Zur letzteren Kategorie gehören u.a. das englische perfect aspect und die be going to-Konstruktion, die laut Dik (1997a: 239) den prospektiven Aspekt zum Ausdruck bringt. Anders als Tempusmarker setzen Marker des perspektivierenden Aspekts das vergangene bzw. zukünftige Ereignis zu einem anderen Zeitpunkt, dem Referenzzeitpunkt, in Bezug. What can be said on the basis of information available at some reference point ti about the occurrence of some SoA at some interval tj? (Dik 1997a: 239)
Ein Beispiel: Beim Anblick frischen Schnees am Morgen wird man wohl eher Es hat geschneit ausrufen (statt die Präteritumform schneite zu verwenden), obwohl der Sachverhalt (das Fallen des Schnees) strikt genommen der Vergangenheit angehört. Das Resultat des in der Vergangenheit erfolgten Schneiens ist aber für den Sprechzeitpunkt (den Referenzzeitpunkt) relevant, weshalb hier im Deutschen die perspektivierende Aspektkategorie Perfekt erscheint. Modale π2-Operatoren bringen laut Dik (1997a) objektivmodale8 Unterscheidungen zum Ausdruck, mit denen der Sprecher auf der Grundlage seiner Kenntnisse über Sachverhalte im Allgemeinen die Wahrscheinlichkeit bewertet, mit der sich ein Sachverhalt ereignen wird (likelihood of occurrence oder actuality, vgl. _____________ 8
Auf der Ebene der Prädikation wird die sog. inhärente Modalität angesetzt (Dik 1997a: 241; Hengeveld 1988). Dabei handelt es sich um Unterscheidungen, die die Fähigheit oder den Willen eines Partizipanten, den Sachverhalt durchzuführen, kodieren (können, wollen, fähig sein) bzw. eine Notwendigkeit oder Erlaubnis, der ein Partizipant unterliegt, beschreiben (müssen, dürfen). Laut Dik sind solche Unterscheidungen immer lexikalischer Natur – sie werden also nicht durch grammatische Mittel zum Ausdruck gebraucht, wenngleich sie sich oft im Laufe der Zeit zu solchen entwickeln.
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Funktionale Grammatik
Dik 1997a: 242). Objektiv-modale Unterscheidungen können sowohl epistemischer als auch deontischer Natur sein: Im ersten Fall geht es um die ‚objektive’ Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Sachverhalt vorliegt (mit Werten auf einer Skala von sicher über wahrscheinlich, möglich, unwahrscheinlich zu unmöglich), im zweiten Fall vollzieht sich die Evaluierung vor dem Hintergrund sozialer, moralischer oder gesetzlicher Normen (mit Werten auf einer Skala von obligatorisch über akzeptabel, erlaubt, inakzeptabel bis zu verboten). Kann es geschneit haben? Du sollst nicht töten! Abschließend sind noch die quantifizierenden Aspektoperatoren zu nennen, die sich auf die Frequenz beziehen, mit der sich ein Sachverhalt ereignet: nur einmal (semelfaktiv) oder mehrmals (iterativ). Bei den σ2-Satelliten handelt es sich um Adverbialbestimmungen, die den Sachverhalt zeitlich (z.B. gestern) bzw. räumlich (z.B. in Afrika) einordnen. Ein Beispiel für eine unterliegende Struktur mit einem temporalen π2-Operator (perf) und mit den σ1- (oberflächlich) sowie σ2-Satelliten (in der Bibliothek) bietet folgender Satz: John hat das Buch oberflächlich in der Bibliothek gelesen. perf lesenV (John)Ag (das Buch)Go (oberflächlich)Man (in der Bibliothek)Loc 2.2.3.
Proposition
Die extended predication stellt einen Sachverhalt dar, der zeitlich und lokal spezifiziert wurde und wahrgenommen (gesehen, gehört) werden kann (Butler 2003a: 79). Sie kann – wie wir oben bereits gesehen haben – folgendermaßen dargestellt werden: extended predication = [π2 ei: [core predication] σ2]
Satzanalyse
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Die Proposition liegt eine Stufe höher (bzw. eine Schicht weiter außen): Sie bezeichnet eine mögliche Tatsache (a possible fact), die man zur Kenntnis nehmen, an die man sich erinnern, die man (nicht) glauben kann usw. Die propositionalen Operatoren (π3) und Satelliten (σ3) bezeichnen die Einstellung des Sprechers zum propositionalen Inhalt. Zu den propositionalen π3-Operatoren werden modale Marker mit subjektiver Bedeutung gerechnet, d.h. solche grammatischen Elemente, die die persönliche Meinung bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts zum Ausdruck bringen, die Hoffnung des Sprechers bezüglich der Verwirklichung des Sachverhalts oder aber (als evidentielle Marker) auf die Evidenzen hinweisen, auf die sich der Sprecher stützt (vgl. Dik 1997a: 296). Als solche nehmen die subjektiv-modalen Marker an der interpersonalen Organisation des Satzes teil: […] [S]ubjective modals take part in the interpersonal organization of the clause: they serve to encode positions of commitment with respect to the SoA described in the utterance. (Verstraete 2004: 251).
Beispiele für subjektiv-modale Marker liegen in folgenden Sätzen vor: Er dürfte das überhört haben. [= ‚Ich halte es für wahrscheinlich, dass er das überhört hat‘] Er soll ums Leben gekommen sein. [= ‚Ich habe in der Zeitung gelesen, dass er ums Leben gekommen ist‘] Subjektive Modalitätsmarker bringen z.T. ähnliche Werte wie die objektiven Modalitätsmarker zum Ausdruck: Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Sicherheit. Sie unterscheiden sich aber von den objektiv-modalen π2-Operatoren dadurch, dass Erstere die persönliche Einschätzung des Sprechers kodieren, während Letztere eine allgemeinere sprecherunabhängige Einschätzung der Wirklichkeitswert eines Sachverhalts zum Ausdruck bringen. […] [I]n the case of objective modality, the assessment is presented as being independent of S’s personal opinion, whereas in subjective modality the claim is expressly restricted to S’s personal opinion. (Dik 1997a: 296).
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Funktionale Grammatik
Subjektive und objektive Modalitätsmarker können miteinander kombiniert werden. Die subjektiven Marker verfügen über einen weiteren Skopus als die objektiven, sodass sie diese einbetten können, wie im folgenden Beispiel, in dem sicherlich als subjektivmodaler Satellit das objektiv-modale es ist möglich im Skopus hat. Es ist sicherlich möglich, dass er krank ist. ‚Meiner Meinung nach ist es sicher, dass es möglich ist, dass er krank ist.’ Zu den σ3-Satelliten gehören u.a. diejenigen Adverbien, die die Einstellung des Sprechers zur Proposition zum Ausdruck bringen (z.B. hoffentlich, klugerweise). Die unterliegende Struktur der Proposition sieht also wie folgt aus: Proposition = [π3 Xi: [extended predication] σ3] Meiner Meinung nach müsste John zu Hause sein. subjektive mood Xi: [John ist zu Hause] (meiner Meinung nach)Einstellung 2.2.4.
Sprechakt
Propositionen sind noch keine Sprechakte: Kommunikation ist ja nicht auf die Darstellung bestimmter Propositionen begrenzt, sondern besteht in der Durchführung bestimmter Sprechakte. So enthalten folgende Sätze zwar die gleiche Proposition; diese ist aber in unterschiedliche Sprechakte (Aussage versus Frage) eingebettet. Sie wollten schnell heiraten. Wollten sie schnell heiraten? Die extended propositions werden zu Sprechaktstrukturen, wenn sie durch die illokutionären (sprechaktbezogenen) π4-Operatoren und
Satzanalyse
33
σ4-Satelliten spezifiziert werden. Die unterliegende Satzstruktur sieht auf dieser Ebene folgendermaßen aus: Satz = [π4 Ei: [Proposition]σ4] Zu den illokutionären Operatoren gehören die grundlegenden und mehr oder weniger universalen Satzmodi (oder Satztypen) Deklarativ, Imperativ, Interrogativ und Exklamativ, die funktional definiert werden (vgl. Dik 1997a: 302). Die Satztypen werden als Anweisungen des Sprechers an den Adressaten gedeutet, welche die beim Adressaten vorhandene pragmatische Information verändern sollen. Mit einem Deklarativsatz (Aussagesatz) instruiert der Sprecher den Hörer, seine pragmatische Information um den Inhalt des Gesagten zu erweitern; mit einem Interrogativsatz (Fragesatz) fordert der Sprecher den Hörer dazu auf, ihm die in der Proposition spezifizierte Information zu vermitteln; bei einem Imperativsatz (Aufforderungssatz) geht es darum, dass der Hörer den Sachverhalt durchführen soll; durch einen Exklamativsatz (Ausrufesatz) schließlich erweitert der Sprecher die pragmatische Information des Hörers um die Tatsache, dass der Sprecher den Inhalt der Proposition als überraschend, unerwartet oder sonst bemerkenswert erachtet. Du hast meinen Geburtstag vergessen Decl Ei: [Du hast meinen Geburtstag vergessen] Hast du meinen Geburtstag vergessen? Int Ei: [Du hast meinen Geburtstag vergessen] Vergiss meinen Geburtstag! Imp Ei: [Du vergisst meinen Geburtstag] Du hast meinen Geburtstag vergessen?! Excl Ei: [Du hast meinen Geburtstag vergessen] Der Illokutionswert eines Satzes kann aber auch durch (konventionalisierte) grammatische Konversionsoperatoren verändert werden. Im Englischen gelten z.B. tag questions als grammatische Konversionsoperatoren, mit deren Hilfe der Illokutionswert einer
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Funktionale Grammatik
Äußerung von Deklarativ auf Interrogativ konvertiert werden kann. She’s a nice girl, isn’t she? Im Deutschen wird diese Funktion durch Ausdrücke wie nicht wahr?, oder? oder gell? kodiert. Es ist warm hier, nicht wahr / oder / gell? Modalpartikeln gehören auch zu Konversionsoperatoren9 (z.B. mal und vielleicht im Deutschen), daneben auch Intonation und Elemente wie engl. please oder dt. bitte: Sie transformieren Imperativ-, Deklarativ- und Interrogativsätze in Bitten (REQ=requests) (vgl. Dik 1997b: 246): Bitte, hör auf mich zu kitzeln! Jan, bitte, es ist erst halb acht! Kannst du mir bitte /mal das Salz geben?
Imp Decl Int
> REQ > REQ > REQ
Zu den σ4-Satelliten gehören diejenigen lexikalischen Elemente, mit denen der Sprecher den Sprechakt spezifiziert. Im folgenden Beispiel kommentiert der Sprecher mit ehrlich gesagt, die als σ4Satellit gilt, die Art und Weise seines eigenen Sprechens. Ehrlich gesagt, er ist nicht besonders intelligent. Decl Ei: [Er ist nicht besonders intelligent] (ehrlich gesagt)Illocution Bevor die unterliegenden Satzstrukturen mittels Ausdrucksregeln auf konkrete sprachliche Ausdrücke abgebildet werden können, müssen die syntaktischen und pragmatischen Funktionen spezifiziert werden. Damit befassen wir uns in den folgenden Abschnitten. _____________ 9
Es ist auffällig, dass Dik Modalpartikeln und Elemente wie please zu den grammatischen Operatoren rechnet. Der grammatische Status dieser Mittel ist allerdings nicht völlig unproblematisch (s. Kapitel 6.4).
Satzanalyse
2.2.5.
35
Syntaktische Funktionen
Auf der Ebene der core predication (vgl. Kapitel 2.2.2) werden die syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt spezifiziert. Die FG bedient sich zwar der traditionellen syntaktischen Terminologie, verwendet diese aber in einer grundsätzlich anderen Art und Weise: Subjekt und Objekt stellen nämlich verschiedene Perspektivierungsmöglichkeiten bereit, indem sie es dem Sprecher ermöglichen, seine Perspektive (vantage point) auf einen Sachverhalt unterschiedlich zu spezifizieren. Das syntaktische Subjekt kodiert dabei den primary vantage point,10 während das Objekt dem secondary vantage point vorbehalten ist. Folgende Sätze bringen demnach dieselbe unterliegende Prädikation zum Ausdruck (d.h. sie bezeichnen ein und denselben Sachverhalt). Der Kunde bestellte den Hamburger. past bestellenV (d1xi: KundeN (xi))AgSubj (d1xj: HamburgerN (xj))PatObj Der Hamburger wurde vom Kunden bestellt. past pass bestellenV (d1xi:KundeN (xi))AgObj(d1xj: HamburgerN (xj))PatSubj Der Unterschied zwischen den Sätzen liegt darin, dass der Sachverhalt im ersten Satz aus der Perspektive des Kunden dargestellt wird, während im zweiten Satz das syntaktische Subjekt der Hamburger als Ausgangspunkt fungiert. Die Zuweisung der Subjektfunktion lässt sich also nicht auf semantische Faktoren zurückführen: Ein syntaktisches Subjekt kann grundsätzlich verschiedene semantische Rollen innehaben. Dik (1997a: 248) weist darauf hin, dass in vielen Sprachen fast allen Elementen eines Satzes der Subjektstatus zugewiesen werden kann: In fact, there is hardly a term type within the core predication (including σ1 satellites), which cannot acquire Subject status in some language. Thus, Subject assignment is potentially a much more extensive phe-
_____________ 10
Langackers Charakterisierung von Subjekt bzw. Objekt als primärer bzw. sekundärer fokaler Partizipant (vgl. Kapitel 4.1) ist mit der FG-Auffassung völlig im Einklang.
36
Funktionale Grammatik
nomenon than would appear from the better-known Indo-European languages. (Dik 1997a: 248).
Allerdings wird die Subjektfunktion in einer Sprache erst dann relevant, wenn die Sprache über eine regelmäßige (grammatische) Opposition zwischen aktivischen und entsprechenden passivischen Strukturen verfügt (vgl. Dik 1997a: 259). Das ist im Deutschen der Fall, wenn auch bemerkt werden muss, dass nur Akkusativobjekte zum Subjekt eines werden-Passivsatzes werden können, während im Englischen nicht nur direkte Objekte, sondern auch indirekte Objekte den Subjektstatus im Passivsatz bekommen können. The money is given to Tibetan refugees by Richard Gere. Tibetan refugees are given the money by Richard Gere. Den tibetanischen Flüchtlingen wird von Richard Gere das Geld gegeben. *Die tibetanischen Flüchtlinge werden von Richard Gere das Geld gegeben. Dieser Unterschied betrifft die sog. Zugänglichkeit (accessability), d.h. die Frage, ob Sprachen nicht-primäre Argumente (d.h. Argumente mit den semantischen Rollen Patiens, Rezipient oder Instrument) als Subjekt kodieren können. Es gibt dabei laut Dik eine universelle Tendenz, die sog. semantic function hierarchy (vgl. Dik 1997a: 266).
Subj Obj
Ag > + > >
Go > + > + >
Rec > + > + >
Ben > Instr > Loc > Temp + > + > + > + + > + > + > +
Abb. 4 : Semantic Function Hierarchy (Dik 1997a: 266)
Je weiter rechts eine semantische Rolle in der Hierarchie liegt, desto kleiner wird die Chance, dass sie die Subjekt- bzw. Objektfunktion übernehmen kann. Es ist klar, dass das Deutsche und das Englische sich in Sachen Zugänglichkeit unterscheiden. Im Englischen können lokale präpositionale Fügungen als Subjekte in einem Passivsatz fungieren (Beispiele aus König / Gast 2007: 130):
Satzanalyse
37
This bed has been slept in. (Somebody has slept in the bed). This cup has been drunk out of. (Somebody has drunk out of the cup) Das Deutsche bevorzugt hier subjektlose Konstruktionen: Im Bett wurde geschlafen. Aus der Tasse ist getrunken worden. Das Vorliegen subjektloser Sätze im Deutschen ist für die FG insofern unproblematisch, als dass die Subjektfunktion nicht zugewiesen werden muss. Es handelt sich um eine fakultative Zuweisung, die in vielen Sprachen unterbleiben kann. Ähnliches gilt für die Objektfunktion: Sie liegt nur dann vor, wenn eine Sprache über die Möglichkeit verfügt, unterschiedlichen nicht-primären Argumenten einen Objektstatus zuzuweisen. Es muss mit anderen Worten eine Wahlmöglichkeit geben, verschiedene Typen von Argumenten als Objekte zu kodieren. So kann einem indirekten Objekt im Englischen die syntaktische Objektfunktion zugewiesen werden, indem es ohne die Präposition to unmittelbar nach dem Verb erscheint. Richard Gere gives the money to Tibetan refugees. Richard Gere gives Tibetan refugees the money. Im Deutschen ist eine solche Alternanz beim gleichen Verb nicht möglich. Die Nominalphrase den tibetanischen Flüchtlingen behält die Dativ-Markierung bei, auch wenn sie unmittelbar nach dem Verb erscheint. Richard Gere gibt den tibetanischen Flüchtlingen das Geld. Richard Gere gibt das Geld den tibetanischen Flüchtlingen. Der Unterschied zwischen diesen Sätzen ist im deutschen Satzpaar deshalb nicht auf eine unterschiedliche Zuweisung der Objektfunktion zurückzuführen, sondern auf Wortfolgeregeln, die sich eher vor dem Hintergrund pragmatischer Funktionen erklären lassen (vgl. Dik 1997a: 262).
38
Funktionale Grammatik
Das Deutsche verfügt somit über die Subjektfunktion, nicht aber über die Objektfunktion im Sinne der FG. Außerdem ist im Deutschen die Zugänglichkeit für Subjekte beschränkter als im Englischen. 2.2.6.
Pragmatische Funktionen
Auf der Ebene des Satzes werden die pragmatischen Funktionen spezifiziert: Sie betreffen den Informationsstatus der jeweiligen Konstituenten vor dem Hintergrund des kommunikativen Kontexts (communicative setting). Pragmatische Information (PA) umfasst die Gesamtheit der Überzeugungen, Gefühle, Gedanken und Annahmen des Adressaten. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass der Sprecher durch seine Äußerung die pragmatische Information beim Adressaten auf irgendeine Weise verändern will (er kann sie ergänzen, korrigieren wollen, den Adressaten zu etwas bringen wollen, was dieser bisher nicht vorhatte usw.). Eine Äußerung, so Dik, enthält meist sowohl gegebene als auch neue Information (vgl. Dik 1997a: 312), zumindest nach Einschätzung des Sprechers.11 Die Definition der pragmatischen Funktionen Topik und Fokus schließt an diese Überlegungen an: Topicality concerns the status of those entities “about” which information is to be provided or requested in the discourse. The topicality dimension concerns the participants in the event structure of the discourse, the “players” in the play staged in the communicative interaction. Focality attaches to those pieces of information which are the most important or salient with respect to the modifications which S wishes to effect in PA, and with respect to the further development of the discourse. The focality dimension concerns the “action” of the play. (Dik 1997a: 312)
Viele Sprachen markieren Topik und Fokus explizit (z.B. durch spezifische Topik- oder Fokusmarker, durch eine bestimmte Wortfolge, durch prosodische Merkmale, durch konstruktionale _____________ 11
Es ist durchaus möglich, dass die Einschätzung des Sprechers falsch ist, sodass er dem Adressaten etwas mitteilt, was dieser bereits weiß.
Satzanalyse
39
Muster etc.). So liegt in vielen Sprachen eine existenzielle bzw. existenziell-lokative Konstruktion vor, mit der neue Topiks (die gleichzeitig auch fokale Information enthalten) in den Diskurs eingeführt werden. Once upon a time there was an elephant called Jumbo. Long ago, in the middle of the African jungle, there lived an elephant called Jumbo. Diese Beispiele veranschaulichen die universelle Tendenz, neue Topiks später, d.h. in nicht-initialer Position, im Satz einzuführen. Terms introducing NewTops have a strong preference for taking a relatively late position in the clause. Even in languages which normally place a Subject in initial position, NewTop Subjects typically take a later position, sometimes at the very end of the clause. (Dik 1997a: 316)
Auch das Deutsche besitzt existenzielle, ‚präsentative‘ und ähnliche Konstruktionen, die neue Topiks in nichtsatzinitialer Position einführen: Es war einmal ein Elefant, der hatte keinen Verstand. Es kamen nur drei Züge an. Am Ende der Straße liegt das St.-Hedwig-Krankenhaus, 1844 erstes katholisches Krankenhaus Berlins. [...] Kurz darauf führt eine Einfahrt nach rechts zur 1712 von Königin Sophie gestifteten Sophienkirche, die wohl den schönsten barocken Kirchturm Berlins besitzt [...]. Auf dem Kirchhof, sind u.a. der Baumeister und Komponist Carl Friedrich Zelter [...] und der Historiker Leopold von Ranke [...] begraben. (Baedeker Berlin Potsdam 2003: 204) Weil das Topik als „that entity about which the clause predicates something in the given setting“ (Dik 1997a: 155) charakterisiert wird, wundert es nicht, dass Topik und Subjekt stark dazu neigen, zusammenzufallen. Trotzdem sind sie grundsätzlich voneinander zu unterscheiden. Während die Subjektzuweisung mit der Darstellung oder Präsentation des Sachverhalts verbunden ist, ist die (ebenfalls perspektivierende) Zuweisung der Topikfunktion durch die kontextuelle Gegebenheit der Satzinformation motiviert.
40
Funktionale Grammatik
Die pragmatische Fokusfunktion kann am leichtesten durch Frage-Antwort-Paare getestet werden. Im folgenden Satz ist das wohin-Element vom Sprecher als fokal (d.h. salient, nach Meinung des Sprechers wichtig) gesetzt. Der Sprecher weiß von der Reise (= Topik), ist allerdings nicht darüber informiert, wohin sie führt. Wohin geht die Reise? – Nach Frankreich. In Fragen erscheint also der Fokus als die dem Sprecher fehlende Information, die erfragt wird. Kontrastive Kontexte können auch helfen, die Fokusfunktion zu ermitteln. So wird im folgenden Beispiel derjenige Satzteil fokussiert, mit dem die Elemente einer früheren Aussage abgelehnt (keine Bananen), durch andere ersetzt (sondern Äpfel) oder um Informationen ergänzt (und Äpfel) werden, also Bananen. X: Y: Y: Y:
Sie hat Bananen gekauft. Sie hat keine Bananen gekauft. Sie hat keine Bananen, sondern Äpfel gekauft. Sie hat Bananen und Äpfel gekauft.
Jeder Teil einer unterliegenden Prädikation kann fokussiert werden, d.h. nicht nur die Prädikate selbst, sondern auch Operatoren (Termoperatoren und Prädikatoperatoren) können den Fokusstatus haben: Ich bevorzuge das GRÜNE Auto. Ich möchte gerne ZWEI Autos. Er WIRD nicht verreisen, er IST schon verreist. 2.2.7.
Ausdrucksregeln
Sobald die syntaktischen und pragmatischen Funktionen feststehen, haben wir eine völlig spezifizierte Satzstruktur. Sie fungiert als Input für die Ausdrucksregeln, die die unterliegende Satzstruktur in eine geeignete sprachliche Form überführen. Die Ausdrucksregeln sind für das Zustandekommen von morphosyntakti-
41
Satzanalyse
schen Strukturen verantwortlich. Es muss hier allerdings bemerkt werden, dass der konkreten Herausarbeitung der Ausdrucksregeln in der FG verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde (vgl. auch Butler 2003a: 97; Bakker 1999). Es werden in der FG drei Typen von Ausdrucksregeln unterschieden: Zum einen gibt es Regeln, die die Form der Terme (Kasus, Artikel, Demonstrativpronomina usw.) und der Prädikate (Genus verbi, Tempus, Modus, Aspekt, Auxiliare, Kongruenz) regulieren. Die zweite Art von Regeln betrifft die lineare Abfolge der Konstituenten. Die dritte Gruppe umfasst solche Regeln, die die prosodischen Merkmale der Äußerung (im Wesentlichen Akzent und Intonation) bestimmen. Im Folgenden gehen wir auf die Wortfolgeregeln ein, für deren Behandlung Dik sich u.a. auf die typologischen Arbeiten von Greenberg und Hawkins stützte. Die Linearität des Satzes wird aber durch verschiedene Faktoren gesteuert, die miteinander interagieren und womöglich sogar miteinander konkurrieren (vgl. Dik 1997a: 395), was die Vorhersagbarkeit erheblich erschwert. PRÄSTELLUNG NP NP Mann Baum Adj N reich Frau Rel N in Haus Adv Adj sehr kalt
V fällen
NACHSTELLUNG V NP NP fällen Mann Baum N Adj Frau reich N Rel Haus in Adj Adv kalt sehr
Abb. 5: Prästellung vs. Nachstellung
Ob abhängige Elemente in einer Phrase vor oder nach dem Kopf (Verb, Substantiv, Adjektiv) auftreten, wird als der grundlegende Unterschied in sprachlicher Linearität aufgefasst. Dementsprechend lassen sich die Sprachen in zwei große Gruppen einteilen: Sprachen mit Prästellung einersetis und Sprachen mit Nachstel-
42
Funktionale Grammatik
lung andererseits (vgl. Dik 1997a: 405).12 Abb. 5 gibt einen Überblick über die in beiden Sprachtypen gängigen Muster. Ein zweites Linearitätsprinzip besagt, dass die Subjektposition der Objektposition normalerweise vorangeht. Daraus ergibt sich folgendes Positionsschema, je nachdem ob es sich um eine Sprache mit Prä- bzw. Nachstellung handelt. PRÄSTELLUNG S O V
NACHSTELLUNG V S O Abb. 6: SOV vs. VSO
Zwei weitere wichtige Prinzipien sind: (i) Es gibt eine universalrelevante satzinitiale Position P1, die für Sonderzwecke verwendet werden kann, wie z.B. die Position der Konstituenten mit Topik- oder Fokusfunktion. Da das syntaktische Subjekt dazu neigt, mit dem (gegebenen) Topik zusammenzufallen, nimmt es oft die P1-Position ein. (ii) Unter sonst gleichen Umständen bevorzugen Konstituenten eine Reihenfolge, in der die Komplexität der Konstituenten allmählich zunimmt. Diese Hierarchie wird als LIPOC bezeichnet (Language Independent Preferred Order of Constituents). So geht normalerweise ein Klitikon einem Pronomen voran, das seinerseits vor einer Nominalphrase steht usw. Klitikon Pronomen NP PP untergeordneter Satz Abb. 7: LIPOC
Bekanntlich steht in deutschen Sätzen mit einem Verb, das eine Dativ- sowie eine Akkusativergänzung erfordert, das Dativobjekt vor dem Akkusativobjekt (vgl. Duden 2005: 955). Das hängt damit zusammen, dass Dativobjekte in der Regel auf belebte Referenten Bezug nehmen, während Akkusativobjekte eher unbelebte _____________ 12
Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass die Unterscheidung in zwei fundamentale Sprachtypen oft von anderen Faktoren überspielt wird, sodass sie in der Praxis nur auf die Hälfte aller Sprachen angewandt werden kann (vgl. Dik 1997a: 405).
43
Schlussbemerkungen
Referenten bezeichnen.13 Belebte Referenten stehen im deutschen Mittelfeld in der Regel vor unbelebten (Duden 2005: 886). Der Junge schenkte seiner Mutter [DAT] Rosen [AKK]. Der Ober empfiehlt dem Gast [DAT] das Menü [AKK]. Das Gericht traut dem Angeklagten [DAT] die Tat [AKK] zu. Das LIPOC-Prinzip erklärt, warum in solchen Sätzen ein pronominales Akkusativobjekt vor dem formal komplexeren Dativobjekt steht, und zwar warum zwei allgemeine Wortstellungsprinzipien des Deutschen verletzt werden (‚Dativobjekt vor Akkusativobjekt‘ und ‚belebt vor unbelebt‘): Der Junge schenkte sie seiner Mutter Der Ober empfiehlt es dem Gast Das Gericht traut sie dem Angeklagten zu Auf Grundlage der genannten Prinzipien wird in der FG folgendes funktionale Satzmuster formuliert, das allen Sätzen zugrunde liegt (P2 und P3 sind Positionen für satzexterne Konstituenten; P1 steht für die satzinitiale Sonderposition): P2,
P1
(V)
S
O
(V),
P3
Abb. 8: Universales Satzmuster
2.3.
Schlussbemerkungen
Die FG wurde als eine Sprachtheorie konzipiert, in die alle Aspekte der Sprache – von der Phonologie, der Intonation und der Wortfolge im Satz bis hin zu pragmatischen Regeln – integriert _____________ 13
Diese Tendenz kann überspielt werden, wenn das Akkusativobjekt mit einer Personenbezeichnung besetzt ist, während das Dativobjekt eine unbelebte Größe kodiert (vgl. Duden-Grammatik 2005: 955): Der Rabenvater hat das Kind [AKK., belebt] großer Kälte [DAT, unbelebt) ausgesetzt; Die Professorin unterzog die Studenten [AKK, belebt] einer harten Klausur [DAT, unbelebt].
44
Funktionale Grammatik
werden sollten. Die angestrebte typologische Adäquatheit führte außerdem dazu, dass in der Theorie Daten aus auffällig vielen Sprachen berücksichtigt wurden und die Grundlage für empirisch testbare Hypothesen bildeten, z.B. für die semantic function hierarchy. Der ausgeprägte Formalismus dieser Theorie – mit Satelliten und Operatoren auf verschiedenen Ebenen und mit der Zuweisung von semantischen, syntaktischen und pragmatischen Funktionen in unterschiedlichen Schritten – ist dem Bestreben nach der Implementierung in Computerprogramme geschuldet. Nicht allen Aspekten des Modells wurde allerdings in der Vergangenheit gleichermaßen Beachtung geschenkt. So kommt die Ausdruckskomponente (die Ebene der expression rules) in der Praxis zu kurz, was häufig kritisiert wurde (vgl. insbesondere Butler 2003a-b, Bakker 1999). Des Weiteren fällt auf, dass in der Theorie eine strikte Unterscheidung zwischen grammatischen (π-Operatoren) und lexikalischen Elementen (σ-Satelliten) vorgenommen wird. Nach der gängigen funktionalen Auffassung hingegen kann ein Zeichen mehr oder weniger grammatikalisiert sein (vgl. Kapitel 6), sodass sich Operatoren und Satelliten nicht immer deutlich unterscheiden lassen. Kritisiert wird außerdem die Geschichtetheit des Modells: Wieviele Schichten (Module, Niveaus, Ebenen) gibt es überhaupt? Welche Operatoren sind auf welchen Ebenen anzusiedeln? Eine der wichtigsten Entwicklungen in den letzten Jahren ist die Verschiebung innerhalb der Funktionalen Grammatik von einer Satzgrammatik zu einer Diskursgrammatik, eine Veränderung, die sich auch in einem neuen Namen für das Modell widerspiegelt: Functional Discourse Grammar (FDG). Dieses Modell stützt sich in seinen Ausgangspunkten und seinem Formalismus zwar auf die Funktionale Grammatik, strebt aber im Vergleich zu dieser eine stärkere psychologische und pragmatische Theorieadäquatheit an. Zum einen ist Functional Discourse Grammar ein top-downModell, bei dem von den Intentionen des Sprechers ausgegangen wird, im Gegensatz zur FG, die einen bottom-up-Aufbau aufweist, indem vom indivuellen sprachlichen Element ausgegangen wird, das der Sprecher allmählich mit extra Information versieht. Zum anderen ist die Analyse-Einheit in der FDG nicht der Satz (clause
Aufgaben
45
bzw. sentence) die übliche Analyseeinheit in der FG, sondern die Diskurseinheit (discourse move). Eben weil die FDG in der Lage ist, bestimmte Probleme zu lösen, zu deren Lösung die traditionelle FG nicht in der Lage war, und zwar „to account for regularities of form that are attributable to the use of language in discourse“ (Mackenzie / Gómez-González 2004: vii) ist zu erwarten, dass Functional Discourse Grammar in Zukunft als Paradigma zur größeren Geltung kommen wird und dabei die Funktionale Grammatik ablösen wird.
2.4.
Aufgaben
1. Max schenkte seiner Schwester gestern Blumen. Nein, er schenkte die Blumen seiner Mutter! Bestimmen Sie für die beiden Sätze die semantischen, die syntaktischen und die pragmatischen Rollen der Aktanten. Welche Erklärung könnte es für die unterschiedliche Wortfolge in diesen Sätzen geben? Sehen Sie einen Grund, weshalb die Blumen im zweiten Satz vor dem Dativobjekt seiner Mutter steht? In welcher Hinsicht unterscheiden sich schenkte und gestern voneinander? 2. Er bekommt die Kleider geschenkt. Das deutsche Vorgangspassiv erlaubt nur die Beförderung eines Akkusativobjektes zum Subjekt. Im Deutschen hat sich allerdings auch ein bekommen-Passiv entwickelt. Welches Element wird hier zum Subjekt befördert? Wie ist dies mit der semantic function hierarchy in Einklang zu bringen? 3. Klug beantwortete er die Frage. Klugerweise beantwortete er die Frage.
46
Funktionale Grammatik
In welcher Hinsicht unterscheiden sich die Ausdrücke klug/ glücklich und kligerweise/ glücklicherweise voneinander?
2.5.
Literatur
Anstey, Matthew P. (2002): Layers and operators revisited. Amsterdam: University of Amsterdam. Anstey, Matthew P. (2004): „Functional Grammar from its inception.“ In: Mackenzie / Gómez-González (Hgg.), 23-71. Anstey, Matthew P. und J. Lachlan Mackenzie (Hgg.) (2005): Crucial Readings in Functional Grammar. Berlin / New York: Mouton de Gruyter. Bakker, Dik (1999): FG expression rules: from templates to constituent structure. Amsterdam: University of Amsterdam. Butler, Christopher S. (2003a): Structure and Function. A guide to three major structural-functional theories. Part 1. Approaches to the simplex clause. Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins. Butler, Christopher S. (2003b): Structure and Function. A guide to three major structural-functional theories. Part 2. From clause to discourse and beyond. Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins. De Groot, Casper und Kees Hengeveld (Hgg.) (2005): Morphosyntactic expression in functional grammar. Berlin / New York: Mouton de Gruyter. Dik, Simon C. (1978): Functional Grammar. Amsterdam: North Holland. Dik, Simon C. (1991): „Functional Grammar.“ In: Droste, Filip G. und John E. Joseph (Hgg.): Linguistic Theory and Grammatical Description. Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins, 247-274. Dik, Simon C. (1997a): The theory of functional grammar. Part 1. The structure of the clause. Second, revised edition, edited by Kees Hengeveld. Berlin / New York: Mouton de Gruyter. Dik, Simon C. (1997b): The theory of functional grammar. Part 2. Complex and derived constructions, edited by Kees Hengeveld. Berlin / New York: Mouton de Gruyter. Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich: Dudenverlag. (Duden Band 4) König, Ekkehard und Volker Gast (2007): Unterstanding English-German contrasts. Berlin: Erich Schmidt. Harder, Peter (1998). „Function, cognition, and layered clause structure.” In: Allwood, Jens und Peter Gärdenfors (Hgg.): Cognitive Semantics:
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47
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Die Webseite www.functionalgrammar.com informiert über Konferenzen, Veröffentlichungen, Kurse usw. und stellt außerdem eine elektronisch verfügbare Bibliographie bereit.
3. Systemisch-funktionale Grammatik Die systemisch-funktionale Grammatik (SFG), auch systemischfunktionale Linguistik (SFL) genannt, ist ein Grammatikmodell, das seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts von Michael Alexander Kirkwood Halliday (geb. 1925) entwickelt wird. Vorlaufende Überlegungen zu dieser Theorie stammen vom britischen Sprachwissenschaftler John Rupert Firth (1890-1960), der sich unter anderem mit den Kategorien ‚Struktur‘ und ‚System‘ und mit Funktionen der Sprache im außersprachlichen Kontext beschäftigt hatte. Maßgeblich beeinflusst wurde die Theorie außerdem durch die Ideen des Anthropologen Bronislaw Malinowski (1884-1942), der die entscheidende Rolle von situativen und kulturellen Kontextfaktoren für das Verstehen sprachlicher Äußerungen betonte. Ursprünglich hieß das Modell Scale and Category Grammar (vgl. Halliday 1961). In den 70er Jahren bekam es den Namen Systemic Functional Grammar. Das Attribut ‚systemisch‘ weist auf eine allgemeine Sprachauffassung hin, der zufolge die Sprache als ein Netzwerk verstanden wird, das ihren Benutzern alternative Wahlmöglichkeiten beim Erzeugen und Kommunizieren unterschiedlicher Bedeutungen bereitstellt. Die Theorie ist ‚funktional‘, insofern sie sich auf den Gebrauchsaspekt der Sprache in unterschiedlichen Kommunikationssituationen konzentriert. It is functional in the sense that it is designed to account for how the language is used. Every text – that is, everything that is said or written – unfolds in some context of use; furthermore, it is the uses of language that, over tens of thousands of generations, have shaped the system. Language has evolved to satisfy human needs; and the way it is organized is functional with respect to these needs – it is not arbitrary. A functional grammar is essentially a ‘natural’ grammar, in the sense that everything in it can be explained, ultimately, by reference to how language is used. (Halliday 1985: xiii)
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Systemisch-funktionale Grammatik
Seit ihrem Aufkommen hat die systemisch-funktionale Grammatiktheorie zunehmende Aufmerksamkeit genossen, vor allem in der angelsächsischen und der fernöstlichen Linguistik. Zahlreiche Untersuchungen und Grammatikbücher des Englischen sind in den letzten Jahren zu diesem Thema erschienen, darüber hinaus auch Studien des Chinesischen, Japanischen sowie anderer fernöstlicher und australischer Sprachen. Die europäischen Sprachen sind allerdings bisher nur sehr sporadisch aus der Perspektive dieses Grammatikmodells beschrieben worden. Das trifft auch für das Deutsche zu.
3.1.
Zur systemisch-funktionalen Sprachauffassung
Wenn Menschen miteinander kommunizieren, tun sie das meist mittels (natürlicher) Sprache. Mit der Sprache können sie einander Gedanken und Gefühle mitteilen, Befehle erteilen, Fragen stellen oder um etwas bitten. Auch können sie sich gegenseitig etwas versprechen, Hilfe anbieten, Neuigkeiten erzählen und vieles mehr. Es gibt also ganz unterschiedliche Dinge, die in und mit der Sprache kommuniziert und erreicht werden können. Darüber hinaus wird in unterschiedlichen außersprachlichen Situationen kommuniziert. Ein Gespräch unter Freunden unterscheidet sich von einem Prüfungsgespräch, und dieses ist wiederum anders als eine feierliche Eröffnungsrede oder z.B. ein Dialog im Sprechzimmer eines Arztes. Wenn Menschen mit unterschiedlichen Absichten und in unterschiedlichen außersprachlichen Situationen miteinander kommunizieren, verwenden sie variable sprachliche Formen und Muster. Das heißt in anderen Worten, dass die Sprachbenutzer gemäß der Situation (kommunikativ) handeln und die sprachlichen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, in Abhängigkeit von ihren Intentionen und von der aktuellen Situation auswählen. Umgekehrt gilt, dass Sprachformen, die in unterschiedlichen Situationen und zu unterschiedlichen Zwecken gebraucht werden, den Sprachforschern Aufschluss darüber geben können, welche Ziele die Kommunizierenden verfolgen, in welchem Verhältnis sie
Zur systemisch-funktionalen Sprachauffassung
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zueinander stehen, und in welchen außersprachlichen Situationen die Kommunikation stattfindet. Der Grundgedanke der systemisch-funktionalen Grammatik besteht darin, dass die Sprache ohne die Kontexte ihrer Verwendung nicht denkbar ist. Es wird angenommen, dass bestimmte Aspekte von Kommunikationssituationen einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss haben auf sprachliche Bedeutungen und darüber hinaus auf die sprachlichen Mittel und Strukturen, mit denen diese Bedeutungen ausgedrückt werden. Die systemisch-funktionale Grammatiktheorie geht also davon aus, dass viele Aspekte des Sprachgebrauchs direkt in die Bedeutung und in die Wahl sprachlicher Formen eingehen. Daher wird der Begriff ‚Bedeutung‘ in dieser Theorie sehr weit gefasst und schließt viele funktionale Aspekte bzw. Funktionen mit ein, die traditionell in den Bereich der Pragmatik gehör(t)en. Es wird zwischen drei grundlegenden Arten von sprachlichen Bedeutungen unterschieden, die als Metafunktionen bezeichnet werden: die ideationelle, die interpersonelle und die textuelle Bedeutungskomponente bzw. Metafunktion (s. Kapitel 3.2.5). Die systemisch-funktionale Grammatiktheorie sieht die Sprache als ein System, das der menschlichen Kommunikation dient. Die primäre Funktion der Sprache ist laut dieser Theorie das Erzeugen und Kommunizieren vielfältiger Bedeutungen in spezifischen Verwendungskontexten. In dieser Hinsicht vertritt diese Theorie die allgemeine Sprachauffassung von Sprache als Werkzeug (vgl. Kapitel 1.1). Die Sprache wird im Wesentlichen als eine Ressource bzw. als ein Potenzial aufgefasst, das den Sprachbenutzern zur Verfügung steht und von ihnen zum Zweck der Kommunikation ausgeschöpft wird. Diese Ressource ist in einer bestimmten Weise organisiert, nämlich: Sie ist ein Netzwerk (bzw. ein System) aus miteinander zusammenhängenden (Sub-)Systemen (zum Begriff System s. Kapitel 3.2.2). Die systemisch-funktionale Grammatik liefert eine Theorie der Sprache als System von Wahlmöglichkeiten (language as choice). Beim Kommunizieren trifft der Sprecher immer eine Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten, die ihrerseits im Sprachsystem angelegt sind. Die Wahl einer bestimmten
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Systemisch-funktionale Grammatik
Option bedeutet, dass alle anderen Optionen des betreffenden (Sub-)Systems nicht gewählt wurden, und gleichzeitig dass diese hätten gewählt werden können, wenn die kontextuellen Bedingungen anders gewesen wären. Wenn ein Sprecher zum Beispiel eine Frage wie Was soll die Aufregung? formuliert, wählt er die Option, einen Fragesatz (und nicht etwa einen Aussagesatz oder einen Aufforderungssatz) zu formulieren, und diesen in einer eher informellen Weise auszudrücken (und also keine formelle Ausdrucksweise zu benutzen). Die Menge der Optionen, zwischen denen Sprachbenutzer in konkreten Situationen entscheiden, bildet jeweils ein System innerhalb der Sprache. Die den Sprachbenutzern bereitstehenden Wahlmöglichkeiten sind zum großen Teil durch mehrere Aspekte des aktuellen Verwendungskontextes bestimmt. Die Wahl findet auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen oder Schichten statt (zu Stratifikation s. Kapitel 3.2.3). Es wird in dieser Theorie also angenommen, dass sprachliche Bedeutungen vom sozialen und kulturellen, d.h. außersprachlichen, Kontext abhängig sind, also dass dieser Kontext als integraler Bestandteil des Sprachgebrauchs fungiert. Die Sprachverwendung gilt als ein semiotischer Prozess oder anders gesagt: ein Prozess der Realisierung von Bedeutung durch Wählen. Die wichtigsten Grundannahmen der systemisch-funktionalen Grammatik können wie folgt zusammengefasst werden: 1. Der Sprachgebrauch ist funktional. Sprachliche Bedeutungen und Regelmäßigkeiten sprachlicher Form können aus dem funktionalen Gebrauch der Sprache erklärt werden. 2. Die Funktion der Sprache ist es, Bedeutungen zu erzeugen. Bedeutung umfasst wichtige funktionale Aspekte des Sprachgebrauchs. A language is a system for making meanings. (Halliday 1985: xvii)
3. Sprachliche Bedeutungen sind wesentlich durch den außersprachlichen Verwendungskontext bestimmt. Gleichzeitig spie-
Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
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len sprachliche Mittel eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion des Kontexts. Der Kontext und die Sprache sind also interdependent. 4. Der Sprachgebrauch ist ein semiotischer Prozess, der auf Selektion aus alternativen Wahlmöglichkeiten basiert, die die Sprache als systematisch organisierte Ressource ihren Benutzern zur Verfügung stellt. A language [is] a resource for making meaning by choosing. (Halliday 1985: xxvii)
3.2.
Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
Die systemisch-funktionale Grammatiktheorie sieht die Sprache als ein komplexes System, das der (menschlichen) Kommunikation dient. Der systemische Anspruch dieser Theorie liegt darin, alle sprachlichen Aspekte in ihrer Gesamtheit umfassend zu beschreiben. Das bedeutet, dass jeder einzelne sprachliche Aspekt mit allen anderen in einen systematischen Zusammenhang gebracht wird. In anderen Worten: Alles, was über einen Aspekt gesagt wird, lässt sich nur in Bezug auf das gesamte sprachliche System begreifen. Gleichzeitig trägt das, was über einen einzelnen Aspekt der Sprache ausgesagt wird, zum gesamten Bild des komplexen sprachlichen Systems bei. Dieser systemische Anspruch wird in der systemisch-funktionalen Grammatik dadurch gewährleistet, dass das komplexe sprachliche System in mehrere Dimensionen bzw. Beschreibungsebenen eingeteilt wird, die miteinander auf vielerlei Weise zusammenhängen und interagieren. Jede Dimension zeichnet sich durch ihr eigenes Organisationsprinzip aus. Abbildung 1 gibt einen ersten Überblick über (i) die angenommenen sprachlichen Dimensionen bzw. Beschreibungsebenen, (ii) ihre Organisationsprinzipien und (iii) ihre Gliederungseinheiten bzw. Elemente.
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Systemisch-funktionale Grammatik DIMENSION
ORGANISATIONS-
GLIEDERUNG
PRINZIP
1
Struktur (syntagmatische Ordnung)
Rang
Satz ~ Phrase ~ Wort ~ Morphem
2
System (paradigmatische Ordnung)
Detailliertheit
Grammatik ~ Lexikon
3
Stratifikation
Realisierung
Semantik ~ Lexikogrammatik ~ Phonologie ~ Phonetik
4
Instanziierung
Instanziierung
Potenzial ~ SubPotenzial bzw. InstanzTyp ~ Instanz
5
Metafunktion
Metafunktion
ideationell ~ interpersonell ~ textuell
Abb. 1: Sprachliche Dimensionen und ihre Organisationsprinzipien (nach Halliday /Matthiessen 2004: 20)
3.2.1. Struktur Die sprachliche Struktur-Dimension betrifft den kompositionellen Aspekt der Sprache, der in der traditionellen linguistischen Terminologie meist mit dem Begriff ‚Konstituenz‘ erfasst wird. Diese Dimension umfasst syntagmatische Verhältnisse zwischen sprachlichen Elementen. Als Organisationsprinzip herrscht hier das Prinzip des Ranges (rank). Es besteht im Wesentlichen darin, dass größere Elemente sich aus kleineren zusammensetzen. Sprachliche Elemente, die in dieser Dimension unterschieden werden können (z.B. Satz, Phrase, Wort), stehen zueinander jeweils in der Beziehung ‚X ist ein Teil von Y‘ (z.B. ‚Wort ist ein Teil von Phrase‘). Struktur im hier gemeinten Sinne ist in unterschiedlichen sprachlichen Domänen beobachtbar. In der Phonologie zum Beispiel finden wir folgende syntagmatische Ordnung vor: Die kleinsten phonologischen Einheiten – Phoneme – fungieren als Teile
Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
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von Silben, die selbst Teile von Takten sind, die wiederum Teile von größeren phonologischen Sequenzen sind. Die Elemente Phonem, Silbe, Takt und Lautsequenz bilden demnach eine Hierarchie. In der systemisch-funktionalen Grammatik wird solch eine Hierarchie Rangskala genannt; ihre einzelnen Stufen oder Elemente werden als Rang bezeichnet. In Abb. 2 werden einige kompositionelle (oder – in der systemisch-funktionalen Terminologie – strukturelle) Hierarchien in unterschiedlichen sprachlichen Domänen präsentiert: DOMÄNE
KOMPOSITIONELLE HIERARCHIE
a
Laut
Lautsequenz ~ Takt ~ Silbe (~Halbsilbe) ~ Phonem
b
Schrift
Satz ~ Teilsatz ~ (geschriebenes) Wort ~ Buchstabe
c
Metrik
Strophe ~ Vers ~ Versfuß ~ Silbe
d
Grammatik/ Morphosyntax
Satz ~ Phrase/ Gruppe ~ Wort ~ Morphem
Abb. 2: Kompositionelle Hierarchien des Englischen (nach Halliday / Matthiessen 2004: 20)
Die ersten vier Zeilen aus dem Gedicht „Der Zauberlehrling“ von Johann Wolfgang von Goethe sollen verdeutlichen, wie ein Textsegment in seine strukturellen Bestandteile gegliedert werden kann: Hat der alte Hexenmeister Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben. Sehen wir uns das Textsegment zunächst aus der Perspektive der Metrik an. Folgende Elemente stehen hierbei in strukturellen bzw. syntagmatischen ‚Teil-von‘-Relationen zueinander: Silben sind Teile von Takten (bzw. Versfüßen), Takte sind Teile von Versen. So lässt sich die Hierarchie [(Halb-)Strophe ~ Vers ~ Versfuß ~ Silbe] rekonstruieren:
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Systemisch-funktionale Grammatik Takt
Takt
Takt
Takt
Silbe
Silbe
Silbe
Silbe
Silbe
Silbe
Silbe
Silbe
Vers
hat
der
al
te
he
xen
meis
ter
Vers
sich
doch
ein
mal
weg
be
ge
ben
Vers
und
nun
sol
len
sei
ne
geis
ter
Vers
auch
nach
mei
nem
wil
len
le
ben
Abb. 3: Metrische Struktur
Wenn wir denselben Textabschnitt als einen geschriebenen Text betrachten, ihn uns also aus der Perspektive der Schrift ansehen, werden dabei die graphematischen Besonderheiten des Textes berücksichtigt. Daraus ergibt sich eine andere kompositionelle Hierarchie: das Ausrufezeichen und das Komma markieren die Grenzen eines geschriebenen Satzes, die Sätze ihrerseits bestehen aus Wörtern: [Satz ~ Wort].
Satz Satz
Wort
Wort
Wort
Wort
Hat
der
alte
Hexenmeister
Wort
Sich
doch
einmal
wegbegeben!
Und
nun
sollen
seine
Geister
Auch
nach
meinem
Willen
leben.
Abb. 4: Graphematische Struktur
Eine (hier in vielerlei Hinsicht vereinfachte und ohne Berücksichtigung der konkreten syntaktischen Funktionen der jeweiligen Elemente) syntaktische Analyse des ersten Satzes aus dem gegebenen Textsegment ergibt wiederum eine andere syntagmatische Gliederung. Hierbei werden solche Elemente wie Wort(art), Wortgruppe (bzw. Phrase) und Satz unterschieden, die zusammengenommen eine Hierarchie bilden: [Satz ~ Wortgruppe ~ Wort]. Die syntaktische Struktur des ersten Satzes ist in Abb. 5 unten dargestellt.
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Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik Wort
Wort
Wort
Wort
Wort
Wort
Wort
Wort
Hat
der
alte
Hexenmeister
sich
doch
einmal
wegbegeben!
HV
Art.
Adj.
Nomen
Refl.
Modalpart .
Adv.
VV
Wortgruppe (NP) Satz Abb. 5: Syntaktische Struktur
All diese kompositionellen Hierarchien, die in der sprachlichen Dimension der Struktur ermittelt werden können, dienen laut systemisch-funktionaler Grammatiktheorie einem einzigen Zweck: der Organisation der Bedeutung in der Grammatik. Und wenn die Grammatik einer Sprache analysiert wird, zeigt sich schnell, dass die Struktur von untersuchten sprachlichen Einheiten eine organische Konfiguration darstellt, in der jedes einzelne Element seine eigene distinktive Funktion in Bezug auf das Ganze erfüllt. Funktionale Differenzierung der Elemente mittels unterschiedlicher Rangskalen ist eine Eigenschaft der sprachlichen Struktur in ihrer Gesamtheit. Grammar is the central processing unit of language, the powerhouse where meanings are created; it is natural that the systems of sound and of writing through which these meanings are expressed should reflect the structural arrangement of the grammar. (Halliday / Matthiessen 2004: 21)
3.2.2. System Im Gegensatz zu der Struktur-Dimension, die auf syntagmatischen ‚Teil-von‘-Beziehungen zwischen sprachlichen Elementen basiert, bezieht sich die sprachliche Dimension des Systems auf paradigmatische ‚Element-von‘- bzw. ‚Teilmenge-von‘-Relationen. In diese Dimension gehören Gruppen bzw. Mengen von ähnlichen sprachlichen Einheiten, die untereinander prinzipiell austauschbar sind. In anderen Worten: Die Dimension des Systems
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Systemisch-funktionale Grammatik
umfasst sprachliche Muster und Elemente, die ‚statt einander‘ (und nicht ‚mit einander‘) verwendet werden (können). Jede Menge von alternativen Optionen samt den sogenannten Eintrittsbedingungen (conditions of entry) konstituiert ein System in diesem – technischen – Sinne. Das Organisationsprinzip innerhalb dieser Dimension wird Detailliertheit (delicacy) genannt. Eine geeignete Paraphrase für dieses Prinzip ist ‚X ist eine Art von Y‘. Die deutschen Satzarten beispielweise bilden ein System im oben genannten Sinne, wobei die Satzarten ‚imperativisch‘ und ‚nicht-imperativisch‘ zueinander in Opposition stehen (d.h. sie sind prinzipiell austauschbar und können statt einander – allerdings nicht miteinander – verwendet werden). Dies ist die grundlegende Opposition des deutschen Systems SATZMODUS1 (s. auch Kapitel 3.3.3): EINTRITTSBEDINGUNG
SYSTEM
Satz
SATZART
ELEMENTE imperativisch
nichtimperativisch Abb. 6: Das SATZMODUS-System des Deutschen (nach Halliday / Matthiessen 2004: 23)
Der Begriff des Systems ist abstrakter als derjenige der Struktur (s. Kapitel 3.2.1). In einem System ist nur festgelegt, welche Elemente bzw. Optionen es enthält. Es ist aber nicht festgelegt, mit welchen konkreten sprachlichen Mitteln Elemente des Systems zum Ausdruck gebracht werden. Elemente eines Systems repräsentieren lediglich das Bedeutungspotenzial, das in der Sprache angelegt ist und von Sprachbenutzern ausgeschöpft werden kann. _____________ 1
Das System SATZMODUS beschreibt das primäre interpersonelle System des Satzes und entspricht dem semantischen System der Äußerungsfunktionen. Im Deutschen spricht man hierbei meist von verschiedenen Satzarten, die sich nach Sprecherabsichten unterscheiden lassen.
Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
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Die grundlegende Opposition ‚imperativisch‘ versus ‚nichtimperativisch‘ beschreibt nur die erste gegebene Auswahlmöglichkeit im System SATZMODUS. Jede Selektion eröffnet normalerweise Möglichkeiten für weitere Selektionen, die als weitere Stufen bzw. Grade der Detailliertheit angesehen werden. Das ‚nichtimperativische‘ Element impliziert zum Beispiel, dass weitere Selektion(en) stattfinden können, d.h. weitere Systeme aufgemacht werden. Diese Operation kann beliebig wiederholt werden und mehrere miteinander zusammenhängende Systeme einschließen (s. Abb. 7). IMPERATIVISCH (AUFFORDERUNGSSATZ) AUSSAGESATZ (DEKLARATIVSATZ) NICHT-IMPER.
ENTSCHEIDUNGSFRAGE FRAGESATZ
(INTERROGATIVSATZ) ERGÄNZUNGSFRAGE
Abb. 7: Das SATZMODUS-System im Deutschen in Detail
Als System wird also eine Menge der in der Sprache angelegten Alternativen samt ihrer Eintrittsbedingungen bezeichnet. Die Anzahl der Systeme kann von Sprache zu Sprache variieren und ist potenziell unendlich. Netzwerke von derartigen sprachinternen Systemen, d.h. Netzwerke von über das Organisationsprinzip der Detailliertheit zusammenhängenden Systemen, bilden die Grammatik einer Sprache. Strukturelle Operationen (d.i. Einfügungen, Reihungen der Elemente usw., s. Kapitel 3.2.1) werden in der systemisch-funktionalen Grammatiktheorie als Realisierungen von in Systemen angelegten Optionen bzw. Elementen verstanden. Wenn wir das oben dargestellte System der Satzarten (s. Abb. 6) mit möglichen Realisierungsoptionen aus der Dimension der Struktur füllen, explizieren wir, wie die Elemente des Systems realisiert (oder: kodiert, ausgedrückt) werden. Ein imperativischer Satz des Deutschen zum Beispiel enthält normalerweise kein Subjekt und sein
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Systemisch-funktionale Grammatik
Verb weist lediglich eine Klassifizierung hinsichtlich des Numerus auf (Singular / Plural). Eine nicht-imperativische finite Verbform trägt hingegen Markierungen für die Kategorien Person, Numerus, Modus, Tempus und Genus Verbi. EINTRITTSBEDINGUNG Satz
SYSTEM SATZART
ELEMENTE imperativisch (-Subjekt; +Num) nicht-imperativisch (+Subjekt; +Num, +Pers, +Temp, +Mod, +GenV)
Abb. 8: Das SATZMODUS-System und seine Realisierungen
Jedes System in der Sprache – das heißt jedes Moment des Selegierens – leistet einen Beitrag zur Bildung von Strukturen. Die Ausdrücke ‚Wahl‘, ‚Selektion‘ bzw. ‚Moment des Selegierens‘ bedeuten allerdings nicht immer, dass der Sprecher bewusst eine Wahl aus den gegebenen sprachlichen Alternativen trifft: Die Momente des Selegierens sind eher als analytische Schritte in der Erzeugung von Bedeutung zu verstehen, wie die in der Grammatik einer Sprache ablaufen. Die Dimensionen System und Struktur entsprechen im Wesentlichen den beiden Relationenachsen der sprachlichen Organisation: der paradigmatischen und der syntagmatischen. Die systemische bzw. paradigmatische Achse erhält in der systemischfunktionalen Theorie den primären Status, denn sie enthält die allgemein gegebene grammatische Ordnung einer Sprache. Der strukturellen bzw. syntagmatischen Achse wird die sekundäre Rolle zugesprochen, weil sich strukturelle Beziehungen nur in konkreten sprachlichen Umgebungen als Realisationen von variablen Elementen der systemischen bzw. paradigmatischen Achse manifestieren. A system network is a theory of language as choice. It represents a language, or any part of a language, as a resource for making meaning by choosing. Each choice point in the network specifies (1) an environment, consisting of choices already made, and (2) a set of possibilities of
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Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
which one is (to be) chosen; (1) and (2) taken together constitute a ‘system’ in this technical sense. (Halliday 1985: xxvii)
3.2.3. Stratifikation Die systemisch-funktionale Grammatik ist eine holistische Theorie, die die Realisationsverhältnisse zwischen der Sprache und der außersprachlichen Welt (d.h. dem Verwendungskontext) sowie die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen der Sprache selbst beschreibt. Die Sprache wird als ein komplexes semiotisches System angesehen, das mehrere Schichten (strata) hat. Es wird zwischen folgenden vier sprachlichen Schichten unterschieden: Semantik, Lexikogrammatik, Phonologie und Phonetik.
Kontext
Inhalt: Semantik Inhalt: Lexikogrammatik Ausdruck: Phonologie Ausdruck: Phonetik
Abb. 9: Stratifikation (nach Halliday/ Matthiessen 2004: 25)
Semantik und Lexikogrammatik sind die Schichten des Inhalts (content) und Phonologie und Phonetik repräsentieren die Ebene des Ausdrucks (expression).
62
Systemisch-funktionale Grammatik
Die systemisch-funktionale Theorie sieht die wesentlichen Funktionen der Sprache darin, einerseits unseren Erfahrungen mit der außersprachlichen Welt Sinn zu verleihen und andererseits kommunikative Interaktionen mit Anderen zu verwirklichen. Das bedeutet zum einen, dass das System Sprache in einem Realisationsverhältnis zu der außersprachlichen Welt steht: In der Sprache werden individuelle Erfahrungen und soziale Tatsachen abgebildet. Zum anderen spielt die Sprache aber auch selbst eine Rolle dabei, (persönliche sowie soziale) Sachverhalte der außersprachlichen Welt in einer interpretativen Weise zu strukturieren und zu organisieren. Die komplexe Aufgabe der Grammatik, eine Brücke zwischen der sprachlichen und der außersprachlichen Welt aufzubauen, wird in einige separate Segmente zerlegt. Und jeder einzelnen sprachlichen Schicht kommt ihre eigene Teil-Aufgabe zu. Die Schichten sind aneinander durch Realisierungsbeziehungen gekoppelt, sodass sie zusammengenommen ein einheitliches, funktionierendes System der Sprache ergeben. Im ersten Schritt werden menschliche Erfahrungen mit der außersprachlichen Welt und ihre interpersonellen Beziehungen in sprachliche Bedeutungen transformiert. Das geschieht in der Schicht Semantik. Im zweiten Schritt werden sprachliche Bedeutungen in lexikogrammatische Strukturen (wordings) überführt. Das geschieht in der Schicht Lexikogrammatik. Auf diese Weise wird die Ebene des Inhalts stratifiziert. Die beiden beschriebenen Schritte spiegeln die Perspektive des Sprechers wider. Aus der Sicht des Hörers verlaufen die Transformationen in die umgekehrte Richtung. Grammar and vocabulary are not different strata; they are the two poles of a single continuum, properly called lexicogrammar. Similarly, syntax and morphology are not different strata; they are both part of grammar – the distinction evolved because in Indo-European languages the structure of words (morphology) tends to be strikingly different from the structure of clauses (syntax); but this is not a feature of languages in general. (Halliday / Matthiessen 2004: 24)
Eine analoge Zweiteilung herrscht auch auf der Ebene des Ausdrucks. So werden einerseits die interne sprachliche Organisation der Ausdrucksebene und andererseits die Verbindung dieser Or-
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Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
ganisation mit der (außersprachlichen) Umgebung separat erfasst. Die außersprachliche Umgebung liefert in diesem Fall nicht die außersprachliche Welt der Sachverhalte und sozialen Prozesse (s. oben), sondern allein der menschliche Körper: Der Körper ist die biologische Ressource, die für die Formung und Perzeption von Lauten nötig ist. Die Schicht Phonetik leistet die Kopplung von Lautartikulation (aus der Sicht des Sprechers) und Lautperzeption (aus der Sicht des Hörers) an biologische körperliche Ressourcen. In der Phonologie werden vom Sprecher artikulierte und vom Hörer wahrgenommene Laute in formale sprachliche Strukturen und Systeme überführt. Die Operationen, die für die Verbindung der Schichten untereinander sorgen, werden Realisierungen genannt. Jede in Abb. 9 höher positionierte Schicht wird also in der jeweils unten stehenden Schicht realisiert. Außersprachliche Phänomene werden in der Semantik als Bedeutungen ausgelegt, die in der Lexikogrammatik als grammatische und lexikalische Strukturen realisiert werden. Diese Strukturen bekommen in der phonologischen Schicht einen formalen sprachlichen Ausdruck, der wiederum in der phonetischen Schicht in tatsächlich artikulierte Laute überführt wird. REALISIERUNGSMODUS
SCHICHT
[vom außersprachlichen Kontext zur] Bedeutung
Kopplung, via Rezeptoren
Semantik
[von Bedeutung zu] lexikogrammatischen Strukturen
Interne Organisation
Lexikogrammatik
[von lexikogrammatischen Strukturen zu] phonologischen Strukturen
Interne Organisation
Phonologie
[von phonologischen Strukturen zur] Artikulation
Kopplung, via Motorik
Phonetik
Abb. 10: Realisationsverhältnisse zwischen den sprachlichen Schichten (aus der Sprecherperspektive) (nach Halliday / Matthiessen 2004: 26)
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Systemisch-funktionale Grammatik
3.2.4. Instanziierung Die sprachliche Dimension der Instanziierung betrifft die Relationen zwischen System2 und Text. Das System im hier gemeinten Sinne ist das grundlegende Potenzial einer Sprache. Dieses hat allerdings keine eigenständige und unabhängige (oder ‚wirkliche‘3) Existenz, sondern offenbart bzw. verwirklicht sich immer nur in Form von Texten. Wichtig ist, dass sowohl Sprache als System als auch Sprache als Text ein und dasselbe Phänomen ist, das lediglich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. In anderen Worten: System und Text sind verschiedene Aspekte ein und desselben Phänomens. Und durch die Dimension der Instanziierung sind sie miteinander verbunden. The system of a language is ‘instantiated’ in the form of text. A text may be a trivial service encounter, like ordering coffee, or it may be a momentous event in human history, like Nelson Mandela’s inaugural speech; in either case, and whatever its intrinsic value, it is an instance of an underlying system, and has no meaningful existence except as such. A text in English has no semiotic standing other than by reference to the system of English (which is why it has no meaning for you if you do not know the language). (Halliday / Matthiessen 2004: 26)
Dieses Verhältnis ist von Halliday und Matthiessen (2004: 26f.) in Analogie zu den Konzepten ‚Klima‘ und ‚Wetter‘ beschrieben: Diese beziehen sich auch auf unterschiedliche Aspekte ein und desselben Phänomens, das aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Das Klima werde in Form von Wetter instanziiert. Das Wetter entspricht also dem Text, und das Klima dem System, d.h. dem Potenzial, das unterschiedlichen Wetterlagen (einer klimatischen Zone) zugrundeliegt. Klima kann auch als Theorie des Wetters verstanden werden. In dieser Hinsicht hat _____________ 2
3
An dieser Stelle ist der Begriff ‚System’ in einem nicht-(systemisch-)technischen Sinne verwendet: System bedeutet hier die Menge aller spezifischen Systeme (im technischen Sinne), die sich über verschiedene sprachliche Schichten hinweg erstrecken und ein komplexes Netzwerk bilden. ‚System‘ entspricht hier also eher dem langue-Begriff von de Saussure. ‚Wirklich‘ steht hier in Opposition zu ‚theoretisch‘: Das sprachliche System ist natürlich ein eigenständiges theoretisches Phänomen bzw. Konstrukt.
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Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
Klima keine wirkliche Existenz, sondern lediglich (wie alle theoretischen Phänomene) eine virtuelle. Ähnlich verhalte es sich mit dem Sprachsystem: Das System sei die Sprache als ein virtuelles Phänomen. In diesem Sinne ist das Sprachsystem nicht die Menge aller möglichen Texte, sondern ein theoretisches Konstrukt, dem bestimmte ‚Sprach‘-Eigenschaften zugeschrieben werden und das zur Erklärung von beobachtbaren (d.h. ‚wirklichen‘) sprachlichen Phänomenen herangezogen wird. Situationskontext
Institution – Situationstyp
Instanz
Kultur-Kontext
Sub-Potenzial – Instanztyp
Text
Potenzial
Repertoire von Registern – Texttyp
(Sprach-)System
Abb. 11: Skala der Instanziierung (nach Halliday/ Matthiessen 2004: 28)
System und Text sind durch Instanziierung verbunden. Die Relationen zwischen System und Text werden in Form von einer Skala expliziert (s. Abb. 11). Die Skala der Instanziierung enthält mehrere Stufen: vom allgemeinen Potenzial (d.h. vom System) bis hin zu spezifischen Instanzen (d.h. zu einzelnen Texten). Zwischenstufen auf der Instanziierungsskala werden Typen genannt. Auf der Achse System – Text ist als Instanztyp Texttyp bzw. Register angesiedelt. Situationstyp bzw. Institution fungiert als
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Systemisch-funktionale Grammatik
Instanztyp auf der Achse Kultur-Kontext – Situationskontext, d.h. wenn die Perspektive des außersprachlichen Kontexts als Ausgangspunkt der Betrachtung angenommen wird. Bei der Erforschung und Beschreibung von diversen sprachlichen Phänomenen kann die Betrachtungsperspektive variieren: Mal wird ein erkanntes sprachliches Muster als ein Teil / ein Aspekt des Systems betrachtet, mal wird es als eine Realisierung (d.i. eine Instanz des Systems) angesehen. Wichtig ist jedenfalls, dass sich der Betrachter der jeweils gewählten Perspektive bewusst ist. Ein Korpus beispielweise (d.h. eine Sammlung von – gesprochenen oder geschriebenen – Texten einer Sprache) stellt immer nur eine bloße Menge von Instanzen dar, die keine inhärente SystemPerspektive in sich trägt. Um zu plausiblen theoretischen Aussagen über das Sprachsystem zu gelangen, müssen diese Texte entsprechend bearbeitet und interpretiert werden. Das bedeutet, dass eine – wie auch immer große – Sammlung an tatsächlich produzierten Texten noch keine Beschreibung des Systems liefern kann, weil sie eben nur einen äußeren Rand der Instanziierungsskala darstellt. Nur durch die Prozesse der Interpretation, der Abstraktion und des Theoretisierens (auf der Basis der zugänglichen Texte), die einen Wechsel der Perspektive bedeuten, ist es möglich, eine Beschreibung des Sprachsystems zu erreichen. 3.2.5. Metafunktionen Die fünfte sprachliche Dimension ist die Dimension der Metafunktionen. Sie umfasst die grundlegenden Funktionen der Sprache in Bezug auf ihre soziale und natürliche Umwelt. Warum Meta-funktion? Der Begriff Metafunktion wird verwendet, um fundamentale sprachliche Funktionen von individuellen Funktionen bzw. funktionellen Rollen sprachlicher Ausdrücke in konkreten Texten (z.B. Subjekt, Aktor und Thema, s. weiter unten) abzugrenzen. Die Metafunktionen definieren also die großen funktionalen Dimensionen, die das gesamte sprachliche System betreffen.
Aufbau der systemisch-funktionalen Grammatik
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Die Sprache erfüllt vor allem zwei fundamentale Aufgaben: Einerseits verleiht sie unseren Erfahrungen Sinn und andererseits ermöglicht sie es, unsere sozialen Beziehungen auszuhandeln. In der systemisch-funktionalen Sprachtheorie wird davon ausgegangen, dass sprachliche Bedeutungen von unterschiedlicher Art sind, und dass diese Verschiedenheit der Bedeutungen durch die funktionale Natur der Sprache begründet ist. Die Sprache wird zum einen dazu verwendet, über (eigene wie auch fremde) Erfahrungen in der Welt ‚da draußen‘ (d.h. in der außersprachlichen Welt) zu reden. Ein großer Teil sprachlicher Äußerungen ist dem gewidmet, Gegenstände und Sachverhalte, mit denen wir direkt konfrontiert werden oder die wir uns indirekt vorstellen können, zu beschreiben, zu benennen und zu kategorisieren. Die Sprache reflektiert, interpretiert und konstruiert gleichzeitig (construe) unsere Erfahrungen und damit auch die Welt um uns herum. In anderen Worten: Die Sprache in ihrer funktionalen Rolle als Reflexion stellt eine Theorie der menschlichen Erfahrung dar. Diese Art von sprachlichen Bedeutungen entspricht der ideationellen Metafunktion der Sprache. Die ideationelle Metafunktion umfasst jene sprachlichen Ressourcen, deren wir uns bedienen, um unseren Erfahrungen mit der Welt um und in uns Sinn zu verleihen. Zum anderen, wenn wir sprachlich kommunizieren, tun wir damit gleichzeitig auch etwas anderes: Wir nehmen an sozialen und persönlichen Interaktionen und Prozessen teil. Eine sprachliche Äußerung gilt nicht nur der Repräsentation einer außersprachlichen Situation, sie ist darüber hinaus auch ein aktives Angebot oder eine Anregung, ungeachtet dessen ob es sich dabei um eine Behauptung, Mitteilung, Exklamation, Frage, Aufforderung o.ä. handelt. In jedem Fall treten persönliche und soziale Beziehungen von Kommunizierenden zutage, die durch die Sprache nicht nur ausgedrückt, sondern zum großen Teil auch konstruiert werden. Durch die interpersonelle Metafunktion werden die Relationen versprachlicht, wie sie im kommunikativen Austausch zwischen Sprecher und Hörer entstehen. Aus dieser Sicht erscheint die Sprache als ein dynamischer und aktiver Prozess: In ihrem funktionalen Status ist sie nicht Reflexion, sondern Handlung.
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Systemisch-funktionale Grammatik
Die zwei oben vorgestellten Metafunktionen spiegeln den eigentlich trivialen Umstand der sprachlichen Kommunikation wider, nämlich dass (i) jede Äußerung sowohl von etwas handelt als auch an jemanden gerichtet ist4; und dass (ii) diese beiden Aspekte frei kombiniert werden können, da sie größtenteils unabhängig voneinander sind. Zusätzlich zu den beiden oben genannten Metafunktionen wird in der systemisch-funktionalen Grammatiktheorie eine dritte – textuelle – Metafunktion angenommen. Diese Art sprachlicher Bedeutungen betrifft die Ebene der Textkonstruktion, d.h. die interne Organisation und Ordnung von Texten und Diskursen. Auf diese Weise werden die Kohäsion und die Kontinuität der linearen Textproduktion gewährleistet. Die textuelle Metafunktion liefert die Ressourcen für die diskursive Organisation der ideationellen und interpersonellen Bedeutungen im Text, so wie dieser sich in der Interaktion entfaltet. Language provides a theory of human experience […]. We call it the ideational metafunction […]. While construing, language is always also enacting: enacting our personal and social relationships with the other people around us. […] We call it the interpersonal metafunction, to suggest that it is both interactive and personal. […] But the grammar also shows up a third component, another mode of meaning which relates to the construction of text. […] We call it the textual metafunction. (Halliday / Matthiessen 2004: 29-30)
3.3.
Satzanalyse
Die systemisch-funktionale Grammatiktheorie ist ein anwendungsorientiertes Sprachmodell, das vordergründig dazu entwi-
_____________ 4
Man denke in diesem Zusammenhang an die bekannte Sprachauffassung von Bühler, in der die Sprache ein Organon ist, damit einer – dem anderen – über die Dinge etwas mitteilen kann. Die erste Relation ‚einer – dem anderen‘ entspricht der interpersonellen Metafunktion in der systemisch-funktionalen Grammatiktheorie, wobei die Relation ‚über die Dinge‘ sich mit der ideationellen Metafunktion deckt.
Satzanalyse
69
ckelt wurde, Texte5 (d.h. gesprochene oder geschriebene sprachliche Einheiten beliebiger Größe) zu analysieren. Daher greift sowohl die allgemeine theoretische Konzeption als auch das terminologische Inventar der Theorie weit über die Grenzen eines Satzes hinaus – d.h. einer Größe, die sprachwissenschaftlich traditionell als die wichtigste sprachliche Einheit angesehen wird, die es zu beschreiben und zu erklären gilt. Im Rahmen dieses Buches allerdings beschränken wir uns auf die Darlegung der systemischfunktionalen Ansichten, die sich auf die Ebene des Satzes beziehen. In der systemisch-funktionalen Grammatik wird der Satz auf vielen verschiedenen Ebenen und in Bezug auf unterschiedliche Metafunktionen, Schichten, Rangordnungen und Systeme analysiert. Die Satzanalyse erfolgt grundsätzlich aus drei unterschiedlichen Perspektiven: (i) from above: Es wird danach gefragt, welche Bedeutungen in konkreten sprachlichen Elementen ausgedrückt werden. So denotieren Verben typischerweise Prozesse, Nomen bezeichnen Entitäten, und Adjektive beziehen sich auf Qualitäten (von Prozessen oder Entitäten). (ii) from round about: Hier werden sprachliche Elemente in ihren Relationen zu anderen Elementen betrachtet, wobei paradigmatische sowie syntagmatische Beziehungen berücksichtigt werden. (iii) from below: Hierbei werden konkrete formale Realisierungsmuster von sprachlichen Elementen analysiert. Diese drei Analyse-Perspektiven seien hier an einem Beispielsatz kurz erläutert: Die Franzosen, die sie mit allem Recht für sich reklamieren, wählten Romy Schneider zur schönsten und größten Schauspielerin des Jahrhunderts. (Der Spiegel 21/2007, 152) (i) In diesem Satz sind Substantive Franzosen, Recht, Schauspielerin, Jahrhundert Bezeichnungen für Entitäten, wobei Franzosen und Schauspielerin auf Personen referieren und Recht und Jahrhundert _____________ 5
Englische Definition: “any passage, spoken or written, of whatever length, that does form a unified whole” (Halliday / Hasan 1976: 1).
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Systemisch-funktionale Grammatik
abstrakte Entitäten bezeichnen. Romy Schneider ist ein Eigenname. Die Verben reklamieren und wählten denotieren Prozesse, konkreter: Handlungen. Die Adjektive schönsten und größten bedeuten Qualitäten. (ii) Syntagmatisch bzw. strukturell hängen folgende Elemente zusammen: mit allem Recht für sich reklamieren zur schönsten und größten Schauspielerin Schauspielerin des Jahrhunderts Die Wörter in den Sequenzen ergeben jeweils ein Syntagma. Das Syntagma zur schönsten und größten Schauspielerin besteht zum Beispiel aus einer Präposition, zwei Adjektiven und einem Substantiv und bildet eine strukturelle Einheit. (iii) Die strukturelle Einheit des Syntagmas zur schönsten und größten Schauspielerin kommt dadurch zustande, dass ihre Elemente in einem Kongruenzverhältnis zueinander stehen: die Adjektive weisen eine Numerus- und Kasusmarkierung auf (Dativ, Singular), die der grammatischen Markierung des Artikels (der, zusammengezogen mit der Präposition zu zu zur) entspricht. Wichtig ist außerdem die Unterscheidung zwischen Klassen und Funktionen: Nomen, Nominalphrasen, Verben, Verbalphrasen, Präpositionen, Präpositionalphrasen, Adverbien u.Ä. sind Klassen. Jede Klasse kann potenziell eine Reihe von grammatischen Funktionen bzw. funktionellen Rollen erfüllen. So kann ein Nomen in seiner Funktion als Aktor, Subjekt, Thema usw. auftreten (s. weiter unten). Durch die Funktionsstrukturen der Metafunktionen und deren unterschiedliche Konstellationen im aktuellen Satz kommt die Satzbedeutung zustande. In jedem Satz sind drei verschiedene Bedeutungsstränge am Werk: die ideationelle, die interpersonelle und die textuelle Metafunktion. Aus der Perspektive der jeweiligen Metafunktion betrachtet, kann eine Klasse unterschiedliche Funktionen im Satz erfüllen. Der gesamte Satz – wiederum aus der Perspektive der jeweiligen Metafunktion analysiert – erscheint
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Satzanalyse
dann auch in drei unterschiedlichen Gestalten: als Repräsentation, als Interaktion und als Nachricht. METAFUNKTION
DEFINITION (ART DER BEDEUTUNG)
SATZSTATUS
ideationell
Erfahrungen interpretieren
Repräsentation
interpersonell
sozial agieren
Interaktion
textuell
Relevanz zum Kontext erzeugen
Nachricht
Abb. 12: Metafunktionen und Satz (leicht modifiziert nach Halliday / Matthiessen 2004: 61)
Wie die Metafunktionen im Satz zusammenwirken, sei hier einleitend kurz anhand der Analyse des folgenden Beispielsatzes dargestellt: Das wahrscheinlich stärkste Beben seit mehr als hundert Jahren hat Schweden erschüttert. (WELT-ONLINE, 16.12.2008)
METAFUNKTION
Das wahrscheinlich stärkste Beben seit mehr als hundert Jahren
hat
ideationell
Partizipant: Aktor
interpersonell
Subjekt
Finitum
textuell
Thema
Rhema
Schweden
erschüttert
Partizipant: Ziel
Prozess: materiell
Komplement
Prädikator
Insbesondere am Beispiel der geläufigen syntaktischen Funktion ‚Subjekt‘ lässt sich zeigen, wie unterschiedlich die Funktionen von Sprachelementen in der jeweiligen Metafunktion ausfallen können. In der systemisch-funktionalen Grammatiktheorie wird zwischen drei Arten von ‚Subjekten‘ unterschieden, abhängig davon, welche Metafunktion betroffen ist:
72
Systemisch-funktionale Grammatik
(i) Vom psychologischen Subjekt oder Thema spricht man, wenn derjenige Teil des Satzes gemeint ist, der vom Sprecher als Ausgangspunkt gesetzt wurde; (ii) Vom grammatischen Subjekt oder Subjekt spricht man, wenn dasjenige Element gemeint ist, das vom Sprecher als Garantie für die Geltung des Satzes gewählt wurde; (iii) Vom logischen Subjekt oder Aktor ist die Rede, wenn der aktiv(st)e Partizipant des Satzes gemeint ist, in anderen Worten: der Täter, der Handelnde. (i) The Theme functions in the structure of the clause as a message. A clause has meaning as a message, a quantum of information; the Theme is the point of departure for the message. It is the element the speaker selects for ‘grounding’ what he is going on to say. (ii) The Subject functions in the structure of the clause as exchange. A clause has meaning as an exchange, a transaction between speaker and listener; the Subject is the warranty of the exchange. It is the element the speaker makes responsible for the validity of what he is saying. (iii) The Actor functions in the structure of the clause as representation. A clause has meaning as a representation of some process in ongoing human experience; the Actor is the active participant in that process. It is the element the speaker portrays as the one that does the deed. (Halliday / Matthiessen 2004: 59)
Diese drei Subjekttypen können in einem Satz durch drei unterschiedliche sprachliche Elemente zum Ausdruck gebracht werden. Oft ist es allerdings der Fall, dass ein und dasselbe Element mehrere oder sogar alle drei Funktionen – Thema, Aktor und Subjekt – verkörpert (wie im oben analysierten Satz). Der unten angeführte Satz illustriert dagegen den oft anzutreffenden Umstand, dass alle drei Funktionen durch unterschiedliche sprachliche Elemente realisiert werden: Sein Lieblingsbuch psychologisches Subjekt: Thema
bekam
er
von seiner Freundin
grammatisches Subjekt: Subjekt
logisches Subjekt: Aktor
geschenkt.
Der schrittweise Aufbau der Analyse und die verschiedenen metafunktionellen Satzgliedfunktionen werden in den nächsten Abschnitten ausführlicher behandelt.
73
Satzanalyse
3.3.1. Satz als Repräsentation In der Dimension der ideationellen Metafunktion entfaltet der Satz seine Bedeutung als Repräsentation. Wenn ein Satz also aus dieser Perspektive analysiert wird, wird primär sein Inhalt betrachtet. In dieser Hinsicht kann ein Satz immer als eine Repräsentation eines Prozesses verstanden werden, der in der menschlichen Erfahrung (mit der außersprachlichen Welt) begründet ist. Die primären funktionellen Rollen, die in dieser Perspektive unterschieden werden und die von diversen sprachlichen Ausdrücken erfüllt werden können, sind Prozesse, Partizipanten und Umstände. Eine grobe vorläufige Analyse eines Satzes nach diesen Rollen sieht wie folgt aus: Sie
überreichte
ihm
feierlich
die Urkunde.
Partizipant
Prozess
Partizipant
Umstand
Partizipant
Prozesse bilden den Kern eines Satzes: In jedem Satz handelt es sich normalerweise primär um ein Ereignis oder eine Handlung, an dem / an der mehrere Partizipanten beteiligt sind. Die funktionelle Rolle ‚Prozess‘ wird typischerweise von Verben bzw. Verbgruppen (oder Verbphrasen) realisiert. Prozesse werden außerdem in folgende Typen unterteilt: (i) materielle Prozesse (des Tuns und Geschehens), repräsentiert durch Verben wie machen, schreiben, schicken, vorbereiten, fallen, lesen, geben, spielen, geschehen etc.; (ii) Verhaltensprozesse, repräsentiert durch Verben wie sich benehmen, verhalten, lachen, weinen etc.; (iii) mentale Prozesse (des Denkens), repräsentiert durch Verben wie sehen, fühlen, denken, begreifen, akzeptieren, glauben, wünschen etc.; (iv) verbale Prozesse (des Sagens), repräsentiert durch Verben wie sagen, erzählen, mitteilen, berichten, fragen, informieren etc.; (v) relationale Prozesse (des Seins und Habens), repräsentiert durch Verben wie sein, haben, bleiben, werden, symbolisieren, einschließen etc.; (vi) existenzielle Prozesse (des Seins), repräsentiert durch Verben wie sein, leben und die deutsche Konstruktion es gibt.
74
Systemisch-funktionale Grammatik
Jeder Satz hat normalerweise mindestens einen Partizipanten (participant), der üblicherweise in Form eines Nomens bzw. einer Nominalgruppe (oder Nominalphrase) realisiert wird. In einigen wenigen Fällen (v.a. bei Witterungsprozessen) kann allerdings jeglicher Partizipant fehlen, wie z.B. in Es regnet / schneit / hagelt. Der jeweilige Prozesstyp legt die Anzahl, Funktion und Form von Partizipanten fest, mit denen er sich verbindet. So fordert ein materieller Prozess stets einen Aktor (actor), ein Ziel und /oder einen Rezipienten; ein Verhaltensprozess hat normalerweise einen Sich-Verhaltenden (behaver); mentale Prozesse verbinden sich mit wahrnehmenden Partizipanten (senser) und wahrgenommenen Phänomenen; verbale Prozesse haben einen Sager (sayer), eine Verbalisierung (verbiage) und einen Adressaten; existenzielle Prozesse kommen mit Existenten (existent) vor; und relationale Prozesse fordern immer ein Attribut (attribute) bzw. einen Wert (value). In anderen Worten: Prozesse sind Valenzträger des Satzes, wohingegen Partizipanten ihre (obligatorischen und fakultativen) Ergänzungen darstellen. Umstände (circumstances) sind Angaben der Zeit, des Ortes, der Art und Weise, des Grundes usw. Sie werden typischerweise in Form von Adverbialen und Präpositionalphrasen realisiert. Abb. 13 fasst die wichtigsten Prozesse, Partizipanten und Umstände zusammen, samt den Bezeichnungen, die in der systemisch-funktionalen Grammatik geläufig sind. Dass bestimmte Prozesstypen sich bevorzugt mit bestimmten Partizipanten-Typen verbinden, d.h. unmittelbar miteinander zusammenhängen, wird in Abb. 13 grafisch durch die enge Korrespondenz zwischen den entsprechenden Spalten wiedergegeben. Umstände hingegen sind unabhängig von den Prozessen und Partizipanten in der dritten Spalte aufgelistet. Durch die grafische Darstellung wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Umstände potenziell mit allen Prozess- und Partizipantentypen vorkommen können. Im Folgenden wird ein Textausschnitt nach den oben vorgestellten Rollentypen analysiert.
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Satzanalyse PROZESSE
PARTIZIPANTEN
UMSTÄNDE
materiell
Aktor Ziel Rezipient Klient Skopus Initiator Attribut
Verhaltensprozess
Sich-Verhaltender Verhalten(sweise)
mental
Wahrnehmender Phänomen
verbal
Sager Adressat Verbalisierung
Ausdehnung: Distanz (wie weit?), Dauer (wie lange?), Frequenz (wie oft?) Lokalisierung: Ort (wo?), Zeit (wann?) Art und Weise (wie?): Instrument, Qualität, Vergleich, Grad Grund: kausal (warum?), final (wozu?), Interesse (für wen?) Kontingenz: konditional (in welchem Fall?), konzessiv (trotz was?), Ermangelung (ohne was?) Begleitung: komitativ (womit?), additiv (was noch?) Rolle: Erscheinung (als was?), Produkt (worin?) Sache (worüber?) Standpunkt: Quelle (laut wem/was?), Perspektive (aus welcher Perspektive?)
relational
attributiv
Träger Attribut Attributor Benefaktiv
identifizierend
Identifikant Identifikat Assigner Token Wert
existenziell
Existent
Abb. 13: Funktionale Rollen in der ideationellen Metafunktion
Uns stehen bekanntlich harte Zeiten bevor. Wer das immer noch nicht glaubt, der sollte in der nächsten Werbepause ausnahmsweise mal genau hinschauen, anstatt auf die Toilette zu gehen. Denn die Warenwelt besteht zunehmend aus getunten Hochleistungsprodukten, deren einziger Zweck es zu sein scheint, uns vor den dräuenden Härten des Alltags zu beschützen. (aus: „Das Leben ist eine Baustelle“, FAS 50, 14.12.2008) Uns
stehen
Partizipant: Klient
Promate-
bekanntlich
harte Zeiten
bevor.
Partizipant: Aktor
-zess: -riell
76
Systemisch-funktionale Grammatik
Wer
das
immer noch
nicht glaubt,
Partizipant: Wahrnehmender
Partizipant: Phänomen
Umstand: Zeit
Prozess: mental
[der
sollte
in d. nächsten Werbepause
ausnahmsweise
Part.: Wahrnehmender
Promen-
Umst.: Zeit
Umst.: Qualität
[anstatt
Denn
mal
genau
hinschauen
Umst.: Qualität
-zess: -tal
auf die Toilette
zu gehen.]
Umstand: Ort
Prozess: materiell
die Warenwelt
besteht
zunehmend
aus getunten Hochleistungsprodukten,
Partizipant: Identifikat
Prozess: relational
Umstand: Grad
Partizipant: Identifikant
[deren einziger Zweck
es
Partizipant: Existent
zu sein scheint Prozess: existenziell
[uns
vor den dräuenden Härten des Alltags
zu beschützen]].
Partizipant: Ziel
Partizipant: Skopus
Prozess: materiell
Wie man sieht, sind einige der Elemente ohne eine bestimmte funktionelle Rolle geblieben. Das bedeutet, dass ihnen keine der drei Funktionen – Partizipant, Prozess oder Umstand – zugewiesen werden kann. Die nicht-ausgefüllten Zellen deuten daraufhin, dass die sprachlichen Elemente keine Funktion bzw. funktionelle Rolle in der ideationellen Metafunktion erfüllen und stattdessen entweder auf der textuellen und /oder auf der interpersonellen Ebene ihre Funktionen erhalten.
Satzanalyse
77
3.3.2. Satz als Nachricht In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit einer anderen Bedeutungsebene des Satzes, nämlich mit der Bedeutungsart, die sich auf die textuelle Metafunktion der Sprache bezieht. In dieser Hinsicht erscheint ein Satz – wie wir schon in Kapitel 3.3 eingeführt haben – als Nachricht. Die wesentliche innere Struktur des Satzes, die ihn textuell, d.h. als Nachricht, zusammenhält, bezeichnet man als seine thematische Struktur. Die thematische Struktur des Satzes besteht aus zwei Teilen: Thema und Rhema. Das Thema ist derjenige Teil des Satzes, der als Ausgangspunkt der Nachricht fungiert. Von hier aus erfolgt die Verortung und Orientierung anderer Elemente des Satzes in Bezug auf den Verwendungskontext. Das Thema ist jenes Element, das vom Sprecher für die Verankerung dessen, was er sagen will, selegiert wird. Das Rhema ist der restliche Teil der Nachricht: Das ist jenes Element des Satzes, das die Entfaltung des Themas übernimmt. Das Thema befindet sich – laut systemisch-funktionaler Konzeption – immer am Anfang des Satzes. Normalerweise wird das Thema durch die erste Gruppe (oder Phrase) im Satz repräsentiert, d.h. durch eine Nominal- oder Verbalgruppe. Vgl. die thematische Struktur der folgenden Sätze: Sie
überreichte ihm feierlich die Urkunde.
Thema (unmarkiert)
Rhema
Vor einigen Jahren
konnten wir uns das gar nicht vorstellen.
Thema (markiert)
Rhema
Der verbreiteteste Typus des Themas ist der Partizipant (s. oben), der durch eine Nominalgruppe realisiert wird. Häufig wird das Thema des Satzes noch intonatorisch markiert, vor allem wenn es sich dabei um ein Adverbial oder um eine Nominalgruppe handelt, die keinen Subjekt-Status (s. Kapitel 3.3.3) haben. Wenn die Funktionen Thema und Subjekt zusammenfallen, d.h. wenn das thematische Element des Satzes gleichzeitig die
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Systemisch-funktionale Grammatik
Funktion des Subjekts erfüllt, spricht man vom unmarkierten Thema. Wenn das thematische Element allerdings keine SubjektFunktion trägt, dann handelt es sich um ein markiertes Thema. Im Folgenden wird eine exemplarische Analyse der thematischen Struktur der Sätze durchgeführt: Uns
stehen bekanntlich harte Zeiten bevor.
Thema (markiert)
Rhema
Wer
das immer noch nicht glaubt,
Thema (unmarkiert)
Rhema
[der
sollte in der nächsten Werbepause ausnahmsweise mal genau hinschauen,[anstatt auf die Toilette zu gehen.]]
Thema (unmarkiert)
Rhema
Denn die Warenwelt
besteht zunehmend aus getunten Hochleistungsprodukten, deren einziger Zweck es zu sein scheint, uns vor den dräuenden Härten des Alltags zu beschützen.
Thema (unmarkiert)
Rhema
Der gesamte Satzkomplex kann wie ein einziger Satz behandelt werden: Daraus ergibt sich, dass alle auf den Hauptsatz folgenden Nebensätze den Status eines Rhemas haben. Allerdings besagt die systemisch-funktionale Grammatiktheorie auch, dass jeder Satz über (mindestens) ein Thema verfügt / verfügen kann. Daher ist es bei der Satzanalyse auch möglich, jeden einzelnen (Neben-)Satz zu analysieren, um jeweils sein Thema und Rhema zu ermitteln: Denn die Warenwelt
besteht zunehmend aus getunten Hochleistungsprodukten,
Thema (unmarkiert)
Rhema
Thema (unmarkiert)
Rhema
deren einziger Zweck
es zu sein scheint, [uns vor den dräuenden Härten des Alltags zu beschützen].
Thema (unmarkiert)
Rhema
79
Satzanalyse
3.3.3. Satz als Interaktion Schließlich werden ein Satz und seine Bestandteile aus der Perspektive der interpersonellen Metafunktion betrachtet und analysiert. Dabei wird der Satz primär als ein Interaktionsakt (exchange) zwischen Sprecher und Hörer aufgefasst und seine Elemente übernehmen bestimmte interaktionelle funktionale Rollen. Das essenzielle grammatische System hierbei ist SATZMODUS6 (MOOD). Beim Kommunizieren kommt dem Sprecher eine besondere Rolle zu, der Hörer bekommt eine eigene Rolle, die sich zu der des Sprechers komplementär verhält. Wenn z.B. eine Frage gestellt wird, erscheint der Sprecher als Informationssuchender, während der Hörer als Geber oder Lieferant der gesuchten Information auftritt. Es gibt im Wesentlichen zwei fundamentale Rollen in einem kommunikativen Austausch zwischen Sprecher und Hörer: (i) geben (giving) und (ii) anfordern (demand). Diesen Rollen entsprechen die Arten der Güter (commodities), die kommunikativ ausgetauscht werden: Diese sind entweder (a) Waren & Leistungen (goods-&-services) oder (b) Information (information). Das Verhältnis zwischen diesen interpersonellen funktionellen Rollen kann wie folgt graphisch dargestellt werden: ROLLE IN DER INTERAKTION
AUSGETAUSCHTE GÜTER WAREN & LEISTUNGEN
INFORMATION
(i) geben
‚Angebot‘ Ich zeige dir den Weg.
‚Aussage‘ Wir sind fast da.
(ii) anfordern
‚Aufforderung‘ Gib mir deine Hand.
‚Frage‘ Ist das der Ort?
Abb. 14: Fundamentale Sprechrollen (nach Halliday / Matthiessen 2004: 107)
_____________ 6
Die unterschiedliche Schreibweise von MODUS (engl.: MOOD) und Modus (engl.: Mood) ist eine Konvention, die in der systemisch-funktionalen Grammatiktheorie verwendet wird. MODUS (s. auch Kapitel 3.2.2) ist die Bezeichnung für das primäre interpersonelle System des Satzes und entspricht dem semantischen System der Äußerungsfunktionen (engl.: SPEECH FUNCTION). Die Bezeichnung Modus hingegen bezieht sich auf funktionale Elemente in der interpersonellen Struktur des Satzes.
80
Systemisch-funktionale Grammatik
Drei der oben dargestellten fundamentalen interpersonellen Funktionen sind eng mit bestimmten grammatischen Strukturen assoziiert: ‚Aussagen‘ werden meistens als deklarative Sätze (Aussagesätze) realisiert, ‚Fragen‘ sind interrogative Sätze (Fragesätze) und ‚Aufforderungen‘ entsprechen imperativischen Sätzen (Aufforderungssätzen). Die Letzteren gehören, wie in Kapitel 3.2.2 bereits kurz ausgeführt, zu den Wahlmöglichkeiten innerhalb des (deutschen) SATZMODUS-Systems. Der Satzmodus ist das Element des Satzes, das die erfolgten Selektionen innerhalb des Systems SATZMODUS realisiert. Er gibt unter anderem Aufschluss darüber, um was für einen SatzTyp (Aussagesatz, Fragesatz usw.) es sich handelt. Der Satzmodus besteht aus zwei Teilen: Subjekt und Finitum. Den Rest des Satzes (d.h. der Satz ohne das Element Satzmodus) macht das Residuum oder der Rest (residue) aus. Sie
hat
Satzmodus
ihm
feierlich
die Urkunde
überreicht.
Residuum
Das Subjekt ist das Element des Satzes, das für die Geltung des Satzes im interpersonellen Austausch zuständig ist. Nur diese Funktion kann jederzeit vom Hörer zur Diskussion oder in Frage gestellt werden. Das kann bspw. auf explizite Art und Weise erfolgen, d.h. in Form einer Frage wie etwa: „Trifft das zu, was der Sprecher vom Subjekt behauptet?“ Das Subjekt ist meist eine Nominalgruppe (sei es ein Substantiv, ein Pronomen oder eine Nominalphrase). Das Finitum ist das Element des Satzes, das die expliziten formalen Markierungen hinsichtlich Temporalität und Modalität trägt. Für das Deutsche handelt es sich hierbei oft um die Auxiliare (oder Hilfsverben) haben, sein, werden. Die mit ihnen verbundenen Vollverben erhalten die Funktion des Prädikators. Der Prädikator ist der restliche (d.h. ohne Finitum) Teil der Verbalphrase und steht als Residualfunktion außerhalb des Modusteils des Satzes. Prädikatoren sind meistens infinite (oder nicht-finite) Teile des Verbalkomplexes, das als Prädikat des Satzes fungiert. Prädikatoren sind aber auch Prädikative (z.B. reich und Lehrerin in
81
Satzanalyse
Sie ist reich / Lehrerin) und (isoliert vom Verb auftretende) trennbare Verbalpräfixe (z.B. hervor in Er hob diesen Punkt besonders hervor). Oft fusioniert allerdings das Element Finitum formal mit dem Prädikator, d.h. die beiden funktionellen Rollen werden durch ein und dasselbe sprachliche Element im Satz repräsentiert. Die Katze
liegt/ lag
Subjekt
Finitum/ Prädikator
Satzmodus
auf der Matte. Residuum
Das Finitum realisiert die Temporalität und die Modalität des Satzes und konstituiert zusammen mit dem Subjekt des Satzes den Satzmodus, der wiederum die Äußerungssituation (das System SATZMODUS) realisiert. Im Satz Die Katze liegt auf der Matte ist also die Katze das Subjekt, und das Finitum ist (ein Vollverb im) Indikativ Präsens. Das Residuum, d.h. der restliche Teil des Satzes neben dem Satzmodus, kann weiter unterteilt werden. Dabei unterscheidet man generell zwischen den folgenden drei funktionellen Elementen: • • •
Prädikator, Komplement, und Adjunkt.
Die Funktion Prädikator wurde bereits beschrieben. Das Komplement ist das Element, das potenziell die Subjekt-Funktion haben könnte, die es im konkreten Satz nicht hat. Ein Satz kann ein oder mehrere Komplemente haben. Das Adjunkt ist das Element, das – im Gegensatz zum Komplement – über kein Potenzial verfügt, als Subjekt eines Satzes zu fungieren. Adjunkte werden normalerweise in Form von Adverbialbestimmungen realisiert und entsprechen in etwa den Umständen auf der Ebene der ideationellen Metafunktion. Der Unterschied zwischen den Elementen Umstand, Komplement und Adjunkt kann hier kurz demonstriert werden: Die Präpositionalphrase auf der Matte aus dem oben erwähnten Satz ist ein Umstand (des Ortes) und gleichzeitig
82
Systemisch-funktionale Grammatik
ein Adjunkt. Allerdings hat ein Teil dieser Präpositionalphase, nämlich das Substantiv Matte, das Potenzial, allein als Subjekt aufzutreten. So kann also ein Adjunkt in sich ein Komplement enthalten, wenn jeweils syntagmatische Einheiten unterschiedlicher Größe (hier: Satzes und Wortgruppe) primär betrachtet werden. Im Folgenden wird der schon aus früheren Abschnitten bekannte Satz nach den oben vorgestellten funktionalen Elementen analysiert: Sie
hat
ihm
Satzmodus
Residuum
Subjekt
Komplement
Finitum
feierlich
die Urkunde
überreicht.
Adjunkt
Komplement
Prädikator
Innerhalb der interpersonellen funktionalen Kategorie Adjunkt werden außerdem noch weitere Unterteilungen vorgenommen. Die Klassifikation erfolgt nach Kriterien, die die sprachlichen Metafunktionen noch einmal aufnehmen. METAFUNKTION
ADJUNKT-TYP
POSITION IN DER SATZMODUS-STRUKTUR
ideationell
Umstandsadjunkt
im Residuum
interpersonell
modales Adjunkt
im Satzmodus
textuell
konjunktionales Adjunkt
(außerhalb der SatzmodusStruktur)
Abb. 15: Metafunktionen und Typen von Adjunkten (nach Halliday / Matthiessen 2004: 125)
Ideationelle Adjunkte bzw. Umstandsadjunkte tragen zur (ideationellen) Bedeutung des Satzes bei und sind den Elementen Umstände (im Satz als Repräsentation) gleich. Sie gehören zum Element Residuum. Interpersonelle bzw. modale Adjunkte haben interpersonelle Funktion und beziehen sich oft auf die persönlichen Einstellungen des Sprechers, seine evaluativen und emotionalen Bewertungen usw. So ist leider in einem Satz wie Ich kann morgen leider nicht dabei sein ein modales Adjunkt: es trägt nicht dazu
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Satzanalyse
bei, den dargestellten Prozess weiter zu spezifizieren, sondern bringt die persönliche Einstellung des Sprechers zum dargestellten Sachverhalt zum Ausdruck. Im Englischen werden solche Elemente oft dem Satz vorgestellt und mit Komma abgetrennt (z.B. unfortunately, surprisingly etc.). Im Deutschen können sie dem Satz vorgestellt werden, meist erscheinen sie aber im Mittelfeld. Modale Adjunkte werden deswegen zum Element Satzmodus gezählt. Textuelle bzw. konjunktionale Adjunkte (die auch manchmal Diskursmarker genannt werden) haben die Aufgabe, die Stellung des Satzes innerhalb eines größeren Textsegments zu verdeutlichen. Hierzu gehören deutsche Ausdrücke wie einerseits … andererseits, daher, allerdings u.ä. Solche Elemente gehören weder zum Satzmodus noch zum Residuum: Sie erfüllen keine interpersonellen funktionalen Rollen und werden deswegen außerhalb der Satzmodus-Struktur platziert. Nach dieser straffen Einführung der grundlegenden Elemente des Satzes als Interaktion stellen wir nun die Analyse des schon bekannten Textabschnitts vor: Satztyp: Aussagesatz Uns
stehen
bekanntlich
harte Zeiten
bevor.
Komplement
Finitum/ Prädikator
Adjunkt: modal
Subjekt
Prädikator
Residuum
Satzmodus
Residuum
Satztyp: Aussagesatz Wer
das
immer noch
nicht glaubt,
Subjekt
Komplement
Adjunkt: Umstand
Finitum/ Prädikator
Satzmodus
Residuum
Satzmodus
[der
sollte
in d. nächsten Werbepause
ausnahmsweise
mal
genau
hinschauen
Subjekt
Finitum
Adjunkt: Umstand
Adjunkt: Umstand
(Adjunkt: modal)
Adjunkt: Umstand
Prädikator
Satzmodus
Residuum
Satzmodus
Residuum
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Systemisch-funktionale Grammatik
[anstatt
auf die Toilette
zu gehen.]
Adjunkt: Umstand
Prädikator
Residuum
Satztyp: Aussagesatz Denn
die Warenwelt
besteht
zunehmend
aus getunten Hochleistungsprodukten,
Subjekt
Finitum/ Prädikator
Adjunkt: Umstand
Komplement
Satzmodus
Residuum
[deren einziger Zweck
es
zu sein
scheint
Prädikator Residuum
Subjekt
Prädikator
Finitum
Satzmodus
Residuum
Satzmodus
Im letzten Teilsatz wird das Element deren einziger Zweck als Prädikator eingestuft, da diese Gruppe als nominales Prädikativ zum Kopula sein fungiert. Über den Status des Verbs scheinen in diesem Satz lässt sich streiten: Wir haben es als ein (Semi-)Auxiliar bzw. auxiliarähnliches Verb markiert, das die Informationen bezüglich der Temporalität, Modalität und Evidentialität7 trägt und somit zum Satzmodus gehört. Sein hingegen fungiert hier als Prädikator und wird vom grammatischen (Hilfs-)Verb scheinen modifiziert. [uns
vor den dräuenden Härten des Alltags
zu beschützen]].
Komplement
Komplement
Prädikator
Residuum
_____________ 7
Evidentialität bezeichnet eine Kategorie, die auf die Informationsquelle – Evidenzen, Indizien, Gründe – verweist, die dem Sprecher vorliegt und die die informative Basis für die Aussage des Sprechers liefert. Mit scheinen markiert der Sprecher z.B., dass er im Besitz von Informationen ist, von denen er auf den dargestellten Sachverhalt schließen kann. Da Evidentialität in der germanistischen Sprachforschung noch eine relativ neue Kategorie ist, bleibt ihr Status innerhalb des deutschen verbalen Systems noch umstritten.
Schlussbemerkungen
85
Die Infinitivkonstruktionen mit zu – uns vor den dräuenden Härten des Alltags zu beschützen und anstatt auf die Toilette zu gehen – haben kein Subjekt. Die Konstruktionen haben keinen Satz-Status und werden daher als Residualteile der einbettenden Sätze interpretiert.
3.4.
