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German Pages 400 [399] Year 2014
Die Bibel und die Frauen
Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie Herausgegeben von Irmtraud Fischer, Christiana de Groot, Mercedes Navarro Puerto, Adriana Valerio
19. Jahrhundert Band 8.2
Michaela Sohn-Kronthaler Ruth Albrecht (Hrsg.)
Fromme Lektüre und kritische Exegese
im langen 19. Jahrhundert
Verlag W. Kohlhammer
Die Herausgabe des Werkes wird unterstützt durch
1. Auflage 2014 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-022547-3 pdf: epub: mobi:
E-Book-Formate: ISBN 978-3-17-028553-8 ISBN 978-3-17-028554-5 ISBN 978-3-17-028555-2
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Vorwort Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer ersten deutschsprachigen Spurensuche zur Bibellektüre bzw. Bibelinterpretation von Frauen im langen 19. Jahrhundert. Die untersuchten Repräsentantinnen stehen für sehr unterschiedliche Zugänge zur Bibel und stammen aus Europa und Nordamerika, die AutorInnen repräsentieren ebenfalls mehrere Länder und Sprachkontexte. Diese Publikation fördert teilweise unveröffentlichtes Quellenmaterial von Vertreterinnen verschiedener christlicher Konfessionen und des Judentums zu Tage. Neue Perspektiven erschließen bisher nicht im Zusammenhang der Bibelrezeption beachtete Personen und Traditionen. Einen Einstieg in diese Thematik bildete das international besetzte Forschungskolloquium mit ReferentInnen aus vier Kontinenten, das unter dem Titel „Aufbruch in die Moderne vs. Festhalten am Überkommenen. Frauen und Bibelauslegung im Kontext des langen 19. Jahrhunderts/Departing for Modernity versus Clinging to the Outdated. Women’s Biblical Hermeneutics in the Context of Modern Times“ an der Karl-Franzens-Universität und im Kulturzentrum bei den Minoriten vom 4. bis 6. Dezember 2008 in Graz stattfand. Nun legen wir diese deutschsprachige Ausgabe vor, der demnächst ein englischsprachiger Band folgen wird. Wir hoffen, dass die internationale Forschung durch diese Veröffentlichungen zur weiteren Beschäftigung mit diesen Themenbereichen angeregt wird. Hier konnten nur erste Linien nachgezeichnet werden. Unseres Erachtens zeigt sich allerdings bereits deutlich genug, wieviele Aspekte noch keineswegs hinreichend erforscht sind. Unser Dank gilt denjenigen, die die Entstehung dieses Bandes durch ihre Finanzierung ermöglicht haben, in besonderer Weise dem Vizerektorat für Forschung und Weiterbildung (Karl-Franzens-Universität Graz) und Prof. Dr. Renate Dworzcak, Vizerektorin für Personal, Personalentwicklung, NAWI Graz und Gleichbehandlung (KarlFranzens-Universität Graz), sowie Abt Bernard Lorent von Maredsous (Belgien). Ihnen sei an dieser Stelle in erster Linie ebenso herzlich gedankt wie Prof. Dr. Irmtraud Fischer, die jederzeit für alle Fragen ansprechbar war und an vielen Stellen Unterstützung leistete, besonders bei der Finanzierung. Vor allem danken wir auch MMag. Markus Zimmermann und Mag. Stephanie Glück für ihre redaktionelle Mitarbeit sowie Christine Schönhuber für die Unterstützung beim Layout. Besonderer Dank gilt MMag. Dr. Andrea Taschl-Erber und Dr. Herbert Meßner, die uns akribisch beim Korrekturlesen der Beiträge unterstützt haben. Für die Mithilfe bei der Organisation des Forschungskolloquiums seien MMag. Dr. Nina Kogler und Mag. Christian Blinzer herzlich bedankt. Antonia Schmidinger hat die Bilder der beiden kunsthistorischen Artikel eingearbeitet. Dank gebührt auch Gabriele Stein, Dana Sophie Brüller und Annemarie del Cueto Lopez-Mörth, die die englischen und italienischen Beiträge sowie den spanischen Aufsatz ins Deutsche übersetzt haben. Graz/Hamburg, im März 2014
Michaela Sohn-Kronthaler und Ruth Albrecht
Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG Ruth Albrecht und Michaela Sohn-Kronthaler ............................................................... 9 1. STUDIEN ZUM ANGLOAMERIKANISCHEN RAUM Paul W. Chilcote Methodistische Frauen und die Bibel: Die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift im 19. Jahrhundert .................................. 19 Marion Ann Taylor Frauen und die historisch-kritische Exegese im England des 19. Jahrhunderts ........... 32 Christiana de Groot Debora: Ein Nebenschauplatz der Frauenfrage im 19. Jahrhundert ............................. 59 Elizabeth M. Davis „Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers“: Catherine McAuleys Schriftdeutung ............................................................................ 89 Pamela S. Nadell Bibelauslegungen auf dem Congress of Jewish Women in Chicago im Jahr 1893 ... 100 2. STUDIEN ZUM SÜD- UND OSTEUROPÄISCHEN RAUM Marina Cacchi Die Bibel in den Dienstberichten der waldensischen Biblewomen ........................... 119 Adriana Valerio Biblische Inspirationen im Transformationsprozess der religiösen Frauengemeinschaften Italiens im 19. Jahrhundert ............................. 140 Inmaculada Blasco Herranz Konservativer Feminismus im katholischen Spanien des 19. Jahrhunderts: Gimeno de Flaquers „Evangelios de la Mujer“ .......................................................... 157 Alexej Klutschewsky und Eva Maria Synek Orthodoxe Frauen und die Bibel im Russland des 19. Jahrhunderts ......................... 173 3. STUDIEN ZUM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM Angela Berlis Die Bibel in Liturgie und Frömmigkeit am Beispiel des Kreuzeskränzchens in Bonn ............................................................. 188
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Inhaltsverzeichnis
Ruth Albrecht Das Weib schweige? Protestantische Kontroversen über Predigerinnen und Evangelistinnen .................... 210 Doris Brodbeck Eine Schweizer Vorkämpferin für Frauenrechte: Bibelrezeption bei Helene von Mülinen .................................................................... 233 Ute Gause In der Nachfolge Jesu: Diakonissen und Bibelauslegung am Beispiel Eva von Tiele-Wincklers .................. 244 Michaela Sohn-Kronthaler Bibellektüre als Motivation für diakonisch-soziale Initiativen am Beispiel von Elvine Gräfin de La Tour (1841–1916)............................................ 255 4. LITERATUR UND KUNST Bernhard Schneider Lesende Katholikinnen im deutschen Sprachraum und die Bedeutung der Bibel zwischen 1850 und 1914 ............................................. 273 Magda Motté Zwischen Dienst und Rebellion: Deutschsprachige Schriftstellerinnen und ihr Verhältnis zur Bibel ........................... 304 Katharina Büttner-Kirschner Exemplarische Marienbilder und Bibelszenen im Werk Marie Ellenrieders (1791–1863): Konstruktion weiblicher Kommunikationsräume des Religiösen .............................. 320 Elfriede Wiltschnigg Alttestamentliche Frauen in Bibelillustrationen des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Julius Schnorr von Carolsfeld und Gustave Doré ........................... 330
Abkürzungsverzeichnis und Bibliografie ................................................................... 351 Bibelstellenregister ..................................................................................................... 383 Personenregister .......................................................................................................... 389 AutorInnen ................................................................................................................. 397
Einleitung Ruth Albrecht und Michaela Sohn-Kronthaler Die Verwandlung der Welt – diesen Titel gab der in Konstanz lehrende Historiker Jürgen Osterhammel seiner voluminösen Geschichte des 19. Jahrhunderts, die in kurzer Zeit fünf Auflagen erreichte.1 Neben allem Wandel, der die Epoche zwischen 1789 und 1914/18 bestimmt, dürfen jedoch die beständigen Elemente nicht übersehen werden. Zu den Kennzeichen des langen 19. Jahrhunderts gehört, dass die christlichen Konfessionen und Milieus sich in erheblichem Maß ausdifferenzierten. Diese Binnendifferenzierung war gleichzeitig begleitet von Säkularisationstendenzen, die allerdings nicht dazu führten – wie lange Zeit von der Forschung angenommen –, dass die Bedeutung religiöser Deutungssysteme insgesamt zurücktrat.2 Alle christlichen Kirchen und auch die Gemeinschaften, die erst im Laufe dieses Jahrhunderts durch Abspaltungen bzw. Neugründungen entstanden, maßen den biblischen Texten eine entscheidende Bedeutung zu. Bei genauerem Blick zeigen sich hier große Unterschiede. Die Bibellektüren und die Interpretationen biblischer Texte wurden von disparaten Strömungen beeinflusst. Weiterhin hatten das schlichte Lesen und das Hören der Heiligen Schrift in Gottesdiensten und privater Erbauung ihren Platz. Daneben gewann jedoch im Laufe des langen 19. Jahrhunderts die kritische exegetische Betrachtung der biblischen Überlieferung zunehmend an Raum. Die diversen Zugangsweisen zur Bibel spiegeln sich u. a. in den vielen verschiedenen Bibelausgaben und Bibelübersetzungen, von denen ein kleiner Teil in den hier versammelten Beiträgen Verwendung findet. Die bewährten Bibelausgaben – insbesondere die von der katholischen Kirche verwendete Vulgata sowie die von den lutherischen Kirchen benutzten Übersetzungen Martin Luthers – behielten zwar ihre Bedeutung, doch neue Editionen und Übersetzungen markieren durch die Breite der unterschiedlichen Zugänge zur Bibel die Ablösung autoritativer Auslegungstraditionen. Nicht jede Gruppe oder Strömung des 19. Jahrhunderts bediente sich einer eigenen Bibelausgabe, mit etlichen Neuaufbrüchen waren jedoch auch neue Herangehensweisen an die biblische Überlieferung verbunden. Die Veränderungen, die in dem sogenannten langen 19. Jahrhundert vor sich gingen, wirkten sich auf alle Bereiche des Lebens und Denkens aus. Männer wie Frauen standen vor neuen Herausforderungen, die in der Regel für die Geschlechter unterschiedlich aussahen. Frauen gewannen größere Freiräume als zuvor: Diese Aussage gilt für das weibliche Geschlecht insgesamt, nicht jedoch für jede einzelne Frau. Die Moderne eröffnete überhaupt erst die Möglichkeit, dass Frauen einen Platz als Subjekt, als eigenständiges Individuum, als politische Akteurin und Staatsbürgerin beanspruchen konnten. Trotz der extremen normativen Kodifizierung ihres Alltagslebens er-
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Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München: Beck, 52010). 2011 erschien eine weitere Sonderausgabe. OSTERHAMMEL, Verwandlung, 1239–1278.
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Ruth Albrecht und Michaela Sohn-Kronthaler weiterte sich für Frauen in dieser Zeit der Bereich des Möglichen, und neue kühne Aussichten rückten in greifbare Nähe.3
Diese Sätze aus der Einleitung zum Band über das 19. Jahrhundert in der fünfteiligen Geschichte der Frauen stehen unter dem Leitmotiv „Ordnungen und Freiheiten“. Mit diesen beiden Begriffen versuchen die Herausgeberinnen des Buches die widersprüchlichen Tendenzen des Jahrhunderts unter der Perspektive von Frauen zu fassen. Die Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert gehört zu den Schwerpunkten der historischen Frauenforschung, die seit den 1970er Jahren damit begann, feministische Theorien auf die Vergangenheit anzuwenden. Religiöse Aspekte fanden zunächst wenig Beachtung, inzwischen jedoch kommt eine Rekonstruktion des sogenannten langen Jahrhunderts nicht mehr ohne die Beachtung der weibliche Lebensentwürfe vielfach bestimmenden religiösen Orientierungen aus.4 Die Geschichte der Frauen widmet drei der zwanzig analytischen Kapitel diesem Aspekt, indem der Katholizismus, der Protestantismus und das Judentum thematisiert werden.5 Die Bibel als das grundlegende schriftliche Dokument des Christentums verbindet zum einen alle christlichen Konfessionen – zum anderen jedoch bilden unterschiedliche Herangehensweisen an die Heilige Schrift bisweilen trennende Merkmale der konfessionellen Familien. Die Differenzen hinsichtlich der Rezeption und Interpretation der biblischen Überlieferung trennen aber auch die verschiedenen Strömungen in den großen Kirchen voneinander. Im 19. Jahrhundert stießen diese Gegensätze scharf aufeinander und gaben Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen. Sieht man von Einzeluntersuchungen ab, so erschienen 2006 und 2007 gleich zwei Aufsatzbände, die sich dem Verhältnis von Frauen zur biblischen Tradition zuwenden. Marion Ann Taylor und Heather E. Weir veröffentlichten eine Publikation, in welcher Frauen und ihre Rezeption des Buches Genesis präsentiert werden. Der Sammelband, den Christiana de Groot und Marion Ann Taylor – beide haben auch als Autorinnen an dem nun vorliegenden Band mitgewirkt – veröffentlichten, macht Bibelinterpretatorinnen des 19. Jahrhunderts bekannt; weitere Werke kamen in den vergangenen Jahren hinzu.6 Es ist bezeichnend, dass sich bislang noch keine größere deutschsprachige 3
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Geneviève FRAISSE und Michelle PERROT, „Einleitung“, in 19. Jahrhundert (hg. v. dens.; Geschichte der Frauen 4; Frankfurt: Campus, 1994), 11–17. Die Originalausgabe erschien 1991 auf Italienisch. Die Reihe Women & Religion in America, die von 1981 bis 1986 in drei Bänden erschien, beginnt mit dem 19. Jahrhundert: Rosemary Radford RUETHER und Rosemary Skinner KELLER, Hg., Women and Religion in America 1: The Nineteenth Century (New York: Harper & Row, 1981). Michela DE GIORGIO, „Das katholische Modell“, in FRAISSE und PERROT, 19. Jahrhundert, 187–220; Jean BAUBÉROT, „Die protestantische Frau“, in FRAISSE und PERROT, 19. Jahrhundert, 221–236; Nanca GREEN, „Die jüdische Frau: Variationen und Transformationen“, in FRAISSE und PERROT, 19. Jahrhundert, 237–252. Marion Ann TAYLOR und Heather E. WEIR, Hg., Let Her Speak for Herself: Nineteenth Century Women Writing on Women in Genesis (Waco, TX: Baylor University Press, 2006); Christiana DE GROOT und Marion Ann TAYLOR, Hg., Recovering Nineteenth-Century Women Interpreters of the Bible (SBLSymS 38; Atlanta: Society of Biblical Literature,
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wissenschaftliche Publikation mit der Rezeption der Bibel durch Frauen und deren Bibelverständnis auseinandergesetzt hat. Das 2012 in den USA publizierte Handbook of Women Biblical Interpreters, von Marion Ann Taylor herausgegeben, das zum ersten Mal Frauen aus allen Jahrhunderten als Interpretinnen biblischer Texte zusammenstellt, umfasst insgesamt 180 Artikel. Mehr als ein Drittel davon widmet sich Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts.7 Während dieses Handbuch vor allem repräsentative Vertreterinnen der unterschiedlichen Strömungen der Bibellektüre vorstellt, liegt der Fokus unseres Bandes darauf, die Diversität der Beiträge von Frauen zum Bibelverständnis und deren Bibelinterpretation hervorzuheben. Die verschiedenen christlichen Konfessionen weisen dabei unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten für Frauen auf. So hatten Protestantinnen andere Spielräume als etwa Katholikinnen, deren autonome Schriftauslegung grundsätzlich eingeschränkt oder durch die kirchliche Hierarchie reglementiert wurde, sieht man von speziellen Ausnahmefällen ab, wie der Beitrag von Adriana Valerio im vorliegenden Band zeigt. In den Einzelstudien unseres Bandes geht es darum, sowohl bekannte als auch weithin unbekannte Frauen und ihr Verhältnis zur Bibel in Wort und Bild zu dokumentieren. Autorinnen aus der Zeit vom späten 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert kommen mit ihren Deutungen und Interpretationen zur Sprache. Selbst den wenigen hier versammelten exemplarischen Untersuchungen gelingt es, die Vielfalt weiblicher Bibellektüre unter Beweis zu stellen. Trotz der notwendigen Beschränkung auf einige detaillierte Analysen lässt sich erkennen, dass eine große Bandbreite des Umgehens mit der Heiligen Schrift dokumentiert werden kann. Diese reicht von der Applizierung biblischer Gestalten als Vorbilder der eigenen Lebensgestaltung bis hin zur Beteiligung an der wissenschaftlichen Exegese. Die von Frauen verwendeten literarischen Gattungen, in denen sich ihre Beschäftigung mit der Bibel niederschlägt, reicht von Briefen, Tagebüchern und autobiografischen Aufzeichnungen über Erzählungen, Romane, Lieder und Gedichte bis hin zu exegetischen Spezialabhandlungen und Kommentaren zu einzelnen biblischen Büchern. Frauen sprachen und schrieben in ausgesprochen unterschiedlichen Kontexten vom kleinsten privaten Zirkel bis zu hin öffentlichen Massenversammlungen über ihr Bibelverständnis. Einigen ging es lediglich darum, die in ihrer kirchlichen Tradition vorgefundene Deutung biblischer Texte durch ihre Auslegung zu bestärken und zu bezeugen. Bei anderen stand ausdrücklich die Absicht im Vordergrund, die bisherige Lesart der Bibel durch den eigenen Beitrag zu verändern. Die Bi-
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2007). Siehe zudem Nancy CALVERT-KOYZIS und Heather E. WEIR, Hg., Strangely Familiar: Protofeminist Interpretations of Patriarchal Biblical Texts (Atlanta: Society of Biblical Literature, 2009); DIES., Hg., Breaking Boundaries: Female Biblical Interpreters Who Challenged the Status Quo (Edinburgh: T & T Clark, 2010). Zu den Einzeluntersuchungen siehe z. B. Anne LOADS, „Elizabeth Cady Stanton’s The Woman’s Bible“, in The Oxford Handbook of the Reception History of the Bible (hg. v. Michael Lieb et al.; Oxford: University Press, 2011), 307–322. Marion Ann TAYLOR, Hg., Handbook of Women Biblical Interpreters: A Historical and Biographical Guide (mithg. v. Agnes Choi; Grand Rapids, MI: Baker Publishing Group, 2012).
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bel bleibt wichtiger Bezugsrahmen, auch wenn sich Frauen von deren Geltungsanspruch distanzieren. Die Unterschiedlichkeit der Bibelrezeption durch Frauen erstaunt und ist bisher so nicht dargestellt worden. Konfessionelle Paradigmen werden durchbrochen, Jüdinnen, Christinnen und Frauen am Rande der christlichen Tradition lesen biblische Texte teilweise mit vergleichbaren Impulsen. Sie sehen sich darin bestärkt, für Gleichheit und Bildungschancen von Frauen einzutreten, weil sie in der biblischen Überlieferung Vorbilder für ihr Handeln finden. Konfessionelle Prägungen unterscheiden aber auch die Autorinnen: Eine russisch orthodoxe Einsiedlerin oder Äbtissin eines Frauenklosters liest die Bibel mit anderer Perspektive als eine amerikanische Methodistin oder eine vom Luthertum geprägte deutsche Evangelistin, die Impulse der angelsächsischen Heiligungsbewegung aufgreift. Als Konsequenz der oben angesprochenen Bedeutung der unterschiedlichen Bibelausgaben und -übersetzungen haben wir uns dazu entschieden, Bibelzitate in der Originalsprache zu belassen. Wenn wir eine der gängigen deutschsprachigen Bibelausgaben verwendet hätten, wäre dies auf Kosten der Differenziertheit geschehen: Eine italienische Nonne benutzte nicht die Lutherbibel, und eine methodistische Amerikanerin hatte vermutlich keine Kenntnis katholischer Ausgaben, die auf dem Vulgatatext beruhten. Nur italienische und spanische Bibeltexte wurden ins Deutsche übersetzt, die englischsprachigen Bibelzitate wurden möglichst im Original abgedruckt, um so die hohe Bedeutung des Bibeltextes und seiner Auslegung hervorzuheben. Zitate, die drei Zeilen und mehr umfassen, wurden ebenfalls im Englischen belassen, da spezifische Bedeutungen verloren gehen, wenn diese Formulierungen der Sprache des 19. Jahrhunderts ins Deutsche übertragen werden. In diesem Band lassen sich die meisten Beiträge regionalen Großräumen zuordnen. Perspektiven zum angloamerikanischen Raum enthalten die Analysen von Paul Chilcote, Marion Ann Taylor, Christiana de Groot, Elizabeth M. Davis und Pamela S. Nadell. Dem Methodismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, einer Periode der ungeschriebenen Geschichte methodistischer Frauen und ihres Verhältnisses zur Bibel, widmet sich Paul Chilcote. Der Autor erörtert, wie methodistische Frauen sich in dieser Phase mit der Heiligen Schrift beschäftigten, die für sie im Mittelpunkt ihres Lebens stand. Er zeigt auf, wie innovativ diese Frauen die Bibel interpretierten und für die Weitergabe der eigenen Glaubenserfahrungen nutzten, um auf diese Weise die wesleyanische Vision des christlichen Lebens zu rechtfertigen. Marion Ann Taylor beleuchtet mit ihrem Beitrag ein vergessenes Kapitel der Geschichte der kritischen Bibelauslegung im England des 19. Jahrhunderts. Sie untersucht die Reaktionen von Frauen auf die Vorstellungen und Ergebnisse der historisch-kritische Exegese sowie deren Rolle bei der Verbreitung von deren Resultaten. Spiegeln die Bibelinterpretationen dieser Frauen die allgemeinen Tendenzen der Bibelwissenschaft wider? Welchen Anteil hatten privilegierte, gut ausgebildete Frauen, von denen nur einige wenige sich ausdrücklich der akademischen Forschung widmeten, an der Veränderung bis hin zum Triumphzug der historisch-kritischen Exegese? Taylor widmet sich in besonderer Weise beispielhaft engagierten Frauen dieser Bewegung,
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wie Sarah Trimmer, Florence Nightingale, Constance und Annie Henrietta de Rothschild, Elizabeth Rundle Charles oder Christina Rossetti. Die vielfältige Rezeptionsgeschichte der Debora-Erzählung analysiert Christiana de Groot ausschnitthaft an sechs Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. Sie legt dar, wie diese Frauen die Bibel im Licht ihrer eigenen Erfahrungen gelesen und im RichterBuch Anklänge an die Themen ihrer eigenen Zeit gefunden haben. De Groot geht der Frage nach, in welcher Weise die Autorinnen die Debora-Erzählung und das DeboraLied besonders in Bezug auf ihre Positionen in der Frauenfrage bzw. im Verhältnis der Geschlechter im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich deuteten. Die römisch-katholische Ordensfrau Elizabeth M. Davis setzt sich mit Catherine McAuley, der Gründerin ihrer Schwesterngemeinschaft auseinander. Die Irin hatte im 19. Jahrhundert eine heute weltweit verbreitete Frauenkongregation ins Leben gerufen und damit zum sozialen Wandel beigetragen. Sie zeigt den Einfluss der Bibelauslegung McAuleys auf die von ihr errichtete Schwesternschaft auf. Obwohl diese die Heilige Schrift intuitiv und ohne kritische Selbstwahrnehmung interpretierte, nutzte sie die Bibel doch gezielt und mit Autorität, um an gesellschaftlichen Veränderungen mitzuwirken. Dabei nahm sie Strömungen der Bibelhermeneutik vorweg. In erster Linie war McAuley eine Bibelleserin, deren Texte zur Heiligen Schrift weit verbreitet waren und in der ganzen Welt von religiösen Gemeinschaften über Jahrzehnte gelesen wurden. Davis möchte mit ihrer Untersuchung die Annahme entlarven, die Bibel sei katholischen Frauen im frühen 19. Jahrhundert vollständig fremd gewesen. Der Beitrag von Pamela S. Nadell lenkt den Blick auf eine Gruppe amerikanischer Jüdinnen, die 1893 bei der World’s Columbian Exposition in Chicago öffentlich das Recht für sich in Anspruch nahm, die Bibel und die nachbiblischen jüdischen Texte auszulegen. Sie lasen diese Quellen auf der Folie ihrer Biografien und ihrer Epoche; ihre Ergebnisse veröffentlichten sie später sogar. Auf dem in zeitlicher Nähe stattfindenden World Parliament of Religions machten Josephine Lazarus und Henrietta Szold nicht nur die Bandbreite des Judentums im 19. Jahrhundert deutlich, sondern sie stellten auch ihre eigenen Interpretationen der jüdischen Tradition und Gegenwart vor. Frauen forderten das Recht für sich ein, das Judentum mitzugestalten sowie dessen Vergangenheit neu zu interpretieren. Mit ihren eigenen Bibelauslegungen unterstrichen sie ihre Forderung, rabbinische Texte zu lesen und ihr Verständnis dieser heiligen Literatur auf die großen Fragen ihrer Zeit anzuwenden. Nadell zieht eine direkte Verbindungslinie von den Rednerinnen auf dem Kongress jüdischer Frauen und dem Weltparlament der Religionen hin zu jenen, die die Bibel und die heiligen Texte des Judentums letztlich dazu nutzten, auch andere Frauenrechte, wie das auf Bildung und Zulassung zum universitären Studium oder bis hin zu Rabbinerinnen, einzufordern und damit einen Veränderungsprozess innerhalb des Judentums in Gang zu setzen. Der süd- und osteuropäische Raum wird von Marina Cacchi, Adriana Valerio, Inmaculada Blasco Herranz sowie von Alexej Klutschewskij und Eva Maria Synek ausgeleuchtet. Der Aufsatz von Marina Cacchi stellt ein Spezifikum der waldensischen Evangelisation im Italien des 19. Jahrhunderts vor. Er analysiert die Rolle der Heiligen Schrift in den Dienstberichten der Biblewomen (Bibelfrauen, Signore della bibbia), den weib-
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lichen Angestellten der waldensischen Kirche, die ihre Berichte regelmäßig an das ihnen vorgesetzte Komitee für Evangelisation (Comitato di Evangelizzazione) sandten. Diese Frauen übten einige Jahre bzw. einen großen Teil ihres Lebens hindurch eine systematische Predigttätigkeit im Rahmen ihrer Hausbesuche aus. Konkret wird der Stellenwert herausgearbeitet, der dem biblischen Text von diesen waldensischen Predigerinnen während ihrer Evangelisationstätigkeit beigemessen wurde. Zudem wird anhand dieser Berichte die Stellung und Bedeutung, die die Bibel in der Ausbildung ihrer Identität als Frauen, Gläubige und Lehrerinnen einnahm, sowie deren Verwendung durch die Biblewomen erhoben. Adriana Valerio, Mitherausgeberin der exegetisch-kulturgeschichtlichen Reihe Die Bibel und die Frauen, zu der unser Band gehört, untersucht die Verbreitung der Bibel in Italien und das Verhältnis der Frauen zu ihr anhand der Werke verschiedener italienischer Kongregationsgründerinnen. Welche Rolle spielte die Heilige Schrift bei den im 19. Jahrhundert entstandenen religiösen Frauengenossenschaften? Die Autorin stellt in diesem Kontext das Beispiel der Kongregationsgründerin und Schwester Maria Luisa Ascione vor, die zwischen 1837 und 1865 in ihren Illustrazioni 45 Bibelkommentare und damit eine eigenständige Bibelauslegung zu Papier brachte. Einen spanischen Beitrag zur Bibelrezeption bringt Inmaculada Blasco Herranz. Sie untersucht das Werk der Schriftstellerin und Journalistin María de la Concepción Gimeno de Flaquer, die sich selbst als konservative Feministin bezeichnete. Der Essay Evangelios de la Mujer (Frauenevangelien) ist eines der repräsentativsten Werke Gimenos, anhand dessen Blasco Herranz am deutlichsten zu zeigen vermag, wie der Schriftstellerin der Katholizismus dazu diente, die Gültigkeit und Legitimität ihrer feministischen Forderungen zu untermauern. Das gilt sowohl für die Bibeltexte als auch für die Stimmen kirchlicher Autoritäten, die sie ins Treffen führte. Gimeno benutzte ihre Schriften dazu, die geistige Ebenbürtigkeit von Frauen und Männern sowie die besondere Rolle der Frauen in der Menschheitsgeschichte und in der Kirchengeschichte aufzuzeigen. Gleichzeitig trat sie mit ihren aus historischem Material gewonnenen Argumenten für verbesserte Bildungsmöglichkeiten des weiblichen Geschlechts ein. Alexej Klutschewskij und Eva Maria Synek befassen sich mit dem Zugang orthodoxer Frauen zur Bibel, mit der Bedeutung der Heiligen Schrift für die Spiritualität von Nonnen und von anderen russischen Frauen, die in unterschiedlichen Formen ein geistliches und asketisches Leben führten. Ähnlich wie die Beiträge dieses Buches für den Bereich der katholischen Kirche darlegen, dass Frauen sich sehr wohl intensiv mit der Bibel befassten, gilt diese Feststellung auch für die bisher sehr viel weniger unter dieser Fragestellung untersuchten orthodoxen Kirchen. Die Ergebnisse von Klutschewskij und Synek regen hoffentlich dazu an, nach weiteren orthodoxen Frauen in anderen Ländern zu fragen, die gleichfalls im Kontext ihrer Tradition die Bibel auf lebendige Weise rezipierten. Die Artikel von Angela Berlis, Ruth Albrecht, Doris Brodbeck, Ute Gause und Michaela Sohn-Kronthaler haben Frauen des deutschsprachigen Raumes und deren Texte zum Gegenstand.
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Die Beziehung zwischen Bibel und Frauen im 19. Jahrhundert thematisiert Angela Berlis unter dem Aspekt der Liturgie. Sie richtet ihren Blick vornehmlich auf die Art und Weise, wie eine Gruppe von Frauen, die dem Adel und dem Bürgertum entstammte, im 19. Jahrhundert die Bibel gelesen, für ihr Leben gedeutet und in religiöser Praxis gestaltet hat. Im Fokus stehen dabei Frauen, die zu einem geistlichen Kreis in Bonn gehörten und in der Regel unverheiratet waren („Bonner Kreuzeskränzchen“) und dem frühen Altkatholizismus zuzuordnen sind. Als Quellen dienen Berlis unveröffentlichte Briefe an männliche, zölibatär lebende geistliche Mitglieder dieses Kreises sowie eine von den untersuchten Frauen verfasste Litanei. Die weiblichen Mitglieder dieses Bonner Kreises setzten sich mit den biblischen Texten im Kontext der Katechese, der Liturgie, der (gemeinsamen) Lektüre der Kirchenväter, aber auch in Reflexion und Gespräch auseinander und stellten dabei eine Verbindung zum eigenen Leben her. Ruth Albrecht untersucht Kontroversen im Milieu der protestantischen Erneuerungsbewegungen. In einigen dieser Gruppierungen etablierten sich Frauen als Predigerinnen und Evangelistinnen unter Bezug auf neue Auslegungen von Bibeltexten. Die Autorin stellt Protagonistinnen vor, für die die Bibel von zentraler Bedeutung war. Sie begründeten ihre Aktivitäten mit biblischen Texten, gingen dabei jedoch in sehr unterschiedlicher Weise vor. Ihre Art der Bibellektüre weist viele Gemeinsamkeiten auf, die auf der Voraussetzung beruhen, dass es sich in den Schriften des Alten und Neuen Testamentes um die Offenbarung Gottes handele, die unmittelbar zu den einzelnen LeserInnen spricht. So zählte beispielsweise Adeline Gräfin von Schimmelmann zu den wenigen Frauen in der Zeit um 1900, die sich im Rahmen der neuen Frömmigkeitsbewegungen engagierten, und offen dafür eintraten, dass beide Geschlechter zur Verkündigung des Evangeliums berufen seien. Auf die zur reformierten Kirche der Schweiz gehörende Helene von Mülinen richtet Doris Brodbeck ihren Blick. Die Bibel war der Berner Patriziertochter in zweifacher Weise wichtig: Sie verlieh ihr Sprache – sowohl zum Klagen gegen kirchliche und gesellschaftliche Traditionen als auch zum Formulieren neuer Visionen. Anhand biblischer Texte drückte sie ihre Zweifel an für sie lebensfeindlich gewordenen Interpretationen der Bibel aus. In deren Texten fand sie aber auch Ansätze zur Stärkung der Frauenemanzipation und der Sozialpolitik, die sie als Präsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine verfolgte. In ihren Briefen, Vorträgen und Artikeln griff Helene von Mülinen oft biblische Bilder und Ausdrücke auf, ohne dies explizit zu machen. Der Beitrag zeigt auch auf, wie sie zu dieser Lesart der Bibel gelangte. Ute Gause setzt sich mit der aus Schlesien stammenden Eva von Tiele-Winckler auseinander, die zahlreiche Bibelauslegungen veröffentlichte. Die erbaulichen Schriften, die eine hohe Verbreitung erlangten, waren vor allem für die Diakonissenschwesternschaft gedacht, die Tiele-Winkler ins Leben rief. Die schlesische Adlige wendet die in den Erweckungsbewegungen typische individuelle Ausdeutung der biblischen Texte an, die von der Annahme der wörtlichen Inspiration der Bibel ausgeht: Jeder Vers spricht unmittelbar zum Leser und zur Leserin, da Gott selbst sich in seinem Wort offenbart. Im Fokus dieser Untersuchung stehen Auslegungen von TieleWinckler zu Texten des Propheten Jesaja und solche zur Bergpredigt.
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Wie von Tiele-Winckler zählt auch Elvine Gräfin de La Tour zu den typischen Vertreterinnen der weiblichen Diakonie. Michaela Sohn-Kronthaler zeigt in ihrem Beitrag die Bedeutung der Bibellektüre für Elvine de La Tour auf, die aufgrund ihrer erwecklichen Frömmigkeit ein bedeutendes diakonisch-soziales Werk in Friaul und in Kärnten schuf, das noch heute in Österreich fortbesteht. Die existenzielle Aneignung der Heiligen Schrift machte die aktive Nächstenliebe von Elvine de La Tour für das christliche Leben unverzichtbar. Im Licht der Heiligen Schrift interpretierte sie das Wachstum ihrer karitativen Einrichtungen; daneben spielte das volksmissionarischevangelisierende Anliegen bei ihr eine wichtige Rolle. Dafür gewann sie aufgrund ihrer internationalen Vernetzung EvangelistInnen aus der Schweiz und verschiedenen deutschen Zentren der Erweckungsbewegung, um die Heilsbotschaft in ihrer Heimat verkündigen zu lassen. Der Themenbereich (religiöse) Literatur und Kunst wird von Bernhard Schneider, Magda Motté, Katharina Büttner-Kirschner und Elfriede Wiltschnigg behandelt. Bernhard Schneider geht insofern einer innovativen Frage nach, als er sich ausführlich mit populärer geistlicher Literatur beschäftigt, die nachweislich für ein weibliches katholisches Lesepublikum gedacht war. Die Verfasser waren vor allem Männer, insbesondere Geistliche. Folgende Aspekte leiten Schneiders Analysen: Können geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt werden? Welche Frauenbilder entwickelten die AutorInnen aus der Bibel heraus? Oder belegen sie ihre vorhandenen Frauenbilder durch die Bibel bzw. projizieren sie das gewünschte Verhalten von Frauen auf biblische Gestalten zurück? Als Ergebnis kann Schneider aufgrund seiner umfangreichen Recherchen festhalten, dass die Bibel in der Andachts- und Erbauungsliteratur für Frauen nur einen Bezugspunkt neben anderen darstellte. Die Adaption biblischer Stoffe in der Literatur des langen 19. Jahrhunderts analysiert Magda Motté. Wie sie ausdrücklich betont, handelt es sich um eine Reduktion der Materialfülle auf eine sehr spezifische Fragestellung; die Bilanz kann aus ihrer Sicht nur als dürftig bezeichnet werden, da andere Stoffe im Vordergrund der literarischen Sujets standen. An exemplarischen Texten deutschsprachiger Schriftstellerinnen zeichnet Motté nach, wie diese die biblischen Überlieferungen etwa zu Maria von Magdala, Lilit und Judit literarisch gestalteten. Dabei ließen sich anhand von Lilit und Judit ungewöhnliche Genderoptionen thematisieren. Katharina Büttner-Kirschner bringt exemplarisch ausgewählte Marien-Darstellungen und weitere biblische Bilder der Konstanzer Malerin Marie Ellenrieder, die als eine der ganz wenigen Künstlerinnen dieser Epoche Themen der Heiligen Schrift aufgreift. Die Autorin setzt sich in ihrer Analyse mit Einheit und Differenz der Geschlechterrepräsentation im Werk Ellenrieders auseinander. Die abgedruckten Darstellungen zeigen, wie die Künstlerin sich zwischen Tradition und Innovation verortete, wenn sie etwa Maria als Verfasserin des Magnifikats im Bild festhält. Bei Ellenrieders Wiedergabe von Frauen fällt auf, dass sie den Aspekt der Kommunikation hervorhebt. Die Bibelillustrationen der beiden berühmten Künstler Julius Schnorr von Carolsfeld und Gustave Doré untersucht Elfriede Wiltschnigg. Sie beschäftigt sich zunächst mit den Profilen der beiden und führt in die Techniken ein, die sie jeweils zur Gestaltung ihrer künstlerischen Bibeldeutung verwendeten. Durch die Vergleiche treten so-
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wohl die Ähnlichkeit hinsichtlich Auffassung biblischer Themen als auch die großen Unterschiede deutlich hervor. In den Blick genommen werden alttestamentliche Frauen in den Einzel- und Massenszenen, an vielen Stellen dokumentiert durch die Reproduktion der Holzschnitte und Holzstiche. Die Spannung zwischen traditionellen Genderkonzepten und einzelnen unüblichen Interpretationen des Verhaltens von Männern und Frauen gehört zu den Aspekten, die dieser Beitrag hervorhebt.
Methodistische Frauen und die Bibel: Die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift im 19. Jahrhundert Paul W. Chilcote Ashland Theological Seminary, Ohio The Wesleyan revival, like other movements of Christian renewal, was at its heart a rediscovery of the Bible. The early Methodist people believed that [the Bible] was not simply a compilation of letters and histories, of prayers and biographies, of wise sayings and encouraging words. They realized that these ancient words could become the „Living Word“ for them as they encountered scripture anew through the inspiration of the Holy Spirit. They understood the Bible to be the supreme authority in matters of faith and practice. In both preaching and personal study, the scriptural text sprang to new life, forming, informing, and transforming their lives with immediate effect and lasting influence.1
John Wesley (1703–1791), der Begründer des Methodismus im 18. Jahrhundert, verstand sich selbst als „Mann des einen Buches“. Seine Vertiefung in die Heilige Schrift prägte nicht nur sein eigenes geistliches Leben und das seines Bruders, des Mitbegründers der MethodistInnen und wichtigen Kirchenliedverfassers Charles Wesley (1707– 1788), sondern auch all jene, die sich der von den beiden Brüdern geleiteten religiösen Erweckungsbewegung anschlossen. Durch die Wiederentdeckung der Botschaft des Evangeliums von der freien Gnade und Liebe für alle fühlten sich gerade Menschen, die an den Rändern der Gesellschaft lebten, befreit. In Anbetracht dieser Wiederentdeckungen innerhalb der Church of England überrascht es kaum, dass der frühe Methodismus im Grunde eine Bewegung von Frauen war. Obwohl die prominentesten Führungsgestalten Männer wie die Wesley-Brüder waren, agierten Frauen in dieser Erneuerungsbewegung als Wegbereiterinnen, Führerinnen und sogar Predigerinnen. Für all diese Tätigkeiten spielte die Bibel eine zentrale Rolle. Auch nach dem Tode der Wesley-Brüder im späten 18. Jahrhundert übten Frauen weiterhin tiefgreifenden Einfluss auf die methodistischen Gemeinschaften aus. Vor allem die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren von großer Bedeutung, denn in dieser Zeit erlangten die MethodistInnen die strukturelle Unabhängigkeit von der Church of England. Die Geschichte der methodistischen Frauen und der Bibel während dieser Zeit der Konsolidierung ist im Wesentlichen ungeschrieben. Um zu verstehen, wie methodistische Frauen sich in dieser Periode mit der Heiligen Schrift beschäftigten, sind einige Einblicke in die wesleyanische Hermeneutik sinnvoll. Zuerst sollen diese Grundlagen in den Blick genommen werden, um dann zu untersuchen, wie Frauen die Bibel verstanden und nutzten, um Erzählungen über ihre Glaubenswege zu entwerfen und ihre wesleyanische Vorstellung des christlichen Lebens zu rechtfertigen. Abschließend sollen die Beiträge dreier Frauen zur methodistischen Bewegung kurz 1
Paul W. CHILCOTE, Early Methodist Spirituality: Selected Women’s Writings (Nashville: Kingswood Books, 2007), 28.
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betrachtet werden, nämlich die von Mary Hanson, Mary Tatham und Mary Bosanquet Fletcher.
1. Wesleyanische Hermeneutik Die Wesleys lehrten ein sehr dynamisches Verständnis der Heiligen Schrift. Sie bekannten, wie die Mitglieder der Church of England auch, dass die „Heilige Schrift all das, was notwendig für die Erlösung ist, enthält“ (Artikel VI der Articles of Religion). Sie glaubten, dass alle Inhalte der Bibel göttlich inspiriert seien. Gleichzeitig betonten sie, dass der Geist jene Gemeinden inspiriert, die nach Gottes Wahrheit streben. Die Heilige Schrift sahen sie als doppelt inspiriert, nämlich in ihrem Aufbau und in ihrer Verwendung. Wegen des fortwährenden Wirkens des Heiligen Geistes in den Glaubensgemeinschaften wird die Bibel in neuen historischen und kulturellen Kontexten und Gemeinden lebendig, da ihre Erzählungen durch die Tradition erleuchtet, in persönlichen religiösen Erfahrungen beglaubigt und durch die Vernunft bestätigt werden. Die dynamische wechselseitige Beziehung dieser vier Elemente wird als das „wesleyanische Quadrilateral“ bezeichnet. Die Wesley-Brüder näherten sich der Heiligen Schrift auf eine offene, aufnahmebereite und demütige Weise. Sie widmeten sich vor allem der Anwendbarkeit des Wortes Gottes, das sich auf die persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubenspraktiken bezieht. John Wesley sprach in Bezug auf das Wort Gottes häufig vom „Lesen, Markieren und innerlich Verdauen“. Steve Harper bemerkt hierzu: „Die wissenschaftliche Bibelexegese war Wesley nicht fremd, aber er bevorzugte immer noch die alte Praxis der lectio divina (göttliche Lesung) als seinen Weg, sich der Bibel zu nähern.“2 John Wesley prägte seinen AnhängerInnen eine große Liebe zur Bibel ein, die Suche nach der Heiligen Schrift bestimmte ihre Frömmigkeit. Die tiefe Betrachtung der Texte nahm alle Fähigkeiten und Sinne ganz in Anspruch. Sie lasen die Bibel täglich, grundsätzlich morgens und abends in Verbindung mit dem andächtigen Gebrauch des Book of Common Prayer. Ihre einzige Absicht war es, den Willen Gottes zu erkennen und zu befolgen. Sie wurden gelehrt, das, was sie als Ergebnis ihrer Reflexion und Kontemplation über die Bibel erlernt hatten, auch anzuwenden. Neben dieser grundsätzlichen biblischen Fundierung ihres Lebens betonten die Wesley-Brüder auch eine Annäherung an die Heilige Schrift durch die Analogie des Glaubens und die Korrelation. Das erste dieser beiden hermeneutischen Prinzipien erscheint kompliziert, was aber vor allem an der heute wenig verständlichen Terminologie Wesleys liegt. Das Konzept der „Analogie des Glaubens (ἀναλογίαν τῆς πίστεως)“ entnahm er Röm 12,6; die hier verwendete Formel kann als „nach dem Maße des Glaubens“ oder „in Einvernehmen mit dem Glauben“ oder „nach dem Maßstab des Glaubens“ wiedergegeben werden. 2
Steve HARPER, „Works of Piety as Spiritual Formation“, in The Wesleyan Tradition: A Paradigm for Renewal (hg. v. Paul W. Chilcote; Nashville: Abingdon Press, 2002), 87–97; 91f.
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Wesley glaubte, dass die ganze Heilige Schrift nach dem Maßstab Christi gelesen werden müsse, den die Gemeinschaft der Glaubenden bekennt. In seiner Beschäftigung mit der Bibel versuchte er, sie im Blick auf den Jesus, an den er glaubte, zu verstehen. Die Heilige Schrift fungiert sozusagen als eine durch Christus geformte Linse, durch die man blickt, wenn man den Text interpretiert. Einfach ausgedrückt meint dieses Prinzip: „[…] ein Christ versteht die Bibel ausgehend vom Geist Christi oder dessen Gemüt“. So bildet das Neue Testament, v. a. die Evangelien, das Gerüst für ein Verständnis aller biblischen Texte. Nach diesem Verständnis lesen ChristInnen die Bibel mit Jesu Augen. Als zweites wichtiges hermeneutisches Prinzip könnte man heute das der Korrelation bezeichnen – auch wenn Wesley nicht genau diese Terminologie benutzte. Die Schrift legt die Schrift aus. Dieser grundlegende Zugang zur Bibel besteht aus zwei zusammenhängenden Teilen. Erstens sollen schwierige Texte, die nicht einfach zu verstehen sind, mit anderen Texten, die sich mit demselben Sachverhalt beschäftigen, in Beziehung gesetzt werden. Diese Parallelpassagen wirken als Schlüssel, um deren Bedeutung zu verstehen. Zweitens müssen einzelne Teile der Schrift im Kontext der ganzen biblischen Geschichte begriffen werden. Dies setzt offensichtlich eine sehr tiefe Kenntnis des biblischen Zeugnisses voraus, und dies ist einer der Gründe dafür, warum MethodistInnen sich einer ernsthaften Beschäftigung mit der Schrift widmeten. Sie setzten jeden einzelnen Bibeltext mit dem Gesamtinhalt der Schrift in Beziehung. Eine maßgebliche Frage leitet beide Dimensionen dieses biblischen Prinzips: Stimmt diese Passage der Schrift mit dem Rest der Bibel überein? Für die Beschäftigung mit der Schrift, in der die Prinzipien der Korrelation und der Analogie des Glaubens verknüpft werden, entsteht so ein wirksames hermeneutisches Werkzeug, welches das Verständnis potenziell erweitert.
2. Ein Beispiel für Bibelexegese von Frauen Ein Brief von Mary Bosanquet Fletcher – einer bekannten Predigerin, über die wir später mehr erfahren werden – an John Wesley veranschaulicht die Wirksamkeit des wesleyanischen Zugangs zur Schrift. Dieses Schreiben ist für unsere Untersuchung über methodistische Frauen und die Bibel bestens geeignet, da es von Frauen im geistlichen Amt und den sogenannten Verboten in den Schriften des Paulus handelt. In den 1760er und 1770er Jahren zeichnete sich infolge der wesleyanischen Erweckung das Problem der Predigerinnen ab. Bis dahin hatte Wesley diese Praktik nur stillschweigend geduldet, aber eine Reihe bedeutender Frauen, darunter Mary Bosanquet Fletcher, stellten das Thema der göttlichen Berufung von Frauen mit großer Dringlichkeit in den Vordergrund. Für die Frauen war die Schrift eine Befreiung, aber die Freiheit, die sie in Christus durch das Wort entdeckten, verlangte oft ihre prophetische Bezeugung dieser Wahrheit angesichts von Widerständen. Mary Bosanquet Fletchers Verteidigung des Predigerinnenamtes stellte sich gegen die sozialen und kirchlichen Normen ihrer Zeit und forderte großen Mut. Für sie war die Bibel nicht nur die Quelle weiblicher Stärke,
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sondern auch ein Buch der Verheißung, das den Schlüssel zu einem gläubigen und erfüllten Leben enthielt. Dieser Brief stammt aus dem Juni 1771, bestimmte jedoch die Beschäftigung mit diesen schwierigen Texten und den Zugang dazu, den Mary hier umreißt, bis zu ihrem Tod im Jahre 1815. Eben jener Brief sollte für viele andere Frauen des frühen 19. Jahrhunderts den Weg für das kirchliche Amt bereiten. Auf diesen bezogen sie sich immer wieder, wenn sie ihren neuentdeckten Status innerhalb des Methodismus beizubehalten versuchten. Wir haben hier also das Beispiel einer Frau, die durch ihren Gebrauch der Bibel ihr Recht verteidigt, die gute Nachricht des Evangeliums zu verkündigen. Zwei Auszüge aus dem Brief veranschaulichen die wichtigsten hermeneutischen Prinzipien. Zunächst befasst sich Mary Bosanquet Fletcher mit Einwänden, die auf 1 Kor 11 und 1 Kor 14 beruhen: Objection. But the Apostle says, „I suffer not a woman to speak in the Church, but learn at home.“ I answer, was not that spoke[n] in reference to a time of dispute and contention, when many were striving to be heads and leaders, so that his saying, „She is not to speak“, here seems to me to imply no more than the other, she is not to meddle with Church government. Objection. Nay, but it meant literally, not to speak by way of edification while in the Church or company of promiscuous worshippers. Answer. Then why is it said, „Let the woman prophesy with her head covered“, or can she prophesy without speaking? Or ought she to speak, but not to edification?3
Mary Bosanquet Fletcher beschreibt nicht nur präzise den genauen Kontext, in dem diese Anweisungen gegeben wurden, sondern setzt die scheinbar verbietende Redeweise von Kap. 14 mit der offensichtlich entgegengesetzten Redeweise von Kap. 11 in Beziehung. Sie zeigt also das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Texten im selben Brief auf, die den gleichen Sachverhalt behandeln. Diese Korrelation eröffnet ihr die Möglichkeit, die Praxis der Frauen durch die Grundhaltung der Schrift zu verteidigen. In ihrer Antwort geht sie auf die Kritik an Frauen wegen angeblich unbescheidenen Verhaltens ein und verweist wiederum auf andere Frauen in der Schrift, die auf Basis von Gottes Gebot sprachen. Gleichzeitig wird Bosanquet Fletchers Interpretation dieser Texte auf Grundlage der Analogie Christi deutlich. Objection. Well, but is [preaching] consistent with that modesty the Christian religion requires in a woman professing godliness? Answer. It may be, and is, painful to it, but I do not see it inconsistent with it, and that for this reason. Does not Christian modesty stand in these two particulars, purity and humility? First, I apprehend it consists in cutting off every act, word and thought that in the least infringes on the purity God delights in. Secondly, in cutting off every act, word and thought which in the least infringes on humility, knowing thoroughly our own place, and rendering to everyone their due. Endeavouring to be little, and unknown, as far as the order of God will permit, and simply following that order, leaving the event to God. 3
Duke University, Perkins Library, Sarah Crosby, Manuscript Letterbook, 1760–1774.
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Now I do not apprehend Mary sinned against either of these heads, or could in the least be accused of immodesty, when she carried the joyful news of her Lord’s Resurrection and in that sense taught the Teachers of Mankind. Neither was the woman of Samaria to be accused of immodesty when she invited the whole city to come to Christ.4
3. Frauen im frühen 19. Jahrhundert und der Gebrauch der Bibel Auch nach dem Tod der Wesley-Brüder setzten Methodistinnen diesen innovativen Zugang zur Schrift fort. In ihren Werken lassen sich andere hermeneutische Methoden erkennen als in der frühen methodistischen Auffassung und deren Gebrauch der Schrift. Die Frauen waren überzeugt, dass die Schrift sich selbst als wahr erweist, und deshalb wollten sie diese für sich selbst sprechen lassen. Sie nahmen den Kontext der Äußerungen ernst und versuchten, literarische Elemente angemessen zu interpretieren. Sie betrachteten die Anordnungen als verborgene Verheißungen. Die Untersuchung dieser Vielfalt von Themen zeigt einen komplizierten hermeneutischen Nexus, dessen erschöpfende Darstellung das Ausmaß dieses Aufsatzes sprengen würde. Beim Blick auf die Schriften der Methodistinnen des frühen 19. Jahrhunderts zeigen sich zwei Problemfelder, in denen die Schrift eine wichtige Rolle spielte. Zum einen boten die biblischen Erzählungen Sprache und Bilder für die eigenen Glaubensgeschichten der Frauen. Zum anderen nutzten die Frauen die Schrift, um ihre Schwestern und Brüder durch das Glaubensleben zu leiten und die wesleyanische Vision des christlichen Lebens zu verteidigen. 3.1 Berichte über Glaubenserfahrungen Die Wesley-Brüder ermutigten alle ihre AnhängerInnen, ihre Glaubensgeschichten miteinander zu teilen und ihre Erfahrungen mit Gott aufzuzeichnen. Deswegen hinterließen die MethodistInnen einen erstaunlichen Nachlass, der aus Bekehrungs- und Befreiungsgeschichten sowie Geschichten über das Wachsen in der Gnade besteht. In diesen geistlichen Lebenserzählungen der Frauen nimmt die Bibel einen wichtigen Platz ein. Oftmals wurde die Beschäftigung mit der Schrift zum Katalysator für Veränderungen und Wachstum. Die Erfahrung von Hester Ann Rogers (1756–1794), einer der geschätztesten Vertreterinnen des frühen Methodismus, beleuchtet diesen biblischen Fokus. Reading the word of God in private this day was an unspeakable blessing. O! how precious are the promises. What a depth in these words: „For all the promises of God in him
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CROSBY, Letterbook.
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Paul W. Chilcote are yea, and in him, amen, unto the glory of God“ [2 Cor 1:20]. Yes, my soul, they are so to you!5
Diese Auszüge aus den geistlichen Erzählungen von Frauen und deren Anspielungen auf die Schrift zeigen den weit verbreiteten Gebrauch biblischer Bildersprache in der Schilderung ihrer religiösen Erfahrung. Hester Ann Rogers berichtet von der befreienden Wirkung der Gnade Gottes an einem der einschneidenden Wendepunkte ihres Lebens: His power alone can change my rebel heart. My disease is too deep for any other. I can only perish. Nothing can be worse. So there is no hazard. If he is God, he is able and he will save me according to his promise, „Come unto me, all ye that labor and are heavy laden, and I will give you rest“ [Matt 11:28]. Then did he appear to my salvation. In that moment my fetters were broken, my bands were loosed, and my soul set at liberty. The love of God was shed abroad in my heart [cf. Rom 5:5] and I rejoiced with joy unspeakable.6
Im frühen 19. Jahrhundert wurden Glaube und Mut einer Frau durch nichts mehr auf die Probe gestellt als durch die Erfahrung einer Geburt. Von Mary Entwisle (ca. 1770– 1804), einer bekannten Tagebuchschreiberin, die mit einem berühmten methodistischen Wanderprediger verheiratet war, ist folgendes Gebet in dieser lebensbedrohlichen Situation überliefert: Several symptoms assure me the hour of trial is very near. I feel no painful anxiety. I feel power to cast my burden upon the Lord. He has promised he will not leave or forsake me. He has said I will strengthen you. I will help you, yes, I will uphold you with the right hand of my righteousness [cf. Isa 41:10]. O my God, I rely upon your word. You will be a very present help in the time of trouble [cf. Psa 46:1]. How great and precious are your promises and they all are yea and amen in Christ Jesus to them that believe [cf. 2 Cor 1:20]. O increase my faith, confirm my hope, and may I trust in you and not be confounded. Amen. Even so, Lord Jesus.7
Sarah Crosby (1729–1804), die erste methodistische Predigerin, berichtet, wie Gott ihre besondere Berufung bestätigte. Mit Hilfe von biblischen Anspielungen schließt sie auf eine enge Verbindung zwischen ihrer Berufung und der des heiligen Petrus: Not long after this, as I was praying, my soul was overwhelmed with the power of God. I seemed to see the Lord Jesus before me and said, „Lord, I am ready to follow thee, not only to prison, but to death [cf. Luke 22:33], if thou wilt give me strength.“ And he spoke these words to my heart, „Feed my sheep“ [John 21:17]. I answered, „Lord, I will do as thou hast done; I will carry the lambs in my bosom, and gently lead those that are with young“ [Isa 40:11].8 5 6 7 8
Hester Ann ROGERS, An Account of the Experience of Hester Ann Rogers (New York: Hunt & Eaton, 1893), 132. ROGERS, Account of Hester Ann Rogers, 24. John Rylands University Library of Manchester, Mary Entwisle, Manuscript Diary, The Methodist Archives and Research Centre. „An Account of Mrs. Crosby, of Leeds“, Wesleyan Methodist Magazine 29 (1806): 465–
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Dank des biblischen Zeugnisses konnten diese Frauen die Ereignisse ihres Lebens in die große Erzählung von Gottes Fürsorge und Zuwendung einschreiben. Die Schrift lieferte ihnen sozusagen die Sprache, in der sie von ihrem Leben berichten konnten. Ihr Gebrauch der Bibel bestätigte ihren legitimen Platz in der Glaubensgemeinschaft. 3.2 Apologetik und geistliche Begleitung Mehrere Auszüge zeigen uns den Gebrauch der Schrift in Apologetik und geistlicher Begleitung. Mary Hansons methodistische Apologia ist einem Brief von 1810 entnommen. Er entstand etwa ein Jahr nach ihrer ersten Berührung mit den MethodistInnen. Darin beantwortet sie die Fragen einer Freundin und verteidigt ein ganzheitliches Verständnis des Evangeliums, nach dem Rechtfertigung durch Gnade und Glauben das Grundgerüst für ein der Liebe gewidmetes Leben bildet. In ihrer Vorstellung eines biblischen Christentums müssen Glaube und Taten durch ein dynamisches Spannungsfeld zusammengehalten werden. Bemerkenswert ist auch die meisterhafte Zusammenführung von Bausteinen aus den Evangelien und den Paulusbriefen. That the doctrines of the Wesleyans are those of the Bible, I am more and more convinced [...]. You ask me, „If I place any dependence on my own performances, as being at all able to recommend me to the favor of God?“ Not in the least. Justified freely by his grace [cf. Rom 3:24], I must come just as I am, poor, blind, and naked, or he will never receive me. But, observe, I believe that sanctification follows; the tree is known by its fruits. „If a man love me He will keep my commandments“ [John 14:15]. Faith works by love [cf. Gal 5:6]; this is the wedding garment [cf. Matt 22:12]. By the fruits of faith I believe you and I shall be judged at the last day. Read Matthew chapter 25 [ ...]. While we continue in the grace of God freely imparted, watching and praying, loving God with all our hearts, none shall pluck us out of the Redeemer’s hands [cf. John 10:28f.]; nothing shall separate us from his love [cf. Rom 8:39]. I do believe that if you and I have once received the grace of God, it is our own fault, and chargeable alone upon ourselves, that we ever lose it. God deals with us as with reasonable creatures, and certain conditions are prescribed to us. We are to ask, seek, and knock for the Holy Spirit [cf. Matt 7:7]; having received it, we are to watch and pray [cf. Matt 26:41], deny ourselves [cf. Luke 9:23], abstain from all appearance of evil [cf. 1 Thess 5:22]. The power is from above, and through Christ we can do all these things [cf. Phil 4:13].9
Oftmals brachten die Frauen in ihren Briefen ihre Gefühle im Hinblick auf die Unterdrückung zum Ausdruck, die sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche erfuhren. Die gegenseitige Unterstützung spendete ihnen dabei Trost. Diese Unterstützung wurde oft in der Sprache der Schrift ausgedrückt. Sie gebrauchten die Worte und Konzepte der Bibel, um Gottes Gegenwärtigkeit und Fürsorglichkeit in Erinnerung zu ru-
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473; 471f. Adam CLARKE, Memoirs of the Late Eminent Mrs. Mary Cooper, of London (Halifax: William Nicholson & Sons, [nach 1822]), 56f.
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fen. Sarah Crosby schrieb den folgenden ermutigenden Brief an eine angehende Predigerin und potenzielle Kollegin und legte darin die Grundüberzeugungen ihres eigenen Lebens und Amtes offen: Where we know we have the Lord’s approbation, we should stand like the beaten anvil to the stroke, or lie in his hands as clay in the hands of the potter [Jer 18:6]. Through evil report and good we pass, but all things work together for good to them that love God [Rom 8:28]. Speak and act as the spirit gives liberty and utterance. Fear not the face of man, but with humble confidence trust in the Lord, looking unto him who is able and willing to save to the uttermost all that come unto God by him [cf. Heb 7:25]. In waiting upon the Lord, we renew our strength [cf. Isa. 40:31].10
Auf ähnliche Weise versuchte Mary Bosanquet Fletcher 1807 eine Predigerkollegin während einer Zeit der Anfechtung zu trösten, zu ermutigen und zu unterstützen. Bemerkenswert ist hierin die Verwendung des Bildes vom Töpfer und vom Ton – generell eine der beliebtesten biblischen Metaphern von Frauen dieser Zeit, um ihr Verhältnis zu Gott zu beschreiben. Remember we are now „heirs of God, and joint heirs with Jesus Christ, if so be that we suffer with Him, that we may be glorified together“ [Rom 8:17]. The one thing our Lord aims at in all our many trials is to bring us perfectly to lose our wills in his. Therefore if you strive by acts of resignation to lie as clay before the potter [cf. Jer 18:6], your soul shall grow as the lily, and cast out its root like Lebanon [cf. Hos 14:5] [...] hang on the word of the Lord, with a continual cry in your heart, „Thy will be done“ [Matt 26:42]. Let it comfort you to remember that our bodies are, as St. Paul says, members of Jesus Christ [cf. 1 Cor 6:15], and the body is for the Lord, and the Lord for the body [cf. 1 Cor 6:13]. Will he not then take care of his own?11
4. Drei exemplarische Frauen In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts waren bereits einige Frauen in den methodistischen Gemeinschaften aufgestiegen. Sie dienten als Vorbilder – als heilige Frauen, die die wesleyanische Vision des Glaubens, der durch Liebe wirkt und der zur Heiligung des Herzens und des Lebens führt, lebten. Im frühen 19. Jahrhundert waren es drei Frauen mit dem Vornamen Mary, die sich durch ihr Wissen und ihre Weisheit in Bezug auf das Wort Gottes auszeichneten: die theologisch hoch gebildete und geistlich weitsichtige Mary Hanson, die renommierte Bibelexegetin Mary Tatham und die vermutlich bekannteste Predigerin ihrer Zeit, Mary Bosanquet Fletcher. Jede dieser
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Zechariah TAFT, Hg., Original Letters, Never Before Published on Doctrinal, Experimental and Practical Religion (Whitby: George Clark, 1821), 66f. Mary FLETCHER, „Letter of Mary Fletcher to Elizabeth Collet“, Arminian Magazine (Bible Christian) 2.8 (August 1823): 286–288; 286f.
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Frauen setzte sich auf eigene Weise mit der Schrift auseinander, aber alle näherten sich ihr im Geiste Wesleys durch einen unkonventionellen Gebrauch. 4.1 Mary Hanson (1786–1812) Über Mary Hanson ist nur wenig bekannt. 1786 in London geboren, lernte sie 1809 den Methodismus kennen und wurde ein Jahr später ein begeistertes Mitglied der methodistischen Gemeinschaft. 1811 heiratete sie John Cooper und gebar im folgenden Jahr einen Sohn. Weniger als eine Woche nach der Geburt starb sie infolge von Komplikationen. Im Jahr, in dem sie mit den Methodisten in Kontakt kam, begann sie mit dem Schreiben persönlicher Meditationen, die für ihr Alter sehr reif wirkten. In den Titeln ihrer Betrachtungen klingen die methodistischen Themen an, die sie sich zu eigen machte. Sie formulierte eine Vision des christlichen Lebens, die im Kern erneuernd und befreiend ist. Das biblische Porträt einer erlösten Menschheit, das sie zeichnet, ist ein Bild voller Edelmut, Freude, Würde und Achtung. Das letzte Ziel besteht in wahrer Freude oder Seligkeit, wohin das Kind Gottes gezogen wird, nicht aus Eigennutz, sondern zur Ehre Gottes. Auszüge aus zwei ihrer Meditationen, Trust in the Lord und Experimental Religion, gewähren einen interessanten Einblick in ihr Schaffen. Es wird ersichtlich, wie sie sich auf die Schrift stützt und die biblischen Geschichten in ihr eigenes Glaubensverständnis übernimmt. Blessed is the man that trusts in the Lord [cf. Jer. 17:7], that makes the Lord his portion, who, with eyes filled with tears of gratitude can say, „The Lord is my Shepherd“ [Psa 23:1]. Blessings beyond mortal calculation are included in this personal appropriation. My soul, diligently seeks to be included in the number of that blessed flock. He who said, „Let there be light, and there was light“ [Gen 1:3], who, by an act of his will, created man and, but for infinite love, might have destroyed him when he broke the only command imposed on him. He who takes up the isles as a very little thing, who counts the nations as a drop of a bucket [cf. Isa 40:15] – even this God proposes himself for your portion, O my soul!12
In diesem Ausschnitt stammen die meisten Anspielungen aus dem Alten Testament, aber in ihren Reflexionen über den Glauben als Erfahrung einer Beziehung stehen die Evangelien in ihrer Vorstellung des christlichen Lebens im Mittelpunkt. Sie schreibt: O for simplicity of heart to receive the kingdom of God as a little child [cf. Mark 10:15]! […] Away with caviling and skeptical reasoning. When did these ever produce joy and peace in believing [Rom 15:13] [...] O may the religion I profess be a well of water springing up within me [cf. John 4:14]! A holy principle producing joy and peace. A
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CLARKE, Memoirs of Mary Cooper, 33f.
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principle which shall make me soar above the world, feel the divine origin of my soul, and be constantly tending towards the source of all true felicity.13
Diese poetische, leicht mystische Sprache finden wir in vielen Schriften methodistischer Frauen ihrer Zeit. 4.2 Mary Tatham (1764–1837) Mary Tatham, geb. Strickland, stammt aus einer Familie streng calvinistischer Dissenter. Im Alter von fünf oder sechs Jahren kam es zu ihrer ersten religiösen Erfahrung. Während sie in der Bibel die Beschreibung des neuen Himmels und der neuen Erde in der Offenbarung des Johannes las, wurde sie tief ergriffen. Die Beschäftigung mit diesen Texten beeinflusste sie stark, 1784 erhielt sie ihr erstes methodistisches Zeugnis, das class ticket.14 Drei Jahre später heiratete sie John Tatham in der Old Church in Leeds, einem geschichtlich bedeutsamen Zentrum der methodistischen Frauenaktivitäten. Im Laufe von mehr als vierzig Jahren hatte sie die Verantwortung für mindestens drei Klassen. Klassen waren kleine Gruppen innerhalb des Methodismus und das Herz jeder methodistischen Gesellschaft. Um sich selbst auf die geistliche Leitung der ihr anvertrauten MethodistInnen vorzubereiten, schrieb sie Kommentare zu biblischen Texten. 13 dieser Texte erschienen in ihren Memoirs.15 Einige dieser Ausführungen waren einfühlsam argumentierende Erklärungen wichtiger Lehren, wie die Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben und Heiligung. Mary Tathams Erklärung zu Röm 3,10 zeigt ihre erstaunliche Fähigkeit, die Nuancen der paulinischen Soteriologie zu erfassen. Sie widmet sich vor allem der Rechtfertigung durch den Glauben im Herzen der wahren Gläubigen: It fills him with love and with astonishment at the greatness of God’s mercy. It works an utter abhorrence of all sin and casts out slavish fear [cf. 1 John 4:18]. It opens a way of access between God and the believing soul and imparts unto him the spirit of adoption, whereby he cries, „Abba, Father“ [Rom 8:15]. Thus delivered, the language of his heart is no longer, „O wretched man that I am, who shall deliver me from the body of this death“ [Rom 7:24]? but, „Thou art my God [Psa 118:28], and my Deliverer [cf. Psa 40:17], the Holy One of Israel! whom have I in heaven but thee? and there is none upon earth that I desire in comparison of thee“ [cf. Psa 73:25]. Being thus freed from the guilt and dominion of sin and initiated into the family and favour of God, he becomes a
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CLARKE, Memoirs of Mary Cooper, 42. Die Mitglieder der methodistischen Gesellschaften erhielten sogenannte class tickets, um ihre gewissenhafte Teilnahme an den Treffen der Klassen nachzuweisen. Die Führung einer Gesellschaft beurteilte den Status jedes Mitglieds regelmäßig und erneuerte die class tickets einmal pro Quartal. Eine rechenschaftspflichtige Mitgliedschaft war sehr bedeutend. Ihre Kommentare beinhalten Erläuterungen zu Gen 49,19; Lev 22,2; Ps 11,6; Ps 27,16; Jes 33,14; Mal 2,7; Mt 3,11, Mt 15,16; Lk 10,31, Lk 13,5; Röm 12,14; 1 Petr 1,5; 1 Joh 2,15.
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servant of righteousness, has his fruit unto holiness, and his end everlasting life [cf. Rom 6:22].16
Nachdem Tatham die Rechtfertigung als die Grundlage des Glaubenslebens dargestellt hat, richtet sie ihr Augenmerk auf das eigentliche Ziel. Ihre Erläuterung der Heiligung wurzelt in den zwei großen paulinischen Texten Gal 5,6 und Eph 3,19, die beide in den Predigten der Wesleys sehr zentral waren: Until the love of God becomes the ruling principle of the soul, no work is acceptable unto him. For whatsoever is not of faith working by love [cf. Gal 5:6] has in it of the nature of sin, not flowing from a pure principle within. But saving faith purifies the heart, converts the soul, sanctifies the affections, and enlarges the desires towards God and man so that, if it were possible, it would embrace the whole world and bring every soul to taste and enjoy the sweetness of that love of which he so freely partakes. O that I may no longer rest satisfied without a full salvation, but seek to be saved even to the uttermost, that I may be filled with all the fullness of God [cf. Eph 3:19].17
4.3 Mary Bosanquet Fletcher (1739–1815) Einzigartig für den frühen Methodismus ist die Stellung von Mary Bosanquet Fletcher als Ratgeberin, Begleiterin, Leiterin kleiner Gruppen, Frau eines Predigers, Mäzenin und erfolgreiche Autorin. Darüber hinaus war sie die beliebteste Predigerin der methodistischen Bewegung. Sie widmete sich bis zu ihrem Tod im Jahre 1815 diesen Tätigkeiten. Hinsichtlich der Themen und Ziele hallten in ihren Predigten das Wirken John Wesleys und das seiner männlichen Wanderprediger deutlich nach, doch unterschieden sich ihr Ansatz und ihr homiletischer Stil von ihrem „Vater in Gott“, wie sie Wesley nannte. Dieser tendierte zu einer minimalistischen Hermeneutik, Mary Bosanquet Fletcher hingegen fürchtete sich nicht, sich der Führung des Geistes anzuvertrauen, um die Wahrheit der Bibel zu verkündigen. Kurzum: Wesley war der Ansicht, die beste Interpretation der Bibel sei gar keine Interpretation, während Fletcher die allegorische Interpretation bevorzugte. Man könnte sogar sagen, dass sie bildhafte Erklärungen der Texte ausschmückte, solange ihre Erläuterungen sich als tief verwurzelt erwiesen und mit dem Grundtenor der Schrift übereinstimmten. Zwei Beispiele zeigen ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Das erste Beispiel stammt aus ihrer Darstellung des Gebetes des Jabez in 1 Chr 4,10. Dort erweitert sie den zentralen Inhalt des Gebetes, das die Bitte um die Erweiterung der Grenzen enthält. Sie gibt zu bedenken: „Könntest du nicht bitten: ‚Herr, erweitere die Grenze meines Gebets.‘ Vertreibe diese Geister des Unglaubens oder der Ablenkung, die meine Annäherungen an den Thron Deiner Gnade so sehr unterbrechen.“ Zweitens bittet sie den Herrn darum, die „Grenze ihres Verständnisses zu erweitern“. Sie ermutigt alle, die Dimensionen von Gottes unbegreiflicher Liebe zu er16 17
Joseph BEAUMONT, Hg., Memoirs of Mrs. Mary Tatham (London: Simpkin & Marshall, 1838), 66f. BEAUMONT, Memoirs of Mary Tatham, 73f.
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fassen. Die Aufgabe, „Gott zu erkennen“, überragt alles Streben. Drittens plädiert Mary Bosanquet Fletcher für eine Erweiterung der geistlichen Liebesfähigkeit und betet: Give us, O Lord, the ardent flaming love [...] Grant us love to you with our whole hearts. For whatever we have besides, or without this love, we are but as sounding brass or a tinkling cymbal [cf. 1 Cor 13:1].
Viertens warnt sie, dass all diese Erweiterungen unangebracht sind, wenn sie ein anderes Ziel als die Herrlichkeit Gottes und die Verwirklichung des Reiches Gottes anstreben. Und schließlich bittet sie Gott darum, die Grenze ihres Glaubens zu erweitern, „weil Gott diese Gnade als Maßstab für alles Übrige gewählt hat“.18 In Mary Bosanquet Fletchers Predigt über Apg 27,29 – übrigens der einzigen noch vorhandenen Predigt einer Frau aus dem frühen 19. Jahrhundert – macht sie von der gleichen allegorischen Methode Gebrauch. Der biblische Text berichtet von der Überfahrt des Apostels Paulus nach Rom. Der Vers, in dem es über die Schiffsleute heißt: Sie „warfen vom Heck aus vier Anker und wünschten den Tag herbei“, bietet sich für ihre Art der Interpretation geradezu an. Sie mahnt: Well, let us try to cast out one anchor now, […] I am sensible your cable is short. Therefore we must seek for some ground as near you as we can. We will try, if we can, to find it in the „Creating Love of God“, surrounding us on every side.
Zum zweiten Anker erklärt sie die „erlösende Liebe“. Jene, denen es nicht gelingt, im heiligen Opfer Christi einen festen Grund zu finden, sollen versuchen, Gottes Zusagen zu vertrauen. Mary Bosanquet Fletcher fährt dann fort, die wunderbaren Zusagen an alle, die aufgrund von Gottes Gnade ergangen sind, aufzuzählen, und zeigt, wie „Gott es gefällt, durch bescheidene Mittel Großes zu tun“. Den letzten Anker erläutert sie als „Gottergebenheit“. Sie fordert auf: Now cast your whole soul, your everlasting concerns, […] on the free unmerited love of the Saviour, and live upon, „Thy will be done“ [...]. For the very end of our creation is, that we may become „the habitation of God through the Spirit“.
5. Zusammenfassung Für die methodistischen Frauen des frühen 19. Jahrhunderts stand die Bibel im Mittelpunkt ihres Lebens. Wie ihre wesleyanischen Ahninnen entwickelten auch sie eine innovative Interpretation der Bibel und milderten eine zu enge oder reduktionistische hermeneutische Betrachtung ab. Ihre geistlichen Erzählungen waren von der Sprache und der Bildwelt der Bibel geprägt, die Schrift diente zur Verteidigung der wesleyanischen Ideen und bei der geistlichen Begleitung und Anleitung. Die Schriften dieser Frauen beeindrucken die LeserInnen ganz einfach deswegen, weil das biblische Zeug18
Alle Zitate aus Mary FLETCHER, „Letter of Mary Fletcher to Mrs. Dalby“, Wesleyan Methodist Magazine 41 (1818): 687–690; 688–690.
Methodistische Frauen und die Bibel
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nis in ihnen durchscheint. Sie widmeten ihr Leben einer tiefgründigen Beschäftigung mit der Schrift und begegneten dem „lebendigen Wort“ in den Erzählungen von Gottes Gnade und Liebe. Sie verinnerlichten die Worte, Ideen und Visionen des heiligen Textes. Sie versuchten, ihr biblisches Christentum authentisch zu leben, damit in ihnen die Liebe und Gnade aufscheint, der sie in den Berichten über Gottes mächtige Taten der Errettung begegneten. Das Bekenntnis aus den handschriftlichen Aufzeichnungen einer wenig bekannten Methodistin namens Anna Reynalds (1775–1840) bezeugt die Erfahrung ihrer Glaubensschwestern: „Das Wort Gottes wurde meine Lust, und es brachte meiner Seele wahrhaftig den Geist und das Leben.“19
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Zit. nach Paul W. CHILCOTE, Hg., Her Own Story: Autobiographical Portraits of Early Methodist Women (Nashville: Kingswood Books, 2001), 116. Ihre Manuskripte wurden 1961 von Thomas Shaw transkribiert. Dieses modernisierte Exzerpt wurde mit der Transkription von Shaw abgeglichen.
Frauen und die historisch-kritische Exegese im England des 19. Jahrhunderts Marion Ann Taylor Wycliffe College, University of Toronto Im England des 19. Jahrhunderts wurde das traditionelle Verständnis der Bibel als inspiriert, unfehlbar, historisch und wissenschaftlich zuverlässig von einem neuen rationalen, wissenschaftlichen Zugang in Frage gestellt, der im Allgemeinen als historisch-kritische Exegese (biblical criticism) bezeichnet wird. Diese Methode konzentriert sich auf historische, philologische und literarische Fragestellungen, die die Entstehung der biblischen Texte berühren. Im Fokus stehen dabei insbesondere Fragen nach Datierung, VerfasserInnen und Quellen. Die historisch-kritische Exegese wurde im 19. Jahrhundert auch als historische, literarische oder höhere Kritik (historical, literary, higher criticism) bezeichnet – Begriffe, die den Unterschied zur Textkritik (lower criticism) markieren. Letztere zielte darauf ab, den originalen Text der biblischen Schriften zu ermitteln. Im Folgenden wird der Begriff der historisch-kritischen Exegese in einem umfassenden Sinn verstanden, der sowohl den higher als auch den lower criticism einbezieht und diese beiden den traditionellen, frommen, populären und unkritischen Zugängen bei der Beschäftigung mit der Bibel gegenüberstellt. Die Geschichte der Entstehung der historisch-kritischen Exegese in England wurde bereits viele Male dargestellt. John Rogerson unterscheidet drei Phasen in der Entwicklung der Exegese im England des 19. Jahrhunderts.1 In der ersten Phase (1800–1857) waren kritische Ideen und Methoden schon bekannt; manchmal wurden sie angewandt und noch sehr viel öfter widerlegt. Während der zweiten Phase (1858–1879) verbreiteten diese kritischen Ansätze sich sehr viel weiter dank auflagenstarker Streitschriften von WissenschaftlerInnen und Männern in leitenden kirchlichen Positionen. Während der dritten Phase (1880–1900) setzte sich laut Rogerson die historisch-kritische Exegese in England in einer Form endgültig durch, die mit dem evangelischen und dem katholischen Verständnis der fortschreitenden Offenbarung vereinbar war. WissenschaftlerInnen wie Rogerson bezogen sich in ihren historischen Darstellungen der Bibelkritik auf Leben und Werk von Schlüsselfiguren aus dem akademischen Bereich sowie auf leitende Kirchenmänner. In diesen Standardwerken fehlen die nichtprofessionellen InterpretInnen der Heiligen Schrift, die vox populi. In deren Schriften 1
John ROGERSON, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century (London: SPCK, 1984); Hans-Joachim KRAUS, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 41988); Rudolf SMEND, Gesammelte Werke 3: Epochen der Bibelkritik (Beiträge zur Evangelischen Theologie 109; München: Chr. Kaiser, 1991); Marie-Theres WACKER, „Geschichtliche, hermeneutische und methodologische Grundlagen“, in Luise SCHOTTROFF et al., Feministische Exegese: Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen (Darmstadt: WBG, 1995), 3– 79.
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wird sichtbar, wie diejenigen, die weder eine öffentliche Stimme noch eine Funktion in Wissenschaft oder Kirche ausübten, die Vorstellungen und Methoden der historischkritischen Exegese rezipierten. Dieser Beitrag soll die Reaktionen von Frauen in England auf die historisch-kritische Exegese untersuchen. Dabei wird chronologisch nach den von Rogerson vorgeschlagenen drei Phasen vorgegangen. Hierbei zeigt sich, dass die Bibelinterpretation von Frauen die allgemeinen Tendenzen der Bibelwissenschaft durchaus widerspiegelt. Frauen hatten einen wichtigen Anteil an der Veränderung bis hin zum Triumphzug der historisch-kritischen Exegese in England: Sie eigneten sich diese Methodik an, kritisierten diese, wandten sie an und förderten deren Verbreitung. Ein vergessenes Kapitel der Geschichte der kritischen Bibelauslegung in England wird auf diesem Weg wiederentdeckt.
1. Interpretinnen im „Jahrhundert der Frauen“ in England Das Jahrhundert, in dem es in England zu diesem paradigmatischen Wechsel hinsichtlich der Ergebnisse und Methoden der historisch-kritischen Exegese kam, erlebte auch große Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Natur und der Rolle von Frauen im privaten und öffentlichen Bereich.2 Anne Mercier erfasste die Stimmung vieler ZeitgenossInnen der letzten Dekaden des Jahrhunderts, indem die Hauptperson ihres Buches The Story of Salvation erklärt: „[…] dieses ist das Jahrhundert der Frauen genannt worden [...] und es ist sicher, dass Frauen über eine große Macht verfügen und dass sie einen enormen Anteil an Arbeit übernehmen, meistens ausgezeichnet.“3 Frauen und Männer diskutierten über die sogenannte Frauenfrage, sie debattierten grundsätzliche Aspekte wie Bildung und Wahlrecht für Frauen, aber auch spezifisch theologische Fragen wie die, ob Frauen predigen, an theologischen Debatten teilnehmen oder die Heilige Schrift lehren und interpretieren dürfen.4 Die Bibelinterpretinnen des 19. Jahrhunderts stießen auf zahlreiche Hindernisse. Sie hatten mit kulturellen Klischees zu kämpfen, wonach Frauen wegen ihrer Natur nicht in der Lage zu ernsthafter Gelehrsamkeit seien. Die renommierte Schriftstellerin Elizabeth Barrett Browning (1806–1861) etwa vertrat folgende Ansicht:
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Zur Lebenswelt von Frauen im 19. Jahrhundert, zum Themenkomplex Frauen und Bibelauslegung sowie Interpretationszugängen von Frauen vgl. Marion Ann TAYLOR und Heather E. WEIR, Hg., Let Her Speak for Herself: Nineteenth Century Women Writing on Women in Genesis (Waco, TX: Baylor University Press, 2006), 2–17. Jerome [Anne] MERCIER, The Story of Salvation: Thoughts on the Historic Study of Scripture (London: Rivingtons, 1887), 10. Zum Verhältnis von Frauen und Theologie vgl. Julie MELNYK, Hg., Women’s Theology in Nineteenth-Century Britain: Transfiguring the Faith of their Fathers (New York: Garland, 1998).
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Marion Ann Taylor There is a natural inferiority of mind in women [...] [women have] minds of quicker movement, but less power and depth [...] and that we are under your [men’s] feet, because we can’t stand upon our own.5
Sich mit Theologie und insbesondere mit Fragen der Bibelinterpretation zu befassen, wurde als für Frauen anstößige und „nicht damenhafte“ intellektuelle Aktivität betrachtet. Diejenigen, denen es gelang, in die Welt der Gelehrsamkeit und Wissenschaft einzudringen, verschleierten ihre eigene Gelehrtheit oftmals dadurch, dass sie ihre Arbeit als unselbstständig bezeichneten und sich an ein spezielles Publikum, wie z. B. Arme, Ungebildete, Frauen oder Kinder, wandten. Der namhafte leitende Kirchenvertreter John Keble z. B. war der Meinung, seine junge Protégé Charlotte Yonge (1823–1901) ließe in ihrem Buch Conversations on the Catechism (1859)6 zu viel von ihrem eigenen Sachverstand im Griechischen und in der Theologie durchblicken, wenn sie Frauen darstellte, die Griechisch beherrschten: „[…] wenn Damen Griechisch zitieren, sollten sie angeben, sie hätten von ihren Vätern und Brüdern diese Dinge gehört“.7 Trotz solcher Hindernisse verfassten Frauen in England Hunderte von Büchern über die Bibel. Viele übernahmen den Topos der Demut in ihren Vorworten und spielten die Rolle ihrer eigenen Forschungen herunter, indem sie behaupteten, ihre Arbeit sei nur eine Vereinfachung von oder eine Zusammenstellung aus Werken männlicher Gelehrter oder Theologen. Um ihren Arbeiten mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, fügten sie oft Empfehlungen von angesehenen Klerikern oder Akademikern bei. So widmete Anne Mercier, die Ehefrau eines anglikanischen Geistlichen, ihr Buch über die historische Untersuchung der Bibel als Zeichen ihrer Dankbarkeit und ihrer, wenn auch „unangemessenen“, Ehrerbietung dem „Right Reverend The Lord Bishop of Gloucester and Bristol“ Charles Ellicott (1819–1905) und erhob nicht den Anspruch, dass es auf Gelehrsamkeit beruhe. In ähnlicher Weise begann Julia Greswells wissenschaftliche Publikation Grammatical Analysis of the Hebrew Psalter (1873) mit zwei Unterstützungsschreiben männlicher Gelehrter, die an ihren Vater, den Geistlichen Richard Greswell, adressiert sind und die die Grammatik den Studenten empfehlen, die sich in Oxford auf das Theologiestudium vorbereiten.8 Die Publikationen englischer Frauen über die Bibel richteten sich an ein breites Publikum, an junge und alte, männliche und weibliche, gebildete und ungebildete LeserInnen. Sie interpretierten die Bibel auf traditionelle Weise durch Kommentare, Pre5
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Barrett an Browning, 04.07.1845, in Letters of Robert Browning and Elizabeth Barrett (New York: Harper & Brothers, 1899), 116f., zit. nach Joan N. BURSTYN, Victorian Education and the Ideal of Womanhood (London: Croom Helm, 1980), 71. Charlotte YONGE, Conversations on the Catechism (London: J. & C. Mozley, 1859). Elizabeth JAY, „Charlotte Mary Yonge and Tractarian Aesthetics“, Victorian Poetry 44/1 (2006): 43–59; 51. Julia GRESWELL, Grammatical Analysis of the Hebrew Psalter (Oxford: Parker, 1873). Vgl. J. Glen TAYLOR, „Miss Greswell Honed Our Hebrew at Oxford: Reflections on Joana J. Greswell and Her Book, A Grammatical Analysis of the Hebrew Psalter (1873)“, in Breaking Boundaries: Female Biblical Interpreters Who Challenged the Status Quo (hg. v. Nancy Calvert-Koyzis und Heather E. Weir; Edinburgh: T & T Clark, 2010), 85–106.
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digten, Katechismen und Bücher mit biblischen Geschichten sowie weniger traditionell durch Romane und Briefe.9 Ihre Bücher erlebten oft zahlreiche Auflagen, einige wurden in anderen Ländern veröffentlicht und übersetzt. Während die meisten dieser Werke von Frauen über die Bibel auf traditionellen, frommen, populären und unkritischen Zugängen beruhten, widmet sich dieser Aufsatz insbesondere den Schriften von Frauen, die sich den Methoden und Ergebnissen der Bibelkritik verpflichtet sahen.10 Allgemein lässt sich über diese außergewöhnlichen Frauen festhalten, dass sie Zugang zu wissenschaftlichen und theologischen Ressourcen hatten, der Mittel- oder Oberschicht entstammten, gut ausgebildet waren, meist Privatunterricht genossen hatten und mehrere Sprachen beherrschten, darunter Griechisch und Hebräisch. Es kann nicht erstaunen, dass Frauen, wenn sie sich an ein ähnliches Publikum wandten und dieselben Ressourcen nutzten, zu den gleichen Antworten wie die Männer gelangten.11 Sobald die Frauen, die sich auf dem Gebiet der Exegese bewegten, allerdings ihre eigenen Erfahrungen als Töchter, Ehefrauen und Mütter in die Auslegung und Anwendung der biblischen Texte einfließen ließen, traten die Unterschiede in den Interpretationen deutlich hervor.12
2. Phase I (1800–1857): Neue Ansätze werden bekannt, übernommen und angefochten In der ersten der von Rogerson vorgeschlagenen Phasen der historisch-kritischen Exegese in England beteiligten sich nur einige WissenschaftlerInnen und TheologInnen sowie nur ausgesprochen wenige populäre SchriftstellerInnen an der kritischen europäischen Debatte. Die Frauen, die direkten Kontakt zu Gelehrten oder akademischen und kirchlichen Publikationen hatten, nahmen die neuen Entwicklungen wahr; sie grif-
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Zu den vielfältigen Genres, die Frauen nutzten, die über die Bibel schrieben, vgl. TAYLOR und WEIR, Let Her Speak for Herself. Für Beispiele gängiger Psalmeninterpretationen von Frauen im 19. Jahrhundert vgl. Marion Ann TAYLOR, „The Psalms Outside the Pulpit: Applications of the Psalms by Women of the Nineteenth Century“, in Interpreting the Psalms for Teaching and Preaching (hg. v. Herbert W. Bateman IV und D. Brent Sandy; St. Louis, MO: Chalice, 2010), 219–232.284–286. Vgl. die wichtige Arbeit von Linda WILSON, Constrained by Zeal: Female Spirituality amongst Nonconformists: 1825–1875 (Carlisle: Paternoster, 2000), die zu dem Schluss kommt, dass die Spiritualität der Frauen in dem von ihr untersuchten Milieu weitgehend der der Männer entspricht und umgekehrt. Beispiele für herkömmliche Interpretationen der Genesis von Frauen aus dem 19. Jahrhundert, die von ihren Erfahrungen als Frauen geprägt sind, finden sich in TAYLOR und WEIR, Let Her Speak for Herself. Vgl. auch Marion Ann TAYLOR, „‚Cold Dead Hands Upon Our Threshold‘: Josephine Butler’s Reading of the Story of the Levite’s Concubine: Judges 19–21“, in The Bible as a Human Witness to Divine Revelation: Hearing the Word of God through Historically Dissimilar Traditions (hg. v. Randall Heskett und Brian P. Irwin; Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 469; London: T & T Clark, 2010), 259–273.
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fen einige der diskutierten Punkte auf und bezogen neue Erkenntnisse in ihre Schriften ein. 2.1 Sarah Trimmer (1741–1810) Sarah Trimmer, die pädagogische Schriften verfasste, kann als Beispiel einer hoch gebildeten englischen Frau gelten. Sie trug dazu bei, die zeitgenössische britische Bibelwissenschaft zu verbreiten. Sie beschäftigte sich ausgiebig mit Fragen der Pädagogik und mit der Bibel, um sich auf die Erziehung ihrer zwölf Kinder vorzubereiten.13 Trimmers erste pädagogische Schrift An Easy Introduction to the Knowledge of Nature and the Reading of the Holy Scriptures (1780) knüpfte an die Erfahrungen an, die sie beim Hausunterricht ihrer eigenen Kinder gesammelt hatte. Ihre Erfahrungen als Sonntagsschullehrerin für arme Kinder an der Brentford Sunday School brachten sie dazu, für ein breiteres Publikum als nur für ihre Freundinnen und deren Kinder zu schreiben. Die letzte von ihren mehr als dreißig Publikationen bestand aus einem Kommentar zur gesamten Bibel unter dem Titel A Help to the Unlearned (1805). In diesem Werk „passte“ sie die „Überzeugungen anerkannter Kommentatoren“ an das „gewöhnliche Verständnis“ der „Ungebildeten an, die sich keine teuren Hilfsmittel zur Bibelinterpretation“ leisten konnten.14 Sie erklärte die Passagen, die sie für schwierig hielt, und konzentrierte sich auf die Textstellen, die sie als besonders wichtig dafür einschätzte, um „einen vernünftigen Glauben und dessen richtige Umsetzung hervorzubringen“.15 Gelegentlich führte sie ihre LeserInnen in Diskussionspunkte über die Chronologie oder die Bedeutung des hebräischen oder griechischen Originals ein. In ihrem Kommentar zu Gen 20 unterbreitete Trimmer etwa den Vorschlag, dass der Vorfall mit Abimelech zu einem früheren Zeitpunkt in Abrahams Leben stattgefunden haben könnte. Als Kommentar zu Gen 21 notierte sie, dass das hebräische Wort für „lachen“ in der autorisierten Bibelversion auch als „frohlocken“ übersetzt werden könnte. Auf diese Weise rehabilitierte sie Sara geschickt, indem sie vorschlug, dass diese über die Nachricht, sie werde ein Kind bekommen, frohlockte und nicht lachte.16 Allerdings folgte Trimmer nicht immer der Auffassung der Experten. Manchmal vermied sie theologische Kontroversen und ließ ganze Passagen – oder wie im Fall des Hohelieds – ein ganzes Buch aus, weil hiermit moralische oder interpretatorische 13 14
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Sarah TRIMMER, An Easy Introduction to the Knowledge of Nature and the Reading of the Holy Scriptures (London: Printed for the Author, 1780). Sarah TRIMMER, A Help to the Unlearned in the Study of the Holy Scriptures: Being an Attempt to Explain the Bible in a Familiar Way (London: T. Bentley, Bolt Court, 1805). Vgl. Heather E. WEIR, „Helping the Unlearned: Sarah Trimmer’s Commentary on the Bible“, in Recovering Nineteenth-Century Women Interpreters of the Bible (hg. v. Christiana de Groot und Marion Ann Taylor; SBLSymS 38; Atlanta: Society of Biblical Literature, 2007), 19–30. TRIMMER, A Help to the Unlearned, I. TRIMMER, A Help to the Unlearned, 25.
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Aspekte verbunden waren, die sich auf den sexuellen Bereich bezogen. Ihr Interpretationsansatz stand mit dem Mainstream englischer Bibelwissenschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Einklang, einer Zeit der gerade erst aufkommenden historisch-kritischen Exegese. Trimmer trug zur Verbreitung der Bibelwissenschaft bei, indem sie die Wichtigkeit der wortgetreuen historischen Bedeutung unterstrich, eine ganzheitliche Sicht auf die Geschichte betonte und die Evangelien als harmonisches Ganzes darstellte. 2.2 Mary Cornwallis (1758–1836) Mary Cornwallis, geb. Harris, war direkter an der wissenschaftlichen Bibelerforschung beteiligt als Sarah Trimmer.17 Über ihr Leben vor dem Jahr 1778, als sie den OxfordStipendiaten William Cornwallis heiratete, der mehr als fünfzig Jahre lang anglikanischer Priester in den Gemeinden Elham und Wittersham/Kent war, ist wenig bekannt. Die gewissenhafte Beschäftigung mit der Heiligen Schrift bildete einen Bestandteil ihrer spirituellen Übungen. Sorgfältig machte sie sich Notizen zu den Büchern, die sie in der umfangreichen Bibliothek ihrer Familie fand; einige weitere, die sie brauchte, kaufte sie hinzu. Sie war hoch gebildet und des Französischen, Hebräischen, Griechischen und Lateinischen mächtig. Ihre Notizen halfen ihr zunächst bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder. Später überarbeitete sie diese zu einem Kommentar zur Heiligen Schrift für ihren Enkelsohn. Dessen vorzeitiger Tod im Alter von zwölf Jahren inspirierte Cornwallis zur Publikation ihres vierbändigen, 2000 Seiten umfassenden Werkes Observations, Critical, Explanatory, and Practical, on the Canonical Scriptures (1817). Zu seinem Andenken wurde daraus die Errichtung einer kostenlosen Grundschule in der Kirchengemeinde ihres Mannes finanziert. Cornwallis’ Werk gleicht einem Standardkommentar in mehreren Bänden, der sich mit Fragestellungen zur wörtlichen Bedeutung, solchen zur Auslegung und mit praktischen Aspekten beschäftigt. Die Bücher beziehen sich auf Kommentare, Predigten und Aufsatzsammlungen über Themen wie Reisen, orientalische Sitten und Theologie. In ihren Kommentaren zum Buch Daniel weist Cornwallis z. B. auf Probleme hinsichtlich der Datierung des Buches hin und stellt fest: […] modern Jews deny Daniel to have been a prophet; and infidel Christians have asserted that his predictions, relative to the kings of Syria and Egypt, were written after the times of Antiochus Epiphanes, consequently after the events had taken place, which he affects to foretell.18
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Mary CORNWALLIS, Observations, Critical, Explanatory, and Practical, on the Canonical Scriptures (4 Bde; London: Baldwin, Cradock & Joy, 21820). Für mehr Informationen zu Cornwallis’ Arbeit als Bibelexegetin vgl. Marion Ann TAYLOR, „Mary Cornwallis: Voice of a Mother“, in DE GROOT und TAYLOR, Recovering Nineteenth-Century Women Interpreters of the Bible, 31–44. CORNWALLIS, Observation 3, 358.
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Cornwallis schätzte eine Forschung, die Geografie, Geschichte und Lebensgewohnheiten in der Bibel beleuchtete. Ihr Kommentar zu Spr 31 zeigt, dass sie sich der kulturellen Unterschiede zwischen dem alten Israel und England bewusst und nicht geneigt war, das Kapitel über die gute Ehefrau als Vorschrift zu lesen. Dennoch bemerkte sie, als sie Samuel Burders populäres Werk Oriental Customs (1802) als Quelle angab, dass selbst die „bedeutendsten Frauen“ Fertigkeiten wie Spinnen und Sticken ausübten – und dies „bis heute in allen Altersklassen und allen Ländern“.19 Cornwallis bezog sich wie Trimmer auf die britische Forschung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Sie verarbeiteten beide die Forschungsergebnisse und damit auch die Einflüsse einer neuen Geschichtsschreibung sowie entstehende kritische Ideen und Methoden. Cornwallis verbreitete die historisch-kritische Exegese, sie kritisierte jedoch auch die allzu rationale Ausrichtung der Bibelkritik. 2.3 Fanny Corbaux (1812–1883) Marie Françoise Catherine (Fanny) Corbaux zeichnete sich während der Anfangszeit der kritischen Forschung in England als Bibelgelehrte aus. In der historischen Überlieferung gilt sie als brillante Autodidaktin und Wissenschaftlerin in Bezug auf die Heilige Schrift. Sie zeigte sich fasziniert von der Geschichte der Bibel und deren Sprachen, lernte Hebräisch und Griechisch und beteiligte sich an wissenschaftlichen Erörterungen über die Frühgeschichte Israels. Sie hielt einen Vortrag vor der syro-ägyptischen Gesellschaft über die Identität der Refaim im frühen Israel und schlug darin vor, den ägyptischen An, On bzw. Onus mit dem chaldäischen Oannes zu identifizieren. Teile dieses Vortrags wurden unter dem Titel The Rephaim, and their Connection with Egyptian History 1851 im Journal of Sacred Literature publiziert. Corbaux veröffentlichte auch eine Reihe wissenschaftlicher Artikel über die Route, die die aus Ägypten ausziehenden IsraelitInnen nahmen.20 Ihre Forschungen waren in der akademischen Welt anerkannt, und auf sie wurde in vielen wissenschaftlichen Büchern und Artikeln verwiesen.21 Corbaux war eine außergewöhnlich kritische Gelehrte der frühen Periode der englischen Bibelkritik. 19
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CORNWALLIS, Observation 3, 48f. Samuel BURDER, Oriental Customs: An Illustration of the Sacred Scriptures, by an Explanatory Application of the Customs and Manners of the Eastern Nations, and Especially the Jews, Therein Alluded to (London: Whittingham, 1802). Dieses Buch erschien in zahlreichen Auflagen. Fanny CORBAUX, „On the Comparative Physical Geography of the Arabian Frontier of Egypt, at the Earliest Epoch of Egyptian History and at the Present Time“, The Edinburgh New Philosophical Journal 44 (1848): 13–42.209–231. Vgl. auch DIES., „Geography of the Exodus“, Athenaeum (October 21, 1850): 1048.1053f.; Athenaeum (March 23, 1850): 311f.; Athenaeum (April 27, 1850): 449f.; DIES., „The Rephaim, and their Connection with Egyptian History“, Journal of Sacred Literature NS 1 (1851): 151–172. Corbaux’ Idee, den ägyptischen An, On oder Onnus mit dem chaldäischen Oannes zu identifizieren, sorgte für Diskussionsstoff. Ausschnitte aus dem Artikel finden sich in Joseph BONOMI, Nineveh and its Palaces: The Discoveries of Botta and Lanyard (London: H. G.
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2.4 Mary Anne Evans (1819–1889) und Sophia Taylor (1817 – ca. 1901–1911) Mary Anne Evans22, besser bekannt unter ihrem Pseudonym George Eliot, verbrachte ihre Kindheit im ländlichen England, wo sie eine fundierte Bildung erwarb und sich evangelikale Frömmigkeitsformen aneignete.23 Im Alter von 22 Jahren revidierte sie ihre religiösen Ansichten und weigerte sich fortan, in die Kirche zu gehen, nachdem sie zahlreiche wissenschaftliche Bücher, darunter Charles Hennells Inquiry Concerning the Origin of Christianity (1838)24, gelesen hatte. Wie auch Corbaux nahm Eliot Kontakt auf mit WissenschaftlerInnen, die direkt mit der kontinentaleuropäischen historisch-kritischen Exegese zu tun hatten. Ihre englische Bearbeitung von David Friedrich Strauß’ bahnbrechendem Werk Das Leben Jesu im Jahre 1846 trug dazu bei, die deutschen Ergebnisse der Exegese in Großbritannien zu verbreiten. 1854 übersetzte sie außerdem Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums.25 Sophia Taylor, über die nur sehr wenig bekannt ist, beteiligte sich ebenfalls an Übertragungen wissenschaftlicher Werke in andere Sprachen. Beinahe vierzig Jahre lang übersetzte sie die Arbeiten deutscher Wissenschaftler wie Carl Friedrich Keil, Franz Delitzsch und Gustav Oehler, die sich als Vertreter ihrer Kirchen sahen und sich gegen den Rationalismus aussprachen, der ihrer Ansicht nach hinter der deutschen Bibelkritik stand.26 Frauen wie Eliot und Taylor spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der historisch-kritischen Exegese in England, indem sie deren wichtigste Werke dem englischsprachigen Publikum zugänglich machten.
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Bohn, 1857), 330. Vgl. auch John CAMPBELL, „The Primitive History of the Ionians“, The Canadian Journal of Science, Literature and History 14 (1875): 395–431.559–579; 403, der Bonomi zitiert und schreibt: „She has some ingenious speculations to prove that the Chaldean Oannes, the Philistine Dagon, and the Mizramite On are identical.“ Evans änderte ihren Namen öfter. Geboren wurde sie als Mary Anne Evans, dann strich sie 1837 das „e“ in Anne, nannte sich ab 1851 Marian Evans, ab 1854 Marian Evans Lewes und ab 1880 Mary Ann Cross. Für die Frömmigkeitsströmungen, die im England und Amerika des 19. Jahrhunderts als evangelikal bezeichnet wurden, gibt es kein entsprechendes deutschsprachiges Pendant, vgl. hierzu Mark A. KNOLL, „Evangelikalismus und Fundamentalismus in Nordamerika“, in Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert (hg. v. Ulrich Gäbler; Geschichte des Pietismus 3; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000), 466–531. Charles HENNELL, An Inquiry Concerning the Origin of Christianity (London: Smallfield, 1838). David Friedrich STRAUSS, The Life of Jesus (übers. v. George Eliot; 3 Bde; London: Chapman, 1846); Ludwig FEUERBACH, The Essence of Christianity (übers. v. Marian Evans; London: Chapman, 1854). So stammen beispielsweise folgende Übersetzungen von Taylor: Franz DELITZSCH, A New Commentary on Genesis (übers. v. Sophia Taylor; Clark’s Foreign Theological Library 2; Edinburgh: T & T Clark, 51888–1894); Carl Friedrich KEIL, Ezra, Nehemiah (übers. v. Sophia Taylor; Commentary on the Old Testament; Grand Rapids: Eerdmans, 1873); Gustav Friedrich OEHLER, Theology of the Old Testament (übers. v. Ellen D. Smith und Sophia Taylor; 2 Bde; Edinburgh: T & T Clark, 1880).
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3. Phase II (1858–1879): Verbreitung kritischer Ideen und Methoden In der ersten der von Rogerson vorgeschlagenen Entwicklungsphasen verbreitete sich die historisch-kritische Exegese in ruhiger Weise. In der zweiten Phase hingegen wurde wesentlich öffentlicher und kontroverser diskutiert, nachdem sich eine Anzahl englischer WissenschaftlerInnen die Methoden und Ergebnisse des deutschen Diskurses angeeignet hatte. Der Band Essays and Reviews (1860)27, eine Sammlung von sieben Aufsätzen über theologische Fragen, die Themen wie die deutsche Bibelkritik, Beweise für das Christentum und die Kosmologie der Genesis behandelten, löste eine große Kontroverse über die Exegese und den naturwissenschaftlichen Zugang zum Christentum, den diese AutorInnen vertraten, aus. Darauf folgten einflussreiche Publikationen, wie jenes siebenteilige Werk von Bischof Colenso The Pentateuch and the Book of Joshua Critically Examined (1862–1879)28, das die historische Glaubwürdigkeit weiter Teile des Alten Testaments in Frage stellte, oder Arthur P. Stanleys nicht ganz so kritisches Werk History of the Jewish Church (1863–1876).29 Solche Publikationen sorgten für viel Resonanz in populären und wissenschaftlichen Veröffentlichungen und ermöglichten so auch Personen außerhalb der Universitäten den Zugang zur Bibelkritik. 3.1 Florence Nightingale (1820–1910) Florence Nightingale verbrachte einen großen Teil ihres Lebens umgeben von Büchern, WissenschaftlerInnen und führenden Kirchenmännern, die sich mit der historisch-kritischen Methode befassten. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie, genoss Hausunterricht, der dem Niveau von Cambridge entsprach, und unternahm zahlreiche Reisen. 1837 fühlte sie sich zu einem sozialkaritativen Dienst berufen, aber ihre Familie hatte andere Pläne für ihr Leben. Mit dreißig Jahren erhielt sie von ihrem Vater eine kleine finanzielle Unterstützung und wurde Leiterin einer Einrichtung für die Pflege vornehmer Frauen in London. Ihr Interesse an der Gesundheitsfürsorge blieb bestehen. 1854 reiste sie mit einer Gruppe freiwilliger Krankenschwestern auf die Krim, wo während des Krieges zwischen dem Zarenreich und dem Osmanischen Reich katastrophale Zustände herrschten. Hier versuchte sie unermüdlich, die Bedingungen in den Krankenhäusern und im Gesundheitswesen zu verbessern. Als sie 1856 nach England zurückkehrte, setzte sie sich für Reformen in vielfältigen öffentlichen Gebieten ein, gleichzeitig führte sie ihre Studien zur Altphilologie, der mittelalterlichen Mystik, Philosophie, Theologie und der Bibel fort. Ihre privaten Notizen über diese Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift, ihre Korrespondenz und die unveröffentlichten Manu-
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Frederick TEMPLE et al., Essays and Reviews (London: Parker, 1860). John W. COLENSO, The Pentateuch and the Book of Joshua Critically Examined (7 Bde; London: Logman, 1862–1879). Arthur P. STANLEY, Lectures on the History of the Jewish Church (3 Bde; London: Murray, 1863–1876).
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skripte gewähren Einblick in die Ansichten einer weithin bekannten Frau des 19. Jahrhunderts, die nie beabsichtigte, ihre Beschäftigung mit der Bibel öffentlich zu machen. Nightingales Interessen an Bibel und Theologie waren breit gefächert und umfassten Fragen wie die nach der Theodizee, der universellen Erlösung und der Bibelinterpretation. Dank ihrer Vielsprachigkeit hatte sie direkten Zugang zu den Schriften deutscher Bibelkritiker. Von besonderer Bedeutung waren ihre Freundschaften mit führenden Wissenschaftlern, wie dem Orientalisten Julius Mohr, dem deutschen kritischen Forscher und Ägyptologen Baron Christian von Bunsen und dem Regius Professor für Griechisch der Universität Oxford, Benjamin Jowett, bekannt durch seinen Aufsatz On the Interpretation of Scripture in Essays and Reviews (1860).30 Nightingales mit Notizen versehene Bibel belegt ihre Kenntnisse über zeitgenössische Theorien zur Entstehungsgeschichte der biblischen Bücher. Eine Bemerkung zu Gen 7,2 macht etwa deutlich, wie sie die von AnhängerInnen der wissenschaftlichen Exegese etablierten Kriterien zur Unterscheidung der Quellen anwandte: Sie bezeichnete Gen 7,2 als „jahwistisch, denn reine und unreine [Tiere] sind vor Levitikus 11 nicht bekannt“.31 Sie zeigte sich auch informiert über die Datierungsprobleme des Buches Daniel und vermerkte in ihren Aufzeichnungen, dass Teile dieses Textes aus dem zweiten Jahrhundert stammen müssten, weil einige Hinweise auf die Zeit des Antiochus Epiphanes hindeuten.32 Nightingale wandte die Bibelkritik nicht nur unhinterfragt an, sondern sie selbst formulierte auch ihre Kritik. Ihre Zusammenarbeit mit Benjamin Jowett und William Rogers an dem Werk The School and Children’s Bible (1873)33 lässt erkennen, wie sachkundig sie die Bibel las, wie sehr sie sich einer komplexen Sichtweise der Geschichte verpflichtet wusste und wie sie selbst eine kritische Haltung gegenüber der Heiligen Schrift einnahm. In dieser Kinderbibel ordnete sie die Propheten chronologisch an, harmonisierte die synoptischen Evangelien und ließ solche Texte aus, die sie als anstößig einstufte.34 In einem Brief an Jowett beschwerte sie sich: The story of Achilles and his horses is far more fit for children than that of Balaam and his ass, which is only fit to be told to asses. The stories of Samson and of Jephthah are only fit to be told to bulldogs and the story of Bathsheba to be told to Bathshebas. Yet we give all these stories to children as „Holy Writ“. There are some things in Homer we might better call „holy“ writ, many in Sophocles and Aeschylus. The stories about Andromache and Antigone are worth all the women in the Old Testament put together, nay, almost all the women in the Bible.35
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Lynn MCDONALD, Hg., Florence Nightingale’s Spiritual Journey: Biblical Annotations, Sermons and Journal Notes (Collected Works of Florence Nightingale 2; Waterloo, Ont.: Wilfred Laurier University Press, 2001), 34.94. MCDONALD, Spiritual Journey, 104. MCDONALD, Spiritual Journey, 223. William ROGERS, Hg., The School and Children’s Bible (London: Longmans & Co, 1873). MCDONALD, Spiritual Journey, 35f. Lynn MCDONALD, Hg., Florence Nightingale’s Theology: Essays, Letters and Journal Notes (Collected Works of Florence Nightingale 3; Waterloo, Ont.: Wilfred Laurier University Press, 2002), 550.
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The School and Children’s Bible war nur eine von vielen Kinderbibeln, die die Bibelkritik förderten. Laut Barbara MacHaffie stellte die „für Kinder und junge Leute herausgegebene Bibel [...] das am meisten bevorzugte Genre dar, um die allgemein akzeptierten Ergebnisse der Bibelforschung im Unterricht weiterzugeben“.36 Nightingale ließ die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese in ihre Lesart der Heiligen Schrift einfließen, sie war sich aber auch deren Grenzen bewusst. In einem unveröffentlichten Aufsatz stellte sie den Wert der Erkenntnisse von Kritikern wie Strauß in Frage und überlegte, ob „irgendeiner dieser Kritiker uns mit all ihren geduldigen, gewagten und mühsamen Untersuchungen auch nur einen winzigen Schritt näher [...] an die wahre Theodizee“ gebracht habe.37 Sie stellte auch fest, dass die Bibelkritik eine negative Auswirkung auf das Predigen habe. In einem Brief an Benjamin Jowett kommentierte sie die Veränderungen der Predigten in Oxford: „Man hört jetzt nie mehr eine Predigt über Wunder oder über Buße, die ewige Verdammnis oder den Tod.“ Dann fügte sie jeweils in Klammern ironisch hinzu: „Man nimmt seine Schüler nicht zu Sterbenden mit. Worüber handeln denn aber diese Predigten?“ Diese Frage beantwortete sie folgendermaßen: „Meistens geht es darum, die Naturwissenschaft mit Theologie und Philosophie zu versöhnen, oder die Philosophie mit der Religion, oder über gute Werke [...].“38 Wie die meisten englischen ExegetInnen las Nightingale die Bibel nicht einfach „wie jedes andere Buch“. Ähnlich wie ihr Mentor Jowett stellte sie vielmehr fest, dass diese in vielerlei Hinsicht „nicht wie jedes andere Buch“ war.39 Sie verband Glauben mit Kritik an der Bibel. Bei der Lektüre der Jesaja-Passagen über den leidenden Gottesknecht fühlte sie sich nicht nur an ihre eigene göttliche Berufung zum Dienen erinnert, sondern gleichzeitig las sie auch Heinrich Ewalds kritischen Kommentar über die Propheten, um ihr Verständnis des Jesaja-Buches zu erweitern. Nightingales Kommentare zu Jes 49,3f. zeigen, wie sie die prophetischen Texte andächtig aufnahm und gleichzeitig ein Zitat aus Ewalds Die Propheten (1840–1841) einfließen ließ. „5 November 1871: Siebzehn Jahre sind es her seit der Landung in Scutari. ‚Allein mein Recht ist bei Jahve‘.“40
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Barbara MACHAFFIE, „Old Testament Criticism and the Education of Victorian Children“, in Scottish Christianity in the Modern World: In Honor of A. C. Cheyne (hg. v. Stewart J. Brown und George Newlands; Edinburgh: T & T Clark, 2000), 91–118; 108. Der unveröffentlichte Essay ADD MSS 4584 f28 wird bei MCDONALD, Spiritual Journey, 35, zitiert. MCDONALD, Spiritual Journey, 360. Sie zitiert aus dem Briefwechsel Nightingales mit Jowett über Predigten. Reginald H. FULLER, „Historical Criticism and the Bible“, in Anglicanism and the Bible (hg. v. Frederick H. Borsch; Wilton, CN: Morehouse Barlow, 1984), 143–168; 147. Lynn McDonald stellt fest, dass Nightingale Heinrich EWALD, Die Propheten des Alten Bundes 3 (Stuttgart: Krabbe, 21867–1868), 76, zitiert: vgl. MCDONALD, Spiritual Journey, 201. Das Zitat aus Jes 49,3f. lautet bei Nightingale folgendermaßen: „Und sagte zu mir, ‚mein Diener bist du.‘ Wohl dachte ich: ‚zum Eiteln hab’ ich mich gemühet, vergeblich und nichtig meine Kraft verschwendet.‘“
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Nightingale kann als Beispiel für jene hoch gebildeten, privilegierten und wohlhabenden Frauen gelten, die in vielen Perioden ihres Lebens den Zentren der intellektuellen Debatten um die historisch-kritische Exegese nahestanden. Sie machte sich die Bibelkritik zu eigen, verbreitete sie mit The School and Children’s Bible, machte Erfahrungen mit deren Grenzen und nahm schließlich eine konservativere Sichtweise der biblischen Offenbarung an. 3.2 Constance de Rothschild (1843–1931) und Annie Henrietta de Rothschild (1844– 1926) Baronesse Constance de Rothschild und ihre Schwester Baronesse Annie Henrietta de Rothschild stammten aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in London. Sie wurden zu Hause von PrivatlehrerInnen in Mathematik, Philosophie, englischer Literatur, Französisch, Hebräisch und Kunst unterrichtet. Den Religionsunterricht erteilte ihre Mutter und setzte dabei ungewöhnlicherweise das Neue Testament mit auf den Lehrplan. Sie ermutigte ihre Töchter auch dazu, Arme zu besuchen und zu unterrichten. Das zweibändige Werk der Schwestern für Jugendliche, The History and Literature of the Israelites (1871)41, entstand aus dieser Unterrichtserfahrung und der Beschäftigung mit zeitgenössischer wissenschaftlicher Bibelexegese. Die Rothschild-Schwestern hielten sich in ihrer Wiedergabe der biblischen Erzählungen eng an die Vorlagen und interpretierten die Ereignisse und Figuren ähnlich wie ihre ZeitgenossInnen.42 Im zweiten Band ihres Werkes, nachdem sie ihre LeserInnen für ausreichend vorbereitet hielten, machten sie diese mit der Auffassung vertraut, dass das Buch Jesaja zwei unterschiedliche Verfasser habe. Diese Annahme war bis in die 1890er Jahre in England nicht sehr verbreitet.43 Vorsichtig erläuterten sie die Argumente für eine Unterscheidung zwischen einem ersten und einem zweiten Jesaja, datiert in das 8. bzw. das 6. Jahrhundert v. Chr.: There are indeed many similarities between the earlier and the later work [...] they are both characterised by the same lofty patriotism, the same earnest desire to promote the moral and material well-being of the people, and the same unobtrusiveness of personal identity; they are, in fact, effusions of kindred minds; yet they cannot be the creations of the same author. The later prophet, whose name is unknown to us, proves his individuality by salient differences both in the subject and style of his orations.44
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C[onstance] und A[nnie Henrietta] de ROTHSCHILD, The History and Literature of the Israelites According to the Old Testament and the Apocrypha (2 Bde; London: Longmans, Green & Co., 21871). Zur Diskussion um die Interpretation der Jakobsgeschichte durch die Rothschilds, vgl. TAYLOR und WEIR, Let Her Speak for Herself, 369–376. Vgl. Samuel R. DRIVER, An Introduction to the History of the Old Testament (New York: Charles Scribner, 1891). ROTHSCHILD, The History and Literature of the Israelites 2, 49.
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Die Rothschilds waren sehr frühe Vertreterinnen der Idee, dass älteren Kindern die Ergebnisse der Bibelkritik vermittelt werden sollten.45 Sie machten damit einen Zugang zum Alten Testament bekannter, der dieses als geschichtliches Werk interpretierte. Ihre Arbeit zeigt, wie sich die Bibelkritik auch außerhalb der Wissenschaft verbreitete. 3.3 Christina Georgina Rossetti (1830–1894) Christina Georgina Rossetti, eine der wichtigsten Dichterinnen im England des 19. Jahrhunderts, stammte aus einer Familie talentierter Dichter, Künstler und Kritiker. Sie wurde zu Hause von ihrer Mutter, einer italienischen, strenggläubigen evangelischen Anglikanerin (Low Church), erzogen. Später wurden sie, ihre Mutter und ihre Schwester anglokatholisch (High Church). Rossetti ist heute vor allem für ihre Dichtungen bekannt, aber sie veröffentlichte auch etliche fromme Prosawerke, darunter befinden sich zwei Kommentare Letter and Spirit (1883), einer zu den Zehn Geboten, und The Face of the Deep (1892), ein Kommentarwerk zur Johannes-Offenbarung.46 Rossettis Bibelinterpretation zeichnet sich durch einen alternativen und fast poetischen theologischen Zugang aus, der sich kritisch gegenüber den zeitgenössischen wissenschaftlichen und objektiven Methoden positionierte. Rossetti verfolgte durchaus die aktuellen Entwicklungen in der wissenschaftlichen Forschung zur Bibel. Für ihre eigene exegetische Arbeit nutzte sie Methoden der Bibelkritik und wissenschaftliche Hilfsmittel, wie Ergebnisse von archäologischen Funden, Datenmaterial über Religionen des Nahen Ostens und grammatische Untersuchungen.47 Ihre Notes in Genesis and Exodus zeigen, wie sie sich mit den diskutierten zeitgenössischen Fragen auseinandersetzte.48 Sie betrachtete die Bibel als unfehlbar „im Hinblick auf Frömmigkeit und Glauben, aber nicht hinsichtlich aller historischen Gesichtspunkte“. Deswegen war sie bereit, Erkenntnisse aus Geologie, Evolutionsbiologie und Astronomie mit der Bibel zu verbinden. Allerdings musste sie mit schwierigen Passagen und offensichtlichen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen ringen.49 Ihre Notes on Genesis and Exodus zeigen etwa ihre Überlegungen dazu, wie die „Tage“ der Schöpfung zu verstehen sind: „Ist es auf jeden Fall notwendig (vorausgesetzt, dass die Theorie der unendlich langen Phasen irgendeine Wahrheit beanspruchen kann), den Siebten Tag nach den gleichen Standards abzuschätzen wie die vorangegangenen 45
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Vgl. Barbara MacHaffies hervorragende Studie, in der sie untersucht, wie Kindern im Viktorianischen Zeitalter eine kritische Herangehensweise an das Alte Testament vermittelt wurde: MACHAFFIE, „Old Testament Criticism and the Education“. Christina G. ROSSETTI, The Face of the Deep: A Devotional Commentary on the Apocalypse (London: SPCK, 1892). Amanda W. BENCKHUYSEN, „The Prophetic Voice of Christina Rossetti“, in DE GROOT und TAYLOR, Recovering Nineteenth-Century Women Interpreters, 165–180; 173. Zu einer Erörterung der möglichen Datierungen von Rossettis Notizen vgl. Diane D’AMICO und David A. KENT, „Christina Rossetti’s Notes on Genesis and Exodus“, The Journal of Pre-Raphaelite Studies NS 13 (2004): 49–98. Vgl. BENCKHUYSEN, „The Prophetic Voice“, 167.
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sechs?“ Sie kam zu dem Schluss, dass der siebte Tag nicht in derselben Weise interpretiert werden müsse, und stellte fest: „Nur der Siebte fiel in die Erkenntnismöglichkeit des Menschen und könnte von daher nach seinen Maßstäben gemessen werden: ‚Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, und nicht der Mensch für den Sabbat‘.“50 In ihrem Kommentar zu Ex 7,22 fragt Rossetti, wo die ägyptischen Magier Wasser für ihre Zauberkunst finden konnten, wenn sich doch zuvor alles Wasser in Blut verwandelt hatte. Sie stellte dazu folgende Überlegung an: Possibly any [water] stored in vessels of metal (not named in v. 19) or equally of glass or earthenware, was exempt. Or possibly God’s mercy spared the springs (not specified) so that when the Egyptians dug they found.51
Kommentare wie diese zeigen Rossettis offene Haltung, die so in ihren späteren Prosawerken zur Heiligen Schrift nicht mehr zu finden ist. Stattdessen bezweifelte sie den Wert von Fragestellungen, die nicht dazu führten, die spirituelle, theologische und moralische Bedeutung eines Textes zu erhellen. In ihrem Kommentar zum Dekalog, Letter and Spirit (1883), stellt Rossetti den Wert einer Herangehensweise an die Heilige Schrift, die sich in erster Linie oder gar ausschließlich auf Details konzentriert, die nichts mit der spirituellen, theologischen oder moralischen Ebene der Texte zu tun haben, in Frage: It is, I suppose, a genuine though not a glaring breach of the Second Commandment, when instead of learning the lesson plainly set down for us in Holy Writ we protrude mental feelers in all directions above, beneath, around it, grasping, clinging to every imaginable particular except the main point. Take the history of the Fall. The questions of mortal sin shrinks into the background while we moot such points as the primitive status of the serpent: did he stand somehow upright? did he fly? what did he originally eat? how did he articulate? [...] At every turn such questions arise. What was the precise architecture of Noah’s ark? [...] Clear up the astronomy of Joshua’s miracle. Fix the botany of Jonah’s gourd [...] In the same vein we reach at last the conjecture which I have heard quoted: In which version was the Ethiopian Eunuch studying Isaiah’s prophecy when Philip the Deacon met him? „By there, my son, be admonished: of making many books there is not end“ (Eccles. xii.12).52
Dabei kritisiert Rossetti weniger den Umstand, Fragen zu stellen, sondern vielmehr den Wert der Antworten, oder wie sie sich ausdrückt: „[...] unser Licht mag intellektuelle Leuchtkraft haben, aber spirituell befinden wir uns in Dunkelheit, welch tiefer Dunkelheit!“53 Rossettis Herangehensweise an die Bibel hält sich bewusst fern von der intellektuellen historisch-kritischen Methode, die sich selbst von der christlichen Tradition und dem theologischen Diskurs absonderte. Sie rekurrierte in ihrer Auslegung der Heiligen Schrift theologisch auf ExegetInnen aus der Zeit vor dem Einsetzen der histo50 51 52 53
D’AMICO und KENT, „Notes on Genesis and Exodus“, 88. D’AMICO und KENT, „Notes on Genesis and Exodus“, 84. Christina G. ROSSETTI, Letter and Spirit: Notes on the Commandments (London: SPCK, 1883), 85–87. ROSSETTI, Letter and Spirit, 150.
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risch-kritischen Exegese und auf zeitgenössische anglo-katholische Exegeten wie Edward Pusey. Trotzdem unterschied sich Rossettis fromme, theologische Lesart der Heiligen Schrift von der ihrer männlichen Zeitgenossen: Sie focht kulturelle Normen an und schuf Raum dafür, dass eine weibliche Stimme gehört werden konnte.54
4. Phase III (1880–1900): Der Triumph der Bibelkritik Während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gewann die wissenschaftlich-kritische Exegese, nachdem diese von so respektablen anglikanischen Klerikern wie Samuel Rolles Driver befürwortet worden war, zunehmend festen Boden in England. Der Alttestamentler George Adam Smith stellte 1901 in Modern Criticism and the Preaching of the Old Testament fest: „Die moderne Bibelkritik hat ihren Krieg gegen die traditionellen Theorien gewonnen. Es geht nur noch darum, das Ausmaß der Entschädigung festzuhalten.“55 Diskussionen über moderne Bibelkritik und den Glauben gehörten in dieser Epoche in Veröffentlichungen über die Bibel zu den Allgemeinplätzen. Nigel Cameron formuliert hierzu Folgendes: During the last decades of the nineteenth century, the presses deluged the reading public with literature pro and con ‚criticism‘. To the Critics, the failure of Conservative scholars to be moved by their literary and historical arguments was inexcusable, and could be explained only as obscurantism. To the Conservative, the Critical method and conclusions were so shot through with ‚rationalism‘ and so destructive of Biblical authority as to be patently out of harmony with the Christian faith.56
Etliche der Bücher, die den Markt überschwemmten, stammten von Frauen. Dank neuer Möglichkeiten in Ausbildung und Beruf und dank der gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit für die historisch-kritische Exegese konnten sich in dieser Zeit zunehmend mehr Frauen mit der wissenschaftlichen Bibelforschung beschäftigen – und einige beschritten dabei neue Wege. 4.1 Anne Mercier (1843–1917) Anne Mercier war mit dem anglikanischen Pfarrer Jerome Mercier verheiratet, dessen Gemeinde im englischen Kemerton nahe Gloucester lag. Sie wirkte als Lehrerin und verfasste mehr als 25 Werke, darunter Last Wolf: A Story of England in the Fourteenth Century (Edinburgh 1888) und Our Mother Church: Being Simple Talks on High To54
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Timothy LARSEN, „Christina Rossetti, the Decalogue, and Biblical Interpretation“, Journal for the History of Modern Theology 16/1 (Juli 2009): 21–36; BENCKHUYSEN, „The Prophetic Voice“, 166.176ff. George Adam SMITH, Modern Criticism and the Preaching of the Old Testament (London: Hodder & Stoughton, 1901), 72. Nigel M. de SAN CAMERON, Biblical Higher Criticism and the Defense of Infallibilism in the 19th Century Britain (Lewiston, NY: Edward Mellen, 1987), 2.
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pics (London 1872), ein sehr beliebtes Buch für Mädchen über englische Kirchengeschichte, Glaubenslehre und Rituale, das vielfach aufgelegt wurde. Außerdem schrieb sie religiöse Erzählliteratur. Merciers 1887 veröffentlichtes Buch The Story of Salvation, Thoughts on the Historic Study of Scripture ist eines der vielen Werke dieser Epoche, die sich an junge LeserInnen richteten und versuchten, die „alten Methoden“ der Bibelvermittlung unter Zuhilfenahme von kritischen Ansätzen und Vorstellungen zu korrigieren und ein besseres Verständnis von Inspiration und Offenbarung zu vermitteln. Mercier konzipierte ihren Überblick über die Bibel als Abfolge von Gesprächen zwischen einer Tante und deren beiden Nichten. Die Tante, eine belesene Anglikanerin namens Mrs. Askell, führte ihre Nichten bzw. die LeserInnen an unterschiedliche Methoden zur Beschäftigung mit der Bibel heran und stellte ihnen einen Überblick über die ganze Bibel und Hilfsmittel wie chronologische Tabellen, eine Harmonie der Evangelien sowie einen Anhang mit verschiedenen Übersetzungen der Bibel und Literaturangaben bereit. Sie zog auch wissenschaftliche Werke heran. Mercier verbreitete konservative Ansichten über die göttliche Inspiration der Bibel, kritische Ideen hinsichtlich der Kompositionsgeschichte sowie weitere unterschiedliche Wege, um die moralische oder spirituelle Bedeutung der Heiligen Schrift zu erfassen. Mrs. Askell, Merciers Protagonistin, vertritt in ihren Erörterungen zur Genesis die Meinung, dass das Buch eine Zusammenstellung früherer Dokumente sei. Sie belegt dies damit, dass es „mindestens zwei Verfasser des Buches gebe, einen, der der Elohist genannt wird [von den Kennern des Hebräischen], und den anderen, den Jahwisten, benannt nach den heiligen Namen, die sie jeweils verwenden“.57 Sie hielt es sogar für wichtig zu erwähnen, dass es der „französische Arzt Astruc, Hofarzt bei Ludwig XIV.“, und nicht „ein Theologe“ war, der als Erster auf die quellenkritische Bedeutung der wechselnden Gottesnamen in der Genesis hinwies.58 Mercier führte auch zahlreiche Beispiele für Anachronismen in der Bibel an; so sei Gen 1 kein „naturwissenschaftliches Handbuch“, aber trotzdem wahr, „denn die Ereignisse wurden so von Gott geordnet und tragen eine höhere geistliche Bedeutung in sich, die spätere Generationen erfassen sollten“.59 Merciers Neigung zu vernünftigen Erklärungen wird deutlich, wenn Mrs. Askell auf die skeptische Äußerung ihrer Nichte darüber, dass Gott es war, der Saul mit einem bösen Geist geplagt habe, antwortete: Yes, dear Joan; in the plain, literal sense it is quite incredible. But remember what I have said more than once. By inspiration God did not destroy the natural disposition of the sacred writers, nor take from them their ordinary style of expression. The belief in evil spirits, in witches, and sorcery, was, and still is, strong in the East [...]. The fact, no doubt, was that the mental balance of Saul was always somewhat uncertain; he was subject to moods and sudden impulses. And when he once allowed jealousy to obtain possession of him, his moods became so weird that men fancied them the attacks of an evil spirit, instead of those of a wayward heart and uncertain mind.60 57 58 59 60
MERCIER, Story of Salvation, 47. MERCIER, Story of Salvation, 47. MERCIER, Story of Salvation, 52f. MERCIER, Story of Salvation, 128.
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Mercier wollte, dass ihre LeserInnen sich mit der Vorstellung, dass die Bibel ein sowohl menschliches als auch ein göttliches Buch sei, vertraut machten. Wo immer möglich, wies sie auf von Menschen verursachte widersprüchliche Passagen hin. So führte sie das chronologische Problem in 1 Sam 17 an: David erscheint „vor Saul als ein Fremder […] nachdem in Kap. 16 gesagt worden ist, dass David Sauls Waffenträger wurde und Saul ihn liebte (V. 21)“. Mrs. Askell schlug vor, dass die Verwirrung durch den Redakteur zustande kam, der mit historischen Dokumenten arbeitete und dabei die Reihenfolge der Kapitel veränderte, „indem er Kap. XVII genauso übernahm, wie er es vorfand, und dieses in den historischen Kontext einbettete“.61 Obwohl Mercier ihr Buch dem konservativen Wissenschaftler Ellicott widmete, kann ihr eigener Standpunkt nicht als konservativ bezeichnet werden. Für sie, wie für viele gläubige englische KritikerInnen, war die moderne Bibelkritik ein Geschenk für die Kirche. Sie verteidigte die deutsche historisch-kritische Forschung und schätzte deren gehaltvolle Ergebnisse hoch ein. Um ihre eigene Position zu untermauern, beschreibt Mercier ein Gespräch mit einem „ehrwürdigen Bischof“, der „die Verdienste der modernen deutschen Bibelkritik“ anerkannte und berichtete: „Ich bin alt genug, um mich an die Zeit zu erinnern, in der gelehrt wurde, dass die Bibel direkt vom Himmel herabgefallen sei, eingebunden in Kalbsleder.“62 Mercier war überzeugt, dass die gesicherten Erkenntnisse der Bibelkritik Teil eines christlichen Bildungsprogramms sein müssten. Sie entwickelte eine Sicht der Inspiration, die mit menschlichem Irrtum rechnete. Sie war der Überzeugung, dass der neue Zugang zur Bibel LeserInnen half, die Schrift besser zu verstehen, v. a. wenn sie sich mit Problemen hinsichtlich der Chronologie, moralischer Fragen, naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und der Geschichte auseinandersetzten. 4.2 Mary Ward (1851–1920) Mary Ward, geb. Arnold, kam als Tochter englischer Eltern in Tasmanien auf die Welt. Als die Familie nach Großbritannien übersiedelte, wechselte sie mehrfach die Schule, bis ihre Familie sich in Surrey niederließ, nachdem ihr Vater Thomas Arnold (1823– 1900) eine Dozentur in Oxford angenommen hatte. 1872 heiratete sie Humphrey Ward, einen Fellow und Dozenten am Brasenose College in Oxford, und wurde bald darauf als Autorin von Bestseller-Romanen bekannt. Ward knüpfte Kontakte zu vielen führenden Intellektuellen und interessierte sich besonders für Fragen des Glaubens und der Bibelauslegung. Ein Jahr, nachdem Mercier ihre Verteidigung der neuen Herangehensweise an die Heilige Schrift veröffentlicht hatte, erschien Wards Bestseller-Roman, der sich ebenfalls für die Zulässigkeit der historisch-kritischen Exegese und der modernen Ent-
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MERCIER, Story of Salvation, 128f. MERCIER, Story of Salvation, 38.
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wicklungen innerhalb der Theologie einsetzte.63 In Robert Elsmere thematisierte Ward die aufeinander prallenden Welten von Glaube und Zweifel, Vernunft und Offenbarung, traditioneller Frömmigkeit und kritisch aufgeklärtem Glauben. Der Protagonist des Romans, der Oxforder Theologiestudent Robert Elsmere, heiratete eine fromme evangelische Frau und wurde Geistlicher. Die LeserInnen begleiten ihn auf seinem Lebensweg vom Glauben zum Unglauben, ein Weg, auf dem ihm große persönliche und berufliche Probleme sowie Schwierigkeiten mit der Ehe begegnen. Die LeserInnen vernehmen seinen eindringlichen Schrei: „O Gott! Mein Weib – meine Arbeit!“64 Schließlich übernimmt Robert eine wissenschaftlich-kritische Sicht auf die Heilige Schrift und legt sein Pfarramt nieder. Die LeserInnen kommen auch mit der philosophischen Basis der Bibelexegese in Berührung. Hierbei werden ausführliche Argumente über Diskussionspunkte wie die Realität der Auferstehung und die Datierung des Buches Daniel in das 2. Jahrhundert v. Chr. angeführt. Auf diese Weise werden die LeserInnen damit vertraut gemacht, dass die Bibelkritik sowohl den Verstand als auch die Seele herausfordert. Ward stellte hier eine Seite der Bibelkritik dar, die kaum diskutiert worden war, indem sie die Auswirkungen dieser veränderten Weltanschauung auf Individuen und Familien untersuchte. Obwohl der Roman nicht zu den traditionellen Genres für Interpretationen der Bibel gehört, sah Ward in dieser Literaturgattung ein geeignetes Mittel, um die zeitgenössische Bibelwissenschaft und die spirituellen, individuellen und psychologischen Implikationen dieses Paradigmenwechsels zu veranschaulichen. Durch ihren Bestseller konnte sie kritische Ideen sehr effektiv verbreiten. 4.3 Julia Wedgwood (1833–1913) Die in Langham Place/London geborene Julia Wedgwood war eine Autodidaktin, die ihr privilegiertes Leben inmitten von Intellektuellen und lebhaften Debatten über Naturwissenschaft, Geschichte und Religion verbrachte. Wedgwood wurde geschätzt wegen ihrer Beiträge in Gesprächen und Debatten und galt als berühmte Autorin von Erzähl- und Sachliteratur. Ihr Artikel, der die theologische Relevanz von Origin of Species (1859), einem Werk ihres Cousins Charles Darwin, herausarbeitete, wurde von ihm begrüßt. Wie Mercier war auch Wedgwood der Meinung, dass die alten Zugänge der Bibelinterpretation überwunden werden sollten. 1894 veröffentlichte sie The Message of Israel in the Light of Modern Criticism, worin sie für die modernen kritischen Methoden der Bibelauslegung eintrat. Wie Samuel R. Drivers drei Jahre vorher veröffentlichtes Werk Introduction to the Literature of the Old Testament legte auch Wedgwood 63
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Vgl. Robert Lee WOLFF, Gains and Losses: Novels of Faith and Doubt in Victorian England (New York: Garland Publishing, 1977), der aufzeigt, wie der englische Roman für Frauen zu einem wirkungsvollen Ort wurde, um Fragen der wissenschaftlichen Exegese und der Theologie zu erörtern. Diesen Roman veröffentlichte Mercier unter einem männlichen Pseudonym: Humphrey WARD, Robert Elsmere 2 (London: Smith, Elder & Co., 1888), 292f.
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eine Studie über eine rekonstruierte Geschichte Israels vor, die auf den literarischen Quellen basierte, die den Texten zugrunde lagen. Sie war insbesondere an einer unvoreingenommenen Lektüre der Quellen interessiert und daran, deren charakteristische Aussagen zu entschlüsseln. Als Feministin richtete Wedgwood ihre Aufmerksamkeit darauf, wie die unterschiedlichen Quellen Frauen beschreiben. Sie stellte der Beschreibung der Erschaffung der Frau in der Priesterschrift (P) in Gen 1 diejenige aus der früheren, stärker anthropomorphen „jahwistischen Quelle“ (J) in Gen 2–3 gegenüber. Dabei machte sie die Beobachtung, dass in P „die Menschheit von Beginn an in männlich und weiblich unterschieden ist und beide Geschlechter gleichzeitig“ erschaffen wurden. In J dagegen steht die Erschaffung der Frau an „nachgeordneter Stelle“.65 Wedgwood führt weiter aus, dass diese Auffassungen hinsichtlich von Frauen auf einem unterschiedlichen Verständnis der Geschlechter beruhen: „‚Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllt die Erde‘, sagt Elohim zum neu erschaffenen Paar. ‚Unter Mühen sollst du Kinder gebären‘, sagt Jahve zu Eva.“66 Wedgwood betonte die Unterschiede zwischen den Schöpfungsberichten und hob hervor, dass diese „völlig verschiedenartig“ und „nicht vergleichbar“ seien. Der Autor von Gen 1 „entwarf bewusst eine Geschichte der Welt und benötigte eine Grundlage für all das, was die nachfolgende Geschichte bestimmte“, während der Verfasser von Gen 2–3 sich ausschließlich für die Beziehung zwischen den Menschen und Gott interessierte.67 Wedgwoods Einsatz für eine kritische Interpretation der Bibel war bedingungslos. Sie sorgte für die Verbreitung der Werke englischer Forscher wie S. R. Driver, deren Ziel es war, den englischen LeserInnen die deutsche Bibelkritik nahezubringen. Wedgwood ist außerdem ein frühes Beispiel einer Frau, die die historisch-kritische Exegese als ein Mittel nutzte, um feministisches Gedankengut zu fördern. 4.4 Mary (Petrie) Carus-Wilson (1861–1935) Mary (Petrie) Carus-Wilson absolvierte die University of London mit einem BachelorAbschluss in Kunstgeschichte. Danach lehrte sie an mehreren kleinen Colleges, hielt Vorlesungen und publizierte über verschiedene Themen, u. a. auch über die Bibel. Ihr Werk Clews to Holy Writ (1873) wurde als ein Lehrbuch für das sogenannte College by Post, ein Fernlehrinstitut für Frauen, konzipiert. Es enthielt eine Methode für die Lektüre und das Kennenlernen der Heiligen Schrift „der chronologischen Ordnung der Ereignisse entsprechend und gemäß der in den Büchern enthaltenen Abfolge, sofern diese als bestätigt gelten kann“.68 Die Studentinnen lernten die Fragestellungen der 65 66 67 68
Julia WEDGWOOD, The Message of Israel in the Light of Modern Criticism (London: Isbister, 1894), 261. WEDGWOOD, The Message of Israel, 261. WEDGWOOD, The Message of Israel, 262. Vgl. Mary Louisa Georgina PETRIE, Clews to Holy Writ or, the Chronological Scripture Cycle: A Scheme for Studying the Whole Bible in Its Historical Order During Three Years (London: Hodder & Stoughton, 1893), IX.
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Quellenkritik, Naturwissenschaft, Geologie, Ethnologie und Geschichte in Bezug auf die Genesis kennen. Sie lasen von den Kontroversen über die Entstehung des Deuteronomiums, ob dieses nämlich während der Regierungszeit des Joschija nicht nur entdeckt, sondern erst geschrieben wurde; sie mussten sich mit dem Problem der exilischen Datierung des sogenannten Deuterojesaja herumplagen. Obwohl Carus-Wilson von den Methoden und Ergebnissen der Bibelkritik weniger überzeugt und theologisch konservativer war als etwa Mercier, Ward oder Wedgwood, kann ihre Haltung den neuen Entwicklungen in der Forschung gegenüber als vorsichtig offen bezeichnet werden. Ihr Rat lautete: „Wir müssen auf der einen Seite die vorschnelle Annahme, dass die traditionellen Wege falsch seien, vermeiden, auf der anderen Seite aber die gleiche vorschnelle Annahme, dass die traditionellen Sichtweisen sich behaupten werden.“69 Wie Mercier wollte Carus-Wilson den Studentinnen hilfreiche Methoden für das Bibelstudium beibringen und Interpretationsprobleme ansprechen, die ihnen die Heilige Schrift unzugänglich machten. Ihr Werk Unseal the Book: Practical Words for Plain Readers of Holy Scripture (1899) gewährt Einblick in ihr beeindruckendes Wissen über Textkritik, Exegese, zeitgenössische Bibelwissenschaft und Hermeneutik. Ihr ging es darum, die Bibel zu „entsiegeln“, so dass die durchschnittlichen oder „einfachen“ LeserInnen sie lesen, verstehen und ihre Botschaft im Alltag umsetzen konnten.70 Carus-Wilson ging von sieben Siegeln aus, die die Bibel den LeserInnen unzugänglich machten: einerseits Probleme mit dem Text, der Übersetzung und der Anordnung sowie auf der anderen Seite Probleme, die mit den LeserInnen selbst zusammenhängen.71 Sie führte in die historisch-kritische Exegese ein und betonte, wie wichtig es sei, genaue Übersetzungen zu nutzen. Carus-Wilson sah sich einer historischen Lesart der Bibel verpflichtet. Sie war sich aber der Schwierigkeiten bewusst, die bei der Rekonstruktion der biblischen Geschichte entstehen, und stellte dabei fest: […] examination of Scripture chronology proves that there is not a single event in Biblical history, not even the Nativity or the Crucifixion, with which an undisputed date of a given year can be associated.72
Hinsichtlich der Texte und Ereignisse plädierte sie eher für eine relative denn eine absolute Datierung. Sie konstatierte eine Entwicklung in der Geschichte der Heiligen Schrift und führte Mk 10,5 und Hebr 7,18f. als Beispiele dafür an, wie die spätere über die frühere Lehre hinausgeht.73 Die neuen Möglichkeiten, die der historische Zugang zur Bibel bot, begeisterten sie: There is a spurious reverence for the Bible, which shrinks from the plainest and most natural meaning of its narratives and thus misses in its history altogether the lessons for 69 70 71 72 73
PETRIE, Clews to Holy Writ, 7. Ashley CARUS-WILSON, Unseal the Book: Practical Words for Plain Readers of Holy Scripture (London: The Religious Tract Society, 1899), 3. CARUS-WILSON, Unseal the Book, 15. CARUS-WILSON, Unseal the Book, 80f. CARUS-WILSON, Unseal the Book, 104.
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Marion Ann Taylor our lives with which even uninspired history, thoughtfully studied abounds. This reduces its matchless portraits of men and women, saints and sinners, heroes and caitiffs, men of God and worldlings, to church-window effigies in strained attitudes and impossible guise [...]. Historical study of the Bible has made it a new book of surpassing interest for many; and though it involves some trouble, there is no better example of the fact that when we have fairly breasted the Hill Difficulty, the House Beautiful lies before us.74
Carus-Wilson empfahl auch spezialisiertere Herangehensweisen und Hilfsmittel, um die Heilige Schrift zu interpretieren. Sie zeigte anhand von Beispielen, wie Kenntnisse aus Geografie, vergleichender Literaturwissenschaft und Archäologie helfen können, missverständliche Worte oder Passagen zu klären. Um das Rätsel, dass Abschalom sich mit seinen langen Haaren im Geäst von Bäumen verfangen hatte, zu lösen, verwies sie auf die Anekdoten eines Palästinareisenden: […] what actually happened, as a traveller through the Wood of Ephraim can perceive today, was that his head was caught in the low forked branches of the trees, a catastrophe which the rider there is warned against now.75
Wie Mercier und Wedgwood schrieb Carus-Wilson, um LeserInnen an die neuen Zugänge zur Bibellektüre und -auslegung heranzuführen. Auch wenn sie Wedgwoods ausgearbeitete Rekonstruktion der Geschichte Israels nicht befürwortet hätte, verteidigte sie eine Form der historisch-kritischen Exegese, die vereinbar war mit einer traditionellen protestantischen Auffassung, die von einer weitergehenden Offenbarung ausging. Der Literar- und der Textkritik näherte sie sich vorsichtig an, einer ganzheitlichen Sicht auf die biblische Geschichte stimmte sie mit Nachdruck zu. Sie war sehr vertraut mit der Bibel, kannte sich aber gleichzeitig auch mit der naturwissenschaftlichen Forschung, dem Historismus, der Evolutionslehre, der Entwicklung der Menschheitsgeschichte und des menschlichen Verstandes aus. 4.5 Elizabeth Rundle Charles (1828–1896) Elizabeth Rundle Charles wurde als einziges Kind des Bankangestellten und Parlamentsabgeordneten John Rundle und seiner Frau Barbara Gill im englischen Tavistock/Devonshire geboren. Ihre Eltern legten Wert auf Bildung, die insbesondere auch die Kunstgeschichte umfasste, und auf die Förderung eines christlichen Glaubens, der seinen Ausdruck in der Liebe zu Gott und allen Menschen fand. Charles gehörte Zeit ihres Lebens der Church of England an, zeigte sich aber auch offen für die Weite der christlichen Tradition. Sie war eine einflussreiche und erfolgreiche Autorin, die mehr als fünfzig Bände verfasste, darunter Romane, Lyrik, Hymnen, Aufsätze, einen Reisebericht, Reflexionen über verschiedene biblische Themen und Bücher sowie Materialien, die für diejenigen gedacht waren, die Kinder und erwachsene KonvertitInnen un-
74 75
CARUS-WILSON, Unseal the Book, 86–88. CARUS-WILSON, Unseal the Book, 107.
