Identitätskultur im langen 19. Jahrhundert: Vorstellungen vom Einzelnen und Individualität im Erziehungsratgeberdiskurs zwischen 1750–1900 [1 ed.] 9783737013635, 9783847113638


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Identitätskultur im langen 19. Jahrhundert: Vorstellungen vom Einzelnen und Individualität im Erziehungsratgeberdiskurs zwischen 1750–1900 [1 ed.]
 9783737013635, 9783847113638

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Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam Herausgegeben von Iwan-Michelangelo D’Aprile, Cornelia Klettke, Andreas Köstler, Ralf Pröve, Stefanie Stockhorst und Dirk Wiemann

Band 11

Sascha Nicke

Identitätskultur im langen 19. Jahrhundert Vorstellungen vom Einzelnen und Individualität im Erziehungsratgeberdiskurs zwischen 1750–1900

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Die Arbeit wurde im Jahr 2021 von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5251 ISBN 978-3-7370-1363-5

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Theoretische und methodologische Vorüberlegungen . . . . . . 1. Begriffsreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Historische Begriffsgenese des Identitätsterminus . . . . 1.1.1. Begriffstheorie im Rahmen des Substanz-Prozess-Dualismus . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Der Identitätsbegriff im Zeitfenster zwischen 1750 und 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Begriffsgenese und eigene Definition . . . . . . . . 1.4.2. Die Individualisierungsthese im Bezug zur Moderne-Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Kollektive Kategorien: (meine) Begriffsverständnisse im Kontext aktueller Forschungsstände . . . . . . . . . . . . 1.5.1. Familie – Ehe – Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3. Stände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4. Staat – Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5. deutsch – Volk – Vaterland – Patriotismus . . . . . 1.5.6. Weltbürgertum – Kosmopolitismus . . . . . . . . . 1.5.7. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Abschließendes Identitätskonzept . . . . . . . . . . . . . 1.6.1. Überblick über meine Begriffsverständnisse . . . . 1.6.2. Das Konzept von Identität: Definition, Funktionen und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

1.6.3. Eine Identitätskonzeption für den Zugang zu historischen Erkenntnissen . . . . . . . . . . . 2. Ratgeber als Quellenmedium . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Forschungsstand und Erkenntnispotentiale . . . . . 2.2. Historische Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Theoretische Probleme des Ratgebergenres . . . . . 2.4. Begriffsverständnis eines Ratgebers . . . . . . . . .

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IV Quellenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. (Historische) Identitätskonzeptionen: Merkmale und Erkenntnisse 4.1. Die Identitätskategorien in der Einzelbetrachtung . . . . . . . 4.1.1. Individuum und Individualität . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Familie – Ehe – Haus und Geschlecht . . . . . . . . . . . 4.1.3. Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4. Staat und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5. Volk, deutsch, Vaterland, Patriotismus . . . . . . . . . . 4.1.6. Weltbürgertum – Kosmopolitismus . . . . . . . . . . . . 4.1.7. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Identitätsmodelle im Ratgeberdiskurs über Erziehung zwischen 1750–1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Quellenuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven in den deutschsprachigen Erziehungsratgebern zwischen 1750 bis 1900 3.1. Der Entwurf vom Einzelnen und von Individualität . . . . 3.2. Grundlage der Gesellschaft: Familie, Ehe, Haus und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Familie – Ehe – Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Die Funktionalisierung des Geschlechts . . . . . . . . 3.3. Der Stand als Kennzeichen von Lebenswelten . . . . . . . . 3.4. Staat, Nation, Volk, deutsch und Vaterland als Identitätskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Staat und Nation als kollektive Bezugsrahmen des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Denkweisen vom Volk und die Mannigfaltigkeit des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Die Bedeutungen vom Vaterland und Patriotismus . 3.5. Der Bezug zum Ganzen: Weltbürgertum und Kosmopolitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Das Metaphysische: Religion als Identitätskategorie . . . .

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Inhalt

V Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1. Erziehungsratgeber . . . . . . . . . . . . . 6.1.2. Weitere zwischen 1750 bis 1900 publizierte Ratgeberquellen . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3. Ratgeberquellen vor 1750 . . . . . . . . . . 6.1.4. Historische Lexika . . . . . . . . . . . . . 6.1.5. Historische Zeitungen und Periodika . . . 6.1.6. Historische Monographien . . . . . . . . . 6.1.7. Historische Aufsätze . . . . . . . . . . . . 6.2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Mein außerordentlicher Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Ralf Pröve. Diesem habe ich nicht nur eine ausgezeichnete Betreuung mit einem äußerst anregenden intellektuellen Austausch und konstruktiven Reflexionen zu verdanken, sondern vor allem auch einen persönlichen Umgang, der in der Wissenschaft oftmals seinesgleichen sucht. Ralf, du weißt am besten, wofür ich dir alles dankbar bin! Ich danke Prof. Dr. Achim Landwehr für die hilfsbereite und wissenschaftliche Betreuung als Zweitgutachter, sein Feedback im Entstehungsprozess der Dissertation sowie für die Möglichkeit, mein Forschungsvorhaben in seinem Kolloquium an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vorzustellen. Aus dieser Präsentation und Diskussion habe ich wichtige Impulse gewonnen. Ein besonderer Dank für hilfreiche Ratschläge zu meiner Arbeit richtet sich zudem an die Organisator:innen und Teilnehmenden des Doktoranden-Workshops »Konstruktivistisches, wissenschaftliches Arbeiten in den kulturwissenschaftlich arbeitenden Geisteswissenschaften – Theorie und Methoden in der Dissertation. Vorgehensweise und Herausforderungen«, der am 15. und 16. 02. 2019 an der Universität Potsdam stattgefunden hat. Für ihre permanente sowohl intellektuelle als auch emotionale Unterstützung danke ich meiner Lebenspartnerin Miriam Hülßner. Und abschließend gilt es noch, meinen Eltern, Roland und Hella Nicke, zu danken, ohne deren fortlaufende Unterstützung das alles in keiner Weise möglich gewesen wäre!

I

Einleitung »Nun, es gibt nicht zwei Augenblicke bei einem lebenden Wesen, die einander identisch wären.«1 Henri Bergson

Die Beschäftigung mit der eigenen Wesenhaftigkeit, mit der Frage nach dem ›Wer bin ich‹ ist vermutlich auch deswegen ein zentrales menschliches Bedürfnis, weil jedes Leben von einem permanenten Wandel gekennzeichnet ist, in dem kein Moment einem anderen gleicht. Die Suche nach der eigenen Identität erscheint in diesem Zuge fast als eine logische Konsequenz, weil diese doch zumindest den Eindruck einer Konstanz suggeriert: eines dauerhaften eigenen Ichs. Begibt sich das Individuum jedoch auf diese Suche, wird es schnell mit einer Komplexität konfrontiert. Die scheinbar einfache Frage, wer man denn sei, ist gar nicht so leicht zu beantworten, da die Bezugspunkte der eigenen Identität nicht nur vielseitig, bisweilen gar ambivalent als auch veränderbar sind.2 Sondern weil sich insbesondere in unserer diversen, unsteten Gegenwart unendlich viele Möglichkeiten in Bezug auf die eigene Identitätsbildung zu ergeben scheinen. Denn wir leben heutzutage in einer Gesellschaft und Zeit, in der die traditionellen und strukturellen Beschränkungen des einzelnen Menschen scheinbar so gering wie nie zuvor ausfallen. Anstatt dass diese Freiheit und Unabhängigkeit zu einer Vereinfachung der Ich-Konstruktion führe, scheinen die vielen unterschiedlichen und für jeden realisierbar wirkenden Ich-Potentialitäten die zeitgenössischen Menschen jedoch zu überfordern.3 Als ein Indiz für diese Einschätzung 1 Bergson, Henri. Einführung in die Metaphysik. In: Henri Bergson. Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Übersetzt von Leonore Kottje. Mit einer Einführung von Friedrich Kottje. Meisenhein am Glan 1948. S. 180–225. Hier: S. 186. 2 Dies veranschaulicht sich beispielsweise bei einer zufälligen Befragung von Menschen, wie es Lydia Heller in einem Beitrag für den Deutschlandfunk aufzeigt. (Vgl. Heller, Lydia. Warum unsere Identität sich ständig wandelt. Mit Interviewbeiträgen von Jule Specht und Sascha Nicke. Auf: Deutschlandfunkkultur. Sendung Zeitfragen. 17. 08. 2017. 11. 09. 2020, 14:30 Uhr.) 3 Vgl. Zirfas, Jörg. Identität in der Moderne. Eine Einleitung. In: ders. und Benjamin Jörissen (Hrsg.). Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden 2010. S. 9–17. Hier: S. 10 u. 15. Sowie: Abels, Heinz. Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die

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Einleitung

lässt sich die Allgegenwärtigkeit der Identitätsthematik in den öffentlichen4 Diskursen5 als auch in der Wissenschaftswelt deuten, in welcher sich identitätsthematische Auseinandersetzungen durch alle Forschungszweige hinweg großer Beliebtheit erfreuen. Sei es in den Wirtschaftswissenschaften, in denen sich etwa mit Fragen zur Corporate Identity befasst wird,6 im naturwissenschaftlichen Bereich wie der Neurowissenschaft, in der zum Beispiel nach den Wechselwirkungen zwischen neuronalen Netzwerken und den gesellschaftlichen Einflussfaktoren gefragt wird,7 in den Sozialwissenschaften, in denen beispiels-

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Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden 2006. S. 241ff. Als auch: Kaufmann, Jean-Claude. Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität. Konstanz 2005. S. 117f. Unter Öffentlichkeit verstehe ich die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildete bürgerliche Öffentlichkeit, die »als Wirkungsraum der ›öffentlichen Meinung‹ (opinion publique, public opinion)« (Lüsebrink, Hans-Jürgen, Französische Kultur- und Medienwissenschaft. Systematische und historische Dimensionen. In: ders., Klaus Peter Walter, Ute Fendler, Georgette Stefani-Meyer und Christoph Vater (Hrsg.). Französische Kultur- und Medienwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen 2004. S. 9–37. Hier: S. 25.) definiert wird und zu der neben der »öffentlichen Meinung« auch deren Träger, Organe, Orte und Verbreitungsmedien gefasst werden (Intellektuelle, Presse, Druckereien etc.). Dabei handelt es sich sowohl qualitativ als auch quantitativ um vielschichtige, plurale Entstehungsprozesse, weswegen nicht von einer Singularität ausgegangen werden kann. Denn diese Konstituierungsprozesse vollzogen sich gleichzeitig und ungleichzeitig in verschiedenen sozialen Ebenen, Milieus und lokalen Räumen (quantitativ) und mit spezifischen Eigenarten und Formen und verschiedenen Wirkmächtigkeiten (qualitativ). (Vgl. Gestrich, Andreas. Jürgen Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit. Bedeutung und Kritik aus historischer Perspektive. In: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeit und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Ostfildern 2006. S. 25–39. Hier: S. 33f.) Diskurse verstehe ich als eine spezifische Form sozialer Praktiken, die der Verbreitung und Etablierung von sozialen Handlungsweisen dienen und denen verschiedene Machtrelationen inhärent sind. Deswegen gilt es, sie im Plural zu denken. Das bedeutet, dass es nicht den einen dominierenden Hegemonialdiskurs gibt, sondern eine Vielzahl sich gegenseitig bedingender und beeinflussender Diskurse. Ausführlich wird dies von Füssel und Neu sowie sehr schön anhand der Werksgenese von Foucault und den damit einhergehenden Weiterentwicklungen in der Diskurstheorie von Landwehr veranschaulicht. (Vgl. Füssel, Marian/ Neu, Tim. Doing Discours. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive. In: Achim Landwehr (Hrsg.). Diskursiver Wandel. Wiesbaden 2010. S. 213–235.) (Sowie: Landwehr, Achim. Foucault und die Ungleichheit. Zur Kulturgeschichte des Sozialen. In: Marian Füssel und Thomas Weller (Hrsg.). Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung. (=Themenheft der Zeitsprünge 15/1.) Frankfurt/Main 2011. S. 64–84.) (Siehe auch: Landwehr, Achim. Historische Diskursanalyse. Frankfurt/Main 2008.) Vgl. Haupt, Felix. Mitbestimmung des Betriebsrates bei der Einführung einer Corporate Identity. Baden-Baden 2020. Oder: Münch, Peter/ Ziese, Hella (Hrsg.). Corporate Identity. Wie Unternehmensidentität aufgebaut, entwickelt und rechtlich abgesichert wird. Zürich/ Basel/ Genf 2012. Vgl. Gorr, Claudia/ Bauer, Michael (Hrsg.). Gehirne unter Spannung. Kognition, Emotion und Identität im digitalen Zeitalter. Berlin 2019. Oder: Güntürkün, Onur/ Hacker, Jörg (Hrsg.). Geist, Gehirn, Genom, Gesellschaft. Wie wurde ich zu der Person, die ich bin? Vorträge anlässlich der Jahresversammlung vom 20. bis 22. September in Halle (Saale). In der Reihe: Nova

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weise das Verhältnis des Individuums und der Gesellschaft immer wieder zur Diskussion gebracht wird,8 oder in den Geisteswissenschaften, in denen schon seit vielen Jahrzehnten Identitätsthemen behandelt9 und etwa bestimmte theoretische10, gruppenbezogene11 oder individuelle12 Identitätsformen untersucht werden.13 Es zeigt sich damit, dass es an identitätsbezogenen Untersuchungen in kaum einem Forschungsbereich zu mangeln scheint. Dem stehen auch die historisch arbeitenden Kulturwissenschaften in nichts nach. Neben ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen im identitätsthematischen Forschungsfeld, in denen vor allem die historischen Konzeptionsweisen eines Individuums oder die kolportierten Menschenbilder von der Akteursgruppe14 sogenannter Ge-

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Acta Leopoldina. Abhandlungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Bd. 120. Herausgegeben von Jörg Hacker, Präsident der Akademie. Halle (Saale) 2014. Vgl. Reckwitz, Andreas. Das Ende der Illusion. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin 2019. Sowie: Reckwitz, Andreas. Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. Oder: Göschel, Albrecht. Identifikation und Identität. In: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.). Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18. Band 16. Thema Welt. Kultur. Politik. Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung. Herausgegeben von Ulrike Blumenreich, Sabine Dengel, Wolfgang Hippe und Norbert Sievers. S. 91–100. So veröffentlichten beispielsweise Karlheinz Stierle und Odo Marquard bereits im Jahr 1979 das Sammelband Identität. (Vgl. Marquard, Odo/ Stierle, Karlheinz (Hrsg.). Identität. München 1979.) Theoretische Identitätsfragen stehen im Vordergrund, wenn etwa kulturelle, diverse oder narrative Identitätsformen in den Blick genommen werden. (Vgl. Bizeul, Yves/ Rudolf, Dennis Bastian (Hrsg.). Gibt es eine kulturelle Identität? Baden-Baden 2020.) (Sowie: Koll, Julia/ Nierop, Jantine/ Schreiber, Gerhard (Hrsg.). Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherung an das Phänomen der Intersexualität. Hannover 2018.) (Oder: Nixon, Christopher (Hrsg.). Identität(en). Freiburg/ München 2018.) Sei es etwa in den Religionswissenschaften, in denen die Identitätskonzepte von Glaubensgruppen konstruiert werden, (Vgl. Jung, Dietrich/ Sinclair, Kirstine (Hrsg.). Muslim Subjectivities in Global Modernity. Islamic Traditions and the Construction of Modern Muslim Identities. Leiden/ Boston 2020.) oder etwa in den Literaturwissenschaften, in denen spezifische Akteursgruppen der Verfassenden nach identitätsthematischen Fragen analysiert werden. (Vgl. Baltes-Löhr, Christel/ Kory, Beate Petra/ Sandor, Gabriela (Hrsg.). Auswanderung und Identität. Erfahrungen von Exil, Flucht und Migration in der deutschsprachigen Literatur. Bielefeld 2019.) Auch in der Auseinandersetzung mit personalen Identitätsvorstellungen finden sich eine Vielzahl an Werken. (Vgl. Portenhauser, Friederike. Personale Identität in der Theologie des Paulus. Tübingen 2020.) (Sowie: Gäb, Sebastian/ Harion, Dominic/ Welsen, Peter (Hrsg.). Person und Identität. Regensburg 2018.) (Oder: Crone, Katja. Identität von Personen. Eine Strukturanalyse des biographischen Selbstverständnisses. Berlin/ Boston 2016.) Die Auflistung ließe sich noch mit anderen Forschungsbereichen erweitern, worauf jedoch verzichtet wird, um den Fokus auf die Geschichtswissenschaften zu legen. Unter Akteur verstehe ich ein menschliches Wesen, das trotz seiner gesellschaftlichen Einbettung und deren machtpolitischen Hegemonien zu eigenständigen Handlungen fähig ist. Eine ausführlichere Erläuterung des Begriffsverständnisses erfolgt im Zuge der Skizzierung eines Modells von menschlicher Handlungsfähigkeit. (Siehe das Kapitel 1.3. Subjekt.)

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lehrter im Fokus stehen,15 hat sich die ältere Forschung primär mit der Herausbildung von Individualität und den Formen von Selbstwahrnehmungen bei historischen Akteuren oder Akteursgruppen befasst.16 In den neueren Forschungen sind dagegen Praktiken17 wie das Onanieren, Schwimmen oder Sprechen in den Vordergrund gerückt, anhand deren sich historische Akteure selbst erfahren konnten,18 oder es werden bestimmte Formen wie etwa eine nationale19 15 Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit verschiedenen wissenschaftlichen Identitätsmodellen liefert beispielsweise Friederike Portenhauser im ersten Teil ihrer Arbeit, in dem sie Identitätsvorstellungen von Gottfried Wilhelm Leibniz bis Zygmunt Bauman in den Blick nimmt, (Vgl. Portenhauser (2020). Personale Identität. S. 12–216.) oder etwa Xi Luo, der sich mit Kants Denkweisen u. a. von Identität befasst (Vgl. Luo, Xi. Aspekte des Selbstbewusstseins bei Kant. Identität, Einheit und Existenz. Berlin 2019.) oder beispielsweise Michael Löhr, der philosophische Selbst- und Identitätskonzeptionen von der Antike bis hin ins 20. Jahrhundert untersucht. (Vgl. Löhr, Michael. Die Geschichte des Selbst. Personale Identität als philosophisches Problem. Neuried 2006.) 16 Exemplarisch sei für diesen um die Jahrtausendwende verbreiteten Trend in der Geschichtswissenschaft auf das Werk Die Entdeckung des Individuums von Richard van Dülmen (Vgl. Dülmen, Richard van. Die Entdeckung des Individuums. 1500–1800. Frankfurt/Main 1997.) sowie auf die 24 verschiedenen Beiträge in dem von van Dülmen herausgegebenen Sammelband Die Entdeckung des Ich verwiesen, (Vgl. Dülmen, Richard van (Hrsg.). Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/ Weimar/ Wien 2001.) in denen individuelle Selbstwahrnehmungen von historischen Zeitgenossen beispielsweise anhand von Körperwahrnehmungen (Vgl. Labouvie, Eva. Individuelle Körper. Zur Selbstwahrnehmung von »Haut und Haar«. In: Richard van Dülmen (Hrsg.). Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/ Weimar/ Wien 2001. S. 163–195.) oder anhand autobiographischer Quellen konstruiert wurden. (Vgl. Ulbricht, Otto. Ich-Erfahrung. Individualität in Autobiographien. In: Richard van Dülmen (Hrsg.). Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/ Weimar/ Wien 2001. S. 109–144.) Erwähnt sei zudem noch das erstmalig zu Beginn der 1990er Jahre und 2015 erneut aufgelegte Werk Eigen-Sinn von Alf Lüdtke, in dem die kollektiven Selbstwahrnehmungen von der sogenannten Arbeiterschaft ab den 1870er Jahren untersucht wurden. (Vgl. Lüdtke, Alf. Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Neuauflage. Münster [zuerst 1993] 2015.) 17 Unter Praktiken im Plural verstehe ich »spezifische soziale Handlungsmuster von Akteuren« (Füssel, Marian. Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung. In: Arndt Brendecke (Hrsg.). Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln/ Weimar/ Wien 2015. S. 21–33. Hier: S. 23.), während eine Praktik im Singular als situative Realisierung von Kommunikation und Handlungsweisen der Akteure definiert wird, die von den beteiligten materiellen Objekten wie Gegenstände oder Körper beeinflusst werden. (Vgl. ebenda. S. 26.) Generell liefert der genannte Artikel von Füssel einen guten Überblick über die historische Genese sowie die unterschiedlichen Begriffskonzeptionen von Praktik/Praktiken in den jeweiligen Forschungsbereichen. Wie der praxeologische Ansatz angewandt und wie dabei methodologisch betrachtet Erkenntnis gewonnen wird, führt Ralf Pröve sehr schön aus. (Vgl. Pröve, Ralf. Geschichtskunde vs. Geschichtswissenschaft. Vielfalt statt Einfalt. Ein Appell für sozialkonstruktivistisches Forschen und selbstreflektiertes Lehren. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 68. Jg. Heft 5 (2020). S. 393–416. Hier: S. 404.) 18 Vgl. u.a. Lindemann, Gesa/ Kirchhofer, Anton. Individualität, Seele und Körper in Onaniediskursen der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur diskursiven Institutionalisierung des menschli-

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oder jüdische20 Identität in bestimmten Kontexten oder Zeiten untersucht. Auffallend erscheint es bei der Betrachtung der geschichtswissenschaftlichen Forschungsliteratur jedoch, dass es trotz der umfangreichen identitätsthematischen Auseinandersetzungen kaum Arbeiten gibt, in denen die historischen Identitätsvorstellungen in ihrer Komplexität21 konstruiert werden. Denn im Zuge der Konzentration auf einzelne Identitätsformen oder Praktiken von Selbstwahrnehmungen scheint der Aspekt der Mannigfaltigkeit von Identität in den Hintergrund zu rücken. Dies verdeutlicht sich darin, dass in diesen Analysen eine Mehrzahl an Identitätskategorien kaum Berücksichtigung findet und die Identitätskonzepte nicht hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der zugestandenen Einzelheit und der kollektiven Verortung untersucht werden. Auch während des Forschungstrends um die letzte Jahrtausendwende, als Ego-dokumentarische Quellen wie Tagebücher, Briefe oder autobiographische Hinterlassenschaften vorwiegend im Hinblick auf Selbstwahrnehmungen unterschiedlicher historischer Akteure oder auf spezifische historische Varianten und Bedingungen der Selbstkonstitution analysiert worden sind, richtete sich der Fokus vor allem auf einzelne Identitätsformen oder auf die Herausbildung von Individualität.22 Einer

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chen Körpers. In: Michael Hohlstein, Rudolf Schlögl und Isabelle Schürch (Hrsg.). Der Mensch in Gesellschaft. Zur Vorgeschichte des modernen Subjekts in der Frühen Neuzeit. Paderborn 2019. S. 179–207. Sowie: Mallinckrodt, Rebekka von. Außer sich sein – bei sich sein – über sich hinauswachsen. Schwimmen als Praktik der Subjektivierung im langen 18. Jahrhundert. In: Michael Hohlstein, Rudolf Schlögl und Isabelle Schürch (Hrsg.). Der Mensch in Gesellschaft. Zur Vorgeschichte des modernen Subjekts in der Frühen Neuzeit. Paderborn 2019. S. 209–232. Oder: Krampl, Ulrike. Akzent. Sprechen und seine Wahrnehmung als sensorielle Praktiken des Sozialen. Situationen aus Frankreich im 18. Jahrhundert. In: Arndt Brendecke (Hrsg.). Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln/ Weimar/ Wien 2015. S. 435–446. Vgl. u. a. Ebke, Almuth. Britishness. Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien. 1967 bis 2008. Berlin/ Boston 2019. Oder: Thurner, Erika. Nationale Identität und Geschlecht in Österreich nach 1945. Innsbruck 2018. Als auch: Klein, Michael. Die nationale Identität der Deutschen. Commitment, Grenzkonstruktionen und Werte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden 2014. Vgl. u. a. Heyde, Jürgen. »Das neue Ghetto«? Raum, Wissen und jüdische Identität im langen 19. Jahrhundert. Göttingen 2019. Oder: Müller, Günter. Emanzipation, Integration, Identität. Die jüdische Gemeinschaft in Hagen im 19. und 20. Jahrhundert. Essen 2018. Als auch: Neumann-Schliski, Jens. Konfession oder Stamm? Konzepte jüdischer Identität bei Redakteuren jüdischer Zeitschriften zwischen 1840 bis 1881 im internationalen Vergleich. Bremen 2011. Gemeint ist damit, dass in kaum einer der bisherigen historischen Analysen verschiedenartige Identitätseinheiten wie etwa die Kategorie des Einzelnen oder kollektive Formationen wie das Geschlecht, die Familie, der Staat, die Nation, die Religion usw. zusammenhängend untersucht und somit mehrdimensionale Identitätsmodelle der historischen Akteure konstruiert worden sind. Dieser Tatbestand exemplifiziert sich nicht nur anhand des bereits verwiesenen, von Richard van Dülmen herausgegebenen Sammelbandes Die Entdeckung des Ich, (Siehe oben.) sondern auch anhand weiterer Sammelbänder und den darin enthaltenen Beiträgen aus dieser Zeit.