Schlussbemerkungen
Die systemisch-funktionale Linguistik wurde von Beginn an als eine anwendungsorientierte Theorie entwickelt. Diesen Umstand reflektieren auch diverse Richtungen, die von den Grundkonzepten dieser Theorie abzweigen: Sie können am besten als theoretische Weiterentwicklungen im Rahmen anwendungsorientierter Kontexten verstanden werden. Zum einen sind hier systemischfunktional orientierte fremdsprachendidaktische Ansätze zu nennen (vgl. Hasan / Perrett 1994). Zum anderen gibt es systemischfunktional orientierte Ansätze, die sich auf die Beschreibung des Spracherwerbs konzentrieren (vgl. Hasan / Martin 1989). Außerdem finden sich systemisch-funktionale Ideen nicht nur in Sprachbeschreibungen, sondern auch in Beschreibungen von anderen semiotischen Systemen (vgl. O’Toole 1994 für Kunst und Architektur, Steiner 1988 für Musik, Kress / van Leeuwen 1996 für Bilder). Als ein eigenständiger Zweig hat sich mittlerweile die Diskursanalyse etabliert (vgl. Hasan 1985, Martin 1992, Mann / Thompson 1992, Eggins / Slade 1997). Darüber hinaus wird die sog. lexikogrammatische Sprachbeschreibung weiterentwickelt, was sich in der Vielzahl der Publikationen widerspiegelt, die unterschiedliche Phänomene oder gar ganze Sprachsysteme aus der systemisch-funktionalen Perspektive beleuchten (vgl. z.B. Matthiessen 1995 für das Englische, Fang / McDonald / Cheng 1995 für das Chinesische, Shore 1996 für das Finnische; Caffarel 1995 für das Französische, Hori 1995 für das Japanische). Eine andere Anwendungsperspektive der Theorie repräsentieren computerlinguistische Ansätze, die sich mit der Textgenerierung auf der Basis semantischen Inputs beschäftigen. Hierbei sind insbesondere Programme wie KPML (beschrieben in Reiter / Dale 2000) und
86
Systemisch-funktionale Grammatik
Communal (beschrieben in Fawcett / Tucker / Lin 1993) zu nennen. Kritisiert wird die systemisch-funktionale Theorie oft dafür, dass sie keine formale Repräsentationsebene hat, d.h. der holistische Ansatz dieser Grammatiktheorie. Einerseits wird bemängelt, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen den sprachlichen Ebenen Semantik, Syntax und Pragmatik postuliert werde, was eine exakte grammatische Beschreibung sprachlicher Strukturen und Operationen erschwere. Andererseits wird das Postulat der lexikogrammatischen Ebene, die Semantik und Grammatik vereint, und die Betonung ihrer dominanten semantischen – und nicht syntaktischen – Beschaffenheit kritisiert. Das führe dazu, dass viele syntaktische Phänomene, wie z.B. Anhebung, Kontrolle und Kongruenz, in dieser Theorie nicht erklärt werden können (vgl. Butler 2003: 469). Und das wiederum erschwere eine erfolgreiche Computer-Implementierung. Darüber hinaus wird der systemisch-funktionalen Theorie häufig vorgeworfen, dass sie Gebrauch von vielen unterschiedlichen Termini macht, die nicht hinreichend definiert sind (vgl. Butler 2003: 470). Immer mehr neue spezielle Begriffe und Konzepte seien in den letzten Jahren eingeführt worden, ohne dass sie durch eine präzise Definition spezifiziert würden. Besonders schwierig sei daher eine Auseinandersetzung mit der Theorie für Outsider, die mit ihren Begrifflichkeiten nicht vertraut sind. Außerdem orientiere sich die systemisch-funktionale Grammatik zu stark an der englischen Sprache und ihrer Besonderheiten. Dies führe häufig zu Problemen, wenn andere Sprachen aus dieser Perspektive beschrieben werden sollen.
3.5.
Aufgaben
1. Analysieren Sie den Text, indem Sie die unten stehenden Fragen beantworten:
Aufgaben
87
(1)Damit ist der Weg für eine Einheitsregierung in Simbabwe nach monatelangem Machtkampf frei. (2) Die Staaten der Region hatten angesichts der katastrophalen Lage in Simbabwe Druck auf Tsvangirai und Präsident Robert Mugabe ausgeübt. (3) Bei einem Sondergipfel am Dienstag hatten sie gefordert, bis Mitte Februar eine Einheitsregierung zu bilden. (4) Während die ZANU-PF von Mugabe umgehend zustimmte, wollte Tsvangirai erst eine Sitzung des MDC-Parteivorstandes am Freitag abwarten - der schließlich zustimmte. (aus: „Tsvangirai will mit Mugabe regieren“; SPIEGEL ONLINE, 30.01.2009) a. Bestimmten Sie die Prozesstypen und Partizipanten in jedem Satz. b. Bestimmen Sie die Umstände in den Sätzen (2) und (3). c. Welche sprachlichen Elemente erfüllen jeweils die Funktionen Subjekt, Aktor und Thema in jedem Satz? d. Welche syntagmatischen (strukturellen) Einheiten enthält der Satz (3)? e. Analysieren Sie die thematische Struktur der Sätze, bestimmen Sie den Typ des jeweiligen Themas. f. Durch welche sprachlichen Elemente werden die funktionellen Rollen Prädikator und Finitum in jedem Satz repräsentiert? Welche Selektionen innerhalb des Systems SATZMODUS werden hier realisiert? 2. Analysieren Sie die folgenden Sätze aus der Perspektive der ideationellen Metafunktion. Beachten Sie dabei die unterschiedlichen funktionellen Rollen der Ausdrücke „das Auto“ und „(für) 2000 Euro“. (1) (2) (3) (4) (5) (6)
Sie kaufte ihm das Auto für 2000 Euro ab. Er hat ihr das Auto für 2000 Euro verkauft. Sie zahlte ihm 2000 Euro für das Auto. Er bekam 2000 Euro für das Auto. Das Auto kostete sie 2000 Euro. Das Auto wurde an sie für 2000 Euro verkauft.
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Systemisch-funktionale Grammatik
3. Analysieren Sie die folgenden Textabschnitte im Hinblick darauf, in welchen Situationen / Kontexten sie verwendet werden. Beachten Sie dabei folgende Punkte: a. Unterscheiden sich die Texte in Bezug auf die Wortwahl? b. Welche lexiko-grammatischen Eigenschaften (wie Wortfolge, thematische Struktur, Wahl der morpho-syntaktischen Form, andere grammatische Merkmale) gelten als unterscheidende Merkmale für den jeweiligen Texttyp bzw. Textsorte? c. Welche von den sprachlichen Metafunktionen überwiegt / überwiegen im jeweiligen Textabschnitt? (1) Die Butter zerlassen, Sirup und Zucker zugeben und unter Rühren erhitzen. (2) Haben Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, eigentlich in letzter Zeit einmal dabei ertappt, dass Sie unbedingt „Visionär“ spielen wollen? (3) Der eigentlichen Grammatik gehen zwei Einleitungskapitel voraus. Kap. 1 bringt eine Orientierung über die Aufgaben von Grammatiken und über Möglichkeiten, diese Aufgaben anzupacken. Im zweiten Kapitel werden sprach- und grammatiktheoretische Grundbegriffe eingeführt und so weit expliziert, wie es zum Verständnis des Folgenden notwendig erschien. (4) Eine Aufenthaltsverfestigung tritt für Inhaber befristeter Aufenthaltserlaubnisse und befristeter Aufenthaltsbefugnisse mit der Dauer des Aufenthalts auch dann ein, wenn sie die spezifischen Voraussetzungen für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung nicht erfüllen können. (5) Wir haben das Automobil erfunden. Und hören nicht auf, es neu zu erfinden. (6) Es war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen ‚Töpfchen, koche‘, so kochte es guten süßen Hirsenbrei, und wenn es sagte ‚Töpfchen, steh‘' so hörte es wieder auf zu kochen.
Literatur
3.6.
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Literatur
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Systemisch-funktionale Grammatik
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Die systemisch-funktionale Grammatiktheorie ist seit einiger Zeit auch im Internet durch ein Portal präsentiert. Auf der Seite http://www.isfla.org/Systemics/ (Stand: 20.12.2008) befinden sich umfassende Informationen über theoretische Grundlagen, wichtigste Vertreter, aktuelle Forschungsaktivitäten und Veranstaltungen und Vieles mehr. Die Seite bietet außerdem Zugang zu zwei bibliographischen Datenbanken, die regelmäßig aktualisiert werden.
4. Kognitive Grammatik Die Kognitive Grammatik (Cognitive Grammar, CG) ist in den breiteren Rahmen der Kognitiven Linguistik einzuordnen, zu der auch das Modell der Construction Grammar (s. Kapitel 5) gehört. Wichtige frühe Vertreter dieser einflussreichen Strömung in der modernen Linguistik sind die amerikanischen Linguisten George Lakoff, Leonard Talmy und Ronald Langacker, die seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Kognitive Linguistik als Alternative zur Generativen Grammatik etabliert haben. In der Kognitiven Linguistik wird die kognitive Funktion der Sprache betont: Sprache wird als Mittel gesehen, mit dem Menschen die Welt kategorisieren und sie auf diese Weise ‚erfahrbar‘ machen. Sprachliche Strukturen vermitteln also zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Welt. Cognitive Linguistics is the study of language in its cognitive function, where cognitive refers to the crucial role of intermediate informational structures in our encounters with the world. […] [N]atural language [is seen] as a means for organizing, processing, and conveying that information. (Geeraerts / Cuyckens 2007: 5; Hervorhebung im Original)
Die Kognitive Linguistik ist keine einheitliche Theorie, sondern eher ein Konglomerat miteinander verwandter Theorien und Forschungsansätze, die sich durch folgende gemeinsame Merkmale kennzeichnen (vgl. Geeraerts / Cuyckens 2007: 5): (i) Semantik (Bedeutung) gilt als das primäre sprachliche linguistische Phänomen; (ii) sprachliche Bedeutung ist enzyklopädischer Natur, d.h. es gibt keine diskrete Grenze zwischen sprachlichen und anderen Formen des Wissens; (iii) durch die Sprache wird die außersprachliche Welt kategorisiert. Die Sprache spiegelt in anderen Worten die außersprachliche
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Kognitive Grammatik
Welt nicht einfach wider, sondern eröffnet eine bestimmte Perspektive, durch die der Welt eine Struktur auferlegt wird. Innerhalb der Kognitiven Linguistik gilt die Kognitive Grammatik, von Ronald Langacker begründet, als das sowohl empirisch wie auch konzeptuell am stärksten entwickelte Sprachmodell. Langacker (geb. 1942) begann mit der Erarbeitung des Modells, das später als Cognitive Grammar bekannt wurde, bereits 1976. Eine ausführliche Darstellung erschien erstmals 1982 unter dem Namen Space Grammar (vgl. Langacker 1982). Dieser Beitrag zum englischen Passiv enthielt die charakteristischen Visualisierungen in Form von Diagrammen.1 Eine umfassende Darstellung der Theorie findet sich in den zweibändigen „Foundations of Cognitive Grammar“. Band 1 (Theoretical Prerequisites) erschien 1987, Band 2 (Descriptive Application) 1991. Sie ist allerdings eher technisch gehalten und dadurch ziemlich anspruchsvoll; ein wenig zugänglicher ist das Buch „Concept, Image, Symbol“ (Langacker 1990), eine Sammlung von Beiträgen, die früher an unterschiedlichen Stellen veröffentlicht wurden. Ähnlich konzipiert ist auch der Band „Grammar and conceptualization“ (Langacker 1999a). Die genannten vier Bände enthalten die Essenz der Kognitiven Grammatik. Im Jahre 2008 veröffentlichte Langacker „Cognitive Grammar. A basic introduction“, in der die Grundlagen der Theorie samt ihren aktuellen Entwicklungen noch einmal dargestellt sind. Taylor (2002) bietet eine ausgezeichnete Einführung in die Theorie. Anders als die beiden anderen Begründer der Kognitiven Linguistik – Lakoff (vgl. insbesondere Lakoff 1987) und Talmy (vgl. insbesondere Talmy 1988) – hat Langacker ein umfassendes sprachliches Modell entworfen, das alle Aspekte der Sprache von der Phonologie bis zum Diskurs erfassen soll. Besonders im Bereich der Grammatik sind mittlerweile zahlreiche Studien zu unterschiedlichen Phänomenen in verschiedenen Sprachen bzw. Sprachgruppen erschienen.2 _____________ 1 2
Wildgen (2008) prägte als deutsche Bezeichnung für Langackers Modell den Begriff ‚Kognitive Bildsemantik’. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass sich Langackers Theorie in ihrem Ursprung stark am Englischen orientiert war. Langacker (2008a) enthält dagegen Verweise auf u.a. Kinyarwanda (eine Bantusprache), Cora und Luiseno
Zur Sprachauffassung in der Kognitiven Grammatik
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Im Folgenden konzentrieren wir uns zunächst auf die allgemeine Sprachauffassung, die dem Modell der Kognitiven Grammatik zugrunde liegt.
4.1.
Zur Sprachauffassung in der Kognitiven Grammatik
Obwohl die Kognitive Grammatik ursprünglich als radikale Alternative zur Generativen Grammatik gedacht war, sieht Langacker heute keinen deutlichen Unterschied mehr zwischen formalen und funktionalen Modellen. Er nennt diesen Unterschied sogar „simplistisch“ und „in zunehmendem Maße irrelevant“ (vgl. Langacker 2007: 422). Aus heutiger Sicht erreiche die Kognitive Grammatik „the proper balance zwischen formalist und functionalist concerns“ (Langacker 2008a: vii; vgl. auch Langacker 1999b). So teile das Modell mit formalen Ansätzen das Bestreben nach expliziten, präzisen und detaillierten Charakterisierungen der sprachlichen Struktur. Es ist Langackers Anliegen, die gesamte Grammatik umfassend zu beschreiben (vgl. Wildgen 2008: 117). Dennoch gehört die Kognitive Grammatik zweifellos zur funktionalen Linguistik: „language is shaped and constrained by the functions it serves” (Langacker 2008a: 7). Langacker unterscheidet dabei zwischen der semiologischen (auch: symbolischen) und der interaktiven (auch: kommunikativen) Sprachfunktion. Die Erstere betrifft die Möglichkeit, Konzeptualisierungen phonologisch zu symbolisieren. Die Architektur der Kognitiven Grammatik ist, wie noch zu zeigen sein wird, stark auf die symbolische Sprachfunktion ausgerichtet: Lexikon, Morphologie und Syntax werden ausschließlich als symbolische Strukturen beschrieben. Die sprachliche Struktur wird aber auch durch die kommunikative Funktion der Sprache beeinflusst. Mittels Sprache treten wir mit anderen Menschen in Kontakt, bringen uns selbst zum Ausdruck, nehmen am sozialen Leben teil. Beide Funktionen – die symbolische und die kommunikative – bedingen sich gegenseitig; sie sind als zwei Seiten derselben Me_____________ (Uto-Aztecansprachen), Tagalog, Nahuatl, Thai, Spanisch, Fränzösisch und Deutsch.
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Kognitive Grammatik
daille zu betrachten. So hängt die kommunikative Funktion der Sprache von der menschlichen Fähigkeit ab, Konzeptualisierungen überhaupt symbolisieren, d.h. versprachlichen, zu können. Eine adäquate Sprachbeschreibung, auch wenn sie aus einer kommunikativen Perspektive erfolgt, setzt deshalb immer eine Beschreibung konzeptueller Strukturen voraus. Umgekehrt erwirbt der Mensch Sprache immer in der sozialen Interaktion, von der sie sich nicht trennen lässt. Die Kognitive Grammatik versteht sich nicht nur als eine funktionale, sondern auch – und an erster Stelle – als eine kognitive Theorie. Sie unterscheidet sich von anderen Sprachmodellen durch das primäre Interesse am Konzeptuellen. Zu den grundlegenden Annahmen dieses Modells gehört unter anderem, dass die Bedeutung einer sprachlichen Einheit in der von ihr ausgedrückten Konzeptualisierung liegt. Mit Konzeptualisierung wird grundsätzlich jede mentale Erfahrung gemeint: Es kann sich dabei um etablierte oder neue Vorstellungen handeln, um abstrakte, mentale Konzeptualisierungen, um Sinneswahrnehmungen (z.B. Mir ist warm) oder um emotionale Erfahrungen (z.B. Er platzte vor Wut). Konzeptualisierungen sind inhärent dynamisch; ihre Dynamizität, d.h. die Art und Weise, wie sich eine gewisse Konzeptualisierung in der Zeit entwickelt, gehört zur mentalen Erfahrung und bestimmt sie mit. Betrachten wir in diesem Zusammenhang folgende Beispiele: Eine Reihe von Bäumen dehnt sich von der Straße bis zum Fluss aus. Eine Reihe von Bäumen dehnt sich vom Fluss bis zur Straße aus. Obwohl die beschriebene Situation statisch ist, wird in den beiden Sätzen eine dynamische Konzeptualisierung evoziert, bei der die Baumreihe in die eine (Straße Fluss) oder in die andere Richtung (Fluss Straße) mental abgetastet wird. Diesen sprachlichen Ausdrücken liegen somit leicht verschiedene mentale Erfahrungen (also Konzeptualisierungen) zugrunde. Folglich ist es die Gleichsetzung von Bedeutung und Konzeptualisierung, die die Kognitive Grammatik als eine kognitive Theorie erscheinen lässt. Aber es gibt noch andere Aspekte, aus
Zur Sprachauffassung in der Kognitiven Grammatik
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denen der kognitive Charakter dieses Modells hervorgeht. Es wird davon ausgegangen, dass es keine klare Grenze zwischen Sprache und anderen psychologischen bzw. kognitiven Mechanismen gibt. Die Sprachstruktur stützt sich auf kognitive Systeme und Fähigkeiten (z.B. Kategorisierung, Perzeption, Mustererkennung, Schematisierung), aus denen sie sich nährt und von denen sie sich nicht grundsätzlich trennen lässt. Die Sprache ist demnach – anders als es in der Generativen Grammatik angenommen wird – kein autonomes Modul, sondern „an integral facet of cognition“ (Langacker 2008a: 8). Daher soll eine Sprachbeschreibung Begriffe und Konzepte heranziehen, die uns in den anderen Kognitionswissenschaften (z.B. in der kognitiven Psychologie oder in der Neurolinguistik) begegnen. So schlägt Langacker vor, fundamentale grammatische Klassen und Relationen (wie Nomen und Verb, Subjekt und Objekt) sowohl im Sinne eines Prototyps als auch im Sinne eines (allgemeinen) Schemas3 zu charakterisieren (s. Kapitel 4.3.1). Diese Begriffe, die der Psychologie entstammen, werden hier zur Beschreibung von grammatischen Kategorien eingesetzt. Die Kognitive Grammatik zeigt außerdem ein starkes Interesse an mentalen Konstrukten und Darstellungsmechanismen, die in anderen Ansätzen weitgehend unberücksichtigt bleiben. [...] [C]onceptionalist semantics must start by recognizing the prevalence – indeed, the utter pervasiveness – of imaginative devices and mental constructions. (Langacker 2008a: 35)
Als Sprecher bedienen wir uns zahlloser bildhafter Mechanismen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir konstruieren mentale Räume, in denen Sachverhalte verortet werden (sie glaubt), und verweisen oft auf virtuelle (fiktive) Entitäten (einen Porsche, keine Haustiere). Sie glaubt, dass ihr Mann sie hintergeht. Wenn sie einen Porsche hätte, würde sie den Führerschein machen. Ich habe keine Haustiere. _____________ 3
Langacker (1991: 525) definiert den Begriff ‘Schema’ folgendermaßen: „A semantic, phonological, or symbolic structure that, relative to another representation of the same entity, is characterized with lesser specificity and detail. A coarse-grained (as opposed to fine-grained) representation.”
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Kognitive Grammatik
So liegt in folgenden Sätzen keine wirkliche Bewegung bzw. Veränderung, sondern eine fiktive Bewegung bzw. Veränderung vor (fictive motion bzw. fictive change). Eine lange Narbe läuft nun quer über den Bauch (von einer Seite zur anderen). Unser Weihnachtsbaum wird jedes Jahr kleiner. Die Narbe läuft nicht wirklich von einer Seite zur anderen (der beschriebene Zustand ist ja statisch), die (Ausdehnung der) Narbe wird aber mental so abgetastet, als ob es sich um eine Bewegung handeln würde. Eine ähnliche Situation liegt im zweiten Beispielsatz vor: Jedes Jahr wird ein neuer Baum gekauft, der kleiner ist als der Baum vom Vorjahr. Die Veränderung ist somit nicht aktuell (es ist nicht der aktuelle Baum, der schrumpft), sondern bezieht sich auf einen mentalen Vergleich verschiedener Weihnachtsbaumexemplare. Die Veränderung ist deshalb fiktiv. Außerdem wird in der Kognitiven Grammatik hervorgehoben, dass wir uns beim Sprechen zahlreicher Metaphern bedienen, d.h. wir stellen bestimmte (oft abstraktere) Konzepte im Sinne anderer (oft konkreterer) Konzepte dar. So wird ein (abstraktes) Gefühl wie Ärger im Deutschen oft mittels Konzepten beschrieben, die auf die (konkreten) menschlichen Erfahrungen mit Feuer zurückgehen. Allgemeine Metapher: Ärger ist wie Feuer (Beispiele aus Wildgen 2008: 88-89) Er machte eine ätzende Bemerkung. Er spuckte Feuer. Er goss Öl ins Feuer. Ich bin ausgebrannt. Er verzehrte sich vor Wut. Das facht meine Wut an. In der Kognitiven Grammatik wird angenommen, dass jeder sprachliche Ausdruck eine Sammlung kognitiver Domänen als Grundlage für seine Bedeutung aktiviert. So ruft das Substantiv Glas (z.B. in ein Glas Milch) die Domänen Form und Raum4 hervor _____________ 4
Das Konzept Form ist ohne das grundlegendere Konzept des Raumes ja nicht vorstellbar. Form setzt somit Raum voraus (vgl. Langacker 2007: 434).
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sowie eine typische räumliche Orientierung (vertikal, mit der Öffnung am oberen Ende), einige funktionale Domänen (das Glas als Behälter von Flüssigkeiten, als Mittel zum Trinken) und eine Spezifizierung des Materials (typischerweise Glas) und der Größe (relativ klein; ein Glas kann man in der Regel leicht mit einer Hand festhalten) (vgl. Langacker 2008a: 47). Nicht alle Domänen sind für die Bedeutung von Glas gleich zentral, weil sie nicht in jeder Verwendung zwangsläufig gleich stark aktiviert werden. So ließe sich behaupten, dass die mit dem Substantiv Glas assoziierten funktionalen Elemente (Behälter zum Trinken) im zweiten Beispiel kaum aktiviert werden, während sie im ersten Beispiel für die Interpretation des Satzes unverzichtbar sind: Sie trinkt gern ein Glas. Er zerschmettert das Glas. Die aktivierten Domänen stellen den konzeptuellen Inhalt eines sprachlichen Ausdrucks dar. Die Bedeutung eines Ausdrucks ist aber nicht bloß dessen Inhalt (content). Jeder sprachliche Ausdruck ist nämlich als nur eine Möglichkeit aus verschiedenen Konzeptualisierungs- und Darstellungsweisen einer Situation zu werten, was mit dem Konzept construal erfasst wird.5 Es bezeichnet die Fähigkeit, ein und dieselbe Situation auf mannigfache Art und Weise zu konzeptualisieren und darzustellen. […] our amazing mental ability to ‘structure’ or ‘construe’ a conceived situation in many alternate ways. (Langacker 1988: 63)
Die Art und Weise, wie ein bestimmter Inhalt dargestellt (konstruiert) wird, prägt die Bedeutung eines Ausdrucks genauso wie der eigentliche Inhalt. Darstellung (construal) und Inhalt (content) sind demnach eng miteinander verwoben. Construal is our multifaceted capacity to conceive and portray the same situation in alternate ways. The construal imposed on its content is intrinsic and essential to the meaning of every expression and every symbolic unit. (Langacker 2007: 435)
_____________ 5
In den früheren Veröffentlichungen wurde hierfür der Begriff imagery verwendet, der aber zugunsten des eindeutigeren construal aufgegeben wurde.
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Kognitive Grammatik
Langacker (2007: 435) unterscheidet vier allgemeine Aspekte, die die Art und Weise der sprachlichen Darstellung beeinflussen können. Es handelt sich um die Faktoren Spezifizität, Prominenz (Salienz), Perspektive und Dynamizität. Ein und dieselbe Situation kann – je nach Interessen des Sprechers und seinen kommunikativen Bedürfnissen – sehr allgemein (grob, schematisch) oder aber detailliert und präzise dargestellt werden. Die Bandbreite von schematisch zu spezifisch wird mit dem Begriff Spezifizität erfasst. Etwas passierte. Eine Person sah ein Tier. Ein Mädchen sah ein Meerschweinchen. Ein ängstliches Mädchen mit roten Haaren und gelber Brille bemerkte ein krankes Meerschweinchen mit schwarzen Flecken. Das Merkmal Spezifizität kann sowohl auf lexikalische (vgl. tun – handeln – sich bewegen – laufen – huschen) wie auch auf grammatische Elemente angewandt werden. Letztere weisen in aller Regel einen sehr geringen Grad an semantischer Spezifizität auf (vgl. haben als grammatikalisiertes Perfekt-Hilfsverb in Kontrast zum Vollverb haben mit der Bedeutung ‚besitzen’): Er hat drei Häuser. (lexikalisches ‚haben’ = ‚besitzen’) Er hat vor drei Jahren geheiratet. (grammatisches ‚haben’) Was den Aspekt der Salienz (Prominenz) betrifft, ist zunächst zu bemerken, dass etwas auf unterschiedliche Art und Weise salient sein kann. Aus der grammatischen Perspektive sind allerdings zwei Arten der Salienz besonders hervorzuheben, und zwar Profilierung (profiling) und die Zuweisung der Funktionen Trajektor und Landmarke (trajector /landmark alignment). Ein sprachlicher Ausdruck evoziert einen bestimmten Inhaltsbereich als seine konzeptuelle Basis, innerhalb deren er eine bestimmte Substruktur bezeichnet. In der Kognitiven Grammatik heißt das, dass ein sprachlicher Ausdruck (innerhalb seines konzeptuellen Rahmens) das Bezeichnete profiliert.
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An expression’s profile is thus its conceptual referent and, as such, is prominent in the sense that the expression serves to single it out and focus attention on it. (Langacker 2007: 435)
Folgende Beispiele (aus Langacker 2007: 436) sollen dies verdeutlichen. Das Substantiv Hypotenuse evoziert als seine konzeptuelle Basis ein rechtwinkliges Dreieck, in dem es den dem rechten Winkel gegenüberliegenden Schenkel profiliert (vgl. Abb. 1). Für die Substantive Iris und Pupille, die die unterschiedlichen Teile des Auges profilieren, fungiert die Konzeption eines Auges als konzeptuelle Basis (Abb. 2). Konzeptuelle Basis
Hypotenuse
Abb. 1: Konzeptuelle Basis und Profil von Hypotenuse
Konzeptuelle Basis
Iris
Pupille
Abb. 2: Konzeptuelle Basis und Profil von Iris bzw. Pupille
Während Substantive Dinge profilieren, profilieren Verben Beziehungen (relationships), an denen unterschiedliche Partizipanten beteiligt sind (z.B. Sie kauft ein Buch; Er bewundert das Kunstwerk; Sie hat mir ihr letztes Gemälde gezeigt). Hier handelt es sich um eine andere Art der Prominenz: Den beteiligten Partizipanten wird eine unterschiedliche Gewichtung zugewiesen. In der Regel ist nämlich ein Partizipant in der Beziehung der primäre fokale Partizipant: Er fungiert als diejenige Einheit, die beschrieben, lokalisiert oder
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bewertet wird. Diese Einheit wird als Trajektor (abgekürzt tr) bezeichnet und entspricht dem Satzsubjekt. Seine Tochter (tr) heißt Josefien. Sie (tr) wohnt in Spanien. Ihr Vater (tr) ist ein netter Mann. Oft wird in der vom Verb bezeichneten Beziehung einer zweiten Einheit eine gewisse sekundäre Prominenz eingeräumt. Eine solche Einheit gilt als sekundärer fokaler Partizipant oder die Landmarke (abgekürzt lm). Bei transitiven Verben ist das Subjekt demnach als Trajektor, das Akkusativobjekt als Landmark zu betrachten. Er (tr) hat meine Nachbarin (lm) vor drei Jahren geheiratet. Meine Mutter (tr) kauft jährlich wenigstens 100 CDs (lm). Die Begriffe ‚Trajektor’ und ‚Landmarke’ kommen aber nicht nur bei Verben zur Verwendung. So profilieren die deutschen Konjunktionen bevor und nachdem die gleiche Beziehung (es handelt sich um ein zeitliches Vorausgehen); sie unterscheiden sich voneinander hinsichtlich dessen, welcher Sachverhalt als Hintergrund (lm) für den anderen (tr) dargestellt wird, wie aus folgenden Beispielen hervorgeht. Sie sagt Hallo! und küsst mich. Bevor sie mich küsst (lm), sagt sie Hallo! (tr) Sie küsst mich (tr), nachdem sie Hallo! gesagt hat (lm). Den Aspekt der Perspektive verbindet Langacker mit dem Begriff vantage point (wörtlich übersetzt Gesichtspunkt). Das ist der Referenzpunkt, von dem aus der Sachverhalt dargestellt wird. So ist die normale Verwendung von her und hin im Deutschen eng mit der Sprecherperspektive verbunden: her wird verwendet, wenn die Bewegung zum Sprecher hin repräsentiert wird; hin bezeichnet eine Bewegung vom Sprecherstandpunkt weg.
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Komm bitte herein! Der Regen fiel in Strömen herunter. Er ist von der Leiter heruntergefallen. Gehen Sie bitte hinein! Er sprach laut ins Mikrophon hinein. Ein anderer Aspekt der Perspektive betrifft die Tatsache, dass ein Element entweder subjektiv oder objektiv konstruiert werden kann (vgl. auch Kapitel 4.3.2). Diese in der Kognitiven Grammatik sehr wichtigen Begriffe haben einen anderen Inhalt als in ihrer alltäglichen Verwendung. Eine objektive Darstellung liegt vor, wenn eine Einheit (nur) als konzeptualisiertes Objekt dargestellt wird; subjektiv ist ein construal, bei dem die Einheit auf sprachlich nichtmarkierte Weise (also implizit) zur konzeptualisierenden Person gehört. A tacit conceptualizing presence, a locus of consciousness that is not itself conceived, is construed with maximal subjectivity. Conversely, something explicitly singled out as the focus of attention is construed with maximal objectivity. (Langacker 2007: 437)
Hervorzuheben ist, dass es sich laut Langacker (vgl. insbesondere Langacker 2003) um ein Kontinuum handelt, bei dem Bedeutung(saspekte) mehr oder weniger subjektiv bzw. objektiv dargestellt werden. Sprecher und Hörer werden in der Regel subjektiv konstruiert: Sie sind subjects of conception. Die Sprecher- oder Hörerrolle kann aber eine objektive Darstellung erfahren, wenn sie als object of conception auf der sprachlichen Bühne erscheint, z.B. in Form von Personalpronomina ich (wir) und du (ihr /Sie). So wird im folgenden Dialog die Sprecherrolle in beiden Sätzen subjektiv konstruiert, weil sie nicht genannt wird, obwohl die Einschätzung der Lage (Schön hier) sowie die Beurteilung der ersten Aussage (Du übertreibst) vom (jeweiligen) Sprecher stammen. - Es ist schön hier! - Ach, du übertreibst. Im ersten Satz hätte der Sprecher auch Ich finde es schön hier sagen können. In diesem Fall würde die Sprecherrolle eine objektive Darstellung erfahren. Der Hörer (Adressat) erscheint im zweiten
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Satz durch die Verwendung des Pronomens du auf der sprachlichen Bühne. Langacker (1990: 316) hat den Unterschied zwischen einem objektiven und subjektiven construal anhand folgender Metapher erklärt. Eine Brille ist ein Perzeptionsobjekt (d.h. das konzeptualisierte Objekt), wenn man sie abnimmt und beobachtet. Sie wird in diesem Fall objektiv konstruiert. Sie wird aber subjektiv konstruiert, sobald sie getragen wird und den Blick (die Perzeption) des Trägers mit bestimmt, ohne dass er sich dessen bewusst ist (d.i. sie ist Teil des konzeptualisierenden Subjekts). Die Dynamizität bezieht sich auf die Art und Weise, wie sich die Konzeptualisierung entfaltet und in der dazu benötigten Verarbeitungszeit entwickelt. Wortfolge spielt hier eine wichtige Rolle: Da sprachliche Einheiten in einer bestimmten Reihenfolge auftreten, werden auch die durch sie evozierten Konzeptualisierungen in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert, was sich auf die entstehenden Bedeutungen (im weiten Sinne) auswirkt. Daher nimmt Langacker an, dass folgende Sätze semantisch nicht völlig äquivalent sind: Sie stritt mit ihrem Zahnarzt über Religion. Sie stritt über Religion mit ihrem Zahnarzt. Wie sich im Vorangehenden bereits gezeigt hat, wird Bedeutung in der Kognitiven Grammatik oft visualisiert. Die Verwendung bildlicher Schematisierungen zur Beschreibung von Konzeptualisierungen gilt als „das herausstechende Merkmal“ des Langacker’schen Ansatzes (Wildgen 2008: 122). Sie geht auf die Annahme zurück, dass konzeptuelle Struktur bildlich (und nicht propositional) ist. Die Bedeutung sprachlicher Elemente lässt sich also mit Bildern beschreiben. Die Kognitive Grammatik bevorzugt eine bildliche Darstellung, die sich sog. Bildschemata (image schemas) bedient, d.h. schematischer Handlungsmuster, die aus der täglichen körperlichen Erfahrung (wie Blickrichtung, Räumlichkeit, Bewegung und Kraft) abstrahiert werden. Die Bedeutung des durch das Verb enter bezeichneten Konzepts wird folgendermaßen erfasst (vgl. Langacker 2008a: 33):
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Abb. 3: Die Bedeutung von enter ‚hineingehen’
Wichtig in dieser Darstellung ist die Präsenz gewisser konzeptueller Archetypen, d.h. in unserem täglichen Leben allgegenwärtiger Vorstellungen wie z.B. die eines sich bewegenden physischen Objekts, eines Behälters und dessen Inhalts (container-content). Die Darstellungsweise in Abb. 3 macht die Bedeutung von hineingehen sichtbar: Ein Objekt bewegt sich einen Pfad entlang in Richtung eines Behälters; die Endphase der Bewegung ist ein Zustand, in dem das Objekt sich im Behälter befindet. Er ging durch die Tür ins Haus hinein. Andere konzeptuelle Archetypen, die in kognitiven Ansätzen eine wichtige Rolle spielen, sind Gestaltkonzeptionen wie der menschliche Körper, das menschliche Gesicht, ein Ganzes und seine Teile, etwas sehen, etwas festhalten, jemandem etwas geben, Kraft ausüben um etwas zu erreichen, sprechen, ein direkter sozialer Kontakt usw. (Langacker 2008a: 34; Langacker 2007: 433). Auch maximal schematische (allgemeine) Konzepte wie Grenze, Kontrast, Veränderung, Kontakt, Inklusion, Trennung, Nähe, Gruppe usw. werden zur Charakterisierung grammatischer Elemente und Relationen benutzt. Diese Konzepte können auch als Produkte grundlegender kognitiver Fähigkeiten betrachtet werden. Ein Kontrast ergibt sich aus der kognitiven Fähigkeit, zu vergleichen und dabei Unterschiede zu erkennen; die Wahrnehmung einer Vielheit von Einheiten als Gruppe setzt die Fähigkeit voraus, unterschiedliche Entitäten zusammenzufassen. Anhand folgenden
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Kognitive Grammatik
Beispiels zeigt Langacker, dass wir aufgrund unseres Kognitionsapparats oft einfach nicht umhin können, manche Entitäten als Gruppe wahrzunehmen. Unsere Perzeption zwingt uns gleichsam dazu, in der folgenden Zeichnung Gruppen von jeweils zwei und vier schwarzen Punkten zu sehen (vgl. Langacker 2008a: 105).
Abb. 4: Gruppenbildung durch perzeptive Nähe
Es wird in der Kognitiven Grammatik angenommen, dass die oben beschriebenen konzeptuellen Archetypen samt den zugehörigen fundamentalen kognitiven Fähigkeiten den grammatischen Klassen (z.B. Substantiv und Verb) und Relationen (z.B. Subjekt, Objekt, Possessiv) zugrunde liegen. So kann ein Nomen als ein Element charakterisiert werden, das schematisch ein Ding bezeichnet, während ein Verb einen Prozess zum Ausdruck bringt. Sowohl Dinge als auch Prozesse können, wie noch erörtert werden wird (s. Kapitel 4.3.1), im Sinne konzeptueller Archetypen betrachtet werden. Fassen wir die Grundannahmen der Theorie noch einmal zusammen: 1. Die Kognitive Grammatik ist eine funktionale Theorie: Sie betrachtet die sprachliche Struktur als durch die von der Sprache erfüllten Funktionen gestaltet. Zwei sprachliche Funktionen stehen dabei im Mittelpunkt: die symbolische und die kommunikative. 2. Die Kognitive Grammatik ist eine kognitive Theorie: Bedeutung wird mit Konzeptualisierung gleichgesetzt. 3. Ein besonderer Wert wird auf die bildliche Darstellung sprachlicher Inhalte gelegt. Ziel ist es, die ganze Grammatik zu ‚verbildlichen’ (vgl. Wildgen 2008: 124).
Aufbau der Kognitiven Grammatik
4.2.
105
Aufbau der Kognitiven Grammatik
Langacker definiert Sprache als ein strukturiertes Inventar linguistischer Einheiten, die in einer bestimmten Gemeinschaft konventionalisiert sind (Langacker 2007: 421). Der Begriff ‚Einheit’ meint eine kognitive Routine, die automatisch abläuft, ohne dass über sie ‚nachgedacht’ wird. Was als ‚Sprache’ gilt, ist allerdings nicht deutlich abgrenzbar. Erstens wird eine linguistische Einheit durch den Prozess der progressiven psychologischen Verankerung (entrenchment) bestimmt, und dieser ist graduell. Ein Beispiel: Die Pluralform Balkone zu Balkon hat sich stärker in der deutschen Sprache verankert als die entsprechende Pluralform Parke zum Substantiv Park; bei diesem Substantiv überwiegt die weniger eingedeutschte Form auf -s (die Parks), die bei Balkon (die Balkons) wiederum viel seltener vorliegt. Als linguistische Einheit im Deutschen hat Parke somit eine schwächere Stellung als Balkone. Zweitens ist auch der konventionalisierte Charakter einer sprachlichen Einheit graduell: Das gleiche Zeichen ist für die Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft nicht zwangsläufig gleich stark konventionalisiert. So kann der sog. am-Progressiv im Deutschen generell nicht mit einem Akkusativobjekt verbunden werden (*Ich bin Kartoffeln am Schälen). In der Schweiz und in umgangssprachlichen Varianten im Rheinland und in Westfalen ist solch eine Konstruktion allerdings akzeptabel (vgl. z.B. Van Pottelberge 2005). […] ich merke es erst jetzt, wo ich das Mailing am schreiben bin. (http://www.gerstl.ch/doc/archiv/feb2003-Sub Angebot.doc) Drittens gibt es keine strikte Grenze zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Einheiten: Inwiefern ist Intonation ein sprachliches Zeichen? Und Gestik? Wo hört die sprachliche Bedeutung auf und wo fängt die außersprachliche Bedeutung an? The linguistic and the extralinguistic form a gradation rather than being sharply distinct. While there are limits to linguistic meaning, and valid
106
Kognitive Grammatik
distinctions can be drawn, imposing specific boundaries is both arbitrary and misleading. (Langacker 2008a: 37)
Alle sprachlichen Einheiten werden aus den sog. Gebrauchsereignissen (usage events), d.h. aus aktuellen Instanzen der Sprachverwendung, abstrahiert. In einem usage event ist eine konkrete Konzeptualisierung mit einem konkreten Ausdruck kombiniert. […] [I]t resides in the pairing of a comprehensive conceptualization, representing a full contextual understanding, with an elaborate expression, in all its phonetic and gestural detail. (Langacker 2007: 425)
Nur Einheiten, die sich im aktuellen Sprachgebrauch regelmäßig wiederholen, können aufgrund ihrer Ähnlichkeit6 miteinender als sprachliche Einheiten erkannt und konventionalisiert werden. Grundsätzlich kann also jedes Element eines usage event den Status einer sprachlichen Einheit erlangen. Aus analytischen Gründen postuliert Langacker (2007) einige Sektoren, die in jedem Gebrauchsereignis vorhanden sind. Ein wichtiges Element in jedem usage event ist der ground, der den Sprecher, den Hörer, die Interaktion zwischen den beiden und die Umstände (Zeit und Raum) des Sprechereignisses umfasst. Der ground spielt eine grundlegende Rolle bei deiktischen Verankerungselementen wie z.B. dem bestimmten und unbestimmten Artikel und den Tempusmarkern (s. Kapitel 4.3.2). Wichtig in der Interaktion von Sprecher und Hörer ist die Gerichtetheit und Fokussierung ihrer Aufmerksamkeit. Was in die Region ihrer gemeinsamen Aufmerksamkeit fällt, wird als Blickrahmen oder Blickfeld (viewing frame) bezeichnet. Innerhalb dieses (globalen) Blickfeldes konzentrieren Sprecher und Hörer ihre Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Fokus (focus). Das Blickfeld ist in einen größeren Kontext (context) eingebettet, der seinerseits in eine vom Sprecher und Hörer geteilte Wissenswelt (shared knowledge) eingebettet ist. Zur gemeinsamen Wissenswelt gehört _____________ 6
Es ist davon auszugehen, dass es zwischen sprachlichen Einheiten im aktuellen Sprachgebrauch keine völlige Identität gibt: Die Aussprache des Wortes Deutschkenntnisse wird sich – auch beim selben Sprecher – von Sprechereignis zu Sprecherereignis unterscheiden. Gleichzeitig aber werden die verschiedenen Aussprachevarianten genügend Ähnlichkeit miteinander aufweisen, sodass sie als ein und dieselbe Wortform (und daher als sprachliche Einheit) erkannt und kategorisiert werden können.
Aufbau der Kognitiven Grammatik
107
auch der aktuelle Diskursraum (current discourse space), d.i. ein mentaler Raum, der das vom Sprecher und Hörer geteilte Wissen über die aktuelle Interaktion erfasst. Current Discourse Space
Usage Event Viewing Frame Focus
...
>
> S
Time
...
H Ground
Context Shared Knowledge Abb. 5: Interaktion und ihre wichtigen Strukturen (Langacker 2007: 426)
Die Beschreibung einer versprachlichten Konzeptualisierung beschränkt sich in diesem Modell also keineswegs darauf, was auf der sprachlichen Bühne (in der sog. onstage region innerhalb des Blickfeldes) passiert, sondern umfasst auch kontextuelle und andere (möglicherweise hintergründige) Informationen. Innerhalb des Blickfeldes in der sprachlichen onstage-Region unterscheidet Langacker verschiedene Kanäle (channels), die sowohl die zugrunde liegende Konzeptualisierung als auch ihren Ausdruck betreffen (s. Abb. 6). Für die Konzeptualisierung ist die sog. objektive Situation (objective situation) am wichtigsten, d.h. dasjenige, worüber gesprochen wird. Andere Kanäle auf der Ebene der Konzeptualisierung, die zur Bedeutung eines Ausdrucks beitragen, sind das Sprechmanagement (speech management) und die Informationsstruktur (information structure). Auf der Ausdrucksseite unterscheidet Langacker die segmentalen phonologischen Einheiten (segmental content) als wichtigsten Ausdruckskanal – andere Kanäle seien Intonation (intonation) und Gestik (gesture).
108
Kognitive Grammatik
Speech Management
Information Structure
Conceptualization Channels
Objective Situation
Segmental Content
Intonation
Expression Channels
Gesture
Abb. 6: Konzeptualisierungs- und Ausdruckskanäle
Konzeptualisierung und Ausdruck sind zwei wesentliche Aspekte eines jeden usage event. Auf der Ebene der sprachlichen Einheit entspricht der Konzeptualisierung der semantische Pol, und dem Ausdruck steht der phonologische Pol gegenüber. Damit sind wir bei einer zentralen Annahme in Langackers Modell angekommen. Es werden in der Sprachbeschreibung nur drei Arten von linguistischen Einheiten zugelassen: semantische, phonologische und Kombinationen von beiden, die sog. symbolischen Einheiten. Semantic units are those that only have a semantic pole […], while phonological units (e.g. a phoneme or a phonotactic pattern) have only a phonological pole. A symbolic unit has both a semantic and a phonological pole, consisting in the symbolic linkage of the two. (Langacker 2007: 427; Hervorhebung im Original) Semantic structures are conceptualizations exploited for linguistic purposes, notably as the meanings of expressions. Under the rubric phonological structure, I include not only sounds but also gestures and orthographic representations. Their essential feature is that of being overtly manifested, hence able to fulfill a symbolizing role. […] [A] symbolic structure […] resides in a link between a semantic structure (S) and a phonological structure (P), such that either is able to evoke the other. (Langacker 2008a: 15; Hervorhebung im Original)
Eine symbolische Einheit ist eine Struktur, die eine phonologische Struktur mit einer semantischen Struktur verbindet. Sowohl lexi-
Grammatik
109
kalische (z.B. Apfel, heiraten) als auch grammatische Elemente (z.B. das Präteritalmorphem -te in redete) sind symbolische Strukturen. Grammatische Strukturen sind zwar semantisch abstrakter und phonologisch weniger prominent, aber nicht grundsätzlich anders als lexikalische. Lexikon, Morphologie und Syntax, so wird in der Kognitiven Grammatik immer wieder betont, werden als ein Kontinuum verwandter Strukturen aufgefasst. […] [L]exicon, morphology, and syntax form a continuum fully reducible to assemblies of symbolic structures. (Langacker 2008: 15)
Schließlich ist noch hervorzuheben, dass sich die Kognitive Grammatik als eine natürliche Theorie versteht: Es werden deshalb keine Strukturen postuliert, die nicht entweder als tatsächliche sprachliche Ausdrücke existieren oder mittels herkömmlicher psychologischer Mechanismen (insbesondere Schematisierung und Kategorisierung) aus aktuellen Verwendungen abgeleitet werden können. [...] [T]he only elements ascribable to a linguistic system are (i) semantic, phonological, and symbolic structures that actually occur as parts of expressions; (ii) schematizations of permitted structures; and (iii) categorizing relationships between permitted structures. (Langacker 2008a: 25)
4.3.
Grammatik
Auch die Grammatik gilt in der Kognitiven Grammatik als bedeutungsvoll: „[…] grammar is symbolic in nature“; sie bestehe aus „assemblies of symbolic structures“, die als Konstruktionen bezeichnet werden (Langacker 2008a: 161; Hervorhebungen im Original). Es wird zwischen grammatischen Markern, grammatischen Klassen und grammatischen Konstruktionen unterschieden. Erstere sind zwar phonologisch spezifisch (etwa das Präteritalmorphem -te im Deutschen), weisen aber eine schematische Bedeutung auf. Grammatische Klassen und Konstruktionen sind sowohl in phonologischer als auch in semantischer Hinsicht schematisch. Zu den grammatischen Klassen, denen eine gemeinsame semantische Charakterisierung zugewiesen werden kann,
110
Kognitive Grammatik
zählt Langacker die Wortarten Substantiv, Verb, Adjektiv, Adverb und Adposition (Langacker 2007: 439). Den Wortarten Substantiv und Verb gilt aufgrund ihres fundamentalen Status das größte Interesse. Was alle grammatischen Elemente miteinander verbindet, ist, dass ihre primäre Bedeutung in der von ihnen auferlegten Darstellungsweise (construal) liegt und nicht in einem ausgedrückten Inhalt (content) im engen Sinne. 4.3.1.
Wortarten
Als polare Gegensätze weisen Substantive und Verben gegensätzliche semantische Charakterisierungen auf – sowohl prototypisch als auch schematisch. Für die Kategorie Substantiv gilt das physische Objekt als Prototyp, für das Verb das dynamische Ereignis (force-dynamic event). Typische Substantive sind daher Nomen wie Ball, Stuhl oder Topf; typische Verben sind töten, schlagen oder benutzen. Schematisch bezeichnet ein Substantiv ein DING, während ein Verb einen PROZESS profiliert (Langacker 2007: 439). Diese beiden Begriffe haben, so Langacker, kaum einen eigenen Inhalt, vielmehr sind sie mit grundlegenden kognitiven Fähigkeiten verbunden. So ist ein Ding das Resultat (Produkt) der mentalen Prozesse Gruppierung und Reifizierung (Verdinglichung). Unsere Perzeption sorgt dafür, dass ähnliche Elemente als Gruppe wahrgenommen werden (vgl. Abb. 4) und diese Vielheit anschließend als Einheit betrachtet wird. Ein Prozess ist Resultat der mentalen Fähigkeit, Beziehungen zwischen Elementen wahrzunehmen und diese zeitlich zu verfolgen. Einige Beziehungen sind statisch (Langacker bezeichnet sie als simplex), andere entwickeln (und verändern) sich in der Zeit; sie sind komplex. The event unfolds through time. At each instant the ball occupies some position in space, but in each case a different one: collectively these positions define its spatial path. The situation obtaining at any one moment constitutes a simplex relationship: a single configuration in which the ball occupies one particular location. The overall event comprises an indefinite number of such relationships and is therefore complex. (Langacker 2008a: 109)
Grammatik
111
Eine sich in der Zeit abwickelnde Beziehung wird typischerweise durch das sog. sequenzielle Scanning (sequential scanning) erfasst. Das ist eine mentale Operation, bei der sukzessiv auf verschiedene Teilzustände (component states) eines Prozesses zugegriffen wird. Die schematische Charakterisierung der grammatischen Kategorie Verb – der Prozess – setzt ein solches sequenzielles Scanning voraus. Verben sind deswegen in hohem Maße zeitsensitiv. Beziehungen, deren Maß an Temporalität gering bzw. null ist, werden atemporal genannt. Zu ihnen gehören die grammatischen Klassen Adjektiv, Adverb und Adposition.7 Sie profilieren genauso wie Verben Beziehungen, sind aber im Gegensatz zu Verben aprozessual. Adjektive, Adverbien und Adpositionen unterscheiden sich voneinander durch die Art der von ihnen vollzogenen TrajektorLandmarke-Zuweisung. Adjektive und Adverbien unterscheiden sich von Adpositionen, insofern als sie nur einen fokalen Partizipanten (den Trajektor) haben, während Adpositionen sowohl eine Trajektor- als auch eine Landmarkefunktion zuweisen. Dabei profilieren Adjektive Beziehungen, deren Trajektor ein Ding ist (der schnelle Zugtr), während Adverbien Relationen bezeichnen, deren Trajektor selbst relational ist (der Zug fährttr schnell). Bei Adpositionen fungiert immer ein Ding als Landmarke, während die Art des Trajektors nicht spezifiziert ist: Adpositionen können bekanntlich sowohl attributiv – dann fungiert ein Ding als Trajektor – als auch adverbial gebraucht werden – wo der Trajektorstatus einer Beziehung gegeben wird (vgl. Der Vogeltr im Käfiglm vs. Der Vogel fliegttr im Käfiglm herum). Neben den beschriebenen simplexen Beziehungen gibt es auch komplexe aprozessuale Beziehungen: Sie bestehen zwar aus mehreren Teilzuständen, werden aber durch ein sog. summary scanning (im Folgenden: summatives Scanning) als Einheit erfasst. Die Teilzustände werden alle gleichzeitig aktiviert. Dies ist bei Partizipien und zu-Infinitiven der Fall. Der vom Verb ausgedrückte Prozess wird dabei nicht sequenziell, sondern holistisch – in _____________ 7
Der Begriff Adposition umfasst sowohl vorangestellte Präpositionen (nach Spanien) als auch nachgestellte Postpositionen (mir gegenüber).