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terrichteten. Während der dritten Phase, dem Triumphzug der Bibelkritik, galt sie als eine gelehrte Stimme, die zu Mäßigung und Vorsicht aufrief.76 Charles nutzte vielfältige Ansätze zur Bibelauslegung. Dank ihrer Reisen ins Heilige Land gelang es ihr, die Geschichte und Geografie der Bibel den LeserInnen lebendig darzustellen. Im Gegensatz zu vielen ihrer ZeitgenossInnen hielt sie eine historische Annäherung an die Bibel für ungeeignet. Wie Rossetti relativierte sie die Bedeutung von Fragen wie diesen: „Gehörten das Deuteronomium, Hiob oder Daniel diesem oder jenem Jahrhundert an? War der erste oder der zweite Jesaja der Verfasser jener zärtlichen und feurigen Worte?“77 Stattdessen richtete sich ihr Augenmerk auf den göttlichen Verfasser der Heiligen Schrift und auf den Heiligen Geist, um „die Spreu der Altertümelei in eine lebendige Geschichte“ umzuwandeln, den Buchstaben der Heiligen Schrift lebendig zu machen.78 Die Bibel war für sie mehr als nur „ein toter Buchstabe oder nur ein Aufnahmegerät, um Äußerungen aus der Vergangenheit aufzubewahren, ein furchtbarer Hohn einer Stimme“. Die Stimme des lebendigen Gottes, „eine lebendige, antwortende Stimme“, spricht durch die Heilige Schrift.79 Charles stand wie Rossetti einer Bibelinterpretation, die die spirituelle Dimension nicht zur Kenntnis nahm, kritisch gegenüber. Sie konstatierte die Tiefgründigkeit der Heiligen Schrift und appellierte an die LeserInnen, „immer und immer wieder Seine Botschaft auszuforschen, denn der Brunnen ist tief“.80 Gleichzeitig zeigte sich Charles aber auch offen für neue Ideen und fand viele Einsichten der kritischen Forschung hilfreich. In einer Diskussion über die Perikopen, die sich auf die Zeit nach der Auferstehung Jesu beziehen, ging sie auf die Debatte zur Verfasserschaft von Joh 21 ein. Sie hielt fest, dass es nicht entscheidend sei, ob nun Johannes oder seine Jünger das Kap. 21 verfasst hätten; das ändere nichts an seiner „Schönheit“, denn „es stamme aus dem Herzen und den Erzählungen des Johannes, wenn auch nicht aus seiner Feder“.81 Die Bedeutung eines Textes beruhte für Charles nicht auf der Identität der menschlichen AutorInnen. Sie wehrte sich im Gegensatz zu den meisten InterpretInnen des 19. Jahrhunderts gegen eine Harmonisierung der Evangelien, eine Aufgabe, die sie als „den Versuch, ein vollständiges Bild aus den Fragmenten eines antiken Mosaiks herzustellen, von dem einige Teile verloren gegangen sind“, beschrieb. Sie unterstrich: „[…] wenn wir darauf bestehen, die übrig gebliebenen Teile ohne Lücken zusammenzufügen, müssen die Einzelstücke zerschlagen wer76
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Für eine eingehendere Betrachtung der Interpretationen der Heiligen Schrift durch Charles vgl. Marion Ann TAYLOR, „Elizabeth Rundle Charles: Translating the Letter of Scripture in Life“, in DE GROOT und TAYLOR, Recovering Nineteenth-Century Women Interpreters, 149–164. Elizabeth Rundle CHARLES, By the Coming of the Holy Ghost: Thoughts For Whitsuntide (London: SPCK, 1889), 81. CHARLES, By the Coming of the Holy Ghost, 81. CHARLES, By the Coming of the Holy Ghost, 81. Elizabeth Rundle CHARLES, By Thy Glorious Resurrection and Ascension: Easter Thoughts (London: SPCK, 1888), 81. CHARLES, By Thy Glorious Resurrection, 103.
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Marion Ann Taylor
den, und das Bild verlöre seine Proportionen und würde zerstört werden“.82 Stattdessen betonte Charles die Eigenheiten eines jeden Evangeliums. Dank ihrer linguistischen Kompetenz konnte Charles sich mit den biblischen Texten in großer Gründlichkeit befassen. In ihren Erläuterungen zu den Seligpreisungen vermittelte sie den LeserInnen Einblicke in die Bedeutung von Schlüsselwörtern, indem sie oft den griechischen Text zitierte. Sie zeigte den LeserInnen verschiedene Auslegungsmöglichkeiten, präsentierte aber auch ihre eigenen Ansichten. Charles schreibt z. B. über „Selig die Trauernden“ (Mt 5,4): Amongst all meanings, in a sense, before all others, this Beatitude may therefore well seem to belong to those who mourn for their own sins, negligences, ignorances, transgressions, short-comings, failures; sin intertwined with our best actions, dragging us back again and again from our highest purposes, dimming and marring our truest ideals, hindering our being what we would be, doing what we would do for those we love best. Whatever other mourning for the sorrow at the root of all sorrows cannot be excluded. And it is through this mourning that we most naturally approach the meaning of the Beatitude on those that mourn.83
Charles plädierte für eine möglichst wörtliche Lesart der Texte, einen Zugang, den sie mit dem Trinken aus einer tiefen Quelle verglich. Ihre Arbeit über das Wort „getröstet“ (Mt 5,4) beendete sie mit folgendem Satz: „Wenn wir tief genug eintauchen in dieses stille Wort, dann finden wir alles, was wir brauchen.“84 Charles war sich als Schriftstellerin der Beziehung zwischen literarischem Genre und hermeneutischen Fragestellungen bewusst. Manchmal thematisierte sie die Schwierigkeiten der Bibelauslegung offen. Für Frauen in Indien schrieb sie das Buch Sketches of the Women of Christendom und sprach hierin die Frage der literarischen Gattung der Sündenfall-Erzählung an. Indem sie die Fragen ihrer Leserinnen zur Interpretation vorwegnahm, formulierte sie: War die Erzählung über den Garten im Paradies „Tatsachenbericht oder Lyrik, Parabel oder historisches Faktum?“ Ihre Antwort bestand darin, dass sie beides sei, Faktum und Poesie, Gleichnis und Geschichtsdarstellung und gleichzeitig „wahrhaftig, mit tiefster Wahrheit“. Sie entfaltete, dass die literarische und historische Bedeutung eines Textes nicht immer zu seiner wahrhaftigsten Bedeutung führe und plädierte für eine facettenreiche Lektüre: To get at truth in all histories we must read them also as parables and poems; that is, as a sacred story which does not merely gossip about the external facts, but penetrates to the divine and human meanings enfolded in these.85
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Elizabeth Rundle CHARLES, Ecce Ancilla Domini; Mary the Mother of Our Lord: Studies in the Christian Ideal of Womanhood (London: SPCK, 1894), 53. Elizabeth Rundle CHARLES, The Beatitudes: Thoughts for All Saints’ Day (London: SPCK, 1889), 47. CHARLES, The Beatitudes, 49. Elizabeth Rundle CHARLES, Sketches of the Women of Christendom (New York: Dodd, Mead & Co., 1880), 5.
Frauen und die historisch-kritische Exegese
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Charles war überzeugt, dass die heilige Geschichte der Erschaffung Evas auch für zeitgenössische LeserInnen, die wie Eva mit Verführungen zu kämpfen hatten, relevant sei. Wie viele Interpretinnen des 19. Jahrhunderts rehabilitierte sie Eva. Ihr Argument lautete: So wie Eva den verbotenen Baum anblickte und sah, „dass er schön war und gut zu sein schien“, werden wir alle von Dingen in Versuchung geführt, „die schön und gut erscheinen und es wahrscheinlich auch sind, – aber nicht zu diesem Zeitpunkt oder nicht für uns“.86 Sie argumentierte, dass Evas Sünde vor allem darin bestand, Gott nicht zu vertrauen, und weniger darin, dass sie die Frucht nahm. Adam habe nicht mehr als Eva gesündigt, als er sie beschuldigte, ihm die Frucht angeboten zu haben.87 Charles betonte Evas Rolle als Mutter aller Lebenden, indem sie hervorhob, dass Adam und die ganze Welt durch ihren Samen, Jesus, erlöst werde.88 Auf diese Weise sprach Charles Eva von der Last der Schuld frei, die die Geschichte der Bibelauslegung ihr für den Sündenfall zugeschrieben hatte. Wie Rossetti wandte Charles unterschiedliche Zugänge zum biblischen Text an. Sie eignete sich kritische Ideen dann an, wenn sie ihr hilfreich erschienen, um neue Perspektiven auf die Heilige Schrift zu eröffnen. Im Gegensatz zu anderen ForscherInnen, die in der historisch-kritischen Exegese Schwächen erblickten, verteidigte sie die Probleme der Verfasserschaft oder der historischen Genauigkeit nicht. Gleichzeitig empfand sie einen ausschließlich wissenschaftlichen, objektiven und historischen Zugang zur Bibel als inhaltslos. Sie nutzte alle traditionellen und zeitgenössischen Hilfsmittel, die es ihr erlaubten, die Schrift gründlich zu untersuchen und auf diese Weise die Buchstaben der Bibel ins Leben zu übersetzen. 4.6 Agnes Smith Lewis (1843–1926) und Margaret Dunlop Gibson (1843–1920) Die wissenschaftliche Karriere der schottischen Zwillingsschwestern Agnes Smith Lewis und Margaret Dunlop Gibson, geb. Smith, begann im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als diese bereits um die fünfzig Jahre alt waren. Die beiden stammten aus wohlhabendem Hause, erhielten Privatunterricht und traten 1892 ihre erste Reise nach Ägypten und Palästina an, der noch fünf weitere folgen sollten (1893, 1895, 1897, 1901, 1906). Dort entdeckten, fotografierten, kopierten und kauften sie wichtige Manuskripte zur Bibel und ihrer Rezeptionsgeschichte, die sie später veröffentlichten. Als Agnes Smith Lewis 1892 einen Palimpsest der syrischen Evangelienüberlieferung aus dem 2. Jahrhundert entdeckte, wurden die Schwestern auf einen Schlag berühmt; sie sahen sich dazu veranlasst, das nötige Wissen zu erwerben, und wurden so Orientalistinnen und Paläographinnen von internationalem Rang. Sie sprachen modernes Griechisch und Arabisch, biblisches Hebräisch, Syrisch und mehrere aramäische Dialekte fließend. Dies und ihre beträchtliche Reiseerfahrung, ihr Geld sowie ihre innere Überzeugung ermöglichten es ihnen, zu reisen und alte Manuskripte, die Aufschluss über 86 87 88
CHARLES, Sketches, 9. CHARLES, Sketches, 10. CHARLES, Sketches, 13.
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die Datierung und die Authentizität des Neuen Testaments sowie die Geschichte der Überlieferung biblischer und außerbiblischer Texte gaben, aufzudecken. Das hebräische Fragment von Sirach (Ecclesiasticus) aus der Kairoer Geniza bildete nur eine von vielen beeindruckenden Entdeckungen der Schwestern im Jahr 1896. Dieser Text aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. war bis dahin nur in der griechischen Version bekannt gewesen. Für ihre außerordentlichen Leistungen als Arabisch- und Syrisch-Forscherinnen erhielten Agnes Smith Lewis und Margaret Gibson Ehrendoktorwürden von St. Andrews (1901), Heidelberg (1904) und Dublin (1911) sowie 1915 die alle drei Jahre vergebene Goldmedaille der Royal Asiatic Society.89 Agnes Smith wurde außerdem 1899 mit einem Ehrendoktorat von Halle a. d. Saale ausgezeichnet. Die WissenschaftlerInnen in Cambridge, wo die Schwestern wohnten, erkannten ihre wissenschaftlichen Leistungen formal nicht an. Dies veranlasste den Verfasser bzw. die Verfasserin der Frauenkolumne des Cambridge Independent zu der Frage: Is there anything in the Statues of our University to prevent Mrs Lewis and Mrs Gibson from having Honorary Degrees conferred upon them? These highly prized titles are reserved for distinguished persons who have contributed to the sum of human knowledge to a conspicuous extent. Many men who have received them are far less distinguished than these ladies [...]. It is not a question of sex but of scholarship, and many men as well as many women here are loudly pleading for Honour to whom Honour is due.90
Obwohl die Geschlechterfrage für einige WissenschaftlerInnen in Cambridge ein Thema darstellte, wurden die beiden Schwestern wegen ihrer Ausbildung, ihrem Wagemut und ihrer Veröffentlichungen von solch renommierten Forschern wie William Robertson Smith, James Rendel Harris, Robert Kennett und Solomon Schechter unterstützt. Agnes Lewis und Margaret Gibson gelang der Schritt in die männliche akademische Welt als reife Frauen. Ihr Werk stand in der Tradition eines der einflussreichsten Bibelgelehrten des 19. Jahrhunderts, Joseph Barber Lightfoot (1828–1889) aus Cambridge, der 1855 schrieb: […] the timidity, which shrinks from the application of modern science or criticism to the interpretation of the Holy Scriptures evinces a very unworthy view of its character [...] From the full light of science and criticism we have nothing to fear.91
Anders als viele der gebildeten, privilegierten Frauen des 19. Jahrhunderts, die die historisch-kritische Exegese rezipierten, verbreiteten und kritisierten, waren Lewis und Gibson selbst Wissenschaftlerinnen, deren Forschungen die biblische Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts voranbrachten.
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Christa MÜLLER-KESSLER, „Lewis, Agnes Smith (1843–1926)“, ODNB 33 (2004), 579f., und DIES., „Gibson, Margaret Dunlop (1843–1920)“, ODNB 22 (2004), 89–91. „Pertilote“ in Cambridge Independent, April 1897, zit. nach Janet SOSKICE, Sisters of Sinai: How Two Lady Adventurers Found the Hidden Gospels (London: Chatto & Windus, 2009), 261. SOSKICE, Sisters of Sinai, Anm. 10, 322.
Frauen und die historisch-kritische Exegese
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5. Internationale Anerkennung von Frauen als Bibelwissenschaftlerinnen Wenn man bei der Betrachtung der Rezeptions- und Verbreitungsgeschichte der Bibelkritik die Stimmen von Frauen einbezieht, die im England des 19. Jahrhunderts die historisch-kritische Exegese beeinflussten, öffnet sich ein neues Kapitel der Bibelkritik. Es wird deutlich, dass die historisch-kritische Exegese nicht einfach die Domäne von männlichen Wissenschaftlern und Klerikern war, sondern dass sie auch auf viele NichtakademikerInnen beachtliche Auswirkungen hatte. Es konnte gezeigt werden, dass im 19. Jahrhundert privilegierte, gut ausgebildete Frauen stärker in die Exegese involviert waren als bisher angenommen. Frauen machten sich die Bibelkritik zu eigen, trugen zu ihrer Verbreitung bei und kritisierten diese. Ihre Beschäftigung mit der historisch-kritischen Exegese folgte im Großen und Ganzen den Entwicklungsphasen, wie sie John Rogerson dargestellt hat. Eine Reihe von Frauen beteiligte sich in der frühen Phase an der Entwicklung der Bibelwissenschaften und verbreitete die Ideen der zeitgenössischen Bibelexegese; einige wenige widmeten sich ausdrücklich der akademischen Forschung. Als in der zweiten Phase die Debatten über die Bibelkritik öffentlicher wurden und englische Gelehrte und Theologen zunehmend begannen, kritische Methoden und Sichtweisen in ihre Arbeit aufzunehmen, betätigten sich viel mehr Frauen in diesem Kontext. Während der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts engagierten sich Frauen immer stärker in dieser Bewegung, die versuchte, die Methoden und Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese zu verbreiten. Die Stimmen der Frauen waren wichtig, um eine veränderte Interpretation der Bibel herbeizuführen. Selbst theologisch konservative Frauen, wie Elizabeth Rundle Charles, Mary Carus-Wilson, Agnes Lewis und Margaret Gibson, griffen vorsichtig kritische Einsichten auf und nutzten Werkzeuge der Bibelkritik für ihre eigenen Interpretationen und Arbeiten. Im Lauf des Jahrhunderts fielen die Hindernisse weg, die den Frauen im Weg gestanden hatten. Lewis und Gibson wurden international als Bibelwissenschaftlerinnen anerkannt. Die historisch-kritische Exegese erlaubte Frauen, den traditionellen, dogmatischen, theologischen und wörtlichen Lesarten der Heiligen Schrift kritisch zu begegnen, die Auswirkungen darauf gehabt hatten, wie sie sich selbst im Verhältnis zur Welt sahen, bzw. auf solche Lesarten, die sie als irrational, problematisch oder antiquiert betrachteten. Kritische Methoden gaben den Frauen eine neue Freiheit, die Texte als Frauen mit anderen Augen zu lesen. Als frühe Feministinnen wie Julia Wedgwood sich mit der historisch-kritischen Exegese vertraut gemacht hatten, begannen sie damit, diese als hilfreich dafür zu entdecken, patriarchalen Strukturen in den biblischen Texten und in der Gesellschaft generell entgegenzutreten. Schließlich waren die Stimmen der Frauen ein wichtiger Beitrag, indem sie Zurückhaltung und Vorsicht in der Bewegung forderten, die versuchte, die Methoden und Ergebnisse der Bibelkritik in England allgemein verständlich zu machen. Als hoch geehrte Bewahrerinnen des Glaubens betrachteten einige Frauen das philosophische Fundament der Bibelkritik als eine Bedrohung für den Glauben, für den sie sich entschieden hatten. Einige von ihnen stellten deren Wert ganz in Frage. Besonders Christina Ros-
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setti und Elizabeth Charles hielten die kritischen Methoden der Interpretation für ungeeignet, um die Botschaft der biblischen Texte für die Erbauung der Glaubensgemeinschaft zu erschließen. Mit ihren Werken boten sie das an, was sie für sinnvolle Alternativen hielten, die ihren LeserInnen geistliches Leben und Hoffnung bieten sollten. Wie die Geschichte zeigt, waren einige ihrer Befürchtungen hinsichtlich der Möglichkeiten der kritischen Exegese, die Bedeutung der Bibel für die Kirchen zu erhellen, durchaus begründet.
Debora: Ein Nebenschauplatz der Frauenfrage im 19. Jahrhundert Christiana de Groot Calvin College, Grand Rapids, Michigan
1. Einleitung Status und Rolle von Frauen haben sich in England und in den Vereinigten Staaten während des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht verändert. So durften z. B. verheiratete Frauen aufgrund neuer Gesetze einen Teil ihrer Einkünfte und Besitztümer behalten, wodurch sich ihre rechtliche Situation innerhalb der Ehe spürbar wandelte. Scheidungsgesetze erweiterten die Gründe für eine Ehescheidung. In England wurde die bestehende Prostitutionsgesetzgebung angefochten und schließlich abgeschafft; gegen Ende des Jahrhunderts wurden Frauen mancherorts zu den Universitäten zugelassen. Auch wenn Frauen im 19. Jahrhundert noch kein Stimmrecht erhielten, gewann die Suffragettenbewegung zunehmend an Bedeutung. Auf vielen verschiedenen Ebenen wurden die Rechte von Frauen zahlreicher und die ihnen auferlegten Beschränkungen lockerer.1 Parallel zu diesen gesellschaftlichen Veränderungen erschien eine ganze Reihe von Essays, Stücken, Gedichten, Kommentaren und Werken der Andachtsliteratur, die sich mit der Frage auseinandersetzten, welcher Platz der Frau nach christlicher, jüdischer und biblischer Lehre im Haus, im Gottesdienst und in der Öffentlichkeit zukam. Die vorliegende Studie, die sich mit den Schriften von sechs Autorinnen befasst, wird zeigen, dass Frauen bei ihrer Auslegung der biblischen Texte zu vielfältigen Ergebnissen gelangten. Weil die Debora-Erzählung im Buch der Richter Debora als Prophetin, als Richterin in Streitfällen, als militärische Anführerin Israels in der Schlacht und als Dichterin eines Siegesgesangs schildert, war sie ein locus classicus für Diskussionen über das Verhältnis zwischen Frauen und Männern sowie über die legitime Sphäre weiblicher Aktivität. Im Brennpunkt des Interesses standen namentlich Kap. 4 und 5 aus dem Buch der Richter; deshalb soll es in diesem Beitrag vor allem darum gehen, wie Frauen diese beiden Kapitel interpretierten. Von den zahlreichen Frauen des 19. Jahrhunderts, die über Debora geschrieben haben2, wird der vorliegende Beitrag die Schriften von Elizabeth Baxter, Clara Lucas 1
2
Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem sozialen Kontext von Frauen in der englischsprachigen Welt bietet der einleitende Beitrag von Christiana DE GROOT und Marion Ann TAYLOR, „Recovering Women’s Voices in the History of Biblical Interpretation“, in Recovering Nineteenth-Century Women Interpreters of the Bible (hg. v. dens.; SBLSymS 38; Atlanta: Society of Biblical Literature, 2007), 3–7. Zu den längeren Essays, die hier nicht berücksichtigt werden, gehören: Sarah HALE, „Deborah“, in Woman’s Record: Or, Sketches of all Distinguished Women, from Creation to 1854 (New York: Harper & Brothers, 1855), 34–36; Sarah Towne MARTYN, „Deborah: the Wife of Lapidoth“, in Women of the Bible (New York: American Tract Society, 1868), 29–
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Christiana de Groot
Balfour, Grace Aguilar, Harriet Beecher Stowe, Julia McNair Wright und Clara Neyman untersuchen, weil sie sechs verschiedene wichtige Antworten auf die in diesem biblischen Text aufgeworfenen Fragen repräsentieren und weil sie insbesondere einen Bezug zur Frauenfrage herstellen. Ihre Schriften sollen hier nicht in chronologischer Reihenfolge vorgestellt werden, sondern sind nach den darin vertretenen Positionen geordnet. Wie noch deutlich werden wird, besteht zwischen den sechs Autorinnen, was ihren Einsatz für die Rechte und Chancen der Frauen betrifft, keine zeitliche Abfolge. Elizabeth Baxter, die traditionellste der sechs, veröffentlichte 1897 die zweite Ausgabe von The Women in the Word.3 Clara Lucas Balfour, schon etwas weniger traditionell, brachte The Women of Scripture 1847 heraus.4 Grace Aguilar, die etwa in der Mitte des Spektrums anzusiedeln ist, publizierte The Women of Israel im Jahr 18455, und Harriet Beecher Stowe, die ebenfalls in der Mitte liegt, veröffentlichte Woman in Sacred History 1873.6 Auf der eher progressiven Seite steht Saints and Sinners aus dem Jahr 1873 von Julia McNair Wright.7 Clara Neyman, die progressivste von allen, verfasste Beiträge zum zweiten Teil der Woman’s Bible, der 1898 erschien.8 Man kann nicht sagen, dass eine Seite des Atlantiks hinsichtlich der Frauenfrage traditioneller oder progressiver als die andere war. In England wie auch in den Vereinigten Staaten wurde das komplette Spektrum der möglichen Positionen abgedeckt. Der vorliegende Überblick befasst sich mit drei Autorinnen aus England: Grace Aguilar, Clara Lucas Balfour und Elizabeth Baxter, und drei Autorinnen aus den USA: Harriet Beecher Stowe, Julia McNair Wright und Clara Neyman. Zudem stehen die in diesem Beitrag vorgestellten Frauen repräsentativ für die verschiedenen von der Diskussion betroffenen Glaubenstraditionen: Vier äußern sich vor dem Hintergrund ihrer christlichen Überzeugungen, Aguilar schreibt als Jüdin und Neyman als Freidenkerin. Welche Fragen versuchte diese heterogene Frauengruppe in ihrer Schriftauslegung zu beantworten? Kurz gesagt ging es darum, ob Frauen und Männer im Wesentlichen
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38; Lady MORGAN, „Women of the Hebrews under the Judges: Deborah“, in Woman and her Master 1 (2 Bde; Philadelphia: Carey & Hart, 1840), 66–73; Leigh NORVAL, „Women in the Book of Judges“, in Women of the Bible: Sketches of All the Prominent Female Characters in the Old and the New Testament (Nashville: Publishing House of the M.E. Church, South, Sunday-School Department, 1899), 83–90; Elizabeth Cady STANTON, „The Book of Judges: Chapter II“, in The Woman’s Bible: Part II: Comments on the Old and New Testaments from Joshua to Revelation (hg. v. ders.; New York: European Publishing, 1895), 18– 20. Elizabeth BAXTER, The Women in the Word (London: Christian Herald, 21897), 72–82. Clara Lucas BALFOUR, The Women of Scripture (London: Houlston & Stoneman, 1847), 88–104. Grace AGUILAR, The Women of Israel: Or, Characters and Sketches from the Holy Scripture and Jewish History (London: Groombridge & Sons, 1845), 202–211. Harriet Beecher STOWE, Woman in Sacred History: A Series of Sketches (New York: Ford & Company, 1873), 99–106. Julia McNair WRIGHT, Saints and Sinners (Philadelphia: Ziegler & McCurdy, 1873), 189– 199. Clara NEYMAN, „Judges“, in STANTON, The Woman’s Bible: Part II, 21–23.
Debora: Ein Nebenschauplatz der Frauenfrage
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gleich oder verschieden seien, ob Frauen und Männer gleich zu behandeln und ob Männer überlegen und Frauen untergeordnet seien. Diese Fragen überschnitten sich mit der Diskussion darüber, was Männlichkeit und Weiblichkeit bedeute und welche Rollen Männer und Frauen berechtigterweise im öffentlichen und privaten Leben spielen sollten. Üblicherweise vertrat das 19. Jahrhundert die Auffassung, Frauen hätten in der privaten Sphäre zu bleiben und sich mit häuslichen Aufgaben zu befassen. Sie sollten ihre Familien versorgen und wurden als „häusliche Engel“ idealisiert. Männer dagegen hatten sich im öffentlichen Bereich zu bewähren und dort das Einkommen zu verdienen, das den Unterhalt der abhängigen Familienmitglieder sicherte. Um sie für diese Aufgabe zu rüsten, erhielten Männer eine anspruchsvolle Ausbildung in Naturwissenschaften, Mathematik und Theologie, während Frauen Stickerei, Musik und Zeichnen erlernten, die als spezifisch weibliche Aufgabenfelder galten. Diesem Ideal entsprechend waren Männer dominant und Frauen unterwürfig, und zwar sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse flossen in die Debatte mit ein: Phrenologie und Evolutionstheorie wurden herangezogen, um Argumente für eine traditionelle Arbeitsteilung zu liefern. Männer waren produktiv, Frauen reproduktiv. Und schließlich debattierte das 19. Jahrhundert darüber, ob das Christentum und die Bibel den Frauen eher genutzt oder geschadet hätten. Einige Frauen vertraten die Auffassung, das Christentum habe die Position der Frauen gestärkt, und sprachen sich daher für Missionen und die Bekehrung der Juden aus, während andere zu dem Schluss kamen, das Christentum sei ein Hemmschuh auf dem Weg zur Frauenbefreiung, weshalb sie eine Loslösung vom Glauben und seinen unterdrückerischen Praktiken forderten.9 Die Debora-Erzählung (Ri 4f.) verlangte ein Werturteil von den Exegetinnen des 19. Jahrhunderts. Die Autorinnen setzten sich mit der Frage auseinander, ob Debora die weiblichen Fähigkeiten vorbildlich verkörperte oder ob sie eine Ausnahme war, die man besser nicht nachahmte. Sie untersuchten, ob Debora und Barak in einer partnerschaftlichen Beziehung zueinander standen und ob sie bei ihren Unternehmungen das gebührende „männliche“ oder „weibliche“ Verhalten an den Tag legten. Außerdem fragten sie sich, was für eine Art von Erziehung Deboras Führungsrolle wohl erfordert hatte und ob Frauen im 19. Jahrhundert dieselbe Erziehung erhalten sollten. Unsere sechs Exegetinnen werden die Fragen, die von dieser Erzählung aufgeworfen werden, ganz unterschiedlich beantworten, und jede von ihnen wird ihren Standpunkt anhand der beiden genannten Kapitel aus dem Buch der Richter begründen.
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Der zweite Teil des von Stanton herausgegebenen Woman’s Bible Commentary enthielt einen Anhang (S. 185–214), in dem Antworten auf zwei von den Herausgeberinnen gestellte Fragen veröffentlicht wurden. Diese lauteten: Haben die Lehren der Bibel die Emanzipation der Frauen beschleunigt oder verzögert? Haben sie die Mütter der Menschheit gewürdigt oder herabgesetzt? Die Antworten, die von 20 Frauen diesseits und jenseits des Atlantiks gegeben wurden, fielen sehr unterschiedlich aus.
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Christiana de Groot
2. Elizabeth Baxter (1837–1926) Elizabeth Baxter war Mitglied der anglikanischen Kirche und im evangelikalen Flügel des Protestantismus sehr engagiert. Eine Zeitlang waren sie und ihr Mann Wanderprediger an der Seite von Dwight Lyman Moody (1837–1899), einem amerikanischen Evangelisten, der in England eine Erweckungsbewegung ins Leben gerufen hatte. Baxter initiierte eine Vielfalt von Aktivitäten und nahm 1894 an einer Weltmissionsreise teil. Im Laufe ihres Lebens veröffentlichte sie über vierzig Bücher, außerdem Hefte, Abhandlungen und Materialien für die Sonntagsschule.10 The Women in the Word erschien 1897 und befasst sich mit den Frauengestalten der Heiligen Schrift, deren Lebensläufe dazu dienen, Frauen zu veranschaulichen, wie man ein christliches Leben führt. Unter den zahlreichen Kapiteln, die Frauenfiguren wie Eva, Mirjam und Hanna gewidmet sind, findet sich auch eines über Debora. Baxters Beurteilung Deboras kommt sofort auf den Punkt. Sie beginnt ihren Essay mit den Worten: „Es entspricht nicht Gottes übliche Gewohnheit, die Frau auf den Platz mit Autorität zu stellen.“ Sie zitiert 1 Tim 2,13, wonach Adam vor Eva erschaffen wurde, und folgert daraus: „Deborah war eine Ausnahme.“11 Die übliche Geschlechterhierarchie ist nur deshalb umgekehrt worden, weil die Israeliten so sündig gewesen waren. Die Tatsache, dass Debora eine politische Führungsrolle übernimmt, bedeutet nicht grundsätzlich, dass Frauen danach streben sollten, gleichberechtigte Partnerinnen der Männer zu sein. Vielmehr schreibt Baxter im weiteren Verlauf ihres Essays: When it so happens that, in politics, in the affairs of nations, in Church matters, and in Christian work, women are found to dare things which men are not courageous enough to undertake, it is not intended to institute a new order of things, but rather to provoke men to jealousy, that they may take the first place, which God had given them.12
Wie die LeserInnen vielleicht schon ahnen, sieht Baxter Baraks Abhängigkeit von Debora eher kritisch. Sie schreibt: […] a true man of God is not dependent upon any man; and when Barak refused to go except Deborah go with him, there was an evident want of manliness in his character, which gives one easily to understand why a woman should have been used in such an exceptional way to be over him in Israel.13
Baxters Schlussfolgerungen machen ihre Überzeugung deutlich, dass Männer selbstbestimmt und überlegen, Frauen aber abhängig und untergeordnet zu sein hätten. Ihrer Ansicht nach solle die Rollenhierarchie des öffentlichen Bereichs die wesentlichen Un10
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Marion Ann TAYLOR und Heather E. WEIR, Hg., Let Her Speak for Herself: Nineteenth Century Women Writing on Women in Genesis (Waco, TX: Baylor University Press, 2006), 98–100; Nathaniel WISEMAN, Elizabeth Baxter (Wife of Michael Paget Baxter): Saint, Evangelist, Preacher, Teacher and Expositor (London: Christian Herald, 1928). BAXTER, Women in the Word, 72. BAXTER, Women in the Word, 76f. BAXTER, Women in the Word, 74.
Debora: Ein Nebenschauplatz der Frauenfrage
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terschiede zwischen Mann und Frau widerspiegeln. Die Beziehung zwischen Debora und Barak habe das Ideal des Patriarchats in sein Gegenteil verkehrt. Barak habe sich jedoch nicht nur als ein unmännlicher Mann erwiesen, Debora sei obendrein auch eine unweibliche Frau gewesen. Baxter weist auf, wie die Ereignisse, die zum Krieg mit Sisera führten, im Debora-Lied beschrieben werden. Sie zitiert: In the days of Shamgar the son of Anath, in the days of Jael, the highways were unoccupied, and the travelers walked through by-ways. The inhabitants of the villages ceased, they ceased in Israel, until I Deborah arose, that I arose a mother in Israel. (Judges 5:6f.).14
Daraus zieht sie das Resümee, dass Debora eine zu hohe Meinung von sich selber hatte. Baxter schreibt: „Hier sehen wir die Gefahr ihrer Position. Wieviel segensreicher wäre es gewesen, wenn sie gesagt hätte: ‚bis der Herr sich erhob‘. In ihren eigenen Augen war Deborah keine unbedeutende Person.“15 Später in ihrem Lied singt Debora: „My heart is toward the governors of Israel.“ (Judg: 5,9a) Auch diese Stelle hebt Baxter hervor; sie tadelt Debora erneut dafür, dass sie sich selbst für zu groß und nicht einfach für ein Werkzeug Gottes hielt. Statt sich zurückzunehmen, lenkte Debora die Aufmerksamkeit auf ihr „Herz“ und damit auf ihr eigenes Tun und ihre eigenen Beweggründe. Am Ende des Essays fasst Baxter ihr Negativurteil zusammen: „Debora war eine unvollkommene, aber nützliche Frau.“16 Als Gegenentwurf zu Deboras politischem Engagement, das sie eher kritisch sieht, beschreibt Baxter das Haus als rechtmäßigen Tätigkeitsbereich der Frau. Am Ende ihres Essays weist sie darauf hin, dass wir nichts über Deboras Privatleben wissen: Yet how many there are who would like to know how such a woman dealt with the details of home life. No prophetic gift, no calling of the Spirit of God into active and public service can excuse a woman for unfaithfulness in family and domestic matters.17
Während Baxter einerseits diese traditionellen Ansichten vertritt, lobt sie andererseits die zahlreichen Frauen, die Bedeutendes zum Werk des christlichen Dienstes beigetragen haben. Offenbar sah Baxter Ähnlichkeiten zwischen der Zeit, in der sie selbst lebte, und der Zeit der Richter: Die Männer machten keinerlei Anstalten, den ihnen gebührenden Platz zu übernehmen, und so berief Gott Frauen dazu, das Nötige zu tun. Sie würdigt das Wirken von Elizabeth Fry, die zu ihrer Zeit eine führende Rolle in der Gefangenenbetreuung spielte, und das von Sarah Foster, die sich der Frauen annahm, die wegen ihrer sexuellen Verfehlungen als gefallen galten. Sie hebt hervor, dass Frauen die Abstinenzbewegung anführten, dass eine Frau, Mrs. Daniells, die Soldatenheime ins Leben rief und eine andere, Miss Marsh, mit der Arbeit unter Polizisten, Bahnarbeitern und Seeleuten begonnen habe.18 Diese Frauen werden als Vorbilder gepriesen, die die Männer in derselben Weise inspirierten, wie Debora Barak inspiriert 14 15 16 17 18
BAXTER, Women in the Word, 79. BAXTER, Women in the Word, 79. BAXTER, Women in the Word, 82. BAXTER, Women in the Word, 82. BAXTER, Women in the Word, 75.
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habe. Baxters Standpunkt in dieser Frage deckt sich mit ihrer Auffassung, dass der Einsatz von Frauen im öffentlichen Bereich den Eifer der Männer anspornen solle, damit diese die ihnen berechtigterweise zustehende Aufgabe übernehmen. Diese Frauen seien keine Usurpatorinnen, sondern von Gott gerufen; sie seien ihren häuslichen Angelegenheiten ebenso gerecht geworden wie ihrer öffentlichen Berufung. Baxter erklärt zur Rolle der Frau: The being a worker together with God can never excuse her from being a helpmeet to her husband: but the two things can go blessedly together where the public call is really from God.19
Baxter äußert sich in diesem Essay nicht zu ihrer eigenen Arbeit als Rednerin, Organisatorin und Schriftstellerin, doch wir dürfen davon ausgehen, dass sie ihrer Ansicht nach deshalb von Gott berufen wurde, weil es an bereitwilligen Männern fehlte, und dass es ihr außerdem gelungen sei, ihre häuslichen Pflichten ebenso zuverlässig zu erfüllen wie ihre öffentlichen Aufgaben wahrzunehmen. Mit Gottes Hilfe, davon ist Baxter überzeugt, ist eine Frau zu allem fähig.
3. Clara Lucas Balfour (1808–1878) Eine andere britische Schriftstellerin, Clara Lucas Balfour, stimmte in vielerlei Hinsicht mit Baxter überein; dennoch fällt ihr Essay über Debora in Ton und Intention ganz anders aus. Für Balfour war Debora ein positives Rollenmodell. Sie liest aus dem biblischen Text nicht heraus, dass Debora unweiblich gewesen wäre oder dass Gott sich ihrer nur bedient hätte, weil kein Mann zur Verfügung stand. Sie hat eine höhere Meinung von den Frauen, wie sich in dem einleitenden Kapitel ihres Buches The Women of Scripture zeigt. Dort geht sie kurz auf die Erschaffung der Frau als „Hilfe“ für den Mann (Gen 2,18.20) ein und schreibt: She is emphatically called the „help-meet“ of man. Not help-less, not inadequate, and therefore not inferior; but suited, by moral qualities, and mental capacities, to be the tender guardian of infancy, the teacher of childhood, the companion of youth, the partner of maturity, the friend of every age.20
Die Tatsache, dass Balfour Debora positiv bewertet, obwohl sie sonst die eher traditionelle Auffassung vertritt, dass Mann und Frau grundsätzlich verschieden seien, lässt sich vielleicht auch aus ihrem Lebenslauf erklären. Balfours Leben verlief nicht gerade in geregelten Bahnen.21 Zwar wurde sie in die Mittelschicht hineingeboren, doch ihre Eltern trennten sich, und Clara lebte bei ihrem Vater. Nach dessen Tod kam das neunjährige Mädchen zur Mutter. Die beiden waren arm und verdienten sich ihren Unterhalt mit Näharbeiten. Dennoch gelang es, Clara 19 20 21
BAXTER, Women in the Word, 82. BALFOUR, Women of Scripture, 12. Vgl. den Artikel von Kristin G. DOERN, „Balfour, Clara Lucas (1808–1878)“, ODNB 3 (2004), 514f.
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von 1819 bis 1822 einen dreijährigen Internatsaufenthalt zu finanzieren. Mit noch nicht ganz 16 Jahren heiratete sie James Balfour. Weil er ein Alkoholiker war, lebten sie in den ersten 20 Jahren ihrer Ehe in Armut. Sie hatten sieben Kinder, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichten. Trotz dieser schwierigen Umstände behielt Clara ihre Lektüregewohnheiten bei und begann sogar zu schreiben. Ein Wendepunkt im Leben der Eheleute war das Jahr 1837, als Clara und James eine Abstinenzrede hörten und daraufhin ein Gelöbnis unterschrieben. Balfour wurde eine produktive Autorin der Abstinenzbewegung, trat 1840 in eine Baptistenkirche ein und blieb bis an ihr Lebensende ein aktives Mitglied. Ihr Engagement in der Abstinenzbewegung war der Beginn ihrer Karriere als Dozentin und Schriftstellerin. Sie äußerte sich zu zahlreichen Themen und bediente sich der unterschiedlichsten Gattungen: Gedichte, Romane, Literaturkritiken sowie Schriften, die zu Reformen aufriefen. Ihre Berühmtheit auf beiden Seiten des Atlantiks lässt sich u. a. daran ablesen, dass Harriet Beecher Stowe das Vorwort zu einem ihrer frühen Abstinenzromane, Morning Dew Drops (1853), verfasste.22 Später wurde sie zu einer Schlüsselfigur der British Women’s Temperance Association, die sich für „soziale Reinheit“ und das Frauenstimmrecht einsetzte. Wie schon erwähnt, betont Balfour Deboras weibliche Wesenszüge und kennzeichnet immer wieder ihre Handlungen, Schriften und ihr Selbstverständnis in diesem Sinne. So führt sie Debora z. B. folgendermaßen ein: „Ungeachtet ihres Amtes ist Debora ein typisch weiblicher Charakter.“23 Daraus schließt Balfour, dass Debora als Ehefrau gesehen werden wollte – in Ri 4,4 wird sie als Frau des Lappidot eingeführt. Gemäß einem eher traditionellen Verständnis heißt Weiblichkeit hier, dass Frauen sich über die Beziehung zu ihrem Mann identifizieren. Im nächsten Satz verweist Balfour auf den Kontext, von dem sie sich abgrenzt, wenn sie die Richterin, Feldherrin, Dichterin und Prophetin Debora als weiblich bezeichnet. Sie schreibt: The common opinion that when a woman is called in the arrangements of Providence to fulfill any great public office, if she fill it well, it is by the sacrifice of womanly qualities, is a mere vulgar error.24
Damit beteiligt sie sich sowohl an der Debatte über die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre als auch an derjenigen darüber, dass Männer für den öffentlichen, Frauen aber für den privaten Bereich bestimmt seien. Sie wendet sich gegen die Auffassung, dass Frauen, die sich im öffentlichen Bereich betätigen, männlich werden. Balfour vertritt die Position, dass Frauen ihre weiblichen Eigenschaften behalten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit engagieren. Mitglieder der Abstinenzbewegung befürworteten das Frauenstimmrecht, weil sie glaubten, dass Frauen mit ihrer Fürsorglichkeit, Empathie und Selbstlosigkeit einen wichtigen Beitrag zum öffentlichen Leben leisten könnten. Ihrer Ansicht nach würde die Gesellschaft profitieren, wenn es den Frauen erlaubt wäre, zu wählen und Führungspositionen zu besetzen.
22 23 24
Clara Lucas BALFOUR, Morning Dew Drops (London: Starie, 1853). BALFOUR, The Women of Scripture, 91. BALFOUR, The Women of Scripture, 91.
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Auch wenn Balfour eine Position vertritt, die Männer und Frauen für wesentlich verschieden hält, ist sie andererseits doch auch bestrebt, den Begriff des Weiblichen zu erweitern und neu zu definieren. Die Tatsache, dass Debora ihren Sitz unter einer Palme hat, deutet sie wie folgt: Here is no human pomp, none of the parade and circumstance that excite the admiration and awe of vulgar minds. It is manifest that Deborah’s was an authority based alone on intellectual superiority.25
Debora verfügte zwar einerseits über Eigenschaften, die dem weiblichen Geschlecht traditioneller Weise zugeschrieben werden, als sie bescheiden war, andererseits war sie geistig selbstständig; sie verfügte damit über eine Qualität, die traditionellerweise nicht als weiblich eingeschätzt wurde. Im Verlauf ihres Essays listet Balfour gleich mehrfach die Eigenschaften auf, die Debora als typische Frau charakterisieren und welche sowohl traditionelle Züge wie Güte und Spiritualität als auch Merkmale umfassen, die eher mit Männlichkeit assoziiert werden, wie z. B. Stärke, Nachdenklichkeit und Intellektualität. Vor allem bei Deboras Beschreibung als Feldherrin legt Balfour großen Wert darauf, ihre Weiblichkeit hervorzuheben. Gerade weil sie so weiblich war, habe Barak sich von ihr führen lassen wollen. Sie schreibt: Had Deborah been a fierce, stern, masculine woman, she would have aroused no enthusiasm, her character would have approximated too closely to their own – she would have been a sort of second-rate man, instead of being who she was, „A perfect woman, nobly planned to warn, to comfort, to command.“26
Balfour betont Deboras Weiblichkeit, ohne je zu benennen, gegen wen sie ihre Argumente richtet. Doch es gab zu ihrer Zeit eine anhaltende Diskussion über die Bedeutung des Frauseins, und sie scheint mit ihren Äußerungen in diese Debatte eingreifen zu wollen. Ihr Gegenüber ist also höchstwahrscheinlich die wissenschaftliche Debatte darüber, was Männlichkeit und was Weiblichkeit bedeutet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts behaupteten die Verfechter der Phrenologie, sie seien sachlich und auf Grundlage von Schädelvermessungen und Gehirnvolumen dazu in der Lage, Aussagen über Charakter und Fähigkeiten zu machen.27 Obwohl die meisten dieser Erkenntnisse später widerlegt wurden und dieser Wissenschaftszweig seine Glaubwürdigkeit verlor, war die Phrenologie zu der Zeit, als Balfour schrieb, eine anerkannte Disziplin: Sie behauptete, kurz zusammengefasst, dass der weibliche Intellekt weniger Kraft habe; Frauen seien von ihren Gefühlen beherrscht, vorsichtiger, eitler, ortsgebundener und 25 26
27
BALFOUR, The Women of Scripture, 92. BALFOUR, The Women of Scripture, 94. Das Zitat „A perfect woman, nobly planned/To warn, to comfort, to command“ stammt aus dem Gedicht She was a Phantom of Delight von William Wordsworth (1770–1850) und beschreibt die ideale Frau. Sie gleicht einem Engel und besitzt doch auch die in diesem Auszug gepriesenen Eigenschaften, nämlich die Fähigkeit, zu planen und zu befehlen. Vgl. die Diskussion bei Cynthia E. RUSSETT, Sexual Science: The Victorian Construction of Womanhood (Cambridge: Harvard University Press, 1989), 16–47.
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fürsorglicher. Das war nach Ansicht der Phrenologen nicht durch unterschiedliche Bildungschancen oder die gesellschaftliche Situation, sondern durch die Biologie der Geschlechter bedingt. Die Phrenologie befürwortete die herkömmliche Arbeitsteilung auf der Grundlage des von ihr vertretenen „physiologischen Determinismus“.28 Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts geriet die Phrenologie als Pseudowissenschaft in Verruf, doch ihre Aussagen über die Natur von Mann und Frau hatten weiterhin Bestand. Wenn Balfour Deboras Weiblichkeit und gleichzeitig ihre überlegene Intelligenz und Stärke beschreibt, kritisiert sie diese Schlussfolgerungen und überwindet damit die traditionellen Vorstellungen von den begrenzten Fähigkeiten und Aufgaben der Frauen. Deboras Fähigkeiten und moralische Eigenschaften spiegelten sich in Balfours eigenem Leben. Wegen der Alkoholsucht ihres Mannes war nicht selten sie diejenige, die den Lebensunterhalt für die Familie verdiente. Sie arbeitete in Organisationen mit, die sich für gesellschaftliche Belange engagierten, schrieb Bücher, verhandelte mit Verlegern, hielt Vorträge und machte keineswegs die Erfahrung, dass ihre Weiblichkeit durch die Ausübung dieser Tätigkeiten gemindert wurde. Ihre Interpretation der Debora-Erzählung lässt sich als Bekräftigung ihrer eigenen Entscheidung deuten, ganz und gar für ihre Familie da zu sein und sich gleichzeitig aktiv in der intellektuellen Arbeit und im öffentlichen Leben zu engagieren. Obwohl sie in der Frauenfrage bis an die Grenzen des damals Möglichen ging, war Balfour insofern doch auch eine typische Vertreterin des evangelikalen Christentums, als sie an der Gepflogenheit festhielt, die neutestamentliche gegen die alttestamentliche Ära abzugrenzen. Zwar ist das alte Israel in ihrer Beschreibung nicht sündiger als das zeitgenössische England, doch stellt sie die Gesetze des Alten und Neuen Testaments einander kontrastierend gegenüber. Sie schreibt: „Wir brechen eine Sammlung von Gesetzen, die viel vollkommener und geisterfüllter als die des Mose waren, mit so wenig Reue wie die Israeliten.“29 Mehrfach vergleicht sie im Verlauf ihres Essays bestimmte Facetten der alttestamentlichen mit solchen der neutestamentlichen Lehre, und jedes Mal fällt dieser Vergleich zu Ungunsten des Alten Testaments aus. So schreibt Balfour beispielsweise über das Debora-Lied, das Jaël preist, obwohl diese Sisera getötet hat: „Es verwundert nicht, dass diese Mutter in Israel die verräterische und grausame Tat Jaël lobt, da doch die mosaische Anordnung, Haltung und Moral nach Vergeltung verlangten.“30 Demgegenüber rühmt sie die Überlegenheit ihres eigenen Glaubens: „Wir können uns glücklich preisen, dass unser reiner und heiliger christlicher Glaube an unsere edlen Gefühle appelliert und Vergebung, Liebe und Frieden als die göttlichen Attribute unseres Glaubens und unseres Handels begrüßt.“31 Diese Sicht der Beziehung zwischen Christentum und Judentum prägte auch die Bewegung zur Bekehrung der Juden im England des 19. Jahrhunderts.
28 29 30 31
RUSSETT, Sexual Science, 19. BALFOUR, The Women of Scripture, 89. BALFOUR, The Women of Scripture, 100. BALFOUR, The Women of Scripture, 103.
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4. Grace Aguilar (1816–1847) Die Schriften von Grace Aguilar, unserer nächsten Exegetin, sind als Reaktion auf diese Charakterisierung des Judentums entstanden. Sie wollte die Juden dazu ermutigen, sich nicht von der dominanten christlichen Kultur ins Abseits drängen zu lassen, sondern stolz auf ihr Erbe zu sein. Das Kapitel von Grace Aguilar über Debora findet sich in ihrem dreibändigen Werk The Women of Israel. Diese frauenzentrierte Geschichte Israels beginnt mit Eva und setzt sich über die hebräische Bibel, die Zeit der Diaspora und die talmudische Epoche fort. Diese Bände sind Teil eines bemerkenswerten Werkes, das Aguilar im Laufe ihres kurzen Lebens hervorbrachte. Von einer explizit jüdischen Warte aus verfasste sie fiktive Texte, Gedichte, apologetische und theologische Schriften. Sie schrieb als Jüdin, die sich zu einer Zeit, als die Rechte der Juden und Jüdinnen begrenzt waren, für die Judenemanzipation in England einsetzte: So durften die Juden beispielsweise nicht wählen, keinen Sitz im Parlament haben und keine Geschäfte in der Londoner City betreiben. Aguilar war auch innerhalb der jüdischen Gemeinde als Reformerin tätig: Sie förderte die religiöse Erziehung der Mädchen, setzte sich dafür ein, dass Frauen sich als Vorbeterinnen und Predigerinnen aktiv am Gottesdienst beteiligten, und protestierte dagegen, dass Frauen und Männer in der Synagoge in getrennten Bereichen saßen. Aguilar wollte, dass jüdische Frauen stolz auf ihre Identität waren, und ihre Essays in The Women of Israel sollten dazu beitragen.32 Insbesondere wandte sie sich in ihren Schriften gegen die Thesen christlicher Autorinnen wie Sarah Stickney Ellis, der Verfasserin von The Women of England, Their Social Duties, and Domestic Habits (1839).33 Abgesehen davon, dass sie das Zuhause als typisch weiblichen Tätigkeitsbereich und die selbstlose Arbeit im Dienst an Familie und Freunden als die wahre Berufung der Frau beschreibt, vertrat Stickney die Auffassung, dass das Christentum die Ursache für das hohe Ansehen der Frauen in der englischen Gesellschaft sei – eine Auffassung, die bei den christlichen Versuchen der Judenbekehrung zentrale Bedeutung erhielt. Die evangelikale christliche Subkultur wandte sich vor allem an die Zielgruppe der jüdischen Frauen, weil man das Christentum in seiner Emotionalität und Anbetung eines liebenden Gottes eher als weiblich präsentierte, während das Judentum als legalistische Religion dargestellt wurde, deren Gesetzgebung frauenverachtend und deren Gott weit von den Menschen entfernt sei.34
32
33 34
Einen exzellenten Überblick über ihr Leben, ihren literarischen und gesellschaftlichen Kontext sowie die Rezeptionsgeschichte ihrer Werke bietet die Einleitung von: Michael GALINSKY, Hg., Grace Aguilar: Selected Writings (Peterborough: Broadview Literary Press, 2003), 11–47. Sarah Stickney ELLIS, The Women of England: Their Social Duties, and Domestic Habits (London: Fischer, Son & Co., 151839). Michael RAGUSSIS, Figures of Conversion: „The Jewish Question“ and English National Identity (Durham: Duke University Press, 1995), 146.
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Aguilars Auslegung der Debora-Erzählung und des Debora-Lieds spiegelt viele ihrer Überzeugungen wider. So deutet sie Deboras Berufung beispielsweise als einen Hinweis auf das hohe Ansehen der Frauen in der alten israelitischen Gesellschaft: Had there been the very least foundation for the supposition of the degrading and heathenizing the Hebrew female, we should not find the offices of prophet, judge, military instructor, poet and sacred singer, all combined and all perfected in the person of a woman; a fact clearly and almost startlingly illustrative of what must have been their high and intellectual training, as well as natural aptitude for guiding and enforcing the statutes of their God, to which at that time woman could attain.35
Aguilar hebt vor allem den hohen Bildungsgrad der Frauen hervor. Debora wird zu einem Vorbild für diejenigen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die sich für die religiöse Unterweisung der Mädchen aussprechen, und zu einem Argument gegen die angeblich bessere Behandlung von Frauen in der christlichen Religion. Sodann denkt Aguilar über Deboras Berufung nach und stellt die These auf, dass Gottes Wahl nicht außergewöhnlich sei, sondern vielmehr zeige, dass Gott die Frauen ebenso hoch schätze wie die Männer. Sie schreibt: The Eternal had inspired her, a Woman and a Wife, in Israel, with His spirit expressly to do His will, and make manifest to her countrymen how little is He the respecter of persons; judging only by hearts perfect in His service, and spirits willing for the work: heeding neither the weakness nor apparent inability of one sex, compared with the greater natural powers of the other.36
Diese Aussage macht deutlich, wie komplex Aguilars Ansichten über Rolle und Status der Frau waren. Frauen und Männer sind ihrer Meinung nach zwar verschieden, doch wenn die Israeliten einen Anführer brauchen, sind diese Unterschiede in Gottes Augen belanglos. Das, was wirklich zähle – das Herz –, sei bei Frauen und Männern gleich, ihr Wesen dasselbe. Aguilar setzt ihre Ausführungen über den Status der Frauen fort, der sich in der Berufung Deboras widerspiegelt. Sie plädiert dafür, Frauen nicht mit Sklaven, Aussätzigen oder Heiden auf eine Stufe zu stellen. Gott hätte solche Menschen niemals mit einem prophetischen Geist ausgestattet, denn […] the social conditions of such persons would and must prevent their obtaining the respect, obedience or even attention of the people. For the same reason, had woman really been on a par with these, as she is by some declared to be, she never would have been entrusted with gifts spiritual and mental.37
Hier betont Aguilar ausdrücklich, dass sie gegen die Gleichsetzung von Frauen mit Sklaven, Kranken und Heiden anschreibe, eine Gleichsetzung, die nach ihrer Auffassung im 19. Jahrhundert vorherrschend war und der Stellung, die Debora inne hatte, widerspricht. 35 36 37
AGUILAR, Women of Israel, 203f. AGUILAR, Women of Israel, 204. AGUILAR, Women of Israel, 204f.
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Im weiteren Verlauf ihrer Auseinandersetzung mit der Debora-Erzählung hebt Aguilar hervor, dass Debora ihren häuslichen Pflichten treu gewesen sei. Ähnlich wie Baxter ist Aguilar der Auffassung, dass Frauen sich typischerweise am besten dazu eignen, für Haushalt und Familie zu sorgen – auch sie übernimmt die Trennung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre und verortet die typisch weiblichen Pflichten im privaten Bereich. Doch anders als Baxter nimmt Aguilar an Deboras Aktivität im politischen und öffentlichen Bereich keinerlei Anstoß. So weist sie z. B., als sie auf das Debora-Lied zu sprechen kommt, zuallererst auf die Schönheit der Komposition hin, die sich mit den Psalmen Davids messen könne. Dann hebt sie die offensichtliche Bescheidenheit Deboras hervor: We find her taking no glory whatever to herself, but calling upon the princes, and governors, and people of Israel, to join her in blessing the Lord for the avenging of Israel […]. The simplicity and lowliness of the prophetess’s natural position is beautifully illustrated by the term she applies to herself – neither princess, nor governor, nor judge, nor prophetess, though both the last offices she fulfilled – „until that I, Deborah, arose, until I arose a Mother in Israel.“38
Während Baxter auf den Gebrauch der ersten Person hinweist, lenkt Aguilar den Blick auf die Demut, die sich in dem von Debora selbst gewählten Titel der Mutter ausdrückt. Als Beleg für Deboras Bescheidenheit führt Aguilar außerdem den Textvermerk an, dass das Land nach diesem militärischen Sieg vierzig Jahre lang Ruhe hatte. Die Tatsache, dass der Text nichts über die Rolle berichtet, die Debora in dieser Friedenszeit gespielt hat, […] is a simple confirmation of the meekness and humility with which we found her judging Israel under her own palm-tree. Deborah resumes her personally humble station, evidently without an ambitious wish, or attempt to elevate her rank or prospects.39
In Aguilars Deutung bleiben Charakterzüge, wie etwa die Bescheidenheit, die man im privaten Bereich an den Frauen zu schätzen pflegte, auch dann erhalten, wenn sie an die Öffentlichkeit treten. Debora entwickelt auf dieser Bühne keine männlichen Eigenschaften, wie etwa den Drang zur Selbstdarstellung. Aguilars Beschreibung lässt erkennen, dass sie die unterwürfigen Züge der Frauen für genuin weiblich und nicht für das Produkt der sie umgebenden patriarchalischen Gesellschaft hält. Aguilars These, dass Debora keine Ausnahme gewesen und sowohl ihrer öffentlichen als auch ihrer privaten Verantwortung gerecht geworden sei, macht sie zu einem Rollenmodell für jüdische Frauen im 19. Jahrhundert. Auch wenn Frauen ihrem Beispiel nicht praktisch folgen könnten, seien sie dennoch in der Lage, sich die DeboraErzählung theoretisch zu Herzen zu nehmen, und zwar „sowohl in nationaler als auch in individueller Hinsicht“.40 Erstens weist Aguilar darauf hin, dass Debora zwar mit vielen Gaben ausgestattet war, dass aber diese Veranlagung allein nicht ausreichte: Um ihre Aufgaben zu erfüllen, musste sie die Gaben, die Gott ihr geschenkt hatte, zunächst 38 39 40
AGUILAR, Women of Israel, 206f. AGUILAR, Women of Israel, 208. AGUILAR, Women of Israel, 208f.
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kultivieren und entfalten. Ebenso, betont Aguilar, müssen auch jüdische Mädchen in der Bibel und der religiösen Tradition unterwiesen werden. His Word is open to her, as to man. In Moses’ command to read and explain the law to all people, woman was included by name […]. Shame, shame on those who would thus cramp the power of the Lord, in denying to any one of His creatures the power of addressing and comprehending Him, through the inexhaustible treasure of His gracious Word!41
Zweitens sei Debora insofern ein Vorbild, als sie beweise, dass familiäre Verpflichtungen und ein weiblicher Charakter durchaus mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben vereinbar seien. Aguilar schreibt: „Für einen wirklich großen Geist lassen sich häusliche und öffentliche Verpflichtungen so leicht miteinander zu verbinden, dass die Ersteren den Letzteren nie geopfert werden müssen.“42 Um diese These zu untermauern, führt Aguilar an, dass Lappidot Deboras militärische Führungsrolle gutgeheißen habe. Da man aus dem Text nichts Gegenteiliges erfahre, sei davon auszugehen, dass Lappidot an Deboras öffentlichen Pflichten keinen Anstoß nahm, weil er ihr ein „vornehmes Vertrauen“ entgegenbrachte. Anschließend wendet Aguilar das Gelernte jeweils auf verheiratete und auf ledige Frauen an. Eine verheiratete Frau sei dazu berufen, dem Haushalt vorzustehen und durch diese Führungsrolle die Gesellschaft als Ganzes zu beeinflussen, „zwar verborgen und unmerklich, doch machtvoller, als sie selbst es auch nur im Mindesten ahnen könnte“.43 Obwohl sie für die Führungsrolle der Frau grundsätzlich aufgeschlossener ist als Baxter, vertritt Aguilar im Hinblick auf die praktische Ebene doch das Ideal des Viktorianischen Englands, wonach die Frau sich damit begnügen solle, ihren Einfluss indirekt auszuüben. Ledigen Frauen rät Aguilar, leichtsinnige Ziele aufzugeben und die Talente, die Gott ihnen geschenkt hat, gut zu nutzen. Have we not all some precious talent lent us by our God, and for the use of which He will demand an account? [...] Were there but one object on whom we have lavished kindness, and taught to look up to God and heaven […] we shall not have lived in vain.44
Auch Aguilars Darstellung eines erfüllten Lebens für ledige Frauen entspricht dem Bild einer tugendhaften nicht verheirateten Frau im Viktorianischen England. Die Möglichkeiten für eine ehrbare Frau waren nicht gerade zahlreich; eine davon war die Arbeit unter den Armen und Unterdrückten. Solche Berufungen stimmen mit der Auffassung überein, dass die weibliche Natur fürsorglich sei und im Dienst an anderen Menschen ihre Erfüllung finde. Während Aguilar also einerseits der These widerspricht, wonach das hohe Ansehen der Frau in der englischen Gesellschaft dem Christentum zu verdanken sei, und zeigt, dass das Judentum die Frauen schon lange vor dem Erdenleben Jesu von Nazaret verehrt und respektiert hat, übernimmt sie andererseits
41 42 43 44
AGUILAR, Women of Israel, 210. AGUILAR, Women of Israel, 209. AGUILAR, Women of Israel, 210. AGUILAR, Women of Israel, 211.
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das Bild von der Frau und ihrer Berufung, wie es in dem oben genannten Werk von Sarah Stickney Ellis vertreten wird. Aguilar beendet ihren Essay wie folgt: Deborahs in truth we cannot be, but each and all have talents given, and a sphere assigned them, and like her, all have it in their power, in the good performed toward man, to use the one, and consecrate the other to the service of their God.45
Wenn man Aguilars Leben mit diesen Ansichten vergleicht, finden sich viele Übereinstimmungen; Debora diente ihr als ein Rollenmodell. Aguilar war eine alleinstehende Frau mit bemerkenswerten Fähigkeiten, die sie zum Nutzen ihres eigenen ausgegrenzten jüdischen Volkes und zum Nutzen der unterdrückten Mädchen und Frauen innerhalb der jüdischen Gemeinde einsetzte. In ihrer schriftstellerischen und lehrenden Tätigkeit war Aguilar eine Debora für ihre eigene Generation. So zollten ihr kurz vor ihrem frühen Tod die Frauen Englands mit einem Text Tribut, der auf die Debora-Erzählung anspielt. Dort heißt es: „Bevor du dich erhoben hast, ist es in der modernen Zeit nie geschehen, dass eine jüdische Frau in der Öffentlichkeit den Glauben Israels verteidigt hätte.“46
5. Harriet Beecher Stowe (1811–1896) Auf der anderen Seite des Atlantiks veröffentlichte Harriet Beecher Stowe einen Aufsatz über Debora47, dessen Aussagen, obwohl von einer christlichen Warte aus formuliert, denen Aguilars in vieler Hinsicht ähneln. Von allen hier behandelten nichtjüdischen Exegetinnen bringt Stowe dem Judentum die größte Achtung entgegen, obwohl auch sie Debora als einen Schritt auf dem Weg zur Fülle der göttlichen Offenbarung im Neuen Testament darstellt. Stowe deutet Debora als Glied in einer Kette von Prophetinnen und Dichterinnen, die in Maria kulminiert. So schreibt Stowe beispielsweise über Deboras Bedeutung als inspirierte Dichterin: To this class belonged Hannah, the mother of Samuel, and Huldah, the prophetess, and in the fullness of time, Mary, the mother of Jesus, whose Magnificat was the earliest flower of the Christian era.48
Stowes Auslegungen sind in vieler Hinsicht bemerkenswert. Von den in dieser Übersicht erwähnten Frauen ist sie die gebildetste. Sie wurde in eine illustre Familie hineingeboren.49 Ihr Vater war der Gemeindepfarrer, Theologe und Seminarrektor Lyman
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AGUILAR, Women of Israel, 211. Zit. nach GALINSKY, Grace Aguilar, 355. Harriet Beecher STOWE, Woman in Sacred History: A Series of Sketches (New York: Ford & Company, 1873), 99–106. STOWE, Women in Sacred History, 105. Über die Familie ist bereits viel geschrieben worden. Zwei hilfreiche Arbeiten, die sich auf die Frauen der Familie konzentrieren, sind: Barbara A. WHITE, The Beecher Sisters (New Haven: Yale University Press, 2003); Jeanne BOYDSTON et al., The Limits of Sisterhood:
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Beecher (1775–1863). Harriet Beecher war das siebte von neun Kindern aus der Ehe mit seiner ersten Frau Roxanne (1775–1816). Sieben ihrer Brüder wurden Geistliche, und ihre ältere Schwester Catherine (1800–1878) gründete mehrere Mädchenschulen, darunter auch die, die Harriet selbst besuchte, das Hartford Female Seminary; außerdem verfasste sie Schriften über Bildung, die Abschaffung der Sklaverei, Haushaltsführung und Frauenfragen. Harriets Mutter Roxanne starb, als Harriet fünf Jahre alt war, und ihr Vater heiratete bald darauf erneut. Isabella, die Tochter aus dieser zweiten Ehe, wurde eine maßgebliche Gestalt der Suffragettenbewegung. Sie hatte ein besonderes Talent, Zusammenkünfte zu organisieren, und stand in engem Kontakt zu Elizabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony Harriet unterstützte die Forderung nach dem Frauenstimmrecht, ging jedoch nicht dafür auf die Straße.50 Harriet Beecher heiratete Calvin Ellis Stowe (1802–1886), der zu dieser Zeit Theologe am Lane Theological Seminary war. Die beiden arbeiteten ihr Leben lang zusammen, ermutigten und unterstützten sich gegenseitig in der Quellenarbeit und bei der kritischen Auseinandersetzung mit den Materialien, die sie lasen und verfassten. Durch ihren Vater, ihre Brüder und ihren Ehemann hatte Stowe Zugang zu einer umfangreichen Bibliothek, die in theologischen Fragen auf der Höhe ihrer Zeit war und die die neuesten Erkenntnisse der kritischen Bibelwissenschaft enthielt.51 So zitiert sie beispielsweise Johann Gottfried Herders Vom Geiste der Ebräischen Poesie und verwendet seine „inspirierende“ Übersetzung für ihren Kommentar zum Debora-Lied in Ri 5.52 In der Einleitung zu Woman in Sacred History stellt Stowe ihre grundlegenden Auslegungsprinzipien und ihre Lesart des Alten Testaments vor, die sie sodann in ihrem Essay über Debora auch stimmig zur Anwendung bringt. Ihrer Arbeit liegt die Theorie einer fortschreitenden Offenbarung zugrunde, und sie verwendet diesen Begriff, um Aspekte des Alten Testaments zu erklären, die bei den LeserInnen des 19. Jahrhunderts womöglich Anstoß erregen könnten. So weist sie etwa darauf hin, dass die Gesetze über Konkubinen (Ex 21,7) und weibliche Kriegsgefangene (Dtn 21,10–14) die Poly-
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The Beecher Sisters on Women’s Rights and Woman’s Sphere (Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 1988). WHITE diskutiert Harriets Standpunkt zum Frauenstimmrecht in The Beecher Sisters, 141– 146. Durch Isabella lernte Harriet die Werke des Ehepaars Mill kennen: John Stuart MILL, The Subjection of Women (New York: Appleton, 1869); Harriet Taylor MILL, „Enfranchisement of Women“, in Essays on Sexual Equality: John Stuart Mill and Harriet Taylor Mill (hg. v. Alice S. Rossi; Chicago: The University of Chicago Press, 1970), 89–121. Von Mills Gedanken beeinflusst, wurde auch Harriet zu einer Verfechterin der Gleichberechtigung. Eine eingehendere Charakterisierung von Stowes sozialem Kontext und ihrer Schriftauslegung findet sich bei Marion Ann TAYLOR, „Harriet Beecher Stowe and the Mingling of Two Worlds: the Kitchen and the Study“, in DE GROOT und TAYLOR, Recovering NineteenthCentury Women Interpreters, 99–115. STOWE, Woman in Sacred History, 102. Sie zitiert Johann Gottfried HERDER, The Spirit of Hebrew Poetry 2 (übers. v. James Marsh; 2 Bde; Burlington: Edward Smith, 1833), 186– 191.
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gamie erlauben und regeln.53 Bei der Interpretation dieser Gesetze stellt Stowe zwei Thesen auf. Erstens vertritt sie die Auffassung, dass diese Gesetze insofern von einer großen Rücksichtnahme gegenüber Frauen gekennzeichnet sind, als sie die Rechte des Mannes über die Frau einschränken, und zweitens stellt sie diese Rücksicht dem geringen Ansehen von Frauen bei den benachbarten Völkern gegenüber. So vergleicht sie etwa die Rolle der Frau in den Zehn Geboten mit dem Status der Frau im antiken Griechenland und Rom: Among the Greeks, the wife was a nonentity, living in the seclusion of the women’s apartments, and never associated publicly with her husband as an equal. In Rome, the father was all in all in the family, and held the sole power of life and death over his wife and children. Among the Jews, the wife was the co-equal queen of the home, and was equally honored and obeyed with her husband.54
Abschließend stellt sie fest: By thus hedging in polygamy with restraints of serious obligations and duties, and making every concubine a wife, entitled to claim all the privileges of a wife, Moses prepared the way for its gradual extinction.55
Stowe hält fest, dass zu Beginn der neutestamentlichen Zeit die Praxis der Polygamie so gut wie verschwunden war. Überraschend große Aufmerksamkeit widmet Stowe den auf Frauen bezogenen Gesetzen im Pentateuch, und auch hier finden sich viele der Themen wieder, denen wir schon bei Aguilar begegnet sind. Sie geht davon aus, dass die betreffenden Gesetze aus einer Zeit stammen, als die Israeliten noch nicht im Land Israel lebten, dass sie die Norm für die israelitische Gesellschaft darstellten und dass sie demnach herangezogen werden konnten, um die Lebensumstände einzelner Frauen zu skizzieren. Weil die Gesetze laut Stowe auf ein hohes Ansehen der Frau hindeuten, schließt sie daraus – und auch hierin stimmt sie mit Aguilar überein –, dass Deboras Rolle als Richterin nicht ungewöhnlich war. Sie charakterisiert die Zeit der Richter als das „dunkle Zeitalter der jüdischen Kirche“56: Damals sei das jüdische Volk ungehorsam gewesen, in die Unterdrückung geraten und schließlich von einem göttlich inspirierten Anführer befreit worden. Sie fährt fort: It is entirely in keeping with the whole character of Mosaic institutions, and the customs of the Jewish people, that one of these inspired deliverers should be a woman. We are 53
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Vgl. meinen Beitrag über Aguilars Auslegung der Konkubinengesetze in Ex 21,7: Christiana DE GROOT, „Nineteenth-Century Feminist Responses to the Laws in the Pentateuch“, in Strangely Familiar: Protofeminist Interpretations of Patriarchal Biblical Texts (hg. v. Nancy Calvert-Koyzis und Heather Weir; Atlanta: Society of Biblical Literature, 2009), 106–119. Anders als Stowe interpretiert Aguilar den Satz „Sie soll nicht ausziehen, wie die Sklaven ausziehen“ aus Ex 21,7 dahingehend, dass die Sklavinnen nicht für die gröbere und härtere Feldarbeit bestimmt waren. STOWE, Woman in Sacred History, 23f. STOWE, Woman in Sacred History, 25. STOWE, Woman in Sacred History, 99.
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not surprised at the familiar manner in which it is announced as a thing quite in the natural order, that the chief magistrate of the Jewish nation, for the time being, was a woman divinely ordained and gifted.57
Die Gesetze im Pentateuch verdienen nicht nur aufgrund ihrer hohen Wertschätzung von Frauen Beachtung, sondern legen, so Stowe, auch die Grundlagen für eine demokratische Gesellschaft. Im einleitenden Abschnitt ihrer Skizze über Debora schreibt sie: „Das Ideal des mosaischen Vorgehens lag in einer ultra-demokratischen Gemeinschaft, die so aufgebaut war, dass dort notgedrungen Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit herrschen mussten.“58 Diese drei Werte waren die Motoren der Französischen und der Amerikanischen Revolution und rechtfertigten außerdem die Abschaffung der Sklaverei, für die sich Stowe in ihrem Roman Onkel Toms Hütte eingesetzt hatte.59 Für sie besteht zwischen dem Ideal der mosaischen Gesetze und den Idealen der Vereinigten Staaten keinerlei Unterschied. Es ist interessant zu beobachten, wie ihr Verständnis der fortschreitenden Offenbarung sich hier auswirkte. Es scheint so, dass unter dieser Perspektive die Gesetze ihren Höhepunkt erreicht haben. Sie beendet diesen Abschnitt mit Worten, die an Jesu Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten erinnern: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Lk 10,25). Stowe gibt zur Antwort: The supreme law of the land was love. Love, first, to the God and father, the invisible head of all; and secondly, towards the neighbor, whether a Jewish brother or a foreigner or a stranger.60
Die Gesetze schaffen nicht nur den idealen Staat, sondern geben auch Auskunft darüber, wie man sein tägliches Leben auf praktischer Ebene zu führen hat. Aus ihren Gesetzen lernen die Juden „eine Läuterung ihrer Gefühle, persönliche Reinheit, Zurückhaltung, Ordnung und Unschuld […], so dass die Juden, die nach diesem Gesetz lebten, zwangsläufig zu edlen Menschen werden mussten.“61 Man könnte erwarten, dass Stowe anschließend über die Rolle nachdenkt, die Barak in dieser Erzählung spielt, und ihn vielleicht zu einem Musterbeispiel des aufgeklärten jüdischen Mannes erhebt, doch so verfährt sie nicht. Auch Deboras Mann Lappidot ist kein Rollenmodell. Stowe weist lediglich darauf hin, dass man sich nur seiner Frau Debora wegen an ihn erinnert. Obwohl Debora neben ihren häuslichen Rollen ganz offensichtlich am öffentlichen Leben teilnimmt, setzt Stowe sich nur mit den beiden Rollen der Mutter und der Dich-
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STOWE, Woman in Sacred History, 100. STOWE, Woman in Sacred History, 99. Stowe veröffentlichte diesen Text unter dem Originaltitel Uncle Tom’s Cabin 1851 als Fortsetzungsroman in der abolitionistischen Zeitschrift National Era. 1852 erschien eine zweibändige Ausgabe. Eine moderne kritische Ausgabe mit Hintergrundinformationen ist die von Elizabeth Ammons: Harriet Beecher STOWE, Uncle Tom’s Cabin (hg. v. Elizabeth Ammons; New York: W. W. Norton, 1994). STOWE, Woman in Sacred History, 99. STOWE, Woman in Sacred History, 99f.
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terin auseinander. Im Zusammenhang mit dem von ihr konstatierten hohen Ansehen der Frau im jüdischen Gesetz hält sie fest: The person of the woman was hedged about by restraints and ordinances which raised her above the degradation of sensuality to the honored position of wife and mother. Motherhood was exalted into special honor, and named as equal with fatherhood in the eye of God.62
Stowe selbst leitete ihre moralische Autorität aus der Erfahrung ihrer Mutterschaft ab. Als Mutter schrieb sie Onkel Toms Hütte, oder, um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: „Das, was ich geschrieben habe, habe ich getan, weil ich als Mutter bedrückt wurde und mein Herz brach wegen der Sorgen und der Ungerechtigkeit, die ich sah.“63 Für sie sind die Aufgaben der Mutter und der Schriftstellerin eng miteinander verwoben. Sie schrieb in ihrer häuslichen Umgebung, und so ist es vielleicht nicht überraschend, dass sie Deboras Schriftstellertum hervorhebt und sie zunächst und vor allem als Dichterin preist. Obwohl Stowe viele Reformen zugunsten von Frauen im 19. Jahrhundert unterstützte, verknüpfte sie die Debora-Erzählung nicht mit dem Anliegen der Frauenbildung oder des Frauenwahlrechts. Vielmehr folgen ihre Darstellung der Gesetze und die Interpretation der Debora-Erzählung dem traditionellen Frauenbild von der „Königin des Inneren“.64 Die Position, die Stowe hier vertritt, ist eine weitere Variante der Antwort auf die Frauenfrage. Obwohl sie, wie schon erwähnt, von Mills Argumentation überzeugt war, wonach Frauen und Männer im Wesentlichen gleich sind, dieselbe moralische Verantwortung tragen und deshalb beide Stimmrecht haben sollten, vertrat Stowe auch den Standpunkt, dass die Mutterrolle der Frau eine einzigartige Plattform biete, um Fragen der öffentlichen Moral, wie etwa die Einrichtung der Sklaverei, anzusprechen. In ihrer Einleitung stellt Stowe die Dichterinnen in der Heiligen Schrift den Schriftstellerinnen der umgebenden Nationen gegenüber. In den anderen Kulturen, wie Griechenland oder Rom, waren Frauen, die schrieben, entweder Kurtisanen oder Vestalinnen. Nur das Judentum, so Stowe, kombinierte die Aufgaben der Mutter, Frau und Prophetin. Sie nimmt Debora als paradigmatisches Beispiel: So far as we know, there is not a Jewish prophetess who is not also a wife, and the motherly character is put forward as constituting a claim to fitness in public life. „I, Deborah arose a mother in Israel.“65
Auf diese Weise vertritt Stowe zwar die Ideologie der getrennten Bereiche, macht aber gerade diese Idee zu einem Argument für die politische Beteiligung der Frau.66 Zum 62 63 64 65 66
STOWE, Woman in Sacred History, 99. Zitiert nach BOYDSTON, The Limits of Sisterhood, 48. Diese Formulierung verwendet Stowe, um die Stellung der Frau in der Zeit vor der Monarchie zu beschreiben. Vgl. DIES., Woman in Sacred History, 20. STOWE, Woman in Sacred History, 28. Vgl. die detailliertere Diskussion über Häuslichkeit und die Naturrechtstheorie in der Einleitung zu BOYDSTON, The Limits of Sisterhood, 4–6. WHITE, The Beecher Sisters, 146, weist darauf hin, dass es bei den Beecher-Schwestern Harriet und Isabella nicht unüblich war,
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Abschluss ihrer Einleitung beschreibt sie die ideale Frau, die offenbar auch ihrem eigenen Leben als Vorbild gedient hat: „Das reine Ideal einer heiligen Frau, die hervorgeht aus dem Schoß der Familie und zugleich als Ehefrau, Mutter, Dichterin, Anführerin und Inspiratorin wirkt, ist der heiligen Geschichte eigen.“67 Die zweite Hälfte von Stowes Essay über Debora befasst sich mit dem DeboraLied, und hier stützt sich Stowe weitgehend auf die Arbeit von Herder. Sie zitiert dessen Gedicht, unterbricht das Zitat aber immer wieder, um Kommentare einzufügen. So bricht sie beispielsweise nach Ri 5,12 ab, um auf einen Übergang hinzuweisen. Über Debora heißt es bei ihr: […] she reviews, with all a woman’s fiery eloquence, the course which the tribes have taken in contest, giving praise to the few courageous, self-sacrificing patriots, and casting arrows of satire and scorn on the cowardly and selfish.68
Auch hier sehen wir sie die besonderen schriftstellerischen Verdienste von Frauen hervorheben. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts spricht sie von Schlachten ihrer eigenen Epoche – vermutlich bezieht sie sich auf den Bürgerkrieg – und davon, wie sehr sie den Schlachten des alten Israel ähnelten. In beiden Fällen „[…] gab es sehr unterschiedliche Arten von Männern. Da waren tapfere, unkluge, großmütige, solche des Typs, die zu allem entschlossen sind, und da waren auch die eigensüchtigen Vorsichtigen, die nur abwarteten und redeten.“69 In diesem bemerkenswerten Essay hat Stowe alles miteinander verschmolzen: ihr abolitionistisches Engagement, die Ideale der Amerikanischen Revolution, das moralische Gewicht der Mutterschaft, die dichterische und prophetische Berufung und eine sehr ehrerbietige Darstellung des alten Judentums. Dabei hat sie Deboras Rolle als Feldherrin und die Beziehung zwischen Debora und Barak beinahe vollständig ausgelassen. Stowes Intention führte dazu, dass sie einige Merkmale der Erzählung sah und andere ignorierte, was zeigt, dass die Rezeptionsforschung sich nicht nur mit dem, was gesagt, sondern auch mit dem, was nicht gesagt wird, zu befassen hat.
6. Julia McNair Wright (1840–1903) Wrights Saints and Sinners wurde 1872 und damit ein Jahr vor Stowes Woman in Sacred History veröffentlicht. Beide Frauen waren sehr produktive weiße, protestantische Schriftstellerinnen der amerikanischen Mittelschicht.70 Ihre Gedanken zur Sklaverei
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zwischen den beiden Positionen der Gleichberechtigung und der getrennten Sphären hin und her zu wechseln. STOWE, Woman in Sacred History, 28. STOWE, Woman in Sacred History, 103. STOWE, Woman in Sacred History, 103. William A. Newman DORLAND, The Sum of Feminine Achievement (Boston: The Stratford Co., 1917), 226, nimmt Wright in seine Liste der Romanschriftstellerinnen auf und bezeichnet The Heir of Athole (1887) als ihr opus magnum. Julia McNair WRIGHT, The Heir of
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und zur Frauenfrage weisen große Ähnlichkeiten auf, auch wenn sie diese ganz unterschiedlich formulieren. Wright z. B. ist insofern die typischere Protestantin, als sie an keiner Stelle das Judentum erwähnt oder die Gesetze des Pentateuchs berücksichtigt, wenn sie die Gebräuche des alten Israel erläutert. Anders als Stowe stellt Wright sehr viel explizitere Bezüge zwischen der Debora-Erzählung und den Frauenrechten her, wobei sie insbesondere die Themen Erziehung und Bildung in den Blick nimmt. Über das Leben von Julia McNair Wright ist sehr viel weniger geschrieben worden, doch ihre Biografie ist in großen Zügen bekannt. Sie wurde in Oswego/New York in eine Familie der gehobenen Mittelschicht hineingeboren und besuchte Privatschulen. Sie heiratete William J. Wright, einen Geistlichen der Presbyterianischen Kirche, hatte zwei Kinder und ließ sich schließlich in Fulton/Missouri nieder, wo ihr Mann Vizepräsident am Westminster College war. Sie war eine versierte Schriftstellerin und Autorin von Romanen, Kurzgeschichten, Gedichten, religiösen Essays, Unterrichtsmaterialien für Kinder über Abstinenz, Kochbüchern und Werken über Botanik.71 Der Essay über Debora ist Teil ihrer biblischen Arbeit über Saints and Sinners. Sie erforscht Frauen und Männer in der Bibel, darunter Mirjam, Debora und Isebel sowie Samson und David. Im Vorwort erklärt sie, weshalb sie sich dazu entschieden hat, gerade diese Figuren zu untersuchen. Sie schreibt, dass im Unterschied zu der übrigen Literatur, in der die Helden immer vollkommen und die Schurken durch und durch böse sind, in der Bibel Heilige und Sünder begegnen, die der menschlichen Erfahrung entsprechen.72 Weil die Menschen in der Schrift „Bein von unserem Bein und Fleisch von unserem Fleisch“ (Gen 2,23) seien, werden die LeserInnen, wenn sie über sie nachdenken, vieles über das gottgefällige und das gottlose Leben lernen. Wrights Kapitel über Mirjam und Debora trägt den Untertitel The Theocratic Status of Woman, der bereits andeutet, weshalb sie diese beiden Frauen gemeinsam in einem Kapitel behandelt: Scripture sets before us as glorious types of womanhood both in domestic and public life; two who teach us the status of woman before her God; and in these times when the questions of woman’s rights and position occupy so much attention, it is well to go back to the fountain of all truth and draw our lesson thence.73
Beide Frauen, so Wright, sind von Gott dazu bestimmt worden, am öffentlichen Leben teilzuhaben. Sie taten dies nicht aus persönlichem Ehrgeiz, sondern weil Gott sie berief. Sie merkt an, dass Frauen für gewöhnlich in der häuslichen Sphäre bleiben, sich jedoch gelegentlich, wenn es notwendig wird und sie sich als fähig erweisen, an der Politik oder der Erziehung beteiligen.
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Athole. A Story (Philadelphia: Presbyterian Board fo Publication and Sabbath-School Work, 1887). Vgl. den Artikel von Lois FOWLER, „Julia McNair Wright“, in American Women Writers: A Critical Reference Guide from Colonial Times to the Present 4 (hg. v. Lina Mainiero und Langdon L. Faust; 4 Bde; New York: Ungar 1982), 466–469. WRIGHT, Saints and Sinners, 6. WRIGHT, Saints and Sinners, 182.
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Wrights Position vermittelt zwischen der naturrechtlichen Sichtweise und der Lehre von den getrennten Bereichen: In general terms, God has assigned men one line of work in the world, and women another; in physical conformation, he has fitted them for their grand and customary departments of labor; but he has made it no sin to go out of one sphere into the other, if there is necessity for it.74
In einer Sprache, die an moderne Abhandlungen über die Geschlechterunterschiede erinnert, erwähnt sie gelegentlich, dass es auch schmächtige Männer und muskulöse Frauen gegeben habe75 und weist später auf das Beispiel der Elena Lucrezia Cornaro Piscopia (1646–1684) hin, einer außergewöhnlichen Frau, deren Meisterschaft in Sprachen, Philosophie, Theologie und Mathematik dazu führte, dass sich keine Frau und kein Mann mit ihr messen konnten.76 Ähnlich wie Balfour vertritt Wright des Weiteren die Auffassung, dass Frauen, die in die Öffentlichkeit treten, ihre spezifische Identität nicht verändern; sie bleiben Frauen. Über Debora schreibt sie: „Ihre hohe Position und ihre mächtigen Taten nahmen ihr nicht ihre Geschlechtlichkeit; sie war kein König, sondern eine Mutter in Israel.“77 Wright billigt es, wenn Frauen auf eine Notsituation reagieren und, von Gott dazu berufen, ihre Pflicht auf ungewöhnliche Weise erfüllen. Frauen gegenüber, „die ihre Tauglichkeit laut rühmen und günstige Gelegenheiten dafür bewusst herausfordern“, ist sie allerdings kritisch eingestellt.78 Vielleicht spielt sie hier auf die Arbeit der Suffragetten an, die zu ihrer Zeit im Land umherreisten und Vorträge über Frauenrechte hielten. Trotz dieser kritischen Einstellung einigen Frauen gegenüber ist Wright selbst eine Befürworterin der Frauenbildung und ergreift energisch Partei gegen diejenigen Männer, die Frauen den Zugang zu bestimmten Schulen und Berufen per Gesetz verwehren wollen. Ihre Argumentation weist mehrere Facetten auf. Zunächst erklärt sie, dass Frauen für den häuslichen Bereich geeigneter seien und die Männer sich daher keine Sorge machen müssten, dass die Frauen sie aus ihrem Bereich verdrängen könnten. In blumiger Sprache formuliert sie: Therefore, there need be no more masculine trepidation lest women usurp the pulpit and the gubernatorial chair, the general’s star, and the sea captains floating kingdom, because wifedom and motherhood will interpose their mysterious ban.79
Wir wissen nicht, ob Wright Mills Abhandlung The Subjection of Women gelesen hat, doch mehrere ihrer Argumente einschließlich des eben genannten finden sich in diesem Essay wieder. Mill ist der Ansicht, dass Männer und Frauen zwar denselben rechtli74 75 76 77 78 79
WRIGHT, Saints and Sinners, 188. WRIGHT, Saints and Sinners, 188. WRIGHT, Saints and Sinners, 196. WRIGHT, Saints and Sinners, 195. WRIGHT, Saints and Sinners, 195. WRIGHT, Saints and Sinners, 197.
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chen Status genießen und dieselben Wirtschafts- und Bildungschancen sowie das Wahlrecht erhalten sollten, dass aber die meisten verheirateten Frauen dennoch in der häuslichen Sphäre bleiben wollen. Er schreibt: Like a man when he chooses a profession, so, when a woman marries, it may in general be understood that she makes a choice of the management of a household, and the bringing up of a family, as the first call upon her exertions, during as many years of her life as may be required for the purpose; and that she renounces, not all other objects and occupations, but all which are not consistent with the requirements of this.80
Da die Frauen einer Beteiligung am öffentlichen Leben ohnehin eher abgeneigt seien, besteht für Mill ebenso wie für Wright keine Notwendigkeit, diese per Gesetz zu verbieten.81 Zusätzlich vertritt Wright die These, dass es gegen den Willen Gottes verstoße, die wenigen Frauen, die dazu berufen sind, vom öffentlichen Leben fernzuhalten. Bis hierher stimmt Wright weitestgehend mit der Auffassung überein, wonach Frauen und Männer sich ihrem Wesen nach grundsätzlich unterscheiden und der öffentlichen Beteiligung der Frauen demnach Grenzen gesetzt sind. Anders als die übrigen VertreterInnen dieser Sichtweise hält Wright allerdings Ausnahmen für zulässig und strebt eine Gesetzesänderung an, um den öffentlichen Bereich für außergewöhnliche Frauen zugänglich zu machen. Im weiteren Verlauf ihrer Äußerungen zur Bildung und zum Intellekt der Frau erklärt sie dann jedoch, dass Männer und Frauen wesentlich gleich seien. Sie fordert bessere Bildungschancen für Frauen, weil dies den Absichten Gottes entspreche: […] we work in the line of Divine intent when women are educated, as men are educated, in the ratio of their capacity. The capacity of women for learning is, on the whole, the same as that of men. More than half of each sex is unequal to a liberal education.82
Später diskutiert Wright die beiden Thesen, dass die Denkweisen von Männern und Frauen verschieden und dass Frauen den Männern durch ihre intuitive Art des Erkennens überlegen seien: There has been much prating about woman’s intuition and instinct, and her weakness being her strength. Woman’s weakness is not her strength; for her as for man knowledge is power. Intuition is no more the peer of education than the dog’s instinct is the equal of his master’s power.83
An dieser Stelle sagt sie ausdrücklich, dass sie nur eine Art des Wissens für erstrebenswert hält, und zwar solches, das typischerweise den Männern zugeschrieben und durch Bildung erworben wird.
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MILL, The Subjection of Women, 179. MILL, The Subjection of Women, 154: „Das, was Frauen von Natur aus nicht können, ist überflüssig, es ihnen zu verbieten.“ WRIGHT, Saints and Sinners, 196. WRIGHT, Saints and Sinners, 196.
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Eine andere Facette in Wrights Denken, die ebenfalls Anklänge an John Stuart Mill aufweist, ist die Auffassung, dass Frauen nur dann nach einer Arbeit außerhalb des häuslichen Bereichs suchen werden, wenn sie Zeit und Kraft übrig haben. Ein öffentliches Engagement der Frauen sei nur denkbar, wenn sie mit der Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten nicht ausgelastet sind. Dieses Bedürfnis mancher Frauen, ihre überschüssige Energie zu investieren, entspreche dem göttlichen Ruf, dass jeder Mensch seine Talente nach besten Kräften einsetzen soll. Diese beiden Argumente spiegeln zum einen erneut die Sorge der Männer wider, dass im Falle eines öffentlichen Engagements der Frauen das Zuhause und die Familie vernachlässigt werden, und zum anderen die Auffassung, dass Männer wie Frauen die Pflicht haben, Gott treu zu sein.84 Wright bringt ihre Position selbst auf den Punkt: „Der Status der Frau unter göttlicher Leitung ist der einer geistigen und geistlichen Gleichheit mit dem Mann.“85 Und abschließend fügt sie hinzu, dass Gleichheit zu fordern nicht bedeute, Unterschiede zu negieren.86 Ein kurzer Blick auf die Lebensverhältnisse zahlreicher Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts zeigt, dass Wright ein Ideal vertritt, das für die meisten Frauen unerreichbar war. Autorinnen wie Susan Warner (1819–1885), Christina Rossetti (1830–1894), Grace Aguilar, Clara Lucas Balfour und Harriet Beecher Stowe schrieben aus Gründen der ökonomischen Notwendigkeit. Sie brauchten das Geld, das sie mit ihren Veröffentlichungen verdienten, um sich und ihre Familie zu unterhalten. Sie schrieben auch nicht, um einen Energieüberschuss abzubauen.87 Stowe beschreibt die Umstände ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in einem Brief, der das arbeitsame Leben vieler verheirateter Frauen treffend wiedergibt: Since I began this note, I have been called off at least a dozen times; once for the fishman, to buy a codfish; once to see a man who had brought me some barrels of apples; once to see a book agent; then to Mrs. Uphams to see about a drawing I promised to make for her; then to nurse the baby; then into the kitchen to make a chowder for dinner; and now I am at it again, for nothing but deadly determination enables me ever to write; it is rowing against wind and tide.88
Wrights Vorstellung von Frauen, die nur dann außerhalb des häuslichen Bereichs tätig werden, wenn sie nach der Erfüllung ihrer Pflichten noch Kraft und Zeit übrig haben, zeigt ihre privilegierte Situation als Angehörige der Oberschicht. Sie scheint die tatsächlichen Lebensumstände vieler Frauen aus der unteren und mittleren Schicht schlicht vergessen zu haben. Wright hat die These, dass Gott auch Frauen – wie Debora – im öffentlichen Bereich zu seinem Werkzeug machen kann, gründlicher durchdacht als die oben genannten Autorinnen. Die Exegetinnen betonen jeweils, dass Debora trotz ihrer Führungsrolle eine Frau bleibt. Das ist für sie ein Hinweis darauf, dass Frauen ebenso wie Männer in Gottes Augen nützlich und damit gleichrangig sind. Dennoch vertreten sie alle 84 85 86 87 88
WRIGHT, Saints and Sinners, 197. WRIGHT, Saints and Sinners, 196. WRIGHT, Saints and Sinners, 199. Diese Liste stammt aus TAYLOR und WEIR, Let Her Speak for Herself, 4. Zitiert nach TAYLOR und WEIR, Let Her Speak for Herself, 4.
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auch den Standpunkt, dass der häusliche Bereich das Betätigungsfeld ist, in dem die Frau ihrer Berufung am ehesten nachkommen kann. Was die einzelnen Autorinnen unterscheidet, ist der Grad ihrer Bereitschaft, sich dafür einzusetzen, dass Frauen sich am öffentlichen Leben beteiligen dürfen und die gleichen Bildungschancen erhalten wie Männer. Aguilar und Wright engagieren sich am stärksten für die gleiche Bildung von Frauen und Männern. Dabei beschränkt sich Aguilar auf die religiöse Bildung, während Wright ihre Forderungen auf eine humanistische Allgemeinbildung ausdehnt. Stowe ist insofern atypisch, als sie keine ausdrückliche Beziehung zwischen Deboras Rolle und den Chancen der Frauen im 19. Jahrhundert herstellt.
7. Clara Neyman (1840–1931) Die letzte Exegetin, Clara Neyman, steht am progressiven Ende unseres Spektrums. Abgesehen von ihrem Engagement für das Frauenstimmrecht im Staat New York ist über ihr Leben nur sehr wenig bekannt. Stanton schreibt, dass Neyman Mitglied der FreidenkerInnen gewesen sei; außerdem ist sie als Mitglied des Revisionskomitees für den zweiten Teil von The Woman’s Bible aufgeführt und hat selbst vier Beiträge über das Buch der Richter verfasst.89 Sie stimmt grundlegend mit der kritischen Haltung dieses Werkes überein, wonach das Christentum als Religion das Patriarchat unterstütze und Frauen mehr unterdrücke als andere Religionen einschließlich des Judentums. Beispielsweise folgert Neyman aus Deboras zahlreichen Rollen als Priesterin, Prophetin, Dichterin und Richterin, dass der Stellenwert der Frau im Judentum sehr hoch gewesen sein muss, und vermutet: „Der Redaktor, der die Geschichte ihrer Gaben und Taten zusammenstellte, muss Frauen vor Augen gehabt haben, die ihn mit ihrer wunderbaren Persönlichkeit inspirierten.“90 Deboras hohe Stellung und Autorität in der israelitischen Gesellschaft sei keine Ausnahme gewesen, so Neymans historische Rekonstruktion: „Es ist jetzt eine anerkannte Tatsache, dass Frauen nicht nur bei den Hebräern, sondern auch bei den Griechen und den Germanen in früheren Zeiten über größere Freiheit und Macht verfügten.“91 Ihre Ansicht, wonach es vor dem Patriarchat matriarchalische Gesellschaften gegeben habe, war im 19. Jahrhundert weit verbreitet. So trug beispielsweise ein Vortrag,
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Eine kurze Erwähnung Neymans findet sich bei Elizabeth Cady STANTON, Hg., History of Woman’s Suffrage (Rochester: Charles Mann, 1887), 405. Sie hielt bei der ersten Versammlung der 1872 in New York gegründeten deutschen Suffragettenorganisation einen Vortrag. In der History of Woman’s Suffrage heißt es: „Clara Neyman wurde später eine beliebte Rednerin bei vielen Suffragettenvereinigungen und freien religiösen Verbänden.“ NEYMAN, „Judges“, 21. NEYMAN, „Judges“, 22.
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den Stanton 1891 hielt, den Titel The Matriarchate, or Mother State.92 Sie gibt einen Überblick über die Forschungsergebnisse, die diese Auffassung stützen, und orientiert sich insbesondere an Lewis Henry Morgans anthropologischer Studie Ancient Society, die 1877 veröffentlicht wurde.93 Sowohl Stanton als auch Neyman sind der Überzeugung, dass die Gesellschaft vor langer Zeit unter dem Matriarchat floriert habe und die Autorität der Frauen dann nach und nach verlorengegangen sei. Neyman fragt nach den Ursachen dieser Entwicklung: If Deborah, way back in ancient Judaism, was considered wise enough to advise her people in time of need and distress, why is it that at the end of the nineteenth century, woman has to contend for equal rights and fight to regain every inch of ground she has lost since then?94
Schuld daran trage das Christentum. Dieses habe beispielsweise gelehrt, dass die Frau in der Kirche zu schweigen habe. Neyman fährt fort: „In Wahrheit hat das Christentum in vielerlei Hinsicht die Aktivitäten von Frauen eingegrenzt und sich großer Ungerechtigkeiten gegenüber dem ganzen Geschlecht schuldig gemacht.“95 Es erstaunt nicht, dass Neyman als Freidenkerin und Aguilar als Jüdin übereinstimmend Position gegen die von Autorinnen wie Balfour oder Baxter vertretene Überzeugung beziehen, dass es den Frauen in den christlichen Ländern besser ergehe als in den nichtchristlichen Gebieten. Von allen hier erwähnten Exegetinnen ist Balfour diejenige, die die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Heidentum und der Bibel gegenüber den anderen alten Schriften mit dem größten Nachdruck verficht. In ihrem einleitenden Kapitel formuliert sie: The Bible, in remarkable contrast to all other ancient writings, distinctly recognises woman’s moral responsibility, her high mental capacity, the important personal and relative duties resulting therefrom; and her perfect equality with man of spiritual privileges and eternal destiny. The more polished nations of antiquity, on the contrary, seem invariably to have formed a low estimate of the female character.96
Im weiteren Verlauf vergleicht Balfour die Frauen in den christlichen Gebieten mit denen in den hinduistischen und muslimischen Gesellschaften und stellt die These auf, dass „dem Christentum immer die Zivilisation nachfolgt“.97 Diese Behauptung kombiniert sie mit der Einschätzung, dass „sich überall dort, wo die Frau ungerecht behandelt wird, der nationale Fortschritt verzögert und die Literatur des Landes verschlechtert“.98 92
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Dieser Vortrag ist abgedruckt in der Anthologie von Ellen Carol DUBOIS und Richard Candida SMITH, Hg., Elizabeth Cady Stanton: Feminist as Thinker (New York: New York University Press, 2007), 264–275. Lewis Henry MORGAN, Ancient Society: Or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery, through Barbarism to Civilization (London: Macmillan & Co., 1877). NEYMAN, „Judges“, 22. NEYMAN, „Judges“, 21. BALFOUR, Women of Scripture, 2. BALFOUR, Women of Scripture, 8. BALFOUR, Women of Scripture, 6.
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Indem sie diesen Zusammenhang zwischen Christentum, Zivilisation und der Behandlung der Frauen herstellt, gelangt Balfour zu der Schlussfolgerung, dass es dem Christentum zu verdanken sei, wenn es den Frauen in England verhältnismäßig gut ergehe. Obwohl sie das Judentum in diesem einleitenden Teil nicht ausdrücklich erwähnt, vertritt sie später in ihrem Essay über Debora die Auffassung, dass die Sittlichkeit des Neuen Testaments höher entwickelt sei als die des Alten. Wenn sowohl Aguilar als auch Neyman den Standpunkt formulierten, dass die Frauen im Judentum besser gestellt gewesen seien als im Christentum, so geschah dies vermutlich vor allem als Reaktion auf solche Ansichten, wie sie u. a. Balfour vertrat. Obwohl sie sich weder der jüdischen noch der christlichen Religion zugehörig fühlte, verwendet Neyman Debora und Barak dennoch als Rollenmodelle für das, was Frauen und Männern möglich ist. Ihre Position stimmt mit den Ansichten anderer AutorInnen der Woman’s Bible überein, die auch das Gedankengut der im 19. Jahrhundert aufkommenden neuen religiösen Bewegungen in ihre Forschungsarbeit einbrachten. So bestand das Revisionskomitee u. a. aus drei universalistischen Predigerinnen: Olympia Brown (1835–1926), Phebe Hanaford (1829–1921) und Augusta Chapin (1836–1905); drei Anhängerinnen der Neugeist-Bewegung: Clara Colby (1846–1916), Matilda Joslyn Gage (1826–1898) und Ursula Gestefeld (1845–1921); sowie drei Spiritualistinnen, nämlich Lucinda Chandler, Catherine Stebbins (geb. 1823) und Charlotte Wilbour (1833–1914).99 Die Neugeistlerinnen und die Spiritualistinnen neigten zu einer eher spirituellen und esoterischen Lesart der Bibel. Sie achteten weniger auf die vordergründige, materielle Bedeutung des Textes, sondern vertraten die Auffassung, die Bibel lehre eine spirituelle Androgynie, d. h. Männer und Frauen besäßen eine geschlechtslose Seele. Infolgedessen begründeten sie die Gleichstellung der Frau nicht mit ihren „natürlichen Rechten“, sondern legten eine geschlechtsneutrale Argumentation vor.100 Neymans Interpretation der Debora-Erzählung stimmt mit diesen Überzeugungen überein. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Debora-Erzählung folgende Lehre beinhalte: Genius knows no sex; and woman must again usurp her Divine prerogative as a leader in thought, song and action. The religion of the future will honor and revere motherhood, wifehood and maidenhood.101
Weil Frauen und Männer geschlechtslose Seelen haben, kennt auch das Genie kein Geschlecht. Die spirituelle Androgynie wird zur Grundlage einer Haltung, die sowohl Frauen als auch Männern das Recht zugesteht, AnführerInnen zu sein. Im Einklang mit der Sichtweise der Neugeist-Bewegung betont Neyman, dass Frauen im Denken und im Handeln – also in Bereichen, die typischerweise Männern vorbehalten waren – Füh99
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Vgl. zur Diskussion über die Zusammensetzung des Revisionskomitees Kathi KERN, Mrs. Stanton’s Bible (Ithaca: Cornell University Press, 2001), 138–144. Zu einer exzellenten ideengeschichtlichen Darstellung der Neugeist-Bewegung vgl. Beryl SATTER, Each Mind a Kingdom: American Woman, Sexual Purity and the New Thought Movement: 1875–1920, (Berkeley: University of California Press, 1999). KERN, Mrs. Stanton’s Bible, 163–169. NEYMAN, „Judges“, 22.
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rungsrollen übernehmen können. Gleichzeitig wird die Religion der Zukunft aber auch die traditionellen Rollen der Frau als Mutter, Ehefrau und Mädchen ehren. Neyman fordert bessere Chancen für Frauen, die aktiv ins öffentliche Leben eingreifen wollen, und respektiert gleichzeitig die typischen Rollen von Frauen im häuslichen Bereich. Sie sieht beide Sphären als mögliche Felder für eine gleichberechtigte Beteiligung von Mann und Frau und trägt damit am meisten dazu bei, die Trennung und ungleiche Bewertung des privaten und des öffentlichen Bereichs zu überwinden. Auf der Grundlage der von Neyman postulierten Gleichheit beider Geschlechter ruft sie Frauen und Männer zur Zusammenarbeit auf und wirft den christlichen Kirchen erneut vor, die bestehende Feindseligkeit zwischen Männern und Frauen verschuldet zu haben. The antagonism which the Christian church has built up between the male and the female must entirely vanish. Together they will slay the enemies – ignorance, superstition and cruelty. United in every enterprise they will win; like Deborah and Barak, they will clear the highways and restore peace and prosperity to their people.102
Anders als Baxter bewertet Neyman die Beziehung zwischen Debora und Barak als erfolgreiche und vorbildliche Partnerschaft. Baxter hatte sowohl Barak für seine Abhängigkeit von Debora als auch Debora selbst kritisiert, da sie sich Baraks Rolle angeeignet hatte. Neyman ist darüber hinaus die einzige Exegetin, die die Feinde der Menschen des 19. Jahrhunderts auflistet – und diese Liste ist nicht genderspezifisch. Der Feind ist weder Mann noch Frau, vielmehr sind Männer und Frauen Partner und haben dieselben Feinde: Unwissenheit, Aberglauben und Grausamkeit. Neymans visionäre Perspektive einer Partnerschaft und Gleichheit zwischen Männern und Frauen basiert nicht nur auf der Heiligen Schrift. Sie unterscheidet sich sowohl von Baxter als auch von Aguilar, die die Bibel – die Hebräische Bibel ebenso wie das Alte und Neue Testament – als das Wort Gottes betrachten. Wenn Aguilar und Baxter den biblischen Text lesen, gelangen sie zwar unter Umständen zu unterschiedlichen Auslegungen hinsichtlich der Bedeutung einer Stelle, doch sie sind sich darin einig, dass die Bibel ein inspiriertes Buch ist, an dem die Gläubigen ihr Leben ausrichten sollen. Neyman dagegen stimmt mit Stanton darin überein, dass die Bibel uneinheitlich sei. In ihrem Kommentar zu Ri 1 schreibt sie: The Bible has been of service in some respects; but the time has come for us to point out the evil of many of its teachings. It now behooves us to throw the light of a new civilization upon the women who figure in the Book of Judges.103
Die Auffassung, dass die Bibel nicht inspiriert und damit nicht immer maßgeblich sei, unterstreicht auch ihre Schlussfolgerung: God never discriminates; it is man who has made the laws and compelled woman to obey him. The Old Testament and the New are books written by men; the coming Bible will be the result of the efforts of both, and contain the wisdom of both sexes, their com102 103
NEYMAN, „Judges“, 22. NEYMAN, „Judges“, 17.
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Christiana de Groot bined spiritual experience. Together they will unfold the mysteries of life, and heaven will be here on earth when love and justice reign supreme.104
Diese Vision einer möglichen Zukunft ist nicht nur aus der Bibel abgeleitet, sondern wurzelt auch in nichtbiblischen Texten. Wie die VertreterInnen der Neugeist-Bewegung beschränkte Neyman sich nicht auf das Alte und Neue Testament, sondern schöpfte ihre Inspiration auch aus mystischen Texten, wie etwa der Kabbala. Diese Texte lehrten eine spirituelle, esoterische Einsicht, die die wahre Bedeutung der Bibel deutlicher werden lassen.105 Neymans Vorstellung von einer anzustrebenden Status- und Rollengleichheit von Männern und Frauen deckt sich auch mit dem Selbstverständnis, das sie sich als Vorkämpferin des Frauenstimmrechts erarbeitete. Wie die Bewegung, der sie angehörte, vertritt sie die Auffassung, dass die Stimmen der Frauen im öffentlichen Bereich diesen besser machen werden. Die Tugenden der Frauen, ihre Empathie, Treue und Bescheidenheit werden die harte Wettbewerbsrealität der gegenwärtigen Gesellschaft verändern. Die Partnerschaft von Männern und Frauen im politischen Leben werde das ganze Land in ein Paradies verwandeln, in dem Liebe und Gerechtigkeit unangefochten herrschen.
8. Die Debora-Erzählung als Folie für das Leben von Frauen und Männern Damit nicht der Eindruck entsteht, dass diese sechs Frauen alle Aspekte abdecken, die die verschiedenen KommentatorInnen an der Debora-Erzählung hervorgehoben haben, soll in aller Kürze auf einige weitere wichtige Themen hingedeutet werden, die von anderen Schriftstellerinnen, die exegetische Werke verfassten, bearbeitet wurden. Emily Dibdin, die ihre Outline Lessons on Women of the Bible 1893 verfasste, gibt ihrem Kapitel über Debora den Titel Simplicity.106 Sie schreibt, dass Debora nicht von einem Schloss oder Palast aus herrschte, sondern ihren Sitz unter einem Baum hatte. Sie war eine große Anführerin und gleichzeitig ein Muster an tugendhafter Einfachheit. Lady Morgan, die Verfasserin von Woman and her Master, behandelt das Debora-Lied im 6. Kapitel des ersten Bandes und schreibt in Fußnote 12: This canticle was sung 2,285 years before the birth of Christ. A fine immortality! A grand celebrity! There are among the learned some who believe that Homer took it as his model, and found in it the germ of his own immortal poem. In an article in the British Quarterly Review, in which the intellectual nature of Woman is treated with contempt, their supporters (few in number) are called upon to produce anything that can compare to the poetry produced by men. The first ode on record was the joint effusion of a brother and sister, Moses and Miriam; and Deborah’s canticle, which succeeded it, besides its
104 105 106
NEYMAN, „Judges“, 23. KERN, Mrs. Stanton’s Bible, 163–165. Emily DIBDIN, „Deborah“, in Outline Lessons on Women of the Bible (hg. v. ders.; London: Church of England Sunday School Society, 1893), 8–10.
Debora: Ein Nebenschauplatz der Frauenfrage
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higher poetic inspiration, has the distinction of preceding Homer’s epic by thirteen centuries.107
Susanna Rowson, die 1822 ihren Biblical Dialogue between a Father and his Family Comprising Sacred History verfasste, macht geltend, dass Debora für das Richteramt qualifiziert war. Sie lässt den Großvater sagen: „Mitten in diesem Elend erschien Debora, eine Frau von ausgezeichneter Heiligkeit, Weisheit und Kenntnissen der Heiligen Schriften.“108 David Gunn geht in seinem 2005 erschienenen Kommentar zum Buch der Richter auch auf die Rezeptionsgeschichte ein.109 Seine Darlegungen zu Ri 4 und 5 stützen sich auf rabbinische Schriften, antike und mittelalterliche Kommentare sowie Schriften aus der frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Periode. Die erste weibliche Exegetin, die er zitiert, ist Christine de Pizan.110 Im Kontext der Auslegung des 19. Jahrhunderts nennt er sodann den Kommentar von Mrs. Trimmer, die Beiträge von Grace Aguilar und Clara Lucas Balfour und erwähnt kurz die von Elizabeth Cady Stanton herausgegebenen Bände.111 Darüber hinaus berücksichtigt Gunn Zeichnungen und Gemälde als Teil der Bibelrezeption, und so gelingt ihm eine besonders reichhaltige Darstellung. Diese Kommentarreihe macht deutlich, dass die Schriftauslegung der Frauen ins Zentrum des Interesses gerückt ist. Ihre Schriften werden in einem Atemzug mit vielen bekannten Schriftkommentatoren der verschiedenen Jahrhunderte genannt, und ihre Erkenntnisse halten Einzug in eine breitere Debatte. Die Bibelauslegung der Frauen gilt nicht länger als Nischeninteresse einiger weniger zumeist weiblicher WissenschaftlerInnen, sondern als Quellenmaterial, das die Beachtung aller ForscherInnen verdient, die sich mit der Bibel befassen. Diese Reihe gibt Anlass zu der Hoffnung, dass viele vernachlässigte Frauenstimmen nun die Aufmerksamkeit finden werden, die ihnen gebührt. Der vorliegende Beitrag hat in aller Kürze die reiche Rezeptionsgeschichte der Debora-Erzählung bei Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts skizziert und gezeigt, dass Frauen die Bibel im Licht ihrer eigenen Erfahrungen gelesen und in den betreffenden Kapiteln des Buches der Richter Anklänge an die Themen ihrer eigenen Zeit gefunden haben. Interessanterweise hat keine von ihnen eine Botschaft aus der Debora-Erzählung herausgelesen, die ihrer eigenen Position in der Frauenfrage widerspricht. Zum Teil erklärt sich dies wohl aus der Autorität, die die Bibel bei den meisten ExegetInnen hatte. Unter der Annahme, dass die Hebräische Bibel oder das Alte Testament das Wort Gottes ist, wäre es für eine Frau zweifellos schwierig gewesen, deren Botschaft offen zu kritisieren. Doch selbst Neyman, die die Ansicht vertrat, dass dieses Buch von Männern geschrieben und nicht immer inspiriert gewesen sei, hatte an der Aussage, die 107 108 109
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MORGAN, Woman and her Master 1, 66–73. Susanna ROWSON, Biblical Dialogue between a Father and his Family Comprising Sacred History (Boston: Richardson & Lord, 1822), 269. Vgl. David GUNN, Judges (Oxford: Blackwell, 2005). Dieses Buch ist Teil der Blackwell Bible Commentaries, die sich zur Aufgabe gemacht haben, auch die Rezeptionsgeschichte des Textes als Bestandteil aufzunehmen. GUNN, Judges, 59. GUNN, Judges, 63–66.
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Christiana de Groot
der Text ihrer Meinung nach enthielt, nichts zu bemängeln. Alle sechs Exegetinnen stimmen darin überein, dass Frauen und Männer über diese wichtigen Kapitel im Buch der Richter nachdenken sollten, weil darin die ideale Beziehung zwischen Männern und Frauen veranschaulicht und deutlich gemacht werde, welches Tätigkeitsfeld Gott den einen und den anderen zugedacht habe. Die Debora-Erzählung und das DeboraLied lieferten ihnen vermittels positiver oder negativer Rollenmodelle eine Anleitung dafür, wie beide Geschlechter im privaten wie im weiteren gesellschaftlichen Bereich gedeihlich zusammenwirken sollen.
„Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers“: Catherine McAuleys Schriftdeutung Elizabeth M. Davis Regis College, Toronto School of Theology She seemed to inherit the great gift bestowed by God on the Prophet Isaias who said, „The Lord hath given me a learned tongue, whereby to support with a word him that is weary“ [Isa 50:4].1
Dieses biblische Bild wandte eine ihrer ersten Mitschwestern auf die römisch-katholische Ordensfrau Catherine McAuley (1778–1841) an. Diese wird damit in eine Linie mit den ProphetInnen und LehrerInnen des Alten Testaments gestellt. Gleichzeitig spiegelt das Jesaja-Zitat den Einfluss von McAuley wider, den sie mit ihrer Bibelauslegung auf die von ihr errichtete Gemeinschaft ausübte. McAuley war Gründerin einer Frauenkongregation und beteiligte sich an Aktivitäten, die zum sozialen Wandel beitrugen. Obwohl sie die Heilige Schrift intuitiv und ohne kritische Selbstwahrnehmung deutete, nutzte sie die Bibel doch gezielt und mit Autorität, um an gesellschaftlichen Veränderungen mitzuwirken. Ihre engagierte Beschäftigung mit diesen Texten nimmt Strömungen der Bibelhermeneutik vorweg, die sich heute erst allmählich herauskristallisieren. McAuley war keine traditionelle Exegetin – sie war eine Frau, die weder in akademischen Kreisen noch in der kirchlichen Hierarchie irgendeinen Rang beanspruchte –, sondern eine Bibelleserin, deren Texte zur Heiligen Schrift, obwohl diese sich nicht der klassischen Genres bedienten, weit verbreitet waren und in der ganzen Welt von religiösen Gemeinschaften über Jahrzehnte gelesen wurden, die in ihnen Hilfsmittel für gesellschaftliche Erneuerungen sahen und heute noch sehen. Eine Untersuchung von McAuleys Schriften entlarvt die Annahme, die Bibel sei katholischen Frauen im frühen 19. Jahrhundert vollständig fremd gewesen, als einen Mythos.
1. Soziale Verortung John Barton schreibt: „Wissen ist gesellschaftlich beeinflusst; wir sollten nicht nur danach fragen, was der Text bedeutete oder bedeutet, sondern auch danach, wer den Text
1
Mary Ann DOYLE, „The Annals of the Sisters of Mercy, St. Joseph’s, Tullamore“, in Mary C. SULLIVAN, Catherine McAuley and the Tradition of Mercy (Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 1995), 67. Doyle war ein Mitglied von McAuleys erster Kongregation. Alle Bibelzitate im vorliegenden Beitrag sind bis auf die von McAuley selbst vorgenommenen Änderungen der Douay-Rheims-Übersetzung (D-R) entnommen. Diese war eine approbierte englische Übersetzung der Vulgata aus dem 17. Jahrhundert, die Bischof Richard Challoner 1749 zwecks besserer Lesbarkeit überarbeitet hatte. Entsprechend der Anordnung der Vulgata werden z. B. die alttestamentlichen Samuel-Bücher als Bücher der Könige bezeichnet. Diese revidierte Version benutzte Catherine McAuley.
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liest und mit welchem Interesse.“2 Bezogen auf Catherine McAuley meint soziale Verortung vor allem drei Aspekte: den gesellschaftlichen, den kirchlich-biblischen und den persönlichen. McAuley lebte während der ereignisreichen Jahre des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Irland. Unter dem Einfluss der Aufklärung sowie der Industriellen, der Amerikanischen und der Französischen Revolution gärte es in der Gesellschaft. In dieser Epoche wurden im Vereinigten Königreich Gesetze erlassen, die die Emanzipation der KatholikInnen (1829), der protestantischen Dissenters sowie der Jüdinnen und Juden (1846, 1858) ermöglichten; außerdem wurden zunächst der Sklavenhandel (1807) und dann die Sklaverei insgesamt abgeschafft (1833). Irland war einer Strafgesetzgebung unterworfen gewesen, die die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rechte der römisch-katholischen Bevölkerungsteile einschränkte. Die dadurch bedingte Armut wurde durch Missernten in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren sowie durch die Entstehung von Armutsvierteln im Gefolge der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung verschärft. Als die Aufhebung dieser Strafgesetze unmittelbar bevorzustehen schien, hatte die kirchliche Hierarchie damit begonnen, den Glauben insbesondere durch ihr Engagement in der Armenfürsorge und Kindererziehung wiederzubeleben. In dieser Epoche verlor die Bibel ihre unangefochtene Autorität, in vielen Ländern Europas gewann die historisch-kritische Exegese an Bedeutung.3 Vorläufer dieser Methode – Friedrich D. E. Schleiermacher, Johann Gottfried Eichhorn, Johann Philipp Gabler und Wilhelm M. L. de Wette – waren McAuleys Zeitgenossen. Die Bibel bildete jedoch keinen zentralen Bestandteil im religiösen Leben der KatholikInnen. Dulles schlussfolgert: „Im Mittelalter und noch stärker seit der Reformation tendiert der Katholizismus dazu, eine Kirche des Gesetzes und der Sakramente zu werden, mehr denn eine Kirche des Evangeliums und des Wortes.“4 Nach landläufiger und irriger Auffassung war es den KatholikInnen verboten, die Bibel zu lesen, weil diese durch die weite Verbreitung bei den Protestanten als deren Buch galt.5 2 3
4 5
John BARTON, The Cambridge Companion to Biblical Interpretation (Cambridge: Cambridge University Press, 1998), 3. Vgl. die Einführungen bei Gerald BRAY, Biblical Interpretation: Past & Present (Downers Grove, IL: InterVarsity Press, 1996); John SANDYS-WUNSCH, What Have they Done to the Bible? A History of Modern Biblical Interpretation (Collegeville, MN: Liturgical Press, 2005); William YARCHIN, History of Biblical Interpretation: A Reader (Peabody, MA: Hendrickson Publishers, 2004). Avery Robert DULLES, The Reshaping of Catholicism: Current Challenges in the Theology of Church (San Francisco: Harper & Row, 1988), 23. Für die römischen KatholikInnen der damaligen Zeit galt die lateinische Bibelübersetzung der Vulgata gemäß der Erklärung der vierten Sitzung des Konzils von Trient als die authentische Version. Befürchtungen, dass andere volkssprachliche Übersetzungen protestantischer Bibelgesellschaften den Glauben und die Moral der KatholikInnen untergraben könnten, stammten aus der Zeit der Gegenreformation und Katholischen Reform. Im frühen 19. Jahrhundert wurden diese Gesellschaften und ihre Übersetzungen von zwei päpstlichen Enzykli-
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McAuley wurde 1778 in Dublin, Irland, in eine wohlhabende katholische Mittelstandsfamilie hineingeboren.6 Von ihrem Vater lernte sie, persönlich auf die Bedürfnisse ihrer Umgebung einzugehen, von ihrer Mutter ein anmutiges und gewandtes Auftreten in der Gesellschaft. Nach dem Tod ihres Vaters hatte die Familie kein Einkommen mehr, sodass Catherine einen Teil ihrer Jugend bei Verwandten verbrachte, die Mitglieder der Church of Ireland waren. Als junge Erwachsene wurde sie Gesellschafterin der Quäkerin Catherine Callaghan, bei der sie fast zwanzig Jahre lang lebte. Nachdem Catherine Callaghan und ihr Ehemann William gestorben waren, nutzte McAuley das beträchtliche Vermögen, das sie von den beiden geerbt hatte, um in einem eleganten Dubliner Viertel ein Haus für arme Dienstmädchen und heimatlose Frauen zu bauen. 1831 gründete sie mit der Unterstützung führender Kirchenmänner die Kongregation der Sisters of Mercy, deren Zweck folgendermaßen beschrieben wurde: The sisters admitted into this religious congregation besides the principal and general end of all religious orders [...] must also have in view what is peculiarly characteristic of this Institute of the Sisters of Mercy, that is, a most serious application to the Instruction of poor Girls, Visitation of the Sick and protection of distressed women of good character.7
Wie die überwiegende Mehrzahl der Frauen ihrer Zeit durfte McAuley weder studieren noch an einer Universität lehren und konnte auch keinen Platz in der kirchlichen Hierarchie einnehmen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie eine eigene Bibel besaß, obwohl sich im Besitz zweier Mitglieder ihrer ersten Frauengemeinschaft Bibeln befanden. Sie verwendete für ihre Auslegungen keine traditionellen literarischen Gattungen, etwa Predigten, Kommentare oder Abhandlungen, sondern kleidete sie in Briefe, Dichtungen, religiöse Traktate und Anweisungen für die geistliche Einkehr. Ihre Werke waren ihrer römisch-katholischen Glaubenstradition treu, wiesen aber auch Einflüsse auf, die aus ihren Kontakten mit Quäkern und Angehörigen der Church of Ireland stammen. Diese Werke wurden zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht, waren aber in den von ihr gegründeten Gemeinschaften der Sisters of Mercy in Irland und England weitverbreitet. Nach ihrem Tod erschienen mehrere kritische Ausgaben ihrer 270 erhaltenen Briefe, zwei Spruchsammlungen und der Traktat Cottage Controversy.
6
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ken scharf verurteilt: Ubi Primum von Papst Leo XII. (1824) und Inter Praecipuas von Papst Gregor XVI. (1844). Solche Aussagen führten zu den bereits genannten Irrtümern in Bezug auf die Bibel. Vgl. die Biografien über Catherine McAuley, darunter Mary Bertrand DEGNAN, Mercy unto Thousands: Life of Mother Mary Catherine McAuley, Foundress of the Sisters of Mercy (Westminster, MD: Newman Press, 1957) und Mary Austin CARROLL, Life of Catherine McAuley (New York: Sadlier, 1890). „Rule and Constitutions“, Kap. 1.1., in SULLIVAN, Tradition of Mercy, 295. Die Regel ist das Gründungsdokument einer Kongregation bzw. eines Ordens, dessen Mitglieder öffentliche Gelübde ablegen und ein Leben in brüderlicher oder schwesterlicher Gemeinschaft führen. In den Statuten sind das Charisma und die Theologie einer Gemeinschaft sowie die Normen niedergelegt, die ihr Leben und ihre Aktivitäten regeln.
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2. McAuleys Methodologie McAuleys autoritative und selbstbewusste Auslegung prägte ihre von biblischen Bezügen durchsetzten Anweisungen, mit denen sie die ersten Mitglieder ihrer Gemeinschaft leitete und motivierte. In Briefen an ihre Gemeinschaft verwendete sie direkte Zitate: „Oh, death, where is thy sting?“ [1 Cor 15:55].8 Gelegentlich veränderte sie die Zitate jedoch auch, um sie ihrer Aussageabsicht anzupassen, z. B.: „His ways are not like our ways, nor His thoughts like our thoughts“ [Isa 55:8].9 Sie spielte auch auf Bibelverse an: „Since to the obedient victory is given, may God continue his blessings to you“ [Prov 21:28]10, oder ließ biblische Themen anklingen: „May God bless and animate you with His own divine Spirit“ [Rom 8:14; Gal 4:6].11 Ferner ahmte sie die literarische Struktur der Bibel nach, indem sie in ihrer eigenen Korrespondenz Schlussformeln verwendete wie diese: „Gott behüte dich und segne dich“12 oder „Gott segne dich und sende dir allen Trost und gebe dir die Gesundheit wieder“13 [vgl. Num 6,24]. Der Bezug auf die Heilige Schrift diente als Legitimation für die Anweisungen, die McAuley ihren getreuen Gefährtinnen sandte. Nachdem sie vom frühen Tod der ersten Schwestern erfahren hatte, schrieb sie: „Without the Cross the real portion of the Crown cannot come“ [Rev 2:10].14 Trotz der Prüfungen betonte sie, dass es Freude bereite, an Gottes Werk mitzuwirken: „If He looks on us with approbation for one instant each day, it will be sufficient to bring us joyfully on to the end of our journey“ [Ps 94:1].15 Um die Schwestern zu ermutigen, zitierte sie die Worte Jesu direkt: „By practice it will not only become easy but delightful, for Jesus Christ has said, ‚My yoke is sweet and My burden light‘“ [Matt 11:30].16 Um ihre Schwestern zu trösten, verwendete sie ein mütterliches Bild von Gott: „God says He will comfort and console us as the loving mother cherishes her child, the greatest example of affection he could give“ [Isa 49:15].17 Beständig vertraute sie auf Gottes Vorsehung: „Put your whole confidence in God [1 John 3:21]. He will never let you want necessities for yourself or your children.“18 Sie nutzte die Schrift als Hilfe für die Schwestern, damit diese sich besser mit den ersten Jüngern Jesu identifizieren konnten: „With the Apostle a religious must 8 9 10
11 12 13 14 15 16 17 18
Letter to Mary Francis Ward, August 1837, in The Correspondence of Catherine McAuley: 1818–1841 (hg. von Mary C. Sullivan; Dublin: Four Courts Press, 2004), 91. Letter to Mary Catherine Leahy, 13.11.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 321. Letter to Mary Francis Ward, Frühjahr 1839, in The Correspondence of Catherine McAuley: 1827–1841 (hg. von Mary Angela Bolster; Cork: Congregation of the Sisters of Mercy, 1989), 79. Letter to Mary Francis Ward, 23.10.1837, in SULLIVAN, Correspondence, 101. Letter to Mary Francis Ward, 23.12.1837, in SULLIVAN, Correspondence, 116. Letter to Mary Francis Ward, vermutlich 25.04.1838, in SULLIVAN, Correspondence, 134. Letter to Mary Elizabeth Moore, 21.03.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 259. Letter to Mary de Sales White, 20.12.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 332. Letter to Mary de Sales White, 20.12.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 51.144. Letter to Mary de Sales White, 20.12.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 51. Letter to Mary Angela Dunne, 20.12.1837, in SULLIVAN, Correspondence, 115.
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consider herself a stranger and pilgrim on earth, having her conversation in heaven“ [Phil 3:20].19 An einer anderen Stelle schrieb sie: „Gott hat all seinen Segen nie nur einer Person verliehen. Das, was er dem hl. Paulus gab, gab er nicht dem hl. Petrus, noch versah er die beiden mit dem, was er dem hl. Johannes verlieh.“20 McAuley zitierte biblische Passagen häufig so, dass die Auslegung von vornherein feststand. So wandelte sie die Aussage Abschaloms „ich befehle euch“ an die um ihn gescharte Gruppe von jungen Männern zu einer Aussage Gottes an ihre Schwesterngemeinschaft um: „Ich, der euch berufen hat“. Ihre Fassung liest sich wie folgt: „Let us imagine that God says to us, as we read in Holy Scripture ‚Fear nothing, it is I who have called you, take courage, and be of resolution‘“ [2 Kgs 13:28]. Damit verschiebt sich der Akzent zugunsten von Wahlfreiheit und Inklusivität. Ein andermal gab sie zunächst einen Bibelvers direkt wieder und wandte diesen dann auf die Schwestern an: „If I wash thee not“, He said, „you shall have no part with Me“ [John 13:8], as if He would say: „If the instructions I have given you do not correct your erroneous worldly notions and ideas, do not change your proud spirit and root up and destroy whatever in manner or otherwise is unbecoming the dignity you aspire to, you shall not be My Spouse.“21
Die Geschichte von Marta und Maria aus dem Lukas-Evangelium interpretierte sie bewusst neu und nahm hierbei ein Bild aus der Bergpredigt zu Hilfe: The functions of Martha should be done for Him as well as the choir duties of Mary [...]. He requires that we should be shining lamps giving light to all around us. How are we to do this if not by the manner we discharge the duties of Martha? [Luke 10:38–42; Matt 5:16].22
Rhetorisch stellte sie das, was Jesus nicht gesagt hat, dem gegenüber, was er gesagt hat: „Jesus Christ did not say, ‚Come to me, you that are free from faults‘ but ‚Come to Me, all you that labor and are burdened and I will refresh you‘“ [Matt 11:28].23 McAuley wurde außerdem ein Traktat zugeschrieben, der sowohl die gesellschaftliche und religiöse Wirklichkeit im Irland des 19. Jahrhunderts als auch die falschen Vorstellungen, die damals über die KatholikInnen und die Bibel im Umlauf waren, widerspiegelt.24 Cottage Controversy schildert – und zwar überraschenderweise ohne 19 20 21 22 23 24
Mary Teresa PURCELL, Retreat Instructions of Mother Mary Catherine McAuley (hg. v. Mary Bertrand Degnan; Westminster, MD: The Newman Press, 1952), 32. Mary Clare MOORE, A Little Book of Practical Sayings, Advices and Prayers of Our Revered Foundress, Mother Catherine McAuley (London: Burns, Oates & Co., 1868), 3. PURCELL, Retreat Instructions, 116f. PURCELL, Retreat Instructions, 155. PURCELL, Retreat Instructions, 91. Zwar hat der Begriff „Traktat“ mehrere Bedeutungen, die von einer ausführlichen theologischen Abhandlung bis hin zu einer kurzen politischen oder religiösen Schrift reichen. Im 19. Jahrhundert waren Traktate jedoch im Allgemeinen kleine, lose geheftete religiöse Werke, die von KatholikInnen wie ProtestantInnen zur Verteidigung ihrer religiösen Standpunkte benutzt wurden.
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Vorurteile und Selbstgerechtigkeit – eine Reihe von Gesprächen zwischen Margaret Lewis, einer einfachen katholischen Häuslerin, und Lady P., der protestantischen Gutsherrin.25 Während einer Diskussion über die katholische Beichtpraxis entspinnt sich folgendes Gespräch: Lady P.: We should depend on the holy Bible, and not on the voice of men or tradition, as you Roman Catholics term it. Margaret: Sure it is in the Protestant Bible that Thomas26 has – nothing can be plainer – how, when our blessed Saviour rose from the dead and came into the room where the disciples were, though the doors and the windows were shut, standing in the midst of them; that when he had saluted them and said, „My peace be with you“, he breathed on them, saying „Receive ye the Holy Ghost; whose sins ye forgive, they are forgiven“ [John 20:22].27
In einer anderen Unterredung in demselben Traktat findet sich folgende Überlegung zu Marias Rolle (vgl. Lk 1,48f.): Lady P.: Speak truly, are you not taught to believe that she [Mary] has the same power as Christ himself? Margaret: Sure, the Blessed Virgin never thought it, for when she said, „All generations shall call me blessed“, she added: „Because he that is mighty has done great things for me.“ She did not say she was to be called „blessed“ on her own account.28
Der Traktat zeigt die Tiefe des theologischen Verständnisses dieser beiden Frauen, den Respekt, den sie einander erweisen, sowie ihre Kenntnis der biblischen Texte und der Lehren in Bezug auf deren Autorität. Auf subtile Weise wird die Bibelauslegung hier als eine Tätigkeit vorgestellt, die mit Recht auch von Frauen ausgeübt werden kann.
3. Mit Worten beistehen McAuley verfolgte bei ihrer Schriftauslegung ein bestimmtes Ziel, doch ging es ihr dabei weder um historische Kritik noch darum, die katholische Lehre zu verteidigen. Auch wenn sie selbst diese Begriffe nicht verwendete und vermutlich nicht einmal 25
26 27 28
Catherine MCAULEY, Cottage Controversy (New York: P. O’Shea, 1883; Nachdruck, Baltimore: Lowry & Lubman Printers, 1964). In einem Brief an Mary Josephine Ward vom 18. Oktober 1839 schrieb McAuley: „Tell dear Sr. M. Vincent that I am quite disappointed that she never writes me one little note. I fear she will not patronize my next work, I dare not venture to dedicate it to her, if she does not give me more encouragement.“ Hinsichtlich der Datierung gehen die meisten Ausgaben von McAuleys Lebensbeschreibungen oder Schriften davon aus, dass hier von Cottage Controversy die Rede ist. Das Original des Traktats bleibt jedoch verschollen. SULLIVAN, Correspondence, 123, vermutet, dass das Werk die Umschrift eines früheren, nicht von McAuley verfassten Dokuments gewesen sei, obwohl dieses nicht gefunden wurde. Thomas, Margarets Ehemann, war bei der Hochzeit zur katholischen Kirche konvertiert. MCAULEY, Cottage Controversy, 33. MCAULEY, Cottage Controversy, 43f.
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kannte, war ihre Schriftauslegung in erster Linie der praktischen und gelebten Theologie verpflichtet. Der moderne theologische Begriff der „Praxis“ bezieht sich auf „das kritische Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, die einander dialektisch beeinflussen und verwandeln“.29 McAuley verfolgte mit ihren biblischen Zitaten und Anspielungen einen klar erkennbaren Zweck: Sie wollte, dass die Mitglieder ihrer Gemeinschaft „sich selbst um Christi willen dem Dienst an den Armen weihen“.30 Diese Schwerpunktsetzung wird an einem Bibelvers deutlich, den sie in ihrer Adaption der Regel der Presentation Sisters31 für ihre eigene, neu gegründete Gemeinschaft wie folgt paraphrasiert: In undertaking the arduous, but very meritorious duty of instructing the poor, the Sisters whom God has graciously pleased to call to this state of perfection, shall animate their zeal and fervor by the example of their Divine Master Jesus Christ, who testified on all occasions a tender love for the poor and declared that He would consider as done to Himself whatever should be done unto them [Matt 25:40].32
Die ursprüngliche Regel der Kongregation der Sisters of Mercy hatte von Jesu „zärtlicher Liebe für kleine Kinder“ gesprochen, denn, so der biblische Beleg, „whosoever receiveth these little ones in his name, receiveth himself“ [Matt 18:5].33 Diesen engeren Horizont der Kindererziehung weitete McAuley auf den Dienst an den Armen aus und ersetzte dementsprechend die Bibelstelle durch Mt 25,40. Dieses Thema setzt sich sowohl in ihren Sayings als auch in ihren Retreat Instructions fort: We find those who can enumerate very particularly all that Jesus Christ said and did, but what does He care for that? He said and did so, not that we should recount it in words, but shew Him in our lives, in our daily practice [Matt 23:1–12].34 It is not sufficient that Jesus Christ be formed in us; he must be recognized in our conduct [...] „let us love not in word nor in tongue but in deed and in truth“ [1 John 3:18].35
Ein drastisches Bild McAuleys findet seinen Ausdruck in der Beschreibung fünf junger englischer Frauen, die im Begriff waren, in ihre Gemeinschaft einzutreten. Darin wandelt sie das Bild von Lk 12,49 ab: „Sich selbst um Christi willen dem Dienst an den Armen weihen [...], das ist etwas von dem Feuer, das Er auf die Erde gebracht hat – auf
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32 33 34 35
David TRACY, Blessed Rage for Order: The New Pluralism in Theology (New York: Seabury, 1975), 243. Letter to Mary Elizabeth Moore, 28.07.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 282. Das Gründungsdokument jedes Ordens bzw. jeder Kongregation ist die Regel, die von Rom approbiert werden muss und auf der Grundlage der Regel einer bereits bestehenden, im Hinblick auf den Dienst oder die Lebensweise ähnlich ausgerichteten Gemeinschaft entwickelt wird. McAuley hatte ihre Ausbildung bei den Presentation Sisters erhalten, deren Regel sie für ihre Gemeinschaft übernahm. „Rule and Constitutions“, 1:1, in SULLIVAN, Tradition of Mercy, 295. SULLIVAN, Tradition of Mercy, 262. MOORE, Sayings, 25. PURCELL, Retreat Instructions, 71.
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gütige Weise.“36 Nach McAuleys Auffassung zielen das Gebet und die Beschäftigung mit der Schrift auf den Dienst an den Armen hin. Eine zweite Dimension ihrer Auslegungsintention betraf ihre Überzeugung, dass ihre Schwestern, wenn sie in der Praxis effektiv sein wollten, daran arbeiten sollten, „Demut und Sanftmut mehr durch eigenes Vorbild als durch Vorschriften einzuprägen“.37 Intuitiv bewegte sie sich in Richtung einer Theologie, die man heute den Ansätzen zuordnen kann, die auf eine Umsetzung ins praktische Leben dringen. Sie versuchte eine Gemeinschaft zu formen, die mit einer Gesinnung ausgestattet war, welche sie folgendermaßen charakterisierte: „the same mind that was in Christ Jesus“ [Phil 2:5]. Sie zitiert Ex 25,40, um zu unterstreichen, dass die Worte der Heiligen Schrift klar sind: „Look, and make it according to the pattern that was shown thee in the mount.“ In den Retreat Instructions wählte sie die folgenden Worte: „Ihr müsst, wie kleine Kinder, von neuem geboren werden [Joh 3,5], bis dass Christus in euch Gestalt gewinnt. Jesus Christus als Gestalt in uns zu tragen bedeutet zu denken, wie Er dachte, zu sprechen, wie Er sprach und das zu wollen, was Er will.“38 In den Sayings lesen wir: Be always striving to make yourselves like our Blessed Lord; endeavour to resemble Him in some one thing at least, so that any person who sees you or speaks with you may be reminded of His sacred life on earth.39
Mary Clare Moore schreibt in ihren Erinnerungen über McAuley: „Wenn Catherine die Schwestern unterrichtete, verweilte sie besonders gern bei den Worten unseres Göttlichen Herrn: ‚Learn of me because I am meek and humble of heart‘ [Matt 11:29].“40
4. Quellen der Schriftauslegung McAuleys Obwohl McAuleys eigene Bibel nicht gefunden wurde, gibt es aussagekräftige Hinweise darauf, dass sie Zugang zu Texten hatte, die auf der Bibel basierten, und dass sie diese regelmäßig benutzte. Ihre Schwestern waren verpflichtet, dreimal täglich das kurze Marienoffizium oder Office of our Blessed Lady zu lesen, das eine kürzere Fassung des Stundengebets, Psalmen, Hymnen und neutestamentliche Cantica (Benedictus [Lk 1,68–79], Magnificat [Lk 1,46–55] und Nunc Dimittis [Lk 2,29–32]) sowie andere Lesungen und Texte aus der Bibel enthielt.41 Sie beteten dieses Offizium nicht auf Latein, sondern auf Englisch.42 In Cottage Controversy unterhalten sich Margaret und Lady P. über das Marienoffizium: 36 37 38 39 40 41 42
Letter to Mary Elizabeth Moore 30.07.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 226. Mary Elizabeth Moore 28.07.1840, in SULLIVAN, Correspondence, 283. PURCELL, Retreat Instructions, 71. MOORE, Sayings, 16. SULLIVAN, Tradition of Mercy, 111. „Rule and Constitutions“, 11:1, in SULLIVAN, Tradition of Mercy, 306. SULLIVAN, Tradition of Mercy, 60.
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Lady P.: Is this a prayer book? Margaret: Yes, my lady, the Primer with the office of our blessed lady. Lady P.: Oh, Margaret, all the prayers in this great book to the Virgin! You cannot but offend her Creator. Margaret: It is odd that you should say that, my lady, for almost the whole office is taken from the Bible.43
Die täglichen Meditationen der Schwestern beinhalteten meist Lesungen aus A Journal of Meditations for Every Day in the Year44, einer Sammlung betrachtender Texte, die sich auf Bibelstellen bezogen und die aus den Werken asketischer Schriftsteller stammten. Am vierten Adventssonntag beispielsweise steht das Thema Gastfreundschaft im Fokus: Jesus lädt Zachäus ein, vom Baum herabzukommen (Lk 19,5), Christus wünscht, ein Gast unserer Seelen zu werden (Offb 3,20), Abraham bewirtet die drei Engel (Gen 18), die Frau aus Schunem gewährt Elischa ihre Gastfreundschaft (2 Kön 4,8), Marta heißt Jesus willkommen (Lk 10,38), und in Spr 23,26 heißt es: „My son, give me your heart.“45 Hier lässt sich eine interessante intertextuelle Interpretation beobachten: Die Worte Jesu aus den neutestamentlichen Textstellen werden als Aussagen über seine Gegenwart im Leben des Menschen aufgefasst, die Verse des Alten Testaments hingegen werden weder typologisch noch allegorisch verstanden, sondern sie dienen als Beispiele dafür, wie Männer und Frauen ihre Gäste freundlich empfingen. Ein weiterer von McAuley bevorzugter Andachtstext, der sich ebenso eng auf biblische Texte bezog, war die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts von Thomas von Kempen verfasste Nachfolge Christi.46 Darin schreibt Thomas über die Bibel: Charity and not eloquence is to be sought in Holy Scripture, and it should be read in the same spirit with which it was first made [...] if you will profit by reading Scripture, read humbly, simply and faithfully.47
Dieser Zugang zur Schrift war in McAuleys Augen beispielhaft. Mary Clare Moore berichtet: She did not like the Sisters to use long words in speaking or writing, remarking that in the Psalms and other parts of Holy Scripture inspired by divine wisdom, there was scarcely a word more than three syllables.48
43 44
45 46 47 48
MCAULEY, Cottage Controversy, 96. Nathaniel BACON, A Journal of Meditations for Every Day in the Year Gathered out of Divers Authors (übers. von Edward Mico; 1669; Nachdruck, Ann Arbor: University Microfilms International, 1984), A3. BACON, Journal of Meditations, 66f. SULLIVAN, Tradition of Mercy, 116; vgl. auch MOORE, Sayings, 34. THOMAS VON KEMPEN, The Imitation of Christ (hg. v. Harold C. Gardiner; 1530; Nachdruck, New York: Hanover House, 1955), 37. MOORE, Sayings, 28.
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5. McAuleys Erbe Die zentrale Stellung der Heiligen Schrift in Catherine McAuleys Lehre spiegelt sich in den schriftstellerischen und künstlerischen Werken der ersten Mitglieder ihrer Gemeinschaft wider. Nach McAuleys Tod schrieben Moore und Mary Vincent Harnett ihre Erinnerungen an sie nieder, wobei sie nicht selten Momente in ihrem Leben zur Bibel in Beziehung setzten. Moore berichtet von einem Vorfall, als Krankheiten die Schwestern zutiefst betrübten. Mc Auley reagierte folgendermaßen: [She] repeated aloud the verse of the Benedicite said in the Refectory at Easter: „This is the day the Lord hath made; let us rejoice and be glad therein“ [Ps 117:24], reminding them that the trial came from Him Whose will we ought not only to obey but love with our whole hearts.49
Moore zufolge starb McAuley mit diesen Worten auf den Lippen: „Now Thou dost dismiss Thy servant, O Lord, according to Thy word in peace. Because mine eyes have seen Thy salvation“ [Lk 2:29].50 Harnett beschreibt, wie sehr McAuley im Hinblick auf die Gründung einer neuen Frauengemeinschaft unter Druck gesetzt wurde, und erinnert an ihre Worte: Blessed are ye when they shall revile you, and persecute you, and speak all that is evil against you untruly for my sake, be glad and rejoice for your reward is very great in heaven [Mt 5:11].51
Harnett ist außerdem die Verfasserin des Catechism of Scripture History52, eines „Penny-Katechismus“, der für den Gebrauch in den Schulen der Sisters of Mercy bestimmt war.53 In Anbetracht der angeblichen Einstellung der damaligen KatholikInnen zur Bibel ist es bemerkenswert, dass dieser Katechismus überhaupt geschrieben wurde, und noch viel bemerkenswerter ist es, dass er viel benutzt und in Dublin (1852) und den Vereinigten Staaten (1854) publiziert wurde.54 McAuleys Schriftauslegung spiegelt sich auch in den visuellen Kunstwerken der frühen Schwestern. Mary Clare Augustine Moore verwendete biblische Szenen und Anspielungen in ihren Illustrationen, die zu den herausragenden Kunstwerken des 19. Jahrhunderts gehören. Mary Clare Agnew wurde durch die Arbeit der Sisters of Mercy in den ärmsten Vierteln von Dublin zu einem Buch inspiriert, das Illustrationen
49 50 51 52
53 54
SULLIVAN, Tradition of Mercy, 110. SULLIVAN, Tradition of Mercy, 124. SULLIVAN, Tradition of Mercy, 166. Mary Vincent HARNETT, A Catechism of Scripture History Compiled by the Sisters of Mercy for the Use of Children Attending Their Schools (bearb. von Edmund O’Reilly; London: Charles Dolman, 1852). John P. MARMION, „The Penny Catechism: A Long Lasting Text“, Paradigm 26 (1998): 19– 24; http://w4.ed.uiuc.edu/faculty/westbury/Paradigm/Marmion3.html (12.05.2004). Der Catechism of Scripture History wurde von M. J. Kerney überarbeitet und 1854 von J. Murphy & Co. in Baltimore veröffentlicht.