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von mehreren Gründen23 für die Abwesenheit von solchen Forschungsarbeiten scheint meines Erachtens in der äußerst verbreiteten und wirkmächtigen Vormoderne-Moderne-Erzählung und der damit einhergehenden Individualisierungsthese zu bestehen. Denn diese implizieren die Grundannahme, dass es sich bei den vormodernen (west)europäischen Gesellschaften um einfache, als göttlich bestimmte und somit unveränderlich gedachte Lebenswelten gehandelt hätte, deren Angehörige absolut von der Gemeinschaft und deren traditionalen Strukturen determinierte Wesen gewesen wären und demzufolge über keinerlei individuelle Wahrnehmungen verfügt hätten. Ab der Wende zum 19. Jahrhundert hätte sich dann ein fundamentaler Wandel vollzogen, in dessen Folge komplexe Lebenswelten sowie sich ihrer selbst bewusst seiende Individuen entstanden wären, die sich aus den sie vormals bestimmenden Strukturen herausgelöst hätten und regelrecht zur Selbstgestaltung ihrer Leben gezwungen worden wären. Der für das 19. Jahrhundert kolportierte Individualisierungsprozess kennzeichne demgemäß genauso die moderne Gesellschaft wie ein über Selbstbewusstsein, Identitäts- als auch Individualitätsvorstellungen verfügendes Individuum.24 Identität wird in diesem Zuge als ein Produkt moderner Gesell(Vgl. u. a. Arnold, Klaus/ Schmolinsky, Sabine/ Zahnd, Urs Martin (Hrsg.). Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bochum 1999.) (Sowie: Porter, Roy (Hrsg.). Rewriting the Self. Histories from the Renaissance to the Present. London/ New York 1997.) 23 Ein weiterer Grund könnte in dem theoretischen Aufwand liegen, der einer solchen Analyse vorangestellt werden muss. Denn wie ich es in meinem ersten Kapitel veranschaulichen werde, muss für solch eine Forschungsarbeit ein wissenschaftlich plausibles und anwendbares Identitätskonzept entwickelt werden, in dem nicht nur der Identitätsbegriff an sich, sondern alle zu untersuchenden Identitätskategorien hergeleitet und definiert werden. (Siehe das Kapitel 1. Begriffsreflexion.) Je mehr Identitätseinheiten dementsprechend analysiert werden, umso umfangreicher wird der theoretische Aufwand. 24 Vgl. Renn, Joachim. Selbstentfaltung. Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven. Soziologische Übersetzungen II. Bielefeld 2016 S. 17ff. Reproduziert wird die Vormoderne-Moderne-Erzählung etwa von Rudolf Helmstetter, wenn er schreibt: »Der moderne Mensch ist (zumindest der Idee nach) nicht mehr ständisch definiert und festgelegt, er ist, was er aus sich macht, er kann »etwas aus sich machen«, etwas, das nicht schon durch Geburt und Herkunft geprägt ist« (Helmstetter, Rudolf. Wille und Wege zum ›Erfolg‹. Zu den Anfängen der Erfolg-Propaganda in Deutschland. In: Stephanie Kleiner und Robert Suter (Hrsg.). Guter Rat. Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900–1940. Berlin 2015. S. 61–92. Hier. S. 75.); von Michael Klein, bei dem es heißt: »Während der vormoderne Mensch in überschaubaren, aber auch starren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bindungen lebte, brachen diese Bindungen im Rahmen der bereits angesprochenen Modernisierung (gekennzeichnet durch wachsende Mobilität, Pluralität und Differenzierung) nach und nach auf, wodurch sich die Frage nach Identität und Bewusstsein immer wieder neu stellte« (Klein, Michael. Zwischen Reich und Region. Identitätsstrukturen im Deutschen Kaiserreich. 1871– 1918. Stuttgart 2005. S. 27.); oder auch von Jean-Claude Kaufmann, der formuliert: »Der Aufstieg der Identitäten hat seinen Ursprung in der Auflösung der Gemeinschaften, die durch die Individualisierung der Gesellschaft hervorgerufen wurde. […] Die der Tradition unterworfene Gemeinschaft [der Vormoderne] regelte sich von selbst, sie definierte die In-

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schaften dargestellt, über das vormoderne historische Akteure nicht verfügt hätten.25 In Folge dieser Negation von Identitätsvorstellungen in der Vormoderne erscheint es wenig verwunderlich, dass sich in der Forschung bisher kaum Untersuchungen über jenen Tatbestand finden. Mit der folgenden Arbeit werde ich diese Lücke versuchen zu schließen und aufzeigen, welche Vorstellungsweisen und Modelle von Identität im 18. und 19. Jahrhundert zirkulierten. Konkret soll anhand der Analyse von deutschsprachigen Erziehungsratgebern, die im Zeitraum zwischen 1750 und 1900 publiziert worden sind, herausgefunden werden, welche Denkweisen und Bewertungen von den Ratgeberautoren für die Kategorie des Einzelnen sowie für kollektive Gruppenformationen entwickelt worden sind. Welche Grundannahmen sind in diesem Zuge einem Individuum zugeschrieben, welche verschiedenen Konzepte, Formen und Konstruktionsweisen von Individualität entworfen und welches Verhältnis ist zwischen einem einzelnen Wesen und den Kollektiveinheiten skizziert worden? Ratgeberquellen erscheinen mir für die Beantwortung dieser Fragen besonders geeignet zu sein, denn jedem Rat, gleich ob es sich um Verhaltensvorschriften für Eltern, Hinweise für Reisende oder um gesellschaftliche Pflichten für bestimmte soziale Rollen oder Praktiken26 dividuen durch gleichzeitige soziale Konstruktion« (Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 19.). Auch die Entstehung von Individualität ist dezidiert von der Forschung an die Moderne geknüpft worden. Dies veranschaulicht sich etwa bei van Dülmen, wenn er schreibt: »Eine ausgeprägte moderne Individualität im Sinne aufklärerischen, bürgerlichen Denkens hat es wohl kaum vor dem Ende des 18. Jahrhunderts gegeben« (Dülmen (1997). Entdeckung des Individuums. S. 10.); oder bei Ulbricht, wenn es heißt: »Die moderne Individualität bildete sich bekanntlich am Ende des 18. Jahrhunderts heraus, als das Individuum zum Zentrum der Wahrnehmung, des Fühlens und der Reflektion wurde« (Ulbricht (2001). IchErfahrung. S. 110.). 25 Diese These wird beispielsweise von Jürgen Straub dezidiert vertreten, wenn er schreibt: »Der Identitätsbegriff hat seine Wurzeln in der westlichen Welt industrialisierter Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Auf sie bezogen erhielt er seinen spezifischen Sinn. Demgemäß ist es schlicht falsch, diesen Begriff als universale anthropologische Kategorie zu gebrauchen und auf alle möglichen Leute in der Vergangenheit und Gegenwart anzuwenden. Wer von Identität in der hier analysierten Bedeutung spricht, bewegt sich in spätmodernen Gesellschaften« (Straub, Jürgen. Identität. In: Ralf Konersmann (Hrsg.). Handbuch Kulturphilosophie. Stuttgart 2012. S. 334–339. Hier: S. 335.). Auch in einem später veröffentlichtem Aufsatz bekräftigt er diese Charakterisierung und spricht dabei den vormodernen Akteuren die Voraussetzungen für die Ausbildung von Identität ab. Denn es heißt: »Der Subjektbegriff setzt – wie die Begriffe des »Selbst« und ganz besonders der »Identität« – eine sprach-, reflexions- und handlungsfähige Person voraus, die sich von sich selbst distanzieren, sich auf sich beziehen und zu ihrem Leben Stellung nehmen kann, die sich selbst erleben und reflektieren, verstehen und artikulieren, kurz: die sich selbst ernst nehmen kann. […] Das änderte sich in nennenswertem Umfang erst mit der Entwicklung komplexer Gesellschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert« (Straub, Jürgen. Ein Selbstbildnis erzählen. Narrative Identität, Kontingenz und Migration. In: Susanne Walz-Pawlita, Beate Unruh und Bernhard Janta (Hrsg.). Identitäten. Bonn 2015. S. 17–42. Hier: S. 22–24. Hervorhebung im Original.). 26 Worin die Notwendigkeit für die theoretische Erweiterung des Konzeptes der sozialen Rolle durch Praktiken bestanden hat, wird sehr gut in dem Sammelband Selbst-Bildungen erklärt.

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handelt, liegt eine spezifische Identitätskonzeption zugrunde, in der sich die präferierten Wertvorstellungen der Verfassenden als auch der zeitgenössische Gesellschaftsrahmen widerspiegeln. In Erziehungsratgebern verdichten sich diese identitätsthematischen Zusammenhänge zudem, weil neben Antworten auf Problemstellungen in der Erziehung grundlegende Identitätsaspekte thematisiert werden, zum Beispiel welche Wertvorstellungen es zu vermitteln gelte oder welche Kollektivformationen relevante Bezugspunkte für das einzelne Kind wären. Indem ich also deutschsprachige Erziehungsratgeberquellen nach den ihnen inhärenten Identitätsvorstellungen untersuche, konstruiere ich einen spezifischen Diskursraum historischer Schreib- und Denkweisen von Identität innerhalb der Akteursgruppe der Ratgeberverfassenden.27 Das öffentliche Reden und Schreiben über Identität in den Ratgeberquellen verstehe ich dabei als eine Form kultureller und sozialer Praktik, die ich als eine Identitätskultur bezeichne.28 Deren Konstruktion ermöglicht es mir herauszufinden, welche Verständ(Vgl. Alkemeyer, Thomas/ Budde, Gunilla/ Freist, Dagmar. Einleitung. In: dies. (Hrsg.). Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013. S. 9– 30.) (Sowie: Freist, Dagmar. »Ich will dir selbst ein Bild von mir entwerfen«. Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik. In: dies., Thomas Alkemeyer und Gunilla Budde (Hrsg.). Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013. S. 151–174. Hier: S. 161ff. u. 172ff.) (Als auch: Etzemüller, Thomas. Der ›Vf.‹ als Subjektform. Wie wird man zum ›Wissenschaftler‹ und (wie) lässt sich das beobachten? In: Dagmar Freist, Thomas Alkemeyer und Gunilla Budde (Hrsg.). Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013. S. 175–196. Hier: S. 176f. u. 186f.) 27 Zu den konkreten Erkenntnispotentialen als auch Erkenntnisbeschränkungen, die aus der Analyse von Ratgeberquellen resultieren, äußere ich mich im Kapitel 2. Ratgeber als Quellenmedium. 28 Ich verstehe Kultur als verbreitete Praktiken öffentlicher Kommunikationen, die im gesellschaftlichen Rahmen unter spezifischen Bedingungen, Codes und Gesetzen realisiert werden und die in meiner Dissertation auf den Themenbereich der Identität im Quellenspektrum der Ratgeberquellen eingegrenzt werden. Mit meiner Begriffsdefinition folge ich dem von Ralf Pröve formulierten Begriffsverständnis, bei dem unter Kultur »jedwede Äußerung von Akteuren, ihr spezifisches In-der-Welt-sein, also Sprache, Kleidung, Gesten, Gebär- den, Körperhaltungen, Handlungen und vieles mehr« (Pröve (2020). Geschichtskunde vs. Geschichtswissenschaft. S. 402.) verstanden wird. Dies entspricht einer Abweichung sowohl von der innerhalb der Kulturwissenschaften verbreiteten Begriffsdefinition von Kultur, (Vgl. Hansen, Klaus. Kultur, Kollektiv, Nation. Schriften der Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft. Passau 2009. S. 16.) als auch von der Begriffsbandbreite, wie sie im Forschungsfeld der Kultursoziologie zu finden ist. (Ein aktueller Überblick findet sich bei: Adloff, Frank/ Büttner, Sebastian/ Moebius, Stephan/ Schützeichel, Rainer. Zur Einführung. In: dies. (Hrsg.). Kultursoziologie. Klassische Texte. Aktuelle Debatten. Ein Reader. Frankfurt/Main 2014. S. 9–19. Hier: S. 12ff.) (Sowie bei: Reckwitz, Andreas. Subjekt. 2., unveränderte Auflage. Bielefeld 2010. S. 18f.) Hinsichtlich des Begriffsverständnis gilt es zu bedenken, dass es sich bei Kultur immer um plurale, heterogene und offene Erscheinungsformen, Diskurse und Praktiken handelt, die von Akteuren beeinflusst und permanent modifiziert werden, weswegen von einer homogenen, einheitlichen Kultur nie die Rede sein kann. (Vgl. Longato, Fulvio. Interpretation und Kommunikation. Lebensformen im Dialog. In: Barbara

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nisweisen von Identität und von Individualität in den öffentlichen Diskursen zwischen 1750 bis 1900 existierten und welche potentiellen Identitätsangebote somit den jeweiligen Zeitgenossen verfügbar schienen. Meine Untersuchung ist dementsprechend dafür geeignet, die skizzierte Forschungsannahme zu verifizieren, ob die historischen Akteure der Vormoderne über keinerlei Selbstwahrnehmungen und Identitätsvorstellungen verfügt hätten und Identität ein modernes Phänomen wäre. Um diese Thesen jedoch mithilfe der Analyse historischer Ratgeberquellen über Erziehung überprüfen zu können, muss in einem ersten Schritt nicht nur der Terminus aus dem gegenwärtigen Forschungsdiskurs über Identität theoretisch sowie historisch hergeleitet und definiert werden. Sondern darüber hinaus gilt es, ein historisch anwendbares Identitätskonzept zu entwickeln, in dem auch die weiteren, für eine solche Konzeption zentralen Begrifflichkeiten sowie die Kollektivkategorien kontextualisiert und definiert werden, die in meiner historischen Analyse Berücksichtigung finden.29 Des Weiteren muss vorab das von mir genutzte Quellenmedium der Erziehungsratgeber in den Blick genommen und kurz methodisch eingeführt werden. Konkret soll in diesem Zuge der gegenwärtige Forschungsstand, eine Genese, die Erkenntnispotentiale sowie die theoretischen Herausforderungen skizziert sowie eine Begriffsdefinition eines Ratgebers formuliert werden. Ist dieser zweite Schritt vollzogen, kann sich der Quellenanalyse gewidmet und sowohl die in den Ratgeberquellen über Erziehung vermittelten Denkweisen und Bewertungen vom Einzelnen, von Individualität als auch von den Kollektivkategorien konstruiert werden. Um dabei eine klare Unterscheidung zwischen den Analyseebenen der Forschung und der Quellen zu gewährleisten, konzentriere ich mich im dritten Kapitel voll und ganz auf die Quellenanalyse der historischen Identitätsmodelle (Quellenebene), während ich die daraus resultierenden Erkenntnisse im folgenden vierten Kapitel auswerte und in den Kontext der gegenwärtigen Forschungsdiskussionen

Henry und Alberto Pirni (Hrsg.). Der asymmetrische Westen. Zur Pragmatik der Koexistenz pluralistischer Gesellschaften. Bielefeld 2012. S. 93–112. Hier: S. 95.) 29 Die zentralen Ausdrücke eines Identitätskonzeptes bilden die Termini Individuum, Subjekt und Individualität. Als potentielle Identitätskategorien fungieren in meiner historischen Analyse neben der Einzelheit das zu einer Kategorie zusammengefasste Kollektiv Familie, Ehe, Haus, das Geschlecht, der Stand, der Staat, die Nation, das Vaterland und Patriotismus, das Volk, deutsch, das Weltbürgertum sowie die Religion. Anhand dieser Kollektivkategorien werde ich die Mannigfaltigkeiten in den historischen Identitätsmodellen der Ratgeberverfassenden konstruieren. Es ließen sich sicherlich noch weitere relevante kollektive Bezugskategorien für die historischen Gesellschaften im Untersuchungszeitraum finden, ich reduziere mich jedoch auf die genannten Einheiten, weil mit deren Analyse schon eine umfassende Untersuchung über die historischen Identitätsvorstellungen der Ratgeberautorinnen realisiert werden kann, die einen gewissen Grad an Komplexität erfüllt.

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und -annahmen (Forschungsebene) setze.30 In der Schlussbetrachtung werden dann die grundlegenden Erkenntnisse abstrahiert und die Frage beantwortet, ob die historischen Charakterisierungen der Vormoderne-Moderne-Erzählung und der Individualisierungsthese plausibel erscheinen und es Identität als ein Produkt moderner Gesellschaften zu betrachten gelte oder ob nicht auch schon vormoderne Akteure Vorstellungen von einer eigenen Identität und Individualität entwickelt haben könnten.

30 Ausführlicher befasse ich mich mit dieser Unterscheidung zwischen Quellen- und Forschungsbegriffen und deren erkenntnistheoretischen Konsequenzen in einem Aufsatz. (Vgl. Nicke, Sascha. Identität im Spannungsfeld von Theorie, Quellen und meiner selbst. Eine Möglichkeit von angewandten, konstruktivistischen Arbeitens in der Geschichtswissenschaft. In: Jelena Tomovic´ und ders. (Hrsg.). Un-Eindeutige Geschichte(n)?! Theorien und Methoden in den Kultur-/Geschichtswissenschaften. Berlin 2020. S. 35–59. Hier: S. 39.) Eine grundlegende Auseinandersetzung und sehr gute Veranschaulichung zur Unterscheidung zwischen Forschungs- und Quellenbegriffen liefert Ralf Pröve. (Vgl. Pröve (2020). Geschichtskunde vs. Geschichtswissenschaft. S. 407–410.) (Sowie: Pröve, Ralf. Achtsam Wissen schaffen. Ein Plädoyer für mutiges und selbstbestimmtes Nachdenken. In: Jelena Tomovic´ und Sascha Nicke (Hrsg.). Un-Eindeutige Geschichte(n)?! Theorien und Methoden in den Kultur-/Geschichtswissenschaften. Berlin 2020. S. 19–34. Hier: S. 30f.)

II

Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

1.

Begriffsreflexion

Ein wichtiger Schritt zur Realisierung meines Forschungsvorhabens besteht in der Entwicklung einer für die Geschichtswissenschaft nutzbaren Definition des Identitätsbegriffes und eines wissenschaftlich schlüssigen Identitätskonzeptes, welches den identitätsspezifischen Zugang zu historischen Ratgeberquellen ermöglicht. Um dieses Vorhaben erfolgreich zu verwirklichen, führt kein Weg daran vorbei, den geschichtswissenschaftlichen Forschungsrahmen zeitweilig zu verlassen und in anderen wissenschaftlichen Feldern nach den Grundfragen und Problematiken zu suchen, die es für die Entwicklung eines anwendbaren Analyseapparates zu klären gilt. Ein Umweg über andere Wissenschaftsbereiche muss genommen werden, weil identitätstheoretische Publikationen innerhalb der Geschichtswissenschaft kaum vorhanden sind.31 Als ein wichtiger, zu be31 Eine Ausnahme stellt die 2006 publizierte Dissertation Wolfgang Harböcks dar, der sich in dieser mit den Identitätskonzepten der deutschen Unterschichten zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. (Vgl. Harböck, Wolfgang. Stand, Individuum, Klasse. Identitätskonstruktionen deutscher Unterschichten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Münster 2006. S. 9–97.) Ansonsten ist in den identitätsthematischen Forschungsarbeiten innerhalb der historischen Zunft primär eine Theorieabwesenheiten zu verzeichnen, die sich entweder darin verdeutlicht, dass der für die Untersuchung zentrale Begriff Identität in einer Fußnote definiert wird, wie es sich etwa bei Klein oder in den Beiträgen von Axel Walter und Heinz-Dieter Heimann im Sammelband Hybride Identitäten in den preußisch-polnischen Stadtkulturen der Aufklärung zeigt. (Vgl. Klein (2005). Zwischen Reich und Region. S. 27. Fußnote 71.) (Sowie: Walter, Axel. Regionale Identitätskonzepte der ›ost-‹ und ›westpreußischen‹ Landeshistoriographie in den gelehrten Zeitschriften der 1720er Jahre. In: Joanna Kodzik und Wlodzimierz Zientara (Hrsg.). Hybride Identitäten in den preußisch-polnischen Stadtkulturen der Aufklärung. Studien zur Aufklärungsdiffusion zwischen Stadt und Land, zur Identitätsbildung und zum Kulturaustausch in regionalen und internationalen Kommunikationsnetzwerken. Bremen 2016. S. 23–52.) (Oder: Heimann, Heinz-Dieter. Dr. Johann Briesmann (1488–1549): Barfüsser und gewesener Mönch. Hybride Konfessionskultur im Selbstzeugnis eines franziskanischen Gelehrten und Anhängers Martin Luthers. In: Joanna Kodzik und Wlodzimierz Zientara (Hrsg.). Hybride Identitäten in den preußisch-polnischen Stadtkulturen der Aufklärung. Studien zur Aufklärungsdiffusion

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

handelnder Grundaspekt stellt sich der Substanz-Prozess-Dualismus in der Identitätstheorie heraus, den ich im Zuge einer kurzen Begriffsgenese reflektieren und dabei eine eigene Position beziehen werden. Die Notwendigkeit für einen solchen Arbeitsschritt besteht darin, dass (fast) alle Identitätsmodelle in ihrem theoretischen Korsett auf einer von beiden Grundannahmen basieren, wodurch mit deren Analyse die grundsätzlichen Unterschiede und Prämissen innerhalb der Identitätstheorie überblickt werden können. Als Zweites richtet sich die Aufmerksamkeit auf die historische Kontextualisierung des Identitätsbegriffes, besonders auf meinen Untersuchungszeitraum zwischen 1750 und 1900. Dafür werde ich historische Lexika analysieren, um herauszufinden, welche Begriffsnutzungen und -vorstellungen im Zeitraum zwischen 1750 und 1900 im o¨ ffentlichen Raum kursierten. Darauf folgend werde ich die für die Entwicklung eines Identitätskonzeptes zentralen Begrifflichkeiten Individuum, Subjekt und Individualität herleiten, definieren und untereinander sowie vom Identitätsausdruck abgrenzen, womit überhaupt erst die Voraussetzung erfüllt wird, um ein wissenschaftlich anwendbares Identitätskonzept zu entwerfen. Nach diesem Schritt gilt es sich den in der Untersuchung berücksichtigten kollektiven Identitätsformationen zuzuwenden und sowohl eine eigene Definition von diesen Begrifflichkeiten zu formulieren, als auch einen groben Forschungsüberblick über die jeweiligen Kategorien zu geben. Damit deren Kontextualisierungen nicht allzu umfassend ausfallen, nehme ich einige der besagten Kollektivkategorie zusammen in den Blick.32 Ist dieser Überblick skizziert, widme ich mich wieder dem Identitätsterminus, fasse die aus den Begriffsdefinitionen gewonnenen Erkenntnisse zusammen und formuliere abschließend eine für die Geschichtswissenschaft nutzbare Definition des Identitätsbegriffes.

zwischen Stadt und Land, zur Identitätsbildung und zum Kulturaustausch in regionalen und internationalen Kommunikationsnetzwerken. Bremen 2016. S. 173–188.) Oder der Identitätsbegriff erfährt gar keine Definition, wie es etwa in den Beiträgen von Piotr Kociumbas, Joanna Kodzik und Holger Böning im erwähnten Sammelband Hybride Identitäten in den preußisch-polnischen Stadtkulturen der Aufklärung der Fall ist. (Vgl. Kodzik, Joanna/ Zientara, Wlodzimierz (Hrsg.). Hybride Identitäten in den preußisch-polnischen Stadtkulturen der Aufklärung. Studien zur Aufklärungsdiffusion zwischen Stadt und Land, zur Identitätsbildung und zum Kulturaustausch in regionalen und internationalen Kommunikationsnetzwerken. Bremen 2016.) 32 Gemeinsam in einem Unterkapitel werde ich die Kategorien Staat und Nation sowie die Einheiten Vaterland, Volk, deutsch und Patriotismus bearbeiten.