112
Kognitive Grammatik
seiner Gesamtheit – erfasst. Obwohl sie von Verben abgeleitet sind, sind Partizipien und zu-Infinitive keine Verben mehr. Er versuchte den Berg in drei Tagen zu besteigen. Er hat das Zimmer bereits gestrichen. Das Gebäude war durch die Explosion völlig zerstört. Langackers Herangehensweise betont die konzeptuellen und funktionalen Gemeinsamkeiten von traditionell als divers betrachteten Elementen wie Adjektiven, Adverbien, Adpositionen, Partizipien und zu-Infinitiven. Wie wir gesehen haben, bezeichnen sie alle – im Gegensatz zu verbalen Ausdrücken – aprozessuale Beziehungen. Ihre funktionale Gemeinsamkeit kommt z.B. dadurch zum Ausdruck, dass sie alle attributiv verwendet werden können (vgl. Langacker 2008a: 123), eine Eigenschaft, die Verben nicht aufweisen. ein kleines Kind der Weg dorthin die Frau mit dem Messer das bewährte und von den Lesern geschätzte Praxisbuch Der schimpfende, sich beschwerende Kunde ist immer noch Kunde (* der schimpfen, sich beschweren Kunde) Ich habe keine Lust zu erfrieren (* ich habe keine Lust erfrieren) Langacker plädiert also dafür, alle Elemente, die aprozessuale Beziehungen zum Ausdruck bringen, in einer übergeordneten Kategorie unterzubringen, was den Annahmen der klassischen Grammatik widerspricht. Eine weitere fundamentale Opposition besteht zwischen sprachlichen Elementen, die ein summatives Scanning durchführen (und also eine holistische Perspektive auf das Bezeichnete einnehmen) und solchen, die ein sequenzielles Scanning durchfüh-
Grammatik
113
ren, d.h. zwischen Substantiven (und all ihren möglichen Attributen) und Verben (vgl. Langacker 2008a: 124).8 Obwohl Substantive und Verben grundsätzlich in Opposition zueinander stehen, haben sie auch vieles miteinander gemeinsam. Komplexe Strukturen (Nominalphrasen9 und finite Sätze), als deren Kern sie jeweils gelten, weisen grundlegende Parallelen auf (vgl. Kapitel 4.3.2). Sowohl Substantive als auch Verben können laut Langacker in zwei Subklassen eingeteilt werden, die parallel sind. Diese Subklassen sind zählbar vs. nichtzählbar bei Substantiven und perfektiv vs. imperfektiv bei Verben. Beispiele für zählbare Substantive sind Bezeichnungen für Objekte wie Buch, Tasse, Baum. Aber auch Bezeichnungen für Lebewesen (Katze, Mann, Frau) und Abstrakta (Frage, Idee) sind zählbar. Zu den nichtzählbaren Substantiven gehören Bezeichnungen für kontinuative Substanzen wie Wasser, Milch, See, Gold, aber auch Abstrakta wie Wut, Kälte oder Unsinn. Die Unterscheidung zwischen zählbaren und nichtzählbaren Substantiven zeigt sich durch ihr jeweils unterschiedliches grammatisches Verhalten. Zählbare Substantive verhalten sich im Deutschen anders als die nichtzählbaren (vgl. Vogel 1996: 112-155; 2000). Nur zählbare Substantive treten in Pluralformen auf (Häuser, Katzen, Tische), sie können mit einem unbestimmten Artikel (ein Haus, eine Katze, ein Tisch) und mit Bestimmwörtern wie z.B. jeder (jedes Kind, jede Katze, jeder Tisch) kombiniert werden. Wenn nichtzählbare Nomina in Kontexten erscheinen, die in der Regel den zählbaren Substantiven vorbehalten sind, werden sie im Sinne eines Teils bzw. einer Art oder Sorte reinterpretiert (vgl. fünf Wasser; ein Wasser; Doch längst nicht jedes _____________ 8
9
Eine kritische Auseinandersetzung mit den beiden Arten des Scannings, die auf die Ablehnung des Scanning-Konzepts hinausläuft, bieten Broccias/ Hollmann (2007). Sie weisen auf den Mangel an psychologischer Evidenz für diese kognitiven Mechanismen hin; außerdem sei es in einigen Fällen psychologisch nicht plausibel, unterschiedliche Arten des Scannings anzunehmen. Dennoch verteidigt Langacker (2008b) sein Konzept weiterhin. Langacker lehnt die englische Bezeichnung nominal phrase zugunsten des Begriffes nominal ab, weil Erstere irreführend sei: Nominalphrasen müssen keine Nomen im engen Sinne enthalten (du, dies). Außerdem muss eine Nominalphrase keine ‚Phrase’ sein (ein einziges Wort kann ja als Nominalphrase auftreten). Der Einfachheit halber verwenden wir im Folgenden allerdings die übliche Bezeichnung ‚Nominalphrase’.
114
Kognitive Grammatik
Wasser passt zu jedem Wein). Umgekehrt sind artikellose Verwendungen bei zählbaren Nomina im Prinzip unmöglich (*Baum ist teuer; *Katze stirbt), während sie bei Kontinuativa unproblematisch sind (Wasser ist lebensnotwendig. Wasser heilt!). Wenn zählbare Substantive in nichtzählbaren Kontexten verwendet werden (z.B. ohne Artikel), unterliegen sie ebenfalls Reinterpretationsprozessen. Sie verlieren ihren zählbaren Charakter und werden als kontinuativ aufgefasst (vgl. Noch mehr U-Bahn ab 28. Mai, Beispiel aus Krifka 1989). Interessanterweise verhalten sich nominale Pluralformen in vielerlei Hinsicht eher wie Massenbezeichnungen (vgl. auch Langacker 2008a: 130): Sie können weder mit dem unbestimmten Artikel noch mit dem Indefinitpronomen jeder kombiniert werden (*eine Häuser, *jede Häuser); sie erlauben Verwendungen ohne Artikel (Er liebt Häuser im spanischen Stil). Aber Pluralformen und Massenbezeichnungen sind nicht völlig gleich. Plurale bezeichnen mehrere Instanzen (desselben Typs): Die ‚Masse’ wird also als individualisierbar dargestellt. Das heißt, dass die Bestandteile der Masse individuell gezählt werden können (vgl. sieben Häuser), eine Möglichkeit, die bei den echten Massenbezeichnungen nicht vorliegt.10 Diese grammatischen Eigenschaften lassen auf unterschiedliche konzeptuelle Merkmale von Massenbezeichnungen und Pluralen schließen. A count noun profiles a thing construed as being discretely bounded in some fashion, whereas a mass noun referent is amorphous and not inherently limited. […] Within the mass-noun category, plurals contrast with nonplurals by highlighting the particulate nature of the profiled mass. […] [Massenbezeichnungen; ES&TM] foreground the perceived
_____________ 10
Im Englischen unterscheiden sich Pluralformen von Massenbezeichnungen auch dadurch, dass andere Formen der Demonstrativa (that gold vs. those diamonds; this gold vs. these diamonds) verwendet werden müssen. Auch manche quantifizierenden Indefinita weisen im Englischen Unterschiede auf, je nachdem, ob sie mit nichtzählbaren bzw. zählbaren Substantiven (much gold vs. many diamonds; little gold vs. few diamonds) verbunden werden. Das Deutsche scheint diese Unterscheidung, wenigstens was die Quantitiva angeht, weniger systematisch zu markieren (vgl. viel Gold, viele Diamanten; wenig Gold, wenig Diamanten). Es ist aber zu beachten, dass viele Kontinuativa im Deutschen ein neutrales Genus haben (z.B. das Wasser, das Holz, das Bier, das Gold) und sich in dieser Hinsicht von den durch den Artikel die markierten Pluralformen wesentlich unterscheiden.
115
Grammatik
continuity of the mass at the expense of constitutive entities. It does so by naming the mass directly, as an undifferentiated whole, whereas a plural is based on the term for an individual particle. (Langacker 2008a: 131)
Grafisch kann der Unterschied zwischen zählbaren, nichtzählbaren und pluralischen Substantiven folgendermaßen dargestellt werden (vgl. Langacker 2008a: 131; ähnlich auch Leiss 1994). Count Noun
Plural Mass Noun
Non-Plural Mass Noun
Abb. 7: Zählbare Nomen, pluralische und nichtpluralische Massenbezeichnungen
Wie wir gesehen haben, ist der Unterschied zwischen zählbaren und nichtzählbaren Substantiven flexibel: Ein nicht zählbares Substantiv (Wasser, Holz) kann als zählbar konstruiert werden (z.B. die Hölzer in der Bedeutung Holzarten), und umgekehrt (z.B. Sie hat eine Stunde Mozart gehört). It cannot be emphasized too strongly that categorization depends on how things are conceptualized, which to some extent is independent of their objective nature. (Langacker 2008a: 131).
Massen (Substanzen) sind – im Gegensatz zu Objekten – inhärent unlimitiert; außerdem sind sie homogen, zusammenziehbar (contractible) und ausdehnbar (expansible). Die folgenden Zitate verdeutlichen, was mit diesen Eigenschaften gemeint ist: Homogeneity thus consists of being qualitatively the same throughout. (Langacker 2008a: 140) What I mean by this [contractibility, ES&TM] is simply that any portion of a mass of a given type is itself a valid instance of that type. (Langacker 2008a: 141)
116
Kognitive Grammatik
[…] expansibility: the mass obtained by combining any two instances of a given type is also a valid instance of that type (Langacker 2008a: 142; Hervorhebung im Original)
Auch Verben können in zwei Subklassen eingeteilt werden: Perfektiva und Imperfektiva. Der semantische Kontrast zwischen den beiden ist analog zum Kontrast zwischen zählbaren und nichtzählbaren Substantiven (s. auch Langacker 1999a: 223). The conceptual factors responsible for the count /mass distinctions are applicable to processes as well as things. (Langacker 2008a: 147)
Perfektiva sind in der Zeit begrenzt (der von ihnen profilierte Prozess weist einen Anfang und ein Ende auf), während Imperfektiva keine inhärente zeitliche Begrenzung aufweisen. Dies entspricht dem Merkmal der intrinsischen (Nicht-)Limitiertheit bei Substantiven. Außerdem repräsentieren Perfektiva die von ihnen bezeichnete Beziehung als heterogen, d.h. es gibt irgendeine Veränderung, während die profilierte Beziehung bei Imperfektiva als homogen dargestellt wird, d.h. als Fortsetzung einer stabilen Situation.11 Als Beispiele für beide Kategorien führt Langacker (2008a: 147) folgende englische Verben auf: Perfektiva: fall, jump, kick, bite, throw, break, ask, tell, persuade, learn, decide, cook, melt, evaporate, die, kill, create, calculate Imperfektiva: be, have, know; doubt, believe, suspect, like, love, detest, appreciate, hope, fear, resemble, contain, reside, exist Englische Perfektiva treten in der Regel in continous-Formen auf (be V-ing), während Imperfektiva in simple tense-Formen erscheinen: *He learns the poem He knows the poem
He is learning the poem *He’s knowing the poem
_____________ 11
Langacker weist darauf hin, dass viele Verben, die auf inhärent homogene Prozesse verweisen, trotzdem der perfektiven Gruppe zugerechnet werden müssen, weil die bezeichneten Prozesse typischerweise so konzeptualisiert werden, dass sie in begrenzten Episoden (engl. bounded episodes) auftreten. Dies gilt für atelische Aktivitätsverben wie sleep, swim, dream, perspire, meditate und wear.
117
Grammatik
Auch für diesen Unterschied gilt allerdings, dass er flexibel ist. Obwohl die meisten Verben grundsätzlich einer der beiden Kategorien zugeteilt werden können, erlauben viele sowohl imperfektive als auch perfektive Verwendungen. So können die englischen Positionsverben sit, stand und lie den bezeichneten Prozess entweder als perfektiv konstruieren (z.B. She is sitting /standing / lying on the couch), wenn es sich um eine begrenzte Zeitperiode handelt, in der die gemeinte Position eingenommen wird; oder aber als imperfektiv, wenn es um eine permanente, unveränderliche Situation geht (A statue of the president stands in the middle of the park.). Im Deutschen spielt der Unterschied zwischen perfektiven und imperfektiven Verben allerdings keine besondere Rolle. Hervorzuheben bleibt immerhin die konzeptuelle Analogie von ‚zählbar‘ vs. ‚nichtzählbar‘ einerseits und ‚perfektiv‘ vs. ‚imperfektiv‘ andererseits. Dieselben Merkmale (inhärente Unlimitiertheit, Homogenität, Zusammenziehbarkeit und Expandierbarkeit) gelten für nichtzählbare Nomen wie für imperfektive Prozesse. Die Analogie lässt sich noch weiter führen: Durch Pluralisierung geht ein Nomen von der Klasse der zählbaren in die Kategorie der nichtzählbaren Massenbezeichnungen über (s. oben). Auf ähnliche Weise stellt die grammatische Kategorie progressive eine Imperfektivierungsstrategie dar, bei der ein perfektiver Prozess einem imperfektiven construal erliegt. The overall effect of a progressive is thus to convert a perfective process into an imperfective one […]. The bounded occurrence profiled by the former functions as conceptual base for the latter, which profiles an internal portion that excludes the endpoints. (Langacker 2008a: 155).
Dieser Prozess wird durch folgende Visualisierung erfasst: Imperfective process
Perfective process
t
Progressive be...-ing
IS t
Abb. 8: Die englische progressive-Konstruktion als Imperfektivierungsmechanismus
118
Kognitive Grammatik
Der perfektive Prozess (hier: climb), der im linken Diagramm dargestellt wird, wird in der rechts dargestellten Progressivkonstruktion (She is climbing) imperfektiviert. Anfang und Ende des Prozesses werden aus dem unmittelbaren Skopus (immediate scope = IS) ausgeschlossen. Profiliert wird – gleichsam aus einer Art Innenperspektive – eine homogene Teilportion des gesamten Prozesses (das Profilierte ist jeweils fett gedruckt). Bekanntlich ist die Kategorie des Progressivs im Deutschen nicht grammatikalisiert. Das grammatische System des Deutschen verpflichtet den Sprecher nicht dazu, sich für ein perfektives bzw. imperfektives construal des Prozesses zu entscheiden. Meist bringen Adverbien wie gerade oder lexikalische Konstruktionen wie im Begriff sein eine imperfektive Darstellungsart explizit zum Ausdruck. Sie liest gerade ein Buch. Der Mensch ist im Begriff ein Superbakterium zu erschaffen. 4.3.2. Nominalphrasen und finite Sätze Bislang haben wir uns auf die grammatischen Klassen (Wortarten) und deren Subklassen konzentriert. Es wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur die Subklassen selbst, sondern auch die komplexen Strukturen, an denen sie teilhaben, parallel aufgebaut sind. Damit sind Nominalphrasen und finite Sätze gemeint. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch gewisse Elemente in der Sprechsituation verankert sind, d.h. relativ zum Sprecher und Hörer identifiziert. So wird im folgenden Satz der Kugelschreiber durch das Demonstrativum dies- als ‚nah beim Sprecher‘ identifiziert; der verbale Prozess des Wollens wird als zum Sprechzeitpunkt gegeben (Präsens) und wirklich (Indikativ) dargestellt: Ich will diesen Kugelschreiber [mit Zeigegeste] Die Nominalphrase diesen Kugelschreiber bezeichnet eine Instanz eines Dings, das durch das entsprechende Substantiv genannt wird
Grammatik
119
(Kugelschreiber). Der finite Satz bezeichnet eine Instanz eines Prozesses, der durch das Verb wollen genannt wird. Das Substantiv Kugelschreiber oder das Verb wollen an sich können keine Instanzen, sondern nur Typen (von Dingen bzw. von Prozessen) denotieren. Die Verankerung relativ zum Sprecher und Hörer wird in der Kognitiven Grammatik mit dem Begriff grounding erfasst. Der ground bezieht sich, wie wir gesehen haben, auf das Sprechereignis, seine Teilnehmer (Sprecher und Hörer), die Interaktion zwischen ihnen und die unmittelbaren Umstände des Sprechens (Zeit und Raum). Dinge und Prozesse werden also relativ zu diesem ground lokalisiert bzw. verankert. A grounding element specifies the status vis-à-vis the ground of the thing profiled by a nominal or the process profiled by a finite clause (Langacker 2008a: 259)
Zu den sprachlichen Verankerungselementen (grounding elements oder grounding predications) des Englischen gehören im nominalen Bereich die Artikel (the, a), die Demonstrativpronomina (this, that) und einige quantifizierende Ausdrücke (each, some, every); und im verbalen Bereich Tempus- und Kongruenzmarker (-s, -ed) und fünf Modalverben (can, may, must, shall, will). Durch das nominale Grounding lenkt der Sprecher die Aufmerksamkeit des Hörers auf den gemeinten Referenten. Die verbalen Verankerungselemente siedeln die profilierte Beziehung relativ zu der aktuellen Wirklichkeitskonzeption des Sprechers an. […] [G]rounding establishes a basic connection between the interlocutors and the content evoked by a nominal or a finite clause. If left ungrounded, this content has no discernible position in their mental universe and cannot be brought to bear on their situation. It simply floats unattached as an object of idle contemplation. (Langacker 2008a: 259)
Eines der wichtigsten Merkmale von grounding elements ist, dass die von ihnen vollzogene Verankerung implizit erfolgt. Der ground wird also nicht explizit genannt, sondern er bleibt off stage, im (sprachlichen) Hintergrund, obwohl er als relevanter Referenzpunkt fungiert. One property of the expressions identified as grounding elements is precisely the fact that the ground remains covert. It inheres in the con-
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Kognitive Grammatik
ceptual substrate supporting their meanings without being put onstage as a focused object of conception. (Langacker 2008a: 260)
Weder der ground selbst noch die Beziehung zwischen dem ground und der profilierten Entität werden von den grounding elements profiliert. [...] [G]rounding predications profile (designate) the grounded entity rather than the grounding relationship which provides their essential conceptual content. The demonstrative this, for example, does not profile the relationship of identification and of proximity to the speaker, despite their importance to its meaning; what this actually designates – its conceptual referent – is the thing related to the ground in this fashion. (Langacker 2002b: 29; Hervorhebung im Original)
Der ground wird durch grounding predications somit subjektiv konstruiert: Er ist selbst kein vordergründiges Konzeptualisierungsobjekt, sondern der „locus of conceptual experience“ (Langacker 2008a: 260). Andere Merkmale der grounding elements sind ihr hoher Grammatikalisierungsgrad (s. auch Kapitel 6) und ihre abstrakte, schematische Bedeutung. [...] [T]heir characterization pertains to fundamental cognitive notions whose import is not unreasonably described as „epistemic“: notions such as reality, time, immediacy, and mental contact. (Langacker 2002a: 10)
Im Englischen bilden die grounding elements ein geschlossenes Paradigma. Dies muss aber nicht unbedingt in jeder Sprache der Fall sein: Das Englische stellt in dieser Hinsicht wohl eher einen Ausnahmefall dar. Obwohl grounding nach Langacker universal ist, unterscheidet sich die Art und Weise, wie sich diese Funktion in verschiedenen Sprachen der Welt etabliert, erheblich. Im Folgenden wird das verbale grounding System des Englischen kurz erörtert. Im Englischen bilden die verbalen grounding Elemente ein System, das aus zwei binären Oppositionen besteht, deren unmarkierte Werte jeweils durch ein Nullelement zum Ausdruck gebracht werden. Die erste Opposition present vs. past betrifft die Unterscheidung immediate (formal unmarkiert) vs. nonimmediate (formal durch das Präteritalmorphem -ed bzw. Ablaut markiert). Die zweite Opposition betrifft die Unterscheidung wirklich (formal unmarkiert) vs. nichtwirklich (markiert durch das Vorhandensein
Grammatik
121
eines der Modalverben will, shall, must, can, may). Die Abwesenheit eines Modalverbs zeigt an, dass der profilierte Prozess vom Sprecher als wirklich, d.h. als Teil seiner Realität, akzeptiert wird, während die ‚temporale’ Opposition spezifiziert, in welchem Teil der Realität der bezeichnete Prozess anzusiedeln ist. Das Präsens (formal Ø oder -s bei der dritten Person Singular) lokalisiert den Prozess innerhalb der unmittelbaren Realität (immediate reality), während präteritale Verbformen den Prozess außerhalb dieser Region ansiedeln.12 Wie aus dieser Darstellung hervorgeht, vermeidet Langacker eine allgemeine ‚temporale’ Bestimmung der traditionell als solche gekennzeichneten Opposition present vs. past. Auf der schematischen Ebene handelt es sich um eine grundlegende epistemische Unterscheidung (immediate vs. nonimmediate), die allerdings temporal interpretiert werden kann, und zwar dann, wenn es sich um eine Lokalisierung in der Realität handelt. Der temporale Wert gilt somit als der prototypische Wert der englischen Tempusmarker, während die schematische Charakterisierung im Sinne von epistemischer Unmittelbarkeit der Tatsache Rechnung trägt, dass present tense Formen (wie in They leave next week for Venezuela) auch auf zukünftige (geplante, und deshalb unmittelbare) Sachverhalte referieren können und past tense Formen (wie in If I knew what their plans are, I would tell you) nichtwirkliche (d.h. nicht unmittelbare) Sachverhalte bezeichnen können. When only reality is under consideration, epistemic immediacy and nonimmediacy correlate with present and past locations in time, respectively. In this manner, the temporal specifications “present” vs. “past” arise as prototypical values of these grounding elements. (Langacker 2008a: 302)
Diese epistemisch aufgefasste Unterscheidung lässt sich auch auf die Modalverben anwenden. Ihre nichtunmittelbaren Formen (could, should, might, would) bringen keinen temporalen Wert zum Ausdruck, sondern beziehen sich auf die Nichtunmittelbarkeit der epistemischen Einschätzung. Die Form might (statt may) bringt z.B. _____________ 12
Futurische Sachverhalte sind zwangsläufig nichtwirklich. Die grundlegende temporale Opposition in der Region der Realität ist deshalb gegenwärtig vs. vergangen.
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Kognitive Grammatik
zum Ausdruck, dass der Sprecher sich von den Umständen, die eine unmittelbare may-Einschätzung ermöglicht hätten, distanziert. Somit sind nach Auffassung des Sprechers die Chancen geringer, dass sich der Sachverhalt tatsächlich ereignen wird. He may be there/ might be there. Die englischen Modalverben sind als grounding predications stark grammatikalisiert: So können sie nicht als infinite Formen erscheinen (weder Infinitive noch Partizipien sind erlaubt) – im Gegensatz zu den deutschen Modalverben (Er wird es nicht sagen müssen; Er hat dies nicht gewollt), denen Langacker den Status von grounding predications folglich abspricht. 4.3.3. Satzstruktur Finite Sätze treten in verschiedenen Typen auf, je nach Anzahl der beteiligten Partizipanten, nach den semantischen Rollen dieser Partizipanten (Agens, Patiens, Experiencer usw.) und der syntaktischen Funktionen, in denen diese Partizipanten erscheinen. So gibt es Sätze mit nur einem sich bewegenden Partizipanten, einem intransitiven Bewegungsverb und einer direktionalen Präpositionalphrase (Sie kriecht nach Hause; Die Sonde fliegt zum Mond); es gibt Sätze mit einem Subjekt-Partizipanten, dem Verb sein und einem Adjektiv (Er ist krank; Das Auto ist grün); oder es gibt Sätze mit zwei fokussierten Partizipanten, Agens und Patiens, die an der durch das Verb bezeichneten Relation beteiligt sind (Sie schlägt ihren Mann; Er tritt den Hund). Jede Sprache verfügt über ein beschränktes Set an Satztypen, die bestimmten konzeptuellen Archetypen entsprechen. Die Konzeptualisierung einer sich bewegenden Entität kann leicht durch den Satztyp mit intransitivem Bewegungsverb und direktionaler Adverbialphrase kodiert werden; das Verfügen über eine bestimmte Eigenschaft entspricht dem Satztyp mit sein und Adjektiv. Die transitive Satzstruktur eignet sich besonders gut zur Kodierung des sog. kanonischen Ereignismodells (canonical event model):
Grammatik
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[…] [I]t represents the canonical way of apprehending what is arguably the most typical kind of occurrence. […] [T]his occurrence is identified as a bounded, forceful event in which an agent […] acts on a patient […] to induce a change of state. This event is the focus of attention within the immediate scope […] being apprehended from offstage by a viewer […] not otherwise involved in it. (Langacker 2008a: 357)
Nicht alle formal als transitiv erscheinenden Sätze bezeichnen jedoch dieses kanonische Ereignismodell. So können deutsche Sätze mit einem Subjekt und einem Akkusativobjekt auch nichtdynamische Vorgänge kodieren, an denen ein Experiencer (als Subjekt) beteiligt ist (z.B. Sie sah den Film im Kino; Sie kennt diese Methode). Taylor (2002: 426) hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass im Englischen das transitive Schema [NPAg Vtrans NPat] besonders stark etabliert ist, sodass es zur Kodierung von Relationen benutzt wird, die nicht dem kanonischen Ereignismodell entsprechen, vgl. folgende Sätze: I remember the event. ‚Ich erinnere mich an das Ereignis.’ The road follows the river. ‘Der Weg folgt dem Fluss.’ Joe resembles his grandfather. ‘Joe ähnelt seinem Großvater.’ Bemerkenswert ist dabei, dass das Deutsche hier auf andere Satztypen (insbesondere auf solche mit Präpositional- und Dativobjekten) ausweicht. Der deutsche transitive Satztyp unterliegt somit anderen Einschränkungen als der englische. Umgekehrt können Ereignisse, die einen hohen Transitivitätsgrad aufweisen, durch alternative Konstruktionen kodiert werden, z.B. durch passivische und passivähnliche Konstruktionen. Wichtig ist, dass in solchen Konstruktionen nicht dem Agens, sondern dem Patiens (bzw. dem Experiencer beim bekommenPassiv) die Rolle des syntaktischen Subjekts – des primären fokalen Partizipanten (vgl. Kapitel 4.1) – zugewiesen wird. [aktiv] Ein Autofahrer hat die Tür unachtsam geöffnet. [werden-Passiv] Vermutlich wurde von einem daneben parkenden Pkw die Tür unachtsam geöffnet. [sein-Passiv] Die Tür war schon lange geöffnet. [bekommen-Passiv]
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Kognitive Grammatik
Nachdem Zachäus von Jesus persönlich die Augen geöffnet bekam, konnte er davon überzeugt werden, dass Teilen Spaß macht. [reflexiv-ergativ] Es ist ein Sarg, der sich langsam öffnet. Passivierung ist im Englischen nur bei Prozessen möglich, deren aktivische Entsprechungen mit dem kanonischen Ereignismodell mehr oder weniger im Einklang sind. Dadurch lässt sich erklären, dass formal ‚transitive’ bzw. ‚transitiv-ähnliche‘ Konstruktionen wie This tent sleeps six people; He resembles his grandfather; The book costs £50; My car burst a tyre nicht im Passiv erscheinen können. Eine detaillierte Beschreibung und Visualisierung der Bedeutung von verschiedenen Satztypen nimmt in der Kognitiven Grammatik eine wichtige Stellung ein. Auf die Einzelheiten dieser Analysen können wir an dieser Stelle jedoch nicht eingehen (vgl. etwa Langacker 2008: 354-405).
4.4.
Schlussbemerkungen
Die Kognitive Grammatik ist als ein Grammatik- und Interaktionsmodell konzipiert, das innerhalb der Kognitiven Linguistik als das anspruchsvollste und am weitesten entwickelte Modell gilt. Die Kognitive Grammatik im Stil Langackers hat den Beweis erbracht, dass hinter den relativ abstrakt scheinenden lexikalischen und grammatischen Strukturen viel mehr Bildhaftigkeit gefunden werden kann, als man sich dies in der Tradition der rationalistischen Grammatik hätte träumen lassen. (Wildgen 2008: 142)
Es ist festzuhalten, dass die Kognitive Grammatik in der Kognitiven Linguistik insgesamt weniger Beachtung gefunden hat, als man es hätte erwarten können. Zum Teil kann der bildhafte Charakter des Modells dafür verantwortlich gemacht werden. Auch wenn die Analysen sprachlicher Strukturen intuitiv leicht nachvollziehbar sind, erfordert die Einarbeitung in die Theorie eine erhebliche Anstrengung. Man muss sich einen ganzen spezifischen Begriffsapparat aneignen (Langacker 1987 und 1991 enthalten zu diesem Zweck ein ausführliches Glossar), der sowohl linguistische
Schlussbemerkungen
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als auch Begriffe aus der kognitiven Psychologie enthält. Außerdem werden viele herkömmliche Begriffe (Subjekt, Objekt, subjektiv, objektiv, Nomen, Verb usw.) von Langacker neu definiert, was die Zugänglichkeit des Modells ebenfalls erschwert. Auch die Visualisierungen sind oft recht kompliziert und äußerst detailliert, sodass sie erst nach eingehender Betrachtung ihren vollen Bedeutungsreichtum entfalten. Auch der undeutliche Status der Diagramme (inwiefern sind sie als genaue Repräsentationen der konzeptuellen Strukturen zu verstehen?) hat Kritik ausgelöst, der Langacker mit dem Argument begegnet, dass sie grundsätzlich einer bloß heuristischen Funktion dienten. Schließlich ist zu bemerken, dass die neuere Konstruktionsgrammatik (in ihren verschiedenen Ausprägungen, vgl. Kapitel 5) der Kognitiven Grammatik erhebliche Konkurrenz zu machen scheint. Langacker bekennt sich zwar zur Konstruktionsgrammatik – sein Modell basiert ja auf der Einheit der (symbolischen) Konstruktion –, aber sein Modell ist insgesamt abstrakter als die durch große Mengen empirischer Daten abgesicherte bzw. durch psycholinguistische Experimente gestützte Strömungen der Konstruktionsgrammatik. Langacker (2007: 447-449) gesteht selbst ein, dass mehrere Aspekte seiner Theorie bis jetzt zu wenig empirisch untersucht worden sind. Das gilt für den Bereich der Phonologie, der theoretisch wenig herausgearbeitet wurde und infolgedessen auch kaum aus der Perspektive der Kognitiven Grammatik beschrieben wurde (vgl. Langacker 2007: 443; Wildgen 2008: 187-190) und insbesondere für die Morphologie, wo es an konkreten Studien mangelt. Auch der Ebene der Interaktion wurde in der Vergangenheit zu wenig Beachtung geschenkt. Obwohl sie in der gebrauchsorientierten Kognitiven Grammatik eine wichtige Stelle einnimmt („Discourse is in fact the very basis for language structure“, Langacker 2008a: 457), liegen konkrete Analysen sprachlicher Interaktion im Rahmen des Modells kaum vor. Positiv zu vermerken ist, dass die Theorie inzwischen auf viele unterschiedliche (vor allem grammatische) Phänomene in zahlreichen Sprachen aus verschiedenen Sprachgruppen angewandt wur-
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Kognitive Grammatik
de: Langacker (2007) verweist auf Studien zu den romanischen, germanischen und slawischen Sprachen und zum modernen Griechisch. Zu den erforschten nicht-indoeuropäischen Sprachen gehören u.a. das Baskische, Finnische, Japanische und Koreanische (s. Langacker 2007: 447-448 für einen vollständigen Überblick mit Literaturangaben). Die am besten erforschten Phänomene aus der Perspektive der Kognitiven Grammatik sind räumliche Ausdrücke (insbesondere Präpositionen) (vgl. etwa Hawkins 1984, Vandeloise 1991, Cuyckens 1995), deiktische Verankerungselemente vor dem Hintergrund des grounding (vgl. etwa Brisard 2002, Langacker 2002a-b, Mortelmans 2006) und die Satzstruktur im Allgemeinen, mit Studien zu Transitivität (vgl. Rice 1987), Genus verbi (vgl. etwa Langacker 1982) und der Semantik der Kasusmarker (vgl. Smith 1987).
4.5.
Aufgaben
1. Zu den grounding elements des Englischen gehören (im verbalen Bereich) die Tempusmarker und die Modalverben. Bei Abwesenheit eines Modalverbs lokalisiert ein Nullmorphem bzw. das Suffix -s den Prozess typischerweise in der gegenwärtigen Realität (She is asleep), während -ed bzw. Ablaut die Lokalisierung des profilierten Prozesses in der Region der vergangenen Realität markiert (She was asleep). Durch die Modalverben schließlich wird der verbale Prozess dem Bereich der Nichtrealität zugeordnet (She should be asleep). Überlegen Sie, welche Elemente des Deutschen als grounding elements bezeichnet werden können. Berücksichtigen Sie dabei, dass nur grammatische Elemente in Betracht kommen. Welche temporale und modale grounding predications gibt es im Deutschen? 2. Gestern hat er mir beim Putzen geholfen. Yesterday he helped me with the cleaning.
Aufgaben
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a. Der englische Satz unterscheidet sich von dem deutschen Satz in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird im Deutschen Perfekt (hat geholfen) verwendet, während diese Tempusform im englischen Satz nicht erlaubt ist; zum anderen ist help im Englischen ein transitives Verb, während das deutsche helfen eine Dativergänzung fordert und deshalb nicht als transitiv eingestuft werden kann. Welchen Effekt haben diese Feststellungen auf (a) den Status des Perfekts im Deutschen und (b) die Analyse der Funktion von mir bzw. me in beiden Sätzen? Kann helfen in passivischen Konstruktionen gebraucht werden? Bilden Sie, wenn möglich, einen Passivsatz und vergleichen Sie diesen mit dem üblichen deutschen werden-Passiv. b. Wie können die Präpositionalphrasen beim Putzen bzw. with the cleaning analysiert werden? Können Sie dies mit Langackers Charakterisierung der Wortarten Verb bzw. Substantiv verbinden? Welche Art des Scannings liegt vor? 3. Ich traf ihn gestern zufällig in New York. Eine Kugel traf das Opfer in den Kopf. a. Lassen sich die beiden Sätze gleich gut in einen Passivsatz (werdenPassiv) umwandeln? Warum (nicht)? b. Welche Bedeutungen hat das Verb begegnen? Schlagen Sie sie in einem Wörterbuch nach. In der Regel erlaubt das Verb keine Passivierung. Ausnahmen liegen jedoch in folgenden Sätzen vor: Wie Terror entsteht und ihm begegnet werden kann. Begegnet wurde dieser Gefahr mit Gesetzen.
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Kognitive Grammatik
Die Massenwanderung in den Westen nach der Wende konnte nur stattfinden, da den Ossis dort relativ wertfrei und freundlich begegnet wurde. Skizzieren Sie die Semantik von begegnen in diesen Sätzen in Bezug auf das kanonische Ereignismodell.
4.6.
Literatur
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Kognitive Grammatik
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5. Konstruktionsgrammatik Unter dem Namen Konstruktionsgrammatik (construction grammar, CxG) werden heute mehrere grammatiktheoretische Ansätze und Modelle zusammengefasst, die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Der Begriff Konstruktionsgrammatik bezieht sich also nicht auf eine einzige Grammatiktheorie, sondern auf eine Gruppe von Theorien. Im Folgenden werden wir dennoch von der Konstruktionsgrammatik (im Singular) sprechen, wenn es darum geht, allgemeine konstruktionstheoretische Prinzipien und Grundannahmen zu beleuchten, die alle Ansätze dieser Gruppe im Wesentlichen teilen. Alle konstruktionstheoretischen Ansätze beruhen auf dem Grundgedanken, dass die Konstruktion die fundamentale sprachliche Einheit darstellt. Das bedeutet, dass weder irgendwelche atomare syntaktische Einheiten noch deren Kombinationsregeln als sprachlich elementar anzusehen sind. Die Grammatik einer Sprache ist, nach dieser Vorstellung, ein Netzwerk (oder: Inventar) von Konstruktionen, die untereinander in taxonomischen Hierarchien geordnet sind. Die Konstruktionsgrammatik ist derzeit (noch) keine einheitliche linguistische Theorie, sondern eher eine Familie von Theorien, die durch die Einsicht miteinander verbunden sind, dass die menschliche Sprache auf allen sprachlichen Ebenen aus Zeichen (also aus Form-Bedeutungspaaren) besteht. Folgerichtig gehen diese Ansätze davon aus, dass die Beschreibung der Strukturen einer Sprache ausschließlich auf der Beschreibung des Inventars solcher Zeichen – die als „Konstruktionen“ bezeichnet werden – beruhen kann und sollte: Regeln (etwa „Transformationen“ oder „Prinzipien“) gibt es in diesen Theorien nicht. (Fischer / Stefanowitsch 2006: 3)
Den Beginn der Konstruktionsgrammatik markiert der richtungsweisende Aufsatz „Regularity and Idiomaticity in Grammatical Constructions: The Case of Let Alone“ von Fillmore / Kay / O’Connor aus
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Konstruktionsgrammatik
dem Jahr 1988. Anhand der Analyse der englischen let aloneKonstruktion stellen die Autoren die These auf, dass sprachliche Strukturen zum großen Teil idiosynkratisch sind. Es handle sich hierbei um (komplexe) sprachliche Ausdrücke, die nicht (vollständig) kompositionell, aber sehr produktiv seien. Wegen ihrer hohen Produktivität sollten sie nicht einfach als idiomatische Fügungen (des Lexikons) aufgelistet werden, sondern bedürften einer systematischen Einordnung in das grammatische System einer Sprache. Diese Idee stieß auf großes Interesse und wurde von vielen Linguisten (z.B. Lakoff, Goldberg, Croft, Langacker u.v.a., s. weiter unten) aufgenommen und weiterentwickelt. Die konstruktionstheoretischen Ansätze verstehen sich explizit als Gegenströmung zur Generativen Grammatik (s. Kapitel 1.2.3), die die Grammatik in autonome Module (Phonologie, Syntax, Semantik, Lexikon) unterteilt und daher nur unbefriedigend mit idiomatischen und idiosynkratischen Wendungen umgehe. Die Konstruktionsgrammatik steht der Kognitiven Grammatik (s. Kapitel 4) am nächsten. Diese Ansätze teilen viele theoretische und philosophische Annahmen über die Sprache und ihre Strukturen. Zahlreiche Ideen und Erkenntnisse der Konstruktionsgrammatik fanden in den letzten Jahren in benachbarte linguistische Disziplinen Eingang: Spracherwerb, Korpuslinguistik, historische Linguistik und Sprachwandelforschung, Gesprächsforschung u.a.
5.1.
Allgemeines zur Konstruktionsgrammatik
Auch wenn die konstruktionsgrammatische Richtung heute durch eine ziemlich heterogene Gruppe von Ansätzen repräsentiert wird, bekennen sich alle aktuellen Versionen der Konstruktionsgrammatik gleichermaßen zu einigen Grundannahmen. Diese werden in diesem Abschnitt kurz erläutert. Die zentrale und elementare sprachliche Einheit ist, wie schon erwähnt, die Konstruktion (s. Kapitel 5.2.1). Konstruktionen werden definiert als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare, die in ihrer Gesamtheit die Grammatik einer Sprache konstituieren. Form und Bedeutung sind zwei untrennbar miteinander verbun-
Allgemeines zur Konstruktionsgrammatik
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dene Seiten von Konstruktionen. Somit steht die Konstruktionsgrammatik in der Tradition von de Saussure, denn sie übernimmt dessen Vorstellungen von der binären Zeichenstruktur und der arbiträren Zuordnung von Form und Inhalt. Alle aktuellen Versionen der Konstruktionsgrammatik nehmen zudem an, dass Konstruktionen untereinander ein strukturiertes Inventar bilden (s. Kapitel 5.2.3), indem sie sich über bestimmte Relationen zu größeren Netzwerken und Hierarchien zusammenschließen. Die Konstruktionsgrammatik geht davon aus, dass die Struktur der Sprache vollständig beschrieben werden kann mit Hilfe von Konstruktionen, d.h. als Form-Bedeutungspaare. (Fischer 2006: 143, s. auch Lakoff 1987: 467, Fillmore 1988: 36, Goldberg 1995: 4) […] a grammar of a language is in large part a repertory of holistic patterns, the language‘s grammatical constructions. (Fillmore 1989: 18; Hervorhebung im Original) Constructions are not merely an unstructured list in construction grammar. Constructions form a structured inventory of a speaker’s knowledge of the conventions of their language. This structured inventory is usually represented by construction grammarians in terms of a taxonomic network of constructions. Each construction constitutes a node in the taxonomic network of constructions. (Croft/ Cruse 2004: 262; Hervorhebung im Original)
Hinsichtlich der Frage, wie genau die Relationen zwischen Konstruktionen zu bestimmten sind, unterscheiden sich einzelne Theorien allerdings erheblich. Darüber hinaus sind sich alle Versionen der Konstruktionsgrammatik darin einig, dass es keinen strikten Unterschied zwischen dem Lexikon und der Syntax gibt (s. Kapitel 5.2.2). Da der Anspruch erhoben wird, die Struktur der Sprache erschöpfend durch die in dieser Sprache existierenden Konstruktionen zu beschreiben, erübrigt sich letztlich die Unterscheidung zwischen Grammatik, Lexikon und Syntax. Stattdessen wird ein Kontinuum aus Konstruktionen verschiedener Größe, Komplexität und Abstraktion angenommen. In Construction Grammar, no strict division is assumed between the lexicon and syntax. Lexical constructions and syntactic constructions differ in internal complexity, and also in the extent to which phonologi-
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Konstruktionsgrammatik
cal form is specified, but both lexical and syntactic constructions are essentially the same type of declaratively represented data structure: both pair form with meaning. (Goldberg 1995: 7) Lexicon and grammar are thus conceived as forming a continuum whose full and proper characterization reduces to assemblies of symbolic structures. (Langacker 1995: 153) Not only do constructionists see as a continuum the properties of syntactic, phraseological, and lexical structures, but they also are convinced that phraseological patterns make up the vast majority of structures that enter into everyday discourse. (Fillmore 1989: 34)
Aus Sicht der Konstruktionsgrammatik ist die Grammatik einer Sprache nicht-modular und nicht-derivationell. Das Postulat der Nicht-Modularität meint, dass Form und Bedeutung nicht in getrennten Modulen (etwa Syntax und Semantik) verortet sind, sondern in einer untrennbaren Beziehung (in Konstruktionen) zueinander stehen und daher nur in ihrer Einheit (in Konstruktionen) analysiert werden können. Die Grammatik einer Sprache ist ein holistisches Gebilde, in dem keine einzelne Ebene autonom oder in irgendeiner Weise fundamentaler ist als eine andere. Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik gehen auf der Ebene der Konstruktion also ineinander über. Grammar (or syntax) does not constitute an autonomous formal level of representation. Instead, grammar is symbolic in nature, consisting in the conventionalized symbolization of semantic structure. (Langacker 1987: 2)
Das Postulat der Nicht-Derivationalität bedeutet, dass keine Transformationen und Derivationen im Sinne der Generativen Grammatik angesetzt werden. Konstruktionen sind nicht voneinander abgeleitet, sondern existieren nebeneinander als relativ selbständige Einheiten (daher nennt man die Konstruktionsgrammatik auch oft monostratal). Jeder tatsächlich vorkommende Satz wird als gleichzeitige Manifestation mehrerer Konstruktionen verstanden, und es werden keine Ableitungen auf dem Wege der Satzbildung angenommen (s. Kapitel 5.3). Constructionists theories do not derive one construction from another, as is generally done in mainstream generative theory. An actual expression typically involves the combination of at least half a dozen different constructions. (Goldberg 2006: 10)
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
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Alle konstruktionstheoretischen Ansätze stimmen in dem Punkt überein, dass grammatisches Wissen nicht angeboren ist, sondern erlernt wird. Im Spracherwerb spielen sowohl allgemeine kognitive Mechanismen (wie Kategorisieren und Abstrahieren) als auch kommunikative Routinen eine wichtige Rolle. Kognitive und kommunikative Faktoren bilden den Rahmen, in dem sich Netzwerke von Konstruktionen herausbilden und erlernt werden. In dieser Hinsicht entspricht die Sprachauffassung der Konstruktionsgrammatik derjenigen, die allen funktionalen Grammatiktheorien gemein ist. Danach ist Sprache bzw. Grammatik kein (biologisches) Organ des Menschen, sondern ein Werkzeug, das vom Menschen zu unterschiedlichen Zwecken gebraucht wird und in seiner Struktur im Wesentlichen durch kognitive und kommunikative Faktoren motiviert ist. Die zwei grundlegenden Funktionen der Sprache – die kognitive Erschließungsfunktion und die kommunikative Sozialfunktion – haben einen entscheidenden Einfluss auf sprachliche Strukturen, hier: auf Konstruktionen. Die wichtigsten Annahmen der Konstruktionsgrammatik können wie folgt zusammengefasst werden: 1. Die grundlegende sprachliche Einheit ist die Konstruktion: eine untrennbare Verbindung von Form und Bedeutung. 2. Grammatik und Lexikon bilden ein Kontinuum von Konstruktionen. 3. Die Gesamtheit der Konstruktionen konstituiert die Grammatik einer Sprache. Konstruktionen sind in einer systematischen Weise organisiert: Sie bilden ein strukturiertes Inventar aus taxonomischen Hierarchien. 4. Grammatik ist nicht-derivationell und nicht-modular. 5. Grammatik ist nicht angeboren, sondern wird erlernt. Es gibt kein sprachspezifisches angeborenes Wissen.
5.2.
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
Die aktuellen Versionen der Konstruktionsgrammatik können in vier Gruppen unterteilt werden:
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Konstruktionsgrammatik
1. Die sog. Berkeley-Schule, vertreten durch die Arbeiten von Charles Fillmore und Paul Kay (vgl. Fillmore 1985, 1988, Fillmore / Kay / O’Connor 1988, Kay 2002, Kay / Fillmore 1999), – die auch oft einfach als Construction Grammar bezeichnet wird. 2. Die kognitiv-linguistisch orientierte Richtung, vertreten von Adele Goldberg und George Lakoff (vgl. Goldberg 1995, 2006, Lakoff 1987). 3. Die ‚Radikale Konstruktionsgrammatik‘ von William Croft (2001); 4. Die Kognitive Grammatik von Ronald W. Langacker (s. Kapitel 4), die als eine Version der Konstruktionsgrammatik verstanden werden kann. Die Kognitive Grammatik und die Radikale Konstruktionsgrammatik sind einander in sehr vielen Punkten ähnlich, sodass sie oft zusammen als eine konstruktionsgrammatische Version aufgefasst werden (vgl. z.B. Fischer / Stefanowitsch 2006). In den folgenden Abschnitten wird die kognitiv-linguistisch motivierte Version der Konstruktionsgrammatik von Goldberg in Detail vorgestellt. Ein wichtiger Punkt wurde bereits angesprochen: Die Konstruktionsgrammatik versteht die Grammatik einer Sprache als ein monostratales und nicht-modulares Phänomen. Die einzigen Bausteine, aus denen sich die Grammatik zusammensetzt, sind Konstruktionen. Sie unterscheiden sich zwar untereinander hinsichtlich ihrer Komplexität, Schematizität und Abstraktheit, sind aber nicht voneinander abgeleitet. Sie stehen in geordneten Verhältnissen zueinander, sodass ihre Gesamtheit ein strukturiertes Inventar der Sprache bildet. Daraus folgt, dass – auch wenn das Inventar von Konstruktionen aus taxonomischen Hierarchien besteht – die Konstruktionen direkt (auch manchmal simultan in großer Zahl) in die vorkommenden sprachlichen Strukturen (d.h. Sätze) eingehen müssen.
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
5.2.1.
137
Konstruktion
Die Konstruktion ist die fundamentale sprachliche Einheit, ein sprachliches Zeichen. Sie weist eine untrennbare Verbindung von Form und Inhalt auf, vgl.: Each construction will be a form-meaning pair (F, M) where F is a set of conditions on syntactic and phonological form and M is a set of conditions on meaning and use. (Lakoff 1987: 467) Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or function is not strictly predictable from its component parts or from other constructions recognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully predictable as long as they occur with sufficient frequency. (Goldberg 2006: 5)
Die Konstruktion im oben beschriebenen Sinne hat also folgende definierende Merkmale: (i) Sie hat zwei Seiten: Form und Bedeutung, (ii) die miteinander untrennbar verbunden sind. Zusätzlich ist bei der Definition einer Konstruktion das Kriterium der Nicht-Vorhersagbarkeit entscheidend: (iii) Formale und inhaltliche Eigenschaften der Konstruktion lassen sich weder aus den einzelnen Komponenten der Konstruktion noch aus den in der Sprache etablierten Konstruktionen ableiten. Anders gesagt: Eine (mehrteilige, komplexe) Konstruktion ist – formal als auch inhaltlich – mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Das in (iii) beschriebene Kriterium kann allerdings ‚ausgeschaltet‘ werden, wenn eine Konstruktion, die sich – entgegen der Regel – aus ihren Bestandteilen kompositionell zusammensetzt (d.h. auf der Grundlage des Wissens über ihre Einzelteile vorhergesagt werden kann), einen dermaßen frequenten Gebrauch in der Sprache aufweist, dass sie als eine zeichenhafte Einheit fungiert:
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Konstruktionsgrammatik
(iv) Wenn der Gebrauch einer Konstruktion in der Sprache hochfrequent ist, dann muss (iii) nicht notwendig der Fall sein. Die Basisdefinition der Konstruktion legt also nur diese (vier) Merkmale fest. Die konstruktionstheoretische Annahme einer hohen formalen sowie inhaltlichen Inhomogenität von Konstruktionen einer Sprache hat zur Folge, dass sprachliche Zeichen verschiedenster Größe und Funktion unter den Begriff der Konstruktion fallen (können). Abb. 1 nennt einige sprachliche Elemente und Strukturen, die im Prinzip alle als Konstruktionen behandelt werden können. KONSTRUKTION Morphem Wort Komplexes Wort Komplexes Wort (partiell gefüllt) Idiom (gefüllt) Idiom (partiell gefüllt) Kovariationelles Konditional
Ditransitive Konstruktion (mit zwei Objekten) Passiv-Konstruktion
BEISPIEL -ung, vorund, Apfel, fahren Apfelbaum, wegfahren [ADJ-er] (für reguläre Komparativbildung) Morgenstund hat Gold im Mund. nach Hause schicken Je Xer desto/ umso Yer (z.B. Je länger ich darüber nachdenke, desto/ umso besser verstehe ich das Problem.) Subj V Obj1 Obj2 (z.B. sie schenkte ihm ein Buch) Subj aux VPpp (PPvon/durch) (z.B. das Auto wird vom Mechaniker repariert)
Abb. 1: Konstruktionen unterschiedlicher Größe und Komplexität (nach Goldberg 2006: 5)
Nach formalen Gesichtspunkten werden Konstruktionen vor allem nach Größe und Komplexität klassifiziert. Ein Morphem ist die kleinste und am wenigsten komplexe Konstruktion. Ein Wort besteht normalerweise aus mehreren Morphemen, ist also komplexer. Auf der Ebene des Satzes sind die Parameter Größe und Komplexität am stärksten ausgeprägt: Die ditransitive oder
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
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die Passiv-Konstruktion bspw. manifestieren sich in Form von ganzen Sätzen, die sich in der Regel aus mehreren Wörtern zusammensetzen. Bezüglich des Inhalts unterscheiden sich Konstruktionen voneinander gemäß ihrer Abstraktheit bzw. Spezifizität. Die Bedeutung eines Wortes wie z.B. Apfel oder fahren ist weit spezifischer als die Bedeutung der ditransitiven Konstruktion oder als diejenige des Morphems -ung. Die beiden letzten Konstruktionen sind also abstrakter als die ersten. Abb. 2 veranschaulicht noch einmal, welche unterschiedlichen sprachlichen Elemente und Strukturen den Status von Konstruktionen im oben beschriebenen Sinne haben.
Abb. 2. Diversität von Konstruktionen (aus: Goldberg / Casenhiser 2006: 351)
Wichtig ist, dass die oben genannten formalen und inhaltlichen Merkmale (Größe, Komplexität, Abstraktheit, Spezifizität) nicht
140
Konstruktionsgrammatik
unbedingt direkt miteinander korrelieren: Relativ kleine und wenig komplexe Konstruktionen können ihrer Bedeutung nach sowohl abstrakt (z.B. das Morphem -ung) als auch spezifisch (z.B. das Wort Kuh) sein. Das Umgekehrte gilt ebenso: Relativ große und komplexe Konstruktionen können in ihrer Bedeutung sowohl spezifisch (z.B. das Idiom Morgenstund hat Gold im Mund) als auch abstrakt (z.B. die Passiv-Konstruktion) sein. In konkreten sprachlichen Äußerungen sind in der Regel mehrere Konstruktionen gleichzeitig manifestiert. Das bedeutet, dass Konstruktionen normalerweise nicht isoliert voneinander, sondern in Kombinationen miteinander realisiert werden. Für die gleichzeitige Realisation von mehreren Konstruktionen gilt: Solange die Konstruktionen miteinander weder formal noch inhaltlich konfligieren, steht ihrer Kombination nichts im Wege. Die Zahl der gleichzeitig auftretenden Konstruktionen ist potenziell nicht beschränkt. Der folgende Satz realisiert zum Beispiel (mindestens) 12 Konstruktionen: Einen wunderschönen Blumenstrauß hat er seiner Mutter geschickt! (i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi) (vii)
Ditransitive Konstruktion: Subj er V hat geschickt Obj1 seiner Mutter Obj2 einen Blumenstrauß Topikalisierungskonstruktion: einen wunderschönen Blumenstrauß steht im Vorfeld (und nicht das Subjekt er) VP-Konstruktion: hat geschickt (V) & seiner Mutter (Dativobjekt) & einen Blumenstrauß (Akkusativobjekt) NP-Konstruktionen: einen wunderschönen Blumenstrauß, seiner Mutter indefinite Determination-Konstruktion: einen Blumenstrauß Perfekt-Konstruktion: hat geschickt wunderschön, Blumenstrauß, er, seine, Mutter, schickenKonstruktionen
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
141
Die Grundideen der Konstruktionsgrammatik, nämlich dass Konstruktionen sich unmittelbar und ohne Ableitungen in sprachlichen Äußerungen manifestieren und im Normalfall in Kombinationen miteinander auftreten, haben einen besonderen theoretischen Vorteil. Sprachliche Strukturen, die tatsächlich vorkommen und übrigens oft ohne Mühe verstanden werden, aber von vielen traditionellen Grammatiktheorien als ungrammatisch bzw. inkorrekt eingestuft werden, werden in der Konstruktionsgrammatik als durchaus grammatisch und korrekt zugelassen. Das Anliegen dieser Theorie ist es, das Zustandekommen und das Funktionieren solcher Strukturen zu erkunden und zu erklären. 5.2.2.