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der leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit enthält und das samt Kommentar in vier Sprachen veröffentlicht wurde.55 Catherine McAuley verwendete zur geistlichen Leitung der Mitglieder ihrer Gemeinschaft in Briefen und Werken biblische Zitate und Anspielungen, die sie ihren Absichten gemäß interpretierte. Auch nach ihrem Tod ließen sich die Schwestern weiterhin von ihren Briefen und anderen Schriften leiten und motivieren, gründeten Missionen und sorgten dafür, dass die Gemeinschaft heute in 45 Ländern vertreten ist. Ihr Einfluss hat sich im Lauf von beinahe 200 Jahren auf das Leben von annähernd 30.000 Frauen erstreckt, die in dieser Zeit Mitglieder der Sisters of Mercy gewesen waren, und außerdem auf die Millionen von Menschen, deren Leben die Schwestern durch ihren karitativen Dienst im Gesundheits- und Bildungswesen, in der Gemeindearbeit, im sozialen Bereich sowie in ihrem Einsatz für Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, bei der Wohnungsbeschaffung, in der Verwaltung, bei Katechese und Kommunikation berührt haben. Zu den Sisters of Mercy zählen heute eine Reihe bekannter Bibelwissenschaftlerinnen wie die irische Alttestamentlerin Carmel McCarthy und die australische Neutestamentlerin Elaine Wainwright. Mit den biblischen Bezügen, die in ihre Korrespondenz mit ihren Schwestern in ganz Irland und auf den britischen Inseln hineingewoben sind, mit ihren auf die Bibel bezogenen Beschreibungen der Ziele und Charakteristika der Sisters of Mercy und mit der Autorität, die sie beanspruchte, wenn sie die Bibel für ihre Gemeinschaft auslegte, setzte diese irische Frau des 19. Jahrhunderts die Bibel gezielt ein, um eine Gemeinschaft von Frauen zu formen, die sich, durch das Leben und die Lehren Jesu motiviert, dem Dienst an „den Armen, den Kranken und den Unwissenden“56 weiht. Damit nahm sie eine Reihe von Strömungen in der heutigen Bibelhermeneutik vorweg: die Aufmerksamkeit für die soziale Verortung in ihren vielfältigen Dimensionen und ihren Einfluss auf die Interpretation der Bibel; die Miteinbeziehung weiblicher Erfahrungen und Stimmen der Vergangenheit und der Gegenwart in die Bibelauslegung; die Deutungspluralität als Norm; die Ausdehnung der Hermeneutik auf die Praxis; die Berücksichtigung der Quelle der Autorität derjenigen, die auslegen, damit diese die Texte glaubwürdig und berechtigterweise interpretieren, sowie die Legitimität nicht traditioneller Bibelauslegung außerhalb der Universitäten und der religiösen Führungskreise als einer positiven und verwandelnden Kraft in der Gesellschaft. Es kann nicht verwundern, wenn die Mitglieder von Catherine McAuleys erster Gemeinschaft sie als Prophetin und Lehrerin mit großer Autorität und Ausstrahlung betrachteten. 55
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Die leiblichen und die geistigen Werke der Barmherzigkeit stellen eine Tradition dar, die auf der Heiligen Schrift basiert und bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Zu den geistigen Werken zählen: Sünder zurechtweisen (Lk 15,7), Unwissende lehren (Mk 16,15), Zweifelnden recht raten (Joh 14,27), Betrübte trösten (Mt 11,28), Lästige geduldig ertragen (Lk 6,27f.), denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen (Mt 6,12), und für die Lebenden und für die Toten beten (Joh 17,24). Als leibliche Werke (Mt 25,31–46) gelten: Hungrige speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke und Gefangene besuchen und Tote begraben. Mit dieser Formulierung beschreiben die Schwestern ihre karitative Schwerpunktsetzung.
Bibelauslegungen auf dem Congress of Jewish Women in Chicago im Jahr 1893 Pamela S. Nadell American University, Washington D. C. Die letzten Jahrzehnte des 20. und der Beginn des 21. Jahrhunderts haben eine wahre Flut an Bibelinterpretationen jüdischer Frauen beschert:1 Predigten der ersten jemals ordinierten Rabbinerinnen, feministische Midraschim, Geschichten, die die Tora aus weiblichen Blickwinkeln neu erzählen, und sogar Romane wie Anita Diamants unglaublich erfolgreiches Buch The Red Tent, ein moderner Midrasch, in dem Jakobs einzige überlebende Tochter Dina flüsternd Geschichten aus dem Leben ihrer vier Mütter Rahel, Lea, Silpa und Bilha sowie von ihrer eigenen Verführung und Täuschung erzählt.2 Unsere Gegenwartsfokussierung macht uns glauben, die Bibelauslegung amerikanischer Jüdinnen sei etwas Neues: ein erfreuliches Nebenprodukt der modernen Feminismusbewegung. Doch das verstellt den Blick auf die Vorgeschichte – nämlich die Tatsache, dass diese modernen Jüdinnen mit ihrer frauenzentrierten Lesart der Bibel auf den Schultern anderer amerikanischer Jüdinnen stehen, die vor ihnen da waren. 1893 nahm bei der World’s Columbian Exposition in Chicago eine Gruppe amerikanischer Jüdinnen öffentlich das Recht für sich in Anspruch, die Bibel und die nachbiblischen jüdischen Texte auszulegen. Indem sie diese Quellen durch das Prisma ihrer Biografien und ihrer Epoche lasen, hörbar für andere ihre Stimme erhoben und ihre Anmerkungen später sogar veröffentlichten, steckten sie kühn ein neues Betätigungsfeld für amerikanische Jüdinnen ab, nämlich das als Expertinnen für das Judentum. Zum damaligen Zeitpunkt war dies eine revolutionäre Abkehr von der historischen jüdischen Erfahrung. In dem gewaltigen Literaturcorpus, das das jüdische Volk in den über 2000 Jahren seit der endgültigen Festlegung des Kanons der hebräischen Bibel hervorgebracht hat, hört man nur selten die Stimme einer Frau. Die wichtigsten nachbiblischen jüdischen Texte, die Mischna – eine um 200 n. Chr. erstellte jüdische Gesetzessammlung – und der Talmud3 – eine breitgefächerte Diskussion der Mischna –, haben zwar viel über das Leben der Frauen zu sagen, enthalten jedoch verhältnismäßig wenige Äußerungen von Frauen. So interessiert sich die Mischna beispielsweise eingehend für den Status der Frauen als Töchter, Gattinnen, Geschiedene oder Witwen. Eine andere Gattung der nachbiblischen rabbinischen Literatur, der aggadische Midrasch, also nichtgesetzliche Texte, die Kommentare zur hebräischen Bibel enthalten, würdigten Frauen als Nährmütter und pflichtbewusste Ehegattinnen. Die Wissenschaftlerin 1
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Ich danke Rebecca de Wolf, Doktorandin an der American University, für ihre Unterstützung. Anita DIAMANT, The Red Tent (New York: St. Martin’s Press, 1997). Der Jerusalemer Talmud wurde Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. in Palästina fertiggestellt; der Babylonische Talmud wurde Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr. in Sura abgefasst, das damals zum Sassanidenreich gehörte.
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Judith Baskin vertritt die Auffassung, dass auch dort, wo in diesen Texten Frauen zu Wort kommen, das, was sie sagen, die Art, wie sie es sagen, und die Verhaltensweisen, die sie beschreiben, durch die Männer vermittelt wurde, die diese Texte konstruierten.4 In Anbetracht der Tatsache, dass das gesamte Corpus der rabbinischen Literatur von Männern für Männer geschrieben worden sei, ließen dessen literarische Konventionen, die von der Wissenschaftlerin Tal Ilan decodiert worden sind, ihre historischen Erzählungen über die Verhaltensweisen und Aussagen von Frauen in höchstem Maße suspekt erscheinen.5 Mittelalterliche jüdische Gelehrte setzten die jüdische Tradition der Exegese der hebräischen Bibel fort. Bis auf den heutigen Tag beginnen Jüdinnen und Juden, die die hebräische Bibel studieren, mit den großen Kommentaren des mittelalterlichen französischen Gelehrten Raschi (1040–1105). Allerdings hatten im Mittelalter, der Frühen Neuzeit und der Neuzeit nur wenige jüdische Frauen Zugang zu der erforderlichen Bildung, denn um Bibelkommentare nach traditionellem Muster zu verfassen, musste man fließend Hebräisch und Aramäisch lesen können und außerdem über eine genaue Kenntnis des großen Corpus der rabbinischen Literatur verfügen. Gelegentlich treten im 17. und 18. Jahrhundert Frauen als Verfasserinnen von Andachtsliteratur – den sogenannten Tkhines – in Erscheinung. Hierbei handelt es sich um Gebete für Frauen auf Jiddisch, das damals für viele europäische Juden die Volkssprache war. Doch, so die Wissenschaftlerin Chava Weissler, auch wenn diese Gebete, die häufig aus biblischen Traditionen schöpften, Frauen zugeschrieben wurden, war zwar nicht alles, aber doch der Großteil dieser Literatur von Männern für Frauen verfasst worden.6 Daher stellt das Auftreten einer Anzahl jüdischer Frauen im späten 19. Jahrhundert, die öffentlich jüdische Texte und Traditionen kommentierten, einen historischen Bruch mit den jüdischen Sitten dar. Indem sie ihre Fähigkeit bewiesen, die Bibel zu erklären und die Texte der jüdischen Tradition zu lesen, und indem sie ihre Interpretationen vor einem großen Publikum darlegten, beanspruchten diese jüdischen Frauen Autorität in religiösen Fragen. Zu diesem Anspruch kamen weitere, noch nie da gewesene, sozusagen zufällig entstehende und revolutionäre Ereignisse, die sich aus der Begegnung zwischen Judentum und Moderne ergaben. Dadurch, dass sie sich als amerikanische Jüdinnen das Recht herausnahmen, jüdische Texte auszulegen, setzten diese Frauen des späten 19. Jahrhunderts einen Prozess in Gang, der letztlich dazu führte, dass jüdische Frauen meisterlich mit den Texten der jüdischen Tradition umzugehen lernten. Einige von ihnen sollten sich später als Studentinnen, Wissenschaftlerinnen oder Lehrerinnen mit den Heiligen Schriften des Judentums befassen. Anderen war es bestimmt, mit ihrer Forderung, dass jüdische Frauen ebenso wie jüdische Männer das Recht haben
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Judith R. BASKIN, Midrashic Women: Formations of the Feminine in Rabbinic Literature (Hanover, NH: Brandeis University Press/University Press of New England, 2002), 3. Tal ILAN, Mine and Yours Are Hers: Retrieving Women’s History from Rabbinic Literature (Leiden: Brill, 1997). Chava WEISSLER, Voices of the Matriarchs: Listening to the Prayers of Early Modern Jewish Women (Boston: Beacon Press, 1998), 9f.
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sollten, religiöse FührerInnen ihres Volkes zu sein, in die Männerbastion des Rabbinats einzudringen.
1. Amerikas Jüdinnen auf der World’s Columbian Exposition von 1893 Die große Bühne, auf der amerikanische Jüdinnen zum ersten Mal ihre Ansprüche öffentlich anmeldeten, jüdische Texte und Traditionen auszulegen, war die World’s Columbian Exposition des Jahres 1893. Diese große Weltausstellung, die in Chicago stattfand, um an den 400. Jahrestag von Christoph Kolumbus’ Amerikareise zu erinnern, lockte in den sechs Monaten, in denen sie für die Öffentlichkeit zugänglich war, mehr als 25 Millionen BesucherInnen an und wurde durch über 200 begleitende Tagungen, sogenannte Kongresse, und Parlamente ergänzt. Das größte der Letztgenannten war das vom 11. bis zum 27. September 1893 abgehaltene Weltparlament der Religionen, ein außerordentliches Treffen von RepräsentantInnen der verschiedenen westlichen und östlichen Religionen. Aus diesem Anlass wurde Ellen Henrotin, ein Mitglied des Chicagoer Frauenclubs, damit beauftragt, weibliche Angehörige der wichtigsten religiösen Konfessionen ausfindig zu machen, um für das Parlament der Religionen und die begleitenden Sitzungen Frauenkomitees zu bilden. Doch als es um den Vorsitz des jüdischen Komitees ging, konnte Henrotin keine landesweit bekannte jüdische Würdenträgerin und überhaupt keine Rabbinerinnen finden, weil das Judentum damals keine Frauen ordinierte. Also wandte sie sich an ihre Freundin Hannah Solomon (1858–1942), ebenfalls Mitglied im Chicagoer Frauenclub, damit diese die Beteiligung der jüdischen Frauen organisierte. Solomon erklärte, es sei „etwas ganz Neues für die jüdischen Frauen, sich mit religiösen Themen zu befassen“.7 Dennoch fand sie nach langem Suchen im gesamten Gebiet der Vereinigten Staaten 28 Frauen, die sie als Vortragende zum Kongress einlud. Nachdem sie alles auf den Weg gebracht hatte, stieß Solomon allerdings auf ein unerwartetes Hindernis. Sie hatte damit gerechnet, dass die Referentinnen Teil des dem Weltparlament der Religionen eingegliederten jüdischen Kongresses sein würden. Als sie jedoch mit den Rabbinern zusammentraf, die das Programm zusammenstellten, musste sie zu ihrem Erstaunen feststellen, dass auf der Liste der eingeladenen Redner kein einziger Frauenname aufgeführt war. Daraufhin hielten die jüdischen Frauen dank Solomons Bemühungen ihre eigene, unabhängige Versammlung ab: den Congress of Jewish Women. Das Weltparlament hatte sich Großes vorgenommen: Man wollte die Probleme der Zeit lösen und die Spaltung unter den Menschen überwinden. Solomon wollte auch den jüdischen Frauen Gelegenheit geben, ihre Gedanken einzubringen, und sie war entschlossen, sich nicht von den Rabbinern in ihre Pläne hineinreden zu lassen. Diese Entschlossenheit führte letztlich zu einer noch nie dagewesenen Versammlung von Frauen, die ihre Kenntnis des Judentums, ihre Gelehrsamkeit und Bildung und ihre Fröm7
Hannah G. SOLOMON, „Address“, in Papers of the Jewish Women’s Congress (Philadelphia: Jewish Publication Society of America, 1894), 10–12; 10.
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migkeit unter Beweis stellten. Treffend bemerkte Sadie American (1862–1944), ein Mitglied des Organisationskomitees des jüdischen Frauenkongresses, in ihrer Ansprache bei diesem Kongress: Never before in the history of Judaism has a body of Jewish women come together for the purpose of presenting their views, nor for any purpose but that of charity and mutual aid; never before have Jewish women been called upon to take any place in the representation of Judaism.8
Überdies hatte der Kongress auch ein bedeutendes bleibendes Resultat: die Gründung der ersten landesweiten jüdischen Frauenorganisation der Vereinigten Staaten, des Council of Jewish Women, das später in National Council of Jewish Women umbenannt wurde.
2. Der Congress of Jewish Women Die Teilnahme jüdischer Frauen am Weltparlament der Religionen stellt einen historischen Bruch mit der jüdischen Tradition dar. Zum ersten Mal in der Geschichte nahmen 1893 in Chicago jüdische Frauen kollektiv für sich die Autorität in Anspruch, die heiligen Texte des Judentums zu interpretieren. In den Veröffentlichungen des jüdischen Frauenkongresses begegnet uns eine Gruppe amerikanischer Jüdinnen des späten 19. Jahrhunderts, die jüdische Texte auslegen. Diese öffentliche Demonstration jüdischer Gelehrsamkeit bei Frauen muss vor dem Hintergrund der Maßnahmen gesehen werden, mit denen die Jüdinnen und Juden des 19. Jahrhunderts das Judentum an die moderne Welt anpassten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts hatten die Revolutionen, die in Europa in eine Trennung von Kirche und Staat mündeten, diese aus den Ghettos hinaus und hinein in den Mainstream der westlichen Zivilisation geschwemmt. Die Jüdinnen und Juden reagierten sehr unterschiedlich auf diese radikale Veränderung ihrer Situation, manche konvertierten sogar zum Christentum. Andere zerlegten die jüdische Identität in ihre Bestandteile, wodurch sich der Begriff des Judentums von Grund auf wandelte. Für viele blieb die Religion ausschlaggebend für die jüdische Identität. Das jeweilige Ausmaß der religiösen Zugeständnisse, zu denen die Jüdinnen und Juden im Zuge der Modernisierung bereit waren – eine volkssprachliche Predigt anzuhören, auf die religiöse Kleidung zu verzichten, spezifische Ernährungsvorschriften aufzugeben –, führte zur Herausbildung der verschiedenen Strömungen des modernen Judentums. In den Vereinigten Staaten hatten sich jüdische ImmigrantInnen und ihre Rabbiner gleichermaßen an diesem Prozess der religiösen Modernisierung beteiligt. Diese Anpassung des Judentums an die moderne Welt brachte auch neue Chancen für die jüdischen Frauen mit sich. Jüdische Mädchen und Frauen begannen sehr viel zahlreicher als zuvor, öffentliche Gottesdienste zu besuchen. Auch religiöse Zeremonien wie die Konfirmation fanden nun mit ihnen statt. 1838 gründete Rebecca Gratz in 8
Sadie AMERICAN, „Organization“, in Papers, 218–262; 245.
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Philadelphia die Jüdische Sonntagsschule, wo Frauen Religionslehrerinnen werden und Kinder unterrichten konnten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts hatten Jüdinnen in jeder Gemeinde in den Vereinigten Staaten wohltätige Vereinigungen für die Armen, Frauenhilfsvereine für den Erhalt der Synagogen und andere Initiativen gegründet, um Heime und Waisenhäuser für verlassene jüdische Kinder zu unterstützen. Jetzt aber weiteten sich ihre öffentlichen Aktivitäten aus und entwickelten sich in eine neue Richtung: Frauen traten öffentlich als Expertinnen in Fragen des Judentums auf. Diese nie dagewesene öffentliche Demonstration hatte ihre Impulse nicht nur von der Modernisierung des Judentums, sondern auch von der Frauenbewegung im Amerika des 19. Jahrhunderts empfangen, die mit zunehmender Schärfe und Dringlichkeit eine größere Beteiligung der Frauen am amerikanischen Leben forderte. Vier Tage lang – vom 4. bis zum 7. September 1893 – stellten die Teilnehmerinnen des jüdischen Frauenkongresses vor einem dicht gedrängten Publikum ihr Verständnis der jüdischen Geschichte, Kultur, Religion und Philanthropie vor. Wie Sadie American erklärte, veranschaulichten ihre Vorträge, „was einige jüdische Frauen gewesen sind, getan und gedacht haben und was einige gegenwärtig denken und planen“.9 Der Kongress begann mit historischen Überblicksdarstellungen. Louise Mannheimer (1844– 1920) sprach über Women of Biblical and Medieval Times10, gefolgt von Helen Kahn Weil, die einen Überblick über Jewish Women of Modern Days11 bot. Anschließend wurde Weils Vortrag von Hannah Solomons Schwester Henrietta G. Frank und zwei der bekanntesten Rabbiner der damaligen Zeit und führenden Vertretern des Reformjudentums, Kaufman Kohler und Emil G. Hirsch, diskutiert. Die Vorträge des zweiten Tages befassten sich mit besonderen Aspekten der historischen und der zeitgenössischen Rollen jüdischer Frauen. Ray Frank (1861–1948), die damals wegen ihrer Predigttätigkeit als das „Rabbinermädchen aus dem goldenen Westen“ berühmt war, referierte über Woman in the Synagogue12; Pauline Rosenberg setzte sich mit dem Thema Influence of the Discovery of America on the Jews13 auseinander; Mary M. Cohen (1854–1911) sprach über Influence of the Jewish Religion in the Home14 und Julia Richman über Women as Wage-Workers.15 Am dritten Tag beschäftigten sich Minnie D. Louis und andere mit jüdischen Missionarinnen, Philanthropinnen und Kämpferinnen gegen den Antisemitismus. Zum Abschluss des Kongresses forderte Sadie American eine Organisation, und die versammelten Frauen beschlossen, das Council of Jewish Women zu gründen.
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AMERICAN, „Organization“, 218. Louise MANNHEIMER, „Jewish Women of Biblical and Medieval Times“, in Papers, 15–25. Helen Kahn WEIL, „Jewish Women of Modern Days“, in Papers, 26–42. Ray FRANK, „Woman in the Synagogue“, in Papers, 52–65. Pauline ROSENBERG, „Influence of the Discovery of America on the Jews“, in Papers, 66– 73. Mary M. COHEN, „Influence of the Jewish Religion in the Home“, in Papers, 115–121. Julia RICHMAN, „Women as Wage-Workers“, in Papers, 91–114.
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2.1 Frauen aus der Bibel als Thema auf dem Kongress jüdischer Frauen Die vortragenden Frauen auf dem Kongress jüdischer Frauen blickten bewusst zurück und wandten sich der Vergangenheit zu, um in den überlieferten Erzählungen des jüdischen Volkes unter den Frauen und Müttern, Prophetinnen und Akteurinnen ihre Vorläuferinnen zu entdecken. Die Kongressrednerinnen suchten unter diesen nach Rollenvorbildern, deren Funktionen und Verhaltensweisen ihre eigenen Handlungen und Haltungen bestätigen konnten. Louise Mannheimer, Absolventin der Universität von Cincinnati und Ehefrau eines Rabbiners, Komponistin, Dichterin und Übersetzerin von Nahida Remys The Jewish Woman16, stellte zu Beginn ihres Vortrags über jüdische Frauen in der biblischen und der mittelalterlichen Zeit eine Verbindung her zwischen ihrer eigenen Beklommenheit und der Geschichte von den Kundschaftern, die Mose ins Gelobte Land geschickt hatte. Die meisten berichteten bei ihrer Rückkehr voller Entsetzen von den Riesen, die sie dort gesehen hatten. „But Caleb and Joshua were not afraid, for they trusted in the Lord (Num 32:12).“17 Genauso würde auch sie auf den HERRN vertrauen und sich nicht vor den Riesen fürchten – d. h. vor den Männern, deren Autorität als die einzigen Hüter der jüdischen Tradition sie mit ihrer Stimme herausforderte. Mannheimer unterschätzte keineswegs die Schwierigkeit ihrer Aufgabe, die Geschichte von Frauen in der Bibel zu erläutern und zu diesem Zweck „das spärliche, aber anregende Material, das die Schriften liefern, zu erweitern“.18 Sie teilte die biblischen Frauen in drei Kategorien ein: „Mütter in Israel, Prophetinnen in Israel und Frauen, die das Problem des eigenen Wirkungsbereiches weiblicher Aktivität zu diesem frühen Zeitpunkt in der Geschichte Israels gelöst haben.“19 2.1.1 Mütter in Israel Wie viele der Rednerinnen auf dem Kongress jüdischer Frauen betrachtete auch Mannheimer die Rolle der Mutter in Israel als zentral für die jüdische Frau. Sie schrieb: „Es gibt keinen Ehrentitel, der durch alle Generationen von den Anhängern des mosaischen Gesetzes öfter verwendet wurde als dieser süße, gesegnete Namen: ‚Mutter‘.“20 Die Wissenschaftlerin Diane Lichtenstein hat die Mutter in Israel als Leitbild im Schrifttum der amerikanischen Jüdinnen des 19. Jahrhunderts ausgemacht: eine stereotype Version des jüdischen Frauenbilds, die völlig mit der damals in wohlhabenden Kreisen vorherrschenden Glorifizierung der amerikanischen Frau als Ehefrau und Mut-
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Nahida REMY, Nahida Remy’s The Jewish Woman (übers. v. Louise Mannheimer; Cincinnati: C. J. Krehbiel & Co., 1895). MANNHEIMER, „Jewish Women“, 15. Wenn die Vortragenden beim Jüdischen Frauenkongress die Bibel zitierten, benutzten sie die King-James-Bibel. Deshalb zitiere ich im vorliegenden Beitrag ebenfalls nach dieser Bibelausgabe. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 16. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 17. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 17.
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ter übereinstimmt.21 Die Mutter in Israel verkörperte die ideale Jüdin, eine Frau, deren primäre Rollen als Tochter, Ehefrau und Mutter sie im Schoß der Familie hielten. Ihre „aufmerksame Fürsorge“, „zärtliche Hingabe“ und „aufopferungsvolle Liebe“ – Qualitäten, die in Mannheimers Augen im Leben der Matriarchinnen Sara, Rebekka, Rahel und Lea unverkennbar gegeben waren – trugen zum Erhalt ihrer Familie bei.22 Heim und Familie waren die innere Bastion, von der aus die moderne Mutter in Israel ihr Volk in Amerika aufrecht hielt. Für die amerikanischen Jüdinnen des 19. Jahrhunderts war Sara mit ihrer „fraulichen Würde“ die Mutter in Israel schlechthin. So, wie Mannheimer und andere Kongressteilnehmerinnen sie interpretierten, sorgte Sara hingebungsvoll für ihr Haus, sie war „die treue Freundin und Gefährtin ihres Mannes“, um das Wohl der anderen besorgt und stets bereit, ihr Zuhause „für die Armen und Bedürftigen“ zu öffnen. Noch im hohen Alter wurde sie durch die Geburt eines Sohnes, der ihr Ein und Alles war, für ihre gerechten Taten belohnt.23 Mary M. Cohen bot folgende Auslegung: Seit Saras Zeiten hat die jüdische Frau und Mutter sich selbst „in aller Regel […] als ihrem Mann und ihren Kindern treu erwiesen […] und so gastfreundlich, wie ihre Mittel es ihr erlaubten“.24 In Cohens Deutung erfüllte Sara Gottes Gebot: And thou shalt rejoice with every good thing which the Lord thy God hath given unto thee, and unto they house, thou, with the Levite, and the stranger that is in the midst of thee (Deut 26:11).25
Natürlich war Sara nicht die einzige Mutter in Israel, die in diesen Vorträgen Erwähnung fand. Die Referentinnen, die auf dem Kongress der jüdischen Frauen sprachen, rühmten die zahlreichen vorbildlichen Mütter in Israel: Hanna, „deren Arbeit in und für die Synagoge darin besteht, die Samuels in den Tempel zu bringen, um das Gesetz zu erfüllen“ (1 Sam 2,14)26; Rut, die treue Schwiegertochter; Abigail, ein Beispiel an Selbstbeherrschung und Würde, die ihre hausfraulichen Fertigkeiten nutzte, um Davids Truppen zu beköstigen und ihn in seinem Zorn zu besänftigen; und natürlich die namenlose mustergültige Frau (Spr 31,10–31), die in all jenen Künsten und Techniken versiert war, die erforderlich sind, um einen Haushalt zu führen oder ein Feld zu kaufen. „She seeketh wool, and flax, and worketh willingly with her hands […] She considereth a field, and buyeth it (Prov 31:13.16).“ Ray Frank, die zu diesem Zeitpunkt noch unverheiratet war und nie ein Kind gebar, betonte:
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Diane LICHTENSTEIN, Writing Their Nations: The Tradition of Nineteenth-Century American Jewish Women Writers (Bloomington: Indiana University Press, 1992), 23f. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 17. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 17. COHEN, „The Influence“, 120. COHEN, „The Influence“, 120. FRANK, „Women in the Synagogue“, 65.
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[T]he ancient Jewish woman was, above all, wife and mother, and as such she was a religious teacher […]. As mothers in Israel I appeal to you to first make of our homes temples, to rear each child a priest by teaching him to be true to himself.27
2.1.2 Prophetinnen in Israel Die nächste von Louise Mannheimer beschriebene Kategorie biblischer Frauen ist die der Prophetinnen. Mannheimer zufolge waren diese Frauen mit „antwortenden Seelen“ gesegnet. Andere „hören nichts, fühlen nichts“, doch diese Frauen hatten Seelen, die „durch den Atem des HERRN bewegt“ wurden.28 Diejenigen, die auf die Prophetinnen Bezug nahmen, erwähnten unweigerlich, dass die meisten von ihnen zuerst und vor allem Ehefrauen und Mütter waren. Ray Frank nannte Hanna „eine inspirierte Prophetin, eine weise Mutter“.29 Mannheimer sagte, der einzige Titel, den Debora je für sich in Anspruch genommen habe, sei der einer „Mutter in Israel“ gewesen: „[…] that I Deborah arose, that I arose a mother in Israel (Judg 5:7).“30 Hulda bewahrte sich sogar dann noch die „echte weibliche Bescheidenheit einer Mutter in Israel“, als die Ratgeber des Königs zu ihr gekommen waren.31 Die Rednerinnen auf dem jüdischen Frauenkongress achteten also sorgfältig darauf, ihre Äußerungen zu dieser bemerkenswerten Gruppe biblischer Frauen in die Konstruktionen einzubetten, die zu ihrer Zeit und in ihrem Umfeld für die Frauen jener Klassen, die nicht zur Arbeit genötigt waren, akzeptiert waren. Für diese Schriftstellerinnen war es ganz natürlich, dass Prophetinnen nicht nur Prophetinnen, sondern auch mustergültige Mütter in Israel waren. Dennoch lobten die Referentinnen auch die Führungsqualitäten der Prophetinnen und kamen zu dem Schluss, dass die Jüdin der Bibel, wenn sie denn eine Führungsrolle übernahm, „erfolgreich führte“.32 Mirjam war die erste Prophetin im alten Israel, „deren antwortende Seele durch den Atem des HERRN in Schwingung versetzt wurde.“ Als Beweis ihrer Intelligenz sieht Mannheimer die Tatsache, dass sie geduldig am Nil über Mose wachte, bis „sie ihren kleinen Bruder sicher in den Armen der Tochter des Pharaos sah“.33 Diese Tat der Rettung ihres kleinen Bruders verstärkte in ihr die „Gaben ihrer Weiblichkeit“, aus denen sie schöpfte, als sie „die Pauke in die Hand“ nahm (Ex 15,20), um die Frauen an der Küste des Schilfmeeres entlang zu führen und einen Triumphgesang anzustimmen: „Sing ye to the Lord, for He hath triumphed gloriously; the horse and his rider hath He thrown into the sea (Exod 15:21).“34 Selbst als Mirjam bestraft und mit Aussatz geschlagen wurde, weil sie sich Mose widersetzt hatte „wegen der äthiopischen Frau“ (Num 12,1), musste ganz Israel auf sie warten, bis ihre Bestrafung vorüber war. „And 27 28 29 30 31 32 33 34
FRANK, „Women in the Synagogue“, 56.65. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 20. FRANK, „Women in the Synagogue“, 55. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 21. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 22. FRANK, „Women in the Synagogue“, 56. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 20. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 20.
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Miriam was shut out from the camp seven days: and the people journeyed not till Miriam was brought in again (Num 12:15).“ Ray Frank geht, was Mirjams einflussreiche Rolle betrifft, sogar noch weiter und schlussfolgert, dass sie „eine der Anführerinnen in Israel gewesen sein muss, bevor die Reise durch das Meer unternommen wurde.“35 Ob Frank hierbei auch an den Propheten Micha gedacht hat, der Mirjam zum Triumvirat der Exodus-AnführerInnen zählt, ist unklar: „For I brought thee up out of the land of Egypt, and redeemed thee out of the house of servants; and I sent before thee Moses, Aaron, and Miriam (Mic 6:4).“ Frank fand indes andere Belege für ihre These: Sie schloss aus der betonten Stellung des Wortes Prophetin in Ex 15,20, wo es – unmittelbar bevor Mirjam ihr Lied singt – heißt, dass sie die Pauke in die Hand nahm, und aus den Worten, die Mose an Mirjam und Aaron richtete, als er zum Berg ging, dass auch sie beim Exodus eine führende Rolle spielte. In der Prophetin Debora sah Mannheimer „einen ruhmreichen Höhepunkt“ der „wachsenden geistigen und geistlichen Entwicklung der Frauen Israels“. Sie war „Prophetin, Richterin, Führerin im Kampf, Dichterin und heilige Sängerin“, begabt mit „natürlichen Talenten“, die sie sorgfältig geübt und im Dienst an Gott vervollkommnet hatte (vgl. Ri 5,1).36 Frank verglich diese „Herrscherin, Kämpferin, Dichterin […] Prophetin“ sogar mit Mose und erklärt, beiden großen Führungsgestalten des alten Israel sei die wichtige Gabe der Bescheidenheit gemeinsam gewesen, die sie nicht auf das blicken ließ, was sie selbst geleistet hatten, sondern auf das, was Gott durch sie für Israel tat.37 Mannheimer bewunderte auch die Prophetin Hulda und kam zu dem Ergebnis, dass es ihr „Ruf der überlegenen Weisheit und profunden Gesetzeskenntnis“ war, der die Beamten des Königs veranlasste, sie aufzusuchen. Und als sie es taten, wo anders hätten sie diese finden sollen als in dem College (vgl. 2 Kön 22,14: „now she dwelt in Jerusalem in the college“; King-James-Bibel). Offenbar im Gedanken an die verbesserten Bildungschancen der Frauen ihrer eigenen Epoche schloss Mannheimer daraus: „Damals gab es keine restriktiven Bestimmungen […], die Frauen von den Colleges der Israeliten ausschlossen, nicht einmal die verheirateten Frauen.“38 Dadurch, dass sie die führende Rolle der Prophetinnen im alten Israel hervorhoben, nutzten die Rednerinnen beim jüdischen Frauenkongress diese als Beleg für ihre eigene Auffassung, wonach folgende Botschaft, die der HERR Mose gab, sich nicht auf ein Geschlecht beschränkte: „And ye shall be unto Me a nation of priests and a holy nation (Exod 19:6).“39 Die Referentinnen auf diesem Kongress lenkten die Aufmerksamkeit auf die Prophetinnen der Vergangenheit, die für ihr eigenes Recht das Wort ergriffen und die Füh-
35 36 37 38 39
FRANK, „Women in the Synagogue“, 54. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 21. FRANK, „Women in the Synagogue“, 55. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 22. Mannheimer verwendet hier das Wort college. FRANK, „Women in the Synagogue“, 53f.
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rung übernahmen, und verfochten damit ihr Recht, innerhalb des Weltparlaments der Religionen für das amerikanische Judentum einzustehen und zu sprechen. 2.1.3 Frauen, die das Problem ihres Wirkungsbereiches lösen Die dritte von Mannheimer vorgestellte Kategorie ist die der biblischen „Frauen, die das Problem des angemessenen Wirkungsbereiches weiblicher Aktivität zu diesem frühen Zeitpunkt in der Geschichte Israels gelöst haben“.40 Schon die Formulierung dieser Fragestellung zeigt, wie sehr Mannheimer von der typischen Rhetorik des späten 19. Jahrhunderts und dem damaligen Diskurs über die eigenen Bereiche der Frauen beeinflusst war. In dieser Gruppe „tatkräftiger“ Frauen, die sie gezielt zu ruhigen und würdevollen Problemlöserinnen stilisiert, nennt sie die fünf Töchter Zelofhads, die vor Mose und dem versammelten Israel auf ihr Erbrecht pochten und erreichten, dass ihnen ein Anteil am Besitz ihres Vaters zugesprochen wurde. Sie erklärten: „Why should the name of our father be done away from the midst of his family because he has no son? Give unto us a possession among the brothers of our father (Num 27:4).“ Und sie erhielten zur Antwort: „The daughters of Zelophehad speak rightly, they shall indeed have a possession among the brothers of their father, and the inheritance of their father shall pass unto them (Num 27:7).“ Mannheimer schrieb über Abigajils Unabhängigkeit von deren Mann, der sich geweigert hatte, David und seine Soldaten mit Nahrung zu versorgen, woraufhin sie aufbricht, um die Männer zu verköstigen und den zornigen David zu beschwichtigen. Sie bewunderte die Schunemiterin, die bei ihrer Rückkehr aus dem Gebiet der Philister feststellen musste, dass ihr Haus und Land konfisziert worden waren, und sich weigerte, einen Mann – nämlich den Propheten Elischa – um Fürsprache beim König zu bitten. Stattdessen sprach sie für sich selbst, verlangte Wiedergutmachung und erhielt diese auch. Aus diesen Beispielen folgerte Mannheimer: „So finden wir Frauen im vollen Genuss der Gleichheit der Rechte in Israel vor.“41 Anschließend ging Mannheimer zu den nachbiblischen jüdischen Frauen über, denn die jüdische Exegese bewegt sich traditionell mit Leichtigkeit durch die Jahrtausende jüdischer Erfahrungen. Sie fand eindrucksvolle nachbiblische Beispiele für die Gleichstellung jüdischer Frauen: Salome Alexandra, die nach dem Tod ihres Mannes, des Hasmonäerkönigs Alexander Jannäus, neun Jahre lang über Judäa herrschte, und „manch eine Frau, deren Autorität in der Auslegung der Gesetze sogar von den Rabbinern anerkannt wurde“, darunter Berurja, die Frau von Rabbi Meir, einem Weisen des 2. Jahrhunderts.42
40 41 42
MANNHEIMER, „Jewish Women“, 17. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 24. MANNHEIMER, „Jewish Women“, 24.
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2.2 Zur Bedeutung des Congress of Jewish Women Auch wenn die Rednerinnen auf dem Kongress jüdischer Frauen die Mütter in Israel priesen und einräumten, dass nichts sie ersetzen könnte, widerlegte das Auftreten dieser Frauen ihre Rhetorik. Denn statt in der abgeschlossenen Zurückgezogenheit ihrer Häuser zu bleiben, waren sie in die heiligen Hallen dieses Begleitkongresses zum Weltparlament der Religionen eingetreten und hatten es gewagt, vor den Augen der Welt das Judentum zu repräsentieren, wenn auch in erster Linie im Hinblick auf das Thema Frauen und Judentum. Sie verklärten Jüdinnen als Ehefrauen und Mütter und bekräftigten damit gleichzeitig die jüdische Tradition, weil sie das Recht der Frau geltend machten, über die ihr zugewiesene Sphäre hinaus zu gehen. Bewusst wandten diese Frauen eine neue Lesart auf die biblischen und rabbinischen Texte an und verfuhren dabei ganz ähnlich wie die um Modernisierung bemühten Rabbiner: Das Gewicht der Vergangenheit sollte die Privilegien sanktionieren, die sie nun in der Gegenwart für sich in Anspruch nahmen. Hannah Solomon erklärte: […] in the pages of history in the lives of the heroes and heroines, the destinies and possibilities of a people are written. In them, we have been trying to discover ideals for ourselves, our daughters and our granddaughters.43
Die Rednerinnen vertraten die Auffassung, dass die jüdische Tradition zwar einerseits die Mütter in Israel preise, andererseits aber auch jene Frauen ehre, die die gebahnten Wege traditioneller weiblicher Rollen verlassen, nämlich die Prophetinnen und diejenigen Frauen, die in ihrer jeweiligen historischen Epoche bestrebt waren, das Problem der den Frauen angemessenen Sphäre zu lösen. In ihren Redebeiträgen auf dem jüdischen Frauenkongress identifizierten sich Louise Mannheimer, Ray Frank, Mary M. Cohen, Hannah Solomon und andere mit allen drei Gruppen biblischer Frauen. Auch wenn sie sich selbst als Mütter in Israel bezeichneten, orientierten sie sich an den Prophetinnen und anderen biblischen Frauen, die die Rollen der Frauen erweitert hatten. Und dadurch, dass diese Frauen ihre Stimmen und Ansichten neben denen der Rabbiner vom Jewish Denominational Congress präsentierten, in deren Programm für die Frauen kein Platz gewesen war, reihten auch sie sich in die Gruppe derer ein, die in ihrer eigenen Epoche die den Frauen zugemessenen Rollen und Bereiche erweiterten. Als sie zum Abschluss des Congress of Jewish Women das Council of Jewish Women gründeten, schufen sie ein neues und bleibendes Instrument, das es ihnen erlaubte, auch in Zukunft eine Beteiligung bei der Lösung der Probleme ihrer Zeit und eine Ausweitung der weiblichen Sphäre zu beanspruchen.
3. Zwei Sichtweisen des Judentums beim World’s Parliament of Religions Der Kongress jüdischer Frauen war nicht die einzige Plattform beim Weltparlament der Religionen, wo Frauen als Repräsentantinnen des Judentums auftraten. Hannah 43
SOLOMON, „Address“, 166.
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Solomons Organisationskomitee hatte zwei namhafte Amerikanerinnen ausgewählt, die auf der einzigartigen interreligiösen Bühne des Weltparlaments der Religionen selbst als Vertreterinnen des Judentums neben den Rabbinern auftreten sollten. Zu Recht betrachteten WissenschafterInnen das Weltparlament der Religionen – mit Redebeiträgen von Angehörigen des protestantischen Mainstreams, des römischen Katholizismus, der östlichen Orthodoxie, des Islams, des Buddhismus, des Hinduismus, anderer asiatischer Religionen sowie des Judentums – als Vorläufer der modernen interreligiösen Bewegung. Die Beteiligung amerikanischer KatholikInnen und amerikanischer Jüdinnen und Juden wies auf die beginnende Erweiterung des religiösen Lebens in Amerika hin. Zudem wurde das Parlament als ein Durchbruch für Frauen in der Religion gewertet. Den Protestantismus vertraten Julia Ward Howe (1819–1910), die Verfasserin der Battle Hymn of the Republic, und Frances E. Willard (1839–1898), die Vorsitzende der Women’s Christian Temperance Union, der größten amerikanischen Frauenorganisation der damaligen Zeit. Das Judentum wurde durch eine Anzahl von Rabbinern und Gelehrten sowie von Josephine Lazarus (1846–1910) und Henrietta Szold (1860–1945) repräsentiert. Lazarus und Szold standen für entgegengesetzte Strömungen innerhalb des amerikanischen Judentums. Lazarus, die von der zeitgenössischen Bibelwissenschaft und jenen DenkerInnen beeinflusst war, die die religiöse Modernisierungsbewegung des Reformjudentums prägten, stellte das Judentum als universale Religion dar. Szold dagegen stammte aus einer Familie, die eng mit denjenigen amerikanischen Jüdinnen und Juden verbunden war, die sich vielen, wenn auch keineswegs allen Vorstößen der ReformerInnen widersetzten, und vertrat daher eine traditionellere Sicht des Judentums. Dennoch sprach auch sie sich wohl mit Rücksicht auf die Sensibilitäten ihrer ZeitgenossInnen für Anpassungen aus. 3.1 Josephine Lazarus: „The Outlook of Judaism“ Josephine Lazarus war das zweite Kind einer wohlhabenden New Yorker Familie, die ihre Wurzeln bis ins koloniale Amerika zurückverfolgen konnte. Sie begann ihre eigenen Schriften zu veröffentlichen, nachdem ihre jüngere Schwester Emma, die sich in ihrem kurzen Leben als Dichterin, Essayistin und Fürsprecherin der verfolgten Jüdinnen und Juden des russischen Zarenreichs einen Namen gemacht hatte, mit 38 Jahren gestorben war. Nach ihrem Tod im Jahr 1887 blieb Emma Lazarus unvergessen als Verfasserin des Gedichts The New Colossus (1883) bekannt, dessen berühmte Zeilen auf einer Tafel am Podest der Freiheitsstatue – „Give me your tired, your poor/Your huddled masses yearning to breathe free“ – Millionen von ImmigrantInnen in Amerika willkommen geheißen haben.44 Josephine Lazarus hatte bereits eine Sammlung von Gedichten ihrer Schwester veröffentlicht, als sie zum Weltparlament der Religionen eingeladen wurde, um dort zu 44
Jewish Women’s Archive, „The New Colossus, from Emma Lazarus’ Copy Book“, zit. nach http://jwa.org/media/new-colossus-from-emma-lazarus-copy-book (16.06.2011).
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sprechen. Ihr Redebeitrag The Outlook of Judaism warf die Frage auf, „worin der Inhalt und die Bedeutung des modernen Judentums in der heutigen Welt besteht“.45 Ihre Antwort macht deutlich, dass Lazarus hinsichtlich des Spektrums des jüdischen Denkens im ausgehenden 19. Jahrhundert am äußersten Ende stand: bei jenen nämlich, die es für unumgänglich hielten, das Judentum als universale Religion wiederzuentdecken. Sie erhob den Vorwurf, die Jüdinnen und Juden seien im Lauf der Jahrtausende „von ihrer geistigen Herkunft abgewichen und haben ihre spirituellen Horizonte aus den Augen verloren“.46 Das Judentum, so ihre Forderung, sollte sich wieder auf „seine breite ethische und soziale Basis, seine augenscheinliche Universalität“ zurückbesinnen.47 Sie war davon überzeugt, dass für die Jüdinnen und Juden sowie für das Judentum die Zeit gekommen war, sich in einer „Einheit des Geistes“ mit anderen zusammenzuschließen.48 Lazarus’ neue Sicht des Judentums beruhte darauf, dass sie die Bibel durch das Prisma der historisch-kritischen Methode des späten 19. Jahrhunderts las. Diese Lesart verwarf zahlreiche Personen und Ereignisse in der hebräischen Bibel als unhistorisch und kehrte sich von der traditionellen jüdischen Auffassung ab, Mose habe die fünf Bücher am Berg Sinai von Gott selbst empfangen – und Josephine Lazarus teilte diese Auffassung. Wenn sie über die „mythischen Anfänge“ des alten Israel schrieb, „eines Nomadenstamms in den östlichen Regionen, der an den Wasserläufen entlang zog und im Hügelland seine Herden weidete“, schilderte sie dessen „patriarchalische Führer“ als „breit angelegte und zusammengesetzte Figuren, die eher den Stamm als reale Personen“ repräsentieren.49 Ebenso steht auch Mose „auf einer mythischen Grundlage“; er ist für sie eine „semihistorische oder rein symbolische Gestalt“. Nach Lazarus’ Auffassung stellt die Gründung des davidischen Königreichs den „Beginn der Geschichte“ dar, d. h. erst mit diesem Zeitpunkt fängt die Bibel an, von historischen AkteurInnen zu sprechen.50 Doch das eigentliche Verdienst dieses Volkes, das sie als „von ‚Gott berauschte‘ Rasse“ bezeichnet, bestand nicht in der „äußeren Größe“ von Davids und Salomos Königreich und auch nicht im heiligen Tempel von Jerusalem, sondern „gänzlich in dem inneren Impuls, Tatendrang und dem spirituellen Antrieb, der im Prophetentum Gestalt annahm“. Lazarus war der Ansicht, dass die „Propheten die klarere Sicht besaßen“. Sie führten die alten Israeliten über ihren „kleinlichen, grausamen und parteiischen Stammesgott“ hinaus und verkündeten den „universalen und ewigen Gott“. Das sei „der Kern der hebräischen Idee“.51
45 46 47 48 49 50 51
Josephine LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, in Judaism at the World’s Parliament of Religions (Cincinnati: Union of American Hebrew Congregations, 1893), 295–304; 296. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 302. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 299. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 303. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 297. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 297. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 298.
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Für Lazarus war Israels „wahre Größe und Originalität“ ausschließlich „in der moralischen Sphäre“ angesiedelt, wie die Propheten sie verkündigten. Leider jedoch wurde das Licht der Propheten mit seiner „breiten ethischen und sozialen Basis“ niemals zur „Religion der Massen“. Die Menschen brauchten etwas, das „mit ihrer aktuellen Entwicklung in der damaligen Zeit übereinstimmte“. Folgerichtig führten die IsraelitInnen ein Leben, das bis ins Kleinste von den verwinkelten Vorschriften des jüdischen Gesetzes bestimmt wurde, „in denen der Geist eingeschlossen war wie in einem Leichentuch […], selbst die unbedeutendsten Verhaltensweisen des Lebens zudeckend“.52 Gerade als „das Königreich zerfiel, der Tempel zerstört und das Volk in alle Winde zerstreut wurde“, machte das Gesetz sie „auf intensivere Weise zu einer Nation, exklusiver und sektiererischer […] als je zuvor“. In den darauffolgenden Epochen der jüdischen Geschichte, als der Talmud und die Rabbiner das Sagen hatten, verlor das Judentum „seine Kraft, sich auszubreiten, seinen Anspruch, eine Universalreligion zu werden, und blieb das Privileg eines eigentümlichen Volkes“.53 Das waren nach Lazarus’ Einschätzung der Status des Judentums und des jüdischen Volkes bis in die Neuzeit hinein. Doch die Französische Revolution hatte „einen Ton der Freiheit angeschlagen, so laut, so gewaltig, dass er durch die Ghettomauern drang und seinen Weg zu den eingesperrten Seelen fand“.54 In deren Gefolge fand das Judentum zurück „zu seiner ursprünglichen Art, dem reinen und einfachen Monotheismus der frühen Tage“.55 Doch was war mit der Gegenwart? Wenn sie sich umschaute, sah Lazarus, dass sie in einem Zeitalter lebte, das das „Liberale, Fortschrittliche, Humanitäre“ feierte. Doch wenn sie über den Ozean blickte, musste sie feststellen, dass „im barbarischen Russland, im liberalen Frankreich und im philosophischen Deutschland“ die Jüdinnen und Juden verfolgt wurden.56 Wie sollte dieser Judenverfolgung ein Ende bereitet werden? Ihre Idee für eine Lösung sah folgendermaßen aus: Away then with all the Ghettos and with spiritual isolation in every form […]. The Jew must change his attitude before the world and come into spiritual fellowship with those around him.57
Wie aber sah es mit der Zukunft des Judentums aus? Dieses muss zu seiner historischen, wahrhaftigsten Sichtweise zurückkehren, zu seiner „höheren Berufung und Bestimmung […] es muss eine spirituelle Macht sein“.58 Lazarus überwand die Mauer zwischen Judentum und Christentum und hatte den Mut, „Johannes, Paulus und sogar Jesus […] für uns selbst“ zu beanspruchen. Während sie nicht erwartete, dass Jüdinnen und Juden „Presbyterianer, Episkopale, Mitglieder irgendeiner sich abspaltenden Sekte“ wurden, rief sie stattdessen dazu auf, dass „Christen wie Juden […] die Einheit des 52 53 54 55 56 57 58
LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 299f. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 300. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 300. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 301. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 302. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 303. LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 295.303.
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Geistes […] annehmen“ und anerkennen, dass das Judentum auf diesem Weg vorangehen könnte. Abschließend sagte sie: „Die Menschheit insgesamt mag nicht bereit sein für eine universale Religion, aber lasst die Juden mit ihrem prophetischen Instinkt und ihrer tiefen geistlichen Einsicht ein Beispiel geben und ein Ideal sein.“59 3.2 Henrietta Szold: „What has Judaism Done for Women?“ Während Josephine Lazarus’ Verständnis der jüdischen Vergangenheit sie zu einer Neubewertung des Judentums als universaler Religion geführt hatte, warf Henrietta Szold, die einzige andere Frau, die neben den zahlreichen Rabbinern auf dem Weltparlament der Religionen als Rednerin auftrat, eine ganz andere Frage auf. Szold ist weithin als die Gründerin der amerikanischen zionistischen Frauenorganisation Hadassah bekannt, die sie 1912 ins Leben rief. Doch schon 1893, als sie auf dem Weltparlament der Religionen sprach, war sie die bekannteste amerikanische Jüdin ihrer Zeit. Sie war die älteste der fünf überlebenden Töchter eines Rabbiners aus Baltimore und seiner Frau und hatte sich einen Ruf als Schriftstellerin, Erzieherin und Gemeindeorganisatorin erworben, da sie eine der ersten Abendschulen in den Vereinigten Staaten gründete, an der erwachsene ImmigrantInnen die Kenntnis der englischen Sprache und das Grundwissen der amerikanischen StaatsbürgerInnen erwerben konnten. Kurz zuvor war sie außerdem Sekretärin – und de facto leitende Herausgeberin – der Jewish Publication Society geworden, die als erstes Verlagshaus in den Vereinigten Staaten erfolgreich jüdische Bücher publizierte. Ohne zu wissen, dass ein Großteil ihres künftigen Lebenswerks darin bestehen würde, den Aktivitäten und der Führungsrolle jüdischer Frauen sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im britischen Mandatsgebiet Palästina neue Wege zu ebnen, fragte Szold: „What has Judaism Done for Women?“ Ihre Frage muss natürlich auch vor dem Hintergrund der wachsenden Möglichkeiten für Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert gesehen werden. Szold selbst hätte gerne das College besucht, doch in Baltimore gab es keine Colleges für Frauen, und sie hatte keine Möglichkeit, von zu Hause wegzugehen. Sie war sehr gut über die zeitgenössische Suffragettenbewegung informiert und war sich deren Implikationen für die Frauenrollen innerhalb des Judentums bewusst. Sie las biblische und nachbiblische Texte, nicht um für „die identischen Funktionen […] von Mann und Frau“, sondern um für ihre „Gleichstellung“ zu plädieren.60 Die feministische Theorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts prägte für diese gedankliche Richtung später den Begriff „Differenzfeminismus“. Als Gründerin und Leiterin der Hadassah trat Szold nachdrücklich dafür ein, dass amerikanische Frauen, die für die Hadassah arbeiteten, ihren Platz innerhalb einer Tradition einnahmen, welche sie mit den biblischen Frauen verband, die ihr Leben ebenfalls ihrem Volk gewidmet hatten.
59 60
LAZARUS, „The Outlook of Judaism“, 303. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, in Judaism, 304–310; 305.
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Zu Beginn ihres Vortrags verwies Szold auf die inhärente Gleichheit der Geschlechter, die seit der Schöpfung im Judentum festgeschrieben sei: [W]hatever incipient Judaism did for man, that precisely it did for woman: it made man, created male and female […]. So God created man in his own image, in the image of God created he him; male and female created he them (Gen 1:27).61
Anschließend warf Szold einen Blick in „Abrahams Zelt“, in dem „die Frauen […] den Vorsitz hatten“ und wo „die menschliche Zivilisation“ ihren Ursprung nahm. Indem sie Abraham als „den typischen Vater“ sah, der seinen Kindern gebot, „auf dem Weg des HERRN zu bleiben, Recht und Gerechtigkeit zu üben“, stellte sie sich die Frage: „Welchen Anteil hatte Sara an dieser höchst wichtigen Erziehungsarbeit?“ Sara wusste, dass Ismael „entfernt werden“ musste, damit Isaak „nicht durch schlechtes Beispiel vom ‚Weg des HERRN‘ weggelockt würde“. Die Lehrerin Szold verstand „diesen Plan“ als „durch und durch pädagogisch in seiner Zielsetzung“ und als Beleg dafür, dass Abraham und Sara zu gleichen Teilen an der Erziehung ihres Sohnes mitwirkten, was Abraham dazu veranlasste, „auf Saras Stimme zu hören“ (vgl. Gen 21,12).62 Szold wandte sich sodann dem nächsten Paar im Buch Genesis, Rebekka und Isaak, zu und kam zu dem Ergebnis, dass diese beiden wie Abraham und Sara zwar „nicht die identischen Funktionen ausübten“, aber trotzdem „die Gleichstellung von Mann und Frau“ verwirklichten.63 Gemeinsam standen sie „als eine Person“ vor ihren Kindern. Szold glaubte, dass Isaak „die Taktik Rebekkas vollständig übernahm“, als er Esau gegenüber seine Missbilligung der Töchter der Kanaaniter zum Ausdruck brachte: „Thou shalt not take a wife of the daughters of Canaan (Gen 28:2).“64 Was Rebekka betrifft, so nannte Szold sie die „erste soziale Erneuerin, das erste Wesen überhaupt, das gegen die Tradition und die festen Sitten der Gesellschaft handelt“, weil sie den traditionellen Brauch des Erstgeburtsrechts untergräbt. In Szolds Deutung setzt das Buch Genesis „die Ideale der Gleichheit von Mann und Frau, die aus den Tagen der Patriarchen auf uns gekommen sind“, fest, die „das Ideal [bleiben], nach welchem sich die jüdische Frau ausrichten soll“.65 Es gibt noch weitere Beispiele biblischer Frauen, die dieses Ideal bestätigen. Szold richtete das Augenmerk auch auf die verdienstvollen Mütter großer Männer: Jochebed, die Mutter des Mose, und Hanna, die Mutter Samuels, „die einzige Lenkerin seiner Laufbahn“.66 Szold vertrat außerdem die Ansicht, dass auch das jüdische Gesetz die Gleichstellung der Frauen mit ihren Ehemännern unterstützte. Väter und Mütter üben ihren Kindern gegenüber die gleiche Autorität aus, denn das Gesetz bestimmt, dass ein Sohn, der
61 62 63 64 65 66
SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 305. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 305. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 305. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 306. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 306. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 306.
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sich weigert, auf die Stimme seines Vaters oder auf die Stimme seiner Mutter zu hören, von beiden gezüchtigt werden soll. If a man have a stubborn and rebellious son, which will not obey the voice of his father, or the voice of his mother, and that, when they have chastened him, will not hearken unto them, then shall his father and his mother lay hold on him (Deut 21:18f.).67
Im weiteren Verlauf ihrer Diskussion über die mosaische Gesetzgebung – dieselbe Gesetzgebung, die Lazarus abgelehnt hatte – bewertet Szold die Bestimmungen, die das Verhältnis der Geschlechter betreffen. Im Wissen um die untergeordnete Stellung der Frau bei den Nachbarvölkern habe das jüdische Gesetz, so erklärt sie, den Rang der jüdischen Frauen so gut wie nur möglich absichern wollen, und zwar insbesondere im Hinblick auf das Erbrecht, den Schutz innerhalb der Ehe und für den Fall einer Scheidung. Als aber das jüdische Volk seine ursprüngliche Bestimmung vergaß – was auch dazu führte, dass die grundlegende Gleichheit von Mann und Frau aufgegeben wurde, die bei der Schöpfung festgelegt und im Leben der Patriarchen und Matriarchinnen sichtbar geworden war –, sei die Nation ins Straucheln geraten. Szold führt den Propheten Maleachi an, der „die ganze Misere“ der „späteren Tage“ ans Licht gebracht und gezeigt habe, wie diese Entwicklung „in der Missachtung der Frau […] und dem Zusammenbruch“ des „Ideals der Gleichheit von Frau und Mann“ gipfelte.68 Dies sieht sie in den Worten des Propheten Maleachi belegt: Because the LORD hath been witness between thee and the wife of thy youth, against whom thou hast dealt treacherously: yet is she thy companion, and the wife of thy covenant (Mal 2:14).69
Das Ergebnis war für Szold ein Ungleichgewicht, das „die Stellung der Jüdin bis in unsere Tage besiegelte“.70 Dies ist der Schlüssel, um Szolds Standpunkt zu verstehen. Als fromme Jüdin lebte sie in einem Kreis von Gleichgesinnten, die ihre Sorge um die jüdische Tradition teilten, auch wenn sie bereit war, die Texte eben dieser Tradition neu zu lesen, um sie mit den deutlich formulierten Forderungen ihrer Zeit nach der Gleichstellung der Frau abzustimmen. In ihren abschließenden Bemerkungen kam Szold wieder auf ihre grundlegende Forderung nicht nach Funktionsgleichheit, sondern nach Gleichstellung jüdischer Männer und Frauen zurück. Für sie war das Gebot, das den jüdischen Frauen vorschrieb, die Sabbatkerzen zu entzünden, ein Symbol für ihren Einfluss im häuslichen Bereich, der von dort aus auch auf größere gesellschaftliche Bereiche ausstrahlte. Die jüdische Frau war die Inspirationsquelle für ein reines, keusches Familienleben, deren heiligenden Einflüsse unschätzbar waren; sie stand im Mittelpunkt aller spirituellen Bestrebungen; sie war Vertraute und förderte jegliche Unternehmung. Auf sie bezog sich der Satz aus dem Talmud: 67 68 69 70
Zit. nach SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 306. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 307. Zit. nach SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 307. SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 307.309.
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It is woman alone through whom God’s blessings are vouchsafed to a house. She teaches the children, speeds the husband to the place of worship and instruction, welcomes him when he returns, keeps the house godly and pure, and God’s blessings rest upon all these things.71
Letztlich blieb Szolds Sicht auf die Rollen der Frauen im amerikanischen Judentum dem Bild der „tüchtigen Frau“ (Spr 31,10–31) verpflichtet, die von ihrem Mann und ihren Kindern für ihren Fleiß gerühmt wird – auch wenn man anerkennen muss, dass Szold mit der These von der Gleichstellung der Frau im Judentum in gewisser Weise ebenso ein zeitgemäßes Argument verwendete.
4. Zukunftsweisende Impulse für das Judentum des 20. Jahrhunderts Lazarus’ und Szolds Vorträge lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung zweier Frauen, die unter dem Dach des World’s Parliament of Religions nicht nur das Judentum repräsentierten, sondern außerdem über das Wesen des Judentums zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Allein das Auftreten dieser beiden Frauen hat dem Parlament die gewaltige Bandbreite des Judentums im 19. Jahrhundert klargemacht. Die Entwicklung unterschiedlicher Sichtweisen des Judentums war das Ergebnis der jüdischen Begegnung mit der Moderne. Das gleichzeitige Schwinden autoritärer Strukturen in der jüdischen Gemeindeführung hatte die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Einzelne – und dazu zählten im Jahr 1893 nicht nur Männer, sondern auch Frauen – ihre eigenen Auslegungen des Judentums geltend machen konnten. Dadurch entstand etwas völlig Neues, das es bis dahin in Amerika nicht gegeben hatte. Alle modernen Ausdrucksformen des Judentums – das Reformjudentum, das liberale, das konservative und sogar das orthodoxe Judentum – sind aus dieser Begegnung hervorgegangen. Dass auch Frauen für sich das Recht einforderten, das Judentum mitzugestalten, die Tradition neu zu interpretieren, für ihre eigenen Bibelauslegungen Autorität zu beanspru71
Zit. nach SZOLD, „What has Judaism Done for Women“, 310. Ich bin Professorin Judith Baskin von der University of Oregon dankbar, die mich darauf hingewiesen hat, dass es sich hierbei nicht um ein direktes Talmudzitat, sondern um eine Verschmelzung mehrerer Passagen handelt, darunter: Babylonischer Talmud Baba Metzia 59b: „R. Helbo said: One must always observe the honor due to his wife, because blessings rest on a man’s house only on account of his wife“; und Babylonischer Talmud Berakot 17a: „How do women earn merit? By making their sons go to the synagogue to learn scripture, and their husbands to the study house to learn Mishnah, and by waiting for their husbands until they return from the study house.“ Der Text war in dem von Szold zitierten Wortlaut im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Erstmalig veröffentlicht wurde er möglicherweise bei Emanuel DEUTSCH, „What is the Talmud“, in London Quarterly Review CXXIII (Juli/Oktober 1867). Das Zitat findet sich auf S. 243 in der amerikanischen Ausgabe (New York: Leonard Scott, 1867), 224–244. Dieser Beitrag wurde in viele Sprachen übersetzt und häufig wiederabgedruckt. Zu Emanuel Deutsch vgl. Joseph JACOBS und Goodman LIPKIND, „Emanuel Oscar Menahem Deutsch“, in Jewish Encyclopedia (1906); http://www.jewishencyclopedia.com/view.jsp?artid=300& letter=D&search=deutsch (18.06.2011).
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Pamela S. Nadell
chen, rabbinische Texte zu lesen und ihr Verständnis dieser heiligen Literatur auf die großen Fragen ihrer Zeit anzuwenden, war mit Sicherheit eine von vielen noch nicht dagewesenen Folgen der Begegnung zwischen dem Judentum und dem 19. Jahrhundert. Außerdem kann man eine direkte Verbindungslinie von allen jüdischen Rednerinnen auf dem Kongress jüdischer Frauen und dem Weltparlament der Religionen hin zu jenen ziehen, die die Bibel und die heiligen Texte des Judentums schlussendlich dazu nutzten, andere Dinge einzufordern: etwa das Recht der Frau, zu studieren, zu lernen, zu lehren und sogar Wissenschaftlerin und Rabbinerin zu werden. Tatsächlich spielten eine ganze Anzahl der in diesem Beitrag erwähnten Frauen, darunter Mary M. Cohen, Ray Frank und Henrietta Szold, eine bedeutende Rolle in der Rabbinerinnendebatte, die damals im jüdisch-amerikanischen Leben aufkam. Dadurch, dass sie das für die Auslegung jüdischer Texte notwendige Wissen erworben hatten und diese Fähigkeit auf dem Weltparlament der Religionen auch öffentlich demonstrierten, setzten sie – und vermutlich ahnten sie das bereits – einen Prozess in Gang, der, auch wenn er beinahe ein Jahrhundert dauern sollte, weitere erstaunliche Veränderungen – u. a. die Rabbinerin – für das Judentum mit sich brachte.
Die Bibel in den Dienstberichten der waldensischen Biblewomen Marina Cacchi Università di Bologna, Campus di Forlì Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden prophetisch reden […]. Auch über Sklavinnen und Sklaven werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen. (Joël 3,1f.) In unseren Tälern kennt man kein anderes Buch als die Bibel, und in unserem Feld der Evangelisation haben wir kein anderes Buch gebraucht als dieses (Pietro Lantaret, Vorsitzender der Tavola Valdese, Florenz, 1872).1
Dieser Beitrag stellt ein Spezifikum der waldensischen Evangelisation im Italien des 19. Jahrhunderts vor.2 Für die sogenannten „Bibelfrauen“ (Signore della bibbia) oder, wie diese sich selbst mit weniger Emphase nannten, „Bibel lesende Besucherinnen“ (lettrici-visitatrici bibliche), gibt es in den Quellen weitere Bezeichnungen, wie „biblische Besucherinnen“ (visitatrici bibliche) und „Biblewomen“. Der englische Terminus, der in den italienischen Quellen benutzt wird, weist darauf hin, dass die Anregung zum Einsatz dieser Frauen von einer Engländerin ausging, wie unten ausgeführt wird. Die Biblewomen, die regelmäßige Dienstberichte an das Komitee für Evangelisation (Comitato di Evangelizzazione) sandten, waren Angestellte der waldensischen Kirche. Dieser Aufsatz widmet sich einem bestimmten Aspekt der literarischen Produktion der Bibelfrauen, nämlich der Rolle der Heiligen Schrift innerhalb dieser Berichte. Konkret soll der Stellenwert herausgearbeitet werden, der dem biblischen Text von einem bestimmten Teil der waldensischen Predigerinnen während ihrer Evangelisationstätigkeit beigemessen wurde. Zudem soll aus diesen Berichten die Stellung, die die Bibel in der Ausbildung ihrer Identität als Frauen, Gläubige und Lehrerinnen einnahm, erhoben werden. Dieser Beitrag hat nicht zum Ziel, das äußerst weitgespannte Thema der Predigttätigkeit der Waldenserinnen erschöpfend zu behandeln, da es von anderen ForscherInnen bereits vielfach untersucht wurde.3 Innerhalb dieses großen Themas sollen 1
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Mario CIGNONI, „I valdesi in Italia (1848–1870)“, in Dalle Valli all’Italia: I valdesi nel Risorgimento: 1848–1998 (hg. v. Bruno Bellion et al.; Collana della Società di Studi Valdesi 16; Torino: Claudiana, 1998), 103–130; 103. Besonders bedanken möchte ich mich bei Professorin Adriana Valerio, meiner Tutorin des Masterstudiengangs in Women’s Studies am Centro Adelaide Pignatelli des Universitätsinstituts Suor Orsola Benincasa in Neapel, und bei Gabriella Lazier Ballesio, Leiterin des Archivs der Tavola Valdese di Torre Pellice (ATV), für ihre außergewöhnliche persönliche und fachliche Begleitung. Vgl. dazu Giovanni GONNET, „La donna presso i movimenti pauperistico-evangelici“, in Movimento religioso femminile e francescanesimo nel secolo XIII: Atti del VII Convegno Internazionale di Studi Francescani: Assisi: 11–13 ottobre 1979 (Assisi: Società Internazionale di Studi Francescani, 1980), 103–129; Giovanni Grado MERLO, Identità valdesi nella storia e nella storiografia 2 (Torino: Claudiana, 1991), 93–112; Peter BILLER, „What
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Marina Cacchi
insbesondere die Bedeutung und der Gebrauch der Bibel für jene beschränkte Zahl von Frauen analysiert werden, die einige Jahre oder einen großen Teil ihres Lebens eine systematische Predigttätigkeit im Rahmen ihrer Hausbesuche ausübten.
1. Wer waren die Biblewomen? Im Archiv der Tavola Valdese di Torre Pellice4 wird ein Teil der Korrespondenz von fünf Frauen aufbewahrt. Diese Schreiben waren an die Mitglieder bzw. den Präsidenten des Komitees für Evangelisation gerichtet und bezogen sich auf die gesamte Zeitspanne ihrer Tätigkeit der Evangelisation, oder mit deren eigenen Worten gesagt, ihres „kleinen Werkes“5 als „biblische Besucherinnen“. Es handelt sich um Eugenia Arzani Poggi, von der zwei Briefe von 1879 und 1880 (Fasz. 1), um Annina Celli, von der sieben Dienstberichte von 1893 bis 1896 (Fasz. 2), um Emma Celli, von der drei Briefe von 1904 (Fasz. 3), um Adelina Malanot, von der ein Brief von 1897 (Fasz. 4), und schließlich um Demetra Poli, von der sieben Dienstberichte von 1882 (Fasz. 5) erhalten sind. Diese fünf Frauen stellen die Spitze des Eisbergs einer viel umfassenderen Gruppe von Frauen und Männern dar, die an der Arbeit des Komitees für Evangelisation beteiligt waren. Sie versahen ihren Dienst in der Art und Weise der „Bibelleser und Bibelleserinnen“.6 Ihre Dienstberichte sind in der Unterserie 1 des Archivs, der besonders umfangreichen Aktensammlung der EvangelistInnen, Lehrer – und sehr häufig Lehrerinnen – sowie der KolporteurInnen aufbewahrt. Es muss betont werden, dass eine klare Unterscheidung zwischen PredigerInnen und LehrerInnen nicht einfach zu treffen und eine solche oft sogar irreführend ist, da es nicht selten vorkam, dass sowohl Frauen als auch Männer eine Doppelaufgabe übernahmen, indem sie nicht nur unterrichteten, sondern auch evangelisierten. Als Beispiel dafür sei Giuseppina
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did Happen to the Waldensian Sisters? The Strasbourg Testimony. Studi in onore del prof. Jean Gonnet (1909–1997)“, Protestantesimo 54 (1999): 222–233; Marina BENEDETTI, „La predicazione delle donne valdesi“, in Donne cristiane e sacerdozio: Dalle origini all’età contemporanea (hg. v. Dinora Corsi; Roma: Viella, 2004), 135–158. Die Serie IX des Archivs, Operai della Chiesa, besteht aus sechs Unterserien: Die erste, die in den 1950er Jahren neu geordnet wurde, setzt sich aus den persönlichen Akten zusammen und umfasst die Korrespondenz und in vielen Fällen die Dienstberichte der Pastoren, EvangelistInnen, LehrerInnen und KolporteurInnen von 1860 bis heute. Die Unterserie 2 ist den LehrerInnen vorbehalten, Unterserie 3 den BibelleserInnen oder Biblewomen (die Dokumente bezeugen dafür unterschiedlichste Schreibweisen), Unterserie 4 den KolporteurInnen, Unterserie 5 dem Briefwechsel der Laienmitglieder der Verwaltung, Unterserie 6 schließlich den Witwen. So definiert Annina Celli ihre Tätigkeit in der Einleitung ihres Briefes vom 06.08.1896 an Pastor Pons. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, lettera n. 7. Ihre Gesamtzahl ist noch nicht genau festgestellt: Man müsste die Protokolle des Comitato di Evangelizzazione von dem Zeitpunkt, an dem sie die Arbeit aufnahmen (1861), bis zur Auflösung dieses Dienstes (1915), als man die Aufgaben in Biblereader und Biblewoman trennte, in systematischer Weise untersuchen.
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Pusterla (gest. 1913)7 genannt, die für mehr als vierzig Jahre Lehrerin war, wenngleich mit einigen Unterbrechungen aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes und ihrer zeitweisen Entfernung vom Dienst im Jahr 1870, und die ab 1878 gleichzeitig als Bibelfrau tätig wurde.8 Ihr Briefwechsel ist uns erhalten. 1.1 Arbeitsbedingungen und Gehaltssituation Aus der Sichtung der Dienstberichte und der zeitgleichen Protokolle des Komitees ergeben sich interessante Aspekte: So finden sich Nachweise, dass die Aktivität der BibelleserInnen nicht auf deren Eigeninitiative beruhte, die sich nach und nach im Lauf der Jahre institutionalisiert hätte, sondern dass es sich dabei um formelle Beauftragungen handelte, die in den Sitzungen des Komitees beschlossen wurden und in den Protokollen bezeugt sind. In diesen wurden der Einsatzort und eventuelle MentorInnen bestimmt, die für die finanzielle Deckung und für eine als Gehalt festgelegte Summe sorgten. In diesem Punkt sind die Protokolle derjenigen Sitzungen des Komitees besonders aussagekräftig, die die Beauftragung Pusterlas und ihre Entlohnung zum Inhalt haben. In der Sitzung vom 21. September 1878, Art. 5, heißt es: Mailand – Man kommt überein, dass Frau Ranyard (London) sich in nobler Weise dazu bereit erklärt hatte, die Summe von zwölf Lire bereitzustellen, um den Versuch einer Bible-Woman mit der Person der Frau Pusterla zu unternehmen. Das Komitee nimmt das Angebot dankend an. Frau Pusterla wird ein monatliches Gehalt von fünfzig Lire erhalten.9
Aus dem Protokoll einer Sitzung vom 8. Mai 1879 erfährt man, dass die englische Wohltäterin, die die Tätigkeit Giuseppina Pusterlas als Bibelleserin vorangetrieben hatte, in der Zwischenzeit verstorben war. Nichtsdestotrotz beschloss das Komitee, die Beauftragung von Pusterla zu bestätigen und für ihre Bezahlung auf die Beiträge der waldensischen Brüder und Schwestern sowie deren SympathisantInnen zu vertrauen. Allgemeine Fragen, Punkte – Die Mailänder Bible-Woman (Frau Pusterla) fährt mit ihrem Werk in sehr befriedigender Weise fort, und das Komitee hegt die große Hoffnung,
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Zur Evangelisation und Lehre Pusterlas und einer teilweisen Rekonstruktion ihrer Biografie verweise ich auf meinen Aufsatz: Marina CACCHI, „Giuseppina Pusterla e l’ evangelizzazione valdese di fine Ottocento“, in Archivio per la storia delle donne 2 (hg. v. Adriana Valerio; Napoli: D’Auria, 2005), 102–125. Auch wenn aus der Analyse der Protokolle der Sitzungen des Komitees zur Evangelisierung hervorgeht, dass die offizielle Beauftragung von Giuseppina Pusterla auf den 21.09.1878 datiert wird, mehren sich seit Beginn der Korrespondenz (Ende 1877) die Hinweise auf eine Predigttätigkeit bei Familien. Die Briefe werden stilistisch immer mehr zu Dienstberichten. ATV, Verbale del Comitato di Evangelizzazione, seduta 21.09.1878. Ellen H. Ranyard verfasste eine Schrift, mit der sie Frauen ermutigte, für die Verteilung der Bibel aktiv zu werden. Siehe dazu den Beitrag von Ruth Albrecht in diesem Band.
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Marina Cacchi dass trotz des Todes von Frau Ranyard andere Freunde ihr aktives Interesse an dieser Arbeit zeigen werden.10
Weitere Protokolle der Sitzungen des Komitees aus dem Jahr 1883 bezeugen, dass die Aufgabe der Evangelisation sowohl Frauen als auch Männern ohne irgendeinen Unterschied in der Entlohnung anvertraut wurde.11 Daraus spricht der egalitäre Geist, der die Aktivitäten des Komitees bestimmte. Aus der Auswertung der Protokolle der folgenden Jahre ergibt sich, dass das Gehalt der komplexeren Tätigkeit entsprach, wenngleich es niemals mit der Anzahl der besuchten Familien direkt verknüpft war. Im Falle eines doppelten Auftrages wurde auch das Gehalt verdoppelt, und mit dem Fortschreiten der Jahre erhöhte sich die Entlohnung, vielleicht auch aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten.12 Dies lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass das Komitee im Herbst 1885 einem Bibelleser mit dem Dienstort Rom ein Monatsgehalt von 80 Lire zusprach, hingegen erhielt ein Mailänder Bibelleser zwei Jahre früher fünfzig Lire. Es ist beachtenswert, dass die Personen, die evangelisierten, über eine bezahlte Erholungszeit verfügten, da in den Protokollen keine Verminderung des Gehalts während dieser Zeitspanne erwähnt wird. Über das Recht auf eine Erholungszeit gibt es Nachweise in einem Brief von Pastor Bartolomeo Revel an den Mailänder Pastor Longo, in dem über eine übliche Ferienzeit Pusterlas gesprochen wird: „Lieber Bruder, […] vor allem habe ich gar nichts dagegen, die Erlaubnis zu geben, dass Frau Giuseppina Pusterla wie in den vergangenen Jahren im Monat August ihre Ferien nimmt.“13 1.2 Die Bibel als Grundlage ihres Wirkens Wie bereits Gian Paolo Romagnani völlig richtig erkannte, fing für die WaldenserInnen mit der Entstehung des Komitees für Evangelisation eine neue Phase ihrer Geschichte an: Nach der Vereinigung Italiens begann die Epoche der waldensischen Evangelisation im neu gegründeten Königreich, das in politischer und kultureller Hinsicht einen heterogenen Zusammenschluss, aber in Bezug auf das christliche Bekennt10 11
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ATV, Verbale del Comitato di Evangelizzazione, seduta 08.05.1879. ATV, serie IV, sottoserie 1, seduta 10., 11., 12.09.1883, art. 15: „Mailand – Auf Empfehlung des Herrn Turino [Pastor Jean David Turin] stimmt das Komitee zu, Herrn Zuliani, Küster der Kirche S. Giovanni in Conca, als Bible-Reader unter seine Leitung zu stellen, und weist ihm die monatliche Summe von L. 50 von Beginn des Monats November 1883 zu.“ ATV, serie IV, sottoserie 1, seduta 10., 11.07.1885, art. 17: „Rom – Das Komitee entscheidet, Herrn Gherardo Benincasa in Funktion eines Lehrers der Abendschule und Bibelleser definitiv in seinen Dienst aufzunehmen. Entlohnung L. 100 monatlich.“ Das Doppelamt als LehrerIn und PredigerIn war jedenfalls kein seltener Fall, Pusterla ist dafür nur ein Beispiel. Dies entsprach u. a. dem besonderen Modell der Evangelisation, welches das Komitee außerhalb der historischen Siedlungsgebiete zu realisieren versuchte. In der Nähe der Gotteshäuser – der Tempel – wurde auch der Bau von Schulen gefördert. ATV, Lettera di Bartolomeo Revel al Pastore di Milano, 20.07.1899 (doc. 363).
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nis unzweifelhaft eine Einheit bildete. Die Predigttätigkeit war Frucht der „geduldigen und hartnäckigen Arbeit dutzender Evangelisten und Wanderprediger“14, die versuchten, den christlichen Glauben auf neue Weise zu leben und zu verbreiten. Dieser Glaube war im Wesentlichen von der eigenen Bibellektüre und der unmittelbaren Beziehung der Gläubigen zu Gott geprägt. Die Leitung des Komitees wollte einer „Kirche der Dogmen“, die auf einem hierarchischen System beruhte und der Funktion priesterlicher Vermittlung einen hohen Wert zumaß, durch die waldensischen PredigerInnen eine „Kirche der Bibel“ und der einfachen Predigt entgegensetzen.15 Die WaldenserInnen strebten eine einfache und arbeitsame Gemeinschaft an, die im individuellen und methodischen Lesen der Bibel – sehr oft in der italienischen Version von Diodati16 – ihr Charakteristikum sah, das sie von den KatholikInnen unterschied. In denselben Jahren ermahnte eine protestantische Zeitschrift die evangelischen Gläubigen zu einer militanten Predigt, die „die Volksmassen aufrütteln, die Schläfer aufwecken sollte […], um das Wort des Evangeliums mitten unter die 26 Millionen Italiener zu werfen“.17 Es ist kein Zufall, dass in den Dienstberichten der LeserInnen immer wieder, fast wie ein Kehrvers, das Thema des Geschenks der Bibel oder des Evangeliums als erster Schritt in Richtung auf eine mögliche Konversion auftritt. Alle sechs Biblewomen, deren Korrespondenz ich vollständig oder teilweise untersucht habe, luden ihre GesprächspartnerInnen wiederholt dazu ein, ihnen bei der Lesung biblischer Texte zu folgen, und sie ermutigten die Familien, eine Bibel zu erwerben, um diese mit Ausdauer jeden Tag zu lesen. Dies verdeutlichen die Worte von Eugenia Arzani Poggi an eine katholische Familie, die sie besuchte. Die Familie Sasso zeigte ihr ein Buch über den heiligen Josef, das ihr vom örtlichen Pfarrer geschenkt worden war, und Arzani Poggi, nachdem sie es durchgeblättert hatte, erwiderte: Seht, meine Lieben, wenn ihr die Kenntnis der wahren christlichen Lehre hättet, welche das Evangelium Jesu Christi ist, würdet ihr verstehen, dass das, was in diesem Buch geschrieben steht, falsch ist, und diese sagten zu mir: „Leider ist es wahr, dass wir nichts davon verstehen, für uns ist die Religion nichts als Geheimnis und blinder Gehorsam.“18
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Gian Paolo ROMAGNANI, „I valdesi nel 1848: Dall’emancipazione alla scelta italiana“, in BELLION, Dalle valli all’Italia, 71–101; 96. CIGNONI, „I valdesi in Italia“, 103–130. Die italienische Bibelübersetzung von Giovanni Diodati wurde von der British and Foreign Bible Society in London veröffentlicht und über die Alpenpässe oder über die Insel Malta heimlich nach Italien gebracht und verteilt. Il Rinascimento: Giornale dell’evangelizzazione italiana, 25.11.1865, Jg. I, Nr. 2, 1. Es handelt sich um eine in Mailand zwischen 1865 und 1885 veröffentlichte, mit der Chiesa Libera verbundene Halbjahreszeitschrift. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 1, Eugenia Arzani Poggi, rapporto di servizio dicembre 1879, Napoli. Genauso verhielt sich Annina Celli im Laufe ihres ersten Besuchs bei Frau Rigo, einer überzeugten Katholikin, von der es heißt: „[…] sie war intelligent und interessiert an den Dingen Gottes. Am Anfang widmete sie mir wenig Aufmerksamkeit, dann plötzlich lieh ich ihr die von Martini übersetzte Bibel, in der einige Abschnitte gekenn-
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Arzani Poggi kommt häufig auf ihre Überzeugung zurück, dass man sich nicht „Christ nennen“ dürfe, wenn man nicht den Spuren Christi folge, und dass man nicht jemandem folgen könne, den man nicht kenne. Und ich sagte ihm: „Also antworten Sie mir, Sie, der sich katholisch nennt und damit behauptet, ein Christ zu sein, nicht wahr?“ „Sicherlich“, antwortete er. „Nun gut, sich Christ zu nennen bedeutet, Christus nachzufolgen. Wie können Sie sich Christ nennen, wenn Sie nicht die Gebote Christi kennen? Was würden Sie von einem Individuum sagen, das sich rühmte, z. B. ein Mazzinianer zu sein, und das auf die Frage, was denn die Prinzipien und die Lehren desjenigen seien, den er als seinen Lehrmeister bezeichnet, [antwortet,] er kenne diese nicht? Ich will niemanden beurteilen, aber dies ist die traurige Position der römischen Katholiken. Sie nennen sich Christen, während sie nicht einmal annähernd die Bedeutung dieses schönen Namens kennen. Sie kaufen von den Menschen, was Gott ihnen gratis gibt.“19
Arzani Poggi besitzt einen direkten und kraftvollen Stil. Sie gebraucht oft die Bibel, aber nicht wortwörtlich, sondern sie paraphrasiert eher aus einer gründlichen Kenntnis des biblischen Textes und umschreibt ihn mit der Absicht, die Heilige Schrift ihrem Gegenüber verständlicher zu machen. In der Unterhaltung mit Eugenia Liberti z. B. will sie die Nutzlosigkeit des Heiligenkultes erklären und die Notwendigkeit für die „wahren Christen“, sich direkt an Christus als den einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen und als die einzige Quelle der Stärkung zu wenden. Um ihrer Ansicht mehr Nachdruck zu verleihen, verwendet sie Mt 11,28: Der Herr will nicht, dass wir solchen, wie wir es sind, hinterherlaufen, um Trost zu finden; sondern er will, dass wir direkt zu Ihm kommen. Jesus Christus sagt uns: Kommt alle zu mir, die ihr geplagt seid und schwere Lasten tragt, und ich werde euch helfen. Kann man fürsorglichere Worte finden, die mehr Vertrauen erzeugen als diese? Ganz sicher nicht.20
Dass die Bezugnahme auf die Evangelien eine Gewohnheit und ein Fixpunkt der Arbeit der Evangelisation waren, bestätigt sich bei der genaueren Untersuchung weiterer Dienstberichte, u. a. jener von Demetra Poli, einer Bibelbesucherin in Neapel. In ihrem Bericht vom 1. Juni 1882 schreibt sie an einen Pastor, den „verehrtesten Herrn Pons“, über ihren Besuch: „Wie gewöhnlich las ich ihnen ein Kapitel aus dem Evangelium vor.“ Sie las ihrer Gesprächspartnerin aus dem Neuen Testament Wundergeschichten Jesu vor, darunter die von der Auferweckung der Tochter des Jaïrus und von der Heilung der seit zwölf Jahren an Blutfluss leidenden Frau (Mt 9,18–22). Ihre Gesprächs-
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zeichnet waren.“ ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio di marzo 1893, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 1, Eugenia Arzani Poggi, rapporto di servizio gennaio 1880, Napoli. Giuseppe Mazzini (1805–1872) war ein italienischer Publizist, Politiker und Freiheitskämpfer, der sich im Zuge des Risorgimento auf der einen Seite stark antikirchlich positionierte und auf der anderen Seite sozial-religiöse Reformideen vertrat. Vgl. Hugo OTT, „Mazzini, Giuseppe“, LThK 7 (31998), 19f. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 1, Eugenia Arzani Poggi, rapporto di servizio dicembre 1879, Napoli.
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partnerin zeigte sich zunächst beeindruckt, entgegnete dann aber, dass sich die Leute in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr mit spirituellen Dingen beschäftigten, und fügte hinzu, dass sie selbst, auch wenn sie wollte, nicht die Zeit dazu habe, da sie sich um zahlreiche kleine Kinder kümmern müsse. Poli versuchte das Hindernis zu umgehen, zeigte Verständnis, ließ jedoch nicht locker: Das verstehe ich, aber es ist unsere Pflicht, ein wenig das Wort Gottes zu lesen, um zu lernen, seine Wege zu gehen, und wer wirklich Christ ist, fühlt das Bedürfnis, an der Evangelisation teilzunehmen, um Erbauung zu finden und vollständig den Willen Gottes kennenzulernen.21
Das Ziel einer vertieften Kenntnis der Evangelien und der Wunsch, dass sich das Wissen nicht auf eine oberflächliche und ungenaue Lektüre der Heiligen Schrift beschränke, sondern sich im Gegenteil in alltägliche Praxis verwandeln sollte, wurden kontinuierlich thematisiert. Im Brief vom 2. Dezember 1903, der den Dienstbericht des Monats November enthält, schreibt die Bibelfrau Emma Celli:22 Ich hielt eine kleine Andacht mit Gebet in zehn Häusern. In den für evangelisch angesehenen [man beachte die Formulierung!] Familien fand ich leider mehrfach tiefgehende moralische Lücken vor; und wie Sie selbst in einer Ihrer Ansprachen sagten, musste ich ein nicht geringes Unwissen, was das Evangelium betrifft, feststellen.23
Eine direkte, persönliche und tiefreichende Kenntnis der Heiligen Schrift war also kein abstraktes christliches, im Zuge der Evangelisationstätigkeit vorgetragenes Ideal, sondern vielmehr ein kategorischer Imperativ, dem in erster Linie die Evangelischen selber folgen sollten. Wenn dies nicht verwirklicht wurde, war es Aufgabe der Bibelfrauen, auch die Glaubensbrüder und -schwestern zu ermutigen, zu korrigieren oder zurechtzuweisen, die sich aufgrund von Verfolgung oder innerer Schwäche von den biblischen Prinzipien und dem Weg der Wahrheit entfernt hatten. Ein beredtes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die deutliche Ermahnung, die Annina Celli gegenüber Bruder Rigo aussprach, der für schuldig befunden wurde, den eigenen evangelischen Glauben seinen Verwandten und insbesondere seiner alten Mutter zuliebe zu verleugnen. Annina Celli befürchtete, dass hinter dieser Entscheidung in Wirklichkeit wirtschaftliche Beweggründe stünden, und sie geriet außer sich. Nachdem 21
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ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 5, Demetra Poli, rapporto di servizio giugno 1882, Napoli. Es handelt sich um ihren ersten Monatsbericht an Pastor Longo. Celli übte ihren Dienst als Biblewoman in Turin aus. In der Einleitung ihres ersten Briefs schreibt sie: „Verehrter Herr Longo, ganz offen sage ich Ihnen, dass ich mit großem Bangen das mir von Ihnen angebotene Werk als ‚Donna Biblica‘ annahm, wegen meiner Zurückhaltung und meiner Unfähigkeit, ein so großes Werk zu vollbringen. Aus dem lebhaften inneren Bedürfnis aber heraus, dieser Welt ein bisschen weniger unnütz zu sein, nahm ich es an, von ganzem Herzen im Vertrauen auf die Hilfe Gottes.“ ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 3, Emma Celli, rapporto di servizio novembre 1903, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 3, Emma Celli, rapporto di servizio 02.12.1903, Torino.
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sie mit seiner Ehefrau gesprochen hatte, machte sie sich auf den Weg zum Arbeitsplatz des Mannes. In ihrem Bericht klingen mehrere Bibelverse an (Mk 3,28f.): Ich begab mich sofort zu ihrem Ehemann in die Wachstube, der, als er mich sah, nicht wenig überrascht war und versuchte, die ganze Sache herunterzuspielen: Er habe doch seine Mutter zufriedenstellen müssen […] im Übrigen fühle sein Herz nach wie vor […] was auch immer er nach außen hin gezeigt hätte, seine Gedanken wären die gleichen und würden es bleiben […] „Oh!“, sagte ich, „wenn Sie sich für unseren Herrn Jesus schämen, wird dieser sich für Sie im Angesicht seines Vaters schämen […] aber wissen Sie nicht, dass Sie dabei sind, eine Sünde zu begehen, die Ihnen nie mehr vergeben werden wird? […] versündigen Sie sich nur gegen den Heiligen Geist! Ganz bestimmt machen Sie es aus Berechnung […] es kann gar nicht anders sein! Zahlen die Ihnen Ihre Schulden?“24
2. Giuseppina Pusterla: Von der Lehrerin zur Predigerin Die Korrespondenz Pusterlas erstreckt sich über den langen Zeitraum von 1865 bis 1907 und erfährt im Zusammenhang mit ihrer Beauftragung zur Biblewoman eine deutliche Wende. Zwischen der Amtsübernahme, die nach den Akten des Komitees im September 1878 stattfand, und ihren Briefen besteht ein Abstand von ca. sechs Monaten. Bereits der Brief vom 29. Dezember 1877 enthält ihren Dienstbericht desselben Monats, in dem sie über ihre Arbeit der Evangelisation schreibt: Verehrter Herr Pastor Longo, ich danke Ihnen unendlich, dass Sie sich aus Liebe zum Werk des Herrn bezüglich der Arbeit, die bereits die hochgeschätzte Frau Turino begonnen hatte [sie bezieht sich auf die Ehefrau des Pastors Jean David Turin], an die verehrteste Kommission25 wandten, um die Mittel zur Fortführung dieser Arbeit zu erhalten. Ich werde also meine früheren Besuche wieder aufnehmen, drei weitere neue Familien ließ mich der Herr finden, wie ich Ihnen schon mitteilte. Gesprächspartner zu finden ist nicht so schwer, die Probleme treten dann im Folgenden auf, wenn man sich in der Diskussion auf die Heilige Schrift bezieht, die besagt „Bete einen Gott an und diene nur Ihm alleine. Gott ist Geist, also sollen diejenigen, die ihn verehren, ihn im Geist und in der Wahrheit verehren und nicht in der Materie.“ [Joh 4,23f.] Oh, dann wird die ganze Sache ernst, wenn man alte Gewohnheiten aufgeben muss wie die Verehrung der Heiligen und Madonnen, die Messe und die Beichte beim Priester […].26
In diesem Brief spricht Giuseppina Pusterla von früheren Besuchen, was darauf schließen lässt, dass sie die Predigtarbeit schon vorher, wenn auch nicht in offizieller Form, ausführte. Man kann vermuten, dass es sich hierbei um gelegentliche Besuche bei Familien mit Kindern, die die evangelische Schule besuchten, handelt. Unter dem 24
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ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio novembre 1894, Torino. Der Gebrauch des Beiworts „hochverehrt“ war für die Tavola Valdese recht typisch. ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio dicembre 1877, 29.12.1877, Milano.
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Datum des Briefes befindet sich die Aufschrift „Biblewoman-rapporto“, ein weiterer Nachweis dafür, dass dieses Dokument von Anfang an als vollwertiger Dienstbericht erstellt worden ist. Aber die Handschrift ist zweifelsfrei nicht diejenige Pusterlas. Alles weist darauf hin, dass diese Anmerkung von Pastor Longo stammt und einer schnellen Archivierung dienen sollte. Eins ist sicher: Von diesem Brief an nimmt die Korrespondenz Pusterlas immer mehr die Form einer periodischen Berichterstattung oder besser gesagt eines Dienstberichtes an. Der Raum für theologische Themen, die während der Besuche diskutiert wurden, wächst dabei ständig. Sie erwähnt zunehmend mehr Abschnitte aus der Heiligen Schrift, die sie gemeinsam mit ihren katholischen oder auch evangelischen GesprächspartnerInnen las. Wenn sie die waldensischen Geschwister besuchte, las sie vorzugsweise Kapitel der Psalmen oder Abschnitte des Alten Testamentes, vor allem des Propheten Jesaja. Für gewöhnlich beschloss sie das Zusammentreffen mit einem gemeinsamen Gebet. Wenn sie katholische oder nichtgläubige Familien besuchte, zitierte und las sie häufig aus dem Neuen Testament, vor allem aus den Evangelien und den Briefen des Apostels Paulus. Ohne Zweifel finden sich unter ihren späteren Briefen solche mit stärkerem theologischen Nachdruck, besonders in den Jahren 1894–1899. Sie richteten sich an die drei Pastoren Matteo Prochet, Paolo Longo und Bartolomeo Revel. 2.1 Evangelisation durch die Bibel In ihrem Dienstbericht vom 1. November 1894 erwähnt Giuseppina Pusterla ihren Besuch im Haus der Katholikin Carolina Giannotti, wo sich auch eine Nachbarin, Frau Moneta, befand. Pusterla erklärte die Person Christi. Sie beschrieb ihn als einzige Möglichkeit der Reinigung von den Sünden durch seine Rolle als einziger Mittler zwischen Gott und den Menschen. Sie verfolgte dabei das Ziel, den Glauben ihrer katholischen GesprächspartnerInnen an das Fegefeuer zu zerstören und die Nutzlosigkeit von Gebeten oder anderen religiösen Praktiken aufzuzeigen, mittels derer sich die Rettung verdienen oder selbst erarbeiten ließe. Mit einem entschieden sarkastischen Ton, der ihr eigentlich gar nicht entspricht, stellt sie fest: Von dort [aus dem Fegefeuer] kommt man nicht heraus, außer man bezahlt den Priester. […] Lest die Gebote Gottes, und Ihr werdet nichts von den ganzen Lehren finden, die die Kirche erfunden hat.27
Im Dienstbericht vom Dezember 1894 an den amtierenden Präsidenten des Komitees der Evangelisation, Matteo Prochet, erklärt Pusterla, dass, auch wenn „die Konversion vom Herrn ausgeht“, sie mit ganzer Kraft ihren Teil dazu beitragen wolle: Verehrter Herr Prochet, Gott sei Dank beginne ich auch in diesem Jahr mit meinen Besuchen, möge Er sie vermehren und mich nach der Wahrheit dürstende Seelen finden
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ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36c, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio ottobre 1894, lettera del 01.11.1894, Milano. Der Adressat ist Pastor Matteo Prochet.
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lassen! Und ja, ich werde glücklich sein, diese zu Ihm zu führen, aber von alleine vermag ich rein gar nichts!28
Gleich nach der Einleitung beginnt der Bericht über die besuchten Familien: Bei der ersten handelt es sich um eine katholische Familie, deren Hausherrin als „Sympathisantin“ beschrieben wird, neugierig darauf, die Wahrheit des Evangeliums kennenzulernen. Von dieser Frau sind in zahlreichen weiteren Berichten Spuren zu finden: Ich bin immer froh, Frau Rosa Molina, eine Katholikin, zu besuchen, weil diese Frau das Bedürfnis hat zu lernen; sie setzt sich zu meinen Knien, legt ihre ganzen Sorgen beiseite und hört begierig das Wort Gottes wie Maria. Die gute Frau bittet ihren Ehemann, Feuer anzuzünden, um mich aufzuwärmen, da ich vor Kälte zitterte, und je weiter ich mit der Lesung aus dem Kap. 13 des heiligen Lukas und dem religiösen Gespräch fortfuhr, wandte sich unsere Aufmerksamkeit immer mehr dem Gleichnis von dem Feigenbaum zu. Die Molina [unklar] hörte alles aufmerksam an und blickte mir direkt ins Gesicht, und mit einem Kopfnicken stimmte sie dem zu, was ich sagte. Die Frau war ganz glücklich darüber, wie aufmerksam ihr Mann das Wort Gottes hörte.29
Bei der Beschreibung ihrer Gesprächspartnerin bezieht sich Pusterla deutlich erkennbar auf Maria, die Schwester Martas, die in der Perikope des Evangelisten Lukas die häuslichen Arbeiten aufschiebt, nur um das Wort Jesu zu hören. Mit der Verwendung der Worte Jesu scheint Giuseppina Pusterla sagen zu wollen, dass Rosa Molina, genau wie Maria, „das Bessere gewählt“ hat, das ihr „nicht genommen werden“ soll (Lk 10,42). 2.2 Empfehlungen zur Bibellektüre Wenige Seiten weiter im selben Bericht erzählt Giuseppina Pusterla von ihrem Besuch bei zwei Katholikinnen, von denen eine Witwe war: Ich sprach vom Evangelium und vom Neuen Testament […] und dann sagte Frau Moneta zu mir: „Wie angenehm ist es, über die Heilige Schrift sprechen zu hören, viele Dinge kannte auch ich, weil ich ein Buch besaß, das viele Dinge aus dem Alten und Neuen Testament enthielt.“ Ich sagte ihr: „Nicht nur ist es erfreulich, von der Heiligen Schrift sprechen zu hören, um den Willen Gottes und den Weg zu Jesus kennenzulernen, um gerettet zu werden. Jesus befindet sich unter denen, die über ihn reden.“ Frau Giannotti: „Wirklich Giuseppina? Also befindet er sich jetzt unter uns, da wir über Jesus reden?“ – „Sicherlich“. [Ich las] das Evangelium Johannes, Kap. 24. [Kap. 14] von Vers 13 bis zum Ende.30
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ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio dicembre 1894, 01.01.95, Milano. Pusterla verwendet hier eine Formulierung aus der Bergpredigt (vgl. Mt 5,6). ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio dicembre 1894. ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio dicembre 1894.
Dienstberichte der waldensischen Biblewomen
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In diesem Brief werden zehn Bibellesungen bei insgesamt 35 besuchten Familien erwähnt. In dem Bericht vom Mai 1899 ist das Verhältnis zwischen gelesenen Bibelabschnitten und besuchten Familien ungefähr das gleiche: Bei insgesamt 32 aufgesuchten Familien kommt es zehn Mal zur Lektüre von Bibelabschnitten. Besonders dieser Monatsbericht vom 1. Juni 1899 ist unter theologischen Gesichtspunkten einer der interessantesten, weil verschiedene Themen zur Debatte stehen: Rettung und Heil, die Erlösung von den Sünden sowie das Verhältnis der Kirchen zueinander. Der Bericht ist auch wegen des Predigtstils von Pusterla beachtenswert: direkt, einfach und wirkungsvoll sowie auf das tägliche Leben ihrer GesprächspartnerInnen Bezug nehmend. Die Beispiele, die sie benutzt, sind aus ihrem sozialen Umfeld genommen, und obwohl sie ziemlich vereinfacht sind, dienen sie dazu, tiefgehende theoretische Konzepte verständlich zu machen. Obwohl sie wahrscheinlich aus Gründen sozialer Konvention Frauen als Gesprächspartnerinnen vorzog, versuchte sie, wo es möglich war, auch die männlichen Familienmitglieder in die Diskussionen miteinzubeziehen. Ein Beispiel dieses Stils wird in der Beschreibung des Besuchs bei Letizia Pesini, einer Katholikin, deutlich. Bei dieser Gelegenheit ist auch die Schwester der Hausbesitzerin anwesend, mit der Giuseppina Pusterla schon in der Vergangenheit über religiöse Themen gesprochen hatte: Ich begann damit, wieder über Religion zu sprechen […]. Ich hatte außerdem das Evangelium von Lukas in der Tasche und bot es der Frau an, und sie sagte: „Und wie ist es mit der Rückgabe? Ich reise in ein paar Tagen aus Mailand ab.“ „Das macht nichts, behalten Sie es, und falls Sie es mir zurückgeben wollen, geben Sie es mir nur in aller Ruhe, oder behalten Sie es, wenn Sie möchten.“ „Ich werde es aber schnell lesen, bis morgen werde ich es gelesen haben, und dann werde ich Ihr Buch meiner Schwester da lassen.“ „Machen Sie, wie Sie wollen, aber beachten Sie nur, dass dieses Buch nicht wie ein normales Buch gelesen werden soll. Bei der Lektüre des Evangeliums spricht Gott zu uns, weswegen man wenig lesen und viel denken sollte.“31
„Wenig lesen und viel denken“ – dies ist die von Pusterla den AnfängerInnen empfohlene Methode, insbesondere für jene, die sich das erste Mal den Seiten der Bibel nähern. Sie betont, dass es sich bei der Bibel um ein Buch handelt, das nichts mit den anderen Büchern aus dieser Zeit zu tun hat. Während eines Besuches bei einer Frau und deren Nachbarin sagt Pusterla: Meine Lieben! Unser Volk ist in Fragen der Religion so schlecht erzogen, das System der römischen Kirche ist zu materiell, und außerdem lehrt es, diejenigen zu hassen, die nicht so denken wie sie. Hingegen sagt das Gebot Gottes: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, und Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ […] Würde man diese Gebote so ausführen, wie schön wäre dann das Leben unter den Christen. Die Kirche hat aber andere Gebote erfunden, die Beichte vor dem Priester, die Rettung durch gute Werke usw. Hingegen sagt uns Jesus, der Herr: „Mein Blut wird euch rein machen von aller Sünde.“ [vgl. 1 Joh 1,7] Nur der Herr selbst sieht euch sündigen, der Priester hingegen hört euch, aber er kann nicht bis in die Tiefe eurer Herzen sehen. 31
ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio maggio 1899, 01.06.99, Milano.
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Marina Cacchi Außerdem ist auch der Priester ein Sünder, und so kann er unsere Sünden nicht vergeben. Gehen wir also zu Gott, der uns alles vergeben möchte und vergeben wird, wenn wir von ganzem Herzen zu ihm gehen.32
In diesen Worten sind einige Schlüsselelemente des reformierten Gedankenguts enthalten: die Notwendigkeit einer persönlichen Kenntnis der Heiligen Schrift, die Öffnung und der Dialog mit anderen Glaubensrichtungen, der unmittelbare Kontakt zwischen den Gläubigen und Gott, die Rettung allein durch den Glauben. Die Sprache ist zwar einfach, aber die Botschaft ist klar und stimmt genau mit den reformatorischen Überzeugungen überein. Wenige Seiten weiter im selben Bericht kommt Pusterla auf das Thema des Heils zurück, um nochmals zu unterstreichen, dass dieses einzig von Christi Sühnopfer abhängig ist: Ich habe vor, das 9. Kapitel des Lukasevangeliums zu lesen. „Die Verklärung Jesu?“ – fragt ihre Gesprächspartnerin – „Genau.“ Ich beginne zu lesen, und dann haben wir uns hauptsächlich über den Vers 35 „Und eine Stimme aus der Wolke usw.“ unterhalten. Der Vater hat uns so sehr geliebt, dass er uns Seinen Göttlichen Sohn gegeben hat, um uns zu retten. Er spricht zu uns aus den Wolken: „Dies ist mein lieber Sohn; auf den sollt ihr hören!“ Ganz ohne Zweifel und feierlich hat der Vater ihn vom Tabor aus, so wie er es vorher schon am Jordan gemacht hatte, zu seinem Sohn erklärt. Hören wir also auf diesen vertrauenswürdigsten aller Prediger, und hören wir nicht auf die Stimmen der Welt, die von ganz anderen Dingen sprechen, als die Himmelstimme. Jesus hat sich selbst für uns geopfert, und seine Schafe kennen seine Stimme und folgen ihm. Wir werden nicht dem Fremden folgen, der uns auf Abwege führt. Vor einigen Abenden predigte ein Fremder und sagte: „Wer von euch in der Lage sein wird, keinem protestantischen Häretiker zu folgen, wird 30 Tage Ablass bekommen, und wer in der Lage sein wird, ihn zum katholischen Glauben zu bekehren, der wird 100 Jahre Ablass bekommen.“ Auf diese Stimmen dürfen wir nicht hören, sondern nur auf das Wort Gottes.33
Es ist ein Aufruf, der keine Wahl lässt: Die Rettung ist einzig und allein Christi Sühnopfer, seiner selbstlosen Tat zugunsten aller Menschen, zu verdanken. Es ist unnötig, das Heil woanders zu suchen oder so naiv zu sein, zu glauben, dass es durch eigene Verdienste entstehen könne, und noch viel weniger durch den Ablasshandel mit irgendeinem Prediger, wenn man es doch direkt vom „Prediger der Prediger“ bekommen kann. 34 32 33 34
ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio maggio 1899. ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36, Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio maggio 1899. Die Stellungnahme dieser Biblewoman ist grundsätzlich vereinbar mit der These der reformierten Lehre, wonach die Rettung allein durch den Glauben (sola fide) und dank der Prädestination geschieht. Gott hat die Welt und den Menschen ad maiorem Dei gloriam geschaffen. Er hat von Anfang an manche zur Rettung prädestiniert und andere zur ewigen Verdammung. Der Mensch kann auf keine Weise diesem unabänderlichen Urteil entgehen: Kein Sakrament, keine Zeremonie, keine Vision können ihm helfen oder die göttliche Fügung ändern. Die WaldenserInnen schlossen sich im 16. Jahrhundert mehrheitlich dem reformierten Zweig der Reformation an und wurden dadurch zu einer reformierten Territorialkirche.
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3. Annina Celli: Von einer Katholikin zur evangelischen Arbeiterin Mir wurde vorgeschlagen, von einer Person, der gegenüber ich großen Respekt habe, irgendeine Tatsache oder ein Ereignis zu beschreiben, das mir hier in Turin während meiner Tätigkeit als Bibelleserin passierte. Ich habe versprochen, dass ich es tun werde, und versuche es, jedoch mit großer Unentschlossenheit. Ich weiß nämlich, wie wenig es mir gelingen wird, man bräuchte viel mehr Intelligenz und Bildung und [...] nicht meine einfache Feder! Deswegen werde ich sehr glücklich sein, wenn man mich wenigstens verstünde und für mich Verständnis zeigte.35
Dies sind die ersten Worte von Annina Celli als neubeauftragter Bibelleserin in Turin im März 1893. Am 2. Dezember 1894, nur ein Jahr nach diesem zaghaften Beginn, schreibt sie: Ich bedanke mich bei Ihnen dafür, dass ich weiterhin die Möglichkeit bekam, lettrice biblica zu werden. Ich werde das Mögliche tun, um bei der Verbreitung der Heiligen Schrift nützlich zu sein und somit vielen Herzen die unendliche Liebe Gottes, die durch seinen Sohn bezeugt wurde, nahezubringen. Ich füge meinen Bericht bei, dem ich an jedem Monatsende noch andere folgen lassen werde, wie der Herr Präsident, Matteo Prochet, mir auftrug. Ich werde versuchen, diese kurz zu halten, um diejenigen, die sie lesen werden, nicht allzu sehr zu langweilen.36
3.1 Konversion aufgrund der Faszination der Heiligen Schrift Es wird offensichtlich, dass Annina Celli sich in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Dienstbericht sehr veränderte, obwohl nur wenige Monate dazwischen lagen. Sie gab sich nicht mehr damit zufrieden, „verstanden zu werden und Verständnis zu erhalten“, weil sie genau wusste, dass sie nicht eine ansprechende weltliche Kultur vermitteln wollte, sondern den „unschätzbaren und erhabenen Schatz“ der Heiligen Schrift. Im Bewusstsein, dies zu können, wollte sie sich nützlich erweisen, indem sie die Bibelkenntnis in den Familien des ihr anvertrauten Gebietes verbreitete. Ihre Aufgabe wollte sie planmäßig mit Eifer und Entschlossenheit erledigen. Ihre monatlichen Berichte sind pünktlich und selten knapp, in diesem Sinne bleibt sie dem Versprechen, „sich kurz zu fassen“, nicht treu. Sie schrieb immer am zweiten oder dritten Tag des Monats. Celli berichtete genau, gab die Namen und die Adressen jener Familien an, die sie nicht erreichen konnte. Vermutlich geschah das nach ausdrücklicher Nachfrage des Komitees. Sie gibt ein Gesamtbild der besuchten Familien und informiert nicht nur über deren Konfession, sondern auch über die sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Verhältnisse der Familienmitglieder. Annina Celli zeigt ein tiefes Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit der Charakterisierung ihrer GesprächspartnerInnen. Ihre 35
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ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio marzo 1893, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio novembre 1894, Torino.
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Empathie hängt zum Teil damit zusammen, dass auch sie und ihre Familie einem katholischen Umfeld entstammen. Celli gehörte nicht einer alten waldensischen Familie an. Sie, eine ehemalige Katholikin, konvertierte wie die von ihr besuchten Frauen und Männer, die in der „seelischen Finsternis“ herumirrten. Dieser Aspekt ihrer Biografie ist besonders interessant, weil er zeigt, dass das Komitee für Evangelisation bei der Anwerbung seiner MitarbeiterInnen der Herkunftsfamilie oder den familiären Bindungen keinen besonderen Wert beimaß. Dass die Tatsache, Katholikin gewesen zu sein, kein Problem für sie war, wird auch dadurch unterstrichen, dass sie selbst in ihren Briefen offen davon spricht. Dieses biografische Element setzte sie ein, um ihre GesprächspartnerInnen davon zu überzeugen, dass nichts Falsches an einem Glaubenswechsel sei und dass man nichts verliere, sondern im Gegenteil viel dazugewinne. Ich wurde römisch-katholisch geboren, und es war für mich von großer Hilfe, frommen Seelen zu sagen, dass „auch ich einst war, wie sie sind. Schon als Kind hatte ich tiefe religiöse Bedürfnisse. Wie oft habe ich Buße geleistet, wie viele Kreuzzeichen habe ich gemacht, wie viele Rosenkränze schlecht wiederholt, wie viele Küsse für Kreuze und Heiligen- und Madonnenbilder, und wie viele andere katholische Frömmigkeitsübungen habe ich ausgeführt!“ Auf dieses mein Bekenntnis wurde mir oft mit Erstaunen zugerufen: „Und Sie konnten all das hergeben, um Protestantin zu werden?“37
Im Dienstbericht vom 6. August 1896 zitiert Annina Celli eine Episode, die sich während ihres Besuchs bei Frau Muris ereignete, einer Katholikin, die mit einem waldensischen Glaubensbruder verheiratet war, der, wie Celli stechend bemerkt, „mir leider nicht einer der eifrigsten zu sein scheint“.38 Herr Muris sagte im Beisein seiner Frau zu Celli, dass er es vorziehen würde, dass sie katholisch bliebe: „Jeder, so wie er geboren wurde!“ Celli zeigte sich irritiert und konnte nicht glauben, dass ein Glaubensbruder das, was sie eben gehört hatte, gedacht und gesagt haben konnte. Sie antwortete spontan: „Auch ich war Katholikin und bin konvertiert, ohne es jemals bereut zu haben, im Gegenteil [...] wie viele Tröstungen wurden mir zuteil und mit mir zusammen meiner ganzen Familie.“39 Ihre Fähigkeit zur Empathie kommt auch hier zum Vorschein. Vielleicht auch in Erinnerung an ihre eigenen Ängste und Vorbehalte bei der Bekehrung versichert sie: […] sicherlich muss man niemanden zwingen […] außerdem sind die Unterschiede zwischen den zwei Konfessionen nicht so groß: Wir haben denselben Gott, Vater, Sohn und Heiligen Geist. Denselben Erlöser […]. Nur ist die Religion bei den Evangelischen rei37
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ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio febbraio 1893, 03.03.1893. Auch im Dienstbericht vom November 1894 hält sie die emotionale Reaktion einer Frau fest, die sie regelmäßig besuchte und die über die Nachricht von ihrer Konversion Folgendes äußerte: „Sie haben unsere Heilige Mutter Kirche verlassen! Ach, werden Sie wieder, wie Sie vorher waren! Ich liebe Sie sehr, aber ich würde Sie noch mehr lieben, wenn Sie zu Ihrem vorherigen Glauben zurückkehren würden.“ ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio luglio 1896, 06.08.1896. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio luglio 1896.
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ner: Sie ist genauso, wie unser Herr Jesus Christus und seine Apostel sie uns gegeben haben.40
3.2 Beispiele ihres Wirkens Celli beweist einen tiefen Respekt vor den Gläubigen, auch wenn diese einer anderen Glaubensrichtung angehören. Was sie jedoch nicht erträgt, ist Gleichgültigkeit, also „weder heiß noch kalt“ zu sein (Offb 3,16). Sie meint damit diejenigen, die sich „zu gebildet im weltlichen Wissen“ wähnen und sich der Botschaft des Evangeliums „überlegen“ fühlen. In ihrem Dienstbericht vom Juli 1896 wird der Besuch bei Frau Merini erwähnt. Wie bereits bei anderer Gelegenheit registriert Celli bei ihr eine „große religiöse Kälte“ und fügt hinzu: „Ich glaube, dass es nur einen Gedanken gibt, der imstande wäre, sie ziemlich aufzurütteln: die Furcht, dass ihr Desinteresse gestört werden könnte.“41 Der gleiche Unmut taucht wenige Seiten später wieder auf, als sie über den Besuch bei Frau Oliviero schreibt, von der sie behauptet, dass sie diese „nicht katholisch nennen kann“: Da sie im weltlichen Wissen sehr gelehrt ist, möchte sie sich nicht der Einfachheit der Evangelien unterordnen […] sie möchte nicht an die Wunder des Herrn Jesus glauben, an seinen Opfertod, seine Auferstehung und Himmelfahrt. Diese Sachen kann sich ihr Verstand mit seinem fortgeschrittenen Wissen nicht erklären.42
Noch erbitterter wirkt sie nach dem Besuch bei der Witwe Bruno. Im Bericht vom Juni 1895 schreibt sie, dass sie diese apathisch und gleichgültig finde. Am schmerzhaftesten sei die Tatsache, diese in einem solchen Zustand anzutreffen, weil Celli genau weiß, dass die Witwe seit zehn Jahren die Bibel besitzt und sogar ihre Tochter im evangelischen Glauben erzogen hat. „Die Mutter so gleichgültig zu sehen, weder evangelisch noch katholisch, tat mir wirklich leid“, berichtet Celli.43 Dagegen bewundert sie fromme KatholikInnen, also diejenigen, die, obwohl sie irren, ehrlich in ihrem Glauben sind: „Ich besuchte Frau Perotti im Krankenhaus Cottolengo. Sie ist immer noch katholisch, ehrlich und fromm.“44 Während ihrer Familienbesuche, sowohl bei katholischen als auch bei evangelischen ChristInnen, las Celli oft ganze Kapitel der Evangelien, Absätze aus dem Neuen 40
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ATV, 1896. ATV, 1896. ATV, 1896. ATV, 1895. ATV, data.
serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio luglio serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio luglio serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio luglio serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio giugno serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio senza
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Testament, aber auch Psalmen vor, insbesondere Ps 16; 34 und 51.45 Es handelt sich hierbei um besonders ermutigende Texte für die Glaubensschwestern und -brüder, die sich in Not befinden. Sie las auch Auszüge aus dem Alten Testament, vor allem Stellen aus den Büchern Jesaja und Exodus. In einem Fall verdeutlicht sie die Gründe, weshalb ProtestantInnen Heiligenbilder ablehnen. Celli zitiert aus Ex 20 das Zweite Gebot: Ich nahm die Bibel, las die Gebote in Exodus und sagte: „Sehen Sie, warum die Protestanten weder Skulpturen noch Bilder [dulden]! Nach diesem Gebot des Herrn, können wir uns da die Dinge noch mit unserer beschränkten Intelligenz zurechtlegen? [vgl. Ex 20,3–5].“46
Ein paar Seiten weiter bezieht sich Annina Celli im selben Bericht wiederum auf die Gebote, die Gott am Sinai Mose gab, und zitiert deswegen dieselbe Stelle: „Haben sie das Zweite Gebot gesehen? Was für ein Verbot! Allein nur deswegen müsste die römische Kirche alle ihre Tempel, die voller Bilder sind, schließen!“ Bei Gelegenheit verlieh oder verschenkte Celli Bibeln (in der Übersetzung von Martini) oder Evangelien (in der Übersetzung von Diodati) und nicht genauer spezifizierte „evangelische Bücher“ unter dem Vorwand, bald wieder zurückzukehren, um gemeinsam einige Stellen zu lesen. Sie hatte das Bedürfnis, bei ihrer Verkündigung des Evangeliums öfters Verse aus der Bibel zu lesen, wozu anscheinend auch das Komitee aufgefordert hatte. Ihren Wunsch nach mehr Bibellektüre bringt sie offen zum Ausdruck: Ich würde gerne öfters die Bibel lesen in den Familien, die ich besuche, und leide darunter, dass ich es nicht kann. Jedoch habe ich selten die Möglichkeit, dies zu tun: Möge Gott mir die Durchführung dieser Pflicht erleichtern.47
Die Aufforderungen zur Lektüre fehlten nicht. Während eines Besuches bei Frau Scala, einer ehemaligen Katholikin, die durch Erfahrungen ihres eigenen Unglaubens entmutigt und enttäuscht war, ermunterte Celli diese, das Beten nicht aufzugeben und ihren schwachen Glauben durch die regelmäßige tägliche Lektüre der Heiligen Schrift zu
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Vgl. z. B. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio novembre 1894, 8: Während ihres Besuches bei der kranken und hilfsbedürftigen Glaubensschwester Carolina Ferrari las Celli den ganzen Ps 34. Im selben Bericht erzählt sie von ihrem Besuch bei der katholischen Frau Lora. Da diese nicht lesen konnte, aber sich mit größtem „Interesse und Vergnügen“ das Evangelium anhörte, gab Celli ihrem ältesten Sohn den Auftrag, der Mutter noch am gleichen Abend diesen Psalm vorzulesen. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio 02.03.1895, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio 02.03.1895. Im Bericht vom November 1894 beklagte Celli sich darüber, dass es in Turin keine Orte gebe, an denen die Bibel frei zu erwerben sei: „Wie gut wäre es, wenn es hier in Turin die Bibel, das Neue Testament und religiöse Traktate zum Verkauf gäbe!“
Dienstberichte der waldensischen Biblewomen
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stärken.48 Während des Besuchs bei der Glaubensschwester Barbero, die beschuldigt wurde, der adventistischen Predigt gegenüber empfänglich zu sein, fordert Celli diese auf, sich keinen Augenblick von der Lehre der Bibel zu entfernen, die „unsere einzige Glaubensregel sein muss“.49 Im selben Bericht bringt sie ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass die Bibel kein schwer zu verstehender Text sei, der unklar wäre. Die Möglichkeit, diesen Aspekt zu betonen, der im Zentrum der reformierten Lehre steht, wird ihr durch das Beispiel des Vaters der Glaubensschwester Gillone gegeben. Dieser war nach Cellis Worten ein ehemals überzeugter Katholik, ein „einfacher Bauer mit sehr wenig Bildung“, der dank der Aufforderungen seines Schwiegersohnes von sich aus fast die ganze Bibel gelesen hatte und sich im Alter dem evangelischen Glauben annäherte. Cellis Unterrichtsmethode bestand nach ihrer eigenen Beschreibung darin, sich nicht gegen die Lehren der katholischen Kirche zu wenden, wenn im Herzen der Menschen die Kenntnis des Evangeliums noch nicht gefestigt war. Ich finde, dass es notwendig ist, die verfinsterten Herzen zu bemitleiden und also mit großer Sanftheit und Liebenswürdigkeit verhängnisvolle Fehler zu entfernen. Und als Erstes Gottes Belohnung [...] die große Belohnung durch Gottes Verheißungen, seine Vergebung, seine Tröstungen […] seinen Frieden hineinzulegen!50
Diese Strategie wird im selben Bericht wenige Seiten weiter noch prägnanter dargestellt: Manchmal glaube ich, dass es in einigen Fällen gut ist, nicht zu sagen, dass wir Protestanten sind. Wir müssen erst ermöglichen, dass die großen Gaben des Evangeliums und die Freude, die dadurch Herzen gespendet wurden, geschätzt werden [...] so werden die Katholiken nicht von vornherein vom Aberglauben und den Vorurteilen, die unserer Position anhaften, erschreckt. Sie werden das Licht, das uns umgibt, sehen, und es wird einfacher sein, sie zu dem einzig wahren Gott und seinem Gesetz zu bringen.51
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Vgl. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio 06.08.1896, Torino. Bereits in einem Brief vom März 1895 erwähnte Celli die Besuche bei Frau Scala. Bei der Gelegenheit forderte sie diese auf, die Gottesdienste wieder zu besuchen und die Evangelien zu lesen. Frau Scala gab aber zu, dass sie das nicht mehr tun könne, weil der örtliche Priester, Don Pjalla, ihr während eines Besuches das Evangelium abgenommen hatte. Frau Scala versprach, dass sie so bald wie möglich den Priester bitten werde, ihr das Evangelium zurückzugeben. Celli aber schickte ihr „zur Sicherheit“ noch am selben Tag das Evangelium des Matthäus. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio 02.03.1895, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio marzo 1893, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio marzo 1893, Torino.
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4. Zu den Arbeitsbedingungen der Biblewomen Die detaillierten Dienstberichte der Biblewomen, jener Arbeiterinnen der Kirche, faszinieren, bewegen und verwundern gleichzeitig: nicht nur wegen der Arglosigkeit, mit der sie versuchen, komplexe theologische Themen wie die Transsubstantiation52, Jesu Sühnopfer und seine Wiederkunft, die Heiligenverehrung, die Bedeutung des Abendmahls, die Auferstehung, den Sinn des Bösen und der Leiden, die Rolle Marias und die angemessene Form ihrer Verehrung, die richtige Form des Respekts, den ihr „wahre Christen“ erweisen müssen, anzusprechen. Ohne eine akademische Ausbildung absolviert zu haben, agierten diese Frauen mit Leidenschaft und Großzügigkeit, die sich in den täglichen Predigten und in den persönlichen Gesprächen mit verschiedensten Personen zeigte. Dieser Eifer kommt auf jeder Seite, in jeder Zeile ihrer Dienstberichte zum Ausdruck. Selbst wenn die Empathie gegenüber den Menschen, die sie bei ihren Besuchen von Haus zu Haus kennenlernten, in gewisser Weise selbstverständlich war, so erscheint diese oft bewundernswert. Ihre GesprächspartnerInnen waren, wie wir gesehen haben, nicht nur überzeugte AtheistInnen oder glühende KatholikInnen, es handelte sich vor allem um gleichgültige Menschen, die „weder heiß noch kalt“ waren, oder um Brüder und Schwestern, die im Laufe der Zeit den anfänglichen Elan verloren hatten. Die vorgestellten ProtagonistInnen, die sie besuchten, scheinen nach ihren Aufzeichnungen keine Laster und Tugenden von armen Leuten ausgelassen zu haben. Die Bibelfrauen hielten deren Schwächen, die spirituellen Fortschritte, die unvorhergesehenen Rückfälle, die Zweifel, die unerwarteten mutigen Taten, die Schicksalsschläge und die Krankheiten fest. Die gemeinsam gelesenen und besprochenen Stellen der Bibel waren ebenso Bestandteil ihrer Berichte. Insgesamt aber ist das Ausmaß theologischer Themen im Vergleich zu den soziologischen zweitrangig. Aus den Berichten ergibt sich zu allererst ein soziales Bild Italiens am Ende des 19. Jahrhunderts unter besonderer Beachtung der Situation der Frauen, da diese die Hauptgesprächspartnerinnen der Biblewomen waren. Erst an zweiter Stelle handelt es sich um zuverlässige Berichte über Glaubensinhalte und religiöse Kenntnisse der unteren Volksschichten und der KleinbürgerInnen jener Zeit. 4.1 Die Dienstberichte als Quellen über Glaube und Leben Wenig lässt sich aus diesen Berichten über die theologische Bildung der Waldenserinnen und deren Kenntnisse der Heiligen Schrift schließen. Weder ihre persönlichen Gewohnheiten bei der intensiven Lektüre der Bibel noch ihr exegetisches Wissen lassen sich genauer erfassen. Viele Fragen bleiben offen: Welcher Stellenwert wurde ihrer 52
Von Annina Celli wird diese Lehre wie folgt beschrieben: „Schrecklich und armselig […] mit dem Anspruch, uns glauben zu machen, dass die ganze Größe Gottes sich in dem Stückchen erbärmlichen Mahls befände […] unnütze Materie.“ ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, rapporto di servizio 02.03.1895.
Dienstberichte der waldensischen Biblewomen
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Rolle, die, wie wir gesehen haben, institutioneller Art war, von den damaligen Einrichtungen der waldensischen Kirche – der Tavola und der Synode – beigemessen? Welchen tatsächlichen Beitrag in qualitativer und quantitativer Hinsicht haben die Biblewomen bei der Verbreitung des evangelischen Glaubens geleistet? Welche Kontrolle, verdeckter oder offensichtlicher Art, übte das Komitee für Evangelisation über ihre Tätigkeit aus? Einige dieser Fragen können nicht umfassend beantwortet werden, andere zumindest teilweise.53 Es ist unmöglich, zahlenmäßig zu erheben, wie viele katholische oder atheistische Familien besucht wurden oder wie viele letztendlich zum evangelischen Glauben übertraten und bis zum Tod evangelisch blieben. Durch die Briefe wird klar, dass einige Personen vollberechtigte Mitglieder der waldensischen Glaubensgemeinschaft wurden, obwohl eine genaue statistische Darstellung des Phänomens nicht möglich ist. Was den qualitativen Beitrag betrifft, kann man behaupten, dass der Einsatz der Biblewomen nachhaltig und dauerhaft war. Wenn man das Durchschnittsniveau der religiösen, insbesondere der biblischen Kenntnisse der gesamten Bevölkerung berücksichtigt, lässt sich feststellen, dass die Tätigkeit der Bibelfrauen das religiöse Bildungsniveau in einigen Regionen erhöhte. Die vom Komitee und seinen Mitgliedern ausgeübte Kontrolle konnte hier teilweise analysiert werden. Die Art der Aufsicht war direkt und sichtbar, hing aber sicherlich auch von der Persönlichkeit des amtierenden Präsidenten ab. Dies wird beispielsweise an den angeforderten Berichten deutlich, die detailliert sein mussten.54 Die Qualität der Arbeit der Biblewomen wurde kontinuierlich kontrolliert. Ich glaube jedoch, dass es nicht anders hätte sein können. ArbeiterInnen ohne jegliche Überwachung auf das Feld zu lassen – sei es als EvangelistInnen oder als KolporteurInnen – wäre zumindest leichtsinnig und realistisch betrachtet auf längere Sicht sogar gefährlich gewesen. Das private Leben der Bibelfrauen, wie z. B. Familienbeziehungen, Freundschaften und Liebeserfahrungen oder ganz einfach die allein verbrachten Abende, bleiben im Dunkel: Die Krankheit eines Verwandten, ein Sohn, der im Krankenhaus liegt, die Altersgebrechen, die im Laufe der Jahre chronisch werden usw., tauchen nur als Schatten auf. Es ist offenbar, dass die formelle Gestalt des Dienstberichts kein ideales Medium ist, um die eigene Privatsphäre oder die privaten und beruflichen Enttäuschungen offenzulegen. Die wenigen Dinge, die zu erfahren sind, scheinen wie zufällig aus der Feder dieser schreibenden Frauen zu fließen, entweder um sich beim Präsidenten wegen eines Berichtes, der nicht auf der Höhe des vorherigen war, zu entschuldigen oder um einen Vorschuss zu bekommen, oder vielleicht einfach aus Unachtsamkeit oder Müdigkeit. Pusterla wies auf die zunehmenden wirtschaftlichen Probleme hin, die sich wegen der Krankheit ihres Mannes häuften, und auf die daraufhin folgende Unter53
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Um zu verstehen, für wie wichtig die Synode und die Tavola Valdese ihre Tätigkeit hielten, müsste man die Sitzungsprotokolle der Jahre, in denen die Biblewomen ihren Dienst ausübten, also ungefähr von 1896 bis 1915, systematisch untersuchen. Aus einer empirischen Analyse geht hervor, dass die Rolle, die die Biblewomen in der Organisation der waldensischen Kirche hatten, bescheiden war. Je niedriger ihr Bildungsniveau war, desto kürzer war ihre Auftragsdauer, und desto häufiger wurden sie ersetzt.
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brechung seiner Tätigkeit als Kolporteur.55 Celli litt unter nicht genauer beschriebenen Neuralgien und entschuldigte sich bei den Mitgliedern des Komitees für den enttäuschenden Dienstbericht vom Dezember 1895: Als ich Herrn Tron meinen Bericht vom November gab, sagte ich, dass ich hoffte, im Dezember mehr zu schreiben, aber leider war dem nicht so. Der schlechte Gesundheitszustand hinderte mich daran, dem Herrn alle meine Tage zu widmen: Ich habe jedoch großes Vertrauen, dass ich in Zukunft meine Aufgabe besser erledigen werde. So Gott es will! Meine neuralgischen Kopfschmerzen sind auch daran schuld, dass dieser Bericht weniger zufriedenstellend ist. Hierfür bitte ich jetzt schon um Entschuldigung.56
4.2 Das Selbstbewusstsein, ein Werkzeug Gottes zu sein Aus den Briefen unserer Protagonistinnen geht hervor, dass die Biblewomen den Prinzipien des reformierten Glaubens zutiefst treu blieben, insbesondere, dass sie sich selber als „Werkzeuge“ des göttlichen Willens sahen. Sie wiederholten unermüdlich, dass es nicht ihrer Intelligenz oder ihren rhetorischen Fähigkeiten und noch viel weniger ihrer Bildung zu verdanken sei, dass sie in der Lage waren, das Evangelium zu predigen und dabei mitzuhelfen, dass sich einige Menschen bekehrten. Dies geschah nur, weil „Gott unsere Münder öffnet und je nach Bedarf die Worte hineinlegt“.57 Von ihnen wurde kein „lautes und auffälliges Handeln“ verlangt, sondern „eine einfache und verborgene, konstante und ehrliche Arbeit“.58 Sie waren sich dessen völlig bewusst, dass sie mit ihrem Dienst direkt zur Erfüllung der biblischen Prophezeiung beitrugen und deshalb „das Evangelium in jedem Ort vor der Wiederkunft des Herrn Jesu gepredigt werden muss“ (vgl. Mt 24,14).59 Wenn man die Predigtarbeit dieser Biblewomen betrachtet, lässt sich sagen, dass sie sich hauptsächlich als Werkzeuge zur Verbreitung des Evangeliums verstanden, mit einer Arbeitsweise und einer Zeiteinteilung, die von der göttlichen Vorsehung festgelegt war. Ihre Erfolge, die sich in Bekehrungen sowie darin zeigten, dass SympathisantInnen be55
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Z. B. bat Pusterla 1894 im Postscriptum eines an Matteo Prochet gerichteten Briefes die Mitglieder des Komitees, ob sie ihr das Dreimonatsgehalt ein paar Tage vorher auszahlen könnten, da die Beiträge der letzten Monate ziemlich gering gewesen seien. Sie würden ihr damit „einen großen Gefallen tun, da ich mich in Not befinde, weil mein Mann krank ist“. ATV, serie IX, sottoserie 2, fasc. 36c, f. 20. Giuseppina Pusterla, rapporto di servizio ottobre 1894, lettera del 01.11.1894, Milano. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio 03.01.1895, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio giugno 1895, Torino – unter Aufnahme eines Zitats aus Dtn 18,18. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio marzo 1893, Torino. ATV, serie IX, sottoserie 3, mazzo 439, fasc. 2, Annina Celli, rapporto di servizio marzo 1893, Torino.
Dienstberichte der waldensischen Biblewomen
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gannen, die gottesdienstlichen Versammlungen oder die Bibelstunden zu besuchen, und schließlich durch die Teilnahme am Abendmahl Vollmitglieder der Gemeinschaft wurden – all dies wird niemals als persönlicher Erfolg gewertet, sondern als eine Frucht des göttlichen Plans.
5. Schlussbemerkung Die Biblewomen können in gewisser Hinsicht durchaus als Prophetinnen bezeichnet werden, und sie könnten wie Johannes der Täufer sagen: „Ich bin eine Stimme, die in der Wüste ruft“ (vgl. Joh 1,23). Tatsächlich hat sich keine von ihnen je als etwas Außerordentliches oder sogar als eine Heldin empfunden, obwohl jede von ihnen dem wörtlichen Sinn nach eine solche gewesen ist.60 Ihre „diskreten Leben“61 waren jedoch keine „gewöhnlichen Leben“. Wie die analysierten Briefwechsel zeigen, ermöglichten ihre Leidenschaft für die Wahrheit, ihre persönliche Opferbereitschaft, das unbestrittene Organisationstalent, die Fähigkeit, langfristige Beziehungen sowohl mit den Mitgliedern der waldensischen Gemeinschaft als auch mit den Außenstehenden zu knüpfen, dass diese Frauen nicht vergessen wurden. Gleichzeitig beweist dies, dass das Charisma von Frauen in jeder Art von Organisation oder Gemeinschaft tatsächlich großen Wert haben kann, zweifelsohne ganz besonders in denjenigen mit religiöser Prägung.
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Wie Max Weber sagte, kann jeder, der ein schweres, wenn nicht ganz unmögliches Unterfangen beginnt, ohne Übertreibung als Held bezeichnet werden. Vgl. Max WEBER, Il lavoro intellettuale come professione (Torino: Einaudi, 1948), 120f. Die Bezeichnung stammt von Bruna PEYROT und Graziella BONANSEA, Vite Discrete: Corpi e immagini di donne valdesi (Torino: Rosenberg & Sellier, 1993).
Biblische Inspirationen im Transformationsprozess der religiösen Frauengemeinschaften Italiens im 19. Jahrhundert Adriana Valerio Università degli Studi „Federico II“, Neapel
1. Die Bibel – eine gefährliche Lektüre 1550 legte die Instructio circa Indicem librorum prohibitorum fest, dass Bibeln in der Volkssprache für das weibliche Geschlecht und besonders für die Nonnen in den Klöstern verboten sind. Dass man diese Bibeln für die Frauen auf den Index setzte, zeigt, wie wichtig der katholischen Hierarchie während der reformatorischen Umwälzungen, die das christliche Europa zu zerreißen drohten, die selbstständige Bibellektüre von Frauen war. Es waren in der Tat die Frauen, die am meisten von den biblischen Übersetzungen, die in Italien seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in großer Anzahl im Umlauf waren, profitierten. Genau das war der Grund, weshalb diese als Reaktion auf die Leseverbote und die Einschränkungen bezüglich der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift seit dem Konzil von Trient nicht in Passivität verfielen. Sie ließen z. B. den zuständigen Behörden eine Reihe von Protesten, Lizenzanfragen oder Bittschriften zukommen. Mit besonderer Härte begegnete man weiblichen Ordensgemeinschaften, in denen es zu richtigen Hausdurchsuchungen nach Bibeln kam, um diese gerade jenen Ordensfrauen zu entziehen, die unter Beweis gestellt hatten, dass sie mit der Heiligen Schrift vertraut waren. Die Klausur der Nonnen, die durch einen Beschluss des Trienter Konzils (XXV. Sessio, c. 5) noch verschärft worden war, hatte den lebhaften Austausch unterbrochen, der zur Zeit des Humanismus zwischen den religiösen Gemeinschaften und Kreisen von LaiInnen stattgefunden hatte und der sich auf die Reflexion und die Diskussion der Heiligen Schrift konzentrierte. Diese Verordnungen markierten einen tiefen Bruch in den Lesegewohnheiten, die – wenn auch zögerlich – in der Neuzeit bei den weiblichen Laien und v. a. auch bei Ordensfrauen langsam Fuß gefasst hatten. Die unvermittelte Kenntnis der Heiligen Schrift wurde von den kirchlichen Behörden als gefährlich eingestuft. So hielt man es für notwendig, die autonome Lektüre mit allen Mitteln zu verbieten. Der biblische Text wurde den Katechesen mit einem klaren pädagogischen Plan untergeordnet, um den Gläubigen Grundkenntnisse mitzugeben und so den direkten Kontakt mit der Heiligen Schrift zu vermeiden. Die Konsequenzen waren vielfältig und gravierend: Vornehmlich wegen des Verbotes, sich intensiv mit der Bibel zu beschäftigen, wurden KatholikInnen in einem Zustand der Rückständigkeit gehalten: Die Bibellektüre galt insbesondere für die Frauen als unschicklich und unangebracht. Die Auswirkungen einer solchen Bildungspolitik, die mit unzureichenden oder gar nicht vorhandenen staatlichen Strukturen einherging, sind noch in den Ergebnissen der Volkszählung von 1861 er-
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sichtlich, nach denen im katholischen Europa 78% der Menschen Analphabeten waren.1
2. Frauenkongregationen im Italien des 19. Jahrhunderts Die Rückständigkeit der katholischen Welt in Bezug auf die Bibel, die sich bis ins 19. Jahrhundert zog, konnte nicht durch pastorale Aktivitäten ausgeglichen werden. Jene zielten mehr auf Frömmigkeit und Glaubenslehre als auf einen auf die Bibel gestützten Glauben.2 Den Jansenisten, die in der Vernachlässigung der Heiligen Schrift einen Grund für den religiösen und kulturellen Verfall der Kirche sahen, antwortete Pius VI. 1794 mit der Bulle Auctorem fidei. Darin waren unter den 85 Verurteilungen auch einige Artikel, die sich mit der Bibellektüre beschäftigten. Die Opposition gegen die französische Aufklärung, den deutschen Rationalismus und gegen jegliche ideologische Position, die die Grundlagen der Offenbarung ins Wanken brachte, führte schließlich zur Abschottung Italiens von dem fruchtbaren und lebhaften Austausch mit den kulturellen Strömungen Europas. So wurde im Endeffekt das Entstehen einer eigenen italienischen Schule im Bereich der Bibelwissenschaften zugunsten des scholastischen und apologetischen Modells verhindert.3 In drei weiteren Fällen, und zwar 1816, 1844 und 1846, verurteilten Pius VII., Gregor XVI. und Pius IX. Bibelübersetzungen in die verschiedenen Landessprachen. Ausschlaggebend hierfür war wieder die Furcht vor einer selbstständigen Lektüre der Heiligen Schrift und einer damit einhergehenden Förderung der Anliegen von LaiInnen. Weiblichen Ordensgemeinschaften wurden strenge Beschränkungen hinsichtlich des Unterrichts der Mädchen auferlegt, speziell in Bezug auf das Lesen und das Schreiben: So sollte z. B. die Meditation über die Wundmale Christi genügen, um das Verlangen nach Wissen zu befriedigen.4 Als Ergebnis der verschiedenen unterdrückenden Verordnungen zwischen 1808 und 1866 erlitten die weiblichen Ordensgemeinschaften tiefe Einschnitte und Umwälzungen, sodass man von einem komplexen und widerspruchsvollen Modernisierungsphä1
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Gigliola FRAGNITO, La Bibbia al rogo: La censura ecclesiastica e i volgarizzamenti della Scrittura: 1471–1605 (Bologna: Il Mulino, 1997); DIES., Proibito capire: La Chiesa e il volgare nella prima età moderna (Bologna: Il Mulino, 2005). Michela DE GIORGIO, „Das katholische Modell“, in 19. Jahrhundert (hg. v. Geneviève Fraisse und Michelle Perrot; Geschichte der Frauen 4; Frankfurt: Campus, 1994), 187–220. Vgl. auch Simonetta SOLDANI, Hg., L’educazione delle donne: Scuole e modelli di vita femminile nell’Italia dell’Ottocento (Milano: Franco Angeli, 1991). Vgl. Yves-Claude GELEBART, „La Bible dans l’Aufklärung catholique“, in Le siècle des Lumières et la Bible (hg. v. Yvon Belaval und Cominique Bourel; Bible de tous les Temps 7; Paris: Beauchesne, 1986), 563–577. Giancarlo ROCCA, Donne religiose: Contributi ad una storia della condizione femminile in Italia nei secoli XIX–XX (Roma: Ed. Paoline, 1992); Luciano PAZZAGLIA, Chiesa e prospettive educative in Italia tra Restaurazione e Unificazione (Brescia: Ed. La Scuola, 1994).
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nomen sprechen muss. Um als geistliche Frauen zu überleben, mussten sie andere Formen der Gruppenidentität finden. Diese war weniger auf eine ausschließlich kontemplative Lebensform, sondern besonders auf soziales Engagement, auf Bildung und Fürsorge ausgerichtet. Diese Entscheidungen haben für den Strukturwandel der religiösen Gemeinschaften und die Anpassung an eine Gesellschaft, die sich kontinuierlich veränderte, eine wichtige Rolle gespielt. Die v. a. seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen neuen Kongregationen initiierten eine ganze Reihe von Maßnahmen, die eine bisher nicht dagewesene Mobilität zuließen, welche faktisch die Isolierung überwand, die den Frauen von der nachtridentinischen Kirche auferlegt worden war. Wir erleben hier die Entstehung eines neuen Profils katholischer Frauen, das allerdings von tiefen Gegensätzen geprägt ist. Einerseits sehen wir deren Verwurzelung in einem traditionellen Glauben und einer konservativen Politik. Andererseits zeigt sich eine Hinwendung zu einem erneuerten apostolischen Wirken und zu modernen Werten, wie Bewegungsfreiheit, persönliche Autonomie, Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, Rederecht und Entscheidungsfreiheit. Die Gründerinnen der neuen religiösen Frauengemeinschaften realisierten in besonderer Weise das, was eine „antimoderne Modernisierung“ genannt wurde, und trugen damit faktisch zu einer tiefgreifenden Erneuerung der traditionellen Formen des religiösen Lebens bei.5 In dieser Neudefinition von Identität und Berufung begann sich für manche der Gründerinnen, wenn auch zögerlich, jene Inspiration durch die Bibel zu zeigen, die dem religiösen Leben neue Impulse gab und die das Fundament einer neuen Art geistlicher Berufung bildete. Der Gebrauch der Bibel war aber weiterhin von Gegensätzen und Widersprüchen gekennzeichnet. Obwohl man auch begann, neue Räume für die Reflexion über die Heilige Schrift zu eröffnen, ist die Präsenz der Bibel in der Sprache der Gründerinnen von religiösen Gemeinschaften weiterhin kaum ersichtlich. Die Bibel stand faktisch noch nicht im Zentrum des religiösen Lebens. Einerseits wurde sie von den Frauen, die nach dem Prinzip der Buße für die Erlösung einer von laizistischen Revolutionen beherrschten Welt leben mussten, mehr in den Mittelpunkt gerückt. Andererseits motivierte sie zu einer vita activa, die der Fürsorge und der Erziehung der Jugend gewidmet war und diese für den katholischen Glauben zurückzugewinnen versuchte.