Begriffsreflexion

1.1.

23

Historische Begriffsgenese des Identitätsterminus

1.1.1. Begriffstheorie im Rahmen des Substanz-Prozess-Dualismus Wendet man sich der Forschungsliteratur zur historischen Genese des Identitätsterminus zu, wird schnell ersichtlich, dass in der Begriffstheorie trotz einer riesigen Bandbreite an unterschiedlichen Identitätskonzepten zwei grundlegende Auffassungen existieren.33 Einerseits wird Identität als eine Substanz gedacht, die in Form einer festen und dauerhaften Entität im menschlichen Körper bzw. in den Dingen selbst vorhanden wäre. Die Wesenheit und Erscheinungsform jedes Wesens oder Dinges resultiere demnach aus dem materiellen Selbst. Andererseits wird die Existenz einer substantiellen Entität in den Wesen oder Dingen selbst negiert und anstelle dessen davon ausgegangen, dass Identität in einem permanenten Prozess erzeugt werde und somit einem kontinuierlichen Wandel unterliege. Folglich sei Identität nicht fest und dauerhaft, sondern veränderbar.34 Dieser Dualismus zwischen einer substantiell oder prozesshaft35 konzipierten Identitätsvorstellung charakterisiert den ideengeschichtlichen Forschungsdiskurs.36 In der historischen Begriffsreflexion lassen sich dabei die 33 Vgl. Schulte, Philipp. Identität als Experiment. Ich-Performanzen auf der Gegenwartsbühne. Frankfurt/Main 2011. S. 29. Sowie: Wißmann, Torsten. Raum zur Identitätskonstruktion des Eigenen. Stuttgart 2011. S. 44. Oder: Harböck (2006). Stand, Individuum, Klasse. S. 42f. 34 Vgl. Wißmann (2011). Raum zur Identitätskonstruktion. S.44. Sowie: Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 29ff. Sowohl Schulte als auch Wißmann skizzieren in den erwähnten Werken einen guten, ideengeschichtlichen und theoretischen Überblick über die Genese des Identitätsbegriffes. Als diesbezügliche Ergänzung sei zudem noch auf Jean-Claude Kaufmanns Ausführungen verwiesen. (Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 24ff.) 35 In den Neurowissenschaften findet sich auch die Bezeichnung des Bündelmodells als Gegenmodell der Substanztheorien. (Vgl. Spann, Anne Sophie. Persönlichkeit und personale Identität. Zur Fragwürdigkeit eines substanztheoretischen Vorurteils. In: Orsolya Friedrich und Michael Zichy (Hrsg.). Persönlichkeit, Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellung. Münster 2014. S. 163–187. Hier: S. 176.) Weil die Grundannahmen der prozesshaften Identitätskonzepte und der Bündelmodelle derweil gleich sind (Wandelbarkeit, situative Herstellung), fasse ich diese zusammen. 36 Auch wenn ich mich im Folgenden primär auf die inhaltliche Ebene konzentriere, weil ich einen groben Überblick über die Ideengenese geben werde, sei grundsätzlich angemerkt, dass ich davon ausgehe, dass Ideen immer im Bezug zu ihrem historischen Kontext und dessen Akteuren stehen und keine davon losgelösten Gedanken darstellen. Oder wie Pierre Bourdieu es in seiner Vorlesung vom 5. Dezember 1991 sehr schön auf dem Punkt gebracht hat: »Es hat keinen Sinn, Ideen zu untersuchen, als promenierten sie, eine nach der anderen, über eine intelligiblen Ideenhimmel ohne Bezug auf die Akteure, die sie produzieren, und vor allem ohne Bezug auf die Bedingungen, unter denen diese Akteure sie produzieren, das heißt insbesondere ohne Bezug auf die Konkurrenzverhältnisse, in denen die Akteure zueinander stehen. Die Ideen sind also nach dieser Seit hin vom Sozialen determiniert, während sie nach der anderen hin völlig determinierend sind, insofern sie dazu beitragen, die sozialen Wirklichkeiten, wie wir sie kennen, zu konstruieren« (Bourdieu, Pierre. Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992. Herausgegeben von Patrick Champagne, Remi

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

ersten Vorstellungen einer substantiellen Grundannahme von Identität bis in die griechische Antike rekonstruieren.37 Sie finden sich in den Überlegungen Platons sowie Aristoteles zur Theorie des Erkennens. In ihrem Vokabular ist zwar eine andere Definition des Substanzbegriffes als in unserem neuzeitlichen Verständnis feststellbar,38 die Grundidee einer festen, unveränderlichen Entität, die sich in den Dingen bzw. Lebewesen selbst befände, wird jedoch in Form des Materie-Begriffes entwickelt. Denn dieser wird als etwas Beharrendes, Gleichbleibendes verstanden, das jedoch im Gegensatz zu allen Eigenschaften des Dinges nicht bestimmt bzw. erkannt werden kann.39 Die spezielle Wesenheit der Dinge bzw. Lebewesen ergibt sich demnach nicht aus der zugrundeliegenden Materie, sondern aus den realisierten Eigenschaften, deren Grundlage aber die materielle Formmöglichkeit des Dinges ist. Die in einer ›wirklichen‹ Katze realisierten Formen und Eigenschaften, die eine Katze zu einer Katze und als solche erkennbar machen, resultieren aus der »Sachmöglichkeit, die in dieser Materie als deren Formprinzip verwirklicht ist«40. Die Eigenschaften eines Lebewesens wie einer Katze liegen als Möglichkeit in der Materie des jeweiligen Körpers selbst begründet, sie bestimmen die Wesenheit jedoch nicht. Diese generiert sich aus den verwirklichten Eigenschaften und Formen. Die Materie stellt die Bedingungen für die Formrealisierung bereit, denn sie bietet die Möglichkeit für die jeweiligen Realisierungsprozesse, kann selbst jedoch nicht bestimmt werden.41 Die Wesenheit der Dinge resultiert im Denken Platons und Aristoteles also aus der Kombination der Eigenschaften und der realisierten Formmöglichkeit und nicht aus der dem Ding inhärenten, dauerhaften Materie. Die Grundidee einer dauerhaften, den Lebewesen oder Dingen inhärenten Entität wird aber in Form des Materiebegriffes entwickelt. Diese erhält jedoch noch nicht die Zentralität innerhalb der Erkenntnistheorie und in deren Folge für die Konzeption von

37

38 39 40 41

Lenoir, Franck Poupeau und Marie-Christine Rivière. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim. Berlin 2014. S. 589.). Begriffsgeschichtlich geht sie auf den griechischen Terminus autos, to auton zurück. (Vgl. Zirfas (2010). Identität in der Moderne. S. 11f.) Dieser fungierte in der Diskussion um die ›Selbigkeit‹ von Dingen im Verständnis etwas Gleichseiendes zweier oder mehrerer Dinge. (Vgl. Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 30f.) Er wird nicht als ein Träger von Eigenschaften, als das Zugrundeliegende definiert, sondern als eine Eigenschaft. Vgl. Schmitt, Arbogast. Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritisches Anmerkungen zur >Überwindung< der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts. Heidelberg 2011. S. 24ff. Schmitt (2011). Denken und Sein. S. 26. Vgl. ebd. S. 24ff. u. 60ff.

Begriffsreflexion

25

Identität, wie sie es dann im neuzeitlichen Denken erfährt. Einen entscheidenden Einfluss für diesen Paradigmenwechsel hatte dabei René Descartes.42 Descartes übernimmt zwar in der von ihm in den 1630er und 1640er Jahren entwickelten Erkenntnistheorie den platonisch-aristotelischen Substanzbegriff, modifiziert dessen Bedeutung jedoch grundlegend.43 Denn er definiert (körperliche) Substanz als eine dauerhafte Entität, die jedem Ding trotz Wandel und Veränderung als Wesenskern zugrunde läge und die als Träger seiner Eigenschaften fungiere.44 Unabhängig von den Eigenschaften eines Gegenstandes könne nach Descartes und im Unterschied zu Platon und Aristoteles dessen Identität erkannt werden, denn diese sei in dessen Wesenskern begründet und ginge nicht aus den verwirklichten Eigenschaften und Formen hervor. Die Wesenheit der Dinge und Lebewesen sei als körperliche Substanz also bereits selbst in den Wesen enthalten und bestimmt deren Verwirklichungsprozess. Sie wäre demnach keine Folge realisierter Möglichkeiten wie im antiken Verständnis, sondern den Dingen per se inhärent.45 Descartes dreht also das platonische Begriffsverhältnis von Substanz und Materie um und macht die Substanz zum Träger der Eigenschaften und somit zum bestimmenden Faktor der Wesenheit von Dingen und Lebewesen.46 Identität ist im cartesianischen Verständnis eine Folge der substantiellen Bestimmung jedes Wesens, die diesen qua Existenz gegeben sei und dauerhaft bestünde. Dadurch wird jedes Lebewesen und Ding in seinem Sein determiniert. Anders formuliert, jeder Mensch verfügt über einen inhärenten Wesenskern, in dem bereits alle Grundmerkmale verankert wären und der zeitlebens als ein feststehendes Gebilde bestehen bliebe. Die äußere Erscheinungsform und das Verhal42 Vgl. Schlögl, Rudolf. Körper, Seele, Verstand. Medien der Subjektivierung in der Frühen Neuzeit. In: Michael Hohlstein, ders. und Isabelle Schürch (Hrsg.). Der Mensch in Gesellschaft. Zur Vorgeschichte des modernen Subjekts in der Frühen Neuzeit. Paderborn 2019. S. 137–177. Hier: S. 155. Angemerkt sei jedoch, dass auch René Descartes als ein Akteur innerhalb zeitgenössischer Diskurse agierte, in denen vielerlei Ideen durch Briefwechsel, Diskussion (weiter)entwickelt oder verfeinert wurden. Dazu konnte er sich einer reichen Wissenschaftstradition bedienen, weswegen es den Einfluss des ideengeschichtlichen und historischen Kontextes nie außer Acht zu lassen gilt. 43 Die folgende vereinfachende Rekonstruktion des cartesianischen Substanzbegriffes konzentriert sich auf dessen identitätstheoretischen Auswirkungen. Deswegen wird der von Descartes entwickelte Dualismus im Substanzbegriff zwischen dessen geistiger und körperlicher Form an dieser Stelle nur erwähnt. Die folgende Skizze bezieht sich auf den körperlichen Substanzbegriff Descartes. (Für weiterführende Ausführungen siehe: Grüne, Stefanie. René Descartes. In: Dominik Perler und Johannes Haag (Hrsg.). Ideen. Repräsentationalismus in der Frühen Neuzeit. Band 1. Texte. Berlin/ New York 2010. S. 53–83. Hier: S. 53–60.) 44 Vgl. Schmitt (2011). Denken und Sein. S. 61. 45 Vgl. Schmitt (2011). Denken und Sein. S. 26f. u. 60ff. Sowie: Perler, Dominik. Einleitung. In: ders. und Johannes Haag (Hrsg.). Ideen. Repräsentationalismus in der Frühen Neuzeit. Band 1. Texte. Berlin/ New York 2010. S. 1–52. Hier: S. 26ff. 46 Vgl. Schmitt (2011). Denken und Sein. S. 27 u. 61.

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

ten eines Menschen ist nach diesem Verständnis immer identisch (verstanden als gleich-seiend)47 mit dem inneren Wesenskern. Dieses von Descartes veränderte Verständnis der Substanz erfährt in der Identitätstheorie eine enorme Wirkmächtigkeit, die bis heute nicht abgeklungen ist. Zwar gab es schon zu Descartes Lebzeiten sowie posthum ausführliche Kritiken, Konzepterweiterungen sowie Gegenentwürfe;48 die hegemoniale Position, welche die cartesianische Definition von Substanz (zumindest) innerhalb der Identitätstheorie einnahm, reichte aber weit bis in das 20. Jahrhundert hinein. Auch heutzutage ist der Gedanke einer festen, determinierenden Wesenheit noch immer verbreitet.49 Dies ist überraschend, konnte doch die prozesshaft definierte Auffassung von Identität seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Substanzhegemonie durchbrechen und in den vergangenen Jahrzehnten zur anerkannten und plausiblen Alternativkonzeption aufsteigen, welche die sozio-kulturellen Einflussfaktoren besser begreif- und beschreibbar zu machen schien.50 Einen konkreten Anfang für die Vorstellungen prozesshafter Identität zu rekonstruieren, fällt indessen schwer. Denn oftmals finden sich aus einer solchen Konstitutionsform resultierende Eigenschaften schon in neuzeitlichen Vorstellungen, explizit als Prozess benannt wurden sie dabei jedoch nicht. Vielmehr kamen diese häufig auch nicht komplett ohne die Vorstellung eines festen Wesenskernes aus.51 Als prägender Einschnitt wird in der Forschung jedoch das von

47 Begriffsgeschichtlich erhält sich die Wortbedeutung des griechischen auton-Begriffes im lateinischen identitas sowie idem. (Vgl. Zirfas (2010). Identität in der Moderne. S. 11.) Im theologischen Diskurs wird der identitas-Begriff dann in der selben Bedeutung eines etwas Gleich-seiendes im Zuge der Fragen um die Dreieinigkeit Gottes (Vgl. Groebner, Valentin. Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine. Frankfurt/Main 2015. S. 28ff.) sowie in der scholastischen Diskussion um die Entstehung geistiger Ideen von materiellen Gegenständen verwendet. So kann Thomas von Aquin als ein Vertreter eines sogenannten Identitätsmodells für diese Problematik genannt werden. (Vgl. Perler (2010). Einleitung. S. 17f.) 48 Genannt seien unter anderem Pierre Gassendi, Baruch de Spinoza, John Locke sowie David Hume. Die Liste ließe sich noch erweitern, überblicksartig werden bei Schulte einige neuzeitliche Alternativkonzeptionen von Identität dargestellt. (Vgl. Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 33ff.) (Sowie: Perler (2010). Einleitung. S. 33ff.) 49 Vgl. Nicke, Sascha. Der Begriff der Identität. Auf: Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier Rechtspopulismus. 18. 04. 2017. (21. 04. 2017, 13:40 Uhr). 50 Vgl. Alkemeyer/ Budde/ Freist (2013). Einleitung. S. 10f. Sowie: Zirfas (2010). Identität in der Moderne. S. 9f. Als auch: Wohlrab-Sahr, Monika. Die Realität des Subjektes. Überlegungen zu einer Theorie biographischer Identität. In: Heiner Keupp und Joachim Hohl (Hrsg.). Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne. Bielefeld 2006. S. 75–97. Hier: S. 75. 51 Vgl. Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 29. Sowie: Perler (2010). Einleitung. S. 37f.

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Sigmund Freud entwickelte Konzept der Identifizierung betrachtet,52 in dem der Identitätsterminus selbst zwar keine zentrale Rolle einnimmt, jedoch in einer Weise konstituiert wird, dass eine prozesshafte Konzeption von Identität im Menschen denkbar wird. Mit seinem Prinzip der Identifizierung als psychischer Mechanismus, in dem der Gedanke eines festen substantiellen Wesenskerns durch einen prozesshaften, sich dauerhaft wiederholenden Vorgang der Imitation von Eigenschaften von Vorbildern ersetzt wird, öffnete Freud den Identitätsbildungsprozess hin zum sozialen Umfeld des Einzelnen. Fortan reduzierte sich der theoretische Fokus in der Identitätstheorie nicht mehr nur auf determinierende Wesenskerne, sondern die gesellschaftlichen Lebenswelten mit ihrer Vielzahl an Einflussfaktoren konnten in den Analyseblick mit einbezogen werden. Zwar dauerte es bis zur wissenschaftlichen Etablierung prozesshafter Identitätsmodelle noch mehrere Jahrzehnte, der Grundstein für neue Denkrichtungen wurde jedoch gelegt. So entwickelte zum Beispiel der Philosoph und Sozialpsychologe Georg Herbert Mead in den 1930er Jahren eine Konzeption des »Selbst«53, in der dieses nicht als Substanz, sondern als ein Prozess definiert wird, der durch die jeweilige intrinsische, soziale und historische Dimension des Individuums bestimmt wird.54 Zwar fungiert auch in Meads Werk Mind, Self and Society der Identitätsterminus nicht als grundlegender Begriff seiner Konzeption, sondern findet eher Verwendung in einem »allgemeinen und nicht im begrifflichen Sinne«55. Dies scheint jedoch vor allem in der Wissenschaftssituation und der fehlenden Popularisierung des Identitätsausdruckes in jener Zeit begründet zu sein.56 Dessen wissenschaftlicher Durchbruch, der mit einer enormen 52 Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 27f. Oder: Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 36f. Als auch: Müller, Bernadette. Empirische Identitätsforschung. Personale, soziale und kulturelle Dimension der Selbstverortung. Wiesbaden 2011. S. 25. 53 Die naheliegende Übersetzung des im Originalwerk verwendeten self. (Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 33f.) 54 Mead spricht sich explizit gegen eine substanzialistische Konzeption aus. (Vgl. Mead, George Herbert. Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Mit einer Einleitung herausgegeben von Charles W. Morris. Aus dem Amerikanischen von Ulf Pacher. Frankfurt/Main 1968. S. 39f.) 55 Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 33f. 56 Interessanterweise wird der Titel in der ersten Übersetzung, die 1968, also nach dem wissenschaftlichen Durchbruch und der Konjunktur des Identitätsbegriffes erschien, als Geist, Identität und Gesellschaft angegeben. Der Begriff des »Selbst«, als Übersetzung des englischen self, kommt als eigenständiger Begriff überhaupt nicht in der übersetzten Ausgabe vor und wurde komplett mit dem Identitätsterminus ersetzt. Der Übersetzer Ulf Pacher gibt zwar in einer Nachbemerkung zur Übersetzung »das Problem der Pluralbildung und eine zu enge semantische Verwandtschaft mit dem (für »I« und »me« vorbehaltenen) Nomen das Ich« (Mead (1968). Geist, Identität und Gesellschaft. S. 442.) an. Komplett überzeugen können mich die Gründe jedoch nicht, so dass mir die Vermutung plausibler erscheint, dass die Aufmerksamkeit, die der Identitätsterminus zu jener Zeit erfuhr, ausschlaggebend für dessen Verwendung gewesen war.

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Verbreitung in der Öffentlichkeit einherging, erfolgte erst ab den 1950er Jahren und war eng verbunden mit der Publikation des vom Psychoanalytiker Erik H. Erikson verfassten Werkes Childhood and Society, welches im Jahr 1950 veröffentlicht wurde. In diesem konzipiert Erikson zwar ein achtstufiges Phasenmodell, an dessen Ende schließlich eine feste individuelle Identität ausgebildet wäre, was im Grunde einer substanzialistischen Konzeption von Identität entspricht.57 Er negiert jedoch die substantielle Grundannahme, wonach bereits zum Existenzbeginn jedem Wesen eine feststehende Wesenheit in Folge eines determinierenden Wesenskerns gegeben wäre und richtet den Fokus seines Konzeptes auf den prozesshaften Bildungsprozess von Identität, weswegen es sein Konzept als eine Hybridform zu betrachten gilt. Unabhängig von der Klassifikation Eriksons ist feststellbar, dass es in den folgenden Jahren nach der Veröffentlichung seines Werkes zu einem regelrechten gesellschaftlichen »Identitätsboom«58 kam. Diese Omnipräsenz in den 1960er und 1970er Jahren führte zwar wiederum zu einer Kritik an der wissenschaftlichen Schärfe und Klarheit des Begriffes,59 trug jedoch zu der Verbreitung prozesshaft konzipierter Identitätsmodelle und deren Anerkennung als theoretische Grundannahme bei, wodurch die Dominanz des substanzialistisch definierten Identitätsbegriffes spätestens in den 1970er durchbrochen worden ist.60 In der Folge wurde der Identitätsterminus in seinem Bedeutungsgehalt vielschichtiger, was bis heute Bestand hat. So findet man ihn charakterisiert als Synonym für den Sinn des Lebens oder den Subjektbegriff, als Äquivalent der Seele, Nation oder Kultur, als Kollektiveinheit von Gruppierungen61 oder er wird »als (kognitives) Selbstbild, als habituelle Prägung, als soziale Rolle oder Zuschreibung, als performative Leistung, als konstruierte Erzählung«62 verstanden. 57 Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 28ff. Sowie: Wißmann (2011). Raum zur Identitätskonstruktion. S. 163f. Als auch: Harböck (2006). Stand, Individuum, Klasse. S. 52f. 58 Vgl. Alkemeyer/ Budde/ Freist (2013). Einleitung. S. 10f. Oder: Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 34ff. 59 Vgl. ebenda. Sowie: Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 44f. Es finden sich in den 1970er Jahren zudem einige Beiträge innerhalb der Forschung, die sich über die negativen Folgen der ausufernden Beschäftigung mit der Identitätsthematik beschweren. So zum Beispiel Odo Marquard und Karlheinz Siefert in dem Vorwort ihres Sammelbandes. (Vgl. Marquard, Odo/ Stierle, Karlheinz. Vorwort. In: dies. (Hrsg.). Identität. München 1979. S. 11– 13. Hier: S. 12.) 60 Um ein paar Beispiele anzuführen, welche Forschende eine prozesshafte Konzeption entwickelten, seien Erving Goffmann, Niklas Luhmann, Anselm Strauss, Claude Dubar oder auch radikale Konstruktivisten wie Ernst von Glaserfeld oder Heinz von Förster genannt. (Vgl. Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 44ff.) 61 Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 34ff. 62 Zirfas (2010). Identität in der Moderne. S. 9. Die stichwortartige Nennung begründet sich in der Komplexität und den Umfang der jeweiligen Konzeption, deren ausführliche Rekonstruktion hier nicht möglich und sinnvoll ist, weil nur die Vielschichtigkeit an verschiedenen Identitätskonzepte verdeutlicht werden soll.