Verben und Konstruktionen
Der zentrale Gedanke des konstruktionsgrammatischen Ansatzes von Goldberg ist, dass die sog. Argumentstruktur-Konstruktionen (argument structure constructions) eine besondere Klasse von Konstruktionen darstellen. Sie seien nämlich die wesentlichen konstituierenden Elemente auf der Ebene des Satzes. Even basic sentence patterns of a language can be understood to involve constructions. That is, the main verb can be understood to combine with an argument structure construction (e.g. transitive, intransitive, ditransitive, etc.). (Goldberg 2006: 6)
Wichtig ist, dass Argumentstruktur-Konstruktionen einerseits und Verben andererseits als zwei voneinander weitgehend unabhängige Elemente des grammatischen Systems betrachtet werden, d.h. als zwei unterschiedliche (Klassen von) Konstruktionen. Argumentstrukturen sind folglich nicht Eigenschaften von Verben, sondern eigenständige Konstruktionen. Das bedeutet, dass die Verben nicht allein die Satzstruktur bestimmen, in der sie vorkommen (wie es bspw. in der Valenztheorie angenommen wird, s. Kapitel 1.2.2). Stattdessen werden Verben (als eigenständige Konstruktionen) mit Argumentstruktur-Konstruktionen bei der Bildung eines Satzes kombiniert.
142
Konstruktionsgrammatik
Das Verhältnis von Verben und Argumentstruktur-Konstruktionen kann anhand folgender Beispiele veranschaulicht werden.1 Die englischen Verben give und put treten vorwiegend in bestimmten Satzstrukturen auf: Mike gave her a pencil. Laura put her book on the shelf. Give ist ein trivalentes Verb und fordert drei Mitspieler, d.h. den Geber (oder das Agens), den Rezipienten und das Gegebene (oder das Thema / Patiens). Diese Eigenschaften des Verbs manifestieren sich in einer bestimmten Satzstruktur: Mike ist Agens, she ist Rezipient und a pencil ist Thema / Patiens. Put ist ein anderes trivalentes Verb, das normalerweise ein Agens, ein Thema / Patiens und eine Angabe des Ortes fordert. Diese Rollen korrespondieren mit den drei Komplementen des Verbs im oben gegebenen Satz: Laura (Agens), her book (Thema / Patiens) und on the shelf (Lokalangabe). Die beschriebene Situation lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres auf alle Verben und Satzstrukturen, in denen sie vorkommen, übertragen. Folgende Beispiele zeigen, dass Verben auch in Satzstrukturen vorkommen (können), die nicht unbedingt ihren inhärenten Valenzeigenschaften entsprechen. Das bedeutet, dass Verben nicht notwendigerweise (bzw. nicht allein) die Satzstruktur festlegen bzw. determinieren (Beispiele zitiert nach Goldberg 2006: 6-7). He sneezed his tooth right across town. She smiled herself an upgrade. We laughed our conversation to an end. They could easily co-pay a family to death. Die oben angeführten Sätze lassen (Satz-)Strukturen erkennen, die kaum den Valenzeigenschaften der darin vorkommenden Verben entsprechen. Keines der Verben ist ein prototypisches trivalentes _____________ 1
Hier und an einigen anderen Stellen werden englische Beispiele zur Demonstrationszwecken verwendet, wie sie in den Arbeiten von Goldberg vorkommen.
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
143
Verb, und dennoch beteiligen sie sich an der Bildung von Sätzen, die für trivalente Verben charakteristisch sind. Die Annahme zweier unterschiedlicher (Klassen von) Konstruktionen, die (i) relativ unabhängig voneinander existieren (Verben und Argumentstruktur-Konstruktionen) und (ii) miteinander kombiniert werden können, bietet eine erste Antwort auf die Frage, wie solche Strukturen möglich sind. Eine weitere wichtige Beobachtung ist, dass ein und dasselbe Verb häufig an der Bildung unterschiedlicher Satzstrukturen teilhat. Dieses Phänomen sei hier am Beispiel des englischen Verbs slice ‚schneiden‘ demonstriert (für die Beschreibung der einzelnen Konstruktionen s. weiter unten): He slices the bread. (transitive) Pat sliced the carrots into the salad. (caused motion) Pat sliced Chris a piece of pie. (ditransitive) Emeril sliced and diced his way to stardom. (way-construction) Pat sliced the box open. (resultative) In all diesen Sätzen trägt das Verb slice seine eigentliche Bedeutung ‚schneiden mit einem scharfen Instrument‘. Da das Verb mit unterschiedlichen Argumentstruktur-Konstruktionen kombiniert wird (die in Klammern genannt sind), wird die Verbbedeutung im Sinne der jeweiligen Konstruktionsbedeutungen modifiziert. Es ist nicht schwierig, analoge Beispiele für das Deutsche zu finden. Folgende Verwendungen des Verbs rollen zeigen z.B. eine hohe Bedeutungsvielfalt (Beispiele aus Stefanowitsch 2008: 248-249): Der Ball rollte. (Subjekt-Prädikat-Konstruktion) Der Ball rollte unter den Tisch. (intransitive motion) Maria rollte den Ball unter den Tisch. (caused motion) Josef rollte eine Wurst. (transitive) Kaspar rollte die Wurst rund. (resultative) In diesen Sätzen bezeichnet das Verb rollen eine Bewegung eines Objekts um die eigene Achse. Ähnlich wie im Falle des englischen Verbs slice gibt es hier ansonsten wenig, was die Sätze miteinander
144
Konstruktionsgrammatik
inhaltlich gemein haben, auch wenn ein und dasselbe Verb den Kern der Aussage ausmacht. Wenn Sätze mit unterschiedlichen Verben und gleicher Satzstruktur betrachtet werden, zeigen sich zudem auffällige Affinitäten (Beispiele aus Stefanowitsch 2008: 249): Der Ball rollte unter den Tisch. Die Flaschenpost trieb ans Ufer. Die Hexe schwebte durch die Luft. Er brach zum Nordpol auf. Die Biene summte ins Zimmer. Diese Sätze können als Manifestationen derselben Argumentstruktur-Konstruktion verstanden werden, die in Goldbergs Modell als intransitive motion-Konstruktion (intransitive Bewegung) bezeichnet wird. Diese Argumentstruktur-Konstruktion hat die Form [Subj V Obl], die mit der Bedeutung [X moves Y] verbunden ist. Nicht die Verben (rollen, treiben, schweben usw.) determinieren also die Satzstrukturen, sondern die ArgumentstrukturKonstruktion selbst übernimmt diese Aufgabe. Einige weitere Argumentstruktur-Konstruktionen, die von Goldberg angenommen werden, sind in Abb. 3 aufgelistet. Konstruktion Ditransitive
Bedeutung X CAUSES Y TO RECEIVE Z
Caused Motion
X CAUSES Y TO MOVE Z
Resultative
X CAUSES Y TO BECOME Z
Intransitive Motion
X MOVES Y
Conative
X DIRECTS ACTION AT Y
Form/ Beispiel Subj V Obj Obj2 Pat faxed Bill the letter. Subj V Obj Obl Pat sneezed the napkin off the table. Subj V Obj Xcomp She kissed him unconscious. Subj V Obl The fly buzzed into the room. Subj V Oblat Sam kicked at Bill.
Abb. 3: Argumentstruktur-Konstruktionen (Goldberg 1995: 3-4)
145
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
Ein mittlerweile sehr bekanntes Beispiel für das Zusammenspiel von Verb-Konstruktionen mit Argumentstruktur-Konstruktionen ist der englische Satz He sneezed the napkin off the table. Das intransitive Verb sneeze ‚niesen‘, das eigentlich kein direktes Objekt fordert, verbindet sich hier – abweichend von seinem Valenzrahmen – mit einem direkten Objekt und einer lokalen Angabe. Im Rahmen der Konstruktionsgrammatik erklärt sich dieser Fall als Kombination zweier Konstruktionen: Das sind einerseits die sog. caused motion-Konstruktion mit der Bedeutung ‚X causes Y to move Z‘ und andererseits das Verb sneeze mit seiner Bedeutung ‚niesen‘. Der konstruktionsgrammtische Ansatz von Goldberg erarbeitet ein Modell zur Beschreibung dessen, wie das Verb seine eigene Bedeutung beisteuert und warum nicht jedes Verb mit jeder Argumentstruktur kombiniert werden kann. Der Mechanismus trägt den Namen R-Relationen und wird in Kapitel 5.3 näher erläutert. 5.2.3.
Konstruktionsbedeutung
Die Konstruktionsbedeutung (hier und im Weiteren sind vor allem die Argumentstruktur-Konstruktionen gemeint) wird in Goldbergs Modell auf eine bestimmte Art und Weise notiert. Nehmen wir hier als Beispiel die Ditransitive Konstruktion (wie in Peter schenkte seiner Mutter einen schönen Blumenstrauß). Sem
CAUSE-RECEIVE
R: instance, means Syn
PRED
V
< agt
rec
>
OBJ
Abb. 4. Notationsweise einer Konstruktion (Goldberg 1995: 50)
OBJ2
146
Konstruktionsgrammatik
Die Grafik ist wie folgt zu lesen: Die Ditransitive Konstruktion hat die Form [V Subj OBJ OBJ2], die fest mit der Bedeutung ‚CAUSE-RECEIVE ‘ verbunden ist. PRED ist eine Variable, die erst dann besetzt wird, wenn ein Verb mit der Konstruktion kombiniert wird bzw. in diese integriert wird (zur Fusion von Verb und Konstruktion s. Kapitel 5.3). In der Konstruktion ist festgelegt, welche ihrer Rollen obligatorisch mit den (semantischen) Rollen des Verbs fusionieren müssen. Dies wird durch die fett gedruckten Linien grafisch markiert. Hier sind das die Rollen Agens und Patiens. Diejenigen Rollen der Konstruktion, die nicht obligatorisch mit denjenigen des Verbs fusioniert werden müssen, sind durch die gestrichelten Linien markiert. Hier ist das die Rolle des Rezipienten. Die Rolle des Rezipienten wird also durch die Konstruktion selbst beigesteuert und muss nicht unbedingt in der Valenz des Verbs enthalten sein. Darüber hinaus bestimmt die Konstruktion, auf welche Weise das Verb mit der Konstruktion integriert wird: Das ist in der Position R (Relation) notiert. Die Notationsweise veranschaulicht einerseits die Argumentstruktur-Konstruktion als eine untrennbare Einheit von syntaktischer Form (Syn) und semantischem Inhalt (Sem). Außerdem beinhaltet die Notation gleichzeitig Informationen über die (obligatorische und fakultative) Besetzung einzelner Bestandteile der Konstruktion durch das Verb samt seiner Valenzrelationen (die verbindenden Linien) und über die Art und Weise, wie ein Verb in die Konstruktion eingeht (die Position R). Im konstruktionsgrammatischen Modell von Goldberg wird davon ausgegangen, dass Konstruktionen normalerweise mehrere Bedeutungen haben, die eng miteinander zusammenhängen. Konstruktionen können also polysem sein. Constructions are typically associated with a family of closely related senses rather than a single, fixed abstract sense. Given the fact that no strict division between syntax and the lexicon is assumed, this polysemy is expected, since morphological polysemy has been shown to be the norm in study after study. […] That is, since constructions are treated as the same basic data type as morphemes, that they should have polysemous senses like morphemes is expected. (Goldberg 1995: 31-2)
Mehrere miteinander zusammenhängende Bedeutungen einer Konstruktion gruppieren sich um eine Kern- oder Grundbedeu-
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
147
tung (basic sense). Sie bilden eine Kategorie von verwandten Bedeutungen, die nach dem Prinzip einer prototypischen Kategorie strukturiert ist (s. weiter unten). Ditransitive Strukturen des Englischen zum Beispiel bezeichnen prototypisch eine verbale Szene, in der ein Agens ein Objekt an einen Rezipienten übergibt. Ein (erfolgreicher) Akt des Gebens ist die Grundbedeutung der ditransitiven ArgumentstrukturKonstruktion. Diese Grundbedeutung findet sich in den prototypischen Verben des Gebens (z.B. geben und schenken). Viele ditransitive Strukturen haben allerdings Bedeutungen, die von dieser Grundbedeutung in vielerlei Hinsicht abweichen. So meint ein Satz wie Chris baked Jan a cake, der eindeutig die ditransitive Konstruktion manifestiert, nicht unbedingt, dass Jan den Kuchen tatsächlich bekommen hat. Die inhaltliche Komponente des (gelungenen) Gebens ist hier nicht präsent. Dasselbe gilt auch für andere Verben, die etwas mit der Herstellung (backen, machen, bauen etc.) oder dem Erhalten (bekommen, greifen, gewinnen etc.) eines Objekts zu tun haben. Sie lassen nämlich den Bedeutungsaspekt offen, ob das Agens das Erhalten des Objekts durch den Rezipienten tatsächlich verursacht hat. Ditransitive Strukturen mit Verben, die sich auf eine Verpflichtung seitens des Agens beziehen (versprechen, garantieren, schulden etc.), bezeichnen auch keine gelungene Übergabe im strengen Sinne. Ein Satz wie Bill promised his son a car bringt lediglich zum Ausdruck, dass Bill beabsichtigt hat, seinem Sohn ein Auto zukommen zu lassen. Des Weiteren gibt es ditransitive Strukturen mit Verben, die auf einen zukünftigen Besitz von etwas referieren (vererben, vermachen, überlassen, überweisen, zuteilen etc.). Das Agens handelt hier in einer bestimmten Weise, die dazu führt, dass der Rezipient das Objekt zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft bekommt. Darüber hinaus treten Verben des Erlaubens in ditransitiven Strukturen auf (erlauben, gestatten etc.). Dabei beschränkt sich die Bedeutung solcher Strukturen auf die Aussage, dass das Agens die Übergabe ermöglicht, jedoch nicht direkt verursacht. Und schließlich bezeichnen Strukturen mit Verben der Ablehnung (vorenthalten, absprechen etc.) genau das Gegenteil einer (gelungenen) Übergabe, wie z.B. in Joe refused Bob a raise in salary.
148
Konstruktionsgrammatik
Angesichts solcher vielfältiger semantischer Unterschiede zwischen verschiedenen Manifestationen der ditransitiven Argumentstruktur-Konstruktion wird die Bedeutung dieser Konstruktion als eine prototypisch strukturierte Kategorie aufgefasst. Um die Grundbedeutung gruppieren sich andere Bedeutungen der Konstruktion, die für diese weniger repräsentativ sind. Die prototypische semantische Struktur der (englischen) ditransitiven Konstruktion findet sich in Abb. 5. In der Mitte ist die Grundbedeutung A abgebildet; um sie herum sind andere verwandte, aber von ihr abweichende Bedeutungen angeordnet. F. Agent intends to cause recipient to receive patient Verbs involved in scenes of creation: bake, make, build, cook, sew, knit… Verbs of obtaining: get, grab, win, earn…
E. Agent enables recipient to receive patient Verbs of permission: permit, allow
D. Agent acts to cause recipient to receive patient at some future point in time Verbs of future transfer: leave, bequeath, allocate, reserve, grant…
A. Central Sense: Agent successfully causes recipient to receive patient Verbs that inherently signify acts of giving: give, pass, hand, serve, feed… Verbs of instantaneous causation of ballistic motion: throw, toss, slap, kick, poke, fling, shoot… Verbs of continuous causation in a deictically specified direction: bring, take…
B. Conditions of Satisfaction imply that agent causes recipient to receive patient Verbs of giving with associated satisfaction conditions: guarantee, promise, owe…
C. Agent causes recipient not to receive patient Verbs of refusal: refuse, deny…
Abb. 5. Bedeutungen der ditransitiven Konstruktion (Goldberg 1995: 38)
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
5.2.4.
149
Relationen zwischen Konstruktionen
Wie eingangs erwähnt, wird in der Konstruktionsgrammatik allgemein angenommen, dass das konstruktionelle Inventar einer Sprache kein ungeordnetes Nebeneinander darstellt, sondern ein strukturiertes Netzwerk bildet. Goldberg spricht von Vererbungsbeziehungen (inheritance links). Das sind diejenigen Relationen zwischen Konstruktionen, die ihre (relative) Motiviertheit stützen. A given construction is motivated to the degree that its structure is inherited from other constructions in the language. […] It is said to be an asymmetric inheritance relation, so that if construction A is based on construction B, then A inherits all of B’s properties that do not specifically conflict with its own specifications. (Goldberg 1995: 70)
Der Begriff Motivation geht auf de Saussure zurück.2 Ein Zeichen ist (relativ) motiviert, wenn seine Bestandteile mit anderen Zeichen assoziiert sind, sodass die Bedeutung des zusammengesetzten Zeichens sich (zumindest teilweise) aus der Bedeutung seiner Bestandteile erschließen lässt. Vererbungsbeziehungen können sowohl syntaktischer als auch semantischer Natur sein, was in einer allgemeinen Formulierung postuliert wird: „[…] construction A motivates construction B iff B inherits from A“ (Goldberg 1995: 72). Da es um relative Motivation geht, wird mit dem Konzept Vererbung erfasst, dass Konstruktionen in bestimmter Hinsicht gleich, in anderer aber verschieden sein können.
_____________ 2
Bei de Saussure ([1916]1967: 156-157) heißt es: „Der Grundsatz der Beliebigkeit des Zeichens gestattet doch, in jeder Sprache das völlig Beliebige, d.h. das Unmotivierte, von dem nur relativ Beliebigen zu unterscheiden. Nur ein Teil der Zeichen ist völlig beliebig; bei andern kommt eine Erscheinung hinzu, die es möglich macht, Grade der Beliebigkeit zu unterscheiden, wodurch diese doch nicht aufgehoben wird: das Zeichen kann relativ motiviert sein. So ist elf unmotiviert, aber drei-zehn ist es nicht im selben Grade, weil es an die Glieder denken läßt, aus denen es zusammengesetzt ist, und an andere, die mit ihm assoziiert sind, z.B. drei, zehn, vier-zehn, drei-und-zwanzig usw.; drei und zehn für sich genommen, stehen auf der gleichen Stufe wie elf, aber drei-zehn bietet einen Fall relativer Motiviertheit dar.“
150
Konstruktionsgrammatik
Wenn zwei Konstruktionen in einer Vererbungsrelation zueinander stehen, sodass die Konstruktion C2 von der Konstruktion C1 vererbt, wird das auf folgende Weise notiert: C1
C2 vererbt von C1 C1 dominiert C2 I
C2
C1 motiviert C2 I = Vererbungsbeziehung
Abb. 6. Vererbungsbeziehung zwischen Konstruktionen (Goldberg 1995: 73)
Das Phänomen Vererbung zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: (i) Es sind Multiple Vererbungsrelationen zwischen Konstruktionen zugelassen. Das bedeutet, dass eine Konstruktion durch mehr als eine Konstruktion motiviert sein kann (s. weiter unten). (ii) Die Vererbung entlang einer Hierarchie aus Konstruktionen funktioniert im normalen und nicht im ‚kompletten‘ Modus. Damit ist gemeint, dass es Sub-Regularitäten und Ausnahmen auf dem Wege der Vererbung zwischen den Konstruktionen gibt. Die Information wird transitiv von dominanten Konstruktionen im Netzwerk vererbt, solange sie nicht mit spezifischen Informationen einer in der Hierarchie niedriger positionierten Konstruktion konfligiert. (iii) Dominierte Konstruktionen enthalten von der dominanten Konstruktion alle Informationen. Ein bestimmter Grad an Redundanz wird also zugelassen, da die vererbten Informationen in den dominierten Konstruktionen dieselben sind wie diejenigen in den dominanten Konstruktionen. Die jeweilige Information wird also auf allen hierarchischen Ebenen redundant gespeichert. Man spricht von einem full-entry-Modell. Vererbungsrelationen, die oben allgemein beschrieben wurden, können weiter spezifiziert werden. Das wird im Modell von Goldberg dadurch erreicht, dass die Vererbungsrelationen selbst als Objekte des Systems verstanden werden. Man geht also davon aus, dass Vererbungsrelationen – ähnlich wie Konstruktionen –
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
151
eine innere Struktur aufweisen und untereinander hierarchisch verbunden sind. Vier zentrale Typen von Vererbungsrelationen werden unterschieden: 1. Polysemie-Relationen (Polysemy links, Ip) bestehen zwischen Konstruktionen, die inhaltlich voneinander nur minimal abweichen. Diese Relationen wurden bereits in Kapitel 5.2.3 behandelt. Polysemy links capture the nature of the semantic relations between a particular sense of a construction and any extensions from this sense. The syntactic specifications of the central sense are inherited by the extensions. (Goldberg 1995: 75)
Eine Konstruktion hat normalerweise eine Grundbedeutung und mehrere verwandte Nebenbedeutungen bzw. Bedeutungsextensionen. Jede Bedeutungsextension konstituiert eine minimal abweichende Konstruktion, die durch die Grundbedeutung motiviert ist und somit von dieser dominiert wird. Semantische Beziehungen zwischen Konstruktionen entsprechen den Polysemie-Relationen, und syntaktische Informationen werden von der zentralen Konstruktion mit der Grundbedeutung an alle polysemen Konstruktionen vererbt. 2. Teil-von-Relationen (Subpart links, Is) zwischen Konstruktionen sind dann vorhanden, wenn eine Konstruktion ein exakter Bestandteil einer anderen Konstruktion ist und unabhängig von ihr existiert. Die intransitive motion-Konstruktion z.B. ist durch einen Teil-von-Link mit der caused motion-Konstruktion verbunden. Die Vererbungsrelationen zwischen Konstruktionen, die in Abb. 6 auf eine sehr allgemeine Art und Weise notiert wurden, können in ihrer jeweiligen Ausprägung spezifiziert werden. Das geschieht durch eine bestimmte Notationsweise (s. Abb. 7): Vererbte Informationen werden in der dominierten Konstruktion durch Kursivschrift markiert. Profilierte Informationen werden immer fett gedruckt (zu Profilierung s. Kapitel 5.3). Die Grafik in Abb. 7 stellt dar, dass die intransitive motionKonstruktion (wie in Die Biene summte ins Zimmer) semantisch sowie syntaktisch ein Teil der caused motion-Konstruktion ist (wie in Er legte das Buch auf den Tisch).
152
Konstruktionsgrammatik
Caused-Motion Construction Sem CAUSE-MOVE < cause
PRED
Syn
SUBJ
Intransitive Motion Construction Sem MOVE
V
goal >
theme
OBJ
OBL
Is: cause
< theme
goal >
SUBJ
OBL
Abb. 7. Teil-von-Relation (Is) zwischen Konstruktionen (Goldberg 1995: 78)
3. Instanz-von-Relationen (Instance links, II). Zwei Konstruktionen stehen zueinander in einer Instanz-von-Beziehung, wenn eine von ihnen einen Einzel- bzw. Spezialfall der anderen darstellt: „an instance link exists between constructions iff one construction is a more fully specified version of the other“ (Goldberg 1995: 79). Einzelne lexikalische Elemente, die nur in bestimmten Konstruktionen vorkommen, sind Instanzen dieser Konstruktionen: Sie vererben die Syntax und die Semantik, die normalerweise mit der Konstruktion assoziiert werden. Das englische Verb drive zum Beispiel tritt mit einer speziellen Bedeutung in der resultativen Konstruktion auf: Chris drove Pat mad / bonkers / bananas / crazy / over the edge. * Chris drove Pat silly / dead / angry / happy / sick.
153
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
Die Relation zwischen der Resultativen Konstruktion (die in Sätzen wie Er fischte den Teich leer vorliegt) und der konkreten Bedeutung des Verbs drive kann folgendermaßen dargestellt werden: Resultative Construction Sem CAUSE-BECOME
PRED
Syn
V
< agt
result-goal
pat >
SUBJ
OBLPP/Adj
OBJ
II drive-‚crazy‘ Sem CAUSE-BECOME
Syn
< agt
result-goal
pat >
drive
< driver
‚crazy‘
>
V
SUBJ
OBLPP/Adj
OBJ
Abb. 8. Instanz-von-Relation zwischen Konstruktionen (Goldberg 1995: 80)
4. Metaphorische Relationen (Metaphoric Extension links, Im). Zwei Konstruktionen stehen zueinander in einer metaphorischen Vererbungsrelation, wenn die Semantik der dominanten Konstruktion auf dem Wege der metaphorischen Übertragung auf die dominierte Konstruktion abgebildet wird. Folglich kann die semantische Beziehung zwischen den Konstruktionen als eine Art Metapher aufgefasst werden. Als Beispiel betrachten wir hier die Relation zwischen der caused motion-Konstruktion und der Resultativen Konstruktion anhand folgender Sätze: Joe kicked the bottle into the yard. (caused motion-Konstruktion) Joe kicked Bob black and blue. (Resultative Konstruktion)
154
Konstruktionsgrammatik
In diesem Fall kann die metaphorische Übertragungsrelation als ‚Veränderung des Zustandes‘ > ‚Veränderung des Ortes‘ beschrieben werden, wobei ein (interner) physischer Zustand metaphorisch als Position im Raum reinterpretiert wird. Das ist die semantische Beziehung zwischen diesen beiden Konstruktionen. Durch die metaphorische Extension erbt die dominierte resultative Konstruktion auch syntaktische Spezifizierungen von der dominanten caused motion-Konstruktion. Caused-Motion Construction Sem CAUSE-MOVE
PRED
Syn
< cause
V
>
SUBJ
Resultative-Construction Sem CAUSE-BECOME
Syn
theme >
SUBJ
OBLPP/AP
OBJ
Abb. 9. Metaphorische Relation zwischen Konstruktionen (Goldberg 1995: 88)
Wie schon erwähnt, sind in der Konstruktionsgrammatik von Goldberg multiple Vererbungsrelationen zwischen Konstruktionen zugelassen. In dem Fall weist eine konkrete (dominierte) Konstruktion Vererbungsrelationen zu mehreren dominanten Konstruktionen auf. Auf diese Weise können die Besonderheiten von Konstruktionen erfasst und erklärt werden, wenn sich die betreffenden Strukturen einer einheitlichen Klassifikation im Sin-
Aufbau der Konstruktionsgrammatik
155
ne einer Vererbungsabhängigkeit von einer einzigen dominanten Konstruktion entziehen. Die multiple Vererbung kann an folgenden Beispielen demonstriert werden: He cut short the speech. – He cut the speech short. Break the cask open. – Break open the cask. Die jeweils links stehenden Beispielsätze sind Manifestationen der Resultativen Konstruktion. Sie erlauben allerdings auch eine abweichende Wortfolge (in den Sätzen rechts), die sie in die Nähe von der sog. Verb-Particle-Construction rückt: Die resultative Phrase erscheint entweder vor oder auch nach der postverbalen Nominalphrase. Anstatt die beiden Konstruktionen – die resultative und die Verb-Particle-Konstruktion – als ein und dieselbe Konstruktion aufzufassen, werden multiple Vererbungsbeziehungen (in diesem Fall multiple Instanz-von-Relationen) angenommen: Verb-Particle Construction
II
Resultative Construction
II
II
break open II
cut short
Abb. 10. Multiple Vererbungsrelationen zwischen Konstruktionen (Goldberg 1995: 98)
Die Annahme multipler Vererbungsbeziehungen zwischen Konstruktionen erlaubt es also, die oben angeführten Sätze so zu interpretieren, dass sie einerseits eine Vererbungsrelation zu der Resultativen Konstruktion aufweisen, andererseits aber auch eine Vererbungsrelation zu der Verb-Particle-Konstruktion (s. Abb. 10). Das heißt, die Sätze oben sind gleichzeitig Manifestationen von zwei unabhängig voneinander existierenden Konstruktionen.
156
Konstruktionsgrammatik
Inheritance hierarchies have long been found useful for representing all types of generalizations. The construction-based framework captures linguistic generalizations within a given language via the same type of inheritance hierarchies used for representing non-linguistic generalizations. Broad generalizations are captured by constructions that are inherited by many other constructions; subregularities are captured by positing constructions that are at various midpoints of the hierarchical network. Low level constructions represent exceptional patterns. (Goldberg 2009: 99)
5.3.
Kombination von Verben mit Konstruktionen
Wie in Kapitel 5.2.2 beschrieben, sind Argumentstruktur-Konstruktionen und Verben zwei voneinander weitgehend unabhängige Elemente des grammatischen Systems. Sie stellen zwei unterschiedliche (Klassen von) Konstruktionen dar, die bei der Bildung eines Satzes miteinander kombiniert werden. Wie genau dies geschieht, d.h. auf welche Weise die Integration von Verben und Argumentstruktur-Konstruktionen erfolgt, wird in diesem Kapitel dargelegt. Wenn eine Argumentstruktur-Konstruktion in ihrem inneren Aufbau beschrieben wird (s. Kapitel 5.2.3, Abb. 4), enthält diese Beschreibung normalerweise die Information darüber, dass ein Verb mit dieser Konstruktion kombiniert werden kann. Diese Information ist mit der Variable PRED notiert, die – wie bereits erwähnt – erst dann besetzt wird, wenn ein Verb tatsächlich mit der Konstruktion kombiniert wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen den Partizipantenrollen des Verbs (participant roles) und den Argumentrollen der Argumentstruktur-Konstruktion (argument roles): Part of verb’s frame semantics includes the delimitation of participant roles. Participant roles are to be distinguished from the roles associated with the construction, which will be called argument roles. The distinction is intended to capture the fact that verbs are associated with framespecific roles, whereas constructions are associated with more general roles such as agent, patient, goal, which corresponds roughly to Fill-
Kombination von Verben mit Konstruktionen
157
more’s early roles or Gruber’s thematic roles. (Goldberg 1995: 43; Hervorhebungen im Original)
Der Unterschied zwischen Partizipanten- und Argumentrollen lässt sich auch im Sinne einer Differenz zwischen der lexikalischen (inhärenten, semantischen, etc.) Valenz des Verbs und der syntaktischen Valenz (Argumentstruktur, Satzbauplan) auf der Ebene des Satzes verstehen. Erstere legt die spezifischen MitspielerRollen fest, die mit einem Verb assoziiert sind, während Letztere die Anzahl und die Form der im Satz auftretenden (syntaktischen) Argumente betrifft. Wenn ein Satz gebildet wird, fusionieren die Partizipantenrollen des Verbs mit den Argumentrollen der Konstruktion. 5.3.1. Partizipanten- versus Argumentrollen Die semantische Valenz eines Verbs legt unter anderem fest, welche seiner Partizipantenrollen obligatorisch ausgedrückt werden. In der Konstruktionsgrammatik spricht man hierbei von profilierten Rollen (profiled roles). Lexically profiled roles are entities in the frame semantics associated with the verb that are obligatorily accessed and function as focal points within the scene, achieving a special degree of prominence. (Goldberg 1995: 44)
Welche Partizipantenrollen profiliert sind, ist in der lexikalischen Semantik des Verbs enthalten und daher stark konventionalisiert. Das bedeutet auch, dass der jeweilige konkrete Verwendungskontext normalerweise keinen Einfluss auf die Profilierung der Rollen hat. So sind z.B. in der Semantik der Verben geben und nehmen stets unterschiedliche Partizipantenrollen profiliert, auch wenn sie offenbar ein und dieselbe verbale Szene beschreiben. Geben fokussiert die Rolle des Gebers, während nehmen die Rolle des Nehmers profiliert. Ähnliches gilt für Verbpaare wie kaufen / verkaufen, leihen / verleihen u.Ä. Eine unterschiedliche Profilierung von Rollen kann hier am Beispiel der englischen Verben rob und steal demonstriert werden, die auf den ersten Blick synonym erscheinen (entnommen aus
158
Konstruktionsgrammatik
Goldberg 1995: 45-48). In der Semantik von rob sind die Rollen ‚Ziel‘ und ‚Dieb‘ profiliert; in der Bedeutung von steal haben dagegen die Rollen ‚Wertgegenstände‘ und ‚Dieb‘ einen prominenten Status. Dieser Unterschied in der Profilierung wird auf folgende Weise notiert (die profilierten Rollen sind fett gedruckt): rob steal Die notierte Distinktion im Status der Partizipantenrollen erklärt den Umstand, dass diese Verben in unterschiedlichen syntaktischen Strukturen vorkommen: Jesse robbed the rich (of all their money). *Jesse robbed a million dollars (from the rich). Jesse stole money (from the rich). *Jesse stole the rich (of money). Da das Verb rob notwendigerweise die Information über die ausgeraubte Person (die ‚Ziel‘-Rolle) enthält, muss diese Rolle eine obligatorische syntaktische Realisierung erfahren. Steal dagegen fokussiert obligatorisch die Rolle der gestohlenen Objekte (die ‚Goods‘-Rolle) und lässt offen (d.h. fakultativ), wer genau dadurch (negativ) betroffen ist. Eine andere Möglichkeit, die verbalen Szenen der beiden Verben zu notieren, ist wie folgt (Goldberg 1995: 48): rob steal Diese Notationsweise spezifiziert die Semantik der beiden Verben und enthält – neben den profilierten Rollenstatus – auch zusätzliche Informationen darüber, (i) dass die ausgeraubte Person negativ betroffen ist, d.h. sie ist Opfer (victim) des Raubs und (ii) dass die gestohlenen Güter (goods) aus einer Quelle (source) stammen, d.h. jemandem legal gehör(t)en, wobei diese Quelle nicht weiter spezifiziert werden muss. Auf diese Weise wird festgehalten, dass die
Kombination von Verben mit Konstruktionen
159
semantischen Unterschiede zwischen den beiden Verben nicht nur in der jeweiligen Gewichtung der Partizipantenrollen, sondern auch in den spezifischen semantischen Charakterisierungen dieser Rollen liegen. Argumentstruktur-Konstruktionen, ähnlich wie Verben, weisen eine unterschiedliche Profilierung ihrer Argumentrollen auf: Every argument role linked to a direct grammatical relation (SUBJ, OBJ, or OBJ2) is constructionally profiled. (Goldberg 1995: 48)
Die profilierten Argumentrollen einer Konstruktion werden ebenfalls durch Fettdruck markiert, vgl. z.B.: CAUSE RECEIVE CAUSE MOVE
Die Profilierung von Argumentrollen erfolgt allerdings nach anderen Kriterien als die Profilierung von verbalen Partizipantenrollen. Nur diejenigen Partizipantenrollen des Verbs sind profiliert, die obligatorisch zum Ausdruck gebracht werden. In der Argumentstruktur-Konstruktion sind aber nur diejenigen Rollen profiliert, die in Form direkter syntaktischer Funktionen zum Ausdruck gebracht werden. Als direkt gelten dabei die syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt. Die cause receive-Konstruktion kann semantisch allgemein beschrieben werden als ‚X verursacht, dass Y Z erhält‘, wobei deren Argumentrollen wie folgt verteilt sind: X ist Agens, Y ist Rezipient und Z ist Thema / Patiens. Diese drei Rollen entsprechen direkten syntaktischen Funktionen: das Agens wird normalerweise als Subjekt (SUB) realisiert, der Rezipient und das Thema / Patiens jeweils als Objekte (OBJ und OBJ2). Daraus folgt, dass alle drei Rollen dieser Konstruktion profiliert sind. Die Grundbedeutung der cause move-Konstruktion kann beschrieben werden als ‚X verursacht, dass Y sich zum Ziel Z bewegt‘; ihre Argumentrollen sind Ursache (Ausgangspunkt), Ziel (Bewegungsrichtung oder -ziel) und Thema (das bewegte Objekt). Die Ursache bzw. der Verursacher ist typischerweise das Subjekt des Satzes (SUBJ), das Thema / Patiens ist das direkte Objekt (OBJ) und das Ziel wird normalerweise in Form eines Präpositio-
160
Konstruktionsgrammatik
nalobjektes (oder auch einer Adverbialbestimmung) realisiert (OBL). Die ersten beiden Rollen sind also profiliert, die Rolle des Ziels ist dagegen nicht profiliert. In der Bedeutung einer Konstruktion ist festgelegt, welche Argumentrollen mit den Partizipantenrollen des Verbs kombiniert werden können und auf welche Weise dies geschieht. Constructions must specify in which ways verbs will combine with them; they need to be able to constrain the class of verbs that can be integrated with them in various ways, and they must also specify the way in which the event type designated by the verb is integrated into the event type designated by the construction. (Goldberg 1995: 49)
5.3.2. Fusionierung der Rollen Wie Partizipantenrollen mit Argumentrollen fusionieren, wird im Wesentlichen durch zwei Grundprinzipien geregelt. Das sind das Prinzip der semantischen Kohärenz (The Semantic Coherence Principle) und das Korrespondenz-Prinzip (The Correspondence Principle). Das Prinzip der semantischen Kohärenz besagt, dass ein Verb nur dann mit einer Konstruktion kombiniert werden kann, wenn seine Partizipantenrollen mit den Argumentrollen der betreffenden Konstruktion semantisch kompatibel sind. Normalerweise stellen die Partizipantenrollen des Verbs Spezifizierungen bzw. Instanzen der allgemeineren Argumentrollen der Konstruktion. Only roles which are semantically compatible can be fused. Two roles r1 and r2 are semantically compatible if either r1 can be construed as an instance of r2, or r1 [sic] can be construed as an instance of r1. (Goldberg 1995: 50) […] the more specific participant role of the verb must be construable as an instance of the more general argument role. (Goldberg 2006: 40)
Das Korrespondenz-Prinzip besagt, dass jede profilierte Partizipantenrolle mit einer profilierten Argumentrolle fusionieren muss. Eine Ausnahme bilden hierbei Verben mit drei profilierten Partizipantenrollen (s. dazu weiter unten).
161
Kombination von Verben mit Konstruktionen
Each participant role that is lexically profiled and expressed must be fused with a profiled argument role of the construction. If a verb has three profiled participant roles, then one of them may be fused with a nonprofiled argument role of a construction. (Goldberg 1995: 50)
Idealerweise besteht eine eins-zu-eins-Korrespondenzbeziehung zwischen den Partizipantenrollen des Verbs und den Argumentrollen der Konstruktion. In diesem Fall fällt die Konstruktionsbedeutung mit der lexikalischen Bedeutung des Verbs völlig in eins, und das Verb dient (lediglich) der Spezifizierung der verbalen Szene, die durch die Konstruktion evoziert wird. Das ist bspw. der Fall bei dem Verb geben, das in einem Satz wie Er gab mir eine Zeitung verwendet wird. Hier liegt eine Fusion der ditransitiven Konstruktion mit der geben-Konstruktion vor: Sem
R: instance, means Syn
CAUSE-RECEIVE R
< agt
rec
pat >
GEBEN
V
SUBJ
OBJ
OBJ2
Abb. 11. Ditransitive Konstruktion + geben (nach: Goldberg 1995: 51)
Es gibt allerdings viele Fälle, in denen die Fusion von Verben und Konstruktionen nicht so ‚einwandfrei‘ funktioniert. In diesen Fällen greift das Korrespondenz-Prinzip. Die Fusionierung der Partizipantenrollen des englischen Verbs put mit den Argumentrollen der cause move-Konstruktion sieht folgendermaßen aus: Sem
Syn
CAUSE-MOVE
PUT
V
SUBJ
OBL
OBJ
Abb. 12. CAUSE-MOVE-Konstruktion + put (Goldberg 1995: 52)
162
Konstruktionsgrammatik
In diesem Fall fusioniert die Argumentrolle cause mit der Partizipantenrolle putter, da der Steller / Leger als eine Art (d.i. Instanz) Verursacher verstanden werden kann. Die Rolle theme fusioniert mit der Partizipantenrolle puttee (das gestellte / gelegte Objekt), weil diese Rollen auch semantisch kompatibel sind. Das Ziel (goal) bzw. der Ort, an den das Objekt durch den Verursacher gebracht wird, fusioniert mit der Rolle put.place ebenfalls nach dem Prinzip der semantischen Kompatibilität, da der Ort eine Art (Instanz) Ziel darstellt. Die Argumentrolle des Ziels ist allerdings in der cause moveKonstruktion nicht profiliert, während die Partizipantenrolle put.place lexikalisch profiliert ist, d.h. sie ist in der semantischen Valenz des Verbs put als eine obligatorische Rolle enthalten. Nach dem (Zusatz zum) Korrespondenz-Prinzip kann nur dann eine Partizipantenrolle mit einer unprofilierten Argumentrolle fusionieren, wenn alle drei Rollen eines dreiwertigen Verbs profiliert sind. Die lexikalische Semantik des Verbs trägt also dazu bei, dass die unprofilierte Argumentrolle einer Konstruktion doch obligatorisch realisiert wird. Einen anderen Fall stellt z.B. das englische Verb mail dar. Dieses Verb hat auch drei Partizipantenrollen, von denen aber nur zwei lexikalisch profiliert sind: send Wenn dieses Verb mit der ditransitiven Konstruktion kombiniert wird, ergibt sich folgende Situation: Sem
R: instance
Syn
CAUSE-RECEIVE R
MAIL
V
SUBJ
OBJ
OBJ2
Abb. 13. Ditransitive Konstruktion + mail (Goldberg 1995: 53)
Kombination von Verben mit Konstruktionen
163
Wenn das Verb mail also mit der ditransitiven Konstruktion kombiniert wird, wird ihm die (profilierte) Rolle mailee von der Konstruktion sozusagen aufgezwungen. Generell gilt, dass – wenn eine Partizipantenrolle mit einer profilierten Argumentrolle fusioniert wird – die Partizipantenrolle den profilierten Status von der Argumentrolle vererbt. Wichtig ist, dass das Korrespondenz-Prinzip nur in eine Richtung funktioniert: Profilierte Partizipantenrollen müssen mit profilierten Argumentrollen fusionieren (eine Ausnahme bilden Verben mit drei profilierten Rollen, s. oben). Das bedeutet, dass alle profilierten Partizipantenrollen in der Konstruktion berücksichtigt werden müssen, indem ihnen eine bestimmte Argumentrolle zugewiesen wird. Das Umgekehrte gilt allerdings nicht: Es ist nicht erforderlich, dass jede Argumentrolle einer Konstruktion einer Partizipantenrolle des Verbs entspricht. Konstruktionen können oft zusätzliche Rollen einführen, die nicht in der semantischen Valenz des Verbs verankert sind. Das ist z.B. der Fall im berühmten Beispiel: He sneezed the napkin off the table. Oder in der deutschen Version: Er hat die Serviette vom Tisch geniest. Hier liegt eine Fusion vom Verb sneeze / niesen und der cause moveArgumentstruktur-Konstruktion vor, wobei die Konstruktion ihre eigene profilierte Rolle beisteuert, nämlich die Rolle Thema. Das Verb selbst hat nur eine profilierte Partizipantenrolle, die Rolle Nieser (wie in z.B. Peter nieste): niesen Dem Prinzip der semantischen Kohärenz entsprechend kann ein Nieser als Ausgangspunkt einer verursachten Bewegung angesehen werden, d.h. er ist Verursacher oder Agens. Die Rollen Thema und Richtung (goal) sind aber nicht Teil der Verbvalenz von niesen, sondern werden von der Konstruktion beigesteuert. Der Grund für die Kompatibilität von niesen und der cause moveKonstruktion ist liegt im allgemeinen Weltwissen, dass sich beim
164
Konstruktionsgrammatik
Niesen eine Substanz bewegen kann. Die Rollen Thema (das betroffene Objekt) und Ziel (die Richtung der durch das Niesen verursachten Bewegung) werden also von der Konstruktion beigesteuert: Sem
R: means
Syn
CAUSE-MOVE
OBL
OBJ
Abb. 14. CAUSE-MOVE-Konstruktion + niesen (nach Goldberg 1995: 54)
Dieses Beispiel zeigt, wie die Konstruktion – die eine eigene und vom Verb weitgehend unabhängige Bedeutung hat – dazu beitragen kann, dass Sätze formuliert und verstanden werden, auch wenn sie in ihrem syntaktischen Aufbau nicht direkt der semantischen Valenz des verwendeten Verbs entsprechen. Unter bestimmten Bedingungen kann es passieren, dass das Korrespondenz-Prinzip ausgeschaltet wird, d.h. dass die sprachliche Realisierung einer oder mehrerer profilierter Partizipantenrollen des Verbs ausbleibt. In solchen Fällen spricht man von den Phänomenen shading, cutting, merging und null arguments (Goldberg 1995: 56-59). Shading bezeichnet einen Prozess, infolgedessen eine bestimmte Partizipantenrolle ihren profilierten Status einbüßt (sozusagen in den Schatten gestellt wird) und daher nicht zum Ausdruck gebracht wird. Das ist z.B. der Fall beim Passiv: Die Funktion der Passiv-Konstruktion besteht darin, die ranghöchste3 Partizipantenrolle des Verbs ‚in den Schatten zu stellen‘, vgl.: _____________ 3
Es wird angenommen, dass Partizipantenrollen entlang einer thematischen Skala eingeordnet werden können, wobei die jeweils rechts stehenden Rollen in der Hierarchie niedriger platziert sind als die jeweils links stehenden Rollen: agent, cause > recipient, experiencer > instrument > patient, theme >location, source, goal (Goldberg 1995: 57, s. auch Fillmore 1968, Jackendoff 1972, Kiparsky 1987, Grimshaw 1990). Die Skala gibt zwar die Argumentrollen an. Da die Partizipan-
Kombination von Verben mit Konstruktionen
165
Der Mechaniker repariert den Motor. – Der Motor wird repariert. Die Rolle des Reparateurs, die in der Bedeutung des Verbs reparieren einen profilierten Status hat, wird in einem passivischen Satz nicht ausgedrückt. Sie kann zwar in der Form einer Präpositionalphrase (vom Mechaniker) erscheinen; sie ist aber in einem passivischen Satz nicht obligatorisch. Cutting meint eine vollständige Eliminierung einer profilierten Partizipantenrolle. Der Unterschied zu shading liegt darin, dass eine ‚in den Schatten‘ gestellte Rolle immer noch ausgedrückt werden kann, während eine ‚ausgeschnittene‘ Rolle jegliche Realisierungsmöglichkeit verliert. Das ist z.B. der Fall beim deutschen unpersönlichen Passiv: *Hier wird von Schülern getanzt. Die Rolle des / der Tanzenden ist hier ausgeschnitten und kann nicht mehr in Form einer Präpositionalphrase realisiert werden. Sie kann in einer unpersönlichen Passiv-Konstruktion also überhaupt nicht realisiert werden. Role merging bezeichnet einen Zusammenfall zweier unterschiedlicher Partizipantenrollen. Zusammengezogene Partizipantenrollen werden als eine einzige Argumentrolle realisiert und entsprechen einer einzigen syntaktischen Funktion. Das ist z.B. der Fall in einem Satz wie Karl bat Anne mitzukommen, in dem Anne zwei unterschiedliche Rollen realisiert: Einerseits ist Anne Adressat der Bitte (d.h. die Partizipantenrolle des Verbs bitten) und andererseits ist Anne diejenige, die die Handlung mitkommen ausführen soll (d.h. die Partizipantenrolle des Verbs mitkommen). Die beiden Rollen fusionieren hier und werden durch die syntaktische Funktion Akkusativobjekt zum Ausdruck gebracht. _____________ tenrollen aber stets als Instanzen bzw. Spezifizierungen von Argumentrollen aufgefasst werden können, wird diese Skala auch als für Partizipantenrollen geltend angenommen.
166
Konstruktionsgrammatik
Null complements sind diejenigen nicht-ausgedrückten Partizipantenrollen eines Verbs, die in einem bestimmten Verwendungskontext entweder nicht bekannt / nicht relevant sind (indefinite null complements) oder leicht aus dem Kontext rekonstruiert werden können (definite null complements). Erstere können z.B. die Rollen bei Verben wie essen und trinken sein: Er aß und trank die ganze Nacht. Es wird nicht explizit ausgedrückt, was genau getrunken und gegessen wurde, weil das entweder nicht relevant oder nicht bekannt ist. Letztere finden sich in solchen Sätzen wie Sie gewann, wo aus dem Kontext diejenige Rolle rekonstruiert werden kann, die das Objekt, d.h. was sie gewonnen hat, bezeichnet. Es gibt also einige Prozesse, die dafür verantwortlich gemacht werden können, dass manchmal profilierte Partizipantenrollen – die normalerweise einer obligatorischen expliziten Realisierung bedürfen – doch nicht zum Ausdruck gebracht werden. Das Verb kann in einer Konstruktion auftreten, die seine Partizipantenrolle(n) entweder in den Schatten stellt, ausschneidet, oder mit einer anderen Rolle zusammenfallen lässt. Oft ist in der lexikalischen verbalen Semantik bereits festgelegt, welche Rolle unrealisiert bleiben kann, da sie entweder nicht relevant ist oder aus dem Kontext leicht rekonstruiert werden kann.
5.4.
Schlussbemerkungen
Zum Schluss sei noch einmal bemerkt, dass es in der heutigen Zeit nicht eine Konstruktionsgrammatik, sondern viele Konstruktionsgrammatiken gibt. Durch den Grundgedanken zusammengehalten, dass die Konstruktion die fundamentale sprachliche Größe darstellt, werden von verschiedenen konstrukitonsgrammatischen Ansätzen Perspektivierungen und Beschreibungsmethoden entwi-
Schlussbemerkungen
167
ckelt, die sich in vielen Punkten voneinander unterscheiden. Einen guten Überblick über die Differenzen zwischen den Varianten der Konstruktionsgrammatik geben z.B. Fischer / Stefanowitsch 2006, 2008, Croft / Cruse (2004: 257-290) und Jacobs 2008. Trotz der Unterschiede in Einzelfragen und -beschreibungen etabliert sich die Konstruktionsgrammatik zunehmend als eine relativ einheitliche Grammatiktheorie bzw. eine einheitliche Gruppe von Grammatiktheorien. Die Erkenntnisse dieser Forschungsrichtung sind von großer Bedeutung für viele linguistische Forschungsbereiche. So wird in der letzten Zeit insbesondere die Rolle von Konstruktionen im Spracherwerb untersucht. Wie Konstruktionen erlernt werden und wie Generalisierungen von konkreten im Input vorhandenen (einfachen sowie komplexen) syntaktischen Strukturen vorgenommen werden – das sind die Fragen, mit denen sich vor allem die neueren Spracherwerbsstudien beschäftigen (vgl. z.B. Tomasello 2003, 2006, Diessel 2004). Diese Studien zeigen, dass die Annahme eines angeborenen sprachspezifischen Wissens nicht notwendig ist, da die Konstruktionen direkt aus dem sprachlichen Input nach bestimmten Mechanismen erlernt und abstrahiert werden, die allgemeinen kommunikativen und kognitiven Prinzipien folgen. In jüngster Zeit werden konstruktionsgrammatische Ansätze als grammatische Rahmentheorie für interaktionslinguistische Studien erprobt und adaptiert (vgl. Günthner / Imo 2006, Deppermann / Elstermann 2008, Günthner 2008 u.v.a.). Für die Erforschung der gesprochenen Sprache und ihrer Regularitäten ist insbesondere die stark korpusorientierte Ausrichtung neuerer konstruktionsgrammatischer Ansätze geeignet. Korpuslinguistische Fragen, wie z.B. Korpusbildung, Korpusanalyse, Erarbeitung von Analyseverfahren und -software gehören mittlerweile zu festen Bestandteilen konstruktionsgrammatischer Forschung (vgl. z.B. Stefanowitsch 2008). Auch die historische Sprachwissenschaft beschäftigt sich zunehmend mit der Rolle der Konstruktionen in sprachlichen Wandelprozessen (vgl. z.B. Bergs / Diewald 2008). Dabei interessieren vor allem solche Fragen: Wie entstehen neue Konstruktionen?
168
Konstruktionsgrammatik
Wie werden Konstruktionen grammatikalisiert? Lässt sich der Sprachwandel mithilfe der Konstruktionsgrammatik beschreiben? Des Weiteren werden konstruktionsgrammatische Fragestellungen in typologischen Studien behandelt (vgl. v.a. Croft 2001, Fried / Östman 2004). Das wachsende Interesse an der Konstruktionsgrammatik bringt auch kritische Stimmen mit sich. Zum großen Teil richten sie sich gegen die Heterogenität der Theorie. Außerdem wird die mangelnde Ökonomie dieser Ansätze kritisiert: Die Annahme eines (wie auch immer strukturierten) Inventars von Konstruktionen führe dazu, dass eine indefinite Menge von Konstruktionen für eine Sprache angenommen werden müsse, die alle von Sprachbenutzern in ihrem (Langzeit-)Gedächtnis gespeichert werden müssten. Eine aktuelle kritische Auseinandersetzung mit dem konstruktionsgrammatischen Ansatz von Goldberg bieten die Diskussionsartikel in der Zeitschrift Cognitive Linguistics (2009, Band 20, Nummer 1).
5.5.
Aufgaben
1. Finden Sie im folgenden Textabschnitt möglichst viele Konstruktionen: Das Chaos breitet sich strahlenförmig um den Messie herum aus. Ausgehend von seinem eigenen Zimmer sifft er nach und nach alle Ecken der WG zu. Im Schuhregal findest du seine Gebrauchsanweisungen, hinter der Waschmaschine liegen Bonbon-Papierchen, und dreckige Socken von ihm können auch mal in der Besteckschublade auftauchen. (aus: Von Messie bis Ersti, SPIEGEL-ONLINE, 02.07.2009) 2. Die folgende Äußerung der deutschen Sprache lässt sich als Realisierung einer Konstruktion im konstruktionsgrammatischen Sinn betrachten: Wenn er bloß da wäre!