3. Maria De Mattias (1805–1866) Maria De Mattias gründete 1834 auf dem Territorium des Kirchenstaates in Acuto die Congregazione delle Suore Adoratrici del Sangue di Cristo (Kongregation der Anbeterinnen des kostbaren Blutes).6 Von ihr wissen wir, dass ihr Vater, Giovanni De Mattias, 5
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Marina CAFFIERO, Religione e modernità in Italia (secoli XVII–XIX) (Pisa: Istituto Poligrafico, 2000); Giuliana BOCCADAMO, „Modernità e antimodernità: fondatrici e rivoluzioni“, in Scritture femminili e storia (hg. v. Laura Guidi, Napoli: Clio Press, 2004), 307–319. Vgl. Maria PANICCIA, La spiritualità e l’opera di Maria de Mattias: Le origini e gli sviluppi della Comunità di Acuto (Roma: Università Gregoriana, 1983). Eine sorgfältige und umfas-
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ihr als Kind Teile aus der Bibel zu lesen gab und dass ihre Brüder Bibelverse an die Wände ihres Zimmers schrieben. Diese Vertrautheit mit der Heiligen Schrift, die, wie sie später sagen sollte, aus ihren jungen Jahren stammte, finden wir in ihrem schlichten Wortschatz allerdings kaum wieder. In ihrer Korrespondenz fehlen sowohl Schriftverweise als auch Beispiele aus biblischen Geschichten. In ihren Schriften taucht ein flüchtiger Hinweis auf das Bild des „unnützen Knechtes“ (Mt 25,30) auf, dessen Werk sich nicht dem eigenen Verdienst, sondern ausschließlich der Erlösung durch den Kreuzestod Jesu verdankt. Möglicherweise liegt hierin das vom Evangelium inspirierte Motiv ihres eigenen pastoralen Engagements. De Mattias begann als Laiin zu predigen, und dies nicht nur in geschlossenen Räumen oder Institutionen, sondern auch auf Plätzen und im öffentlichen Raum. Dabei richtete sich ihre Predigt nicht nur an eine weibliche Zuhörerschaft, sondern sie bezog Männer und Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten ein: Witwen, Verheiratete, Unverheiratete, Eltern, Pfarrer und Kinder. Über den Inhalt ihrer Predigten ist wenig bekannt. Ihre Sprache dürfte allerdings nicht sehr reich an biblischen Bezügen gewesen sein. Ihr didaktischer und erzieherischer Ansatz ist freilich traditionell: eine Didaktik, die nach ignatianischen Exerzitien modelliert ist, angereichert durch grundlegende Kenntnisse über den Glauben, die auf die Sakramente und auf das liturgische Leben vorbereitet. Diese Methode sollte zur Verbreitung von Andachtspraktiken beitragen und war von spirituellen Lehren gekennzeichnet, die das Ziel hatten, die zu Erziehenden zu einer soliden Frömmigkeit zu führen und einen glühenden apostolischen Geist zu fördern. Die Liebe Jesu, seine erlösende Passion, die Schmerzen Mariens, die Sünden der Menschen, die ganze katholische Doktrin, gegebenenfalls mit einfachen Passagen aus der Bibel illustriert – das waren die gängigsten Themen, um die ZuhörerInnen zur Beichte und zur Kommunion zu bewegen.
4. Gaetana Sterni (1827–1889) In einem anderen geographischen und kulturellen Kontext, nämlich in Norditalien, rief Gaetana Sterni 1873 in Bassano del Grappa (Vicenza) mit einigen Gefährtinnen die Figlie della Divina Volontà (Schwestern vom Göttlichen Willen) ins Leben.7 Die Spiritualität Sternis beruht auf zwei Bibelstellen, die die enge Verbindung zwischen Gehorsam und Liebe aufzeigen: Mariä Verkündigung (Lk 1,38) und das Jüngste Gericht (Mt 25,31–46). Mit dem Fiat Marias unterstreicht Sterni nicht nur die Bereitschaft, die die eigene Person und die Mitschwestern zeigen sollen, um dem göttlichen Willen zu folgen, selbst wenn dieser gegen die übliche Ausrichtung des eigenen Lebens steht,
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sende Bibliografie über sie findet sich in Maria DE MATTIAS, Lettere 1 (hg. v. Angela Di Spirito und Luciana Coluzzi; Roma: CIS, 2005), 41–59. Vgl. auch Adriana VALERIO, „L’originalità di Maria De Mattias, santa della Restaurazione“, Archivio Italiano per la Storia della Pietà 18 (2005): 299–316. Adriana VALERIO, „I conflitti dell’anima: Gaetana Sterni (1827–1889)“, Bailamme 14 (1993): 92–103.
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sondern auch die Notwendigkeit, sich dem Unvorhergesehenen anzupassen, nicht beim Gewählten zu verharren, sich zu wandeln und unerwartete Entscheidungen zu treffen, wenn Gott es fordert. Durch das Bild des Jüngsten Gerichts will Sterni ihre Mitschwestern mahnen, der Ausübung der Caritas zentrale Bedeutung einzuräumen und sie als Ort des Heils und der Berufung in die Nachfolge Christi zu verstehen. Auch in diesem Fall lässt die Gründerin in den wenigen erhaltenen Texten keine Nähe zur Heiligen Schrift erkennen, die über Anregungen aus dem Katechismus oder dem liturgischen Leben hinausgehen.
5. Maria Mazzarello (1837–1881) Wenige biblische Perspektiven finden sich auch im Werk Maria Mazzarellos, die 1872 zusammen mit Giovanni Bosco die Congregazione delle Figlie di Maria Ausiliatrice (Töchter Mariä, Hilfe der Christen, kurz: Maria-Hilf-Schwestern oder Don-BoscoSchwestern) gründete.8 Diese Kongregation widmete sich der Erziehung und dem Unterricht der Jugend. Mazzarello stammte aus einem äußerst bescheidenen Elternhaus und scheint wenig gebildet gewesen zu sein. Sie widmete ihr kurzes Leben ganz der Erziehung der größtenteils analphabetischen Mädchen. Auch für sie stand die Heilige Schrift nicht im Mittelpunkt. Im Klima einer solchen „biblischen Anorexie“ gab es zwei Ausnahmen: Leopoldina Naudet und Maria Carmela Ascione, die, wenn auch in anderen Kontexten – die eine in Verona, die andere im Neapel der Bourbonen –, ein neues Interesse an der Bibel und ihrer Interpretation aufkommen ließen.
6. Leopoldina Naudet (1773–1834) Naudet wurde in Florenz als Tochter eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren und wuchs so in drei unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Welten auf.9 Sie verdankte ihrem Vater, der für seine Tochter eine solide Ausbildung wünschte, eine außergewöhnliche Bildung im europäischen Geiste. Naudets Spuren finden wir von 1783 bis 1789 in der Congregazione delle Dame di Nostra Signora in Soissons, 1789 wirkte sie als Erzieherin der Kinder des Großherzogs Leopold, 1790 folgte sie der Bourbonenprinzessin Maria Luisa, der Frau des mittlerweile zum Kaiser 8 9
Maria Pia GIUDICI und Mara BORSI, Maria Domenica Mazzarello (Torino: Elledici, 2008). Adriana VALERIO, „Da donna a donne: Leopoldina Naudet e l’educazione femminile agli anni dell’800“, in Santi, culti, simboli nell’età della secolarizzazione: 1815–1915 (hg. v. Emma Fattorini; Torino: Rosenberg & Sellier, 1997), 515–528; vgl. auch Nello DALLE VEDOVE, Dalla corte al chiostro: Donna Leopoldina Naudet, fondatrice delle sorelle della Sacra Famiglia (Verona: Scuola Tipografica Missioni Padri Stimatini, 1954); Stefano FONTANA, „... Non io, Tu“: Leopoldina Naudet e le Sorelle della Sacra Famiglia (Verona: Ed. Cercate, 1993).
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aufgestiegenen Leopold, nach Wien. 1792 ist sie in Prag als Edelfrau der Erzherzogin Maria Anna, der Äbtissin des dortigen Damenstifts, anzutreffen. Naudet nahm an den großen Ereignissen, die in Europa stattfanden, teil. Nicht nur die revolutionären Bewegungen, auch die quälenden Dispute um den Jansenismus und die immer noch aktuelle strittige Frage nach einer Aufhebung des Jesuitenordens (1773) beeinflussten ihr Denken und Handeln. Sie engagierte sich für den Schutz der wegen der Revolution exilierten Franzosen und für die Unterstützung und Ausbreitung der Jesuiten. Während dieser Jahre zeigte sich ihre Berufung zur Gründerin einer Frauenkongregation immer deutlicher, v. a. nach der Begegnung mit den Padri del S. Cuore. Diese widmeten sich nicht nur der Ausbildung von geeigneten Personen zur Wiederherstellung des Jesuitenordens, sondern hielten es für nützlich, eine Frauengemeinschaft im ignatianischen Geist zur Erziehung der Jugend zu gründen. Nachdem Naudet 1807 in Verona einen passenden Ort gefunden hatte, initiierte sie 1833 die Gründung der Sorelle della Sacra Famiglia (Schwestern von der Heiligen Familie), einer jesuitisch inspirierten Gemeinschaft, die sich der Ausbildung von Lehrerinnen für Mädchen des Bürgertums widmete. Naudets Persönlichkeit war durch ihre große Leidenschaft für das Studium gekennzeichnet, wodurch sie die Grundlage für ihr umfassendes Projekt zur Erziehung von Frauen gewann. Sie war eine ausdauernde Leserin, die eine Bibliothek von mehr als achthundert Bänden hinterließ, die sich drei thematischen Schwerpunkten zuordnen lassen: biblisch-homiletisch, devotional-hagiographisch und apologetisch. Der erste Schwerpunkt ist aufgrund des Interesses an der Heiligen Schrift außergewöhnlich. So gibt es dort die Historia del Testamento Vecchio e Nuovo mit Kommentaren der Kirchenväter;10 einige Ausgaben der Evangelien, die als Evangelienharmonien gestaltet sind;11 ein von Antonio Martini übersetztes Altes Testament12, landessprachliche Übersetzungen der Apostelgeschichte von Cavalca13, damals moderne paränetische Schriftauslegungen14 und Kommentare zu liturgischen Lesun10
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Historia del Testamento Vecchio, e Nuovo rappresentata con figure in rame, intagliate da Domenico Rossetti e con esplicazioni estratte da Santi Padri (Venezia: Girolamo Albrizzi, 1708); Storia del Testamento vecchio e Nuovo con spiegazioni estratte da’ Santi Padri (Venezia: Andrea Santini, 1801). Il Vangelo secondo la concordanza dei quattro Evangelisti in meditazioni e distribuito per tutu i giorni dell’anno (traduzione dal francese di un sacerdote torinese; Firenze: Francesco Alessandri, 1790); Il Vangelo secondo la concordanza dei quattro Evangelisti esposto in meditazioni e distribuito per tutti i giorni dell’anno (traduzione di un sacerdote torinese; Milano: Maspero e Buocher successori De’ Galeazzi, 1814). Antonio MARTINI, Del Vecchio testamento tradotto in lingua volgare, con annotazioni illustrato (Venezia: Giuseppe Rossi, Qu. Bortolo, 1786). Domenico CAVALCA, Volgarizzamento degli Atti degli Apostoli (Milano: Tipografia Manini e Rivolta, 1726). Paolo MEDICI, Dialogo Sacro sopra i Vangeli e il Nuovo Testamento (17 Bde; o. O.: Angiolo Geremia, 1733); DERS., Dialogo Sacro sopra l’Antico Testamento (31 Bde; Venezia: Angiolo Geremia, 1737); Storia del Vecchio e Nuovo Testamento (ad uso delle scuole Elementari delle Province Venete; Venezia: Francesco Andreola e Gio B. Missiaglia, 1823);
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gen.15 Neben Lehrbüchern zur Bibel finden sich die Werke der großen Prediger Francesco Panigarola16, Paolo Segneri17, Louis Bourdaloue18 und Jean-Baptiste Massillon19 sowie die jesuitisch geprägten Exhortationes domesticae, die an die Tradition der Collatio anknüpfen, außerdem die Predigten von Karl Borromäus, die sich an die Suore Angeliche wenden, und die Entretiens spirituels von Franz von Sales, gerichtet an die Visitantinnen. Auch die Conferenze Spirituali des Vinzenz von Paul waren Naudet bekannt, wie an ihren handschriftlichen Anmerkungen zu sehen ist. Daran wird ihre Vorliebe für ein bestimmtes rhetorisches Modell sichtbar, das der Erbauung der Gemeinschaft dient. Inspirierend für ihre Verkündigungsmethode waren Texte aus dem Werk des Gelehrten Antonio Cesari (1760–1828)20, der sich an das jesuitische Modell der geistlichen Schriftlesung, der Lezioni Scritturali, anlehnt. Sie schätzte v. a. die Lesungen, in denen Jeremia, Josef, Mose, Josua, Daniel, die Makkabäer, Abraham, Tobit, Jesus und die Apostel vorkommen. Diese Lezioni stellten eine innovative Methode in Naudets Bibelauslegung dar; diese wurden im Italien des 18. Jahrhunderts sehr viel gelesen. In ihnen wurde durch die liturgischen Lesezyklen die Lektüre der Bibel wiedergewonnen. Die Lezioni griffen auf den historischen Literalsinn der Schrift zurück und zielten auf die moralische Anwendung ab. In Cesaris Ansatz steht die Bibel im Zentrum des Predigtzykluses und der Schwerpunkt liegt auf der Aktualisierung. So war er sicherlich ein Vorbild für Naudet, die bestimmte Zeiten zur Versammlung in ihrer Gemeinschaft festlegte mit dem Ziel, sich
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Agostino TIALMET, La storia dell’Antico e Nuovo Testamento (2 Bde; Venezia: Niccolo Pezzana, 1725); Ferdinando ZUCCONI, Lezioni Sacre sopra la Divina Scrittura (5 Bde; Venezia: Baglioni, 1791); Andrea MICHELLI, Istoria dell’Antico Testamento: divisa per le vite dei Santi e personaggi illustri che in esso fiorirono (Milano: Pogliani, 1828). Giovanni CRASSET, Considerazioni cristiane per tutti i giorni dell’anno cogli evangelj di tutte le domeniche (Venezia: Baglioni, 1771); Epistole ed Evangelj, che si leggono tutto l’anno alle Messe, secondo l’uso della Santa Romana Chiesa, e l’Ordine del Messale Romano (tradotti in lingua toscana da Remigio Fiorentino; Venezia: Giambattista Negri, 1800); Giuseppe MORANI, Sermoni per tutte le domeniche e feste dell’anno (4 Bde; Torino: Dora Grossa – Brado e Destefani, 1790). Francesco PANIGAROLA, Dichiarazione dei salmi di David (Venezia: Fabio e Agostino Zoppini, 1586). Paolo SEGNERI, Esercizi Spirituali (hg. v. Antonio Ludovico Muratori; Venezia: Gio’ Recurti, 1723); DERS., La manna dell’anima (Venezia: Bortoli, 1728), DERS., Panegirici sacri (Venezia: Biambattista Novelli, 1757). Louis BOURDALOUE, Sermons pour le carême (Lione: les Frères Bruyset, 1708), DERS., Sermoni per le domeniche dell’anno (Venezia: Francesco Andreola, 1801); DERS., Prediche quaresimali (Venezia: Baglioni, 1802). Jean-Baptist MASSILLON, Quaresimale (Venezia: Simone Occhi, 1803); DERS., Prediche (Venezia: Simone Occhi, 1803). Hierbei handelt es sich um Predigten über die Bibel: Antonio CESARI, Lezioni storico morali sopra la Sacra Scrittura (1815–1817); DERS., La vita di Gesù (1817–1821); DERS., I fatti degli Apostoli (1821). Vgl. Cesare BISSOLI, „La Bibbia nella Chiesa e tra i cristiani“, in La Bibbia nell’epoca moderna e contemporanea (hg. v. Rinaldo Fabris; Bologna: EDB, 1992), 171f.
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über geistliche Themen, wie Einfachheit, Kasteiung, Armut, Standhaftigkeit und Geduld auszutauschen. Dabei folgten die Schwestern im Kalender den Tagesheiligen wie Franz von Assisi, Franz Xaver, Teresa von Avila, Johanna Franziska von Chantal, Ignatius von Loyola oder Maria Magdalena von Pazzi. Diese Treffen waren Lektionen über moralische Ziele, um die Gemeinschaft zu ermutigen, zu verbessern und zu beleben. Es soll jedoch betont werden, dass trotz einiger biblischer Bezüge – v. a. aus den Evangelien und den Paulusbriefen – diese nicht das Gerüst der Diskurse Naudets und auch nicht das Fundament ihres Denkens bildeten. Die Anklänge an die Bibel erscheinen eher als offenkundige Bezüge in den Textpassagen zur Sakramentenpastoral oder zur Schriftlesung.21 Bei Naudet finden wir eine neue Aufmerksamkeit für die Heilige Schrift, die allerdings hauptsächlich auf die Erziehung der ChristInnen, insbesondere auf die Spiritualität ihrer Mitschwestern, abzielt. Pastorale und paränetische Absichten standen dabei im Vordergrund und nicht die kritische Lektüre. Die Bibel bildet eine Art von Vorspiel sowohl zur Kontemplation als auch zum ethischen Handeln.
7. Maria Carmela Ascione (1799–1875) Maria Carmela Ascione wurde 1799 in Neapel in ein familiäres Umfeld geboren, das sich vor allem mit dem Dritten Orden der Dominikaner verbunden fühlte.22 Sie erhielt ihre ersten Glaubensgrundlagen vom Vater, der ihr jeden Abend Meditationen über die Evangelien vorlas. Mit 17 Jahren trat sie in das Benediktinerinnenkloster Donnaromita ein. 1825 wurde sie Oblatin des Ordens Ritiro dell’Addolorata all’Olivella und nahm den Namen Maria Luisa di Gesù an. 1840 gründete sie eine Schule für arme Mädchen und das Istituto di Maria Santissima Addolorata e di Santa Filomena, dessen Mitglieder die Ordenstracht der Serve di Maria (Dienerinnen Mariens) erhielten.23 Als 1835 Ascione Oberin dieser Gemeinschaft war, kam der Priester Luigi Navarro24, um sie kennenzulernen. Er wurde ihr geistlicher Führer und Berater und unterstützte ihre Arbeit tatkräftig. Navarro war es auch, der für die Verbreitung ihrer Schriften sorgte. Im Mittelpunkt stand dabei ihr Kommentar zur gesamten Bibel, eine ungewöhnliche Schrift für eine Frau dieser Zeit. Am 26. Februar 1836, nachdem sie die Eucharistie empfangen hatte, befahl Jesus ihr, sich dem Schreiben über die Heilige 21
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Vgl. drei dieser Vorträge von unterschiedlichem Umfang mit mehreren biblischen Verweisen: Dello zelo delle anime, Dei travagli e croci dell’anima, Amor di Dio. Ich danke Schwester Germana Canteri, dass sie mir den Zugang zur Bibliothek Naudets in Verona ermöglicht hat. Giuseppe M. BESUTTI, „Ascione M. Luisa“, DIP 1 (1974), 926–931. Vgl. Giuliana BOCCADAMO, „Maria Luisa Ascione e le Illustrazioni della Bibbia“, in La Bibbia nell’interpretazione delle donne (hg. v. Claudio Leonardi und Adriana Valerio; Firenze: Il Galluzzo, 2002), 147–167. Don Luigi Navarro wurde am 10.07.1803 in Gaeta geboren. Er stieg zum Hofkaplan auf und starb 1863.
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Schrift zu widmen. Jesus selbst hatte ihr eine „capellatura d’oro“ zum Geschenk gemacht, eine glänzende Haarpracht, die die Fähigkeit zum Verständnis der Heiligen Schrift symbolisierte. Dem Rat ihres geistlichen Führers gehorchend, begann sie mit ihrem systematischen, einzigartigen und außergewöhnlichen Schaffen, die biblischen Texte zu kommentieren. Ihr erster Kommentar aus dem Jahr 1836 bezog sich auf die Offenbarung des Johannes, darauf folgte einer zum Hohelied. In einem Brief von 1872 erinnert sich Ascione an die Schwierigkeiten, auf die sie bei der Arbeit an einem Werk stieß, das ihre eigenen Fähigkeiten überstieg: Ich erinnere mich, wie ich, nachdem ich die Berufung erhalten hatte, über die Offenbarung des Johannes zu schreiben, nach der heiligen Kommunion zum Herrn sagte: „Herr, warum willst du, dass ich über dieses Buch schreibe, das mir so schwierig erscheint? Berufe mich dazu, über ein anderes, einfacheres Buch zu schreiben.“ Ich vernahm seine Antwort: „Als ich dir die Offenbarung gegeben habe, habe ich dir auch den Schlüssel zur Schrift gegeben; deswegen möchte ich, dass du zuerst dieses Buch schreibst.“ Dann verstand ich, dass ich über die ganze Schrift schreiben musste, und es schien mir sehr schwer, dies durchzuführen. Also sagte ich: „Herr, es gibt so viele Menschen, die gelehrter sind als ich, und mir, die ich gerade einmal lesen kann, gibst du diesen Auftrag?“ Der Herr antwortete: „Unter den Aposteln war Petrus der einfachste und unwissendste, und ihn habe ich zum Oberhaupt der Kirche gemacht, damit den Menschen bewusst sei, dass nicht Petrus die Kirche leitet, sondern Gott es ist, der schaltet und waltet. Das Gleiche gilt für dich: „Alle werden sehen, dass ich es bin, der es geschrieben hat und nicht du.“ Als ich die Offenbarung abgeschlossen hatte, wurde mir aufgetragen, über das Hohelied zu schreiben; allerdings schrieb ich, ohne irgendetwas zu verstehen; ich stand auf, um mit der Arbeit zu beginnen, aber ich konnte mich nicht vom Tisch bewegen. Ich ging wieder zurück, um mich zu setzen und verstand nichts. Ich sagte: „Herr, was möchtest du, dass ich tue?“ Ich hörte diesen Satz: „Ich gebe dir ein Geschenk, aber mit diesem Geschenk will ich, dass es durch die Hände meiner Mutter geht, denn jedes Mal, wenn du schreiben musst, betest du drei Gloria zum Heiligen Geist und dreimal das Ave Maria und sagst: ‚Sitz der Weisheit und Mutter des guten Rates, lasst euch herab, mich für die Liebe deines Sohnes zu erleuchten.‘“ Ich kniete sofort nieder und betete diese Gebete und verstand sofort, was ich schreiben musste.25
Die Veröffentlichung der zwei Kommentare zur Offenbarung des Johannes und zum Hohelied sorgte für Fassungslosigkeit unter den kirchlichen Revisoren Neapels, die sich weigerten, das Imprimatur für die Drucklegung der Kommentare zu Josua und zum Brief des Paulus an die Römer zu erteilen. Diese wurden trotzdem erstmals 1839 in Imola dank der Bemühungen des Kanonikers Giuseppe Stella, des Sekretärs des dortigen Bischofs, nämlich Giovanni Maria Mastai-Ferretti, des späteren Papstes Pius IX., gedruckt. Von 1843 an überging der neapolitanische Verleger Festa die lokale Zensur und kümmerte sich um die Veröffentlichung anderer Werke Asciones unter dem Titel
25
Lettere, 10/3. Mein Dank gilt Mutter Elisabetta Torres, der Generalsekretärin der Kongregation, dass sie mir den Zugang zum historischen Archiv und die Einsicht in diese Briefe Asciones (hier als Lettere bezeichnet), die sie katalogisiert und transkribiert hat, ermöglichte.
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Illustrazioni sulla Sacra Scrittura. Diese Texte wurden als 64 Seiten starke Halbmonatsschriften herausgebracht. 7.1 Die Maria Luisa Ascione zugeschriebenen Bibelerklärungen Maria Luisa Ascione hat im Laufe von 25 Jahren gut 45 Kommentare oder Erläuterungen zur Bibel26 verfasst, ein Werk, das erst abgeschlossen werden sollte, als sie ihr 60. Lebensjahr bereits überschritten hatte. 1837–39 1837–39 1837–39 1837–39 1843–44 1844 1845 1845 1845 1846 1846 1846 1846 1846 1847 1847 1847 1847 1847 1847 1848 1848 1848 1848 1849 1849 1849 1849 1850 1858 1859 1860 1865 26
Offenbarung des Johannes Hohelied Josua Brief des Paulus an die Römer Psalmen (2 Bde) Evangelien (2 Bde) Jesaja Jeremia und Baruch Ezechiel Richter und Rut Exodus und Levitikus Genesis Daniel Numeri und Deuteronomium 1 und 2 Chronik Esra, Tobit, Judit und Ester Ijob 1 und 2 Samuel 1 und 2 Könige 1 und 2 Makkabäer Weisheit und Jesus Sirach Matthäus und Markus Lukas und Johannes Sprichwörter und Kohelet Zwölfprophetenbuch Apostelgeschichte Paulusbriefe: Korinther, Galater, Epheser, Philipper und Kolosser Hohelied (zweite Ausgabe) Paulusbriefe: Thessalonicher, Timotheus, Titus, Philemon; Hebräer, Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas Lukas und Johannes (zweite Ausgabe) Psalmen I (zweite Ausgabe) Psalmen II (zweite Ausgabe) Hohelied (dritte Ausgabe)
Diese finden sich u. a. in Neapel im historischen Archiv der Kongregation Suore di Maria SS. Addolorata (ASMSA).
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Wir wissen, dass Ascione auf die Bible de Port-Royal zurückgegriffen hat, eine französische Übersetzung, die von Louis-Isaac Lemaistre de Sacy herausgegeben worden war und zudem mit dem lateinischen Text versehen war. Dies lässt darauf schließen, dass diese Frau so ungebildet nicht gewesen sein kann. Wie sie sich gemäß dem Stereotyp einer unkultivierten Mystikerin, die alles von Gott empfangen hatte, präsentierte, entsprach nicht der Realität. Wir wissen aber nichts Genaues über die Entstehung eines jeden Kommentars, welche Texte die Autorin zur Hand nahm oder ob sie Gelegenheit hatte, andere Kommentare einzusehen. Es sind keine originalen Handschriften von Maria Carmela Ascione überliefert, aber viele handschriftliche Anmerkungen. Die Ausgabe dieser Bücher zeugt von einer speziellen Sorgfalt in der Herangehensweise an den biblischen Text. Den Kommentaren Asciones ist der lateinische Text nach der Ausgabe der Vulgata von Antonio Martini aus dem Jahr 1778 vorangestellt.27 Im Folgenden zeigt ein Beispiel28, wie diese Publikation aufgebaut ist: Das Heilige Evangelium Jesu Christi nach dem Heiligen Johannes 20, 11–18 Lateinischer Text
Italienischer Text
11. Maria autem stabat ad monumentum foris, 11. Maria però stava fuori del monumento piangendo. Mentre però ella piangeva, plorans. Dum ergo fleret, inclinavit se, et s’affacciò al monumento. prospexit in monumentum. 12. Et vidit duos Angelos in albis sedentes, unum ad caput, et unum ad pedes, ubi positum fuerat corpus Jesu.
12. E vide due Angeli vestiti di bianco a sedere uno al capo, l’altro a’ piedi, dove era posto il corpo di Gesù.
13. Dicunt ei illi: Mulier, quid ploras? Dicit eis: Quia tulerunt Dominum meum; et nescio, ubi posuerunt eum.
13. Ed essi le dissero: Donna, perché piangi? Rispose loro: perché hanno portato via il mio Signore; e non so dove l’hanno messo.
14. Haec cum dixisset, conversa est retrorsum, 14. E detto questo, si voltò indietro e vide Gesù in piedi: ma non conobbe che era Gesù. et vidit Jesum stantem: et non sciebat, quia Jesus est. 15. Dicit ei Jesus: Mulier, quid ploras? Quem 15. Gesù le disse: Donna, perché piangi? Chi cerchi tu? Ella pensandosi che fosse il quadri? Illa existimans, quia hortulanus giardiniere, gli disse: Signore, se tu lo hai esset, dicit ei: Domine, si tu sustulisti eum, portato via, dimmi, dove lo hai posto; ed io dicito mihi, ubi posuisti eum; et ego eum lo prenderò. tollam. 16. Dicit ei Jesus: Maria. Conversa illa, dicit ei: 16. Le disse Gesù: Maria. Ella rivoltasi, gli disse: Rabboni (che vuol dire Maestro). Rabboni (quod dicitur Magister). 17. Dicit ei Jesus: Noli me tangere: non dum 27
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17. Le disse Gesù: Non mi toccare: perché non
Vgl. Pietro STELLA, „Produzione libraria religiosa e versioni della Bibbia in Italia tra età dei lumi e crisi modernista“, in Cattolicesimo e lumi nel Settecento italiano (hg. v. Mario Rosa; Roma: Herder, 1981), 99–125. Maria Carmela ASCIONE, Illustrazioni su i Vangeli San Luca e San Giovanni (Napoli: Reale ²1858), 474–480.
Religiöse Frauengemeinschaften Italiens enim ascendi ad Patrem meum: vade autem ad fratres meos, et dic eis: Ascendo ad Patrem meum, et Patrem vestrum, Deum meum, et Deum vestrum. 18. Venit Maria Magdalene adnuntians discipulis: Quia vidi Dominum, et haec dixit mihi.
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sono ancora asceso al Padre mio: ma va a’ miei fratelli e lor dirai: Ascendo al Padre mio, e Padre vostro, Dio mio e Dio vostro. 18. Andò Maria Maddalena a raccontare a´ discepoli: Ho veduto il Signore e mi ha detto questo e questo.
Erklärungen Vers 11 bis 18. Die beiden Jünger sind zum Hause Marias zurückgekehrt, aber Maria steht weinend vor der Gruft, weil sie den Herrn nicht finden konnte. Eva fand den Tod, weil sie sich dem Baum mit den verbotenen Früchten genähert hatte; Magdalena, die am Grab verweilte, fand das Leben. Die beiden Engel stehen für die beiden Testamente, die beide von Jesus erzählen. Ihre weißen Gewänder zeugen von der Reinheit des Glaubens, der einzigen Kirche und auch der Freude der Engel, die vollendete Erlösung zu sehen. Sie fragen Magdalena, warum sie weint, auch wenn sie den Grund kennen, weil sie sich daran erfreuen, die Sprache jener zu hören, die ihren Herrn lieben, die ihn mit vollendeter Liebe seit ihrer Schöpfung lieben. Dann erblickt sie Jesus, der sich prompt jedem zeigt, der ihn sucht. Er erscheint ihr stehend, weil er auf der Erde ein Pilger war: Nachdem er das Werk der Erlösung vollbracht hatte, war er im Begriff, zu seinem Königreich zu gehen. Er erschien als Gärtner, damit erwiesen werde, was in der Schrift vorhergesagt worden ist, wobei gefragt wurde, was diese Wunden, die er an den Händen hatte, seien, und er antwortete, dass diese ihm von jenen zugefügt worden sind, die ihn liebten (Sach 12,6). Er zeigt sich auch in dieser Form, um uns zu zeigen, dass er seine Kirche befestigt hat wie einen Weinberg, und seine Pflanzen sind die Gläubigen, um für die Ernte viele Früchte zu bringen, die sie von ihm empfangen, dem himmlischen Gärtner. Magdalena war außer sich vor Liebe, sie sah einen Gärtner und nannte ihn den Herrn und sagte zu ihm: „Wenn du ihn weggebracht, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast und ich werde ihn wegholen.“ Sie sagte nicht, von wem sie sprach, fast alle wussten, wer Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit war. Wenn es jener war, der den Körper Jesu weggetragen hat und an einen verborgenen Ort gebracht hat, hätte sie es ihm sicherlich nicht gesagt. Der Leichnam des Heilands war sehr schwer und sie sagte, sie würde ihn mitnehmen, so als sei er eine Lilie unter den Blumen des Gartens. Die Liebe, die sie ihm erweist, zeigt ihr alles einfach, wahrer Liebe erscheint nichts schwierig. Indes sagte Jesus zu ihr: „Maria“. Und sie erkannte ihn gleich und nannte ihn „Meister“. Hier, wo Magdalena den toten Jesus fand, fand sie ihn lebendig und am Donner seiner allmächtigen Stimme erkannte sie ihn. Jesus muss sich der Seele zeigen, um von ihr erkannt zu werden, sonst ist die Seele selbst nicht fähig, ihren Gott zu erkennen: Die Erkenntnis Gottes ist ein Geschenk, das von oben kommen muss. Maria lief, als sie ihn erkannte, sofort zu ihm, um diese am Kreuz durchbohrten Füße zu umarmen, aber Jesus antwortete ihr: „Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott.“ Deswegen wollte er nicht, dass Maria ihn umarmt. Welch unerklärliche Liebe hat Jesus den Menschen gezeigt! Die Jünger waren alle aus Angst vor den Juden geflohen und hatten ihn in dieser schweren Probe allein gelassen: Er drückte seinen Leib unter die Kelter des Gotteszornes wie eine erlesene Weintraube und auch deswegen erschien er in Gestalt des Gärtners. Dennoch vergaß er all das und nannte sie seine Brüder und bestätigte damit, dass sein Vater unser Vater und sein Gott unser Gott ist: Jesus sprach wie ein Mensch „mein Gott“ aus. Diese Güte zeigt
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Jesus wirklich! Auch in seiner Herrlichkeit erniedrigt er sich und spricht wie ein Mensch. Welchen Nutzen brachte uns die Erlösung, die das ewige Wort des Menschensohnes und des menschgewordenen Sohnes Gottes gebracht hat! In Adam haben wir die Ehre verloren, Diener im Hause Gottes zu sein und durch Jesus Christus haben wir das Recht der Kindschaft erworben. Magdalena ging sofort, um den Jüngern zu verkünden, dass sie den Herrn gesehen hat, denjenigen, der ihr diese Dinge gesagt hatte. Weil Magdalena so sehr liebte, machte Gott sie zur Apostelin der Apostel. Die Liebe hat alle Vorrechte: Wer sehr liebt, wird sehr geliebt von Jesus. Eva war die Botin des Todes, als sie Adam den Apfel gab, und das sagte sie zur höllischen Schlange: Gott wird für immer den Stolz des Teufels durch die Schwäche des schwachen Geschlechts stürzen, und bestimmte Magdalena als Botin des Lebens, welches wir durch die Auferstehung des Erlösers gewonnen haben. Hier leuchten die Weisheit und die Stärke Gottes, er schlägt den Teufel mit seinen eigenen Waffen, mit denen dieser über den Menschen gesiegt hatte.
Bemerkenswert ist, dass Ascione eng am Text bleibt, dem sie in jeder Passage folgt. Von der geläufigen katholischen Interpretation des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich v. a. ihre Hervorhebungen der Figur Magdalenas, die als geliebte Jüngerin und Apostelin der Apostel dargestellt wird. Sie wird durch die Beschreibung der Jünger, die aus Angst vor den Juden flüchten und Jesus seinem Schicksal überlassen, und durch die Beschreibung Evas als Botin des Todes kontrastiert. Maria von Magdala hat dank ihrer Liebe die „Schwäche“ ihres Geschlechtes überwunden. Sie ist am Grab und wird Zeugin der Auferstehung ihres Meisters: Sie wird zur Botin des Lebens und des Glaubens. 7.2 Asciones geistlicher Vater Luigi Navarro Es ist nicht ganz klar, wie Ascione ein derart gewaltiges Werk schreiben konnte. Sie war nur mittelmäßig gebildet, machte zahlreiche Schreib- und Syntax-Fehler, und ihre Sprache war stark vom neapolitanischen Dialekt beeinflusst. Sie selbst gab, als sie sich mit dem Text der Offenbarung des Johannes beschäftigte, ihre Unkenntnis zu: „Das Buch der Offenbarung öffnend, habe ich nichts verstanden.“ 29 Wir wissen, dass der geistliche Begleiter Luigi Navarro die Empfehlung gab, Ascione solle sich, wenn sie ihre tägliche Arbeit beendet habe, zur abendlichen Meditation einen biblischen Text vornehmen. Navarro korrigierte dann ihre orthografischen Fehler sowie die literarische Form und legte ihr den Text noch einmal zur Begutachtung vor. Unter seiner Führung widmete Ascione einen Großteil ihrer Zeit den Bibelkommentaren. Aus der Korrespondenz mit ihrem geistlichen Führer30 ist ersichtlich, dass beinahe alle an ihn gerichteten Briefe ihre Kommentare betreffen. 29
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[Maria Carmela ASCIONE], Vita ed intelligenze Spirituali della Serva di Dio Suor Maria Luisa di Gesù, scritte dalla Medesima (hg. v. Alberto Radente; Napoli, 1878), 170. Es sind nur 14 Briefe erhalten, der erste vom 01.11.1836, der letzte vom Februar 1844. Diese geringe Anzahl ist leicht zu erklären, wenn man bedenkt, dass Navarro seit der Gründung des neuen Instituts hierin Aufsichtsfunktionen wahrnahm und in einem dem Kloster angeschlossenen Zimmer wohnte. In der Korrespondenz finden sich häufig biblische Anklänge, und nur selten erwähnen die Schreibenden, was sie gerade zitieren. Für Ascione ist
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Es ist schwierig, die Urheberschaft und die Originalität der Illustrazioni Asciones zu erfassen. Da sie nicht studiert hatte, erwuchs ihre Exegese der Intuition und der geistlichen Erfahrung. Es fühlte sich an, als wäre ich außer mir selbst, obwohl ich doch in mir war: Das, was mich verwunderte, war, dass ich selber nicht verstand, was geschah [...]. Ich sollte hinzufügen, dass ich die Bücher der Heiligen Schrift nicht bei mir hatte. Deswegen schrieb ich sie [die Erklärungen] nach und nach, wie mein geistlicher Führer sie mir brachte, eines nach dem anderen. Ich schrieb über eines und hatte ein anderes, sonst hätte ich sie [die biblischen Bücher] nie gelesen. Vielmehr waren sie mir alle neu, als ich vom Brief des heiligen Paulus an die Römer hörte, dachte ich, er sei ein halbes Blatt Papier, eben wie Briefe, die man sich unter Freunden schickt.31
Die Illustrazioni über die Heilige Schrift entstanden also nicht mit dem Anspruch wissenschaftlicher Exegese, sondern durch innere Erleuchtung. 1836 schickte Ascione ihre ersten Schriften an Navarro: Während ich für mich oder laut betete, habe ich beabsichtigt, sie [die Bedeutungen der Texte] den Ohren des Herzens kundzutun, und sie blieben in meinem Verstand haften, bis ich sie niederschrieb […]. Ich habe meine Schuld erfüllt, sie auf Papier zu bringen, so wie ich sie im Herzen empfangen habe, deswegen bitte ich um Ihre Ehrerbietung [meine Schriften] zu lesen, und wenn Ihr sie als würdig erachtet, könnt Ihr sie erhalten, wenn Ihr sie zerstören wollt, so zerstört sie, macht, was Ihr wollt. Ich für meinen Teil habe meine Pflicht erfüllt.32
Maria Luisa Ascione „brachte die Erklärungen auf Papier, so wie sie sie im Herzen empfangen hatte“. Sie schrieb auf göttliche Berufung hin und nicht wegen einer menschlichen. In einem Brief von 1837 formulierte sie: Nun ist die Schrift, die der Herr mir über das Buch der Weisheit zu schreiben aufgetragen hat, abgeschlossen, ich überlasse sie Euch hiermit, damit Ihr davon Gebrauch macht, wie es Euch gefällt. Ihr wisst, dass ich wenig Zeit habe, verhindert durch Krankheiten, Besuchszeiten, Hausarbeiten, deswegen konnte ich über das, was ich geschrieben habe, nicht nachdenken; ich schrieb nur, was ich verstanden habe, denn viele Buchstaben haben mitten in den Silben gefehlt [...]. Wenn Ihr in meinen Schriften Schreibfehler findet, bedankt euch bei der Güte Gottes, der dieses völlig unnütze Instrument geschaffen hat, um das zu erfüllen, was er möchte.33
Ascione wollte also in erster Hinsicht den von Gott erhaltenen Auftrag erfüllen und hoffte, dass die Schriften für sie selbst und eventuelle LeserInnen von Nutzen waren, damit sie „Gewinn aus seinem Wort ziehen, denn es ist ein Feuer, das erhellt und läutert, und ein Hammer, der Steine trotz ihrer Härte zum Bersten bringen kann“. Sie hingegen verstand sich nur als ein „Instrument“: Es obliege dem Herrn, den „Schleier, der
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das Wort Gottes nicht nur eine Sammlung schöner Ideen; sie war bereits mit der Bibel tief vertraut und zitierte sie in typisch neapolitanischem Idiom. Vita, 197. Lettere, 12/1. Die Nummerierung folgt der Katalogisierung von Mutter Torres. Lettere, 12/3.
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die Heilige Schrift bedeckt“, zu lüften und ihr die „Schlüssel zur Schrift“ zu überreichen.34 7.3 Die Intervention des Dominikaners Alberto Radente Nach Luigi Navarros Tod im Jahr 1863 wurde dieser als geistlicher Führer durch den Dominikaner Alberto Radente35 ersetzt, der schon bald einen gewissen Argwohn gegenüber dem Werk Asciones vernehmen ließ. Er forderte sie noch einmal auf, über die Heilige Schrift zu schreiben, um sich zu vergewissern, dass all die publizierten Werke auch wirklich ihr und nicht etwa dem ehemaligen geistlichen Leiter zuzuschreiben sind. Nachdem er sie auf die Probe gestellt hatte, erkannte Radente die Begabung Asciones, aber im Gegensatz zu Navarro, der nur die Orthografie korrigiert hatte, scheint Radente stärker in ihre Werke eingegriffen zu haben. Unter seiner Leitung wurden 1865 die dritte Auflage des Hoheliedes36 und zwei Neudrucke des Buches über die Offenbarung des Johannes37 veröffentlicht. Auf Letztere bezieht sich eine weitere Äußerung Asciones: Hochwürdigster Vater, schon lange möchte ich etwas über die Offenbarung des Johannes schreiben, aber der Herr, so sehr ich ihn auch bat, geruhte nicht, mir irgendeine Erleuchtung zu geben. Schließlich, nachdem ich mit der Novene über den Morgenstern begonnen hatte, spürte ich die Inspiration, etwas anderes über die Apokalypse zu schreiben, also ging ich zum Chor und dank der Herrlichkeit des Herrn und der heiligsten Jungfrau konnte ich es tun. Hiermit schicke ich es Euch. Wenn es euch nützlich vorkommt, so behaltet es, andernfalls zerreißt es (21. Juli 1871).38
In welchem Ausmaß können wir das Werk Ascione selbst zuschreiben? Und wie stark ist es von Überarbeitungen der jeweiligen geistlichen Führer geprägt? 34 35
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Vita, 169. Alberto Radente OP (1817–1885), mit bürgerlichem Namen Michele, wurde 1856 zum Prior in S. Domenico Maggiore in Neapel gewählt und 1858, 1860 und 1862 wiedergewählt. Er war für den Dritten Orden zuständig und kümmerte sich um die Veröffentlichung der posthum erschienenen Autobiografie Asciones. Vgl. Luigi G. ESPOSITO, „Alberto Radente O.P. (1817–1885): Cenni bibliografici“, Archivum Fratrum Praedicatorum 55 (1985): 389–447. Die Einführung in die dritte Auflage des Hoheliedkommentars lautet folgendermaßen: „Bevor ich an die zweite Auflage der Erklärungen zum Hohelied Hand anlegte, habe ich die Dienerin Gottes befragt, warum sie in der ersten Auflage den heiligen Text der ersten drei Kapitel nur in Bezug zur Seele, im vierten die Beziehung zur Jungfrau und in den übrigen Kapiteln die Beziehung zur Kirche erklärt hatte. Sie, die, wenn sie schrieb, nichts verstand, antwortete, dass sie den Grund dafür nicht kenne. Aber dass sie sich des Gebets erinnere […], in der zweiten Auflage wurde allerdings das gesamte Buch auf die Kirche hin ausgelegt; an den Stellen, an denen es der Text erlaubte, allerdings auch auf die Beziehung zur Seele oder zur heiligsten Maria.“ Vita, 441. Ihr Kommentar zur Offenbarung des Johannes fand auch außerhalb Italiens große Verbreitung. Lettere, 10/2.
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Betrachten wir als Beispiel einen Kommentar Asciones zum Hohelied. Im Folgenden wird das handschriftliche Manuskript Asciones der revidierten Druckversion Radentes gegenübergestellt:39 Asciones Manuskript Die stets offenen Pforten stellen die Kirche dar, die immer offen ist für jeden, der eintreten will, aber auch offen für jeden, der sie verlassen will, wie etwa die Häretiker und die Ungläubigen, die die Kirche verlassen und sich in den Irrtum stürzen. Die Kirche hindert sie nicht, genauso wie sie niemanden zwingt, sich ihr anzunähern.
Radentes Version Die Pforten der Kirche sind also immer offen, nicht nur um all jene zu empfangen, die eintreten wollen, sondern auch, um sie frei herausgehen zu lassen oder sie verdientermaßen zu verjagen, die, die sich von ihr entfernen wollen, die sich gegen sie erheben, die Fallstricke legen, so wie es die Häretiker und die Ungläubigen tun, die den heiligen Tempel der Kirche verlassen, um sich in Irrtümer zu stürzen, und die deswegen exkommuniziert sind.
Es wird deutlich, dass die Sprache des geistlichen Vaters merklich juridischer geprägt war, was dazu führte, dass dem wahren Sinn der Worte Asciones in der Interpretation Gewalt angetan wurde. Ascione hatte ein weitaus toleranteres Bild der Kirche als Radente. Dieses Beispiel zeigt eindringlich, dass die Frage nach der Autorschaft dieser Schriften offen bleiben muss. Trotz allem steht Asciones außergewöhnliche Fähigkeit zu einer interpretierenden Wiedergabe des biblischen Textes außer Frage. Ihre Kommentare enthalten einen großen Reichtum an Bildern und Anregungen für die LeserInnen. Obwohl Ascione in einer Zeit lebte, die von einer tiefen Unkenntnis in Bezug auf die Bibel geprägt war, stellt der heilige Text überraschenderweise doch die Quelle ihrer außergewöhnlichen Spiritualität dar. Biblische Verse oder Bilder, seien sie aus bekannten oder auch weniger bekannten Texten entnommen, sind integraler Bestandteil ihrer Sprache und bezeugen ihre tiefe, innere Aneignung der Heiligen Schrift. Außergewöhnlich und einzigartig im Genre der italienischen Kommentarliteratur ist, dass die Bibel in ihrer Ganzheit durch eine gläubige Frau und Gründerin einer Kongregation interpretiert wird. Tatsächlich alle biblischen Bücher werden berücksichtigt und mit einem weiten Horizont des Glaubens gelesen.
8. Zusammenfassung Die hier vorgestellten Zeugnisse und Werke der Kongregationsgründerinnen De Mattias, Sterni, Mazzarello, Naudet und Ascione zeigen, dass die Bibel doch nicht so weit vom Glauben der katholischen Frauen entfernt war. Ich denke, dass wir hier nur die Spitze eines Eisberges sehen und dass es nötig sein wird, noch viel nachzuforschen, um neue Belege dafür zu finden, wie die Verbreitung der Bibel in Italien und die Beziehung, die Frauen zu ihr hatten, aussahen. Wir können in diesen Frauen ein neues 39
Dieses Beispiel findet sich bei BOCCADAMO, „Maria Luisa Ascione“, 165.
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weibliches Selbstbewusstsein wahrnehmen, das die kritische Denkhaltung des 20. Jahrhunderts bereits vorwegnimmt. Hier öffnen sich auch in Italien neue Perspektiven, von denen aus es wenige Jahre später zur Geburt jenes katholischen Feminismus kam, der vor allem auf Elisa Salerno (1873–1957) und ihre Commenti critici alle note bibliche antifemministe40 zurückgeht. Aber das findet schon in einem laizistischen Kontext und während der Krise des Modernismus statt.
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Elisa Salerno, eine passionierte autodidaktische Gelehrte, widmete sich der Verteidigung der weiblichen Würde im familiären, beruflichen, sozialen und kirchlichen Umfeld. Unter ihren Werken mit biblischen Bezügen finden sich: Elisa SALERNO, La sacra Scrittura adattata all’antifemminismo (unveröffentlicht); DIES., Commenti critici alle note bibliche antifemministe e ai catechismi dell’Ordinario della diocesi di Vicenza (2 Bde; Vicenza: Arti Grafiche Vicentine G. Rossi e C., 1926); Maria PASINI (ein Pseudonym Elisa Salernos), La donna in san Paolo apostolo (Vicenza: Arti Grafiche delle Venezie, 1952). Vgl. auch Elisa VICENTINI, Una Chiesa per le donne: Elisa Salerno e il femminismo cristiano (Neapel: D’Auria, 1995).
Konservativer Feminismus im katholischen Spanien des 19. Jahrhunderts: Gimeno de Flaquers „Evangelios de la Mujer“ Inmaculada Blasco Herranz Universidad de La Laguna Um 1900 war Spanien ein fast ausschließlich vom Katholizismus geprägtes Land. Aufgrund der geltenden Verfassung von 1876 war es ein konfessioneller katholischer Staat, wenngleich andere Religionen geduldet wurden. Allerdings hatten sich schon seit Jahrzehnten kritische Stimmen erhoben, die sich gegen die überragende Rolle des Katholizismus im politischen und sozialen Leben aussprachen und welche eine modernere Ausrichtung des konventionellen katholischen Glaubens und seiner Praxis forderten. Diese, wenn auch nur von wenigen geäußerte Infragestellung einer langen, monolithischen und hegemonialen katholischen Tradition, übte auf das gesamte Werk der Schriftstellerin, Essayistin und Journalistin María de la Concepción Gimeno de Flaquer (1850–1919), die sich selbst als konservative Feministin bezeichnete, einen tiefgreifenden Einfluss aus.1
1. Concepción Gimeno de Flaquer Geboren in Alcáñiz, in der aragonesischen Provinz Teruel, ging Gimeno de Flaquer mit 20 Jahren nach Madrid, wo sie Beiträge für verschiedene Zeitschriften verfasste und in literarischen Zirkeln verkehrte, die von renommierten SchriftstellerInnen wie Carolina Coronado (1820–1911) und Juan Valera (1824–1905) frequentiert wurden. 1872 gründete sie in Barcelona die Zeitschrift La ilustración de la mujer, deren deklarierter Zweck „die Verteidigung ihres Geschlechts“ war. In dieser Zeit erschienen auch ihre Essays La mujer española (1877) und La mujer juzgada por una mujer (1880). Außerdem verfasste Gimeno damals ihre ersten Romane Victorina o heroísmo del corazón (1873) und El docto ralemán (1880). Im Jahr 1879 heiratete sie den Journalisten Francisco de Paula Flaquer, den Herausgeber der Zeitschrift El Álbum Ibero-Americano. Diese Eheschließung bedeutete für sie zugleich den Beginn ihrer Mitarbeit an dieser Zeitschrift und war auch Auftakt für eine Reihe fruchtbringender Aufenthalte in Frankreich, Portugal und Mexiko. In Mexiko, wo Gimeno sieben Jahre verbrachte, gründete und leitete sie die Zeitschrift El Álbum de la Mujer und trat als Botschafterin der spanischen Kultur in Erscheinung. 1890 kehrte sie nach Spanien zurück und engagierte sich dort für den kulturellen Austausch mit Mexiko, indem sie dessen Geschichte und Literatur bekannt machte. Die Schriftstellerin übernahm auch die Leitung des Álbum Ibero-Americano, nahm weiterhin an den literarischen Zusammenkünften (tertulias) 1
Ein Verzeichnis ihrer Werke findet sich bei: María del Carmen SIMÓN PALMER, Escritoras españolas del siglo XIX: Manual bio-bibliográfico (Madrid: Castalia, 1991), 363–374; vgl. ebenso www.escritoras.com/escritoras/escritora.php?i=144 (02.06.2008).
Inmaculada Blasco Herranz
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teil, verfasste Essays, so die Evangelios de la mujer (1901), und hielt in der wissenschaftlich-literarischen Vereinigung Ateneo Científico y Literario de Madrid, dem Forum der fortschrittlichen Kräfte in Spanien, Vorträge zur Frage des Feminismus (El problema feminista, 1903). 1917 unternahm sie eine Reise durch Lateinamerika und starb zwei Jahre später in Madrid. Der Essay Evangelios de la Mujer (Frauenevangelien) ist eines der repräsentativsten Werke Gimenos, in dem sich am deutlichsten zeigt, wie ihr der Katholizismus dazu diente, die Gültigkeit und Legitimität ihrer feministischen Forderungen zu untermauern. Das gilt sowohl für die Bibeltexte als auch für die Stimmen kirchlicher Autoritäten, die sie ins Treffen führte. Zugleich stellten ihre Schriften auch eine Herausforderung an die hegemoniale katholische Hermeneutik dar, insofern als ihre Interpretation der Geschichte des Katholizismus und der biblischen Texte von der Überzeugung geleitet wurde, dass Frauen und Männer geistig ebenbürtig waren und dass die Frauen in der Menschheitsgeschichte im Allgemeinen und in der Kirchengeschichte im Besonderen eine bedeutende Rolle innegehabt hatten. Wahrscheinlich findet sich bei keiner anderen konservativen Feministin, einschließlich der konfessionellen Feministinnen (zu denen Gimeno nicht gehörte), ein so konstanter, wiewohl wenig systematischer Rekurs auf die Bibel und auf die Kirchengeschichte. Das lässt auf eine Kenntnis der Materie schließen, die damals nicht oft anzutreffen war.
2. Gimeno de Flaquer und der konservative Feminismus In den Schriften, die Gimeno zwischen 1869 und 1908 verfasste, verteidigte sie mit Entschiedenheit die intellektuelle und moralische Kapazität der Frauen und forderte aus diesem Grund eine verbesserte Bildung für das weibliche Geschlecht. Sie war eine Zeitgenossin der Schriftstellerinnen Concepción Arenal (1820–1893) und Emilia Pardo Bazán (1851–1921), die beide renommierte Verfechterinnen des Zugangs von Frauen zu Bildung waren. Ihr Werk ist repräsentativ für den von ihr selbst sogenannten „konservativen Feminismus“. Mit dieser Bezeichnung wollte Gimeno sich von den anderen feministischen Richtungen ihrer Zeit abgrenzen. Diese Strömungen, die mit dem Anarchismus und dem Sozialismus verbunden waren, nämlich zwei Ideologien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Verbreitung in Spanien fanden, betrachtete sie als zu extrem, weil sie ihrer Meinung nach das Gegeneinander von Frauen und Männern förderten. Sie selbst vertrat dagegen einen Feminismus, der zwischen den Geschlechtern vermittelte, der die Ehe respektierte, jedoch forderte, dass „in moralischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht dieselben Gesetze für beide Geschlechter“ zu gelten hätten. Mit der Verwirklichung dieser Ideen würde die Frau nicht länger „einen geringeren Status als der Mann haben und moralisch keine Sklavin mehr sein“.2 Gimeno folgte dem Geschlechterverständnis des 19. Jahrhunderts, demgemäß zwei irreduzible komplementäre menschliche Naturen existierten. Frauen und Männer be2
Concepción GIMENO Fé, 1900), 108.
DE
FLAQUER, Evangelios de la mujer (Madrid: Librería de Fernando
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säßen unterschiedliche moralische und psychische Eigenschaften, die sie ihrerseits zur Erfüllung unterschiedlicher Aufgaben befähigten. Ausgehend von diesem Verständnis entwickelte Gimeno ihre Kritik an allen jenen, die der Auffassung waren, Frauen seien Männern moralisch und geistig unterlegen. Ihnen gegenüber formulierte sie ihre Verteidigung der geistigen und moralischen Kapazität der Frauen und ihre Forderung nach der notwendigen Bildung des weiblichen Geschlechtes. Ihr Insistieren auf Anerkennung der intellektuellen Ebenbürtigkeit der Frauen bedeutete jedoch nicht unbedingt, dass sie dieselben sozialen Aufgaben wie Männer zu erfüllen hätten. In der Tat war es so, dass Gimeno diese Forderung gerade mit der andersgearteten, allerdings aufgewerteten, Rolle der Frauen als Gattinnen und Mütter begründete. Es ging ihr dabei um die Tatsache, dass den Frauen so wichtige Aufgaben oblagen, wie für die moralische Erziehung der Kinder zu sorgen und als wache Gefährtinnen das Leben ihrer Männer zu begleiten. Das Werk Gimenos ist auf sehr unterschiedliche und sogar widersprüchliche Weise interpretiert worden. Für einige Autorinnen schließt Gimeno an eine liberale Position an, insofern sie die Auffassung des Liberalismus von der Frau als einem vervollkommnungsfähigen Subjekt teilte. Aus dieser Position heraus sei sie zu einer unermüdlichen Verteidigerin der Frauenrechte geworden.3 Von anderen wieder wird ihr Werk aufgrund des konservativen katholischen Aspekts als reaktionär eingestuft und ihre Analyse der Ursachen für die soziale und rechtliche Diskriminierung der spanischen Frauen „als Widerschein der Grenzen eines von den katholischen Dogmen imprägnierten Reformismus“ gesehen.4 Eine dritte Herangehensweise sieht in Gimenos Werk eine 3
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Maria José LACALZADA MATEO, „Las mujeres en la ‚cuestiónsocial‘ de la Restauración: Liberales y católicas (1875–1921)“, Historia Contemporánea 29 (2004): 691–717; 702: „Concepción Gimeno de Flaquer entfaltete eine intensive publizistische Tätigkeit, die sich mit den Möglichkeiten deckte, welche damals für die Verwirklichung liberaler Ideen in der Gesellschaft bestanden.“ Wegen dieses Standpunktes betrachtete sie Frauen als eigenständige Personen und setzte sich für deren Selbstbestimmung ein. Vgl. Solange HIBBS-LISSORGUES, „Tous les chemins mènent à Dieu: l’Église et les femmes dans la deuxième moitié du XIXe siècle“, in Femmes et démocratie: Les Espagnoles dans l’espace public (1868–1978) (hg. v. Marie-Aline Barrachina et al.; Nantes: Editions du Temps, 2007), 43–59. Daraus schließt Hibbs-Lissorgues, dass Gimenos Verteidigung eines moralisierenden Feminismus eine Vorstellung davon vermittelt, in welchem Ausmaß die katholische Kultur des 19. Jahrhunderts in Spanien ein Hindernis für eine wirkliche Emanzipation der Frauen darstellte. Außerhalb des akademischen Rahmens wird Gimeno auch von der Journalistin Lola Campos in ihrem Artikel in der Tageszeitung Heraldo de Aragón in dieser Richtung interpretiert. Sie vertritt die Meinung, dass Gimenos Romane wie z. B. Victorina o heroísmo del corazón [Victorina oder Heldenmut des Herzens] „ihren Hang zur Romantik und zu einem Konservatismus erkennen lassen, der dem aufgeschlossenen Geist, der sich in ihren journalistischen Schriften findet, oft entgegensteht“. Das gelte auch für ihren zweiten Roman, El doctor alemán [Der deutsche Doktor], in dem sie „den Frauen wieder beharrlich die Rolle der Aufopferungsvollen und geduldig Ertragenden zuteilte“. Auch in ihren mexikanischen Romanen „hielt sie hartnäckig an der abgestandenen Romantik fest. Es genügt, sich den Titel eines dieser Romane, Suplicio de una coqueta [etwa:
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Vermischung zweier Welten, ein Produkt des Übergangs vom Alten zum Neuen oder das Resultat der in der Zeit des Jahrhundertwechsels vorhandenen Widersprüche.5 Dies würde die Spannungen und Ambivalenzen erklären, die sowohl in ihrem journalistischen als auch in ihrem essayistischen Werk auszumachen sind. Die hauptsächliche Spannung bestehe darin, eine konservative Denkweise über Frauen mit feministischen Forderungen in Einklang zu bringen. Diese Denkweise, die an die Positionen der sogenannten „Schriftstellerinnen der Häuslichkeit“ aus der Regierungszeit Isabellas II. (1843–1868) anknüpft, sei im Rahmen des bürgerlichen Häuslichkeitsmodells des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Die feministischen Forderungen dagegen wurzelten in einem aufgeklärt-liberalen Denken, das jenem Modell kritisch gegenüberstand. Die beiden ersten Interpretationen, die Gimeno an den scheinbar gegensätzlichen Polen von Liberalismus und Katholizismus positionieren, sowie auch die dritte Interpretation, die ihr Werk als das widersprüchliche Produkt einer im Wandel begriffenen Zeit versteht, kranken daran, dass sie zu sehr in der Gegenwart verhaftet sind, d. h. dass sie heutige Feminismuskonzepte auf die Vergangenheit anwenden. Auch liefern sie keine genaue Analyse dessen, wie sich Gimenos Feminismus im Licht einer bestimmten Lesart des Katholizismus, sowohl hinsichtlich der Tradition als auch der Bibel, artikulierte. Anstatt ihr Denken als rückständig oder fortschrittlich zu etikettieren, was bisweilen auch nur implizit geschieht, müsste es darum gehen, herauszufinden, wie sie zur Konzeption eines Feminismus gelangte, den sie selbst als konservativ bezeichnete, um sich von den feministischen Richtungen sozialistischer oder anarchistischer Prägung abzugrenzen. Mein Interpretationsvorschlag zielt auf die Möglichkeit ab, Gimeno als Repräsentantin einer schwer zu entflechtenden Symbiose zweier Weltsichten zu sehen, die sie nicht unbedingt als Spannung oder Widerspruch erlebt haben muss und die auch nicht so zu interpretieren ist. Es ist die Symbiose zwischen einer Weltsicht, die dem Liberalismus nahe steht – in ihrem Werk ist stets das ideale Menschen- und Frauenbild der Aufklärung präsent, – und einer zweiten, die durch und durch katholisch geprägt ist. Allerdings handelt es sich dabei um einen erneuerten und nicht vollständig der über-
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Qualen einer Koketten], ins Gedächtnis zu rufen, um sich eine Vorstellung von ihren Ansichten zu machen. Oder den Titel ihres letzten, 1890 erschienenen Romans Culpa o expiación? [Schuld oder Sühneopfer?], in dem die Heldin ihre Verhaltensweise gegenüber den Männern mit dem Tod bezahlt.“ Lola CAMPOS, „Concepción Gimeno Gil“, Heraldo de Aragón, 03.05.1998. Diego Chozas zufolge „spiegeln sich die damaligen Spannungen und Konflikte zwischen den fortschrittlichen feministischen Ideen und den traditionelleren Tendenzen im Álbum Ibero-Americano und in der so bezeichnend widersprüchlichen Mentalität Gimeno de Flaquers selbst wider“. Diego CHOZAS, „La mujer según el Álbum Ibero-Americano (1890– 1891) de Concepción Gimeno de Flaquer“, Espéculo: Revista de estudios literarios; www.ucm.es/info/especulo/numero29/albumib. html (02.06.2008). Dieselbe Ansicht vertritt auch Maryellen BIEDER: „Feminine Discourse/Feminist Discourse: Concepción Gimeno de Flaquer“, Romance Quarterly 37/4 (1990): 459–477; ebenso María de los Ángeles AYALA, „La mujer española de Concepción Gimeno de Flaquer“; www.cervantesvirtual.com/servlet/ SirveObras/01937963328926242900035/index.htm (02.06.2008).
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kommenen kirchlichen Lehre angepassten Katholizismus. Schon Gimenos Erziehung und Ausbildung verband beide Traditionen miteinander. So erzählt sie in ihrem Buch La mujer española, dass sie ihre Ausbildung zur Lehrerin in einer weltlichen Institution erhielt, während sie in ihrer Familie, die der lokalen Aristokratie angehörte, eine zutiefst religiöse Erziehung genossen hatte. Diese Interpretation, die ich vorschlage, erfordert eine genaue Analyse der Hermeneutik, die Gimeno auf die biblischen Texte und die katholische Tradition anwendete. Und sie muss der Frage nachgehen, welche Rolle diese Texte bei der Formulierung ihres Feminismus und des Frauenkonzepts als seinem zentralen Sujet spielten. Dieser Aspekt wurde bisher kaum untersucht, weder im Werk Gimenos im Besonderen noch im Hinblick auf den sogenannten konservativen Feminismus im Allgemeinen, der auch damals als solcher bezeichnet wurde. Für sein Verständnis ist dieser Aspekt jedoch von zentraler Bedeutung. In diesem Sinn lässt sich feststellen, dass der Katholizismus in den liberalen feministischen Initiativen des 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts ein erhebliches Gewicht hatte.6 So waren Initiativen, wie jene von Celsia Regis, die im Jahr 1925 eine der ersten Madrider Gemeinderätinnen war, zusammen mit der Asociación Nacional de Mujeres Españolas, dem damals wohl wichtigsten feministischen Frauenverband, der von 1918 bis 1936 aktiv war, zwar nicht unbedingt konfessioneller Natur, hatten jedoch einen unbestreitbar katholisch geprägten Unterbau. Mein Beitrag untersucht die Fragestellung, welcher Katholizismus für Gimeno das Fundament ihres Feminismus und ihrer Frauenkonzeption bildete. Auf diese Weise soll eine komplexere und historisch verortete Sicht auf ihr Werk geboten werden. In dem Denkprozess, der Gimeno zu ihrer Definition der Frau und des Feminismus führte und in dem der Katholizismus einen integralen Bestandteil darstellte, erarbeitete sie eine Kritik an der vorherrschenden Auffassung des Katholizismus und trug so zur Transformation der orthodoxen Sichtweise des Katholizismus in Spanien bei. Sie selbst zog den Terminus Christentum vor. Innerhalb dieses Rahmens handelt es sich von daher um die Frage nach Gimenos Lesart der biblischen Texte, d. h. welche Stellen sie bevorzugterweise herausgriff, wie sie diese interpretierte und zu welchem Zweck. Dieselbe Frage stellt sich auch in Bezug auf andere Komponenten der katholischen Tradition sowie im Hinblick auf die Äußerungen bestimmter kirchlicher Autoritäten.
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Zu den Gemeinsamkeiten zwischen dem Werk Gimenos und den sogenannten „Schriftstellerinnen der Häuslichkeit“ oder „Tugendschriftstellerinnen“ der isabellinischen Ära siehe Íñigo SÁNCHEZ LLAMA, Galería de escritoras isabelinas: La prensa periódica entre 1833 y 1895 (Madrid: Cátedra, 2000); DIES., Antología de la prensa periódica femenina escrita por mujeres (1843–1894) (Cádiz: Universidad de Cádiz, 2001); Alda BLANCO, Escritoras virtuosas: narradoras de la domesticidad en la España isabelina (Granada: Universidad de Granada, 2001); Rebeca ARCE, Dios, Patria y Hogar: La construcción social de la mujer española por el catolicismo y las derechas en el primer tercio del siglo XX (Santander: Universidad de Cantabria, 2008), 49f.
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3. Religion und Feminismus im Werk von Gimeno de Flaquer Wenn wir von den Evangelios de la Mujer einen ähnlichen Text erwarten wie Elizabeth Cady Stantons The Woman’s Bible, werden wir enttäuscht sein.7 Gimeno unternimmt keine Neuinterpretation der biblischen Texte aus der feministischen Perspektive ihrer Zeit, vielmehr handelt es sich um eine breit angelegte und wenig systematische Überlegung zur Thematik Frau und Feminismus. Was haben nun die Evangelien und in einem weiteren Sinn die christliche Religion mit ihrem Essay zur Verteidigung des Feminismus zu tun? Evangelios de la Mujer präsentiert ein konservatives feministisches Programm und Frauenbild: Beides ist v. a. der historischen Begründung der katholischen Tradition und der Heiligen Schrift geschuldet. Gimeno erarbeitet sich einen eigenen Begriff von Evangelien, um vom Feminismus sprechen zu können, denn für sie enthalten beide Konzepte ein Erlösungsversprechen, das für sie sowohl in der Schrift als auch im feministischen Gedankengut zu erkennen ist. Wie sich im Folgenden zeigt, handelt es sich um ein ganz konkretes feministisches Gedankengut, das sie konservativ nennt. In Gimenos Verständnis enthielten die Evangelien ein Erlösungsversprechen für die Menschheit, und demnach bedeutete der Feminismus auch ein Erlösungsversprechen für die Frau. Dieser Rekurs auf die Heilige Schrift für den Titel eines Textes über den Feminismus offenbart jedoch darüber hinaus, wie stark Gimenos Sicht der Frau und des Feminismus von einer im Wandel begriffenen religiösen Vorstellung geprägt war. Bei aufmerksamer Lektüre des Textes wird deutlich, wie ihre Formulierung des Feminismus von einer bestimmten religiösen Weltsicht getragen wurde. Allerdings ist zu präzisieren, dass es sich um eine religiöse Weltsicht handelte, die durch das Gedankengut des aufgeklärten Liberalismus und des Krausismo8 eine Neubestimmung erfuhr. Gimeno lässt sich innerhalb dieser neu formulierten Weltauffassung verorten, die sich gegenüber dem Katholizismus, wie er von der Mehrheit in Spanien verstanden und praktiziert wurde, kritisch zeigte, zugleich aber versuchte, Religion und Wissenschaft sowie Katholizismus und Liberalismus miteinander in Einklang zu bringen. Nicht allein in den Evangelios de la Mujer, sondern ganz allgemein in ihrem essayistischen Werk und auch in ihren Vorträgen findet sich dieser Rekurs auf die christliche Religion zur Stützung ihrer feministischen Forderungen und zur Verteidigung ihres 7
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Elizabeth Cady STANTON, Hg., The Woman’s Bible (2 Bde; New York: European Publishing, 1895/1898). Unter Berufung auf das an den deutschen Idealismus angelehnte Lehrsystem des Heidelberger Privatdozenten Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) gewann der „Krausismo“ ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen bürgerlich-liberalen Reformideen in den spanischen Geistes-, Rechts- und Staatswissenschaften nachhaltigen Einfluss. Zur Popularisierung dieser Geistesrichtung hat v. a. der Madrider Professor für Philosophiegeschichte Julián Sanz del Rio (1814–1869) mit seinen Übersetzungen der Werke Krauses beigetragen. Der Terminus „Krausismo“ galt als „Kollektivbegriff für eine eigentlich heterogene Bewegung“ und wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Feindbegriff von der reformfeindlichen neokatholischen Presse geprägt“. Hans Ulrich GUMBRECHT, „Krausismo“, HWP 4 (1976), 1190–1193; 1190.
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Feminismus. Gimeno hatte eine ganz konkrete Auffassung vom Katholizismus und entfernte sich damit in gewissem Maße von der katholischen Orthodoxie ihrer Zeit. Deshalb zog sie es vor, vom Christentum zu sprechen, denn das erlaubte ihr ein umfassenderes und weniger dogmatisches Glaubensverständnis. So insistierte sie immer wieder darauf, dass Feminismus und Christentum kompatibel seien und keinen Gegensatz darstellten – sicherlich um jenen Stimmen zu begegnen, die gerade diesen behaupteten. Diese Kompatibilität machte das Christentum zum Bezugspunkt und Modell für den Feminismus, denn für Gimeno waren beiden Weltanschauungen zwei Wesenszüge gemeinsam. Zunächst handelte es sich in beiden Fällen um Erlösungslehren. Ähnlich wie das Christentum als Religion der Schwachen, Unterdrückten und Unglücklichen gesehen wurde, galt auch für den Feminismus, dass er in Bezug auf die Frauen den Aspekt des Schutzes und der Hebung der Sittlichkeit besaß. So betonte Gimeno, wie sehr der Feminismus dazu gedient habe, Einrichtungen zur Aufnahme von sozial ausgegrenzten Frauen und verwahrlosten Kindern zu schaffen, sowie dazu, eine Gesetzgebung zum Schutz der Arbeiterinnen und der Kinder zu fordern. Gegenüber der Herrschsucht der Mächtigen wurde die feministische Denkweise als „das Apostolat der Moralität“ bezeichnet, als „Mittlerin zwischen den Ausbeutern und den Ausgebeuteten“.9 Aufgrund dieses versittlichenden Charakters des Feminismus sei – so Gimeno – der Klerus für ihn eingetreten. In den Evangelios de la Mujer führt sie mehrere Beispiele einer aufgeschlossenen Haltung der katholischen Hierarchie gegenüber dem Feminismus an. So berichtet sie von Herbert Kardinal Vaughan (1832–1903), dem Erzbischof von Westminster, und von Monsignore John Ireland (1838–1918), dem Bischof von Saint Paul in Minnesota, die 1899 am Internationalen Frauenkongress in London teilnahmen. Eine amerikanische Feministin habe mit Mariano Kardinal Rampolla del Tindaro (1843– 1913) gesprochen, der ihr im Namen von Papst Leo XIII. seine Unterstützung in Bezug auf die Erziehung und Bildung der Frau und seine vermittelnde Rolle im Hinblick auf die soziale Frage in Aussicht stellte. Der Erzbischof von Canterbury schließlich habe sich für das Frauenwahlrecht ausgesprochen, weil er der Ansicht war, dass der Einfluss der Frauen für die Gesellschaft und die Gesetzgebung von Nutzen sei.10 Eine zweite Gemeinsamkeit zwischen Feminismus und Christentum beruhte nach der Auffassung Gimenos darauf, dass beide Denksysteme von der Idee der Ebenbürtigkeit beider Geschlechter ausgingen. Wie sie in den Evangelios de la Mujer hervorhebt, sei Jesus Christus in der Tat der erste Verfechter des Feminismus gewesen: Jenen, die sich vor dem Feminismus abwehrend bekreuzigen, sei gesagt, dass Jesus Christus der Wegbereiter des Feminismus war. Die Apostel dieses Evangeliums machen die Ebenbürtigkeit von Mann und Frau geltend, die der Gekreuzigte so beredt mit seiner Lehre verkündet hat.11
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GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 132. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 128. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 108.
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Die Übereinstimmung zwischen Feminismus und Christentum in Bezug auf die Ebenbürtigkeit der Geschlechter kam ihr zustatten, um ihren Feminismus als konservativ zu definieren. Denn im Gegensatz zu den feministischen Richtungen sozialistischer und anarchistischer Prägung, die sich mit der Idee der Geschlechterrivalität identifizierten, wollte Gimeno nicht „Frauen und Männer gegeneinander aufbringen“, sondern die Unterordnung der Frau im Geschlechterverhältnis aufbrechen und sie als Gefährtin an die Seite des Mannes stellen. In diesem Zusammenhang meinte sie, wenn es eine Partei oder Ideologie gäbe, der sich der Feminismus anschließen könnte, dann sei es das Christentum. In ihrem Essay El problema feminista heißt es: Manche Leute in Spanien stellen sich vor, dass der Feminismus eine Doktrin ist, die aus Frauen und Männern Gegner machen will, ein Kampf, der nicht für die Rechte der Frauen, sondern gegen ihre Pflichten geführt wird. Andere wieder halten den Feminismus für ein Produkt des Sozialismus oder des Anarchismus und übersehen dabei, dass er sich mit keiner politischen Partei solidarisiert, dass Jesus Christus sein Wegbereiter war, indem er die Ebenbürtigkeit der Geschlechter verkündete. Die sakramentale Trauungsformel „Eine Gefährtin gebe ich Dir, keine Dienstmagd“ beinhaltet das Programm des Feminismus.12
In der katholischen Trauungsformel, die unter Rückbezug auf Gen 2,18 den Status der Frau als Gefährtin definierte, fand sich Gimeno zufolge die Ebenbürtigkeit der Geschlechter festgeschrieben: „Eine Gefährtin gebe ich Dir, keine Dienstmagd [...]. Diese Trauungsformel beinhaltet die höchsten Bestrebungen des Feminismus.“13 Gegenüber der Betonung, die andere katholische Denker oder die kirchliche Hierarchie auf die untergeordnete Stellung der Frau in der Ehe legten, scheint sich bei Gimeno eine bürgerliche Vorstellung von der Ehe niedergeschlagen zu haben, die auch von den sogenannten „Tugendschriftstellerinnen“ oder „Schriftstellerinnen der Häuslichkeit“ vertreten wurde. Nach dieser Vorstellung wurden die Frauen durch das Eheband aus ihrem Dasein als Sklavinnen, die den männlichen Begehrlichkeiten ausgeliefert waren, befreit, indem sie zu lebenslangen Gefährtinnen eines einzigen Mannes wurden.14 12 13 14
Concepción GIMENO DE FLAQUER, El Problema feminista: Conferencia en el Ateneo de Madrid (Madrid: Asilo de Huérfanos del S. C. de Jesús, 1903), 6. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 129. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Familie in katholischen Kreisen als Urkern der sozialen Organisation, als „fundamentale Grundlage der Zivilgesellschaft“ verstanden, als „unverzichtbarer Organismus in der Mitte“ zwischen dem Staat und dem Individuum, dessen Prinzip die unauflösliche kanonische Ehe war. In dieser häuslichen Gesellschaft, wie Papst Leo XIII. die Ehe in seiner Enzyklika Arcanum nannte, war der Mann der Vorgesetzte der Familie und das Haupt der Frau, die in einem hierarchischen Verhältnis zu ihm stand, das auf Unterwürfigkeit und Gehorsam beruhte. Der Diskurs der Häuslichkeit, zu dem der Katholizismus in Spanien zweifellos seinen Teil beigetragen hatte, wurde am Ende des 19. Jahrhunderts üblicherweise noch durch den Zusatz ergänzt, dass „die Unterwürfigkeit und der Gehorsam die Frau in der Ehe keineswegs herabwürdigen“, denn sowohl das Sakrament der Ehe als auch die Institution der Familie hätten dazu beigetragen, die Frau zu erhöhen. Vgl. Antonio OMS, „Discurso del M. I. Sr. D. Antonio Oms, penitenciario de la Catedral de Gerona“, in Crónica del cuarto congreso católico español: Discursos pronunciados
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Gimenos Lesart der Heiligen Schrift wurde von dieser Vorstellung bestimmt, und so wurde die „Gefährtin“ der Trauungsformel von ihr im Sinn des aufgeklärt-bürgerlichen Eheideals verstanden, dem zufolge „die Vereinigung der Gedanken, der Gleichklang der Seelen unabdingbar“ war. „Wenn es keine geistige Verschmelzung der Eheleute gibt, wird das Leben zur Hölle.“15 In dieser ehelichen Verbindung, die auf Harmonie ausgerichtet war, wurden die Frauen als Ergänzung und Stütze des Mannes betrachtet; sie sollten ihn auf seinem Weg zur Erhöhung seines Wesens begleiten, ihm helfen und ihn verstehen. Diese Vorstellung von der christlichen Ehe und dem christlichen Glauben erhielt ihren Sinn und ihre Legitimität dadurch, dass sie sich nahtlos in einen Diskurs einfügte, der in konservativen katholischen Kreisen weit verbreitet war und bald auch im katholischen Feminismus präsent sein sollte. Demnach hatte das Christentum die Frauen aus der Sklaverei, der sie in den antiken Gesellschaften unterworfen waren, befreit.16 Gimeno betrachtete die Vergangenheit durch die Brille eines christlichen Diskurses, dem zufolge die Frauen in heidnischen Gesellschaften, die auf der Stärke des Mannes und der Inferiorität und Unterwerfung der Frauen basierten, Sklavinnen gewesen seien, die durch das Christentum befreit wurden, nämlich durch die Einführung der kanonischen Ehe als ein unauflösliches Band. In den vorchristlichen Gesellschaften des Altertums hätten die Frauen eine Behandlung erfahren, die ihre Stellung als passive und inferiore Wesen, deren Aufgabe die Erhaltung des Menschengeschlechts war, entsprach. Die Frauen selbst seien von ihrer Inferiorität überzeugt gewesen und hätten sich in einem Beziehungsrahmen, in dem die Stärke über die Vernunft regierte, den Befehlen ihres Herrn unterworfen. Diese allgemeine Vorstellung vom geringen Stellenwert der Frauen in den vorchristlichen Gesellschaften diente als kontrastiver Hintergrund für die Darstellung des Christentums als jener Religion, von der die Frau ihre Würde erhalten hat: Unbeschadet der tatsächlichen Gesetze und Gebräuche wurde die mythische Frau in der Religion und der Poesie des Heidentums in ihrer Würde dargestellt, die reale Frau jedoch erlangte alle Privilegien im Christentum. So ist es nur natürlich, dass sie voller Enthusiasmus zur eifrigen Verbreiterin dieser Religion wurde.17
Dieselbe Zuerkennung der Würde hätten die Frauen nach Gimeno in der Zeit der Kreuzzüge erlebt: Die Zeit der Kreuzzüge, die einen so bedeutenden Platz in den religiösen Annalen einnehmen, war auch eine große Zeit in der Frauengeschichte […]. Die Zeit der Kreuzzüge war der Frau sehr günstig: Stets hat die Religion unserem Geschlecht Unterstützung ge-
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en las sesiones públicas, reseña de las memorias y trabajos presentados en las secciones y demás documentos referentes a dicha asamblea, celebrada en Tarragona en Octubre de 1894 (Tarragona: 1894), 365–375; 369. GIMENO DE FLAQUER, El Problema feminista, 27. Inmaculada BLASCO, Paradojas de la ortodoxia: Política de masas y militancia católica femenina en España (Zaragoza: Prensas Universitarias de Zaragoza, 2003). GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 17f.
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Inmaculada Blasco Herranz währt, es erhöht und ihm Würde gegeben. Mit der Heraufkunft des Christentums wurde es errettet, es wurde aus seiner Erniedrigung befreit, und seit damals steht es unter dem Schutz der Kirche.18
Der Grundgedanke, auf dem Gimenos Ehebegriff basierte, war eine Konzeption der Frau als eine in ihren geistigen Fähigkeiten dem Mann ebenbürtige Partnerin; das Verhältnis der Eheleute beruhte auf ihrer Gleichwertigkeit. Gimeno vertrat im Kontext des in Spanien herrschenden intransigenten Katholizismus einen Begriff der Ebenbürtigkeit, der aus dem aufgeklärt-liberalen Gedankengut stammte und sich gegenüber der misogynen katholischen Tradition von der weiblichen Inferiorität auf die Existenz zweier von Natur aus gleichwertiger Geschlechter berief. Frauen und Männer seien verschieden und ergänzten einander, seien jedoch ebenbürtig hinsichtlich ihres Intellekts und der Fähigkeit zu vernunftgemäßem Denken. Die Frau „ist mit natürlichen Fähigkeiten ausgestattet, sie steht weder unter dem Mann noch über ihm, sie ist anders als er, aber es ist eine Verschiedenheit, darin sich die Gleichwertigkeit findet“.19 Aufgrund dieser Gleichwertigkeit in Bezug auf die geistigen Fähigkeiten und der Notwendigkeit, Ausgewogenheit und Harmonie in der Ehe und im häuslichen Leben zu erreichen, gelangte Gimeno zu ihrer Forderung nach der Bildung des weiblichen Geschlechts: Wenn der Mann sich weiterentwickelt und die Frau stehen bleibt, wie, meint ihr, soll es dann Frieden geben im Haus? Aus zwei Wesen, die miteinander harmonieren sollen, macht ihr zwei Gegenspieler […]. Die Frau muss mit dem Gefährten ihres Lebens durch so viele gemeinsame Bande wie möglich verbunden sein, und der Verstand ist nicht das schwächste Band. Sie muss die Pläne und Bestrebungen ihres Mannes teilen, um sich eine Betätigung zu schaffen, die an seine anknüpft und somit ihr Leben erfüllt.20
Gimeno scheint hier einer aufgeklärten Richtung innerhalb der katholischen Tradition zu folgen, indem sie mit der Verteidigung der geistigen Ebenbürtigkeit der Frauen und der Forderung, sich zu bilden, eine Argumentationslinie aufnahm, die von dem gelehrten Benediktiner und Vorläufer der Aufklärung in Spanien, Benito Feijoo (1676–1764), begründet wurde.21 Eine solche Auffassung der Aufklärung innerhalb der katholischen Tradition zeigt sich deutlich in Gimenos Rekurs auf kirchliche Autoritäten, die als wenig orthodox betrachtet werden können, sei es wegen ihres Verhältnisses zur Aufklärung und zum Liberalismus, sei es, weil sie im Hinblick auf den sozialen Stellenwert der Frauen und ihre Erziehung und Bildung offene und moderne Standpunkte vertraten. In diesem Sinne maß Gimeno gewissen kontrovers diskutierten katholischen Stimmen aus der Kirchengeschichte, zwar nur in einzelnen Aspekten, aber auf konstante Weise, große Autorität bei: z. B. Bischof Félix Dupanloup (1802–1878) von Orleans, Papst Benedikt XIV., Erzbischof François Fénelon (1651–1715) von Cambrai sowie Fray 18 19 20 21
GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 23f. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 17. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 37f. Benito FEIJOO, Defensa de la mujer: Discurso XVI del Teatro Crítico (Barcelona: Icaria, 1997). Der erste Band seines Teatro Crítico Universal wurde 1726 erstmals veröffentlicht.
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Martín Sarmiento (1695–1772) und Erzbischof Louis-François Sueur (1841–1914) von Avignon.22 Dupanloup versuchte zu verhindern, dass Papst Pius IX. die Zeitirrtümer des 19. Jahrhunderts verurteilte, und er plädierte für eine wohlwollendere Interpretation der Enzyklika Quanta Cura und des Syllabus. Er zeigte sich auch kritisch gegenüber der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit. Außerdem trieb er die Diskussion über die Frauenfrage und den Feminismus innerhalb des französischen Katholizismus voran. Gimeno eröffnete den ersten Teil der Evangelios unter dem Titel Igualdad moral e intelectual de los dos sexos mit einem Zitat Dupanloups, in dem sie ihr Argument bestätigt fand, dass Frauen und Männer intellektuell ebenbürtig seien, da die Frau wie der Mann auch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und mit denselben rationalen Fähigkeiten ausgestattet wurde: Gott verleiht keine unnützen Gaben; allen seinen Werken liegt ein Zweck zugrunde. Wenn die Gefährtin des Mannes ein vernunftbegabtes Wesen ist, wenn sie wie der Mann nach Gottes Ebenbild erschaffen wurde und wie er vom Schöpfer den Verstand erhalten hat, dann zu dem Zweck, ihn zu benützen (Monsignore Dupanloup).23
Der starke Bezug Gimenos auf Dupanloup wird deutlich, wenn sie ihn an einer anderen Stelle der Evangelios folgendermaßen paraphrasiert: Vor Gott sind beide Geschlechter ebenbürtig, denn er hat sie beide mit dem Verstand ausgestattet. Deshalb gehen sie vor Ihm auch dieselbe Verantwortung ein; aber dazu müssen sie dieselbe Bildung erhalten.24
Und nochmals rekurriert sie auf Dupanloup, um den sozialen Druck anzuprangern, der auf jene Frauen ausgeübt wurde, die wissenschaftliche Neigungen zeigten. Um ihren Standpunkt zu verteidigen, dass eine intellektuelle Betätigung der Frauen nicht nur legitim, sondern auch notwendig war, schreibt sie: Viel ist von der Seichtheit der Frauen die Rede. Aber wenn sie wissenschaftliche Neigungen haben, werden sie dann nicht gezwungen, sich dafür zu entschuldigen oder sie zu verstecken, als wären sie eine Sünde?25
Was Benedikt XIV. (1740–1758) betrifft, so war er für seinen aufgeklärten und aufgeschlossenen Geist bekannt, und er unterhielt Kontakte zu Voltaire. Gimeno hob Gesten des Papstes hervor, die sie als Unterstützung der intellektuellen Betätigung der Frauen interpretierte, wie z. B. seine Anerkennung des Werkes der Mailänder Mathematikerin Maria Gaetana Agnesi (1718–1799). Sie führte folgendes Zitat Benedikts an: „Die Frauen sind geistig genauso viel wert wie die Männer, wenn sie sich mit Fleiß dem Studium widmen.“26 22
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GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 132. Fénelon geriet Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Heiligen Stuhl in Konflikt. Fray Martin Sarmiento war ein Freund und Mitarbeiter Feijoos, dessen aufgeklärte Denkweise er teilte. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 9. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 113. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 132. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 132.
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Auch eher orthodoxe oder sogar als frauenfeindlich eingestufte Autoritäten innerhalb der Kirche kommen im Werk Gimenos zu Wort, allerdings nur dann, wenn sich ihre Aussagen als nutzbringend für die Verteidigung der Frauen erwiesen. So eröffnete sie den zweiten Teil der Evangelios unter dem Titel El feminismo y sus conquistas mit einem Hinweis auf einen Paulus-Vers (Gal 3,28) von der Ebenbürtigkeit aller Menschen im Christentum: „Vor Christus gibt es keinen Unterschied weder der Nation noch des Standes noch des Geschlechts.“27 Neben der Berufung auf Kirchenmänner, die der Idee von der geistigen Ebenbürtigkeit von Frauen offen zugeneigt waren, erarbeitete Gimeno zur Verteidigung ihres Standpunktes, dass beide Geschlechter gleichwertig und der gleichen Behandlung durch die Gesellschaft würdig waren, eine ganz persönliche Interpretation der katholischen Tradition: Sie deklariert diese als Sammlung von landläufigen Meinungen, von Erzählungen, die frauenfeindliche Haltungen in der Gesellschaft untermauert und reproduziert hätten. Dass es den spanischen Frauen an Initiative, sich zu emanzipieren, mangelte, erklärte sich Gimeno damit, dass sie sich „der Vorstellung von ihrem geringen Wert gebeugt haben; einer Vorstellung, die vom Mann aufgezwungen und von der Frau ergeben hingenommen wurde“.28 Diese ergebene Hinnahme sei insbesondere von einer dieser Überlieferungen aus der religiösen Tradition genährt worden, der Erzählung über die Neigung Evas zur Sünde, die sich auf alle Frauen erstreckte. Gimeno verwarf diese Sicht als unhaltbar: Auf dem weiblichen Geschlecht lastet noch immer die Vulgärüberlieferung von der Schuld Evas; in unserem Land mehr als anderswo. Insofern diese Überlieferung einer Analyse standhielte oder einer Widerlegung wert wäre, könnten wir sagen: Wenn die Kinder die Sünden der Eltern erben, kann nicht nur ein Geschlecht befleckt werden und das andere unbefleckt bleiben.29
Gimenos Interpretation der Gestalt Maria Magdalenas bot der gängigen Exegese ebenfalls die Stirn, und zwar aus mehreren Gründen: erstens, weil sie in dieser Darstellung mehr durch ihre Bußfertigkeit als durch ihr Sündenleben charakterisiert wurde, dann aber auch, weil ihre Reue als Resultat ihrer Vorstellungsgabe, also einer sozial wenig angemessenen, ja sogar gefährlichen Eigenschaft bei Frauen, präsentiert wurde. Schließlich hob Gimeno hervor, wie Maria Magdalena zur Verkünderin und Apostolin der Lehre Jesu bei den Prostituierten wurde: Die Sünderin von Magdala ist eine interessante Gestalt: Sie war von großer Schönheit, mit einer überschwänglichen Phantasie begabt und von feurigem Temperament. Sie war berühmt für ihr ausschweifendes Leben, aber die Berühmtheit ihrer Bußfertigkeit stellte die Berühmtheit ihrer Sünden in den Schatten. Nachdem sie von Jesus gehört hatte, von seinen Tugenden, seinen außergewöhnlichen Vollkommenheiten, wollte sie ihn kennen lernen, denn das Außergewöhnliche beflügelte ihre Phantasie. Als sie die erhabene Moral seiner Unterweisungen hörte, verspürte sie den Wunsch nach Erneuerung ihres Lebens, den Wunsch, dem Untadeligen nachzufolgen. Maria Magdalena tat aber mehr als 27 28 29
GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 105. GIMENO DE FLAQUER, El Problema feminista, 10. GIMENO DE FLAQUER, El Problema feminista, 10.
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sich von ihren Sünden zu befreien: Sie bewegte unzählige Frauen, die wie sie ein ausschweifendes Leben geführt hatten, zur Umkehr. Sie begeisterte sie für ihren Glauben, und mit ihnen folgte sie Jesus auf dem Weg von Gethsemane nach Golgatha.30
Zum Beweis, dass ihre Verteidigung der intellektuellen und schöpferischen Fähigkeiten der Frauen ihrer Zeit gerechtfertigt war, erstellte Gimeno ein umfangreiches historisches Verzeichnis berühmter Frauen, die sich wissenschaftlich oder künstlerisch betätigt hatten. Diese Auflistung historischer Frauengestalten stellt eines der herausragenden und typischen Merkmale ihres Werkes dar. Gimeno steht damit in einer Tradition, die sich der Wiedereinsetzung der Frauen in ihre rechtmäßige Stellung in der Geschichte verschrieben hat – einer Tradition also, welche die androzentrischen Geschichtskonstruktionen, die in der religiösen wie in der profanen Historiografie vorherrschten, in die Schranken wies. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Gimeno auch profane Geschichtserzählungen in ihr Werk mit einbezog. Das zeigt, dass sie anderen Traditionen gegenüber aufgeschlossen war, während konfessionelle AutorInnen diese Traditionen nicht nur ausgeklammert, sondern auch verworfen hätten. Zugleich verdeutlicht die Tatsache, dass sie immer wieder auf biblische Erzählungen und die christliche Tradition rekurrierte, welches Gewicht diese Tradition in ihrem Weltverständnis und folglich bei der Formulierung ihres Feminismuskonzepts hatte. Gimeno präsentierte eine Liste weiblicher Heiliger und Ordensfrauen, die sich intellektuell oder künstlerisch betätigt hatten. Diese war weder chronologisch noch thematisch angelegt, sondern verfolgte einen demonstrativen Zweck: Wenn alle diese Frauen, deren Zahl deutlich macht, dass es sich nicht um einzelne Ausnahmeerscheinungen handelt, so große geistige Gaben vorzuweisen hatten und zum Wissen und zur Erkenntnis beitrugen, wie konnte dann noch jemand mit dem Argument kommen, Frauen hätten keine Befähigung zum Studium und zur geistigen Betätigung in allen ihren Facetten? Der heilige Hieronymus hat zur Wandlung der römischen Frau beigetragen. Von seinen hundert theologischen Briefen sind fünfzig an Frauen gerichtet. Seine Schülerinnen, die heilige Paula und die heilige Marcella, übten einen Einfluss auf die Erneuerung der römischen Gesellschaft aus. Die heilige Theresa war eine gelehrte Theologin. Die heilige Katharina von Alexandrien zeichnete sich in der Philosophie und der Rhetorik aus, die heilige Hildegard in den Naturwissenschaften. Die heilige Thekla wiederum in Philosophie. Die heilige Katharina von Siena, die heilige Valeria, die heilige Perpetua, die heilige Gertrud und die heilige Elisabeth von Ungarn waren in verschiedenen Wissenschaften bewandert. Seine Heiligkeit Benedikt XIV. beglückwünschte die Mailänder Gelehrte Maria Agnesi zu ihren mathematischen Arbeiten und beschenkte sie mit einem Kranz aus Edelsteinen. Madeleine-Gabrielle de Rochechouart-Mortemart, Äbtissin und Generalin des Ordens von Fontevrault, war eine brillante Hellenistin, Latinistin und Philosophin. Ménage erwähnt sie in seinem Werk Historia mulierum philosopharum. Die Mutter 30
Concepción GIMENO DE FLAQUER, „Jesucristo y las mujeres“, Album Ibero-americano, XVIII (07.04.1900): 146–148. Derselbe Text findet sich bereits in: DIES., „Fidelidad de las mujeres a Jesús“, Album Ibero-americano IX (22.03.1891): 122f.
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Inmaculada Blasco Herranz Stervart hat die christliche Temperenzgesellschaft gegründet. Die florentinische Nonne Sor Dea de Bardi pflegte im Kloster die Wissenschaften. Sor Juana Inés de la Cruz schrieb im Kloster ihre besten Gedichte. Die portugiesische Franziskanerin Sor Magdalena Eufemia Gloria und die sevillianische Nonne Sor Francisca Gregoria de Santa Teresa waren inspirierte Dichterinnen, ebenso wie Sor Elena de Silveira, die den Unglückstag von San Sebastián voraussagte. Die Äbtissin des Klosters Nossa Senhora da Esperança in Lissabon, Sor Maria de Ceu, pflegte die dramatische Dichtkunst unter einem Pseudonym. Herrad von Landsberg, Äbtissin des Klosters Hohenburg auf dem Odilienberg im Elsass, war sowohl Gelehrte als auch Künstlerin. In der Bibliothek von Straßburg befindet sich ein Manuskript von ihr, das zur Erläuterung des Textes mit kostbaren Miniaturen von ihrer Hand versehen ist.31
Neben der intellektuellen und künstlerischen Befähigung von Frauen hob Gimeno ihren bedeutenden Beitrag zum Triumph und zur Konsolidierung des Christentums hervor. Dabei ging es ihr nicht nur darum, die führende Rolle der Frauen aufzuzeigen, sondern mehr noch um den Beleg dafür, dass es im weiblichen Geschlecht keinen Verräter Judas gab, keinen Petrus, der Jesus verleugnete, und keinen Pilatus, der über ihn das Urteil fällte. Während ihn mit Ausnahme des Johannes alle seine Jünger verließen, folgten ihm die Frauen überall hin und nahmen seine Lehren auf; sie sind am Fuß des Kreuzes zu finden und danach am Grab.32
In diesem Sinn griff Gimeno nicht nur einige biblische Episoden auf, in denen die Frauen Jesus auf dem Leidensweg beistanden, sondern gerade jene, in denen „es die Frau mit Stolz erfüllen muss, vom Erlöser ausgezeichnet worden zu sein.“ […] die Samariterin stillte seinen Durst, Veronika trocknete ihm den Schweiß von der Stirn, Magdalena salbte seine Füße mit wohlriechenden Salben; […] Der frommen Veronika hinterließ er auf dem Schweißtuch den Abdruck seines Antlitzes, für Martha erweckte er ihren Bruder Lazarus von den Toten, er heilte die Tochter der Kanaaniterin, er vergab der Ehebrecherin, er gab Magdalena die Würde zurück, als das Volk sie verhöhnte. Magdalena ist am Fuß des Kreuzes zu sehen, wie sie schmerzliche Tränen vergießt, und am heiligen Grab, wie sie sich der Hoffnung zuwendet.33
In ihren weiteren Ausführungen weist Gimeno darauf hin, wie die Frauen in ihrer Eigenschaft als Mütter und Gattinnen am finalen Triumph des Christentums mitgewirkt hatten: z. B. die „gottesfürchtige Helena“, die Mutter Kaiser Konstantins, oder Flacilla, die „den Samen des Glaubens in das Herz ihres Gatten, des großen Theodosius, streute“. Der heilige Basilius wurde „von seiner Mutter bekehrt; der heilige Johannes Chrysostomos von der seinen, desgleichen der heilige Augustinus“.34 In der Lesart, mit der Gimeno die Anfänge der Kirchengeschichte unterzog, traten weder die Jünger noch die Apostel noch die ersten Kirchenväter in Erscheinung, sondern einfache Frauen, die 31 32 33 34
GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 129–131. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 18. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 18. GIMENO DE FLAQUER, Evangelios, 20.
Evangelios de la Mujer
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begabt […] mit einem feineren Empfindungsvermögen als der Mann die Ersten waren, die jene Religion annahmen, die den Bettler mit dem Fürsten gleichsetzt, den Traurigen tröstet, dem Greis beisteht, über dem Schutzlosen wacht, den Schwachen verteidigt und den Balsam der Nächstenliebe und Hoffnung in die Herzen gießt.35
Gimeno betont aber auch, dass diese Frauen im Frühchristentum spezielle Funktionen ausübten, die später den Männern zugeteilt wurden: Maria, die Erwählte des Herrn, befreite das erniedrigte Geschlecht aus der Sklaverei, und die andere Maria aus Judäa kann zu den Propheten gezählt werden. Die Frauen prophezeiten und tauften, nahmen an den Versammlungen und am Unterricht über das Opfer teil, und gehörten zum Klerus. Seit den Zeiten der frühen Kirche gab es im Christentum Priesterinnen, die ähnlich wie die Diakone ordiniert wurden. Die Apostel hatten bei sich eine Gruppe von Diakonissen; sie werden im Brief des Paulus an die Römer erwähnt [vgl. Röm 16,1]. Die Diakonissen wurden Witwen genannt, eine Bezeichnung, die sich aus ihrem Witwenstand herleitete. Es waren nämlich die Witwen, welche die Aufträge des Bischofs in allem, was die Frauen betraf, ausführten. Sie schmückten das Gotteshaus, trösteten die weiblichen Gefangenen, betreuten die kranken Frauen, und da sie als ehemalige Familienmütter Lebenserfahrung besaßen, galt ihr Rat als verständig und klug. Die Diakonissen hatten die Bedeutung, die später der Beichtvater erlangen sollte.36
4. Zusammenfassung In diesem Artikel wurde eine Lesart des Werkes von Concepción Gimeno de Flaquer vorgestellt, bei der die Analyse der religiösen Komponente in der Herausbildung ihres feministischen Denkansatzes und, konkreter noch, in der Untermauerung ihrer Forderung nach Anerkennung der Ebenbürtigkeit von Frauen und Männern im Vordergrund stand. Zu diesem Zweck wurden insbesondere die Evangelios de la Mujer herangezogen, aber auch ihre Essays La mujer española und El problema feminista. Zwar lässt sich eindeutig eine katholische Einstellung im Werk Gimenos ausmachen, jedoch wäre es verkehrt, daraus zu schließen, sie sei eine reaktionäre Schriftstellerin gewesen oder ihr Katholizismus habe ihr feministisches Denken eingeschränkt. Genauso falsch wäre es aber auch, davon auszugehen, dass ihr aufgeklärt-liberaler Denkansatz ihr Feminismuskonzept von einem religiösen Fundament abgelöst hätte. In diesem Beitrag wurde aufgezeigt, dass Gimenos Katholizismus einer aufgeklärtliberalen Linie folgte, die sich im Spanien ihrer Zeit von der katholischen Orthodoxie, die von Integralismus und Klerikalismus beherrscht war, abhob. Gimeno betrachtete den Katholizismus als egalitär und mit dem Feminismus kompatible Form des Christentums. Zur Legitimation ihrer Forderung nach Anerkennung des Wertes von Frauen und nach ihrer intellektuellen und moralischen Gleichsetzung mit den Männern berief sie sich auf kirchliche Autoritäten, die den neuen Zeiten gegenüber auch hinsichtlich des Themas der Geschlechterbeziehungen aufgeschlossen waren. Sie unterzog die 35 36
GIMENO DE FLAQUER, „Jesucristo y las mujeres“, 148. GIMENO DE FLAQUER, „Jesucristo y las mujeres“, 147.
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Inmaculada Blasco Herranz
biblischen Texte und die Kirchengeschichte einer Lesart, die nicht nur von der dominanten androzentrischen Hermeneutik abrückte, sondern auch ihren am meisten verbreiteten Voraussetzungen kritisch gegenüber stand, wie z. B. dem Mythos von Eva als Inbegriff der Sünderin. An dieser Interpretation sticht v. a. Gimenos Beharrlichkeit hervor, mit der sie die führende Rolle, welche eine Vielzahl von Frauen in der Geschichte spielte, und die Fähigkeiten, welche diese Frauen in verschiedenen politischen, sozialen und insbesondere intellektuellen Aktivitäten bewiesen, sichtbar machte. Im konkreten Fall der Geschichte des Christentums führte die Vorgehensweise Gimenos zu einer neuen Sicht auf die Kirchengeschichte, bewirkt durch das Auftreten neuer historischer Akteurinnen, nämlich der Frauen. Deren Präsenz war in den traditionellen Überlieferungen auf den Status einer Ausnahmeerscheinung reduziert worden – und oft nicht einmal das. Aus dem Spanischen von Annemarie del Cueto Lopez-Mörth
Orthodoxe Frauen und die Bibel im Russland des 19. Jahrhunderts Alexej Klutschewsky und Eva Maria Synek Universität Wien Der vorliegende Artikel befasst sich v. a. (1) mit dem Zugang orthodoxer Frauen zur Bibel und (2) mit der Bedeutung der Heiligen Schrift für die Spiritualität von Nonnen und von anderen in besonderer Weise um ein geistliches Leben bemühten Frauen. Für das abschließende Kapitel (3) haben wir versucht, Beispiele für den Beitrag von Frauen des 19. Jahrhunderts zur Bibelauslegung zu finden.1
1. Zugang von Frauen zur Bibel Auch wenn sich die Teilnahme von Frauen an religiösen Aktivitäten nicht auf bestimmte Gesellschaftsklassen beschränkte, kann man den sozialen Hintergrund dennoch nicht ausblenden, wenn man den direkten Zugang von Frauen zur Bibel untersucht. Der Volkszählung von 1897 zufolge waren nur 21% der Gesamtbevölkerung des russischen Reiches, zu dem aber auch fast gänzlich analphabetische Ethnien gehörten, alphabetisiert.2 Obwohl man sich in den Jahren zuvor erheblich bemüht hatte, die Situation durch die Einrichtung von Gemeinde- und Klosterschulen für Mädchen zu verbessern, ist davon auszugehen, dass die Alphabetisierungsrate der Frauen in der Landbevölkerung insgesamt niedrig war. Aufzeichnungen aus Klöstern hingegen vermitteln ein ganz anderes Bild: Laut den Archiven des Tvorožkovo-Klosters z. B. waren fast 90% der Frauen bäuerlicher Herkunft des Lesens und 35% außerdem des Schreibens kundig.3 Auch unter den Altritualisten/Altgläubigen, die Traditionen der alten Moskauer Literalität aus der Zeit vor Patriarch Nikon (1605–1681) und vor Zar Peter dem Großen (1672–1725) bewahrten, wurde eine überdurchschnittliche Alphabetisierungsrate erreicht. Zur Überlieferung dieser Subkultur gehörte es u. a., dass man Arbeit für gottwohlgefällig hielt, die „alten“ (vornikonischen) Bücher verehrte und Wert auf eine „kirchliche Literalität“ legte, d. h. auf die Fähigkeit, die vornikonischen kir-
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Russische Namen wurden mit Ausnahme von Zitaten, Verweisen und allgemein akzeptierten Schreibungen gemäß dem wissenschaftlichen Transliterationsstandard ISO 9 übertragen. Detaillierte Informationen finden sich bei Jeffrey BROOKS, When Russia Learned to Read: Literacy and Popular Literature: 1861–1917 (Princeton: Princeton University Press, 21988). Vgl. Brenda MEEHAN-WATERS, „To Save Oneself: Russian Peasant Women and the Development of Women’s Religious Communities in Prerevolutionary Russia“, in Russian Peasant Women (hg. v. Beatrice Farnsworth und Viola Lynne; New York: Oxford University Press, 1992), 121–133; 128f.
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Alexej Klutschewsky und Eva Maria Synek
chenslawischen Bücher zu lesen und die in kyrillischen Manuskripten übliche Halbustav-Schrift (Poluustav) zu schreiben.4 1.1 Lese- und Schreibfähigkeit von Frauen Diese eben geschilderten Sachverhalte scheinen darauf hinzuweisen, dass zwar die Frauen aus der Ober- und Mittelschicht prinzipiell mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit einen direkten Zugang zur Bibel hatten, die Frauen aus den unteren Schichten jedoch nicht per se davon ausgeschlossen waren.5 DorfbewohnerInnen organisierten eigene Lesegottesdienste, wenn sie nicht regelmäßig an der Liturgie in der Pfarrkirche teilnehmen konnten, die oft weit entfernt und schwer erreichbar war – insbesondere für die Alten und Kranken, aber auch für jüngere Frauen, von denen man erwartete, dass sie kochten und den Haushalt führten.6 Fromme Frauen der Oberschicht, wie etwa die Gründerin der Borodino-Gemeinschaft Margarita Mihailovna Tučkova [Mutter Marija nach ihrer Tonsur] (1781–1851)7, lasen den um sie herum versammelten Frauen aus der Heiligen Schrift und aus patristischen Texten vor. Doch auch von den sogenannten „obetnye devy“, „černicki“, „keleinicy“ oder „spasennicy“ – unverheirateten Landfrauen, die ein gottgeweihtes Leben führten, ohne in ein Kloster einzutreten8 – erwartete man, dass sie die Mädchen unterrichteten und den Psalter lasen. Sie scheinen also im Allgemeinen des Lesens und Schreibens kundig gewesen zu sein. Anastasija Logačeva (1809–1875)9 beispielsweise, die im Dorf ein geistliches Leben führte, ehe sie eine berühmte Einsiedlerin und schließlich Äbtissin wurde, soll das Lesen während einer Pilgerfahrt erlernt haben. Gab es in einem Dorf eine Schule oder in der Nähe ein Kloster, so war es wahrscheinlich, dass die Töchter der Bauern im Rahmen des Bibelunterrichts auch Lesen 4
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Vgl. Валерий В. ТИМОФЕЕВ [Valerij V. TIMOFEEV], „Старообрядческое просветительство: взаимовлияние предпринимательства и образования“ [Altritualistische Aufklärung: Wechselwirkungen zwischen Unternehmertum und Bildung], Вестник ЧГПУ им. И. Я. Яковлева [Bote der Čeljabinsker Staatlichen I.-Ja.-Jakovlev-Universität] 4/23 (2001): 105–113. Zur Bildung von Frauen und zum Zugang zu Büchern im Allgemeinen vgl. z. B. Natal’ia L. PUSHKAREVA, „Russian Noblewomen’s Education in the Home as Revealed in Late 18thand Early 19th-Century Memoirs“, in Women and Gender in 18th-Century Russia (hg. v. Wendy Rosslyn; Aldershot: Ashgate, 2003), 111–128; Olga E. GLAGOLEVA, „Imaginary World: Reading in the Lives of Russian Provincial Noblewomen (1750–1825)“, in ROSSLYN, Women and Gender, 129–146. Vgl. Vera SHEVZOV, „Chapels and the Ecclesiastical World of Prerevolutionary Russian Peasants“, Slavic Review 55 (1996): 585–613. Vgl. Brenda MEEHAN, Holy Women of Russia: The Lives of Five Orthodox Women Offer Spiritual Guidance for Today (San Francisco: Harper, 1993), 17–40. Viele von ihnen gehörten zu Gemeinschaften von Altritualisten/Altgläubigen. Vgl. Alexandr PRIKLONSKII, Blessed Athanasia and the Desert Ideal (Modern Matericon Series 1; Platina, CA: St. Herman Press, 21990), und MEEHAN, Holy Women, 41–60.
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und Schreiben lernten. Der Gedanke liegt nahe, dass es nicht die Literalität als solche, sondern eher diese besondere, eng mit der Bibel verknüpfte Literalität war, die junge Frauen dazu inspirierte, ein gottgeweihtes Leben anzustreben und damit aus dem üblichen Muster auszubrechen – wonach Frauen heirateten, Kinder bekamen, für das Wohl ihrer Familie sorgten usw. Es spricht einiges dafür, dass Eltern sich zuweilen nicht nur deshalb weigerten, ihre Töchter zur Schule zu schicken, weil sie nicht willens oder in der Lage gewesen wären, für den Moment auf ihre Arbeitskraft zu verzichten, sondern weil sie außerdem fürchteten, ihre Tochter auch in Zukunft an ein geistliches Leben im Kloster zu verlieren. Doch so, wie die Lese- und Schreibfähigkeit sicherlich nicht zwangsläufig zu einem asketischen Lebensstil inspirierte, war mangelnde Lesefähigkeit umgekehrt auch nicht unbedingt ein Hindernis, wenn es darum ging, eine solche Berufung zu verwirklichen. Viele gottgeweihte Frauen einfacher Herkunft lernten erst in fortgeschrittenem Alter lesen, um den Psalter beten und/oder im Klosterchor mitsingen zu können, und einige mussten sich bis an ihr Lebensende auf die Lesefertigkeiten ihrer Mitschwestern verlassen. 1.2 Verständlichkeit des Kirchenslawischen Die Fähigkeit, lesen zu können, war jedoch nur ein Teil des Problems. Was die Möglichkeiten des direkten Zugangs zur Heiligen Schrift betraf, muss auch die Kluft zwischen der Bibelsprache (Kirchenslawisch) und der regulär gesprochenen Sprache vor dem Hintergrund der rückläufigen Kenntnisse des Kirchenslawischen und des kulturellen Wandels nach den Reformen unter Peter dem Großen in Betracht gezogen werden. Die moderne russische Variante des Kirchenslawischen entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach der Reform (knižnaja sprava) des Patriarchen Nikon, als in dem um südwestrussische Gebiete erweiterten Russischen Zarenreich die Heilige Schrift und die liturgischen Bücher auf der Grundlage zeitgenössischer südwestrussischer (Kiewer) kirchenslawischer und griechischer Texte überarbeitet wurden.10 Bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein war Kirchenslawisch im (moskowitischen) Russland in verschiedenen Kommunikationsbereichen neben der von gesprochenen Dialekten nicht abgegrenzten Sprache der Staatskanzleien als Schriftsprache, jedoch nicht als reguläre Umgangssprache genutzt worden.11
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Vgl. Борис А. УСПЕНСКИЙ [Boris A. Uspenskij], История русского литературного языка (XI–XVIIвв.) [Die Geschichte der russischen Schriftsprache (11. bis 17. Jahrhundert)] (Москва [Moskau]: Аспект Пресс [Aspekt Press], 2002). Eine eigene Schrift- und Kanzleisprache („westrussische Kanzleisprache“, „ruthenische Sprache“) wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein in den Gebieten des Litauischen Großfürstentums (gegenwärtig Teile von Litauen, der Ukraine und Weißrussland) benützt. Vgl. Christian STANG, Die westrussische Kanzleisprache des Grossfürstentums Litauen (Oslo: Skrifter utgitt av Det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo, Historisk-filosofisk Klasse, 1935), 2.
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Alexej Klutschewsky und Eva Maria Synek
Das kirchenslawische Schrifttum war im 19. Jahrhundert neben dem Schrifttum in der neuen russischen Literatursprache aktueller Bestandteil der russischen Kultur. Für praktizierende Gläubige blieb das Kirchenslawisch die Sprache der Heiligen Schrift und der kirchlichen Literatur. Doch mit der fortschreitenden Verwestlichung und Säkularisierung gingen die Kenntnisse des Kirchenslawischen und das allgemeine Interesse daran zurück. Sowohl die ungebildeten als auch die eher westlich geprägten Gesellschaftsschichten begannen diese Sprache zu verlernen, noch ehe die sowjetische Politik der weit verbreiteten Fähigkeit, Kirchenslawisch zu lesen und zu schreiben, ein Ende bereitete. Seit 1816 förderte die Russische Bibelgesellschaft die Vorbereitung einer vollständigen russischen Übersetzung der Heiligen Schrift sowie Übersetzungen in andere Sprachen des Russischen Reichs.12 Bereits 1815 gab Zar Alexander I. (1801–1825), der selbst eine französische Bibel benutzte, dem Oberprokurator des Heiligsten Regierenden Synods die Anweisung, […] dem Heiligsten Synod den aufrichtigen und ausdrücklichen Wunsch Seiner Majestät vorzutragen, den Russen eine Möglichkeit zu geben, Gottes Wort in ihrer natürlichen russischen Sprache zu lesen, [denn diese wäre] verständlicher für sie als der slawische Dialekt, in dem die Bücher der Heiligen Schrift in unserem [Land] veröffentlicht werden.13
1826 wurde die Bibelgesellschaft aufgelöst und die Veröffentlichung der bereits übersetzten Schriftteile eingestellt, weil man befürchtete, dass die russische Bibel die Orthodoxie untergraben14 und die Ausbreitung des Protestantismus in Russland fördern könnte.15 Erst nach dem Tod von Zar Nikolaus I. (1825–1855) konnte das Projekt wie12
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Vgl. Boris A. TICHOMIROV, „Geschichte der russischen Bibelübersetzung“, Stimme der Orthodoxie 1 (2004): 37–44; 2 (2004): 18–27. Vgl. Илларион А. Чистович [Illarion A. Čistovič], История перевода Библии на русский язык [Die Geschichte der Bibelübersetzung ins Russische] (Санкт Петербург [Sankt Petersburg]: Типография М.М. Стасюлевича, Вас. Остр., 5 лин., 28 [Druckerei M.M. Stasjuleviča, Vasilij-Insel, 5. Linie, 28], 21899), 16–24. Problematisch war u. a. die Diskrepanz zwischen dem auf der Septuaginta basierenden Wortlaut der slawischen Fassungen des Alten Testaments und neuen wissenschaftlichen Übersetzungen aus dem Hebräischen, die die Bedeutung des Textes zu verändern schienen. Natürlich förderten u. a. die pietistische Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts und die Britische Bibelgesellschaft das Interesse an der Bibel im Russischen Reich; sie unternahmen erhebliche Anstrengungen, um die Schriftlektüre populär zu machen. Zur russischen Interaktion mit westlichen Trends im Allgemeinen vgl. z. B. das Grundlagenwerk von Konrad ONASCH, Grundzüge der Russischen Kirchengeschichte (Die Kirche in ihrer Geschichte 3, Lfg. M, Teil 1; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967); zum Einfluss des Pietismus im Russischen Reich vgl. Johannes WALLMANN und Udo STRÄTER, Hg., Halle und Osteuropa: Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus (Hallesche Forschungen 1; Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 1998); Martin BRECHT, „Die Beziehung Halles zu den slawischen Völkern“, in Der Pietismus vom 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert (hg. v. Martin Brecht; Geschichte des Pietismus 1; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993), 517–521.
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der aufgegriffen werden. Die vollständige, vom Heiligsten Synod in Auftrag gegebene, Übersetzung der Heiligen Schrift (die auch von russischen ProtestantInnen gern genützte sogenannte Synodalübersetzung) wurde erst 1876 fertiggestellt.16
2. Die Bedeutung der Heiligen Schrift für die Spiritualität von Nonnen und sonstigen in besonderer Weise um ein geistliches Leben bemühten Frauen Die Autobiografie der Marija Solopova [Arkadija und später Taisija mit monastischem Namen] (1840–1915)17 mag als Beispiel dafür dienen, welchen Einfluss die slawische Bibel auf die monastischen Ambitionen einer des Lesens kundigen Frau gehabt hat, auch wenn ihre Darstellung in vielen anderen Punkten sehr persönliche religiöse Erfahrungen widerzuspiegeln scheint, die man sicherlich nicht verallgemeinern darf. Marija/Taisija – eine Urgroßnichte des Dichters Alexander Puškin (1799–1837) – erhielt ihren ersten Bibelunterricht durch ihre Mutter. Mit über fünfzig Jahren, als Äbtissin der Frauengemeinschaft von Leušino, die sich unter ihrer Leitung zu einem blühenden neuen Konvent entwickelt hatte und zum Vorbild der Frauenklöster im Norden Russlands geworden war18, erinnerte sie sich: At the age of four I could already read without having to spell the words out, although not quickly, and I knew all the events in Sacred History which concerned the earthly life of our Saviour (except His teachings and parables). Having a good memory, which has remained with me even until today, I remembered everything that was told to me.19
In ihrer frühen Jugend wurde die begabte Marija am Pavlovsk-Institut in Sankt Petersburg aufgenommen, einer der seltenen höheren Bildungseinrichtungen für Mädchen, 16
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Nach der politischen Wende von 1990/91 und dem danach folgenden Wiederaufbau der russischen Kirche wird im Rahmen des Moskauer Patriarchats wieder verstärkt über die Rolle der kirchenslawischen Sprache diskutiert. Die gängigsten Alternativen lauten: entweder Übersetzung der liturgischen Texte und Abhaltung der Gottesdienste in russischer (ukrainischer und weißrussischer) Sprache oder intensiver Unterricht der leicht erlernbaren kirchenslawischen Sprache (z. B. an Sonntagsschulen). Zur Biografie der Marija Solopova/Äbtissin Taisija vgl. die in der englischen Ausgabe ihrer Autobiografie zusammengestellten Materialien (siehe Anm. 19), darunter ein Nachruf und Grabreden. Eine neuere Überblicksdarstellung bietet MEEHAN, Holy Women, 95–141. Vgl. Scott M. KENWORTHY, „Abbess Taisiia of Leushino and the Reform of Women’s Monasticism in Early Twentieth Century Russia“, in Culture and Identity in Eastern Christian History: Papers from the First Biennial Conference of the Association for the Study of Eastern Christian History and Culture (hg. v. Jennifer Spock und Russell Martin; OSU Slavic Papers 9; Columbus, Ohio: Department of Slavic and Eastern European Languages and Literatures, OSU, 2009), 83–102. Marija SOLOPOVA/Abbess Taisia [Taisija], Abbess Taisia of Leushino: An Autobiography of a Spiritual Daughter of St. John of Kronstadt (Modern Matericon Series 3; Platina, CA: St. Herman Press, 1989), 33. Taisija war von ihren geistlichen Vätern zur Niederschrift ihrer Autobiografie ermutigt worden und stellte den Text in den 1890er Jahren fertig. Die erste Druckfassung erschien 1916 in Sankt Petersburg.
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die es in dieser Zeit gab. Marija war nicht nur besonders intelligent, sondern zudem recht sensibel und daher stärker an einem religiösen Leben interessiert als ihre Mitschülerinnen. Aus eigenem Antrieb lernte sie das Evangelium auswendig, und zwar wie sie schreibt: „Wort für Wort, den kirchenslawischen Text der Ereignisse und Lehren nach den Evangelisten, die die ausführlichste Version davon wiedergeben“.20 Als anlässlich der Abschlussprüfungen der Rektor der Theologischen Akademie21 dem Institut einen Besuch abstattete, führte die Schulleiterin ihm Marija vor: In ihrer Autobiografie berichtet sie, dass der Bischof sie zunächst aufgefordert habe, die Abschiedsworte Jesu aus dem Johannesevangelium aufzusagen; dann habe er sie mit der Frage unterbrochen, weshalb sie das Evangelium auswendig gelernt habe, und sie habe geantwortet: Every word of the Gospel is so sweet and comforting to the soul that I want to have them always with me, but it is not convenient to have always a book in one’s hand. Therefore I resolved to learn it all by heart, so that it could always be present in my mind.22
Es folgt ein Bericht über den weiteren Verlauf der Prüfung: Marija/Taisija wurde über den „jungen Mann“ befragt, „der nach dem ewigen Leben trachtete“. Während sie Mt 19,16–27 rezitierte, unterbrach der Bischof sie mit einer provozierenden Frage, woraufhin sie die übliche Auslegung der Bibelstelle wiedergab: I explained as well as I could that this commandment [go and sell what thou hast and give to the poor ...] is not compulsory for everyone, but only for those who resolve to lead a more perfect way of life, different from the usual way of life in the world – poverty for the sake of Christ, etc.23
Im Unterschied zu Anastasija/Afanasija Logačeva und vielen anderen, die sich ebenfalls in jugendlichem Alter zu einem monastischen Leben berufen fühlten, dieser Berufung aber aufgrund familiärer Verpflichtungen nicht Folge leisten konnten, gelang es der gut ausgebildeten Marija/Taisija schon bald nach dem Schulabschluss, in ein Kloster einzutreten. Bereits in ihrem ersten Kloster vertraute man ihr rasch die Aufgabe an, Mädchen zu unterrichten. Nachdem sie zur Vorsteherin der Frauengemeinschaft von Leušino geworden war, machte sie daraus ein berühmtes Bildungszentrum, zu dem eine Mädchenschule und sogar ein Lehrerinnenseminar gehörten. Es scheint signifikant, dass Marija/Taisija und ihre Mitschwestern dem Wort Gottes nicht nur innerhalb der Gottesdienste begegneten und dass die weiterführende Lektüre nicht nur der persönlichen Initiative überlassen blieb: Wie Marija/Taisija in ihren Erinnerungen an die Gespräche mit Ioann Sergiev (1829–1909) – besser bekannt als Vater Johannes von Kronstadt –, die unter dem Titel Conversations of St. John of Kronstadt gedruckt wurden24, hervorhebt, nahmen die Nonnen auch in einer eher organisierten 20 21 22 23 24
SOLOPOVA, Autobiography, 49. Damals Ioannikij Rudnev (1826–1900), der spätere Metropolit von Moskau und Kiew. SOLOPOVA, Autobiography, 50. SOLOPOVA, Autobiography, 51. Ihren eigenen Worten zufolge schrieb Marija/Taisija die Conversations seit 1891 stets noch am selben Abend auf, nachdem die Gespräche stattgefunden hatten, gab ihre Notizen aber
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Form an Bibellesungen, Lesungen aus der Andachtsliteratur und katechetischen Unterrichtseinheiten teil.25 Es ist jedoch zu betonen, dass eine solche bibelorientierte Frömmigkeit, die an die zeitgenössischen pietistischen Formen der Bibellesung erinnert, in aller Regel fest in der lebendigen Überlieferung der Kirche verwurzelt blieb: der Darstellung biblischer Gestalten und Episoden in der zeitgenössischen Ikonografie, dem liturgischen Gebrauch der Heiligen Schrift einschließlich der in den liturgischen Gesängen gebotenen Exegese sowie der traditionellen monastischen Rezeption der Lehren des Evangeliums durch asketische Rollenvorbilder, wie sie von den zeitgenössischen Starzen26, verehrten Heiligen und der Andachtsliteratur repräsentiert wurden. So gesteht Marija/Taisija Vater Johannes und den LeserInnen ihrer Conversations: I find my main support in frequent Communion, and in reading the Gospel, which at times really answers my thoughts and gives me enlightenment. I also refer frequently to your ‚Diary‘. What holy, wonderful thoughts are there!27
Bibelkenntnisse aus erster Hand mochten in der Spiritualität von Frauen wie Marija/Taisija oder der oben erwähnten Gründerin und ersten Äbtissin des Borodino-Klosters, Margarita/Marija Tučkova, eine wichtigere Rolle gespielt haben als bei weniger gebildeten Frauen. Es spricht aber vieles dafür, dass trotz der aufkommenden sprachlichen Barriere, die wir weiter oben erörtert haben, selbst „kaum des Lesens kundige Frauen eine erstaunli-
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Vater Ioann in seinem letzten Lebensjahr zu lesen. „Er beurteilte sie als genau, machte etliche Berichtigungen und fügte mit eigener Hand Ergänzungen hinzu.“ SOLOPOVA, Autobiography, 247. Der Text wurde erstmals nach dem Tod von Johannes von Kronstadt als „Беседы с отцом Иоанном Кронштадтским“ [Gespräche mit Vater Ioann von Kronštadt] publiziert. Zu Marijas/Taisijas Bekanntschaft mit dem hochangesehenen Priester siehe auch ihren Briefdialog Letters to a Beginner, der – genau wie die Conversations und Marijas/Taisijas Autobiografie – ganz offensichtlich mit Blick auf einen größeren Leserkreis verfasst wurde. Vgl. Nadieszda KIZENKO, A Prodigal Saint: Father John of Kronstadt and the Russian People (University Park, PA: Pennsylvania State University Press, 2000), 134. Ähnliche Praktiken sind auch für andere religiöse Gemeinschaften, wie etwa die SpasoBorodino-Gemeinschaft, belegt. Kirchenslawisch starec, griechisch γέρων (Alter) ist die Kennzeichnung für einen asketisch erfahrenen und charismatisch begabten Mönch in der hesychastischen Tradition der AthosKlöster, der als geistiger Lehrer und Führer agiert. Das russische Starzentum wurde in den Jahren um 1800 erneuert. In der russischen Umgangssprache bedeutet starec allgemein „alter, weiser Mann“ bzw. starica „alte, weise Frau“. SOLOPOVA, Conversations of St. John of Kronstadt and Abbess Taisia (= Anhang zur Autobiografie), 264. In ihren als Briefe konzipierten Unterweisungen für Anfängerinnen im asketischen Leben (Erstveröffentlichung 1900) stützt sie ihre Unterweisung „auf die Heilige Schrift und die Lehre der Väter und auf Beispiele von jenen, die sich in dieser Arbeit abgemüht und Gott gefallen haben“, zit. nach der englischen Übersetzung von Brief 7: Marija SOLOPOVA/Abbess Taisija, Letters to a Beginner: On Giving One’s Life to God (Modern Matericon Series 4; Platina, CA: St. Xenia Skete Press, 1993), 57.
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che Vertrautheit“28 mit der Bibel an den Tag legten. Briefe „zitieren frei Phrasen aus den Psalmen, den Evangelien, den Heiligenviten und den gottesdienstlichen Büchern der orthodoxen Kirche“.29 Von Anastasija/Afanasija Logačeva, die überhaupt keine formelle Schulbildung genossen hat, wird berichtet, dass sie ganze Nächte „im Gebet oder mit der Lektüre der Evangelien“ verbracht habe. „Wie ihr Vorbild, der heilige Seraphim von Sarow, liest sie [während ihres Lebens als Einsiedlerin] jeden Tag ein ganzes Evangelium, wobei sie die Abfolge immer wieder wiederholt.“30 Wie bei Marija/Taisija ist dies ein Hinweis auf eine tief in der Bibel verwurzelte Spiritualität. Die Praxis regelmäßiger Bibellektüre deckt sich sowohl mit jener des frühen russischen Mönchtums31 als auch mit zeitgenössischen Strömungen des westlichen Christentums. Doch im Unterschied zur pietistischen Herangehensweise32 an die Bibel findet sich weder bei Anastasija/Afanasija noch bei Marija/Taisija noch bei einer der anderen frommen russisch-orthodoxen Frauen, deren Leben Brenda Meehan in den letzten Jahren erforscht hat, auch nur der geringste Hinweis auf so etwas wie eine Idee, die dem reformatorischen Verständnis der Bibel (sola scriptura) entspricht. Soweit wir dies beurteilen können, betrachteten alle diese Frauen die Heilige Schrift als einen besonders wichtigen Teil der christlichen Tradition, mit dem sie mehr oder weniger direkt vertraut waren. Obwohl der Psalter und die Evangelien breiter bekannt waren als manche andere Teile der Bibel und v. a. die Evangelien besondere Verehrung genossen, heißt das nicht, dass diese nicht auch gelesen und rezipiert wurden. Die Tatsache, dass Marija/Taisija mit der gesamten Bibel vertraut war, lässt sich an den zahlreichen Zitaten und Anspielungen in ihren eigenen Schriften ablesen. Von Margarita/Marija Tučkova wird berichtet, dass sie beim Begräbnis ihres Sohnes einen Vers aus dem Buch Jesaja gestammelt habe.33 Als sie später in Borodino, wo ihr Mann gestorben war, mit anderen Frauen eine geistliche Gemeinschaft bildete, ließ sie ihre Lieblingsverse aus den Briefen der Apostel (1 Kor 13,3 und 1 Petr 1,22) in einer Inschrift über der Tür des Speisesaals anbringen.34 Doch es gibt keine Tendenz, die Bibel im Sinne einer strikten Hierarchie eindeutig über die Tradition zu stellen. Daher ist auch die intensive Evangelienlektüre und Psalmenrezitation nur ein Teil der für Anastasijas/Afanasijas Zeit als Einsiedlerin belegten religiösen Praktiken. Während 28
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32
33 34
Vgl. Nadieszda KIZENKO, „Written Confessions and the Construction of Sacred Narrative“, in Sacred Stories: Religion and Spirituality in Modern Russia (hg. v. Mark D. Steinberg und Heather J. Coleman; Bloomington, IN: Indiana University Press, 2007), 93–118; 107. KIZENKO, „Confessions“, 107. Vgl. MEEHAN, Holy Women, 47. Zu den genuin russischen Wurzeln einer biblisch orientierten Spiritualität vgl. Robert A. KLOSTERMANN, Probleme der Ostkirche: Untersuchungen zum Wesen und zur Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche (Göteborg: Elander, 1955), 361ff. Vgl. Martin BRECHT, „Die Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus“, in Glaubenswelt und Lebenswelten (hg. v. Hartmut Lehmann; Geschichte des Pietismus 4; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004), 102–120; Kurt ALAND, Pietismus und Bibel (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 9; Witten: Luther Verlag, 1970), 89–147. Vgl. MEEHAN, Holy Women, 23. Vgl. MEEHAN, Holy Women, 37f.
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sie in der Einsamkeit lebte, hielt sie die Verbindung zur liturgischen Tradition dadurch aufrecht, dass sie Teile des Stundengebets verrichtete. Außerdem soll sie AkathistosHymnen35 gelesen, ständig das Jesusgebet wiederholt und – auf den Rat von Seraphim von Sarow (1759–1833)36 hin – Ketten getragen haben, wie es schon einige der frühen Asketen aus der syrischen Wüste getan hatten. Marija/Taisija dagegen hatte anders als Anastasiia/Afanasija vom geistlichen Ratgeber ihrer Jugendzeit die ausdrückliche Anweisung erhalten, von jeder extremen Form der Askese abzusehen (und wagte es später sogar bis zu einem gewissen Grad, die traditionelle asketische „Abtötung“ grundsätzlich in Frage zu stellen). Auf den ersten Blick wirken die asketischen Karrieren dieser Frauen ebenso unterschiedlich wie ihre soziale Herkunft. Und doch haben sie – auch abgesehen von ihrer Wertschätzung des Evangeliums und der Tatsache, dass schließlich beide Äbtissinnen geworden sind – ziemlich viel gemeinsam: Beide gingen auf Pilgerfahrt, suchten und befolgten den Rat von Starzen, waren mit liturgischen Texten vertraut, praktizierten das Jesusgebet und schätzten Akathistos-Hymnen. Während ihres Aufenthalts im Zverinkloster in Novgorod verfasste Marija/Taisija sogar selbst einen Akathistos – einen Hymnus zu Ehren des heiligen Simeon, des Gottempfängers (vgl. Lk 2,25–36), der nach einigen Änderungen durch Bischof Seraphim die offizielle Approbation des Heiligen Synods erhielt.37 Gemeinsam ist beiden Frauen außerdem, dass ihnen besondere religiöse, mystische Erfahrungen zuteil wurden, obwohl nur die Gebildete der beiden diese zu einem Buch verarbeiten konnte. Die Visionen und Träume, die Marija/Taisija bereits als junge Frau hatte, legen den Gedanken 35
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Akathistos (Ἀκάθιστος Ὕμνος, wörtlich: nicht im Sitzen, also im Stehen zu singender Hymnus) meint eine frühe byzantinische Hymnenform. Der Ur-Akathistos ist der Theotokos gewidmet; später entstanden andere Versionen, z. B. zu Ehren von Heiligen, heiligen Ereignissen oder einer der Personen der Heiligen Dreifaltigkeit. Eine ganz ähnliche Gebetspraxis mit Psalmenlesung, Akathistos- und Jesusgebet ist auch für Matrona Popova überliefert, vgl. ihr Portrait bei MEEHAN, Holy Women, 61–94. Zum Einfluss, den Seraphim von Sarow auf Frauen ausübte, vgl. Ольга ВИКТОРОВНА БУКОВА [Olga Viktorovna Bukova], Женские обители преподобного Серафима Саровского: История десяти нижегородских женских монастырей [Die Frauenklöster des Ehrwürdigen Seraphim von Sarow: Die Geschichte von zehn Frauenklöstern in Nižnij Novgorod] (Нижний Новгород [Nižnij Novgorod]: Книги [Knigi], 2003). ТАИСИЯ [Taisija], Акафист святому преподобному Симеону Богоприимцу: Творение игум: Таисии Леушинской [Akathistos für den heiligen Simeon, den Gottesempfänger: Ein Werk der Äbtissin Taisija von Leušino] (Санкт-Петербург [Sankt Petersburg], Леушинское издательство [Leušinskoe izdatel’stvo], 2002); http://kazan.eparhia.ru/bogoslugenie/ akafisti/pravednum/simeonbogoes (18.01.2010). Zur Geschichte des Textes vgl. Marijas/Taisijas eigene Darstellung: SOLOPOVA, Autobiography, 116ff. Wie einige weltlich lebende Zeitgenossinnen verfasste sie auch Gedichte. – Zu den religiösen Motiven in den Gedichten von weltlich lebenden Frauen vgl. Frank GÖPFERT, „Observations on the Life and Work of Elizaveta Kheraskova (1737–1809)“, in ROSSLYN, Women and Gender, 164–186; Wendy ROSSLYN, The Prince, the Fool and the Nunnery: The Religious Theme in the Early Poetry of Anna Akhmatova (Averbury: Amersham, 1984). Einige Jahrzehnte nach Marija/Taisija verfasste auch Elizaveta/Marija Pilenko/Skobtsova [Skobcova] eine größere Anzahl ausdrücklich religiöser poetischer Texte.
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nahe, dass – nicht anders als bei den weniger gebildeten oder sogar des Lesens unkundigen Frauen – in der Ausbildung ihrer Spiritualität liturgische Erfahrungen, die Ikonografie, Heiligenviten und die persönliche Leitung durch einen geistlichen Vater oder eine geistliche Mutter stark mit dem Wortlaut der Bibel zusammenspielten. So sah sich Marija/Taisija z. B. in ihrer Berufungsvision selbst zu Füßen Jesu, der ihr jedoch nicht erlaubte, seine Füße zu berühren – eine Szene, die an die in der österlichen Ikonografie übliche Darstellung der Begegnung zwischen Maria Magdalena und dem auferstandenen Herrn (Joh 20,17) erinnert.38 Auch der heilige Matthäus erschien ihr in einer Vision, ebenso wie der Erzengel Michael (mit einer Kopie seiner eigenen Ikone in Händen!), die Muttergottes oder, in späteren Visionen, der heilige Nikolaus. Wie andere Frauen ihrer Zeit „schöpfte Taisija Ermutigung und Inspiration aus einem reichen Fundus an Heiligen und anderen heiligen Vorbildern“39, die auch, aber nicht nur der Bibel entnommen waren: Her lexicon of inspiring figures was broad […] it was without boundaries of gender, place or time. The desert fathers and mothers; various apostles; Saint John the Baptist, Nicholas, Paraskeva, and Anthony of Kiev; the archangel Michael; and of course, the Mother of God all presented themselves as supporters and exemplars with whom she could identify and on whom she could model herself. They were also powerful intercessors in the heavenly realm, whose prayers could bring grace on her and her community.40
Brenda Meehan schreibt im letzten Kapitel ihrer Arbeit über die heiligen Frauen im Russland des 19. Jahrhunderts: […] it is difficult for many feminists to believe that patriarchal religious traditions can empower women. And it is difficult for modern readers, in general, to accept that tradition can be a path of creativity and a source of liberation.
Aber die Erfahrungen dieser Frauen, die sie untersuchte, zeigen, that the established disciplines of monastic tradition – routines of prayer, meditation, contemplative silence, fasting, and mortification – can be powerful tools for breaking through human mire and suffering to a transcendent freedom. Because holiness goes beyond false attachments and splintered selves to the inner core of being, it allows both women and men to be dully whole and powerful, radiating a life force and fresh energy stunning to its observers.41
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Vgl. SOLOPOVA, Autobiography, 39ff. MEEHAN, Holy Women, 137. MEEHAN, Holy Women, 137. MEEHAN, Holy Women, 151.
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3. Beiträge von Frauen zur Exegese Die bisherigen Beobachtungen führen uns zu der Frage, inwiefern Frauen selbst zur zeitgenössischen Exegese beigetragen haben. Natürlich schlägt auch auf dieser Ebene jener Klassenunterschied durch, den wir bereits in Hinblick auf die Frage eines unmittelbaren Zugangs von Frauen zur Heiligen Schrift festgestellt haben: Frauen vornehmer Abkunft konnten eher einen Beitrag zur „geschriebenen“ Theologie leisten als andere.42 Dagegen spielt der Klassenunterschied auf der Ebene der „gelebten Theologie“ keine Rolle: Man denke etwa an Matrona Naumovna Popova (1769–1851), die Gründerin des eng an die Grabstätte des heiligen Tichon von Sadonsk angeschlossenen Pilgerheims, deren Leben Meehan in ihrer Biografie als „Fleisch gewordenen Dienst“ charakterisiert43, oder an Anastasija/Afanasija, die wir weiter oben bereits mehrfach erwähnt haben. Letztere sehnte sich bereits als junge Frau nach einem Leben als Einsiedlerin, diente aber auf den Rat Seraphims von Sarow weiter ihrer Familie, ehe sie sich endlich im Alter von 41 Jahren zu einem Leben des Gebets zurückziehen konnte. Doch selbst dann musste sie auf ihren Wunsch nach Einsamkeit verzichten, um anderen geistliche Begleitung zuteil werden zu lassen, bis sie schließlich in vorgerücktem Alter noch Äbtissin eines Klosters wurde. Versucht man, in dieser Vielfalt von Lebensgeschichten einen gemeinsamen Punkt auszumachen, gelangt man zu dem Rat, den Marija/Taisija Anwärterinnen für ein monastisches Leben erteilte: „Begin with love; it is higher than all external exploits, higher than all burnt offerings and sacrifices (Mk 12:33).“44 Wie es scheint, verstand eine beträchtliche Anzahl frommer russischer orthodoxer Frauen des 19. Jahrhunderts ihre christliche Berufung als Auftrag, Christus in ihrem Nächsten zu lieben. Dieselbe Sichtweise vertrat einige Jahrzehnte später auch Elizaveta [Marija mit monastischem Namen] Pilenko [Skobtsova/Skobcova nach ihrer zweiten Heirat], besser bekannt als Mutter Mari[j]a von Paris (1891–1945), die unter den Nationalsozialisten den Märtyrertod erlitt, weil sie Jüdinnen und Juden gerettet hatte:45 42
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In gewisser Weise lassen sich auch Texte wie die Memoiren und das Tagebuch der weltlich lebenden Anna Labzina aus einer theologischen Perspektive analysieren. Vgl. Gary MARKER, „Reflections on Lay Female Spirituality in Late Eighteenth- and Early NineteenthCentury Russia“, in Orthodox Russia: Belief and Practice under the Tsars (hg. v. Valerie A. Kivelson und Robert H. Greene; University Park, PA: Pennsylvania State University Press, 2003), 193–209. Vgl. MEEHAN, Holy Women, 61–94. SOLOPOVA, Letters to a Beginner, 26 (Fazit des ersten Briefs). Vgl. z. B. Прот. Сергий ГАККЕЛЬ [Sergij GAKKEL’ = Serge HACKEL], Мать Мария [Mutter Marija] (Москва [Moskau]: Издательский отдел Всецерковного Православного Молодежного Движения [Verlagsabteilung der Allkirchlichen Orthodoxen Jugendbewegung], 1993); DERS., Pearl of Great Price: The Life of Mother Maria Skobtsova (1891–1945) (Crestwood, NY: St. Vladimir’s Seminary Press, 1981); Antonia HIMMEL-AGISBURG, „Auf dem Weg göttlich zu werden: Die Spiritualität orthodoxer Frauen am Beispiel Xenias von St. Petersburg und Maria Skobtsovas“, in Theologische Frauenforschung in Mittel- und Osteuropa (hg. v. Elżbieta Adamiak et al.; Yearbook of the European Society of Women in
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Alexej Klutschewsky und Eva Maria Synek At the Last Judgment I will not be asked whether I satisfactorily practised asceticism, nor how many bows I have made before the divine altar. I will be asked whether I fed the hungry, clothed the naked, visited the sick, and the prisoner in his jail. That is all I will be asked [vgl. Mt 25,31–46].46
So wie Mutter Marija ihre Nächsten in den Flüchtlingen und Bettlern auf den Straßen von Paris wie auch in den von den Nationalsozialisten verfolgten Juden erblickte, sahen ihre Vorläuferinnen im 19. Jahrhundert Bettler und Pilger, misshandelte Frauen, Waisenkinder, Häftlinge, Kranke, sterbende Soldaten, alte Verwandte und kummergeplagte Mitschwestern, ja zuweilen selbst den Adligen, der der „falschen“ Konfession angehörte, kurz: jede/n, die/der geistlichen Rat suchte und sie damit aus ihrem eigenen Beten und vertrauten Umgang mit Gott herausriss, als ihre Nächsten. Nach den Memoiren der weltlich lebenden Anna Jakovleva/Labzina (1758–1821) hatte ihre Mutter sie gelehrt: If you ever are in a position to do good deeds for the poor and unfortunate, you shall be carrying out God’s law, and peace will reign in your heart. […] Always remember that they are as close to you as brothers, and for them you shall be rewarded by the Heavenly King.47
Auf diese Weise nahm die Botschaft aus Mt 25 bzw. 1 Kor 13 im Leben zahlreicher Frauen des 19. Jahrhunderts Gestalt an. Eine ganze Reihe von ihnen war recht erfolgreich, wenn es darum ging, diese Botschaft durch ihre Taten und Worte auch anderen zu vermitteln: Anna erinnert sich in ihren Memoiren, die sie im frühen 19. Jahrhundert niederschrieb, sowohl an die Worte als auch an das gute Beispiel ihrer Mutter. Margarita/Marija Tučkova ließ, wie oben bereits erwähnt, 1 Kor 13,348 und 1 Petr 1,22 pro-
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Theological Research 11; Leuven: Peeters, 2003), 129–142; DIES., „Mutter Maria Skobtsova – Diakonia in und für die Welt“, in Diakonat und Diakonie in frühchristlicher und ostkirchlicher Tradition (hg. v. Anne Jensen und Grigorios Larentzakis; Grazer theologische Studien 23; Graz: Eigenverlag des Instituts für Ökumenische Theologie, Ostkirchliche Orthodoxie und Patrologie, 2008), 190–201. Zu ihren eigenen Schriften siehe http://www. mere-marie.com/401.htm (25.02.2009). Zit. nach: Bonnie A. MICHAL, „Mother Maria Skobtsova – A Saint of Our Day“, St. Nina Quarterly 2/2 (1998), http://www.stnina.org/print-journal/volume-2/volume-2-no-2-spring1998/mother-maria-skobtsova-saint-our-day (17.09.2008). Anna LABZINA, Days of a Russian Noblewoman: The Memories of Anna Labzina (1758– 1821) (hg. und übers. v. Gary Marker und Rachel May; DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2001), 3–116; 9. Auch Marija Solopova/Äbtissin Taisija zitiert 1 Kor 13,3 als grundlegendste Regel für das klösterliche Leben und verweist in Brief 5 auf 1 Kor 13,5.7f.: SOLOPOVA, Letters to a Beginner, 26.48. Aus ihren Gesprächen mit Vater Ioann Sergiev/Johannes von Kronstadt geht hervor, dass Vater Ioann sie im Rahmen der Beichte auf 1 Kor 13,4f. hinwies, DIES., Conversations, 271 (engl. Übers. überarbeitet von Alexej Klutschewsky auf der Grundlage der russischen Ausgabe von 2007, 228): „Remember: […] charity thinketh no evil (1 Cor 13:4f.), even when there is evil [literally: the good eye does not see evil]. Cover everything with love; don’t dwell on earthly filth; reach for perfection in Christ’s love. However, even Jesus did not commit himself unto them, because he knew all men (John 2:24).“
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grammatisch über den Eingang des Speisesaals der Spaso-Borodino-Gemeinschaft schreiben.49 Eine kleine Anzahl von Frauen war sogar imstande, ihre theologischen Überzeugungen zu verschriftlichen und infolge dessen eine größere LeserInnenschaft aus Frauen und Männern zu erreichen. Neben Elizaveta/Marija Skobtsova/Skobcova, der ersten Russin, die kurz vor Revolutionsausbruch 1917 zu einem formellen Theologiestudium in Sankt Petersburg zugelassen wurde, war Marija/Taisija Solopova mit ihren Schriften, die vom Heiligen Synod publiziert und erst kürzlich neu ediert und übersetzt wurden, sicherlich die erfolgreichste. Marijas/Taisijas Freundschaft mit Vater Ioann Sergiev/Johannes von Kronstadt und ihr Erfolg als Schriftstellerin sind unverkennbar ein Anzeichen dafür, dass die „weibliche“ Interpretation des Christentums mit Strömungen in der zeitgenössischen „männlichen“ Theologie zusammentraf, auch wenn es scheint, dass Frauen eher gewillt waren, sich den Werken der Barmherzigkeit50 und gemeinschaftlichen Formen des monastischen Lebens zu widmen als ihre männlichen Zeitgenossen. Soweit wir sehen können, war die damalige russische Hierarchie bereit, den Beitrag der Frauen zur Theologie zu akzeptieren. Andererseits scheinen russisch-orthodoxe Frauen des 19. Jahrhunderts sich im Unterschied zu manchen ihrer westlichen Schwestern auch nicht an den „vorherrschend männlichen Symbolen von Gottheit, Heiligkeit und Priestertum“51 gestoßen zu haben. Nonnen waren sich dessen bewusst, dass bereits in der Vergangenheit „Frauen den gleichen Grad der Askese erreichten wie Männer“52 und konnten daher das, was sie als ihre eigene Berufung betrachteten, mit Gal 3,28 in Verbindung bringen.53 Es gab sowohl vonseiten einiger Bischöfe als auch vonseiten der engagierten Frauen selbst Bestrebungen, den weiblichen Diakonat wiederzubeleben.54 49 50
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Vgl. MEEHAN, Holy Women, 37f. Dass die „Bereitschaft zu Dienst und Wohltätigkeit“ schon früher ein „gender-spezifisches“ Merkmal weiblicher Spiritualität im orthodoxen Russland gewesen sei, hat erst kürzlich Isolde THYRÊT vertreten: „Spiritual Experience and Practice“, in KIVELSON und GREENE, Orthodox Russia, 159–175; 166. Soweit wir sehen, sollte man Frauen hinsichtlich des karitativen Engagements, dem innerhalb der russischen Spiritualität eine große Bedeutung zukommt, nicht vorschnell eine Sonderstellung einräumen. Bekannte männliche Vertreter russischer Spiritualität, wie Seraphim von Sarow oder Ioann Sergiev/Johannes von Kronstadt, waren ebenfalls sehr auf den Dienst an den Bedürftigen bedacht. MEEHAN, Holy Women, 140. SOLOPOVA, Letters to a Beginner, 30. Vgl. SOLOPOVA, Letters to a Beginner, 31. Wenig bekannt ist diesbezüglich die Initiative von Ljudmila Gerasimova, „einer Journalistin und selbsternannten Expertin für Landwirtschaft“, vgl. William G. WAGNER. „‚Orthodox Domesticity‘: Creating a Social Role for Women“, in STEINBERG und COLEMAN, Sacred Stories, 119–145; 119. Vgl. auch Елена В. БЕЛЯКОВА – Надежда А. БЕЛЯКОВА [Elena V. BELJAKOVA – Nadežda A. BELJAKOVA], „Обсуждение вопроса о диакониссах на Поместном Соборе 1917–1918 гг. [Die Diskussion der Diakoninnen-Frage auf dem Örtlichen Konzil von 1917–1918]“, Церковно.исторический вестник [Kirchenhistorischer Bote] 8 (2001): 139–161.