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Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der Dualismus zwischen einer prozesshaft und einer substanzialistisch verstandenen Grundannahme von Identität ein maßgebliches Kennzeichen des aktuellen sowie des vergangenen wissenschaftlichen Identitätsdiskurses der letzten 50 Jahre bildet. Die lange Zeit bestehende Dominanz eines substantiellen Verständnisses innerhalb der Forschung wurde im besagten Zeitraum zwar überwunden und prozesshafte Identitätskonzeptionen verbreiteten sich mit der Popularisierung des Begriffes. Eine hegemoniale Position nahmen sie dabei jedoch nicht ein; substanzialistisch definierte Identitätsmodelle sind nie vollkommen in den Hintergrund geraten, sondern bestanden und bestehen noch heute im allgemein öffentlichen sowie im wissenschaftlichen Bereich fort.63 Welche von beiden Grundannahmen gilt es nun für die historische Analyse zu präferieren? Ich vertrete die Auffassung, dass ein schlüssiges Identitätskonzept nur mit der Prozesshaftigkeit als Grundprämisse definiert werden kann. Denn eine substantielle Theorie ist in ihrem Prinzip schon zu starr, determinierend und räumt dem menschlichen Akteur sowie dem gesellschaftlichen Umfeld keinerlei bzw. nur wenig Einfluss bei der Identitätsherstellung ein. Es obliegt einer solchen Definition eventuell zwar besser, dem gegenwärtigen bzw. generellen menschlichen Bedürfnis zu entsprechen, eine über die Lebenszeit des Individuums bestehende feste (Ich-)Essenz und damit einhergehend einen Lebenssinn zu besitzen, die jedem Menschen dazu bereits mit der Geburt gegeben wären.64 Dieses Konzept entspricht jedoch weder den pluralen und komplexen Gesellschaften, noch lässt es sich mit den wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte vereinen.65 Besonders für die historische Analyse wirkt eine sub63 Schulte verweist zum Beispiel darauf, dass sich in der Theorie die prozesshafte Grundannahme zwar großer Zustimmung erfreut, der Identitätsbegriff dann jedoch oftmals als ein »Platzhalter für die substantielle Idee der Kohärenz des Subjektes« (Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 44.) verwendet wird. 64 Ausführlicher behandle ich die Vorteile eines substantiell definierten Identitätsbegriffes sowie dessen gegenwärtige politische Funktionalisierung in einem Artikel. (Vgl. Nicke (2017). Der Begriff der Identität. .) 65 Einen guten Überblick über diese Entwicklungen liefert Stefan Haas. (Vgl. Haas, Stefan. Theory Turn. Entstehungsbedingungen, Epistemologie und Logik der Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft. In: ders. und Clemens Wischermann (Hrsg.). Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-) konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 2015. S. 11–44.) Auch Harböck verweist in seiner Kritik an Eriksons Identitätskonzeption auf die bessere Kompatibilität eines offenen, lebenslang andauernden Identitätsbildungsprozesses in Bezug auf unsere zeitgenössischen Ansichten. (Vgl. Harböck (2006). Stand, Individuum, Klasse. S. 53.) Zudem betonen sowohl Alkemeyer, Budde und Freist in ihrer Einleitung als auch Moebius und Büttner in ihrer Einführung zum gegenwärtigen Subjektbegriff die Tatsache, dass die jeweilige Gesellschafts- und die Zeitgebundenheit des Einzelnen in einer solchen Konzeption miteinbezogen werden müssen. (Vgl. Alkemeyer/ Budde/ Freist (2013).

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stantiell definierte Identitätstheorie wenig erkenntnisfördernd. Denn einerseits erscheinen auch die historischen Gesellschaften sowie deren eher lokal geprägten Gemeinschaftsstrukturen viel komplexer, als heutzutage oftmals angenommen wird,66 so dass die Annahme von starren und absolut festgelegten Gemeinschaften eher eine Folge unserer heutigen (zeitlichen und lebensweltlichen) Ferne darstellt und der generellen Schwierigkeit der Rekonstruktion von historischen Lebensrealitäten und Sichtweisen geschuldet ist. Ich kann mich nicht in den historischen Akteur oder in eine Epoche hineinversetzen und dessen zeitspezifische Wahrnehmungen und Empfindungen erkennen. Genauso wenig ist Einleitung. S. 9.) (Sowie: Moebius, Stephan/ Büttner, Sebastian. Moderne Subjekte. Einführung. In: Frank Adloff, dies. und Rainer Schützeichel (Hrsg.). Kultursoziologie. Klassische Texte. Aktuelle Debatten. Ein Reader. Frankfurt/Main 2014. S. 422–427. Hier: S. 422f.) Und Kurt Röttgers verweist metaphorisch schön auf die Nacktheit des Selbst, die bei einer Konzeption von Identität ohne die Berücksichtigung des Umfeldes und der Anderen sichtbar werden würde. (Vgl. Röttgers, Kurt. Identität als Ereignis. Zur Neufindung eines Begriffs. Bielefeld 2016. S. 239.) 66 Dies exemplifiziert etwa Dagmar Freist am Beispiel der Erinnerungsforschung, wenn sie gegen das in diesem Forschungsfeld verbreitete Primat einer unselfconscious premodern memory Argumente sowie jüngere Forschungsarbeiten anführt, die das Gegenteil dieser vereinfachten Darstellungsweise belegen. (Vgl. Freist, Dagmar. Einleitung. In: dies. und Matthias Weber (Hrsg.). Religion und Erinnerung. Konfessionelle Mobilisierung und Konflikte im Europa der Frühen Neuzeit. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. München 2015. S. 9–20. Hier: S. 11f.) Wirklich verbreitet hat sich diese Korrektur der Moderne-Erzählung innerhalb der Forschung jedoch noch nicht, wie es sich etwa anhand neuerer Arbeiten von Christian Zeller oder Michel Dormal zeigt. Zeller bedient sich in seiner Arbeit über die Ratgeberliteratur diesem Topos. Trotz seines Versuches, diese zeitliche Unterscheidung inhaltlich anhand postulierter Wandlungsprozesse zu begründen, die mit der Aufklärung eingesetzt und anscheinend direkt eine Verbreitung, Hegemonie und lebensweltliche Realisierung gefunden hätten, wirkt die Erklärung wenig überzeugend. (Vgl. Zeller, Christian. Warum Eltern Ratgeber lesen. Eine soziologische Studie. Frankfurt/Main/ New York 2018. S. 76f. u. 89f.) Es soll gar nicht abgestritten werden, dass sich im ideengeschichtlichen Diskurs im 17. u. 18. Jahrhundert neue bzw. von den verbreiteten Normvorstellungen abweichende Menschenbilder als auch Erziehungskonzepte herausbildeten und diskutiert wurden. Es sollte dabei aber nicht vergessen werden, dass es eine Vielzahl an Sichtweisen und Differenzierungen sowohl innerhalb des Gelehrtendiskurses als auch außerhalb dessen gab, und eine Hegemonie bestimmter Auffassung in dem Diskurs nicht per se zu einer Dominanz außerhalb dessen und vor allem nicht zu einer politischen, lebensweltlichen Realisierung führte. Dies blendet auch Dormal vollkommen aus, der bei seinen ideengeschichtlichen Analysen zur Konzeptionsweise von Nation zwar wiederholt von Modernisierungstheorien spricht, womit er zumindest indirekt auf deren Konstruktionscharakter und auf der sich befindenden, theoretischen Forschungsebene der Analyse hinweist. Gleichzeitig reproduziert er jedoch die simplifizierende Vormoderne-Moderne-Erzählung durch grobe verallgemeinernde Gegenüberstellungen, etwa wenn er von der alten, starren Ordnung schreibt, der funktional differenzierten Gesellschaften folgen, aus der unter anderem eine »relative Homogenisierung, Individualisierung und Vervielfältigung von Austauschbeziehungen« resultiert hätte. (Vgl. Dormal, Michel. Nation und Repräsentation. Theorie, Geschichte und Gegenwart eines umstrittenen Verhältnisses. Baden-Baden 2017. S. 24–27.)

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es mir als Historiker möglich, eine neutrale Beobachterposition einzunehmen bzw. als »Meistererzähler« die historischen Überbleibsel zu einem Ganzen zu formen.67 Jede forschende Person nähert sich dem Forschungsgegenstand immer aus einer individuellen, gegenwartsgeprägten Perspektivität an. Die Individualität sowie die mannigfaltigen Kontexte, in denen wir Forschende uns bewegen, bestimmen den Erkenntnisgegenstand.68 Jede geschichtswissenschaftliche Darstellung impliziert zudem das Einfügen »von künstlichen Ordnungen und Prioritäten«69, die von den jeweiligen Wissenschafterinnen erschaffen werden und nicht aus der historischen Quelle resultieren.70 Andererseits verdeutlicht sich durch die Ratgeberliteratur, dass Fragen und Unsicherheiten zur eigenen Identität, Rollen oder Aufgaben immer gestellt 67 Diese »klassischen« theoretischen Grundannahmen der Geschichtswissenschaft werden gegenwärtig trotz vielerlei geschichts- und erkenntnistheoretischer Entwicklungen und Kritiken noch häufig innerhalb der historischen Zunft vertreten, wie Clemens Wischermann verdeutlicht. (Vgl. Wischermann, Clemens. Die historische »Wirklichkeit« zwischen Schicksalhaftigkeit und Eigensinn. In: Stefan Haas und ders. (Hrsg.). Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-) konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 2015. S. 101–112. Hier: S. 101f. u. 110ff.) Dass dabei die »Illusion des autonomen rationalen Subjekts«, als das sich die Forscherinnen selbst inszenieren, der Forschungsprämisse, »Objekte vollständig erkennen zu können« (Griesebner, Andrea/ Lutter, Christina. Geschlecht und »Selbst« in Quellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich (Hrsg.). Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung. Band 10. Göttingen 2005. S. 51–70. Hier: S. 58.), diametral entgegensteht, darauf verwiesen Andrea Griesebner und Christina Lutter schon 2005 in ihrem Aufsatz. Auch Ralf Pröve geht mit diesem naiven Wissenschaftsverständnis hart ins Gericht, deckt deren Irrtümer und Problemfelder schonungslos auf und veranschaulicht sehr schön, wie wissenschaftlich Forschende anstelle dessen vorgehen und wie sie sich selbst in ihrem Erkenntnisprozess berücksichtigten sollten. (Vgl. Pröve (2020). Geschichtskunde vs. Geschichtswissenschaft. S. 394ff. u. 405–416.) 68 Vgl. ebd. S. 396f. 69 Goodman, Nelson. Weisen der Welterzeugung. Übers. von Max Looser. Frankfurt/Main 1990. S. 125. 70 Vgl. Haas (2015). Theory Turn. S. 42f. Auch Thomas Welskopp zeigt den konstruierenden Charakter der Historikerinnen auf und skizziert äußerst plausibel und anschaulich, dass aus dieser theoretischen Grundposition kein Gegenstandsverlust für die Geschichtswissenschaften resultiert, wie es oftmals angenommen wird. (Vgl. Welskopp, Thomas. »Eternal Sunshine on the Clueless Mind…«. Das historische Bewusstsein und die ›Wirklichkeit‹. In: Stefan Haas und Clemens Wischermann (Hrsg.). Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 2015. S. 63–80. Hier: S. 78ff.) Verwiesen sei auch auf Achim Landwehrs sehr schönen Essay Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein. Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung, in dem er den theoretischen Rahmen und die Möglichkeiten einer kritischen Geschichtsschreibung aufzeigt. (Vgl. Landwehr, Achim. Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein. Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung. In: Werkstatt Geschichte. Heft 61. Essen 2012. S. 7–14.)

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worden sind.71 Allein im Medium der Ratgeberliteratur, deren quantitativen Verbreitung sowie den darin enthaltenden divergierenden Meinungen deutet sich schon die Vielschichtigkeit historischer Gesellschaften an. Setze ich nun jedoch eine substantielle Identitätsvorstellung als Prämisse voraus, reduziere ich die Erkenntnismöglichkeiten, denn mit einer solchen Grundannahme existieren viele identitätsthematische Gegenstandsfelder in der Vergangenheit nicht. Anstelle dessen werden feste Kategorien wie zum Beispiel die der Standeszugehörigkeit als Leitmerkmale auf die historischen Akteure projiziert, die vielleicht noch mit einer lokalen oder je nach Zeitphase nationalen Zugehörigkeit ergänzt werden, wodurch ein von allgemeinen Kategorien sowie Stereotypen geprägtes Erklärungsmuster entsteht. Die mit der prozesshaften Grundannahme verbundene Offenheit und Entwicklungsfähigkeit von Identität erzwingen es hingegen, sich den zeit-, ort- sowie akteursspezifischen Rahmenbedingungen zuzuwenden und sich der historischen Pluralität an Identitätsvorstellungen anzunähern.72 Damit resultieren aus einer solchen historischen Analyse vielschichtigere Erkenntnisgewinne.73

71 Plausibel erscheint mir die von einigen Forscherinnen vertretene Auffassung, dass der Beginn der Ratgeberliteratur für das 15. Jahrhundert anzunehmen wäre und im Zusammenhang stünde mit der Entwicklung und Verbreitung des Buchdruckes. (Vgl. Messerli, Alfred. Zur Geschichte der Medien des Rates. In: Peter-Paul Bänzinger, Stefanie Duttweiler, Philipp Sarasin und Annika Wellmann (Hrsg.). Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen. Berlin 2010. S. 30–57. Hier: S. 30ff.) (Sowie: Zeller (2018). Ratgeber lesen. S. 62.) Zudem finden sich aber Formen des Ratgebens auch in den antiken und mittelalterlichen Gesellschaften, (Vgl. ebd. S. 69–76.) ausführlicher werde ich darauf im Kapitel 2.2. Historische Genese eingehen. 72 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Auswirkungen eines substantiellen als auch prozesshaft konzipierten Identitätsmodells siehe: Nicke (2017). Der Begriff der Identität. . 73 Mit der Benutzung eines prozesshaft definierten Begriffsverständnis erledigt sich meines Erachtens auch die von Simone Derix zusammengefasste und berechtigte Kritik am Identitätsbegriff, dass mit diesem die »Bedeutung ›sozialer Kontexte‹ und ›performativer Akte‹ nicht hinreichend« (Derix, Simone. Einführung. Haus und Zugehörigkeit. In: Joachim Eibach und Inken Schmidt-Voges (Hrsg.). Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch. Berlin/ Boston 2015. S. 529–535. Hier: S. 529f.) erfasst sowie homogenisierende und simplifizierende Darstellungen begünstigt werden und die Multidimensionalität der Selbstverständnisse der Menschen nicht zum Ausdruck kämen. (Vgl. ebenda.) Denn wie ich eben aufgezeigt habe, lassen sich diese Gefahren in der Forschungsanalyse, die bei einem substantiellen Begriffsverständnis gegeben wären, mit der prozesshaften Definition von Identität verhindern, womit den historischen Zeitgenossen eine Eigenständigkeit, Komplexität und Pluralität in ihren Selbstbildern zugestanden wird. Damit muss auch nicht von Subjektivierungen gesprochen werden, wie es Freist in einer ähnlich argumentierenden Kritik am Identitätsterminus vorschlägt, um auf die vielschichtigen Einflussfaktoren sowie die Veränderbarkeit in den Selbstkonstitutionen der historischen Akteure hinzuweisen, (Vgl. Freist, Dagmar. Glaube, Liebe Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen

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1.1.2. Der Identitätsbegriff im Zeitfenster zwischen 1750 und 1900 Nachdem der begriffstheoretische Rahmen von Identität und dessen Entwicklungsverlauf innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses rekonstruiert worden ist, gilt es nun in einer kurzen Skizze, die zeitgenössischen Begriffsbedeutungen innerhalb des Untersuchungszeitraumes zu ermitteln. Wird der Identitätsbegriff etwa schon in der besagten Zeitspanne zwischen 1750 bis 1900 verwendet und wenn dies der Fall sein sollte, dann in einem Verständnis als einer für das Individuum grundlegenden Kategorie des Selbst bzw. als eine Bestimmungsform für die Wesenheit von Menschen und Dingen? Oder erfährt der Terminus eine andere Begriffsbedeutung? Die Analyse von historischen Lexika74 verspricht Antworten auf diese Fragen zu generieren, da anhand dieser Quellengattung zumindest der Wissenskanon einer Zeit und damit einhergehend Begriffsverständnisse in Form ihrer zeitspezifischen Festlegungen und Verbreitungen konstruiert werden können.75 Beim Blick in den Zedler, dessen Ausgaben zwischen 1731 bis 1754 erschienen sind, stellt sich heraus, dass der Identitätsterminus in diesem nicht vorkommt. Anstelle dessen findet sich jedoch der lateinische Ursprungsbegriff identitas, der als ein eigenständiger, zu erklärender Ausdruck aus dem Bereich der »Metaphysic« und der Logik angeführt wird, der »die Gleichheit einer Sache mit der andern in Ansehung derer Substantiarum«76 angäbe. Der identitas-Begriff wurde gemäß seiner spätmittelalterlichen Bedeutung im (spät)scholastischen Diskurs als ein Relationsbegriff verstanden, welcher auf die Gleichheit zweier oder mehrerer Dinge verweist und der als ein Fachbegriff in den Wissenschaften der Theologie und der Metaphysik Anwendung findet.77 Interessanterweise findet sich der identitas-Begriff bei Adelung weder in seiner ersten Lexikonausgabe, deren Reihe in den 1770er Jahren veröffentlicht wurde, noch in der fünften, überarbeiteten und posthum erschienenen Ausgabe von 1811 als ein zu erklärendes Wort.78 In beiden Exemplaren kommt der

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Neuzeit. München 2017. S. 175.) weil diese Aspekte der prozesshaften Identitätsdefinition inhärent sind. Da es mir um eine grobe Konstruktion der Begriffsvorstellungen geht, reduziere ich meine Analyse auf fünf Lexika, die sich über das Zeitfenster der Untersuchung verteilen. Für deren ausführlichen Quellenangaben siehe im Literaturverzeichnis den Unterpunkt 6.1.4. Historische Lexika. Vgl. Frevert, Ute. Gefühle definieren. Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten. In: Ute Frevert u. a. (Hrsg.). Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt/Main 2011. S. 9–39. Hier: S. 16ff. Zedler. Bd. 14. Sp. 335. Der Substanzbegriff (lat. substantia), der hier angeführt wird, wird im Zedler als »ein vor sich bestehendes Ding oder Wesen« (Zedler. Bd. 40. Sp. 1583) definiert. Der identitas-Begriff bezieht sich also auch auf die wesenhafte Gleichheit zweier Dinge. Vgl. Groebner (2015). Ich-Plakate. S. 28ff. Vgl. Adelung Ib (1775). Sp. 1350ff. Sowie: Adelung II (1811). Sp. 1350ff.

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Identitätsterminus in einer deutschsprachigen Schreibweise aber in den Erklärungen der drei Begriffe Derselbe, Ein sowie Einerley vor79 und wird dort als ein Ausdruck beschrieben, den »man zuweilen auch durch ein und eben derselbe auszudrucken pfleget«80. Während der Begriff in seiner Schreibweise eine Modifikation erfuhr und entsprechend der Transformation der Wissenschaftssprache aus dem lateinischen in eine deutschsprachige Version umgewandelt wurde,81 ist er in seiner inhaltlichen Bedeutung nicht verändert worden. Denn Identität wird wie zuvor der identitas-Begriff im Zedler zur Beschreibung für die Gleichheit zweier oder mehrerer Dinge oder Wesen benutzt.82 Im Erklärungstext zur Gleichheit83 im Band fehlt der Identitätsbegriff jedoch. Dies sowie die Tatsache, dass der Begriff nicht mehr als ein eigenständiger Fachterminus geführt wird, den es zu erklären gilt, erhärtet den Eindruck, dass es sich beim Identitätsterminus zwar durchaus um einen etablierten Wissenschaftsbegriff der Theologie und Metaphysik handelte, der jedoch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Aktualität und Wichtigkeit verloren hat. In den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts schien sich an dieser Entwicklung bzw. der generellen (Nicht-)Verbreitung des Identitätsbegriffes nichts verändert zu haben. Im Grimmschen Wörterbuch, dessen erster Band im Jahr 1854 erschienen ist, findet sich weder ein eigener Eintrag zum Identitäts- noch zum identitas-Terminus. Ersterer wird zwar wie im Adelung bei einigen Worterklärungen verwendet, so zum Beispiel als Stichwort von Einerleiheit84 und bei der Worterklärung von gleich.85 In Anbetracht der umfangreichen Ausführungen des Grimmschen Wörterbuches legen die wenigen Nennungen jedoch eher eine rückläufige Begriffsverbreitung nahe. Darüber hinaus werden beide Ausdrücke nicht in den Erklärungstexten der drei Begriffe derselbe, Ein sowie Einerley 79 Vgl. Adelung Ia (1774). Sp. 1331, Sp. 1543 u. Sp. 1555. Sowie: Adelung II (1811). Sp. 1466, 1680ff. u. 1693f. 80 Adelung II (1811). Sp. 1682. Das Zitat stammt aus der Erklärung des Ausdruckes Ein. 81 Eine sehr gute, umfangreiche Darstellung des Transformationsprozesses der Wissenschaftssprache findet sich bei Karl-Otto Edel, besonders die beiden Kapitel Die Ablösung des Lateinischen sowie Der Übergang vom Lateinischen zur Nationalsprache. (Vgl. Edel, KarlOtto. Die deutsche Sprache in der Wissenschaft. Wandel, Wirkung und Macht. Ein kulturgeschichtlicher Abriss von den Anfängen bis zur Gegenwart. Paderborn 2015. Hier: S. 47–68 u. S. 69–83.) 82 Siehe auch den Lexikoneintrag zu Derselbe: Adelung II (1811). Sp. 1466. Beim Eintrag zu Einerley fällt der Identitätsterminus nur in einer Anmerkung, die besagt, dass »einige neuere Philosophen« den Begriff Einerleyheit »für Identität einführen wollen« (Adelung II (1811). Sp. 1694.). 83 Vgl. Adelung II (1811). Sp. 715. 84 Vgl. Grimmsche Wörterbuch. Bd. 3. Sp. 167. 85 Vgl. Grimmsche Wörterbuch, Bd. 7. Sp. 7968. Wie im Adelung wurde Identität auch in den Grimmschen Wörterbüchern in der Bedeutung einer Gleichheit zweier Dinge oder Sachen verstanden. (Vgl. ebenda.)