Aufgaben
169
Diese Konstruktion wird ‚irrealer Wunschsatz‘ genannt und hat folgende formale Eigenschaften: (i) Verbstellung: Verbletztsatz (Spannsatz) nach wenn, sonst Verberstsatz (Stirnsatz); (ii) Verbform: Konjunktiv II; (iii) Partikel: obligatorische Modalpartikel bloß / doch / nur im Mittelfeld; (iv) Intonation: gegen Satzende fallend; (v) Satzzeichen: Ausrufezeichen. Zusammengefasst kann man die Form wie folgt notieren:
oder < Vfin KonjII SUB MP (bloß / doch / nur) […]!> Wenn diese formalen Bedingungen nicht erfüllt sind (wenn z.B. die Modalpartikel ausgelassen wird wie in Wenn er da wäre!) kann man nicht mehr davon sprechen, dass wir immer noch mit einem irrealen Wunschsatz zu tun haben. Das bedeutet, dass diese Konstruktion eine bestimmte Form hat. Dieser Form steht auch eine bestimmte Bedeutung gegenüber: Die Konstruktion bringt einen Wunsch zum Ausdruck, der zum Zeitpunkt des Sprechens nicht erfüllt werden kann. Diese Konstruktion ist produktiv: Sie kann mit fast allen Verben des Deutschen gebildet werden. Sie ist komplex, da sie aus mehreren Bestandteilen besteht. Sie ist relativ schematisch, da sie nur dann eine konkrete Bedeutung erhält, wenn ein bestimmtes Verb samt seinen Komplementen diese Konstruktion ‚füllt‘. Das heißt, dass, auch wenn die konstruktionale Bedeutung ‚irrealer Wunsch‘ stets erhalten bleibt, sie von Fall zu Fall in Bezug darauf spezifiziert wird, was der konkrete Inhalt des Wunsches ist. Beachten Sie, dass sich die Bedeutung der gesamten Struktur nicht kompositionell aus ihren Bestandteilen (z.B. Wörtern) zusammensetzt, sondern eher als etwas begriffen werden kann, das mehr als die bloße Summe seiner Teile ist.
170
Konstruktionsgrammatik
Überlegen Sie sich, welche Äußerungen des Deutschen sich am besten auf eine ähnliche Weise aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik beschreiben lassen. Beschreiben Sie drei Konstruktionen Ihrer Wahl als Form-Bedeutungspaare, analysieren Sie sie nach den Kriterien Produktivität, Schematizität und Komplexität.
5.6.
Literatur
Bergs, Alexander und Gabriele Diewald (Hgg.) (2008): Constructions and Language Change. Berlin /New York: Mouton de Gruyter. Croft, William (2001): Radical Construction Grammar: Syntactic Theory in Typological Perspective. Oxford: Oxford University Press. Croft, William und Alan D. Cruse (2004): Cognitive Linguistics. Cambridge: Cambridge University Press. Deppermann, Arnulf und Mechthild Elstermann (2008): „Lexikalische Bedeutung oder Konstruktionsbedeutungen? Eine Untersuchung am Beispiel von Konstruktionen mit verstehen.” In: Stefanowitsch /Fischer (Hgg.), 103-133. Diessel, Holger (2004): The Acquisition of Complex Sentences. Cambridge: Cambridge University Press. Fillmore, Charles J. (1968): „The Case for Case“. In: Bach, Emmon und Robert Thomas Harms (Hgg.): Universals in Linguistic Theory. New York: Holt, Rinehart and Winston, 1-88. Fillmore, Charles J. (1985): „Syntactic intrusions and the notion of grammatical construction.“ In: Proceedings of the Eleventh Annual Meeting of the Berkeley Linguistic Society, 73–86. Fillmore, Charles J. (1988): „The mechanisms of ‘construction grammar’.“ In: Proceedings of the Fourteenth Annual Meeting of the Berkeley Linguistic Society, 35–55. Fillmore, Charles J. (1989): „Grammatical Construction Theory and the Familiar Dichotomies“. In: Dietrich, Rainer und Carl F. Graumann (Hgg.): Language Processing in Social Context. Amsterdam: NorthHolland, 17-38. Fillmore, Charles J., Paul Kay und Mary C. O’Connor (1988): „Regularity and Idiomaticity in Grammatical Constructions: The Case of ‚Let Alone’.“ In: Language 64:3, 501-538. Fischer, Kerstin (2006): „Konstruktionsgrammatik und Interaktion.“ In: Fischer / Stefanowitsch (Hgg.), 133-150.
Literatur
171
Fischer, Kerstin und Anatol Stefanowitsch (Hgg.) (2006): Konstruktionsgrammatik I: Von der Anwendung zur Theorie. Tübingen: Stauffenburg. Fischer, Kerstin und Anatol Stefanowitsch (2006): „Konstruktionsgrammatik: Ein Überblick.“ In: Fischer / Stefanowitsch (Hgg.), 3-17. Fried, Mirjam und Jan-Ola Östman (Hgg.) (2004): Construction Grammar in a Cross-Language Perspective. Amsterdam /Philadelphia: John Benjamins. Goldberg, Adele E. (1995): Constructions: A Construction Grammar Approach to Argument Structure. Chicago / London: University of Chicago Press. Goldberg, Adele E. (2006): Constructions at work: The nature of generalization in language. Oxford: Oxford University Press. Goldberg, Adele E. (2009): „The nature of Generalization in Language.“ In: Cognitive Linguistics 20:1, 93-127. Goldberg, Adele E. und Ray Jackendoff (2004): „The English resultative as a family of constructions.“ In: Language, 80, 532–568. Goldberg, Adele E. und Devin M. Casenhiser (2006): „English constructions.“ In: Aarts, Bas und April McMahon (Hgg.): The Blackwell Handbook of English Linguistics. London: Blackwell, 343-355. Grimshaw, Jane (1979): „Complement Selection and the Lexicon.“ In: Linguistic Inquiry 10:2, 279-326. Günthner, Susanne und Wolfgang Imo (Hgg.) (2006): Konstruktionen in der Interaktion. Berlin /New York: de Gruyter. Günthner, Susanne (2008): „‚die Sache ist ...’: eine Projektor-Konstruktion im gesprochenen Deutsch.“ In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 27:1, 39-71. Jackendoff, Ray (1972): Semantic Interpretation in Generative Grammar. Cambridge, Mass.: MIT Press. Jacobs, Joachim (2008): „Wozu Konstruktionen?“ In: Linguistische Berichte 213, 3-44. Kay, Paul (2002): „An Informal Sketch of a Formal Architecture for Construction Grammar.“ In: Grammars 5, 1-19. Kay, Paul und Fillmore, Charles J. (1999): „Grammatical Constructions and Linguistic Generalizations: The ‚What’s X doing Y?’ Construction.“ In: Language 75:1, 1-33 Kiparsky, Paul (1987): Morphology and Grammatical Relations. Ms. Stanford University. Lakoff, George (1987): Women, Fire, and Dangerous Things. Chicago: University of Chicago Press. Langacker, Ronald W. (1987): Foundations of cognitive grammar. Vol. 1: Theoretical prerequisites. Stanford, CA: Stanford University Press.
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Konstruktionsgrammatik
Langacker, Ronald W. (1995): Viewing in Cognition and Grammar. In: Davis, Philip W. (Hg.): Alternative Linguistics: Descriptive and Theoretical Modes. Amsterdam /Philadelphia: John Benjamins, 153-212. Saussure, Ferdinand de ([1916]1967): Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. Übersetzt von Herman Lommel. 2.Aufl. Berlin: Walter de Gruyter. Stefanowitsch, Anatol (2008): „R-Relationen im Sprachvergleich: die Direkte-Rede-Konstruktion im Englischen und Deutschen.“ In: Stefanowitsch / Fischer (Hgg.), 247-261. Stefanowitsch, Anatol und Kerstin Fischer (Hgg.) (2008): Konstruktionsgrammatik II: Von der Konstruktion zur Grammatik. Tübingen: Stauffenburg. Tomasello, Michael (2003): Constructing a Language: A Usage-based Theory of Language Acquisition. Cambridge, MA: Harvard University Press. Tomasello, Michael (2006): „Acquiring linguistic constructions.“ In: Kuhn, Deanna und Robert Siegler (Hgg.): Handbook of Child Psychology. New York: Wiley.
Wichtige und aktuelle Informationen zu Konstruktionsgrammatik finden sich auch im Internet: Vor allem sind die deutsche Seite http://nats-www.informatik.uni-hamburg.de/view/CxG/WebHome
und die internationale englischsprachige Seite http://www.constructiongrammar.org zu nennen.
6. Grammatikalisierungstheorie Die Grammatikalisierungstheorie ist eine recht junge Forschungsrichtung, deren Geschichte vor ungefähr 30 Jahren begann. In dieser relativ kurzen Zeit hat sie sich sehr schnell entwickelt: Davon zeugen zahlreiche Sammelwerke und Monographien zu diesem Thema, mehrere Lehrbücher, Lexika und Nachschlagewerke. Lange bevor der Begriff ‚Grammatikalisierung‘ geprägt wurde gab es Ansätze zur Beschreibung derjenigen Prozesse, die heute in den Zuständigkeitsbereich der Grammatikalisierungsforschung fallen. Wissenschaftler wie Condillac, Horne Tooke, Schlegel und Humboldt arbeiteten bereits mit ähnlichen Konzepten. Bezeichnend hierfür ist das Zitat von August Wilhelm Schlegel aus dem Jahr 1818: Man entkleidet einige Wörter ihrer Bedeutungskraft und läßt ihnen nur einen Nennwert (valeur nominale), um ihnen einen allgemeinen Kurs zu geben und sie in den Elementarteil des Sprache einzuführen. Diese Wörter werden zu einer Art Papiergeld, das den Umlauf erleichtert. Zum Beispiel irgendein Demonstrativpronomen wird zum Artikel. Das Demonstrativpronomen lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, dessen reale Präsenz es anzeigt; als Artikel zeigt es nur noch an, daß das Wort, dem er vorangeht, ein Substantiv ist. Das Zahlwort ein wird unter Verlust seines numerischen Wertes zum unbestimmten Artikel. (Schlegel 1818: 27f., zitiert nach Arens 1969: 190)
Der Terminus ‚Grammatikalisierung‘ wurde von Antoine Meillet in seinem Aufsatz „L‘évolution des formes grammaticales“ (1912) eingeführt. Meillet sprach als erster explizit von „grammaticalisation“ im Sinne einer „attribution du charactère grammatical à un mot jadis autonome“ (Meillet 1912: 131). Den Beginn der modernen Grammatikalisierungstheorie markieren die „Thoughts on Grammaticalization“ von Lehmann ([1982] 1995), die zum ersten Mal die zentralen Punkte der Grammatikalisierungsforschung in umfassender Form zusammenstellten. Da-
174
Grammatikalisierungstheorie
rauf folgten zahlreiche einschlägige Veröffentlichungen zum Thema.1 Heute ist die Grammatikalisierungsforschung eine der zentralen Forschungsrichtungen in der historischen Linguistik und darüber hinaus eines der einflussreichsten Paradigmen der modernen funktionalen Sprachwissenschaft. Ihre rasante Entwicklung in den letzten Jahrzehnten brachte viele neue Erkenntnisse, Sichtweisen und Interpretationen mit sich, die in viele andere Bereiche der Sprachwissenschaft Eingang gefunden haben. Dazu gehören insbesondere Pragmatik, Diskursanalyse, Sprachvergleich, Varietätenforschung, Korpuslinguistik, Sprachwandel und Sprachgeschichte.
6.1.
Zur grammatikalisierungstheoretischen Sprachauffassung
Die Grammatikalisierungsforschung beschäftigt sich mit der Evolution grammatischer Elemente in der Sprache. Sie ist panchronisch.2 Einerseits befasst sie sich mit diachronen Fragestellungen: Stattgefundene und stattfindende Entwicklungsprozesse werden in ihrer Chronologie nachverfolgt, rekonstruiert und verglichen; Regularitäten werden ermittelt; Grammatikalisierungskanäle und Wandeltendenzen werden formuliert, Wandelmechanismen beschrieben, etc. Andererseits sind auch synchrone Fragestellungen relevant: Hier interessieren unter anderem die Verteilung und das Verhältnis von schwächer und stärker grammatikalisierten Zeichen innerhalb des Sprachsystems, die Distribution der zu variab_____________ 1
2
Zu nennen sind unter anderem: Hopper / Traugott [1993] 2003, Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991, Diewald 1997, Traugott / Heine 1991, Heine / Kuteva 2002, Bybee / Perkins / Pagliuca 1994, Giacalone Ramat / Hopper 1998, Wischer / Diewald 2002, Fischer / Norde / Perridon 2004, Seoane / López-Couso 2008. Der Begriff ‚panchronisch‘ bezeichnet seit de Saussure eine sprachwissenschaftliche Betrachtungsweise, die sich auf zeitübergreifende Regularitäten bezieht. Der Terminus ‚Synchronie‘ bezieht sich auf die Betrachtung der Sprache zu einem Zeitpunkt, ‚Diachronie‘ wird für die Betrachtung von Sprachentwicklungsprozessen verwendet, und ‚Panchronie‘ bezeichnet Betrachtung ahistorischer universaler Merkmale.
Zur grammatikalisierungstheoretischen Sprachauffassung
175
len Graden grammatikalisierten Zeichen und Konstruktionen in unterschiedlichen sprachlichen Varietäten, insbesondere in der gesprochenen Sprache, usw. Die Grammatikalisierungstheorie vereint synchronische und diachronische Betrachtungsweisen, indem sie sprachliche Regelmäßigkeiten und Tendenzen zu entdecken sucht, die sich für die beiden Betrachtungsperspektiven als gleichermaßen relevant erweisen. Die panchronische Betrachtungsweise folgt einer Sprachauffassung, der zufolge die Sprache als etwas sich permanent Veränderndes begriffen wird. Der Wandel bzw. das inhärente Potenzial zum Wandel wird als das fundamentale und ubiquitäre Merkmal der Sprache angesehen. Regularitäten in der diachronen Entwicklung einerseits und Gesetzmäßigkeiten in der synchronen Organisation und Strukturierung andererseits erweisen sich als zwei Seiten derselben Medaille. Das bedeutet auch, dass die Kenntnis dessen, wie sich die Sprache verändert, grundsätzlich nicht unterschieden wird von der Kenntnis dessen, wie die Sprache funktioniert. Diese Sprachauffassung steht grundsätzlich im Einklang mit der schon mehrfach erwähnten (vgl. Kapitel 1.1.3, 2.1, 3.1, 4.1, 5.1) allgemeineren Sprachauffassung, die prinzipiell von allen funktionalen Sprachtheorien geteilt wird. Danach ist Sprache ein Kommunikationsmittel – ein Werkzeug –, das von Kommunizierenden (zu unterschiedlichsten Zwecken) gebraucht wird und dessen Organisation und Funktionsweise im Wesentlichen hierauf beruhen. Allerdings ist hervorzuheben, dass die Grammatikalisierungstheorie auf die Sprache aus einem leicht anderen Blickwinkel schaut: Nicht das Wesen der Sprache als eines Kommunikationsmittels steht hier im Mittelpunkt, sondern als einer Tätigkeit, die auf das Erreichen variabler Ziele gerichtet ist. Der dynamische Aspekt der Sprache tritt hier also in den Vordergrund, während andere (statische) Aspekte eher eine untergeordnete Rolle spielen. Der sprachliche Gebrauch – das Gebrauchen der Sprache – wird hier bevorzugt behandelt, nicht das Ergebnis dieses Gebrauchs. Die Grammatikalisierungstheorie beschreibt universelle, zeitund sprachübergreifende Regelmäßigkeiten, die sich in der Ent-
176
Grammatikalisierungstheorie
stehung und Weiterentwicklung grammatischer Elemente aufdecken lassen. Diese werden unter anderem als Grammatikalisierungskanäle oder -pfade (s. Kapitel 6.2.3) formuliert. Grammatikalisierungskanäle repräsentieren universelle Entwicklungschronologien, in denen sich bestimmte Ausgangsformen und strukturen bevorzugt zu bestimmten grammatischen Elementen entwickeln, und dies in bestimmten chronologischen Abfolgen tun. Eine andere Form, universelle Regelmäßigkeiten der Grammatikalisierung zu notieren, ist, Grammatikalisierungsskalen mit sukzessiven Phasen bzw. Stufen (s. Kapitel 6.2.2) zu ermitteln. Normalerweise durchläuft ein sprachliches Zeichen auf seinem Wege zum grammatischen Element bestimmte Entwicklungsstufen, die sich in jedem Grammatikalisierungsprozess finden lassen. Darüber hinaus sind die einzelnen Phasen auf einer Grammatikalisierungsskala so geordnet, dass diese Skala von einem sprachlichen Zeichen nur in eine Richtung durchlaufen wird, wobei die umgekehrte Richtung sehr unwahrscheinlich ist. Grammatikalisierungsprozesse sind also gerichtet. In diesem Zusammenhang spricht man von dem Prinzip der Unidirektionalität (s. Kapitel 6.2.2). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die sprachliche Tätigkeit der Kommunizierenden zu bestimmten Ergebnissen führt, d.h. in bestimmten sprachlichen Formen und Bedeutungen mündet, und dies immer wieder tut. Dies führt zu der Annahme, dass die Endergebnisse von allgegenwärtigen Grammatikalisierungsprozessen, das sind sprachliche Ausdrucksmittel für grammatische Funktionen, eine besondere Stellung innerhalb des sprachlichen Systems einnehmen. Die wichtigsten Grundannahmen der Grammatikalisierungstheorie können wie folgt zusammengefasst werden: 1. Grammatikalisierung ist universell und allgegenwärtig. [D]ie kontinuierliche Entstehung immer neuer grammatischer Elemente und die Flexibilität grammatischer Systeme werden als Grundprinzipien der Sprache betrachtet. (Diewald 1997: vii)
Wie entsteht Grammatik?
177
2. Grammatikalisierung gehört zum Wesen der Sprache als eine aktive und gerichtete Tätigkeit und ist durch das Streben nach erfolgreichem Kommunizieren motiviert. The main motivation underlying grammaticalization is to communicate successfully. (Heine 2003: 578)
3. Die Grammatikalisierungstheorie vereint Diachronie und Synchronie: Sie ist panchronisch.
6.2.
Wie entsteht Grammatik?
Die Grammatikalisierungsforschung beschäftigt sich mit der allgemeinen Frage, wie Grammatik entsteht. Das Hauptpostulat der Theorie ist, dass grammatische Zeichen sich regelmäßig aus lexikalischen entwickeln. Diese Auffassung von Grammatikalisierung ist in der folgenden Definition zusammengefasst: Ein Grammatikalisierungsprozess ist ein Prozess, in dessen Verlauf eine linguistische Einheit grammatische Funktion(en) hinzugewinnt und zugleich lexikalische Funktion(en) abbaut. Anders formuliert: Grammatikalisierung bedeutet das „Grammatik-Werden“ von linguistischen Einheiten. (Diewald 2008b: 2)
Einige weitere Definitionen, die in der Literatur vorgeschlagen wurden, sind am Ende dieses Abschnittes angeführt. Grammatische Zeichen entwickeln sich kontinuierlich auf dem Wege der Grammatikalisierung: Sie werden grammatikalisiert. Sie entstehen allerdings nicht aus dem Nichts, sondern gehen meist auf lexikalische Zeichen zurück. Lexikalische Elemente und Konstruktionen sind also Vorgänger und Quellen von grammatischen Zeichen. Grammatische Elemente und lexikalische Einheiten bilden also zwei unterschiedliche Klassen sprachlicher Zeichen. Man spricht in diesem Sinne von Grammatik und Lexikon. Worin die wesentlichen Unterschiede zwischen Grammatik und Lexikon bestehen und wo die Grenze zwischen diesen beiden Klassen sprachlicher Zeichen zu ziehen ist, wird im nächsten Abschnitt erläutert.
178
Grammatikalisierungstheorie
Grammaticalization consists in the increase of the range of a morpheme advancing from a lexical to a grammatical or from a less grammatical to a more grammatical status. (Kuryłowicz 1965: 52) […] there is evidence to suggest that grammaticalization can be defined as a distinct process, leading to the rise and development of new grammatical forms. (Heine 2003: 584) The process whereby lexical material in highly constrained pragmatic and morphosyntactic contexts is assigned grammatical function, and once grammatical, is assigned increasingly grammatical, operator-like function. (Traugott 2003: 645) Grammaticalization is the process by which constructions with specific lexical items develop grammatical functions, leading tot he reinterpretation of the lexical items as possessing grammatical functions. (Croft 2000: 156)
6.2.1.
Grammatische versus lexikalische Zeichen
Die Frage nach der allgemeinen Bestimmung grammatischer Elemente hat in der sprachwissenschaftlichen Forschung schon immer – explizit oder implizit – reges Interesse genossen.3 Dass es einen unübersehbaren Unterschied zwischen Lexikon und Grammatik gibt, kann z.B. an einem Satz wie dem folgenden veranschaulicht werden: Anna hat gestern die Prüfung bestanden, weil sie fleißig gelernt hatte. _____________ 3
Die intensive Beschäftigung mit der Opposition lexikalisch vs. grammatisch schlägt sich in einer facettenreichen Vielfalt an Etiketten nieder, die zugleich verschiedene Perspektiven auf dieses Phänomen widerspiegeln. Geläufig sind Bezeichnungen wie Inhaltswort vs. Funktionswort, autosemantisch vs. synsemantisch, Lexem vs. Grammem. Daneben finden sich Benennungen wie basic vs. relational concepts (Sapir 1921: 99f.), lexikalische vs. grammatische Formative (Anderson 1985: 150), full vs. form words (Matthews 1993: 110), content vs. function words (Sasse 1993: 652), lexical items vs. grams (Bybee / Perkins / Pagliuca 1994: 5), content words vs. grammatical morphemes (Morrow 1986: 424) u.v.a. Abhängig von der jeweiligen theoretischen und methodologischen Ausrichtung werden charakteristische Merkmale von lexikalischen vs. grammatischen Elementen bezüglich deren formaler Realisierung, semantischen Gehalts, strukturellen Aufbaus, dominanter Funktion etc. in gegebenen Begriffspaaren erfasst.
Wie entsteht Grammatik?
179
In diesem Satz sind die Ausdrücke gestern, Prüfung, bestanden, fleißig und gelernt lexikalische Elemente, wohingegen hat, die, weil und hatte grammatische Einheiten darstellen. Der grundlegende inhaltliche Unterschied zwischen den beiden Zeichenklassen lässt sich wie folgt formulieren. Lexikalische Zeichen dienen der Benennung von außersprachlichen Entitäten, sie haben die Fähigkeit zu denotieren. So nennt gestern einen bestimmten Tag; das Wort Prüfung bezeichnet eine bestimmte außersprachliche Situation; fleißig beschreibt eine bestimmte Art und Weise, auf die etwas gemacht wird; bestanden bezieht sich auf einen bestimmten außersprachlich gegebenen Vorgang. Grammatischen Zeichen dagegen fehlt die Fähigkeit, etwas Außersprachliches zu denotieren. Sie dienen dazu, andere Sprachzeichen in Beziehung zueinander oder zur Sprachsituation zu bringen: Die Konjunktion weil bringt eine (kausale) Relation zwischen den beiden Teilsätzen zum Ausdruck; das Hilfsverb hat zusammen mit dem Partizip II bestanden bildet das Perfekt und stellt eine temporale Beziehung zwischen der aktuellen Sprechzeit und dem dargestellten Sachverhalt dar; der bestimmte Artikel die weist darauf hin, dass das nachstehende Nomen Prüfung eine in der Sprechsituation bekannte Entität darstellt. Grammatische Zeichen haben also immer relationale Bedeutungen. Dieser Unterschied in der Bedeutung hängt mit einem weiteren inhaltlichen Unterschied zwischen lexikalischen und grammatischen Zeichen zusammen. Lexikalische Einheiten tendieren dazu, konkrete Bedeutung zu haben, wohingegen grammatische Zeichen dem Ausdruck eher abstrakter, allgemeiner Inhalte dienen. Grammatische Zeichen beziehen sich meist auf generelle Konzepte wie Temporalität, Modalität, Anzahl etc. und modifizieren in dieser Hinsicht konkretere lexikalische Bedeutungen. Grammatische Zeichen sind also semantisch abstrakter und allgemeiner als lexikalische. So beziehen sich lexikalische Ausdrücke wie gestern, Tag oder nächstes Jahr auf einen konkreten außersprachlichen Inhalt. Grammatische Morpheme wie z.B. das Präteritumsuffix -te oder das periphrastische Perfekt haben / sein + Partizip II vermitteln dagegen abstrakte Inhalte, die sich auf die Anzeige einer bestimmten temporalen Beziehung zwischen der
180
Grammatikalisierungstheorie
Sprechzeit und dem jeweiligen dargestellten Sachverhalt beschränken. Weitere distinktive Eigenschaften von grammatischen vs. lexikalischen Zeichen sind formeller Natur. So besteht die Tendenz, dass lexikalische Zeichen meist als freie Morpheme, d.h. als selbständige Wörter, auftreten, während grammatische Inhalte durch gebundene Morpheme – Affixe – realisiert werden. Gebundene Morpheme sind nur in Verbindung mit weiteren Morphemen wortfähig. Prüfung ist also ein freies lexikalisches Morphem, das Suffix -t zusammen mit dem Präfix ge- in gelernt sind gebundene grammatische Morpheme. Grammatische Zeichen bilden normalerweise geschlossene Klassen – Paradigmen, die aus einer begrenzten (und relativ kleinen) Anzahl von Mitgliedern bestehen. Ein Beispiel für ein grammatisches Paradigma sind die deutschen Hilfsverben haben, sein und werden, die der Tempusbildung dienen. Lexikalische Elemente sind dagegen Mitglieder von offenen Klassen, deren Zahl weder begrenzt noch genau bestimmbar ist. Es handelt sich dabei um lockere Wortfelder. So gehört das lexikalische Verb haben in seiner Bedeutung ‚besitzen‘ zusammen mit Verben wie besitzen, halten, verfügen und weiteren Ausdrücken wie in Besitz sein, im Besitz haben usw. zu einer offenen Klasse. Als grammatisches Hilfsverb ist haben hingegen ein Teil des geschlossenen Tempusparadigmas zusammen mit sein und werden. Eine wichtige Eigenschaft grammatischer Zeichen ist ihr obligatorisches Auftreten in bestimmten sprachlichen Kontexten. Die Verwendung des Artikels (vor dem Nomen) ist im Deutschen obligatorisch: Die Auslassung des Artikels oder die Verwendung einer falschen Form führt zu ungrammatischen Strukturen wie z.B. in Ich habe *einen / *den / *die / *Ø schönes Kleid gesehen statt Ich habe ein schönes Kleid gesehen oder Ich habe das schöne Kleid (von Anna) gesehen. Lexikalische Zeichen dagegen sind nicht obligatorisch in diesem Sinne: Ihre Verwendung in konkreten Kontexten und Situationen ist variabel. So kann der eben genannte Satz auf vielerlei Weise formuliert werden, abhängig von der Intention des Sprechers; z.B.: Ich habe ein schönes Kleid entdeckt / Ich habe ein umwerfendes Kleidungsstück gesehen usw.
181
Wie entsteht Grammatik?
Die beschriebenen Merkmale von grammatischen vs. lexikalischen Zeichen können wie folgt zusammengefasst werden: LEXIKALISCHE ZEICHEN
BEDEUTUNG FORM
denotativ konkret freie Morpheme
GRUPPIERUNG VERWENDBARKEIT
offene Klassen frei
GRAMMATISCHE ZEICHEN
relational abstrakt, allgemein gebundene Morpheme geschlossene Klassen obligatorisch
Abb. 1: Prototypische Merkmale grammatischer und lexikalischer Zeichen
Mittlerweile gilt als weitgehend akzeptiert, dass grammatische und lexikalische Zeichen ein Kontinuum sprachlicher Zeichen bilden, wobei die Kriterien bzw. die Eigenschaften, die ihre Abgrenzung voneinander rechtfertigen, jeweils den prototypischen Fall bzw. den jeweiligen Extrempol dieses Kontinuums beschreiben. Diese Erkenntnis beruht im Wesentlichen auf empirischen Beobachtungen (vieler Sprachen). Zum einen können sowohl lexikalische als auch grammatische Zeichen jeweils frei oder gebunden auftreten: So stellt lern- aus dem Beispielsatz oben ein gebundenes lexikalisches Morphem dar, und weil ist ein freies grammatisches Morphem. Zum anderen gibt es relativ große Klassen von grammatischen Zeichen, die immer wieder neue Mitglieder hinzugewinnen und sich also als relativ offen erweisen. Das gilt bspw. für Konjunktionen und Präpositionen des Deutschen. Das Merkmal der freien vs. obligatorischen Verwendung lässt sich ebenfalls nicht immer in seiner strengen Formulierung anwenden. Das Vorkommen von vielen grammatischen Zeichen ist nicht vollkommen durch die sprachinternen Regeln gesteuert, sondern hängt auch von der kommunikativen Intention des Sprechers ab. Das deutsche werden-Passiv z.B. weist keine obligatorische Verwendung auf, die mit der oben angesprochenen Verwendung des Artikels vergleichbar wäre. Seine Verwendung ist in keinem Kontext des Deutschen zwingend erforderlich, sondern hängt im Prinzip von der kommunikativen Absicht des Sprechers ab.
182
Grammatikalisierungstheorie
Angesichts solcher Beobachtungen wird keine scharfe Grenze zwischen Grammatik und Lexikon gezogen: Man spricht nicht von absoluten Merkmalen, sondern von mehr oder weniger starken Tendenzen; ebenso betrachtet man den Unterschied zwischen Grammatik und Lexikon nicht im Sinne einer absoluten, sondern einer graduellen Differenz. An dieser Stelle kann dennoch festgehalten werden, dass es einen prinzipiellen Unterschied zwischen den sprachlichen Bereichen Grammatik und Lexikon gibt, auch wenn beide Bereiche oft ineinander übergehen. Viele Zeichen befinden sich in den Übergangsbereichen, wobei sie bestimmte Eigenschaften stärker oder schwächer repräsentieren. In vielen Fällen ist die Positionierung eines Zeichens in der Übergangszone zwischen Grammatik und Lexikon das Ergebnis eines Grammatikalisierungsprozesses: denn Grammatikalisierung ist ein gradueller und kontinuierlicher Prozess, in dessen Verlauf ein Zeichen sich aus dem Bereich des Lexikons in den Bereich der Grammatik bewegt. Ein Modell, das den graduellen Unterschied zwischen grammatischen und lexikalischen Zeichen in diesem Sinne fasst, bieten die Grammatikalisierungsparameter von Lehmann ([1982] 1995, 1985). Sie wurden zur Messung unterschiedlicher Grammatiklaisierungsgrade entwickelt und dienen dazu, den genauen Platz eines Elementes in der Übergangszone zwischen Grammatik und Lexikon zu bestimmen. Als übergeordnetes Kriterium für die Ermittlung des Grammatikalisierungsgrades eines Zeichens gilt die Autonomie eines Zeichens, die mit fortschreitender Grammatikalisierung (diachron) bzw. mit stärkerem grammatischem Status (synchron) abnimmt. Grammaticalization of a linguistic sign is a process in which it loses in autonomy by becoming more subject to constrains of the linguistic system. (Lehmann 2004: 155)
Ein nichtgrammatikalisiertes Zeichen ist autonom. Mit seiner fortschreitenden Grammatikalisierung büßt es jedoch mehr und mehr an Autonomie ein. Das übergeordnete Kriterium der Autonomie wird zunächst nach seinen Grundaspekten in dreifacher Hinsicht – nach Kohäsion, Variabilität und Gewicht des Zeichens – und darüber hinaus durch seine Projektion auf die syntagmati-
183
Wie entsteht Grammatik?
sche oder die paradigmatische Relationenachse weiter differenziert. Auf diese Weise werden sechs Grammatikalisierungsparameter formuliert: RELATIONENACHSE
PARADIGMATISCH
SYNTAGMATISCH
AUTONOMIEASPEKT KOHÄSION
Paradigmatizität
Fügungsenge
VARIABILITÄT
Wählbarkeit
Stellungsfreiheit
GEWICHT
Integrität
Skopus
Abb. 2. Die Grammatikalisierungsparameter (nach Lehmann 1985: 306)
Die Paradigmatizität (die paradigmatische Kohäsion), d.h. der Grad der Eingliederung eines Zeichens in ein Paradigma, nimmt durch Grammatikalisierung zu und ist bei prototypischen grammatischen Zeichen am stärksten. Dieser Parameter entspricht im Wesentlichen der oben eingeführten Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Klassen. Die Wählbarkeit (die paradigmatische Variabilität), d.h. der Grad der freien, variablen Verwendbarkeit des Zeichens, nimmt durch Grammatikalisierung ab. Dieser Parameter entspricht dem oben beschriebenen Unterschied zwischen der freien und der obligatorischen Verwendung von sprachlichen Elementen. Die Integrität (das paradigmatische Gewicht), d.h. die semantische und phonologische Größe des Zeichens, nimmt durch Grammatikalisierung ab. Grammatische Zeichen sind inhaltlich abstrakter, sie weisen weniger semantische Merkmale in ihrer Bedeutung auf. Sie sind auch phonologisch ‚schwächer‘: Sie haben weniger phonologische Substanz. Die Fügungsenge (die syntagmatische Kohäsion), d.h. der Grad der Verschmelzung des Zeichens mit anderen Zeichen im Syntagma, nimmt durch Grammatikalisierung zu. Dieser Parameter entspricht dem oben genannten Unterschied zwischen freien und gebundenen Morphemen. Die Stellungsfreiheit (die syntagmatische Variabilität), d.h. der Grad der Verschiebbarkeit eines Zeichens innerhalb des Syntagmas, nimmt durch Grammatikalisierung ab. Stärker grammatikalisierte Zeichen sind
184
Grammatikalisierungstheorie
meist auf eine bestimmte Position im Satz festgelegt, während weniger grammatikalisierte (und lexikalische) Zeichen in verschiedenen Positionen auftreten können. Der Skopus (das syntagmatische Gewicht), d.h. die Größe der Strukturen, an denen ein Zeichen teilhat, nimmt durch Grammatikalisierung ab. Ein lexikalisches Vollverb z.B. verfügt dank seiner Valenzfähigkeit über Ergänzungen verschiedener Größen (Nominalphrasen, Präpositionalphrasen): Es nimmt teil an der Bildung größerer Strukturen. Ein Hilfsverb wie das deutsche Perfektauxiliar haben bildet eine Konstituente mit dem Vollverb des Satzes (genauer: mit seiner Partizip II-Form): Das ist die einzige Struktur, an der dieses Hilfsverb teilhat. Wichtig ist, dass die Grammatikalisierungsparameter keine absoluten Werte benennen, sondern für die Messung unterschiedlicher Grammatikalisierungsgrade gedacht sind. Das Modell ist also so zu lesen, dass ein höherer Grad an Ausprägung eines Parameters mit einem höheren Grammatikalisierungsgrad eines Zeichens assoziiert ist. Eine dynamische Darstellung des Modells ergibt eine allgemeine Grammatikalisierungsskala, die in Abb. 3 vorgestellt wird. Hier werden die graduellen Veränderungen im Hinblick auf den jeweiligen Parameter als entsprechende diachrone Prozesse konzipiert. Die sechs Grammatikalisierungsparameter korrelieren miteinander; d.h. ein Zeichen, das sich im Prozess der Grammatikalisierung befindet, weist Veränderungen in Hinsicht auf alle oder zumindest einige von diesen Parametern gleichzeitig auf. Dass einige Parameter in einem Grammatikalisierungsprozess unverändert bleiben können, hängt meist mit den Besonderheiten des jeweiligen Sprachsystems zusammen.4
_____________ 4
Im Deutschen unterscheiden sich die (lexikalischen) Vollverben nicht von (grammatischen, grammatikalisierten) Hilfsverben hinsichtlich der Stellungsfreiheit: Verben sind im Deutschen an bestimmte Satzpositionen gebunden und nehmen immer diejenige Position im Satz ein, die dem jeweiligen Satztypus (Kernsatz, Stirnsatz, Spannsatz) entspricht.
185
Wie entsteht Grammatik? GRAMMATIZITÄT
schwach
PARAMETER
→
stark
PROZESS
Paradigmatizität
Zeichen gehört zu losem Wortfeld
-Paradigmatisierung→
Zeichen gehört zu hochintegriertem Paradigma
Wählbarkeit
Zeichen ist nach kommunikativen Absichten frei wählbar
-Obligatorisierung→
Wahl des Zeichens ist beschränkt bzw. obligatorisch
Integrität
Bündel semantischer Merkmale; evtl. mehrsilbig
-Erosion→
grammatische Merkmale; oligo- oder monosegmental
Fügungsenge
Zeichen ist unabhängig juxtaponiert
-Koaleszenz→
Zeichen ist Affix oder bloß phonologische Eigenschaft des Trägers
Stellungsfreiheit
Zeichen ist frei umstellbar
-Fixierung→
Zeichen besetzt feste Position
Skopus
Zeichen bezieht sich auf Syntagma beliebiger Komplexität
-Kondensierung→
Zeichen modifiziert Stamm
Abb. 3. Allgemeine Grammatikalisierungsskala (Lehmann 1995: 1255)
Die oben abgebildete allgemeine Grammatikalisierungsskala gibt einerseits einen diachronen Überblick: Auf dem Wege der Grammatikalisierung verändert ein Zeichen kontinuierlich und graduell seine Eigenschaften. Andererseits kann die Skala auch synchron gelesen werden: Die jeweils links stehenden Merkmale beschreiben prototypische lexikalische Zeichen, wohingegen die jeweils rechts stehenden Ausprägungen der Parameter die prototypischen grammatischen Eigenschaften benennen. Dazwischen befindet sich eine ‚Grauzone‘, in der Zeichen angesiedelt sind, die diese Eigenschaften stärker oder schwächer aufweisen und deswegen
186
Grammatikalisierungstheorie
keine eindeutige und absolute Zuordnung zu einer der Zeichenklassen zulassen. Das Kontinuum besteht also sowohl in der Synchronie als auch in der Diachronie. Im nächsten Kapitel werden diachrone Kontinua – Grammatikalisierungsskalen – betrachtet, die den graduellen und kontinuierlichen Prozess der Grammatikalisierung in der Zeit rekonstruieren. 6.2.2.
Grammatikalisierungsskalen
Im Folgenden werden einige Grammatikalisierungsskalen behandelt, die als Spezifizierungen der allgemeinen Skala (s. Abb. 3) gelesen werden können. Grammatikalisierung ist ein gradueller und kontinuierlicher Prozess. Der Übergang sprachlicher Elemente aus dem Bereich des Lexikons in den Bereich der Grammatik ereignet sich fließend, sodass keine klar definierten (Wende-)Punkte und Phasen auf diesem Weg der historischen Entwicklung ausgemacht werden können. Üblicherweise wird Grammatikalisierung jedoch mithilfe von Skalen dargestellt, die aus einigen – analytisch distinkten – Phasen bestehen. Die bekannteste Grammatikalisierungsskala stammt von Givón (1979). Ebenso bekannt ist sein Satz: „Today’s morphology is yesterday’s syntax” (Givón 1971: 413). Diese Skala besteht aus fünf Stufen, die durch bestimmte diachrone (Veränderungs-)Prozesse miteinander verbunden sind: EBENE
Diskurs>
PHASE
Syntaktisierung
PRO-
Syntax>
Morphologie>
Morphologisierung
Morphophonologie>
Demorphologisierung
Null Verlust
Phonologisierung
Grammatikalisierung
ZESS
Abb. 4: Grammatikalisierungsskala 1 (Givón 1979: 209, vgl. auch Lehmann [1982] 1995: 13, Diewald 1997: 18)
Ein Grammatiklaisierungsprozess verläuft von links nach rechts, d.h. von Diskursstrukturen bis hin zu völligem Schwund. Es ist
Wie entsteht Grammatik?
187
allerdings nicht notwendigerweise der Fall, dass ein Grammatikalisierungsprozess alle fünf Stufen durchläuft: Oft endet er mit der Herausbildung von grammatischen Morphemen bzw. von festen syntaktischen Mustern, die dann in der Sprache über lange Zeitperioden hinweg erhalten bleiben. In der Phase der Syntaktisierung entstehen syntaktische Strukturen aus Diskursstrukturen. Relativ lockere syntagmatische Ordnungen von frei verwendeten lexikalischen Zeichen werden in dieser Phase verfestigt und regularisiert; so werden sie allmählich zu geregelten syntaktischen Konstruktionen. In der Phase der Morphologisierung verliert das betreffende Element seinen Status als freies Morphem. Diese Phase beginnt normalerweise mit dem Prozess der Klitisierung, in dessen Folge das Zeichen (phonologisch) abgeschwächt wird und sich einem anderen Element aus dem Syntagma anschließt (z.B. im < in dem). Darauf folgt die Herausbildung eines Affixes aus dem Klitikon: Ein gebundenes Morphem entsteht, das – im Gegensatz zu einem Klitikon – nicht mehr von seinem ‚Nachbar‘ abgelöst werden kann. Die Phase der Demorphologisierung beschreibt den Übergang eines segmental eigenständigen Affixes zu einem phonologischen Merkmal des Wortes. Im Deutschen wird häufig vom Umlaut Gebrauch gemacht, um grammatische Varianten zu markieren, wie z.B. in Apfel – Äpfel, Gast – Gäste, Fuß – Füße. Der Umlaut ist ein phonologisches Merkmal (des Vokals) und geht auf die phonologischen Assimilationsprozesse zwischen früheren Affixen und dem Stammvokal hervor. Die Affixe wurden zum Schwa-Laut abgeschwächt, das phonologische Merkmal des Stammvokals blieb allerdings erhalten. Heute fungiert dieses Merkmal als Ausdruck einer grammatischen Funktion (hier: Pluralmarkierung). In der letzten Phase ereignet sich der Verlust der grammatischen Form. In vielen Fällen geht auch die damit verbundene grammatische Funktion verloren. Oft aber behält die Null-Form ihre grammatische Bedeutung: Das ist der Fall bei sog. Nullallomorphen (z.B. die Pluralbildung bei einigen deutschen Nomen wie der Lehrer – die Lehrer, das Mädchen – die Mädchen). Neben dieser Skala wurden auch andere Grammatikalisierungsskalen in der Literatur vorgeschlagen. Diese können grob in
188
Grammatikalisierungstheorie
zwei Gruppen unterteilt werden: Einige beschäftigen sich vor allem mit formalen Merkmalen der Elemente. Andere befassen sich mit den Veränderungen auf der Inhaltsseite der Zeichen. Die in Abb. 5 präsentierte Skala entspricht in ihren Stufen wesentlich der Grammatikalisierungsskala 1. Sie benennt diejenigen sprachlichen Einheiten, die in der jeweiligen Stufe (Diskurs bis Null) als relevante formale Bezugsgrößen gelten: freie Kombination>
Syntagma>
Klitikon>
Affix>
phonologisches Merkmal >
Null
Abb. 5: Grammatikalisierungsskala 2 (Diewald 1997: 18)
Eine andere Skala verbindet teilweise funktionale und formale Aspekte der Grammatikalisierung, indem ihre erste Hälfte (Inhaltswort > grammatisches Wort) die semantische Veränderung notiert, während ihre zweite Hälfte (Wort > Klitikon > Affix) die Veränderungen auf der Ausdrucksseite des Zeichens erfasst: Inhaltswort >
grammatisches Wort >
Klitikon >
Flexionsaffix
Abb. 6: Grammatikalisierungsskala 3 (Hopper / Traugott [1993] 2003: 7)
Spezifischer als die bisher vorgestellten Skalen geht der folgende Vorschlag vor (s. Abb. 7): Hier ist die Entstehung von grammatischen Formen, nämlich von Kasusmorphemen, aus lexikalischen Einheiten, nämlich Nomen, über die Stufen der Herausbildung von Adpositionen5 beschrieben. Man denke dabei z.B. an die deutschen sekundären Präpositionen mithilfe oder anstatt, die auf die Nomen Hilfe und Stätte zurückgehen. relationales Nomen >
sekundäre Adposition >
primäre Adposition >
agglutinatives Kasusaffix >
fusionales Kasusaffix
Abb. 7: Grammatikalisierungsskala 4 (Lehmann 1985: 304)
_____________ 5
Adposition ist ein Oberbegriff für Präpositionen (in, an), Postpositionen (entlang, entgegen) und Zirkumpositionen (um … herum); er ist nicht spezifiziert hinsichtlich der Position des Elementes.
189
Wie entsteht Grammatik?
Die Skalen in Abb. 8 und 9 notieren die Entstehung und Entwicklung von grammatischen Formen im Bereich der Verbmorphologie. Die Grammatikalisierung des deutschen Perfektauxiliar haben aus dem Vollverb haben ‚besitzen‘ ist ein Beispiel für die Entwicklungsstufe ‚Vollverb‘ > ‚periphrastische Form/ Auxiliar‘. Vollverb >
Prädikativkonstruktion>
periphrastische Form >
Agglutination
Abb. 8: Grammatikalisierungsskala 5 (Ramat 1987: 8f.) lexikalisches Verb>
Auxiliar >
Affix
Abb. 9: Grammatikalisierungsskala 6 (Givón 1979: 220f.)
Die oben abgebildeten Grammatikalisierungsskalen 2 bis 6 lassen sich einer ersten – formorientierten – Gruppe von Modellen zuordnen. Sie beleuchten vor allem Veränderungen in der Ausdrucksform. Die Unterschiede zwischen diesen Modellen sind nicht erheblich und liegen im Wesentlichen in ihren Differenzierungsgraden: Die Grammatikalisierungsskala 2 ist sehr allgemein, sie ist mit den Skalen in Abb. 3 und 4 kompatibel und kann potenziell zur Beschreibung jedes Grammatikalisierungsprozesses herangezogen werden. Die anderen Skalen in dieser Gruppe sind spezifischer: Sie beschreiben entweder nur einige Stufen aus der Grammatikalisierungsskala 1 (z.B. Grammatikalisierungsskala 3) oder beziehen sich auf spezifische morphologische Aspekte (Grammatikalisierungsskala 4 beschreibt Veränderungen im Bereich der nominalen Morphologie, und die Grammatikalisierungsskalen 5 und 6 behandeln Veränderungen im Bereich der verbalen Morphologie). Als Vertreter einer zweiten – inhaltsorientierten – Gruppe werden hier exemplarisch zwei Grammatikalisierungsskalen vorgestellt. Die Grammatikalisierungsskala 7 wird auch ‚Skala der metaphorischen Abstraktion‘ genannt. Wie bereits erwähnt, sind grammatische Inhalte tendenziell allgemeiner und abstrakter als lexikalische Bedeutungen. Die Skala gibt diese graduelle inhaltliche
190
Grammatikalisierungstheorie
Differenz wieder, indem sie unterschiedliche Konzepte nach dem Grad ihrer Abstraktion anordnet: PERSON >
OBJECT >
ACTIVITY >
SPACE >
TIME >
QUALITY
Abb. 10: Grammatikalisierungsskala 7 (Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991: 48)
Die jeweils links stehenden Bereiche kommen als Spenderbereiche für rechts stehende Konzepte in Frage, da jede Kategorie der Skala abstrakter ist als die links von ihr angeordneter Punkte und konkreter als die rechts liegenden. Dies spiegelt die Tatsache wider, daß Grammatikalisierung das Ergebnis kognitiver Problemlösung ist, wobei besser zugängliche Konzepte zur Darstellung von weniger zugänglichen, abstrakten Konzepten verwendet werden. (Diewald 1997: 48)
Die Rolle der Metapher als einer kognitiven Strategie, die in der Grammatikalisierung eine wichtige Rolle spielt, wird noch näher in Kapitel 6.2.4 erläutert. Ein anderes Modell, das sukzessive semantische Veränderungen in der Grammatikalisierung in Form einer Skala zusammenfasst, ist die unten präsentierte Grammatikalisierungsskala 8 von Traugott (1982). Entsprechend dieser Konzeption wird die ursprüngliche Bedeutung von lexikalischen Einheiten, die relativ konkret sind, auf dem Wege der Grammatikalisierung nicht nur abstrakter, d.h. lexikalische Elemente verlieren nicht nur an semantischer Substanz (s. Kapitel 6.2.1),6 es wird auch angenommen, dass in der Grammatikalisierung darüber hinaus neue Bedeutungskomponenten hinzugewonnen werden. Diese Bedeutungskomponenten sind funktionaler Natur und werden von grammatikalisierenden Elementen in einer bestimmten Reihenfolge angeeignet: propositional >
(textual >)
expressive meaning
Abb. 11: Grammatikalisierungsskala 8 (Traugott 1982: 256)
_____________ 6
Dieser Prozess wird in der Grammatikalisierungsforschung auch ‚semantische Ausbleichung‘, ‚Entsemantisierung‘ oder semantic bleaching genannt (vgl. Diewald 1997: 51, Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991: 108ff., Heine 2003).
Wie entsteht Grammatik?
191
Die Skala ist so zu lesen, dass ein sprachliches Element mit propositioneller (d.i. referentieller) Bedeutung im Laufe der Grammatikalisierung textuelle Bedeutungskomponenten und schließlich expressive Komponenten entwickelt. Die Dreiteilung ‚propositional‘ – ‚textual‘ – ‚expressive‘ ist an die drei Metafunktionen aus der systemisch-funktionalen Grammatik angelehnt (s. Kapitel 3.2.5). Propositionale Bedeutung entspricht in etwa der ideationellen sprachlichen Metafunktion und wird als Bezug auf die außersprachliche Welt gedeutet: Ein Zeichen mit propositionaler Bedeutung benennt Entitäten der außersprachlichen Welt. Textuelle Bedeutung korrespondiert mir der textuellen Metafunktion: Diese Bedeutung dient dazu, textuelle Zusammenhänge und Verknüpfungen zum Ausdruck zu bringen. Die expressive Bedeutung entspricht der interpersonellen Metafunktion: Diese Bedeutungskomponenten beziehen sich auf den interaktiven Akt der Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer und erfassen ihre interpersonellen und sozialen Beziehungen. Die Skala besagt also, dass textuelle sowie expressive Bedeutungskomponenten chronologisch später erscheinen und ihren Ursprung in der propositionalen Bedeutung haben. Vor einiger Zeit wurde diese Skala von Traugott (1989, 1995, 2003) überarbeitet und als drei Tendenzen des semantischen Wandels in der Grammatikalisierung umformuliert. Der wichtigste Unterschied zu der ursprünglichen Version besteht darin, dass jede Tendenz eine eigenständige Entwicklungslinie darstellt und nicht unbedingt eine Vor- oder Nachstufe für weitere Tendenzen bildet: Tendency I: Meanings based in the external described situation > meanings based in the internal (evaluative/perceptual/cognitive) described situation Tendency II: Meanings based in the external or internal described situation > meanings based in the textual and metalinguistic situation Tendency III: Meanings tend to become increasingly based in the speaker’s subjective belief state/ attitude toward the proposition (Traugott 1995: 32)
192
Grammatikalisierungstheorie
Die dritte Tendenz, auch Subjektivierung genannt, wird als die wichtigste Tendenz in der Grammatikalisierung angesehen. Die oben vorgestellten Grammatikalisierungsskalen veranschaulichen, dass ein Grammatikalisierungsprozess aus verschiedenen Gesichtspunkten modelliert werden kann. Festzuhalten ist, dass die formalen Veränderungen in Zeichen, die sich in Laufe der Grammatikalisierung ereignen, aufs Engste mit inhaltlichen Entwicklungen verbunden sind und nicht isoliert voneinander auftreten. Demensprechend weisen die vorgestellten Skalen Korrelationen zueinander auf, die in der allgemeinen Grammatikalisierungsskala (Abb. 3) zusammenfassend dargestellt wurden. Eine wesentliche Eigenschaft, die alle präsentierten Skalen teilen, besteht in der gerichteten Anordnung von Stufen oder Phasen. In diesem Zusammenhang spricht man von dem Prinzip der Unidirektionalität der Grammatikalisierung. Dieses Prinzip besagt, dass grammatische Elemente sich kontinuierlich aus lexikalischen Einheiten der Sprache entwickeln und dass das Umgekehrte nicht gilt oder nur äußerst selten und nur unter bestimmten Bedingungen der Fall sein kann. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass neue lexikalische Zeichen aus bestehenden grammatischen Elementen entstehen. Grammaticalization, the change by which lexical categories become functional categories, is overwhelmingly irreversible. Prototypical functional categories never become prototypical lexical categories, and less radical changes against the general directionality of grammaticalization are extremely rare. (Haspelmath 1999: 1043) Grammaticalization is unidirectional [means] that a process leading from the end point to the starting point of grammaticalization does not exist. (Lehmann 2004: 178) […] unidirectionality of grammaticalization demands an explanation. One important aspect of an explanation is that grammaticalization involves loss of information. Pieces of information can go nowhere, but they cannot come from nowhere. Grammaticalization involves meaning generalization, thus loss of semantic components. Meaning generalization just happens by itself, no fostering conditions being needed. Meaning specialization (gain of features) only happens under certain conditions, for instance if a feature is in the syntactic, semantic or
Wie entsteht Grammatik?
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pragmatic context and can be transferred onto a linguistic item from there. (Lehmann 2004: 181)
6.2.3.