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Gelegentlich wurde Christus als ein „früher Feminist“ verstanden, der „den Grundsatz der Frauenbefreiung“55 unterstützt hätte, wie auch als ein „radikaler Freiheitskämpfer, der ‚alle existentiellen Unterschiede zwischen den Menschen, die sie in Männer und Frauen, Reiche und Arme sowie Starke und Schwache unterteilten‘ aufhob“.56 Es gab jedoch kein Projekt einer „Frauenbibel“, obwohl sich Spuren eines bemerkenswert inklusiven Gottesbildes nachweisen lassen. In ihren Memoiren schreibt Anna Jakovleva/Labzina, ihre schwerkranke Mutter habe zu ihr gesagt: „Gründest Du Deine Hoffnung nicht auf den Einen, der dich erschaffen hat und bis auf den heutigen Tag erhalten hat? Er ist unser Vater, unsere Mutter, unser Beschützer und Freund.“57 Auch Marija/Taisija stellt Gott in der Einleitung zu ihrer Autobiografie als Mutter dar: Truthful is the word which says: God’s grace and strength is made perfect in weakness (2 Cor 12:9) even where sin abounded (Rom 5:20). For God desireth not the death of a sinner, but that he should turn again and live (cf. Ezek 33:11). Likewise, all my life the Lord has been seeking me, the sinner, and has guided me by His right hand, like a mother guides her unreasonable child, to prevent it, unable to walk along slippery paths, from falling and injuring itself.58
Erst kürzlich hat Nadieszda Kizenko dieselbe inklusive Bildlichkeit in einem bis dato unveröffentlichten Tagebucheintrag von Ioann Sergiev/Johannes von Kronstadt entdeckt: A small child is not as consoled in its mothers’s arms after it tears as those who are worthy of your love are consoled by it. Your love is soothing, peaceful, full of inexpressible joy which is holy and sublime [...].59
In der edierten Version der Conversations zwischen der Äbtissin und ihrem geistlichen Vater findet sich ein Zitat der zu Grunde liegenden Bibelstelle. Auf die Bitte, seine geistliche Tochter nicht zu vergessen und durch Briefe mit ihr in Verbindung zu bleiben, soll der als Heiliger rezipierte Priester wie folgt geantwortet haben: This is what I say to you in response – the Lord said through the Prophet: Can a woman forget her suckling child? […] yet will I not forget thee (Isa 49:15). And I, according to
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WAGNER, „Orthodox Domesticity“, 137, unter Verwendung von Е. ЛЮЛЕВА [E. LJULEVA], „Cвободная женщина и христианство [Die freie Frau und das Christentum]“, Мир труда. Пробный номер 6-го мая 1906 г. [Welt der Arbeit. Probenummer vom 6. Mai 1906 – laut Katalog der National Library of Russia (Российская национальная библиотека) in Sankt Petersburg hat der Artikel 26 Seiten], Москва [Moskau], 1906, 7. WAGNER, „Orthodox Domesticity“, 137, unter Verwendung von ЛЮЛЕВА [LJULEVA], „Cвободная женщина и христианство [Die freie Frau und das Christentum]“, 4. LABZINA, The Memoir, in: Days of a Russian Noblewoman, 18. SOLOPOVA, Autobiography, 26. Ioann SERGIEV/Johannes von Kronstadt, Tagebuch (1856). Unveröffentlichter Text aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation, f. 1067, op. 1, d. 1,1. 65ob. Englische Übersetzung aus KIZENKO, Father John, 19.
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my strength, will remember you and your sisters.60
Man mag sich daher fragen, ob Marija/Taisija von ihrem geistlichen Ratgeber beeinflusst gewesen ist oder ob beide unabhängig voneinander dazu kamen, Gott als Vater und Mutter zu betrachten. Auf jeden Fall können beide, Mutter Taisija und Vater Ioann/Johannes von Kronstadt, als ZeugInnen dafür benannt werden, dass inklusive Sprache weder eine Erfindung westlicher HäretikerInnen noch ein fragwürdiger Modernismus ist, wie dies gegenwärtig häufig aus orthodoxer Perspektive vermutet wird. Sie ist in der östlichen orthodoxen und in der westlichen Tradition gleichermaßen verwurzelt, so wie ja auch diese beiden Traditionen ihrerseits auf demselben biblischen Erbe und auf denselben jüdisch-christlichen Erfahrungen von Gott als barmherziger Liebe (vgl. 1 Joh 4,16b) basieren.61
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Ioann SERGIEV/Johannes von Kronstadt, zit. nach SOLOPOVA, Conversations, 268. Siehe auch Моя жизнь во Христе, или Минуты духовного трезвления и созерцания, благоговейного чувства, душевного исправления и покоя в Боге [Mein Leben in Christo oder die Minuten der geistigen Ernüchterung und Kontemplation, des andächtigen Gefühls, der seelischen Besserung und Ruhe in Gott] (Москва [Moskau]: Сретенский монастырь [Sretenskij Kloster], 2005), 495: „What is surprising in the Lord’s offering you His body and blood as your food and drink? […] Just as previously as an infant you were fed by your mother and lived through her, through her milk, so now, having grown up and become a sinful person, you are fed by the blood of your Life-giver in order that you live and grow spiritually into a man of God, a holy man; more briefly: just as then you were your mother’s son, so now you are the child of God, educated and nourished by His flesh and blood, and all the more by His Spirit (for His Flesh and blood are spirit and life).“ Englische Übersetzung nach KIZENKO, Father John, 48. Eine vollständige englische Übersetzung des sogenannten Tagebuchs bietet: Johannes von Kronstadt/John Iliytch SERGIEFF, My Life in Christ, or Moments of Spiritual Serenity and Contemplation, of Reverent Feeling, of Earnest SelfAmendment, and of Peace in God, http://www.ccel.org/ccel/kronstadt/christlife.html (28.05.2009). Zur Bedeutung der Theologie des ersten Johannesbriefs für die spirituellen Schriften der Marija Solopova/Äbtissin Taisija vgl. Letters to a Beginner, 47.
Die Bibel in Liturgie und Frömmigkeit am Beispiel des Kreuzeskränzchens in Bonn Angela Berlis Universität Bern Gottesdienst und Kirchenraum sind die gesamte Kirchengeschichte hindurch die wohl wichtigsten Orte, an denen Menschen die Bibel kennenlernen, sich mit ihren Inhalten auseinandersetzen und diese Erfahrung in ihren eigenen Lebensalltag mitnehmen. Die kulturelle Prägekraft der Bibel bleibt unverständlich, wenn dieser Faktor der Begegnung mit der Bibel in der Alltagserfahrung kirchlicher und liturgischer Praxis außer Acht gelassen wird.1 Wie prägend ist es etwa, wenn Menschen in Kirchen sitzen, deren Glasfenster die Geschichte gläubiger Männer und Frauen aus der Bibel erzählen und deuten, wenn Statuen von Heiligen als Exempel gelebter Nachfolge in Kirchen stehen oder fehlen? Welchen Einfluss haben Psalmen und Lesungen aus der Bibel, die während des Gottesdienstes gebetet, gesungen oder zu Hause gelesen und auswendig gelernt werden? Wie formend sind Unterweisungen in Katechetik und Predigt durch offizielle KirchenvertreterInnen für die eigene Glaubenserfahrung und -praxis, und welche Rolle spielt dabei die Bibel? Jahrhundertelang gab es eine geschlechtsspezifische Arbeits- und Raumteilung im Gottesdienst: Frauen wurden nicht als am zentralen Geschehen Beteiligte sichtbar, während sie zugleich einen erheblichen, wenn nicht gar den größeren Teil der Gottesdienstgemeinde stellten. Eine nach Geschlecht getrennte Sitzordnung war bis weit ins 20. Jahrhundert üblich.2 Welche Rolle spielt Gender bei der Vermittlung und Rezeption biblischer Texte und Deutungen, die im Raum der Kirche stattfinden?3 In welcher Weise eignen Frauen und Männer sich die Bibel an und deuten deren Aussagen und Erzählungen aktiv auf ihr eigenes Leben und Handeln4 – gehe dies in Richtung emanzipatorischen Aufbruchs oder in Richtung eines Festhaltens am Überkommenen?
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Vgl. John F. A. SAWYER, Hg., The Blackwell Companion to the Bible and Culture (Blackwell Companions to Religion; Malden: Blackwell, 2006). Ich danke Teresa Berger für ihren Kommentar zu einer früheren Fassung dieses Beitrags. Vgl. Margaret ASTON, „Segregation in Church“, in Women in the Church: Papers read at the 1989 Summer Meeting and the 1990 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society (hg. v. William J. Sheils und Diana Wood; Studies in Church History 27; Oxford: Blackwell, 1990), 237–294. Teresa Berger signalisiert hier vier verschiedene Ebenen: die Bibel als androzentrisches Dokument, androzentrische Übersetzungen, die gottesdienstliche Leseordnung, die Frauengeschichten kürzt, ausklammert oder übersieht, und eine Wortverkündigung, die allein durch Männer geschieht. Vgl. Teresa BERGER, „‚I love Latin Mass‘? Sonntagsgottesdienst und Frauenleben“, ET-Studies 1/2 (2010): 265–281; 273. Aneignung (appropriation) wird hier im Sinne einer aktiven, deutenden Rezeption der Vergangenheit verstanden. Vgl. Willem FRIJHOFF, „Toeëigening: van bezitsdrang naar betekenisgeving“, Trajecta 6 (1997): 99–118.
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1. Religiöse Räume und ihre Anziehungskraft für Frauen im 19. Jahrhundert Für das 19. Jahrhundert wird in der Forschungsliteratur der Rückgang des Kirchgangs der Männer festgestellt, während die Frauen weiterhin treue Kirchgängerinnen geblieben seien. Der Befund wird als Zeichen einer zunehmenden Säkularisierung gedeutet. Religionssoziologische Studien sehen die Säkularisierung als Folge der Industrialisierung. In jüngster Zeit haben jedoch Linda Woodhead und Callum Brown für ein „gendering“ der Säkularisierungsthese plädiert, indem sie darauf hinwiesen, dass die Industrialisierung für die Lebens- und Arbeitswelt von Männern und Frauen sehr unterschiedliche Folgen gehabt habe: Während die Männer in der Öffentlichkeit, in Fabrik oder Büro arbeiteten, führten Frauen Arbeiten aus, die – auch wenn sie entlohnt wurden – zum häuslich-privaten Bereich zählen (Hausarbeit, Erziehung, Unterricht, Fürsorge etc.). Kurz gesagt: Während die Männer ihr Leben und ihre Arbeit vom „eisernen Käfig“ (Karl Marx) bzw. vom „bröckelnden Käfig“ (Max Weber) der Erwerbsarbeit bestimmt sahen5, waren die Frauen eher im „sanften Käfig der Häuslichkeit“ gefangen.6 Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) gilt für Männer und Frauen im 19. Jahrhundert nicht in gleicher Weise. Wenn die Beziehung zwischen Religion und moderner Gesellschaft als eine im 19. Jahrhundert sich verändernde beschrieben wird und dies u. a. am Rückgang des Kirchgangs und den schwindenden Mitgliederzahlen verdeutlicht wird7, so muss diese Aussage für Männer und Frauen differenziert werden. Es waren vor allem Männer, die aus den Kirchen auszogen. Frauen pflegten weiterhin ein überkommenes religiöses Verhalten, indem sie Rituale und Gebräuche, aber auch materielle Kulturen aufrecht erhielten und praktizierten. Seit einigen Jahren wird diese bei Männern und Frauen unterschiedliche Entwicklung wahrgenommen und unter der These der „Feminisierung der Religion“ im 19. Jahrhundert diskutiert.8 Warum beharr5
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„In other words, it was men who were likely to find their lives and labour shaped by their own cage and the crumbling cage rather than women – for it was men who entered the public world of paid work rather than women.“ Linda WOODHEAD, „Gendering Secularisation Theory“, Kvinder, Kønog Forskning 1 (2005): 24–35, zit. nach http://eprints.lancs.ac.uk/ 797/1/copenhagen2.doc, 8 (06.07.2009). Linda WOODHEAD, „Gender Differences in Religious Practice and Significance“, in The Sage Handbook of the Sociology of Religion (hg. v. James Beckford und N. Jay Demerath III; Los Angeles: Sage, 2007), 550–570, zit. nach http://eprints.lancs.ac.uk/793/1/ Gender_Differences_in_Religious_Practice_and_Significance-revised10th_June.doc, 29 (06.07.2009). Vgl. Owen CHADWICK, The Secularization of the European Mind in the Nineteenth Century (Cambridge: Cambridge University Press, 1975), 264. Osterhammel unterscheidet in Nachfolge von McLeod sechs Felder der Säkularisierung, von denen persönlicher Glaube und „Teilnahme an religiösen Praktiken“ zwei sind. Vgl. Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München: Beck, 22009), 1248f. Vgl. Barbara WELTER, „‚Frauenwille ist Gotteswille‘: Die Feminisierung der Religion in Amerika: 1800–1860“, in Listen der Ohnmacht: Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen (hg. v. Claudia Honegger und Bettina Heintz; Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt, 1981), 326–355. Vgl. auch die kritische Rezeption durch: Bernhard SCHNEIDER,
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ten Frauen auf der überkommenen Religionspraxis? Einerseits wird dies mit der Häuslichkeit der Frauen erklärt, andererseits mit der Parallele zwischen der zeitgenössischen Rollenerwartung an Frauen (Unterordnung, Demut, Hingabe, Liebesfähigkeit) und dem von der Kirche vertretenen christlichen Lebensideal mit seinen „weiblichen“ Zügen (Caritas, Hingabe). Zwar sollte man sich vor dem stereotypen Gegensatz zwischen „weiblicher Frömmigkeit“ und „männlichem Unglauben“ hüten.9 Denn nachweislich gab es ja immer auch fromme Männer und unkirchliche, religionskritische Frauen, wie etwa das Beispiel der Frauen im Deutschkatholizismus des 19. Jahrhunderts zeigt.10 Außerdem waren sicher auch nicht alle Männer im 19. Jahrhundert in der gleichen Situation; so unterschied sich etwa die Lebens- und Arbeitswelt von Gelehrten und Amtsträgern erheblich von der Welt der Arbeiterschaft oder des unteren Mittelstandes (gleiches gilt mutatis mutandis für Frauen). Erwähnt werden sollte des Weiteren, dass es auch gegenläufige Bestrebungen gegen eine zu große Verweiblichung der Kirche gab, wie etwa das an Männer gerichtete Propagieren eines „muskulösen Christentums“ (muscular christianity) in England. Um hier nicht vorschnell die Vielfältigkeit gelebter Frömmigkeit zu verengen, sind deshalb detaillierte Fallstudien erforderlich. Eine, die sich dafür anbietet, ist die Untersuchung der unterschiedlichen Art und Weise, in der Maria interpretiert und für „männliche“ oder „weibliche“ Spiritualität zugänglich gemacht werden konnte.11 Festzuhalten ist: Verschiedene Faktoren sorgten im 19. Jahrhundert für eine bleibende und wiedererwachte große Anziehungskraft religiöser Räume auf Frauen. Der
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„Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert: Perspektiven einer These im Kontext des deutschen Katholizismus“, Trierer Theologische Zeitschrift 111 (2002): 123–147; siehe hierzu den Beitrag von Bernhard Schneider in diesem Band. Vgl. Hugh MCLEOD, „Weibliche Frömmigkeit – männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert“, in Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert (hg. v. Ute Frevert; Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 77; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988), 134–156. Der Deutschkatholizismus entstand aus der kritischen Reaktion auf die Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier (1844) und verband sich schnell mit freireligiösen Strömungen. Die Gleichstellung der Geschlechter wurde – nicht zuletzt unter dem Einfluss der demokratischen Anliegen der 1848er-Revolution – hochgehalten. Vgl. Sylvia PALETSCHEK, Frauen und Dissens: Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden: 1841–1852 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 89; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990), insbes. 146–152; DIES., „Frauen und Säkularisierung Mitte des 19. Jahrhunderts: Das Beispiel der religiösen Oppositionsbewegung des Deutschkatholizismus und der freien Gemeinden“, in Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (hg. v. Wolfgang Schieder; Industrielle Welt 54; Stuttgart: Klett-Cotta, 1993), 300–317; 302. Vgl. dazu etwa Carol ENGELHARDT HERRINGER, Victorians and the Virgin Mary: Religion and Gender in England: 1830–1885 (Manchester: Manchester University Press, 2008), insbes. 144–181; DIES., „The Virgin Mary and Victorian Masculinity“, in Masculinity and Spirituality in Victorian Culture (hg. v. Andrew Bradstock et al.; London: MacMillan, 2000), 44–57.
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kirchliche Raum war familiär gefärbt und somit für Frauen leicht zugänglich. Gleiches gilt – jedoch in je spezifischer Weise – für sprachlich-religiöse Ausdrucksformen im römischen Katholizismus12 und in der praxis pietatis des Protestantismus.13 Es eröffnen sich Möglichkeiten, die „langfristig eine Emanzipation der christlichen Frauen befördern helfen, die dabei aber keinesfalls mit Säkularisierung verbunden sind“.14
2. Bibel – Frauen – Liturgie Dieser Beitrag thematisiert die Beziehung zwischen Bibel und Frauen im 19. Jahrhundert unter dem Aspekt der Liturgie.15 Der Blick richtet sich dabei vornehmlich auf die Art und Weise, wie Frauen in diesem Jahrhundert die Bibel gelesen, für ihr Leben gedeutet und in religiöser Praxis gestaltet haben. Im Fokus stehen dabei junge katholische Frauen, die zu einem geistlichen Kreis in Bonn gehörten und in der Regel unverheiratet waren. Als Quellen dienen ihre unveröffentlichten Briefe an männliche, zölibatär lebende geistliche Mitglieder ihres Kreises sowie eine von diesen Frauen verfasste Litanei. Briefe und Litanei belegen die Aneignung von Bibel und Tradition durch diese Frauen und legen zugleich beredtes Zeugnis für die Vielfalt religiöser und liturgischer Tradition ab. Was die Beziehung zwischen Frauen und Liturgie angeht, so bleiben da, wo lediglich autoritative, kirchenoffizielle liturgische Texte zu Rate gezogen werden, Frauen in der Regel unsichtbar. Eine Ausnahme sind Frauen, die als Dichterinnen oder Übersetzerinnen von Kirchenliedern einen erkennbaren Beitrag zum offiziellen liturgischen und rituellen Repertoire leisteten und prägende Texte und Formulierungen ver-
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Vgl. Irmtraud GÖTZ VON OLENHUSEN, Hg., Wunderbare Erscheinungen: Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert (Paderborn: Schöningh, 1995). Vgl. Ute GAUSE, „Frauen und Frömmigkeit im 19. Jahrhundert: Der Aufbruch in die Öffentlichkeit“, Pietismus und Neuzeit: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 24 (1998): 309–327; fast unveränderter Nachdruck in: DIES., Kirchengeschichte und Genderforschung: Eine Einführung in protestantischer Perspektive (UTB 2806; Stuttgart: Mohr Siebeck, 2006), 157–181. So das Fazit von Gause, das sie auf die von ihr untersuchten protestantischen Frauen bezieht, das m. E. aber auch – wie in diesem Beitrag zu zeigen sein wird – auf Frauen anderer Konfessionen anwendbar ist. GAUSE, „Frauen und Frömmigkeit“, 327. Für Studien über andere Jahrhunderte weise ich hin auf Teresa BERGER, „Women in Worship“, in The Oxford History of Christian Worship (hg. v. Geoffrey Wainwright und Karen B. Westerfield Tucker; New York: Oxford University Press, 2005), 755–768. Vgl. außerdem: DIES., Women’s Ways of Worship: Gender Analysis and Liturgical History (Collegeville: Liturgical Press, 1999); DIES., Sei gesegnet, meine Schwester: Frauen feiern Liturgie: Geschichtliche Rückfragen, praktische Impulse, theologische Vergewisserungen (Würzburg: Echter, 1999); DIES., Liturgie und Frauenseele: Die Liturgische Bewegung aus der Sicht der Frauenforschung (Stuttgart: Kohlhammer, 1993); Gisela MUSCHIOL, Famula Dei: Zur Liturgie in merowingischen Frauenklöstern (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerinnenordens 41; Münster: Aschendorff, 1994).
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fassten.16 Doch sonst sind Frauen als Gestalterinnen liturgischer Texte im 19. Jahrhundert eher selten (überliefert), vor allem dann, wenn sich das Augenmerk nur auf die offizielle, kirchlich approbierte Liturgie richtet. Genauere Untersuchungen sind hier angebracht, bei denen auch andere liturgische und rituelle Formen als die kirchlich vorgegebenen einbezogen und untersucht werden müssten. Hürden für diese Forschung sind u. a. die Quellenlage: Wo Texte für eine bestimmte Situation und für eine bestimmte Zielgruppe verfasst wurden, sind sie oft nur handgeschrieben überliefert und schwer auffindbar. Auch die Rolle der betreffenden Frau als Laiin und nicht als Amtsträgerin, die konfessionelle Zugehörigkeit und das dominante Liturgieverständnis in einer bestimmten religiösen Gemeinschaft oder Kirche haben Einfluss darauf, dass bestimmte Texte nicht selbstverständlich als „liturgische Texte“ verstanden werden. Eines der wenigen mir bekannten Beispiele eines von katholischen Frauen verfassten Textes im 19. Jahrhundert, der im Rahmen eines Rituals verwendet worden ist, soll unten behandelt werden. Neben der Gestaltung von gesprochenen und gesungenen Texten für die Liturgie beteiligten Frauen sich aber auch in anderer Weise: erstens, indem sie im Gottesdienst anwesend waren und ihn, körperlich mitfeiernd, mitgestalteten. Diese „Korporealität“ drückte sich im Dabeisein, im Beten, Atmen, Knien usw. aus. Zweitens waren Frauen beteiligt als aufmerksame Hörerinnen, die oft in Tagebüchern persönliche Erfahrungen aufzeichneten.17 Sie dokumentierten damit gleichzeitig ihre hohe Bildung, wie z. B. ihre Lateinkenntnisse. Derartige Ego-Dokumente sind wichtige Quellen für die zeitgenössische gottesdienstliche Praxis und die Art und Weise, wie Frauen sich diese Praxis für ihre eigene persönliche Frömmigkeit aneigneten. Neben dem Tagebuch ist der Brief ein wichtiges Medium der Selbstreflexion. Zudem dient er oft der interaktiven Klärung liturgischer und sakramentstheologischer Fragen, die sich z. B. im Fall einer Konversion oder beim Besuch einer anderen religiösen Gemeinschaft oder Kirche ergeben.18 Drittens spielten Frauen eine Rolle als Vermittlerinnen: So wurden Predigten während des Vortrags aufgezeichnet und im Freundeskreis herumgereicht. Dies gilt etwa für die Predigten des in Bonn lehrenden Professors Bernhard Joseph Hilgers (1803–1874), die er in der Kapelle des dortigen St. Johannishospitals hielt. Die Predigten wurden von einer Frau aufgezeichnet, die anonym bleiben wollte.19 Möglicherweise war die Bonner Lehrerin Wilhelmine Ritter (1834–1870) 16
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Vgl. dazu Geoffrey WAINWRIGHT, „Catherine Winkworth – ‚Königin der Übersetzerinnen‘ deutscher Kirchenlieder“, in Liturgie und Frauenfrage: Ein Beitrag zur Frauenforschung aus liturgiewissenschaftlicher Sicht (hg. v. Teresa Berger und Albert Gerhards; Pietas liturgica 7; St. Ottilien: Eos, 1990), 289–305. Winkworth übersetzte fast 400 deutsche Kirchenlieder ins Englische. Vgl. Friedrich LURZ, Erlebte Liturgie: Autobiografische Schriften als liturgiewissenschaftliche Quellen (Ästhetik – Theologie – Liturgik 28; Münster: LIT, 2003). Vgl. etwa Susan WHITE, A History of Women in Christian Worship (London: Pilgrim Press, 2003), 145. Oft werden Fragen zu den Sakramenten (Taufe, Eucharistie) gestellt. Vgl. auch PALETSCHEK, Frauen und Dissens, 146–152, für die Wahrnehmung durch eine nicht zur betreffenden religiösen Gemeinschaft gehörende Frau. Vgl. Bernard Joseph HILGERS, Homilien gehalten in der Kapelle des St. Johanneshospitals zu Bonn (nach dem Tode des Verfassers herausgegeben; Bonn: Karl Drobnig, 21896). Die
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die unbekannte Mitschreiberin.20 Viertens konnten Frauen als Propagandistinnen auftreten: Dabei gingen ihre Plädoyers für liturgische Erneuerung21 und für das Lesen der Bibel22 Hand in Hand, wie das Beispiel der Bonner Alt-Katholikin Therese von Miltitz (1827–1912) zeigt.
3. Das Bonner Kreuzeskränzchen und seine Litanei 3.1 Das Kreuzeskränzchen im Bonner Güntherkreis Die bereits genannte Wilhelmine Ritter spielte eine maßgebliche Rolle in einer Gruppe katholischer Frauen, die in Bonn zum Freundeskreis um den in Wien lehrenden Philosophen Anton Günther (1783–1863) gehörten.23 Mittelpunkt des Bonner Güntherkreises war Wilhelm Reinkens (1811–1889), Pfarrer von St. Remigius in Bonn, der seit den 1840er Jahren junge Theologiestudierende, unter ihnen sein jüngerer Bruder Joseph Hubert, und Kinder seiner Christenlehre um sich sammelte. Die Theologiestudenten schwärmten nach ihrer Ausbildung in andere Länder aus, die Mitglieder des aus einer Christenlehre mit anschließender Erstkommunion und Firmung 1850 entstande-
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Beliebtheit der Predigten von Hilgers zeigt auch der Abdruck einer Pfingstpredigt im Altkatholischen Frauenblatt 18 (1889): 131. Vgl. Wilhelmine Ritters Brief an Wilhelm Reinkens, 14.01.1854, in dem sie den Gedankengang von Hilgers’ Predigt über die Hochzeit zu Kana zusammenfasst (Joh 2,1–11). Diese Predigt ist übrigens nicht identisch mit der am Zweiten Sonntag nach Erscheinung des Herrn, die bei HILGERS, Homilien, 28–30, abgedruckt ist. Auch am 23.10.1864 berichtet Ritter über eine Predigt von Hilgers in der Hospitalkapelle. Die Briefe befinden sich im Archiv der Deutschen Provinz der Jesuiten, München (DPJA), Nachlass W. Reinkens, Abt. 47, Nr. 566. Ein Beispiel dafür sind Therese von Miltitz und andere altkatholische Frauen, die ab 1885 ein Altkatholisches Frauenblatt herausgaben. Klipp und klar wird am Ende des dritten Jahrgangs festgehalten: „Weiter bestrebte sich das Frauenblatt an seiner Stelle dazu beizutragen, dem Thürlings’schen Gebet- und Liederbuche dadurch Eingang in die Familien und von da in die Gemeinden zu bereiten, dass es die Einzelnen mit dem Detail bekannt zu machen suchte. Zu diesem Zwecke brachte es nach und nach, in den Nummern 7 bis 10, eine Auswahl jener Lieder, welche die Melodie zu einer größeren Anzahl anderer Lieder bilden und lieferte damit den Beweis, dass mit dem Erlernen dieser zwölf Lieder die Betreffenden gleich im Stande wären, auch noch vierzig andere Lieder aus dem Liederbuch zu singen.“ Altkatholisches Frauenblatt 12 (1887): 78. In der Anfangsphase des deutschen Altkatholizismus wurde wiederholt zur Lektüre der Bibel ermuntert. Vgl. Deutscher Merkur 4 (1873): 59–60. Dies geschah auch durch den ersten Bischof Josef Hubert Reinkens, der 1873 eine programmatische Rede darüber hielt. Vgl. Deutscher Merkur 4 (1873): 297–299. Wie altkatholische Frauen im Jahr 1889 auch selbst aktiv wurden, wird unten näher ausgeführt. Vgl. dazu Paul WENZEL, Der Freundeskreis um Anton Günther und die Gründung Beurons: Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert (Essen: Ludgerus, 1965).
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nen Mädchenkreises blieben weitgehend in Bonn und nannten sich ab 1855 Kreuzeskränzchen.24 Mehrere Mitglieder dieses Frauenkreises gründeten 1858 eine private Mädchenschule in Bonn, die bis in die 1890er Jahre bestand. Vom Bonner Güntherkreis gingen Erneuerungsimpulse in zwei Richtungen aus: zur benediktinischen Neugründung in Deutschland (ab 1863)25 und zur sich formierenden altkatholischen Bewegung (nach 1870). 1857 waren Günthers Werke von Rom verurteilt worden. Ähnlich wie die Werke des Dogmatikers Georg Hermes (1775–1831), der zuletzt in Bonn gelehrt und dessen Bücher Rom nach seinem Tod verboten hatte26, waren auch Günthers Werke in römischer Perspektive zu sehr auf einen Ausgleich zwischen Glaube und Moderne aus. Ab den 1860er Jahren wurde die Kluft in Theologie und Frömmigkeitspraxis zwischen strengkirchlich-ultramontanen und denjenigen KatholikInnen immer offenkundiger, die vom Gedankengut der katholischen Aufklärung geprägt waren und dem modernen Geist der Zeit aufgeschlossen gegenüberstanden. Infolge des Ersten Vatikanums (1869/70) gewann die ultramontane Richtung noch mehr und für lange Zeit bestimmenden Einfluss. Der Bonner Freundeskreis und andere Vertreter eines liberalen Katholizismus wurden infolge der Ultramontanisierung des Katholizismus, die seit den 1850er Jahren merklich zunahm, an den Rand gedrängt.27 Anhand von Briefen des Kreuzeskränzchens und eines von seinen Mitgliedern verfassten Textes sollen der Stellenwert der Bibel und ihre Aneignung für das eigene Gebetsleben der weiblichen Mitglieder dieses Freundeskreises dargelegt werden. Diese Gruppe ist in ihrer Zeit nicht repräsentativ für den mainstream des zeitgenössischen Katholizismus, der als Ultramontanismus zu kennzeichnen ist. Gleichwohl stehen die Texte im breiten Strom der katholischen Tradition. Zugleich stellen sie eine Eigenprägung dar, die – wie zu zeigen sein wird – stark von der Lektüre der Bibel, ihrer Auslegung durch die Kirchenväter und von der Rezeption des Heliand gekennzeichnet ist. Dieses Werk, eine frühmittelalterliche altsächsische Evangelienharmonie und Nach24
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Für eine ausführliche Beschreibung dieser Gruppe, ihrer Mitglieder und ihrer Anliegen vgl. Angela BERLIS, Frauen im Prozess der Kirchwerdung: Eine Studie zur Anfangsphase des deutschen Altkatholizismus (1850–1890) (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte 6; Frankfurt: Lang, 1998), 371–623. Vgl. Johanna BUSCHMANN, Beuroner Mönchtum: Studien zu Spiritualität, Verfassung und Lebensformen der Beuroner Benediktinerkongregation von 1863 bis 1914 (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums 43; Münster: Aschendorff, 1994). Vgl. Herman A. J. WEGMAN, Liturgie in der Geschichte des Christentums (Regensburg: Pustet, 1994), 353, der diese Beziehung nicht erwähnt – sie ist ihm wahrscheinlich unbekannt. Auch der oben genannte Bernhard Joseph Hilgers gilt als Hermesianer. Verschiedene dieser nicht-ultramontanen Hermesianer und Güntherianer engagierten sich ab 1870 in der Oppositionsbewegung gegen die Dogmen des Ersten Vatikanums und wurden Mitglieder in Gemeinden des sich 1873 formierenden Bistums für die Altkatholiken im Deutschen Reich. Für einen kurzen Einblick in die Anliegen des Altkatholizismus vgl. WEGMAN, Liturgie, 37–39, in den Abschnitten über „Die Kirche in Utrecht, im Jahr 1720“ und „Die Kirche in Bonn, im Jahr 1880“.
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erzählung des Lebens Christi, hatte der Germanist Karl Simrock, der Vater zweier Mitglieder des Kreuzeskränzchens, ins Deutsche übertragen. Die zu behandelnden Texte sind ein Zeugnis dafür, wie die kirchliche Tradition durch diese katholische Gruppe angeeignet und weitergetragen wurde. Sie zeigen zudem, welchen Raum Frauen als Gestalterinnen von Liturgie betreten konnten und welche Be-Deutung sie ihrem eigenen liturgischen Handeln verliehen. Es ist Teresa Berger zuzustimmen, wenn sie darauf hinweist, dass die Bedeutung eines Gottesdienstes „nicht primär in liturgischen Texten verankert und festgelegt ist, sondern von Menschen und ihren Lebenszusammenhängen in actu (mit-)geschaffen wird“.28 3.2 Die Litanei des Kreuzeskränzchens Litaneien („flehend bitten“) haben eine lange religiöse Tradition. Sie werden im Wechselgesang durch Vorsänger und Anwesende gesungen und oft mit einer Prozession verbunden. Die Westkirche übernahm die Form der Litanei ab dem 5. Jahrhundert von der Ostkirche. Im Laufe der Kirchengeschichte entstanden viele Litaneien, die 1601 durch Papst Clemens VIII. auf die Allerheiligenlitanei und die Lauretanische Litanei in der offiziellen Liturgie reduziert wurden.29 Im Zuge der katholischen Aufklärung kamen derartige Litaneien in Gesang- und Gebetbüchern weniger vor. Doch das Kirchenvolk betete weiterhin diese und noch andere als die offiziell zugelassenen. Oft wurden darin an ihren Gedenktagen die betreffenden Tagesheiligen angerufen. Wie beliebt insbesondere die Lauretanische Litanei war, zeigt die folgende Beschreibung Pauline von Mallinckrodts (1817–1881), der Gründerin der Kongregation der Schwestern der Christlichen Liebe: Jeden Abend nach Tisch halten wir die Maiandacht. Lichter brennen vor dem Bilde der lieben Gottesmutter. Alle Hausbewohner sammeln sich auf dem Kapellchen; wir beten die Lauretanische Litanei und lesen eine Betrachtung aus dem Maimonatsbuche. Ein Marienlied […] endet die Feier.30
In der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag des Jahres 1855 verfassten die Frauen des Kreuzeskränzchens eine Litanei31, die sie anschließend am zweiten Ostertag auf dem nahe bei Bonn gelegenen Kreuzberg, einem alten Wallfahrtsort, beteten. Ein Brief 28
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Vgl. BERGER, „I love Latin Mass“, 278. Dieser Gedanke entspricht dem, was u. a. der niederländische Historiker Willem Frijhoff unter „Aneignung“ versteht. Vgl. FRIJHOFF, „Toeëigening“. Heute kennt die römisch-katholische Kirche vier weitere offizielle Litaneien. Zit. nach Kurt KÜPPERS, Marienfrömmigkeit zwischen Barock und Industriezeitalter: Untersuchungen zur Geschichte und Feier der Maiandacht in Deutschland und dem deutschen Sprachgebiet (St. Ottilien: Eos, 1986), 166–177; 167. Vgl. für eine ausführliche Besprechung der Litanei: BERLIS, Frauen, 453–463. Die Zitate sind dort belegt bzw. alle zu finden bei WENZEL, Freundeskreis, 80–89. Erentrud Kraft, Karlsruhe, unterzog diese Litanei einer umfangreichen Analyse, deren Manuskript sie mir zur Verfügung stellte.
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von zwei Mitgliedern, Agnes Simrock (1835–1904) und ihrer Cousine Odilia Fabricius (1833–1894), gibt Aufschluss über den Entstehungshintergrund. Sie schickten die insgesamt 16 Bögen umfassende, handschriftliche Litanei an den Benediktiner Dom Anselmo Nickes nach Rom, einem alten Mitglied des Bonner Güntherkreises, und fügten zur Erklärung bei: Wir schicken Ihnen (die beste Mittheilung unserer Herzensgedanken) eine Litanei, worin wir in der vorigen Gründonnerstag Nacht all unsere Gebete gesammelt, um sie auf dem Kreuzberg, den zweiten Ostertag, wohin wir in jedem Jahre mit den Jüngern nach Emmaus gehen, zur Freude aller Kränzchenskinder, vorzubeten.32
Die Zitate zeigen: Die Tatsache, dass der Bonner Frauenkreis, der sich erst nach der Entstehung der Litanei „Kreuzeskränzchen“ nannte, eine Litanei betete, war nichts Besonderes. Höchstens belegt sie die Beliebtheit von Litaneien, aber auch, dass deren Beten offensichtlich in allen Strömungen des Katholizismus vorkam, unabhängig davon, ob die Betenden eher der strengkirchlichen wie Mallinckrodt oder der güntherianischen wie die beiden Cousinen Simrock und Fabricius angehörten. Worin liegt nun die Bedeutung der Litanei des Kreuzeskränzchens? Die Litanei aus weitem Herzen33 ist von der Struktur her eine Allerheiligenlitanei, allerdings mit ihren etwa 350 Anrufungen sehr viel umfangreicher; zudem setzt sie andere Akzente als die herkömmlichen. Sie hat drei Teile: Rufe an eine der drei Personen der Trinität, danach an Maria und Heilige und abschließend Bitten für spezifische Anliegen. Die trinitarische Einleitung, die in jeder Allerheiligenlitanei üblich ist, wird in dieser Litanei erheblich ausgeweitet: Sieben Anrufungen richten sich an Gott-Vater, den Schöpfer und Gott der Bundestreue, hundert an den Sohn, zwanzig an den Heiligen Geist. Die Abfolge der Bitten ist heilsgeschichtlich geordnet. Durch das Übergewicht der Rufe an den Sohn wird die Litanei christozentrisch. Es schließen sich im zweiten Teil 36 Anrufungen an Maria an, danach folgen Rufe an die Engel und alle „grossen Gestalten des alten Bundes“, anschließend heilige Männer und Frauen der Bibel, unter ihnen alle „hll. Frauen, die ihr ihm nachgefolgt seid“, und die „uns liebgewordene Lydia, du erste Bekennerin des Christentums in Europa“.34 Lydia – Wegzeichen der Bekehrung zum Christentum (Apg 16,14–22) – wurde von Günther und im Güntherkreis sehr verehrt.35 Auch Maria
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Vgl. Agnes Simrock und Odilia Fabricius an Dom Anselmo Nickes, Weihnachten 1855, Klosterarchiv St. Paul vor den Mauern, Rom (im Folgenden: SPR), Nachlass Dom Anselmo Nickes. Nickes reagierte nicht, was die beiden Schreiberinnen in ihrem nächsten Brief im Dezember 1856 anmahnten. Die Litanei ist abgedruckt bei WENZEL, Freundeskreis, 80–89; allerdings fehlen darin sieben Bitten. Für Korrekturen vgl. BERLIS, Frauen, 454–458. Erentrud Kraft hat vorgeschlagen, sie so zu nennen. Für eine kritische Diskussion der Wahrnehmung Lydias als erste Europäerin aus heutiger Sicht vgl. Luise SCHOTTROFF, Lydias ungeduldige Schwestern: Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums (Gütersloh: Chr. Kaiser, 32001). Zusammen mit Johann Emanuel Veith gab Anton Günther von 1849 bis 1854 Lydia, Philosophisches Jahrbuch in fünf Bänden heraus.
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Magdalena wird erwähnt, „die mit Nardenwohlgeruch die Welt erfüllte“.36 Das Nardenöl findet später in der Litanei erneut Erwähnung, wo es darum geht, dass die Beterinnen durch ihre Nachfolge „ein Wohlgeruch Christi werden“. Zwei weitere Anspielungen auf Maria Magdalena und ihre große Nähe zu Christus finden sich im letzten Teil der Litanei. Die etwa 25 Heiligen, die im zweiten Teil genannt werden, sind altkirchlich, unter ihnen Agnes, Lucia, Cäcilia37, Paula von Rom, Eustochium, Monika bzw. Namenspatroninnen der Mitglieder des Kreuzeskränzchens, wie Hedwig von Schlesien, Elisabeth von Thüringen, Hildegard von Bingen, Teresa von Avila, Katharina von Siena oder Ordensgründer wie Benedikt und Scholastika sowie Karl Borromäus und Vinzenz von Paul, die „Beschützer der barmherzigen Schwestern“. Die Geschichte dieser Heiligen ist Teil der Glaubensgeschichte der Kirche; zugleich wird deutlich, dass die Mitglieder des Kreuzeskränzchens sie als Vorbilder für ihren eigenen Glauben und ihr eigenes Glaubensleben sehen. Im dritten Teil der Litanei werden verschiedene Anliegen formuliert, Lebenswünsche der Betenden, die sich hauptsächlich auf die Christusnachfolge und die „Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser und untereinander“ in der Nachfolge der ersten Christen beziehen.38 Ein paar Wendungen sind typisch für den Bonner Güntherkreis, etwa die Bezeichnung Christi als „Gottesfriedenskind“, ein Hinweis auf den Heliand. Das Ideal der Ursprungszeit, sei es die Zeit der jungen Kirche, sei es die Zeit der Christianisierung Deutschlands im frühen Mittelalter, dient als Orientierung für die jetzt für notwendig erachtete geistliche und geistige Erneuerung Deutschlands, aber auch des eigenen Glaubens. Das missionarische Bewusstsein einer Erneuerung des Christentums kris36
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Die Verfasserinnen sehen Maria von Betanien, die Jesus mit kostbarem Nardenöl die Füsse salbt (Joh 12,1–8), offensichtlich als Maria Magdalena an. Diese in der Westkirche seit Papst Gregor dem Großen üblich gewordene und in der römisch-katholischen Liturgie bis ins 20. Jahrhundert hinein sich findende Deutung ist aus exegetischer Sicht nicht haltbar: Es handelt sich um verschiedene Frauen. Allerdings zeigt sich auch, dass die Verfasserinnen der Litanei die verschiedenen Überlieferungsstränge gut kennen und Maria Magdalena nicht als Sünderin einstufen (die in Lk 7,36–50 genannte Frau, die Jesus mit Öl – nicht mit Nardenöl! – salbt und der er viele Sünden vergibt, wurde seit Gregor dem Großen ebenfalls mit Maria Magdalena identifiziert). Stattdessen qualifizieren sie sie als erste Christusnachfolgende. Maria Magdalena wird in der Litanei bereits in den Anrufungen an den Sohn erwähnt, der ihr als Auferstandener erscheint. Inwieweit die Verfasserinnen auch an die Kopfsalbung Jesu durch eine nicht namentlich genannten Frau (Mt 26,6–13 und Mk 14,3–9) denken, muss offen bleiben. Zur Überlieferungsgeschichte und zur Deutung Maria Magdalenas in verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte vgl. Angela BERLIS, „Het ware verhaal van Maria Magdalena …?: Over de toe-eigening van een bijbels personage“, in Verhaal als identiteits-Code: Opstellen aangeboden aan Gert van Oyen bij zijn afscheid van de Universiteit Utrecht op 1 september 2008 (hg. v. Bob Becking und Annette Merz; Utrechtse Theologische Reeks 60; Utrecht: Universiteit Utrecht, 2008), 60–72. Agnes, Lucia und Cäcilia waren drei der sieben Frauen, die im Canon Romanus mit Namen genannt wurden. Vgl. BERGER, „I love Latin Mass“, 272. Während im ersten Teil die Antwort „erbarme dich unser“ lautet, im zweiten Teil „bitte(t) für uns“ geantwortet wird, ist der Ruf im dritten Teil: „wir bitten dich, erhöre uns“.
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tallisiert sich in der Sehnsucht „nach einem Geistesfrühling für das geliebte Land des Heliands. Die Bezugnahme auf aktuelle Ereignisse fehlt ebenfalls nicht; sie findet sich in den Hinweisen auf den 1855 noch laufenden Prozess gegen Günthers Werke in Rom und auf güntherianische Anliegen etwa in der Bitte, „dass Du die Wissenschaft wieder aufblühen lassen mögest, damit sie jederzeit den Bedürfnissen der Zeit genüge“. Nach dieser kurzen Übersicht über den gesamten Inhalt der Litanei sollen einige Textpassagen in Augenschein genommen werden. Wegen ihrer Länge legt sich eine Auswahl nahe. Im Folgenden wird näher eingegangen auf die Bitten, die sich an Maria richten. Begründet werden kann diese Auswahl damit, dass die insgesamt 36 Bitten, die etwa ein Zehntel der gesamten Litanei ausmachen, eine thematische Einheit bilden. Sie machen sichtbar, wie die Autorinnen Bibel und Tradition rezipieren, und geben Aufschluss darüber, wie sie sich theologisch und frömmigkeitsgeschichtlich zu marianischen Themen stellen, die – wie oben bereits angemerkt – in der Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts innerhalb des Katholizismus allgegenwärtig waren. Die Rufe lauten:39 1. Hl. Maria, bitte für uns, 2. Du zweite Eva, 3. Du Mutter Gottes, 4. Mutter des Geschlechtes, 5. Mutter der Lebendigen, 6. Jungfrau, die der Schlange den Kopf zertreten, 7. Du, auf der das Wohlgefallen Gottes geruht von Ewigkeit, 8. Die Du in den Plan unserer Erlösung aufgenommen, 9. Du Morgenrot des ewigen Tages, 10. Du Vermittlerin unseres Heiles, 11. Du zarteste, heiligste Blüte des Volkes Israel, 12. Die Du alle Verheißungen im Herzen getragen, 13. Derer Sehnsucht den Heiland vom Himmel gezogen, 14. Die Du eingegangen bist in den Ratschluß der Erlösung, 15. Du demüthige Magd des Herrn, 16. Du, deren in der Ewigkeit ruhendes Auge vom Glanz des Engels nicht geblendet wurde, 17. Die Du über die Gebirge Judas zur hl. Elisabeth geeilt bist, 18. Du von Elisabeth selig Gepriesene, 19. Die Du die Hoheit Deiner Auserwählung zum Lobpreis des Herrn gemacht, 20. Du Braut des hl. Joseph, 21. Die Du den Heiland im Stalle geboren, 22. Du Pflegerin des ewigen Wortes, 23. Du Zeugin Seiner tiefsten Erniedrigung, 24. Die Du alle Seine Worte im Herzen getragen, 25. Du Aeolsharfe unter dem Kreuze, 26. Du schmerzensreiche Jungfrau, 27. Du starke, hohe Frau, die unter dem Kreuze gestanden, 39
Nach meiner Transkription. SPR, Nachlass Dom Anselmo Nickes.
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28. Du vom Kreuz herab getröstete Mutter, 29. Du Mutter der Erlösten, 30. Die Du zuerst den Auferstandenen geschaut, 31. Du Trösterin des hl. Johannes, 32. Du, an deren Besonnenheit Skt. Johannes Begeisterung ihr Maß gefunden, 33. Du vom hl. Johannes mit Sohnestreue geliebte Mutter, 34. Du Kleinod der ganzen Kirche, 35. Hl. Jungfrau, deren Leib die Verwesung nicht geschaut, 36. Du Königin aller Heiligen.
In den Anrufungen stehen Marias Rolle bei der Menschwerdung, ihre Zeuginnenschaft unter dem Kreuz (23) sowie ihre exemplarische Bedeutung für die Kirche im Mittelpunkt. Wie wird Maria in der Litanei im Einzelnen beschrieben?40 Die „zweite Eva“ (2) ist bereits bei den Kirchenvätern belegt, die Gen 2,15 typologisch auf Maria und ihren Sohn bezogen haben. Die Bitte „Jungfrau, die der Schlange den Kopf zertreten“ (6) greift diese Bibelstelle ebenfalls auf. „Mutter Gottes“ (3) ist ein Titel, der auf die ökumenischen Konzilien von Ephesus (431) und Chalcedon (451) zurückgeht. Die ersten Rufe in der Litanei bezeichnen die Rolle Marias im Heilsgeschehen und ihre kreatürliche Mitwirkung. Das „Wohlgefallen Gottes“ hat auf ihr „geruht von Ewigkeit“ (7) und sie ist „in den Plan unserer Erlösung aufgenommen“ (8). Dreimal (von insgesamt sechsmal) wird Maria am Anfang der Litanei „Mutter“ genannt: sie ist „Mutter Gottes“ (3), Mutter des gesamten Menschengeschlechts (4) und – in der Nachfolge der Eva – „Mutter der Lebendigen“ (5). Die Bezeichnung „Mutter des Geschlechts“ (4) findet sich in anderen Litaneien nicht.41 Anders als etwa in der Lauretanischen Litanei, wo das Jungfrausein Marias siebenmal genannt und dabei mit Eigenschaftsworten wie „rein“, „keusch“, „ungeschwächt“, „unbefleckt“, „liebenswürdig“ verbunden wird, wird in dieser Litanei Maria nur dreimal Jungfrau genannt (6, 26 und 35): Die Jungfrau zertritt den Kopf der Schlange, sie sieht ihren Sohn sterben, ihr Leib verwest – zeichenhaft für ihre Heiligkeit und Besonderheit – nach ihrem Tod nicht. Die jungfräuliche Empfängnis als solche wird in dieser Litanei nicht genannt.42 In den Rufen tritt uns eine aktive Maria entgegen: Sie, 40
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Für das Folgende mache ich dankbar Gebrauch von Erentrud Krafts genauer Analyse der Rufe an Maria. Die Vergleiche mit der Lauretanischen Litanei habe ich von ihr übernommen. – Die Nummern in Klammern beziehen sich auf die Bitten der Litanei. Der Gedanke der Stellvertretung Marias für die gesamte Menschheit durchzieht Scholastik und Mystik. Gössmann zählt diesen Gedanken zu den positiven Traditionselementen in der Lehre über Maria; er impliziert, dass auch Männer durch eine Frau vertreten werden können. Vgl. Elisabeth GÖSSMANN, „Mariologische Entwicklungen im Mittelalter: Frauenfreundliche und frauenfeindliche Aspekte“, in Maria für alle Frauen oder über allen Frauen? (hg. v. Elisabeth Gössmann und Dieter R. Bauer; Freiburg: Herder, 1989), 63–85; 69. Die Formulierung in Nr. 5 der Litanei sollte in Beziehung gesehen werden zu Nr. 29. Möglicherweise kann dies als Hinweis auf eine zur Prüderie neigende Zurückhaltung gegenüber physiologischen Prozessen aufgefasst werden. Im Gegensatz zu den Hymnen einer Hildegard von Bingen oder einer Mechthild von Magdeburg beschreibt die Litanei des Kreuzeskränzchens Empfängnis, Geburt und Erziehung ja nicht gerade eingehend (vgl. Nr. 21
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die zarteste, heiligste Blüte des Volkes Israel“ (11), die „alle Verheißungen im Herzen getragen“ (12), hat mit ihrer „Sehnsucht den Heiland vom Himmel gezogen“ (13), sie ist „eingegangen“ auf „den Ratschluss der Erlösung“ (14). „Demüthige Magd des Herrn“ (15; vgl. Lk 1,48) ist in diesem Zusammenhang der Darstellung Marias als selbstbewusste Frau zu deuten. Die weiteren Rufe beschreiben das in der Bibel Erzählte und stützen sich dabei vornehmlich auf das Evangelium von Lukas: die Verkündigung durch den Engel, durch dessen Glanz Maria nicht geblendet wurde – im Gegensatz zu Zacharias, der vor dem Engel sprachlos wird (Lk 1,20); der Besuch bei Elisabeth, das Magnificat, ihre Verlobung mit Joseph, die Geburt im Stall. Das Interesse der Beterinnen richtet sich in der gesamten Litanei nicht auf die Kindheitsgeschichte Jesu. Marias Rolle wird prägnant umschrieben als „Pflegerin des ewigen Wortes“ (22), eine Anspielung auf die zeitgenössische Frauenrolle als Pflegerin und Erzieherin, die in der Litanei allerdings durch den Hinweis auf den ewigen Logos in einen ganz anderen Rahmen gestellt wird.43 Es folgt die in mehreren Rufen entfaltete Erinnerung an Maria unter dem Kreuz (nach dem Johannesevangelium), die das verkündigte Wort im Herzen getragen und befolgt hat (Joh 19,25–27).44 Maria ist die „Äolsharfe unter dem Kreuze“ (25) – ein ungewöhnliches, nicht leicht zu deutendes Bild. Die Äolsharfe, auch Wind- oder Wetterharfe genannt, ist ein Instrument, dem auf gleichgestimmten Saiten eine Luftbewegung unterschiedliche Töne entlockt.45 In der romantischen Dichtung (Mörike, aber auch Goethe) kommt sie mehrfach vor. Maria, die Äolsharfe unter dem Kreuz, schwingt in leisen Tönen mit dem Leiden ihres Kindes mit. Sie ist zugleich „schmerzensreiche Jungfrau“ (26), „starke, hohe Frau“ (27) und Mutter, die vom Kreuz herab getröstet (28) und ihrem Adoptivkind Johannes zur Trösterin wird (31, 32 und 33). Sie ist nun die Mutter des Johannes, eines der Donnersöhne (Mk 3,17), und zugleich Mutter all derer, die am Erlösungswerk des Sohnes Anteil haben (29). Alte Traditionen berichten,
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und 22 in der Litanei). Vgl. hingegen die kleine Auswahl an Marienanrufungen Hildegards: „Calor solis in te sudavit, Verbo Dei infusa, Dei Genitrix, Mater integra ...“ (Du, in der die Glut der Sonne schwitzte; Du eingegossen mit dem göttlichen Worte; Du Gottesgebärerin; Du unversehrte Mutter ...). Zitiert nach Margot SCHMIDT, „‚Maria, Spiegel der Schönheit‘: Zum Marienbild bei Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg“, in Maria für alle Frauen oder über allen Frauen?, 86–115. Zu den Marienanrufungen Hildegards siehe: 112–114; 114. Die Mystikerin Mechthild von Magdeburg greift die Vorstellung von der „Maria lactans“ auf und kennt Maria als „Spenderin des göttlichen Wortes“. Vgl. SCHMIDT, „Maria“, 105. Hinzuweisen ist auf die Verbindung zwischen Nr. 12 und Nr. 24 der Litanei: Maria ist die Frau, die die Verheißungen an Israel und die Worte ihres Sohnes „im Herzen getragen“ und bewahrt hat. Hildegard von Bingen versinnbildlicht die gottmenschliche Vereinigung von Gott und Mensch mit Hilfe der Musik: „Der Hl. Geist musiziert im Tabernakel der Jungfräulichkeit“. Zitiert nach SCHMIDT, „Maria“, 98. In der Litanei wird Maria selbst als Musikinstrument gesehen, die vom Geistwind zum Klingen gebracht wird. Interessant ist, dass dies in der Litanei unter dem Kreuz geschieht.
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dass Maria ihren auferstandenen Sohn zuerst gesehen habe46 – dem schließen sich die Beterinnen an (30). In den letzten Bitten kommt die Wertschätzung und Bedeutung Marias bereits in der frühen Kirche zum Ausdruck. Sie ist das „Kleinod der jungen Kirche“. Die vorletzte Bitte greift Überlegungen auf, die von der unversehrten Erhaltung des toten Körpers Marias ausgingen – auch dies ist ein Gedanke, der bereits früh in der Tradition aufkommt. Am Schluss dieses Abschnittes und als Überleitung zum Folgenden steht die Bezeichnung „Königin aller Heiligen“, also Anführerin und Erste unter den Heiligen. Auch hier ist ein Unterschied zur Lauretanischen Litanei erkennbar, wo Maria mehrfach als Königin angerufen wird. Insgesamt fallen die vielen biblischen Bezüge der Rufe auf sowie die Kenntnis der altkirchlichen Überlieferung und der mittelalterlichen Marienfrömmigkeit. Der Abschnitt ist heilsgeschichtlich aufgebaut; er beginnt bei der in die größere Vergangenheit reichenden Geschichte der jüdischen Frau Maria, führt über ihre Annahme der Verheißungen und die wichtigsten lebensgeschichtlichen Stationen ihres Sohnes (Menschwerdung, Kreuz, Auferstehung) und endet mit ihrer Bedeutung für die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen. Hinweise auf das Wirken Jesu und die unterstützende und fragende Rolle seiner Mutter (etwa bei der Hochzeit zu Kana, Joh 2,1–12) fehlen. Auffällig ist, dass das ein halbes Jahr vor der Entstehung der Litanei durch Papst Pius IX. am 8. Dezember 1854 verkündete Dogma der „Unbefleckten Empfängnis“ in dieser Litanei keinen Widerhall findet.47 Festhaltend an der althergebrachten Tradition der 46
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So befindet sich in der Jerusalemer Heilig-Grab-Kirche neben dem Magdalenenaltar und der Engelkrypta eine Maria geweihte Erscheinungskapelle. Mit Dank an Erentrud Kraft für den Hinweis. Manche Vorstellungen, die in der Litanei vorkommen, mögen heutige Lesende an die Rhetorik der Bulle Ineffabilis Deus vom 8. Dezember 1854 erinnern, mit der Papst Pius IX. die Unbefleckte Empfängnis Marias zum Dogma erhob: So ähnelt etwa die Vorstellung, dass Gottes Wohlgefallen von Ewigkeit an auf Maria geruht habe (Litanei, Nr. 7), der Aussage in der Bulle, dass Gott Maria „von Anfang an und vor den Zeiten“ erwählt habe. Vgl. Heinrich DENZINGER, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen, unter Mitarbeit von Helmut Hoping (hg. von Peter Hünermann [= DH]; Freiburg: Herder, 371991, Nr. 2800–2804). Hierauf ist zweierlei zu sagen: 1. Ähnliche Vorstellungen finden sich nicht erst in der Bulle von 1854, sondern bereits viel früher (v. a. in der mittelalterlichen Tradition). Sie sind Ausdruck frommer Spekulation über die Bedeutung Marias. 2. In der Rhetorik der Bulle Ineffabilis Deus dienen solche Aussagen (u. a. auch der Hinweis auf Maria, die den Kopf der Schlange zertreten habe, vgl. Litanei Nr. 6) dem Nachweis, dass Maria „vom Makel der Urschuld“ völlig frei und von ihren Eltern unbefleckt empfangen worden sei und eine „Fülle an Unschuld und Heiligkeit zu erkennen gab“ (DH, Nr. 2800). Eine solche Aussageabsicht findet sich in der Litanei überhaupt nicht. Ähnliches gilt auch für den Begriff „Vermittlerin unseres Heiles“ (Litanei Nr. 10), das nicht einfach im Sinne einer „Corredemptrix“ verstanden werden darf. Eher ist es ein Hinweis auf Marias Fiat und Mitwirken im göttlichen Heilsplan, indem sie Trägerin der Verheißung und des Wortes wird. Wie Schmidt zeigt, kannte gerade das Mittelalter – nicht zuletzt durch Anregung des ursprünglich ostkirchlichen Hymnus Akathistos, der um 800 ins Lateinische übersetzt wurde – sehr viele kreative, bildergesättigte Anrufungen Marias. Vgl. etwa SCHMIDT, „Maria“, 95. Diese sind jedoch nicht dogmatische
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Kirche beschränkt diese sich auf eine Maria, die nicht ohne ihren Sohn verehrt werden kann.48 Insofern unterscheidet sie sich von der ultramontanen Frömmigkeit im 19. Jahrhundert49, in der Maria mehr und mehr allein, ohne ihren Sohn, erscheint – nicht nur in Lourdes oder in Marpingen. So berichtet etwa die in Bonn lebende Oberin des St. Johannishospitals, Sr. Augustine (Amalie von Lasaulx) davon, wie die französische Generaloberin der Barmherzigen Schwestern ganz begeistert sei von einer Marienstatue ohne Kind.50 3.3 Maria in den Briefen von Mitgliedern des Kreuzeskränzchens In welcher Weise wird Maria zum Thema in Briefen des Kreuzeskränzchens? In den Briefen Wilhelmine Ritters an Wilhelm Reinkens spielt Maria keine prominente Rolle.51 Ritter verfasst ihre Briefe an ihn oft am Vorabend von Sonn- oder Festtagen;52 diese reflektieren die geprägten Zeiten des Kirchenjahres und greifen oft Bibeltexte auf. In ihrem Brief vom 14. Januar 1854 fasst sie die Predigt von Bernhard Joseph Hilgers über die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–12) zusammen. Der Prediger, und sie mit ihm, wertet Marias Verhalten positiv. Dass Maria sich an Jesus „in einer geringfügigen Noth“ wende, solle uns lehren, uns nicht zu schämen, uns auch in kleinen Alltagssorgen an unsern Erlöser zu wenden.53
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Aussagen, sondern Ausdruck einer – bisweilen überbordenden – Marienfrömmigkeit. Die Litanei ist im Vergleich dazu zurückhaltend und stützt sich stark auf biblische Aussagen. Marias Muttersein, das in der Litanei zwar vorrangig ihrem Sohn, aber in übertragener Form auch dem Johannes gilt und danach auf das ganze Menschengeschlecht bezogen wird, spielt in den Bitten eine große Rolle (sechs Nennungen, im Vergleich zu drei Nennungen Marias als Jungfrau). Vgl. für eine Skizzierung der ultramontanen Marienfrömmigkeit: Michael PAMMER, Hg., Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum 5: 1750–1900 (Paderborn: Schöningh, 2007), 271–275. 546. Vgl. zur nicht ultramontanen Marienfrömmigkeit: Angela BERLIS, „Maria in altkatholischer Sicht“, Internationale Kirchliche Zeitschrift 99 (2009): 33–66. Die Generaloberin war folgender Meinung: „das Kind auf den Armen ist so sinnlich!“; zit. nach Joseph Hubert REINKENS, Amalie von Lasaulx: Eine Bekennerin (Bonn: P. Neusser, 1878), 107. Für Schwester Augustine war diese Sicht nicht nur eine Verkürzung des althergebrachten Glaubens, sondern sie tat auch der Orientierung auf Jesus Christus Abbruch, die für ihre eigene Spiritualität so kennzeichnend war. Zum Verhältnis zwischen den beiden vgl. Angela BERLIS, „Gotteskindschaft im 19. Jahrhundert: Geistliche Zwiegespräche zwischen Wilhelmine Ritter und Wilhelm Reinkens“, in Kinder haben – Kind sein – Geboren werden: Philosophische und theologische Beiträge zu Kindheit und Geburt (hg. v. Annette Esser et al.; Königstein: Helmer, 2008), 87–105. Vgl. DPJA, Wilhelmine Ritter an Wilhelm Reinkens, 10.06.1865. DPJA, Wilhelmine Ritter an Wilhelm Reinkens, 14.01.1854.
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Am 22. August 1855 geht Ritter ein auf das Magnificat und auf das Pfingstlied, das während des Firmgottesdienstes gesungen worden war. Einige der darin angesprochenen Motive erinnern an die Aussagen in der Litanei: Und das Magnificat war ganz unaussprechlich schön, das war wirklich ein würdiges Lob unserer hohen Frau und Schirmherrin, das an ihr vorüber, zu ihrem göttlichen Sohne eile, zu Ihm, dessen Barmherzigkeit von Geschlecht zu Geschlecht geht; man meinte, man hörte sie selber es singen, die hohe Himmelskaiserin in den Himmeln mit dem ganzen Jubel ihres so hoch begnadigten, erhabenen Herzens und doch immer noch als die demüthige Magd des Herrn, an der es mehr, wie an allen Heiligen, wahr geworden ist, daß „Gott dienen herrschen sei“.54 Es ist wirklich ganz einzig und wunderbar in diesen alten, heiligen Gesängen: diese Erhabenheit und Gewalt mit dieser Kindlichkeit und Demut gepaart; sie geben einem wirklich eine Ahnung von dem neuen Liede in dem ewigen Jerusalem.55
In Ritters Spiritualität nimmt Maria zwar einen festen Platz ein, aber zugleich auch einen christologisch begrenzten.56 Ritter sieht das Magnificat weniger als Lied Marias denn als liturgisches Lob derer, die Gottesdienst feiern, das aber letztlich „an ihr vorüber, zu ihrem göttlichen Sohne“ eilt.57 So formuliert sie etwa am 15. August 1867 – dem Hochfest Mariä Entschlafen – aus St. Valéry in Frankreich, wo sie sich zur Kur aufhält: Sie müsse Reinkens heute „der Composition wegen“ schreiben. Ihre Ausführungen über die Schönheit Marias bleiben jedoch sehr allgemein.58 Ein paar Jahre zuvor, am 25. März 1863, hatte Ritter auf Reinkens’ Predigt anlässlich des Festes Mariä Verkündigung mit der Bemerkung reagiert: „Wir vermissen in unserem Kreis die ordnende Hand einer Mutter.“59 Am 19. März 1866, dem Fest des hl. Joseph, erwähnt sie, Christus habe von Josef und Maria Dienste angenommen.60 Als Fazit dieser kurzen Untersuchung kann festgestellt werden, dass die Marienfrömmigkeit im Kreuzeskränzchen sich vor allem an der biblischen Maria orientiert,
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Es handelt sich hier um ein Zitat aus einem Kollektengebet: „cui servire regnare est“; mit Dank an Teresa Berger, Yale, für den Hinweis. DPJA, Wilhelmine Ritter an Wilhelm Reinkens, 22.08.1855. Ganz anders dagegen etwa bei der Konvertitin Luise Hensel, die das Kreuzeskränzchen einmal in Bonn besucht hatte. In Hensels Frömmigkeit spielte Maria eine zentrale Rolle. Vgl. Barbara STAMBOLIS, Luise Hensel (1798–1876): Frauenleben in historischen Umbruchszeiten (Paderborner Beiträge zur Geschichte; Köln: SH-Verlag, 1999), 84f. DPJA, Wilhelmine Ritter an Wilhelm Reinkens, 22.08.1855. DPJA, Wilhelmine Ritter an Wilhelm Reinkens, 15.08.1867, aus St. Valéry. DPJA, Wilhelmine Ritter an Wilhelm Reinkens, 25.03.1863. Ein weiteres Mal schreibt sie am 27.12.1861 über Johannes und Maria. DPJA, Wilhelmine Ritter an Wilhelm Reinkens, 19.03.1863. – Das Josefsfest setzte sich erst in der Neuzeit als eigenständiges Fest durch, Papst Pius IX. ernannte Josef 1870 zum Patron der römisch-katholischen Kirche. Ritter erwähnt Josef an seinem Festtag zusammen mit Maria. Nicht zu vergessen ist, dass Josef der Namenspatron von Wilhelm Reinkens’ jüngerem Bruder Joseph Hubert war.
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wie sie im Laufe des Kirchenjahres erinnert wird.61 Deutungen Marias durch die Kirchenväter werden dabei als Auslegung der biblischen Botschaft angesehen. Interessant ist zudem, welche Bedeutung dem Heliand-Epos zukommt. Eine überbordende Marienfrömmigkeit ist dem Kreis fremd. So dürfte auch die folgende Notiz von Wilhelm Reinkens, die er in einem mit „Oktavtag Unbefleckte Empfängnis 1856“ (8. Dezember) datierten Brief an seinen Cousin Nickes in Rom schickt, als kritische Bemerkung zu verstehen sein. Offensichtlich war in Rom ein Standbild „zu Ehren der Himmelskaiserin“ enthüllt worden. Reinkens’ Replik: „[...] und ich gedenke des weihnachtlich nahen Gottesfriedekindes, das die reine ‚muoter unde maget‘ der Welt gegeben hat.“62 Maria war nicht Wilhelmine Ritters bevorzugte biblische Bezugsperson: Paulus war es, der Weltapostel. Am 7. Juni 1855 schreibt sie an Anselmo Nickes in Rom: „Wie muss Ihnen das Herz weit werden an dem Grabe des Weltapostels, der in seinem großen Herzen die ganze Welt trug.“ Später heißt es in diesem Brief: „Paulus ist ja auch unser Lieblingsapostel wegen seines weiten Herzens.“63 Während das „weite Herz“ ein Hinweis auf die Bedeutung des „Weitseins“ im Reinkenskreis ist64, fällt an dieser Aussage auf, dass lediglich Paulus genannt wird, Petrus aber fehlt. In vielen Schriften und Reiseberichten römisch-katholischer ChristInnen des 19. Jahrhunderts wird Rom mehr und mehr zum Ort des Petrus und seines „Nachfolgers“.65 61
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Diese Prägung durch das Kirchenjahr findet sich auch in einem anderen Brief aus dem Kreuzeskränzchen. Am Ende gedenkt die Briefschreiberin (Odilia Fabricius) der kürzlich gefeierten „herrlichen Mutter Gottes Andacht“. SPR, Odilia Fabricius und Agnes Simrock an Anselmo Nickes, 21.08.1857. Einem anderen Brief der beiden Frauen ist ein Gedicht über Maria beigelegt, das von der verstorbenen Katharina Reinkens (gest. 1846) oder Frau Schütter verfasst wurde. Der Titel des Gedichts lautet Maria ist mein Trost alleine. SPR, Odilia Fabricius und Agnes Simrock an Nickes, 09.04.1859. SPR, Wilhelm Reinkens an Anselmo Nickes, Oktavtag Unbefleckte Empfängnis 1856. Eine ähnliche Auffassung über Maria findet sich auch bei späteren AltkatholikInnen, z. B. bei der Schriftstellerin Antoinetta Schweling, die teilweise im Kloster erzogen wurde (32). Für sie ist Maria eine „heilige Prophetin“ (33). In ihrer Schrift warnt sie vor Übertreibung des „an und für sich so liebliche[n] Marienkultus“ (33). Die Art der zeitgenössischen Verehrung Marias (Lourdes, Marpingen) und die damit einhergehende „Wundersucht“ (34) missfallen ihr. [Antoinetta] SCHWELING, Rechte und Pflichten der Frauen und Jungfrauen in der Gegenwart (Heidelberg: Georg Mohr, 1883). Die Zahlen in Klammern bezeichnen die Seiten in dieser Schrift. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 07.06.1855. Dieser Bezug zu Paulus kommt öfter vor im Briefwechsel, vgl. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 08.02.1862 und 18.01.1864. Am 08.02.1862 schreibt sie, Johannes sei ihr „zu hehr und heilig“. Die Weite des Herzens findet sich bei Paulus in 2 Kor 6,11 und ist auch bei den Kirchenvätern belegt, etwa bei Cyprian als „pectus capax“. Im Reinkenskreis war sie Gruß („Marhaba“ – Weite) und Imperativ zugleich: Seid weit! Mit dieser Weite „sollte alle geistige und wissenschaftliche Enge überwunden“ werden. WENZEL, Freundeskreis, 11–13; 11. Natürlich besteht durch die Verbindung des Reinkenskreises zu den Benediktinern in Rom, deren Kloster sich beim Grab des Paulus befindet, ein besonderer Bezug zu ihm. Doch ist auffällig, dass da, wo Petrus in den Briefen vorkommt, er eben zusammen mit Paulus und
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Wilhelmine Ritters besonderes Interesse galt den Zeitgenossen Jesu und den heiligen Frauen und Männern der ersten Jahrhunderte. In ihnen sah sie Vorbilder für ihr eigenes Leben, das sie zuerst als Ordensfrau verwirklichen wollte: […] immer brennender wird das Verlangen in mir, das Lob des Herrn, das er mir in seiner großen Barmherzigkeit so früh ins Herz gelegt hat, auch Vielen zu verkündigen, um sie mithereinzuziehen in das Lob unseres Einzigen Herrn.66
Aus Gesundheitsgründen musste Wilhelmine Ritter sich von ihrem ursprünglichen Plan eines Klostereintritts verabschieden. Sie schlug einen anderen Weg ein und begründete gemeinsam mit drei Freundinnen aus dem Kreuzeskränzchen eine private Mädchenschule in Bonn. Obwohl Ritter und Reinkens nur einige hundert Meter voneinander entfernt wohnten, pflegten sie einen brieflichen Austausch miteinander. Nur Ritters Briefe sind erhalten. Sie sind sehr aufschlussreich im Hinblick auf ihre Sicht der Bibel. Die „Sehnsucht nach der Speise des tieferen Gotteswortes“ sei der Grund ihrer Gemeinschaft, die sich um Wilhelm Reinkens gesammelt habe: […] u. gerade die h. Paula und Eustochium, besonders in ihrem Verhältniß zum h. Hieronymus, sind unsere liebsten Vorbilder geworden. Die h. Schrift, ja, sie ist auch uns der kostbarste Schatz unserer Herzen geworden, seitdem sie uns, durch die tiefen, einzig schönen u. sinnlichen Erklärungen u. Auslegungen unseres Hr. Pastors, kein versiegeltes Buch mehr ist, sondern ein tiefblauer Himmel, an dem unzählige glänzende Sterne in unsern seligen Augen strahlen, an dem, je länger u. tiefer wir hinein blicken, stets neue Sterne sich uns aufthun, da wir hinter den letzten, hintersten noch stets neue u. schönere ahnen.67
Die Bezugnahme auf Paula, Eustochium und Hieronymus, den Übersetzer der Bibel, führen ein in das Thema, das Wilhelmine Ritter beschäftigt. Sie möchte die Bibel lesen, so dass sie kein versiegeltes Buch mehr ist, sondern ihre Schätze preisgibt. In ihrem Brief berichtet sie, dass Wilhelm Reinkens seit Winter 1856 Vorträge über das Alte Testament halte. Wilhelmine Ritter beginnt Latein zu lernen, um „die unvergleichlich schönen Kirchengebete u. Hymnen in der Ursprache verstehen u. besser würdigen zu können“.68 Den Alttestamentler Anselmo Nickes bittet sie, über die Ergebnisse seiner Schriftstudien zu berichten: „Am liebsten möchte ich von Ihnen aus den Psalmen, die meine liebsten Gebete geworden sind, etwas erklärt haben, oder aus den Propheten, besonders aus Isaias.“69 Doch Wilhelmine Ritter ist keine Hörerin, die von ihrem Gegenüber einfach alles annimmt. Zwei Jahre später diskutiert sie mit Nickes über ihre unterschiedliche Auslegung von Ps 133,2, der bei der Firmung gebetet wird, „unser Lieblingspsalm“70. Nickes’ Auslegung findet sie interessant, „aber als die
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nicht allein genannt wird, während sich in eher ultramontanen Schriften Petrus mehr und mehr verselbstständigt. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 21.10.1855. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 29.10.1856. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 29.10.1856. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 29.10.1856. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 30.12.1858.
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einzig mögliche u. richtige Erklärung möchte ich sie nicht gelten lassen“.71 Denn seine Exegese „erhebt mich nicht, belehrt u. rührt mich nicht an“.72 Auch in anderen Briefen diskutiert die biblisch gut fundierte Ritter mit dem Bibelgelehrten; dieser hatte sich offenbar nach dem Tod eines Mitbruders ziemlich depressiv geäußert und ein „düster[es] Gemälde“ vor ihr aufgerollt. Es sind schon schrecklich düstere Zeiten dagewesen (in der Völkerwanderung, im 11. Jahrh. etc) aber noch immer haben sich die Befürchtungen der damaligen Christen, als ob das Ende da sei, als unreife, nicht auf tiefe Schriftforschung ruhende Ansichten erwiesen.73
Ritter zitiert Apg 1,7; Röm 11,15 und Röm 11,25f. und kommt zu dem Schluss: Nein, das Christenthum hat noch nicht Alle Herrlichkeit entfaltet, u. die segensreichen Folgen der Erlösung müssen noch anders im Geschlechte ausgewirkt werden, ehe das Ende kommt.74
Die angeführten Zitate erweisen Wilhelmine Ritter als engagierte Bibelleserin, -hörerin und -interpretin. Für sie sind der Gottesdienst, insbesondere wegen der Predigt, aber auch durch die Psalmen ein wichtiger Ort der Begegnung mit der und des Lernens über die Bibel. Ergänzt wird dies durch Gespräche mit Wilhelm Reinkens und durch Vorträge, die er in der Mädchenschule hielt.75 Die von Wilhelmine Ritter und ihren drei Freundinnen begründete Mädchenschule wird so zu einem gemeinschaftlichen Ort des Lernens. Diese wurde nach dem Tod Ritters im Oktober 1870 von zwei der bisherigen Leiterinnen, Marie Simrock (1831–1924) und Wilhelmina Dietzer (1835– 1914), fortgeführt. Beide Frauen trugen sich 1873 in die Liste der altkatholischen Gemeinde in Bonn ein. Der Bonner Güntherkreis, näherhin das Kreuzeskränzchen und die private Mädchenschule, stellen damit wichtige Verbindungsglieder zum Altkatholizismus dar und zur Rolle, die der Bibel dort zuerkannt wurde. Was für Wilhelm Reinkens galt, wurde auch im Hinblick auf altkatholische Priester vertreten: Der Priester solle „ein bibelfester Mann“ sein.76
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SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 30.12.1858. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 30.12.1858. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 23.08.1859. SPR, Wilhelmine Ritter an Dom Anselmo Nickes, 23.08.1859. SPR, Wilhelm Reinkens an Dom Anselmo Nickes, 16.12.1862. In diesem Brief beschreibt Reinkens, wie er in der letzten Zeit (unter Zuhilfenahme des hebräischen Textes) die Psalmen gründlich studiert und etwa ein Drittel nach und nach in der Mädchenschule und in der Christenlehre erklärt hat. Sein Fazit: „Sie sind alle entzückt davon. Wie anders?“ Vgl. Echter Priesterberuf: Gedicht von Robert Waldmüller, abgedruckt im Altkatholischen Frauenblatt 15 (1888): 108.
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4. Ausblick: Die Bibel und die altkatholischen Frauen Beim dritten Altkatholiken-Kongress in Konstanz im Jahr 1873, der im Konzilssaal tagte, ging Joseph Hubert Reinkens (1821–1896), der jüngere Bruder von Wilhelm Reinkens, damals gerade frisch geweihter Bischof der deutschen AltkatholikInnen, in einer Rede auf das Bibellesen ein.77 Dabei wies er darauf hin: [In] der ersten Blüthezeit des ersten Christenthums, während der ganzen Periode, die wir die der „Väter“ nennen, waren die Theologen sämmtlich Bibeltheologen. Es gab keine andere Theologie in den ersten sechs Jahrhunderten der Kirche und noch länger als Bibeltheologie.78
Im Mittelalter sei das Bibelstudium verfallen. Reinkens knüpfte beim Konzil von Konstanz (1414–1418) an, das mit einer Niederlage geendet habe. Denn Männer wie Johannes Charlier Gerson (1363–1429) und andere mit ihm unterlagen, weil sie den Fälschungen und Erdichtungen glaubten: „[…] es unterlagen jene Männer, die in diesem Saale tagten, weil sie nicht erfüllt waren von dem Geiste der heiligen Schrift.“79 Es ist klar: Für Reinkens ist das Lesen und Verstehen der Bibel eine Angelegenheit von höchster kirchenpolitischer Brisanz, die vor Fehlentscheidungen bewahrt. Da verwundert es nicht, wenn Reinkens feststellt, dass Papst Pius IX. kein Griechisch und Hebräisch verstehe.80 Es geht hier nicht um einen Hinweis auf eine harmlose Bildungslücke oder auf die Ausbildung von Theologen in Italien, sondern um eine grundlegende Bewertung dieses Papstes und der von ihm gefällten dogmatischen (Fehl-)Entscheidungen. Für die AltkatholikInnen, so Bischof Reinkens, „welche meiner bischöflichen Leitung sich anvertrauen, existirt kein Verbot des Bibellesens“.81 In Anspielung auf Maria von Bethanien ermuntert er die Gläubigen: „[…] lesen Sie immer wieder in dem heiligen Buche, in Demuth und Freude sich zu den Füßen des Herrn setzend; denn ‚Er allein hat Worte des ewigen Lebens‘.“82 Das Altkatholische Frauenblatt sollte sich elf Jahre später auf Reinkens’ Aufforderung berufen, um für die Einführung einer altkatholischen Familienbibel zu plädieren. Vorangegangen war die Feststellung, dass Bibelübersetzungen seit 1870 in umgearbeiteter Form erschienen. Im Altkatholischen Frauenblatt wurde berichtet, […] daß damit zu deutlich der Zweck verfolgt wird, die Umgestaltung der Kirchenverfassung, die neuen Dogmen und Andachten dogmatisch zu stützen. In Form von Fragen, Einschaltungen, Anmerkungen wird das Papstthum, der über alle Menschen, selbst die Engel erhabene Priesterstand, die ausschweifende Marienverehrung, die Werkheilig77 78 79 80 81 82
Einige Monate zuvor, im Februar 1873, war bereits ein nicht namentlich gekennzeichneter Beitrag erschienen: „Ueber Bibellesen“, Deutscher Merkur 4 (1873): 59f. Deutscher Merkur 4 (1873): 297–299; 297. Deutscher Merkur 4 (1873): 297. Deutscher Merkur 4 (1873): 298. Deutscher Merkur 4 (1873): 298. Deutscher Merkur 4 (1873): 298.
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Angela Berlis keit u.s.w. derart in den Vordergrund gerückt, daß man von den erbaulichen Grundgedanken des Stückes gänzlich abgeleitet wird.83
In den nächsten beiden Ausgaben des Altkatholischen Frauenblattes wurden ein Immediatgesuch altkatholischer Frauen an eine hohe Synodal-Repräsentanz um Herstellung einer altkatholischen Familienbibel und die Unterschriften altkatholischer Frauen veröffentlicht.84 In ihrem Aufruf erinnerten die Frauen daran, dass es eine heilige Pflicht ist, durch Lesung der heiligen Schriften an die Quelle der Offenbarung selbst heranzutreten und dadurch unseren christlichen und altkatholischen Standpunkt mehr und mehr zu vertiefen und gegen römische Angriffe zu sichern. Daß dieses lange verkümmerte Recht uns voll und ganz zugesprochen wird, erfüllt uns mit Dank und Freude.85
Als Fazit dieses kurzen Ausblicks kann festgestellt werden: Das Anliegen der biblischen Begründung zeitgenössischer religiöser Praxis ist ein erkennbares Desiderat des Altkatholischen Frauenblattes.86 Die Kampagne altkatholischer Frauen für die Einführung einer Familienbibel zeigt aber auch, wie die Bibel in die Auseinandersetzung zwischen den Lagern geraten war. Außerdem: Wenn Frauen die Bibellektüre als genuines Recht einforderten, bedeutete dies noch nicht, dass alle AltkatholikInnen damit über die Stellung von Frauen einheitliche Ideen hatten. So wurden im Altkatholischen Frauenblatt, gestützt auf die Bibel, sowohl emanzipatorische wie auch die herkömmliche Frauenrolle betonende Meinungen vertreten.87 Es sollte bis ins 20. Jahrhundert dauern, bis Frauen die aktive Teilnahme in der Liturgie auch in Form liturgischer (Mit-) Gestaltung als kirchlich dazu beauftrage Lektorinnen, Leiterinnen von Wortgottesdiensten oder ab den 1980er und 1990er Jahren als Diakoninnen und als Priesterinnen oder ab den 1960er Jahren in Frauenliturgien in die Tat umsetzen konnten.88 83
84
85 86
87
88
Sarah, „Eine altkatholische Familienbibel“, Altkatholisches Frauenblatt 17 (1889): 118– 120; 119. Die Beiträge der Autorinnen im Altkatholischen Frauenblatt sind in der Regel mit einem biblischen Pseudonym unterzeichnet. Altkatholisches Frauenblatt 18 (1889): 126f.; 19 (1889): 134f. Zu den Unterzeichnerinnen gehörte u. a. Therese von Miltitz, Herausgeberin des Frauenblatts, und Clara Stens, Oberin der Altkatholischen Schwesternschaft, Essen. Altkatholisches Frauenblatt 18 (1889): 126. Vgl. etwa Altkatholisches Frauenblatt 15 (1888), 107f. Der Artikel über die Krankensalbung beginnt mit einem Zitat aus Jak 5,14f. Unter Hinweis auf die Bonner Unionskonferenz des Jahres 1874 wird hervorgehoben, dass die Zahl der Sakramente seit dem 12. Jahrhundert als Ergebnis theologischer Spekulation auf sieben festgesetzt worden sei. Vgl. etwa die Aussage von Pfarrer Franz Bergmann, nach der Bibel bestehe der Beruf der Frau „in demüthig hingebender Liebe gegen den Mann“. Altkatholisches Frauenblatt 16 (1888): 110. Es geht hierbei um nicht ordinierte Frauen. Vgl. dazu: Angela BERLIS, „Laienfrauen und Liturgie: Acht Jahrzehnte ‚Frauensonntag‘ in der altkatholischen Kirche in Deutschland“, in Women, Ritual and Liturgy – Ritual und Liturgie von Frauen – Femmes, la liturgie et le rituel (hg. v. Susan K. Roll et al.; Jahrbuch der Europäischen Gesellschaft für Theologische Forschung von Frauen 9; Leuven: Peeters, 2001), 215–239.
Die Bibel in Liturgie und Frömmigkeit
209
Dieser Beitrag hat anhand eines Beispiels aufgezeigt, wie eine bestimmte Frauengruppe im 19. Jahrhundert die Bibel gelesen, gehört und gedeutet hat. Die Begegnung mit den biblischen Texten geschah im Kontext der Katechese, der Liturgie, der (gemeinsamen) Lektüre der Kirchenväter, aber auch in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem biblischen Text selber durch Reflexion und Gespräch. Dabei wurde eine Verbindung zum eigenen Leben hergestellt. Die beschriebene Gruppe ist ein Beispiel für die „Vielfalt gelebten Frauenlebens“ in der (römisch- und alt-)katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts.89 Die vorliegenden Ausführungen zeigen nicht nur die Bedeutung der Aneignung der Heiligen Schrift im privaten Bereich, sondern auch, wie die Bibel im frühen Altkatholizismus als Wissens- und Bildungsinstrument angesehen wurde. Dieses Instrument wurde zum Gemeindeaufbau eingesetzt, aber auch zur Abgrenzung vom Ultramontanismus.
89
Vgl. BERGER, „I love Latin Mass“, 267. Berger dokumentiert diese Vielfalt für das ausgehende 20. Jahrhundert.
Das Weib schweige? Protestantische Kontroversen über Predigerinnen und Evangelistinnen Ruth Albrecht Universität Hamburg Eine russische Gräfin und eine deutsche Hauslehrerin unterhalten sich über die Bibel, die im gräflichen Haus in der Manier erwecklicher Frömmigkeit gelesen wird. Die erst vor kurzem mit dieser Art christlichen Lebens in Berührung gekommene junge Deutsche fragt die Hausherrin: Also, wenn ich zur Ueberzeugung komme, daß in meiner Kirche manches nicht schriftgemäß sei, darf ich nicht meine Stimme dagegen erheben und Zeugniß ablegen, wie mich mein Herz treibt?
Die mit dieser Frömmigkeitsauffassung vertraute Gräfin reagiert darauf mit folgender Belehrung: Nein, Liebe, Sie schon gar nicht […] denn es steht geschrieben, daß das Weib schweigen soll in der Gemeinde! Und die Geschichte lehrt gerade auch nicht, daß durch Frauen Reformationen entstanden seien.1
In diesem kurzen Dialog der beiden Frauen kommt das Spannungsfeld hinsichtlich des Engagements von Frauen in den neuen Frömmigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts deutlich zum Ausdruck. Modellhaft skizziert der Autor, wie sich Frauen nach Auffassung des breiten konservativen Flügels dieser Gruppierungen verhalten sollen. Ernst Schrill, der Verfasser dieser Romanszene, gehört zu den ersten männlichen Evangelisten, die den Beruf des Pastors aufgaben, um sich freieren Arbeitsformen widmen zu können.2 Zu den zentralen Bibeltexten, die im christlichen Kontext dazu dienten, den Platz von Frauen zu umschreiben, gehören die berühmten Dikta aus 1 Kor 14,34f. und 1 Tim 2,11f. Beide Bibeltexte wurden traditionellerweise in den christlichen Kirchen so ausgelegt, dass es Frauen nicht erlaubt war, mündlich oder schriftlich das Evangelium zu verkündigen. Wenn sich die gesellschaftlichen und religiösen Gendermodelle durch soziale Umbrüche veränderten, standen diese Texte im Fokus teilweise sehr heftiger Auseinandersetzungen. Die protestantische Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass zahlreiche Freikirchen, Gruppen und Bewegungen, wie Heilsarmee, Methodisten, Baptisten und die Gemeinschafts-, Heiligungsund Pfingstbewegung, entstanden bzw. in vielen Gebieten Europas Verbreitung fanden. Bei allen Unterschieden ging es den in diesen Gruppierungen engagierten Männern 1 2
Ernst SCHRILL, Jadwiga (Die Natschalniza): Roman aus dem russischen Leben der Gegenwart (Leipzig: E. Ungleich, 21897), 53f. Samuel Keller, der selber in Russland aufwuchs und als einer der erfolgreichsten frommen Schriftsteller der Jahrhundertwende gelten kann, wählte für seine literarischen Werke das Pseudonym Ernst Schrill. Zu seiner Biografie siehe Ernst BUNKE, Samuel Keller – Gottes Werk und Werkzeug (Gießen: Brunnen, 31961).
Das Weib schweige?
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und Frauen darum, auf evangelischer Grundlage christliches Leben im Alltag zu intensivieren. Orientierung an der Bibel und missionarische Verkündigung bildeten zwei der wichtigsten Elemente der protestantischen Erneuerungsbewegungen. Die hohe Bedeutung, die den biblischen Texten zugemessen wurde, kommt etwa in den Bibelstunden zum Ausdruck. Der Ansatz, sich in Gruppengesprächen über das Wort Gottes und dessen Auswirkung auf die eigenen Erfahrungen auszutauschen, geht auf den Pietismus des späten 17. Jahrhunderts zurück.3 In den meisten Freikirchen und Gruppierungen spielten Frauen bei deren Entstehung und Ausbreitung eine große Rolle, da das Engagement von Laien beiderlei Geschlechts zu den Kennzeichen dieses christlichen Milieus gehörte. Gerade hierbei trafen jedoch zwei Traditionslinien aufeinander, die zu Konflikten und ausgesprochen unterschiedlichen Lösungen führten. Denn wenn auf der einen Seite in den Reformgruppen die unbedingte Gültigkeit der Bibel als Gottes Wort betont wurde – gegen die exegetisch-wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die den Wahrheits- und Offenbarungsanspruch der biblischen Überlieferung in Frage stellten –, dann ergab sich auf der anderen Seite eine Spannung zum Engagement der Frauen, die als Missionarinnen, Evangelistinnen und Predigerinnen gerade im Rahmen dieser Gruppierungen tätig wurden. An der Frage der Leitung von Bibelstunden, Andachten und Evangelisationen lässt sich dies z. B. ablesen: Während einige Frauen Veranstaltungen nur für ihre Geschlechtsgenossinnen hielten, lehnten andere jegliche Form von öffentlicher oder halböffentlicher Verkündigung als unbiblisch ab. Nur eine relativ geringe Anzahl von Frauen leitete Versammlungen für beide Geschlechter und verteidigte dieses Recht auch ausdrücklich. Josephine Butler (1828–1906), die englische Vorkämpferin für die Rechte der Prostituierten, berichtet, dass sie 1890 in einer Genfer Freikirche aufgefordert wurde, einige Worte zu sagen. Angesichts des Kampfes, den sie mit Männern und Frauen gemeinsam gegen die sexuelle Ausbeutung von Frauen führte, kam sie der Aufforderung nach, im Gottesdienst zu sprechen. Alle Bedenken gegen öffentliches Reden von Frauen in der Kirche vergingen wie eine leichte Sommerwolke vor der Mittagssonne [...], da Glaube, Mut, Geduld der Frauen und Männer gleich nötig waren.4
Bei Männern, die ebenfalls nicht über eine theologische Ausbildung verfügten, gab es kaum ähnliche Debatten. Evangelisten wie Elias Schrenk, Samuel Keller und Ernst Modersohn waren ordinierte Pastoren und hatten im Dienst einer Kirche gearbeitet, bevor sie sich selbstständig machten. Männliche Laien, wie General Georg von Viebahn, Andreas Graf von Bernstorff, Jasper von Oertzen, Jakob Vetter und Fritz Binde, hatten sich hingegen beruflich in Handwerk und Militär oder Verwaltung 3
4
Martin BRECHT, „Die Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus“, in Glaubenswelt und Lebenswelten (hg. v. Hartmut Lehmann; Geschichte des Pietismus 4; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004), 102–120. Brief Butlers vom 25. März 1890, zit. in: George W. und Lucy A. JOHNSON, Von Frauennot und Frauenhilfe: Josephine Butler’s Leben nach ihren eigenen Schriften, Aufzeichnungen, Briefen (München: Chr. Kaiser, 1928), 203.
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betätigt.5 Auch sie waren teilweise herber Kritik ausgesetzt, allerdings entzündete sich diese eher am Inhalt ihrer Aussagen und nicht in erster Linie an der Tatsache, dass sie als Laien die Verkündigung der christlichen Botschaft zu ihrem Lebensinhalt machten. Die Diskussionen und Lösungen der Genderproblematik im Hinblick auf Frauen sahen in den evangelischen Gruppen sehr unterschiedlich aus. In den folgenden Ausführungen werden exemplarisch einige der theologischen Argumentationsmuster dargestellt. Die Vielfalt des Spektrums der Positionen und Auffassungen wird anhand von fünf Protagonistinnen nachgezeichnet. Die Auswahl konzentriert sich auf Beispiele aus Deutschland.
1. Zur Vielfalt der Tätigkeit von Frauen in den Erneuerungsbewegungen 1.1 Evangelistinnen, Reichsgottesarbeiterinnen und Bibelfrauen Missionarinnen, Diakonissen, Sonntagsschullehrerinnen und Schriftstellerinnen – das sind Bezeichnungen und Berufe für Frauen, die im Kontext der protestantischen Erneuerungsbewegungen häufig begegnen. Von Predigerinnen, Evangelistinnen oder Bibelfrauen ist hingegen sehr viel seltener die Rede. Daneben finden sich weitere Beschreibungen weiblicher Tätigkeiten, die sich aber nicht überregional durchsetzten. Über Eva von Tiele-Winckler heißt es z. B. in einer kleinen Broschüre: Sie war nicht nur Gründerin und Leiterin eines Mutterhauses und der damit verbundenen andern Arbeiten, sie war tatsächlich eine von Gott bevollmächtigte Führerin der ganzen gläubigen Gemeinde, und je länger, je mehr wird sie auch als eine solche anerkannt werden.6
Diese emphatische Beschreibung wurde jedoch nicht allgemein rezipiert: TieleWinckler gilt bis heute vor allem als Gründerin einer Diakonissengemeinschaft und nicht als christliche Führungsgestalt mit weitreichendem Einfluss. Hieran zeigt sich allerdings die Breite von Wahrnehmungsmustern der aktiven Frauen, für die keine 5
6
Jörg OHLEMACHER, Das Reich Gottes in Deutschland bauen: Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 23; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986), 48–59; Stephan HOLTHAUS, Heil – Heilung – Heiligung: Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung 1874–1909 (Gießen: Brunnen, 2005), 199–203.206–212.393; Ruth ALBRECHT, „Laientätigkeit als Profession: Profile adliger Männer aus der deutschen Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung“, in Laien gestalten Kirche: Diskurse – Entwicklungen – Profile: Festgabe für Maximilian Liebmann zum 75. Geburtstag (hg. v. Michaela Sohn-Kronthaler und Rudolf K. Höfer; Theologie im kulturellen Dialog 18; Innsbruck: Tyrolia, 2009), 205– 220. DER FRIEDENSHORT, Unsere Mutter (Dinglingen: St. Johannes, o. J.), 21. Dieser Nachruf erschien zuerst in der Zeitschrift Die Diakonisse, die vom Kaiserswerther Verband der Diakonissenmutterhäuser herausgegeben wurde. Zu Eva von Tiele-Winckler siehe auch den Beitrag von Ute Gause in diesem Band.
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festen Modelle existierten. Das erwies sich als Chance und als Begrenzung zugleich. In den meisten Fällen erwuchsen aus dem Engagement der Frauen keine klar definierten Berufsbilder. Die meisten waren darauf angewiesen, entweder von ihrer Familie finanziell unterstützt zu werden oder mit großen Mühen den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Während in den angloamerikanischen Freikirchen und evangelikalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts Evangelistinnen zum Erscheinungsbild vieler dieser Gemeinschaften gehörten, gab es in Deutschland eine ausgesprochen große Reserve gegenüber dieser Bezeichnung und dem zugrunde liegenden Phänomen. In der Regel wurde vor evangelisierenden Frauen bzw. Evangelistinnen, die gelegentlich in den eigenen Reihen auftauchten, gewarnt. Nur ausgesprochen wenige Frauen nahmen für sich in Anspruch, dass ihre Tätigkeit mit der männlicher Evangelisten vergleichbar sei und dass sie von daher als Evangelistinnen gelten könnten. Holthaus resümiert in seiner umfangreichen Studie zur Lage in Deutschland: „Frauen als vollzeitliche Evangelistinnen hat es in Deutschland überhaupt nicht gegeben.“7 Der Terminus Bibelfrau ist im deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts nur marginal zu belegen. Sein Vorkommen verweist in der Regel auf den direkten Einfluss englischer Vorbilder. Die deutschen Bibelgesellschaften, die in enger Zusammenarbeit mit der Londoner Gesellschaft seit 1806 gegründet wurden, übernahmen teilweise auch deren Methoden zur Verbreitung der Heiligen Schrift.8 1904, im Jahr des hundertjährigen Jubiläums der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft, gab es weltweit ca. 850 Männer, die sogenannten Kolporteure oder Bibelboten, deren Aufgabe darin bestand, Bibeln zu verteilen. In einer Veröffentlichung zum Jubiläum der Bibelgesellschaft heißt es: „Eine Art Gegenstück zu den Bibelkolporteuren bilden die Bibelfrauen.“9 Zunächst wurden diese in den orientalischen Ländern eingesetzt, um dort Bibeln auch an Frauen verteilen zu können, da westlichen Männern generell der Kontakt zum anderen Geschlecht untersagt war. Wenn irgendwie möglich, versuchten die Bibelfrauen, den von ihnen besuchten Frauen Abschnitte aus der Bibel vorzulesen und zu erläutern. Als theologische Begründung für die Zuwendung zu den abgeschlossen lebenden muslimischen Frauen wird ein Paulustext genannt: „In Christo gilt ja weder Mann noch Weib (Galat. 3,28). Es ist kein Unterschied. Beide sind zu demselben Heile berufen und können in gleicher Weise daran teilnehmen.“10 1884 hatte die Britische Bibelgesellschaft mit dem Einsatz von Bibelfrauen begonnen, 1904 waren ca. 650 im Einsatz. Diese Zahl macht deutlich, dass sich dieses Modell bewährte. 7 8
9
10
HOLTHAUS, Heil, 502. Emil SCHULTZE, Die Bibel in der weiten Welt: Eine Denkschrift zum 100jährigen Bestehen der Britischen u. Ausländischen Bibelgesellschaft (Basel: Kober C. F. Spittlers Nachfolger, 1904), 47–51. SCHULTZE, Bibel, 97. Im Jahresbericht der Britischen Bibelgesellschaft von 1880 ist von 60 Kolporteuren die Rede. Bibelfrauen werden hier nicht erwähnt: Auszüge aus dem Jahresbericht der Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft (London: Bibelhaus, 1854– 1887), 16. SCHULTZE, Bibel, 101.
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Ruth Albrecht Auch in den Armenquartieren Londons und anderer Weltstädte, wo das weibliche Geschlecht oft in ähnlicher Versunkenheit lebt und männliche Evangelisten keinen Weg zu ihm finden, ist eine derartige Arbeit organisiert. So schließen sich die Bibelfrauen den Bibelboten an und arbeiten in ihrer Weise am gleichen Werk, der Heiligen Schrift überall hin den Weg zu bahnen und dadurch dem, der aller Welt Heiland sein will.11
Bisher lassen sich auf deutschem Gebiet nur für Berlin Bibelfrauen nachweisen; weitere Forschungen sollten sich der Frage widmen, ob es eventuell auch in anderen Großstädten mit vergleichbarer sozialer Problematik, wie Frankfurt am Main oder Hamburg, Hinweise auf diesen Typus evangelischer Frauenarbeit gibt. Dieses Modell war in Deutschland allerdings nicht unbekannt, auch wenn sich nur wenige Beispiele nachweisen lassen. Die Gedichtsammlung des in Barmen tätigen Pastors Gustav Adolf Weller enthält einen Beitrag zur Weihnachtsfeier eines Jungfrauenvereins unter dem Titel Der Bibelwagen. In einer Art Anspiel kommt eine spanische Bibelfrau mit einem Bibelwagen in den Saal und unterhält sich mit einer der anwesenden jungen Frauen. Die evangelische Spanierin beschreibt, wie sie mit ihrem Wagen durch die Lande zieht und z. B. einem Hirten, der auf einem entfernten Hügel seiner Arbeit nachgeht, eine Bibel bringt.12 Die Bibelfrau bemängelt, dass in Deutschland zu wenig in der Heiligen Schrift gelesen werde. Zum Schluss beschenkt sie jede Frau mit einer Bibel, einem Lesezeichen und einer Lesetafel. So, liebe Töchter, nehmt gerne an, Was die spanische Bibelfrau schenken kann. Und mög’ einer Jeden in euren Reih’n Das Buch aller Bücher gesegnet sein! Als Stab und Stütze, als Brot und Stern, Leit’ das Wort unsres Gottes euch alle zum Herrn.13
Dieses Gedicht verdeutlicht, dass Bibelfrauen von den protestantischen Missionsgesellschaften außer in den Großstädten in den Ländern Europas, wie Spanien oder Italien, eingesetzt wurden, in denen die größtenteils katholische Bevölkerung nur wenig Zugang zur Bibel hatte.14 Die Bezeichnung Reichsgottesarbeiterin ist nicht auf englischen Einfluss zurückzuführen, sondern reflektiert vielmehr, dass die Idee, an der Ausbreitung des Reiches Gottes mitzuarbeiten, allen sozialen und missionarischen Initiativen der weiblichen und 11 12
13
14
SCHULTZE, Bibel, 101. Sie verweist an einer Stelle auf Fritz Fliedner (1845–1901), der evangelische ChristInnen in Spanien betreute, www.fliedner-stiftung-madrid.de (01.07.2013). Er war ein Sohn Theodor Fliedners (1800–1864), der den entscheidenden Impuls zur Entstehung der Diakonissenmutterhäuser in Deutschland gab, vgl. Norbert FRIEDRICH, Der Kaiserswerther: Wie Theodor Fliedner den Frauen einen Beruf gab (Berlin: Wichern, 2010). Gustav Adolf WELLER, Rosen und Dornen: Dichtungen für die Freuden- und Trauertage des christlichen Hauses (Barmen: Biermann, 1904), 92–97; 96. Ich danke Herrn Günther Balders dafür, dass er mir diesen Text zur Verfügung gestellt hat. Siehe dazu den Beitrag von Marina Cacchi in diesem Band.
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männlichen Vertreter der protestantischen Erweckungsbewegungen zugrunde lag.15 Von daher galten alle, die sich in diesem Kontext bewegten, im Prinzip als ReichsgottesarbeiterInnen – alle Frauen und Männer sahen sich der Aufgabe verpflichtet, das Evangelium als Medium des göttlichen Reiches zu verkündigen. Seit 1903 erschien eine Zeitschrift unter dem Titel Der Reichsgottesarbeiter.16 Dieser Titel unterstreicht, dass Frauen zwar eine wichtige Rolle spielten, dass entscheidende Bereiche wie die Publizistik aber auch in diesen Bewegungen von einer männlichen Perspektive bestimmt wurden. Während Männer ihrem Wirken für das Reich Gottes auch im Rahmen einer Berufstätigkeit als Pastoren, Missionare oder Diakone nachgehen konnten, war dies bei Frauen weitaus seltener der Fall. Im Kontext der Heiligungs- und Evangelisationsbewegung formierten Frauen sich teilweise in eigenen Zusammenkünften, um ihr spezifisches Aufgabenprofil zu bedenken.17 Ada von Krusenstjerna, auf die in diesem Beitrag noch ausführlicher eingegangen wird, erinnerte sich an viele Veranstaltungen, bei denen sich die engagierten Frommen austauschten. Hierzu zählt sie besonders Treffen in Berlin, […] wo von allen Teilen Deutschlands Diakonissen und andere Reichs=Gottes=Arbeiterinnen zusammenkamen, von dem heißen Wunsch getrieben, sich selbst immer tiefer heiligen und reinigen zu lassen, damit Christus ungehemmt die Unglücklichen retten könne, denen sie ihr Leben geweiht.18
1.2 Theologische Kontroversen Im Folgenden wird nur ein Bibeltext herausgegriffen, um an diesem exemplarisch zu zeigen, welche Diskussionslinien sich um die Jahrhundertwende bei der Interpretation von Stellen abzeichneten, die für Frauen von entscheidender Bedeutung waren. Nach der gegenwärtig verbreiteten Lutherübersetzung, die auf der Revision von 1984 beruht, lautet Ps 68,12: „Der Herr gibt ein Wort – der Freudenbotinnen ist eine große Schar.“ Bei Martin Luther ist von den „großen Scharen Evangelisten“ die Rede.19 Die deutschen Lutherbibeln des 19. Jahrhunderts folgten dem Reformator, sodass mit der Bibel vertraute evangelische Gläubige den Terminus Evangelist kannten, nicht jedoch das
15
16 17 18 19
Vgl. Hedwig von REDERN, Andreas Graf von Bernstorff: Ein Lebensbild nach seinen Briefen und persönlichen Aufzeichnungen (Schwerin: Friedrich Bahn, 21909), 59.207; OHLEMACHER, Reich Gottes. HOLTHAUS, Heil, 413. Vgl. hierzu HOLTHAUS, Heil, 467–515. Ada von KRUSENSTJERNA, Im Kreuz hoffe und siege ich: Lebenserinnerungen (Gießen: Brunnen, 61949), 227. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart, 1985). Als Kommentar zu dieser Übersetzung wird auf Luther hingewiesen.
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Wort Evangelistin.20 An Johann Hinrich Wichern (1808–1881), dem Impulsgeber für die Entstehung der Inneren Mission, lässt sich darlegen, in wie selbstverständlicher Weise Luthers Übersetzung das 19. Jahrhundert prägte, so dass Evangelistinnen weithin nicht in den Blick kamen. Wichern bezog sich bei seinen Vorträgen auf Luthers Übersetzung des 16. Jahrhunderts, wenn er forderte, dass Scharen von Evangelisten aufstehen müssten, damit die Missionierung der der Kirche entfremdeten Massen gelinge.21 Die als Elberfelder bzw. Brockhaus Bibel bekannte Übersetzung entstand in den Reihen der hier skizzierten evangelischen Erneuerungsbewegungen. Ihr deklariertes Ziel war es, den Urtext möglichst wörtlich wiederzugeben.22 Unter dieser Maxime wurde in Ps 68,12 zum ersten Mal das Femininum kenntlich gemacht, das sich im hebräischen Text findet. 1871 lautete die Formulierung: „der Botschafterinnen ist ein großes Heer“. 1907 wurde übersetzt: „der Siegesbotinnen ist eine große Schar“. Als Erläuterung heißt es dazu im Apparat, dass es sich um „Verkünderinnen froher Botschaft“ handelt.23 Diese Bibelausgabe spielte in den Reihen des Personenkreises, der in diesem Beitrag untersucht wird, eine wichtige Rolle.24 Die als eine der wenigen Evangelistinnen in Deutschland aktive Gräfin Schimmelmann argumentierte 1910 in ihrem Beitrag „Zum Frauenreden“ in der Zeitschrift Leuchtfeuer u. a. mit Ps 68,12 dafür, dass es eine biblische Grundlage für eine evangelistische Tätigkeit von Frauen gibt. Die von ihr verwendete Übersetzung ist vermutlich entweder von der Elberfelder Bibel oder von angloamerikanischen Bibelausgaben inspiriert. Das in lutherischen Kirchen geltende Recht, dass Frauen eine Nottaufe vornehmen dürfen, überträgt sie auf die Evangeliumsverkündigung: […] warum sollte man ihnen da nicht erlauben zu predigen, wo Not nach dem Evangelium ist. Wir glauben, daß die Macht der Finsternis die Stunde aufhalten möchte, von welcher uns verheißen ist, daß „Scharen von Evangelistinnen die frohe Botschaft predigen“ werden.25
Mit Hilfe dieser Deutung sah die Gräfin auch ihr eigenes Wirken von der Bibel gedeckt. Ihr Adoptivsohn Paul Schimmelmann, der ihre missionarische und evangelisti20
21 22
23
24 25
Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Im Auftrage der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz (Halle a. S.: von Cansteinsche Bibelanstalt, 91899). Johann Hinrich WICHERN, Sämtliche Werke 1 (hg. v. Peter Meinhold; Hamburg: Lutherisches Verlagshaus, 1962), 94. Albrecht BEUTEL, „Bibelübersetzungen II.1“, RGG 1 (41998), 1498–1503; 1501; HOLTHAUS, Heil, 317–322. Die erste Ausgabe erschien 1855, John Nelson Darby (1800–1882) und Carl Brockhaus (1822–1899) waren die treibenden Kräfte. Die Heilige Schrift aus dem Urtext übersetzt (Elberfeld: Langewiesche, 1871; Elberfeld: Brockhaus, 41914). Die Verszählung weicht von der der Lutherbibel ab und rechnet diesen Vers als Ps 68,11. Die Bibel in gerechter Sprache (hg. v. Ulrike Bail et al.; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006) benutzt ebenfalls die Formulierung Freudenbotinnen. Adeline SCHIMMELMANN, „Zum Frauenreden“, Leuchtfeuer 8 (März 1910): 25f.; 26.
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sche Arbeit unterstützte, vertrat in einem Traktat eine ähnliche Auffassung. Er betrachtete diesen Psalm als Hinweis auf die „letzten Zeiten“, die nun angebrochen seien. In dieser eschatologischen Phase werde sich die Ankündigung erfüllen: „Der Herr gab das Wort durch große Scharen Evangelistinnen.“26 Ein weiterer Verfechter einer solchen Übersetzung, die Frauen bereits in Ps 68 gemeint sah, war der schwedisch-amerikanische Evangelist Fredrik Franson (1852–1908). Da er zeitweise in mehreren Ländern Europas unterwegs war, zeigten sich Spuren seiner Arbeit, so in der Einsetzung von Evangelistinnen, an vielen Orten.27 Die evangelische Theologin Gertrud Wasserzug-Traeder (1894–1992) veröffentlichte eine Studie zur Missionsarbeit von Frauen, in der sie sich zunächst mit Fragen nach der biblischen Grundlage auseinandersetzte.28 Die biblische Begründung der Frauenmissionsarbeit hat seit ihren Anfängen die bibelgläubigen Christen in Deutschland stark beschäftigt, ohne daß bis in unsere Zeit hinein eine klare und befriedigende Lösung allgemein durchgedrungen sei. Es ist ohne weiteres klar, daß auch in dieser Frage die Linien der Schrift für jeden gläubigen Christen maßgebend sind – aber nicht so leicht ist es, diese im Worte Gottes durch den Geist gegebenen Richtlinien auch wirklich geistesmäßig zu verstehen und auf das Leben anzuwenden.29
Zu den Argumenten, die Wasserzug-Traeder heranzieht, um das Recht auf evangelistische Tätigkeiten von Frauen als biblisch begründet ausweisen zu können, gehört eine Zusammenstellung alt- und neutestamentlicher Belegstellen aus der Feder von Heinrich Coerper (1863–1936).30 Dieser zitierte u. a. Ps 68,12 in der folgenden Übersetzung: „Der Evangelistinnen ist ein großes Heer.“31 Obwohl Coerper in den eigenen Reihen für seine eindeutige Positionierung heftig kritisiert wurde, zog WasserzugTraeder ihn dennoch als „erfahrenen Gottesmann“ heran.32 Beiden ging es darum, in dem Frömmigkeitsmilieu, dem sie sich zugehörig fühlten, eine Diskussion unter Anerkennung der Bibel als göttliches Wort in Gang zu setzen. Wenn in den biblischen Texten Evangelistinnen vorkamen, mussten sie nach dem Ansatz dieses Denkens auch im 19. und 20. Jahrhundert als legitim gelten.
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Paul Fredrich SCHIMMELMANN, Das Weib schweige? (Berlin: Adeline Gräfin Schimmelmanns Internationale Mission, o. J.), 4. Edvard P. TORJESEN, Fredrik Franson: A Model for Worldwide Evangelism (Pasadena: Carey, 1983), 17.19.62f. Gertrud WASSERZUG-TRAEDER, Deutsche Evangelische Frauenmissionsarbeit: Ein Blick in ihr Werden und Wirken (München: Chr. Kaiser, 1927). Sie unterrichtete an der Frauenbibelschule Malche in Bad Freienwalde, siehe HOLTHAUS, Heil, 497–499.501f. Die Studie von Wasserzug-Traeder beschäftigt sich mit der Entwicklung vor 1914, d. h. vor allem mit dem späten 19. Jahrhundert. WASSERZUG-TRAEDER, Frauenmissionsarbeit, 6. HOLTHAUS, Heil, 245–248. WASSERZUG-TRAEDER, Frauenmissionsarbeit, 9. WASSERZUG-TRAEDER, Frauenmissionsarbeit, 9.
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2. Bibelrezeption ausgewählter Frauen In chronologischer Reihenfolge werden im Folgenden einige Protagonistinnen vorgestellt, für die die Bibel von zentraler Bedeutung war. Sie begründeten ihre Aktivitäten mit biblischen Texten, gingen dabei jedoch in sehr unterschiedlicher Weise vor. Ihre Art der Bibellektüre weist viele Gemeinsamkeiten auf, die auf der Voraussetzung beruhen, dass es sich in den Schriften des Alten und Neuen Testamentes um die Offenbarung Gottes handele, die unmittelbar zu den einzelnen LeserInnen spricht. In der Memoria der Bewegungen, an denen diese Frauen sich orientierten, spielen sie eine untergeordnete Rolle. 2.1 Marie Palmer Davies (geb. 1843) Die Tochter des nassauischen Politikers Emil Freiherr von Dungern (1802–1862) heiratete 1863 den englischen Theologen George Palmer Davies (1826–1881), der seit 1858 im Auftrag der Britischen Bibelgesellschaft in Deutschland tätig war.33 1869 wurde er als Direktor für die Arbeit in Deutschland und der Schweiz nach Berlin beordert34, wo Marie Palmer Davies ihr Engagement fortsetzte, das sie bereits in Frankfurt am Main mit einer Sonntagsschule begonnen hatte.35 Sie beschränkte sich zunächst auf typisch weibliche Aktionsformen, indem sie sich vornehmlich Frauen und Kindern zuwandte. Darüber hinaus wurde sie auch schriftstellerisch tätig, u. a. mit einem Nachruf auf Josephine Butler, die sie persönlich kennengelernt hatte.36 Nach ihren Angaben fand sie in Berlin das Modell der Bibelfrauen vor, das von zwei schottischen Theologen angeregt worden war. Von Johann Hinrich Wichern im Rauhen Haus ausgebildete Diakone hatten den Einsatz der Bibelfrauen unterstützt, sich gegen Ende der 1860er Jahre jedoch zurückgezogen. Sophie Loesche, geb. Hahn, die Ehefrau eines Berliner Bankiers, setzte mit zwei Bibelfrauen die Arbeit fort und betreute vor allem die Familien von Droschkenkutschern. Pferdekutschen stellten in den Großstädten um 1900 33 34
35
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Erinnerungsblätter von Freundeshand: George Palmer Davies (Berlin, 1881), 12. Die Gesellschaft wurde 1804 in London gegründet, siehe SCHULTZE, Bibel; HOLTHAUS, Heil, 65. Das Depot der Bibelgesellschaft befand sich in der Wilhelmstraße 33 und damit im Zentrum Berlins. Das Ehepaar wohnte auch hier. Im Berliner Adressbuch von 1870 ist Davies als Prediger gekennzeichnet: Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Adreß- und Geschäftshandbuch für Berlin, dessen Umgebungen und Charlottenburg auf das Jahr 1870, 127. 1880 gilt er als englischer Prediger und Direktor der Bibelgesellschaft: Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1880 (Berlin: W. & S. Loewenthal, 1880), 132. Nach seinem Tod zog seine Witwe in die Potsdamer Str. 82c: Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1882 (Berlin: W. & S. Loewenthal, 1882), 158. Marie PALMER DAVIES, Unter Droschkenkutschern: Schlichte Wahrheiten aus dem Berliner Volksleben: Aufzeichnungen. Mit einem Vorwort von Emil Frommel (Schwerin: Bahn, 1903), 5f. Marie PALMER DAVIES, Unvergeßliches aus dem Leben einer gottgeweihten Frau (Berlin: Trowitzsch, 1907).
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das wichtigste Fortbewegungsmittel dar. Loesche taucht in unterschiedlichen Kontexten christlicher Wohltätigkeit in Berlin auf.37 Marie Palmer Davies übernahm eine der verbliebenen Bibelfrauen und belebte das in Deutschland kaum bekannte Modell neu. Sie verwies dabei auf die Engländerin Ellen Henrietta Ranyard (1810–1879), von der die Anregungen zum Einsatz von Bibelfrauen ausgegangen waren. Deren Werk The Missing Link erlebte in England zahlreiche Auflagen, wurde jedoch nicht ins Deutsche übersetzt.38 Ranyard verfocht die Idee, dass anstelle von Stadtmissionaren, Evangelisten oder Diakonen Frauen aus der Arbeiterklasse am besten geeignet seien, um die verarmten Bevölkerungsschichten mit der Bibel bekannt zu machen. Dafür entwickelte sie klare Strukturen, die auch in Berlin angewendet wurden.39 Die von Davies eingesetzte Bibelfrau war für etwa hundert Familien zuständig und berichtete Davies jede Woche von ihren Erlebnissen. Diese weitete die Arbeit so aus, dass schließlich sechs Bibelfrauen sich die Arbeit teilten. Nach ihren Erfahrungen eigneten sich „Frauen aus dem Volk“, dem kleinen Beamtenstand oder kinderlose Witwen am besten für diese Aufgabe.40 Unterstützt wurden die Bibelfrauen von einer Diakonisse, die sich der Kranken annahm. Das Netzwerk, in dem Davies ihre Arbeit verortete, weist auf die Szenerie der Berliner Erweckten hin, insbesondere die Gemeinschaftsbewegung.41 So bestand ein enger Kontakt zur Elisabeth-Gemeinde in der Invalidenstraße sowie zur Herrnhuter Brüdergemeine.42 Davies hielt sich mit öffentlichen Ansprachen zurück, bei den Festen, zu denen Männer eingeladen waren, hielten in der Regel männliche Theologen kurze Reden mit Bibelauslegungen. Davies schränkte auch ihren Kontakt mit den Ehemännern der von den Bibelfrauen betreuten Frauen stark ein. Dahinter stand bei ihr eine klassische konservative Genderaufteilung: Die Frauen trugen Sorge für Alltagsprobleme und lebten Glaubenspraktiken vor, die einfach befolgt werden konnten. Davies unterwies die Bibelfrauen, damit diese mit den Frauen und Kindern der betreuten Familien gemeinsam in der Bibel lasen, sangen und beteten. Ferner wurden die Familien dazu ermuntert, ihre Kinder taufen zu lassen. Die Ehefrauen der Droschkenkutscher wurden 37
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So beteiligte sie sich an Sonntagsvereinen sowie der Gründung eines Kinderheimes. Gemeinsam mit ihrem Ehemann schenkte sie dem Berliner Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend ein Grundstück, auf dem 1892 ein Heim für junge berufstätige Frauen errichtet wurde. Bettina HITZER, Im Netz der Liebe: Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914) (Köln: Böhlau, 2006), 193. Ellen Henrietta RANYARD, The Missing Link, or Bible-Women in the Homes of London Poor (London: Nisbet, 1859). Bereits 1861 wurde das Buch in 26. Auflage gedruckt. Zur Biografie Ranyards siehe Frank K. PROCHASKA, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century England (Oxford: Oxford University Press, 1980), 126–129; Lori WILLIAMSON, „Ranyard Ellen Henrietta (1810–1879)“, ODNB 46 (2004), 60f. PALMER DAVIES, Droschkenkutscher, 12. Davies gehörte zu den Mitgliedern eines Gebetskreises, der sich bei Graf Bernstorff traf. REDERN, Bernstorff, 207. Die großen Feiern mit den Droschkenkutscherfamilien und den Bibelfrauen fanden im Saal der Brüdergemeine statt, der ganz in der Nähe des Wohnsitzes des Ehepaares Davies lag. PALMER DAVIES, Droschkenkutscher, 13.26–30.
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einmal pro Woche zur Bibelstunde eingeladen. Davies leitete diese Treffen und hielt Ansprachen über biblische Texte. Zunächst übernahm ihr Ehemann dabei die Andacht. Er riet ihr jedoch, sie „solle mit einer Bibelbesprechung den Abend beginnen, die Frauen würden unbefangen fragen und antworten, wenn ich dies selbst in die Hand nehmen würde“.43 Bibelfrauen in der Art, wie Davies sie einsetzte, scheint es in anderen Gemeinden und Gemeinschaften der Hauptstadt nicht gegeben zu haben, auch wenn das Modell häuslicher Besuche mit Bibellesung und Gebet durchaus verbreitet war. Mit dem Tod von Marie Palmer Davies fand nach den bisher bekannten Quellen der Einsatz von Bibelfrauen in Berlin sein Ende. Im Kaiserreich zeichnet sich, insbesondere in den Großstädten, an unterschiedlichen Stellen die Zuwendung zu spezifischen Personengruppen ab.44 Insofern stand das Vorgehen von Davies im Kontext ähnlicher Vorgehensweisen. Ihre Berliner Droschkenkutschermission fand im frommen Milieu Anerkennung. Vor allem Frauen beriefen sich auf Davies, so schrieb Krusenstjerna: „Sie hatte nach englischem Vorbild sechs Bibelfrauen, welche die Familien betreuten und einmal in der Woche ihrer Leiterin Bericht erstatteten.“45 Auch Gräfin Marie Esther Waldersee (1837–1914), die zu den einflussreichen frommen Wohltäterinnen des Kaiserreiches gehört, bezeichnete Davies als eines ihrer Vorbilder.46 2.2 Ada von Krusenstjerna (1854–1942) Die Adlige mit schottischen, schwedischen und deutschen Vorfahren, die teilweise seit mehreren Generationen im Baltikum lebten und in enger Verbindung zum russischen Zarenhof standen, verbrachte ihre Kindheit in St. Petersburg. Die Familie gehörte der lutherischen Kirche an. Ada Fürstin Barclay de Tolly-Weymarn heiratete 1883 einen baltischen Adligen.47 Gegen Ende der 1870er Jahre kam sie mit Adelskreisen in Kontakt, die von Granville Waldegrave Lord Radstock (1833–1913) und Dwight Lyman Moody (1837–1899) und damit von der angloamerikanischen Heiligungsbewegung beeinflusst waren.48 1888 begann Krusenstjerna damit, auf dem Gut ihrer Familie eine Art von Sonntagsschule für Erwachsene zu halten. „Sonntags kamen [...] finnische und estnische Bauern in die große Leutestube, wo ich ihnen vom Heiland erzählte.“49 Es gibt bei ihr keine Überlegungen darüber, ob sie als Frau vor Männern das Evangelium 43 44 45 46
47 48 49
PALMER DAVIES, Droschkenkutscher, 12f. HOLTHAUS, Heil, 225–227. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 130f. Elisabeth Gräfin WALDERSEE, Von Klarheit zu Klarheit! Gräfin Marie Esther von Waldersee gewesene Fürstin von Noer, geb. den 3. Okt. 1837, gest. den 4. Juli 1914: Ein Lebensbild (Stuttgart: Deutscher Philadelphia-Verein, 1919), 261. Waldersee, Davies und Krusenstjerna trafen in den 1880er Jahren in Berlin zusammen. Ebd., 271. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 9–114. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 80f.85; vgl. HOLTHAUS, Heil, 27f.50.427. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 133.
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verkündigen dürfe. Das ständische Denken, im zaristischen Reich besonders stark ausgeprägt, ließ die männlichen Gutsangehörigen und Bauern nicht unter der Kategorie Männer erscheinen, sondern diese bildeten einen Teil der umfassenden Haus- und Gutsgemeinschaft, denen die Adligen beiderlei Geschlechts übergeordnet waren. Auf ihrem schwedischen Gut in der Nähe von Kalkar griff Krusenstjerna Arbeitsformen auf, die in den Erneuerungsbewegungen verbreitet waren: „Ich führte Kindergottesdienste ein, gründete einen kleinen Gesangverein für die Jugend, hielt Bibelstunden für die Eltern.“50 Über ihre eigene Bibellektüre in dieser Zeit schreibt sie: Ich lernte meine Bibel viel gründlicher und systematischer lesen, ihre Herrlichkeit ging mir immer mehr auf. Ich staunte über die Folgerichtigkeit und Weisheit, die die rechte Lösung auch für das irdische Leben brachte. Aber ich verstand auch, daß sie ein verschlossenes Buch bleiben muß für die, welche die Finsternis mehr lieben als das Licht (Joh. 3,19).51
Diese Art der Deutung des biblischen Textes zeigt deutlich den Einfluss der Personen und Gruppen, an denen Krusenstjerna sich orientierte und über die sie in ihrer Autobiografie Notizen hinterließ. In Stockholm lernte sie die Heilsarmee kennen, der sie zunächst mit Vorbehalten begegnete. Wichtig wurde für sie die Erkenntnis, „daß Evangelium und soziale Hilfe niemals getrennt werden dürfen“.52 Für die Umsetzung dieser Programmatik stand die Heilsarmee beispielhaft. An den bereits bestehenden Bibelstunden im Frauengefängnis, die von einer Gruppe weiblicher und männlicher „ernster Christen“ durchgeführt wurden, beteiligte sich Krusenstjerna, solange sie in der schwedischen Hauptstadt wohnte.53 An einer Schilderung ihrer Autobiografie lässt sich erkennen, wie sie sich die Wirkung des Bibellesens wünschte. Eine Gefangene musste einige Tage als Strafe in einer Einzelzelle verbringen. Dort lag ein Neues Testament. Sie schlug es auf und las das 14. Johanneskapitel. Plötzlich hatte es sie überwältigt, daß Christus selbst mit ihr rede. Sie war auf die Knie gesunken und hatte Ihn angefleht, sie zu retten.54
In Deutschland nahm Krusenstjerna seit 1880 öfter an den Blankenburger Allianzversammlungen teil. Anna Thekla von Weling (1837–1900) war in England mit der vor allem von angelsächsischen Evangelikalen geprägten Bewegung der Evangelischen Allianz in Berührung gekommen und schuf in Bad Blankenburg/Thüringen das deutsche Zentrum dieser interkonfessionellen Bewegung.55 Hier hielten ausschließlich Männer die Bibelauslegungen. Durch Kontakte mit der Heilsarmee wurde Krusenstjerna darin bestärkt, dass biblische Texte wie Jes 58,8f. und Mk 16,17f., die von Heilungen als Zeichen der göttlichen Gnade sprechen, auch in ihrer Gegenwart gelten 50 51 52 53 54 55
KRUSENSTJERNA, Kreuz, 147. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 151. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 158. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 171–173. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 172. Vermutlich ist mit Joh 14 der Vers gemeint, in dem Jesus sich als den Weg zum Vater bezeichnet (Joh 14,6.9). KRUSENSTJERNA, Kreuz, 135–138.188; vgl. HOLTHAUS, Heil, 177–182.
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müssten. Sie selber litt nicht an einer Krankheit, erlebte aber in ihrer Umgebung Heilungen, die durch Gebete ausgelöst wurden.56 Auch mit dieser Überzeugung bewegte sie sich im Rahmen der Ansichten und Praktiken, die in den evangelischen Erweckungsbewegungen des späten 19. Jahrhunderts weit verbreitet waren.57 In Leipzig zogen Krusenstjerna und ihre Familie in ein Haus, in dessen Nähe viele Droschkenkutscher wohnten. Nach dem „Vorbild von Mrs. Davies“ begann sie, sich diesen in missionarischer Absicht zuzuwenden. Sobald wir eingerichtet waren, luden wir einige von ihnen zu einer Tasse Tee ein. Daraus entstanden wöchentliche Bibelstunden; unser Eßzimmer war manchmal so voll, daß man im Vorraum sitzen mußte.58
Krusenstjerna war der Überzeugung, „die Bibel müsse nicht nur gelesen, sondern auch gelebt werden“.59 Unter dieser Maxime interessierten keine exegetischen Fragen, sondern es ging ausschließlich darum, aus der Bibellektüre praktische Anweisungen für das eigene Leben zu gewinnen. Als sie und ihr Mann das Gut in Schweden verkaufen mussten, hielt sie für die Gutsangehörigen und Dorfbewohner eine Abschiedsversammlung. Ihren Ausführungen legte sie Joh 10,28 zugrunde, wonach niemand die Gläubigen aus der Hand Christi reißen könne. Dieses Wort wurde mir so groß, und ich versuchte, es auch ihnen als göttliche Wirklichkeit ins Herz dringen zu lassen. Bei den meisten war ja der gute Wille da. Zum Schluß knieten wir alle nieder. [...] An der Tür stehend, gab ich jedem zum Abschied ein Neues Testament mit einem Brief, in dem ich mit möglichst einfachen Worten den Weg zu Jesus beschrieben hatte.60
Eine Stelle der Aufzeichnungen Krusenstjernas illustriert, welche unterschiedlichen Gender- und Frömmigkeitskonzepte im protestantischen Milieu aufeinander prallen konnten. Seit 1897 lebte die Adlige in Dresden und suchte dort nach Gleichgesinnten. Ich fragte eine Verwandte, ob es in Dresden irgendeinen kleinen Kreis gäbe, wo man gemeinsam die Bibel lesen könnte. „Meine Liebe, Du willst wohl alle belehren und bekehren, es ist ein schrecklicher Hochmut, wir haben alles, was wir brauchen, herrliche Gottesdienste. Bitte, seid doch weniger fromm, aber habt mehr Liebe.“ Ach, diese lieben „andächtigen und ehrbaren Weiber“, wie Apg. 13,50 sie nennt, wie haben sie zu allen Zeiten mit ihren „Obersten“, denen sie sich blindlings unterwarfen, das Reich Gottes gehemmt!61
Dem Vers Apg 13,50 liegt zugrunde, dass Paulus und Barnabas in Antiochia in Pisidien sowohl unter den Juden als auch Griechen auf großes Interesse stießen; es kam zu zahlreichen Bekehrungen. Wohlhabende Frauen sind für viele Synagogen als Anhängerinnen bezeugt, sie wahrten jedoch dem jüdischen Glauben gegenüber einen gewis56 57 58 59 60 61
KRUSENSTJERNA, Kreuz, 181–183. HOLTHAUS, Heil, 363–394. HOLTHAUS, Heil, 138. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 161f. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 166f. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 187.
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sen Abstand. Krusenstjerna überträgt diese negative Charakterisierung direkt auf eine vermutlich lutherische Christin der Kaiserzeit. Wie dieses Zitat ferner zeigt, benutzte Krusenstjerna eine zeitgenössische Luther-Übersetzung. Nachdem sie mehrere Kirchen in Dresden kennengelernt hatte, äußerte sie massive Kritik an der Verkündigung und den damit in Verbindung stehenden Beschränkungen des Aufgabenbereiches von Frauen. Das allgemeine Priestertum sei vergessen worden. Die Kirche unternahm nach ihrer Einschätzung nichts gegen „die Erniedrigung der Frau“.62 Krusenstjerna bewegte sich in Kreisen der evangelischen Erneuerungsbewegungen, die viel stärker als die lutherischen Kirchen die Inspiriertheit des göttlichen Wortes betonten und gleichzeitig in sozialer Hinsicht ausgesprochen fortschrittlich operierten. In der von ihr in Dresden mitbegründeten Gemeinde der Landeskirchlichen Gemeinschaft reichten beim gemeinsamen Singen „sich vornehme Damen, Handwerkerfrauen und Dienstmädchen die Hand“.63 Die Kinder Krusenstjernas wuchsen in der Frömmigkeitswelt ihrer Mutter auf. „Die Bibel war ihnen das interessanteste Buch. Der kleine Samuel, David, Daniel waren ihnen Freunde, deren Erlebnisse und Vorbild ihr Kinderleben beeinflußten.“64 Ihre Andachten, die sie vor allem für Kinder hielt, veröffentlichte die Adlige 1903 unter dem Titel Unsern Kindern.65 Zur Entstehung des Buches schreibt sie: Bald wurde es mir selbst die größte Freude, mich in die Bibel zu versenken, selbst ein Kind zu werden und mit einfältigem Herzen das göttliche Wort auf mich wirken zu lassen, als hörte ich’s zum erstenmal.66
Nicht nur ihre Kinder, sondern auch sie selber lebte mit den Gestalten des Alten Testaments: Die Witwe von Sarepta ist meine besondere Freundin. Sie war schwach und ängstlich wie ich, aber sie horchte auf Gottes Stimme, so daß Er ihr Aufträge geben und sie den Zusammenhang von äußeren und inneren Vorgängen erkennen konnte (1. Kön. 17,9 und 24).67
2.3 Adeline Gräfin von Schimmelmann (1854–1913) Die aus Ahrensburg bei Hamburg stammende Gräfin gehörte zu den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in England, dann mit einiger Verzögerung auch in Deutschland auftretenden Frauen, die ähnlich wie männliche Laien Evangelisation und Mission zu ihrem Hauptlebensinhalt machten. Seit dem Ende der 1880er Jahre engagierte sie sich zunächst sozial-diakonisch, um dann den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten allmäh62 63 64 65 66 67
KRUSENSTJERNA, Kreuz, 189. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 195. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 198. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 199. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 198. KRUSENSTJERNA, Kreuz, 226.
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lich auf Ansprachen und Evangelisationsvorträge zu verlagern. In den 1890er Jahren begann sie zudem, eigene Texte zu veröffentlichen. Das bekannteste Werk stellen ihre autobiografischen Aufzeichnungen von 1896/98 dar.68 Kurz nach der Jahrhundertwende gründete sie in Berlin einen Verlag, in dem auch ihre Zeitschrift Leuchtfeuer monatlich erschien. Nach ihrem Tod gelang es Mitarbeitern und Freunden nicht, die von ihr begonnenen Werke fortzuführen.69 Die Eltern Adeline Schimmelmanns gehörten der lutherischen Kirche an und ließen ihren Kindern zu Hause Unterricht erteilen, bei dem der Katechismus und die Bibel wichtige Elemente bildeten. Die Gräfin schildert ihre Liebe zu einer Bibelausgabe, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet war. Mein schönstes Spielzeug war die große Schnorr’sche Bilderbibel. Ich konnte stundenlang auf dem Fußboden liegen vor den wundervollen Bildern, die um mich her ausgebreitet waren und ich lebte ganz in den Scenen, die sie darstellten. Die edlen Linien der Schnorr’schen Gestalten prägten sich tief in mein Kindergemüt ein.70
Obwohl deutlich erkennbar ist, dass die von Schimmelmann propagierte Frömmigkeit die Charakteristika der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung widerspiegelt, bemühte sie sich darum, ihren Weg als unbeeinflusst von äußeren Einwirkungen zu beschreiben. Ihre Bekehrung führt sie ausschließlich auf ihre Gebete und die Lektüre der Bibel zurück: Nun fing mein kaltes Herz an zu brennen, nicht durch meine Liebe zu Christus, sondern durch Seine Liebe zu mir. Nun war ich Sein, und Sein allein. Ich fühlte, daß ich nur für Ihn leben konnte. Aber wie sollte ich das thun? Ich nahm meine Bibel zur Hand und fand zu meinem Erstaunen, daß da der Weg klar und deutlich bezeichnet war.71
Im Anschluss an diesen Passus zitiert sie Lk 14,12–14, um so hervorzuheben, dass der Glaube in der diakonischen Zuwendung zu den Bedürftigen Ausdruck finden muss. Bereits während ihrer Zeit als Hofdame bei der deutschen Kaiserin Augusta (1811– 1890) begann Schimmelmann damit, auf der Ostsee-Insel Rügen ein Fischerheim zu gründen, das die von Verarmung bedrohten Fischer sozial unterstützte. Zum Angebot des Heims gehörten das gemeinsame Singen sowie Andachten, die die Gräfin für die Männer hielt.
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Adeline Gräfin SCHIMMELMANN, Streiflichter aus meinem Leben am deutschen Hofe, unter baltischen Fischern und Berliner Socialisten und im Gefängnis, einschließlich „Ein Daheim in der Fremde“ von Otto Funke (1898, Nachdruck hg. v. Jörg Ohlemacher; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2008). Das Werk erschien 1896 auf Englisch, die deutsche Ausgabe von 1898 stellt eine Übersetzung aus dem Englischen dar. Der hier verwendete Nachdruck gibt die erste deutsche Ausgabe wieder. Ruth ALBRECHT et al., Adeline Gräfin von Schimmelmann: Adlig – Fromm – Exzentrisch (Neumünster: Wachholtz, 2011); www.adelineschimmelmann.de (01.06.2013). SCHIMMELMANN, Streiflichter, 23. Siehe dazu den Beitrag von Elfriede Wiltschnigg in diesem Band. SCHIMMELMANN, Streiflichter, 34.
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Sowohl in ihrer missionarisch-sozialen Arbeit als auch bei ihren evangelistischen Vorträgen spielte die Bibel eine bedeutsame Rolle. Außer Traktaten verteilte sie Bibelausgaben an Fischer und Seeleute.72 Ihr Umgang mit der Bibel kann als unreflektiert und naiv bezeichnet werden. Ähnliches zeigt sich bei ihren theologischen Positionen und ihren Stellungnahmen zu konfessionellen Unterschieden. Mit folgenden Worten charakterisiert sie ihren Standort: Ich bin ein Glied der lutherischen Kirche, aber meine Stellung zu den Christen aller Konfessionen ist kurz ausgedrückt durch Paulus: „Gnade mit allen, die da lieb haben unsern Herrn Jesum Christum unverrückt.“73
Als kennzeichnend für ihre Ansprachen bei Evangelisationen kann gelten, dass die Gräfin zwar Bibelstellen als Motto wählte und im Zuge ihrer Darlegungen biblische Verse gerne einfließen ließ, diese aber nicht eigentlich auslegte. Sie verknüpfte die Texte assoziativ mit ihren eigenen Erfahrungen, die den Hauptinhalt ihrer Reden bildeten. Ihre HörerInnen bzw. LeserInnen forderte sie des Öfteren auf, selber die Bibel zur Hand zu nehmen, um so die von ihr umschriebenen Glaubenserlebnisse nachvollziehen zu können. 1901 hielt die Gräfin in Stuttgart an mehreren Abenden Evangelisationsvorträge. Der zweite Vortrag griff einige Verse aus 1 Kor 13 auf. Zu den vielen anderen Bibelstellen, die die Rednerin in ihre Ausführungen einflocht, gehört Jes 58. [...] ich bitte alle, die eine Bibel haben – (ich hoffe, daß alle Zuhörer eine haben, und diejenigen, die sie nicht haben, sich eine verschaffen) – das 58. Kapitel des Jesaja aufmerksam durchzulesen und darin zu sehen, was für einfache, klare, anscheinend kleine Befehle der Herr giebt und welch’ gewaltig große Verheißungen er daran knüpft.
Nach einigen wörtlichen Zitaten aus diesem Kapitel schließt die Evangelistin diesen Passus mit dem Satz: „[…] eine Verheißung ist schöner als die andere, und der Herr hält sie alle.“74 Mit einem Beispiel aus ihrer evangelistischen Arbeit in England verknüpft Schimmelmann Anweisungen an ihr Stuttgarter Publikum. Einem Hafenarbeiter namens Jack schenkte sie ein Neues Testament und forderte ihn auf, darin zu lesen und sich an Christus im Gebet zu wenden. Nach einiger Zeit kehrte der Mann zurück mit der Bemerkung: „Was ist denn dies für ein Buch, das Sie mir gegeben haben? Das ist alles zusammen bloß über Jack, was darin steht!“ Die ZuhörerInnen werden daraufhin direkt angesprochen: Nimm du vielleicht einmal die von dir verachtete Bibel hervor; suche heraus, was der Heiland selbst gesagt hat, und du wirst merken: Das ganze Buch redet von Jack; es redet persönlich von dir, wer du auch bist, und hier sind die Schätze der Wahrheit darin; hier ist das Himmelreich, das dir dann bald zeigen wird, daß du kein so feiner Mensch bist,
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SCHIMMELMANN, Streiflichter, 42. SCHIMMELMANN, Streiflichter, 119. Vgl. Eph 6,24. Adeline Gräfin SCHIMMELMANN, Sechs Vorträge. Oktober 1901. Als Manuskript gedruckt (Barmen: Selbstverlag, 1901), 18.