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verwendet wie noch zuvor im Adelung. Eigentlich wäre dies kaum eine Erwähnung wert, schließlich verändern sich gerade die Worterklärungen in ihrer Form und Umfang. Im Hinblick auf die gleichbleibende Wortbedeutung, die der Identitätsbegriff in seiner Verwendung im Grimmschen Wörterbuch erfuhr, ist diese Tatsache aufgrund des inhaltlichen Zusammenhanges besonders zwischen den Begriffen derselbe und Identität in seiner Gleichheitsdefinition allerdings auffällig und bestätigt den Eindruck eines weiteren Gebrauchsrückganges des Wortes bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein. Eine Nutzungsintensivierung wurde dem Identitätsbegriff erst zum Ende desselben Jahrhunderts zuteil. Denn einerseits findet er sich nun in Form eines eigenständigen Begriffseintrages im Meyers wieder, in welchem er wie gehabt in einem logischen Sinne von Gleichheit definiert wurde, bei der jedoch in einer erweiterten Definition auf eine zweifache Bedeutungsdimension verwiesen wird. Denn der Terminus sei zu verstehen entweder »im weitern Sinn zwischen Begriffen, wenn sie miteinander vertauscht werden können (Wechselbegriffe), [oder] im engern Sinn, wenn sie ein und derselbe Begriff sind«86. Andererseits erfuhr der Begriff in der zeitlich kurz darauffolgenden 14. Auflage des Brockhaus eine weitere inhaltliche Ausweitung. Neben der Erwähnung der Begriffsbedeutung im Sinne von »Einerleiheit«, wie sie auch im Meyer skizziert wurde, »bedeutet [Identität] eigentlich die Bestimmtheit des Begriffsinhalts oder die unveränderlich festzuhaltende Einheit des Gesichtspunktes des Denkens«87. Das Begriffsverständnis von Identität wird also auf einen festgelegten bzw. festzulegenden Bedeutungsinhalt von Begriffen ausgeweitet, dessen Sinn im Erklärungstext zur Identitätsphilosophie leichter verstehbar wird. Dort heißt es: »Identitätsphilosophie wird die Philosophie Schellings und Hegels genannt, weil diese Systeme das absolute Wesen oder Princip [sic!] alles Daseins als die Identität der tiefsten Grundbegriffe definieren, nämlich der Begriffe des Subjekts und Objekts, des Ideellen und Reellen, des Geistes und der Natur, des Denkens und des Seins.«88

In der Identitätsphilosophie wird den grundlegenden Begriffen trotz ihrer eigentlichen inhaltlichen Divergenz ein gleichseiender Bedeutungsgehalt zugesprochen, der unveränderlich bestünde. Die Verbindung des Identitätsbegriffes mit der Grundannahme eines festen, dauerhaften Bedeutungsinhaltes, der im Grundprinzip der Annahme eines substantiellen Wesenskernes von Dingen gleicht und auf die Begriffe übertragen wird, ebnete also die Begriffsverknüpfung des Identitätsterminus mit der substantiellen Wesenheit. Identität beschreibt folglich nicht mehr nur eine Relation, sondern wurde zudem als feste Bestimmungsform der Wesenheit von Dingen verstanden. Die Grundlage unserer 86 Meyers. Bd. 8. Sp. 875. 87 Brockhaus. Bd. 9. Sp. 512. 88 Ebd. Sp. 513.

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

heutigen Begriffsbedeutung ist also in der Philosophie des späten 19. Jahrhundert geprägt worden und fand bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts Aufnahme in den Wissenskanon der Zeit.89 Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass der Identitätsterminus im Wissenskanon des Untersuchungszeitraumes überwiegend als ein Relationsbegriff zur Beschreibung der Gleichheit zweier Dinge fungierte, der jedoch eher ein Überbleibsel der (spät)scholastischen Wissenstradition zu sein schien als ein im zeitgenössischen (Wissenschafts- sowie im öffentlichen) Diskurs verbreiteter und genutzter Begriff. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts modifizierte sich dies und der Begriff erhielt in einigen philosophischen Konzeptionen einen neuen Stellenwert, durch welchen er eine Aktualisierung erfuhr. Gleichzeitig wurde dabei die Grundlage unseres heutigen Verständnisses geschaffen, indem der Terminus inhaltlich mit dem Gedanken der (substantiellen) Wesenheit verbunden wurde. Trotz dieses »Aufschwunges« hinsichtlich der Verbreitung und der inhaltlichen Definitionserweiterung von Identität zum Ende des 19. Jahrhunderts erscheint die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, dass der Begriff bereits in den zeitgenössischen Ratgebern über Erziehung verwendet worden ist. Denn eine Popularisierung des Begriffes innerhalb als auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses erfolgte erst ab den 1950er Jahren.90 Das Fehlen des Identitätsterminus in den Ratgeberquellen beeinflusst mein Forschungsvorhaben aber in keiner Weise, da in der historischen Analyse die verschiedenen Redeund Darstellungsweisen der Bestimmungsformen und Eigenheiten der Menschen von den Ratgeberautorinnen ermittelt werden. Ich als Forscher konstruiere dementsprechend die historischen Identitätskonzeptionen aus den Ratgeberquellen anhand meiner dargelegten Wahrnehmungsweise der in den Quellen vermittelten Bewertungen der potentiellen Identitätskategorien sowie den darin skizzierten Wertvorstellungen91 und Feindbildern. Wenn von Identität 89 Auch im Meyers findet sich ein Hinweis auf philosophische Konzepte, die dort als »Identitätssysteme« (Meyers. Bd. 8. Sp. 875.) bezeichnet werden. Als Beispiele werden Schelling und Spinoza genannt. (Vgl. ebenda.) 90 Siehe das Kapitel 1.1.1. Begriffstheorie im Rahmen des Substanz-Prozess-Dualismus. 91 Unter Werten verstehe ich die von einem Akteur präferierten Verhaltensweisen, die einerseits von den spezifischen gesellschaftlichen Verortungen eines Akteures beeinflusst sowie andererseits von dessen individuellen Erfahrungen, Sozialisation, Vorlieben usw. geprägt werden. Unter Normen verstehe ich dagegen aus gesellschaftlichen Machtpositionen, Institutionen und Instanzen resultierende sowie dadurch als legitim, weil Verstöße dagegen sanktioniert werden können, erscheinende Verhaltensweisen, die etwa in Form von Regeln und Gesetzen Ausdruck finden. Gleichzeitig wirken diese auf die sich in den Gesellschaften befindenden Akteure ein, werden von diesen aufgegriffen, verbreitet oder auch gegebenenfalls modifiziert. (Vgl. Müller, Hans-Peter. Werte, Milieus und Lebensstile. Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft. In: Stefan Hradil (Hrsg.). Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. New York/ Frankfurt/Main 2013. S. 185–208 Hier: S. 186ff.) (Sowie: Heinemann, Isabel. Wert der Familie. Ehescheidungen, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des

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folglich die Rede ist, handelt es sich dabei nicht um einen Quellen-, sondern um einen Forschungsbegriff.92 Im nun Folgenden liegt der Fokus der Ausführung darauf, die weiteren zentralen Begriffe für die Entwicklung eines wissenschaftlich anwendbaren Identitätskonzeptes herzuleiten und deren begriffstheoretische Unterschiede und Überschneidungen aufzuzeigen. Beginnen werde ich mit dem Individuumsbegriff.

1.2.

Individuum

Am Anfang muss kurz die grundsätzliche Schwierigkeit thematisiert werden, im begriffstheoretischen Feld die Ausdrücke Individuum und Subjekt klar voneinander zu unterscheiden. Die Problematik resultiert daraus, dass innerhalb der Begriffstheorie eine große inhaltliche Nähe zwischen beiden Begriffskonzepten besteht, die im wissenschaftlichen Diskurs zu einer Vielzahl an Überschneidungen und synonymen Verwendungsweisen geführt hat. Dadurch ist die Unterscheidbarkeit und Klarheit in den Definitionen verwischt worden.93 Es stellt also kein einfaches Vorhaben dar, die beiden Begriffe inhaltlich voneinander abzugrenzen. Dies kann meiner Auffassung nach nur durch die theoretische Reduktion eines von beiden Begriffen innerhalb der eigenen Begriffsapparatur gelingen, weswegen ich im Folgenden den Individuumsbegriff zentraler behandeln und den Subjektbegriff trotz seiner umfangreichen Begriffstradition sowie oftmaligen Verknüpfung in der Forschung mit dem Identitätsbegriff inhaltlich stark verkleinern werde.94 Der Grund für meine Entscheidung besteht in einer 20. Jahrhunderts. Berlin/ Boston 2020. Hier: S. 12–20.) Bei Heinemann findet sich auch ein aktueller Überblick zu sozialwissenschaftlichen sowie historischen Forschungsdiskussion zu Werten. 92 Siehe das Kapitel I Einleitung. 93 Auf die Schwierigkeit der theoretischen Abgrenzung verweist auch Andreas Reckwitz, indessen bei Stefan Bertschi der Hinweis auf die häufige synonyme Verwendungsweise beider Termini zu finden ist. (Vgl. Reckwitz (2010). Subjekt. S. 17.) (Sowie: Bertschi, Stefan. Im Dazwischen von Individuum und Gesellschaft. Topologie eines blinden Flecks der Soziologie. Bielefeld 2010. S. 64.) Auch Thomas Etzemüller plädiert für die Notwendigkeit der Unterscheidbarkeit dieser beiden Begriffe. (Vgl. Etzemüller (2013). Der ›Vf.‹ als Subjektform. S. 176.) 94 Als Beispiel sei zum einen auf Reckwitz verwiesen, der bereits in seinem Werk Subjekt »die >Identität< [als] einen spezifischen Aspekt dieser Subjektform«, als »ein bestimmtes Selbstverstehen« (Reckwitz (2010). Subjekt. 17.) im Prozess der Subjektivierung bezeichnet und in einem aktuellen Aufsatz »Identität als sekundären Begriff« (Reckwitz (2015). Analyse des Selbst. S. 35.) charakterisiert und erneut für die Zentralität des Subjektbegriffes gegenüber den Ausdrücken Identität und Individuum plädiert. (Vgl. Reckwitz (2015). Analyse des Selbst. S. 31ff.) Zum anderen sei Straub angeführt, der Identität explizit mit dem Subjektbegriff verknüpft, wenn es heißt: »Ganz ohne das Subjekt lässt sich über dessen Identität

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

meines Erachtens nach besseren Kompatibilitätsmöglichkeit zwischen dem Individuums- und Identitätsbegriff innerhalb einer Identitätskonzeption.95 Der Subjektbegriff fällt jedoch nicht unter den Tisch und wird im folgenden Kapitel definiert. An dieser Stelle geht es nun darum, den Individuumsbegriff kurz und grob herzuleiten, dessen theoretischen Rahmen zu rekonstruieren und eine Definition auszuformulieren. Die Ursprünge des Individuumsbegriffes sind bis in die griechische Antike rekonstruierbar und liegen im griechischen Begriff atomos begründet. Dieser Terminus erhielt in der Atomtheorie des Demokrit die Bedeutung, die kleinstmöglichen, unteilbaren Elemente zu bezeichnen und wurde von Cicero mit der Übersetzung »corpora individua propter soliditatem« in den philosophischen Diskurs eingeführt.96 Als Fachbegriff innerhalb der Philosophie erhielt sich diese Bedeutung in dem lateinischen Wort individuum bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Darüber hinaus fungierte der Ausdruck noch als allgemeine Bezeichnung für ein einzelnes Ding.97 Zu welchem Zeitpunkt der lateinische Terminus in die deutsche Sprache übernommen worden ist, lässt sich nicht so leicht rekonstruieren.98 Festzustellen ist jedoch, dass dessen Bedeutung im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine einschneidende Modifikation erfuhr, welche die sogenannte

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98

wenig bis nichts sagen – weder über die sogenannte »qualitative« Identität einer bestimmten Person, noch über allgemeine Strukturmerkmale einer spät- oder postmodernen Identität im Zeitalter der Kontingenz« (Straub (2015). Ein Selbstbildnis erzählen. S. 22.). Weitere Gründe erörtere ich in dem folgenden Kapitel 1.3. Subjekt. Vgl. Röttgers (2016). Identität als Ereignis. S. 85. Fußnote 90. Vgl. Walther, Gerrit. Individualität. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 5. Stuttgart/ Weimar 2007. Sp. 890–895. Hier: Sp. 890f. Die inhaltliche Schwerpunktverschiebung in der zweiten Begriffsbedeutung resultierte aus der von Aristoteles und später aus der christlichen Seelenlehre verstärkten Betonung der Einzigkeit des Unteilbaren. (Vgl. Röttgers (2016). Identität als Ereignis. S. 85. Fußnote 90.) Ob der Begriff bereits im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache übertragen wurde, wie von Stefan Bertschi behauptet wird, (Vgl. Bertschi (2010). Im Dazwischen. S. 68.) scheint fraglich zu sein. Denn im Zedler findet sich zum Beispiel der Begriff nur in Kombination mit anderen lateinischen Wörtern (wie signatum oder substantiale) (Vgl. Zedler. Bd. 37. 1743. Sp. 1212. Sowie: Zedler. Bd. 40. 1744. Sp. 1581.) oder in der modifizierten Schreibweise (indiuiduum) als einzelner Terminus, der jedoch im Gegensatz zu den anderen zu erklärenden Begriffen nicht hervorgehoben wurde. (Vgl. Zedler. Bd. 14. 1739. Sp. 663.) Plausibler erscheint mir deswegen, dass der Terminus im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der heute noch bekannten Schreibweise Individuum endgültig in die deutsche Sprache übernommen wurde. Denn der Begriff wurde bereits im Adelung in der Erklärung von einer Vielzahl von Ausdrücken verwendet. In der digitalen Aufbereitung des Adelung durch die Bayerische Staatsbibliothek werden einem 51 Treffer angezeigt, unter anderem bei Begriffen wie Du, Einerley, Henne, Jeder, Kind, Mensch, Ochs, Person, Rind, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. (Vgl. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/suche/abfrage?schnellsuche=In dividuum&x=0&y=0, 13. 04. 2017, 13:55 Uhr.)

Begriffsreflexion

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Epoche der Moderne in den Augen einiger Forschenden entscheidend prägte.99 Denn es entwickelte sich die Vorstellung, dass das Individuum nicht mehr eine kleinstmögliche, unteilbare Entität oder einen Einzelnen bezeichne, sondern als ein einheitliches und dauerhaftes Wesen begriffen werden sollte, das als beständige und autonome Ganzheit die materielle Grundlage für den sich auszubildenden Einzelnen darstelle. Das Begriffskonzept vom Individuum modifiziert sich demnach zu einem zeitlebens bestehenden abgeschlossenen und einheitlichen Körper, der ab dem Zeitpunkt seiner Existenz konstituiert wäre und in dem der substantielle Wesenskern bereits enthalten sei.100 Begriffstheoretisch bildet diese Definition somit die ideale Symbiose zum substantiellen Identitätsentwurf. Denn in beiden wird die Einheitlichkeit sowie die Abgeschlossenheit des Körpers zur Grundannahme erhoben, wodurch die Wesenhaftigkeit der Dinge und Lebewesen in diesen qua ihrer Existenz enthalten sein muss. Die substanztheoretische Konzeption des Identitätsbegriffes benötigt dementsprechend eine Definition des Individuums, die durch Einheitlichkeit, Permanenz und Autonomie in Form von einer Abgeschlossenheit gekennzeichnet ist, denn nur so wird sie mit der Vorstellung eines den Wesen und Dingen inhärenten, substantiellen Kernes vereinbar. Eigenschaften wie Offenheit oder eine permanent ablaufende Konstitutionsweise ließen sich mit einem solchen Konzept nicht vereinbaren.101 Das Individuum wird seit dem 19. Jahrhundert also nicht mehr nur als ein Einzelding verstanden, sondern auch als ein wesensbestimmter, abgeschlossener und einheitlicher Körper.102 Zu dieser bis heute verbreiteten Auffassung103 entwickelte sich erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert eine alternative theoretische Begriffsvorstellung. In dieser rückt die Prozesshaftigkeit als zentrales Prinzip wie beim Identitätsbegriff in den Mittelpunkt der theoretischen 99 Als Beispiele seien etwa Zima, Jarzebowski und Kaufmann angeführt, (Vgl. Zima, Peter. Die Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen 2000. S. 4f.) (Sowie: Jarzebowski, Claudia. Identität. Allgemein, Geschlecht. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 5. Stuttgart/ Weimar 2007. Sp. 769– 775. Hier: Sp. 770.) wobei letzterer sogar davon schreibt, dass sich mit der im 19. Jahrhundert entwickelnden theoretischen Individuumskonzeption die Ideologie der Moderne gebildet hätte. (Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 59f.) 100 Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 59f. Diese substanztheoretische Definition von Individuum entspricht der in der Forschung als »moderne Begriffsauffassung« charakterisierten. (Siehe oben.) Es ist damit aber nicht gesagt, dass diese Auffassung von allen zeitgenössischen Wissenschaftlerinnen und Philosophen vertreten worden ist, sondern nur, dass sie sich als Mehrheitsmeinung durchsetzen konnte. 101 Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 59. 102 Vgl. Reckwitz (2010). Subjekt. S. 17f. 103 Als ein aktuelles Beispiel sei Stefan Bertschi erwähnt, der annimmt, dass »das Individuum […] jeweils schon konstituiert vor[liegt]« (Bertschi (2010). Im Dazwischen. S. 79) und es als eine feststehende körperliche und geistige Einheit beschreibt, die im Gegensatz zum werdenden Subjekt stünde. (Vgl. ebenda.) (Sowie: Ebd. S. 63f.)

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Überlegungen und das Individuum wird folglich als eine kontinuierliche Vereinigung zweier gleichzeitig ablaufender Prozesse beschrieben.104 Der erste Prozess sei gekennzeichnet durch die selbstständige Inkorporation aller außerhalb des Körpers getätigten Zuschreibungen, Informationen, Erfahrungen und Eindrücke, die der Mensch durch seine Sinne bewusst wie unbewusst auf- und wahrnimmt und die im Gedächtnis gespeichert werden. Dieser Wissensbestand ist charakterisiert durch Pluralität, Differenzen, Widersprüchlichkeit und durch seine permanente Wandelbarkeit. Er beinhaltet zum Beispiel die Aufnahme von sozial vermittelten Rollenvorstellungen, Praktiken, Verhaltensregeln oder Sprache.105 Der zweite ablaufende Prozess impliziere die eigenständige Verarbeitung und Reflexion der sowohl außerkörperlichen, weltlichen Eindrücke und Zuschreibungen als auch der innerkörperlichen Wahrnehmungen und Bewertungen. In diesem werden die vielen Erfahrungswelten in Verbindung zueinander sowie zu der abstrakten Gedankenwelt gesetzt, in ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und Pluralität reduziert oder ausgeblendet und in der Selbstwahrnehmung des Menschen zu etwas Ganzem vereint. In diesem zweiten, permanent ablaufenden Prozess würde im Menschen zudem der Eindruck seiner eigenen Geschlossenheit erzeugt, denn aufgrund seiner Selbstwahrnehmungen erführe er sich als eine körperliche und geistige Einheit und Ganzheit.106 Diese Selbsterfahrung, dessen Voraussetzung die Selbstbewusstseinskonstitution des Menschen bilde, welche ihn zur Ich-Aussage befähige, ihm dem Eindruck von Selbstständigkeit und Eigenheit vermittle und ihn zur sozialen Interaktion ermächtige,107 stelle jedoch eine Illusion dar. Denn sowohl die körperlich-materielle als auch die kognitive Einheitlichkeit werden permanent in eben jenem zweigliedrigen Prozess erst erzeugt. Das prozesshaft konzipierte Individuum wird demnach nicht mehr als ein fester, abgeschlossener Körper mit einem Identitätskern gedacht, wie es in der substanztheoretischen Vorstellung der Fall ist, sondern verstanden als ein Körper mit einem offenen System, das sich in einem komplexen, doppelten, permanent ablaufenden Produktionsprozess befindet. Weil in diesem auch die 104 Die Grundlagen dieses theoretischen Modells konstruiere ich aus den Ausführungen JeanClaude Kaufmanns. (Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 59ff.) Erwähnt sei erneut, dass dies nur eine mögliche Variante von vielen, auf Prozesshaftigkeit basierenden Individuumskonzepten darstellt. 105 Eine sehr gute Darstellung zur Wirk- und Anwendungsweise des Praktikenmodells findet sich bei Thomas Etzemüller sowie Dagmar Freist. (Vgl. Etzemüller (2013). Der ›Vf.‹ als Subjektform. S. 176ff.) (Sowie: Freist (2017). Glaube, Liebe, Zwietracht. S. 175ff.) 106 Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 59ff. 107 Dass das Selbstbewusstsein eines Menschen eine Prämisse von eigener Identitätsherstellung bildet, ist klar und eindeutig und sei an dieser Stelle nur kurz angemerkt. Ohne ein Bewusstsein von sich selbst besteht auch nicht die Möglichkeit, eigene Selbstbilder und Vorstellungen zu entwickeln.

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Selbstbewusstseinserfahrung verankert wird, welche die Voraussetzung dafür darstellt, dass sich der Einzelne als handlungsfähiges Wesen wahrnimmt und kurz- sowie langfristige Selbstbilder erzeugen kann, fungiert der Individuumsbegriff als ein Produktionszentrum von Identität. Denn im Zuge der Selbstwahrnehmungen und -reflexionen entwickelt und evaluiert der Mensch Orientierungspunkte oder Kategorien zur Herstellung seiner eigenen Identitätsvorstellung.108 Entsprechend meiner Entscheidung, einen prozesshaft definierten Identitätsbegriff in meinem Forschungsvorhaben zu verwenden, schließe ich eine substanztheoretische Definition des Individuumbegriffes aus und übernehme anstelle dessen die Grundannahmen des eben skizzierten prozesshaften Konstitutionsmodell. Das Individuum wird also als ein offenes, interaktives und sich permanent vollziehendes Produktionszentrum verstanden, das unter den Einflussfaktoren der Gesellschafts- sowie Zeitgebundenheit109 für die permanente Herstellung von Selbstbewusstsein und Selbstbildern sorgt und somit die Grundkategorie der Identität bildet. Dementsprechend kann für die Identitätskonzeption festgehalten werden, dass Identität(en) Produkte des Individuums sind, welche in einem zweigliedrigen Prozess zwischen der Verarbeitung sozialer Rollenzuschreibungen, Praktiken, Wissensordnungen und außerkörperlicher Informationen und der intrinsischen Selbstreflexion im Spannungsfeld von Emotionen, Selbstbildern, Wertvorstellungen und Erfahrungen hergestellt werden. Diese Definition vom Individuum hat weitere Erkenntnisse für die Entwicklung eines historisch anwendbaren Identitätskonzeptes geliefert und Klarheit geschaffen, worin die Unterschiede zwischen dem Individuums- und dem 108 Diesbezüglich gilt es anzumerken, dass im Verarbeitungs- und Reproduktionsprozess von Erfahrungen und Handlungen den Emotionen eine zentrale Funktion zukommt, welche besonders den Entscheidungsprozess eines Menschen beeinflussen. Ausführliche Erläuterungen dazu finden sich bei Kaufmann und Reckwitz. (Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 187ff.) (Sowie: Reckwitz (2015). Analyse des Selbst. S. 40ff.). Für das von mir zu entwickelnde Identitätskonzept werden die Emotionen trotz ihrer Einflussnahme bei der Identitätsproduktion keine weitere Berücksichtigung finden, weil sie bei der historischen Quellenanalyse von Ratgebern nur auf einer normativen Ebene erfassbar wären und eine den wissenschaftlichen Standards erfüllende zeitdiagnostische Erschließung den Rahmen meiner Arbeit sprengt. (Vgl. Saxer, Daniela. Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 14. H. 2. 2007. S. 15–29. Hier: S. 23f.) Zu den grundsätzlichen Erkenntnisschwierigkeiten in der historischen Forschung von Emotionen siehe Ute Frevert. (Vgl. Frevert, Ute. Angst vor Gefu¨ hlen? Die Geschichtsma¨ chtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert. In: Manfred Hettling, Frank-Michael Kuhlemann, Paul Nolte und Hans Walther Schmuhl (Hrsg.). Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München 2000. S. 95–111. Hier: S. 98ff.) 109 Im Unterschied zu einer substanzialistisch definierten Konzeption vermag es ein auf Prozesshaftigkeit basierender Ansatz, die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die Spezifika der Zeitepochen mit einzubeziehen. (Siehe das Kapitel 1.1.1. Begriffstheorie im Rahmen des Substanz-Prozess-Dualismus.)