Grammatikalisierungskanäle
Neben Skalen, die den gerichteten Lauf von Grammatiklaisierungsprozessen modellieren, werden in der Grammatikalisierungstheorie auch sog. Grammatikalisierungskanäle ermittelt. Diese Kanäle oder Pfade (Diewald 1997: 111ff., vgl. auch grammaticalization path Bybee / Dahl 1989: 96, grammaticalization channel Heine / Claudi / Hünnemeyer 1991: 220ff.) werden ebenfalls nach dem Prinzip einer Skala erstellt. In der Regel sind sie aber spezifischer als die Skalen, die im letzten Abschnitt vorgestellt wurden. Ein Grammatikalisierungskanal spiegelt typische Entwicklungspfade für bestimmte grammatische Kategorien wider (während Grammatikalisierungsskalen Entwicklungstendenzen formulieren, die kategorienübergreifend gelten). So gibt es universelle Tendenzen, die dazu führen, daß sich bestimmte sprachliche Ausgangsformen „besonders gerne“ zu bestimmten grammatischen Kategorien entwickeln. […] Mit diesem Begriff [Grammatikalisierungskanal; ES & TM] ist gemeint, daß für eine grammatische Kategorie nur einige Spenderlexeme oder Spenderstrukturen in Frage kommen. (Diewald 1997: 111-112)
Die Erstellung typischer Grammatikalisierungskanäle für bestimmte grammatische Kategorien ist Aufgabe diachroner empirischer Studien. Mittlerweile sind zahlreiche Grammatikalisierungspfade für viele grammatische Kategorien bekannt, die übereinzelsprachliche Gültigkeit haben, d.h. in vielen – auch nicht verwandten – Sprachen der Welt nachgewiesen sind. Eine umfassende Liste von typischen Spenderelementen und strukturen und aus ihnen entstehenden grammatischen Elementen ist z.B. im „World Lexikon of Grammaticalization“ (Heine / Kuteva 2002) gegeben. Einige typische Grammatikalisierungskanäle sind: a. der bestimmte Artikel entwickelt sich typischerweise aus Demonstrativpronomina;
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Grammatikalisierungstheorie
b. Adpositionen entstehen oft aus Adverbien und relationalen Nomen; c. grammatische Marker für Futur haben ihren Ursprung meist in aspektuellen Verben, in Bewegungswerben, in modalen Ausdrücken oder in temporalen Adverbien (dann, bald, morgen); d. präteritale Tempusmarker (PAST-Formen) entstehen häufig aus lexikalischen Verben mit der Bedeutung ‚vergehen, erzielen, gelangen‘ oder aus perfektiven aspektuellen Ausdrücken; e. frequente Vorgänger von grammatischen Passiv-Markern sind lexikalische Verben mit der Bedeutung ‚leiden, erdulden, essen, fallen‘ und reflexive Formen; f. Relativpronomen entstehen aus Demonstrativpronomen; g. Pluralmarker gehen auf Numerale zurück oder auf Ausdrücke, die ‚alle, alles, Leute, Kinder‘ bedeuten. In Grammatikalisierungskanälen werden nicht nur die Ausgangsund Zielgrößen eines (kategorien)typischen Grammatikalisierungsprozesses notiert, sondern darüber hinaus auch die Entwicklungsschritte innerhalb dieser Kanäle. Es handelt sich bei der Entwicklung von Futurmarkern aus modalen Ausdrücken z.B. um folgende (Zwischen-)Schritte: Wunsch/ Verpflichtung >
Absicht >
Futur >
Wahrscheinlichkeit
Abb. 12: Grammatikalisierungskanal ‚modaler Ausdruck > Futurmarker‘ (Bybee/ Perkins/ Pagliuca 1994: 254-266)
Diese Skala besagt, dass auf dem Wege der Grammatikalisierung von einem modalen verbalen Ausdruck (wie z.B. dem englischen Verb will) zu einem Futurmarker eine Zwischenstufe passiert wird, in der dieser Ausdruck eine intentionale Bedeutungskomponente aufweist (Absicht), aus der sich dann die futurische Bedeutung entwickelt. Die futurische Bedeutung ihrerseits wird dann weiter als epistemische Wahrscheinlichkeit reinterpretiert. Ein anderes Beispiel für einen Grammatikalisierungskanal bietet die Entwicklung der deutschen würde + Infinitiv-Konstruktion zu einer periphrastischen Konjunktiv II-Form:
195
Wie entsteht Grammatik? Ingressivum >
Marker der Folgerelation >
Marker der konditionalen Folgerelation >
Konjunktiv IIGrammem
Abb. 13: Grammatikalisierungskanal ‚Ingressivum > Konjunktiv II-Marker‘ (Smirnova 2007: 35)
Als Spenderelement fungiert hier das lexikalische Verb werden mit seiner aspektuellen ingressiven Semantik. Es steht also eine aspektuelle Form am Anfang des Entwicklungsprozesses. Über die Zwischenstufe der Bezeichnung einer konditionalen Folgerelation erlangt die Konstruktion würde + Infinitiv ihren grammatischen Status als analytische Alternative zum synthetischen Konjunktiv II im heutigen Deutsch (vgl. Smirnova 2006, 2007). Es sei hier noch angemerkt, dass Grammatikalisierungskanäle meist nicht als eine einzige Entwicklungslinie wiedergegeben werden, sondern oft verzweigte Strukturen darstellen. Das bedeutet einerseits, dass mehrere Quellen für eine und dieselbe Kategorie existieren können. Andererseits ist damit gemeint, dass eine und dieselbe Spenderkonstruktion bzw. -einheit sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln kann, sodass am Ende des Grammatikalisierungspfades mehrere grammatische Kategorien stehen. Diesese Phänomen wird auch Polygrammatikalisierung genannt. Quelle 1>
Grammatikalisierungskanal 1>
Quelle 2>
Grammatikalisierungskanal 2>
Quelle 3>
Grammatikalisierungskanal 3>
grammatische Kategorie
Abb. 14: Mehrere Quellen > eine Zielkategorie (Diewald 1997: 113)
Als Beispiel hierfür gelten unterschiedliche übereinzelsprachlich belegte Quellen für Futurgrammeme, die weiter oben erwähnt wurden. Ein Beispiel für Polygrammatikalisierung liefert das deutsche Verb werden, das (i) als Passivauxiliar, (ii) als Futurauxiliar und (iii) in seiner würde-Form als Konjunktiv II-Auxiliar grammatikalisiert wurde:
196
Grammatikalisierungstheorie
Quelle>
Grammatikalisierungskanal 1>
grammatische Kategorie 1
Grammatikalisierungskanal 2>
grammatische Kategorie 2
Grammatikalisierungskanal 3>
grammatische Kategorie 3
Abb. 15: Eine Quelle > mehrere Zielkategorien (Diewald 1997: 113)
Zahlreiche empirische Studien auf dem Feld der Grammatikalisierung haben zur Formulierung vieler Grammatikalisierungskanäle geführt, die sich als universelle Wandeltendenzen erwiesen haben. Diese Erkenntnisse weisen unter anderem darauf hin, dass es universelle Tendenzen und Regularitäten des semantischen Wandels gibt, dass also die Bedeutungsveränderung im Laufe der Grammatikalisierung bestimmte Gesetzmäßigkeiten aufweist. Der nächste Abschnitt bietet eine kurze Einführung in diese Diskussion. 6.2.4.
Mechanismen des Wandels
In diesem Abschnitt werden zwei grundlegende Mechanismen betrachtet, die der Grammatikalisierung zugrundeliegen und in erster Linie als kognitive Prozesse (im kommunikativen Austausch zwischen Sprecher und Hörer) verstanden werden. Es geht hier um die Metaphorisierung und Metonymisierung. Metapher und Metonymie sind anerkannte Mittel bzw. Mechanismen des Sprachwandels und des Sprachgebrauchs im Allgemeinen (vgl. z.B. Diewald 1997, Traugott / Dasher 2002, Fritz 2005). Diese beiden Phänomene gehören geradezu zum Wesen der Sprache. Dass sie eine erhebliche Rolle bei Grammatikalisierungsprozessen spielen, die nicht zuletzt Prozesse des semantischen Wandels sind, ist daher wenig überraschend. In Kapitel 6.2.2 (s. Abb. 10) wurde die ‚Skala der metaphorischen Abstraktion‘ abgebildet, die einen gerichteten Entwicklungspfad und somit ein bestimmtes (gerichtetes) Verhältnis zwischen unterschiedlichen Konzepten formuliert. Die aufgeführten Konzepte stehen in einer metaphorischen Beziehung zueinander, d.h. die jeweils rechts stehenden Konzepte entstehen auf dem
Wie entsteht Grammatik?
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Wege der Metaphorisierung aus den jeweils links stehenden Konzepten. Die Letzteren sind semantisch konkreter, und sie dienen oft als Vehikel dazu, abstraktere und allgemeinere Konzepte zu erfassen. Metapher wird innerhalb der Grammatikalisierungstheorie als ein kognitiver Problemlösungsmechanismus aufgefasst. Grammatische Bedeutungen sind, wie schon erwähnt, typischerweise abstrakter und allgemeiner als lexikalische. Eine Metapher ist nichts anderes als die Erfassung eines abstrakteren (in vielen Fällen noch nicht vorliegenden) – grammatischen – Inhalts mittels eines konkreteren, bereits existierenden – lexikalischen oder weniger grammatischen – Konzeptes. Metaphorical processes are processes of inference across conceptual boundaries, and are typically referred to in terms of “mappings”, or “associative leaps”, from one domain to another. The mapping is not random, but motivated by analogy and iconic relationships. (Hopper / Traugott [1993] 2003: 78) Not every reinterpretation leads to the rise of grammatical meanings. Rather, it is only when forms for concrete (e.g., lexical) meanings are used to also express more abstract (grammatical) meanings that grammatical forms emerge; for example, when a form used for a visible object (e.g., the body part ‚back‘) is used also to refer to a nonvisible item (the spatial notion ‚behind‘), or a form used for an action (‚go to‘) is used also to refer to a grammatical notion (future tense). On account of its specific directionality, context-induced reinterpretation has been described in terms of metaphorical transfer, leading, for example, from the domain of concrete objects to that of space, from space to time, from (“real-world”) space to discourse space, and so on. (Heine / Kuteva 2002: 3)
Ein oft diskutiertes Beispiel für metaphorische Übertragung in der Grammatikalisierung ist die Entwicklung der englischen Futurform be going to (wie in I am going to be married). Die Bedeutung des Vollverbs go, die in der Bezeichnung einer gerichteten Bewegung im Raum vom Sprecher weg besteht, wird im Laufe der Grammatikalisierung reinterpretiert als eine bestimmte temporale Relation (d.i. ‚die Zeit vom Sprecher weg in die Zukunft‘). Diese semantische Entwicklung ist in der ‚Skala der metaphorischen Abstraktion‘ durch den Schritt SPACE > TIME repräsentiert. Die
198
Grammatikalisierungstheorie
Versprachlichung zeitlicher Zusammenhänge mittels räumlicher Konzepte ist allgemein verbreitet: Man denke im Deuschen an Ausdrücke wie die Zeit läuft, wir haben noch ein Leben vor uns, wir blicken auf glückliche Jahre zurück, Zeitraum, u.v.a. Die metaphorisch motivierte Entwicklungstendenz LOKAL > TEMPORAL in der Grammatikalisierung ist also ein besonderer Fall dieser – sowohl synchron als auch diachron – häufig belegten Übertragungsrichtung. Metaphorisierung ist ein allgemeiner Mechanismus des semantischen Wandels, der eine grundlegende Rolle bei Grammatikalisierungsprozessen spielt. Dank der wesentlichen Eigenschaft der Metapher, abstraktere Inhalte mithilfe von konkreteren Konzepten erfassen zu können, eignet sie sich besonders gut für die Entwicklung grammatischer Bedeutungen, die bekanntlich abstrakter und allgemeiner sind als lexikalische Inhalte. Weitere Fälle von Metaphorisierung im Zusammenhang mit Grammatikalisierung sind z.B. die Entwicklung von lokalen Präpositionen und temporalen Konjunktionen aus Substantiven, die Körperteile bezeichnen; die Entwicklung der sogenannten epistemischen Gebrauchsweisen von Modalverben aus ihren nichtepistemischen Varianten und die Entwicklung von nichtagentivischen Verwendungsweisen aus agentivischen (sprechaktbezogenen) Verben. Letztere Entwicklung, die z.B. das deutsche Verb drohen durchmachte, kann durch das folgende Satzpaar illustriert werden: Mein Freund droht mich zu verlassen. Die Mauer droht zu fallen. Es handelt sich hier um einen Fall der Personifizierung: Menschliche Fähigkeiten bzw. Eigenschaften werden auf unbelebte Referenten übertragen. Bezogen auf die ‚Skala der metaphorischen Abstraktion‘ repräsentiert diese Entwicklung die erste Stufe: PERSON > OBJECT. Neben Metaphorisierung spielt auch Metonymisierung eine wichtige Rolle bei Grammatikalisierungsprozessen. Während die Metapher zwei assoziierte, in einer bestimmten Weise ähnliche
Wie entsteht Grammatik?
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konzeptuelle Bereiche in Verbindung zueinander setzt und so den konkreteren Bereich nutzt, um den abstrakteren zu konzeptualisieren, verfährt das Verfahren der Metonymisierung anders. Beim metonymischen Verfahren sind ebenfalls zwei konzeptuelle Bereiche bzw. Konzepte betroffen; das Verhältnis zwischen ihnen ist aber ganz anderer Natur: Sie sind in irgendeiner Hinsicht benachbart, sei es materiell, räumlich, zeitlich u.ä. Während Metaphern also auf der paradigmatischen Relationenachse operieren, wirken Metonymien auf der syntagmatischen Relationenachse. Das Verständnis von Metonymie in der Grammatikalisierungsforschung zeichnet sich dadurch aus, dass hier nicht nur Beziehungen zwischen Zeichen bzw. Bedeutungen, sondern auch Beziehungen zwischen sprachlichen Zeichen und den außersprachlichen Kontexten mit einbezogen werden, in denen diese Zeichen gebraucht werden. So werden mit diesem erweiterten Begriff der ‚konzeptuellen Metonymie‘ diejenigen kommunikativ und sprachwandeltheoretisch relevanten Phänomene erfasst, die seit Grice ([1975] 1989) unter den Namen ‚konversationelle‘ und ‚konventionelle Implikaturen‘ geläufig sind. Focus of attention on the pragmatic meanings that arise in language use opened the way for thinking about „conceptual“, language-internal metonymy arising out of the syntagmatic contexts of language use, association, contiguity, and indexicality. Metonymy in its extended conceptual sense came to be seen as a powerful alternative to metaphor, in fact as the key to conceptualizing semantic change in context. (Traugott/ Dasher 2002: 80)
Metonymie wird also dahingehend verstanden, dass (hörerspezifische) Implikaturen, die in bestimmten Verwendungskontexten von bestimmten sprachlichen Strukturen (mit ursprünglich lexikalischen oder weniger grammatischen Bedeutungen) entstehen, ein syntagmatisches Verhältnis der Kontiguität bzw. Nachbarschaft mit diesen Strukturen eingehen. Auf diese Weise übernehmen sprachliche Formen diejenigen Bedeutungskomponenten, die ursprünglich ‚bloß‘ kontextabhängige Interpretationen der eigentlichen Bedeutung dieser Formen waren, und nehmen diese Interpretationen allmählich in ihre inhärente Semantik auf. Diese weite Auffassung von metonymischen Prozessen fand direkten Eingang in das Modell des semantischen Wandels, das als ‚Konventionali-
200
Grammatikalisierungstheorie
sierung / Semantisierung konversationeller Implikaturen‘ oder Invited Inferencing Theory of Semantic Change bezeichnet wird (Traugott / Dasher 2002). Das Modell rekonstruiert semantischen Wandel als eine graduelle Konventionalisierung bzw. Semantisierung von kontextabhängigen Interpretationen (die als konversationelle Implikaturen in bestimmten Verwendungssituationen entstehen): Konventionalisierung der konversationellen Implikatur (Entstehung) konversationeller Implikatur(en)
Phase I: Kodierte Bedeutung
>
Phase II: Neue kodierte Bedeutung (Semantisierung)
Abb. 16: Invited Inferencing Theory of Semantic Change (Traugott/ Dasher 2002)
Das Modell besagt im Wesentlichen, dass konversationelle Implikaturen, die bei der Verwendung bestimmter sprachlicher Strukturen in spezifischen kommunikativen Situationen entstehen, allmählich zu festen Bedeutungsteilen dieser sprachlichen Strukturen werden. Auf diese Weise – so die Ansicht der Autoren – verläuft beinahe jeder Prozess semantischen Wandels im Allgemeinen und die Grammatikalisierung im Besonderen. So erscheint die Entwicklung des englischen be going-Futurs, die oben als ein Beispiel für die Wirkung metaphorischer Prozesse angeführt wurde, in einem anderen Licht, wenn sie aus der Perspektive dieses – metonymisch orientierten – Modells beschrieben wird. Am Anfang der Grammatikalisierung steht nicht jede beliebige Verwendung des Verbs go, sondern seine Verwendung in bestimmten Syntagmen, in denen die Verlaufsform des Verbs in Verbindung mit einer finalen Adverbialphrase vorliegt. Darüber hinaus muss ein situativer Kontext vorliegen, in dem dieses Syntagma als Ausdruck einer zweckgerichteten Bewegung (die außerdem auch zukunftsorientiert ist, da sie noch nicht realisiert ist) verstanden werden kann. Es ist also für die ansetzende Gramma-
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Wie entsteht Grammatik?
tikalisierung relevant, dass dieses Syntagma mit einer bestimmten – finalen, nicht lokalen – Bedeutung verwendet wird, d.h. mit be going in order to do sth. paraphrasiert werden kann, wie z.B. in I am going to London to marry Bill. Erst dann kann eine metonymische Übertragung von kontextabhängigen Interpretationen auf die Form, die in diesen Kontexten verwendet wird, stattfinden. Der an diesem Wandel beteiligte metonymische Prozess ist nun folgender: Aus der Finalität / Zweckhaftigkeit, wird im Zusammenhang solcher Kontexte geschlossen, daß eine Handlung (marry) in der Zukunft stattfindet. Diese Annahme ist eine Implikatur, die nicht direkt ausgesprochen ist, die aber aus dem sprachlichen oder situativen Kontext zu entnehmen ist. Wenn sich nun diese naheliegende Implikatur „verselbstständigt“, oder besser, wenn diese Implikatur, die ja zunächst nur im Kontext mitenthalten war, vom Kontext auf die verwendete sprachliche Form übertragen wird, dann wird sie zum Bedeutungsanteil der Form, also des be-going-to. Es handelt sich um die Semantisierung konversationeller Implikaturen. (Diewald 1997: 61)
Diese Entwicklung kann auch mithilfe des oben vorgestellten Modells dargestellt werden: Konventionalisierung der konversationellen Implikatur: Handlung noch nicht realisiert = Handlung liegt in der Zukunft konversationelle Implikatur: Zweckgerichtete Bewegung > Handlung noch nicht realisiert
Phase I: Kodierte Bedeutung: Bewegung
>
Phase II: Neue kodierte Bedeutung: Futur
Abb. 17: Metonymisierungsprozess bei der Entwicklung von be going to
202
Grammatikalisierungstheorie
Aus dieser Darstellung wird ersichtlich, dass ein vollzogener Grammatikalisierungsprozess, der hier als Übergang von Phase I zu Phase II gesehen werden kann, wie ein metaphorischer Sprung zwischen zwei Domänen – Raum und Zeit – aussieht. Wenn man allerdings die Zwischenschritte auf diesem Weg berücksichtigt, die oben abgetragen sind, wird klar, dass dieser metaphorische Prozess in seinen kleinen Zwischenschritten eigentlich metonymisch motiviert ist bzw. sich auf dem Wege der Metonymisierung vollzieht. Wir können an dieser Stelle festhalten, dass beide Mechanismen – Metapher und Metonymie – in einem Grammatikalisierungsprozess entscheidende Rollen spielen. Metaphorische Sprünge zwischen Domänen ereignen sich durch kleinere metonymisch motivierte Zwischenschritte. Andererseits scheinen metonymische Übertragungsprozesse auf einen metaphorischen motivierten Zielpunkt gerichtet zu sein. Es ist anzunehmen, dass das Zusammenspiel dieser beiden Prozesse entscheidend für eine erfolgreiche Grammatikalisierung ist. Die beiden Mechanismen ergänzen einander.
6.3.
Beispielanalyse: die Konjunktion weil
Die diachrone Entwicklung der deutschen kausalen Konjunktion weil ist ein Fall von Grammatikalisierung. In diesem Abschnitt wird die Entwicklungsgeschichte dieser Konjunktion in Bezug auf die oben eingeführten theoretischen Punkte skizziert. Der lexikalische Vorgänger der heutigen Konjunktion weil ist das althochdeutsche7 Nomen (h)wīla ‚unbestimmter Zeitabschnitt, Weile‘, das unter anderem zum neuhochdeutschen Substantiv Weile wurde. Genauer gesagt, ist die heutige Konjunktion aus dem Syntagma dia wīla (unz) ‚die Zeit (bis), solange (bis)‘ hervorgegangen. So heißt es noch bei Notker dem Deutschen in einem Text aus dem Jahre 1025: _____________ 7
Die althochdeutsche Sprachstufe erstreckt sich über den Zeitraum von ca. 750 bis 1050.
Beispielanalyse: die Konjunktion weil
203
Táz-tir uuírdet táz zegât óuh únde uuéhselot síh tîa uuîla iz uuérêt. In das heutige Deutsch kann das mit einem Satz wie dem folgenden übertragen werden: ‚Das, was wird, das vergeht auch und verändert sich, solange es andauert‘. Tîa uuîla kann also am besten mit ‚solange‘ paraphrasiert werden. Die kausale Bedeutung tritt zum ersten Mal im 14. Jahrhundert auf und kommt seit dem 15. Jahrhundert überwiegend vor. Die temporale Bedeutung bleibt allerdings noch lange Zeit erhalten und existiert parallel zu der kausalen Bedeutung von weil. So heißt es noch bei Luther: weyl die paten das kind noch hallten ynn der tauffe, sol yhm der priester die hauben auffsetzen. Hier wird weyl bereits ohne Artikel verwendet und hat den grammatischen Status einer Konjunktion, bedeutet aber immer noch ‚solange‘ oder ‚während‘, ist also temporal zu verstehen. Ebenfalls bei Luther (in seiner Bibelübersetzung aus dem Jahr 1545) finden sich Beispiele für die kausale Verwendung von weil: Vnd [Pharao] sprach zu Joseph / Weil dir Gott solches alles hat kund gethan / ist keiner so verstendig vnd weise als du. Eine temporale Interpretation ist hier unmöglich bzw. sehr unwahrscheinlich. Sie ist dadurch blockiert, dass das Ereignis, das mit weil eingeführt ist, sich temporal früher ereignet hat als das Ereignis, das im Hauptsatz beschrieben wird. Gleichzeitigkeit bzw. temporale Überlappung im Sinne von ‚solange‘ oder ‚während‘ ist also ausgeschlossen. Im Folgenden fassen wir die wichtigsten Veränderungen zusammen, die sich auf dem Wege der Grammatikalisierung von der heutigen Konjunktion weil ereigneten und ordnen sie in das in den letzten Abschnitten vorgestellte theoretische Gerüst ein:
204
Grammatikalisierungstheorie
(i) Weil ist semantisch abstrakter und allgemeiner im Vergleich zum Nomen Weile:8 Während Weile auf eine konkret vorstellbare zeitliche Entität (in der außersprachlichen Welt) referiert, hat weil eine rein relationale Bedeutung. Die Konjunktion bringt eine kausale Beziehung zwischen zwei Teilsätzen zum Ausdruck. Weil unterlag also der semantischen Erosion (s. Abb. 3). (ii) Weil hat weniger phonologische Substanz als ihre ursprüngliche Form dia wīla (unz): Das ist das Ergebnis der phonologischen Erosion (s. Abb. 3). (iii) Weil gehört heute zur Klasse der subordinierenden Konjunktionen, die relativ geschlossen ist. Das Nomen Weile dagegen gehört zu einem losen Wortfeld zusammen mit vielen anderen Ausdrücken für zeitliche Entitäten und Verhältnisse (z.B. Zeit, Moment, Augenblick, Zeitraum, Dauer usw.). Die hier erfolgte Paradigmatisierung ist also offensichtlich (s. Abb. 3). (iv) Die Folgen der Fixierung (s. Abb. 3) sind leicht zu verzeichnen: Als subordinierende Konjunktion nimmt weil eine feste topologische Position im Satz ein – sie bildet die linke Satzklammer. Die Verwendung des Nomens Weile ist hingegen an vielen Positionen im Satz möglich. (v) Die Syntaktisierung (s. Abb. 4) der relativ freien Struktur dia wīla (unz), die im Diskurs entstanden ist, führte zur Herausbildung geregelter syntaktischer Strukturen mit weil (initiale Position im Satz, Verbletztstellung nach weil). (vi) Semantisch ist einerseits der metaphorische Schritt TIME > QUIALITY (s. Abb. 9) zu verzeichnen: Die kausale Bedeutung der Konjunktion weil lässt sich als metaphorische Ableitung der ursprünglich temporalen Bedeutung der Spenderkonstruktion beschreiben: temporale Überlappung > abstrakte (kausale) Nachbarschaft. (vii) Andererseits lässt sich die semantische Entwicklung von weil auch als ein metonymischer Prozess auffassen (s. Abb. 16): Das Auftreten vom Syntagma dia wīla (unz) und dann von der tempora_____________ 8
Als lexikalische bzw. weniger grammatikalisierte Vergleichsgröße und Spendereinheit wird hier einfachheitshalber das Nomen Weile betrachtet, da dieses dem ahd. Substantiv (h)wīla sowohl semantisch als auch formal und funktional sehr nahe steht.
Beispielanalyse: die Konjunktion weil
205
len Konjunktion weil in bestimmten Kontexten, die eine kausale Interpretation (via konversationelle Implikatur) ermöglichten, führte allmählich dazu, dass diese Interpretation zu dem zentralen Bestandteil der Bedeutung von weil geworden ist. Temporal überlappende bzw. benachbarte Situationen wie in Dieweil Mose seine Hände empohielt, siegete Israel (Luther) lassen gleichzeitig eine kausale Verbindung zwischen diesen Situationen zu. Es ist also vorstellbar, dass die entscheidende Entwicklung bzw. Entwicklungsvorbereitung genau in solchen Kontexten stattfand. (viii) Wenn man funktionale Veränderungen auf dem Wege der Grammatikalisierung von weil betrachtet, so zeichnet sich ein Wandel von der referentiellen hin zur textuellen Funktion ab (s. Abb. 11). Während das Nomen Weile auf eine außersprachliche Entität Bezug nimmt, d.h. eine referentielle Bedeutung hat, operiert weil lediglich auf der Ebene der Textprodiktion, indem es zwei versprachlichte Textsegmente miteinander in einer bestimmten – kausalen – Beziehung verbindet. (ix) ein Grammatikalisierungskanal (s. Kapitel 6.2.3) lässt sich für diese Entwicklung ebenfalls formulieren: Relationales Nomen im Syntagma mit der Bedeutung temporaler Überlappung > Konjunktion mit der Bedeutung temporaler Überlappung > Konjunktion mit kausaler Bedeutung. Entscheidende Veränderungen sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene lassen sich also feststellen, die den typischen Tendenzen der Grammatikalisierung entsprechen. Andere Konjunktionen des Deutschen weisen ähnliche Entwicklungsgeschichten auf. Während beispielweise entstand ursprünglich aus dem Partizip I des Verbs währen ‚dauern‘ in Syntagmen wie währendes Krieges. Über die Herausbildung der Bedeutung der temporalen Überlappung kam diese Konjunktion dazu, um Adversativität bzw. Kontrast auszudrücken. Eine interessante Beobachtung kann hier noch hinzugefügt werden: Es zeichnet sich eine aktuelle Weiterentwicklung der Konjunktion weil in der heutigen deutschen Sprache ab. Immer geläufiger werden heute Strukturen mit weil im Vor-Vorfeld und mit Hauptsatzwortstellung, wie z.B.:
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Grammatikalisierungstheorie
Der war sauer, weil er ja nur das ganz Normale getan hatte. Hier hat weil keine subordinierende Funktion, es bringt auch keine kausale Beziehung zwischen den beiden Teilsätzen zum Ausdruck. Weil fungiert in solchen Kontexten als ein sog. Diskursmarker. Diskursmarker sind sprachliche Elemente, die fast ausschließlich in der gesprochenen Sprache vorkommen, eine periphere syntaktische Position im Satz haben und eine Reihe von diskursorganisierenden Funktionen erfüllen: Gliederung von Redebeiträgen, Verknüpfung von Äußerungen, Ausdruck von epistemischen Einstellungen von Sprecher und Hörer und von ihren Beziehungen zueinander, usw. Diskursmarker bilden also eine besondere Klasse von sprachlichen Zeichen (hierzu gehören auch obwohl, jedenfalls, also, oder, ich mein(e) u.a.). Kontrovers ist in der heutigen Grammatikalisierungsforschung allerdings die Frage, ob es sich bei solchen Entwicklungen, die sich in unterschiedlichen Sprachen und mit auffallend ähnlichen Regelmäßigkeiten beobachten lassen, um einen Grammatikalisierungsprozess handelt oder nicht (vgl. Diewald 2006, Gohl / Günthner 1999, Günthner 1999). Ohne auf diese Diskussion in Detail einzugehen, kann hier vermerkt werden, dass sehr viele Eigenschaften dieser Wandelprozesse dafür sprechen, hier einen Grammatiklaisierungsprozess anzunehmen. Andererseits gehören solche Elemente in den Bereich der Pragmatik, was viele Forscher dazu veranlasst, ihren Entstehungs- und Entwicklungsprozess als ‚Pragmatikalisierung‘ zu bezeichnen. Kurz: während die Regelmäßigkeiten in der diachronen Entwicklung auf den Prozess der Grammatikalisierung hindeuten, verhindert die genaue theoretische Bestimmung der Zielkategorie (grammatisch vs. pragmatisch) eine eindeutige Einordnung und theoretische Beschreibung dieser Prozesse.
6.4.
Schlussbemerkungen
Zum Schluss sei noch kurz auf einige neuere Tendenzen in der Grammatikalisierungsforschung eingegangen, die sich in den letz-
Schlussbemerkungen
207
ten Jahren herauskristallisiert haben. Eine neuere Richtung repräsentiert die Erforschung der Sprachkontaktphänomene in der Grammatikalisierung. Es wird danach gefragt, wie sich Sprachkontakt und ungewöhnliche Sprachübertragung auf (potenzielle) Grammatikalisierungsprozesse auswirken (können) und ob der ‚normale‘ Gang der Grammatikalisierung dadurch beeinflusst wird (vgl. Heine / Kuteva 2005). Hierzu gehören unter anderem Studien zur Grammatikalisierung in Pidgin- und Kreolsprachen. Eine andere Tendenz in der Grammatikalisierungsforschung besteht darin, dass kontextuelle und situative Faktoren des Wandels mehr Beachtung finden. Es wird hierbei betont, dass nicht nur das isolierte Element von Grammatikalisierung betroffen ist, sondern dass auch der jeweilige sprachliche und außersprachliche Kontext in verschiedenen Phasen der Grammatikalisierung von besonderer Relevanz ist (vgl. Bisang 1998, Diewald 2002, Heine 2002). In letzter Zeit finden neuere konstruktionsgrammatische Ansätze (s. Kapitel 5) zunehmend Beachtung in der Grammatikalisierungsforschung. Der Begriff ‚Konstruktion‘ findet einerseits als die sich verändernde Größe und andererseits als der für die Veränderungen notwendige Rahmen Eingang in die grammatikalisierungstheoretische Modelle (vgl. Bergs / Diewald 2008, Traugott 2003, 2008). Mit zunehmendem Interesse an der Grammatikalisierungsforschung nimmt auch die Kritik zu. Zum großen Teil richten sich die kritischen Stimmen gegen das Prinzip der Unidirektionalität. Es werden Beispiele für diachrone Prozesse vorgeführt, die eine zur Grammatikalisierung gegenläufige Entwicklungsrichtung belegen sollen. Dieser Kritik hält die Grammatikalisierungstheorie entgegen, dass die angeführten Prozesse weder die Regelmäßigkeiten noch die Frequenz aufweisen, die für die Vergleichbarkeit mit der Grammatikalisiering erforderlich wären. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den Status des Phänomens Grammatikalisierung an sich. Es wird eingewendet, dass die Grammatikalisierung sich eher als ein Epiphänomen beschreiben lässt, da sie sich aus vielen verschiedenen Einzelphänomenen zusammensetzt, die ihrerseits auch unabhängig von Grammatikali-
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Grammatikalisierungstheorie
sierung in Sprachwandelprozessen nachgewiesen sind (wie z.B. Analogie, Reanalyse, Erosion usw.). Grammatikalisierungsforscher entgegnen, dass die Grammatikalisierung trotz ihrer Komplexität und zusammengesetzten Struktur einen einheitlichen Prozess darstellt, der mehr ist als die Summe seiner Teilprozesse. Darüber hinaus erheben sich kritische Stimmen gegen den Status der Grammatikalisierungsforschung als einer Theorie. Eine bloße Beschreibung von diachronen Entwicklungsprozessen samt der Feststellung ihrer Gemeinsamkeiten und Regelmäßigkeiten liefere noch keine Theorie, so die Kritik. Dem ist entgegenzusetzen, dass die Grammatikalisierungsforschung seit ihrem Aufkommen neben Beschreibungen auch plausible (sprachinterne) Erklärungen für viele Wandelprozesse geboten, mehrere Modelle des Wandels entwickelt und somit eine funktional orientierte Sprachtheorie geliefert hat.
6.5.
Aufgaben
1. Analysieren Sie die verschiedenen Varianten des Verbs werden im heutigen Deutsch, die in folgenden Sätzen vorliegen. (1) Ich werde schnell müde, wenn ich zu wenig geschlafen habe. (2) Viele Reden werden in diesen Tagen gehalten. (3) Was nicht ist, das kann noch werden. a. Untersuchen Sie, wie sich die werden-Varianten hinsichtlich der Grammatikalisierungsparameter (s. Kapitel 6.2.1) verhalten. b. Beschreiben sie die Unterschiede unter der Verwendung der allgemeinen Grammatikalisierungsskala (s. Abb. 3). 2. Im Deutschen gibt es zwei Klassen von Präpositionen: primäre (in, an, auf, von, unter usw.) und sekundäre (kraft, dank, gemäß, wegen, während, (an)statt usw.). Letztere sind weniger grammatikalisiert.
Literatur
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a. Belegen Sie diese Feststellung anhand der Grammatikalisierungsparameter. b. Versuchen Sie, die Spenderstrukturen bzw. -einheiten für die oben genannten sekundären Präpositionen zu rekonstruieren. 3. Beschreiben Sie anhand der unten angegebenen Beispiele die Grammatikalisierung der heutigen deutschen Präposition (an)statt. Verwenden Sie die in Kapitel 6.3 vorgestellte Analyse als Muster. (1) disiu stat ist eislich. [eislich = ‚schrecklich‘] (2) so ich etwas vergebe jemande, das vergebe ich umb ewren willen an Christus stat. (3) der dichtet an statt des flaischs Christi ain flaisch / das aigentlich das flaisch Christi nicht ist. (4) Manchmal kriegt er statt Reis auch ein paar Nudeln.
6.6.
Literatur
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7. Wie funktional sind funktionale Theorien? Funktionale Sprachtheorien ähneln sich in der Grundannahme, dass man Sprache bzw. sprachliche Struktur(en) nur über die Funktion(en), die die Sprache erfüllt, beschreiben kann. Die aktuelle Sprachverwendung, d.h. die Interaktion zwischen Sprecher und Hörer, steht somit (wenigstens grundsätzlich) im Zentrum des Interesses. Nach Langacker (1999: 17) setzt sich eine funktionale Sprachtheorie typischerweise mit folgenden Grundthemen auseinander: Funktion; Interaktion (engl.: discourse); aktuelles Sprechverhalten; Sprachwandel; Typologie und Universalien; Spracherwerb; neurologische Grundlage; praktische Anwendung
Es dürfte klar geworden sein, dass die fünf vorgestellten Modelle bereits im Hinblick auf diese typisch funktionalen Aspekte ausgesprochen divers sind. Im Folgenden wollen wir deshalb explizit der Frage nachgehen, inwiefern die vorgestellten Theorien dem Prädikat ‚funktional’ gerecht werden. Die Frage nach den neurologischen Grundlagen lassen wir allerdings außer Betracht, weil sie in den meisten besprochenen Modellen eine eher periphere Rolle spielt.
7.1.
Funktion
Die behandelten Modelle unterscheiden sich darin, wie die sprachlichen Funktionen, die als grundlegend wahrgenommen werden, (implizit oder explizit) gewichtet werden. Dass die soziale (interaktive) Funktion von Sprache in allen besprochenen Modellen eine vorrangige Rolle einnimmt, sollte nicht verwundern.
214
Wie funktional sind funktionale Theorien?
Die Auffassung von Sprache als Kommunikationsmittel liegt allen funktionalen Sprachmodellen zugrunde (vgl. Kapitel 1.1.3). The main function of a natural language is the establishment of communication between NLUs [Natural Language Users]. (Dik 1997: 5) It is generally accepted that the conversational use of language is primary. (Langacker 2008: 459)
Langacker fügt aber die symbolische Funktion von Sprache hinzu, d.h. die Fähigkeit, Konzeptualisierungen durch Wörter (und Gesten) zu symbolisieren, und hebt diese als grundlegend hervor. Die soziale Funktion, so wichtig diese auch sein möge, könne die Sprache erst aufgrund ihres symbolischen Charakters entfalten. [...] cognitive linguistics stands out by emphasizing the semiological function of language. It fully acknowledges the grounding of language in social interaction, but insists that even its interactive function is critically dependent on conceptualization. (Langacker 2008: 8)
Die Betonung der kognitiven Funktionen von Sprache (neben der sozialen Funktion) findet sich ebenfalls in der Konstruktionsgrammatik wie auch in der Grammatikalisierungstheorie. So wird in der Grammatikalisierungsforschung einerseits angenommen, dass sich die Grammatik in der Interaktion, d.h. in der aktuellen Sprachverwendung, gestaltet bzw. verändert („Grammar is always being created and recreated by language use“ Bybee 2007: 981) und somit von sozialen Faktoren abhängig ist. Andererseits zeigt etwa die Existenz universaler Grammatikalisierungskanäle den Zusammenhang zwischen Grammatik und der menschlichen Kognition: Die Tatsache, dass sich Grammatikalisierungsprozesse übereinzelsprachlich entlang der gleichen Entwicklungspfade vollziehen (z.B. von Volition über Intention zu Futur) deutet auf eine universale Tendenz hin, bestimmte (abstraktere) Konzeptualisierungen ähnlich zu symbolisieren. Dies lässt sich nicht auf die interaktive Funktion von Sprache zurückführen, sondern kann nur in Rekurs auf kognitive Mechanismen erklärt werden. Außerdem heben neuere Arbeiten zur Grammatikalisierung (etwa Bybee 2003) hervor, dass Grammatikalisierungsprozesse eine Veränderung in der kognitiven Repräsentation bewirken: Anfangs komplexe, kompositionell zusammengesetzte Zeichen oder Konstruktionen werden im Laufe von Grammatikalisierungspro-
Interaktion und Sprechverhalten
215
zessen als Einheiten verarbeitet und gespeichert. Es findet eine zunehmende Automatisierung statt, bei der komplexe Zeichen zu kognitiven Routinen werden (z.B. be going to gonna). Zusätzlich spielt in manchen Bereichen der Grammatikalisierungsforschung auch die textuelle Funktion eine Rolle (u.a. wenn es darum geht, die Entwicklung von Konjunktionen zu erforschen). Diese letzte Funktion knüpft an die Hallidayschen sprachlichen Metafunktionen an: Wie in Kapitel 3 dargelegt wurde, unterscheidet Halliday zwischen der ideationellen, der interpersonalen und der textuellen Funktion von Sprache. Während die beiden ersten sich mit den bereits erwähnten kognitiven und sozialen Funktionen von Sprache identifizieren lassen, ist die textuelle Metafunktion, die die Ebene der Textkonstruktion und Kohäsion betrifft, typisch für Hallidays Ansatz. So bedauert Butler (2003a) das Fehlen einer textuellen Komponente in Langackers Kognitiver Grammatik. There is little in Langacker’s work [...] to suggest an interest in the description of text as such […]. This is unfortunate, given the fact that CG is a usage-based theory […]. (Butler 2003a: 56)
7.2.
Interaktion und Sprechverhalten
Die Analyse aktuell stattfindender Interaktion hat in funktionalen Modellen erst in den letzten Jahren stärkere Beachtung gefunden. Dies gilt insbesondere für die Konstruktionsgrammatik, die sich als besonders fruchtbar für die Gesprächsanalyse erwiesen hat (s. Kapitel 5.4). Auch Langackers Modell hat sich in den letzten Jahren der Interaktion stärker zugewandt (vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere Langacker 2001a), auch wenn weiterhin dahingestellt bleibt, ob sich dieses Modell wirklich zur detaillierten Analyse aktueller Gespräche eignet. Die Kognitive Grammatik ist außerdem stark bottom-up angelegt: Ausgehend von den fundamentalen Kategorien Substantiv und Verb werden Nominal- und Verbalphrasen gebildet, die ihrerseits in komplexe Sätze integriert werden. Bezeichnenderweise wird das Thema der sprachlichen
216
Wie funktional sind funktionale Theorien?
Interaktion in Langacker (2008) relativ spät, und zwar im 3. Teil mit dem Titel Frontiers (‚Grenzen’), angegangen. Es scheint daher angemessen, die Studie der Interaktion im Rahmen der Kognitiven Grammatik doch eher als Grenzfall zu betrachten. In Diks Funktionaler Grammatik ist die grundlegende Analyseeinheit der Satz, der in einem bottom-up Verfahren gebildet wird (d.h. von der aus Prädikat und Termen bestehenden Prädikation über die Proposition bis hin zum Satz). Sätze sind aber bekanntlich keine Konversationseinheiten. Außerdem hat Levelt (1989) gezeigt, dass der Akt des Sprechens bei den Intentionen des Sprechers anfängt, die top-down in sprachliches Material überführt werden; eine Einsicht, mit der der Aufbau der Funktionalen Grammatik nicht im Einklang steht.1 In diesem Zusammenhang sollte auch Butlers (2003b: 456-7) vehemente Kritik an Diks Diskursmodell erwähnt werden: Dik habe das Diskursmodell seiner satzorientierten Grammatiktheorie erst später hinzugefügt – weil er dem damaligen Trend zur Diskurs- und Gesprächsanalyse gefolgt sei – und dem Satzmodell entsprechend modelliert (im Sinne von hierarchisch strukturierten Ebenen). Diks Modell des Diskurses wirkt deshalb eher wie ein nachträglicher Zusatz zur eigentlichen Theorie – trotz Diks eigener Ansprüche auf pragmatische Adäquatheit. Diese Schwächen sind allerdings von vielen von Diks Nachfolgern anerkannt worden, was zu einer Reihe von neueren Alternativvorschlägen geführt hat, die die Eigenheit der Diskursstrukturen im Allgemeinen stärker berücksichtigen. Auch in der Grammatikalisierungsforschung steht die Analyse von gesprächsbezogenen Phänomenen in den letzten Jahren stärker im Vordergrund. Genannt sei hier die Diskussion um die sog. Diskurs- oder Gesprächspartikel (engl.: discourse markers) wie obwohl und weil im Deutschen (vgl. Gohl / Günthner 1999, Günthner 1999). Strittig ist, inwiefern es sich bei der Entwicklung dieser discourse markers um Grammatikalisierung handelt oder vielmehr um einen Prozess der Pragmatikalisierung. Die Entwicklung zum _____________ 1
Hengeveld hat beiden Mängeln im Modell der Functional Discourse Grammar abhelfen wollen, das den Anforderungen der pragmatischen und psychologischen Adäquatheit besser gerecht wird, sodass sich gesprächsbezogene Daten leichter integrieren lassen.
Sprachwandel
217
Diskursmarker führt unter anderem in der Regel eine Skopuserweiterung des betreffenden Elements herbei, was im Widerspruch zur üblichen Entwicklungsrichtung des Skopus grammatischer Marker steht, der sich bei zunehmender Grammatikalisierung in der Regel verengt. Pragmatische Aspekte und Überlegungen prägen auch andere Facetten der Grammatikalisierungsforschung: So werden viele Grammatikalisierungprozesse pragmatisch motiviert, indem sie als graduelle Konventionalisierung gewisser konversationeller Implikaturen aufgefasst werden (s. Kapitel 6). Bedeutungen, die sich zunächst nur in einem ganz spezifischen Interaktionskontext als Implikaturen ergaben, werden allmählich semantisiert. Des Weiteren spielt der Diskurs in der Grammatikalisierungsforschung eine Rolle, wenn die Emergenz bestimmter syntaktischer Strukturen aus freieren Diskursstrukturen betrachtet wird: So skizziert Leuschner (2005), wie sich (eher schwach grammatikalisierte) Irrelevanzkonditionale vom Typ egal, ob er kommt oder nicht aus freieren Diskurssequenzen entwickeln. Im Rahmen des ausgesprochen kontext- und gebrauchsbezogenen Systemisch-Funktionalen Ansatzes schließlich hat sich die Diskursanalyse als eine selbständige Domäne etabliert.
7.3.
Sprachwandel
Der Aspekt des Sprachwandels erfährt in den dargestellten Modellen ebenfalls eine unterschiedliche Gewichtung. So spielt der Sprachwandel eine wenig ausgeprägte Rolle in Diks Funktionaler Grammatik (Sprachwandelphänomene lassen sich in dieses eher statische Modell schwer integrieren) sowie in Hallidays systemisch-funktionalem Ansatz, während er für die Grammatikalisierungstheorie natürlich konstitutiv ist. Die Kognitive Grammatik sowie die Konstruktionsgrammatik stehen für Sprachwandelphänomene grundsätzlich offen, auch wenn diese nicht im Hauptfokus der theoretischen Auseinandersetzungen stehen. Dies gilt insbesondere für die Kognitive Grammatik: Auch wenn der Unterschied zwischen Diachronie
218
Wie funktional sind funktionale Theorien?
und Synchronie per definitionem als „künstlich“ abgetan wird und ein inhärent dynamisches Konzept wie der Grammatikalisierungsgrad bei der Bestimmung von grounding elements als Kriterium gilt, ist nicht zu übersehen, dass die Darstellung synchronen Sprachmaterials im Modell eine prominentere Stellung einnimmt als diachrone Prozesse. In der Konstruktionsgrammatik sieht es inzwischen anders aus. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die der Grammatikalisierungsforschung zu verdankende Erkenntnis, dass „grammaticalization does not merely seize a word or morpheme […] but the whole construction formed by the syntagmatic relations of the elements in question“ (Lehmann 1992: 406). Die Einheit der Konstruktion eignet sich mit anderen Worten besonders gut zur Beschreibung von Grammatikalisierungsprozessen. Überschneidungen zwischen beiden Modellen liegen deshalb auf der Hand. Im 2008 erschienenen Band „Constructions and Language Change“ (Bergs / Diewald 2008) wird eine ganze Reihe von Grammatikalisierungsprozessen in verschiedenen Sprachen (u.a. Schwedisch, Niederländisch und Englisch) aus der konstruktionsgrammatischen Perspektive beleuchtet. Ein oft zitiertes Beispiel für die Entwicklung einer neuen Konstruktion aus zwei älteren und in ihrer Verwendung deutlich beschränkteren Konstruktionen bietet Israel (1996). Hier wird beschrieben, wie die englische wayKonstruktion (z.B. The soldiers limped their way across the field) aus zwei früheren Konstruktionen hervorgegangen ist, die ihrerseits nur mit bestimmten Verben kombiniert werden konnten. Diese beiden Konstruktionen sind im Laufe der Zeit miteinander verschmolzen; als Resultat dieses Prozesses steht die heutige wayKonstruktion, die von beiden Ausgangskonstruktionen syntaktisch und semantisch abweicht. So sind die Verben in der neuen way-Konstruktion in der Regel nicht transitiv und bezeichnen normalerweise – anders als das Substantiv way vielleicht vermuten lässt – keine Bewegung.
Typologie und Universalien
7.4.
219
Typologie und Universalien
Deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Modellen ergeben sich, wenn wir sie im Hinblick darauf überprüfen, inwiefern typologische Daten und Universalien berücksichtigt werden. Diks Funktionale Grammatik schneidet hier besonders gut ab: Dik (1997) berücksichtigt in seiner „Theory of Functional Grammar“ auffällig viele und typologisch unterschiedliche Sprachen. Überdies äußert er sich zu typologisch relevanten Themen wie linguistischen Universalien, Markiertheit und Hierarchien, aufgrund derer sich bestimmte Merkmale einer Sprache vorhersagen lassen. Der Anspruch der typologischen Adäquatheit wird in der FG im Allgemeinen ernst genommen (vgl. auch Butler 2003b: 462-465). Auch Hallidays insgesamt sehr flexibles Modell lässt sich relativ leicht auf andere Sprachen anwenden, was sich an der Vielzahl von Publikationen, die sich Sprachen wie dem Finnischen, Chinesischen oder Japanischen widmen, zeigt. Langackers Ansatz ist relativ stark auf das Englische ausgerichtet, auch wenn Daten zu anderen ‚exotischen’ und weniger exotischen Sprachen mit einbezogen werden. Zu vermerken ist ebenfalls die Tatsache, dass Langacker sich um sprachübergreifende (schematische) Charakterisierungen von grammatischen Kategorien und Funktionen wie z.B. Nomen, Verb, Subjekt und Objekt bemüht, im Gegensatz zu der Konstruktionsgrammatik etwa, der gelegentlich vorgeworfen wird, dass sie – bei ihrer Inventarisierung der in einer Sprache vorhandenen Konstruktionen – zu stark einzelsprachspezifisch vorgeht und Aussagen über universale Regularitäten und Kategorien aus dem Wege geht. Andererseits gibt es inzwischen konstruktionsgrammatische Darstellungen, die auf viele unterschiedliche Sprachen Bezug nehmen.
220
7.5.
Wie funktional sind funktionale Theorien?
Spracherwerb
Was den Aspekt des Spracherwerbs angeht, sind an erster Stelle die Arbeiten des Entwicklungspsychologen Michael Tomasello (und seiner Mitarbeiter) zu erwähnen, die für die kognitive Linguistik (insbesondere für die Konstruktionsgrammatik) und auch die Grammatikalisierungsforschung eine Quelle (gewesen) sind, auch wenn der Einfluss größer hätte sein können (und sollen, nach Meinung von Tomasello): [...] [T]he study of language acquisition [...] has not played a central role in the Cognitive Linguistics paradigm. The irony in this case derives from the fact that Cognitive Linguistics stresses language use, entrenchment, constructional schema formation, and other usage-based processes that obviously have their origins in childhood, but empirical studies of how these things actually take place have traditionally not been considered of direct relevance to the theory. (Tomasello 2007: 1108)
Zum Spracherwerb ist im Rahmen der Systemisch-Funktionalen Grammatik viel geleistet worden, u.a. weil Halliday selbst sich stark für das Thema interessiert hat und sich für seine Theorie der Metafunktionen auf die von ihm beobachtete Sprachentwicklung seines eigenen Sohns gestützt hat. In den Arbeiten von Dik schließlich spielt der Spracherwerb – trotz der Forderung nach psychologischer Adäquatheit – kaum eine Rolle.2
7.6.
Praktische Anwendung
Schließlich bleibt noch der Aspekt der praktischen Anwendung, der auf unterschiedliche Art und Weise zum Tragen kommen kann. Wir beschränken uns hier auf die sprachdidaktischen Anwendungsmöglichkeiten der jeweiligen Modelle. Manche Ansätze haben sich tatsächlich als didaktisch fruchtbar erwiesen, so insbesondere Hallidays Funktional-Systemische Grammatik (vgl. Hasan _____________ 2
In diesem Zusammenhang schreibt Butler (2003b: 459) sogar: „[...] [C]ertain key features of Dik’s model of clause structure [...] have been shown to be implausible from the point of view of the child’s acquisition of language.”
Literatur
221
/ Perret 1994). Auch im Rahmen der kognitiven Linguistik tun sich unzählige Möglichkeiten zur Didaktisierung auf: Man denke nur an für kognitiv-linguistische Ansätze typische Elemente wie die metaphorische Grundlage vieler sprachlicher Ausdrücke, an die wichtige Rolle, die Visualisierungen eingeräumt werden, an den Aspekt der kognitiven Motiviertheit, der für den Unterricht nutzbar gemacht werden kann, und an den allgemeinen verwendungs- und kontextbezogenen Charakter (usage-based) der kognitivlinguistischen Theorien, der mit einer lernerorientierten und erfahrungsgestützen Pädagogiktheorie völlig im Einklang steht (für einen Überblick, s. Pütz 2007). Allerdings steckt die Anwendung der kognitiv-linguistischen Theorienkomplexe auf den Fremdspracherwerb noch in Kinderschuhen (Pütz 2007: 1155, einige relevante Veröffentlichungen sind Pütz / Niemeyer / Dirven 2001a, b, Taylor 1993, Dirven / Taylor 1994, RudzaOstyn 2003 und Langacker 2001b). Eine sprachdidaktische Ausweitung der Theorie hat erwartungsgemäß in Diks Funktionaler Grammatik keine Rolle gespielt. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass funktionale Grammatiktheorien trotz ihrer Unterschiede sowohl an eine weit reichende und ergiebige Tradition anknüpfen als auch eine fruchtbare und auch für interdisziplinäre Zwecke besonders geeignete Perspektive auf Sprache eröffnen.
7.7.
Literatur
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Wie funktional sind funktionale Theorien?