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wie du glaubst, sondern daß du ein armer Sünder bist, der den Heiland hat, der ihm seine Schuld bezahlt.75
Schimmelmanns Bibelauslegung bedient sich der Muster, die in der Erweckungs- und Heiligungsbewegung verbreitet waren. Eine möglichst unmittelbare Übertragung auf das eigene Leben gehörte zu den Deutungsmustern dieser Gruppen. 2.4 Cäcilie Petersen (1860–1935) 1904 gründete Petersen das Diakonissenmutterhaus Salem in Berlin-Lichtenrade, das 1960 nach Bad Gandersheim verlegt wurde und heute noch als Altenpflegeeinrichtung existiert.76 Sie bewegte sich in den Kreisen in Norddeutschland und Berlin, die der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung zugerechnet werden können.77 Vor der Gründung einer eigenen Gemeinschaft zog Petersen mit einer kleinen Gruppe von Schwestern vorübergehend nach Schlesien in das Schloss von Eduard Graf von Pückler (1853– 1924), einem der Mitbegründer der Gemeinschaftsbewegung und wichtigen Mentor des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM/WMCA).78 Petersen schreibt dem Grafen die Verantwortung dafür zu, dass sie sich nicht wörtlich an das Gebot der Bibel hielt, als Frau zu schweigen. Sie erläutert die Situation im Schloss des Grafen so: Da ihm der Dienst an den Menschenseelen der höchste und wichtigste war, fragte er mich, ob ich bereit sei, eine Andacht zu halten. Darauf konnte ich nicht sogleich eingehen, weil ich mich an das Wort hielt: Das Weib schweige in der Gemeinde, und dabei auf mich blickte. Da ich aber sah, daß es dem Grafen nicht gefiel, daß ich nicht einwilligte, ging ich auf mein Zimmer und redete mit Gott.79
Aus einem Spruchkasten, einer Sammlung mit Bibelsprüchen, zog sie nach dem Gebet einen Zettel und sah darin Gottes Antwort auf ihre direkt im Gebet an ihn gerichtete Frage. Der Bibelvers stammte aus Jer 1,7: „Du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen, was ich dich heiße.“ Daraus zog sie den Schluss: Solchem Gottesauftrag gab ich gerne nach und eilte zu dem Grafen, um ihm zu sagen, daß ich bereit sei zu sprechen. Gleich wurden für jeden Abend Versammlungen angesetzt und eine reiche Segenszeit begann. Die frohe Botschaft von dem Sünderheiland
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SCHIMMELMANN, Vorträge, 50. Johannes WEBER, Die dem Himmelreich Gewalt antun: Die Kraft des Glaubens und des Gebetes im Leben der Diakonissen-Oberin Cäcilie Petersen (Neumünster: Christophorus, 1936), 65–69; www.dmh-salem.de; www.lichtenrade-berlin.de/diakonissenhaus.html (01.06.2013). HOLTHAUS, Heil, 433f.502f; Wilhelm SCHNEIDER, Sie hat Gott vertraut: Cäcilie Petersen: Ein Beitrag zur Geschichte der Erweckungsbewegung (Metzingen: Brunnquell, 1974). OHLEMACHER, Reich Gottes, 43–48. SCHNEIDER, Petersen, 21; vgl. WEBER, Himmelreich, 37.
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wurde mit großer Freude aufgenommen, und ein Sehnen hub an nach Vergebung der Sünden und Hunderte fanden Frieden.
Hier wird ein Bibelvers durch den anderen überboten. Mithilfe der Konstruktion, dass Gott sozusagen in direktem Gespräch durch das Gebet und die zufällige Auswahl des Zettels eingreift, kann sich die Diakonisse, die nach ihrem Bibelverständnis nicht reden durfte, auf den göttlichen Auftrag einlassen. Nicht die Aufforderung des gleichgesinnten Grafen stellt die Legitimation dar, sondern die vox ipsissima, Gottes direkter Hinweis. Es geht hier nicht darum, 1 Kor 14,34 mit exegetischen Argumenten einzuschränken oder zeitweise außer Kraft zu setzen, sondern das Verbot bleibt grundsätzlich in Geltung. Der Urheber der Bibel, Gott selber, geht über seinen Text hinaus. Die Übertretung der biblischen Anordnung wird darüber hinaus auch noch dadurch legitimiert, dass viele durch diese Evangelisationsversammlungen, bei der Petersen die Ansprache hält, „zum lebendigen Glauben“ kamen, wie es in dieser Terminologie heißt.80 Hunderte geretteter Menschen, die sich dieser Form christlichen Glaubens anschließen, stellen einen höheren Wert dar als eine unbedingte Befolgung des Wortlautes, wie er im Korintherbrief niedergelegt ist. Einer der Biografen Petersens charakterisiert ihre Evangelisationsvorträge: Die Art der Frau Oberin, zu evangelisieren, war eine ganz eigene. Die Auslegung eines biblischen Textes, den sie gewählt hatte und vorlas, lag ihr nicht so sehr. Ihre Verkündigung hatte mehr Zeugnischarakter.81
1905 beteiligte sich Petersen auf Einladung von Pastor Ernst Modersohn an Evangelisationen in der Umgebung von Mülheim/Ruhr und hielt Predigten und Vorträge.82 Als kurze Zeit hernach in einem Kreis führender Männer und Frauen der Gemeinschaftsbewegung über das Für und Wider des Frauenredens in öffentlichen Versammlungen gesprochen wurde, äußerte Pastor Modersohn, die große Erweckung in Mülheim/Ruhr und Umgebung sei durch eine Frau eingeleitet worden, und Graf Pückler betonte gegenüber den Gegnern des Frauenredens, Cäcilie Petersen mache eine Ausnahme.83
Weder Graf Pückler noch Ernst Modersohn traten für eine theologische Debatte über die weitere Gültigkeit von 1 Kor 14,34 ein, sie gelten auch nicht als Befürworter weiblichen Predigens oder von Evangelistinnen generell. Die Tatsache, dass Erweckungen durch das Engagement von Frauen hervorgerufen wurden, galt mehr als die wörtliche Befolgung der paulinischen Anordnung. Kennzeichnend für die argumentative Bewältigung bzw. Nichtbewältigung dieser Interpretation ist, dass die Auseinandersetzung darüber eher im kleinen Kreis geführt wurde, um nicht Missverständnisse über die Gültigkeit der Bibel aufkommen zu lassen. Nur wenige männliche Theologen positionier80 81 82
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WEBER, Himmelreich, 37. WEBER, Himmelreich, 39; zu ihren Evangelisationsreisen: 38f. Zu Modersohn siehe HOLTHAUS, Heil, 567–569. In seiner Autobiografie geht Modersohn ausführlich auf diese Erweckung ein, erwähnt aber eine Beteiligung von Frauen als Rednerinnen nicht. Ernst MODERSOHN, Er führet mich auf rechter Straße (Stuttgart: J.G. Oncken, 5 1948), 158–169. SCHNEIDER, Petersen, 28.
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ten sich in diesem Milieu deutlich für die Berechtigung weiblicher Predigt und Missionsansprachen. Alle praktischen Arbeiten oder die Unterstützung von Männern, die predigten und missionierten, stellten keinerlei Schwierigkeiten dar. Nach den Erinnerungen der Schwestern ihrer Diakonissengemeinschaft hatte die Bibel einen festen Platz im Leben Petersens. Unsere Mutter war eine Bibelleserin. Immer wieder sah ich sie bei ihrem lieben Bibelbuch. [...] Wie oft strich sie mit liebender Hand über die offenen Seiten dieses Buches und freute sich, wenn Gott so ganz persönlich zu ihr gesprochen oder wenn er durch ein Wort die Bestätigung der Erhörung gegeben hatte.84
An dieser Beschreibung wird deutlich, wie die Bibellektüre sich mit der Frömmigkeit, die in der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung gepflegt wurde, verband. 2.5 Minna Popken (1866–1939) Während die in diesem Beitrag vorgestellten Frauen nicht wirklich hinreichend erforscht sind, gilt dies in besonderem Maß für Minna Popken.85 Interessant ist, dass die Schweizer Gemeinde Oberägeri, in der sie mehr als 20 Jahre lebte, ihr auf der Internetseite ein Porträt widmet. Hier wird unterstrichen, dass sie in einer armen katholischen Gegend „ein streng evangelisch ausgerichtetes Kurhaus mit fundamentalistischem Charakter“ gründete.86 Die aus Bremen stammende Popken begab sich ohne Unterstützung durch ihr Elternhaus auf die Suche nach einer religiösen Orientierung, die sie erst nach jahrelangem Suchen fand.87 Popkens Biografie zeigt an einigen Stellen Ähnlichkeiten mit den Protagonistinnen der Frauenrechts- und -bildungsbewegung, da sie zu den ersten gehörte, die ein Medizinstudium abschlossen.88 Sie entschied sich zwar, auf die Approbation zu verzichten, ihre ärztlichen Kenntnisse wandte sie aber dennoch an. Die Behandlungsmethoden in den von ihr geleiteten Einrichtungen orientierten sich an damals aktuellen Gesundheitskonzepten.89 Als eine der ganz wenigen aus dem Umfeld der Gemeinschafts- und Heilungsbewegung stand Popken der Psychoanalyse Sigmund Freuds positiv gegenüber und arbeitete einige Jahre lang mit analytischen Therapieformen.90 Eine Spannung 84 85
86 87 88 89 90
WEBER, Himmelreich, 73. Sie verfasste autobiografische Aufzeichnungen, die in zwei Bänden erschienen: Minna POPKEN, Im Kampf um die Welt des Lichts: Lebenserinnerungen und Bekenntnisse (Hamburg: Severus Verlag, Nachdruck 2010); DIES., Unter dem siegenden Licht: Lebenserinnerungen und Zeugnisse (Berlin: Furche, 41940). Die Biografie von Hans Bruns stellt Auszüge aus den autobiografischen Schriften dar: Hans BRUNS, Minna Popken: Eine Ärztin unter Christus (Gießen: Brunnen, 41967). Einträge über sie in theologischen Lexika fehlen. www.oberaegeri.ch; vgl. auch www.zentrum-laendli.ch/geschichte.shtml (26.06.2013). POPKEN, Kampf, 4–22. POPKEN, Kampf, 149. POPKEN, Kampf, 38–102.150f.178. POPKEN, Kampf, 129; DIES., Licht, 78–128.
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zu diesen Zügen der Persönlichkeit Popkens bildete ihre an der Mystik orientierte Frömmigkeit. Von Zeit zu Zeit begab sie sich mehrere Wochen lang in die Einsamkeit, um dort zu beten.91 Nach einer gescheiterten Ehe und dem Tod ihres Kindes ließ sich Popken südlich von Zürich im Kanton Zug in der Schweiz nieder und gründete zunächst im Dorf Oberägeri eine kleine christliche Kuranstalt unter dem Namen Rothaus, 1911 übernahm sie im selben Ort ein größeres Gebäude, genannt Ländli.92 Als sie sich 1925 zurückzog, führten Diakonissen mit ähnlicher Ausrichtung ihr Werk weiter. Entscheidende Impulse für Popkens Lebensausrichtung kamen von Samuel Zeller (1834–1912) aus Männedorf/Schweiz, Otto Stockmayer (1838–1917) aus Hauptwil/Schweiz sowie von Johannes Seitz (1839–1922) im thüringischen Teichwolframsdorf, die christliche Heilstätten im Sinn der Heiligungsbewegung leiteten.93 Popkens autobiografische Aufzeichnungen spiegeln ihre intensive Beschäftigung mit der Bibel, wörtliche Zitate und Assoziationen prägen ihren Schreibstil. Über ihre Arbeit schreibt sie: „Meine Hauptaufgabe bildete die ärztliche Kunst in Verbindung mit dem Dienst am Evangelium.“94 Nach den Erinnerungen Popkens bildeten die Worte eines Geistlichen aus Zürich den Anstoß dafür, dass sie begann, Morgenandachten zu halten. Im Gespräch mit diesem verwies sie auf 1 Kor 14,34 und erklärte, Wortverkündigung „sei doch Sache des Mannes“.95 Seine Entgegnung lautete: [...] eine gescheite Frau wie Sie, die schon so viel geistig gearbeitet hat, sollte nicht eine einfache Morgenandacht zustande bringen? [...] Na, Sie studierten ohne Bedenken Medizin und wollen jetzt solch engen Kreis um sich ziehen?96
In den folgenden Jahren hielt sie jeden Vormittag im Wechsel mit zwei Mitarbeiterinnen eine Bibelstunde „zur Vertiefung des inneren Lebens“. Da durften wir von ewigen Dingen etwas sagen, das nicht erdacht und erarbeitet, sondern uns von Gott geschenkt war. Dann wirkte das Leben selber unter uns, das einst vom Himmel kam, der Welt das ewige Licht zu bringen und Gottes Reich zu bauen auf dieser dunklen Erde.97
Die ärztliche Behandlung trat zunehmend in den Hintergrund, der Verkündigung des Wortes Gottes räumte Popken die größere Bedeutung ein.98 Ihre Einrichtungen zählte
91 92 93 94 95 96 97 98
POPKEN, Kampf, 47f.49–52.54–59. In diesen Phasen beschäftigte sie sich intensiv mit den Schriften der französischen Mystikerin Jeanne-Marie Guyon (1648–1717): 117f.133. POPKEN, Kampf, 141–202. In beiden Einrichtungen wurden nur Frauen zur Behandlung aufgenommen, Männer konnten als Gäste am Leben der Hausgemeinschaft teilnehmen: 167. Popken, Kampf, 175f.; vgl. HOLTHAUS, Heil, 336–341.368–371. Stockmayer spielte auch für Krusenstjerna eine Rolle: KRUSENSTJERNA, Kreuz, 188. POPKEN, Licht, 17. POPKEN, Kampf, 171. POPKEN, Kampf, 171. POPKEN, Licht, 19. POPKEN, Licht, 24f.42.
Ruth Albrecht
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sie zu den „Glaubenshäusern, in denen Wortverkündigung die Hauptaufgabe ist“.99 Die tägliche Bibellektüre mit Auslegung betrachtete Popken als ein Element in ihrem ganzheitlichen Heilungsansatz: „Gottes Wort bildete ein gesundes Gegengewicht gegen das straffe Kurleben und gegen das Beschäftigtsein unserer Gäste mit ihrer Leiblichkeit.“100 Durch die Lektüre der neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferung aus Mk 14,22– 24 erwachte in Popken der Wunsch, mit ihrer Hausgemeinde das Abendmahl zu feiern. „Wir taten es nicht, weil mir der Mut fehlte, mich von der kirchlichen Ordnung so weit zu entfernen. Es wäre mir auch anmaßend erschienen, als Frau so etwas einzurichten.“101 Erst als ein Ältester der Methodisten in Zürich nach Aegeri zog und sich in Absprache mit seiner Gemeinde bereit erklärte, diese Feiern zu leiten, fanden Abendmahlsgottesdienste im kleinen Kreis der MitarbeiterInnen statt. Popken zeigte sich offen für den Austausch zwischen kirchlichen und freikirchlichen Gemeinden, MethodistInnen und die Heilsarmee bezog sie dabei ausdrücklich mit ein. Sie selbst hielt Bibelstunden bei etlichen Gemeinschaften, die für sie alle zur unsichtbaren Kirche gehörten.102 Sie hatte anscheinend keine Bedenken, vor einer aus Frauen und Männern bestehenden Versammlung zu sprechen. Bei einem ihrer Aufenthalte in Teichwolframsdorf hielt sie zwei Bibelstunden, eine über Kain und Abel (Gen 4,1–16), die andere über die Sünderin aus Lk 7,36–50. Popken hatte Mt 3,5f. und Joh 1,34–36 auf die Lukasperikope bezogen und gefolgert, dass die namenlose Frau, die Jesus salbte, die Bußpredigten Johannes des Täufers gehört habe. „War jenes Weib nicht vielleicht auch dabei gewesen?“103 Seitz maßregelte sie: Wo steht das denn geschrieben, was Sie da gesagt haben von der Vorgeschichte dieser auffallenden Handlung des Weibes. [...] phantasiert haben Sie! Und das machen die Frauen so gern. Meine Frau hat’s anfangs auch getan und war doch eine gesegnete Evangelistin! Aber ich hab ihr nichts hingehen lassen. Da gab’s oft Tränen, bis sie gelernt hat, sich streng an den Wortlaut der Bibel zu halten.104
Popken unterwirft sich der von Seitz reklamierten Geschlechterhierarchie, die sie fraglos anerkennt. Der von ihr hochgeschätzte Theologe assoziiert weibliche Bibelauslegung mit Phantasie, für sich reklamiert er, sich an den Wortlaut der Bibel zu halten. Gleichzeitig bezeichnet er seine Ehefrau Luise Seitz, geb. Soht (1863–1919), als „gesegnete Evangelistin“ – ein hohes Lob im Rahmen dieser Bewegungen. Für Seitz und Popken stellen historisch-exegetische Erkenntnisse keinen Maßstab dar, an dem sie sich messen. Es soll allein um die Auslegung des biblischen Textes gehen; dass dieser mehrdeutig sein kann und von daher interpretationsbedürftig ist, kommt im Denkhorizont dieser beiden VertreterInnen der Heiligungsbewegung nicht vor. Zur Vorbereitung der Andachten und Bibelstunden benutzte Popken, wie sie ausdrücklich betont, 99 100 101 102 103 104
POPKEN, Licht, 129. POPKEN, Licht, 42. POPKEN, Licht, 63. POPKEN, Licht, 67. POPKEN, Licht, 73. POPKEN, Licht, 73f.
Das Weib schweige?
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keine exegetischen Kommentare – einzig die Berleburger Bibel zog sie gelegentlich heran. Diese Bibelausgabe des 18. Jahrhunderts verweist auf die Verwurzelung der Erweckungsbewegungen im frühneuzeitlichen Pietismus.105 Die vermeintlich ausschließliche Orientierung an der Bibel erläutert Popken folgendermaßen: Theologische Schriften las ich nur selten, dazu fehlte es mir an Zeit und Kraft. Auch hatte ich wenig Gelegenheit, evangelische Predigten und Vorträge zu hören, da wir in einer katholischen Gegend wohnten. So blieb die Bibel allein meine Lehrmeisterin. Durch sie gewann ich eine grundlegende Kenntnis der menschlichen Seele und jene große alles umfassende Weltschau, die jeden beglückt, der sie angenommen hat.106
Popkens Einbindung in den Kontext der internationalen Heiligungsbewegung und deren Genderkonzept wird an einer Szene deutlich, die sie in ihrer Autobiografie festhält. In ihrer Gegenwart diskutieren zwei Männer über das „Frauenreden in der Gemeinde“. Der Missionar, den Popken als gläubigen Mann bezeichnet, beendet das Gespräch mit folgendem Satz: „Ich bin dagegen, daß Frauen reden; ich bin auch dagegen, daß Männer reden. Aber ich bin dafür, daß der Heilige Geist rede.“107 Dieser Kommentar deutet die Überwindung der Genderbegrenzungen an, die in der christlichen Tradition mit Gal 3,28 verbunden wurde.
3. Resümee: Und das Weib redet doch! Unter diesem Titel lud Gräfin Schimmelmann im Herbst 1896 zu einem Vortrag in Rostock ein. Ihre ersten Evangelisationsversammlungen in der Hansestadt wurden begleitet von heftigen Kontroversen mit einem der dortigen lutherischen Pastoren. Ludwig Heinrich Hunzinger (1842–1900) hielt ihr das klassische Ensemble konservativer exegetischer und theologischer Argumente entgegen, wonach eine Frau nicht zum öffentlichen Reden über die Bibel befugt sei – weder in einer Kirche noch in einer Gaststätte. Der Geistliche sprach der Evangelistin das Recht ab, sich weiterhin eine lutherische Christin nennen zu dürfen, da sie von der Bekenntnisgrundlage dieser Kirche offen abweiche.108 Dass Schimmelmann sich davon nicht beirren ließ, zeigt ihre herausfordernde Überschrift, die sie ihrer Ansprache gab. Nur wenige Frauen der Zeit um 1900, die sich im Rahmen der neuen Frömmigkeitsbewegungen engagierten, traten so offen wie die Gräfin dafür ein, dass nicht nur Männer zur Verkündigung des Evangeliums berufen seien, sondern beide Geschlechter gleichermaßen. Sowohl die hier porträtierten Vertreterinnen dieser Gruppen als auch 105
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Zur Berleburger Bibel siehe Ruth ALBRECHT, „‚We kiss our Dearest Redeemer through Inward Prayer‘: Mystical Traditions in Pietism“, in The Wiley-Blackwell Companion to Christian Mysticism (hg. v. Julia A. Lamm; Malden/MA: Wiley Blackwell, 2013), 473–488; 484. Schriften der bereits erwähnten Guyon flossen in die Kommentare dieser Bibelausgabe ein. POPKEN, Licht, 86. POPKEN, Kampf, 172. ALBRECHT et al., Schimmelmann, 204–206.325–330.
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die vielen Ungenannten (und noch Unerforschten), die in ähnlicher Weise tätig wurden, trugen zu einer Veränderung der Bibelinterpretation bei. Auch wenn sie darauf beharrten, dem göttlichen Wort Folge zu leisten und nicht im Geringsten von dessen ewig gültigen Anordnungen abzuweichen, so partizipierten sie an zu ihrer Zeit modernen Genderparadigmen, ohne dies zu wollen oder auch wahrzunehmen. Während in den Kirchen der reformatorischen Tradition bedingt durch die relativ starre Ämterstruktur Frauen und männliche Laien sich in weitaus geringerem Maß aktiv einbringen konnten, zeichneten sich vor allem in den Bewegungen, die unter angloamerikanischem Einfluss entstanden, neue Gendermodelle ab. Diese beeinflussten auf unterschiedlichen Wegen die Auslegung der biblischen Texte.
Eine Schweizer Vorkämpferin für Frauenrechte: Bibelrezeption bei Helene von Mülinen Doris Brodbeck Schaffhausen Die Bibel war für die Berner Patriziertochter Helene von Mülinen (1850–1924) in doppelter Weise wichtig: Sie verlieh ihr Sprache – sowohl zum Klagen gegen kirchliche und gesellschaftliche Traditionen als auch zum Formulieren neuer Visionen. Anhand biblischer Texte drückte sie ihre Zweifel an für sie lebensfeindlich gewordenen Interpretationen der Bibel aus. In der Bibel fand sie aber auch Ansätze zur Stärkung der Frauenemanzipation und der Sozialpolitik, die sie als Präsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine (BSF)1 verfolgte. Damit würde man sie heute als Befreiungstheologin bezeichnen können. Der vorliegende Beitrag soll zeigen, wie sie zu dieser Lesart der Bibel gelangte.2 Sich auf die Bibel zu beziehen, war in protestantischen Kreisen üblich – nicht nur unter Theologen, sondern auch im alltäglichen Gebrauch, wie Schilderungen aus Helene von Mülinens Briefen belegen. Sie erzählte beispielsweise von Unterhaltungen mit Freundinnen, die ihr mit Bibelzitaten Vorhaltungen machten, sie müsse ihr Schicksal demütiger ertragen. So verwundert es nicht, wenn sie auch selbst – auf ihre Weise – die Bibel heranzog. Auffällig ist aber, dass sie die Bibel konsequent in emanzipatorischer Weise aufgriff. Gar nicht selbstverständlich ist hingegen, dass viele ihrer öffentlich gehaltenen Reden als Druckschriften erschienen und im Archiv der Gosteli-Stiftung in Worblaufen bei Bern, im Sozialarchiv Zürich und in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern auffindbar sind. Selbst ihre Privatbriefe sind im Original in der Burgerbibliothek Bern im Familienarchiv von Mülinen greifbar und bilden eine wertvolle Ergänzung zu den Druckschriften.3 Es bedurfte des Interesses mehrerer Mitstreiterinnen im BSF, damit die Privatbriefe gesammelt und rund dreißig Jahre später dem Familienarchiv übergeben wurden. Im Zuge der neuen Frauenbewegung entdeckte die Schweizer Historikerin Susanna Woodtli die Briefe als historische Quelle und nutzte sie für ihr Werk Gleichberechti1
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Heute alliance F, gegründet 1900 von Helene von Mülinen als erster Präsidentin. Sie verblieb bis 1920 im Vorstand und in dessen Kommissionen. Ziel des BSF war die politische Sensibilisierung der Frauenvereine und die Einflussnahme auf die schweizerische Gesetzgebung. Zeitweise nahmen auch Arbeiterinnenvereine und katholische Frauenvereine an ihm teil. Silke REDOLFI, Frauen bauen Staat: 100 Jahre Bund Schweizerischer Frauenorganisationen (Zürich: NZZ, 2000). Vgl. dazu die publizierte Dissertation: Doris BRODBECK, Hunger nach Gerechtigkeit: Helene von Mülinen (1850–1924) – eine Wegbereiterin der Frauenemanzipation (Zürich: Chronos, 2000). Vgl. www.gosteli-foundation.ch; www.sozialarchiv.ch; www.snl.ch; www.burgerbib.ch (14.08.2012).
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gung, das 1975 erstmals erschien.4 Die biblischen Bezüge darin wurden jedoch noch nie genauer untersucht.
1. Mit der Bibel klagen und zweifeln Klagen und Glaubenszweifel standen für Helene von Mülinen lange Zeit an erster Stelle. Als Patriziertochter war sie zu beruflicher Untätigkeit gezwungen und durfte theologische Vorlesungen an der Universität Bern nur als Hörerin besuchen. Zwar hatte die Mutter die Schulbildung der Töchter gefördert – der Hauslehrer war ein Theologiestudent, der mit den Mädchen den Römerbrief las –, aber eine Berufstätigkeit oder das in Bern zugelassene Frauenstudium hielt sie für ihre Töchter nicht für standesgemäß. Durch die fehlende Lebensperspektive geriet die intellektuell Hochbegabte schließlich um ihr vierzigstes Lebensjahr in eine tiefe seelische Not, die mit einer schweren gesundheitlichen Krise einherging. Um das auszudrücken, was ihr geschah, griff sie auf biblische Sprachformen zurück. Helene von Mülinens Briefe richteten sich während ihrer Krankheitsjahre an den Theologen Adolf Schlatter (1852–1938) und seine Gattin Susanna Schlatter-Schoop (1860–1907).5 Sie hatte sich mit dem jungen Privatdozenten in Bern befreundet und blieb auch dann noch in Briefkontakt mit ihm, als er 1888 mit seiner Familie nach Deutschland wegzog, um dort zunächst in Greifswald, dann in Berlin und schließlich in Tübingen zu lehren. Helene von Mülinen klagte ihm, dass sie an Gott irre werde. Ihre Sprache ist dabei geprägt von biblischen Vorstellungen, ohne dass sie ausdrücklich die Bibel zitiert: Was aus diesem zerrütteten Leben ferner werden soll, weiß ich nicht. Warum es geschaffen wurde ist mir noch dunkler, noch unfassbarer. Ich wollte das Wahre und Rechte, ich suchte Gott, aber ich habe nur das Eine gefunden: dass Er ein verborgener Gott ist [Jes 45,15]. Alles Streben, Ringen, Suchen und Sehnen war umsonst, umsonst und Tag und Nacht klingt das eine Wort unaufhörlich in mir wieder: Tekel, tekel [Dan 5,27].6
Helene von Mülinen suchte wohl kaum bewusst nach passenden Bibelzitaten. Vielmehr scheint sie mit der Bibel so vertraut gewesen zu sein, dass sich ihr im Ringen um Sprache biblische Vorstellungen aufdrängten. In einem Brief, den sie an Susanna Schlatter richtete, wird deutlich, dass ihre Gottesbeziehung an den herrschenden sozialen Rollenvorstellungen zerbrochen war. Die frommen Erklärungen ihrer Umgebung halfen ihr nicht weiter. Sie würde sich gerne von Gott abwenden, wenn es ihr gelänge.
4 5 6
Susanna WOODTLI, Gleichberechtigung: Der Kampf um die politischen Rechte der Frau in der Schweiz (Zürich: Huber, 21983). Vgl. Werner NEUER, Adolf Schlatter: Ein Leben für Theologie und Kirche (Stuttgart: Calwer, 1996). Burgerbibliothek Bern (BBB), Ms Mül 644, Helene von Mülinen an Adolf Schlatter, 12.09.1888, 2. Bl.
Bibelrezeption bei Helene von Mülinen
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Ich bin an der intellektuellen Sehnsucht zu Grunde gegangen. Ich sollte eine ganz gewöhnliche Frau sein und ich konnte es nicht. Die Mittel hat man mir entziehn können die ich zur Entwicklung bedurfte, man konnte mich verkrüppeln, mich mit allen Ansprüchen belasten die an ein weiblich Wesen, eine ältere Schwester und Mitglied einer großen Familie gestellt werden, aber die Sehnsucht nach dem Geistleben konnte man nicht ausrotten und zu einem nützlichen Küchenkraut konnte man mich nicht machen. Was für Zwecke Gott gehabt indem Er mir diese Geistseele gab und mich doch in die Vorurteile daheim einkerkert, werde ich freilich nie verstehn und das glauben dass es Güte war, gehört zum schwersten des Lebens. Ist Vernichtung Güte? Ja wenn das Bewusstsein vernichtet würde, dann freilich könnte ich mich freuen auf die Zukunft. Dass es leichter sein soll aus eines gütigen Vaters Hand Leiden anzunehmen, als aus des Zufalls Hand, gehört für mich zu den absoluten Räthseln. Wenn die Frommen so reden als begriffen sie nicht wie man ohne Gottesglauben die Leiden dieser Zeit, den Tod und das Grab, ertragen könne, so klingt mir das unfassbar. Das ist ja das Schwere glauben zu sollen dass Leid Freude, dass Sterben Leben, dass Tod Auferstehen sei. Wie machen sie’s nur um, aller Evidenz zum Trotz, am Glauben dass es „gut sei“ festzuhalten?7
Zu ihrer Auflehnung gegen die herkömmliche Frauenrolle gesellten sich schwere, chronische Schmerzen, die sie so quälten, dass sie sich an die Kreuzigungsperikopen erinnert wusste. Doch der in einer Jenseitshoffnung gesuchte Trost blieb aus. Die Bibel wies sie zurück aufs Diesseits. Wie voll, tief und persönlich schlagen die Evangelien den Leidens- und Schmerzenton in Jesu Worten an, wie greift uns Seine Angst an’s Herz, – und nachher, – nach der Auferstehung, wie nebelhaft, unklar, ungreifbar ist Seine Gestalt, – nicht ein einziges helles, jubelndes Aufleuchten, kein Ton von persönlicher Auferstehungsfreude, kein Wort an das man sich halten könnte dass Er das Leben, das neue Leben, genoss, frohlockend genoss. Alles feierlich, verschwommen und fortwährend heißt es da in mir: die Schmerzenslaute allein sind Wahrheit, – im Leben hier, im Leben dort.8
Erleichterung verschaffte ihr die Erkennung eines Unterleibtumors, der ihr Berechtigung zum Kranksein gab. Außerdem genoss sie die liebevolle Pflege der Berner Diakonissen. So verstand sie den chirurgischen Notfall als Eingreifen Gottes, der sie mit ihm versöhnte. Dies wiederum verstanden ihre Bekannten nicht, die ihr jetzt Berechtigung zu klagen zugestanden hätten. So half ihr die Besinnung auf Elija und Ijob, die unter dem Eindruck der Gottferne erkannten, dass sich ihnen Gott auf ganz neue Weise zeigte. Verehrter Herr Professor, Sie wissen, ohne dass ich viel Worte darüber mache, dass Ihr letzter Brief eine große Erquickung für mich gewesen ist. Während alle Andern damals meinten jetzt wäre es an der Zeit zu jammern und zu klagen, – vorher nicht, – hatten Sie verstanden dass ich die Morgenröthe gesehn, dass es stille geworden nach dem Sturm denn der Herr redete endlich [1 Kön 19,11–13]. Was that es nach all dem bittern von Ihm Verlassensein dass Er im Wetter sprach? [Ijob 38,1] War es nicht vollgenügend dass Er Sein Angesicht wieder auf mich erhob [Num 6,26] und sich meiner erinnerte? Und es 7 8
BBB, Helene von Mülinen an Susanna Schlatter, 12.08.1888, 1.–2. Bl. BBB, Helene von Mülinen an Adolf Schlatter, 5./7.01.1889, 2. Bl.
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Doris Brodbeck war nicht ein hartes, verdammendes Urtheil das Er fällte, sondern Er kam mit Rechtfertigung und Erbarmen. Mit Rechtfertigung – denn es stellte sich heraus dass die physische Störung derart war dass sie notgedrungen eine direkte psychische Störung zur Folge hatte. Mit Erbarmen, – denn der jahrelange Druck, die Bitterkeit und der Hass waren mit einemmal von mir genommen und statt dessen leuchtete mir Gottes Güte. So groß, so gnadenvoll stand Er da dass selbst all meine Sünde verschwand. Wie konnte sie in Betracht kommen wo Er war? Er hatte Recht behalten, aber nicht so wie die andern Menschen sagten und mich damit von Sinnen quälten, sondern so dass ich Ihm vertrauen konnte, dass das Verhältnis zu Ihm hell würde.9
Diese Wende ließ Helene von Mülinen zum Glauben zurückkehren. Sie war nun vorbereitet, vom Glauben Neues zu erwarten, und dadurch aufnahmefähig für die Begegnung mit der internationalen, christlich geprägten Frauenbewegung, von der ihr ihre Freundin Emma Pieczýnska-Reichenbach (1854–1927) erzählte. Die angehende Ärztin hatte in Genf und Boston eine christlich motivierte, sozialreformerisch ausgerichtete Frauenbewegung kennengelernt und sich für eine mystische Glaubensauffassung erwärmt. Helene von Mülinen war nun angestoßen, ihr eigenes Interesse an sozialen Reformen und an den frauenemanzipatorischen Ansätzen, die sie beim liberalen englischen Denker John Stuart Mill (1806–1873) gefunden hatte, mit dem christlichen Glauben zu vereinen. Diesen Schritt aus ihrem Leiden an der Gesellschaft hin zu einem frauenemanzipatorischen Engagement konnte das Ehepaar Schlatter nicht nachvollziehen. Helene von Mülinen vermied infolgedessen dieses Thema. Als sie beiden dennoch 1898 die Broschüre ihres ersten öffentlichen Referats zusandte, das sich für berufliche Ausbildung von Frauen und deren Mitarbeit in Behörden aussprach, kam ihr erneut Unverständnis entgegen. Sie antwortete darauf in einem Brief an Susanna Schlatter mit einer grundsätzlichen Kritik an Theologie und Kirche: Und an seinem [Adolf Schlatters] Beispiel erkenne ich tief ergriffen warum die Kirche fehl gegangen ist und es nicht verstanden hat der Welt den Heiland zu bringen. In hohen, herrlichen Spekulationen hat sie sich ergangen, hat geschöpft aus Gottes Brunnen [Joh 4,5–14] Weisheit und Verstand, hat geredet herrliche Worte vom Glauben und der Gnade, – aber den Schrei der Not und Verzweiflung Derer die da umkommen, den Hungerruf nach dem Brot der Gerechtigkeit [Mt 5,6] für Alle, hat sie nicht gehört, nicht beachtet und ist vorüber gegangen [Lk 10,31f.]. Drum hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt und wird abgethan werden. Ja, tief erschüttert, bis in’s Innerste ergriffen, hat mich Ihr Brief und weil ich Sie Beide lieb habe, kann ich es nicht verschweigen, koste es mich auch was es wolle.10
Nach dem Gottesbild zerbrach ihr auch das Bild von Theologie und Kirche. Ihr hatte der Theologiedozent viel bedeutet: Er vermochte in ihren Augen das Lebenswasser zu reichen, von dem Jesus gegenüber der Samaritanerin am Brunnen gesprochen hatte. Nun stellte sie fest, dass es ihm an der Sensibilität für die schwierige Situation der Frauen fehlte, obschon sich Schlatter durchaus sozial einsetzte. Sie spielte auf die Se9 10
BBB, Helene von Mülinen an Adolf Schlatter, 24.09.1890. BBB, Helene von Mülinen an Susanna Schlatter, 18.03.1898, 2. Bl.
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ligpreisungen an, wenn sie vom ungehörten Hungerruf nach dem Brot der Gerechtigkeit sprach, und auf den Priester und den Leviten im Gleichnis des barmherzigen Samariters, die am Notleidenden achtlos vorüber gingen. Helene von Mülinen hatte die Situation der Arbeiterinnen vor Augen, die unter dem Alkoholismus ihrer Ehemänner und unter der allgemeinen sozialen Not litten und sich nicht wehren konnten. Der Theologe betrachtete jedoch die Situation der Frauen unter idealtypischen Voraussetzungen und erkannte das offensichtliche Unrecht nicht. Er widersprach auch dem Theologen Martin von Nathusius (1843–1906) nicht, der beim Kirchlich-sozialen Kongress 1900 in Berlin die Frauenemanzipation als Aufmüpfigkeit abtat, was Helene von Mülinen zutiefst verletzte. War Adolf Schlatter auch ihr biblisch-theologischer Lehrer, so trat sie doch aufgrund ihrer Erfahrungen von sozialer Benachteiligung mit anderen Voraussetzungen an die Bibel heran.
2. Frauenemanzipation von der Bibel her deuten Mit der Einführung der Demokratie in der Schweiz – 1848 wurde die neue Bundesverfassung angenommen – kam eine neue Führungsschicht an die Macht. Sie sollte die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Industrialisierung und der wachsenden städtischen Bevölkerung meistern und neue gesamtschweizerische Gesetzeswerke schaffen. Die bisherige Elite hatte an Einfluss verloren, was auch Helene von Mülinens Vater spürte, der zwar in demokratischer Gesinnung mit linksliberalen Bauern sympathisiert hatte, doch sich schließlich auf historische Studien zurückziehen musste. Obschon die demokratische Bewegung zunächst auch die Frauenrechte umschloss, siegte in der Schweiz ein Demokratiemodell, das zwar dem (männlichen) Volk viel Mitsprache erlaubte, Frauen aber nur über soziale Vereinstätigkeit daran beteiligte. Im BSF sammelte Helene von Mülinen diese sozial engagierten Frauen, um mit ihnen zusammen auf die neu entstehende Gesetzgebung Einfluss zu nehmen. Die Frauen hatten festgestellt, dass die Umstände in sozial schwächeren Schichten ein besonderes Augenmerk verlangten, das den bürgerlichen Politikern fehlte. Biblische Argumente griff sie nur bei kirchennahem Publikum auf, wie den protestantischen Frauenvereinen zur Hebung der Sittlichkeit (heute: Evangelische Frauenhilfe) oder den Religiös-Sozialen11, die nach ihrer Gründung 1907 die Berner Christlich-soziale Gesellschaft ablösten. Ihr erster öffentlicher Vortrag 1896 vor der Christlich-sozialen Gesellschaft des Kantons Bern über Die Stellung der Frau zur socialen Aufgabe stützte das Anliegen, Frauen zu Berufstätigkeit und Behördenarbeit zuzulassen. Unter den Beispielen führender Frauen verwies sie auch auf die biblische Richterin Debora (Ri 4–5).
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Die Religiös-soziale Bewegung formierte sich ab 1906 um die evangelischen Schweizer Theologen Hermann Kutter (1863–1931) und Leonhard Ragaz (1868–1945). Der Begriff war eine Selbstbezeichnung, um sich gegen nicht-religiöse SozialistInnen und antisozialistische ChristInnen abzugrenzen.
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Ich halte überdies dafür, die Gefahr, dass wir unsere Natur verleugnen könnten, sei so gross nicht, wie furchtsame Seelen glauben oder wie einzelne, durch schweren Druck revolutionär gewordene Frauen, sie als Gespenst heraufzubeschwören scheinen. […] Als Deborah Israel richtete und die Stämme des Volks zum Kampf ins Feld führte, da that sie Männerarbeit und schien ihre Frauennatur abgelegt zu haben. Doch als sie ihr Lied sang, das wunderbare Triumpflied der Prophetin, da finden wir diese ihre Frauennatur in jedem Worte wieder, finden sie wieder in der eingehenden Schilderung des Verhaltens der einzelnen Stämme […], im Detailzeichnen der feinen Züge des Schlachtenbildes, finden sie vor allem wieder im mitleidvollen Gedenken der Mutter Siseras […]. Wer anders als eine Frau konnte so empfinden, konnte bei aller Begeisterung im Triumphe noch schmerzvoll mitfühlen […] Nur ein Mutterherz konnte sich den Jammer der Mutter des toten Feindes also vor Augen stellen. Und doch richtete Deborah Israel und doch zogen die Stämme hinauf zu ihrem Sitz, um Gesetz und Recht von ihr entgegenzunehmen.12
Am Beispiel Deboras konnte sie entfalten, dass auch richterliche Betätigung die Frau nicht verderbe: Trotz beruflicher Tätigkeit blieben die weiblichen Qualitäten erhalten. In bürgerlichen Kreisen kursierte jedoch die Furcht vor Studentinnen und militanten Frauenrechtlerinnen. Auch sie durfte aus solchen Gründen nicht studieren, denn ihre Mutter hielt es für unschicklich. 2.1 Das Ebenbild Gottes entfalten Zu einem ausgesprochen biblischen Vortrag bot sich 1903 in Genf Gelegenheit. Helene von Mülinens Referat Die Frau und das Evangelium (La femme et l’Évangile) wurde nur in Französisch gedruckt, ist aber in Deutsch als Manuskript erhalten geblieben.13 Sie knüpfte an den biblischen Gedanken des Menschen als Ebenbild Gottes an (Gen 1,27), das zu entfalten nach damaligem Verständnis eine wichtige Aufgabe der Theologie war. Helene von Mülinen bezog diese Aufgabe auf das weibliche Geschlecht und las unter dieser Fragestellung die Bibel neu. Was ist diese Lehre, die uns in Stand setzt, seinen Willen zu erfüllen, die vollkommene Frau zu werden, die nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde und wächst im Glauben an seine Offenbarung [?]14
Das Wort „vollkommen“ (Mt 5,48) mag aus heutiger Sicht nicht sofort verständlich sein. Helene von Mülinen hatte dabei die diesseitige Realisierung von Gottes Reich im 12
13
14
Helene von MÜLINEN, Die Stellung der Frau zur socialen Aufgabe: Vortrag gehalten im Schoße der christlich-socialen Gesellschaft des Kantons Bern (Bern: Schmid & Francke, 1897), 13–15. Helene von MÜLINEN, La femme et l’Évangile: Conférence donnée à Genève au Séminaire d’activité chrétienne le 19 novembre 1903 (Paris: Librairie Robert, 1904); deutschsprachiges Original: BBB, Ms Mül 644a, Die Frau und das Evangelium, Maschinenschrift, 1903; Auszüge in: Doris BRODBECK, Hg., Unerhörte Worte: Religiöse Gesellschaftskritik von Frauen im 20. Jahrhundert: Ein Reader (gender wissen 5; Bern: eFeF, 2003), 23–26. MÜLINEN, Die Frau und das Evangelium, 1.
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Blick, während sie „vollendet“ auf die Eschatologie bezog. Sie zeigte in ihrem Vortrag auf, wie Jesus zum Dienst am Reich Gottes aufrief und dabei keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern machte. Stellen wir uns Gott zur Verfügung mit allen unsern Kräften, um die Stadt auf dem Berge zu werden, das Salz, das belebt, das Licht auf dem Leuchter, [Mt 5,13–16] damit endlich die Frau werde, wie Gott sie haben wollte und haben will, die Frau, die durch ihre Weisheit des Geistes und ihre Seelengröße das sehen lasse, was all unsere Schmerzen, all unsere Demütigung ersehnt, das was Jesus nannte das Reich Gottes.15
Weiter hob sie Jesu Wort hervor, dass Mann und Frau vom selben Gebein seien (Mk 10,8). Jesus habe die Ehebrecherin nicht mehr verurteilt als den Ehebrecher, den man entkommen ließ (Joh 8,1–11). Bei ihm gebe es keine Sonderregeln für die Frau wie bei Paulus. Dessen Wort „Das Weib schweige in der Gemeinde“ (1 Kor 14,34) wusste sie vor dem Hintergrund der Urchristentumsforschung von Adolf von Harnack (1851–1930) in seinem Anspruch zu relativieren. Einer der grössten Theologen der Gegenwart, Professor Harnack von der Berliner Universität hat eine Hypothese aufgestellt, die auf den ersten Anblick merkwürdig scheint. In der Revue des Neuen Testamentes und des primitiven Christentums sucht Harnack nachzuweisen, dass der Hebräerbrief von Priscilla geschrieben wurde […] Diese Argumente sind natürlich nur „Wahrscheinlichkeiten“ und man wird wahrscheinlich nie mit Gewissheit beweisen können, wer den Hebräerbrief geschrieben hat. Aber es ist ein Zeichen der Zeit, dass ein Theologe und deutscher Gelehrter „vermuten“ kann, eine Frau sei die Verfasserin einer der kanonischen Schriften gewesen. Man wäre fast versucht zu lächeln, wenn man bedenkt, dass die Kirche 2000 Jahre lang das Schweigen in der Gemeinde von der Frau forderte und während dieser Zeit von ihr gelehrt wurde.16
In Helene von Mülinens Darstellung des frühen Christentums spiegelt sich eine Einsicht, die sie bei Adolf von Harnack als auch seinem Schüler Leopold Zscharnack (1877–1955) finden konnte. Mit nahezu wörtlichen Übereinstimmungen zu Zscharnack schildert sie, dass sich das Christentum vor allem über Frauenkreise verbreitet habe, die sich dem Judentum zuwandten, und dass die Frauen erst später durch die kirchliche Hierarchie und das Mönchtum zurückgedrängt wurden. Frauen seien auch für Paulus unentbehrliche Missionarinnen gewesen, weil sie zu den Frauengemächern Zutritt hatten und dort die Gedanken des Christentums bekannt machen konnten.17 Zscharnack nahm in seinem Vorwort ausdrücklich auf das aktuelle Interesse der Frauenbewegung Bezug. Doch weder bei ihm noch bei Harnack findet sich eine theologische Interpretation zur Stellung der Frauen im Urchristentum, wie sie Helene von Mülinen in ihrem Referat in Genf entwirft. Zscharnack distanziert sich sogar ausdrücklich von jeglichem dogmatischen Interesse. Anregen möchte seine Darstellung dennoch, „zu erwägen, in 15 16 17
MÜLINEN, Die Frau und das Evangelium, 15. MÜLINEN, Die Frau und das Evangelium, 9. MÜLINEN, Die Frau und das Evangelium, 7; Leopold ZSCHARNACK, Der Dienst der Frau in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1902), 20.
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wie weit das Gute der Vergangenheit neu erworben werden kann für die Zukunft“. Dieses Anliegen hat Helene von Mülinen aufgegriffen. Der Blick zurück ins frühe Christentum bestärkte sie, auch für die Gegenwart eine aktivere Beteiligung von Frauen in der Kirche zu erwarten. Dabei berief sie sich auf die Verkündigung Jesu, die wie ein Samen Früchte getragen hat und dann viele Jahre lang erstickt worden sei. 2.2 Kirchliche Partizipation Als die Evangelische Kirchenkonferenz, der lockere Zusammenschluss der Evangelischen Kirchen der Schweiz, 1904 das kirchliche Frauenstimmrecht auf die Tagesordnung setzte, reichte Helene von Mülinen im Namen des BSF eine Petition ein und forderte die Beteiligung von Frauen am kirchlichen Dienst – ohne direkt das Frauenpfarramt zu verlangen. Die Kirche sollte jedoch den Frauen Freiraum geben, ihre Fähigkeiten zu entfalten: Wir glauben nicht, dass der Gott, der sich durch den Mund seines Apostels einen Gott der Freiheit nannte [2 Kor 3,17], den Stillstand im Wachstum seiner Kinder vorgesehen und gewollt hat […].18
Noch deutlicher wurde sie beim Kongress der Religiös-Sozialen 1910 in Bern, wo sie als einzige Frau sprechen durfte. Sie stellte sich hinter das neue Bild aktiver Frauen und plädierte für die Beteiligung von Frauen in Kirche und Gesellschaft. Den Aufbruch in der Frauenbewegung deutete sie als Wirken Gottes, das Frauen befähige, sich aktiver in den Dienst am Reich Gottes zu stellen. Die Kirche sollte deshalb die Frauenbewegung fördern. Über Jahrhunderte habe diese sich einseitig entwickelt, doch zählte Helene von Mülinen auf die Kraft Gottes, Neues zu schaffen: Das Rad der Geschichte lässt sich freilich niemals zurückdrehen und was im Laufe der Jahrhunderte versäumt wurde, kann in dieser Form nicht wieder eingeholt werden. Aber wir haben ja einen Herrn, der nicht nur gestern, sondern auch heute und morgen Neues schafft [Jes 43,19] und Mittel und Wege weiß. Einen solchen neuen Weg tut er nun auf, indem er die Frauen heranziehen will, in seiner Kirche mehr als bisher hervorzutreten und ihr tätiger zu dienen. Und was wir nun erhoffen und auch erwarten, das ist, dass die Kirche uns nicht nur Bahn lasse, sondern auch Bahn mache [vgl. Jes 40,3; 43,16; 57,14].19
Dass sich längst nicht mehr alle Vertreterinnen der Frauenbewegung mit der Kirche verbunden wussten, führte Helene von Mülinen auch auf deren Festhalten an traditionellen Positionen zurück.
18
19
„Antrag an die schweizerische reformierte Kirchenkonferenz in Frauenfeld Juni 1904“, Extrablatt der Berna 6. Jg., Nr. 9 (Bern, 30.07.1904, Zeitschrift des gleichnamigen bernisch-kantonalen Frauenvereins), unterzeichnet von Helene von Mülinen. Helene von MÜLINEN, Was die Frauenbewegung vom Christentum erwartet: Ansprache an der religiös-sozialen Konferenz in Bern Oktober 1910 (Bern: o. V., 1910), 5.
Bibelrezeption bei Helene von Mülinen
241
2.3 Politisches Engagement biblisch deuten Es ist hier nicht ausreichend Raum, um die politische Arbeit Helene von Mülinens umfassend darzustellen. Drei Hinweise sollen jedoch das Zusammengehen von biblischer Reflexion und politischer Überzeugung illustrieren. Die Deutschschweizer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit forderten, dass der Staat die Prostitution aktiv bekämpfe, während gewisse Kantone staatlich kontrollierte Bordelle einrichten wollten. Helene von Mülinen sprach sich vor dem Neuenburger Kollektenverein gegen beide Extreme aus. Sie wollte den Staat weder als Schützer der Moral noch gegen die Moral handeln sehen. Sie hielt es wie die Internationale Abolitionistische Bewegung von Josephine Butler (1828–1906) für ausreichend, wenn Minderjährige geschützt und der Frauenhandel eingedämmt werde. Würde der Staat die Moral aktiver verfolgen, wäre das ein zweischneidiges Schwert, das sich auch gegen die Würde der Frauen richtete. Um dies zu bekräftigen, griff sie Jesu Wort vom Unkraut im Feld auf, das man wachsen lasse, um nicht auch das Korn auszureißen (Mt 13,24–30).20 Als der Verfasser des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, der Jurist Eugen Huber (1849–1923), den biblischen Begriff des Mannes als „Haupt der Frau“ in den Bereich der Jurisprudenz einführte, protestierte sie dagegen.21 Es gibt aber kaum eine Doktrin, an welche die Männer so felsenfest glauben, wie an die, dass sie des Weibes Haupt seien. Beständig hört man Männer, die der Religion recht gleichgültig gegenüberstehen und denen es wenig Eindruck macht, ob die Bibel oder die Kirche etwas lehrt oder gebietet, sich im Tone tiefster Überzeugung auf das Wort des Apostels berufen, dass der Mann sei des Weibes Haupt. So sehr entspricht und schmeichelt es ihrem Mannesstolz, dass sie es zum Eckpfeiler ihres Familienlebens, ihrer sozialen Anschauungen und ihres bürgerlichen Empfindens gemacht haben […] obgleich kein Rechtsgelehrter wirklich zu definieren vermag, was ein juridisches Haupt denn eigentlich sei.22
Sie führte weiter aus, dass selbst in kirchlichen Kreisen die Gefahr bestehe, den tieferen religiösen Gehalt zu übersehen: Doch niemals wird uns eine Predigt über die Hingabe und Aufopferung des Mannes für das Weib zu teil, höchstens dass überhaupt die Pflicht des Familienvaters für die Seinigen, – vor allem in materieller Hinsicht, – zu sorgen, mehr oder weniger eindrücklich eingeschärft wird […].
20
21 22
Helene von MÜLINEN, Das zukünftige Schweizerische Strafgesetzbuch: Ansprache bei Gelegenheit der jährlichen Generalversammlung des Kollektenvereins zur Hebung der Sittlichkeit in Neuenburg 11.6.1908 (Genf: Büro des Sekretariats der Föderation, 1909), 5. Vgl. BRODBECK, Hunger nach Gerechtigkeit, 94; Bundesarchiv Bern, Nachlass Eugen Huber J. I. 109.443, 13 Briefe von Helene von Mülinen an Eugen Huber 1898–1907. Helene von MÜLINEN, „Zur schweizerischen Frauenbewegung: Eine Notwehr“, Monatsschrift für christliche Sozialreform 32/8 (1910): 480.
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Doris Brodbeck
Der Apostel verlange jedoch durch den Vergleich mit Christus „vom Mann eine Hingabe, wie Christus allein sie geleistet hat, bis in den Tod“.23 Statt der Hingabe werde die Hybris des Mannes gefördert. Auch Helene von Mülinens frauenemanzipatorischer Mitstreiter Fritz Barth (1856–1912), der Berner Theologieprofessor, Synodalrat und Vater des für das 20. Jahrhundert so einflussreichen Theologen Karl Barth, stärkte in einem Referat das biblische Bild des Mannes als „Haupt“ der Frau und betonte die Verantwortung des Ehemannes als christliche Errungenschaft.24 Für den juristischen Bereich genügte nach Mülinens Meinung die von Barth intendierte Abhängigkeit der Frau von der Moral des Ehemannes jedoch keinesfalls und das Klagerecht, das Eugen Huber der Ehefrau einräumte, nützte dieser ohne eigene finanzielle Mittel nichts, denn das Familienhaupt verwaltete beide Einkommen und konnte über Wohnsitz und Kindererziehung entscheiden. Sie führte aus, wie unwürdig es sei, wenn der Ehemann seine Frau als Amme verkaufe, ihren Erwerb abhole und vertrinke und sie nichts davon sehe und nicht einmal mit ihrem eigenen Erwerb für sich und ihre Kinder sorgen könne. Die erste Schweizer Juristin Emilie Kempin-Spyri (1853–1901) verlangte deshalb, die Ehefrau müsse ökonomisch befähigt werden, ihre Rechte wahrzunehmen, indem ihr die Hälfte des Familieneinkommens übergeben werde.25 Bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt suchte Helene von Mülinen 1919 die Versammlung des BSF für eine Eingabe zu gewinnen, die die Aufnahme der aktiven Bürgerrechte der Frau in die Verfassung verlangte. Sie zog zwei biblische Bilder heran: Ohne diese Rechte könnten Frauen nicht eingreifen, wo die „Not am Wege liegt“ (Lk 10,33). Ihnen bleibe nur die Rolle der Klagefrauen, die das Leid der Stadt betrauerten (Lk 23,27f.). Sie forderte politische Mitsprache, „damit wir nicht, wie die klagenden Töchter Jerusalems, nur trauernd zusehn wo der Mord haust“ (Klgl 2,10).26 Diese Vorlage kam erst 1959 vor das männliche Stimmvolk und wurde abgelehnt. 1971 wurde schließlich das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene angenommen.
3. Fazit In ihren Briefen, Vorträgen und Artikeln griff Helene von Mülinen oft biblische Bilder und Ausdrücke auf, ohne dies explizit zu machen. Den bibelkundigen Zuhörenden oder Lesenden dürften aber diese Anklänge nicht entgangen sein. Dabei zitierte sie frei. Vor säkularem Publikum beschränkte sie sich meist auf Bilder aus der griechischen 23 24 25
26
MÜLINEN, „Zur schweizerischen Frauenbewegung“, 482. Fritz BARTH, „Die Frauenfrage und das Christentum“, Vortrag im Grossratssaal Bern, SA Schweizerische Blätter für Wirtschafts- und Socialpolitik 10/8 (1902): 1–10. Emilie KEMPIN-SPYRI, Die Ehefrau im künftigen Privatrecht (Zürich: Müller, 1894), 19f.; DIES., „Protokoll der Jahrestagung des schweizerischen Juristenvereins“, Zeitschrift für schweizerisches Recht 13 (1894): 713f. Helene von MÜLINEN, Die Revision der Bundesverfassung und die Politischen Rechte der Schweizerfrauen: Vortrag an der Delegiertenversammlung des Bundes Schweizerischer Frauenvereine am 22.1.1919 in Bern (Genf: Paul Richter, 1919), 16.
Bibelrezeption bei Helene von Mülinen
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Mythologie oder aus Politik und Geschichte. Nur bei besonderer Gelegenheit sprach sie konkrete Bibelstellen an und diskutierte sie, doch auch da kaum mit präzisen Angaben. Stets ging es ihr um die Entwicklung der Frau und um deren Emanzipation – Themen, die sie mit ihrem biblischen Glauben zu verknüpfen suchte. Der Rekurs auf die Bibel nahm dem Kampf um Frauenrechte die polemische Spitze. Mülinen vermied Reizworte wie Frauenstimmrecht oder Frauenpfarramt, forderte aber das, was wesentlich dahinter stand: nämlich das Recht und die Pflicht zur Entfaltung von Gottes Gaben in den Frauen und die Legitimation zur Mitarbeit am Reich Gottes, zu dessen Verwirklichung sie Solidarität und soziale Gerechtigkeit zählte.
In der Nachfolge Jesu: Diakonissen und Bibelauslegung am Beispiel Eva von Tiele-Wincklers Ute Gause Ruhr-Universität Bochum Der genuin protestantische Frauenberuf der Diakonisse wurde seit 1833 von dem in Kaiserswerth im Rheinland tätigen Pfarrer Theodor Fliedner (1800–1864) entwickelt. Seine Idee einer christlich motivierten weiblichen Berufstätigkeit von unverheirateten bzw. verwitweten Frauen, die seelsorgerische wie pflegerische Arbeiten in Gemeinden, Krankenhäusern, Gefängnissen und Kinderheimen übernehmen sollten, trat einen sofortigen Siegeszug an.1
1. Die „Erfindung der Diakonisse“ und das Jahrhundert der Diakonie 1836 wurde in Kaiserswerth die sogenannte Diakonissenanstalt eröffnet, ein Krankenhaus, in dem Schwestern ausgebildet werden sollten. Bis 1842 traten hundert Frauen in die Diakonissenanstalt ein. 1861 waren es bereits 336 Schwestern, die im In- und Ausland arbeiteten. Eine Diakonisse lebte in einem familienähnlichen Verband, nämlich in einem Mutterhaus mit einem Vorsteher und einer Vorsteherin als „Eltern“ – Theodor Fliedner und seine zweite Frau Caroline wurden von ihren Schwestern mit „Vater“ und „Mutter“ angeredet. Nach einer Probezeit konnte die Diakonisse eingesegnet werden. Für die Schwestern galt: Sie waren „Dienerinnen des Herrn Jesu“, „Dienerinnen der Hilfsbedürftigen um Jesu willen“ und „Dienerinnen untereinander“. Im 19. Jahrhundert entstanden neben dem Kaiserswerther Modell auch andere Anstalten – wie die von Wilhelm Löhe (1808–1872) in Neuendettelsau (Franken) und die
1
Vgl. Martin CORDES, Diakonie und Diakonisse: Beiträge zur Rolle der Frauen in kirchlicher sozialer Arbeit (Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln 4; Hemmingen: Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft, 1995); Adelheid M. von HAUFF, Hg., Frauen gestalten Diakonie 2: Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Stuttgart: Kohlhammer, 2006); Jochen Christoph KAISER und Rajah SCHEEPERS, Hg., Dienerinnen des Herrn: Beiträge zur weiblichen Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert (Historisch-theologische Genderforschung 5; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2010); Silke KÖSER, Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein: Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen: 1836–1914 (Historisch-theologische Genderforschung 2; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2006); Ute GAUSE und Cordula LISSNER, Hg., Kosmos Diakonissenmutterhaus: Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft (Historisch-theologische Genderforschung 1; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2005); Jutta SCHMIDT, Beruf: Schwester: Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 24; Frankfurt: Campus, 1998).
Diakonissen und Bibelauslegung
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von Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910) in Bethel bei Bielefeld –, aber auch Einzelgründungen, wie die der Eva von Tiele-Winckler (1866–1930). Letztlich steht das 19. Jahrhundert aus protestantischer Sicht betrachtet wesentlich unter der Signatur, ein „Jahrhundert der Diakonie“ zu sein. Angemessen ist diese Charakterisierung für den Protestantismus des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt deswegen, weil mit der Diakonie, die von Johann Hinrich Wichern (1808–1881) als „innere Mission“2 bezeichnet wurde, auch eine Frömmigkeit angesprochen wird, die bezeichnend für diese Epoche ist: In den Vordergrund tritt eine erfahrungsbezogene Frömmigkeit, die zum praktischen Handeln drängt. Hierzu zählen durchaus auch die Theologie Schleiermachers mit ihrer Berufung auf das religiöse Gefühl und besonders die verkirchlichte Form der Erweckungsbewegung3, der Neuprotestantismus4 oder Konfessionalismus5 lutherischer Prägung. Zahlreiche soziale Initiativen von protestantischer Seite verdanken sich im 19. Jahrhundert den Erweckungsbewegungen. Es ist nicht allein das durch die Industrialisierung hervorgerufene Elend der Fabrikarbeiterfamilien in Großstädten wie Hamburg – wo beispielsweise Wichern diese Lebensbedingungen bei Hausbesuchen kennenlernte – oder auf dem Lande wie in Oberschlesien, wo Eva von Tiele-Winckler tätig wird. Auch der Geist einer Frömmigkeit, die aktive Nächstenliebe als unverzichtbar für das christliche Leben betrachtet, lässt protestantische Frauen im 19. Jahrhundert zunehmend in die Öffentlichkeit treten.6 Eine weitere mentale Wurzel, die den Frauen die Möglichkeit zur Artikulation bereitstellt, ist die durch die Erweckungsbewegung erneut Auftrieb bekommende Betonung des „Priestertums aller Gläubigen“. Dadurch wurden – wie schon in der Reformationszeit – mit Erfolg LaiInnen mobilisiert. Das boomende Vereinswesen, das das Engagement von LaiInnen beförderte, bot ebenfalls Betätigungsmöglichkeiten für Frauen. 2
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4
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6
Der Begriff selbst stammt von Friedrich Lücke (1791–1855), Wicherns Lehrer an der Universität Göttingen, der 1842 einen Vortrag über „die zwiefache, innere und äußere, Mission der evangelischen Kirche“ hielt, welcher dann u. a. 1843 in Hamburg im Druck erschien. Vgl. http://www.textlog.de/schlagworte-innere-mission.html (10.07.2011); sowie Volker HERRMANN, „Wichern“, TRE 35 (2003), 733–739. Erweckungsbewegungen sind Frömmigkeitsbewegungen seit der Frühen Neuzeit, bei denen individuelle Glaubenserfahrung mit dem Bemühen um kirchliche und soziale Erneuerung verbunden ist. Erweckliche Frömmigkeit zeichnet sich durch Glaubensernst, Bibel- und Jesusfrömmigkeit, oftmals apokalyptische Anklänge, aber auch konfessionsübergreifende und transnationale Kommunikationsnetze aus. Mit „Neuprotestantismus“ wird jener liberale Protestantismus des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich bezeichnet, der auf die Freiheit des Individuums pochte und durch Idealismus und liberales Bürgertum geprägt war. Ausgelöst durch die Pluralisierungsschübe im 19. Jahrhundert kam es unter den Kirchen wieder zu einer stärkeren Betonung konfessioneller Eigenheiten und Abgrenzungen. Der Konfessionalismus löste damit den Irenismus und die ersten ökumenischen Annäherungen um 1800 ab. Vgl. Ute GAUSE, Kirchengeschichte und Genderforschung: Eine Einführung in protestantischer Perspektive (UTB 2806; Stuttgart: Mohr Siebeck, 2006), 156–181.
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Ute Gause
Der Beruf der Diakonisse war kein moderner Frauenberuf in dem Sinne, dass mit ihm ein emanzipatorischer Anspruch verbunden wurde. Im Gegenteil: Gerade Fliedner legte Wert auf Demut, Gehorsam und Selbstverleugnung als Tugenden der Frauen. Selbstverständlich wurde den Diakonissen vom jeweiligen Anstaltspfarrer und Vorsteher die Bibel ausgelegt. Weder Fliedners Ehefrauen noch andere weibliche Personen hatten im 19. Jahrhundert im Rahmen der bestehenden Landeskirchen die Möglichkeit zu eigenständiger Auslegung oder gar Predigt. Sie hatten also kaum Möglichkeiten, selber auslegerisch tätig zu sein oder gar Schriftauslegungen zu veröffentlichen. Aus diesem Grund konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf eine Diakonisse, die zahlreiche Bibelauslegungen veröffentlichte und diese auch als Schriften für ihre Schwestern bzw. die von ihr selbst gegründete Schwesternschaft konzipierte.
2. Eva von Tiele-Winckler, Gründerin der Friedenshortdiakonissen Eva von Tiele-Winckler exemplifiziert eine spezifische diakonische Gründungspersönlichkeit, die Über- oder Transkonfessionalität der Erweckung, Tatkraft der Diakonie und eigenwillige Bibelfrömmigkeit in sich vereint.7 Sie wurde am 31. Oktober 1866 als Tochter der katholischen Adligen Valeska von Winckler und des Großindustriellen Hubert von Tiele geboren und katholisch getauft, ließ sich jedoch später in der lutherischen Kirche Schlesiens konfirmieren. Dies ist u. a. auf die religiöse Erziehung durch ihre evangelische Stiefmutter zurückzuführen. Eva von Tiele-Winckler gründete 1890 das erste Haus „Friedenshort“ in Miechowitz/Schlesien als eine Art Krankenstation. Zuvor hatte sie in Bethel die Krankenpflege erlernt. Mit der Hauseinweihung war ihre Einsegnung als Hausmutter verbunden. Im Juni 1892 besuchte Friedrich von Bodelschwingh Miechowitz und schlug Eva von Tiele-Winckler vor, ein eigenständiges Mutterhaus zu gründen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Schwesternschaft bereits so expandiert, dass ein Mutterhaus gebaut werden musste, das am 1. Oktober 1905 eingeweiht wurde. Die Zahl der Schwestern stieg innerhalb von 25 Jahren von fünfzig (1905) auf 700 (1930) an. Einen Markstein in der Entwicklung stellte die Gründung der „Heimat für Heimatlose“ im Jahr 1910 dar, die sich der Arbeit mit verwaisten und misshandelten Kindern widmete. Seit 1912 schickte Eva von Tiele-Winckler außerdem noch Schwestern zur Mission nach China. Am 21. Juni 1930 starb sie. Eva von Tiele-Winckler ist fast nur noch in frommen Kreisen bekannt. Die Friedenshortschwestern gibt es bis heute und noch immer fühlen sie sich dem Erbe „Mutter Evas“ verpflichtet.8
7 8
Vgl. Paul TOASPERN, Eva von Tiele-Winckler: Mutter Eva – Ein Leben aus der Stille vor Gott (Neuhausen/Stuttgart: Hänssler, 21995). Vgl. Ute GAUSE, „Die Freudenberger Friedenshortdiakonissen“, Westfälische Forschungen 56 (2006): 365–377.
Diakonissen und Bibelauslegung
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3. Zwei Beispiele von Bibelauslegungen Eva von Tiele-Winckler konzipierte ihre Bibelauslegungen vor allem für ihre Schwestern und eventuell noch für ein interessiertes Publikum als LaiInnen. Es handelt sich stets um erbauliche Schriftauslegung, nicht um Exegese. Die Jesajaauslegungen wurden gewählt, weil sie als eine Art Vermächtnis der gerade Verstorbenen verstanden wurden. Obwohl Tiele-Winkler diese eigentlich „nur für sich allein in ihren stillen Stunden schrieb“, gaben die Friedenshortschwestern sie posthum heraus.9 3.1 Jesaja Eva von Tiele-Wincklers Jesajaauslegung verbleibt in einer eigentümlichen Zeitlosigkeit. Zwar wird der Bibeltext ebenfalls aktualisiert und existentialisiert, aber Anspielungen auf und Beispiele von historischen Personen und Ereignissen fehlen fast völlig. Für Tiele-Winckler spricht Jesaja in ihrer Gegenwart wie zu seiner Zeit über die Gleichgültigkeit und Gottlosigkeit des Volkes, die auf Dauer ins Verderben führen wird.10 Aber noch tönt der Buß- und Gnadenruf! Noch ist es Zeit zur Umkehr – Umkehr in der Gesinnung, in Wandel und Wesen, in Tun und Lassen. Es gibt eine Reinigungsmöglichkeit! Das Blut des Lammes befreit von Sünde und Schuld und reinigt bis auf den Grund. Nicht nur Vergebung, auch Kraft, das Böse zu lassen, wird den Aufrichtigen zuteil, und das erneuerte Herz bringt nur gute Werke hervor der Gerechtigkeit, der Liebe und Barmherzigkeit.11
Die hier auffallenden Anklänge an Predigten aus der Erweckungsbewegung sind nicht zufällig und auch nicht singulär. Eva von Tiele-Winckler ist in jeder Hinsicht durch diese geprägt. Das Gericht ergeht zunächst über die Anführer des Volkes, aber auch über die Frauen (vgl. Jes 3,16–24). Hier lautet der Kommentar aktualisierend, dass dieses Bildwort „auf unsere heutige Frauenwelt passt“.12 Jes 4,4–6 wird als Anspielung auf das Tausendjährige Reich, also chiliastisch verstanden.13 Die in Jesaja beschriebenen Missstände werden verdeutlicht und auf die Gegenwart bezogen: Egoismus und Genußleben richtet sich selbst zugrunde. Gott ruft das Wehe über die, die den Rauschtrank lieben, die beim Wein lange sitzen und den Klängen der Tanzmusik
9 10 11 12 13
Vorwort in Eva von TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir! (Dinglingen: St. Johannis-Druckerei, ca. 1930), o. S. Vgl. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 5f. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 6f. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 11. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 12.
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Ute Gause lauschen, – aber für Gottes Wort und Gottes Werk haben sie keine Gedanken, keine Zeit, kein Interesse.14
Hier besteht ein deutlicher Konnex zur eigenen Arbeit: Die von den Friedenshortdiakonissen aufgenommenen verwahrlosten Kinder stammten oft aus Alkoholikerfamilien. Eva von Tiele-Winckler scheut sich nicht, die eigene Berufung mit der des Jesaja zu parallelisieren. Sie setzt eine göttliche Beauftragung bei allen ChristInnen voraus: So ist es auch mit unseren Gnaden- und Berufungsstunden. Erst später wird uns die Größe der Forderung Gottes klar. Aber dann ist man gebunden und geht nicht mehr zurück.15
Menschenherrlichkeit muss zugrunde gehen, damit die Gnadenbotschaft Christi angenommen werden kann. Zunächst richtet Gott alle Menschen, die sich gegen ihn auflehnen. Erst aus diesem „Bankrott alles Menschentums, das von Adam stammt“, entsteht der neue Mensch Christus.16 Ihre Auslegung betont, dass alles am rechten Glauben liege: Nur der Glaube kann das Feld behaupten, nur der Glaube bricht durch Stahl und Stein und kann die Allmacht fassen. – Natürlicher Mut und eigene Kraft zerschmelzen und vergehen in den Augenblicken großer Entscheidungen und Gefahren. Der Glaube ruht in Gott, dem Unbeweglichen, Ewigen, Allmächtigen.17
Die Verheißung des Immanuel wird nicht nur als Gericht über das Volk Gottes verstanden, sondern individuell interpretiert. Auch der einzelne Mensch muss zunächst Armut und Hilflosigkeit kennenlernen, bevor er nach seinem Erlöser sucht.18 Die Verheißungen in Jes 9 sollten Grund zu Jubel für die gesamte Christenheit sein, denn allen Menschen ist Christus verheißen: Uns, uns! Der ganzen Menschheit, allen Völkern und Rassen dieser Erde ist dieses GottKind geschenkt, die Friedens- und Versöhnungsgabe des Vaters, der Herold der ewigen Wahrheit und Liebe.19
Das Warten auf das Ende der Nacht (Jes 21,11–17) wird auf das Individuum hin gedeutet: Das gilt auch in Zeiten innerer Dunkelheit und äußerer Bedrängnis und Ratlosigkeit: warten, harren, die Hoffnung nicht aufgeben, das Vertrauen nicht wegwerfen. Das Licht wird doch endlich aufgehen, der Morgen wird kommen.20
Die folgenden Aussagen werden aktualisiert und auf die Mission bezogen: 14 15 16 17 18 19 20
TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 14. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 18. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 19. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 20. Vgl. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 21. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 24. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 39.
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Bringt den Durstigen Wasser entgegen, bietet den Flüchtlingen Brot an. Welch eine Mahnung! Herr, erinnere mich stets daran! Wir, die wir Wasser und Lebensbrot haben und Einwohner Zions sind, wir sollen den Durstigen, Verzagten und Umherirrenden mit Liebe entgegenkommen und sie zur Heimat führen.21
Die Gnadenzeit der Erlösten in Jes 25 wird als Zeit beschrieben, in der alle nationalen Schranken und alle konfessionellen Streitigkeiten aufgehoben sind.22 Vielleicht spielt Eva von Tiele-Winckler hier auf die Heilige Allianz23 und ihre ökumenische Zielsetzung an oder auf die Evangelische Allianz24, die ebenfalls vom Irenismus der Erweckung getragen war. Auch wenn das Gericht Gottes stets das Heil will, gibt es ohne Gericht und Buße keine Begnadigung (Jes 26). Jes 26,19 wird als klare Ansage der Auferstehung verstanden. Der Tau der Lichter sind die Menschen, die „beim Erscheinen der großen Lebenssonne Christus“ auferstehen und „wie kleine Lichter leuchten“ werden.25 Die Größe Gottes als Weltschöpfer in Jes 40 wird gegen die Anmaßung kluger FreidenkerInnen und GottesleugnerInnen des 19. Jahrhunderts gestellt.26 Jes 50 und 51 zeichnet Christus, wie er später in den Evangelien dargestellt wird, der im Leiden und Unterliegen dennoch Sieger bleibt und dessen Gehorsam den Menschen Vorbild sein soll: Selbst in den schwersten Proben, wenn uns kein Licht scheint und wir im finstern Tale wandern müssen, gilt es auf den Namen des Herrn vertrauen und sich an seinen Gott halten. So wird man zum Überwinder in der Nachfolge des leidenden Heilandes.27
Mit Jes 52 bricht die christologische Auslegung des Jesajabuches schließlich ab. Der Grund dafür liegt in der Erkrankung und dem Tod Eva von Tiele-Wincklers. Grundlegend wird den eigenen Schwestern die Schwierigkeit der Nachfolge erläutert, die nur durch einen festen Gottesglauben und das Vertrauen auf Christus, den Überwinder und Erlöser, ausgehalten werden kann.
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TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 39. Vgl. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 43. 1815 verpflichteten sich Kaiser Franz I. von Österreich, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Zar Alexander I. vertraglich, ihre Politik in Zukunft an der christlichen Religion zu orientieren. Dieses Bündnis spiegelte die Reaktion der alten Mächte gegen die Französische Revolution und Napoleon Bonaparte wider. Die Evangelische Allianz war das Ergebnis des Irenismus der Erweckungsbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie war der 1846 in London erfolgte Zusammenschluss verschiedener Denominationen zu einem gemeinsamen, internationalen Dachverband. Damit war sie die erste weltweite ökumenische Organisation. Noch heute ist die Evangelische Allianz konservativ-erwecklich geprägt. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 45. Vgl. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 65. TIELE-WINCKLER, Siehe dein König kommt zu dir!, 92f.
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3.2 Die Bergpredigt Noch stärker zum Tragen kommt die intensive Christusbezogenheit der Verfasserin in ihrer Auslegung der Bergpredigt. Zunächst betont sie jedoch deren Exklusivität für die Jünger: Die Bergpredigt ist nicht zunächst ein Ruf an die Welt, sondern sie gilt zunächst nur Seinen Jüngern. [...] an sie richtet Er diese Worte, um durch die Jünger dann auch die große Masse des Volkes zu erreichen. So macht es der Herr noch heute!28
Die Jünger werden zum „Zeugen- und Retterdienst“ bereitet.29 Die Aufgabe der ChristInnen besteht darin, Zeugnis von Christus abzulegen und damit die Menschen zu retten, wobei auch auf die tätige sogenannte „Rettungsarbeit“30 angespielt sein kann. Auch der Friedenshortschwesternschaft war wohl eine solche Rolle zugedacht. Die Absonderung Jesu wird als Empfehlung verstanden: Die Menschen sollen sich vom Treiben der Welt, von der aufreibenden Arbeit abwenden und in der Stille und Einsamkeit zu Gott kommen.31 Alter und Neuer Bund werden kontrastiert: Während der Alte Bund mit dem Gerichtsdonner anfängt, beginnt der Neue Bund mit dem Wort „Glückselig“.32 Die Applikation lautet jedoch, dass die Rede Jesu sich als Aufgabe an alle Menschen richtet: Wenn der Herr uns lehrt, so soll eine innere Verwandlung unseres Wesens die Folge sein. Wir sollen der Lehre entsprechend umgestaltet werden, eine Ausprägung dieser göttlichen Lehre sein und ein Brief Gottes an die Welt. Wir sollen die Bergpredigt nicht nur reden, nein – ausleben, unser Leben selbst soll eine lebendige Darstellung der Bergpredigt sein.33
Eva von Tiele-Winckler übersetzt nicht wie Luther mit „Arme im Geist“ (Mt 5,3), sondern mit „Bettler im Geist“ – und verweist dabei auf den griechischen Text, den sie anscheinend lesen und übersetzen konnte.34 Die Bettler im Geist sind dann diejenigen, die auf eigenes Ansehen verzichten und sich ganz auf Gott ausrichten. Sie erhalten den Glauben und das Gebet als Gaben, jedoch bedeutet das, sich auf einen schweren Weg zu begeben: 28 29 30
31 32 33 34
Eva von TIELE-WINCKLER, Glückselig: Matthäus 5,1–12 (Dinglingen: St. Johannis-Druckerei, ca. 1935), 7. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 8. Die Rettungsarbeit entspricht dem Anliegen erweckter ChristInnen, Menschen zu Gott zu führen und dadurch in mehrfacher Hinsicht von der Sünde zu retten: vom Abfall von Gott und damit der Verdammnis, aber auch von seelischer und sozialer Not. Ziel ist dabei nicht soziale Absicherung, sondern ein individueller Sinneswandel, der es dem/der Einzelnen ermöglichen soll, zukünftig sein/ihr Leben sinnvoll, verantwortlich und erfolgreich zu führen. Vgl. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 10. Vgl. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 11. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 12f. Vgl. ihren eigenen Hinweis im Text auf die griechische Bedeutung von Buße: TIELEWINCKLER, Glückselig, 19.
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Da gilt es aber sich ausziehen lassen von aller Selbstherrlichkeit, allem Tugendstolz, aller Charakterschönheit und von allen guten Werken, von der guten Meinung der Menschen und von der guten Meinung, die wir von uns selber haben.35
Die Verheißung an die Leidtragenden gilt nur den wahren JüngerInnen Christi, seinen NachfolgerInnen. Grundlegendes Leiden ist zunächst das Bußleiden, die echte Reue über das eigene Verderben. Hat die Buße eine wahre Umkehr bewirkt, dann begegnet als nächstes das Erziehungsleiden, das auch körperliches Leiden bedeuten kann: Jedes willig angenommene Erziehungsleiden wird uns auch einen entsprechenden wunderbar süßen, göttlichen Trost einbringen, wenn nicht gleich, so doch zu Gottes Stunde.36
Als nächste Stufe folgt das Reinigungsleiden, schließlich das Leiden zur Verherrlichung Gottes. Jeder Verzicht und Schmerz um Jesu willen, aber auch Verfolgung um seines Namens willen gehören dazu. Das höchste Leiden ist jedoch das Leiden in der Gemeinschaft Jesu, d. h. dass ein Mensch „Jesu Leiden auf dem Herzen“ und damit die Wundmale Jesu am eigenen Leib trägt.37 Hier knüpft Eva von Tiele-Winckler – sicher bewusst – an katholische bzw. mystische Vorstellungen an. Die Sanftmut wird vor allem als weibliche Tugend erläutert: Wie manche Tochter im Hause hat schon in schwerer Lage durch ihre schweigende, duldende Sanftmut gesiegt, wie manche Frau unter schwierigen Verhältnissen ihren jähzornigen Mann durch die innere Kraft der Sanftmut überwunden! Und gerade in unserem Beruf wird es sich auch zeigen, daß die sanftmütige Schwester in ihrem Hause und Wirkungskreise mehr Macht, mehr Einfluß, mehr wirkliche, tiefe Herzensautorität hat als die zornige, auffahrende und herrschsüchtige Schwester, die für sich selbst und ihre Ehre streitet.38
Ganz selbstverständlich wird vom Beruf der Schwester gesprochen, der untrennbar mit einer göttlichen Berufung und einer christlichen Lebensführung verbunden ist. Hunger und Durst nach Gerechtigkeit werden zuerst in Christus erfüllt: „Das Fundament aller Gerechtigkeit ist die uns zugerechnete Blutsgerechtigkeit Christi.“39 Aus dieser resultiert dann das Streben nach Heiligung. Die Barmherzigkeit als Fähigkeit des Mitleidens und der Liebe ist menschliche Voraussetzung, um der Barmherzigkeit Christi teilhaftig zu werden, der diese vielfach geübt hat.40 Ein reines Herz kann schließlich nur derjenige gewinnen, der Christus in sich herrschen lässt:
35 36 37 38 39 40
TIELE-WINCKLER, Glückselig, 16f. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 22. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 27. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 30. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 33. Vgl. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 38–40.
252
Ute Gause Christus in uns – der Friedenskönig – besteigt den Thron unseres Herzens, Er übernimmt die Herrschaft über das Ihm ausgelieferte Leben in all seinen Gebieten – Er Selbst, Christus in uns, will unser neues Herz sein [...].41
Der Auftrag zur Friedfertigkeit ist in besonderem Maße mit den Schwestern verbunden, da sie ja das Wort Frieden als Bezeichnung ihrer Gemeinschaft führen.42 Das ist ihr Auftrag, so dass es explizit heißt: „Ihr Friedensschwestern, Gotteskinder! Prüft euch und tragt euren Namen mit Recht vor Gott und Menschen!“43 An dieser Stelle wird wiederum deutlich, wie sehr Eva von Tiele-Winckler die Auslegung als eine für die Gegenwart verbindliche verstanden wissen will. Verfolgung und Schmähung gehören ebenfalls fast notwendig zum Christenleben dazu – mit Verweis auf die Kirchengeschichte wird das plausibilisiert: Die verweltlichte Kirche habe häufig die wahren ChristInnen verfolgt. Im Mittelalter zählen dazu die „Gottesfreunde“, die WaldenserInnern, AlbigenserInnen, Wycliff und Hus; in späteren Zeiten die QuäkerInnen, die PietistInnen und auch Gottfried Arnold (1666– 1714)44, von dem Eva von Tiele-Wincklers Kenntnisse der Kirchengeschichte wahrscheinlich stammen.45 Auch Gerhard Tersteegen (1697–1769)46 und Catherine Booth (1829–1890) als die „Mutter der Heilsarmee“ rechnet sie zu den wahren ChristInnen.47 Diese Affinitäten bestätigen die Verwurzelung Eva von Tiele-Wincklers in der Erweckungsbewegung, welche u. a. auf den frühen Pietismus zurückgeht. Das Schlusswort widmet die Auslegung den eigenen Schwestern und beschreibt die Bergpredigt als „Berufsordnung und Lebensregel für Überwinder“.48 Eva von TieleWinckler betont die Absonderung der wahren Gläubigen, ihre Selbstverleugnung und ihre Suche nach Andacht und Kontemplation, die sie als „Stille Stunde“ bezeichnet. Weil sie dieser Frömmigkeitspraktik einen hohen Stellenwert einräumt, gesteht sie also, im Gegensatz zu anderen Gründerpersönlichkeiten, den Schwestern eigene Zimmer als Rückzugsmöglichkeit zu.
4. Existenzielle Bibelauslegung als Anstoß zum diakonischen Handeln Die schlaglichtartige Erhellung der Schriftauslegung durch Eva von Tiele-Winckler zeigt sie insofern als typische Vertreterin der Erweckungsbewegung, als sich folgende Charakteristika in ihren Auslegungen finden: Eine, mit Erich Beyreuther gesprochen, 41 42 43 44
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TIELE-WINCKLER, Glückselig, 45. Vgl. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 47. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 50. Pietistischer Theologe und Historiker, bekannt geworden durch seine Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie (1699/1700), ein für die moderne Kirchengeschichtsschreibung bahnbrechendes Werk. Vgl. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 54. Pietistischer Laientheologe und Mystiker aus Mülheim a. d. Ruhr. Vgl. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 55f. Vgl. TIELE-WINCKLER, Glückselig, 61.
Diakonissen und Bibelauslegung
253
biblizistisch und emotional erbauliche Theologie49 führt zu einer, wie Gerhard Ruhbach es bezeichnet hat, Überwindung des Rationalismus durch eine bibelorientierte, lebendige Frömmigkeit. Damit verbunden ist das Streben nach einer überkonfessionellen, weltweit ausgerichteten Gemeinschaft der ChristInnen.50 Die starke Betonung von Kontemplation und Andacht sowie des Wirkens des Heiligen Geistes sind Formen, die bislang als Charakteristika der Erweckungsbewegung eher weniger benannt sind, bei Eva von Tiele-Winckler jedoch dezidiert hervortreten und die man mit Walter Wendland vielleicht als „Hinwendung zum Erlösungsgedanken“ beschreiben könnte. Oder wie er es resümiert: „Die Gnade Gottes steht darum im Mittelpunkte der Erweckungsfrömmigkeit.“51 Ebenfalls nicht auszuschließen sind außerdem Einflüsse der Heiligungsbewegung.52 Eva von Tiele-Winckler zählt insofern als typische Vertreterin auch zum „Jahrhundert der Diakonie“, als ihre frommen Impulse stets auf karitative Verwirklichung ausgerichtet sind. Wenn diese Bibelauslegungen auch nicht in den Kontext historischkritischer Exegese gehören, so stellen sie dennoch einen genuinen Ausdruck einer Frömmigkeit dar, die das 19. Jahrhundert und vor allem die in der Diakonie arbeitenden Frauen prägte. Für diese Frauen, die aus diakonischem Interesse solcherart in die Öffentlichkeit getreten sind – sowie ihre publizistischen Erfolge der erbaulichen Bibelauslegung – gilt, was Reiner Strunk schon 1971 über die Erweckungstheologen allgemein gesagt hat: Sie wollten keine Systematiker sein, sondern verstanden sich als „reine und unvoreingenommene ,Bibelverehrer‘ [...]. Dies hatte nämlich zur Folge, daß sie eklektisch Gedankengut aus recht unterschiedlichen Quellen aufnehmen und in die Bibelauslegung integrieren konnten.“53 Eva von Tiele-Wincklers Engagement basiert auf dieser lebendigen Frömmigkeit und Existentialisierung der Bibel, die sie radikal verwirklicht sehen will und auch selbst praktiziert. Der Adressatinnenbezug führt dabei zu spezifischen Akzenten in der 49
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53
Beyreuther ordnet diese beiden Charakteristika jedoch unterschiedlichen Gruppen zu. Für Eva von Tiele-Winckler und wahrscheinlich für viele andere VertreterInnen der Erweckungsbewegung auch gelten allerdings beide gleichzeitig. Vgl. Erich BEYREUTHER, Die Erweckungsbewegung (Die Kirche in ihrer Geschichte Lfg. R, Teil 1, Bd. 4; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963), 29f. Vgl. Gerhard RUHBACH, „Erweckungsbewegung“, ELThG 1 (1992), 531–536; 531f. Walter WENDLAND, „Erweckungsbewegung“, RGG 2 (21928), 295–304; 303; vgl. Gustav Adolf BENRATH, „Die Erweckungsbewegung innerhalb der deutschen Landeskirchen 1815– 1888: Ein Überblick“, in Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert (hg. v. Ulrich Gäbler; Geschichte des Pietismus 3; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000), 150–271; 153. Die Heiligungsbewegung ist eine Erweckungsbewegung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Akzent auf der Trias Heil – Heilung – Heiligung. Im Mittelpunkt stand die optimistische Annahme, durch ein lebendiges Glaubensleben in persönlicher Beziehung zu Gott geistig und körperlich zu gesunden. Vgl. Stephan HOLTHAUS, Heil – Heilung – Heiligung: Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung 1874–1909 (Gießen: Brunnen, 2005). Vgl. Reiner STRUNK, Politische Ekklesiologie im Zeitalter der Revolution (Gesellschaft und Theologie/Abt. Systematische Beiträge 5; München: Chr. Kaiser, 1971), 102.
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Ute Gause
Auslegung, denn die Gründerin des Friedenshortes spricht zu ihrer Schwesternschaft, die zur Nachfolge Jesu verpflichtet und in seinen Dienst gestellt wird. An erster Stelle jedoch steht stets die Selbstvergewisserung, dem Willen Gottes gemäß handeln zu wollen, aus der Bibel sowohl Interpretamente für die Gegenwart zu entnehmen wie auch Verhaltensmaßstäbe zu erhalten.
Bibellektüre als Motivation für diakonisch-soziale Initiativen am Beispiel von Elvine Gräfin de La Tour (1841–1916) Michaela Sohn-Kronthaler Karl-Franzens-Universität Graz In Hesek. 47,1–12 wird dem Propheten ein Strom lebendigen Wassers gezeigt, der von der Schwelle des Tempels ausgehend, nach Mittag hinab durch das Blachfeld fließt, um einesteils das dürre Erdreich zu befruchten und andernteils die Wasser des toten Meeres mit neuer Lebenskraft zu erfüllen. Dies soll uns ein Bild dessen sein, was der Herr auch durch unsere Arbeit in einer zumeist glaubenslosen, toten Welt ausrichten will. Wenn aus dieser, den Anstalten usw. kein Lebensstrom hervorquillt, dann haben sie keinen Wert, dann fehlt das befruchtende Element, welches die Einöden in liebliche Gärten umzuwandeln vermag. Es muß unser aller heißer Herzenswunsch sein, daß wir es erfahren, wie es Jes. 58,11–12 heißt: „Der Herr wird dich immerdar führen und deine Seele sättigen in der Dürre und deine Gebeine stärken; und Du wirst sein wie ein gewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, welcher es nimmer an Wasser fehlet. Und soll durch dich gebauet werden, was lange wüste gelegen ist; und wirst Grund legen, der für und für bleibet.“1
Mit diesen Worten der Propheten Ezechiel und Jesaja deutete Elvine Gräfin de La Tour (1841–1916), die neben den Brüdern Ernst2 und Ludwig Schwarz3 zu den wichtigsten Persönlichkeiten der evangelischen Diakonie in Österreich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zählt, den Zweck bzw. das Ziel der von ihr damals geschaffenen sozialen Einrichtungen in Friaul und Kärnten. Sie ist eine der bedeutendsten Bahnbrecherinnen und Repräsentantinnen der Inneren Mission in der cisleithanischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie. Die Kärntner Protestantin lutherischer Provenienz mit italienischen Wurzeln gründete Schulen, Erziehungsanstalten für Mädchen und Knaben, Alten- und Kinderheime, eine christliche Asylstätte für Wohnungssuchende und war eine namhafte Förderin der Evangelisation. Mit ihren sozialen Initiativen legte die Gräfin den Grundstein für ein nachhaltiges Werk, das gegenwärtig in der Stiftung de La Tour, einer tragenden Säule der evangelischen Diakonie Österreichs, fortlebt.4
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Archiv der Diakonie Kärnten (ADK), AOO5-1, Jahresbericht über die Werke der Inneren Mission im österreichischen Küstenland und in Treffen, Kärnten 1915, 9f. Zu Senior Pfarrer Ernst Schwarz (1845–1925), dem jüngeren Bruder von Ludwig Schwarz und Pfarrer in Waiern, siehe Kurt SCHAEFER, Ernst Schwarz, Das Werk der Liebe zu Waiern: Das Verlorene suchen: Das Leben finden (Feldkirchen: Selbstverlag, 1986). Zu Ludwig Schwarz (1833–1910), dem Begründer der Gallneukirchener Anstalten und Mitbegründer des oberösterreichischen Vereines für Innere Mission, dem heutigen Diakoniewerk, siehe Anna KATTERFELD, Die erfüllte Prophezeiung (Lahr-Dinglingen: St. JohannisDruckerei C. Schweickhardt, 1959). www.diakonie-delatour.at (01.09.2013).
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1. Die Jahresberichte von Elvine de La Tour als Quelle ihrer Bibelrezeption Obgleich bereits zahlreiche größere und kleinere vor allem biografische Darstellungen zu Elvine de La Tour vorliegen, so gibt es noch keine, die sich ausführlicher mit deren Bibelverständnis auseinandersetzt.5 Dies ist umso bemerkenswerter, zumal die Gräfin den vielschichtigen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, die an den Pietismus anknüpfen, zuzuordnen ist. Die vorliegende Abhandlung veranschaulicht die Verwendung der Heiligen Schrift durch Elvine de La Tour anhand ihrer Beiträge, die sie im Jahresbericht über die Werke der Inneren Mission, der regelmäßig zwischen 1906 und 1917 erschien, publizierte.6 Diese Jahresberichte, die von ihr im Selbstverlag herausgegeben wurden, dokumentieren nicht nur die Entwicklung der von ihr geschaffenen Einrichtungen, sondern auch ihren verinnerlichten und gelebten Christusglauben. Als erster Beitrag steht am Beginn dieser Zeitschrift stets der Bericht der Gräfin de La Tour. Es gibt in den Jahresberichten aber auch Abhandlungen von ihren MitarbeiterInnen, die über ein konkretes soziales Werk der Stifterin berichten. Die mehrseitigen Texte von Elvine de La Tour tragen nicht nur autobiografische Züge, sondern lassen die LeserInnen ebenso Anteil nehmen an ihrem Lebensalltag, am Fortschritt ihrer Gründungen und an ihrer Bibelfrömmigkeit. Die Berichte der Schreiberin sind stark durchdrungen von der profunden Kenntnis der Heiligen Schrift, wobei diese von der Gräfin entweder direkt durch exakte Angaben von Textstellen oder auch indirekt rezipiert wird. Eine der Ausgaben der Lutherbibel, die de La Tour persönlich besessen und verwendet hat, ist nach wie vor im Archiv der Diakonie Kärnten (ADK) in Treffen verwahrt. In der Innenseite des Buchdeckels stehen handschriftlich der Name „Elvine de La Tour“ sowie mit Bleistift notiert die Bibelstellen „Hiob 28“ und „Jes 40“.7 Diese Texte waren ihr vermutlich für ihre persönliche Lebensdeutung wichtig und bestimmend. 5
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Einen bibliografischen Überblick über die bisher erschienene Literatur bietet die ausführliche Biografie von Heidrun SZEPANNEK, Elvine Gräfin de La Tour (1841–1916): Protestantin – Visionärin – Grenzgängerin (Das Kärntner Landesarchiv 28; Klagenfurt: Verlag des Kärntner Landesarchivs, 22011), 247–258. Diese geht in ihrer Publikation knapp auf die Bibelrezeption von Elvine de La Tour ein: 73–77. Alle Ausgaben des Jahresberichts über die Werke der Inneren Mission sind im ADK in Treffen unter der Signatur AOO5-1 aufbewahrt. Gedruckt wurden die Jahresberichte von 1906 bis 1910 und 1915 bei Heinrich Schlick in St. Veit an der Glan in Kärnten, ab 1911 von der Buchdruckerei L. Herrmannstorfer in Triest, 1916 von der Druckerei Chr. Scheufele in Stuttgart. Nach dem Tod von Elvine de La Tour erschien noch eine Ausgabe im Jahr 1917. Mein Dank gilt Christl Szepannek, die das ADK betreut, für die unkomplizierte Einsichtnahme in die Unterlagen. ADK, GOO1-1, Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers (Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt, 1901). Darin finden sich zahlreiche Markierungen von Textstellen durch die Gräfin selbst. Im ADK sind noch zwei weitere Lutherbibeln erhalten, die de La Tour an junge Frauen zum Anlass der Konfirmation verschenkte. Die beiden Bibeln sind mit den Namen Emilie von Molitor und Christine Hinteregger versehen. Die Innenblätter der beiden
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Mit Hilfe der Bibel, die ihr als ethischer Maßstab für ihr Handeln an den Nächsten und als Erbauungsbuch im alltäglichen Leben diente, wurden Ereignisse des verflossenen Jahres reflektiert. Die Berichte weisen ein gleichbleibendes Schema auf: Meist wurden sie am Anfang eines Jahres abgefasst, fast immer mit einer Bibelstelle eröffnet, seltener mit einer Liedstrophe oder einem Gebet, danach folgte der Rückblick auf das vergangene Jahr. Der Text schloss mit dem Dank an FreundInnen und WohltäterInnen oder mit dem Lobpreis Gottes, oft auch mit einem Bibelzitat. Der erste berichterstattende Beitrag der Verfasserin erschien 1906. Ihr letzter entstand im Mai 1916 nur fünf Monate vor ihrem Tod und gleicht einem Lebensrückblick. Schon die Anfangszeilen, mit denen die Gräfin ihren ersten Rückblick im Jahresbericht 1906 eröffnet, zeigen die existenzielle Aneignung der Bibelworte. Die wenigen Zeilen machen offenkundig, wie genau sich die Schreiberin aufgrund ihrer erwecklichen Frömmigkeit an der Heiligen Schrift orientierte, wie sie ihr Leben und ihr Arbeiten im Lichte der Bibel auslegte und auf Gottes Beistand in allen Lebenslagen vertraute: Wenn im Gebet Mosis, des Mannes Gottes, steht (Psalm 90,10), daß, wenn unser Leben köstlich gewesen, es Mühe und Arbeit gewesen ist, so dürfen wir im Rückblick auf das verflossene Jahr, das uns ein Bild angestrengter Tätigkeit bietet, auch sagen, daß es ein köstliches gewesen ist. Nicht allein der Arbeit wegen, die wir für den Herrn verrichten durften, sondern auch noch besonders in dankbarer Anerkennung der so vielfach in den Zeiten der Not und Trübsal erfahrenen Durchhilfe unseres Gottes.8
Als Beleg für Gottes dauerhaft erfahrene Hilfe zitiert de La Tour die Textzeile „In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet“, die aus dem bekannten Kirchenlied Lobe den Herren (1680) von Joachim Neander stammt und an Dtn 32,11 erinnert.9 Anhand der von de La Tour veröffentlichten Jahresberichte lässt sich ausschnitthaft und eindrucksvoll dokumentieren, welche immense Bibelkenntnis diese evangelische Christin aufgrund ihrer regelmäßigen Lektüre und Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift besaß, zumal sie weder den Beruf einer Diakonisse ergriffen hatte noch Missionarin geworden war.10 Die Bibel spielte in ihrem Leben und ihrer Lebensdeutung eine entscheidende Rolle und wurde zur Motivation ihrer sozialen Initiativen.
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Ausgaben, die sich nur durch das Erscheinungsjahr voneinander unterscheiden (1894 bzw. 1896), enthalten persönliche Widmungen von Elvine de La Tour mit Bibelzitaten. ADK, GOO1-2 und GOO1-3, Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers (Berlin: Britische und Ausländische Bibelgesellschaft, 1894 u. 1896). Jahresbericht 1906, 3. Jahresbericht 1906, 3. Zu den schriftlichen Quellen, die Elvine de La Tour hinterlassen hat, zählen außerdem ihre Korrespondenz, einige kleinere Beiträge in evangelischen Zeitschriften sowie ihre schriftlich niedergelegten Erinnerungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, die im ADK aufbewahrt sind.
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2. Die Bibel als Maßstab für Lebensorientierung und soziales Handeln 2.1 Leitmotiv für ihr diakonisches Wirken: Joh 21,15 Elvine de La Tour, geborene Ritter von Záhony, entstammte einer vermögenden lutherischen Kaufmannsfamilie in Friaul, deren Ahnenreihe väterlicherseits sich bis zu den Lebzeiten des deutschen Reformators nachverfolgen lässt.11 Dort erblickte sie am 8. Dezember 1841 das Licht der Welt. Die Familien ihrer Eltern hatten großen Anteil an der Entwicklung der evangelischen Gemeinden in Görz und Triest. Ihr Vater Julius Hektor Ritter von Záhony setzte sich für die Gründung einer selbstständigen Gemeinde in Görz ein, fungierte dort als Kirchenpfleger und forcierte den Bau der 1864 eingeweihten evangelischen Kirche. Noch in ihrer Kindheit verlor de La Tour ihre Mutter und als Jugendliche ihren ältesten Bruder. Ihre geistliche Formung erhielt sie vor allem durch Gespräche mit ihrem Pfarrer Ludwig Schwarz, der von 1864 bis 1871 die neu gegründete evangelische Gemeinde in Görz leitete. Über Schwarz wurde sie mit den Ideen des Initiators der Allgäuer Erweckungsbewegung, Martin Boos, vertraut.12 Elvine de La Tour bewegte schon in ihrer Jugendzeit die soziale Ungleichheit, der Gegensatz zwischen Arm und Reich. Sie schrieb selbst, dass sie aus „glänzenden Verhältnissen“ stammte, dass sie allerdings von mittellosen Menschen umgeben war. Daher wollte sie einen Lebensweg wählen, der dazu beitragen sollte, „die Not meiner Mitmenschen zu lindern“.13 So sollte die „leidende Kinderwelt […] die Triebfeder zu meinem späteren Werken an den armen Kindern werden“. Besonders die Meditation der Bibelstelle Joh 21,15 war für ihr weiteres diakonisch-soziales Handeln ausschlaggebend, zumal sie „den Auftrag Jesu vernahm: ‚Weide meine Lämmer!‘ da dachte ich: ‚Auch ich liebe den Heiland und möchte Seine Lämmer weiden.‘ – Darunter verstand ich die Kinder.“14 Rückblickend beschrieb sie den „Retterdienst an den Kindern und Erwachsenen“ als „das brennende Verlangen meiner Seele“.15 Nach der 1868 erfolgten Heirat mit dem katholischen Grafen Theodor de La Tour (1845–1894) lebten die Eheleute auf dem Weingut Russiz, das zum nahe dem Görzer Hügelland gelegenen Dorf Capriva bei Cormons in Friaul gehörte. Der Graf zeigte sich dem Zusammenleben der Konfessionen gegenüber aufgeschlossen, was für die damali11
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Michaela SOHN-KRONTHALER, „Ein Leben im Zeichen der Diakonie: Elvine Gräfin de La Tour (1841–1916) und ihre sozial-karitativen Gründungen in Italien und Österreich“, in Frauen gestalten Diakonie 2: Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (hg. von Adelheid M. von Hauff; Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 351–367. Zu Martin Boos (1762–1825) siehe Georg SCHWAIGER, „Boos“, LThK 2 (31994), 590; zur Allgäuer Erweckungsbewegung und Boos siehe Horst WEIGELT, „Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung“, in Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert (hg. von Ulrich Gäbler; Geschichte des Pietismus 3; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000), 87–111; 88– 95. Jahresbericht 1916, 3. Jahresbericht 1916, 3. Vgl. Christentum der Tat 1 (1923), Folge 4, 7f. Elvine de LA TOUR, „Aus Kärnten“, Worte der Wahrheit und Liebe für Österreich und Ungarn 9 (1913), 190.
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ge Zeit keineswegs selbstverständlich war. Die Region des österreichischen Küstenlandes wies zu jenem Zeitpunkt einen beachtlich hohen katholischen Bevölkerungsanteil mit 99,9% auf. Er unterstützte zudem die sozialen, überkonfessionellen Initiativen seiner Gattin. Mit dem Kauf der Herrschaft Treffen in der Nähe von Villach in Kärnten, die das Ehepaar als Zweitwohnsitz im Sommer nutzte, kam Elvine de La Tour in eine Gegend, in der sie auf ein stärker protestantisch geprägtes Umfeld stieß: Im Jahre 1885 führte der Herr mich nach Kärnten, wo mein Mann und ich den Besitz Herrschaft Treffen erworben hatten. Damit durfte ich ein großes Arbeitsfeld betreten in einem Lande, wovon etwa ein Zehntel von evangelischen Leuten bewohnt ist.16
Dort kümmerte die Gräfin sich um die Kinder der sehr ärmlichen Bevölkerung in einer Sonntagsschule, die sich bald großen Zuspruchs erfreute. De La Tour fragte nach den Ursachen der sozialen Missstände und verschaffte sich durch den Unterricht den ersten Einblick in das entsetzliche Elend und die sittliche Verwahrlosung unseres Volkes hier, welches so sehr von jeder göttlichen Ordnung abgewichen war. Davon zeugten die vielen unehelichen Kinder, die Mißachtung der Ehe, die herrschende Unsittlichkeit, Gottlosigkeit, Unzucht, Trunksucht usw. Wie wuchsen die armen, verlassenen Kinder auf, denen ein in Gottes Wort gefestigtes Elternhaus niemals geboten war! […] So wuchs auch hier eine Arbeit heran, zuvörderst zur Sammlung und Bergung der verlorenen, gefährdeten, der Pflege bedürftigen Lämmlein [vgl. Joh 21,15; Lk 15,3–7].17
In ihrer zweiten Heimat in Treffen gründete Elvine de La Tour eine evangelische Privatschule für Knaben und Mädchen (1891), über deren Eingangstür sie die Inschrift „Einer ist unser Meister, Christus“ in Anlehnung an Mt 23,8 und daneben den Psalmenvers „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“ (Ps 111,10) anbringen ließ. Sie rief ein Säuglings- und Kleinkinderheim ins Leben, eine Pflegestation, die Alten- und Knabenheime Herrnhilf sowie Elim für die verarmten und verlassenen Kinder. Der Name Elim nimmt auf die im Ersten Testament erwähnte Bezeichnung der Oase mit den zwölf Wasserquellen Bezug (vgl. Ex 15,27; Num 33,9).18 Kurz vor ihrem Lebensende resümierte Elvine de La Tour im Mai 1916: „Die Verheißung, welche ich bald nach meiner Ankunft hier in Treffen aus Gottes Mund empfangen: Offenbarung 3,7.8, der ich all’ die Jahre und niemals umsonst vertraut habe, sollte sich auch da erfüllen.“19 Elvine de La Tour verfügte als Frau adliger Herkunft über einen entsprechenden materiellen Hintergrund, den sie zugunsten ihrer sozialen Werke verwendete.20 Sie war 16
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Jahresbericht 1916, 5. Tatsächlich waren in Kärnten 94,9% der Bevölkerung katholisch und 5,1% evangelisch, in der Gemeinde Treffen teilten sich die konfessionellen Verhältnisse sogar in 61,9% KatholikInnen und 37,8% ProtestantInnen auf. SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 24f. Jahresbericht 1916, 5. Zu ihren Gründungen in Kärnten siehe SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 88–94. Siehe SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 88–94.102–106. Jahresbericht 1916, 6. SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 153–163.
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von ihrer individuellen Berufung überzeugt und dankte Gott für die Erwählung zu dessen Mitarbeiterin und für seinen Segen: „Denn Ihm, dem Gott, der mich in seinen Dienst berufen und meine Arbeit gesegnet hat, gebührt doch allein Preis und Dank dafür.“21 An anderer Stelle rückte sie ihr Wirken in den Kontext der Weltgerichtsrede Jesu (Mt 25,40: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan) und folgerte: „Der Gotteslohn und -Segen wird nicht ausbleiben.“22 Das Wachstum ihrer Einrichtungen deutete sie trotz der Mühsale und Schwierigkeiten, auf die sie immer wieder stieß, im Jahresbericht 1911 mit der biblischen Stelle aus Ps 126,5f.: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen; und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“ Als schon 70-Jährige brachte sie ihre Freude über ihre Erwählung, die trotz ihres vorangeschrittenen Alters immer noch andauerte, und den Fortbestand ihrer Werke mit biblischen Anklängen zum Ausdruck: Es ist mir ja köstlich, dessen sicher zu sein, daß mich der Herr in die Arbeit, in der ich stehe, berufen hat. Manchmal meinte ich schon zurücktreten zu müssen, wenn ich sah, wie das Werk stetig an Umfang gewann, immer neue Zweige der Tätigkeit entfaltete und ich daneben mit meiner Schwachheit, dem zunehmenden Alter zu rechnen hatte. Doch meine Bedenken und mein Widerstand wichen stets wieder angesichts der schon erwiesenen großen Gnade und der Verheißungen unseres Gottes. Ich mußte gehorchen und dem Herrn sagen: „Wenn der Auftrag wirklich mir gilt, dann stellte ich mich zur Verfügung, dann weiß ich, daß deine Kraft, o Herr, mich wie bisher, so auch weiter tragen wird.“ Mein Vertrauen darin ist auch nie zu Schanden geworden [vgl. Ps 25,20].23
2.2 Jer 17,5–7 und 2 Kor 6,14 als Entscheidungshilfe Die Bedeutung der von Gräfin de La Tour gegründeten diakonischen Werke kann erst richtig eingeschätzt werden, wenn die sozialen Zustände bedacht werden, die im 19. Jahrhundert unter der küsten- und alpenländischen Bevölkerung vorherrschten.24 Soziale und sozialpädagogische Einrichtungen, wie Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser oder Altersheime, waren keine Selbstverständlichkeit. Die Rahmenbedingungen für karitativ-konfessionelle Initiativen wurden zudem erschwert, da die beiden christlichen Kirchen im Österreich des 19. Jahrhunderts sich wie Gegner verhielten.
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Jahresbericht 1907, 3. Jahresbericht 1907, 11. Jahresbericht 1914, 3. Siehe Lucia ANGELMAIER, Wohltätigkeitsvereine in Triest: Private Initiativen gegen die Armut im Zeitalter der österreichisch-ungarischen Monarchie (Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs 14; Frankfurt: Peter Lang, 2000); Vinzenz JOBST, Arbeitswelt und Alltag: Ein sozialgeschichtliches Lesebuch: Kärntner Arbeiterleben im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (Klagenfurt: Kärntner Druck- und Verlagsgesellschaft, 1985).
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Ausgangspunkt für das älteste Werk von Elvine de La Tour war 1873 in Görz die Gründung eines Hilfsvereins mit dem Zweck, „gänzlich verarmte oder verwaiste Mädchen zu versorgen und zu erziehen“.25 Sie selbst war zur Vorsteherin dieses – für die damalige Zeit bemerkenswert – interkonfessionell zusammengesetzten Waisenversorgungsvereins gewählt worden, obwohl die evangelischen ChristInnen dort eine Minderheit bildeten. Das Ziel des Vereins war ein religiöses: „Die im Namen Jesu aufgenommenen jungen Seelen für den Heiland der Welt zu gewinnen, war mir stets als der vornehmste Zweck und das zu erstrebende Ziel bei dieser Kindererziehung erschienen.“26 Da sie bald auf Hindernisse traf, „welche immer mehr meine Gewissensfreiheit bedrohten“, beschloss Elvine de La Tour, ihre Vorsteherinnenstelle aufzugeben. Sie habe sich nämlich verpflichtet gefühlt, dieses neu entstandene Werk auf rein evangelischen Grund zu stellen (Matth. 7,24–27), so stieß ich dabei auf vielerlei Bedenken und den Widerstand der meisten unter den Vereinsmitgliedern, welche kein Verständnis für meine Glaubenseinstellung hatten.27
Aus „Gewissensgründen“ sei sie „schweren Herzens gezwungen“ gewesen, „einen anderen Weg einzuschlagen“.28 Besonders die Bibelstellen Jer 17,5–8 und 2 Kor 6,14 gaben ihr die Richtung des weiteren Handelns vor, nämlich die Zusammenarbeit mit den „Ungläubigen“ – gemeint waren die nicht evangelischen ChristInnen – aufzukündigen. Auch an einer anderen Stelle schrieb sie, dass ihr bei ihrer Entscheidungsfindung die Bibelverse aus Jer 17 einen „heißen inneren Kampf“ verursachten: Ich hatte die Wahl zu treffen zwischen dem Weg, welchen menschliche Klugheit vorschrieb, und dem, welchen ich als den vorgeschriebenen erkannt. Das Wort Jerem. 17,5 und 7 stand zwingend vor meiner Seele und verursachte mir heißen inneren Kampf.29
In ihrem Losungsbüchlein30, dessen Gebrauch im Milieu der Erweckten üblich war, fand sie, wie sie später rückblickend festhielt, mit dem Spruch „Der ist nicht stark, der in der Not nicht fest ist“ (Spr 24,10) die konkrete Hilfe zur richtigen Entscheidung. Aufgrund ihres Rückzugs löste sich der Verein auf. Sie durfte die Kinder in ihrem Haus aufnehmen, ohne dafür Geld zu erhalten. Ihr Mann stimmte der Unterbringung der Mädchen im eigenen Anwesen in Russiz zu, wo die Gräfin mit dem Unterricht für die Kinder begann. 1875 erlangte sie die behördliche Genehmigung zur Errichtung einer Erziehungsanstalt und einer Schule, in denen Schüler beiderlei Geschlechts und ohne Unterschied der Konfession unterrichtet werden konnten.31 Ein Schulbau wurde 25
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Der Bericht der Gräfin de La Tour aus dem Jahresbericht 1910 enthält kein Deckblatt und keine Seitenzählung. Er umfasst nur die zwei Seiten des Berichtes von Elvine de La Tour. Jahresbericht 1910, [1]. Siehe auch Jahresbericht 1909, 16. Jahresbericht 1910, [1]. Vgl. auch Jahresbericht 1916, 4. Jahresbericht 1916, 4. Jahresbericht 1910, [1]. Das erste Losungsbuch entstand 1731 in der Herrnhuter Brüdergemeine. SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 80–86. Einen anschaulichen Bericht über die fast 30-jährige Tätigkeit von Anstalt und Schule gibt die damalige Vorsteherin: Anna HEBER, „Bericht über
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in Angriff genommen, bald auch der Neubau einer Erziehungsanstalt. Der Andrang war so groß, dass trotz mehrmaliger Vergrößerungen die Räume immer noch zu eng waren und an eine bauliche Erweiterung gedacht werden musste. Die Gräfin fasste unter Verwendung eines biblischen Bildes den Entschluss, daß ich gerne den Raum weiter machen und meine Teppiche ausbreiten möchte. Jes 54,2. So hatte sich der Glaube damals in meinem Leben als eine Großmacht erwiesen und so ist es geblieben bis zum heutigen Tag. Ihm, dem Herrn, nicht mir, gebührt die Ehre! Ich weiß, durch wie viel Schwachheiten ich gegangen, da Seine Kraft und Liebe, die den glimmenden Docht nicht auslöscht, mich trug [vgl. Jes. 42,7].32
Den Erfolg, dass ihre beiden Gründungen in Russiz nach drei Jahrzehnten noch immer in einer überwiegend katholisch-italienischen Region Bestand hatten, begründete die Schreiberin mit der Textstelle aus Mt 7,24–29: „Es ist dies eben auch nicht auf den Sand, sondern auf den Fels, der nicht wankt noch weicht, gebaut.“33 Das Gelingen ihrer sozialpädagogischen Initiativen deutete sie mit Mt 6,13: Was göttlich ist, kann nicht untergehen. Darum bleiben wir getrost und wissen, daß wir in trüber und lichter Zeit nur zu loben und zu danken haben dem, deß das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit ist in Ewigkeit.34
Im Blick auf ihre zahlreichen Werke empfand sich Elvine de La Tour, die selbst keine leiblichen Kinder hatte, als „reiche Mutter“ – sie, die „vom Herrn eine große Aufgabe empfangen und der eine noch größere Verantwortung obliegt“. Diese Umstände müssten sie erdrücken, wenn sie nicht das Wissen hätte, dass der Herr ihr stets „Weisheit, Licht und Kraft“ gebe und „daß Er es den Aufrichtigen gelingen läßt! [Spr 2,7]“.35 Die Gräfin kümmerte sich um die Pflege und Fürsorge für kleine Kinder, ja Säuglinge, die von Tagelöhnerinnen und Mägden bzw. aus ärmlichen Verhältnissen stammten und welche „an Leib und Seele gefährdet“ waren. Diese nahm sie im Kinderheim in Treffen seit 1902 auf und wandte dabei folgendes biblische Bild an: „,Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf.‘ Ps 27,10“.36 Von der Diakonisse, die das Alten- und Siechenheim betreute, berichtete Elvine de La Tour, dass diese sich der von ihr Versorgten mit Liebe und Treue nicht nur pflegerisch annehme, sondern sich auch um deren Seelenheil kümmerte. Die Schwester kenne „kein höheres Verlangen, als die ihr anvertrauten Pfleglinge dem Hirten und Bischof unserer Seelen, dem teuren Heiland zuzuführen. 1 Petr. 2,25.“ Dabei erwähnte Elvine de La Tour in ihrem Bericht am Beispiel des biblischen Textes in Lk 23,43 das Schick-
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die Arbeit in der evang[elischen] Mädchen-Erziehungs-Anstalt zu Russiz bei Cormos ‚österr[eichisches] Küstenland‘“, Jahresbericht 1911, 14–21. Jahresbericht 1910, [2]. Siehe dazu Anm. 27. Jahresbericht 1906, 9. Der letzte Satz ist nur in der Lutherbibel, nicht in der Einheitsübersetzung zu finden. Jahresbericht 1906, 9. Jahresbericht 1909, 5. Jahresbericht 1909, 9.
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sal eines Holzfällers, der zum christlichen Glauben fand und dem die Gräfin persönlich im christlichen Sterben beistand.37
3. Die Evangelisation als wichtigstes Anliegen Neben dem diakonisch-sozialen Handeln spielte bei Elvine de La Tour das volksmissionarisch-evangelisierende Anliegen eine wichtige Rolle. Die Gräfin ist den von anglo-amerikanischen Einflüssen geprägten Erweckungsbewegungen zuzuordnen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige evangelische Landeskirchen deutschsprachiger Gebiete erfassten.38 Damals entstanden eigene Gemeinschaftskreise, die ein autonomes Gemeindeleben entwickelten und besonders der Kirche Entfernte wie auch soziale Randgruppen ansprachen.39 De La Tour hielt Kontakte zu den Zweigen, die sich an der Evangelischen Allianz und der Heiligungsbewegung ausrichteten. Zur Gewinnung von EvangelistInnen war sie international vernetzt. Auf ihren Reisen besuchte sie u. a. persönlich das Zentrum St. Chrischona bei Basel40, woher die meisten ihrer Prediger, die sie in Kärnten und Friaul einsetzte, kamen. Vermutlich sammelte sie hier Anregungen für ihre sozialen Projekte. Daneben gelang es ihr, EvangelistInnen aus dem ostpreußischen Bahnau41 sowie aus dem Diakonissenmutterhaus Hensoltshöhe bei Gunzenhausen für die missionarische Tätigkeit zu gewinnen.42 Aus Korntal in Württemberg, einem Zentrum, in dem sich der ältere Pietismus mit Ideen der Gemeinschaftsbewegung zu einem ganz eigenen Lebensmodell verbunden hatte, lud sie im Mai 1911 den schwäbischen Prediger Eugen Zimmermann nach Treffen ein. Zuvor hatte dieser in Russiz und in Triest im Christlichen Hospiz, das Elvine de La Tour 1908 eröffnen ließ, sowie in der dortigen 37 38
39 40
41 42
Jahresbericht 1909, 10–12. Siehe dazu Gustav Adolf BENRATH, „Die Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen 1815–1888: Ein Überblick“, in GÄBLER, Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert, 150–271. Leider findet Elvine de La Tour in dieser Gesamtdarstellung zum Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert keine Erwähnung. Siehe Jörg OHLEMACHER, „Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“, in GÄBLER, Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert, 393–464. Die Pilgermission St. Chrischona wurde 1840 von Christian Friedrich Spittler mit dem Ziel errichtet, Menschen für den Verkündigungs-, Seelsorge- und Missionsdienst auszubilden. Sein Nachfolger Carl Heinrich Rappard baute die Ausbildungsstätte zur ersten Evangelistenschule im deutschen Sprachraum aus. Edgar SCHMID, Wenn Gottes Liebe Kreise zieht: 150 Jahre Pilgermission St. Chrischona 1840–1990 (Basel: Brunnen-Verlag, 1990); Karl RENNSTICH, „Mission – Geschichte der protestantischen Mission in Deutschland“, in GÄBLER, Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert, 308–319; 308–310. Aus dem Bericht von de La Tour geht hervor, dass sie bei ihrer Reise im Sommer 1910 dort war und vermutlich wegen eines Predigers vorsprach, da am 1. Dezember 1910 ein Chrischonabruder, der Prediger Rüdt, nach Villach kam. Jahresbericht 1914, 3. Dort war 1906 eine evangelische Missionsschule errichtet worden. Jahresbericht 1913, 5.
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evangelischen Kirche Evangelisationsversammlungen abgehalten.43 Sie selbst sandte ihren Lieblingsgroßneffen Theodor von Gall zu Ausbildungszwecken nach Korntal.44 Die zentralen Momente der Erweckungsbewegungen, nämlich die Missionsarbeit, die Verkündigung des Evangeliums und die praktizierte Nächstenliebe in Form diakonisch-sozialer Initiativen, spiegeln sich auch im Sendungsbewusstsein von Elvine de La Tour wider.45 Sie bezeichnete die „Gemeinschaftsbewegung und Evangelisation“ als „höchst wichtigen Arbeitszweig“ ihrer Tätigkeit.46 Mit Evangelisationen begann sie im Jahr 1893.47 So rezipierte sie in diesem Kontext das Gleichnis Jesu nach Mt 13,1– 23: „Da wurde nun der Same aus Gottes Wort ausgestreut, und manch Körnlein fand einen guten Boden, in dem es Wurzel fassen, gedeihen und Frucht bringen konnte.“48 Für das Werk der Glaubensverbreitung holte sie konsequent EvangelistInnen nach Kärnten.49 Die positive Entwicklung der Evangelisation nach über einem Jahrzehnt, wo sich in Treffen und Umgebung ein aktives Glaubensleben „zu Gottes Ehre und der Menschen Freude“ entfaltete, deutete sie mit dem Schriftstelle Jes 52,7: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Boten, die da Frieden verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“50 De La Tour hielt in ihrer Rückschau zum Arbeitsjahr 1910 mit Freude fest, dass sich auch in anderen Orten Kärntens kleine Gemeinschaftskreise gebildet hatten. Die Evangelisationstätigkeit, die im Winter sogar von drei Evangelisten durchgeführt worden war, qualifizierte die Gräfin als sehr rege. Diese hätten die beschwerlichen Wege nicht gescheut, „um Menschenseelen für den Heiland und seine Nachfolge zu gewinnen, um die Ungezogenen zu ermahnen, die Kleinmütigen zu trösten, die Schwachen zu tragen. 1. Thess. 5.14“.51 Männer und Frauen wie auch Schwestern und Brüder „aus unseren Gemeinschaften“ waren bei der Verteilung vieler Schriften und Traktate des deutschen Evangelisten und Schriftstellers Ernst Modersohn (1870–1948) aus
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Jahresbericht 1912, 4. SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 72. Arnd GÖTZELMANN, „Die Soziale Frage“, in GÄBLER, Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert, 272–307. Jahresbericht 1911, 6. Jahresbericht 1909, 5. Der Jahresbericht 1916 erwähnt als ersten Evangelisten im Jahr 1893 einen „in St. Chrischona ausgebildeten Kärntner“. Gemeint war Alfred Galsterer. Jahresbericht 1916, 5. Jahresbericht 1916, 5. SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 73. 94–96. Jahresbericht 1909, 5. Jahresbericht 1911, 7. Unter ihnen war Matthias Dopplinger, der allerdings im Frühjahr 1910 nach Gallneukirchen (Oberösterreich) wechselte. Von den beiden anderen Evangelisten trennte sich de La Tour, da sie der Pfingstbewegung und der Sündlosigkeitslehre Jonathan Pauls zuneigten. So übernahm Hausvater Friedrich Gienger das Amt eines Gemeinschaftspflegers in Treffen. Zwischendurch war Missionar Hauser aus Rottweil in Treffen tätig.
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Blankenburg und des bekannten Evangelisten Georg von Viebahn (1840–1915) aktiv gewesen.52 Elvine de La Tour ließ in Treffen den Gemeinschaftssaal ausmalen: Die Wände wurden mit Bibelsprüchen geschmückt und der Saal mit einer Kanzel, mit Bänken, einem Altar sowie einem aus Erz hergestellten segnenden Christus, der in einem Rahmen eingefasst wurde, ausgestattet. Auf diesem war der Bibelvers Mt 11,28 ersichtlich: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“.53 Zur Einweihung des Saales lud sie Pastor Modersohn ein, der erstmals 1909 Kärnten aufsuchte und 1913 erneut zum Jahresfest nach Waiern kam. Dieser erinnerte sich in seiner späteren Autobiografie an die „teure Gräfin La Tour“, die eine „gesegnete evangelische Liebesarbeit im katholischen Lande […] betrieb“.54 Die Diakonissen, die de La Tour aus den Mutterhäusern Großheppach in Württemberg, aus dem westpreußischen Vandsburg und aus Hensoltshöhe in Gunzenhausen (Bayern) angefordert hatte, kümmerten sich um die Evangelisation unter dem weiblichen Geschlecht: „Diese Diakonissen halten Versammlungen – zumeist für Frauen und Mädchen –[,] Sonntagsschule, Bibelstunden in den Häusern und wirken im Segen mit Besuchen, Krankenpflegen u. s. w.“55 Die Schwestern besuchten stets auch Randgruppen der Gesellschaft: […] Kranke, Notleidende, Trinker und bestrebten sich dem Auftrage gemäß zu handeln: „Vermahnet die Ungezogenen, tröstet die Kleinmütigen, traget die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann.“ 1. Thessal. 5,14.56
Die Tätigkeit einer Schwester im Alten- und Krankenheim beschrieb de La Tour mit Worten aus der Heiligen Schrift: „Ihre Arbeit hat schon manche Frucht gezeitigt und Segen gewirkt. Dies wird dereinst der große Tag, der alles Verborgene ans Licht bringt, offenbar machen [vgl. Dan 2,47; 2 Makk 12,41].“57 Der Erfolg der Evangelisation zeigte sich bald darin, dass die Räumlichkeiten in Treffen vergrößert werden mussten: „Der Raum wurde überall zu enge und so mußte ich mich zu manchem Ausbau, zuvörderst in Herrnhilf entschließen“. So interpretierte die Stifterin die Erweiterung ihrer sozialen Initiativen in Kärnten mit Jes 54,2: „Mache den Raum deiner Hütte weit und breite aus die Teppiche deiner Wohnung.“58 Zur Freude der Gräfin gelang es im Sommer 1913, neben zwei Evangelisten auch eine Diakonisse nach Triest zur Evangelisation zu entsenden. Dieses Ereignis führte sie auf göttliches Wirken zurück: „Der Herr hat wunderbar gesegnet und hat auch mein Gebet, den Saal anzuweisen, der uns zur Wortverkündigung dienen sollte, erhört. 52 53 54 55 56 57 58
Jahresbericht 1914, 6. Jahresbericht 1912, 4f. Ernst MODERSOHN, Er führet mich auf rechter Straße (Stuttgart: J.G. Oncken, 51948), 231– 236; 231. Weiters Holger BÖCKEL, „Modersohn, Ernst“, RGG 5 (42008), 1389. Jahresbericht 1908, 5; weiters Jahresbericht 1914, 5. Jahresbericht 1914, 4. Jahresbericht 1915, 7. Jahresbericht 1908, 7.
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Markus 14,15.“59 Sie erhielt für diese Zwecke die evangelisch-lutherische Kirche zur Verfügung gestellt und machte die Erfahrung, dass der Herr […] seine Größe und Herrlichkeit in anderer Weise [offenbart] als es die Welt tut. Da steht den Wegen, welche die Seinen gehen, stets das Wort „gering“ voran. Doch diejenigen, welche dieselben einschlagen, wissen viel von einer verborgenen Herrlichkeit zu sagen, welche einen großen Frieden und unbeschreibliche Freude zeitigt. Diese wird ihren Gipfelpunkt dereinst da erreichen, wo es dann heißen wird: „Das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herz kommen ist, das hat Gott bereitet, denen die ihn lieben“. 1 Kor. 2,9.60
Nach zehntägiger Evangelisation gelang es der Gräfin, für weitere Monate in Triest einen Saal zur Nutzung zu erhalten. Aus diesem Ereignis schloss sie, dass sie ihre Werke vertrauensvoll in die Hände Gottes legen könne, und fasste den Bericht mit den Worten zusammen: „Wir sind getrost, daß der Herr dann weiter sorgen werde. Ja, wir beten um ein eigenes Haus und rechnen darauf, daß der Herr uns, so dies Sein Wille, erhören werde.“61 Da die EvangelistInnen oft nur wenige Jahre blieben, war Elvine de La Tour stets auf der Suche nach neuen MitarbeiterInnen. Sie verwies wörtlich auf das „Gebet, welches unser Heiland uns selbst in den Mund legt“, nämlich auf die Bibelstelle: „Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende“ (Mt 9,38; Lk 10,2).62 Dass ihre Gebete Erhörung fanden, stellte sie mehrfach in ihren Jahresrückblicken fest. So konnte sie von Besuchen des Pastors Theophil Krawielitzki (1866–1942), des Gründers des Gemeinschafts-Diakonieverbandes von Vandsburg, berichten, der eine evangelistisch begabte Diakonisse namens Wilhelmine mitbrachte. Gemeinsam hielten diese Versammlungen in Russiz, Triest, Villach und Treffen ab. Nach deren Abreise kam als Ersatz die Diakonisse Marie Kuhl, die als Gemeindeschwester im Treffener Zentrum und dessen Umgebung arbeitete. Sie wurde von einer zweiten Schwester unterstützt. Neben diesen beiden Schwestern arbeiteten zwei weitere Diakonissen aus Vandsburg in Treffen, eine bei den kranken und alten Menschen, die andere in der Kinderkrippe. Ebenso wurde von ihr eine Schwester aus dem Mutterhaus zur Ausbildung von Kleinkinderpflegerinnen in Großheppach erwähnt, eine fünfte Diakonisse aus Vandsburg wirkte als Helferin in der Mädchenerziehungsanstalt in Russiz.63 An anderer Stelle schrieb die Gräfin, dass zwei Evangelisten wegen des Ausbruches des Ersten Weltkrieges zum Militär eingezogen wurden, was personelle Einbrüche im missionarischen Einsatz zur Folge hatte. Abermals artikulierte sie die Bitte an den Herrn um Entsendung neuer ArbeiterInnen.64 Zu den Evangelisationsbemühungen von Elvine de La Tour gehörten auch die, vermutlich ab 1898, im Monat August durchgeführten Jahresfeste ihrer Anstalten, an die 59 60 61 62 63 64
Jahresbericht 1914, 5. Jahresbericht 1914, 5. Jahresbericht 1914, 5. Jahresbericht 1908, 4. Jahresbericht 1908, 5. Jahresbericht 1915, 6.
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sich dann mehrtägige Konferenzen zur Vertiefung des Glaubenslebens anschlossen. Im Kontext der Missionsarbeit steht auch ihr Einsatz zur Errichtung eines Blaukreuzvereins für Kärnten mit dem Sitz in Treffen, der zur Fürsorge von AlkoholikerInnen am 2. März 1913 eröffnet wurde.65 Des Öfteren berichtete de La Tour von Schwierigkeiten, Krisen und Feindseligkeiten, auf die sie im Zuge der Evangelisation stieß. So klagte sie im Jahresbericht 1912: Auch unsere Arbeit der Evangelisation, der Gemeinschaft und des blauen Kreuzes findet vielen Widerspruch, auch sogar von manchen, die sich davon überzeugen konnten, daß wir auf Gottes Wort gegründet stehen und dieses allein den vom Gehorsam zum Schöpfer aller Dinge abgefallenen Menschen bieten wollen.66
Widerstände begegneten ihr nicht nur von Seiten katholischer Amtsträger, wie im nachfolgenden Kapitel näher ausgeführt wird, sondern teilweise auch innerhalb der eigenen Kirche, die sich an manchen Predigern von außen und an deren Arbeitsweise rieb. So kam es schon 1910 zu Kontroversen wegen zweier Evangelisten aus Bahnau, die in den Gemeinden schwärmerisches Verhalten an den Tag gelegt hatten. Die Konflikte führten zu einer Pfarrerkonferenz in Villach. Diese beriet grundsätzlich über den Weiterbestand der Missionsarbeit, entschied letztlich zugunsten der Gräfin bzw. der Fortsetzung der Evangelisation in Kärnten, auch wenn einige evangelische Pfarrer später noch „Misstrauen und Widerstand“ gegenüber den Predigern hegten.67 Wegen einer neuen Bibelübersetzung für die Slowenen mussten zwei eigens dazu angestellte Kolporteure vorübergehend Gefängnisstrafen erdulden. Trotz der Behinderungen, die sie mit ihren Werken erfuhr, war de La Tour überzeugt, daß die Sache, an der wir stehen, des Herrn ist, des die Macht ist, der sie schützen und ihr zum Sieg verhelfen wird. An diesem Glauben halte ich in unverbrüchlichem Vertrauen fest, und bin darum getrost.68
Die von de La Tour gegründete Gemeinschaftsarbeit besteht heute in Form des „Christlichen Missionsvereines für Österreich“ (CMV) weiter und ist Mitglied im „Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband“ sowie im Diakonischen Werk für Österreich.69
4. Existenzielle Aneignung der Heiligen Schrift In den von de La Tour verfassten Texten läßt sich die existenzielle Aneignung der Heiligen Schrift durch die Schreiberin eindrucksvoll nachvollziehen. Diese ist typisch für die Mitglieder der Erweckungsbewegungen. Auch in den Jahresberichten spiegelt sich die persönliche Gottes- und Heilserfahrung der Gräfin, das „individualistische 65 66 67 68 69
Jahresbericht 1914, 3. Vgl. auch SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 96f.107f. Jahresbericht 1914, 5. SZEPANNEK, Elvine de La Tour, 151f. Jahresbericht 1913, 5. www.cmv.or.at (01.09.2013).
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Motiv“, wider.70 Sie fühlte sich von Gott bzw. Jesus, ihrem Heiland, der in ihre konkrete Lebenssituation hineinwirkte, direkt angesprochen. Ein zentrales Thema ihrer Bibelfrömmigkeit bilden die Gnade und Langmut Gottes (vgl. 1 Kor 15,10) und die Gebetserhörung.71 In der Abfassung des Berichtes für das Jahr 1910 umschrieb de La Tour ihre erweckliche Gläubigkeit und Demutshaltung mit den Worten, dass „ich nichts bin und vermag und es allein der Gnade unseres großen Gottes zu verdanken habe, wenn ich dazu beitragen durfte, seine Liebesabsichten auch an unserem Volke hier auszuführen“ (vgl. Eph 2,8). Sie habe „manchmal mit Schmerz und innerer Beugung erwogen“, dass „der Herr durch eine völligere Hingabe, durch mehr Gehorsam und Glauben meinerseits noch mehr ausrichten [hätte] können“. Deshalb erscheine ihr umso größer „meines Gottes Langmut, die uns in unserer Schwachheit trägt und nicht fallen läßt“ (vgl. 2 Kor 12,9).72 Die Gräfin empfand ihr Leben stets von Gnade durchdrungen: Ja, Gnade ist es doch nur, die ich preisen darf im Rückblick auf eine lange Reihe von Jahren, da die göttliche Langmut mich getragen, um meine Seele geworben hat und nach dem ich als armer, bankrotter Sünder den Heiland erfaßt und mich ihm übergeben hatte, von ihm dazu berufen und ausgerüstet wurde, um ihm an den Kindern zu dienen.73
De La Tour war überzeugt, dass „keine im Glauben dargebrachte Bitte unerhört bleiben kann!“ und dass sie in allen Zeiten ihres Lebens das von Gott Erbetene erhalten habe.74 Das Schwere im Leben begründete sie mit den pädagogischen Absichten Gottes. Sie habe aber auch wieder lernen [müssen], wie die Not, die Anfechtung und die Kämpfe, welche im Leben eines Gotteskindes nie aufhören, dazu dienen müssen, uns aus unserer Trägheit und des Herzens Härtigkeit empor zu rütteln und im Gebet und Flehen dem zu vertrauen, dem kein Glaube zu schwach, keine Stunde zu spät, keine Not zu groß erscheint.75
Gott würde darauf warten, dass die Menschen einen Weg wählen, in welchem er zeigen könne, „wie groß seine Macht ist und wie gerne Er hilft und die Gebete erhört“.76 Ein vertrauensvoller Glaube bezüglich der Realisierung aller ihrer sozial-missionarischen Initiativen zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Berichte. So verwies sie zuversichtlich auf Dtn 28,8; Joh 2,4 und Joh 8,2: „Der Herr wird alles geben und gelingen lassen, wenn seine Stunde gekommen sein wird; dessen bin ich sicher!“ Den Jahresbericht 1909 schloss sie mit den Worten: Der Herr hat mein Seufzen gehört und hat mich viel Liebe durch seine Kinder und Werkzeuge hier auf Erden erfahren lassen. Er aber wird – dies hat schon von altersher
70 71 72 73 74 75 76
GÖTZELMANN, „Die Soziale Frage“, 274. Jahresbericht 1908, 8f. Jahresbericht 1911, 3. Jahresbericht 1912, 7. Jahresbericht 1912, 3. Jahresbericht 1912, 3. Jahresbericht 1912, 3.
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sein Knecht David geglaubt und erfahren – einem jeglichen vergelten nach seiner Gerechtigkeit und Glauben. 1. Sam 26,23.77
Am Beispiel einer kleinen Gruppe von evangelischen Glaubensschwestern und -brüdern zeigte sie auf, dass es sich lohnen würde, auf Gottes Hilfe zu vertrauen. Diese Gemeindemitglieder waren trotz ihrer kargen Einkommensverhältnisse bereit gewesen, finanzielle Mittel zum Unterhalt einer Diakonisse aufzubringen. Sie wandte die Bibelstelle 1 Sam 14,6 an, nach der man mit dem Beistand des Herrn in scheinbar ausweglosen Situationen rechnen darf. „Es ist dem Herrn nicht schwer, durch viel oder wenig zu helfen [vgl. 2 Chr 14,10].“78 De La Tour schloss ihre Ausführungen mit dem Wunsch an die LeserInnen, sich stärker auf Gottes Möglichkeiten einzulassen: Wie viel könnten auch wir erleben und erlangen, wenn wir unserem Herrn und Gott im Glauben mehr, ja alles zutrauen wollten! Wir würden dann stets Jesu Wort an uns erfahren: „So du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen.“ Joh 11,40. Daß wir diesem mächtigen, wunderbaren Herrn durch Kleinglauben und Zurückweichen keine Unehre bereiten, sondern Seinen Namen, da wo wir in der Arbeit für Ihn stehen, groß machen, ist mein heißes Verlangen und Sehnen. In Ihm werden wir stets Sieg haben! Und nun sei die Reichsgottesarbeit hier in unseren Landen allen teuern nahen und fernen Brüdern und Schwestern, welche mit uns als Glieder am Leibe Christi verbunden stehen, zu fernerer Liebe und Fürbitte empfohlen. Dank Allen für die schon erwiesene Liebe! Der Herr wird sie lohnen und segnen! [vgl. Num 6,24]79
Das eigene Leben interpretierte de La Tour als ein wechselvolles Geschehen. Zum einen verwies sie indirekt auf Offb 5,12, wonach „die Jubellieder nie verstummen [sollen] zum Lob und Preise des Lammes“. Andererseits berichtete sie von der Erfahrung des Stillewerdens, dass es unter dem Druck dunkler Tage, langer banger Nächte, da wir es nicht anders machen können, als wie es in Jakobus 5.13 steht: „Leidet jemand unter euch, der bete“ und es mit dem Nachsatz: „ist jemand guten Muts, der singe Psalmen“, nicht mehr so vom Herzen gehen will.80
Auch im Jahresbericht 1909 erwähnt sie beide Erfahrungen: Gottes fortdauernde Hilfe, aber auch die „harte[n] Wege, viel Mühe, Kampf, Angst und mancherlei Demütigungen“, die ihr im abgelaufenen Jahr „nicht erspart [blieben]; allein ich wußte mich getragen von den starken Armen meines Gottes, der denen, die Ihn lieben, alle Dinge zum Besten dienen läßt [vgl. Röm 8,28]“.81 Alles, auch das Schwere, die Heimsuchung, das Leid kämen „von ‚oben‘“, da es Gottes „Heils- und Liebesabsicht“ sei, die Menschen stärker an sich zu binden, damit sein Name verherrlicht werde (vgl. Joh 12,28).82 Resümierend folgerte sie daraus die Erkenntnis: 77 78 79 80 81 82
Jahresbericht 1909, 16. Jahresbericht 1908, 11. Jahresbericht 1908, 12. Jahresbericht 1908, 3f. Jahresbericht 1909, 4. Jahresbericht 1913, 3.
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[…] und ich vermag nur zu loben und zu danken – danken für alle vom Herrn erwiesene Barmherzigkeit und Treue, deren ich, seine Magd, zu gering bin, danken für meines Gottes wunderbare Durchhilfe nicht allein in den großen, sondern auch in den allerkleinsten Vorkommnissen, in dem Leben der Anstalten und bei sonstigen Unternehmungen; und danken besonders auch dafür, daß ich es immer wieder erfahren durfte, der Herr gibt allezeit Sieg denen, die Ihm vertrauen [vgl. 2 Kor 2,14].83
De La Tour verwendete gerne die Metapher von der „sichtbaren und verborgenen Seite“, die ihr Wirken an sich trage, und bezog sich dabei auf den 1. Korinther-Brief: Gewiss ist da manches vorgekommen, das sich als Holz, Heu, Stoppeln erweisen wird, 1. Kor 3,12 und ff. doch auch edles Metall, und dies wohl verborgen, ist darunter gewesen. Der Tag, der einmal sicher kommt, wird alles offenbar und klar machen. Indes dürfen wir danken, daß der Herr so treu ist und durch das Feuer der Trübsal manches vernichten ließ, das in Seinen Augen nicht taugte, daher nutzlos war. Der göttliche Schmelzer wird aber auch das, was sich wie Gold und Silber reinigen ließ, Mal. 3,3, gelten lassen und es als ein aus vollem, liebendem Herzen dargebrachtes Dankopfer in Gnaden annehmen.84
Das Thema der verborgenen Wege Gottes mit den Menschen findet sich auch an einer anderen Textstelle bei Elvine de la Tour. Gott erfülle zwar seine Verheißungen, aber auf andere Weise, als Menschen sich dies ausdenken: Markus 16,20 heißt es: „Sie aber, die Apostel, gingen aus und predigten an allen Orten; und der Herr wirkte mit ihnen und bekräftigte das Wort durch mitfolgende Zeichen.“ Wo das eine, als Vorbedingung, in der richtigen Weise geschieht, da wird auch das Zweite, die Folge davon, nicht ausbleiben; denn jede Verheißung unseres Gottes erfüllt sich zweifellos. Allerdings geschieht dies nicht immer so, wie wir es menschlich angesehen, erwarten. Von Stephanus heißt es Apostelgeschichte 6,8: „Stephanus aber voll Glauben und Kräften, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk.“ Und dann, was sehen wir am Ende dieses so reich gesegneten Lebens? Eine Niederlage vor den Augen der Menschen, in der Nachfolge Jesu, ein Los gleich dem unseres Lammes, der uns ein Beispiel gegeben, wie auch wir überwinden können und werden. Darum wollen wir getrost sein im Blick auf die uns verhüllte Zukunft. Auch im Unterliegen werden wir siegen, denn der Sieg gehört unter allen Umständen dem Herrn, und wir haben teil daran, wenn wir ihm angehören. Dies sind die verborgenen Wege, die zur Herrlichkeit führen.85
Wie bereits angedeutet, erfuhr die Gräfin in ihrem Wirkungsfeld in Kärnten und Friaul von einzelnen katholischen Klerikern heftige Angriffe und Widerstände. Sie warfen ihr vor, dass ihre Einrichtungen interkonfessionell ausgerichtet waren und daher auch nichtevangelische Kinder aufnahmen. Die Reichspost, die Tageszeitung der Christlichsozialen Partei in Österreich, bezeichnete sie, wie de La Tour selbst berichtete, als „protestantische Proselytenmacherin“, über deren „Anstalten eine unsichtbare, schützende Hand [waltet]“, da selbst alle Erlässe und Anstrengungen der Schulbehör-
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Jahresbericht 1909, 4. Jahresbericht 1913, 3. Jahresbericht 1914, 6.
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den und Ordinariate nichts gegen sie ausrichten könnten.86 Im Jahr 1914 machte sie erneut stürmische Lebenserfahrungen und sprach von „Feindschaft, Kämpfen und allerlei Not“, von „Anklagen und Kämpfen, darunter wir monatelang zu leiden hatten“.87 Gemeint war damit der Versuch der katholischen Kirche im Küstenland, mit Hilfe der staatlichen Behörden ihr die Kinder, die nicht evangelisch waren, aus den Anstalten zu entziehen. Sie wehrte sich, „die Schäflein auszuliefern, wollte als treuer Hirte dastehen, der nicht flieht wenn der Wolf kommt um in die Herde einzudringen“.88 In Russiz stellten sich Frauen und Mädchen, die aus ihrer Erziehungsanstalt hervorgegangen waren, auf die Seite von der Wohltäterin. In einer öffentlichen Kundgebung brachten sie „ihren Schmerz“ über die Anklagen gegen die Gräfin, aber auch „ihre Anerkennung, Liebe und Dankbarkeit“ der Gründerin gegenüber zum Ausdruck.89 Die Konflikte, die de La Tour wegen ihrer sozialen Einrichtungen erfuhr, empfand sie als sehr schmerzvoll. Zuspruch gaben ihr die Texte der Bibel und ihre Orientierung am Leidensweg Jesu: Um so mehr schmerzte mich zu erfahren, daß gerade mein Wirken zur Erreichung dieses Zweckes und Zieles so vielfachen Widerstand findet und daß demselben die größten Anfechtungen entgegen gesetzt werden. Was ich aus Liebe tue, erfährt von vielen Seiten Mißdeutung und Haß, was nicht zu begreifen wäre, wenn das Wort Gottes, unsere teure Bibel, nicht eine Erklärung dafür hätte. Wie vielfach wurden Leute, welche sich im Dienste der Menschheit hingaben, gehaßt; die Schrift erklärt sie selig (Matth. 10,22–24; Markus 13,13; Lukas 21,17; Lukas 6,22). Unser Heiland erfuhr es hier auf Erden nicht anders (Joh 15,18) und konnte sagen: „Sie hassen mich ohne Ursache.“ (Joh 15,25.) Da müssen wir uns nicht wundern, wenn wir ein ähnliches Los erfahren.90
Wegen des Einzugs der Italiener in das Küstenland während des Ersten Weltkrieges musste de La Tour im Herbst des Jahres 1915 ihre Heimat Russiz verlassen. Da ihr die Rückkehr nach Treffen zunächst verweigert wurde, hielt sie sich bis Ende Januar 1916 in Bern und Stuttgart auf, ehe sie wieder nach Kärnten einreisen konnte.91 Die Anfechtungen und der Krieg schwächten ihre Lebenskräfte, ebenso der Tod ihres nach kurzer Krankheit unerwartet verstorbenen 13-jährigen Großneffen Theodor von Gall. Er war ihr und dessen Eltern „das Teuerste, das wir auf Erden hatten“. Sie nahm sein plötzliches Hinscheiden mit den Worten nach Ijob 1,21 an: „Der Herr weiß, warum Er dies tun mußte; Sein Name sei gepriesen in allem!“92 Die Schlussworte des letzten Berichtes im Jahr 1916, den Elvine da La Tour fünf Monate vor ihrem Ableben verfasste, beinhalteten Trost und Hoffnung auf ein ewiges Leben bei Gott: 86 87 88 89 90 91 92
Jahresbericht 1910, [2]. Vgl. dazu Anm. 27 in diesem Beitrag. Siehe auch Jahresbericht 1909, 16. Jahresbericht 1915, 3. Jahresbericht 1915, 4. Jahresbericht 1915, 4. Jahresbericht 1916, 7. Jahresbericht 1916, 6. Jahresbericht 1916, 7.