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

Identitätsterminus liegen. Im Folgenden richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Subjektbegriff, der kurz hergeleitet und darauf folgend theoretisch in mein Begriffskonzept eingebettet wird. Der Schwerpunkt der Ausführungen konzentriert sich dabei auf die Begründung der von mir verwendeten Begriffshierarchie, in dessen Zuge die Konzeption einer individuellen Handlungsfähigkeit besprochen wird.

1.3.

Subjekt

Die Ursprünge des Subjektbegriffes sind auf den griechischen Ausdruck hypokeimenon zurückzuführen, der bereits in der griechischen Philosophie bei Aristoteles in mehreren Themenbereichen wie der Logik oder der Naturphilosophie verwendet wurde.110 Das Wort selbst leitet sich vom lateinischen Wort subiectum ab, »einer Partizipialbildung zu subicere, welches soviel bedeutet wie »unterlegen, unterstellen, darreichen«, eigentlich »unterwerfen««111. Während der Begriff im antiken und mittelalterlichen Diskurs hauptsächlich in drei Bedeutungsvarianten fungierte,112 fand er in seiner neuzeitlichen Nutzung vor allem Gebrauch in der Erkenntnis- und Moraltheorie, in der Vertragstheorie sozialtheoretischer Schule sowie in der Ästhetik. Trotz unterschiedlicher Auslegungen basierte er in allen Bereichen auf der Grundannahme einer Autonomie des Einzelnen.113 Weil nun die Bandbreite an unterschiedlichen Begriffskonzepten des Subjektbegriffes quasi ins Unendliche geht, dem Begriff jedoch nicht das Hauptaugenmerk in meiner Arbeit zukommt, formuliere ich im folgenden meine Begriffsdefinition und rechtfertige diese daraufhin im Kontext der Einbettung in meinen bisherigen Begriffsapparat. Unter einem Subjekt verstehe ich ein Individuum, welches zur Selbstannahme seiner Selbstständigkeit und Autonomie fähig ist. Das bedeutet, die Vorstellung des Menschen, dass er über einen unabhängigen und freien Willen verfügt und zu eigenständigen Handlungen in der Lage ist, kennzeichnet meine Begriffsdefinition des Subjektes. Die Notwendigkeit der vollzogenen, inhaltlichen Reduktion des Subjektterminus liegt neben der bereits erwähnten, besseren Kompatibilität zwischen dem 110 Vgl. Kible, Brigitte. Subjekt. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Basel 1998. Sp. 373–383. Hier: Sp. 373f. 111 Bertschi (2010). Im Dazwischen. S. 59. 112 Im Bereich der Ontologie ist der Ausdruck in der Bedeutung eines Trägers von Eigenschaften und Handlungen, in der Logik als Satzgegenstand und in der Wissenschaftstheorie als dessen Gegenstandsbezeichnung verwendet worden. (Vgl. Kible (1998). Subjekt. Sp. 373f.) 113 Vgl. Reckwitz (2010). Subjekt. S. 11f.

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Individuums- und Identitätsausdruck im Wesentlichen in drei weiteren Aspekten begründet. Erstens erscheint mir das in der Soziologie und anderen Forschungsbereichen häufig benutzte, reduzierte Begriffsverständnis eines Individuums, welches dieses vor allem als »körperlich-psychische Entitäten«114 charakterisiert, zu ungenau und unscharf. Denn eine solche Definition erinnert zu sehr an ein substanzialistisch konzipiertes Begriffsverständnis bzw. bezieht keine eindeutige Position in dieser Definitionsfrage.115 Deswegen nutze ich ein erweitertes Begriffskonzept und verankere die Selbstbewusstseinskonstitution mit in den bereits skizzierten Herstellungsprozessen des Individuums. Das bedeutet, dass die sonst in der Forschung mit dem Subjektbegriff und dem Stichwort der Subjektivierung beschriebenen Prozesse, wie etwa die situative Konstitution des Einzelnen in sozialen Praktiken, mit in meinem Individuumsbegriff subsumiert werden und dort als Wirkfaktoren des permanent ablaufenden, zweifachen Herstellungsprozesses des Individuums fungieren.116 Die zum Beispiel in einer Praktik normierenden Wirkweisen beeinflussen demnach die Bildung des Individuums sowie dessen Identitätsausbildung, stehen derweil aber nicht mit meinem Subjektbegriff und dessen Entstehungsmechanismus im Zusammenhang. 114 Reckwitz (2015). Analyse des Selbst. S. 37. Diese Begriffsbedeutung wird von Etzemüller in seiner Unterscheidung zwischen dem Individuums-, Personen- und Subjektbegriff einerseits reproduziert, andererseits noch in der Reduktion gesteigert, denn er lässt die Kognitivität des Individuums vollkommen unerwähnt und betont stattdessen nur die Bedeutung des materiellen Charakters in der Begriffsdefinition. (Vgl. Etzemüller (2013). Der ›Vf.‹ als Subjektform. S. 176f.) In Alkemeyers Ausführungen, in denen der Individuumsbegriff wie so oft nur beiläufig in einer kurzen Fußnote definiert wird, beschränkt sich das Begriffsverständnis auf eine Entität, »die zu einem Subjekt werden kann« (Alkemeyer, Thomas. Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik. In: ders., Gunilla Budde und Dagmar Freist (Hrsg.). Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013. S. 33–68. Hier: S. 34. Fußnote 6.). Die häufige inhaltliche Reduktion in der Definition vom Individuum bzw. die oftmalige Abwesenheit einer solchen in der Forschung exemplifiziert sich anhand dieser Beispiele. 115 Reckwitz verweist in seinem Standardwerk Subjekt selbst auf die Problematik in der Definition des Individuumsbegriffes, wenn er schreibt: »die Frage nach dem individuellen >Rest< jenseits des Subjekts, ist explizit oder implizit ein häufiges, schwieriges Thema der Theoretiker, die sich mit der Subjektanalyse befassen« (Reckwitz (2010). Subjekt. S. 17.). Dazu erwähnt er die häufig vorkommende, substanzialistische Verwendung des Begriffes. (Vgl. ebenda.) 116 In den in aktuellen praxeologischen Ansätzen skizzierten Subjektivierungsprozessen wird das Individuum in oder während der Praktik oder situativen Konstellation zu einem (spezifischen) Subjekt. (Vgl. u. a. Alkemeyer (2013). Subjektivierung in sozialen Praktiken. S. 57ff.) (Sowie: Freist (2017). Glaube, Liebe Zwietracht. S. 175f.) Entsprechend meiner Definition des Subjektausdruckes wäre jedoch der Einzelne schon vor jeder situativen Interaktion ein Individuum mit Subjektivität bzw. ein subjektives Individuum, also ein Subjekt, wenn es die Fähigkeit erfüllt, sich seiner selbst als unabhängig und selbstständig zu denken.

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Zweitens ist diese Hierarchisierung der Begrifflichkeiten, also die Hervorhebung des Individuums- und Identitätsausdruckes gegenüber dem Subjektterminus, eine Folge meines Forschungsgegenstandes und meiner Quellengattung. Die in den Ratgeberquellen vermittelten Identitätsvorstellungen sind zwar als ein Gegenstand des Diskurses bzw. der Praktik des Rat gebens zu betrachten,117 sie stellen im Einzelnen jedoch immer bloß ein Angebot unter vielen dar und sind nicht als eine dominierende Struktur in der Problemlösung oder der Selbstfindung begreifbar, aus der eine normierende Umgangsweise resultiert. Die Entscheidungsgewalt der Übernahme der dargelegten Verhaltensweisen oder deren (Teil-)Modifizierung liegt (und lag schon) immer bei den Konsumierenden des Ratgebers, so dass die mit dem Subjekt- und Subjektivierungsbegriff oftmals einhergehende Hervorhebung der Dominanz des strukturellen Rahmens gegenüber der Gestaltungsmöglichkeit eines Einzelnen hier unpassend erscheint.118 Diese Frage der Konzeptionalisierung von Handlungsfähigkeit, die im direkten Zusammenhang mit der Frage von Autonomie und Selbstständigkeit eines Einzelnen steht,119 bildet den dritten Grund für die Reduktion meines Subjektbegriffes. Zur Erklärung muss ein Exkurs in den erkenntnistheoretischen Forschungsdiskurs erfolgen,120 wobei sich der Schwerpunkt auf die Skizzierung einer eigenen Position in der Theorie von Handlungsfähigkeit konzentriert. Ich persönlich nehme an, dass jedes Individuum zwar ein sozial eingebettetes, also den gesellschaftlichen Strukturen unterliegendes Einzelwesen sei, welches jedoch aufgrund der Vielschichtigkeit, die aus den pluralen, heterogenen bisweilen gar ambivalenten Erfahrungen und Selbstbildern resultieren, und der Fähigkeit zur Selbstreflexion zu eigenständigen, aktiven Handlungsweisen fähig 117 Zum Verhältnis von Diskurstheorie und Praxeologie siehe oben. 118 Als Beispiel sei auf Reckwitz verwiesen, der in seiner Aufzählung sogenannter poststrukturalistischer Grundannahmen in der Subjektperspektive im Punkt 6 den Wissensordnungen fast determinierenden Einfluss zuschreibt. Denn nur diese konstituierten demnach »das Subjekt, das sich selbst am Ende möglicherweise autonom und selbstkontrolliert vorkommt, zu einem solchen nur in Unterwerfung unter die akzeptablen Formen von Subjekthaftigkeit zu werden vermag« (Reckwitz (2015). Analyse des Selbst. S. 35.). Die Dominanz der Strukturen (in dieser Form der Wissensordnungen) wird also weiterhin vertreten. 119 Die Forschungsdiskussion um diese erkenntnistheoretische Grundfrage bewegt sich dabei im Spannungsfeld zwischen den Grundannahmen, die einerseits den Strukturen bzw. den gesellschaftlichen Rahmen als dominanten bis hin zum determinierenden Wirkfaktor in der Subjekt- oder Identitätserzeugung betrachten, oder andererseits die in dem Einzelnen und seiner biologisch-psychologischen Konstitution die entscheidenden Ursachen begründet sehen. Während erste Position überwiegend in den Sozialwissenschaften zu finden ist, finden sich Anhänger des zweitgenannten Standpunktes zum Beispiel in den Naturwissenschaften sowie Geisteswissenschaften. Ein bekanntes Beispiel wären die sogenannten radikalen Konstruktivisten wie Ernst von Glasersfeld oder Heinz von Forster. (Vgl. Wißmann (2011). Raum zur Identitätskonstruktion. S. 64ff.) 120 Vgl. Renn (2016). Selbstentfaltung. S. 22.

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ist. Denn der Mensch ist nicht nur ein passiv agierendes Wesen, weil es entweder entsprechend des inneren, determinierenden Wesenskernes oder der neuronalen, biochemischen Vernetzung oder entsprechend der strukturellen Rahmenbedingungen handelt, sondern kann ganz im Gegenteil zu einem aktiv Handelnden, zu einem Akteur werden.121 Die Annahme der Selbstständig- und Eigenmächtigkeit ermöglicht aufgrund der darin inhärenten Reflexionspotentialität, das eigene Handeln in der Situation, im Moment der Handlung selbst oder auch zu einem späteren Zeitpunkt zu erkennen, zu durchschauen und somit auch zu verändern. Der Mensch unterliegt damit zwar immer den zeit- und kulturspezifischen gesellschaftlichen Einflussfaktoren, wird von diesen jedoch nicht absolut bestimmt, sondern ist immer in der Lage, individuelle Handlungen zu vollziehen, die nicht der Praktik, Norm, Rolle, den hegemonialen Diskursen, (Wissens-)Ordnungen oder Erwartungen der Anderen entsprechen.122 Des Weiteren resultiert gerade aus der Vielheit, der Kombination und der Unterschiedlichkeit der individuellen sozialen Erfahrungen Eigenheit und individuelle

121 Für einen guten Überblick über gegenwärtige Akteursmodelle (mit einem soziologischen Schwerpunkt) siehe Thomas Kron und Lars Winter sowie mit Schwerpunkt auf die AkteurNetzwerk-Theorie Matthias Wiesers Beitrag. (Vgl. Kron, Thomas/ Winter Lars. Aktuelle soziologische Akteurtheorien. In: Georg Kneer und Markus Schroer (Hrsg.). Handbuch Soziologische Theorien. Wiesbaden 2009. S. 41–66.) (Sowie: Wieser, Matthias. Das Netzwerk von Bruno Latour. Die Akteur-Netzwerk-Theorie zwischen Science und Technology Studies und poststrukturalistischer Soziologie. Bielefeld 2012.) 122 Mein Begriffsverständnis eines Akteurs konzentriert sich also auf die Fähigkeit und Möglichkeit eines Menschen, trotz seiner gesellschaftlichen Einbettung und deren machtpolitischen Hegemonien zu eigenständigen Handlungen in der Lage zu sein. Es bestehen zwar immer strukturelle Wirkmechanismen, wie sie in anderen Modellen zum Beispiel die den Praktiken vorausgehenden Wissensordnungen beschrieben werden, die als Handlungsbeeinflussende Faktoren angesehen werden. Es sind jedoch immer die Individuen, welche im Rahmen der vielen (unterschiedlichen) Angebote, die die sozialen Konstellationen und Kontexte bereitstellen, Entscheidungen treffen, Erwartungen erfüllen oder nicht erfüllen, Selbstbilder entwickeln, Praktiken- und Kommunikationsakte umsetzen, sich selbst eine Identität und damit einen Sinn herstellen müssen. Dadurch beeinflussen die Individuen gleichzeitig aktiv die Praktiken, Handlungen oder Kommunikationsakte, wie es Pierre Bourdieu sehr schön in seiner Vorlesung vom 17. Januar 1991 veranschaulicht: »Es sind strukturierende Strukturen, die von den sozialen Produktionsbedingungen ihrer Produzenten geprägt sind, die ihrerseits in einem bestimmten staatlichen Raum, an bestimmten Positionen ihren Ort haben; und zugleich sind es strukturierte Strukturen der Wahrnehmung dieser Akteure, die dazu beigetragen haben, reale Organisationsstrukturen hervortreten zu lassen« (Bourdieu (2014). Über den Staat. S. 227.). Ein durch die Strukturen und sozialen Rahmenbedingungen (absolut) determiniertes Individuum erscheint also weder in der grundlegenden (theoretischen), noch in der historischen Betrachtung plausibel, weswegen auch alle historischen Zeitgenossen als handlungsfähige Akteure betrachtet werden sollten. Eine sehr gute Zusammenfassung über die Verständnisweise von einem Akteur im praxeologischen Ansatz findet sich bei Pröve. (Vgl. Pröve (2020). Geschichtskunde vs. Geschichtswissenschaft. S. 404.)

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

Gestaltungspotentialität.123 Denn es ist ein Irrglauben, den gesellschaftlichen Rahmen bzw. die Strukturen als homogene Einheit zu verstehen. Ganz im Gegenteil stellen diese vielschichtige, komplexe, widersprüchliche Erfahrungen bereit, welche die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Einzelnen und somit die Gewissheit einer individuellen Selbstgestaltung sogar noch befördern. Die Handlungsfähigkeit eines Einzelnen resultiert also aus dem Zusammenspiel struktureller Einflussfaktoren und individueller Elemente wie Erfahrungen, Selbstbilder, Emotionen, Wertvorstellungen sowie der Fähigkeit zur Selbstreflexion.124 Inwiefern wirkt sich nun aber die Konzeption individueller Handlungsfähigkeit auf meine Begriffshierarchisierung aus? Der Zusammenhang besteht in 123 Auch wenn jede individuelle Erscheinungsform aus der Struktur resultiert, wie Reckwitz es skizziert (Vgl. Reckwitz (2015). Analyse des Selbst. S. 42f.), resultiert daraus nicht die (absolute) Abhängigkeit des Einzelnen von den Strukturen. Denn selbst wenn die individuelle Entwicklung in Abhängigkeit zu den umgebenden Strukturen steht, negiert dies doch keine eigenmächtige, Strukturen unabhängige sowie entgegengesetzte Verhaltensweise des Menschen! Auch wenn Individualität als ein Produkt eines kulturellen Codes und somit als eine strukturelle Form einer Norm der Abweichung beschrieben wird, um dadurch als ein kollektives Muster klassifiziert zu werden, (Vgl. ebenda.) erklärt es damit noch nicht, wie individuelle Unterschiedlichkeiten entstehen und worin deren Ursachen und Beweggründe liegen. In seiner Erklärung von Idiosynkrasien liefert Reckwitz selbst die Argumente, die gegen seine zuvor ausgeführte Position der Strukturendominanz sprechen: nicht sämtliche praktizierbare Akte können im Detail vorherbestimmt sein; die Vielheit und Unterschiedlichkeit der Subjektformen eines Einzelnen machen eigenständige Modifikationen realisierbar und wahrscheinlich; es kann auch zu unbewussten Abweichungen kommen, welche neue Variationen oder Kombinationen befördern. (Vgl. ebd. S. 44f.) Anscheinend ist Reckwitz jedoch selbst zu sehr dem soziologischen Fachbereich und deren Doktrinen verbunden, als dass er eine Infragestellung bzw. Relativierung der Wirkmächtigkeit von Strukturen formulieren könnte. 124 Auch sollte nicht der gegenteilige Fehler begangen werden und der biologischen, psychischmentalen Sphäre des Individuums alle Wirkmächtigkeit in der Handlungstheorie angedacht werden, indem man entweder behauptet, dass gewisse psychologische Modelle alle wesentlichen Persönlichkeitszüge der Menschen erfassen und somit auch das Handeln der Menschen vorhersagbar wäre, auch nicht mit der minimalen Einschränkung »durchschnittlich gesehen« (Brand, Cordula. Persönlichkeit. Facetten eines Begriffs. In: Orsolya Friedrich und Michael Zichy (Hrsg.). Persönlichkeit, Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellung. Münster 2014. S. 135–161. Hier: S. 149.). Oder indem man glaubt, mit der naturwissenschaftlichen Analyse von neuronalen Netzwerken und gleichzeitiger Bezugssetzung zu geistigen Tätigkeiten eben jene geistigen Tätigkeiten selbst beschreiben und erklären zu können. Eine ausführliche und sehr gute Analyse solcher neurowissenschaftlichen Phantasien, deren Prämissen und theoretischen Unstimmigkeiten liefert Holger Hagen besonders in seinem ersten Kapitel. (Vgl. Hagen, Holger. Körper, Selbst, Identität. Die verdinglichende Selbstreflexion des modernen Subjekts. Von Descartes bis zur Kognitiven Neurowissenschaften. Würzburg 2015. Hier: ab S. 33ff.) Die Notwendigkeit einer Handlungstheorie, in der beide Sphären in Form gegenseitiger Einflussnahme berücksichtigt werden, scheint damit offensichtlich. (Siehe auch das Kapitel 1.6.2. Das Konzept von Identität: Definition, Funktionen und Formen.)

Begriffsreflexion

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der engen Überschneidung einer strukturverfechtenden Position mit dem Subjektbegriff, weil gerade jener oder auch der Begriff der Subjektivierung überwiegend die Grundlage in den strukturdominanten Modellen bilden.125 Weil ich jedoch ein hybrides Modell befürworte, wirkt sich dies auf eine Reduktion des Subjektbegriffes aus. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass der Subjektbegriff in meiner Forschungsarbeit in einem im Vergleich zur allgemeinen Forschungspraxis abweichenden Begriffsverständnis verwendet wird. Denn ich definiere ein Subjekt als ein Individuum, das die Fähigkeit zur Selbstannahme seiner Selbstständigkeit und Autonomie besitzt. Die Selbstbewusstseinsfähigkeit macht ein Individuum somit zu einem Subjekt, womit sie eine Voraussetzung dafür darstellt, dass ein Individuum überhaupt eine Identität ausbilden kann. Der Subjektbegriff bildet in meinem Begriffsmodell also die Fähigkeit eines Individuums, welche die Identitätsherstellung bedingt. Die Sinnhaftigkeit meiner reduzierten Subjektdefinition besteht vor allem darin, dass mit der Annahme der eigenen Autonomie und Selbstständigkeit im Subjektbegriff die aktive Handlungsfähigkeit des Einzelnen konzipierbar wird. Denn entsprechend meiner Darlegungen verstehe ich den Einzelnen als einen Akteur, der trotz seiner sozialen Einbettung zu eigenständigen Handlungen fähig ist. Im Folgenden wende ich mich nun dem Begriff der Individualität zu. Neben der Ausformulierung des eigenen Begriffsverständnisses werde ich mich auf die Funktionalisierungen des Begriffes in der Forschung konzentrieren und dabei insbesondere die beiden Forschungsannahmen kontextualisieren, dass sich im 19. Jahrhundert eine Individualisierung der Gesellschaften126 vollzogen hätte, die ein Charakteristikum der entstehenden modernen Gesellschaft127 bilde. Beginnen werde ich mit der Begriffsgenese sowie der Definition des Wortes. 125 Wie das Beispiel Reckwitz’ veranschaulicht. 126 Vgl. Renn (2016). Selbstentfaltung. S. 17ff. 127 Im Forschungsfeld der Soziologie wird die Vormoderne-Moderne-Erzählung besonders häufig reproduziert und inhaltlich eng mit der Individualisierungsthese verknüpft. (Vgl. Zwierlein, Cornel. Frühe Neuzeit, multiple modernities, Globale Sattelzeit. In: Achim Landwehr (Hrsg.). Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution. Bielefeld 2012. S. 389–405. Hier: S. 390.) So bezeichnet etwa Detlef Pollack die Individualisierung »als ein Kennzeichen der Moderne« (Pollack, Detlef. Religion und Individualisierung. Kulturelle Wirkungen des Protestantismus. In: Ingo Dalferth (Hrsg.). Reformation und Säkularisierung. Zur Kontroverse um die Genese der Moderne aus dem Geist der Reformation. Tübingen 2017. S. 141–174. Hier: S. 142.), die sich in einem zweiten Individualisierungsschub in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgebildet und im 19. Jahrhundert »zum Durchbruch zur Moderne« (Ebd. S. 166.) geführt hätte. In dessen Folge wäre ein autonomes Individuum entstanden, welches etwa nicht mehr von der Gesellschaft, der kommunalen Gemeinschaft sowie seiner sozialen Herkunft determiniert, sondern losgelöster vom staatlichen Zugriff gewesen wäre und mehr Mitbestimmungsrechte und Handlungsoption besessen hätte. (Vgl. ebd. S. 143ff., 163, 166 u. 174.)

48 1.4.

Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

Individualität

1.4.1. Begriffsgenese und eigene Definition Die Herleitung des Individualitätsbegriffes ist eigentlich schon aufgezeigt worden, wird aber kurz in Erinnerung gerufen. Der Terminus stammt vom lateinischen Begriff individuum bzw. individuare128 ab, dessen Ursprung im griechischen Wort atomos begründet liegt und der einerseits als Fachbegriff in der Philosophie bis ins 18. Jahrhundert hinein als die kleinste, nicht zu teilende Einheit verstanden wurde. Andererseits fungierte das Wort im Allgemeinen als Bezeichnung für eine einzelne Sache oder ein einzelnes Ding.129 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint der Individualitätsterminus zu einem der zentralen Leitbegriffe zu avancieren, nicht nur in den Wissenschaftsbereichen wie der Pädagogik, sondern auch in der Literatur sowie im politischen Feld, in dem der Ausdruck von einigen Strömungen politisiert und eng verbunden wurde mit eingeforderten Mitbestimmungs- sowie Freiheitsrechten.130 Diese symbolische Aufladung mit politischen Forderungen erhielt sich im 19. Jahrhundert genauso wie die rege Verwendung des Terminus im Wissenschaftsdiskurs. Auf die verschiedenartigen Denkweisen sowie Funktionalisierungen wird jedoch nicht weiter eingegangen, weil die jeweiligen Begriffsbedeutungen in den unterschiedlichen philosophischen Konzepten für meine Definition keine Rollen spielen. Anstelle dessen ist es für die Genese des Begriffes noch wichtig zu erwähnen, dass sich mit der Herausbildung und Etablierung des Wissenschaftsfeldes der Soziologie zum Ende des 19. Jahrhunderts die Beschäftigung mit dem Einzelnen und dessen Konstitutionsbedingungen im Spannungsfeld seines Umfeldes und der Gesellschaft im Allgemeinen institutionalisierte. In diesem Zuge sind die Grundzüge der Individualisierungsthese entstanden, die »von allen 128 Vgl. Krings, Bettina-Johanna. Strategien der Individualisierung. Neue Konzepte und Befunde zur soziologischen Individualisierungsthese. Bielefeld 2016. S. 9. 129 Vgl. Walther (2007). Individualität. Sp. 890f. Siehe auch das Kapitel 1.2. Individuum. 130 Vgl. Maurer, Michael. Alltagsleben. In: Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann (Hrsg.). Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band II. 18. Jahrhundert. München 2005. S. 33–68. Hier: S. 61ff. Ob die dabei von Maurer formulierte These plausibel erscheint, dass der Individualität jedes Einzelnen in keiner historischen Phase solche Wichtigkeit zugeschrieben worden wäre wie im 18. Jahrhundert, und ob es gerechtfertigt erscheint, dieses als Epoche der Individualität zu charakterisieren, (Vgl. ebd. S. 61.), sei bezweifelt. Ausgeprägte gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Gedanken von Individualität sowie mit der Bewertung und den Rechten des Einzelnen scheinen jedoch in dieser Zeitphase auch außerhalb des Gelehrtendiskurses vorhanden gewesen zu sein, erinnert sei nur an die Diskussionen des Selbst im Zuge der sogenannten literarischen Strömung des Sturm und Dranges. (Vgl. Willems, Marianne. Vom >bloßen Menschen< zum >einzigartigen Menschenbloßen Menschen< zum >einzigartigen MenschenEhre< bedingt ist« (Ebd. S. 17. Fußnote 16.). (Für weiterführende Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Klassen und Stände siehe auch: Füssel (2011). Die feinen Unterschiede in der Ständegesellschaft. S. 32f.) 189 Vgl. Schlögl (2011). Hierarchie und Funktion. S. 51f. u. 62f. Sowie: Pätzold/ Reinisch/ Wahle (2015). Ideen- und Sozialgeschichte der beruflichen Bildung. S. 46. Als auch: Weller (2011). Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. S. 6f. 190 Vgl. Renn (2016). Selbstentfaltung. S. 20. 191 Vgl. Helmstetter (2015). Wille und Wege. S. 65. Oder: Baggermann, Arianne/ Dekker, Rudolf. Ottos Uhr. Zeitvorstellung und Zukunftserwartung im 18. Jahrhundert. In: Kasper von Greyerz u. a. (Hrsg.). Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1800). Köln 2001. S. 113–134. Hier: S. 117. An dieser vereinfachten Darstellungsweise bestehen aber schon seit längerem Zweifel darüber, ob die wissenschaftlichen Zuschreibungen einer stratifikatorisch und funktional organisierten Gesellschaft sowie die Beschreibungen des Wandelprozess historisch zutreffend sind. (Vgl. Weller (2011). Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. S. 6.) (Sowie: Röth, Sibylle. Das Individuum als Illusion der bürgerlichen Subjektkonzeption? Vormoderne und postmoderne Kritik. In: Michael Hohlstein, Rudolf Schlögl und Isabelle Schürch (Hrsg.). Der Mensch in Gesellschaft. Zur Vorgeschichte des modernen Subjekts in der Frühen Neuzeit. Paderborn 2019. S. 289–318. Hier: S. 291.) (Als auch: Mat’a (2010). Ständegesellschaft. Sp. 869.) (Oder: Füssel (2011). Die feinen Unterschiede in der Ständegesellschaft. S. 38.) 192 Vgl. Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 19ff. Dass den Zeitgenossen der Ständegesellschaft bzw. deren überwiegender Mehrheit eine (aktive) Einflussnahme in ihrer Identitätsausbildung von der heutigen Forschung oftmals nicht zugestanden wird, veranschaulicht sich sehr schön in Harböcks Identitätsklassifikation eines ständischen Typus: »Menschen mit Identitätskonstruktionen des ständischen Typus erlebten sich selbst nicht als Individuen im modernen Wortsinn; in ihrem Ich gab es nichts, was ihnen einmalig, ein-

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damit, dass der Standbegriff und die damit verbundenen Annahmen einer Ständegesellschaft zentrale Bestandteile der Vormoderne-Moderne-Erzählung sind. Ich selbst verstehe Stand als eine Kategorie der (inner)gesellschaftlichen Verortung des Menschen in dessen zeitgenössischen sozialen Gesellschaftsstruktur. Im Fokus meiner Analyse steht die Frage, welche Bedeutungen der Einheit als eine Identitätskategorie von der Ratgeberautorinnen zugeschrieben worden ist. Des Weiteren möchte ich die Begriffsverständnisse der Ratgeberautoren ermitteln. Wird der Terminus in den Ratgeberquellen mit einem konkreten Ständemodell verknüpft, in denen feste Klassifikationskategorien genannt sowie ein gesamtgesellschaftlicher Bezug hergestellt wird oder ist der Terminus auf einzelne sozialen Gruppen bezogen worden, ohne dabei einen Zusammenhang zu einer Gesellschaftsklassifikation herzustellen? Oder wird der Begriff in den Quellen in synonymer Bedeutung von Beruf bzw. Berufsgruppen genutzt, womit die Tätigkeit des Einzelnen zum Kriterium der Zugehörigkeit wird? Als viertes Begriffskonzept lege ich meiner Untersuchung noch eine Ablehnung einer sozialen Hierarchisierung zugrunde, also die Möglichkeit, dass von den Autoren eine Kritik am Ständebegriff geübt und der Grundgedanke einer (sozialen) Gleichheit aller formuliert worden ist. Des Weiteren soll im Zuge der Analyse die Frage beantwortet werden, welche Handlungsoptionen und Verantwortlichkeit dem Einzelnen hinsichtlich der sozialen Verortung zugesprochen wurden. Wird das Individuum in einer gottgegebenen Gesellschaft verortet, in welchem es qua Geburt einen festen Platz erhält? Werden ihm Möglichkeiten zur Modifikation der individuellen sozialen Lage zugestanden oder wird das Gegenteil entworfen und der einzelne Mensch als grundlegend verantwortlich für seine soziale Position gezeichnet? Im Zentrum meines Erkenntnisinteresses stehen damit die Fragen nach dem Begriffsverständnis vom Stand und der Relevanz der Kategorie in den Identitätsmodellen der Ratgeberautorinnen, nach der Organisation der sozialen Zugehörigkeit sowie nach dem Veränderungspotential, welches dem Einzelnen zugestanden wird.

zigartig, singulär erschienen wäre. Ihre Leben war determiniert von ihren Einbindungen in die ständische Gesellschaftsordnung, in der sie nur wenige, kaum widersprüchliche und genau fixierte Rollen auszufüllen hatten« (Harböck (2006). Stand, Individuum, Klasse. S. 300.). Als Ergebnis seiner Untersuchung kommt er aber für diesen Formaltypus zu dem Schluss: »In den analysierten Quellen jedenfalls fanden sich keine eindeutigen und problemlosen Belege« (Vgl. ebd. S. 301.). Warum er die Erzählung eines determinierten, vormodernen Individuums daraufhin nicht revidiert, erscheint mir jedoch verwunderlich.

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1.5.4. Staat – Nation Die Forschungsliteratur über den Begriff Staat offenbart nicht nur, dass der Terminus seit dem 15. Jahrhundert mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten verknüpft worden ist,193 sondern dass in der Forschung selbst die Meinungen und Definitionen darüber auseinandergehen, was explizit unter einem Staat verstanden werden soll. Uneinigkeit besteht zudem bei den Fragen, welche Kriterien und Merkmale erfüllt sein müssen, damit überhaupt von einem Staat die Rede sein könne und zu welchen historischen Zeiten sich diese Charakteristika in den verschiedenen Territorien Europas herausgebildet hätten.194 Richtet sich der Analyseschwerpunkt auf den deutschsprachigen Raum, wird es noch komplizierter. Denn neben einer Vielzahl von verschieden organisierten, territorial verfassten Herrschaftsgebilden sind alle den deutschsprachigen Raum umfassende Herrschaftsorganisationsformen des 18. und 19. Jahrhunderts – vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zum Rheinbund über den Deutschen Bund bis hin zum deutschen Kaiserreich – sowohl von föderalen Strukturen als auch von suprastaatlichen Herrschaftsformen gekennzeichnet.195 193 Laut Roland Asch und Jörg Leonard geht der Ausdruck auf das Wort stat bzw. auf das italienische stato zurück, der um 1500 im Italienischen sowie anderen romanischen Sprachen erstmalige Verwendung fand, jedoch erst im späteren Verlauf in der Bedeutung einer institutionalisierten Ordnung fungierte. Der lat. Terminus status konnte aber von den historischen Zeitgenossen auch als Verfassungsordnung oder im Sinne einer politischen Ordnung eines Gemeinwesens verstanden werden. (Vgl. Asch, Roland/ Leonard, Jörg. Staat. Europa. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 12. Stuttgart/ Weimar 2010. Sp. 494–518. Hier: Sp. 496f.) Auch Joachim Bahlcke merkt die vielfältigen Begriffsbedeutungen des Staatsterminus an. (Vgl. Bahlcke, Joachim. Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit. Enzyklopädie deutscher Geschichte. Band 91. München 2012. S. 61.) 194 So urteilen Asch und Leonard: »Keine Einigkeit besteht allerdings über die Definition dessen, was man überhaupt mit S. meint. Während einige Historiker auch relativ stark dezentralisierte Herrschaftsgebilde wie das Alte Reich als S. bezeichnen wollen, orientieren sich andere stärker am S.-Begriff des 19. und frühen 20. Jh.s« (Asch/ Leonard (2010). Staat. Sp. 494.). Neben diesen beiden Definitionsweisen führen sie zudem noch Webers Staatsverständnis an, in dem der Staat im Kontext eines politischen Verbandes als ein politischer Anstaltsbetrieb verstanden wurde, dessen Verwaltungsstab ein legitimiertes Monopol zur Durchsetzung physischer Gewalt besaß. (Vgl. ebenda.) Rekurrierend auf Weber erheben Jones und Vernon das Gewaltmonopol zur Charakteristik ihrer Staatsdefinition, wenn es heißt: »A state is a territorially circumscribed political community that claims a monopoly of legitimate force within that territory« (Jones, Charles/ Vernon, Richard. Patriotism. Cambridge 2018. S. 37.). Bourdieus Staatsdefinition weicht davon ein wenig ab, weil er nicht nur die Zentralisation der physischen Gewalt, sondern auch der symbolischen Gewalt bei einer Machtinstititution als ein Kriterium bestimmt, die in einem untrennbarem Zusammenhang mit »der Konstruktion eines vereinheitlichten sozialen Raumes« (Bourdieu (2014). Über den Staat. S. 223.) stünde. Es sind dementsprechend eine Vielzahl an Staatsdefinitionen innerhalb der Forschung zu finden. 195 Vgl. Asch/ Leonard (2010). Staat. Sp. 495. Sowie: Bahlcke (2012). Landesherrschaft, Territorien und Staat. S. 2. Als auch: Stauber, Reinhard. Nationalstaat. In: Friedrich Jaeger

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Dementsprechend fallen die Definitionen und Bestimmungen, ab wann von einem Staat oder gar von dessen moderner Erscheinungsform ausgegangen werden könne, äußerst verschieden aus.196 Da es mir in meiner Analyse jedoch weniger um den Fragenkatalog geht, ob, ab wann und weshalb in diesem Zeitraum von Staaten gesprochen werden könnte, sondern ich herausfinden möchte, welche Begriffsverständnisse vom Staat in den Erziehungsratgebern entworfen wurden, kann ich mich diesen Forschungsdiskussionen entziehen. Als wichtig gilt es aber im Hinterkopf zu behalten, dass sowohl die Ratgeberverfasserinnen als auch deren Rezipienten sich in einer komplexen Konstellation mit verschiedenen politischen Herrschaftsdimensionen bewegten, in verschiedenen Territorien und Regionen mit unterschiedlichen Rechten, Regeln und Formen von Einschränkungen (Zensur) konfrontiert waren und daraus dementsprechend verschiedene Umgangsformen und Handhabungsweisen resultieren konnten. Unter einem Staat verstehe ich eine obrigkeitliche Instanz von Herrschaft und Macht, die in Verbindung zu einem spezifischen Territorium steht und in diesem als Organisations- und Durchsetzungsapparatur das gesellschaftliche Leben und Miteinander, deren Regeln und Gesetze bestimmt und die Legitimation besitzt, diese notfalls mit Gewalt zu versuchen zu realisieren.197 Bei den Quellenbegriffsverständnissen ist entsprechend der geschilderten Forschungslage eine plurale Bedeutungsvielfalt zu erwarten. Wird der Staat als ein obrigkeitlicher Akteur dargestellt, der in direkten Zusammenhang mit einer Herrschaftsinstanz (König, Kaiser etc.) oder deren Dynastie gesetzt wird, womit eine Personalunion zwischen Staat und König entworfen würde, oder lässt sich das davon gegenteilige Begriffsverständnis vom Staat konstruieren, wenn dieser als ein abstrakter, weil nicht personifizierter Rechtsraum, als Herrschaftsinstitution mit einem Staatsgebiet und dazugehörigen Menschen mit politischen Rechten und Pflichten konzeptioniert wird?198 Oder wird der Staat in einem allgemeinen Sinne einer (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 8. Stuttgart/ Weimar 2008. Sp. 1116–1124. Hier: Sp. 1122. 196 Während Asch und Leonard zu dem Urteil kommen, dass der Staatsbegriff für den Zeitraum der Frühen Neuzeit »per se irreführend [sei], weil er dazu verleitet, falsche Maßstäbe an die Wirksamkeit solcher Reichsverbände anzulegen« (Asch/ Leonard (2010). Staat. Sp. 495.), spricht Bahlcke anstelle dessen von einer »spezifisch deutsche[n] »Doppelstaatlichkeit«« (Vgl. Bahlcke (2012). Landesherrschaft, Territorien und Staat. S. 2.), womit er anscheinend nichts gegen eine Staatsbegriffsverwendung für die Epoche der Frühen Neuzeit einzuwenden hat. Hubert Wolf, Hans-Georg Wehling und Reinhold Weber teilen Bahlckes Einschätzung, wenn diese mit Verweis auf Johannes Burkhardt davon schreiben, dass »in Deutschland faktisch eine »doppelte Staatlichkeit«« (Wolf, Hubert/ Wehling, Hans-Georg/ Weber, Reinhold. Staat und Kirche seit der Reformation. Zur Einleitung. In: dies. (Hrsg.). Staat und Kirche seit der Reformation. Stuttgart 2017. S. 11–21. Hier: S. 14.) bestanden hätte. 197 Ich orientiere mich dabei an der Definition Pierre Bourdieus. (Siehe oben.) 198 Diese beiden Varianten stellen Asch und Leonard als wesentliche Begriffsvorstellungen vom Staat in der Frühen Neuzeit dar. (Vgl. Asch/ Leonard (2010). Staat. Sp. 497.). Ich hingegen

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Gemeinschaft, eines Kollektives oder dezidiert als öffentlicher Raum oder Gesellschaftssphäre geschildert? Nutzen die Ratgeberautoren den Staatsbegriff in einer synonymen Bedeutung zu einer anderen Kollektivkategorie wie Nation, Volk oder Vaterland oder wird der Ausdruck eventuell gar emotional aufgeladen und überhöht? Oder stellt sich dessen Gegenteil heraus, wenn der Staat in den Werken überhaupt nicht thematisiert wird und damit keine Bedeutung erfährt? Neben den Begriffskonzeptionen vom Staat möchte ich zudem herausfinden, welchen Stellenwert der Kategorie des Staates in den jeweiligen Identitätsmodellen zugeschrieben worden ist. Diese beiden Erkenntnisinteressen verfolge ich auch bei der Nationskategorie, bei der sich jedoch eine andere wissenschaftliche Ausgangslage findet. Denn für den Begriff der Nation, der auf das lateinische Wort natio in einer antiken Bedeutung von Herkunft und Geburt zurückzuführen ist,199 findet sich in Hinsicht auf dessen Definition eine ausgeprägte Einheitlichkeit innerhalb der Forschung. Denn das auf Benedict Anderson in den 1980er Jahren zurückgehende Verständnis, nach dem die Nation eine vorgestellte politische Gemeinschaft wäre, die als eine begrenzte, souveräne und natürliche Einheit, das heißt, als eine in der Natur existierende, immerwährende und zeitlose Entität, dargestellt wird,200 scheint inzwischen kanonisiert und mit seinen Grundannahmen in der Forschung akzeptiert zu sein,201 auch wenn es weitere Definitionsvarianten gibt.202

vermute, dass sich weitere Verständnisweisen vom Staat in den Ratgeberquellen zwischen 1750 bis 1900 konstruieren lassen. 199 Stauber formuliert folgende Begriffsherleitung: »Das Begriffsfeld von lat. natio (von nasci, »geboren werden«) war in der Antike im Sinn von »Herkunft« oder »Geburt« klar abgegrenzt. Im MA stand natio nicht wie lat. gens (»Volk«) für kollektive Identität, sondern ganz konkret (und regelmäßig um die Angabe der entsprechenden patria erweitert) für die Herkunft eines Individuums aus einer Region oder Zugehörigkeit zu einem Stand« (Stauber, Reinhard. Nation, Nationalismus. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 8. Stuttgart/ Weimar 2008. Sp. 1056–1082. Hier: Sp. 1057.). Borchmeyer ergänzt in seiner Begriffsgenese von Nation noch eine damit einhergehende sprachliche Dimension, denn »[d]as Wort Nation […] bezieht sich im Mittelalter auf die gemeinsame Herkunft und Sprache sowie die dadurch gebildete Gemeinschaft« (Borchmeyer, Dieter. Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. 2. Auflage. Berlin 2017. S. 38.). 200 Vgl. Anderson, Benedict. Die Erfindung der Nationen. Zur Karriere eines folgenreiches Konzepts. Mit einem Nachwort von Thomas Mergel. 2., erweiterte Auflage der Neuauflage 1996. Frankfurt/Main/ New York 1996. S. 15ff. u. 144. Auch der Tatbestand, dass mit der Nationskonstruktion eine Inszenierung von Natürlichkeit bzw. Zeitlosigkeit einhergeht, kann als anerkanntes Wissen innerhalb der Forschung bezeichnet werden. (Vgl. Waterstradt, Désirée. Nationsbildung, Macht, Elternschaft. Zum hierarchischen Zusammenhang der Entwicklungsprozesse von Nation und Elternschaft. Am Beispiel Deutschlands. In: Kerstin Jergus, Jens Oliver Krüger und Anna Roch (Hrsg.). Elternschaft zwischen Projekt und Projektion. Aktuelle Perspektiven der Elternforschung. Wiesbaden 2018. S. 31–46. Hier: S. 36.) (Sowie: Stauber (2008). Nation. Sp. 1059.) 201 Vgl. ebenda.

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Ich betrachte den Definitionsentwurf von Anderson als äußerst überzeugend, weswegen ich dessen Grundverständnis übernehme. Den Forschungsbegriff der Nation begreife ich demnach als Konzepte vorgestellter Gemeinschaften, die (potentiell) mit spezifischen Eigenschaften, Kriterien von Zugehörigkeit und Ausschluss sowie mit starken Bedeutungen und Emotionalisierungen verbunden werden können.203 Die Nation ist dementsprechend als ein historisches Produkt zu verstehen, welches von den jeweiligen Zeitgenossen mit unterschiedlichen sowie voneinander abweichenden Vorstellungen verknüpft und in verschiedenen Konzeptionsweisen definiert worden ist.204 Ist die Nationseinheit von den Ratgeberautorinnen etwa im Sinne einer offenen Gemeinschaftsform verschiedener Arten verstanden worden, zum Beispiel wenn eine religiöse Gruppe als Nation bezeichnet oder von einer Kulturnation die Rede ist,205 oder lassen sich Begriffsverständnisse ermitteln, die auf die mittelalterliche Wortbedeutung des Ausdruckes als Verweis auf die regionale Herkunft von Menschen rekurrieren? Wird der Terminus eventuell als Synonym von anderen Kollektivkategorie wie etwa Staat oder Vaterland gebraucht oder wird er in einem Verständnis eines spezifischen Volkes verwendet, wobei Aspekte wie eine einheitliche Sprache, ein bestimmtes Territorium Erwähnung finden? Ist dabei der Gedanke einer spezifischen Volksgemeinschaft festzustellen, der Eigenheitensformen oder Eigenschaften zugeschrieben werden, dann ist für mich eine weitere, von der vorherigen Form abweichende Konstruktionsweise gegeben. Erfährt die spezifische 202 Während Stauber noch zwei weitere Definitionsvarianten zu Andersons Nationskonzept ergänzt, die jedoch nicht grundsätzlich von Andersons Konzept abweichen, skizziert Eunike Piwoni einen grundlegenden Überblick über die verschiedenen Nationsverständnisse in der deutsch- und englischsprachigen Forschung der letzten Jahrzehnte. (Vgl. Piwoni, Eunike. Nationale Identität im Wandel. Deutscher Intellektuellendiskurs zwischen Tradition und Weltkultur. Wiesbaden 2012. S. 30–46.) 203 Im Fall von starken Überhöhungen wäre es dann nötig, von Nationalismus zu sprechen, den ich in Anknüpfung an Stauber und Waterstradt als eine Ideologie definiere, in der die Nation sakralisiert wird und dazu potentiell mit expliziten Abgrenzungen gegenüber Anderen, einer Benennung des Eigenen, mit biologistischen Konzepten wie einer nationalen Blutabstammung, eines Volkskörpers oder -geistes etc. sowie einer Bedrohungs- und Untergangskonstellation verbunden wird. (Vgl. Waterstradt (2018). Nationsbildung, Macht, Elternschaft. S. 35.) (Sowie: Stauber (2008). Nation. Sp. 1058.) 204 Eine ausführliche Darlegung der verschiedenen Nationsbildungsprozesse in der europäischen Geschichte vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert liefert Gerhard Göhler. (Vgl. Göhler, Gerhard. Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutschland. Ein Überblick. In: Bernd Heidenreich und ders. (Hrsg.). Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland. Darmstadt/ Mainz 2011. S. 10–36.) Welche Bedeutungen und Funktionen der Sprache im Zuge der Konstruktionen von Nationen zugesprochen worden sind, veranschaulicht Harald Haarmann. (Vgl. Haarmann, Harald. Nationalsprachen. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 8. Stuttgart/ Weimar 2008. Sp. 1112–1116.) 205 Vgl. Weichlein, Siegfried. Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa. 2. Auflage. Darmstadt 2012. S. 17–21.