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Lösungen
Lösungsvorschläge Kapitel 2 1. Max schenkte seiner Schwester gestern Blumen. Nein, er schenkte die Blumen seiner Mutter! Dem Eigennamen Max wird die semantische Rolle Agens, die syntaktische Rolle Subjekt und die pragmatische Rolle Topik zugewiesen. Der Satzteil seiner Schwester ist Rezipient (semantische Rolle) und Topik (pragmatische Rolle), während Blumen als Patiens (semantische Rolle) und Fokus (pragmatische Rolle) eingestuft werden kann. Weil es im Deutschen – im Gegensatz zum Englischen – keine Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Satzteilen gibt, denen beim gleichen Verb die Objektfunktion zugewiesen werden kann, existiert die syntaktische Objektfunktion im FG’schen Sinne im Deutschen nicht. Der Satzteil seiner Schwester kann beim Verb schenken ja niemals im Akkusativ erscheinen (und kann deshalb nicht als alternatives Objekt zum Satzteil die Blumen betrachtet werden). Vergleiche: Er schenkt die Blumen seiner Schwester. (He gives the flowers to his sister.) *Er schenkt seine Schwester die Blumen. (He gives his sister the flowers.) Eine Alternative bietet die Verwendung eines anderen lexikalischen Verbs (z.B. beschenken); hier fungiert der Satzteil seine Schwester als Patiens des zweiwertigen Verbs beschenken, während die Adverbialbestimmung mit Rosen der semantische Rolle Instrument entspricht:
226
Lösungen
Er beschenkt seine Schwester mit Blumen. Die unterschiedliche (und im Deutschen markierte) Wortfolge im ersten Satzpaar, bei dem im zweiten Satz das unbelebte Akkusativobjekt die Blumen vor dem belebten Dativobjekt seiner Mutter steht, kann durch die Fokuszuweisung begründet werden. Zur Markierung eines kontrastiven Fokus kann ein bestimmter Satzteil im Deutschen ans Satzende gestellt werden. Alternativ dazu kann auch die Intonation diese Leistung erbringen (Nein, er schenkte SEINER MUTTER Blumen). Funktional sind schenkte und gestern insofern ähnlich, als sie die core predication (i.e. den Sachverhalt, dass Max seiner Mutter Blumen geschenkt hat) zeitlich lokalisieren und sie als vergangenes Ereignis einordnen. Der Unterschied zwischen den beiden Elementen liegt darin, dass die Form schenkte mittels der π2Operatorfunktion PAST generiert wird, die auf das Verb schenken Bezug nimmt, während gestern – als σ2-Satellit – zum Lexikon gehört. Beide Elemente dienen dazu, die core predication zu einer extended predication zu erweitern. 2. Er bekommt die Kleider geschenkt. Weder das Vorgangs- noch das Zustandspassiv können im Deutschen verwendet werden, um dem Dativobjekt den Status des Subjekts, i.e. des primären Aktanten (im Nominativ) zu verleihen. Bei der Passivierung dreiwertiger Verben bleibt der Dativ erhalten, während das Akkusativobjekt zum Subjekt des passivischen Satzes „befördert“ wird. Mir wurde keine Behandlung gegeben. * Ich wurde keine Behandlung gegeben (vgl. I was given no treatment at all.) Zweiwertige Verben mit Dativobjekt wie helfen und gratulieren erlauben ebenfalls die Bildung einer Passivkonstruktion. Es handelt sich um das unpersönliche Passiv, als dessen Subjekt nur das Pro-
Lösungsvorschläge Kapitel 2
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nomen es fungieren kann, nicht aber das Dativobjekt. Das finite Verb steht also immer im Singular. Ratten helfen fremden Artgenossen eher, wenn ihnen zuvor geholfen wurde. [http://aelteressemester.twoday.net/stories/hilfsbereite-ratten] Das bekommen-Passiv schafft hier aber Abhilfe, indem es dem Sprecher ermöglicht, ein Dativobjekt als Subjekt auszuwählen. Im Gegensatz zum deutschen Vorgangs- und Zustandspassiv erlaubt das deutsche bekommen-Passiv also die Beförderung eines Dativobjekts zum nominativischen Subjekt eines passivischen Satzes. Ursprünglich konnte das bekommen-Passiv nur von dreiwertigen Verben gebildet werden (z.B. Er bekam das Buch geschenkt; Sie bekam eine Geschichte erzählt), inzwischen hat sich die Konstruktion auch auf weniger prototypische Fälle ausgedehnt, wie an folgenden Belegen mit den Dativverben helfen, danken und schmeicheln gezeigt werden kann. Aber dafür ist dieses tolle Forum ja da, dass man solche Fragen stellen kann, und von so vielen Netten Leuten geholfen bekommt. [http://www.hausgarten.net/gartenforum/tomaten/15999-wiehabt-ihr-eure-tomaten-angebunden-2.html] Wenn man dann für das, was man für selbstverständlich hält, noch gedankt bekommt, dann schämt man sich fast ein bisschen. [books.google.be/books?isbn=3825880184] Is doch nett wenn man mal bissel geschmeichelt bekommt und seine Arbeit gewürdigt bekommt. [http://forum.giga.de/archive/index.php/t-381212.html] Die Entwicklung des bekommen-Passivs ist mit der semantic function hierarchy insofern im Einklang, als die semantische Rolle Rezipient gleich nach der semantischen Rolle Patiens (bzw. Goal) für die Subjektfunktion auswählbar ist. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich in einer Sprache eine spezifische Konstruktion entwickelt, die die Subjektfunktion für Elemente mit der semantischen
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Lösungen
Rolle eines Rezipienten ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist auch noch zu bemerken, dass es im Deutschen lexikalische Strategien gibt, durch die Aktanten von der (durch den Dativ kodierten) Rezipientenrolle in die (durch den Akkusativ markierten) Patiensrolle wechseln können. Daraus geht ebenfalls hervor, dass es sich um ‚benachbarte’ semantische Rollen handelt. Er gibt mir die Information/Nachricht. – Er informiert/benachrichtigt mich. Er dient dem König. – Er bedient den König. Sie drohte mir mit dem Finger. – Das Wasser bedrohte die Stadt. Die Polizei folgte dem Dieb. – Die Polizei verfolgt die Spur. Das Internet hat mir geschadet. – Das Internet hat mich geschädigt. 3. Klug beantwortete er die Frage. Klugerweise beantwortete er die Frage. Sowohl klug als auch klugerweise werden hier als Adverbien gebraucht, sie sind also Satelliten. Die Beispiele veranschaulichen, dass im Deutschen formal unterschieden werden kann, ob es sich um einen σ1 oder einen σ3-Satelliten handelt. Im ersten Satz modifiziert klug den Sachverhalt, indem es etwas über die Art und Weise aussagt, auf die das Subjekt die Frage beantwortete. Durch die Verwendung von klugerweise als σ3-Satellit bringt der Sprecher seine Einstellung zur gesamten Proposition zum Ausdruck. Der Skopus des Adverbs klugerweise ist größer. Wichtig sind auch die Negationsverhältnisse. Es sei daran erinnert, dass Polaritätsunterscheidungen auf der Ebene der core predication angesiedelt werden: Der Negationsmarker nicht ist ein σ2-Operator, der Skopus über einen σ1-Satelliten hat, sich aber im Skopus eines σ3-Satelliten befindet. Im ersten Satz nimmt nicht auf klug Bezug (Er hat die Frage nicht klug, sondern dumm beantwortet), während sich der Negationsmarker im zweiten Satz auf die von klugerweise modifizierte Proposition bezieht (Es war klug von ihm, dass er die Frage nicht beantwortet hat): Klug hat er die Frage nicht beantwortet. Klugerweise hat er die Frage nicht beantwortet.
Lösungsvorschläge Kapitel 3
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Lösungsvorschläge Kapitel 3 1. (a + b) Prozesstypen, Partizipanten, Umstände (in Satz 2 und 3): Damit ist (Prozess: relational) der Weg (Partizipant: Träger) für eine Einheitsregierung in Simbabwe nach monatelangem Machtkampf frei. Die Staaten der Region (Partizipant: Aktor) hatten angesichts der katastrophalen Lage (Umstand: Grund) in Simbabwe (Umstand: Ort) Druck auf Tsvangirai (Partizipant: Ziel) und Präsident Robert Mugabe (Partizipant: Ziel) ausgeübt (Prozess: materiell). Bei einem Sondergipfel (Umstand: Ort) am Dienstag (Umstand: Zeit) hatten sie (Partizipant: Aktor) gefordert (Prozess: materiell), bis Mitte Februar (Umstand: Zeit) eine Einheitsregierung (Partizipant: Ziel) zu bilden (Prozess: materiell). Während die ZANU-PF von Mugabe (Partizipant: Aktor) umgehend zustimmte (Prozess: materiell), wollte Tsvangirai (Partizipant: Aktor) erst eine Sitzung des MDC-Parteivorstandes (Partizipant: Skopus) am Freitag abwarten (Prozess: materiell) - der schließlich zustimmte (Prozess: materiell). (c) Subjekt, Aktor, Thema: (1): Subjekt, Aktor – der Weg; Thema – damit (2): Subjekt, Aktor, Thema – die Staaten der Region (3): Subjekt, Aktor – sie; Thema – bei einem Sondergipfel am Dienstag (4), erster Teilsatz: Subjekt, Aktor, Thema – die ZANU-PF von Mugabe (4), zweiter Teilsatz: Subjekt, Aktor, Thema – Tsvangirai. (s. auch die Lösung unter 1e) (d) Syntagmatische Einheiten in Satz 3: bei einem Sondergipfel am Dienstag – Nominalgruppe Sondergipfel am Dienstag – Nominalgruppe hatten … gefordert – Verbalgruppe bis Mitte Februar – Nominalgruppe eine Einheitsregierung (zu) bilden – Verbalgruppe
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Lösungen
(e) Thematische Struktur der Sätze: Damit Thema (markiert)
ist der Weg für eine Einheitsregierung in Simbabwe nach monatelangem Machtkampf frei. Rhema
Die Staaten der Region Thema (unmarkiert)
hatten angesichts der katastrophalen Lage in Simbabwe Druck auf Tsvangirai und Präsident Robert Mugabe ausgeübt. Rhema
Bei einem Sondergipfel am Dienstag Thema (markiert)
hatten sie gefordert, bis Mitte Februar eine Einheitsregierung zu bilden. Rhema
Während die ZANUPF von Mugabe
umgehend zustimmte,
wollte Tsvangirai
Thema1 Thema2
Rhema2
Rhema1 Thema3
erst eine Sitzung des MDCParteivorstandes am Freitag abwarten – der schließlich zustimmte. Rhema3
(f) Prädikator und Finitum: Satz 1: Aussagesatz (indikativisch) Damit
ist
der Weg
Finitum (Kopula-Verb sein)
Subjekt
für eine Einheitsregierung in Simbabwe nach monatelangem Machtkampf
frei.
Prädikator (Subjektsprädikativ, Adjektiv)
Satz 2: Aussagesatz (indikativisch) Die Staaten der Region Subjekt
hatten
Finitum (Auxiliar haben)
angesichts d. katastrophalen Lage in S.
Druck
Prädikator (Funktions-
auf T. und Präsident R. M.
ausgeübt.
Prädikator -verbgefüge, Partizip II)
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Lösungsvorschläge Kapitel 3
Satz 3: Aussagesatz (indikativisch) Bei einem Sondergipfel am Dienstag
hatten
sie
gefordert,
bis Mitte Februar eine Einheitsregierung zu bilden.
Finitum (Auxiliar haben)
Subjekt
Prädikator (Partizip II des Vollverbs fordern)
Satz 4: Aussagesatz (indikativisch) Während
die ZANU-PF von Mugabe Subjekt
umgehend
Finitum / Prädikator (Vollverb zustimmten in Präteritum )
wollte
Tsvangirai
Finitum (Modalverb wollen)
Subjekt
– der Subjekt
zustimmte,
erst eine Sitzung des MDCParteivorstandes am Freitag
abwarten Prädikator (Infinitiv des Vollverbs abwarten)
schließlich
zustimmte. Finitum / Prädikator (Vollverb zustimmen in Präteritum)
2. Sie Aktor
kaufte Promate-
Er Aktor
hat Promate-
Sie Aktor
zahlte Prozess: materiell
Er Rezipient
bekam Prozess: materiell
ihm Klient
das Auto Ziel
ihr Rezipient
das Auto Ziel
ihm Rezipient
2000 Euro Skopus
2000 Euro Ziel
für 2000 Euro Umstand: Art und Weise
ab. - zess: - riell
für 2000 Euro Umstand: Art und Weise
verkauft. - zess: - riell
für das Auto. Umstand: final für das Auto. Umstand: final
232 Das Auto Träger
Das Auto Ziel
Lösungen kostete Prozess: relational wurde Promate-
sie Benefaktiv
an sie Rezipient
2000 Euro. Attribut
für 2000 Euro Umstand: Art und Weise
verkauft. -zess: -riell
3. (1) Die Butter zerlassen, Sirup und Zucker zugeben und unter Rühren erhitzen. Kochrezept a. Ausdrücke, die sich auf die Zutaten und die Zubereitung von Speisen beziehen (Butter, zerlassen, Zucker, Sirup usw.) b. Imperativischer Infinitiv (zerlassen, zugeben, erhitzen); thematische Nominalphrasen (Wortfolge: Nomen – Infinitivverb); überwiegend materielle Prozesse (allerdings ohne Erwähnung von Aktor) c. ideationelle Metafunktion (2) Haben Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, eigentlich in letzter Zeit einmal dabei ertappt, dass Sie unbedingt „Visionär“ spielen wollen? Editorial a. Ausdrücke wie Leser/in beziehen sich auf die Leserschaft der Zeitschrift; die Wortwahl zeigt Nähe zu gesprochener Sprache (eigentlich, einmal, ertappt, unbedingt) b. Direkte Anrede (liebe/r…, Sie), eingebettet in einen den Text eröffnenden Fragesatz (Entscheidungsfrage) c. interpersonelle Metafunktion (3) Der eigentlichen Grammatik gehen zwei Einleitungskapitel voraus. Kap. 1 bringt eine Orientierung über die Aufgaben von Grammatiken und über Möglichkeiten, diese Aufgaben anzupacken. Im zweiten Kapitel werden sprach- und grammatiktheoretische Grundbegriffe eingeführt und so weit expliziert, wie es zum Verständnis des Folgenden notwendig erschien. Grammatikbuch, einleitendes Kapitel a. spezifische Ausdrücke wie Grammatik, sprach- und grammatiktheoretische Begriffe spiegeln die inhaltliche Ausrichtung des Textes wi-
Lösungsvorschläge Kapitel 3
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der; Ausdrücke wie Einleitungskapitel, Orientierung bringen, Verständnis des Folgenden, expliziert, eingeführt u.ä. sind Hinweise auf das einleitende Charakter des Textes b. längere Sätze, Auflistungen mit und, Verwendung von Passivformen, unpersönlicher Stil (der Autor im Hintergrund) c. ideationelle Metafunktion (4) Eine Aufenthaltsverfestigung tritt für Inhaber befristeter Aufenthaltserlaubnisse und befristeter Aufenthaltsbefugnisse mit der Dauer des Aufenthalts auch dann ein, wenn sie die spezifischen Voraussetzungen für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung nicht erfüllen können. Rechtstext (Gesetz) a. Ausdrücke wie Aufenthaltsverfestigung, Aufenthaltserlaubnisse, spezifischen Voraussetzungen für die Erteilung u.ä. machen es deutlich, dass es sich um einen Gesetzestext (aus dem Bereich Ausländerrecht) handelt b. lange Sätze, Auflistungen mit und und oder, wörtliche Wiederholungen im Satz (Aufenthaltserlaubnis), Nominalstil im Satzbau c. ideationelle + interpersonelle Metafunktion (5) Wir haben das Automobil erfunden. Und hören nicht auf, es neu zu erfinden. Werbetext a. das Pronomen wir (in der thematischen Position) hebt die Rolle des Sprechenden (hier: des Produzenten) hervor, die Ausdrücke Automobil, erfinden, neu erfinden lassen eine Auto-Werbung erkennen b. kurze Sätze; (modifizierte) Wiederholung des Verbs erfinden erweckt den Eindruck der ständigen Verbesserung, der zweite Satz beginnt mit der Konjunktion und (was zusätzlich die Kontinuität hervorhebt) c. ideationelle + interpersonelle Metafunktion (6) Es war einmal ein armes frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen ‚Töpf-
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Lösungen
chen, koche‘, so kochte es guten süßen Hirsenbrei, und wenn es sagte ‚Töpfchen, steh‘, so hörte es wieder auf zu kochen. Märchen (Anfang) a. die Verwendung der Ausdrücke wie (frommes) Mädchen, Kind, alte Frau, Töpfchen, (guter, süßer) Hirsenbrei lässt einen Text erkennen, der primär für Kinder geschrieben ist; verbale Ausdrücke wie gehen, essen, schenken, kochen, sagen bringen eine gewisse Dynamik des Geschehens zum Ausdruck b. die Eröffnungsstruktur es war einmal, Anschlüsse der (Teil-)Sätze mit da, und, so, einfache Sätze mit unmarkierter Wortfolge (unmarkierte Thema-Rhema-Struktur), Erzähltempus Präteritum, die Aufreihung der Sätze spiegelt die Reihenfolge der Ereignisse wider c. ideationelle Metafunktion
Lösungsvorschläge Kapitel 4 1. Als grounding predications gelten nur diejnigen sprachlichen Elemente, die (i) stark grammatikalisiert sind, (ii) eine epistemische Bedeutung haben und (iii) den ground (d.h. Sprecher, Hörer, Sprechereignis und nähere Umstände des Sprechens) subjektiv (d.h. sprachlich implizit) konstruieren. Als temporale grounding predications kommen im Deutschen an erster Stelle das Präsens und das (formal und semantisch markierte) Präteritum in Frage. Diese beiden Tempora, die stark grammatikalisiert sind, bilden zweifellos den Kern des deutschen Tempussystems und leisten die temporale Lokalisierung eines Sachverhalts relativ zum deiktischen Zentrum (zum ground). Undeutlich ist allerdings der Status der analytischen Tempora, insbesondere des deutschen Perfekts (und Plusquamperfekts), das – im Gegensatz zum englischen perfect – in der Lage ist, einen Sachverhalt ähnlich temporal zu verorten wie das deutsche Präteritum. So kann in vielen Kontexten im Deutschen ein Perfekt (neben einem Präteritum) verwendet werden, wo im Englischen obligatorisch ein simple past erscheint:
Lösungsvorschläge Kapitel 4
235
It rained all day last Saturday / yesterday. – *It has rained all day last Saturday / yesterday. Am Samstag / gestern regnete es /hat es den ganzen Tag geregnet. Das deutsche Perfekt hat nämlich zwei funktionale Varianten: eine aspektuelle (die sich mit dem englischen Perfekt vergleichen lässt, vgl. auch Kapitel 2.2.2) und eine rein temporale (die sich mit der Leistung der Präteritums deckt), bei der der profilierte Sachverhalt vor dem Sprechzeitpunkt angesiedelt wird, ohne dass auf einen zusätzlichen (gegenwärtigen) Referenzzeitpunkt Bezug genommen wird. Das Phänomen des Präteritumschwunds, d.h. die Tendenz, dass das deutsche Perfekt in vielen gesprochenen Varianten des Deutschen (insbesondere in den oberdeutschen Dialekten) das Präteritum als Tempus nahezu verdrängt hat, deutet ebenfalls darauf hin, dass die Annahme, das deutsche Perfekt entwickle sich parallel zum synthetischen Präteritum zum temporalen grounding element, nicht einfach von der Hand zu weisen ist. Als modale grounding elements gelten zunächst die stark grammatikalisierten Modi Indikativ und Konjunktiv.1 Der unmarkierte Indikativ verortet den Sachverhalt in der Realität (in der sich auch der ground befindet), während der Konjunktiv II die markierte Lokalisierung im epistemischen Bereich der Nichtrealität bedeutet. Sie freut sich. Wenn sie noch am Leben wäre, würde sie sich bestimmt freuen. Der Konjunktiv I, dessen Funktion sich im heutigen Deutsch weitgehend auf die Markierung der indirekten Rede beschränkt, kann dahingehend interpretiert werden, dass er einen vom ground verschiedenen Referenzpunkt als Quelle bzw. als Ursprung des _____________ 1
Im Allgemeinen wird angenommen, dass der Imperativ nicht zu den grounding predications gehört, weil seine Leistung sich eher im Rahmen der Sprechakte beschreiben lässt (denn als im Sinne einer deiktischen Verortung des Sachverhalts). Wir werden allerdings nicht weiter auf diese Problematik eingehen (vgl. Langacker 2008a: 469-472).
236
Lösungen
bezeichneten Sachverhalts einführt (und somit ähnlich wie der Konjunktiv II eine Entfernung vom ground bezeichnet). Was tun, wenn Polizei behauptet, man sei nicht angeschnallt? Die Modalverben (wollen, sollen, mögen, dürfen, können und müssen) sind im Deutschen schwächer grammatikalisiert als im Englischen: Sie verfügen z.B. über infinite Formen (Er wird es sagen müssen). Allerdings sind die deutschen Modalverben in ihren epistemischen Verwendungen (i.e. zum Ausdruck einer Faktizitätseinschätzung) formal insgesamt stärker grammatikalisiert sind als in ihren sonstigen Verwendungen. So sind sie in der epistemischen Verwendung in der Regel finit und unterliegen bestimmten formalen Restriktionen. Aus diesem Grund könnte man dafür plädieren, die epistemisch verwendeten Modalverben als grounding predications zu bezeichnen. Anschnallen, denn es dürfte wieder Schwung in die Aktie kommen. Angeblich soll das Opfer ein 42-jähriger Ingenieur sein. Der muss verrückt gewesen sein. Das Hilfsverb werden wird traditionell nicht zu den Modalverben gerechnet. Werden mit Infinitiv kann gebraucht werden, um den Sachverhalt zeitlich (in der Zukunft) bzw. modal (außerhalb der dem Sprecher bekannten Realität) zu verorten. Beispiele für beide Verwendungen bieten folgende Belege: Bundesminister der Verteidigung Dr. Franz Josef Jung wird vom 9. bis 11. März 2009 das deutsche Einsatzkontingent ISAF in Afghanistan und Usbekistan besuchen und dort auch politische Gespräche führen. Nach seiner Ankunft in Termez/Usbekistan wird der Minister am Montag mit seinem Amtskollegen Kabul Berdiev politische Gespräche führen. [http://www.bmvg.de/portal] Bin zwar nicht Pessimist, aber das Schlimmste wird wohl noch kommen. [www.gutefrage.net/.../wie-weit-geht-die-finanzkrise-noch-wannkommt-es-zur-waerhungsreform]
Lösungsvorschläge Kapitel 4
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Auch werden hat einen im Vergleich zu den englischen Modalverben (insbesondere im Vergleich zu seinem semantischfunktionalen Pendant will) einen niedrigeren Grammatikalisierungsgrad. Dennoch kann behauptet werden, dass werden in Verbindung mit einem Infinitiv den Status einer grounding predication hat. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass infinite Formen von werden in der gemeinten Konstruktion nicht erlaubt sind, d.h. werden fungiert zwangsläufig als finites Auxiliar. *Er verspricht, es sagen zu werden. Er verspricht, es sagen zu wollen. 2. Gestern hat er mir beim Putzen geholfen. Yesterday he helped me with the cleaning. a. Die Tatsache, dass im Deutschen Perfekt verwendet wird, wo das Englische nur ein simple past erlaubt, legt die Vermutung nahe, dass sich das deutsche Perfekt nicht nur als Aspektform, sondern auch als Tempus interpretieren lässt, und somit als grounding predication in Frage kommt (s. Antwort auf Frage 1). Im englischen Satz ist me das direkte Objekt, während mir im deutschen Satz aufgrund seiner Dativmarkierung als indirektes Objekt einzustufen ist. Gleichzeitig liegt im deutschen Satz nur ein indirektes Dativobjekt, nicht aber ein direktes Akkusativobjekt vor (helfen ist ein zweiwertiges Verb), sodass das indirekte Objekt mir als Objekt-Landmarke (neben dem Subjekt-Trajektor er) zu betrachten ist. Der passivische Satz Mir wurde gestern beim Putzen (von ihm) geholfen ist grammatisch korrekt. Auffällig ist, dass das Dativobjekt bei der Passivbildung erhalten bleibt, während das direkte Objekt im englischen Satz (me) in ein Subjekt verwandelt wird (I was helped with the cleaning). Als grammatisches Subjekt des deutschen Satzes kann das Pronomen es erscheinen (Es wurde mir beim Putzen geholfen), das Dativobjekt kann aber niemals zum Subjekt eines passivischen Satzes befördert werden.
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Lösungen
Diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass die Handlung des Helfens vom kanonischen Ereignismodell abweicht. Die Abweichung lässt sich dadurch erklären, dass die Person, der geholfen wird, sich in der Regel auch aktiv an der Handlung beteiligt und vom Subjekt dabei unterstützt wird. Aus diesem Grund kann das Objekt von helfen nicht als prototypisches Patiens gelten. Er hilft ihm aufräumen. Sie half ihm, das Gepäck zu verstauen. Sie hat ihm suchen geholfen. jmdm. in den Mantel / über die Straße helfen Bestätigt wird diese Analyse durch die Feststellung, dass das englische Verb help, das in einer ‚normalen’ transitiven Konstruktion erscheint, auch Lesarten erlaubt, in denen help die Bedeutung vermeiden bzw. beseitigen hat. Hier stehen Subjekt und Objekt in einer asymmetrischen, sogar antagonistischen Beziehung, die dem mit der transitiven Konstruktion assoziierten kanonischen Ereignismodell stärker entspricht. Es verwundert also nicht, dass das Verb helfen im Deutschen, dessen Dativobjekt eben signalisiert, dass die mit helfen assoziierte Konzeptualisierung nicht maximal transitiv ist, diese Bedeutungserweiterung nicht erlaubt. She burst out crying. She couldn’t help it. (‚Sie konnte nichts dafür, sie konnte es nicht vermeiden‘) It helps the pain. (‚Es hilft gegen Schmerzen‘) b. Die Präpositionalphrasen beim Putzen bzw. with the cleaning können als temporale Adverbialbestimmungen analysiert werden, deren verbaler Charakter stark abgeschwächt ist. Infinite bzw. ingFormen werden in der Kognitiven Grammatik nicht als Verben angesehen, sondern als komplexe aprozessuale Beziehungen, die ein summatives Scanning der Handlung auslösen: Die Handlung wird in ihrer Gesamtheit betrachtet und ist deutlich konturiert. Der substantivische Charakter wird (im Deutschen) durch die Großschreibung signalisiert. In beiden Sprachen können der Infi-
Lösungsvorschläge Kapitel 4
239
nitiv und die ing-Form durch Artikel und / oder attributive Adjektive modifiziert werden: beim langweiligen Putzen; the awful cleaning. 3. Ich traf ihn gestern zufällig in New York. Eine Kugel traf das Opfer in den Kopf. Wenn man versucht, die Sätze ins Passiv zu verwandeln, fällt auf, dass dies beim ersten Satz nicht gut gelingt. Der Satz Er wurde gestern zufällig in New York getroffen wird nämlich anders interpretiert als sein aktivisches Gegenstück. Diese Interpretation ähnelt derjenigen des zweiten Satzes: Das Opfer wurde von einer Kugel in den Kopf getroffen. Es handelt sich in beiden Passivsätzen um eine körperliche Verletzung (vielmehr als um eine Begegnung). Dieser Bedeutungsunterschied geht darauf zurück, dass nur Ereignisse mit einem hohen Transitivitätsgrad eine passivische Darstellung erlauben. Eine zufällige Begegnung, die normalerweise keine sichtbaren Effekte hervorruft, entspricht dem kanonischen Ereignismodell viel weniger als die Vorstellung einer Kugel, die einen Menschen trifft und so eine sicht- und fühlbare Zustandsveränderung herbeiführt. Da Passivierung in der Regel nur bei hochtransitiven Ereignissen erlaubt ist, überrascht es nicht, dass das passivische Pendant des ersten Satzes grundsätzlich anders interpretiert wird als sein aktivisches Gegenstück. b. Wie Terror entsteht und ihm begegnet werden kann. Begegnet wurde dieser Gefahr mit Gesetzen. Die Massenwanderung in den Westen nach der Wende konnte nur stattfinden, da den Ossis dort relativ wertfrei und freundlich begegnet wurde. Deutsches Universalwörterbuch (Duden 2006) führt für das Verb begegnen folgende drei Bedeutungen auf: (1) a. mit jmdm. zufällig zusammentreffen; jmdn. zufällig treffen; b. etw. antreffen, auf etw. stoßen.
240
Lösungen
Ich bin ihm erst kürzlich begegnet. Dieser Meinung kann man gelegentlich begegnen. (2) a. an einer bestimmten Stelle, zu einer bestimmten Zeit vorkommen, auftreten, sich finden; b. von jmdm. ohne sein Zutun (meist als etw. nicht Angenehmes) erlebt, erfahren werden; widerfahren. Diese Theorie begegnet auch in anderen Werken des Autors. So etwas ist mir noch nie begegnet. (3) a. sich jmdm. gegenüber in einer bestimmten Weise verhalten, ihn in bestimmter Weise behandeln; b. auf etw. in bestimmter Weise reagieren, einer Sache auf bestimmte Weise entgegenwirken, ihr gegenüber bestimmte Gegenmaßnahmen treffen. jmdm. freundlich, höflich, mit Spott begegnen Dem muss mit unnachsichtiger Strenge begegnet werden. Nur für begegnen in der dritten Bedeutung ist Passivierung möglich. Das Verb kodiert eine Verhaltensweise bzw. eine Handlung, an der ein bewusstes, tätiges und typischerweise menschliches Subjekt als Agens beteiligt ist. Das Verhalten bzw. die Handlung des Subjekts ist direkt auf das Objekt bezogen. Besonders in der Bedeutung (3b) stehen Subjekt und Objekt in einer asymmetrischen (antagonistischen) Beziehung, in der das Subjekt Gegenmaßnahmen gegen das Objekt ergreift. In der ersten Bedeutung (‚zufällig treffen’) weicht das Verb von dem kanonischen Ereignismodell u.a. deshalb ab, weil es keine Handlung gibt, die eine gewisse Zustandsveränderung herbeiführt. Die Begegnung zwischen Subjekt und Objekt ist zufällig und ohne sichtbare Konsequenzen. In der Bedeutung (2) ist das Subjekt kein konkretes Agens, sondern ein abstraktes Ereignis. Eine Objektbezogenheit liegt nicht vor: Das Verb ‚begegnet’ in dieser Bedeutung oft in objektlosen Sätzen.
Lösungsvorschläge Kapitel 5
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Lösungsvorschläge Kapitel 5 1. Das Chaos breitet sich strahlenförmig um den Messie herum aus. Ausgehend von seinem eigenen Zimmer sifft er nach und nach alle Ecken der WG zu. Im Schuhregal findest du seine Gebrauchsanweisungen, hinter der Waschmaschine liegen Bonbon-Papierchen, und dreckige Socken von ihm können auch mal in der Besteckschublade auftauchen. (i)
jedes einzelne Wort (und jedes einzelne Morphem) kann als Konstruktion angesehen werden (ii) definite Determination-Konstruktionen: das Chaos, den Messie, der WG, der Waschmaschine, der Besteckschublade (iii) Posessive Konstruktionen: seinem Zimmer, seine Gebrauchsanweisungen (iv) Partikel-Verb-Konstruktionen: breitet sich … aus, sifft … zu, auftauchen (v) VP-Konstruktionen: sifft alle Ecken zu, findest seine Gebrauchsanweisungen, liegen hinter der Waschmaschine, in der Besteckschublade auftauchen (vi) transitive Konstruktion: er sifft alle Ecken zu, du findest seine Gebrauchsanweisungen (vii) intransitive Konstruktion: hinter der Waschmaschine liegen Bonbon-Papierchen (viii) intransitive Bewegung-Konstruktion: dreckige Socken können in der Besteckschublade auftauchen (ix) um-AKK-herum-Konstruktion: um den Messie herum (x) Topikalisierungskonstruktionen: im Schuhregal…, hinter der Waschmaschine (xi) Modalverb-Konstruktion: können auftauchen (xii) NP-Konstruktionen: alle Ecken der WG, seine Gebrauchsanweisungen, dreckige Socken (xiii) PP-Konstruktionen: um den Messie herum, von seinem eigenen Zimmer, im Schuhregal, hinter der Waschmaschine, von ihm, in der Besteckschublade (xiv) Kernsatz-Konstruktion: beide Sätze und ihre Teilsätze (xv) nach und nach-Konstruktion
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Lösungen
(xvi) Deminutiv-Konstruktion: Papierchen (xvii) Kompositum-Konstruktionen: Gebrauchsanweisungen, Schuhregal, Besteckschublade (xviii) Plural-Konstruktionen: Ecken, Gebrauchsanweisungen, BonbonPapierchen, Socken (xix) Koordinationskonstruktion: nach und nach; hinter der Waschmaschine liegen Bonbon-Papierchen, und dreckige Socken von ihm können auch mal in der Besteckschublade auftauchen usw. 2. Hier seien nur einige Konstruktionen des Deutschen genannt, die aus der Perspektive der Konstruktionegrammatik analysiert werden könnten. Die Liste kann beliebig erweitert werden. < SUBJbelebt haben … zu-Infinitiv> wie in Sie hat die Aufgabe bis heute Abend zu erledigen.
wie in Diese Aufgabe ist bis heute Abend zu erledigen.
wie in Dieses Gesetz gehört abgeschafft.
wie in Was mich betrifft, so bin ich immer pünktlich.
wie in Er versteht sich zu kleiden.
wie in Was für ein schönes Wetter heute!
Lösungsvorschläge Kapitel 6
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Lösungsvorschläge Kapitel 6 1. In Satz (1) ist werden eine Kopula und gehört zum kleinen Paradigma der deutschen Kopulaverben, das noch die Verben sein und bleiben enthält. Kopulaverben sind relativ stark grammatikalisiert (im Vergleich zu Vollverben) und haben die Funktion, zusammen mit dem Prädkativum (Adjektiv / Prädikatsadjektiv oder Substantiv / Prädikatsnomen) das Prädikat zu bilden. In Satz (2) bildet werden zusammen mit dem Partizip II gehalten das Passiv. Werden ist hier ein Hilfsverb, das der grammatischen Kategorie des Genus Verbi angehört. Das werden-Passiv steht in paradigmatischen Verhältnissen zum unmarkierten Aktiv (Indikativ; halten) und dem sog. bekommen-Passiv. In Satz (3) ist werden ein (lexikalisches) Vollverb mit der Bedeutung ‚entstehen, sich entwickeln‘. a. Die Anwendung der Grammatikalisierungsparameter auf die drei ermittelten Varianten des Verbs werden ist in der unter (b) stehenden Tabelle illustriert. b. Bezogen auf die allgemeine Grammatikalisierungsskala kann hier gesagt werden, dass die drei Varianten des Verbs werden drei unterschiedlichen Regionen auf dem Kontinuum zugeordnet werden können. Das Vollverb ist am schwächsten grammatikalisiert und ist am lexikalischen (bzw. nicht-grammatischen) Ende der Skala einzuordnen. Das Passiv-Auxiliar ist am stärksten grammatikalisiert. Es befindet sich am grammatischen (bzw. grammatikalisierten) Ende der Skala. Das Kopulaverb nimmt eine Position dazwischen ein. Da die drei Varianten des Verbs werden keinen Unterschied in Bezug auf die Parameter Stellungsfreiheit, Fügungsenge und (phonologische) Integrität aufweisen, ist es anzunehmen, dass sie nicht in Prozesse der phonologischen Erosion, der Koaleszenz und der Fixierung involviert wurden. Veränderungen in Bezug auf andere Parameter lassen schlussfolgern, dass die Prozesse der Paradigmatisierung, der Obligatorisierung, der semantischen Erosion und der Kondensierung auf dem Wege der
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Lösungen
Grammatikalisierung der Kopula- und der Hilfsverbvariante des Verbs stattgefunden haben. VARIANTE PARAMETER INTEGRITÄT (SEMANTISCH)
INTEGRITÄT (PHONOLOG.) SKOPUS
PARADIGMATIZITÄT
FÜGUNGS-
Vollverb werden hoch
Kopula werden relativ niedrig: die Komponenten der Entstehung und Entwicklung sind ausgeblichen; werden bedeutet nur den Beginn eines Prozesses
Passiv-Auxiliar werden sehr niedrig: weder die Komponente der Entstehung / Entwicklung noch die des Beginns sind präsent; werden hat eine grammatische Funktion, eine bestimmte (d.h. passivische) Geschehensperspektive zu markieren
kein Unterschied groß: relativ klein: klein: werden ist der werden verbindet werden verbindet Kern des Satzes sich nur mit prädisich nur mit Partizip und kann kativen Elementen II unterschiedli(mit Adjektiven und che ErgänzunSubstantiven) gen haben niedrig: relativ hoch: sehr hoch: werden gehört werden gehört zum werden als Hilfsverb zum losen Paradigma der gehört zum ParaWortfeld Kopulaverben digma des Genus zusammen mit zusammen mit sein Verbi, bestehend z.B. entstehen, und bleiben aus Aktiv, werdensich entwickeln, Passiv und bekomsich verändern, men-Passiv wenden kein Unterschied (freie Morpheme, nicht klitisiert)
ENGE
WÄHLBARKEIT
STELLUNGSFREIHEIT
freie Wahl eingeschränkte eingeschränkte zwischen Wahl zwischen drei Wahl zwischen Mitgliedern Kopula-Verben Aktiv, werden-Passiv desselben und bekommenWortfeldes Passiv kein Unterschied (immer eine feste Position im Satz)
Lösungsvorschläge Kapitel 6
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2. a. PARAMETER INTEGRITÄT (SEMANTISCH)
INTEGRITÄT (PHONOLOG.) SKOPUS PARADIGMATI ZITÄT
FÜGUNGSENGE
WÄHLBARKEIT STELLUNGSFREIHEIT
sekundäre Präpositionen (z.B. wegen) relativ hoch: hat immer eigene Bedeutung, die noch deutliche Spuren ihrer lexikalischen Quelle aufweist (hier: das Nomen Weg); regiert den Genitiv
primäre Präpositionen (z.B. an) niedrig: kann in einigen Fällen ohne erkennbare Eigenbedeutung verwendet werden, wie z.B. in sich erinnern an, denken an, glauben an u.ä.; regieren meist den Dativ oder den Akkusativ relativ hoch: niedrig: mehrsilbig einsilbig kein Unterschied relativ hoch: niedrig: relativ offene Klasse, zu der geschlossene Klasse stets neue Formen hinzukommen (z.B. betreffs, mangels, mittels, namens usw.) niedrig: hoch: können nicht klitisiert werden können mit Artikel klitisiert werden, z.B. am < an dem nicht obligatorisch in einigen Kontexten obligatorisch (s. semantische Integrität) relativ frei verschiebbar in einigen Kontexten stark eingeschränkt (s. semantische Integrität)
b. Lexikalische Quellen: Die Präposition kraft geht auf Präpositionalphrasen mit dem Substantiv Kraft als Kern zurück, die im Laufe der Zeit „abgeschwächt“ wurde, d.h. aus / bei / durch / in Kraft > kraft. Die Präposition laut kann auf die Präpositionalphrase nach Laut mit dem Nomen Laut als Kern zurückgeführt werden: nach Laut < laut. Die Präposition gemäß entsteht aus dem Adjektiv gemäß mit der Bedeutung ‚angemessen‘, das auch als Adverb verwendet wurde, in solchen Zusammensetzungen wie demgemäß, vernunftgemäß, naturgemäß, standesgemäß etc.
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Lösungen
Die Präposition wegen hat ihren Ursprung im Syntagma von Wegen mit dem Substantiv Weg im Genitiv Plural. Ursprünglich hatte diese Fügung die Bedeutung ‚von Seiten‘. Durch den Wegfall der Präposition von entstand die heutige Form wegen. Die Präposition während ging aus dem Partizip Präsens des Verbs währen hervor. Das Partizip konnte auch als attributives Adjektiv verwendet werden und kam somit in Syntagmen wie in währender Zeit, bei währendem Gespräche vor; oder auch im sogenannten absoluten Genitiv wie währender Zeit, währendes Krieges. 3. Die heutige Präposition (an)statt ist etwa seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesen. Die Quellkonstruktion, aus der diese Präposition hervorging, war das Syntagma an jemandes Statt mit dem Substantiv Stat mit der Bedeutung ‚Ort, Platz, Stelle‘. Satz (1) exemplifiziert die ursprüngliche lexikalische Bedeutung des althochdeutschen und mittelhochdeutschen Nomens Stat. Satz (2) ist ein Beispiel für die Verwendung dieses Nomens in festen syntagmatischen Verbindungen an jemandes Statt mit der Bedeutung ‚etwas an jemandes Statt tun‘, ‚etwas tun als Stellvertreter eines Abwesenden‘. Bereits in dieser Phase erscheinen die ersten Zeichen von Syntaktisierung, d.h. der Verfestigung freier Diskursstrukturen. Der nächste Schritt wird in Satz (3) repräsentiert: an und statt weisen eine feste(re) Verknüpfung zueinander auf und rücken allmählich näher zusammen. Die Nachstellung des Genitivs wird üblich. In dieser Stufe erhält anstatt grammatische Eigenschaften und kann bereits als Präposition bezeichnet werden. Satz (4) spiegelt die heutige Situation wider: Aus anstatt ist bereits statt geworden, die Bedeutung der Substitution ist erhalten geblieben. Seit Lessing wird statt nicht nur mit dem Genitiv, sondern auch mit dem Dativ verbunden, was als Zeichen der Annäherung an die Klasse der primären Präpositionen ist: aber lärm und geschrey statt dem pathos, das thuts nicht (Goethe br. 1, 198, zitiert nach DWB). Beispielanalyse:
Lösungsvorschläge Kapitel 6
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1. Die Präposition (an)statt ist semantisch abstrakter und allgemeiner im Vergleich zum Nomen Stat: Während Stat auf eine konkret vorstellbare lokale Entität (in der außersprachlichen Welt) referierte und ‚Ort, Stelle, Platz‘ bedeutete, hat heute die Präposition (an)statt eine rein relationale Bedeutung. Sie bringt eine relationale Beziehung (‚Ersatz für Nichtvorhandenes‘, ‚Gegensatz‘) zwischen zwei Nomen bzw. Nominalphrasen zum Ausdruck. Somit hat die semantische Integrität des Zeichens Stat abgenommen. Es unterlag also dem Prozess der semantischen Erosion oder Entsemantisierung. 2. Die Präposition statt hat weniger phonologische Substanz (und weist somit einen niedrigeren Grad an phonologischer Integrität auf) als ihre frühere Form anstatt und noch weniger als ihre ursprüngliche Form an + Nomgen + Stat. Das ist als Ergebnis der phonologischen Erosion zu sehen. 3. (An)statt gehört heute zur Klasse der (sekundären) Präpositionen, die zwar im Vergleich zu der Klasse der primären Präpositionen relativ offen ist, doch im Vergleich zu der Klasse der Nomen ein relativ geschlossenes Paradigma darstellt. Das Nomen Stat dagegen gehörte zu einem losen Wortfeld zusammen mit vielen anderen Ausdrücken für lokale Entitäten (Platz, Ort, Stelle, Position usw.). Es ereignete sich also Paradigmatisierung, sodass die Präposition (an)statt heute einen relativ hohen Grad an Paradigmatizität aufweist. 4. Die Folgen der Fixierung sind leicht zu verzeichnen: Als Präposition nimmt (an)statt eine feste Position in Bezug auf ihre syntagmatischen Nachbarn ein – sie steht vor einem Substantiv (im Genitiv). Die Verwendung des Nomens Stat war hingegen an vielen Positionen sowohl innerhalb des Satzes als auch innerhalb einer Phrase möglich. 5. Die Syntaktisierung der relativ freien Diskursstruktur an jemandes Stat führte zur Herausbildung der Präposition (an)statt, die an geregelten syntaktischen Strukturen teilnimmt: Die Präposition nimmt eine bestimmte Position innerhalb der Nominalphrase ein und fordert den Genitiv. 6. Der metaphorische Schritt LOKAL > ABSTRAKT kann für die Grammatikalisierung der Präposition angenommen werden:
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Lösungen
Die Bedeutung der Präposition (an)statt lässt sich als metaphorische Abstraktion der ursprünglich lokalen Bedeutung der Spenderkonstruktion beschreiben: lokale Substitution > abstrakte Substitution. 7. Andererseits lässt sich die semantische Entwicklung von (an)statt auch als ein metonymischer Prozess auffassen: Das Auftreten vom Syntagma an jemandes Stat und dann von der Präposition (an)statt in bestimmten Kontexten, die eine abstraktere Interpretation (via konversationelle Implikatur) ermöglichten, führte allmählich dazu, dass diese Interpretation zu dem zentralen Bestandteil der Bedeutung von (an)statt geworden ist. Die lokale Relation zwischen zwei substituierbaren Entitäten (bzw. zwei funktional / sozial austauschbaren Personen) lässt die Reinterpretation in Richtung auf eine abstrakte Ersatz-Beziehung zwischen diesen und anderen Entitäten zu. 8. Betrachtet man funktionale Veränderungen auf dem Wege der Grammatikalisierung von (an)statt, so zeichnet sich ein Wandel von der referentiellen hin zur textuellen Funktion ab. Während das Nomen Stat auf eine außersprachliche Entität Bezug nahm, d.h. eine referentielle Bedeutung hatte, operiert die Präposition (an)statt auf der Ebene der Textprodiktion, indem es zwei versprachlichte Textelemente (d.h. in der Regel zwei Nomen bzw. Nominalgruppen) miteinander verbindet. 9. Ein Grammatikalisierungskanal lässt sich für diese Entwicklung ebenfalls formulieren: Relationales Nomen im Syntagma mit der Bedeutung lokaler (später: funktionaler) Substitution > Präposition mit der Bedeutung lokaler (funktionaler) Substitution > Präposition mit der Bedeutung ‚Ersatz‘, ‚Gegensatz‘.
Register Abstraktheit 19, 136, 139 Adäquatheit 20f., 44, 216, 219f. Adjektiv 9, 24f., 41, 69f., 110ff., 122, 226, 232ff. Adjunkt 81ff. Adposition 110ff., 188, 194 Adverb 32, 70, 110ff., 118, 194 Affix 180, 185, 187f. Aktant 10, 19 Aktor 66, 70ff., 74f. Angabe 10, 26, 74, 142 Archetyp 103f., 122 Argument 24ff., 36f., 125 Argumentstruktur 141, 143-148, 156, 159, 163 Ausdrucksregel 11f., 25, 34, 40f. autonom 7, 11, 132, 134, 182f. Bedeutung 5, 31, 51f., 63, 67f., 71, 91, 94, 96f., 102, 105, 132f., 143f., 145-148, 151, 179f., 191, 194, 200 abstrakt 120, 140, 179, 197f., 204 expressiv 196f. konkret 179-181, 190, 197 propositional 190f. relational 179-181 textuell 191f. Bildschema 102 construal 97, 101, 110, 117f. objektiv 101f. subjektiv 101f., 120 cutting 164f. Demorphologisierung 186f. denotieren 70, 119, 179 Dependenz 9, 11 Detailliertheit 54, 58f.
diachron 9, 174f., 184, 186, 218 Diskursmarker 83, 206, 217 Domäne 55, 96f., 202 Dynamizität 98, 102 Ergänzung 10f., 26, 74 Erosion 185, 204 fiktiv 95f. Finitum 71, 80ff. Fixierung 185, 204 Fokus 20, 38ff. Form 24, 41, 51, 105, 137, 144, 181, 189f. Fusionierung 160f. Generative Grammatik 11f. Gestalt 103 Grammatikalisierungskanal 193-196, 205 Grammatikalisierungsparameter 182ff. Fügungsenge 183, 185 Integrität 183, 185 Paradigmatizität 183, 185 Skopus 183, 185 Stellungsfreiheit 183, 185 Wählbarkeit 183, 185 Grammatikalisierungsskala 176, 184, 186-190 ground 106, 119f. grounding 210f., 126, 218 Hierarchie 10, 36, 42, 55ff., 131, 136, 150 imperfektiv 28, 113, 116ff. Implikatur 199ff. Information 20, 25, 33, 38, 79, 107, 150, 158 Inhalt 62, 73, 97, 110, 133, 146, 179, 189, 198
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Register
Inhaltswort 188 Instanz 54, 65f., 114, 118, 162 Instanziierung 54, 64ff. Kanal 107, 205 Kategorie 24, 29, 49, 60, 82, 95, 110, 117, 147, 193ff. Klasse 70, 95, 109, 113, 117, 177 geschlossen 27, 120, 180f. offen 180f. Klitisierung 187 Koaleszenz 185 Kompetenz 11f. Komplement 71, 81f., 142 Komplexität 42, 133, 136, 138 Kondensierung 185 Kontinuum 100, 109, 133, 135, 181, 186 Konzeptualisierung 94, 97, 102, 104, 106, 108 Landmarke 98, 100, 111 Lexikon 24, 27, 54, 93, 109, 132, 135, 177, 182 Metafunktion 51, 54, 66ff., 71, 77, 79, 82, 191 Metapher 10, 96, 153, 190, 196ff. Metaphorisierung 196f. Metonymie 196ff. Metonymisierung 196ff. modular 11, 134 Morphem 2, 27, 54f., 109, 120, 138, 179ff., 187 frei 180f. gebunden 180f. Morphologie 93, 109, 125, 134, 186, 189 Morphologisierung 186f. Motivation 149 Motiviertheit 149, 221 natürlicher Sprachbenutzer 17 Nominalphrase 26, 37, 42, 70, 74, 113, 118f., 155 null complements 166 Objekt 10, 19, 28, 35ff., 42, 91, 104, 110, 145, 147, 159
Obligatorisierung 185 Operator 26ff. Konversionsoperator 33ff. lokalisierend 29 Prädikatsoperator 27 propositional 31 quantifizierend 29 Termoperator 26, 40 Organon 5 panchron 174f. Paradigma 8f., 54, 57, 180, 183 Paradigmatisierung 185, 204 Parameter 13 Partizipant 71, 73ff., 99ff., 122, 157, 159 perfektiv 28, 113, 116ff., 194 Performanz 12 Perspektive 35, 66, 69, 92, 98, 100f. Phonetik 54, 61, 63 Phonologie 18, 54, 61, 63, 92, 125, 132, 186 Polygrammatikalisierung 195 Polysemie 151 Potenzial 54, 58 Prädikat 23, 24ff., 40, 143 Prädikation 23f., 26f., 35, 40 core 27ff., 35 extended 27, 29ff. nuclear 26ff. Prädikator 71, 80f. Prädikatsrahmen 24ff. Pragmatik 5, 11, 18, 51, 86, 134, 174, 206 Pragmatikalisierung 206, 217 Prinzip 12, 42f., 54, 58f., 160ff., 176, 193 Produktivität 132 Profilierung 98, 157ff. Prominenz 98ff. Prototyp 95, 147f. Rang 54f., 57 regieren 9 Residuum 80f. Rhema 71, 77f. role merging 165 Rolle 25, 35f., 75f., 79, 83, 142, 146, 156ff., 165 Argumentrolle 156-165
Register
Partizipantenrolle 156f., 160-164 profiliert 157f. Satellit 25f., 27f., 32f., 44 Satz 21f. 33, 41, 54f., 58, 60, 69, 73, 77, 79, 122 Satzmodus 58f., 79f. Scanning 111f. Schema 95, 102 Shading 164f. Skala 65, 184f. Skopus 32, 75, 118 Spezifizität 98, 139 Sprachauffassung 2, 49, 51, 93, 135, 175 als Organ 3 als Organismus 3 als System 7 als Tätigkeit 5 als Werkzeug 4 Spracherwerb 12, 14, 20, 85, 135, 167, 220 Sprachsystem 8, 65 Sprachwandel 14, 168, 196, 217 Sprechtätigkeit 8 Stratifikation 54, 61f. Struktur 54ff., 60, 63, 77, 122 Strukturalismus 8f. Subjekt 10, 19, 23, 28, 35f., 39, 42, 60, 66, 70, 72, 77, 80, 100, 104, 123, 159 grammatisch 72 logisch 72 psychologisch 72 Subjektivierung 192 Substantiv 24, 41, 110, 113f., 215 synchron 9, 174, 182, 185, 198 Syntagma 8, 54, 60, 70, 183, 187, 201 Syntaktisierung 186f., 204 Syntax 11, 18, 86, 93, 109, 132f., 152, 186 System 2, 6f., 8, 18, 21, 51, 57ff., 64f., 81, 120 Tendenz 36, 39, 175, 180, 191f., 196, 205, 207 Term 23, 24f., 41
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Thema 66, 70, 72, 77, 159, 163 Topik 20, 38f., 140 Trajektor 98f. transitiv 10, 122f., 193 Typ 54, 65f., 82 Umstand 73, 76, 82 Unidirektionalität 176, 192, 207 Universalgrammatik (UG) 4, 12, 14 Valenz 9f., 24, 146, 157, 162, 164 Verb 10f., 24, 37, 60, 69, 73f., 100, 102, 104, 110f., 113, 141ff., 146, 157f., 166, 180 Vererbungsbeziehung 149ff., 155 Instanz-von 152f. metaphorisch 153f. multipel 150, 154f. Polysemie 151 Teil-von 151 Verlust 186f. Wortart 24, 110ff. zählbar 113ff. Zeichen 5, 8, 44, 105, 131, 133, 137, 149, 175f., 178ff. grammatisch 178f. lexikalisch 178f. Zirkumstant 10