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Es schweben mir die Worte vor 1. Petri 3,13, da es heißt: „Wer ist, der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommt?“ und in 1. Kor. 7,23: „Ihr seid teuer erkauft, darum werdet nicht der Menschen Knechte.“ Der Herr, vor dem zu wandeln und dem zu gehorchen ich bestrebt bin, wird zu seinem Worte stehen, da darf ich unbesorgt sein. Dies ist und bleibt mein Trost und meine Zuversicht bei aller Trübsal, in der ich hier auf Erden nicht allein dastehe. Ich hoffe aber auch mit einer ungezählten Schar einmal dort zu stehen, wo das Halleluja der erlösten, seligen Gotteskinder in Ewigkeit erschallen wird!93
5. Fazit Anhand der zwischen 1906 und 1916 verfassten Jahresberichte über die Werke der Inneren Mission lässt sich eindrucksvoll nachweisen, welche existenzielle Bedeutung die Bibel für Elvine de La Tour hatte und wie die Bibelfrömmigkeit der Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts diese zu einem beachtlichen sozialen Engagement motivierte. Die Heilige Schrift spielte im verinnerlichten Christusglauben und in der Lebensdeutung der Gräfin eine fundamentale Rolle, dort fand sie Orientierung, Entscheidungshilfe und Halt für den Alltag. Auch die Entfaltung ihrer Gründungen im Sozialbereich und der Evangelisation interpretierte sie im Licht der Bibel. Zwischen ihren diakonisch-sozialen und ihren volksmissionarisch-evangelisierenden Initiativen bestand eine Interdependenz.94 Elvine de La Tour förderte die Evangelisation in Österreich, die sie als wichtiges Aufgabenfeld bezeichnete, und verfügte über internationale Kontakte zur Gewinnung von PredigerInnen in ihrer Heimat. Als Frau adliger Herkunft verfügte sie über einen entsprechenden materiellen Hintergrund, den sie zugunsten ihrer karitativen Werke einsetzte. Sie schuf mit den Erziehungs- und Bildungsanstalten für Mädchen und Knaben, mit den Alten- und Kinderheimen nicht nur bedeutende Einrichtungen der evangelischen Kirche für die damalige Zeit, sondern damit auch nachhaltige Werke der Diakonie im heutigen Österreich.
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Jahresbericht 1916, 8. Vgl. GÖTZELMANN, „Die Soziale Frage“, 274.
Lesende Katholikinnen im deutschen Sprachraum und die Bedeutung der Bibel zwischen 1850 und 1914 Bernhard Schneider Universität Trier Geschlecht interagiert als eine relationale Kategorie auch mit Religion.1 Von daher sind Zusammenhänge zwischen Geschlechterkonstruktionen und der religiösen Lektüre von Frauen gegeben; diesen geht der folgende Beitrag in zweifacher Hinsicht nach. Er erörtert zunächst, ob in den katholischen Diskursen über das Lesen während des untersuchten Zeitraumes genderspezifische Aussagen vorhanden waren. Er wird in diesem Kontext speziell thematisieren, ob die Bibellektüre dabei vorkommt und welche Rolle der Bibellektüre eventuell für Frauen zugeschrieben wurde. Schließlich wird auf der Basis einer Serie von Werken der Andachts- und Erbauungsliteratur, die für Frauen verfasst wurden, ausgeführt, ob und in welcher Weise in dieser Art von Literatur die Bibel eine Rolle spielt. Es ist zu klären, ob und wie Konstruktionen von Frauenbildern mit der Bibel und biblischen Weiblichkeitsentwürfen in Verbindung gebracht werden. Nicht intendiert ist dementsprechend eine Beschäftigung mit den biblischen Frauenbildern selbst.
1. Katholizismus und Geschlecht im 19. Jahrhundert Den Zusammenhang von Religion und Geschlecht hat die historische Forschung zunächst unter der These einer „Feminisierung der Religion“ im 19. Jahrhundert erörtert. Manche zeitgenössische Aussagen und weitere Beobachtungen gaben dazu Anlass. Ihren Ursprung hat diese These in der anglo-amerikanischen Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte der 1970er und 1980er Jahre.2 In der deutschen Forschung wurde sie in den 1990er Jahren verstärkt aufgegriffen.3 Die Formel „Feminisierung der Religion“ umschreibt in der Forschungsliteratur verschiedene Inhalte und Prozesse: die Umcodierung von Religion als weiblich, eine eigenständige Interpretation des Glaubens durch Frauen, einen Prozess des Rückzugs von Männern aus dem kirchlich-religiösen 1
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Vgl. Claudia OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen 8; Frankfurt: Campus, 2010), 34–38; Jürgen MARTSCHUKAT und Olaf STIEGLITZ, „Es ist ein Junge“: Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit (Historische Einführungen 11; Tübingen: Edition Diskord, 2005), 55. Vgl. Barbara WELTER, „‚Frauenwille ist Gotteswille‘: Die Feminisierung der Religion in Amerika: 1800–1860“, in Listen der Ohnmacht: Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen (hg. v. Claudia Honegger und Bettina Heintz; Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt, 1981), 326–355; 326–328. Vgl. Irmtraud GÖTZ VON OLENHUSEN, Hg., Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen: Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert (Konfession und Gesellschaft 7; Stuttgart: Kohlhammer, 1995); DIES., Hg., Wunderbare Erscheinungen: Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert (Paderborn: Schöningh, 1995).
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Raum, eine überdurchschnittliche Präsenz von Frauen im kirchlich-religiösen Leben. Als Felder, in denen sich diese Tendenzen einer „Feminisierung“ zeigen sollten, wurden in den Forschungen genannt: Personal, Frömmigkeit, Organisation und Repräsentation. Mittlerweile ist die Kritik an einer zu simplifizierenden Redeweise gewachsen, obwohl die Chiffre „Feminisierung der Religion“ munter weiter bedient wird.4 Im Blick auf den Katholizismus im deutschsprachigen Raum ergibt sich ein differenzierter Befund.5 Beim „kirchlichen Personal“ gewann das weibliche Geschlecht beträchtlich an Relevanz. Das war den vielen neuen Frauenorden oder Frauenkongregationen zu verdanken, die besonders der kirchlichen Caritas ein weibliches Gesicht gaben.6 Im engeren Bereich der Frömmigkeit deuten zahlreiche zeitgenössische Berichte darauf hin, dass Frauen häufiger an Gottesdiensten teilnahmen und die Sakramente regelmäßiger empfingen.7 Statistisch nachweisen lässt sich die überproportional starke Beteiligung von Frauen bei manchen Wallfahrten und in vielen religiösen Vereinigungen.8 Von einer umfassenden Distanzierung der Männer von Wallfahrten kann allerdings kaum die Rede sein, wie auch spezielle Männer- oder Arbeiterwallfahrten zeigen.9 Im Vereinswesen außerhalb der rein „frommen“ Vereine dominierten Männer sogar stark. Angesichts der starken Stellung von Priestern als Leitern der allermeisten frommen Vereinigungen waren diese trotz der weiblichen Dominanz ihrer Mitglieder
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Vgl. Bernhard SCHNEIDER, „Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert: Perspektiven einer These im Kontext des deutschen Katholizismus“, Trierer Theologische Zeitschrift 111 (2002): 123–147. Aus protestantischer Perspektive: Ute GAUSE, „Frauen und Frömmigkeit im 19. Jahrhundert: Der Aufbruch in die Öffentlichkeit“, Pietismus und Neuzeit: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 24 (1998): 309–327. Zuletzt bei Tine VAN OSSELAER und Thomas BUERMAN, „Feminization Thesis: A Survey of International Historiography and a Probing of Belgian Grounds“, Revue d’histoire ecclésiastique 103 (2008): 497–544; Patrick PASTURE, „Gendering the History of Christianity in Nineteenth and Twentieth Centuries“, in Gender and Christianity in Modern Europe: Beyond the Feminization Thesis (hg. v. dems. et al.; Leuven: KU-Press, 2012), 7–33. Zum Folgenden SCHNEIDER, „Feminisierung“, 123–147. Siehe Bernhard SCHNEIDER, „The Catholic Poor Relief Discourse and the Feminization of the Caritas in Early Nineteenth-Century Germany“, in Gender and Christianity, 34–55. Vgl. SCHNEIDER, „Feminisierung“, 130–137; Rudolf SCHLÖGL, Glaube und Religion in der Säkularisierung: Die katholische Stadt: Köln, Aachen, Münster: 1700–1840 (Ancien régime: Aufklärung und Revolution 38; München: Oldenbourg, 1995), 316–326. Vgl. SCHNEIDER, „Feminisierung“, 134–141; Andreas KOTULLA, „Nach Lourdes!“: Der französische Marienwallfahrtsort und die Katholiken im Deutschen Kaiserreich: 1871–1914 (München: Meidenbauer, 2006), 252.305f.; Volker SPETH, Katholische Aufklärung, Volksfrömmigkeit und „Religionspolicey“: Das rheinische Wallfahrtswesen von 1816 bis 1826 und die Entstehungsgeschichte des Wallfahrtsverbots von 1826: Ein Beitrag zur aufklärerischen Volksfrömmigkeit (Europäische Wallfahrtsstudien 5; Frankfurt: Lang, 2008), 244– 246. Vgl. Hans-Jürgen BRANDT und Karl HENGST, Geschichte des Erzbistums Paderborn 3: Das Bistum Paderborn im Industriezeitalter: 1821–1930 (Paderborn: Bonifatius, 1997), 494f.
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kaum Orte femininer Selbstbestimmung.10 Im 1903 gegründeten Katholischen Deutschen Frauenbund war das hingegen der Fall.11 Die von Teilen der Forschung postulierte „Feminisierung der frommen Literatur“12 hat bisher keine empirisch sichere Bestätigung gefunden. Insgesamt ist der Anteil von Andachtsliteratur, die gezielt an ein Geschlecht adressiert war, vergleichsweise gering.13 Darauf wird gleich noch zurückzukommen sein. Vor diesem Hintergrund ist die „Feminisierungsthese“ zumindest im Blick auf den deutschen Katholizismus deutlich zu modifizieren. Von generellem männlichem Unglauben oder einem stark ausgeprägten Rückzug katholischer Männer kann nicht die Rede sein. Gleichwohl bereiteten Männer der kirchlichen Pastoral besonders seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wachsende Sorge. Die in der Gesellschaft vorhandene Tendenz, Religiosität allein oder vorwiegend den Frauen zuzuordnen, versuchte ein katholischer Männlichkeitsdiskurs aufzubrechen. Kirche wie Religion sollten als männlich erwiesen werden.14 Die Verbindung von Glaube und Tat durch die offensive Vertretung der Kirche und ihres Glaubens in der Öffentlichkeit galt als ideale Haltung des katholischen Mannes. Durch gezielte Rhetorik und Symbolik versuchte man gleichzeitig, Frömmigkeitspraktiken (besonders die Herz-Jesu-Verehrung) männlicher zu gestalten und spezielle Männervereinigungen zu schaffen oder Männerwallfahrten zu organisieren.15 Es ging insgesamt weniger um Re-Christianisierung einer ungläubigen Männerwelt als darum, sie an ein ultramontan konzipiertes Modell strenger Kirchlichkeit und Unterordnung unter den Klerus zu binden.16
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Vgl. Joachim OEPEN, „Bruderschaften im 19. Jahrhundert“, Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 99 (2004): 180–209; 205. Vgl. Michaela SOHN-KRONTHALER und Andreas SOHN, Frauen im kirchlichen Leben vom 19. Jahrhundert bis heute (Kevelaer: Topos, 2008), 24f.; Gisela BREUER, Frauenbewegung im Katholizismus: Der Katholische Frauenbund 1903–1918 (Frankfurt: Campus, 1998). Rudolf SCHLÖGL, „Sünderin, Heilige oder Hausfrau? Katholische Kirche und weibliche Frömmigkeit um 1800“, in GÖTZ VON OLENHUSEN, Wunderbare Erscheinungen, 13–50; 37f. Vgl. SCHNEIDER, „Feminisierung“, 137–139. Vgl. Bernhard SCHNEIDER, „Masculinity, Religiousness and the Domestic Sphere in the German-speaking World around 1900“, in Religion, Family and Domesticity in the 19th and 20th Century (hg. v. Patrick Pasture und Tine van Osselaer), im Druck. Vgl. BRANDT und HENGST, Paderborn, 496; Norbert BUSCH, Katholische Frömmigkeit und Moderne: Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg (Religiöse Kulturen der Moderne 6; Gütersloh: Chr. Kaiser, 1997), 267–278; Olaf BLASCHKE, „Fältmarskalk Jesus Kristus: Religiös remaskulinisering i Tyskland“, in Kristen manlighet: Ideal och verklighet: 1830–1940 (hg. v. Yvonne Maria Werner; Stockholm: Nordic Academic Press, 2008), 23–50; 29f.37–42. Vgl. VAN OSSELAER und BUERMAN, „Feminization Thesis“, 534–538.
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2. Lesende Frauen im Katholizismus Das im Untersuchungszeitraum in deutschsprachigen Ländern (wenigstens im Gebiet des heutigen Deutschlands und der Schweiz) entstehende katholische Milieu wird in der jüngeren Katholizismusforschung zunehmend als ein gerade durch gemeinsame Werte, Welt-Deutungen und Sinn stiftende Überzeugungen zusammengehaltenes Netzwerk verstanden.17 Dementsprechend konnte es keinesfalls gleichgültig sein, wer welche Literatur las. Über viele Jahrzehnte tobte ein Kampf um gute und schlechte Bücher, um Lesewut und ihre angeblichen schrecklichen Folgen. Der Index der verbotenen Bücher ist nur ein Aspekt, denn in der katholischen Presse oder bei den jährlichen Treffen der katholischen Vereine (den sogenannten Katholikentagen) verstummten die Klagen ebenso wenig, wie es an immer neuen Initiativen mangelte, das Leseverhalten in die gewünschte Richtung zu lenken.18 Man kann auch auf den traditionsreichen, noch heute existierenden Borromäusverein verweisen, der sich seit 1844 dem Aufbau katholischer Büchereien und der Förderung des „guten Buches“ im „Geisteskampf“ widmete.19 Der Lektürelenkung dienten eigene Zeitschriften20, Werke wie 1000 gute Bücher21 oder Heinrich Keiters (1853–1898) Katholischer Literaturkalender.22 Die 17
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Vgl. als Zwischenbilanz Johannes HORSTMANN und Antonius LIEDHEGENER, Hg., Konfession, Milieu, Moderne: Konzeptionelle Positionen und Kontroversen zur Geschichte von Katholizismus und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert (Akademie-Vorträge 47; Schwerte: Katholische Akademie, 2001). Diskussion offener Fragen zuletzt etwa bei Andreas HENKELMANN, Caritasgeschichte zwischen katholischem Milieu und Wohlfahrtsstaat: Das Seraphische Liebeswerk: 1889–1971 (Paderborn: Schöningh, 2008), 18–24.465–469. Mit Blick auf das Genre der Presse Michael SCHMOLKE, Die schlechte Presse: Katholiken und Publizistik zwischen „Katholik“ und „Publik“: 1821–1968 (Münster: Regensberg, 1971); jüngst Dominik BURKARD, „Presse und Medien“, in Laien in der Kirche (hg. v. Erwin Gatz; Geschichte des kirchlichen Lebens 8; Freiburg: Herder, 2008), 559–602. Zur katholischen Literaturkritik im 19. Jahrhundert siehe speziell Jutta OSINSKI, Katholizismus und deutsche Literatur im 19. Jahrhundert (Paderborn: Schöningh, 1993), 253–402; Susanna SCHMIDT, „Handlanger der Vergänglichkeit“: Zur Literatur des katholischen Milieus: 1800–1950 (Paderborn: Schöningh, 1994), 131–135. Vgl. OSINSKI, Katholizismus, 272–277 (für die Mitte des 19. Jahrhunderts); sowie speziell Steffi HUMMEL, Der Borromäusverein: 1845–1920: Katholische Volksbildung und Büchereiarbeit zwischen Anpassung und Bewahrung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen 18; Köln: Böhlau, 2005). So z. B. Literarischer Handweiser (für das katholische Deutschland) [ab 1890 zunächst für alle Katholiken deutscher Zunge] (Freiburg: ab 1861 bis 1930). Zum Herausgeber Franz Hülskamp (1833–1911) vgl. Georg SCHREIBER, „Westfälische Wissenschaft, Politik, Publizistik im 19./20. Jahrhundert: Franz Hülskamp und sein Kreis“, Westfälische Forschungen 8 (1955): 74–94. Vgl. Franz HÜLSKAMP, 1000 gute Bücher, den Katholiken deutscher Zunge zu Festgeschenken empfohlen (Münster: Theissing, 21882); Franz Xaver WETZEL, Die Lektüre: Ein Führer beim Lesen (Ravensburg: Dorn, 21897). Heinrich KEITER, Hg., Katholischer Literaturkalender (Freiburg: 1891–1897). Auch nach Keiters Tod bis 1914 fortgeführt: Karl MENNE, Hg., Keiters Katholischer Literaturkalender
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Welt des Lesestoffs galt speziell in den Kreisen, die sich als Priester oder Bischöfe dafür verantwortlich sahen, die Gläubigen zu ihrem Heil zu führen, offensichtlich als eminent wichtig. Gleichzeitig wurden Priester wie Bischöfe allerdings im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Wünschen aus den Reihen der Gläubigen konfrontiert. Diese zielten darauf ab, die enge Welt streng katholisch orientierter, vornehmlich auf Erbauung ausgerichteter Literatur auszuweiten und auch sonstige Stoffe lesen zu dürfen.23 2.1 Die Lektüre und das weibliche Geschlecht Unter geschlechtsspezifischer Perspektive ergibt sich seit dem späten 18. Jahrhundert eine doppelte Tendenz: Einerseits weitete sich die Lektüre bei Mädchen und Frauen ganz wesentlich aus, und das Lesen nahm eine neue Form an. Das extensive Lesen trat wenigstens in bestimmten Schichten an die Stelle der älteren Form des Lesens, bei der eine kleine Zahl von Werken intensiv und wiederholt gelesen wurde. Andererseits gab es als Reaktion auf eben dieses neue Leseverhalten deutliche Bestrebungen, „Büchergelehrsamkeit“ wie auch das Flüchten in die imaginären Welten der Romane scharf zu verurteilen. Besonders Mädchen und Frauen galten in diesem Diskurs um die „Lesewut“ oder „Lesesucht“ als gefährdet und ihr Leseverhalten wurde dementsprechend besonders energisch zu reglementieren versucht. Darin spiegelt sich ein Stück Realität, weil Frauen eine neue Leserinnenschicht wurden und Frauen des gehobenen Bürgertums sogar die wichtigste Rezipientinnengruppe von Belletristik, besonders von Romanen, bildeten. Zugleich aber wurden in diesem Diskurs die sich verfestigenden polaren Geschlechterkonstruktionen greifbar, wobei extensive und falsche Lektüre von Frauen als Gefährdung der sozialen Ordnung präsentiert wurde.24 Entsprechend spielte das Problemfeld des Lesens eine beachtliche Rolle auch in den diversen Anstandsbüchern und Ratgebern für bürgerliche Mädchen und Frauen, in denen neben allgemeinen Ur-
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(Freiburg: 1898–1914). Siehe auch Heinrich KEITER, Die Kunst, Bücher zu lesen (Essen: Fredebeul & Koenen, 31901). Vgl. dazu Jeffrey T. ZALAR, „The Process of Confessional Inculturation: Catholic Reading in the ‚Long Nineteenth Century‘“, in Protestants, Catholics and Jews in Germany: 1800– 1914 (hg. v. Helmut Walser Smith; Oxford: Berg, 2001), 121–152. Zur weiblichen Lektüre allgemein: Martyn LYONS, „Die neuen Leser im 19. Jahrhundert: Frauen, Kinder, Arbeiter“, in Die Welt des Lesens: Von der Schriftrolle bis zum Bildschirm (hg. v. Roger Chartier und Guglielmo Cavallo; Frankfurt: Campus, 1999), 455–497. Zu Deutschland vgl. Marie-Claire HOOCK-DEMARLE, „Lesen und Schreiben in Deutschland“, in 19. Jahrhundert (hg. v. Geneviève Fraisse und Michelle Perrot; Geschichte der Frauen 4; Frankfurt: Fischer, 1994), 165–186. Siehe ferner Günter HÄNTZSCHEL, Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen: 1850–1918: Eine Quellendokumentation aus Anstandshilfen und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation (Tübingen: Niemeyer, 1986); Alfred MESSERLI, „Gebildet, nicht gelehrt: Weibliche Schreibund Lesepraktiken in den Diskursen vom 18. zum 19. Jahrhundert“, in Die lesende Frau (hg. v. Gabriela Signori; Wolfenbüttler Forschungen 121; Wiesbaden: Harrassowitz, 2009), 295–320.
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teilen über den Sinn und die richtige Form des Lesens auch öfters ein Kanon empfohlener Bücher enthalten war. Das Lesen erscheint dabei weitgehend einem anderen Ressort zugeordnet als die Religion allgemein und die Bibel im Besonderen. Von der Bibellektüre ist nur sehr vereinzelt die Rede, und im Literaturkanon wird sie nicht eigens genannt.25 2.1.1 Schlechte Lektüre Auch im Katholizismus des 19. Jahrhunderts fehlte die Diskussion über lesende Frauen nicht.26 In den erwähnten allgemeinen katholischen Literaturratgebern von Hülskamp, Keiter oder Wetzel ist eine geschlechtsspezifische Differenzierung dagegen kaum zu erkennen. Lediglich Wetzels Buch Die Lektüre bietet einige Anhaltspunkte. Seine sehr kritischen Auslassungen über die herrschende „Lesewut“ fallen zunächst allerdings geschlechtsneutral aus, mit Ausnahme der dort referierten Beispiele: Die „Opfer“ der Lesewut sind alles Männer.27 Im Kapitel über die „Folgen schlechter Lektüre“ wird dann allerdings die „christliche Mutter, mit einem Romane in der Hand“ zum Schreckbild und zum größten denkbaren Skandal, wogegen sich „unsere Phantasie und unser Verstand“ sträuben.28 Sie vernachlässige nämlich Haushalt und Kinder und gefährde ihre Keuschheit: „Eine keusche Frau liest niemals Romane.“29 Für den lesenden Mann und Vater fehlt im Übrigen eine vergleichbare Passage. Die 20 von mir untersuchten katholischen deutschsprachigen Andachts-, Erbauungs- und Ratgeberbücher für Frauen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts30 tei25
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Die tägliche Bibellektüre wird unter den von Häntzschel dokumentierten Werken nur bei Caroline Milde verlangt und zum „innigsten Bedürfniß“ erklärt. Ihr Buch erschien 1871 und erlebte bis zum Ersten Weltkrieg 14 Auflagen. Vgl. HÄNTZSCHEL, Bildung, 377–449; 405.494. Als Einführung siehe Michela DE GIORGIO, „Das katholische Modell“, in 19. Jahrhundert (hg. v. Geneviève Fraisse und Michelle Perrot; Geschichte der Frauen 4; Frankfurt: Campus, 1994), 187–220; 201–206 (kaum Bezüge zum deutschsprachigen Raum). Vgl. WETZEL, Lektüre, 11–33. WETZEL, Lektüre, 264.266. WETZEL, Lektüre, 264. Zitiert wird von Wetzel hier Rousseaus Emile. Zu Rousseaus Position siehe Margit HAUSER, Gesellschaftsbild und Frauenrolle in der Aufklärung: Zur Herausbildung des egalitären und komplementären Geschlechtsrollenkonzepts bei Pollain de la Barre und Rousseau (Wien: Passagen, 1992). Untersucht wurden: Matthias von BREMSCHEID, Die wichtige Stellung der christlichen Frauen (Dülmen: Laumann, 1889); Clara BRITZ, Gedanken und Ratschläge zur Beherzigung für die weibliche Jugend (Mainz: Haas, 1883); Paul COMBES, Das Buch der Frau: Ein Handbuch für christliche Frauen in ihrer Stellung als Gattin, Hausfrau, Mutter und Erzieherin (Autorisierte Bearbeitung von P. Weber, Trier; Saarlouis: Hansen, 1912); Wilhelm CRAMER, Die christliche Mutter in der Erziehung und ihrem Gebete (Dülmen: Laumann, 30 1903); Arsenius DOTZLER, Myrtenkranz! Ein geistlicher Brautführer und Andachtsbuch für die christliche Frau (Kevelaer: Butzon & Bercker, 1900); Felix DUPANLOUP, Die großen Pflichten der christlichen Frau: Conferenzreden (Mainz: Kirchheim, 1881); Augustin EGGER, Die christliche Mutter: Erbauungs- und Gebetbuch (Einsiedeln: Benziger, 1914); Adele Gräfin von HOFFELIZE, Kurze Unterweisungen im christlichen Leben für Frauen und
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len die Vorbehalte gegen den Roman, ohne dass die Lektüre hier allerdings ein prominentes Thema wurde. Angesichts des mittlerweile weiter entwickelten Leseangebots sahen sich einzelne AutorInnen auch veranlasst, Zeitungen und hier namentlich das Feuilleton in ihre Warnungen einzubeziehen. Wetzels Buch Die Frau verdeutlicht das: „[…] hütet euch namentlich vor der Zeitungs- und Romanlektüre“.31 Die negativen Folgen der schlechten Lektüre werden – wie schon hundert Jahre zuvor – etwa von Gaspar Mermillod (1824–1892), Bischof in Freiburg/Schweiz32, in düsteren Farben gemalt. Er erkennt in der modernen Lektüre die „beständige Nahrung“ der Selbsttäuschung und der religiösen Haltlosigkeit, so dass die von der Lesesucht befallene Frau […] die Unruhe Ihrer Familie, die Betrübniß Ihres Arztes, die Qual Ihres unglücklichen Beichtvaters [werde]. So entsteht ein exaltirter Kopf, eine ungeregelte Einbildungskraft und Sie werden untauglich für die edle Arbeit des Lebens […].33
Der Gedanke, Frauen flüchteten durch die Lektüre aus dem Alltag und produzierten fantasievoll Vorstellungen, die sich der Kontrolle durch die männlichen Autoritäten von Vater, Ehemann oder Priester entziehen, steht unverkennbar hinter diesen Warnun-
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Jungfrauen (Mainz: Kirchheim, 1880); Jean Baptiste François LANDRIOT, Die fromme Frau: Conferenzen für Frauen, die in der Welt leben (Mainz: Kirchheim, 101889); Anna von LIEBENAU, An’s Frauenherz: Worte der Liebe und Freundschaft für die katholische Frau (Dülmen: Laumann, 31903); Victor MARCHAL, Das Bild der christlichen Frau (Regensburg: Pustet, 41899); Gaspard MERMILLOD, Die christliche Frau in unserer Zeit: Vorträge (Neisse: Huch, 1875); Heinrich MÜLLER, Himmelsweg: Ein katholisches Gebet- und Lehrbuch für Jungfrauen mit bischöflicher Approbation (Köln: St. Josephs-Verein, 161913); Anton PASSY, Lese- und Gebetbuch für katholische weltliche und geistliche Jungfrauen (Regensburg: Manz, 71850); Anton RAFFENBERG, Die betende Mutter: Vereins-Gebetbuch für die Mitglieder der Erzbruderschaft der christlichen Mütter (Dülmen: Laumann, 221929); Michael SINTZEL, Das christliche Frauengeschlecht in seinem Wandel und Gebete: Ein Lehr- und Gebetbuch (2 Bde; Augsburg: Kollmann, 91856); Theodor TEMMING, Die christliche Frau: Gebete und Unterweisungen; zugleich Andachtsbuch für die Mitglieder des Vereins christlicher Mütter (Kevelaer: Butzon & Bercker, 91912); Franz Xaver WETZEL, Die Frau: Ein Büchlein für die Frauen (Ravensburg: Dorn, 81896). WETZEL, Frau, 104. Vgl. auch DUPANLOUP, Frau, 270: „Im Allgemeinen sind die Romane mit sehr wenigen Ausnahmen schlecht.“ Ebd., 271: „Ich habe nur von Romanen gesprochen; es gibt aber auch Journale mit ihren Feuilletons, die überall hindringen; man achtet nicht weiter darauf, man glaubt, es sei ohne Bedeutung.“ Vgl. ähnlich MÜLLER, Himmelsweg, 395f.: „Schädlich ist fast immer das Lesen von Romanen; denn mit wenigen Ausnahmen taugen auch die besten nicht viel.“ Zum entschieden ultramontanen Kardinal Mermillod einführend Franz Xaver BISCHOF, „Mermillod, Gaspar“, BBKL 5 (1993), 1325–1328. MERMILLOD, Frau, 28. Vgl. auch MÜLLER, Himmelsweg, 395: „Ein Romanleser bewahrt selten die Reinheit des Herzens; allmählich regt sich die Sinnlichkeit, allmählich entstehen böse Gedanken, Vorstellungen und Begierden.“ COMBES, Frau, 235: „[…] die Klarheit des Denkens und Nüchternheit des Verstandes, die Folgerichtigkeit, Geradheit und Festigkeit des Handelns, die Reinheit des Gemütes, die Lauterkeit der Phantasie, die edle Harmonie aller Seelenkräfte steht auf dem Spiel“.
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gen. Augustin Egger (1833–1906), prominenter Erbauungsschriftsteller und Bischof von St. Gallen in der Schweiz34, sah darin bei den „besseren Ständen“ eine spezifische Form weiblicher Schwäche, die Hinneigung nämlich zu „Sentimentalität und Nervosität“.35 Damit begegnen – wie bei Mermillod – Stichworte eines psycho-medizinischen Diskurses, der für das Fin de siècle typisch war.36 Hinzu kamen Ängste im Hinblick auf den Glauben und die kirchliche Moral, so dass manche katholische AutorInnen regelrecht zur Bücherverbrennung aufrufen konnten.37 Schließlich wurden auch konkrete Befürchtungen laut, die soziale Ordnung und damit auch das Geschlechterverhalten und -verhältnis werde in Mitleidenschaft gezogen.38 Oben ist dieser Gedanke bereits im Zitat von Wetzel und der romanlesenden Mutter, die Kinder und Haushalt vernachlässigt, begegnet. Unverhohlen spricht das einer der Autoren in seinem Andachtsbuch für die Frauen in den katholischen Müttervereinen an: „Eine Frau soll nicht besser Romane, Theater, Tänze als den Kochtopf verstehen […].“39 Im Blick auf ein gutbürgerliches Publikum und eine klare Ordnung der Lebensräume nach Geschlechtern galten jungverheiratete Frauen ohne Kinder oder mit Kindermädchen als besonders gefährdet für exzessives, ungeregeltes Lesen ohne positiven Ertrag.40 Dass jenseits von Männerängsten und Priesterbefürchtungen Tendenzen zu einer trivialen Lektüre mit eskapistischen Tendenzen durchaus im Lesepublikum vorhanden waren, kann als gesichert gelten.41 2.1.2 Richtiges Lesen und empfohlene Lesestoffe Ein generelles Leseverbot für Frauen stand allerdings auch den katholischen AutorInnen nicht vor Augen. Der bekannte Bischof von Orléans und geistliche Schriftsteller,
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Zu ihm vgl. Cornel DORA, Augustinus Egger von St. Gallen: 1833–1900: Ein Bischof zwischen Kulturkampf, sozialer Frage und Modernismusstreit (St. Galler Kultur und Geschichte 23; St. Gallen: Staatsarchiv, 1994). Egger, Mutter, 71. Vgl. nur Joachim RADKAU, Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen Bismarck und Hitler (München: Hanser, 1998). Zu einigen Aspekten auch Yvonne KNIBIEHLER, „Leib und Seele“, in 19. Jahrhundert (hg. v. Geneviève Fraisse und Michelle Perrot; Geschichte der Frauen 4; Frankfurt: Fischer, 1994), 373–415. „Meide daher doch immer wie Gift solche Bücher, Schriften und Zeitungen, welche Religion und Sitten gefährden. [...] Weg daher mit allen den Büchern oder Schriften, die gerade aus oder auf Umwegen deinen Glauben untergraben, deine Reinheit und Scham dir rauben können! Weg damit ins Feuer!“ MÜLLER, Himmelsweg, 395. Vgl. auch DUPANLOUP, Frau, 272, der im Rückgriff auf Apg 19,19 (Verbrennung von Zauberbüchern) schlechte Literatur verwirft. Zu diesem schon im Diskurs über die „Lesewut“ im späten 18. Jahrhundert erkennbaren Hintergrund vgl. MESSERLI, „Schreib- und Lesepraktiken“, 307–315. TEMMING, Frau, 61. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 273. Vgl. ZALAR, „Reading“, 130f.
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Félix Antoine Philibert Dupanloup (1802–1878)42, dessen Reden vor Frauen auch in deutscher Übersetzung erschienen, verteidigte Frauen gar gegenüber „törichten Vorurtheilen“. Diesen seien solche Frauen ausgesetzt, „welche beharrlich einige Stunden ihres Tages der Pflege des Geistes“ widmeten.43 Ziel war es, „dem gesunden Verlangen nach Lektüre entgegenzukommen und Schädliches fernzuhalten“.44 Dementsprechend boten die AutorInnen neben den Warnungen vor falscher Lektüre auch Ratschläge für ein geordnetes, richtiges Lesen nach Inhalt und Form. Lesen wurde demnach für Frauen zur „Erholung“ und zur „Geistes- und Herzensbildung“ durchaus erlaubt, wenn es nur „zuweilen“ erfolge und es sich dabei um ein „schönes Buch, besonders über Kindererziehung oder das Leben frommer und heiliger Frauen“ handelte. Die klare Mahnung blieb nicht aus: „Aber machet niemals das Lesen zur Hauptsache.“45 In Wetzels Parallelwerk über den Mann fehlt bemerkenswerterweise eine solche Warnung. Konkrete Leseempfehlungen der AutorInnen reichen bis hin zu Vorschlägen für die Gestaltung einer „kleinen Hausbibliothek“. In diesem Fall stand religiöse Literatur obenan. Wetzel nennt in seinem Männerbuch, nicht aber im parallelen Frauenbuch, eine Liste von Werken. Der Katechismus, die Postille mit den Texten der in der Messe vorgetragenen Lesungen und Evangelien nach Leonhard Goffiné (1648–1719) und eine Heiligenlegende galten Wetzel als Grundstock einer „kleinen Hausbibliothek“. Hinzukommen sollten „dann noch einige gute Gebetbücher, ein katholischer Kalender und eine katholische Zeitung“.46 Hülskamp bietet einen näheren Plan für eine kleine Hausbibliothek, die eine „besser situirte Familie“ auf- und weiter ausbauen könne. Der Reihe nach sollen demnach angeschafft werden: 1) eine ausreichende Anzahl von Gebet- und Andachtbüchern; 2) ein Katechismus oder sonstiges Religionslehrbuch; 3) eine biblische Geschichte; 4) ein Leben Jesu und Mariä; 5) eine Handpostille; 6) eine kürzere und eine ausführliche Heiligen-Legende; 7) eine größere Weltgeschichte; 8) ein gutes geographisches Handbuch nebst entsprechendem Atlas; 9) ein gutes Conversations-Lexikon; 10) erhebende Biographien großer Persönlichkeiten; 11) populäre Naturschilderungen; 12) Einzelnes zur allgemeinen Länder- und Völkerkunde; 42
43 44 45 46
Zu diesem Führer des französischen Katholizismus vgl. Christiane MARCILHACY, Le Diocèse d’Orléans sous l’épiscopat de Mgr. Dupanloup (1849–1878): Sociologie religieuse et mentalités collectives (Paris: Plon, 1962). DUPANLOUP, Frau, 59. COMBES, Frau, 235. WETZEL, Frau, 104. Bei DUPANLOUP, Frau, 59, konnte das Lesen in der freien Zeit nach allen „Pflichten in Haus und Erziehung und in der Frömmigkeit“ zu seinem Recht kommen. Franz Xaver WETZEL, Der Mann: Ein Büchlein für die Männer (Ravensburg: Dorn, 8/9 1900), 79.
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13) das Beste über Orts- und Heimatkunde; 14) poetische Anthologien; 15) die vornehmsten „Classiker“ in sorgfältiger Auswahl; 16) das Beste aus der katholischen Poesie; 17) Illustrirte und Kunstwerke von untadelhafter Richtung; 18) besondere Liebhabereien.47
Die Vorrangstellung erbaulicher und religiös belehrender Literatur fällt direkt ins Auge. Hingegen wird der Belletristik nur eine nachrangige Bedeutung zugemessen, selbst der katholischen Poesie. Erbauungsliteratur galt generell im katholischen „Lesediskurs“ als Gegenmittel gegenüber all der verbreiteten schlechten Literatur.48 Es wird mit diesem Vorrang für religiöse Literatur einerseits an das Leseparadigma der vormodernen Ära angeknüpft.49 Andererseits erfährt dieses aber im Sinne einer bürgerlichen Bildung des 19. Jahrhunderts eine Erweiterung um Geschichte und die Realien. Man kann dies als einen Kompromiss bezeichnen, um den wachsenden Wünschen innerhalb der katholischen Bevölkerung Rechnung zu tragen, welche an der zeitgenössischen Bildungskultur stärker partizipieren wollte. Gleichzeitig war ein solches Literaturprogramm Ausdruck einer bestimmten Haltung im Kreis der „Leseexperten“ aus dem Klerikerstand. Sie hielten zwar am Primat des Religiösen fest, verschlossen sich aber einer begrenzten und gelenkten Öffnung zur säkularen Bildung nicht, um dem Vorwurf der Rückständigkeit zu begegnen.50 Für die Fragen zum Verhältnis der Geschlechter zur Religion ergibt sich aus diesen Literaturempfehlungen von Wetzel und Hülskamp ein interessanter Befund. Beide sehen auch für den Mann ganz eindeutig das Lesen religiöser Literatur vor, ja sie rücken diese sogar in den Vordergrund. Ihren Intentionen nach konnte es also keineswegs genügen, wenn nur die Frauen sich durch religiöse Literatur bildeten und erbauten. Eine exklusive Zuordnung des Religiösen zur weiblichen Sphäre war mit ihrem Lesekonzept unvereinbar. 2.2 Andachtsliteratur und die Frage ihrer geschlechterspezifischen Ausrichtung Wenn von katholischen AutorInnen schon kleine Hausbibliotheken mit dem Schwerpunkt auf religiöser Literatur skizziert wurden, dann sollte man davon ausgehen kön47 48 49
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HÜLSKAMP, 1000 gute Bücher, 8. Siehe ZALAR, „Reading“, 124. Siehe dazu die Hinweise bei Edith SAURER, „‚Bewahrerinnen der Zucht und Sittlichkeit‘: Gebetbücher für Frauen – Frauen in Gebetbüchern“, L’Homme: Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 1 (1990): 37–58; 37f.; sowie den Klassiker von Rudolf SCHENDA, Volk ohne Buch: Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe: 1770–1910 (Frankfurt: Klostermann, 1970). Vgl. auch ZALAR, „Reading“, 127–133. Zur Diskussion um eine vermeintliche katholische Inferiorität vgl. Martin BAUMEISTER, Parität und katholische Inferiorität: Untersuchungen zur Stellung des Katholizismus im deutschen Kaiserreich (Paderborn: Schöningh, 1987).
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nen, dass auch in der Andachts- und Erbauungsliteratur die geistliche Lektüre eine Rolle spielte. Unübersehbar ist dies in Eggers Buch für die Christliche Mutter der Fall. Das Titelbild lenkt den Blick bereits darauf, denn es zeigt Maria in Begleitung ihrer Mutter Anna beim Lesen in einem Buch. Das Bildmotiv ist aus der mittelalterlichen Kunst bestens bekannt und präsentiert Maria als Vorbild der lesenden Frau.51 Was eine Frau, die Maria nachfolgt, zu lesen hatte, macht die Bildunterschrift deutlich: „Alle Tage deines Lebens habe Gott in deinem Herzen (Tob 4,6 [heute Tob 4,5])“. Tatsächlich begegnet in Eggers Rat- und Gebetbuch wiederholt die Lektüre von Erbauungsliteratur, auch die gemeinsame Lesung.52 Täglich eine Viertel- oder eine halbe Stunde „in einem geistlichen Buche zu lesen“, so raten mehrere AutorInnen.53 Lesen diente nicht der Unterhaltung, sondern der Belehrung und/oder Erbauung und letztlich – mit Gaspar Mermillod gesprochen – dazu, die „Einsicht in den Lehren der Kirche [!]“ zu vertiefen.54 Deshalb musste die Haltung beim Lesen auch eine andere sein: Nur Weniges war zu lesen, das dafür intensiv, aufmerksam und eventuell sogar mehrfach. Die gleichsam meditative Art des Lesens setzte den alten Modus vor der „Leserevolution“ seit dem späten 18. Jahrhundert wieder in Kraft, und zwar nicht nur für die religiöse Literatur. Das zeigen Wetzels ausführliche Anleitungen zum richtigen Lesen.55 Zugleich macht sich eine Tendenz zur rationalen Durchorganisation des ganzen Tagesablaufs bemerkbar, in dem der Lektüre ein begrenzter Raum zuerkannt wurde.56 Wenigstens Félix Dupanloup war das Problem langweiliger und wenig nützlicher Andachtsbücher für die auch von ihm als Teil der Lebensordnung vorgesehene geistliche Lektüre bewusst. Er führt beredt darüber Klage und macht dabei die interessante Nebenbemerkung, gerade Väter und ihre Söhne würden von „kleinen lächerlichen Andachtsbüchern“, mit denen der Markt „überschwemmt“ werde, regelrecht abgeschreckt ob all der „frommen Albernheiten“. Daraus leitet er für seine weiblichen Zuhörerinnen und Leserinnen die Forderung ab: Lesen Sie niemals solche Bücher, welche den Geist einengen und die Religion um ihr Ansehen bringen. Dieselben werden für ihren Glauben und für ihre Frömmigkeit immer nur eine armselige Nahrung sein. Haben wir denn nicht auch ernste, gediegene Bücher, welche der Intelligenz eine kräftige Nahrung zu bieten vermögen? Das sind die Bücher, welche sie lesen müssen!57
Gab es aber tatsächlich diese Flut von Andachtsbüchern und waren diese wirklich überwiegend an ein weibliches Publikum und seinen Geschmack adressiert? In der 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. Klaus SCHREINER, Maria: Jungfrau, Mutter, Herrscherin (München: Hanser, 1994), 116–148. Vgl. EGGER, Mutter, 135.190.268. Vgl. HOFFELIZE, Unterweisungen, 114f.; SINTZEL, Frauengeschlecht 1, 194–196. MERMILLOD, Frau, 113. Vgl. WETZEL, Lektüre, 49–67. „Wenig lesen, gut lesen“, so charakterisiert auch Michela De Giorgio den empfohlenen Lesetypus: DE GIORGIO, „Modell“, 201. Vgl. auch DE GIORGIO, „Modell“, 214f. DUPANLOUP, Frau, 208f.
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Diskussion über eine mögliche „Feminisierung“ oder „(Re-)Maskulinisierung der Religion“ ist der religiösen Literatur Beachtung zu schenken, was bisher keineswegs schon genügend geschehen ist. Mit Blick auf den deutschsprachigen Raum hat Rudolf Schlögl vor einigen Jahren neben einem inhaltlichen Wandel auch eine deutliche Zunahme von Andachts- und Erbauungsliteratur speziell für Frauen im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts postuliert. Sie habe dem gewandelten Diskurs entsprochen, der Religion als Frauensache auswies.58 Genaue Zahlen für diese Behauptung fehlen bei Schlögl wie bei Edith Saurer, die ebenfalls davon ausgeht, mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sei ein neuer Typ von speziellen Frauengebetbüchern auf den Markt gekommen.59 Bei meiner eigenen kritischen Beschäftigung mit der „Feminisierungsthese“ habe ich schon darauf aufmerksam gemacht, dass eine absolute Zunahme von derartigem Schrifttum allein wenig besagt. Tatsächlich waren diese Jahrzehnte am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts insgesamt von einem rasant wachsenden Buchmarkt geprägt.60 Methodisch vertretbar ist allein ein direkter Vergleich der Zahlen für geschlechtsspezifisch differenzierte Andachtsliteratur (unter Beachtung der Gesamtzahl dieser Literaturgattung), was natürlich eine enorme forschungspraktische Herausforderung darstellt. Seinerzeit habe ich einen ersten Ansatz dazu unternommen. Der oben erwähnte Literarische Handweiser listet im Jahr 1862 605 katholisch-theologische Titel auf. Davon waren 186 wissenschaftliche, 131 praktisch-theologische Werke und 208 aszetische Schriften, also Andachts- und Erbauungsliteratur. Im jährlich herausgegebenen Verzeichnis der vom Borromäusverein empfohlenen Bücher gab es eine Kategorie „Gebetbücher“, in der im exemplarisch untersuchten Jahr 1890 nicht weniger als 1229 Nummern genannt sind.61 Selbst wenn nicht jede Nummer ein Buch repräsentiert – verschiedene Ausgaben eines einzigen Werkes werden mit jeweils einer eigenen Nummer gelistet –, kann doch mit Berechtigung von einer Fülle von Andachtsliteratur gesprochen werden. Zudem etablierte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Diözesangesang- und -gebetbüchern ein Buchtyp im deutschsprachigen Raum, der regelrecht Bestsellerdimensionen erreichte.62 Jeffrey T. Zalar hat zweifellos recht,
58 59 60 61 62
Vgl. SCHLÖGL, „Sünderin, Heilige oder Hausfrau?“, 37f. Vgl. SAURER, „Bewahrerinnen“, 47f. Vgl. SCHNEIDER, „Feminisierung“, 137f. Vgl. Verzeichniß der von dem Verein vom heil. Karl Borromäus empfohlenen Bücher für das Jahr 1890 (Bonn: Verein vom Heiligen Karl Borromäus, 1890), 191–219. Vgl. Bernhard SCHNEIDER, „Das Diözesangesangbuch: Eine Klammer für die Bistümer im 19. Jahrhundert“, Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 99 (2004): 210–228; Andreas SCHEIDGEN, „Diözesangesangbücher und Kirchenliedrestauration im 19. und 20. Jahrhundert“, in Geschichte des katholischen Gesangbuchs (hg. v. Dominik Fugger und Andreas Scheidgen; Mainzer hymnologische Studien 21; Tübingen: Francke, 2008), 35–48. Das Paderborner Sursum corda wurde z. B. zwischen 1874 und 1897 nicht weniger als hundert Mal aufgelegt. Vgl. BRANDT und HENGST, Paderborn, 383f.
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wenn er die KatholikInnen des 19. Jahrhunderts als eifrige LeserInnen religiöser Literatur bezeichnet.63 Geschlechtsspezifisch adressiert war die Minderheit all dieser Bücher, die Diözesangesang- und -gebetbücher waren es grundsätzlich nicht. Von den übrigen waren im untersuchten Korpus von 1862 nach Titel und Untertitel lediglich fünf Bücher der 208 Andachtsbücher speziell an ein weibliches Lesepublikum adressiert, vier dagegen speziell für ein männliches Publikum. In den folgenden vier Jahren stehen neun Titeln für Frauen drei für Männer gegenüber, was angesichts von jährlich über 200 neu erschienenen Werken katholisch-theologischer Literatur eine sehr bescheidene Quote ist. Bei der Durchsicht der Jahrgänge 1862–1872 und 1882–1887 des Literarischen Handweisers ließen sich 21 Gebet-, Andachts- und Erbauungsbücher für Männer und junge Männer ermitteln, dagegen 46 für Frauen und Mädchen. Rechnet man allerdings die zahlreichen Titel spiritueller Literatur speziell für katholische Priester hinzu sowie die in der Forschung ganz unbeachtet gebliebenen zahlreich aufgelegten Bücher für Ministranten (heranwachsende Männer), verschiebt sich der Befund ganz wesentlich. Im Bücherverzeichnis des Borromäusvereins dominierte gleichfalls die Andachtsliteratur ohne gezielte Adressierung an ein bestimmtes Geschlecht bei weitem. Bei den relativ wenigen Titeln, die tatsächlich an Männer und Jünglinge bzw. Frauen und Jungfrauen gerichtet waren, überwogen die Gebetbücher für das weibliche Geschlecht deutlich: 20 von 27 Büchern. Insgesamt belegt diese Analyse zwar eine starke Beachtung der Frauen in der katholischen Literatur. Sie zeigt andererseits aber auch den übergeordneten Anspruch, prinzipiell alle Menschen und die gesamte Familie zu erreichen.
3. Bibellesen zwischen Empfehlung und Vorsicht Am Beginn des 19. Jahrhunderts hatte es in Deutschland so etwas wie eine katholische Bibelbewegung gegeben, die sogar Kontakte mit den protestantischen Bibelgesellschaften pflegte.64 Im konfessionellen Reizklima seit den 1820/30er Jahren blühte dann hingegen die Tendenz auf, die jeweilige konfessionelle Eigenart pointiert herauszustellen. Zu den konfessionellen Kontroversthemen zählte nun wieder verstärkt die Bibellektüre. Einschlägige Äußerungen der Päpste oder katholischer Bischöfe gegen die Bibelgesellschaften einerseits und protestantische Polemik gegen die Bibelvergessenheit der KatholikInnen standen sich gegenüber. Eine Konsequenz waren auch einzelne kontro-
63 64
ZALAR, „Reading“, 125. Vgl. Johannes ALTENBEREND, Leander van Eß (1772–1847): Bibelübersetzer und Bibelverbreiter zwischen katholischer Aufklärung und evangelikaler Erweckungsbewegung (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 41; Paderborn: Bonifatius, 2001); Peter SCHEUCHENPFLUG, Die Katholische Bibelbewegung im frühen 19. Jahrhundert (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 27; Würzburg: Echter, 1997).
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verstheologisch ausgerichtete Schriften zu diesem Thema.65 Auf die Details ist hier nicht näher einzugehen. Lediglich die Frage nach geschlechtsspezifischen Aussagen zur Bibellektüre soll aufgegriffen werden. Der ebenso eindeutige wie knappe Befund in drei von mir untersuchten katholischen Schriften über das Bibellesen lautet: Es gibt keine spezifischen Aussagen zur Bibellektüre durch Frauen oder Männer. Ganz allgemein wird davon gesprochen, dass Bibelkenntnisse durch die kirchliche Unterweisung und die Liturgie auch unter KatholikInnen vorhanden seien. Es sei – wie vom Konzil von Trient gelehrt – jedoch für KatholikInnen nicht notwendig, in der Bibel zu lesen, da die Kirche ihnen alles zum Heil Benötigte biete. Zudem verweisen die AutorInnen auf die in der breiten, einfachen Bevölkerung fehlenden Voraussetzungen für eine Gewinn bringende, dem Seelenheil nicht abträgliche Bibellektüre. Nicht das Geschlecht, sondern eher die Frömmigkeit und die Bildung fungieren als Grenzmarkierungen für eine erlaubte oder unerlaubte Bibellektüre.66 Besonders prominent war die Frage der Bibellektüre im späten 19. Jahrhundert nicht, wie ein Blick in die Verzeichnisse des Literarischen Handweisers zeigt. Eine exemplarische Durchsicht der Jahrgänge 1884– 1896 ergab unter mehreren tausend verzeichneten Schriften einen einzigen Titel kontroverstheologischer Natur zur Bibellektüre von Joseph Rebbert (1837–1897) und dazu eine Einleitung in die Biblische Geschichte von Magnus Jocham (1808–1893).67 Daneben fehlten natürlich exegetische Spezialstudien nicht. Zu unserem speziellen Thema Bibellektüre von Frauen ergab die Untersuchung – erwartungsgemäß – keinerlei Befund. Auch in der Rubrik „Zeitschriftenumschau“ im Literarischen Handweiser, in der regelmäßig die wichtigsten katholischen Zeitschriften mit ihren Inhalten vorgestellt wurden, fand sich kein Hinweis zu dieser Frage. Vor diesem eher ernüchternden Hintergrund sind die Angaben in den Literaturratgebern von Franz Hülskamp und Franz Xaver Wetzel zu würdigen. In Hülskamps Hausbibliothek kam der Bibel nach Gebet- und Andachtsbüchern sowie dem Katechismus ein wichtiger Platz zu. Im Blick auf die Bibellektüre muss allerdings auffallen, wie deutlich Hülskamps Hausbibliothek muttersprachliche Vollausgaben der Bibel ausspart, während die biblischen Inhalte durchaus in der von ihm konzipierten idealen Hausbibliothek präsent sind, allerdings in einer für Laien präparierten Form als „biblische Geschichte“ und „Handpostille“ sowie als fromme Nacherzählung des Lebens Jesu und seiner Mutter Maria. Beispiele solcher Bücher führt Hülskamp an anderer Stelle seines Büchleins an.68 Dahinter stand – hier unausgesprochen – die Befürchtung, 65
66 67 68
Vgl. Jean-Baptiste MALOU, Das Bibellesen in der Volkssprache: Beurtheilt nach der heil. Schrift, der Tradition und der gesunden Vernunft: Eine Streitschrift (2 Bde; Schaffhausen: Hurter, 1849); H. von NOIT [= Johann Baptist Helten], Ueber Bibelkenntnis und Bibellesen in älterer und neuerer Zeit: Wittenberg und Rom: Christ oder Antichrist (Berlin: Verlag der Germania, 1896); Josef REBBERT, Das Bibellesen auf eigene Hand (Bonifacius-Broschüren 18; Paderborn: Bonifatius, 1887). Vgl. besonders prägnant MALOU, Bibellesen, V, 81–84.318–320.337f. Magnus JOCHAM, Anleitung zum Gebrauch der Biblischen Geschichte (München: ZentralSchulbücher-Verlag, 31884). Vgl. HÜLSKAMP, 1000 gute Bücher, 77–80.88f.
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nicht jeder Inhalt der Bibel sei für alle ChristInnen eine passende Lektüre.69 Zudem gab es bekanntlich seit dem 16. Jahrhundert förmliche kirchenamtliche Vorschriften, welche die Bibellektüre reglementierten. In einem Kapitel über Werke der „populäre[n] oder Laien-Theologie“ erinnert Hülskamp an diese. Demnach dürfe nur „ein von Erklärungen begleiteter und mit denselben kirchlich approbirter Text in Laienhände gelangen“.70 Mit dieser Vorbemerkung stellte Hülskamp dann auch Vollbibeln vor, wobei unter den verschiedenen Ausgaben die Vulgata-Übersetzung von Allioli die beliebteste sei.71 Hülskamps weitere Hinweise gelten Gesamterklärungen der Bibel und populärwissenschaftlichen Darstellungen einzelner Aspekte.72 Bei Franz Xaver Wetzel erfreute sich die Bibellektüre zunächst einmal höchster Wertschätzung. Die Bibel ist für ihn ein „vom Himmel“ gekommener Brief, dessen Lektüre „Wunderkraft“ entfaltet, so sie denn „mit Verständnis“ gelesen wird.73 Er lässt eine Frau poetisch das Lob der Bibel singen, nämlich die Dichterin Luise Hensel (1798–1876):74 Jesus in der Heiligen Schrift Immer muß ich wieder lesen In dem alten, heil’gen Buch, Wie der Herr so gut gewesen, Ohne List und ohne Trug.
Immer muß ich wieder lesen, Les’und weine mich nicht satt, Wie der Herr so treu gewesen, Wie er uns geliebet hat.
Wie er hieß die Kindlein kommen, liebend hat auf sie geblickt, Und sie in den Arm genommen Und an seine Brust gedrückt.
Hat die Heerde mild geleitet Die sein Vater ihm verlieh’n; Hat die Arme ausgebreitet, Alle an sein Herz zu zieh’n.
Wie er helfendes Erbarmen Allen Kranken gern bewies, Und die Niedern und die Armen Seine lieben Brüder hieß.
Laß mich knie’n zu deinen Füßen, Herr, die Liebe bricht mein Herz! Laß in Tränen mich zerfließen, mich vergehen in Wonn und Schmerz.
Wie er keinem Sünder wehrte, Der mit Reue zu ihm kam, Wie er huldvoll ihn belehrte, Ihm den Tod vom Herzen nahm. 69 70 71
72 73 74
Explizite Warnung vor einer „Vollbibel“ für Schulkinder bei NOIT, Bibelkenntnis, 106. HÜLSKAMP, 1000 gute Bücher, 30. Vgl. HÜLSKAMP, 1000 gute Bücher, 30. Zu Joseph Franz Allioli und seiner Übersetzung vgl. Wilhelm BAUMGÄRTNER, Joseph Franz von Allioli (1793–1873): Leben und Werk (Amberg: Buch- und Kunstverlag Oberpfalz, 1993). Vgl. HÜLSKAMP, 1000 gute Bücher, 31. WETZEL, Lektüre, 163. WETZEL, Lektüre, 164. Hensel stammte aus einer lutherischen Pastorenfamilie, in der pietistische Einflüsse eine Rolle spielten. 1817 konvertierte die Dichterin, die dem Romantikerkreis um Clemens Brentano nahe stand, zum Katholizismus. Vgl. Oskar KÖHLER, Müde bin ich geh’ zur Ruh’: Die hell-dunkle Lebensgeschichte Luise Hensels (Paderborn: Schöningh, 1991).
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Bibellektüre erscheint hier als gefühlvolle Vergegenwärtigung eines milden, tröstenden Jesus, doch weist ihr Wetzel im Rückgriff auf die Biografie des Kirchenvaters Augustinus auch eine appellative, bekehrende Wirkung zu.75 Jetzt erst, nachdem ein doppelter „Beweis“ für die Wertschätzung der Bibel auch in der katholischen Kirche erbracht wurde, folgt der Hinweis auf die bekannten Einschränkungen der Bibellektüre von Laien. Rechtfertigend führt Wetzel die „eigentümliche orientalische Darstellungsweise“ der Bibel und den „tiefen Inhalt“ an, welche „für das Verständnis unzählige Schwierigkeiten“ böten.76 Nachdem die protestantische Kritik an der restriktiven katholischen Haltung damit entkräftet erscheint, schließt Wetzel seine Überlegungen zur Bibellektüre mit einem auch in den oben genannten kontroverstheologischen Schriften zum Bibellesen belegten Angriff auf das Prinzip der „freien Bibelforschung“. Diese habe dazu geführt, dass binnen eines Jahrhunderts schon 270 protestantische Sekten entstanden seien. Die Bemühungen der protestantischen Bibelgesellschaften zur Schriftenmission stoßen bei Wetzel nicht nur auf Ablehnung, sondern werden Objekt der Satire.77 So dominieren am Ende auch hier einerseits Angst und Vorsicht: „Mögen daher nur Berufene aus jenem göttlichen Brunnen schöpfen und die segensreichen Wasser durch Wort und Schrift auch in anderer Herzen leiten!“78 Andererseits erfolgt der Rückgriff auf eine „Bibel light“ in Form jener oben genannten Postillen und LebenJesu-Darstellungen. Dazu passt Wetzels als Ideal stilisierter Vorschlag, am Samstag sollten die biblischen Texte sowie die dazu abgedruckten Erklärungen aus einer Postille gelesen oder vom Hausvater vorgelesen werden, damit man die Predigt am Sonntag besser verstehe.79 Der letzte Hinweis ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für die Konzeption des Bibellesens im deutschsprachigen Katholizismus um 1900. Zunächst einmal verweist Wetzel auf ein traditionsreiches Motiv („Hausvater“), an dem katholische AutorInnen auch noch zu Zeiten festhielten, als die Ordnung des sogenannten „ganzen Hauses“ auf weite Strecken bereits fraglich geworden war. Seine Bemerkung zeigt ebenso die Absicht, am Vater als religiösem Erzieher und Bewahrer religiöser Gesinnung festzuhalten. Anders als die These einer „Feminisierung der Religion“ suggeriert, wird Religion also nicht der weiblichen Sphäre zugewiesen und die religiöse Erziehung und Verantwortung nicht allein der Mutter übertragen. Schließlich zeigt diese Passage auch den „Sitz im Leben“, welcher der Bibellektüre zugeordnet wurde. Sie war in diesem Fall häusliche Andacht in Gemeinschaft und nicht einfach individuelles Lesen. Zudem war sie auf ein klares Ziel ausgerichtet: die Verkündigung des Wortes Gottes in der Liturgie. Das gemeinschaftliche Bibellesen verband in dieser Konzeption die „Hauskirche“ (Familie) mit der amtlich verfassten Kirche und dem von ihr geordneten
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Vgl. WETZEL, Lektüre, 165. Er spielt hier auf die Confessiones an. WETZEL, Lektüre, 166. Vgl. WETZEL, Lektüre, 186. WETZEL, Lektüre, 166. Vgl. Franz-Xaver WETZEL, Daheim: Ein Büchlein für’s Volk (Ravensburg: Dorn, 54.
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1900),
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Gottesdienst. Eine strikte Trennung zwischen privater und öffentlicher Religion wurde so vermieden.80
4. Stellenwert und Verwendung der Bibel in der frommen katholischen Frauenliteratur Auch die bereits behandelten 20 Werke religiöser Literatur, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts speziell zur Unterweisung und/oder zu Andacht und Erbauung für Frauen geschrieben wurden, bieten verschiedene Einblicke in die Position der Bibel und der Bibellektüre in der katholischen Frömmigkeit. Zunächst einmal stellt sich ein weitgehend ernüchternder Befund ein. Nur in einem einzigen dieser Bücher wird das Lesen der Bibel genauer berührt, in wenigen weiteren mehr oder weniger beiläufig erwähnt, vom Gros dagegen wird es überhaupt nicht thematisiert. Egger nennt die Vernachlässigung der Lektüre von Katechismus und biblischer Geschichte als Mangel seiner Zeit und empfiehlt beide der christlichen Mutter vor dem Hintergrund ihrer Erziehungsaufgabe eindringlich als Lektüre. Aus der Bibel, so meint er, ließe sich „eine Fülle von aufmunternden und abschreckenden Beispielen“ gewinnen, die eine Mutter den Kindern vorhalten könne.81 Die Bibellektüre ist hier ein Instrument der Pädagogik, indem sie exempla für gut und schlecht zur Verfügung stellt. Erworbene Bibelkenntnis wird zugleich zur mündlichen Paränese. Egger empfiehlt wie sein Landsmann Wetzel damit ebenfalls nicht die Bibellektüre im Volltext. Ein anderer „Sitz im Leben“ ergibt sich dort, wo das Lesen der Bibel als Teil der privaten geistlichen Lebensordnung vorgestellt wird. Das ist bei Adele Gräfin von Hoffelize der Fall, die ihren Leserinnen für die tägliche halbstündige geistliche Lesung vorschlägt: Man kann einige Verse des Evangeliums zum Betrachtungsgegenstande nehmen. Ein einziger genügt manchmal. Wenn es eine Erzählung ist, lese man etwas mehr. Es ist fast immer eine Lehre, eine Anweisung darin enthalten.82
Sie ordnet die biblischen Texte dabei ausdrücklich den Andachtsbüchern über, die zwar auch nützlich seien, „aber niemals findet man in denselben die Nahrung und Kraft, welche jede Zeile, jedes Wort des göttlichen Buches uns darbietet“. Ihr erschienen die Bücher der Weisheit, die Briefe des Paulus und unter den Evangelien das des Johannes für „uns [als] wohltuend“.83 Vor allen anderen geistlichen Büchern empfiehlt auch Michael Sintzel (1804–1889) den Frauen die Bibel.84 Unklar bleibt in beiden Fällen, in welcher Form die biblischen Texte gelesen werden sollten, ob in Vollbibeln oder eher in biblischen Geschichten. 80 81 82 83 84
Zu diesem gesamten Abschnitt vgl. SCHNEIDER, „Masculinity“. Vgl. EGGER, Mutter, 268f. HOFFELIZE, Unterweisungen, 141. HOFFELIZE, Unterweisungen, 152. Vgl. SINTZEL, Frau, 196.
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Nur Bischof Dupanloup geht in seinen Reden vor Frauen ausführlich und mit näherer Begründung auf das Bibellesen ein. Bei diesem führenden Repräsentanten der katholischen Kirche in Frankreich war die Bibel Ausgangspunkt seiner Vorträge und bildete einen ständigen Bezugspunkt.85 Entgegen manchen falschen Vorstellungen von Zeitgenossen, welche das Bibellesen Priestern und Ordensleuten zuweisen wollten86, wird bei Dupanloup das Lesen der Heiligen Schrift regelrecht zur Pflicht einer katholischen Frau und Mutter. Nach dem Vorbild des Frauenkreises um den heiligen Hieronymus soll sie die Bibel selbst lesen und diese dann auch die eigenen Töchtern lehren.87 Sie sollten darauf bestehen, daß Ihre Töchter, wenn sie herangewachsen sind, Ihnen jeden Tag einige der schönsten Stellen der heiligen Schrift, welche Sie dem Verständniß derselben angemessen auszuwählen hätten, hersagen können.88
Auch er kommt natürlich nicht umhin, die reglementierenden kirchlichen Vorschriften zu erwähnen, doch interpretiert er sie so, dass die Bibellektüre dadurch selbst den einfachen Gläubigen nicht genommen werden soll.89 Für ihn ist nicht ein Zuviel an Bibellektüre ein Problem, sondern ein Zuwenig.90 Nur knapp geht er auf die Art der Bibellektüre ein. Er erwähnt ausdrücklich die integrale Lesung ganzer biblischer Bücher, rät aber in diesem Fall, einen Kommentar als unabdingbares Hilfsmittel zu benutzen. Das setzt natürlich eine entsprechende Bildung seiner Zuhörerinnen wie auch finanzielle Mittel voraus, was einiges über die soziale Stellung der vom Bischof ins Auge gefassten Zuhörerinnen verrät.91 Neben dieser Weise der Bibellektüre empfiehlt Dupanloup die im Brevier – dem Textbuch für die Feier des Stundengebets besonders der Priester und Ordensleute – enthaltenen biblischen Abschnitte als eine „treffliche Art und Weise die heilige Schrift zu lesen“.92 Wohlgemerkt, er empfiehlt das Brevier normalen Frauen, nicht Nonnen oder Schwestern. Seine biblischen Inspirationen für die Frauen-Vorträge bezog er übrigens selbst genau daraus und trug sie ausgehend von den biblischen 85
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88 89 90 91 92
Nach der Vorrede des französischen Herausgebers stützte sich Bischof Dupanloup bei diesen Konferenzreden für Frauen „fast immer auf die heilige Schrift; bald las er einfach die Bibelstellen vor, indem er sie kaum erklärte; bald erforschte er sie bis auf den Grund und alsdann brachen Blitze einer völlig unerwarteten und umso ergreifenderen Beredsamkeit hervor; dann nahm er wieder den ruhigen Gang seiner vertraulichen Redeweise auf.“ DUPANLOUP, Frau, IX. DUPANLOUP, Frau, 3. Zum Frauenkreis um Hieronymus und zu dessen Frauenbild vgl. Christine STEININGER, Die ideale christliche Frau: virgo – vidua – nupta: Eine Studie zum Bild der idealen christlichen Frau bei Hieronymus und Pelagius (St. Ottilien: Eos-Verlag, 1997). Zur Bibellektüre im Rahmen der christlichen Bildung für Mädchen bes. 102f. Ferner: Christa KRUMEICH, Hieronymus und die christlichen feminae clarissimae (Bonn: Habbelt, 1993). Zur Bibel im Kontext der Mädchenerziehung hier 219–227. DUPANLOUP, Frau, 6. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 7f. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 5f.19. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 8. DUPANLOUP, Frau, 8.
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Lesungen oder sonstigen biblischen Elementen des Stundengebets (Responsorien, Antiphonen) vor. Ob Dupanloup dabei tatsächlich an das für die Priester gedachte, in lateinischer Sprache verfasste reguläre Brevier dachte, an eine muttersprachliche Übersetzung oder an eine Art Laienbrevier, ist nicht ausgeführt. Im deutschen Sprachraum gab es auch die beiden zuletzt genannten Varianten.93 Sollte man nach den bisherigen Ausführungen den Eindruck gewonnen haben, die Bibel sei in den untersuchten Frauenbüchern von geringer Relevanz, so käme das einem Trugschluss gleich. Tatsächlich sind mit wenigen Ausnahmen die untersuchten Andachts- und Erbauungsbücher durchaus biblisch „imprägniert“. Das Ausmaß ist freilich sehr unterschiedlich. Die eine Hälfte der Bücher weist über das ganze Buch verstreut vergleichsweise wenige biblische Bezüge auf94, wieder andere rekurrieren recht häufig auf die Bibel.95 Auch in dieser Hinsicht erweist sich das Buch von Bischof Dupanloup als besonders biblisch orientiert, geht er doch auf mindestens jeder dritten Seite des Textes auf die Heilige Schrift ein. Ob eines der Bücher von einem Mann oder einer Frau verfasst war, wirkte sich nach den untersuchten Werken nicht darauf aus, ob intensiv oder weniger intensiv mit der Bibel gearbeitet wurde. Das Beispiel von Clara Britz (geb. 1848) zeigt, dass auch Autorinnen über so große Bibelkenntnis verfügten, dass sie wie die Autoren aus dem Klerikerstand in diversen Kontexten die einschlägigen Bibelstellen anführen konnten.96 Die Art und Weise, wie mit der Bibel gearbeitet wird, ist vielfältig, wenn sich auch einige klare Muster ergeben. Es ist ein beliebter Modus, einem Kapitel ein Bibelzitat als Programm voranzustellen. So findet sich in Dotzlers Brautführer der Vers „Wie einen jeden Gott berufen hat, so wandle er“ (1 Kor 7,17) als programmatische Einführung zum Kapitel „Der Friede einer guten Standeswahl“.97 Bei Sintzel wiederum wird das Kapitel über die wahre Demut mit einem Zitat aus dem Jakobusbrief eröffnet (Jak 4,9: „Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demüthigen gibt er Gnade“).98 Selten mündet dagegen ein Kapitel in ein gleichsam zusammenfassendes Bibelzitat ein. In Matthias von Bremscheids (1846–-1911) Frauenbuch ist das der Fall, wenn er das Kapitel zum „Einfluß der Frauen auf das religiöse Leben“ mit Spr 18,22 beendet: „Der 93
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So etwa von Markus Adam Nickel besorgte Ausgaben. Vgl. Günter DUFFRER, Auf dem Weg zu liturgischer Frömmigkeit: Das Werk des Markus Adam Nickel (1800–1869) als Höhepunkt pastoralliturgischer Bestrebungen im Mainz des 19. Jahrhunderts (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 6; Speyer: Jaeger, 1962). Vgl. COMBES, Frau: auf ca. 14 von 300 Seiten; HOFFELIZE, Unterweisungen: auf ca. 30 Bezugnahmen bei knapp 700 Seiten; RAFFENBERG, Mutter: 3 von 758 Seiten. Vgl. BRITZ, Gedanken: 80 Seiten mit biblischen Bezügen bei knapp 246 Seiten; DOTZLER, Brautführer: 43 von 633; LANDRIOT, Frau: 74 Seiten von 308; SINTZEL, Frauengeschlecht 1: 42 von 336 Seiten (dagegen Bd. 2: 12 von 364). Über diese Schriftstellerin ist wenig bekannt. Einige Hinweise bei Sophie PATAKY, Lexikon deutscher Frauen der Feder: Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weiblicher Autoren, nebst Biographien der lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme 1 (Bern: Lang, 1971 [Nachdruck der Ausgabe Berlin: 1898]), 105. DOTZLER, Brautführer, 28. Vgl. SINTZEL, Frauengeschlecht 1, 129.
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Mann, welcher ein tugendhaftes Weib gefunden, hat ein großes Gut gefunden, und er wird Freude schöpfen von dem Herrn.“99 Die Masse der Bibelzitate dient zur Verdeutlichung eines Sachzusammenhangs und als gleichsam autoritativer Beleg für die Ausführungen des Autors/der Autorin. Da werden dann Aussagen über den Frohsinn als Gabe des Himmels mit passenden Bibelstellen unterstrichen und bestätigt (Sir 30,23; Spr 15,13; Phil 4,4; 2 Kor 9,7)100 oder das vom Autor nachdrücklich empfohlene Streben nach Vollkommenheit wird durch Verweis auf einschlägige biblische Texte legitimiert und unterstützt (Mt 24,13; 1 Kor 9,24).101 Die Bibel kann dann neben „das unfehlbare Lehramt der kath[olischen] Kirche“ treten, um bei Britz die „unzähligen Beweise für die Freiheit des Menschen“ „durch die klarsten Aussprüche“ zu erbringen.102 Dabei kann das Zitat in den Fließtext eingebunden werden, so dass beim Lesen die Aussagen von AutorIn und Schrift regelrecht ineinander fließen, selbst wenn die Zitate kenntlich gemacht und sogar durch Fußnoten nachgewiesen werden. Dieses Verfahren ist besonders ausgeprägt in Anton Passys (1788–1847) Lese- und Gebetbuch.103 Sehr gezielt wird die Heilige Schrift in allen möglichen Kontexten in Anspruch genommen, um einzelne Verhaltensweisen oder Tugenden zu beschreiben bzw. deren Wert herauszustellen. Die besondere Verantwortung der Frauen für das Armenwesen wird von Bremscheid in einem Kapitel über das soziale Leben mit Sir 36,27 (Vulg.: „Wo kein Weib sich findet, da seufzt der Arme“) aufgezeigt104, und Sintzel demonstriert die Pflicht zur Arbeit mit 2 Thess 3,10 („Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“) oder die Tugend der Verschwiegenheit mit gleich mehreren alttestamentlichen Belegen aus der Weisheitsliteratur.105 Dabei kann mitunter auch eine recht freie, assoziative Brücke zwischen der Bibel und der erwünschten Verhaltensweise geschlagen werden. Wetzel bezieht die Aufforderung Jesu im Kontext der sogenannten wunderbaren Brotvermehrung „Sammelt die übrig gebliebenen Stücklein, daß nichts verderbe!“ (Joh 6,12) auf die sparsame und sorgsame Haushaltsführung der Frau106 – davon ist in der Bibel sicher nicht die Rede. Auf die Bibel wird schließlich auch dort zurückgegriffen, wo die Andachts- und Erbauungsbücher nicht einem paränetischen Duktus folgen, sondern die Leserinnen zu Gebet und Liturgie hinführen wollen. Innerhalb des Angebots an Messandachten werden biblische Texte angeführt, die jedoch nicht wie in den späteren Volksmessbüchern auf die konkrete liturgische Leseordnung abgestimmt sind. In seiner „ersten Meß-
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BREMSCHEID, Frau, 35. Vgl. DOTZLER, Brautführer, 106. Vgl. PASSY, Lese- und Gebetbuch, 280. BRITZ, Gedanken, 11 (vgl. Dtn 30,19). Vgl. PASSY, Lese- und Gebetbuch, 33–35, wo beim Thema des nützlichen Gebrauchs der Zeit Röm 6,22; Eph 5,16; 1 Kor 7,29 und Joh 12,35 eingebaut werden. Vgl. BREMSCHEID, Frauen, 48. Vgl. SINTZEL, Frauengeschlecht 1, 140.259. Vgl. WETZEL, Frau, 25.
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andacht“ bietet Raffenberg eine Lesung aus dem Buch Judit107, Temming solche aus Ps 50 und 1 Kor 3.108 Bei Sintzel ist die ganze Messandacht von Bibelzitaten durchzogen.109 Anders ist der Zusammenhang von Liturgie und Bibel bei Dupanloup. Wie erwähnt, dient ihm das Brevier als Zugangsweg zur Bibel, und in diesem findet er auch ein Konzentrat biblischer Motive zum Thema Frau: Als ich vor Ihnen das berühmte Bild der starken Frau behandelte, da hatte ich ohne Zweifel ein vollendetes Vorbild Ihnen zur Bewunderung und zur Nachahmung aufzustellen. Aber wie viele Züge gibt es noch in der heiligen Schrift, im Alten und im Neuen Testamente, welche dieses Bild vervollständigen können, flammende und leuchtende Züge, die in den heiligen Büchern da und dort verstreut vorkommen und welche die Kirche in diesem Teile ihrer Liturgie [Commune Sanctorum, i. e. Texte im Stundengebet für die Heiligenfeste], dessen Erklärung ich heute vor Ihnen unternommen habe, gesammelt hat.110
5. Biblische Frauenbilder und Frauengestalten Im dem soeben zitierten Passus aus Dupanloups Buch klingt ein weiterer Aspekt an: Die Andachtsliteratur für Frauen rekurriert auf biblische Frauengestalten und begründet mit ihnen eigene zeitgenössische Frauenbilder. Bevor jedoch auf einzelne dieser biblischen Frauenbilder oder auf einzelne Frauengestalten eingegangen wird, sollen im Folgenden zunächst einige Grundtendenzen im untersuchten Material herausgestellt werden. 5.1 Der Rekurs auf biblische Frauengestalten: Allgemeine Tendenzen Es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Der Rekurs auf biblische Frauengestalten oder ausgefaltete Frauenbilder ist in den Andachts- und Erbauungsbüchern gut zu fassen, aber er tritt rein quantitativ weit hinter die im vorausgegangenen Abschnitt erläuterte punktuelle Bezugnahme auf einzelne Verse als Illustration/Legitimation einzelner Tugenden/Verhaltensmuster zurück. Ein weiterer allgemeiner Befund besteht darin, dass das Alte Testament mit seinen Frauen und Frauenbildern insgesamt ungleich häufiger präsent ist als das Neue Testament. In etwa doppelt so oft beziehen sich die AutorInnen auf die elaborierten Passagen über Frauen und Frauengestalten im Alten Testament, das freilich auch vergleichsweise weit mehr und insgesamt auch eindrücklichere Passagen zu bieten hat als das Neue Testament. Unter den alttestamentlichen Büchern wird – wohl bemerkt über eine gänzlich punktuelle Nennung hinaus – einzig die Weisheitsliteratur stärker rezipiert. 107 108 109 110
Vgl. RAFFENBERG, Mutter, 88f. Vgl. TEMMING, Frau, 200f. Vgl. SINTZEL, Frauengeschlecht 2, 60–66. DUPANLOUP, Frau, 126.
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Innerhalb dieser Gruppe findet das Buch der Sprüche die meiste Beachtung, gefolgt von Jesus Sirach. Dagegen spielt das Buch der Weisheit zwar für die Tugend der Weisheit eine Rolle, sonst aber nicht. Die anderen Teile des Alten Testamentes werden nur schwach rezipiert: Die Tora ist nur bei zwei Büchern mit der Schöpfungsgeschichte ein Bezugspunkt; unter den Geschichtsbüchern wird wenige Male auf das Buch Judit, die Makkabäerbücher und das Buch Tobit zurückgegriffen; die prophetischen Bücher sind schließlich nur gänzlich peripher präsent. Hier aber verdient der Rekurs auf Jes 66,12f. insofern besonderes Interesse, weil die Mütterlichkeit Gottes damit betont wird, was wiederum die herausragende Würde der Mutterrolle belegen soll.111 Das Korpus besonders relevanter Texte ist also vergleichsweise schmal. 5.2 Judit Biblische Frauengestalten im eigentlichen Sinn treten diesem Befund entsprechend wenig hervor: Judit, die Mutter der Makkabäer, Sara und Hanna sowie Eva werden genannt und in konkreten Zusammenhängen thematisiert, am profiliertesten dabei sicher Judit. Das passt zur Judit-Konjunktur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.112 Sie erscheint als ein Idealbild der christlichen Frau: Ihre Tugend ist ebenso öffentlich bekannt wie ihre Ehre intakt ist, weil über sie wegen ihrer Gottesfurcht nichts Böses gesagt werden kann.113 Daneben ist sie auch als starke Frau präsent, deren Lob erklingt, weil sie „männlich gehandelt“ hatte, „starkmütig“ gewesen war und auch weil sie ihre Liebe zur Keuschheit unter Beweis stellte.114 Judits Handeln wird bei Dupanloup davon ausgehend gewissermaßen am männlichen Modell gemessen und gleichzeitig weiblich zugespitzt. Zunächst beklagt er den Mangel an Mut, Starkmut und Männlichkeit in seiner Zeit, die sich „nicht mehr oft“ finden, „nicht einmal bei den Männern“.115 Der Satz ist einzuordnen in die im ersten Kapitel erwähnten Diskurse um eine „Krise der Männlichkeit“ und besonders männlicher Religiosität. Dupanloups Text spielt freilich auch mit der zeitgenössischen Redeweise vom „schwachen Geschlecht“, doch zielt er gerade mit dem angeführten biblischen Ideal Judit auf die Stärke auch der Frauen ab: „O, christliche Frauen, man spricht viel von Ihrer Schwachheit, aber nicht genug von Ihrer Stärke.“116 Er will unzweifelhaft starke Frauen. Ihre Stärke zeigt sich allerdings gerade in der Absage an sogenannte frauenspezifische Schwächen: Eitelkeit, 111 112
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Vgl. DUPANLOUP, Frau, 91f. Vgl. Daniela HAMMER-TUGENDHAT, „Judith und ihre Schwestern: Konstanz und Veränderung von Weiblichkeitsbildern“, in Geschlecht und Moral (hg. v. Annette Kämmerer und Agnes Speck; Heidelberg: Das Wunderhorn, 1999), 124–180. Jdt 8,8; Jdt 15,9 (Vulg. 15,10): vgl. DUPANLOUP, Frau, 202.227. Ähnlich MARCHAL, Frau, 196. Jdt 15,10 (Vulg. 15,11: hier ist auch die Basis für die Rede vom männlichen Handeln und dem Starkmut); vgl. DUPANLOUP, Frau, 203f. DUPANLOUP, Frau, 204. DUPANLOUP, Frau, 204.
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Hoffart, Neigung zu äußerem Prunk, zu leichtfertiger Rede und zum Lästern.117 Eher en passant wird Judit an anderer Stelle von Dupanloup auch zur Illustration der göttlichen Barmherzigkeit angeführt.118 Wo diese starke biblische Frauengestalt vereinzelt bei anderen AutorInnen erwähnt wird, dominiert stets eine sehr isolierte, punktuelle Bezugnahme, wobei das Motiv der von Judit nach dem Tod ihres Mannes bewiesenen Keuschheit im Vordergrund steht.119 Die Gestalt Judits wird auf diese Weise gewissermaßen entsexualisiert, und sie erfährt gerade nicht jene ambivalente Stilisierung zu einer männerbedrohenden „femme fatale“, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert sonst durchaus zu beobachten war.120 Man wird insgesamt kaum behaupten können, die moralisierenden, auf weiblichen Geschlechtsstereotypen basierenden Aussagen der katholischen Andachtsliteratur hätten die biblischen Dimensionen der ihr Volk rettenden Judit vollinhaltlich erfasst. Selbst Dupanloup gelingt dies trotz der Kategorie „starke Frau“ nicht. 5.3 Sirach Sir 26,1–27 ist nach Spr 31 der am stärksten rezipierte alttestamentliche Frauentext. Dieser Abschnitt wird teilweise in ausführlichen wörtlichen Zitaten im Einleitungsteil eines Kapitels über die „gute Gattin“ präsentiert, um ein Ideal aufzustellen. Dabei kann deren Wirken regelrecht sakralisiert werden: Es ist zu einem „heiligen Beruf“ geworden.121 Egger sieht darin ebenfalls ein Idealbild, bezieht es aber nicht förmlich auf die „gute Gattin“, sondern zitiert die Stelle ausführlich, um ganz grundsätzlich die positive, ideale Sicht der Frau in der Heiligen Schrift aufzuzeigen, der für ihn freilich eine ganz und gar negative Perspektive korrespondiert. Diesen von Lob überfließenden Sätzen stehen andere Aussprüche gegenüber, welche die unergründliche Bosheit des Weibes in den grellsten Farben schildern. […] Aber beide Schilderungen sind wahr, weil es Weiber von beiden Arten gegeben hat und noch gibt, Frauen von bewunderungswürdiger Tugend und Heiligkeit, und wahre Ungeheuer von Verworfenheit und Bosheit.122
Auch diese negative Dimension entfaltet er in einem anderen Kapitel ebenfalls im Rückgriff auf Jesus Sirach, hier 25,13–17.123 Im Übrigen geht Dupanloup an mehreren Stellen auf die Perikope Sir 26 punktuell ein, um z. B. eine schweigsame, eine kluge oder eine gottesfürchtige Frau zu loben.124 Auch er spricht mit Sir 25,15f. das Verdikt
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Vgl. DUPANLOUP, Frau, 204–208. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 224f. mit Bezug auf Jdt 13,14 (Vulg. 13,18). Vgl. DOTZLER, Brautführer, 120; PASSY, Lese- und Gebetbuch, 457f. Vgl. HAMMER-TUGENDHAT, „Judith“, 126–131. TEMMING, Frau, 51f.; vgl. auch DOTZLER, Brautführer, 216–218. EGGER, Mutter, 41f. Vgl. EGGER, Mutter, 41f.74f. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 194.212–214.
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aus über eine Frau, „welche ihre Pflichten nicht begreift, welche die Eigenschaften und Tugenden nicht besitzt, die ihr Erbteil sein sollten“.125 5.4 Spr 31 oder die starke Frau und ihre Grenzen Noch breiter rezipiert als Sir 26 wird Spr 31,10–31, das Lob der „tüchtigen“ Frau.126 Insbesondere im Buch von Bischof Dupanloup nimmt diese Perikope eine paradigmatische Stellung ein. Sie wird deshalb auch in vollem Umfang von ihm bei seiner Ansprache vorgelesen bzw. im Buch zitiert, und der Autor kommt immer wieder darauf zurück.127 Dupanloup gilt die in dieser Passage vorgestellte „starke Frau“ als „vollendetes Vorbild […] zur Bewunderung und zur Nachahmung“ für seine christlichen Hörerinnen.128 Neben Dupanloup geht auch sein Schweizer Amtskollege Augustin Egger intensiver auf diesen Text ein.129 Bei beiden ist in ihrer Auslegung der Gedanke der „starken Frau“ das Leitmotiv. So lautet schon die Übersetzung des hebräischen Begriffs in Spr 31,10.130 Egger kontrastiert die „starke Frau“ von Spr 31 mit der „natürlichen“ Schwäche der Frauen, der er ein eigenes Kapitel widmet.131 Wie man von einem schwachen Geschlechte redet, so kann man auch von starken Frauen reden. Von Natur aus sind alle schwach, die Ungleichheit beginnt damit, daß die einen sich willenlos an ihre natürlichen Schwachheiten hingeben, die anderen die Mittel finden und benutzen, um das, was schwach ist in ihnen, stark zu machen.132
Genau das sieht er im Idealbild der „starken Frau“ von Spr 31 verkörpert, „welche Kraft und Anmut und alle Tugenden ihres Geschlechtes in schönster Harmonie“ vereine.133 Das Mittel aber, um diese Stärke zu erlangen und bis hin zu jenem weiblichen Heroismus zu gelangen, der sich bei der Mutter der Makkabäer (2 Makk 7,20–41), den frühchristlichen Märtyrerinnen und Asketinnen gefunden habe, sind der Glaube und Gottes Gnade.134 Deutlich ist erkennbar, wie die zeitgenössischen naturalistischen Ge125 126
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DUPANLOUP, Frau, 2. Zu dieser Stelle, ihren exegetischen Problemen und Interpretationen siehe Irmtraud FISCHER, Gotteslehrerinnen: Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament (Stuttgart: Kohlhammer, 2006), 146–172. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 12. DUPANLOUP, Frau, 126, ähnlich 13. Vgl. auch HOFFELIZE, Unterweisungen, 50: „Die heilige Schrift stellt uns die christliche Frau in dem Bilde des starken Weibes dar, dem schönsten Vorbilde, das sie uns geben kann.“ Vgl. EGGER, Mutter, 76–83. Zur Übersetzungsproblematik vgl. FISCHER, Gotteslehrerinnen, 152–156. In anderen Andachtsbüchern steht (wie in der Einheitsübersetzung) „tüchtige Hausfrau“ (COMBES, Frau, 46) oder „starkmütige Frau“ (DOTZLER, Brautführer, 252). EGGER, Mutter, 67–86: „Das schwache Geschlecht“. EGGER, Mutter, 83. EGGER, Mutter, 76. Vgl. EGGER, Mutter, 77f.91.
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schlechterstereotype135 von Egger aufgegriffen und gleichzeitig spezifisch zugespitzt werden. Angesichts der Kulturkampferfahrungen und der Säkularisierungsphänomene in der Schweizer Gesellschaft bedeutet das für Egger nicht zuletzt die Mobilisierung glaubensstarker, der Kirche treu verbundener Frauen. Auch Dupanloup baut auf den Kontrast „schwaches Geschlecht“ und „starke Frau“, doch hält er die Rede vom „schwachen Geschlecht“ explizit nur für eine spezifische Kennzeichnung derer, die ihre „Natur nur oberflächlich kennen“.136 Ihnen hält er die eigene Erfahrung mit „starken Frauen“ entgegen, die Situationen meisterten, an denen Männer zerbrochen seien (wie z. B. Trauerfälle). Mehr noch: Die besondere Stärke der Frau qualifiziert sie für Dupanloup erst zu ihrem ersten Schöpfungsauftrag, nämlich laut Gen 2,18 „Gehilfin des Mannes“ zu sein137, Stütze und Beistand. Hier kommt das Konzept der Komplementarität der Geschlechter zum Tragen, das den Frauen durchaus eine wesentliche Bedeutung zuerkennt. Es wird allerdings – wie verbreitet – auch von Dupanloup konsequent patriarchal entfaltet. Die „starke Frau“ soll Ratgeberin und Helferin sein voll hingebender Fürsorge, und sie soll es in „Sanftmuth und Zärtlichkeit“ sein, dabei aber keinesfalls die Rollen umkehren, wie es wörtlich heißt: „Reißen Sie Nichts an sich. Vergessen Sie nicht, daß nicht Sie das Haupt der Familie sind, sondern daß der Mann es ist; Sie müssen gehorchen.“138 Die von Veronika Jüttemann betonte Spannung im Konzept von Haupt und Gehilfin nahm dementsprechend schon Bischof Dupanloup wahr und suchte sie wie sein aus Spr 31 entwickeltes Ideal der „starken Frau“ entsprechend zu entschärfen.139 Der Diskurs über das Geschlecht wird an dieser Stelle eindeutig zu einem Machtdiskurs. Im Rahmen der hierarchischen Geschlechterordnung bleibt Dupanloup allerdings bei einer Hochschätzung der Frau und ihrer Rolle. Er charakterisiert sie als „Repräsentantin des Guten“ in der Familie. Damit ist der Frau zugleich ihr bevorzugter Wirkungsradius zugewiesen. Eine solche idealisierende Charakterisierung konnte die einzelne konkrete Frau allerdings auch erheblich überfordern.140 Spr 31 wird bei Dupanloup daneben auch ganz konkret auf die Tätigkeit von Frauen im Haushalt appliziert. In diesem Fall entwirft er im Rückgriff auf das Alte Testament das Ideal einer unermüdlich arbeitenden emsigen Hausfrau. Ihr stellt er das Bild der müßiggängerischen Dame in Adel und Bourgeoisie gegenüber, die nur die Zeit totschlägt.141 135
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Zur „Naturalisierung“ der sogenannten Geschlechtscharaktere im 19. Jahrhundert vgl. Ute FREVERT, „Mann und Weib, und Weib und Mann“: Geschlechter-Differenzen in der Moderne (Beck’sche Reihe 1100; München: Beck, 1995), 18–60. DUPANLOUP, Frau, 14. Auf diese Textstelle geht Dupanloup auch später ausführlich ein: vgl. DUPANLOUP, Frau, 80–89. DUPANLOUP, Frau, 15. Vgl. Veronika JÜTTEMANN, Im Glauben vereint: Männer und Frauen im protestantischen Milieu Ostwestfalens: 1845–1918 (Köln: Böhlau, 2008), 262f. DUPANLOUP, Frau, 16. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 30–38. Zur Entwicklung geschlechtsspezifischer Arbeitsfelder im Kontext der Familiengeschichte vgl. Andreas GESTRICH, „Neuzeit“, in Geschichte der Familie (hg. v. dems. et al.; Europäische Kulturgeschichte 1; Stuttgart: Kröner, 2003), 364–
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Wird der Text von Spr 31,10–31 bei Dupanloup demnach multiperspektivisch rezipiert, fixieren ihn die anderen Autoren direkt auf das Motiv der „tüchtigen Hausfrau“ oder „Wirtschafterin“. Passend dazu steht er in Dotzlers Ratgeber für Bräute am Beginn des Kapitels über die Hausfrau, kombiniert mit der Aufforderung an die junge Leserin (und künftige Gattin und Hausfrau): Willst du im neuen Stande auch so glücklich und segensreich wirken, dann mußt du dir im Elternhause oder in einer Anstalt die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben.142
Fleiß, hauswirtschaftliches Geschick, Sparsamkeit, aber auch die Fähigkeit, im Haus und der Hauswirtschaft die Übersicht zu behalten, sind jene Kenntnisse und Fähigkeiten, die im unmittelbaren Anschluss an das Zitat aus Spr 31 angeführt werden. Das Konzept von getrennten Geschlechtersphären sowie der „bürgerliche Wertehimmel“, bei denen der Frau der Raum des Hauses und der Familie zugeordnet wird143, erfährt so gewissermaßen eine biblische Präfiguration und damit seine Legitimation. Die untersuchten Texte belegen die überkonfessionelle Wirksamkeit und Geltung dieser Konzepte. Dotzlers Verwendung von Spr 31 als einer Art „Bräuteunterricht“ entspricht im Übrigen einer möglichen exegetischen Bestimmung des „Sitzes im Leben“.144 5.5 Neutestamentliche Frauentexte und Frauengestalten Vor dem Hintergrund dieser teils intensiven Beschäftigung mit alttestamentlichen Frauentexten fällt auf, dass in den untersuchten Werken keine neutestamentlichen Texte vergleichbar ausführlich behandelt werden. Selbstverständlich ließen sich ohne jede Schwierigkeit ganze Serien von neutestamentlichen Versen zusammenstellen, die wörtlich oder indirekt zitiert werden, um irgendeinen Sachverhalt zu illustrieren oder zu legitimieren. Das Neue Testament ist also durchaus präsent, nur fehlen weitestgehend die neutestamentlichen Frauengestalten.145 Wenn man nach Frauen aus den Paulusbriefen oder der Apostelgeschichte fragt, dann kann nur gesagt werden: Fehlanzeige.
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652;525–534. Spezieller zur französischen Entwicklung Michelle PERROT, „Rollen und Charaktere“, in Geschichte des privaten Lebens 4: Von der Revolution zum Großen Krieg (hg. v. ders.; Frankfurt: Fischer, 1992), 127–193; 145–153. Vgl. DOTZLER, Brautführer, 251–253. Vgl. auch COMBES, Frau, 46: Zitat aus Spr 31,11, um die wichtige Rolle der Frau als „gute Wirtschafterin“ zu illustrieren. Zu diesem seit dem späten 18. Jahrhundert zunächst vornehmlich in bürgerlichen Kreisen entwickelten Konzept im Geschlechterverhältnis und den historiographischen Debatten um die „getrennten Sphären“ siehe OPITZ-BELAKHAL, Geschlechtergeschichte, 98–116. Zum „bürgerlichen Wertehimmel“ vgl. Manfred HETTLING und Stefan-Ludwig HOFFMANN, Hg., Der bürgerliche Wertehimmel: Innenansichten des 19. Jahrhunderts (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000). Vgl. FISCHER, Gotteslehrerinnen, 149. Vgl. als einführende Übersicht Ross SAUNDERS, Frauen im Neuen Testament: Zwischen Glaube und Auflehnung (Darmstadt: WBG, 1999).
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Mit den Frauen um Jesus selbst sieht es wenig besser aus. Mal wird Elisabeth mit ihrem Mann Zacharias als Beispiel einer friedfertigen Ehe gestreift146, oder es werden Maria Magdalena und die samaritische Frau an einer Stelle erwähnt, um die Barmherzigkeit und Liebe Jesu zu zeigen (Joh 4) und die Leserinnen zu stimulieren, es diesen beiden Frauen gleich zu tun und ihre Hoffnung auf den Herrn zu richten.147 Die kanaanäische Frau wiederum wird der Leserin als Vorbild für ein beharrliches und demütiges Bittgebet vor Augen gestellt (Mt 15,21–28), während die Witwe von Naïn (Lk 7,11–17) als Beispiel einer leidenden Mutter präsentiert wird, die ihren Sohn verloren hat und von Jesus Rettung erfährt.148 Wohl bemerkt: Mehr ist unter den Hunderten von Bibelstellen an Nennungen neutestamentlicher Frauen nicht zu finden. Einzig Maria, die Mutter Jesu, bildet eine Ausnahme. Ihr werden in einzelnen Büchern, die ja mitten im sogenannten „marianischen Jahrhundert“ erschienen149, ganze Kapitel gewidmet.150 Sie wird aber keineswegs durchgängig in allen untersuchten Frauenbüchern prominent als „das Modell“ für Frauen herausgestellt. Bischof Dupanloup kommt auf 300 Textseiten nur an zwei Stellen überhaupt mit biblischem Bezug auf sie zu sprechen, um sie als Vorbild im Leiden und in der Opferbereitschaft vorzustellen.151 Im Ratgeberbuch von Clara Britz wird allein im Kontext von Ausführungen zur Demut eine einzige marianisch geprägte Bibelstelle zitiert, ein Auszug aus dem Magnifikat.152 Sehr selten nur wird die Eva-Maria-Typologie entfaltet.153 Ausgehend von dieser Deutungslinie wird die einzigartige Rolle Mariens im Heilsgeschehen für Marchal insgesamt zum Beleg dafür, dass mit dem Christentum die Würde der Frau, die seit dem Sündenfall verloren ging, wiederhergestellt worden sei. Man sieht sie [die Frau] in den Scenen des Evangeliums auftreten, von den Aposteln geehrt, beschützt von der Kirche, die ihr in ganz besonderer Weise Ehrfurcht zollt, Erziehung und Nächstenliebe angedeihen läßt.154
Wichtiger als die konkreten neutestamentlichen Frauengestalten sind einige paradigmatische Texte für zentrale Fragestellungen im Verhältnis der Geschlechter. Es sind – wenig überraschend – insbesondere einzelne Paulusbriefe (Korinther, Epheser), der Paulus zugeschriebene 1. Timotheusbrief und der 1. Petrusbrief, die entsprechend rezipiert wurden. Die Rezeption konzentriert sich dabei jeweils auf jene wenigen Passagen, die inhaltlich am nächsten zum Gegenstand der Andachtsbücher – Belehrungen über 146 147 148 149
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Vgl. MARCHAL, Frau, 54. Vgl. MARCHAL, Frau, 19. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 171.176–178. Zu diesem Begriff und der marianischen Konjunktur im 19. Jahrhundert vgl. Anton ZIEGENAUS, Hg., Das marianische Zeitalter: Entstehung – Gehalt – bleibende Bedeutung (Regensburg: Pustet, 2002). So MARCHAL, Frau, 293–318; PASSY, Lese- und Gebetbuch, 362–408; SINTZEL, Frauengeschlecht 1, 247–255. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 94.96. Vgl. BRITZ, Gedanken, 152f. Vgl. COMBES, Frau, 165; DUPANLOUP, Frau, 94. MARCHAL, Frau, 8.
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das Frauengeschlecht und Ratschläge für die Frauen – standen. Aus 1 Kor wird Kapitel 7 dementsprechend besonders häufig thematisiert. Es gilt als Orientierung für die sogenannte Standeswahl, also die Entscheidung, ob man eine Ehe anstreben oder als Jungfrau leben soll. Dieser Frage wird in den Büchern, die sich wie Dotzlers Brautführer an junge Frauen richten, natürlich besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei halten die katholischen AutorInnen entgegen einer gewissen gesellschaftlichen Geringschätzung unverheirateter Frauen an der Vortrefflichkeit dieses Standes fest, werten ihn traditionell als dem Ehestand überlegen und beziehen den Text teilweise auch direkt auf die klösterliche Lebensform von Frauen.155 Die Blüte der Frauenkongregationen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stand den AutorInnen sicher vor Augen, doch gehen sie wegen des anvisierten Lesepublikums auf diese nicht weiter ein.156 Eine Abwertung der Ehe vor dem Hintergrund des Jungfräulichkeitsideals findet sich nirgends, vielmehr geben AutorInnen unter Berufung auf 1 Kor 7 zu erkennen, dass man in dem Stand leben solle, in den einen Gott berufen habe, und dass demnach auch die Ehe nach einer guten Prüfung gewählt werde dürfe.157 Seltener werden andere Abschnitte dieses Briefes herangezogen, auch die bekannten Ausführungen in 1 Kor 11 über die Haltung der Frauen im Gottesdienst werden nur selten aufgegriffen und dann in Richtung auf die Unterordnung der Frauen unter die Männer ausgelegt. Bischof Dupanloup betreibt dabei freilich großen rhetorischen und argumentativen Aufwand, um diese Unterordnung von jeglichem Anflug männlicher Tyrannei frei zu halten und im Gegenteil die Pflicht der Männer zur wertschätzenden Liebe gegenüber ihren Frauen herauszustellen.158 Darüber hinaus greift er die Aussagen dieses Kapitels über die Ehe zwischen ChristInnen und HeidInnen auf und überträgt sie auf die eigene Gegenwart. Er leitet daraus die hohe Verantwortung der Mütter bei anstehenden Eheschließungen ihrer Töchter ab, für eine gute christliche Ehe zu sorgen.159 Das Thema der christlichen Ehe wird von einzelnen AutorInnen im Anschluss an Eph 5,21–33 entfaltet.160 Deren Sakramentalität wird als Aufwertung der Ehe und als Wiederherstellung dieser nach dem Sündenfall zerrütteten Institution herausgestellt.161 Ihr Wert wird etwa von Bischof Dupanloup sehr hoch veranschlagt, und zwar unter der 155
156
157 158 159 160 161
Vgl. DOTZLER, Brautführer, 31; DUPANLOUP, Frau, 191; PASSY, Lese- und Gebetbuch, 409–430. BRITZ, Gedanken, erörtert das Thema nicht, obwohl sie für die weibliche Jugend schreibt. MARCHAL, Frau, 205–230, handelt förmlich von den Ordensleuten als „Bräuten Christi“ und verteidigt diese Lebensform. Zum katholischen Jungfräulichkeitsideal vgl. DE GIORGIO, „Modell“, 208–211. Zu den ledigen Frauen im Bürgertum vgl. Bärbel KUHN, Familienstand: Ledig: Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum: 1850–1914 (L’Homme: Schriften 5; Köln: Böhlau, 2000). Vgl. besonders Relinde MEIWES, „Arbeiterinnen des Herrn“: Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 30; Frankfurt: Campus, 2000). Vgl. DOTZLER, Brautführer, 30; PASSY, Lese- und Gebetbuch, 478. Vgl. COMBES, Frau, 44; DUPANLOUP, Frau, 80–88.219–223. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 289f. Vgl. DOTZLER, Brautführer, 142–163; DUPANLOUP, Frau, 127f.181–191. Vgl. DOTZLER, Brautführer, 144f.; DUPANLOUP, Frau, 185f.
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doppelten Perspektive von ehelicher Gemeinschaft und der Teilnahme an Gottes Schöpfungswerk durch die Zeugung von Nachkommen.162 Er rekurriert dann erneut auf Eph 5,21–33 im Zusammenhang seiner Ausführungen über die gemeinsame „Heiligung in der Ehe“, d. h. über die wechselseitige Unterstützung auf dem Weg zum ewigen Heil.163 Gerade sie sieht er im Zentrum dieser Bibelstelle und als wesentlichen Zweck der Ehe. Aus dem 1. Timotheusbrief wird vor allem der Abschnitt 2,8–10 über den Schmuck der Frauen und die guten Werke der Frömmigkeit, die sie als Schmuck tragen sollen statt der Perlen, Gold, kostbarer Kleider oder einer prachtvollen Haartracht, herangezogen. Dagegen ignorieren die Autoren die anschließenden, heute besonders umstrittenen Verse 10 und 11 über das Schweigen und das Lehrverbot für Frauen völlig.164 Gerne wird das Thema des Schmucks und der aufwändigen Kleidung im Kontrast zu wahrer Frömmigkeit auch mit 1 Petr 3,3f. bearbeitet.165 In Kombination mit anderen Bibelstellen wird schließlich 1 Petr 3,1f. verschiedentlich aufgegriffen, um die Unterordnung der Frauen unter die Männer autoritativ zu legitimieren.166
6. Wenig gelesen und doch vertraut: Katholikinnen, die Bibel und die Frauenrolle Am Ende ergibt sich für mich eine recht klare Tendenz: Die Bibel stand nicht im Zentrum des geistlichen Lebens und der geistlichen Lektüre von Frauen im katholischen Deutschland des 19. Jahrhunderts. Sie war für die AutorInnen von Andachts- und Erbauungsliteratur für Frauen ein Bezugspunkt, aber nur einer unter vielen. Es spricht wenig dafür, diesen Befund als geschlechtsspezifisch anzusehen. Nach den allgemeinen Hinweisen zur Lektüre und den Hausbibliotheken wie auch nach einzelnen Bemerkungen in Männerratgebern167 war die Heilige Schrift anscheinend auch beim katholischen Mann nicht von größerer Bedeutung als frommer „Lesestoff“. Muss man deshalb im Blick auf unser Thema von einer unbiblischen Frauenfrömmigkeit sprechen? Es gilt, den groben Befund tatsächlich noch etwas auszudifferenzieren. Für die katholische Frömmigkeit auch von Frauen ist eine enge Verbindung von Bibel und Liturgie zu rekonstruieren. In der apologetischen Literatur wird das zu einem zentralen 162 163 164
165 166 167
Vgl. DUPANLOUP, Frau, 183–185. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 285. Vgl. COMBES, Frau, 44; EGGER, Mutter, 94f.101 (Ein Kapitel ist dem Thema „Das schöne Geschlecht“ gewidmet); MARCHAL, Frau, 148.196 (Ein ganzes Kapitel behandelt das Thema „Frau und Mode“); WETZEL, Frau, 31. Vgl. EGGER, Mutter, 60.101. Vgl. DUPANLOUP, Frau, 214f.; EGGER, Mutter, 201. Vgl. Tilmann PESCH, Das religiöse Leben: Ein Begleitbüchlein mit Rathschlägen und Gebeten zunächst für die gebildete Männerwelt (Freiburg: Herder, 1878), 228f. Pesch empfiehlt den Männern keine Bibel, aber ein Handbuch zur biblischen Geschichte, eine Evangelienauslegung und das ursprünglich noch aus dem Barock stammende Leben Jesu des Kapuziners Martin von Cochem (1634–1712).
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Bernhard Schneider
Argument gegen die protestantischen Vorwürfe, die Bibel nicht zu lesen und dementsprechend nicht zu kennen. Das Argument lautet: Die Bibel wurde von der Kirche von Anfang an im liturgischen Kontext verkündigt. Dort ist in den Lesungen und in den Evangelien ihr Sitz im Leben von der Urkirche an. In der Liturgie erfährt so auch das Volk die biblische Botschaft, und die katholischen Gläubigen bekunden auch rituell in der Liturgie ihre Verehrung der Bibel durch entsprechende Körperhaltung und Gesten.168 In Verbindung damit kann die Bibelkenntnis bei Katholikinnen als Ergebnis oraler Kultur verstanden werden: Biblische Geschichte(n) wurde(n) in Familie, Liturgie und Katechese sowie in der Schule erzählt. Die unmittelbare und private Bibellektüre erscheint dann weniger notwendig. Exakt so charakterisiert Malou den katholischen Zugang zur Bibel: Auch das katholische Volk besitzt, natürlich in geringerem Maaße [als die Gebildeten], Bibelkenntniß. Von frühester Jugend an hören die Kinder katholischer Familien die Hauptbegebenheiten des A. und N.T. erzählen. Es ist für sie eine Hauptfreude, die Bücher einzusehen, worin diese Begebenheiten in Bildern dargestellt sind. Die Geschichte der Schöpfung, des ersten Sündenfalles, der Verheißung des Erlösers, [...]; das Alles ergreift ihre jugendliche Einbildungskraft und lenkt schon ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsachen, welche die Grundlagen der Religion bilden. Der Geschichte des A.T. folgt die Erzählung von dem Leben des Heilandes und dem Unterricht über seine Lehre unter Benutzung der einfachen und populären Gleichnisse des Evangeliums, welche der Jugend Liebe zur Wahrheit und Tugend einflößen. Die Kinder lernen dann die Strafen für die Bösen fürchten und die Belohnungen für die Gerechten hoffen; so dringen gerade zu der Zeit, wo ihre Vernunft sich zu entwickeln anfängt, die Wahrheiten der Heiligen Schrift in ihren Geist und erleuchten sie mit himmlischem Lichte.169
Die Bibel ist schließlich Lehre, wurde entsprechend verwandt als Sammlung von Lehrsätzen und neben dem Katechismus als Autorität herangezogen, um Lehrsätze der AutorInnen zu legitimieren und zu bestätigen. So begegnet sie auch in Katechese und Verkündigung. In dieser Funktion erscheint der biblische Text in der Andachtsliteratur meist in der reduzierten Form knapper oder knappster Zitate. Die Weiblichkeitsentwürfe der untersuchten Werke gebrauchen die Bibel im letztgenannten Sinn. Für sie sind die konkreten biblischen Frauengestalten vergleichsweise wenig relevant. Die AutorInnen entwickeln vielleicht mit Ausnahme von Dupanloup nicht ein Frauenbild aus der Bibel heraus, sondern belegen ihre vorhandenen Frauenbilder durch die Bibel und projizieren das gewünschte Verhalten auf biblische Gestalten zurück. Genauso illustrieren sie falsches Verhalten mit entsprechenden biblischen Beispielen. Wenn Veronika Jüttemann sagen konnte, eine Handvoll Bibelzitate aus der Schöpfungsgeschichte und den Briefen des Apostels Paulus habe in Verbindung mit Luthers Katechismus gereicht, um die „geschlechtsbezogenen Milieustandards“ im Protestantismus Ostwestfalens zu strukturieren und zu legitimieren170, so trifft das der Tendenz nach 168 169 170
Prägnant bei REBBERT, Bibellesen, 69–71. MALOU, Bibellesen, 81. JÜTTEMANN, Im Glauben vereint, 262.
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auch auf den deutschsprachigen Katholizismus zu. Für ihn traten allerdings nach Ausweis der untersuchten Frauenliteratur mit Sir 26 und Spr 31 zwei weitere paradigmatische Texte zur Schöpfungsgeschichte hinzu. Ihr ambivalentes Frauenbild und die strukturelle Asymmetrie in der Geschlechterbeziehung sehen die AutorInnen in der Bibel vorweggenommen und interpretieren sie entsprechend.
Zwischen Dienst und Rebellion: Deutschsprachige Schriftstellerinnen und ihr Verhältnis zur Bibel Magda Motté Universität Dortmund Die Adaption biblischer Stoffe in Literatur und Kunst im 19. Jahrhundert unter geschlechtsspezifischen Aspekten ist eine Randerscheinung und folgt im Ganzen den traditionellen Deutungen der Vorlagen. Die namhaften deutschsprachigen Vertreter der großen kulturgeschichtlichen und literarischen Strömungen hielten Distanz zu den Kirchen mit ihren festgefügten Strukturen und Lehren, d. h. auch zur Bibel. Sie entnahmen mit wenigen Ausnahmen ihre Stoffe der griechischen Mythologie (z. B. Johann Wolfgang Goethe, Franz Grillparzer, Johann Gottfried Herder, Heinrich von Kleist), der europäischen Geschichte (z. B. Christian Dietrich Grabbe, Franz Grillparzer, Heinrich von Kleist, Friedrich Schiller) oder dem Realismus des aktuellen Tagesgeschehens (z. B. Georg Büchner, Heinrich Heine, Theodor Fontane). Zwar hatte Johann Gottfried Herder mit seiner Schrift Die jüdischen Dichtungen und Fabeln (1781) sowie mit dem unvollendeten Manuskript Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782) den Anstoß gegeben, die Bibel als Weltliteratur zu würdigen, und Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine u. a. als Bewunderer gewonnen, doch wirkte sich das kaum auf das literarische Schaffen aus. Das gilt mit wenigen Ausnahmen sowohl für die schreibenden Männer als auch für die Frauen. In diesem Beitrag wird nach einem kurzen Überblick über die allgemeine Situation schreibender Frauen auf zwei markante Beispiele zu Lilit und Judit eingegangen, die den Tenor der Genderproblematik im 19. Jahrhundert verdeutlichen.
1. Spurensuche: Schriftstellerinnen und die Bibel – eine dürftige Bilanz Nach Durchsicht zahlreicher Werke von mehr als sechzig bekannten Schriftstellerinnen aus dem 19. Jahrhundert ist grundlegend zu sagen: Für die nach Freiheit strebenden Schriftstellerinnen der Aufklärung, der Klassik und der Romantik, wie Bettina von Arnim, Karoline von Günderode, Meta Klopstock, Sophie La Roche, Sophie Mereau, Caroline Schlegel oder Dorothee Schlegel waren die Bibel oder die Religion als Stoffquelle für literarische Produktion kaum oder gar nicht von Interesse. In ihren Werken finden sich kaum religiöse Verweise, schon gar nicht irgendeine Auseinandersetzung mit biblischen Texten oder biblischen Frauen im Hinblick auf die Genderproblematik, denn die kirchliche Verkündigung stand ihren Interessen diametral entgegen. Ähnliches gilt für die Autorinnen ab der Mitte des Jahrhunderts, wie Louise Aston, Marie von Ebner-Eschenbach, Ida Hahn-Hahn, Maria Janitschek, Berta Lask, Fanny Lewald, Luise Mühlbach, Louise Otto-Peters und Kathinka Zitz-Halein. In ihrem En-
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gagement für soziale Gerechtigkeit1 konnten auch sie kaum auf kirchliche Unterstützung zurückgreifen; denn die evangelische und die katholische Kirche waren sich, abgesehen von sozial engagierten Kongregationen und Vereinen, weitgehend mit Adel und gehobenem Bürgertum darin einig, die von Gott gegebene Ordnung der Standesschranken aufrechtzuerhalten. Mit besonderem Engagement stellte sich daher z. B. Luise Mühlbach in ihren Romanen Des Lebens Heiland (1840), Gisela (1845), Aphra Behn (1849) u. a. Fragen wie Intrigen, falscher Frömmigkeit, Heuchelei, Diskriminierung der Juden und Frauen und lehnte kategorisch kirchliche Autoritäten und ihre Institutionen ab, allerdings ohne konkret auf bestimmte biblische Vorbilder zurückzugreifen.2 Einige Autorinnen, z. B. Karoline von Günderode, Fanny Lewald, Grete Meisel-Hess, Clara Müller-Jahnke, zitieren zwar die verstoßene, entrechtete und einsame Hagar als Bild für die Situation vieler Frauen, gestalteten den Stoff aber nicht weiter aus. Es ist verwunderlich, dass sich keine der Autorinnen auf starke Frauen wie Tamar, Debora, Mirjam, Ester, Judit, Hanna oder Waschti berief. Das hat möglicherweise auch mit mangelnder Bibelkenntnis zu tun.3 Selbst bei streng christlichen Autorinnen wie Luise Hensel, Annette von Droste-Hülshoff, Marie von Ebner-Eschenbach u. a. findet sich kein Werk auf biblischer Grundlage, das für die Genderproblematik richtungweisend wäre.
2. Stimme der Sprachlosen – Biblische Vorbilder als Argumentationshilfe Trotz dieses allgemein mageren Ergebnisses lassen sich aus einigen nicht fiktionalen Werken bei näherer Betrachtung bemerkenswerte Aspekte zum Thema „Die Bibel und die Frauen“ herausschälen. Das genannte Freiheitsbestreben und die kritische Distanz zur kirchlichen Praxis finden sich in Bettina von Arnims (1785–1859) Streitschrift Dies Buch gehört dem König. In einem Dialog zwischen einem Pfarrer und der Frau Rat (Goethe) über Gott und Teufel, Recht und Gesetz, Bibel und Gebote, besonders im Hinblick auf die Frauen, äußert diese unverblümt ihre heftige Kritik an den Phrasen und lebensfernen Maximen der Prediger und stellt die Bibel als das große Buch der Freiheit heraus. 1
2 3
Vgl. besonders Gabriele SCHNEIDER, „Arbeiten und nicht müde werden: Ein Leben durch und für die Arbeit: Fanny Lewald (1811–1889)“, in Beruf: Schriftstellerin: Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert (hg. v. Karin Tebben; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998), 188–214. Vgl. dazu: Cornelia TÖNNESEN, „Überhaupt hat sie eine kecke, ungezügelte Phantasie: Luise Mühlbach (1814–1873)“, in TEBBEN, Beruf: Schriftstellerin, 215–243. Vermutlich war in den meisten protestantischen Adels- und Bürgerhäusern eine Gesamtbibel in der Lutherübersetzung vorhanden. Die meisten katholischen Frauen jedoch waren weniger bibelfest. Sie kannten einzelne Passagen des Ersten Testaments als Beispielgeschichten aus dem Katechismusunterricht oder von Bildern und das Zweite Testament aus Messe und Predigt. – Aufgrund des beschränkten Raums muss hier auf Einzeluntersuchungen verzichtet werden.
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Herr Pfarrer, ich würde an der Verdauung des christlichen Glaubens schon längst verdorben sein, wenn ich ihm keine bessere Nahrung hätte abgewonnen, als seine Priester uns bieten. Manchmal bin ich selbst wie versteinert über euch Textdreher. In allen Lebenserfahrungen, in allen Büchern, die mir der blinde Zufall in die Hände spielt, steht mir deutlich auf jedem Blatt geschrieben: Geistesfreiheit! und so auch in dem Buch von der Inquisition, und so auch in der Bibel, – allemal dieselbig auffallende Wahrheit: Der Geist muß Freiheit genießen, aber nicht Stein!4
Bettina von Arnim in der Rolle der Frau Rat beklagt sich über die „Textdreher“, die die Bibel für ihre Zwecke missbrauchen und auch fragwürdige Gesetze als biblisch begründete Moral verkünden. Die beglückende Botschaft Jesu, sich in Freiheit ihm anzuschließen, verschweigen sie. Somit sagt dieses Zitat eine Menge über die damals gängige Kirchenpraxis aus und begründet die Distanz ganzer Generationen zu Kirche und Glauben. Nur wer im Besitz einer Bibel und fähig war sie zu lesen, konnte die volle Kraft ihrer befreienden Botschaft ermitteln. Und das waren wenige. Auch die heute kaum mehr bekannte, aber zu ihrer Zeit einflussreiche Autorin Louise Otto (1819–1895), eine leidenschaftliche Kämpferin für die Rechte von Frauen und sozial Benachteiligten, lieh ihre Stimme den Recht- und Sprachlosen. Unter Berufung auf die Autorität Jesu und sein Verhalten Frauen gegenüber untermauerte sie in einem Vortrag vor dem Demokratischen Frauen-Verein (1849) ihre Forderungen nach Zulassung der Mädchen und Frauen zu Ausbildung und Studium: Wie es nun Jesus, indem er das Evangelium der allgemeinen Menschenliebe, der Freiheit und Gleichheit verkündete, vorzugsweise mit den Armen und von ihren übermütigen, hochgestellten Mitbürgern Verachteten hielt […], so nahm er auch der Frauen sich an und verschmähte es nicht, sie zu belehren und sie auf den rechten Weg zu führen, wie er die Männer führte, denn er war ja eben gekommen, die ganze Menschheit zu erlösen.5
Dann schildert Otto anrührend die Szene des Besuchs Jesu bei den Schwestern Maria und Marta in Betanien und folgert: „Maria hat das bessere Teil erwählt – das soll nicht von ihr genommen werden.“ (Lk 10,42) An dies Wort unsres Meisters halten wir uns: das soll nicht von ihr genommen werden! Damit ist es ausgesprochen für alle Zeit und festgestellt als ein christlicher Grundsatz: die Frau soll nach dem Höheren streben, ihre Seele den Lehren erhabener Menschen öffnen und ihren Geist nähren mit geistiger Speise – das ist ihr besseres Teil, das nicht von ihr genommen werden soll!6
4 5
6
Bettina von ARNIM, „Dies Buch gehört dem König“ (1843), in DIES., Werke und Briefe 3 (hg. v. Gustav Konrad; 5 Bde; Frechen: Bartmann, 1959), 7–254; 72. Louise OTTO, „Vortrag, gehalten im demokratischen Frauen-Verein zu Oederan, im Januar 1849. Fortsetzung“, „Aufsätze aus der Frauen-Zeitung“, in DIES., Frauenleben im Deutschen Reich (Leipzig: Schäfer, 1876), 106–108, zit. nach „Deutsche Literatur von Frauen: Von Catharina von Greifenberg bis Franziska von Reventlow“, in Digitale Bibliothek 45 (hg. v. Mark Lehmstedt, Berlin: Directmedia, 2000), 58010–58013; 58010. OTTO, „Vortrag“, in Digitale Bibliothek, 58011.
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Da Otto weiß, dass bildungshungrige Frauen nicht nur von Männern als „Blaustrümpfe“ verspottet, sondern auch von ihresgleichen ob der Vernachlässigung der häuslichen Pflichten gerügt wurden, weist sie auch indirekt auf Jesu Wort an die „Martas“ hin: Mit diesen Worten, meine Schwestern, lasset uns all den Marthas antworten, die wir in unsern Kreisen treffen und die uns mit Vorwürfen überhäufen, weil wir neben unsern besondern weiblichen Pflichten auch noch höhern Bestrebungen huldigen, die sie nicht wollen gelten lassen, diese höheren Bestrebungen sind eben das bessere Teil, von dem unser Meister gesagt hat: das soll nicht von ihr genommen werden. Wissen wir aber, daß wir in seinem Geiste handeln, was können uns dann die Urteile der Welt kümmern?7
Im weiteren Verlauf führt die Autorin zur Begründung, dass Frauen fähig sind, über theologische und moralische Fragen zu disputieren, u. a. auch noch das Gespräch Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,1–26) an. Insgesamt wird in dieser Rede in auffallender Weise die Bibel als Argumentationshilfe herangezogen, um den Forderungen von Frauen Schlagkraft zu verleihen, wie die Zusammenfassung der Autorin zeigt: Wie kann man nun sich christlich nennen und doch die Frauen aus der Stellung drängen wollen, die Christus selbst ihnen angewiesen? Die Frauen, indem sie Jesus nachfolgten und ihm dienten, dienten sie der Sache der Freiheit – der allgemeinen Menschenliebe, denn Jesus war deren erster Held und Verkündiger – nun denn: so bewähren wir es auch in diesem Sinne, daß wir echte Christinnen sind!8
Auch in ihrem Gedicht Für alle sucht Louise Otto eine im weitesten Sinne biblische Basis für ihren Ruf nach Gleichberechtigung: Für alle! hören wir die Worte tönen, Da wird das Herz uns plötzlich groß und weit! […] Denn anders ist kein heilig’ Werk zu krönen Und anders nie zu enden Kampf und Streit, Als wenn ein Heil, das in die Welt gekommen Der Sonne gleich für alle ist entglommen.9
In den einzelnen Strophen greift die Autorin das fundamentale Heilsversprechen der christlichen Verkündigung auf: „Für alle“ ist Gott Mensch geworden, sangen die Engel auf Betlehems Feldern (2. Strophe), „für alle“ dient der Kelch zur Erlösung (3. Strophe), „für alle“ ist Jesus der Befreier, „für alle“ gilt die Freiheit (4./5. Strophe) usw.
7 8 9
OTTO, „Vortrag“, in Digitale Bibliothek, 58011. OTTO, „Vortrag“, in Digitale Bibliothek, 58012. Louise OTTO, Mein Lebensgang: Gedichte aus fünf Jahrzehnten (Leipzig: Schäfer, 1893), 262–264, zit. nach Digitale Bibliothek, 56551–56553; 56551.
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3. Magdalena: Sünderin? – Missbrauch einer biblischen Gestalt Ein Thema beherrschte die Frauen besonders in ihren Gedichten und Romanen über das gesamte Jahrhundert bis weit in die Zeit nach 1900 hinein: die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Allgemeinen sowie eheliche und freie Liebe. Kirchliche Gebote beider Konfessionen und die von Männern gesetzte und sanktionierte Gesellschaftsordnung erzeugten in ihrer einseitigen Anwendung auf Frauen bei diesen nachhaltige Schuldgefühle. Zahlreiche Romane und Gedichte erzählen von deren Konflikten und Gewissensnöten. Dabei wird in der Regel auf das seit Jahrhunderten in Volksfrömmigkeit und Pastoral tradierte fragwürdige Bild der Maria von Magdala als Sünderin, Büßerin und Begnadete10 verwiesen, z. B. von Hedwig Dohm, Annette von Droste-Hülshoff, Marie von Ebner-Eschenbach, Ida Hahn-Hahn, Luise Hensel, Agnes Miegel, Lily Braun, Therese Huber, Maria Janitschek, Sophie La Roche, Fanny Lewald, Louise Otto, Franziska Gräfin zu Reventlow u. a. Keine andere Heilige wird so oft – ca. vierzigmal nur in Literatur von Frauen! – zitiert oder angerufen wie Maria Magdalena, allerdings nie als apostola apostolorum, sondern ausschließlich in der oben genannten Weise, wie im Gedicht St. Magdalena. Am Morgen der ersten Beichte von Luise Hensel (1798–1876): Erfleh’ mir Lieb’ und Thränen Du strenge Büßerin, Daß ich mit reinem Sehnen Nach Jesu strebe hin!11
Im Stil frommer Gebrauchsliteratur erbittet das lyrische Ich die Fürsprache der heiligen Magdalena. Das Wortfeld reumütiger Umkehr „Thränen“, „Sehnen“, „zerfließen“, „vergehen“ u. a. bestimmt das Gebet und zeugt von einer Gebetshaltung, die nur Gefühl ist. Dazu wird die biblische Figur als Vorbild genommen. Lässt sich das Gedicht von Hensel als geschlechtsneutral lesen, so macht Agnes Miegels (1879–1964) Text Magdalena (1901) die Genderproblematik massiv deutlich. In unbeschreiblicher Verkitschung wird das Bild der biblischen Frau entstellt: Von den rosigen Zehen Streife die goldenen Ringe ab, Deine Purpursandalen Wirf in den steinigen Bach hinab. Büße, büße, Goldhaarige Sünderin!
10
11
Vgl. dazu u. a. Magda MOTTÉ, Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit: Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Darmstadt: WBG, 2003), 230–270, und die dort angeführte Literatur. Luise HENSEL, Lieder (Paderborn: Schöningh, 41879), 250; vgl. auch Aschermittwoch (117), Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken (211), Ostermorgen 1818 (79). Hier ist zwar von der Salbenträgerin die Rede, doch erfährt sich das lyrische Ich im Gebet als reuige Sünderin und Maria als die Begnadete.
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Deine verwöhnten Füße Schreiten durch Dornen und Disteln hin.12
In balladeskem Ton und in üppigen Bildern baut die Autorin über sechs Strophen hinweg ein Szenarium von Sünde und Buße auf. Ein nicht zu identifizierendes lyrisches Ich – nach Stil und Selbstbewusstsein ein maskulines – redet eine Frau an, die mit allen Attributen einer barock bildkünstlerischen Dekoration ausgestattet ist: goldenes Haar, edler Schmuck, zarte Glieder, schöne Kleider/Gewänder, duftende Narde, weiches Bett. In jeder Strophe stellt der Sprecher der Büßenden – ist es die Heilige? eine Sünderin? eine Dirne? – ein anderes Attribut der Verführung vor Augen und kontrastiert es mit dem eindringlichen Ruf zu totaler Umkehr. Deine flutenden Haare Drin die fiebernde Gier gewühlt, Raufe sie, bis der Morgen Deine brennende Schläfe kühlt. Weine, weine, Steigt der Tag aus des Ostens Tor, Sieger im Flammenscheine, Über deiner Buße empor.13
Mit welcher Autorität das lyrische Ich hier auf Magdalena einredet – ein Beichtvater? – und wer mit dem Namen möglicherweise konkret gemeint ist, bleibt offen. Die Beschwörungen „Büße, büße“ (1. Strophe); „Schlage, schlage/[...] dir wund“ (3. Strophe); „Weine, weine“ (4. Strophe); „Senke, senke/Deine Stirne“ (5. Strophe) lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Bußübungen deuten mehr auf spätmittelalterliche sadistische Bußriten und Züchtigungen als auf geistige Auseinandersetzung. Erst die Zeile „Da sich deiner erbarmte ein Gott“ (5. Strophe) setzt dieser nahezu wollüstigen Peinigung ein Ende. Die beiden letzten Strophen schildern die Zeit der Buße und Entsagung dieser Frau in der Wüste, wo sie in einer „schirmenden Grotte“ auf „Labung“ aus dem „Fels“ „wartet“ (7. Strophe). Hier werden die legendären Züge der Büßerin Maria von Ägypten und der Magdalena in der Höhle in Südfrankreich miteinander vermischt. – Was mag die anerkannte Balladendichterin Agnes Miegel bewogen haben, diese Verse zu schreiben? Doch spiegelt dieser Text vieles von der gesellschaftlichen Problematik, wie mit Frauen in solchen Situationen – Männer werden nicht in dieser Weise als „Sünder“ (!) angeklagt – umgegangen wurde. Um die Jahrhundertwende im Rahmen der Renaissance biblischer Stoffe in Kunst und Literatur erscheinen etliche Legendenromane von Frauen zu Maria Magdalena, z. B. von Clara Commer, Dora Duncker, Catharina Gondlach, Anna Freiherrin von Krane, die wie der von Krane viel gelesen wurden, aber keine geschlechtsspezifische Auseinandersetzung bieten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wird Maria von Magdala auf das Muster „Sünderin – Büßerin“ fixiert, wie bereits die Titel Unsühnbar von Ebner12 13
Agnes MIEGEL, „Magdalena“, in DIES., Wie Bernstein leuchtend auf der Lebenswaage: Gesammelte Balladen (hg. v. Ulf Diederichs; München: Diederichs, 1988), 16f. MIEGEL, „Magdalena“, 16.
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Eschenbach oder Magna peccatrix von Anna Freiherrin von Krane, sowie Magdalena Sünderin von Lilian Faschinger deutlich zeigen. Die Salbenträgerin, die apostola apostolorum, kommt kaum vor.14 Was die literarische Qualität der genannten Werke angeht, so sind die meisten zu Recht vergessen, höchstens noch literarhistorisch oder soziologisch hinsichtlich der Genderfrage interessant.
4. Die Bibel als Zuflucht in seelischer Bedrängnis Die meisten der bisher genannten Autorinnen sind heute nur wenigen bekannt. Eine Dichterin ist jedoch im Bewusstsein vieler Leser und Leserinnen: Annette von DrosteHülshoff (1797–1848). Als Tochter einer westfälischen Adelsfamilie im Umkreis von Münster streng katholisch erzogen, könnte sie die Quelle sein zum Ausfüllen der Leerstellen, die sich bisher ergeben haben. Sprachlich begabt hat sie von jung an alle Erfahrungen poetisch festgehalten. Als einzigartiges Zeugnis religiöser Dichtung im 19. Jahrhundert gilt ihr Zyklus Das geistliche Jahr, eine poetische Confessio anhand der Sonntags- und Feiertagsevangelien des Kirchenjahrs. Hinzu kommen weitere Geistliche Gedichte, in denen sie sich mit ihrem Glaubensleben auseinandersetzt. Die Dichterin knüpft mit ihrem Geistlichen Jahr an eine mehr als dreihundert Jahre alte Tradition an. Die Gedichte sind trotz der traditionellen Formen ein wichtiges religiöses Dokument subjektiver und existenzieller Lebensbewältigung im 19. Jahrhundert mittels der Bibel und in ihrer Skepsis und Fragehaltung ihrer Zeit voraus.15 Im Hinblick auf das Thema „Die Bibel und die Frauen“ ist allerdings zu konstatieren: Im gesamten Werk der Droste findet sich kein Hinweis auf das Erste Testament, das Zweite liegt dem genannten Zyklus und einigen geistlichen Gedichten zugrunde. Abgesehen von Maria, der Verklärten und Reinen (vgl. die Gedichte zu Mariä Lichtmeß, Mariä Verkündigung), werden auch hier nur die Sünderin und Büßerin Magdalena (Christi Himmelfahrt), das Töchterlein des Jaïrus (Am 25. So. nach Pfingsten) und die kanaanäische Frau (Am 2. So. in der Fasten) genannt. Sonst keine biblische Frau! Unter den zahlreichen Büchern, die die Autorin in Briefen erwähnt, sind Werke von Thomas von Kempen, Johannes David, Guido Görres, Friedrich von Spee sowie geistliche Lyrik des 17. und 18. Jahrhunderts, aber nicht die Bibel.16 Dennoch weisen die Gedichte des Geistlichen Jahres eine ganz eigenständige Auseinandersetzung der Dichterin mit den Sonn- und Festtagsevangelien der Messfeier auf. Auf die biblische Perikope wird kaum direkt Bezug genommen. Sie dient ausschließlich der Meditation nach Art einer Allegorese, d. h. als Auslöser für freie Ge14 15 16
Zu Beispielen bekannter AutorInnen zu diesem Motiv bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts siehe: MOTTÉ, Esthers Tränen, 230–270. Vgl. Annette von DROSTE-HÜLSHOFF, Des Grauens Süße: Ein Lesebuch (hg. v. Dieter Borchmeyer; München: Hanser, 1997), 76–95. Vgl. Herbert KRAFT, Annette von Droste-Hülshoff (Rowohlts Monographien 50517; Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 31997), bes. 21f.; Walter GÖDDEN, Tag für Tag im Leben der Annette von Droste-Hülshoff: Daten – Texte – Dokumente (Paderborn: Schöningh, 1996).
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dankengänge eines lyrischen Ichs hinsichtlich des Glaubens. Und der war vom Zweifel am Überkommenen und an der ihr auferlegten Rolle als Frau belastet. Die Droste konnte, wollte nicht alles glauben, was ihr in Schrift und Predigt abverlangt wurde. Zwar stellte sie das Herz über den Verstand, doch führte dieser sie auf Wege, die sie in Bedrängnis brachten. Sie lebte in dem Zwiespalt der nicht anfechtbaren katholischen Glaubenstradition auf der einen und dem subjektiven freien Denken als Frau auf der anderen Seite. Deshalb lässt sie das lyrische Ich immer wieder Schuldgefühle artikulieren. Einen besonderen Platz im Denken der Droste hat die kanaanäische Frau. Die biblische Perikope nach Matthäus (Mt 15,21–28; Mk 7,24–30) erzählt vom ungeheuren Mut einer heidnischen Frau aus Kanaan, die alle Schranken der Fremdheit, der Geschlechter und der Feindschaft überwindet, um zu Jesus zu kommen und von ihm eine Heilungszusage für ihre Tochter zu erwirken. Zweimal hat die Droste diesen Bibeltext als Grundlage für eine persönliche Auseinandersetzung gewählt: im Zyklus Am zweiten Sonntag in der Fastenzeit (1820) und als einzelnes geistliches Gedicht (1818). Das spricht dafür, dass sie sich sowohl von der Demut als auch vom Mut dieser Frau besonders angesprochen fühlte. Dennoch geht sie höchst selektiv mit dem Text um. Im Zyklus-Gedicht erwähnt sie weder die Geschichte noch die Frau, sondern überträgt nur deren Metapher vom Hund, der von den Resten der Tische der Reichen lebt, auf die Situation des lyrischen Ichs. Wie ein Hündlein will ich spüren Nach den Brocken deiner Huld […] Wie ein Hündlein bin ich nur, Und so will ich auch nicht weichen, Fest auf deiner Kinder Spur, Ob sie mir den Bissen reichen.17
Hier spricht die kanaanäische Frau. Sie weiß, dass sie kein Anrecht auf Jesu Zuwendung hat, sie ist eine Fremde, dazu eine Frau, die für ihre Tochter bittet. Wenn aber nicht Jesus sich ihr zuwendet, so vielleicht seine Kinder, seine Gefolgschaft. Nicht von Jesus zu weichen ist ihr fester Wille. Im Einzelgedicht Als der Herr in Sidons Land gekommen skizziert die Dichterin in den beiden ersten Strophen die biblische Situation und betont immer wieder die Demut der Frau und den Wunsch des lyrischen Ichs, es ihr gleich zu tun: Doch sie schaut in seiner Augen Prachten, Und ihr treues Herz bleibt ungeschreckt, Einem Hündlein gleich will sie sich achten, Das die Krümlein von der Erde leckt, 17
Annette von DROSTE-HÜLSHOFF, Am zweiten Sonntag in der Fastenzeit, in Das Geistliche Jahr und Religiöse Gedichte, in DIES., Sämtliche Werke in zwei Bänden, nach dem Text der Originaldrucke und der Handschriften 1 (hg. v. Günther Weydt und Winfried Woesler; München: Winkler, 1973), 591.
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Ihre Demut hat sich durchgerungen: […].18
Dann überträgt das lyrische Ich die Situation auf seine eigene: Kann nur Demut uns den Segen bringen, Und ich schnöder Wurm der Sterblichkeit Meine noch, es müsse mir gelingen, Da ich doch von Demut noch so weit?19
Im Ringen um Unterwerfung hofft es auf Gnade: Ja, ich will auf Jesu Worte bauen, Seh ich gleich nicht ihn und nur die Nacht, Fest nur, fest in Demut und Vertrauen, Seele mein, mit deiner ganzen Macht!20
Dass sich hinter dem lyrischen Ich die Droste selbst verbirgt, ist unschwer aus biografischen Angaben zu entnehmen. Ihre Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, ihre Zweifel, ihr Trotz und die daraus resultierende Angst ergeben sich zwar aus der traditionellen katholisch-christlichen Morallehre und deren Überbetonung des Sündenbewusstseins, doch findet die Freiheit begehrende Dichterin, die sich mehrfach wünschte, ein Mann zu sein21, Linderung ihrer seelischen Not in der Reflexion der Evangelien. Offenen Widerstand mittels biblischer Vorbilder gegen die religiösen Zwänge sucht man allerdings bei ihr vergeblich.
5. Lilit – Gottes Plan? Schriftstellerinnen, die in Dramen, Erzählungen oder Romanen biblische Stoffe, insbesondere Frauen betreffend, aufgegriffen und im Hinblick auf die Genderproblematik gestaltet haben, sind im deutschsprachigen Raum selten. Maria Janitscheks (Pseudonym: Marius Stein) Titel Königin Judith (1895), Ninive (1896), Die neue Eva (1902) oder Clara Viebigs Roman Kinder der Eifel (1897) lassen zwar aufhorchen, aber es handelt sich nur um Zeitromane mit allgemeinen Anspielungen auf biblische Figuren. Einzelne von Frauen verfasste Werke wie Catharina Gondlachs Judith, Erzählung (1918), Marie Itzerotts Delila, Drama (1899), und Anna Sartorys Judith, die Heldin von Bethulia, Drama (1907), geben traditionelle Deutungen wieder und zeigen keine geschlechtsspezifische Auseinandersetzung. Umso bemerkenswerter ist das Epos von Isolde Kurz (1853–1944) Die Kinder der Lilith, das eine neue Interpretation zur Genderproblematik beiträgt. 18 19 20 21
DROSTE-HÜLSHOFF, „Als der Herr in Sidons Land gekommen“, in DIES., Sämtliche Werke 1, 714. DROSTE-HÜLSHOFF, „Als der Herr in Sidons Land gekommen“, 714. DROSTE-HÜLSHOFF, „Als der Herr in Sidons Land gekommen“, 716. Vgl. DROSTE-HÜLSHOFF, Sämtliche Werke 1: „Am Turme“ (68); „Der zu früh geborene Dichter“ (106f.); vgl. auch KRAFT, Droste-Hülshoff, 46ff.
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Als im 18./19. Jahrhundert aufgrund der Aufklärung eine Neuinterpretation des Sündenfalls erörtert wurde, erwachte auch das künstlerische Interesse bekannter Dichter und Maler am Lilit-Mythos als Muster einer psychologischen und kulturgeschichtlichen Deutung der Beziehung zwischen Mann und Frau. Seitdem wird Lilit in der europäischen Literatur nicht nur mehr Aufmerksamkeit geschenkt22, sondern sie wird auch Schritt um Schritt rehabilitiert. Als einzige Frau wagte sich die emanzipierte, exzentrische Schriftstellerin Isolde Kurz an den Stoff: 1908 veröffentlichte sie ihr umfassendes Epos und interpretierte ihn auf höchst eigenwillige Weise. Die der babylonisch-assyrischen Mythologie entstammende Lilit wird namentlich nur bei Jes 34,14 als Nachtgespenst erwähnt, das durch Gottes Gericht über die Heiden an einen festen Ort verbannt wird. Sonst kommt Lilit nicht in der kanonisierten Bibel, wohl aber im Talmud vor. Danach ist sie wie Adam von Gott aus Erde geschaffen, also nicht Fleisch von seinem Fleisch, ihm ebenbürtig und nicht gewillt, sich ihm sexuell unterzuordnen. Als er sie zwingen will, verlässt sie ihn. Doch Gott sendet drei seiner Engel, sie zurückzuholen. Da sie sich weigert, wird sie von Gott mit dem Verlust ihrer Kinder bestraft und muss als Luftgespinst umherschweifen. Aus Rache droht sie, die neugeborenen Kinder zu töten, wenn diese kein Amulett mit den Namen der drei Engel als Schutz tragen. Eine andere Quelle erzählt, dass sie den alten Adam verführt und in Folge dessen Dämonen und Geister gebiert. Lilit gilt in ihrer Eigenständigkeit als starke Frau und wird deshalb als verführerische Schönheit – Schlangenleib mit wehendem Haar – und weiblicher Teufel zum Mythos einer Männer verderbenden Dämonin, einem Vamp, einer Sirene, einer Loreley.23 Bei Isolde Kurz24 ist sie jedoch kein geflügelter Dämon, der Adam verlässt, sondern eine Art Engel mit tieferen Einsichten. Gott gibt dem „Erdenkloß“ Adam als Gesellin die feenhafte reizende Lilit. Beide würden, so denkt Gott, Leben, Spiel und Witz in die Schöpfung bringen. Im ersten Teil erklärt der Schöpfer den Elohim/Cherubim und Sammael/Luzifer, was er mit Lilit im Sinn hat: Von Adam, dem armen Erdenkloß Bau’ ich durch Lilith eine Leiter zum höchsten Sitz des Himmels weiter. Drum hab’ ich die Freundin ihm gepaart, Halb von seiner und halb von Eurer Art, Daß sie mit Liebesdorne 22
23 24
Z. B. von Johann Wolfgang Goethe in Faust I (Walpurgisnacht), Paul Heyse in Lilith, 1903, Victor Hugo in Remy de Gourmont, Gabriel Rossetti in Eden Bower, Anatole France in La Fille de Lilith, George Macdonald in Lilith; vgl. hierzu: Herbert HAAG et al., Große Frauen der Bibel in Bild und Text (Freiburg: Herder, 1993); Marianne WALLACH-FALLER, „Für eine Versöhnung mit Lilith“, in Unerhörte Worte: Religiöse Gesellschaftskritik von Frauen im 20. Jahrhundert: Ein Reader (hg. v. Doris Brodbeck; gender wissen 5; Bern: eFeF, 2003), 253–256. Vgl. u. a. HAAG, Große Frauen der Bibel, 19–31; Vera ZINGSEM, Lilith: Adams erste Frau (Leipzig: Reclam, 2000), 81–117. Isolde KURZ, „Die Kinder der Lilith“ (1908), in DIES., Gesammelte Werke 1 (München: Müller, 1925), zit. nach ZINGSEM, Lilith, 81–114.
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Ihn wecke, stähle, sporne, Er zu massig und sie zu fein, Unvermögend jedes für sich allein. Ihr gab ich keine irdischen Waffen, Sie soll begeistern, er soll schaffen. Von ihm die Kraft, die Felsen spaltet, Den festen Sinn, der ordnend waltet, Von ihr die Flamme stets bewegt, Die Unruh, die das Uhrwerk regt. […] Wo sie erscheint muß alles blühn, Und Liliths Mund kann nimmer lügen, Wohin sie irrt auf Fabelflügen, Der träge Riese muß ihr nach!25
Hier wird das Bild einer Frau entworfen, die ausgestattet mit engelhaften Eigenschaften den schwerfälligen Adam zu Höherem bewegen soll. Doch nur beide zusammen sind in der Lage, Neues zu schaffen. All das missfällt dem Erzengel Sammael, dem Herrn des Morgensterns, der sich um seine Alleinherrschaft sorgt, er will Adam durch grobe Sinnlichkeit zur Trägheit verführen. Deshalb erschafft er aus dessen Rippe Eva, ein dem Adam höriges, nur auf Sinnlichkeit bedachtes Wesen. Adam ist zwischen den beiden Frauen hin- und hergerissen, neigt letztlich aber Eva zu, die ihn vor Lilits Überlegenheit warnt. Das betrübt Lilit schwer, sie flieht. Es folgt die Erzählung vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies. Im letzten Teil des Epos bringt Isolde Kurz eine verwegene Deutung zur Herkunft des Messias: Das Kind, das aus der Verbindung von Lilit und Adam entstanden ist, wird von den Erzengeln in himmlischer Sphäre als Messias erzogen und soll dereinst die Menschen, die aus der Verbindung von Adam und Eva entstanden sind, erlösen, um den ursprünglichen Plan Gottes wiederherzustellen. Diese gute Nachricht bringt der Engel Gabriel dem Adam, der wegen seines Ungehorsams das Schlimmste erwartet: Adam: Du kamst, zu tilgen mein Geschlecht Vollzieh dein Amt, Gott ist gerecht. Gabriel: Du irrst. Nicht sandt’ er mich im Zorne, Trost bring’ ich dir aus seiner Gnaden Borne. Siehst du den Friedensbogen hochgespannt, Verklärend über all dein Land? Warum fragst du nach Lilith nicht? Adam, du schweigst und senkst dein Angesicht? […] Vernimm: Gesegnet war ihr Schoß, Draus rang sich ein holdes Knäblein los. Adam, dein echtgeborenes Kind, 25
KURZ, „Die Kinder der Lilith“, zit. nach ZINGSEM, Lilith, 86f.
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Dem die Engel des Herrn zu Willen sind.26
Gabriel entwirft im Folgenden die Zukunft des Messias mit allen Höhen und Tiefen. Dieser wird als Held und Retter kommen, und zwar als einer – das betont der Bote Gabriel –, der „Liliths Blut entsproß“, dessen Geist (das Erbe seiner Mutter) die Seher, Dichter und Musiker aller Zeiten inspiriert: Er kommt als Held, wenn Völker bluten, Als Seher, wenn ihr Glaube schwand. Mit goldenen Bildern der Dichterträume Füllt er der Erde düstere Räume, Durchrauscht die arme darbende Welt Mit strömendem Wohllaut vom Sternenzelt, […] Bis er erscheint vor des Ewigen Thron, Der Menschheit Vollender, dein herrlicher Sohn!27
Das ist die Vision der Schöpfungsgeschichte einer Frau: Endlich soll der alte Mythos vom triebhaft sündigen Weib (Eva) abgelegt und in Lilit eine geistbegabte Frau an den Anfang gestellt werden, die gemeinsam mit dem Mann, nicht gegen oder ohne ihn, die Zukunft gestaltet. Das Ganze wird zwar wie ein Scherz leichtfüßig, in locker gereimten Versen und einem subversiven Ton vorgetragen, verbirgt aber den wissenden LeserInnen nicht den bitteren Ernst einer engagierten Autorin, die unter der Vormacht der Männer in der Gesellschaft ihrer Zeit gelitten hat und über die Figur der Lilit ihre Würde als Frau zu begründen sucht.
6. Biblische Frauen aus Männersicht Der Überblick wäre unvollständig, wenn nicht auch biblische Adaptionen von Autoren kurz erwähnt würden. Aber auch hier ist die Ausbeute richtungweisender Werke für die behandelte Fragestellung gering. Einige Schriftsteller, z. B. Franz Held Jephtas Tochter, Friedrich Wilhelm Gotter Die stolze Vasthi, Franz Grillparzer Esther. Fragment, Levin Schücking Hagars Klage in der Wüste, aktualisierten zwar biblische Stoffe, andere transformierten sie ins Komische wie Johann Wolfgang Goethe die Ester-Geschichte in Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern oder parodierten sie wie Johann Nepomuk Nestroy in Judith und Holofernes, aber eine Diskussion der Genderfrage lösen sie außer Friedrich Hebbel nicht aus. Als sich um die Jahrhundertwende Tendenzen zu einer Dämonisierung von Frauen als Vamp, Femme fatale, Männer verderbende Verführerin zeigten, kam parallel dazu ein starkes Interesse auch an biblischen Frauengestalten auf.28 26 27 28
KURZ, „Die Kinder der Lilith“, zit. nach ZINGSEM, Lilith, 112f. KURZ, „Die Kinder der Lilith“, zit. nach ZINGSEM, Lilith, 115. Daneben sei auf AutorInnen jüdischen Glaubens verwiesen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in bedrängenden Situationen und auf der Suche nach ihrer Identität biblische Frauenschick-
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Abgesehen von Maria, die in ihrer Entrücktheit kaum für einen dramatischen Plot taugt, von der Tochter des Jiftach, die zu allen Zeiten ob ihres grausamen Schicksals die Aufmerksamkeit der Künstler erregte, und von Hagar, der Verstoßenen, die als Prototyp für viele Frauen in ähnlicher Lage gilt, handelt es sich bei den gewählten Figuren fast ausschließlich um solche, die bereits in der biblischen Vorlage eine spektakuläre Lebensgeschichte aufweisen und als Objekt der Begierde die Phantasien vornehmlich der Männer beflügeln, wie z. B. Lilit, die Frau des Potifar (Suleika), Delila, Batseba, Judit, Ester, Salome, Magdalena. Frauen hingegen, die im Ersten und Zweiten Testament Geschichte machen und Selbstbewusstsein zeigen, wie Sara, Rebekka, Tamar, Rahab, Rut, Abigajil, Hanna, Marta, oder die Opfer sind, wie Rahel, Dina, Michal, Waschti, die Frau des Ijob, werden kaum oder gar nicht beachtet.29 Friedrich Hebbel (1813–1863) ist in diesem Zusammenhang nicht nur der bekannteste deutsche Autor und sein Werk Judith. Eine Tragödie30 in Aufbau, Sprache, Metapherneinsatz von anerkannt literarischer Qualität, sondern er schuf mit seiner Interpretation der biblischen Vorlage ein psychologisches Drama und ein bemerkenswertes Beispiel für die Darstellung der Genderproblematik. Seine Tragödie wurde zudem Grundlage für eine Anzahl weiterer Adaptionen im frühen 20. Jahrhundert, die mehr oder weniger die Figur der Judit als einer selbstständig handelnden Frau herausstellen. Die Beiträge von Frauen zum Judit-Stoff geben für die hier zu erörternde Frage nur wenig her. Hebbel folgt zwar im Handlungsablauf ganz der biblischen Vorlage, setzt aber eigene Akzente. Bereits bei Judits erstem Auftritt und Monolog zeigt er sie als eine Frau, die zwar auf Gottes Zeichen hofft, aber unsicher ist, ob sie diese Zeichen richtig erkennt. Die Not ihres Volkes weckt in ihr sowohl Mitleid als auch Tatkraft. Letztere
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sale in den Mittelpunkt ihrer Werke stellen, jedoch ohne geschlechtspezifische Anspielungen, z. B. Else LASKER-SCHÜLER, „Esther“, in DIES., Werke und Briefe: Kritische Ausgabe 1.1: Gedichte (hg. v. Norbert Oellers et al.; Frankfurt: Jüdischer Verlag, 1996), 159; Franz WERFEL, „Esther, Kaiserin von Persien: Dramatisches Gedicht“, in DERS., Gesammelte Werke: Die Dramen 2 (hg. v. Adolf Klarmann; Frankfurt: Fischer, 1959), 343–378; Max BROD, Eine Königin Esther: Drama in einem Vorspiel und drei Akten (Leipzig: Wolff, 1918); Karl WOLFSKEHL, „Abram: Hagar die Verstoßene vor der Tür“, in DERS., Gesammelte Werke 1: Dichtungen (Hamburg: Claassen, 1960), 562–564; Fritz ROSENTHAL (BenChorin), „Hagar“, in DERS., Die Lieder des ewigen Brunnens (Leipzig: Löwit, 1934), 5; Else LASKER-SCHÜLER, „Hagar und Ismael“, in DIES., Gedichte, 108; Stefan ZWEIG, „Rahel rechtet mit Gott: Eine Legende“, in DERS., Legenden (Frankfurt: Fischer, 1959), 7–21; hier 20; Yvan GOLL, „Noemie“, in DERS., Dichtungen, Lyrik, Prosa, Drama (hg. v. Claire Goll; Darmstadt: Luchterhand, 1960), 47–50; Richard BEER-HOFMANN: Der junge David: Sieben Bilder (Berlin: Fischer, 1933). Zu Tabellen mit Namen, Titeln und Erscheinungsdaten sowie Interpretationen siehe MOTTÉ, Esthers Tränen, 273–320. Friedrich HEBBEL, „Judith: Eine Tragödie in fünf Akten“ (1841), in DERS., Werke 1 (hg. v. Gerhard Fricke et al.; München: Hanser, 1963–1967), 7–75.
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entzündet sich vor allem im Gespräch mit Ephraim31, der um sie wirbt, ihr jedoch nicht gewachsen ist. Denn ihre Forderung „Geh hin und töte den Holofernes!“32 weist er, der sogar für sie sterben wollte, voll Angst von sich. Damit erstirbt in Judit die Hoffnung, in Ephraim einen ihr ebenbürtigen Partner zu gewinnen. Deshalb verlockt sie der Gedanke, sich dem gefürchteten, kühnen Holofernes zu stellen, nämlich dem Mann, der ihr gewachsen zu sein scheint und der ihrer Vorstellung von der Beziehung der Geschlechter entspricht, wie sie ihrer Dienerin und Vertrauten Mirza gesteht. Judith. ... Jedes Weib hat ein Recht von jedem Mann zu verlangen, daß er ein Held sei. Ist dir nicht, wenn du einen siehst, als sähest du, was du sein möchtest, sein wolltest? Ein Mann mag dem anderen seine Feigheit vergeben, nimmer ein Weib. Verzeihst du’s der Stütze, daß sie bricht? Kannst du verzeihen, daß du der Stütze bedarfst!33
Damit ist der Tenor dieser Adaption angeschlagen: Hebbel wählte den Stoff nicht, um Gottes Eingreifen durch Judits Tat zu demonstrieren, sondern um den leidenschaftlichen Kampf der Geschlechter zu veranschaulichen. Von Gott ist zwar im gesamten Drama viel die Rede, aber er ist kein echter Handlungspartner oder innerer Motor der Akteure; diese werden vielmehr von ihren eigenen Trieben und ihrem persönlichen Begehren geleitet, was sich Judit auch mehrfach eingesteht: „Und doch kann ich nichts denken als mich selbst“ oder „nichts trieb mich, als der Gedanke an mich selbst“.34 Nach dem Konzept Hebbels wird es Holofernes gelingen, sich Judit in seinem Sinne willfährig zu machen: Er wird die Frau mit ihren Waffen, der Verführungskunst, schlagen. Diese Demütigung aber, der sie im Liebesrausch zugestimmt hat, kann die stolze Frau nicht hinnehmen und sinnt auf Rache. Denn Hebbel stellt dem Feldherrn in Judit eine Frau gegenüber, die ihm zwar erliegt, ihn aber durchschaut, verachtet und überwältigt.35 So wird sich seine Überlegenheit im entscheidenden Augenblick für ihn tödlich auswirken: Judit wird auch ihn mit seinen Waffen, seinem eigenen Schwert, zu Fall bringen. Aus Judits ursprünglich altruistischem Befreiungsmotiv „Ich will die Toten rächen und die Lebendigen beschirmen“36 wird demnach ein persönlicher, aus verletztem Frauenstolz erwachsener Racheakt. Judit ist eine Frau im Zwiespalt, die einerseits eine große Selbstständigkeit für sich beansprucht, andererseits ihre Triebe nicht klar erkennt und sich vom Mann verführen lässt. Mit dem Mord aus niedrigem Antrieb wird sie nicht nur ihrer Aufgabe untreu, sondern handelt gegen ihre Natur als Frau. Bereits die Erzählung von ihrem Traum im ersten Akt enthüllt ihre Seelenlage und enthält in nuce das gesamte folgende Drama. Dieser Traum ist nicht nur der Schlüssel zu Judits Verhalten, sondern darüber hinaus ein Musterbeispiel psychologischer Personendeutung, wie sie Sigmund Freud fünfzig Jahre später an literarischen Figuren in seinen Psychoanalysen vornahm. Hebbels Figuren sind trotz 31 32 33 34 35 36
Zur Dramatisierung fügt Hebbel weitere Personen ein, z. B. den um Judit werbenden Ephraim und die Dienerin Mirza. HEBBEL, „Judith“, 26. HEBBEL, „Judith“, 30. HEBBEL, „Judith“, 68f. Vgl. HEBBEL, „Judith“, 60. HEBBEL, „Judith“, 43.
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aller Bühnenpräsenz keine realistischen Personen, sondern eher Modelle für ein psychologisches Lehrbuch. Das ergibt sich sowohl aus der Handlung als auch aus dem theatralischen Gestus und der pathetischen, archaisierenden Sprache, was etliche Parodisten auf den Plan rief.37 Hebbel stilisiert Judit zu einer begehrenswerten, durch einen starken Mann verführbaren Frau38, die gegen die Konventionen der Zeit ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, und Holofernes zu einem tyrannischen, wilden Macho.39 In Anlehnung an Hebbels Judith führten Georg Kaiser und Jean Giraudoux40 die Aktualisierung des Stoffs weiter fort. Ihr Interesse liegt vor allem auf Judit als einer Frau, die „sich den Konventionen, Zwängen und Erwartungen ihrer Zeit entzieht“41, und damit einer emanzipierten Frau der Moderne näher steht als dem biblischen oder auch dem Hebbelschen Muster. Für alle weiteren Adaptionen des 20. Jahrhunderts ist das biblische Buch „Judit“ nur mehr Stoff, um den Kampf der Geschlechter zu illustrieren oder Judit als Widerstandskämpferin zu vereinnahmen; mit einer Auseinandersetzung im Sinne der Frage nach dem Verhältnis von Frauen zur Bibel haben diese Werke nicht mehr viel zu tun. Dass die Rollen der Geschlechter Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts vielfach mit solcher Schärfe einander entgegensetzt wurden, liegt nicht zuletzt daran, dass sich viele Frauen ihres eigenen Wertes bewusst wurden und sich aus der jahrhundertelangen Unterordnung zu befreien suchten, die Männer jedoch diese Emanzipation fürchteten und das Begehren des weiblichen Geschlechts (Femme fatale, Vamp etc.) dämonisierten.
7. Schlussbemerkung In diesem skizzenhaften Überblick – wenige Seiten für ein ereignisreiches Jahrhundert – konnte vieles nur angerissen werden. Doch eines wird deutlich: Nur einige deutschsprachige Schriftstellerinnen haben sich Stoffen und Motiven der Bibel zugewandt. Das mag aus Unkenntnis, Desinteresse, Ablehnung oder mangelndem Mut geschehen sein. Denn die religiöse Erziehung der Mädchen und Frauen und die kirchlich gebundene Lektüre der Bibel erschwerten es, die biblischen Geschichten in Freiheit zu deuten.
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Vgl. dazu: Jürgen HEIN, „Aktualisierungen des Judit-Stoffes von Hebbel bis Brecht“, in Hebbel-Jahrbuch 1971/72 (hg. v. der Hebbel-Gesellschaft; Heide: Boyens, 1972), 63–92; 73. Vgl. Judiths Traum, HEBBEL, „Judith“, 13. Vgl. Monolog, HEBBEL, „Judith“, 5. Akt, 58. Vgl. Georg KAISER, „Die jüdische Witwe: Bühnenspiel in fünf Akten“, in DERS., Werke 1: Stücke: 1895–1917 (hg. v. Walter Huder; Frankfurt: Propyläen, 1971), 117–198; Jean GIRAUDOUX, „Judith: Tragödie in drei Akten“, in DERS., Dramen 1 (hg. v. Otto F. Best; Frankfurt: Fischer, 1961), 181–270. HEIN, „Aktualisierungen des Judit-Stoffes“, 64.
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Hinzu kam die Sündenangst. Wie aus autobiografischen Zeugnissen zu ersehen ist, litten viele Frauen unter dem strengen Moralkodex der Kirchen und bei Versagen unter Schuldbewusstsein. Bereits selbstständiges Denken und kritisches Fragen führten z. B. bei Annette von Droste-Hülshoff zu Selbstanklage wegen mangelnder Demut. So ist es nicht verwunderlich, dass die Emanzipation der Frauen im 19. Jahrhundert kaum mit der Bibel oder mit den Kirchen vonstatten ging, sondern größtenteils gegen sie. Die schreibenden Frauen mussten sich erst einen Platz in der Öffentlichkeit erobern, bevor sie es wagten, wie ihre männlichen Kollegen, z. B. Friedrich Hebbel, biblische Stoffe eigenständig zu deuten. Abgesehen von Louise Ottos Vortrag und Die Kinder der Lilith von Isolde Kurz finden sich nur wenige umfangreichere Werke, die anhand von biblischen Stoffen oder Motiven die Genderfrage ernsthaft erörtern.
Exemplarische Marienbilder und Bibelszenen im Werk Marie Ellenrieders (1791–1863): Konstruktion weiblicher Kommunikationsräume des Religiösen Katharina Büttner-Kirschner Detmold
1. Stationen in Leben und Werk Die Porträt- und Historienmalerin Marie Ellenrieder wurde am 20. März 1791 als jüngste von vier Töchtern der aus einer Malerfamilie stammenden Maria Anna, geb. Hermann (1747–1820), und des Hofuhrmachers Konrad Ellenrieder (1744–1834) in der ehemaligen Bistumsstadt Konstanz am Bodensee geboren (Abb. 1). Im vertrauten Konstanzer Elternhaus, das Ellenrieder bis zu ihrem Tod am 5. Juli 1863 gemeinsam mit ihrer Schwester Josepha bewohnte, zeugen auch heute noch Wandmalereien mit weiblichen Figuren und Kinderszenen im Treppenflur von der für diese Künstlerin ebenfalls charakteristischen Verbindung von Lebenswelt und Kunst. Ihren ersten systematischen, jedoch einseitig auf Präzision zielenden Malunterricht erhielt Marie Ellenrieder bei dem Miniaturmaler Joseph Bernhard Einsle (1774–1829). Im Jahr 1813 gelang es der jungen Frau durch Vermittlung des aufgeklärt-reformkatholischen Konstanzer Generalvikars und Kunstförderers Ignaz Freiherr von Wessenberg (1774–1860), sich als erste Frau an der Königlich Bayerischen Akademie der Bildenden Künste in München bei dem klassizistisch ausgerichteten Akademieprofessor Johann Peter von Langer (1756–1824) einzuschreiben.1 Ellenrieders Vorreiterrolle auf dem hürdenreichen Weg der Professionalisierung weiblichen Kunstschaffens beAbb. 1: Marie Ellenrieder schreibt die Weimarer Hofkünstlerin und Freundin Selbstporträt, 1818 Ellenrieders, Louise Seidler (1786–1866), in ihren Öl auf Lw., 53x43,5 cm lesenswerten Lebenserinnerungen: Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
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Der vorliegende Beitrag basiert teilweise auf folgenden Aufsätzen: Katharina BÜTTNER, „Vor der Fassade von ‚Schutzgeist‘ und ‚Kunstgenius‘: Ignaz Heinrich von Wessenberg und die Künstlerin Marie Ellenrieder – Essay einer Spurensuche“, in Ignaz Heinrich von Wessenberg 1774–1860: Kirchenfürst und Kunstfreund: Ausstellungskatalog Wessenberg-Galerie Konstanz (hg. v. Barbara Stark; Konstanz: Wessenberg-Galerie, 2010), 109–118; zu weiterführender Literatur über Biografie und künstlerischen Werdegang Marie Ellenrieders siehe 117, Anm. 1; DIES., „Marie Ellenrieder (1791–1863): Bildfindungen einer badischen Nazarenerin“, in Kunst und Architektur in Karlsruhe: Festschrift für Norbert Schneider (hg. v. Katharina Büttner und Martin Papenbrock; Karlsruhe: Universitätsverlag, 2006), 45–58.
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[…] Mit der Aufnahme Maria Ellenrieders als Schülerin der Akademie zu München war übrigens ein Präcedenzfall geschaffen, der von guten Folgen war; mehr als Eine meines Geschlechts hat sich in der Isarstadt ausgebildet, und zwar weder zum Schaden der Kunst, noch zum Nachteil der weiblichen Würde.2
Kennzeichnend für das Oeuvre der späteren badischen Hofmalerin sind zeichnerische Sicherheit, klare Komposition, leuchtendes Kolorit, Oberflächenglätte durch emailähnliche Farbverschmelzung und die z. T. goldgrundig-spirituelle Lasurtechnik als Symptom der Verinnerlichung religiöser Kunst. Ellenrieders individuelle Bildfindungsstrategien leisten einen eigenständigen Beitrag zu den Varianten romantischnazarenischer Kunstströmungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die zunehmende Fixierung auf eine religiös idealisierte Motivik droht jedoch stellenweise ins Sentimentale abzugleiten. Als Kirchenmalerin drang die Künstlerin mit ihren Altarbildern in eine prestigeträchtige und lukrative Männerdomäne vor.3 Von großer persönlicher und künstlerischer Reichweite erwies sich Ellenrieders erste Italienreise (1822–1825) mit längeren Aufenthalten in Rom und Florenz.4 Insbesondere das päpstliche Rom mit seinen religiös-visuellen Beeindruckungsstrategien, der Umgang mit den Werken Raffaels und das Studium der Frührenaissancemeister wie Giotto, Fra Giovanni da Fiesole und Perugino beeinflussten ihr ästhetisch-religiöses Kunstideal entscheidend. Die Programmkunst der deutschrömischen Künstlergruppe der Nazarener um den charismatischen Konvertiten Johann Friedrich Overbeck (1789–1869) bestärkte die bereits religiös sozialisierte junge Malerin, sich fortan noch ausgiebiger sakralen Sujets als Gegenpol zur profanen Porträtkunst zu widmen. Bei ihrer Hinwendung zur nazarenischen Kunst lässt sich Ellenrieder allerdings nicht auf die Rolle einer starr programmatischen Adeptin reduzieren..5 Die sich anschließende Analyse exemplarischer Marienbilder und Bibelszenen in Ellenrieders Werk setzt sich auseinander mit Einheit und Differenz der Geschlechterrepräsentation. Die Bildauswahl richtet sich hierbei insbesondere nach dem Grad der
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Zit. nach Louise SEIDLER, Goethes Malerin: Die Erinnerungen der Louise Seidler (hg. v. Sylke Kaufmann; Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2003), 131f. Vgl. zu Ellenrieders biblischen Darstellungen und Heiligendarstellungen, die einen überwiegenden Teil des Gesamtoeuvres einnehmen, das Werkverzeichnis von Sigrid von Blanckenhagen, in Friedhelm Wilhelm FISCHER, Marie Ellenrieder: Leben und Werk der Konstanzer Malerin: Ein Beitrag zur Künstlergeschichte des neunzehnten Jahrhunderts (Konstanz: Thorbecke, 1963), 144–153. Vgl. zu Ellenrieders Arbeiten in Italien Katrin SEIBERT, Rom besuchen: Italienreisen deutscher Künstlerinnen zwischen 1750 und 1850 1 (München: Meidenbauer, 2009), 293–345. Zu den Nazarenern siehe Max HOLLEIN und Christa STEINLE, Hg., Religion, Macht, Kunst: Die Nazarener: Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle Frankfurt (Köln: König, 2005). In der Ausstellung wurden ebenfalls die im vorliegenden Beitrag analysierten Marienbilder gezeigt; siehe 53.219.250.
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kommunikativen Wirkungsintensität der jeweils spezifischen Figur-Raum-Konstellation.6
2. Maria – Mittlerin, Muse, Meisterin 2.1 Maria mit dem Jesusknaben an der Hand Unter den überwiegend neutestamentlichen weiblichen Bibelfiguren im künstlerischen Werk Ellenrieders nimmt Maria eine exponierte Position ein. Tradierte Marientypen und -symbolik werden hier im nazarenischen Stil variiert und teilweise neu inszeniert. In einer Eintragung ihres römischen Tagebuchs vom März 1823 gewährt die Autorin einen Einblick in den oft aufwändig-mühevollen und von Selbstanklagen begleiteten künstlerischen Schaffensprozess bei der Gestaltung eines ihrer großformatigen Hauptwerke, der Maria mit dem Jesusknaben an der Hand (Abb. 2)7: […] kaum konnte ich mich überwinden es fleißig zu machen, und ich habe mich würklich in meiner Nachläßigkeit höchst nachtheilig verwehnt: Aber mächtig ermuntere mich Alles was ich bey den teutschen Künstlern sah zum ausdauernden Fleiße. Gott gebe mir Gnade daß ich in Thätigkeit den Forderungen der Kunst muthvoll entgegentrette!8
Das Motiv des inszenierten Treppensteigens kehrt den bildlich überlieferten Bewegungsablauf von „Mariä Tempelgang“ gewissermaßen um.9 Bei der besonderen Auswahl der Mutter-Kind-Konstellation schlägt Ellenrieder eine Bildfindungsstrategie ein, die sich ikonographisch möglichAbb. 2: Marie Ellenrieder Maria mit dem Jesusknaben erweise auch aus der Bildtradition der Infantia ChristiGruppe speist.10 Auf der Basis apokrypher Legenden zur an der Hand, 1824 Öl auf Lw., 185x123 cm Jugend Christi kommt es in der mittelalterlichen Kunst zur Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle 6
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Vgl. zu Gender-Studien in der Kunstgeschichte Hildegard FRÜBIS, „Kunstgeschichte“, in Gender-Studien: Eine Einführung (hg. v. Christina von Braun und Inge Stephan; Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2000), 262–275. Vgl. Jan LAUTS und Werner ZIMMERMANN, Bearb., Katalog Neuere Meister: 19. und 20. Jahrhundert 1 (hg. v. d. Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe; Karlsruhe: Staatliche Kunsthalle, 1971), 59 (Nr. 511); vgl. FISCHER, Ellenrieder, 148 (Nr. 329). Konstanz, Rosgartenmuseum, Marie ELLENRIEDER, 3. Tagebuch, Manuskript vom 7. 10. 1822 bis 4. 8. 1823, Eintrag vom Februar/März 1823 [Transkription des Originaltextes ohne editorische Korrekturen]. Vgl. z. B. Giottos frühen und berühmten Freskenzyklus zum Marienleben in der ScrovegniKapelle in Padua, der Anfang des 14. Jahrhunderts entstand. Vgl. zur Jesuskind-Ikonografie Reiner HAUSSHERR, „Jesuskind“, LCI 2 (1990), 400–406.
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„andachtsbildartigen Verselbständigung“11 einzelner Episoden wie der von Jesu Gang zur Schule an der Hand seiner Mutter. Das rezeptionsästhetisch motivierte Bewegungsmoment des raumgreifenden simultanen Treppenabstiegs beider Figuren schafft Übergänge vom sphärisch angelegten Bildraum hin zum konkreten Betrachterraum – weiter auf die spirituelle Ebene des inneren Andachtsraums und vice versa. Während der archaisierende, der byzantinischen Ikonenmalerei ähnelnde Goldgrund jegliche Raumillusion und Materialität negiert, gewinnt das Treppenmotiv Richtung Bildvordergrund zunehmend an Konkretion. Trotz der Frontalität Marias erzeugen gesenkter Blick und riegelartige Positionierung des antikisch umhüllten Arms Distanzierungseffekte. Die Wirkungsstrategien der Annäherung und Distanzierung unterscheiden sich auch hier deutlich vom Modell der Sixtinischen Madonna Raffaels. Eine Besonderheit von Ellenrieders Marienbild mit seiner transgressiven Raumkonstruktion ist die Personalunion von Adressatin und Produzentin. Auch wenn das Gemälde noch zu Ellenrieders Lebzeiten mehrfach ausgestellt wurde, war es doch allein für die Künstlerin bestimmt und blieb bis zu ihrem Tode in ihrem Privatbesitz.12 Für die Zeit darüber hinaus verfügte Ellenrieder in ihrem Testament schließlich, den Erlös des Bildes für karitative Zwecke zu verwenden. Der hohe persönliche Stellenwert, den die Künstlerin ihrem Madonnen-Gemälde einräumte, resultierte zum einen aus dem Kontext seiner Entstehungsgeschichte – dem für ihren künstlerischen Werdegang maßgeblichen Italienaufenthalt –, zum andern aus der extensiven Funktion des Kunstwerks. Für die Künstlerin übernahm es die Rolle eines privaten Andachtsbildes, von dem sie sich göttlichen und künstlerischen Beistand erhoffte und diesen erflehte. Dies dokumentiert das im Juni 1823 in ihrem römischen Tagebuch niedergeschriebene Gebet, in dem sich auch Elemente zeitgenössischromantischer Emphase niederschlagen: Zu meinem Bilde der Madonna. Heilige Maria, Mutter unseres Erlösers! […] Steige hernieder mir zu Hilfe zu kommen, und laße den Seegen des göttlichen Kindes auf meinem Geiste ruhn; Schenke mir Augenblicke die unendliche Gottheit der ewigen Liebe zu empfinden. Höchste Mutter, im Staube gebückt schaue ich flehend deinem Schutze entgegen. Eine Sphäre von dem tuftigen All umgebe mich, daß keine irrdische Sorge mir nahe, und so will ich nun das Tagwerk beginnen, das mir aufgetragen ist, im Namen des Vaters des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.13
Der emotionalisierte Andachtsraum weiblicher Kommunikation des Religiösen durch Fürbitte verbindet sich hier direkt mit Ellenrieders künstlerisch-ästhetischer Reflexion 11 12
13
Rüdiger BECKSMANN, Hg., Deutsche Glasmalerei des Mittelalters 1: Voraussetzungen, Entwicklungen, Zusammenhänge (Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 1995), 111. Vgl. „…und hat als Weib unglaubliches Talent“ (Goethe): Angelika Kauffmann (1741– 1807), Marie Ellenrieder (1791–1863): Malerei und Graphik: Ausstellungskatalog Rosgartenmuseum Konstanz (hg. v. d. Städtischen Museen Konstanz, Red.: Elisabeth von Gleichenstein; Konstanz: Rosgartenmuseum, 1992), 204. Konstanz, Rosgartenmuseum, ELLENRIEDER, 3. Tagebuch, Eintrag vom Juni 1823 [Transkription ohne editorische Korrekturen].
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und Produktion. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht nur Maria als weibliches Gottesprinzip und Repräsentantin der weiblichen Heilsgeschichte sowie Aspekte marianischer Volksfrömmigkeit14, sondern in Analogie zum männlich dominierten Geniekult erfüllt die Marienfigur auch die erweiterte Rolle einer Muse zur Inspiration weiblicher Kreativität. 2.2 Maria schreibt das Magnifikat Ein weiteres visuelles Dokument einer erfindungsreichen Ellenriederschen Neuschöpfung eines Marienbilds stellt das Ölgemälde Maria schreibt das Magnifikat von 1833 dar (Abb. 3).15 Die 1829 zur badischen Hofmalerin ernannte Künstlerin überließ das Gemälde dem großherzoglichen Haus als Pflichtbild16 für die Jahre 1835/36. Wieder wird Maria von den Würdesymbolen des Vorhangs und der Säulen hinterfangen, wobei die Künstlerin diesmal Ausblicke auf eine bläulich-grüne südliche Renaissance-Landschaft ausschnitthaft integriert. Haarschleife und Ornamentschnitzereien setzen dekorativ-biedermeierliche Akzente. Mit den hell schimmernden Farblasuren verleiht die Künstlerin dem intimen Sujet der nahansichtigen idealisierten Einzelfigur eigenwillige, von der nazarenischen Farbästhetik abweichende Nuancen.17 Die Vorstellung von der Lese- und Schreibfähigkeit Marias geht u. a. auf die Verfasser mittelalterlicher Marienviten zurück. Auf der Basis vorgeprägter Bildthemen der Sibyllinenikonografie und des weiblichen Autorenbilds – wie es uns z. B. in der mittel-
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Abb. 3: Marie Ellenrieder Maria schreibt das Magnifikat, 1833 Öl auf Lw., 64,8x46,2 cm Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Vgl. zur Entwicklung von Marienvorstellungen Renate JOST, „Von altorientalischen Göttinnen zu Marienvorstellungen: Eine feministisch-evangelische Perspektive“ in Gender – Religion – Kultur: Biblische, interreligiöse und ethische Aspekte (hg. v. Renate Jost und Klaus Raschzok; Theologische Akzente 6; Stuttgart: Kohlhammer, 2011), 37–54. Vgl. Katalog Neuere Meister, 59 (Nr. 514); FISCHER, Ellenrieder, 147 (Nr. 319); vgl. auch Kunst in der Residenz: Karlsruhe zwischen Rokoko und Moderne: Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (hg. v. d. Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Red.: Siegmar Holsten; Heidelberg: Edition Brauns, 1990), 115f. Im Rahmen ihrer Verbindlichkeiten als Hofkünstlerin war Marie Ellenrieder zur regelmäßigen Produktion und Abgabe von Kunstwerken an den badischen Hof verpflichtet. Vgl. auch „…und hat als Weib unglaubliches Talent“, 210. Zum kulturhistorischen Kontext der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellung von Marias Intellektualität vgl. Klaus SCHREINER, Maria: Jungfrau, Mutter, Herrscherin (München: Hanser, 1994), 113– 115.
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alterlichen Buchmalerei mit der schreibenden Hildegard von Bingen (1098–1179) und den Selbstbildnissen von Buchherstellerinnen in Initialen begegnet18 – verwandelt die Künstlerin das rezeptive traditionelle Motiv der Lektüre Marias in die produktive Darstellung der Gottesmutter als femina docta bei der Niederschrift ihres eigenen Lobgesangs. In der Gewissheit ihrer Rolle als Gebärerin des Messias stimmt Maria diesen Hymnus im Hause der schwangeren Elisabet und des Zacharias an (Lk 1,46–55). Auf der schräg zur Bildebene positionierten Schreibtafel – dem Künstlerutensil einer Zeichentafel nicht unähnlich – steht in goldenen Lettern der Anfang des mariologischen Schlüsseltextes: „Magnificat anima mea dominum et exsultavit spiritus in deo salutari.“19 Kein äußeres Zeichen der Inspiration ist sichtbar; kein Jesuskind führt die Hand der Gottesmutter; kein krönendes Engelspersonal ist zugegen wie z. B. bei Botticellis Abb. 4: Marie Ellenrieder Tondo Madonna del Magnificat von ca. 1485. Im SpätDie Pilgerin, 1854. Öl (mit Gold) auf Lw. 112,2x89,4 cm werk Ellenrieders kulminiert das Autorinnenmotiv in der allegorischen Figur der gottergebenen Pilgerin, die sich in Konstanz, WessenbergGalerie das Buch des Engels einschreibt (Abb. 4).20
3. Das Neue Testament – Präsenz und Dominanz weiblicher Kommunikation 3.1 Kindersegnung: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ Das biblische Thema der Kindersegnung Jesu zieht sich kontinuierlich durch Ellenrieders Oeuvre. Die bildliche Darstellung geht auf Mt 19,14 zurück, wonach Jesus die Kinder in den Rang modellhafter Gottesnähe erhebt im Gegensatz zur geringschätzigen Abwehrhaltung der Jünger. Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts knüpfen Künstler und Künstlerinnen unterschiedlicher Stilrichtungen an das Sujet an: Die anerkannte Malerin Angelika Kauffmann (1741–1807), der Schweizer Johann Heinrich Lips, Ellenrieders Lehrer Johann Peter Langer in München, Friedrich Overbeck in Rom und schließlich auch Ellenrieders Freundin Louise Seidler sind hier zu nennen.21 Anders als bei Overbeck und Langer beispielsweise verzichtet Ellenrieder 18 19 20
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Vgl. Katrin GRAF, Bildnisse schreibender Frauen im Mittelalter: 9. bis Anfang 13. Jahrhundert (Basel: Schwabe, 2002). „Meus“ wird darin ausgelassen. Vgl. FISCHER, Ellenrieder, 144 (Nr. 290). Das Gemälde befindet sich heute im Besitz der Wessenberg-Galerie Konstanz; Bildinschrift: Entscheidung für Gott & seine heiligen Gebote. Vgl. Bernhard von WALDKIRCH, „Bewusste Tätigkeit und bewusstlose Kraft: Zeichnungen und Entwürfe zur Kindersegnung von Marie Ellenrieder“, in „…und hat als Weib unglaub-
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auf die Wiedergabe pathosgeladener männlicher Autorität, Monumentalität und Distanz der Jesusfigur sowie auf den klassizistisch konstruierten Architekturraum. In den diversen Fassungen integriert die Künstlerin vielmehr zahlreiche der detaillierten Modell- bzw. Einzelstudien aus dem Alltag ihres Italienaufenthalts und verlegt die Szene in die Öffentlichkeit einer südlichen Landschaft. Als vorbereitende Fassung für das Altarbild in der Schlosskapelle Kallenberg bei Coburg entstand während der zweiten Italienreise (1838–1840) in Rom ein großformatiger Karton (Abb. 5).22 In der figurenreichen Szene dominieren Frauen und Kinder die Komposition. Einige der engelgleichen Kleinkindfiguren erscheinen geschlechtsneutral. Romantisch-religiöse Auffassungen von Herz, Seele und unschuldiger Reinheit des naiv-kindlichen Wesens teilen sich hier als zentrale Empfindungskategorien mit. Die linke Bildhälfte wird durch die männlichen Figuren des sitzenden Jesus und seiner statuarisch platzierten Jünger bestimmt. Haartracht, Bartwuchs, Körpergröße, Kopfumfang und höheres Alter kennzeichnen diesen maskulinen Block, der durch die pyramidal angeordnete Kinder- und Jugendgruppe räumlich von den beiden Frauen am rechten Bildrand getrennt wird. Der Grad der Körperverhüllung wird in Abhängigkeit von Geschlecht und Alter differenziert dargestellt. Er nimmt mit fortschreitendem Alter zu und erreicht sein Maximum auf der weiblichen Seite durch den Einsatz des Kopfschleiers. Historisierungsabsichten verAbb. 5: Marie Ellenrieder binden sich hier mit tradierter Marienikonografie Kindersegnung, 1839 Karton zum Altarbild in der und geschlechtsspezifischen Moralvorstellungen. Schlosskapelle Kallenberg bei Coburg Als Bindeglied zwischen der Jesusfigur und dem Schwarze Kreide über Bleistiftrechten Frauenduo setzt Ellenrieder dann im vorzeichnung, weiß gehöht Kallenberger Altarbild das koloristische Gestalauf grundiertem Papier, 257,5x221 cm tungsmittel der gemeinsamen kräftigen FarbgePrivatbesitz bung ein. Auffällig ist die innige, ja körperliche Jesus-Kind-Relation. Schoß- und Liebkosungsmotive zeigen Parallelen zu Ellenrieders Darstellungen von Mutter-Kind-Einheiten in ihren Familienbildnissen und Genrebildern. In einem Kommentar zu Ellenrieders Karton werden trotz anerkennender Worte zeittypische Klischees von weiblicher Begrenztheit, Emotionalität und Oberflächlichkeit reflektiert: […] Die schöne, sorgfältig ausgeführte Zeichnung spiegelt eine schöne Seele, die die Gränzen der Weiblichkeit nie verlässt. Nicht bloß in der Ausführung hat sie sich denjeni-
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liches Talent“, 109–122; zu einem kurzen Bildvergleich siehe ferner Bärbel KOVALEVSKI, Marie Ellenrieder: 1791–1863 (Berlin: Kovalevski, 2008), 42–46. Vgl. FISCHER, Ellenrieder, 146 (Nr. 307 a); vgl. die Figuren der Wandbilder im Treppenhaus des Ellenriederhauses in Konstanz, 146 (Nr. 307 E, F).
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gen Gegenständen mit ausschließlichem Eifer zugewandt, bei denen eine Frau ohne Verletzung ihrer angebornen Empfindungsweise ungestört verweilen darf, sondern auch die Charaktere ihrer Kunstschöpfungen zeigen überall dieselbe Bescheidenheit in dem Eingehen auf ihre Tiefe […].23
Drei als eindeutig weiblich auszumachende Figuren nehmen prominente Positionen auf Basis und Zentrum der in den Äther zielenden Bildmittelachse ein: Kontemplation, Gebets- bzw. Andachtshaltung manifestieren sich hier in Gestik, Mimik und Körperhaltung. Das weibliche Bildpersonal avanciert so im besonderen Maße zum femininen Modell der Frömmigkeitspraxis.24 3.2 Die Erweckung der Tabita durch Petrus Wenige Jahre nach der Kindersegnung entstand 1844 das kleinformatigere Ölgemälde Erweckung der Tabita durch Petrus (Abb. 6).25 Die Darstellung geht auf Apg 9,36–43 zurück und zeigt den Moment der Zusammenkunft im Haus der toten Tabita, bevor Petrus an ihr das Wunder der Auferweckung vollbringt. Bereits in Florenz dürfte Marie Ellenrieder Masolinos und Masaccios freskierten Renaissancezyklus zum Leben Petri in der Brancacci-Kapelle von S. Maria del Carmine begegnet sein. Erweckungsmoment und Erstaunen der Zuschauer werden im dortigen Fresko fokussiert. Stadtlandschaft und Raumöffnungen prägen die Raumkonstruktion, während Ellenrieder das Geschehen in die intimere Situation eines architektonisch strukturierten Innenraums verlagert. Auch der Geschlechterproporz unterscheidet sich erheblich von der Figurenkonstellation des Renaissancemodells. Die Figur des heiligen Petrus verweilt dort im männlich dominierten Raum der öffentlichen res publica. Der Apostel blickt in einen zwar numerisch geschlechtsparitätisch besetzten Loggienraum. Die beiden Frauen in Ordenstracht der Karmelitinnen und die sich bereits aufrichtende Tabita nehmen in ihren gebeugten Körperhaltungen jedoch Positionen der Subordination ein. Ellenrieder fusioniert die hierarchischen Geschlechterkompartimente, indem sie die Apostelfigur Petrus inmitten der Gruppe weiblicher Protagonistinnen postiert. Alter, Haar- und Barttracht des Apostels zeigen Ähnlichkeiten mit den Männlichkeitsattributen der Apostelfiguren in der oben besprochenen Kindersegnungsszene und weichen von der tradierten
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Meldung im Kunstblatt 52 (30.06.1840), 222, zit. nach http://digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/kunstblatt21_1840/0238 (30.01.2012). Zur These der Feminisierung der Religion aus sozialgeschichtlicher Perspektive siehe Hugh MCLEOD, „Weibliche Frömmigkeit – männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert“, in Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert (hg. v. Ute Frevert; Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 77; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988), 134–156. Vgl. LAUTS und ZIMMERMANN, Katalog Neuere Meister, 60f. (Nr. 511); vgl. FISCHER, Ellenrieder, 147 (Nr. 312).
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Petrusikonografie (Petrustonsur bzw. Lockenkranz und Stirnlocke) ab.26 Der dem überragenden Apostelkopf hinterlegte Pilaster erhöht die vertikale Raumwirkung der Petrusfigur bedeutungssteigernd. Die Plastizität des voluminösen Faltenwurfs von Tunika und Manteltuch sowie die vor dem Körper verschränkten Arme verleihen der Petrusgestalt statuarische Geschlossenheit. Gleichzeitig evozieren Mimik und Gestik Anteilnahme und Andacht. Der horizontal bildparallel angelegte tote Körper der aufgebahrten Tabita wird in Kopfkissenhöhe von einem Heiligenschein und dem Würdesymbol des Vorhangs hinterfangen – Details, die Tabitas Besonderheit als Jüngerin in der Nachfolge Christi kennzeichnen. Die Figur des kirchlich-patriarchalen Petrus erhält ein gleichsam weibliches Gegengewicht. Die bildlich-räumliche Inszenierung der Verstorbenen lehnt sich an die Gestaltung mittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher Tumbengräber mit vollplastischer Liegefigur an, zu der sich zuweilen auch Klagefiguren gesellen. Einer solchen Pleurant entspricht die weinende Figur im rechten Bildvordergrund. Das im rechten Bildhintergrund extrovertiert kommunizierende Frauenpaar verkörpert unterschiedliche Lebensalter im Gestus freundschaftlich-weibliAbb. 6: Marie Ellenrieder cher Verbundenheit. Die am ToDie Erweckung der Tabita durch Petrus, 1844 tenbett in sich versunkene isoÖl auf Lw., 47x60 cm lierte Frauenfigur in Profilansicht Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle markiert den introvertierten Part der geschilderten Gefühlslagen. Die einzige weibliche Figur, die in direkte Interaktion mit Petrus tritt, indem sie ihm die von Tabita genähten Gewänder darbietet, ist die Frauenfigur in biedermeierlich anmutendem Mieder und Spitzenhäubchen. Sie fungiert bis zu einem gewissen Grad als Identifikations- und Appellfigur für das außerbildliche (weibliche) Publikum.27
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Vgl. zur Petrus-Ikonografie: Wolfgang BRAUNFELS, „Petrus, Apostel“, LCI 8 (1990), 158– 174. Zum rezeptionsästhetischen Ansatz in der Kunstgeschichte siehe Wolfgang KEMP, „Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik“, in Der Betrachter ist im Bild: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik (hg. v. dems.; Berlin: Reimer, 1992), 7–27.
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4. Ellenrieders Frauendarstellungen Gestaltung, künstlerischer Ausdruck und Funktion biblischer Themen und Figuren schreiben sich gemeinsam mit Ellenrieders Porträtmalerei, ihren Genrebildern und religiösen Allegorien in einen ikonographischen, religions-, mentalitäts- und genderhistorischen Bedeutungshorizont ein.28 Auffällig ist bei den vorliegenden Bildanalysen, dass Ellenrieders Frauendarstellungen in ein Konzept weiblicher Kommunikationsräume eingebunden sind. Das Bildthema weiblicher Reflexion und Kommunikation des Religiösen wird konsequent fortgesetzt und verselbstständigt sich schließlich 1849 in dem für den badischen Hof bestimmten Ölgemälde Drei Jungfrauen im Gespräch (Abb. 7).29 Analog zum Kompositionsschema nahansichtiger Bibelszenen venezianischer Frührenaissancemalerei – z. B. Andrea Mantegnas und Giovanni Bellinis – lässt Marie Ellenrieder drei weibliche Figuren hinter einer Brüstung agieren. Die im Dreiklang von Rot-, Blau- und Grüntönen gehaltenen Figuren befinden sich in einer durch Rhetorik- und Freundschaftsgesten gekennzeichneten religiös motivierten Gesprächssituation. Die Inschrift im Prägegrund bekräftigt diese Bildbotschaft: Laßt uns von Gott reden und Seinen heiligen Geboten. Die Künstlerin setzt mit der niedrigen Brüstung ebenfalls die ästhetische Schwelle zwischen dem Nahausschnitt des Bildraums und der Betrachtersphäre herab. Die hierdurch erzeugte partielle Verschmelzung unterschiedlicher RealitätsAbb. 7: Marie Ellenrieder Drei Jungfrauen im Gespräch ebenen sowie die spezifische Bild-Wort-Relation stimulieren die Partizipation des Betrachterpublikums am in1849 Öl auf Lw., 85x109 cm nerbildlichen Sprech- und Reflexionsakt. Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
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Vgl. zum Verhältnis von Katholizismus und Geschlechtermodell im 19. Jahrhundert Michela DE GIORGIO, „Das katholische Modell“, in 19. Jahrhundert (hg. v. Geneviève Fraisse und Michelle Perrot; Geschichte der Frauen 4; Frankfurt: Fischer, 1994), 187–220. Vgl. Katalog Neuere Meister, 61 (Nr. 517); siehe FISCHER, Ellenrieder, 160 (Nr. 460); zum kommunikativen Aspekt des Gemäldes auch Cordula GREWE, „Objektivierte Subjektivität: Identitätsfindung und religiöse Kommunikation im nazarenischen Kunstwerk“, in HOLLEIN/STEINLE, Religion, Macht, Kunst (Ausstellungskatalog), 86.
Alttestamentliche Frauen in Bibelillustrationen des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Julius Schnorr von Carolsfeld und Gustave Doré Elfriede Wiltschnigg Karl-Franzens-Universität Graz Bis ins 18. Jahrhundert stellten biblische Szenen einen wesentlichen Teil der Kunstproduktion dar. Vor allem den alt- und neutestamentlichen Frauenfiguren galt das Interesse von KünstlerInnen und AuftraggeberInnen.1 Mit der Französischen Revolution und der damit verbundenen Säkularisierung traten religiöse Themen aus dieser dominanten Position zurück. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen andere Bildmotive, wie etwa arbeitende Menschen und Landschaftsdarstellungen, an Bedeutung. Der Orientalismus förderte das Interesse der KäuferInnen an Bildthemen aus fernen Ländern; dies wirkte sich auch auf illustrierte Bibelausgaben aus.2 Im Folgenden sollen die Bibelillustrationen von Julius Schnorr von Carolsfeld und Gustave Doré untersucht werden. Dabei wird der Blick vor allem auf die ikonographische und interpretative Darstellung von Frauen in Einzel- wie Massenszenen gerichtet. Nur wenige Künstlerinnen im 19. Jahrhundert greifen biblische Themen auf, eine Ausnahme bildet die deutsche Malerin Marie Ellenrieder (1791–1863).3 Im Allgemeinen war den Frauen der Akademiebesuch verwehrt, und somit waren sie vom Aktzeichnen ausgeschlossen. Da der menschliche Körper jedoch im Zentrum von Bibelillustrationen steht – Architektur, Landschaft, Pflanzen und Tiere sind nur schmückendes oder deskriptives Beiwerk –, sind Frauen in diesem Kunstfeld so gut wie nicht vertreten. Einen lukrativen Großauftrag, wie die Illustration einer für den Buchhandel bestimmten Bibel, erhielten sie nicht. Seit der Buchdruck die vereinfachte Vervielfältigung von Texten und Bildern ermöglichte, wurden Bücher und damit auch Bibeln für breitere Kreise erschwinglich.4 Im 19. Jahrhundert waren es die KünstlerInnen der Romantik, die, getragen von ihrer Begeisterung für die Renaissance, die Illustration der Bibel unter neuen Voraussetzungen ins Auge fassten. Da alle in diesem Jahrhundert aufgekommenen Techniken die Verwendung von Farbe zuließen, entstanden seit etwa 1850 farbige Bilder in Reproduktion.5 Die erläuternde Unterstützung des Textes durch bildliche Ausschmückung 1 2
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Herzlicher Dank ergeht an Frau Prof. Irmtraud Fischer für ihre fachliche Beratung. Vgl. dazu beispielsweise: Roger DIEDEREN und Davy DEPELCHIND, Hg., Ausstellungskatalog Orientalismus in Europa – von Delacroix bis Kandinsky (Musées Royaux des BeauxArts de Belgique, Brüssel; Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München; Centre de la Vieille Charité, Marseille; München: Hirmer, 2010); Kristian DAVIES, The Orientalists: Western Artists in Arabia, the Sahara, Persia and India (New York: Laynfaroh, 2005). Siehe dazu den Beitrag von Katharina Büttner-Kirschner in diesem Band. Vgl. Hildegard FUCHS, Bibelillustrationen des 19. Jahrhunderts (ungedruckte Phil. Diss.; Erlangen: 1986), 1. Vgl. Diethelm LÜTZE, Hg., Ausstellungskatalog: Bibel-Illustrationen: Bücher aus 5 Jahrhunderten (Sammlung Lütze IV, Stuttgart: Lütze, 1996), 16.
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war von essenzieller Bedeutung für den großen Erfolg der protestantischen Bibelausgaben im 19. Jahrhundert. Der Protestantismus förderte die Verbreitung von Bibeln. Anders als im Katholizismus galt die Beschäftigung mit dem biblischen Text seit der Reformation als wesentlicher Teil der Glaubenspflege, zu der alle, ausdrücklich auch die Frauen, aufgefordert waren. Bevor die illustrierten Bibelausgaben von Schnorr von Carolsfeld und Doré vorgestellt werden, gilt es, den künstlerischen, nationalen und religiösen Hintergrund zu ermitteln und die angewandten Techniken – Holzschnitt und Holzstich – zu erläutern. Zudem stellt sich die Frage, für welche KäuferInnenschicht die Bibeln gedacht waren.
1. Zur biografischen und stilistischen Verortung der beiden Künstler 1.1 Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872) Im April 1821 gründeten die Nazarener Joseph Anton Koch, Johann Friedrich Overbeck und Julius Schnorr von Carolsfeld gemeinsam mit Freunden in Rom einen Künstlerverein, um in Gemeinschaftsarbeit eine volkstümliche Bilderbibel herauszugeben. Die Illustration der Bibel stellte ein Zentralthema des Nazarenerprogramms dar, das bis ins 20. Jahrhundert hinein weiterwirkte.6 Overbeck war der Erste, der seine Haare schulterlang trug. Diese Mode alla nazarena, die Jesus von Nazaret nachahmen wollte und dabei an Bildnisse Raffaels erinnerte, brachte den jungen Künstlern schlussendlich den Namen „Nazarener“ ein.7 Sie folgten in ihren Arbeiten einer gemeinsamen Ausrichtung durch ihr Interesse an den religiösen, patriotischen und künstlerischen Erneuerungsgedanken, die durch Novalis, Wilhelm Heinrich Wackenroder und Friedrich Schlegel vor allem in Studentenkreisen weite Verbreitung gefunden hatten.8 Schnorr von Carolsfelds Werk Die Bibel in Bildern mit 240 Darstellungen und Texten der Luther-Bibel9 wurde prägend für Generationen. Die illustrierte Bibel umfasst 6 7 8
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FUCHS, Bibelillustrationen des 19. Jahrhunderts, 142. Vgl. Kristiane MÜLLER und Eberhard URBAN, Die Kunst der Romantik: Beliebte und unbekannte Bilder nebst Zeichnungen und Studien (Menden: Edition Aktuell, 1987), 121f. Jutta ASSEL, „Deutsche Bilderbibeln im 19. Jahrhundert: Insbesondere nazarenische Bilderfolgen zum Alten und/oder Neuen Testament“, in Julius Schnorr von Carolsfeld: Die Bibel in Bildern und andere biblische Bilderfolgen der Nazarener (Katalog zur Ausstellung im Clemens-Sels-Museum Neuss 28.11.1982–27.2.1983), 25–42; 28. Julius SCHNORR VON CAROLSFELD, Die Bibel in Bildern (Zürich: Flamberg, 1972), wurde zum 100. Todestag des Künstlers als Nachdruck der Ausgabe Die Bibel in Bildern: 240 Darstellungen, erfunden und auf Papier gezeichnet von Julius Schnorr von Carolsfeld von 1860, erschienen bei Georg Wiegand’s Verlag in Leipzig, herausgegeben. 1909 erschien eine durch den Breslauer Kardinal und Fürstbischof Georg Kopp (1837–1914) approbierte katholische Ausgabe mit dem Bildwerk Schnorrs von Carolsfeld als Katholische Bilderbibel des Alten und Neuen Testaments, in welcher zunächst auf die Nennung des Künstlers – da Protestant – verzichtet wurde. Die Texte Luthers wurden durch andere, „nach neuen theologischen Erkenntnissen“ gewonnene Übersetzungen ersetzt. Zusätzlich verzichtete diese
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160 Holzschnitte zum Alten und 80 zum Neuen Testament. Die Einleitung enthält „Betrachtungen über den Beruf und die Mittel der bildenden Künste Antheil zu nehmen an der Erziehung und Bildung des Menschen, nebst einer Erklärung über Auffassungs- und Behandlungsweise der Bibel in Bildern“ aus der Feder Schnorrs sowie Erläuterungen von Heinrich Merz. Dieser kommentiert die Illustrationen folgendermaßen: Wie die Bibel sich dem betend forschenden Leser selber erklärt, so muß auch die Bibel in Bildern dem Bibelkundigen, der ein Auge zum Sehen hat, von selber klar sein. Indessen ist seit Jahrtausenden von den Freunden des göttlichen Wortes begehrt und willkommen geheißen worden, was Gottbegabte und Gottgelehrte aus dem unergründlichen Schachte derselben an tieferer Erkenntniß zu Tage gefördert, auch aus dem Gebiete sonstigen Wissens zur Beleuchtung der biblischen Geschichte und Lehre beigebracht haben. Gleichermaßen wurde Handleitung und Fingerzeig zu den Bildern gewünscht, in welchen J. Schnorr, der von Gottes Geist und Wort erfüllte Künstler und treue Anhänger seiner evangelisch-lutherischen Kirche, so umfassend wie noch nie Einer, die großen Thaten, die heiligen Männer und die ganze Reichsgeschichte Gottes nach dem Schriftworte lebendig im Geiste geschaut und im Gewande der Schönheit leibhaftig vor unser Auge gestellt hat.10
Merz’ Ausführungen unterstreichen die religiöse Intention, die maßgeblich zur Herausgabe der Bibel in Bildern führte: Den protestantischen Gläubigen sollen die Inhalte der Bibel nicht nur textlich, sondern auch in bildlich-interpretatorischer Weise nahe gebracht werden. Dass er nur die „heiligen Männer“ hervorhebt, unterstreicht, welche geringe Bedeutung den Frauen in der Bibel zugemessen wurde. In der Bibel in Bildern findet sich unter jedem Holzschnitt ein etwa zwei Zeilen umfassender Textauszug. Die gewählte Technik wurde von Schnorr in seinem Vorwort begründet: Es unterliegt keinem Zweifel, daß Kupfer- oder Stahlstich eine größere Durchbildung der Ausführung zuläßt, feinere Abtonungen, zartere Modellierung usw. gewährt als der Holzschnitt. Ich glaube aber nicht, daß es bei einem Werk wie bei dem von mir unternommenen hierauf so besonders ankommt. Was nicht in kräftigen, frischen Zügen gegeben werden kann, möge immerhin ungegeben werden. Das Werk will ein Volksbuch werden im wahren Sinn des Wortes und in kräftigen, frischen Zügen dem Volk die heilige Weltgeschichte vor die Augen halten.11
Schnorrs Vorhaben zielte darauf ab, eine Bibel mit erzieherischen Elementen für eine möglichst breite Schicht von LeserInnen herzustellen; diese sollte auch die Bildung
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Ausgabe auf Abbildungen wie Der Sündenfall. Vgl. Irmgard FELDHAUS, „Julius Schnorr von Carolsfeld: Die Bibel in Bildern“, in Julius Schnorr von Carolsfeld (Katalog zur Ausstellung), 6–23; 20. Heinrich MERZ, „Erklärungen zu der Bibel in Bildern von Julius Schnorr von Carolsfeld“, in SCHNORR VON CAROLSFELD, Die Bibel in Bildern (1972), 1. Julius SCHNORR VON CAROLSFELD, Die Bibel in Bildern: 240 Darstellungen erfunden und auf Holz gezeichnet von Julius Schnorr von Carolsfeld: Mit Bibeltexten nach Martin Luthers deutscher Übersetzung (München: Borowsky, 1980), o. S.
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fördern. Seine Arbeitsweise kann als traditionell eingestuft werden, stilistisch auf den Umrisszeichnungen John Flaxmans basierend, mehr erzählend als theatralisch; diese bot keine Neuinterpretation der Figuren, sondern verwies auf die theologische Interpretation. 1851 begann Schnorr von Carolsfeld mit der Verwirklichung dieses Projektes, das zu Neujahr 1861 erstmals vollständig erschien, und zwar in einer Volksausgabe sowie in zwei Prachtausgaben. In Letzteren waren die Holzschnitte mit Randleisten eingefasst, für die er selbst den Entwurf gezeichnet hatte.12 „Alle Blätter enthalten im Übrigen nur den Bildtitel und die entsprechende Textstelle der Bibel.“13 Als die Bilderbibel herauskam, war die Reaktion geteilt. Die nach England gelieferten Exemplare riefen ein positives Echo hervor, in Deutschland hingegen „lehnte es 1855 das zuständige sächsische Ministerium ab, die Bilderbibel für die Schulen zu empfehlen, weil einige Darstellungen moralisch anstößig seien, und in Mecklenburg wurde zur gleichen Zeit die Anschaffung für die Schulen ausdrücklich verboten“.14 Nach 1860 erst begann der Siegeszug dieses Werkes, der bis ins 20. Jahrhundert hinein anhielt. Heinrich Merz erläuterte in seinen Erklärungen über die Verbindung von Text und Bild: Die Sprache der Bibel wird vom natürlichen Menschen und vom nur weltlich Gebildeten nicht verstanden, sie muß erst gelehret werden, und wohl dem, der sie von Kind auf aus der Schule treuer Mütter, Väter und Lehrer weiß. Die Kunst hat auch von Gott eine besondere Sprachengabe erhalten, damit sie durch das Auge zum Menschen spreche und dasjenige in ihm Gestalt und Leben gewinnen lasse, was mit dem bloßen Worte nicht gesagt und beschrieben werden kann. Diese Sprache der Kunst ist aber dem heutigen Geschlechte noch fremder und unverständlicher geworden als die Sprache der Bibel.15
1.2 Gustave Doré (1832–1883) Seine Tätigkeit als Graphiker und Illustrator machte Doré weit über die Grenzen Frankreichs hinaus berühmt. Daneben war er als Maler und Bildhauer tätig und stellte seine Arbeiten in Pariser Salons aus. Der wahrscheinlich vielseitigste, fruchtbarste und erfolgreichste Buchillustrator der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Autodidakt. 1861 begann er mit Arbeiten zum Inferno aus Dantes Divina Commedia, um Illustrationen im Rahmen seines monumentalen Planes einer illustrierten Bibliothek großer Werke der Weltliteratur zu schaffen. Doré nutzte die technischen Möglichkeiten moderner Buchillustration und -produktion. Sein Plan, Prachtwerke in folio herzustellen
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Bernhard BACH, Hg., Das Bild in der Bibel: Bibelillustrationen von der Reformation bis zur Gegenwart aus evangelischen Archiven und Bibliotheken in Bayern (München: Claudius, 1995), 33. FELDHAUS, Julius Schnorr von Carolsfeld, 12. FELDHAUS, Julius Schnorr von Carolsfeld, 15. MERZ, „Erklärungen zu der Bibel in Bildern“, 1.
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und dabei zugleich vielen Menschen die Möglichkeit zu bieten, sich diese leisten zu können, kann als typisches Phänomen dieser Zeit angesehen werden. Die erste Ausgabe der Doré-Bibel kam 1866 heraus und enthielt neben dem Vorwort des Herausgebers den zweikolumnig gedruckten vollständigen Text der Vulgata.16 Die 228 Illustrationen in Holzstich (118 zum Alten und 110 zum Neuen Testament) finden sich auf gesonderten Seiten. Im gleichen Jahr druckte derselbe Verleger eine zweite Edition mit 230 Holzstichen (119 zum Alten und 111 zum Neuen Testament).17 Für diese Ausgabe wurden rund vierzig Illustrationen der ersten umgearbeitet bzw. weggelassen oder hinzugefügt. Insgesamt schuf Doré für sein Bibelwerk 312 Zeichnungen bzw. Vorzeichnungen, von denen 306 gestochen wurden. Die deutsche Ausgabe griff auf den Luther-Text zurück.18 Der wesentliche Unterschied in der Wirkung des Holzstichs zum Holzschnitt besteht darin, dass der Stich durch die Möglichkeit differenzierter Hell-Dunkel-Abstufungen in der Lage ist, intensive malerische Effekte zu erzielen. Diese Methode nutzte Doré und entwickelte sie zusammen mit seinen Stechern zu höchster Meisterschaft. Seine Bilderbibel ist Bestandteil seiner Unternehmungen zur Schaffung einer Weltbibliothek und erhält damit einen von Schnorrs Bibelwerk deutlich unterschiedenen Stellenwert: Während dessen Schöpfung ein Nationalwerk werden sollte, war Dorés Interesse auf Internationalität ausgerichtet, was auch an seinen weiteren Veröffentlichungen ersichtlich wird. Er arbeitete zu Balzac, Rabelais, La Fontaine, Perrault, Dante, Milton und Cervantes. Sein graphisches Werk umfasst mehr als 10.000 Blätter.19 Doré stellte seine Bibel-Szenen in ein orientalisches Ambiente und versuchte Landschaft, Architektur und, von einigen Ausnahmen abgesehen, auch Figuren der biblischen Erzählungen so malerisch wie möglich wiederzugeben, basierend auf Beschreibungen, Stichen und Zeichnungen von Orientreisenden. Vorläufer dieser milieugetreuen Szenerie sind in der Orientmalerei zu finden, die infolge der napoleonischen Feldzüge insbesondere in Frankreich aufblühte.20 Bildmotive aus Algerien, Marokko, Ägypten und dem Osmanischen Reich mit Straßen und Basaren, Portraits, Kampf-
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La Sainte Bible traduction nouvelle selon la Vulgate par MM. JJ. Bourasse & P. Janvier approuvée par Monseigneur l’archevêque de Tours, dessins de Gustave Doré, ornementation du texte par Giacomelli (Tours: Mame, 1866). Deux volumes in-folio (44 x 32 cm, 909– 948 pp.) reliés demi chagrin bordeaux, dos à nerfs portant titre & tomaison dorés, 119 & 111 gravures hors texte, texte sur 2 colonnes orné en son centre, tête dorée, 2ème tirage. Gustave DORÉ, Doré-Bibel: Auszüge aus dem Alten und Neuen Testament mit 230 Illustrationen von Gustave Doré (München: Parkland, 1995). 1867–1870 folgten deutsche Ausgaben auf Basis der lutherischen Bibelübersetzung und der Vulgataübersetzung Joseph Franz von Alliolis. Vgl. BACH, Das Bild in der Bibel, 34. Vgl. BACH, Das Bild in der Bibel, 34. Vgl. dazu: Gérard-Georges LEMAIRE, Orientalismus: Das Bild des Morgenlandes in der Malerei (Köln: Könemann, 2000).
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szenen mit Tieren sowie Motive aus dem Harem fanden reißenden Absatz.21 Dorés Wiedergabe des orientalischen Lokalkolorits steht im Gegensatz zu jener Schnorrs, dessen Szenerien bis auf wenige Ausnahmen klassizistisch bzw. romantisch-italienisch gestaltet sind. Licht und Schatten setzt Doré als plakative Gestaltungsmittel ein. Dramatische Effekte im Sinne einer Bühnenkonzeption gehören ebenso wie Sentimentalität zur Zeiterscheinung der bildenden Kunst. Doré, ein leidenschaftlicher Theaterliebhaber, verwendet sie für seine Zwecke auch in der Graphik, diese vor allem dann, wenn innere seelische Befindlichkeiten oder äußere Erregungen der AkteurInnen enthüllt werden sollen.22 Von seinen ZeitgenossInnen als „Genie der Zeichenkunst“ bestaunt, geriet Doré nach seinem Tod zunächst allerdings bald in Vergessenheit.23 1.3 Zur Auswahl der Bildszenen Das Alte Testament mit seinem teilweise breiten Erzählstil bietet mehr Material zu Frauen als das Neue Testament.24 Die neutestamentlichen Frauenfiguren finden sich zwar teilweise an entscheidenden Punkten der neutestamentlichen Erzählungen, ihre Lebenskontexte sind jedoch weniger ausführlich beschrieben, als dies etwa bei einer Judit oder einer Delila im Alten Testament der Fall ist. So verwundert es nicht, dass die Illustratoren des 19. Jahrhunderts vorwiegend Frauen des Alten Testaments in ihren Zyklen darstellten und dass insgesamt die alttestamentlichen Bildthemen wegen der stofflichen Fülle der Überlieferung überwiegen. Bei Schnorr von Carolsfeld und Doré werden Frauen besonders in Volksszenen in den Bildvordergrund gestellt, auch wenn die textliche Vorlage keinen Hinweis auf sie enthält. Dafür fehlen bezeichnenderweise einerseits Frauen, die politisch und öffentlich wirksam wurden, wie etwa Mirjam (Ex 15), die Frau aus Tekoa (2 Sam 14), die Frau aus Abel-Bet-Maacha (2 Sam 20) und Hulda (2 Kön 22), andererseits aber auch Tamar (2 Sam 13) oder Dina (Gen 34), die vergewaltigt wurden. Doré widmet der vergewaltigten Nebenfrau des Leviten (Ri 19) allerdings zwei Bilder, in denen der leblose Frauenkörper auf das Geschehen verweist.25
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1856 erschien das von Doré illustrierte Werk: Benjamin GASTINEAU, La France en Afrique et l’Orient à Paris: Voyage, Colonisation, Exposition: Egypte, Inde, Chine, Grêce, Turquie (Illustré Gustave Doré; Paris: 1856). Herwig GURATZSCH und Gerd UNVERFEHRT, Hg., Ausstellungskatalog: Gustave Doré (1832–1883): Illustrator – Maler – Bildhauer: Beiträge zu seinem Werk 1 (Die bibliophilen Taschenbücher 348; 2 Bde; Dortmund: Harenberg, 1982), 45. Vgl. Gotthard BRANDLER, Hg., Gustave Doré (Klassiker der Karikatur 26; Berlin: Eulenspiegel, 1988), 101. Vgl. LÜTZE, Ausstellungskatalog: Bibel-Illustrationen, 17. Nur Doré setzt die Geschichte um die Vergewaltigung der Nebenfrau des Leviten ins Bild, wobei er die erste Szene, in der der Levit die leblose Frau am Morgen vor dem Haus vorfindet, auswählt (Die Frau des Leviten Efraim. Richter 19, 18–27). Die zweite Darstellung zeigt die reglose Frau auf den Esel gebunden, noch bevor der geschundene Körper durch
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Von Bedeutung ist ferner, welche Textvorlagen von den Künstlern genommen wurden bzw. wie viele Szenen einer Erzählung zur Darstellung kommen. Während Doré aus den Schöpfungstexten nur drei Bilder auswählt (Es werde Licht! Genesis 1, 1–18, Die Erschaffung Evas. Genesis 2, 15–25, Die Vertreibung aus dem Paradies. Genesis 3, 9–24), widmet Schnorr jedem der sieben Tage aus Gen 1 ein eigenes Bild, lässt Gen 2 in der Darstellung außen vor und stellt aus Gen 3, der Sündenfalls- und Vertreibungsgeschichte, vier Szenen dar. Der Frage, ob die Auswahl der Bilder ein katholisches (Doré) oder evangelisches (Schnorr von Carolsfeld) Programm widerspiegelt, lässt sich in diesem Zusammenhang nicht nachgehen. Bei einem solchen Untersuchungsschritt müsste danach gefragt werden, inwieweit der für den Druck zugrunde gelegte Bibeltext – Vulgata einerseits und Lutherübersetzung andererseits – auf eine konfessionelle Bindung der Künstler hindeutet oder ob hier Verkaufsstrategien eine Rolle spielten. Im Folgenden sollen exemplarisch ausgewählte Bilderthemen besprochen werden, die Frauen als zentrale Figuren in Szene setzen.26 Zudem richtet sich das Augenmerk auf sogenannte Massenszenen, da in diesen Geschlechterstereotypen besonders deutlich zu Tage treten. Die Darstellungen Schnorrs und Dorés sollen dahingehend untersucht werden, ob und inwiefern sich aus ihnen Rückschlüsse auf Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen des 19. Jahrhunderts ziehen lassen.
2. Frauen in den Bibelillustrationen Dorés und Schnorr von Carolsfelds 2.1 Die Erschaffung von Mann und Frau Schnorr von Carolsfeld wählt die Erschaffung von Mann und Frau (Der sechste Schöpfungstag. I Mose. Cap. 1. v. 26.)27 als Thema seines sechsten Holzschnittes (Abb. 1). Er bezieht sich dabei auf den ersten Schöpfungsbericht, der den Menschen als männlich und weiblich sowie als Ebenbild Gottes beschreibt. Gott als imposante männliche Gestalt bildet die zentrale Figur in der Mitte des Blattes; links stehen in aufmerksamer Haltung Adam und Eva, rechts versinnbildlichen die am selben Tag geschaffenen Landtiere, u. a. Stier, Löwe, Elefant, Pferd und Schlange, symbolisch die Welt, die Gott den Menschen als Lebensraum übergibt. Mann und Frau sind nackt, die Scham Adams ist mit Laub, jene Evas mit ihrem langen Haar bedeckt. Während Eva die Hände vor der Brust gekreuzt hält, ohne diese vollständig verbergen zu können, wird Adam aufmerksam und mit andächtig gefalteten Händen abgebildet; der Mann wird mit Frömmigkeit in Verbindung gebracht, die Frau mit Keuschheit. Mit seiner Rechten
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ihren Mann in Stücke geteilt wird (Efraim führt seine Frau fort. Richter 19, 28–30). Auf die Darstellung der Gewaltexzesse verzichten beide Künstler. Die Reihenfolge der hier vorgestellten Bilder folgt der Anordnung der beiden Bibelausgaben. Alle Bildtitel und Bibelzitate zur Bibel von Schnorr von Carolsfeld stammen aus der Ausgabe: Julius SCHNORR VON CAROLSFELD, Die Bibel in Bildern (Zürich: Flamberg, 1972).
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unterstreicht Gott den Auftrag an die Menschheit, sich die Erde untertan zu machen, seine Linke hingegen verweist auf die Tiere, die nicht in perspektivischer Genauigkeit, sondern in irritierender Staffelung nach oben gezeigt werden. Die Darstellung erinnert vor allem durch die Gestalt Gottes an Raffaels Die Erschaffung der Tiere. Schnorr lässt Mann und Frau einträchtig nebeneinander stehen, ohne einen Hinweis auf eine Hierarchie der Geschlechter zu geben. Die Zuordnung der Geschlechtscharaktere als fromm für den ersten Mann einerseits und als keusch für die erste Frau andererseits muss nicht zwangsläufig als Verhältnis einer Über- oder Unterordnung gedacht werden. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass es sich um die Abbildung paradiesischer Zustände vor dem Sündenfall handelt.
Abb. 1: Schnorr, Der sechste Schöpfungstag
Abb. 2: Doré, Die Erschaffung Evas
Doré setzt die Erschaffung des Menschen aus Gen 1 nicht ins Bild, wohl aber bemerkenswerterweise die von Gen 2 (Die Erschaffung Evas. Genesis 2, 15–25).28 Nach der textlichen Überlieferung wurde Eva von Gott aus der Seite Adams erschaffen. Die mit üppigen weiblichen Formen ausgestattete Frau steht in leicht zur Seite geneigter Haltung aufrecht (Abb. 2). Während mit Blättern die Scham des ersten Menschenpaares angedeutet wird, sind ihre Körper gut geformte, plastisch wahrnehmbare, durch HellDunkel-Arbeit modulierte, den BeobachterInnen bewusst präsentierte Akte. Adam im Vordergrund wird als jugendlich-vitaler Bacchant dargestellt, der erschöpft in den Schlaf gesunken zu sein scheint und dabei entspannt seine Glieder von sich streckt. In der Gestalt der Eva dürfte Doré auf das Motiv der Galatea von Raffael verweisen. Sie wird von ihm als weiblich-weiche Gestalt mit langen offenen Haaren charakterisiert
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Alle Bildtitel und Bibelzitate zur Bibel von Doré stammen aus der Ausgabe: Gustave DORÉ, Doré-Bibel: Auszüge aus dem Alten und Neuen Testament mit 230 Illustrationen von Gustave Doré (München: Parkland, 1995).
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und scheint sich ihrer Schönheit und Erotik nicht bewusst, vielmehr blickt sie prüfend auf den nackten Mann, ihren zukünftigen Gefährten, zu ihren Füßen nieder. Die Szenen, die Adam und Eva im Paradies zeigen, gehören bei Bibelillustrationen zu den wenigen Möglichkeiten, den menschlichen Körper nackt darzustellen. Diese waren trotz leibfeindlicher Tendenzen der Kirchen fixer Bestandteil der Bildmotive, auch wenn die nach damaligen Maßstäben als anstößig geltenden Körperteile durch Zuhilfenahme von Händen, Blättern und Haaren so weit wie möglich verdeckt wurden. Die Figur des Schöpfergottes im Hintergrund, dessen Haupt von einem transparenten Strahlenkranz umhüllt wird, wurde von Doré mit erhobener rechter Hand abgebildet, um damit einen Hinweis auf seine Tatkraft zu geben, die durch die Erschaffung der Frau ihren Ausdruck gefunden hat. Keines der beiden Geschlechter, symbolisiert durch Adam und Eva, ist mit spezifischen Unterscheidungsmerkmalen wie bei Schnorr ausgestattet. Beide sind schöne, junge, nackte Menschen. 2.2 Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies Schnorr von Carolsfeld schuf zu dieser Thematik insgesamt vier Bilder. Im Blatt Der Sündenfall. I Mose. Cap. 3. v. 6. reicht die aufrecht dargestellte Eva dem am Baumstamm sitzenden Adam einen Apfel (Abb. 3). Der Künstler betont den aktiven Part der Frau am fatalen Ereignis dadurch, dass er sie in einer Schrittstellung zeigt. Adam, der mit überkreuzten Beinen am Fuße des Baumes lehnt, ist sich der Gefahr, die von der Schlange ausgeht, offenbar nicht bewusst. Scheinbar ahnungslos greift er nach der ihm gereichten verlockenden Frucht. Wiewohl nackt, bildet nicht die erotische Ausstrahlung ihrer Körper das Bildsujet; die größte Verführung wird durch die Arme Evas, die
Abb. 3: Schnorr, Der Sündenfall
Abb. 4: Doré, Die Vertreibung aus dem Paradies
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mit der Linken an den Baum rührt (vgl. Gen 3,3) und mit der Rechten die gepflückte Frucht weitergibt, suggeriert. Nur der Blick Evas, der bedeutungsvoll auf den Apfel gerichtet ist, gibt einen Hinweis auf das bewusste Agieren der Frau, angetrieben durch die Schlange: Sie ist es, die den ahnungslosen Mann zur Sünde verführt. Er sieht die Schlange nicht, die sich zwischen ihm und der Frau am Baum hochwindet und ihren Kopf züngelnd Eva entgegenstreckt, welche, dem Bibeltext entsprechend, nicht nur aktiver als Adam, sondern auch als neugierig, wissbegierig und aufmerksam interpretiert ist. Doré wählt als einziges Bildthema aus diesem Erzählpassus der Urgeschichte Die Vertreibung aus dem Paradies. Genesis 3, 9–24. Das Menschenpaar ist zwar in den Bildvordergrund gerückt, die beherrschende Gestalt der Komposition bildet jedoch der Engel im Hintergrund (Abb. 4). Auf ihn fallen grelle Lichtstrahlen, alles Übrige ist in bedrohliches Dunkel getaucht. Die Flügel unterstreichen die hohe schmale Gestalt, die in ein fließendes Gewand gehüllt ist. Die erhobene Hand und das Schwert betonen den hoheitsvollen Gestus. Der Mann und die Frau haben sich dieser herrscherlichen Weisung ergeben, sie verlassen den hell erleuchteten Garten des Hintergrundes und schreiten einer wilden, dunklen Natur zu. Der das Paradies verlassende Adam, der noch einmal zurückschaut, bietet einer sich Hilfe suchend an seine Schulter kauernden Eva seinen Schutz an. Er wirkt trotz des Ausschreitens gebeugt und verängstigt. Angesichts der Gewalt, die von dem Engel und der Natur ausgeht, werden die Menschen zu unterwürfigen Kreaturen, die aufeinander angewiesen sind. Trotz der Unterschiedlichkeit in ihrer Körperhaltung sind Mann und Frau darin verbunden, dass sie beide dasselbe Schicksal zu ertragen haben: Sie müssen der göttlichen Anordnung folgen. Evas Rolle wandelt sich bei beiden Künstlern von einer selbstbewussten Schönheit zu einer anlehnungsbedürftigen Frau, die die beherrschende und schützende Funktion des Mannes (vgl. Gen 3,16) offenkundig akzeptiert hat. 2.3 Mütter Israels – Rahel und Lea Schnorr wie Doré stellen die Begegnung Rahels mit Jakob am Brunnen dar. Bei Doré (Jakob bei Laban. Genesis 29, 4–19) ist Rahel im Bildvordergrund die dominierende Figur mit einem Krug auf der Schulter allein am Brunnen (Abb. 5). Ihre Herde hat sich bereits um den im Hintergrund sitzenden Jakob geschart. Beide scheinen weit voneinander entfernt zu sein: Sein Blick ist ihr zugewendet, sie jedoch steht sehr aufrecht und wirkt in sich gekehrt, als ob es den Mann im Hintergrund nicht gebe. Hier wird nicht die Begegnung der beiden inszeniert, sondern eher ein Moment des Zögerns. Dem Genesistext nach hilft Jakob der Frau dabei, die Schafe zu tränken. Doré nutzt diese Erzählung dazu, eine orientalische Schönheit markant im Vordergrund zu platzieren. Was den dargestellten Mann und die Frau miteinander verbindet, bleibt offen. Schnorr von Carolsfeld thematisiert vor allem die Rivalität der beiden Schwestern Lea und Rahel. Bereits in der Brunnenszene (Jacob und Rahel am Brunnen. I Mose. Cap. 29. v. 10–12.), in der im Vordergrund Rahel stürmisch von Jakob umarmt wird, steht im Hintergrund die düstere Gestalt der Schwester, auf das Paar starrend. In der
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Brautwerbungsszenerie Jakob wirbt um Rahel. I Mose. Cap. 29. v. 18. 19. werden neben den beiden verhandelnden Männern Jakob und Laban beide Schwestern ins Bild gesetzt und nicht nur die erwünschte Braut Rahel. Auch in den zwei Massenszenen, in denen Schnorr Gen 33 zusammenfasst, treten die beiden Frauen als Paar auf. In der Fluchtszene Jacobs Flucht. I Mose. Cap. 31. v. 17. 18. reiten sie – ihre Kleinkinder an die Brust gedrückt – auf demselben Kamel, während ihre Sklavinnen zu Fuß nebenher gehen. In der Versöhnungsszene Esau versöhnet sich mit Jakob. I Mose. Cap. 33. v. 3. 4. werfen sich die beiden Mägde mit ihren Kindern in der ersten Reihe nieder, Lea und Rahel stehen dahinter. Doré setzt nur das zweite dieser Ereignisse ins Bild, wobei alle Frauen mit ihren Kindern das sich Abb. 5: Doré, Jakob bei Laban umarmende Brüderpaar umringen: Jakobs Versöhnung mit Esau. Genesis 33, 1–14. Diese Massenszenen stereotypisieren Frauen mit ihren Kindern als schutzbedürftige, aber fürsorgende Mütter. 2.4 Josef und die Frau des Potifar Die Szene Josephs Keuschheit und der Potiphar Untreue. I Mose. Cap. 39. v. 9. findet sich nur bei Schnorr von Carolsfeld. Im ägyptisierenden Ambiente mit Säulenkapitellen, Pyramiden und Palmen entfaltet der Künstler eine dramatisch bewegte Verführungsszene. So richtet sich entlang der aufsteigenden Diagonale die Frau von ihrem Lager auf, die nackten Arme greifen nach dem flüchtenden Jüngling. Ihr Rücken ist entblößt, ein weites Tuch hüllt den weiblichen Körper ein. Sie versucht, den jungen Mann an seinem Obergewand zu packen. Josef flieht mit abwehrend erhobenen Armen und energischem Schritt einer Öffnung entgegen, durch die er den Raum verlassen kann. Sein Gesicht ist zum Ausgang gewendet, die Versuchung in Gestalt der Frau ist nicht in der Lage, ihn zu halten. Das Gesicht Josefs liegt im Schatten, ihres wird vom Licht akzentuiert. Der Frauenkörper stellt den Inbegriff von Begierde dar, der Mann scheint sich von ihr in keiner Weise ansprechen zu lassen. Gemäß der Textvorlage versucht die verheiratete Frau, den jungen Mann zu verführen. Josef, der hebräische Diener im Hause des hohen ägyptischen Beamten, wertet die Treue gegenüber seinem Herrn höher als einen sexuellen Kontakt, zu dem er zunächst eingeladen, dann jedoch gedrängt wird. Nicht die Frau dient hier als Symbol der Keuschheit, sondern der Mann.
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2.5 Die Auffindung des Mose Diese Szene findet sich bei beiden Illustratoren. Schnorr von Carolsfelds Bild Die Findung Mosis. II Mose. Cap. 2. v. 5. 6. ist im Schilfgürtel des Nils angesetzt (Abb. 6). Eine Musikantinnengruppe begleitet die im Zentrum stehende, leicht zum Fluss gebeugte Tochter des Pharao. Hinter ihr hält eine Dienerin einen papyrusblütenförmigen Fächer als Zeichen ihrer Macht, während im Vordergrund eine kniende Frau ihr den Knaben im Schilfkörbchen entgegenreicht. Im Hintergrund steht im Schatten einer Palme die Schwester des Mose als Beobachterin. Schnorr zeigt dem Bibeltext gemäß eine Frauengruppe, wobei sich alle mütterliche Empathie auf das männliche Kind richtet. Der Versuch, ägyptisches Flair zu gestalten, ist nur mäßig gelungen; allein Stirnund Halsreifen sowie das Papyrus- und Palmmotiv geben Hinweise auf den Ort der Handlung.
Abb. 6: Schnorr, Die Findung Mosis
Abb. 7: Doré, Moses’ wunderbare Errettung
Doré stellt Mose im Binsenkörbchen zweimal dar: zum einen als Kleinkind, das in einer kunstvoll geschwungenen Gondel zwischen schwankenden Schilfrohren auf dem vom Mond beschienenen Nil treibt, beschützt von vier Schutzengeln (Moses auf dem Nil. Exodus 1, 8–22 und 2, 1–3). Die im Bibeltext erwähnten Frauen lässt er erst in der zweiten Darstellung auftreten (Abb. 7). Bei ihm wird die Tochter des Pharao als würdevolle Prinzessin, gerahmt von zwei Dienerinnen mit Straußenfächern, gezeigt (Moses’ wunderbare Errettung. Exodus 2, 4–9). Während er den Hintergrund im südlichen Licht verschwimmen lässt, werden die Prinzessin und ihre Begleitung scharf umrissen. Dieses Blatt ist ein besonders gutes Beispiel für die Orientbegeisterung des 19. Jahrhunderts, die in der Ägyptomanie einen stilistischen Höhepunkt fand. Dorés Beschäftigung mit den Kulturen des Mittelmeerraumes wird etwa in der Wiedergabe der Tücher und in Elementen des Kopfschmuckes deutlich. Gemächlich schaukelt das Körbchen
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mit dem rundlichen Knaben auf den Wellen, das eine Dienerin auf Geheiß der Prinzessin ans Ufer holt. Beide Darstellungen bedienen klassische Klischees, die im 19. Jahrhundert weithin die Realität der Geschlechterrollen widerspiegeln: Frauen sind für die Versorgung und Erziehung der Kinder zuständig, in vielen Bereichen kommen dabei Männer nicht vor. 2.6 Debora Die große Prophetin und Richterin greift Schnorr von Carolsfeld nicht auf.29 Seine Auswahl zeigt, dass unabhängige Frauen in politischer Führungsposition für ihn offenbar als nicht darstellbar galten, da sie dem zu vermittelnden Frauenbild widersprachen. Im 19. Jahrhundert gab es einige Frauen in politischen Führungsrollen, diese stellten allerdings eine Minderheit dar. Europäische Königinnen und Kaiserinnen agierten – abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen – nicht in analoger Weise selbstständig, wie dies Debora zugeschrieben wird. Sie waren vielmehr eingebunden in strukturierte Herrschaftsgefüge, die ihnen Grenzen setzten. Zu der Vielfalt der Ämter Deboras bestand kein Pendant, in den großen Kirchen konnten Frauen keine Führungspositionen einnehmen. Ein Modell der Verbindung von religiöser und politischer Macht, verkörpert in einer weiblichen Führungsgestalt, dürfte Schnorr nicht vorgelegen haben, so dass er eventuell deswegen die in der Überlieferung so bedeutsame Figur Deboras nicht für seine Bibelillustration heranzog. Anders hingegen ist dies bei Doré mit Deboras Siegeslied. Richter 5, 1–13 der Fall. Auf den Stufen eines repräsentativen Gebäudes wird Debora ins Zentrum gerückt (Abb. 8). In beinahe ekstatischer Gestik hat sie sich von den Stufen erhoben und scheint gerade die Mitteilung des Sieges in Versen weiterzugeben. Sie beherrscht das Blatt und auch die um sie angeordneten Personen. Links und rechts, in gehörigem Abstand gesäumt von männlichen dunklen Gestalten, singt sie – die linke Hand zur Brust gelegt, die Abb. 8: Doré, Deboras Siegeslied rechte nach oben weisend – ihr Siegeslied. Bei der einzig helleren Gestalt unter den Männern, die auf derselben Stufe steht wie sie, handelt es sich offenkundig um 29
Siehe dazu den Beitrag von Christiana de Groot in diesem Band.
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Barak. Ihm wird durch die Dramatik der weiblichen Figur jegliche Aktivität genommen. Eine Hand auf die Stufe, die andere in die Hüfte gestützt, scheint er dem Lied der Prophetin zu lauschen. Doré betont die rechte hoch ausgestreckte Hand und überhöht damit die Gestalt Deboras. Sie steht da als prophetische Verkündigerin, der alle lauschen. 2.7 Jiftachs Tochter Jiftachs Tochter wird bei Schnorr von Carolsfeld durch die Heimkehr des Vaters thematisiert: Jephthah und seine Tochter. Buch der Richter. Cap. 11. v. 35. Das Bild ist zweigeteilt, im Zentrum und Bildvordergrund befindet sich der geharnischte Jiftach auf seinem Ross, um ihn die siegreichen Krieger. Die linke Hälfte des Bildes gehört der Zivilbevölkerung: Greise, Frauen mit Säuglingen und kleinen Kindern kommen aus der Stadt heraus, allen voran die im Vordergrund auf der obersten Stufe einer Treppe stehende Tochter des Jiftach. Sie schlägt die Handtrommel zur Begrüßung des ruhmreichen Heeres und scheint sich dabei im Tanz zu drehen. Jiftach wendet entsetzt sein beschattetes Gesicht ab und hält die Hand abwehrend gegen das Reigenlied seiner Tochter. Er hat gelobt, im Falle eines Sieges das Erste, das ihm aus der Stadt entgegenkommt, zu opfern. Mit Entsetzen muss er feststellen, dass es sich dabei um seine eigene Tochter handelt. Die blumenbekränzte junge Frau hingegen strahlt den Vater mit naiver Freude an und ahnt nicht, dass ihr Schicksal bereits besiegelt ist. Doré gestaltet eine Szene, geprägt von vitaler Weiblichkeit und freudiger Erwartung (Abb. 9). Im Zentrum des Blattes auf den sich kreuzenden Diagonalen erscheint Jiftachs Tochter, die ihrem Vater entgegen tanzt (Jiftachs Tochter geht ihrem Vater entgegen. Richter 11, 29–36). Im Hintergrund spielen fünf Frauen auf verschiedenen Musikinstrumenten. Die Haltungen der jungen Frauen erinnern an orientalische Tanzposen, ihre Kleidung fällt locker um ihre Körper, die bloßen Füße scheinen den Boden kaum zu berühren. Alle Arme sind im Jubel erhoben. Doré konzentriert sich auf den Empfang des siegreichen Heeres durch die Frauen des eigenen Volkes. Diese repräsentieren die öffentliche Meinung, indem sie die heimkehrenden Krieger und damit auch die den Sieg verAbb. 9: Doré, Jiftachs Tochter leihende Gottheit besingen.
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Die BetrachterInnen finden sich in der Position der Männer wieder, denen die Frauen entgegeneilen. Das zweite Bild Dorés zum Themenkomplex Jiftachs Tochter mit ihren Freundinnen. Richter 11, 37–40 zeigt die junge Frau mit sieben Gefährtinnen trauernd auf einer Bergkuppe sitzen. Sie beweinen den bevorstehenden Tod ihrer Freundin, die durch das Gelübde des Vaters ihr Leben lassen muss. Beide Blätter setzen sich mit großen Gefühlen von überwältigender Freude bis zu niederschmetterndem Schmerz auseinander. Die männlichen Verursacher der Freude wie der Katastrophe bleiben außen vor. Jiftachs Tochter ist nicht das einzige Kinderopfer, das im Alten Testament thematisiert wird. Bei Abraham greift allerdings ein von Gott gesandter Engel ein und verhindert die Tötung des Knaben genau in dem Moment, als er seinen Sohn Isaak opfern will (Gen 22). 2.8 Simson und Delila Zu den am häufigsten künstlerisch interpretierten Episoden des Alten Testaments gehört diejenige von Simson und Delila (Ri 16,15–22). Der große starke Held, der durch List und Tücke einer schönen Frau übertölpelt und gefangen wird, hat von jeher die Phantasie der MalerInnen beflügelt. Schnorr von Carolsfeld zeigt nicht den Moment der erotischen Versuchung, sondern in seinem Blatt Simsons Fall. Buch der Richter. Cap. 16. v. 21. hat die Verführerin Simson bereits das Haar abgeschnitten, ihn somit seiner Kräfte beraubt und ihn damit quasi kastriert (Abb. 10). Die Frauenfigur wird triumphierend dargestellt mit erhobener Hand, die Locken und Schere hält, die Brust zur Hälfte entblößt, mit der anderen Hand den Bettvorhang zurückschlagend. Der aus dem Bett gezerrte Held wird im Gerangel mit seinen Überwindern gezeigt. Beine und Kopf sind beAbb. 10: Schnorr, Simsons Fall reits in den Stricken der Philister gefangen. Es braucht aber noch vier Männer, um den Mann, der durch Betrug seine Kraft verloren hat, festzuhalten. Im Hintergrund warten zwei Männer, einer mit Ketten, der andere mit einem Dolch, um die Gefangennahme zu gewährleisten. Das hier zum Ausdruck kommende Verständnis des Geschlechterverhältnisses ist bezeichnend: Die Kraft und Stärke eines Mannes ist nicht unverletzbar, sie kann gebrochen werden, wenn er naiv der sexuellen Versuchung erliegt. Delila konnte ihren hinterlistigen Plan zur Durchführung bringen, weil sie typisch weibliche Mittel einsetzte, diese aber mit anderen Absichten verband, die für den Mann nicht erkennbar waren.
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Ganz anders nimmt sich Doré des Themas in seinem Blatt Simson und Delila. Richter 16, 4–5 und 15–22 an. Naiv und scheinbar geehrt durch ihre Aufmerksamkeit verrät der sich für unbesiegbar haltende Simson der ihm gebannt lauschenden Delila das Geheimnis seiner Stärke (Abb. 11). Im prunkvoll geschmückten palastartigen Raum versucht die prächtig gekleidete Delila mit schmollendem Mund und niedergeschlagenen Augen, die nichts von ihren wahren Gedanken preisgeben, Simson zu übertölpeln. Seine Augen richten sich begehrend auf die durch die edlen Gewänder verhüllte Brust der Frau. Sein Blick wird verstärkt durch den Lichtstrahl, der durch das Fenster in den Raum fällt. Dem vor Kraft strotzenden, nichts ahnenden Mann wird eine starke, sich schwach Abb. 11: Doré, Simson und Delila gebende Frau gegenüber gestellt. Die mitschwingenden Geschlechterstereotypen verkehren sich in ihr Gegenteil: Die körperliche Stärke des Mannes bietet keinen Schutz, wenn er der sexuellen Verführung durch eine ihn arglistig täuschende Frau erliegt. Die intelligent eingesetzten körperlichen Reize der Frau erreichen ihr Ziel. In diesem Fall erhalten sie eine positive Bewertung, da sie dem übergeordneten Ziel, dem Sieg des Volkes Israel über seine Feinde, dienen. 2.9 König Saul und die Totenbeschwörerin Während sich z. B. in Lev 19,31; Lev 20,6 und Dtn 18,1 Anordnungen für die Israeliten finden, keine Geister- und Totenbeschwörungen durchzuführen, wird über König Saul berichtet, dass er dieses Gebot übertritt. Saul bekommt angesichts eines bevorstehenden Angriffes der Philister Angst, er ist sich seines Sieges nicht mehr sicher. In dieser Situation greift er zu einem Mittel, das er selbst seinem Volk untersagt hat (1 Sam 28,3.9): die Befragung von Toten. Samuel, der große Prophet und Richter, der im Namen Gottes den Israeliten Anordnungen gegeben hat, war verstorben. Saul, dem es nicht gelungen war, von Gott eine Reaktion auf seine Bitten um den Sieg über die Philister zu erhalten, erhofft nun von Samuel die nötige Hilfe. Die Vermittlerrolle hierbei kann nur die Totenbeschwörerin übernehmen; der um seine Position bangende Herrscher bedient sich einer Frau mit übernatürlichen Fähigkeiten, die ihm trotz aller Machtfülle nicht zu Gebote stehen. In Schnorrs Blatt Saul bei der Wahrsagerin zu Endor. I Samuelis. Cap. 28. v. 16. 17. hat die Beschwörung Samuels bereits stattgefunden (Abb. 12). Umhüllt von Feuer erscheint dessen Geist mit erhobener rechter Hand in der linken Bildseite, um Sauls kommenden Untergang zu bestätigen. Dieser liegt im Vordergrund, den Kopf in den Nacken gelegt, und führt, von den Worten Samuels zutiefst getroffen, die
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rechte Hand in Richtung des Herzens. Hinter ihm, mit Entsetzen in den Zügen und nach rechts gewendet, ist die Frau von Endor, die für den König die Beschwörung durchgeführt hat, zu sehen. Ihr langes, offenes Haar ist von einem Tuch verdeckt, die Gesichtszüge wirken männlich-herb, genauso ihre muskulösen Arme. An der Wand, gleichsam als Symbol für ihre magischen Künste, lehnt ein menschliches Skelett, aus dessen Brustkorb eine Schlange herauskommt und sich züngelnd in Richtung Samuel bewegt.
Abb. 12: Schnorr, Saul bei der Wahrsagerin zu Endor
Abb. 13: Doré, Saul und die Totenbeschwörerin
Noch dramatischer hat Doré diesen Text in seinem Holzstich Saul und die Totenbeschwörerin. 1 Samuel 28, 9–20 umgesetzt (Abb. 13). Im Freien, vor einem dunkel drohenden Himmel, der nur rechts oben aufgehellt ist, stehen links auf einer kleinen Anhöhe Samuel und die Frau von Endor, während rechts Saul mit seinen Männern wartet. Auch Doré lässt den König zu Boden sinken, allerdings wird er von seinen Begleitern gestützt, so dass er in einer halb liegenden Position zu sehen ist. Samuel, ganz links, hat die rechte Hand drohend über seinen Kopf gehoben, er erscheint als Gewandfigur, ebenso wie die Frau von Endor, die mit ihrer linken Hand auf Samuel weist. Sie ist als Rückenfigur ausgeführt, ihr langes wallendes Gewand fällt in großen Falten zu Boden. Das im Verhältnis zur Körpergröße eher kleine Köpfchen mit geknotetem Haar ist Saul zugewandt. Anders als bei Schnorr, der seine Frau von Endor mit ihren markanten Gesichtszügen eher in der Tradition einer Hexe zeigt, scheint es sich bei Doré um eine jugendliche Person zu handeln, die als aufrechte Gestalt auftritt. Doré gibt einen Hinweis auf die Beschwörung, die soeben stattgefunden hat: Unterhalb der Erhebung, auf der die Frau steht, findet sich ein Kessel, neben dem sich zwei Schlangen ringeln.
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2.10 Die Königin von Saba Schnorr wie Doré haben sich der Darstellung der Königin von Saba angenommen. Schnorr stellt den Löwen-Thron Salomos zentral in sein Bild: Die Königin aus Arabien huldiget Salomo. I Buch v. d. Königen. Cap. 10. v. 6. 7. 10. Vor diesem Thron, zu seiner Linken, sitzt die Königin aus Arabien mit ausgebreiteten Armen, die auf die Kostbarkeiten verweisen, die ihre Dienerinnen und Diener herbei tragen. Gold, Edelsteine und die edelsten Gewürze interessieren den König nicht, seine ganze Aufmerksamkeit gilt der schönen jungen Frau. Das Bild Salomon empfängt die Königin von Saba. 1 Könige 10, 1–9 ist eines der am aufwändigsten gestalteten Blätter der Doré-Bibel (Abb. 14). Über eine Treppe schreitet die Königin auf Salomo zu, das ihr folgende Gesinde trägt die Gastgeschenke. Der Raum, in dem das Treffen stattfindet, ist mit prächtigem Dekor versehen, Tier- und Pflanzenmotive wechseln mit unterschiedlichen Ornamenten. Wiewohl Salomo von erhöhter Position auf die Königin herabblickt, sind es ihre hoheitsvolle Haltung und die edle Gestalt, die das Blatt dominieren. Während Schnorr ein privates Zusammensein einfängt, bei dem die DienerInnen nicht von Belang sind, lässt Doré die Begegnung vor zahlreichen Menschen stattfinden. Sie bilden den Rahmen für den Dialog zweier Menschen, die die gleiche Würde Abb. 14: Doré, Salomon empfängt beanspruchen dürfen. Salomo ist allerdie Königin von Saba dings derjenige, der frontal dargestellt wird und oben an einer Treppe verharrt. Die Königin von Saba hingegen, deren Gesicht nicht zu sehen ist, scheint im Begriff zu sein, zu ihm emporzuschreiten. 2.11 Judit und Holofernes Die schöne und reiche Witwe Judit bricht auf, um ihr Volk zu retten, während die Männer ihres Dorfes vor der Bedrohung durch den nahenden Feind, den assyrischen Feldherrn Holofernes und sein Heer, verzagen. Schnorr von Carolsfeld hält in seiner Bibelausgabe den Augenblick nach der Tötung des Holofernes durch Judit fest: Judith enthauptet den Holofernes. Buch Judith. Cap. 13. v. 9. 10. Widerwillig blickt die junge Frau auf den kopflosen Leichnam zurück, ihre Beute hält sie am Schopf gefasst
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(Abb. 15). Das gemeinsame erfolgreiche Agieren der beiden Frauen, Herrin und Dienerin, wird im zweiten Juditblatt verdeutlicht: Judith kehrt unversehrt zu ihrem Volk zurück. Buch Judith. Cap. 13. v. 11. 12. Die Frauen – die eine mit dem erhobenen Schwert in der Hand, die andere das Haupt des Holofernes in einem Sack tragend, wobei die Züge des Mannes sich durch den dünnen Stoff drücken –, gehen nach Betulia zurück, wo sie von den sich feige hinter der Mauer verschanzt haltenden Männern empfangen werden. Schnorr soll für die Figur der Judit das Foto einer Opernsängerin als Vorlage verwendet haben.30 Er stellt damit unter Beweis, dass er über die Bewunderung Raffaels und Michelangelos hinaus die technischen Möglichkeiten seiner Zeit zu nutzen wusste, indem er nicht mit lebendigen Modellen arbeitete, sondern sich des neuen Mediums der Fotografie bediente. Auch bei Gustave Dorés Bild Judit und Holofernes. Judit 13, 2–10 ist die Tötung
Abb. 15: Schnorr, Judit enthauptet den Holofernes
Abb. 16: Doré, Judit zeigt das Haupt des Holofernes
schon vollzogen. Mit zum Himmel gerichteten Augen, die an Darstellungen Guido Renis erinnern, fasst die siegreiche Judit den Kopf des Holofernes. Im Gegensatz zur Auffassung Schnorrs dominiert sie allein die Szene, keine Dienerin ist als helfende Figur beigegeben. Diese erscheint erst auf dem zweiten Blatt Dorés zur Judit-Erzählung: Judit zeigt das Haupt des Holofernes. Judit 13, 11–20. Hier kauert neben der triumphierenden Heroine eine zweite weibliche Gestalt bescheiden am Boden (Abb. 16). Doré zeigt Judit in einer fast tänzerischen Pose, sie hat offenbar die Kleidung gewechselt, ihr verführerisches Kostüm rückt sie ikonographisch in die Nähe Salomes, dabei zeigt sie den Kopf des Holofernes als Trophäe einer in den Hintergrund gerückten Schar von Männern.
30
Vgl. FUCHS, Bibelillustrationen, 196.
Frauen in Bibelillustrationen
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2.12 Susanna Wie Batseba (2 Sam 11,2) verkörpert Susanna (Dan 13) den Typ der heimlich beobachteten Schönheit, die von zwei alten Männern unschuldig verleumdet wird. Schnorr schildert die Szene ganz traditionell (Susanna und die zween Aeltesten. Historie von der Susanna und Daniel. V. 19. 20.): Die beiden lüsternen Greise, die sich der jungen, überraschten Frau nähern, die gerade zaghaft ihren linken Fuß ins Wasser getaucht hat, sind Sinnbild für eine irregeleitete Begierde des Alters, vom Künstler durch ihr Mienenspiel charakterisiert. Doré rückt im Blatt Susanna im Bade. Daniel 13, 7–27 die Gestalt der beobachteten, mit unschuldigem Gesichtsausdruck abgebildeten Frau mit ihrem effektvoll geschlungenen Tuch, das sie um den nackten Körper rafft, in den Vordergrund (Abb. 17). Die beiden Alten sind im Hintergrund in ein diffuses Licht getaucht, die Figuren wirken unscharf und bedrohlich. Die zweite Szene, die Schnorr aus der Susanna-Geschichte wählt, zeigt deren Errettung vor dem Tod: Daniel errettet SuAbb. 17: Doré, Susanna im Bade sanna vom Tode. Historie von der Susanna und Daniel. v. 62. 63. 64. Während Daniel seinen Schiedsspruch fällt, werden die Männer ergriffen und ihrer Strafe zugeführt. Susanna blickt, die Hände zum Gebet gefaltet, andächtig zum Himmel. Doré gestaltet unter dem Titel Die Rechtfertigung der Susanna. Daniel 13, 48–62 die Szene, in der Daniel Recht spricht, wie auf einer großen Bühne. Die verleumderischen alten Männer werden ergriffen und abgeführt. Susanna steht mit über der Brust gefalteten Händen da, in der Interpretation der Figur nahe an der Darstellung Schnorrs.
3. Schlussbemerkung Die Bibelillustrationen Schnorr von Carolsfelds und Gustave Dorés stießen im 19. Jahrhundert vor allem aus zwei Gründen auf großes Interesse: Zum einen war es die Vielzahl der Abbildungen, zum anderen bestach die – zwar individuell unterschiedliche – Meisterhaftigkeit der beiden Künstler, die biblischen Szenen in ihrem Kern zu erfassen und bildlich umzusetzen. Die lang anhaltende Rezeption ihrer Werke, die sich bis ins 20. Jahrhundert hineinzieht, beleuchtet den besonderen Status, den sich diese illustrierten Bibelausgaben auf dem Buchmarkt erwerben konnten. Schnorr von Carolsfelds weibliche Bibelfiguren zeigen sich in ihrer Schlichtheit dem nazarenischen
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Gedanken und Schönheitsideal verpflichtet. Sein Ziel bestand darin, „Antheil zu nehmen an der Erziehung und Bildung des Menschen“.31 Gustave Doré hingegen bedient sich der ganzen Palette spätromantischer und historistischer Bildmotive, die ihm für die bildliche Umsetzung der Bibeltexte zur Verfügung standen. Dramatische Licht- und Schatteneffekte, Mienenspiel, effektvolle Gesten und Posen und nicht zuletzt unübliche Bildmotive ergeben ein Werk, das sich in seiner Bewegtheit weniger an eine kontemplative Seele richtet als an BetrachterInnen, die Genuss an aufwändig gestalteten Szenen und erotischen Schaustücken empfinden. Sein Werk wendet sich eher an gebildete LeserInnen, die die entsprechenden Motive bereits aus den großen Werken der Kunstgeschichte kennen. Das Frauenbild, das diese Künstler vermitteln, entspricht der Entstehungszeit der Bildzyklen sowie den Vorgaben, auf die sie hinsichtlich der traditionellen Interpretationen zurückgreifen konnten. Dabei muss auch das künstlerische Umfeld mitberücksichtigt werden. Schnorr hatte in Deutschland andere Inspirationsquellen als Doré, der in Paris im Zentrum der modernen Kunst lebte und arbeitete. Im Hinblick auf die Frage nach der Bibelinterpretation des 19. Jahrhunderts lassen sich aus diesen Illustrationen folgende Schlüsse ziehen: Die biblischen Texte, vor allem die des Alten Testaments, boten so unterschiedlichen Künstlern wie Doré und Schnorr von Carolsfeld ein anregendes Material, mit dem sie sich bildlich auseinandersetzten. Dabei sind zwei Tendenzen auszumachen, die aus den Bildanalysen der einzelnen Holzschnitte und Holzstiche ableitbar sind. Zum einen fanden jene Gendermodelle Eingang in ihre bildlichen Interpretationen, die in ihrer Zeit – dem 19. Jahrhundert – in sozialen wie kulturellen Belangen bestimmend waren. Zum anderen forderte der Überlieferungsbestand sie jedoch auch dazu auf, sich fremden Verhaltensweisen von Frauen und Männern längst vergangener Zeiten anzunähern. Das künstlerische Schaffen beider suggeriert, dass das Verhältnis der Geschlechter zueinander traditionell war; es reflektiert jedoch nur in geringem Maße die tatsächliche Lebenswelt der Frauen, die bei Drucklegung der beiden Werke insbesondere in Frankreich bereits durch erste Erfolge der Frauenbewegung geprägt ist.
31
SCHNORR VON CAROLSFELD, Die Bibel in Bildern (1972), VII.
Abkürzungsverzeichnis BBKL DIP ELThG HWP LCI LThK ODNB RGG
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Bibelstellenregister Hebräische Bibel (Kanonordnung nach BHS) Genesis (Gen) 1 1,1–18 1,3 1,26 1,27 2,15 2,15–25 2,18 2,18.20 2,23 2f. 3 3,3 3,6 3,9–24 3,16 4,1–16 7,2 18 20 21 21,12 22 28,2 29,10–12 29,18f. 29,4–19 31,17f. 33 33,1–14 33,3f. 34 39,9 49,19 Exodus (Ex) 1,8–22 2,1–3 2,4–9 2,5f. 7,19 7,22 15
47, 50, 336 336 27 336 115, 238 199 336f. 164, 297 64 78 50 336 339 338 336, 339 339 230 41 97 36 36 115 344 115 339 340 339 340 340 340 340 335 340 28 341 341 341 341 45 45 335
15,20 15,21 15,27 19,6 20 20,3–5 21,7 25,40
107f. 107 259 108 134 134 73f. 96
Levitikus (Lev) 11 41 19,31 345 20,6 345 22,2 28 Numeri (Num) 6,24 6,26 12,1 12,15 27,4 27,7 32,12 33,9
92, 269 235 107 108 109 109 105 259
Deuteronomium (Dtn) 18,1 345 18,18 138 21,10–14 73 21,18f. 116 26,11 106 28,8 268 30,19 292 32,11 257 Richter (Ri) 1 4 4,4 4f. 5 5,1 5,1–13 5,6f.
85 59 65 61, 87, 237 59, 73 108 342 63
Bibelstellenregister
384 5,7 5,9 5,12 11,29–36 11,35 11,37–40 16,4f. 16,15–22 16,21 19 19,18–27 19,28–30
107 63 77 343 343 344 345 344f. 344 335 335 336
1 Samuel (1 Sam) 2,14 106 14,6 269 16,21 48 17 48 26,23 269 28,3.9 345 28,9–20 346 28,16f. 345 2 Samuel (2 Sam) 11,2 349 13 335 13,28 93 14 335 20 335 1 Könige (1 Kön) 10,1–9 347 10,6f.10 347 17,9 223 17,24 223 19,11–13 235 2 Könige (2 Kön) 4,8 97 13,28 93 22 335 22,14 108 Jesaja (Jes) 3,16–24 4,4–6 9 21,11–17 25 26
247 247 248 248 249 249
26,19 33,14 34,14 40 40,3 40,11 40,15 40,31 41,10 42,7 43,16 43,19 45,15 49,3f. 49,15 50 50,4 51 52 52,7 54,2 55,8 57,14 58 58,8f. 58,11f. 66,12f.
249 28 313 249, 256 240 24 27 26 24 262 240 240 234 42 92, 186 249 89 249 249 264 262, 265 92 240 225 221 255 294
Jeremia (Jer) 1,7 17 17,5–7 17,5–8 17,7 18,6
226 261 260 261 27 26
Ezechiel (Ez) 33,11 186 47,1–12 255 Hosea (Hos) 14,5
26
Joël 3,1f.
119
Micha (Mi) 6,4
108
Sacharja (Sach) 12,6 151
Bibelstellenregister Maleachi (Mal) 2,7 28 2,14 116 3,3 270 Psalmen (Ps) 11,6 16 23,1 25,20 27,10 27,16 34 40,17 46,1 50 51 68 68,11 68,12 73,25 90,10 94,1 111,10 117,24 118,28 126,5f. 133,2
28 134 27 260 262 28 134 28 24 293 134 217 216 215–217 28 257 92 259 98 28 260 205
Ijob 1,21 28
271 256
38,1
385 235
Sprichwörter (Spr) 2,7 262 15,13 292 18,22 291 21,28 92 23,26 97 24,10 261 31 38, 295–298, 303 31,10 296 31,10–31 106, 117, 296, 298 31,11 298 31,13.16 106 Klagelieder (Klgl) 2,10 242 Daniel (Dan) 2,47 5,27 13 13,7–27 13,19f. 13,48–62 13,62–64
265 234 349 349 349 349 349
1 Chronik (1 Chr) 4,10 29 2 Chronik (2 Chr) 14,10 269
Deuterokanonische Schriften Tobit (Tob) 4,5 4,6
283 283
Judit (Jud) 8,8 13,2–10 13,9f. 13,11f. 13,11–20 13,14 13,18 15,9 15,10 15,11
294 348 347 348 348 295 295 294 294f. 294
Jesus Sirach (Sir) 12,12 45 25,13–17 295 25,15f. 295 26 295f., 303 26,1–27 295 30,23 292 36,27 292 2 Makkabäer (2 Makk) 7,20– 41 296 12,41 265
Bibelstellenregister
386 Neues Testament Matthäus (Mt) 3,5f. 3,11 5,3 5,4 5,6 5,11 5,13–16 5,16 5,48 6,12 6,13 7,7 7,24–27 7,24–29 9,18–22 9,38 10,22–24 11,28 11,29 11,30 13,1–23 13,24–30 14,3–9 15,16 15,21–28 18,5 19,14 19,16–27 22,12 23,1–12 23,8 24,13 24,14 25 25,30 25,31–46 25,40 26,6–13 26,41 26,42
230 28 250 54 128, 236 98 239 93 238 99 262 25 261 262 124 266 271 24, 93, 99, 124, 265 96 92 264 241 197 28 299, 311 95 325 178 25 95 259 292 138 25, 184 143 99, 143, 184 95, 260 197 25 26
Markus (Mk) 3,17 3,28f. 7,24–30 10,5
200 126 311 51
10,8 10,15 12,33 13,13 14,15 14,22–24 16,15 16,17f. 16,20
239 27 183 271 266 230 99 221 270
Lukas (Lk) 1,20 1,38 1,46–55 1,48 1,48f. 1,68–79 2,25–36 2,29 2,29–32 6,27f. 7,11–17 7,36–50 9,23 9,35 10,25 10,31 10,31f. 10,33 10,38 10,38–42 10,42 12,49 13 13,5 14,12–14 15,3–7 15,7 19,5 21,17 22,33 23,27f. 23,43
200 143 96, 325 200 94 96 181 98 96 99 299 197, 230 25 130 75 28 236 242 97 93 128, 306 95 128 28 224 259 99 97 271 24 242 262
Johannes (Joh) 1,23 139 1,34–36 230
Bibelstellenregister 2,1–11 2,1–12 2,4 2,24 3,5 3,19 4 4,1–26 4,5–14 4,14 4,23f. 6,12 8,1–11 8,2 10,28 10,28f. 11,40 12,1–8 12,28 12,35 13,8 14 14,6.9 14,13–31 14,15 14,27 15,18 17,24 19,25–27 20,11–18 20,17 20,22 21 21,15 21,17
193 201f. 268 184 96 221 299 307 236 27 126 292 239 268 222 25 269 197 269 292 93 221 221 128 25 99 271 99 200 150f. 182 94 53 258f. 24
Apostelgeschichte (Apg) 1,7 206 6,8 270 9,36–43 327 13,50 222 16,14–22 196 19,19 280 27,29 30 Römer (Röm) 3,10 3,24 5,5 5,20
28 25 24 186
6,22 7,24 8,14 8,15 8,17 8,28 8,39 11,15 11,25f. 12,6 12,14 15,13 16,1
387 29, 292 28 92 28 26 26, 269 25 206 206 20 28 27 171
1 Korinther (1 Kor) 2,9 266 3 293 3,12–14 270 6,13 26 6,15 26 7 300 7,17 291 7,23 272 7,29 292 9,24 292 11 22, 300 13 184, 225 13,1 30 13,3 180, 184 13,4f. 184 13,5.7f. 184 14 22 14,34 227, 229, 239 14,34f. 210 15,10 268 15,55 92 2 Korinther (2 Kor) 1,20 24 2,14 270 3,17 240 6,11 204 6,14 260f. 9,7 292 12,9 186, 268 Galater (Gal) 3,28 4,6 5,6
168, 185, 213, 231 92 25, 29
Bibelstellenregister
388 Epheser (Eph) 2,8 3,19 5,16 5,21–33 6,24
268 29 292 300f. 225
Philipper (Phil) 2,5 96 3,20 93 4,4 292 4,13 25 1 Thessalonicher (1 Thess) 5,14 264 5,22 25 2 Thessalonicher (2 Thess) 3,10 292 1 Timotheus (1 Tim) 2,8–10 301 2,10f. 301 2,11f. 210 2,13 62 Hebräer (Hebr) 7,18f. 51 7,25 26
Jakobus (Jak) 4,9 291 5,13 269 5,14f. 208 1 Petrus (1 Petr) 1,5 28 1,22 180, 184 2,25 262 3,1f. 301 3,3f. 301 3,13 272 1 Johannes (1 Joh) 1,7 129 2,15 28 3,18 95 3,21 92 4,16 187 4,18 28 Offenbarung (Offb) 2,10 92 3,7f. 259 3,16 133 3,20 197 5,12 269
Personenregister Agnes, hl. 197 Agnesi, Maria Gaetana 167, 169 Agnew, Mary Clare 98 Aguilar, Grace 60, 68–72, 74, 81–85, 87 Albrecht, Ruth 14f. Alexander I., Zar 176, 249 Alexander Jannäus, König von Judäa 109 Allioli, Joseph Franz von 287, 334 American, Sadie 103f. Anastasija/Afanasija 174, 178, 180f., 183 Anthony, Susan B. 73 Antiochus IV. Epiphanes, griechischer Herrscher 37, 41 Antonius von Kiew, hl. 182 Arenal, Concepción 158 Arnim, Bettina von 304–306 Arnold, Gottfried 252 Arnold, Mary siehe Ward, Mary Arnold, Thomas 48 Arouet, François-Marie 167 Ascione, Maria Carmela/Maria Luisa de Gesù 14, 144, 147–155 Aston, Louise 304 Astruc, Jean 47 Augusta, deutsche Kaiserin 224 Augustinus, hl. 170, 288 Balders, Günther 214 Balfour, Clara Lucas 60, 64–67, 79, 81, 83f., 87 Balfour, James 65 Ballesio, Gabriella Lazier 119 Balzac, Honoré de 334 Barbero, Frau 135 Barclay de Tolly-Weymarn, Ada Fürstin siehe Krusenstjerna, Ada von Barth, Fritz 242 Barth, Karl 242 Barton, John 89 Basilius, hl. 170 Baskin, Judith 101, 117 Baxter, Elizabeth 59f., 62–64, 70f., 83, 85 Bazán, Emilia Pardo 158 Beecher, Catherine 73 Beecher, Harriet siehe Stowe, Harriet Beecher Beecher, Isabella 73, 76 Beecher, Lyman 73
Beecher, Roxanne 73 Bellini, Giovanni 329 Benedikt von Nursia, hl. 197 Benedikt XIV., Papst 166f., 169 Benincasa, Gherardo 122 Berger, Teresa 188, 195, 203, 209 Bergmann, Franz 208 Berlis, Angela 14f. Bernstorff, Andreas Graf von 211, 219 Berurja, Gelehrte 109 Beyreuther, Erich 252f. Binde, Fritz 211 Blanckenhagen, Sigrid von 321 Blasco Herranz, Inmaculada 13f. Blinzer, Christian 5 Bodelschwingh, Friedrich von 245f. Bonomi, Joseph 39 Boos, Martin 258 Booth, Catherine 252 Borromäus, Karl, hl. 146, 197 Bosco, Giovanni 144 Botticelli, Sandro 325 Bourdaloue, Louis 146 Braun, Lily 308 Bremscheid, Matthias von 291f. Brentano, Clemens 287 Britz, Clara 291f., 299 Brockhaus, Carl 216 Brodbeck, Doris 14f. Brown, Callum 189 Brown, Olympia 84 Browning, Elizabeth Barrett 33 Brüller, Dana Sophie 5 Bruno, Witwe 133 Bruns, Hans 228 Büchner, Georg 304 Büttner-Kirschner, Katharina 16 Bunsen, Christian Baron von 41 Burder, Samuel 38 Butler, Josephine 211, 218, 241 Cacchi, Marina 13 Cäcilia, hl. 197 Callaghan, Catherine 91 Callaghan, William 91 Cameron, Nigel 46 Campbell, John 39 Campos, Lola 159
390
Personenregister
Canteri, Germana 147 Carus-Wilson, Ashley siehe Carus-Wilson, Mary Carus-Wilson, Mary (Petrie) 50–52, 57 Cavalca, Domenico 145 Celli, Annina 120, 123, 125, 131–136, 138 Celli, Emma 120, 125 Cervantes, Miguel de 334 Cesari, Antonio 146 Challoner, Richard, Bischof 89 Chandler, Lucinda 84 Chapin, Augusta 84 Charles, Elizabeth Rundle 13, 52–55, 57f. Chilcote, Paul 12 Chozas, Diego 160 Christine de Pizan 87 Clemens VIII., Papst 195 Coerper, Heinrich 217 Cohen, Mary M. 104, 106, 110, 118 Colby, Clara 84 Colenso, John W., Bischof 40 Commer, Clara 309 Cooper, John 27 Cooper, Mary siehe Hanson, Mary Corbaux, Marie Françoise Catherine (Fanny) 38f. Cornwallis, Mary 37f. Cornwallis, William 37 Coronado, Carolina 157 Crosby, Sarah 24, 26 Cross, Mary Ann siehe Evans, Mary Anne Cueto Lopez-Mörth, Annemarie del 5, 172 Cyprian von Karthago 204 Daniells, Mrs. 63 Dante Alighieri 333f. Da Panicale, Masolino 327 Darby, John Nelson 216 Darwin, Charles 49 David, Johannes 310 Davis, Elizabeth M. 12f. Davies, Marie siehe Palmer Davies, Marie Dea de Bardi, Sor 170 De Giorgio, Michela 283 De Groot, Christiana 10, 12f. Delitzsch, Franz 39 De Mattias, Giovanni 142 De Mattias, Maria 142f., 155 Deutsch, Emanuel 117 Di Ser Cassai, Tommaso/Masaccio 327 Diamant, Anita 100
Dibdin, Emily 86 Dietzer, Wilhelmina 206 Diodati, Giovanni 123, 134 Dohm, Hedwig 308 Dopplinger, Matthias 264 Doré, Gustave 16, 330f., 333–350 Dorland, William A. Newman 77, 360 Dotzler, Arsenius 291, 298, 300 Doyle, Mary Ann 89 Driver, Samuel Rolles 46, 49f. Droste-Hülshoff, Annette von 305, 308, 310–312, 319 Dulles, Avery Robert 90 Duncker, Dora 309 Dungern, Emil Freiherr von 218 Dupanloup, Felix, Bischof 166f., 281, 283, 290f., 293–300, 302 Dworzcak, Renate 5 Ebner-Eschenbach, Marie von 304f., 308, 310 Egger, Augustin, Bischof 280, 283, 289, 295–297 Eichhorn, Johann Gottfried 90 Einsle, Joseph Bernhard 320 Elena de Silveira, Sor 170 Eliot, George (Pseudonym), siehe Evans, Mary Anne Elisabeth von Ungarn/Thüringen, hl. 169, 197 Ellenrieder, Konrad 320 Ellenrieder, Marie 16, 320–330 Ellicott, Charles 34, 48 Ellis, Sarah Stickney 68, 72 Entwisle, Mary 24 Eustochium, hl. 197, 205 Evans, Marian siehe Evans, Mary Anne Evans, Mary Ann siehe Evans, Mary Anne Evans, Mary Anne 39 Ewald, Heinrich 42 Fabricius, Odilia 196, 204 Faschinger, Lilian 310 Feijoo, Benito 166f. Fénelon, François de Salignac de la Mothe, Erzbischof 166f. Ferrari, Carolina 134 Festa, Verleger 148 Feuerbach, Ludwig 39 Fischer, Irmtraud 5, 330 Flacilla, römische Kaiserin 170 Flaquer, Francisco de Paula 157
Personenregister Flaxman, John 333 Fletcher, Mary Bosanquet 20–22, 26, 29f. Fliedner, Caroline 244 Fliedner, Fritz 214 Fliedner, Theodor 214, 244, 246 Fontane, Theodor 304 Foster, Sarah 63 Fra Giovanni da Fiesole 321 France, Anatole 313 Francisca Gregoria de Santa Teresa, Sor 170 Frank, Henrietta G. 104 Frank, Ray 104, 106–108, 110, 118 Franson, Fredrik 217 Franz I., römisch-deutscher Kaiser 249 Franz von Assisi, hl. 147 Franz von Sales, hl. 146 Franz Xaver, hl. 147 Freud, Sigmund 228, 317 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 249 Frijhoff, Willem 195 Fry, Elizabeth 63 Gabler, Johann Philipp 90 Gage, Matilda Joslyn 84 Gall, Theodor von 264, 271 Galsterer, Alfred 264 Gause, Ute 14f., 191 Gerasimova, Ljudmila 185 Gerson, Johannes Charlier 207 Gertrud, hl. 169 Gestefeld, Ursula 84 Giannotti, Carolina 127f. Gibson, Margaret Dunlop 55–57 Gienger, Friedrich 264 Gill, Barbara siehe Rundle, Barbara Gill Gillone, Frau 135 Gimeno de Flaquer, María de la Concepción 14, 157–172 Giotto di Bondone 321f. Giraudoux, Jean 318 Glück, Stephanie 5 Görres, Guido 310 Gössmann, Elisabeth 199 Goethe, Johann Wolfgang von 200, 304, 313, 315 Goffiné, Leonhard 281 Gondlach, Catharina 309, 312 Gosteli, Marthe 233
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Gotter, Friedrich Wilhelm 315 Grabbe, Christian Dietrich 304 Gratz, Rebecca 103 Gregor der Große, Papst 197 Gregor XVI., Papst 91, 141 Greswell, Julia 34 Greswell, Richard 34 Grillparzer, Franz 304, 315 Günderode, Karoline von 304f. Günther, Anton 193f., 196, 198, 206 Gunn, David 87 Guyon, Jeanne-Marie de 229, 231 Häntzschel, Günter 278 Hahn, Sophie siehe Loesche, Sophie Hahn-Hahn, Ida 304, 308 Hanaford, Phebe 84 Hanson, Mary 20, 25–27 Hardenberg, Friedrich Freiherr von 331 Harnack, Adolf von 239 Harnett, Mary Vincent 98 Harper, Steve 20 Harris, James Rendel 56 Harris, Mary siehe Cornwallis, Mary Hauser, Missionar 264 Hebbel, Friedrich 315–319 Hedwig von Schlesien, hl. 197 Heine, Heinrich 304 Held, Franz 315 Helena, römische Kaiserin 170 Hennell, Charles 39 Henrotin, Ellen 102 Hensel, Luise 203, 287, 305, 308 Herder, Johann Gottfried 73, 77, 304 Hermann, Josepha 320 Hermann, Maria Anna 320 Hermes, Georg 194 Herrad von Landsberg 170 Herrmannstorfer, L., Buchdrucker 256 Heyse, Paul 313 Hibbs-Lissorgues, Solange 159 Hieronymus, hl. 169, 205, 290 Hildegard von Bingen, hl. 169, 197, 199f., 325 Hilgers, Bernhard Joseph 192–194, 202 Hinteregger, Christine 256 Hirsch, Emil G. 104 Hoffelize, Adele Gräfin von 289 Holthaus, Stephan 213 Howe, Julia Ward 111 Huber, Eugen 241f.
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Personenregister
Huber, Therese 308 Hülskamp, Franz 276, 278, 281f., 286f. Hugo, Victor 313 Hunzinger, Ludwig Heinrich 231 Hus, Jan 252 Ignatius von Loyola, hl. 147 Ilan, Tal 101 Ioann Sergiev siehe Johannes von Kronstadt Ioannikij Rudnev, Metropolit 178 Ireland, John, Bischof 163 Isabella II., spanische Königin 160 Itzerott, Marie 312 Jakovleva/Labzina, Anna 183f., 186 Janitschek, Maria 304, 308, 312 Jocham, Magnus 286 Johanna Franziska von Chantal, hl. 147 Johannes Chrysostomos, hl. 170 Johannes von Kronstadt 178f., 184–187 Jowett, Benjamin 41f. Juana Inés de la Cruz, Sor 170 Jüttemann, Veronika 297, 302 Kaiser, Georg 318 Katharina von Alexandrien, hl. 169 Katharina von Siena, hl. 169, 197 Kauffmann, Angelika 325 Keble, John 34 Keil, Carl Friedrich 39 Keiter, Heinrich 276, 278 Keller, Samuel 210f. Kempin-Spyri, Emilie 242 Kennett, Robert 56 Kerney, M. J. 98 Kizenko, Nadieszda 186 Kleist, Heinrich von 304 Klopstock, Meta 304 Klutschewskij, Alexej 13f. Koch, Joseph Anton 331 Kogler, Nina 5 Kohler, Kaufman 104 Kolumbus, Christoph 102 Konstantin, römischer Kaiser 170 Kopp, Georg, Kardinal 331 Kraft, Erentrud 195f., 199, 201 Krane, Anna Freiherrin von 309f. Krause, Karl Christian Friedrich 162 Krawielitzki, Theophil 266 Krusenstjerna, Ada von 215, 220–223, 229 Kuhl, Marie 266 Kurz, Isolde 312–314, 319
Kutter, Hermann 237 Lacalzada Mateo, Maria José 159 La Fontaine, Jean de 334 Langer, Johann Peter von 320, 325 La Roche, Sophie von 304, 308 Lasaulx, Amalie von /Sr. Augustine 202 Lask, Berta 304 La Tour, Elvine Gräfin de 16, 255–272 La Tour, Theodor Graf de 258 Lazarus, Emma 111 Lazarus, Josephine 13, 111–114, 116f. Lemaistre de Sacy, Louis-Isaac 150 Leo XII., Papst 91 Leo XIII., Papst 163f. Leopold (II.), Großherzog der Toskana, römisch-deutscher Kaiser 153f. Lewald, Fanny 304f., 308 Lewes, Marian Evans siehe Evans, Mary Anne Lewis, Agnes Smith 55–57 Liberti, Eugenia 124 Lichtenstein, Diane 105 Lightfoot, Joseph Barber 56 Lips, Johann Heinrich 325 Löhe, Wilhelm 244 Loesche, Sophie 218f. Logačeva, Anastasija/Afanasija siehe Anastasija/Afanasija Longo, Paolo 122, 125–127 Lora, Frau 134 Lorent, Bernard, Abt 5 Louis, Minnie D. 104 Lucia, hl. 197 Ludwig XIV., französischer König 47 Lücke, Friedrich 245 Luther, Martin 9, 12, 215f., 223, 250, 256, 262, 302, 331, 334, 336 M. Vincent, Schwester 94 Macdonald, George 313 MacHaffie, Barbara 42, 44 Magdalena Eufemia Gloria, Sor 170 Malanot, Adelina 120 Mallinckrodt, Pauline von 195f. Malou, Jean-Baptiste 302 Mannheimer, Louise 104–110 Mantegna, Andrea 329 Marcella, hl. 169 Marchal, Victor 299 Maria Anna, Erzherzogin von Österreich 145
Personenregister Maria de Ceu, Sor 170 Maria Luisa, römisch-deutsche Kaiserin 144 Maria Magdalena von Pazzi, hl. 147 Marija/Taisija, Äbtissin 177–187 Marija von Paris 183–185 Marsh, Miss 63 Martin von Cochem 301 Martini, Antonio 123, 134, 145, 150 Marx, Karl 189 Massillon, Jean-Baptiste 146 Mastai-Ferretti, Giovanni Maria siehe Pius IX. Mazzarello, Maria 144, 155 Mazzini, Giuseppe 124 McAuley, Catherine 13, 89–99 McCarthy, Carmel 99 McDonald, Lynn 42 McLeod, Hugo 189 Mechthild von Magdeburg 199f. Meehan, Brenda 180, 182f. Meir, Rabbi 109 Meisel-Hess, Grete 305 Ménage, Gilles 169 Mercier, Anne 33f., 46–49, 51f. Mercier, Jerome 46 Mereau, Sophie 304 Merini, Frau 133 Mermillod, Gaspar 279f., 283 Merz, Heinrich 332f. Meßner, Herbert 5 Michelangelo Buonarroti 348 Miegel, Agnes 308f. Milde, Caroline 278 Mill, Harriett Taylor 73 Mill, John Stuart 73, 76, 79–81, 236 Miltitz, Therese von 193, 208 Milton, John 334 Modersohn, Ernst 211, 227, 264f. Mörike, Eduard 200 Mohr, Julius 41 Molina, Rosa 128 Molitor, Emilie von 256 Moneta, Frau 127f. Monika, hl. 197 Moody, Dwight Lyman 62, 220 Moore, Mary Clare Augustine 96–98 Morgan, Lady 86 Morgan, Lewis Henry 83 Motté, Magda 16
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Mühlbach, Luise 304f. Mülinen, Helene von 15, 233–243 Müller-Jahnke, Clara 305 Muris, Frau 132 Muris, Herr 132 Nadell, Pamela S. 12f. Napoleon Bonaparte 249 Nathusius, Martin von 237 Naudet, Leopoldina 144–147, 155 Navarro, Luigi 147, 152–154 Neander, Joachim 257 Nestroy, Johann Nepomuk 315 Neyman, Clara 60, 82–87 Nickel, Markus Adam 291 Nickes, Dom Anselmo 196, 204f. Nightingale, Florence 13, 40–43 Nikolaus I., Zar 176 Nikolaus von Myra, hl. 182 Nikon, Patriarch 173, 175 Novalis siehe Hardenberg, Friedrich Freiherr von Oehler, Gustav 39 Oertzen, Jasper von 211 Oliviero, Frau 133 Osterhammel, Jürgen 9, 189 Otto-Peters, Louise 304, 306–308, 319 Overbeck, Johann Friedrich 321, 325, 331 Palmer Davies, George 218–220 Palmer Davies, Marie 218–220, 222 Panigarola, Francesco 146 Paraskeva, hl. 182 Passy, Anton 292 Paul, Jonathan 264 Paula, hl. 169, 197, 205 Perotti, Frau 133 Perpetua, hl. 169 Perrault, Charles 334 Perugino, Pietro 321 Pesch, Tilmann 301 Pesini, Letizia 129 Peter der Große, Zar 173, 175 Petersen, Cäcilie 226–228 Petrie, Mary Louisia Georgina siehe CarusWilson, Mary Pieczýnska-Reichenbach, Emma 236 Pignatelli, Adelaide 119 Pilenko, Elizaveta/Marija siehe Marija von Paris Piscopia, Elena Lucrezia Cornaro 79 Pius VI., Papst 141
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Personenregister
Pius VII., Papst 141 Pius IX., Papst 141, 148, 167, 201, 203, 207 Pjalla, Don 135 Poggi, Eugenia Arzani 120, 123f. Poli, Demetra 120, 124f. Pons, Pastor 120, 124 Popken, Minna 228–231 Popova, Matrona Naumovna 181, 183 Priscilla, hl. 239 Prochet, Matteo 127, 131, 138 Pückler, Eduard Graf von 226f. Pusey, Edward 46 Puškin, Alexander 177 Pusterla, Giuseppina 121f., 126–130, 137f. Rabelais, François 334 Radente, Alberto 154f. Radstock, Granville Waldegrave Lord 220 Raffael da Urbino 321, 323, 331, 337, 348 Raffenberg, Anton 293 Ragaz, Leonhard 237 Rampolla del Tindaro, Mariano Kardinal 163 Ranyard, Ellen Henrietta 121f., 219 Rappard, Carl Heinrich 263 Raschi, Gelehrter 101 Rebbert, Joseph 286 Regis, Celsia 161 Reinkens, Joseph Hubert, Bischof 193, 203, 207 Reinkens, Katharina 204 Reinkens, Wilhelm 193, 202–207 Remy, Nahida 105 Reni, Guido 348 Revel, Bartolomeo 122, 127 Reventlow, Franziska Gräfin zu 308 Reynalds, Anna 31 Richman, Julia 104 Rigo, Bruder 125 Rigo, Frau 123 Ritter von Záhony, Elvine siehe La Tour, Elvine Gräfin de Ritter von Záhony, Julius Hektor 258 Ritter, Wilhelmine 192f., 202–206 Rochechouart-Mortemart, MadeleineGabrielle de 169 Rogers, Hester Ann 23f. Rogers, William 41 Rogerson, John 32f., 35, 40, 57 Romagnani, Gian Paolo 122
Rosenberg, Pauline 104 Rossetti, Christina Georgina 13, 44–46, 53, 55, 58, 81 Rossetti, Gabriel 313 Rothschild, Annie Henrietta Baronesse de 13, 43, 44 Rothschild, Constance Baronesse de 13, 43f. Rousseau, Jean-Jacques 278 Rowson, Susanna 87 Rüdt, Prediger 263 Ruhbach, Gerhard 253 Rundle, Barbara Gill 52 Rundle, John 52 Salerno, Elisa 156 Salome Alexandra, Königin von Judäa 109 Sanz del Rio, Julián 162 Sarmiento, Fray Martín 167 Sartory, Anna 312 Sasso, Familie 123 Saurer, Edith 284 Scala, Frau 134f. Schechter, Solomon 56 Scheufele, Christian 256 Schiller, Friedrich 304 Schimmelmann, Adeline Gräfin von 15, 216, 223–226, 231 Schimmelmann, Paul 216f. Schlatter, Adolf 234, 236f. Schlatter-Schoop, Susanna 234, 236 Schlegel, Caroline 304 Schlegel, Dorothee 304 Schlegel, Friedrich 331 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 90, 245 Schlick, Heinrich 256 Schlögl, Rudolf 284 Schmidinger, Antonia 5 Schmidt, Margot 201 Schneider, Bernhard 16 Schnorr von Carolsfeld, Julius 16, 224, 330–350 Schönhuber, Christine 5 Scholastika, hl. 197 Schrenk, Elias 211 Schrill, Ernst (Pseudonym), siehe Keller, Samuel Schücking, Levin 315 Schütter, Frau 204 Schwarz, Ernst 255
Personenregister Schwarz, Ludwig 255, 258 Schweling, Antoinetta 204 Segneri, Paolo 146 Seidler, Louise 320, 325 Seitz, Johannes 229f. Seitz, Luise 230 Seraphim von Sarow, hl. 180f., 183, 185 Seraphim, Bischof 181 Shaw, Thomas 31 Simrock, Agnes 196, 204 Simrock, Karl 195 Simrock, Marie 206 Sintzel, Michael 289, 291–293 Skobtsova/Skobcova, Elizaveta/Marija siehe Marija von Paris Smith, Agnes siehe Lewis, Agnes Smith Smith, George Adam 46 Smith, Margret siehe Gibson, Margret Dunlop Smith, William Robertson 56 Sohn-Kronthaler, Michaela 14, 16 Soht, Luise siehe Seitz, Luise Solomon, Hannah 102, 104, 110f. Solopova, Arkadija siehe Marija/Taisija Solopova, Marija siehe Marija/Taisija Spee, Friedrich von 310 Spittler, Christian Friedrich 263 Stanley, Arthur P. 40 Stanton, Elizabeth Cady 61, 73, 82f., 85, 87, 162 Stebbins, Catherine 84 Stein, Gabriele 5 Stein, Marius (Pseudonym), siehe Janitschek, Maria Stella, Giuseppe 148 Stens, Clara 208 Sterni, Gaetana 143f., 155 Stervart, Mutter 170 Stockmayer, Otto 229 Stowe, Calvin Ellis 73 Stowe, Harriet Beecher 60, 65, 72–78, 81f. Strauß, David Friedrich 39, 42 Strickland, Mary siehe Tatham, Mary Strunk, Reiner 253 Sueur, Louis-François, Erzbischof 167 Synek, Eva Maria 13f. Szepannek, Christl 256 Szold, Henrietta 13, 111, 114–118 Taisija, Äbtissin siehe Marija/Taisija Taschl-Erber, Andrea 5
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Tatham, John 28 Tatham, Mary 20, 26, 28f. Taylor, Marion Ann 10–12 Taylor, Sophia 39 Temming, Theodor 293 Teresa von Àvila, hl. 147, 169, 197 Tersteegen, Gerhard 252 Thekla, hl. 169 Theodosius der Große, römischer Kaiser 170 Thomas von Kempen 97, 310 Thyrêt, Isolde 185 Tichon von Sadonsk, hl. 183 Tiele, Hubert von 246 Tiele-Winckler, Eva von 15f., 212, 245– 253 Torres, Elisabetta 148, 153 Trimmer, Sarah 13, 36–38, 87 Tron, Herr 138 Tučkova, Margarita Mihailovna/Mutter Marija 174, 179f., 184 Turin, Jean David 122, 126 Turino, Frau 126 Uphams, Mrs. 81 Valera, Juan 157 Valeria, hl. 169 Valerio, Adriana 11, 13f., 119 Vaughan, Herbert Kardinal 163 Veith, Johann Emanuel 196 Veronika, hl. 170 Vetter, Jakob 211 Viebahn, Georg von 211, 265 Viebig, Clara 312 Vinzenz von Paul, hl. 146, 197 Voltaire siehe Arouet, François-Marie Wackenroder, Wilhelm Heinrich 331 Wainwright, Elaine 99 Waldersee, Marie Esther Gräfin von 220 Waldmüller, Robert 206 Ward, Humphrey 48 Ward, Humphrey (Pseudonym), siehe Ward, Mary Ward, Mary 48f., 51 Ward, Mary Josephine 94 Warner, Susan 81 Wasserzug-Traeder, Gertrud 217 Weber, Max 139, 189 Wedgwood, Julia 49–52, 57 Wegman, Herman A. J. 194
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Personenregister
Weil, Helen Kahn 104 Weir, Heather E. 10 Weissler, Chava 101 Weling, Anna Thekla von 221 Weller, Gustav Adolf 214 Wendland, Walter 253 Wesley, Charles 19f., 23, 25, 29 Wesley, John 19–21, 23, 25–27, 29 Wessenberg, Ignaz Freiherr von 320, 325 Wette, Wilhelm M. Leberecht de 90 Wetzel, Franz Xaver 278–283, 286–289, 292 White, Barbara A. 73, 76 Wichern, Johann Hinrich 216, 218, 245 Wilbour, Charlotte 84 Wilhelmine, Diakonisse 266 Willard, Frances E. 111 Wilson, Linda 35 Wiltschnigg, Elfriede 16
Winckler, Valeska von 246 Winkworth, Catherine 192 Wolf, Rebecca de 100 Wolff, Robert Lee 49 Woodhead, Linda 189 Woodtli, Susanna 233 Wordsworth, William 66 Wright, Julia McNair 60, 77–82 Wright, William J. 78 Wycliff, John 252 Yonge, Charlotte 34 Zalar, Jeffrey T. 284 Zeller, Samuel 229 Zimmermann, Eugen 263 Zimmermann, Markus 5 Zitz-Halein, Kathinka 304 Zscharnack, Leopold 239 Zuliani, Herr 122
AutorInnen Ruth Albrecht ist Professorin am Institut für Kirchen- und Dogmengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Angela Berlis ist Professorin für Geschichte des Altkatholizismus und Allgemeine Kirchengeschichte am Departement für Christkatholische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern sowie Co-Leiterin des Kompetenzzentrums Liturgik. Inmaculada Blasco Herranz ist Dozentin am Institut für Geschichte der Universität La Laguna (Teneriffa). Doris Brodbeck ist Pfarrerin der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich. Katharina Büttner-Kirschner ist freiberufliche Kunsthistorikerin und Historikerin in Detmold. Marina Cacchi ist freie Wissenschafterin und Lehrbeauftragte an der Universität von Bologna, Fakultät für Politikwissenschaften „Roberto Ruffilli“, Campus di Forlì. Paul W. Chilcote ist Professor für Historische Theologie und Wesley-Studien am Ashland Theological Seminary, Ohio und Direktor am Center for Applied Wesleyan Studies. Elizabeth M. Davis ist Leiterin der Kongregation der Sisters of Mercy von Neufundland, Kanada und lehrt am St. Augustine’s Seminary, Toronto School of Theology. Ute Gause ist Professorin für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Christiana de Groot ist Professorin für Religion am Calvin College in Grand Rapids, Michigan. Alexej Klutschewsky ist Linguist und Sozialwissenschaftler und arbeitet als freier Mitarbeiter am Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht der Universität Wien. Magda Motté ist emeritierte Professorin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Duisburg. Pamela S. Nadell hat den Lehrstuhl für Frauen- und Geschlechtergeschichte an der American University in Washington, D.C. inne und ist Direktorin des Jewish Studies Program. Bernhard Schneider ist Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Theologischen Fakultät Trier.
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AutorInnen
Michaela Sohn-Kronthaler ist Professorin für Kirchengeschichte und leitet das Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Eva Maria Synek ist Professorin für Orthodoxes Kirchenrecht am Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht der Universität Wien. Marion Ann Taylor ist Professorin für Altes Testament am Wycliff College der Universität von Toronto. Adriana Valerio ist Professorin für Geschichte des Christentums und Kirchengeschichte an der Facoltà di Lettere e Filosofia der Universität Neapel „Federico II“. Elfriede Wiltschnigg lehrt Kunstgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und an der Károli-Gáspár-Universität in Budapest.