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Volksgemeinschaft dazu einen starke Bedeutsamkeitszuschreibung, etwa in Form von Überhöhungen des Eigenen, expliziten Abgrenzungen gegenüber Anderen oder bei Gedanken von biologischer Reinheit, liegt eine weitere, nationalistische Konzeptionsweise vor. Ferner besteht die Möglichkeit, dass der Nationsausdruck nicht in den Quellen vorkommt. Anhand dieser Vielzahl an meiner Analyse zugrunde gelegten Verständnisweisen verdeutlicht sich, dass ich die von Stauber dargelegten Annahmen von einer einheitlichen Konzeptionsweise vor und nach 1800 sowie von einem damit einhergehenden linearen Begriffswandel des Nationsterminus, welcher sich von einem von Staatlichkeit und Territorialität entkoppelten Ausdruck hin zu einem »zunehmend dynamischen, kulturell (v. a. sprachlich) determinierten Bewegungsbegriff«206 entwickelt hätte, skeptisch bewerte. Im Gegenteil gehe ich davon aus, dass während meines kompletten Untersuchungszeitraumes unterschiedliche Begriffsverständnisse von Nation konstruierbar sein werden. Anstelle einer Einheitlichkeit und einer linearen Begriffsentwicklung nehme ich dementsprechend plurale Begriffskonzeptionen an. Hinsichtlich der Bewertungen der Nationskategorie unter den historischen Zeitgenossen gilt es insbesondere herauszufinden, ob die Nation im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur bedeutsamsten und dominierenden Identitätskategorie wird, welche die anderen Kollektiveinheiten verdrängt hätte, wie es Michel Dormal behauptet.207 Oder bestätigt sich im Gegensatz dazu meine These, 206 Ausführlich heißt es bei Stauber: »In der »Sattelzeit« um 1800 erfolgte ein struktureller Begriffswandel, verursacht durch die Auflösung aller gruppen- und schichtspezifischen Beschränkungen auf dem Weg zur Demokratisierung, Politisierung und Ideologisierung; eine breitere soziale Basis gewann dieses Modell ab etwa 1830/40. Im dt. Sprachraum wurde das Sprechen von der so entstandenen »modernen N.« (mit einem Angebot an politischer Partizipation und Repräsentation sowie einer immer breiter werdenden Massen-Basis) freilich von einer explizit politischen Verwendung des Begriffs »Volk« konterkariert. Lexikalische Befunde ergeben, dass im 18. Jh. »Volk« der politischen Grundbegriff war, während »N.« von Bezügen auf konkrete Staatlichkeit und Territorialität entkoppelt wurde – ganz im Sinne der Wortwurzel, die auf Herkunft bzw. Geburt verweist. Nach 1800 wandelte sich N. zu einem zunehmend dynamischen, kulturell (v. a. sprachlich) determinierten Bewegungsbegriff und geriet dadurch in ein Spannungsfeld mit den im dt. Sprachraum bis dato vorherrschenden Leitkonzepten »Staat« und »Volk«« (Stauber (2008). Nation. Sp. 1057. Hervorhebungen von S.N.). Hierin zeigt sich erneut, wie stark auch der Nationsbegriff in der Forschung mit der Moderne-Erzählung verknüpft wird. 207 Denn so schreibt er: »Die Zugehörigkeit zur Nation ist, zumindest ihrem Begriff nach, nicht von anderen Mitgliedschaften abgeleitet oder bedingt. In der Nation wird Zugehörigkeit nicht mehr über Familie, Beruf, Kirche oder lokale Netzwerke vermittelt. Stattdessen bezieht die Nation ihrem eigenen Anspruch nach alle Mitglieder in gleicher und direkter Weise auf das Ganze, das durch eine für alle identische Grenze zwischen innen und außen markiert ist. […] Das bedeutet nicht, dass andere Mitgliedschaften unwirksam würden. Doch sie verlieren ihren unmittelbar strukturierenden Charakter. Im gleichen Zuge verlieren lokale oder regionale Traditionen und Rituale, die zuvor den Einzelnen an eine partikulare Interaktionsgemeinschaft oder Lebensform banden, an öffentlicher Bedeutung« (Dormal (2017). Nation und Repräsentation. S. 50.). Dormal behauptet also, dass die Nationskategorie zur

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dass im 18. und 19. Jahrhundert die kollektive Verortung der Individuen in (verschiedenen) Gemeinschaften das zentrale, weil mehrheitlich entworfene Charakteristikum in den historischen Identitätsmodellen darstellt, bei der die Nationsformation nur eine von mehreren vermittelten Kollektiveinheiten bildet? Die Untersuchung der Erziehungsratgeber wird Antworten und Belege zu dieser Diskussion liefern. 1.5.5. deutsch – Volk – Vaterland – Patriotismus Die Begriffsbestimmung und Einbettung in die gegenwärtigen Forschungskontexte erfolgt bei den vier Ausdrücken deutsch, Volk, Vaterland und Patriotismus zusammengenommen,208 weil sie sich teilweise aufeinander beziehen bzw. starke inhaltliche Überschneidungen bestehen und weil ich die Termini in einer ähnlichen Grunddefinition denke. Denn sowohl deutsch, Volk als auch Vaterland verstehe ich in Anlehnung an meine Nationsdefinition als Konzepte vorgestellter Gemeinschaften, die in verschiedenen Denkweisen und mit variierenden Charakteristika konzipiert werden können. Zusätzlich zu dieser Grunddefinition nehme ich jeweils noch weiterführende Spezifikationen an. Das Volk verstehe ich in diesem Zuge als Kollektivkategorie einer vorgestellten Gemeinschaft, mit der entweder eine genealogische, auf Abstammung rekurrierende oder eine soziale Zugehörigkeit verbunden wird. Im Kontext der Genese des Volksbegriffes, welcher in seinem Ursprung auf die alt- und mittelhochdeutschen Wörter folc und strukturierenden Einheit und damit zur dominierenden Bezugsgröße in den Selbstbildern der historischen Zeitgenossen geworden wäre; als zeitlichen Rahmen, der in diesem Zitat nicht ersichtlich wird, skizziert er für diese Entwicklung das 19. Jahrhundert. Ich widerspreche dieser These grundlegend und halte diese Vereinheitlichung, diese kolportierte Zentralität der Nationskategorie in den zeitgenössischen Identitätsmodellen, mit der gleichzeitig ein Bedeutsamkeitsverlust der anderen kollektiven Bezugseinheiten einherginge, als nicht plausibel! Denn es lässt sich nicht nur eine ausgeprägte Unterschiedlichkeit in den individuellen Verortungen als wahrscheinlich annehmen, bei der es sicherlich auch zu Identifikationen mit der Nation gekommen ist. Ein Aufgehen aller in der Nationsidee erscheint mir aber selbst nach der Gründung des deutschen Kaiserreiches im Jahr 1871 unrealistisch zu sein, weil es die historischen Zeitgenossen extrem stark homogenisiert und in keinem Aspekt die heterogenen Konstellationen der Einzelnen, die verschiedenen soziokulturellen Kontexte sowie die in Deutschland stark verankerten föderalen Machtstrukturen, die regionalen Bezüge sowie territorialen Traditionen berücksichtigt, die auch nach der Gründung des Kaiserreiches fortbestanden. (Vgl. Wolf/ Wehling/ Weber (2017). Staat und Kirche seit der Reformation. S. 14.) (Sowie: Vgl. Asch/ Leonard (2010). Staat. Sp. 495.) (Als auch: Bahlcke (2012). Landesherrschaft, Territorien und Staat. S. 2.) 208 Während ich in der folgenden Kontextualisierung alle vier Termini zusammen in den Forschungsdiskurs einbette, werde ich in der Quellenanalyse die Einheiten deutsch und Volk sowie Vaterland und Patriotismus jeweils zusammen in einem Kapitel analysieren. Die gemeinsame Untersuchung aller vier Begriffe in einem Kapitel erschien mir wegen der hohen Anzahl an Quellen nachteilig zu sein, weil daraus eine Unübersichtlichkeit entstehen könnte.

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volc zurückzuführen ist, die im Sinne von Vielzahl verstanden, dabei nicht vom lat. populus hergeleitet sowie nicht in der Bedeutung eines ganzen Volkskollektives gedacht worden sind,209 fokussiert sich meine Definition also auf zwei Aspekte: auf die Begriffsebene von sozialen Gruppen bzw. im Sinne einer einfachen Bevölkerung, womit nur eine Teilgruppe gemeint ist, sowie auf die Wortbedeutung eines ganzen Volkskollektivs. Die Konzentration auf diese beiden Begriffsverständnisse begründet sich in der Forschung. Laut dieser wurde der Volksausdruck zum einen im 18. Jahrhundert und zuvor primär als Zuschreibung für einzelne soziale Gruppen bzw. im Sinne von einem niederen, einfachen Volk genutzt.210 Zum anderen wird in der Forschung davon ausgegangen, dass sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Begriffswandel vollzogen hätte, in dessen Folge der Begriff vermehrt im Sinne ganzer Völker gebraucht sowie ab dem 19. Jahrhundert in personifizierten und biologisierenden Verständnisweisen konzipiert worden wäre, indem der Kollektiveinheit einheitliche Eigenheitsformen und Charakteristika sowie individuelle Handlungsweisen zugeschrieben wurden.211 Während dies von einigen Wissenschaftlerinnen als eine neue, sich am Ende des 18. Jahrhunderts vollziehenden Entwicklung betrachtet wird,212 weisen andere darauf hin, dass Volkskollektiven bereits seit der Antike Eigenarten übertragen wurden.213 Anhand des von mir gewählten Untersu209 Vgl. Stauber, Reinhard/ Kerschbaumer, Florian. Volk. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14. Stuttgart/ Weimar 2011. Sp. 376–384. Hier: Sp. 376. 210 Dabei konnte der Begriff in mannigfaltigen Kontexten sowie in verschiedensten Kompositaformen genutzt werden, das Kernelement an Bedeutung bildete laut Stauber und Kerschbaumer trotz dessen immer der Gedanke einer Vielzahl, einer Menge von Menschen sowie eine »herabsetzende[] Einschätzung im Sinne von einfachem, geringem V[olk]« (Ebenda.). Diese negative Konnotation erhielte sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. (Vgl. ebd. Sp. 380.) 211 Für diesen kolportierten Begriffswandel wird vor allem Johann Gottfried Herder verantwortlich gemacht. (Vgl. Stauber/ Kerschbaumer (2011). Volk. Sp. 377.) (Sowie: Bremer, Thomas/ Fink, Wolfgang/ Nicklas, Thomas. Einleitung. In: dies. (Hrsg.). Patriotismus – Kosmopolitismus – Nationalismus. Entstehung und Entwicklung einer deutschen Gemengenlage 1756–1815. Vierzehn Studien zu Ehren Francoise Knopper. Halle an der Saale 2013. S. 9–29. Hier: S. 17.) Die ursprüngliche Quelle dieser Forschungsannahme ist Reinhart Kosellecks und weiterer Beitrag Volk, Nation, Nationalismus, Masse in den Geschichtlichen Grundbegriffen. (Vgl. Koselleck, Reinhart und weitere. Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner, Werner Conze und ders. (Hrsg.). Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 7. Stuttgart 1992. S. 141–432.) In diesem findet sich auch die auf K. F. Werner zurückgehende Angabe, dass die Volkskonzepte im 19. Jahrhundert um eine kulturelle und biologische Dimension erweitert worden wären. (Vgl. Stauber/ Kerschbaumer (2011). Volk. Sp. 378.) 212 Siehe die vorherige Fußnote. Sowie: Spitta, Julia. Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee. Bielefeld 2013. S. 130f. 213 Sowohl Borchmeyer als auch Himmelreich teilen die Ansicht, dass mit der Entdeckung von Tacitus Germania im 15. Jahrhundert der Gedanke von germanischen Eigenarten in die Gelehrtenwelt eingezogen ist und Verbreitung gefunden hat. (Vgl. Borchmeyer (2017). Was ist deutsch? S. 143) (Sowie: Himmelreich, Jörg. Nation. Eine Begriffsbestimmung aus ak-

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chungszeitraumes kann ich zwar die zweitgenannte Argumentation nicht verifizieren. Es lässt sich jedoch mithilfe der Analyse der im Ratgeberdiskurs zwischen 1750 bis 1900 zirkulierenden Volksbegriffverständnisse die Begriffswandelthese sowie die damit einhergehenden Grundannahmen überprüfen. Zudem gilt es, die Bewertungen der Kollektivkategorie in den Ratgeberquellen herauszufinden. Der Begriff deutsch wird als ein Konzept vorgestellter Gemeinschaft verstanden, weil mit diesem eine Vielzahl an unterschiedlichen Bestimmungsweisen verbunden sind, was sich bereits im Wortursprung des Ausdruckes andeutet. Entgegen der Mehrzahl anderer Sprachadjektive von Volkskollektiven leitet sich der Ausdruck nicht von einem Stamm oder Volk her,214 sondern fungierte als ein Sprachbegriff, der vom germanischen Wort thioda abgeleitet als »Bezeichnung für die Sprache der germanischen Stämme Mitteleuropas [und] im Gegensatz zu derjenigen der angrenzenden romanischen Bevölkerung und zumal zum Latein«215 genutzt wurde. Eine Vielzahl von germanischen Stämmen sind dementsprechend zu einer gemeinsamen Sprachgemeinschaft, den Deutschen, subsumiert worden, die dabei aber nicht als ein ethnisches Kollektiv verstanden wurden. Ein solche Konzeptionsweise der Deutschen findet sich jedoch auch. Deren Vereinheitlichung inklusive der Übertragung von Eigenheitsformen und Charakteristika wäre laut Borchmeyer in der Neuzeit seit der Wiederentdeckung von Tacitus Werk Germania im 15. Jahrhundert erfolgt216 und hätte sich spätestens im 19. Jahrhundert zu biologisierenden Reinheitskonzepten und Rassentheorien mit Kulmination während der nationalsozialistischen Herrschaftszeit gesteigert. Jegliche Homogenisierungsversuche des Deutschen waren dabei jedoch immer mit der Schwierigkeit der politischen Konstellation sowohl des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen als auch der darauf folgenden deutschen Herrschaftsverhältnisse konfrontiert. Denn in dessen politischen Verband existierten eine Vielzahl an Territorien mit verschiedenen Herrschaftsdynastien, eigenen historischen Legitimationserzählungen und Herrschaftsansprüchen. Dazu bestanden ausgeprägte Sprach- und (ethnische) Stammvariationen tuellem Anlass. Auf: Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier Rechtspopulismus. 26. 04. 2017. (13. 12. 2019, 15 Uhr).) Dazu hebt Borchmeyer hervor, dass der Gedanke eines biologischen Kollektives und dessen ethnischen Reinheit bereits von Tacitus dargelegt worden ist und somit keine genuine bzw. neue Idee im 18. bzw. 19. Jahrhundert wäre. (Vgl. ebd. S. 144.). Haarmann weist zudem darauf hin, dass die Bewertung und Hervorhebung von Sprache als Charakteristika eines Volkes nicht erst im 18. Jahrhundert einsetzte, sondern einen viel umfassenderen und langwierigeren Zeitraum und Entwicklungsprozess umfasst hätte. (Vgl. Haarmann (2008). Nationalsprachen. Sp. 1112.). 214 Vgl. Borchmeyer (2017). Was ist deutsch? S. 18. 215 Ebd. S. 37f. 216 Siehe oben.

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sowohl in den einzelnen Territorien als auch aufgrund von Personalunionen eines Herrschers mit anderen, nicht zum Reichsverband zugehörigen Territorien über deren Grenzen hinausgehend.217 Bei der Konstruktion des Deutschen konnte auf ein einheitliches Herrschaftsgebiet demgemäß genauso wenig zurückgegriffen werden wie auf einen einheitlichen Sprachraum. Diese politische Konstellation trug sicherlich dazu bei, dass sich im 18. Jahrhundert die Idee einer Einheit der Deutschen herausbildete, die auf einer kolportierten gemeinsamen Kultur basiere, was wiederum in zwei verschiedene Konzeptionsweisen weitergedacht werden konnte: einerseits als Vorstellung einer einheitlichen deutschen Kulturnation218 oder andererseits als »Idee des Deutschen[,] nicht im Sinne einer klar abgegrenzten Nationalität, sondern [im Verständnis] einer metanationalen, kosmopolitischen, rein menschlichen Substanz«219. Die Mannigfaltigkeit in den historischen Verständnisweisen von deutsch wird damit offensichtlich. In meiner Quellenanalyse der Erziehungsratgeber soll herausgefunden werden, ob der Begriff als Sprache, im Sinne eines geographischen Raumes bzw. Territoriums, als ein Volksstamm bzw. -kollektiv, als eine Nation oder in einer kosmopolitischen, supranationalen Weise verstanden worden ist und ob der Einheit gegebenenfalls Eigenheitsformen zugeschrieben wurden. Des Weiteren werde ich das quantitative Vorkommen des Begriffes sowie dessen Bedeutung als Identitätskategorie ermitteln. Der Vaterlandsterminus lässt entgegen der beiden vorherigen Kategorien eine inhaltliche Einheitlichkeit vermuten, erscheint dessen Bedeutung im Verständnis eines Geburtslandes doch klar zu sein, da sich der Ausdruck vom lat. patria herleitet.220 Der weiterführende Blick in die Forschungsliteratur korrigiert diese Annahme jedoch. Auch wenn die skizzierte Begriffsdefinition von Vaterland als charakteristisch bezeichnet werden kann, resultiert daraus besonders für den deutschsprachigen Raum221 keine Singularität, weil die Bezugsrahmen eines 217 Vgl. Brauneder, Wilhelm. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 7. Stuttgart/ Weimar 2007. Sp. 317–322. Hier: Sp. 317– 320. 218 Als Urheber einer solchen Nationskonzeption wird Herder angeführt. (Vgl. Himmelreich (2017). Nation. .) (Sowie: Stauber/ Kerschbaumer (2011). Volk. Sp. 377.) Borchmeyer verweist indessen darauf, dass eine solche Konzeptionsweise auch bei Schiller, Fichte und Richard Wagner zu finden ist (Vgl. Borchmeyer (2017). Was ist deutsch? S. 21 u. 44.) und die wissenschaftliche Unterscheidung zwischen Staats- und Kulturnation auf Friedrich Meinecke und dessen Werk Weltbürgertum und Nationalstaat zurückgehe. (Vgl. ebd. S. 18 u. 45.) 219 Ebd. S. 45. 220 Vgl. Clemens, Gabriele. Vaterland. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14. Stuttgart/ Weimar 2011. Sp. 8–10. Hier: Sp. 8. 221 Erinnert sei an die zuvor aufgezeigte territoriale und machtpolitische Konstellation im deutschsprachigen Raum.

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Vaterlandes variieren können. Während meines Untersuchungszeitraumes als auch davor ist das Vaterland in historischen Quellen auf Städte, auf einen Landesfürsten oder eine Dynastie, auf ein spezifisches Territorium und dessen Staatswesen, auf den kompletten Reichsverband des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen oder auf ein Nationskonzept bzw. einen Nationalstaat bezogen worden.222 Hinsichtlich der historischen Denkweisen fällt der Vaterlandsbegriff dementsprechend ausgesprochen vielfältig aus, weshalb dessen Forschungsdefinition als eine vorgestellte Gemeinschaft, die sich zwar auf einen Geburtsort oder -land von Menschen bezieht, darüber hinaus jedoch mit weiteren Bezugsrahmen ausgestattet werden kann, sinnvoll erscheint. Ich definiere den Ausdruck dementsprechend als eine offene Kollektivkategorie von Identität, dessen konkrete Verständnisweisen von den Ratgeberautoren erst konstruiert werden müssen. Die inhaltliche Bandbreite meiner Analyse impliziert neben den bereits genannten Begriffsbedeutungen von Vaterland noch dessen Darstellung als eine Tugend, der Vaterlandsliebe, sowie eine essentialisierte Verständnisweise inklusive der Zuschreibungen von Eigenheitsformen. Das numerische Begriffsvorkommen sowie die Wertzuschreibungen gegenüber der Einheit in den jeweiligen Identitätsmodellen werden mit untersucht. In enger inhaltlicher Überschneidung zum Vaterlandsausdruck wird der Patriotismusbegriff in der gegenwärtigen Forschung konzipiert. Hermann etwa definiert den Begriff als »eine Rede oder Weltanschauung, die die Sorge für das Wohl des Vaterlandes zur vordringlichen Aufgabe jedes Bürgers erklärt«223. Ich schließe mich dieser Konzeptionsweise an, subtrahiere aber die kollektive Bezugskategorie, da es sich in den Verständnisweisen von Patriotismus nicht per se um das Vaterland handeln muss, sondern auch andere Bezugsrahmen denkbar sind, wie es etwa das Konzept des Verfassungspatriotismus exemplifiziert.224 222 Vgl. Clemens (2011). Vaterland Sp. 8–10. Sowie: Schmidt, Alexander. Ein Vaterland ohne Patrioten? Die Krise des Reichspatriotismus im 18. Jahrhundert. In: Georg Schmidt und Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.). Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? München 2010. S. 35–63. Hier: S. 37. Als auch: Wagner, Enrico. Die Nationaltrachtdebatte im 18. und 19. Jahrhundert. Motivation und Durchsetzung einer nationalen Kleidertracht in Schweden, Deutschland und Dänemark. Berlin 2018. S. 166. 223 Hermann, Hans Peter. Patriotismus. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14. Stuttgart/ Weimar 2009. Sp. 931–937. Hier: Sp. 931. 224 Eine ausführlichere Herleitung dieses auf Dolf Sternberger zurückgehenden Begriffskonzeptes im 20. Jahrhundert findet sich bei Jörg Himmelreich. (Vgl. Himmelreich (2017). Nation. .) Pauline Kleingeld stellt derweil mit guten Argumenten versehend die Behauptung auf, dass die Konzeptionsweise eines Verfassungspatriotismus bereits im 18. Jahrhundert von Wieland entwickelt worden wäre. (Vgl. Kleingeld, Pauline. Weltbürger im eigenen Land. Über Patriotismus und Kosmopolitismus. In: Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Niederberger und Philipp Schink (Hrsg.). Kosmopoli-

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Deswegen verstehe ich Patriotismus als Konzept einer gesteigerten Wertzuschreibung gegenüber Kollektiveinheiten wie Vaterland, Staat oder Nation, in welchem vom Individuum eine erhöhte Wertschätzung sowie ein besonderer Einsatz für das Kollektiv gefordert wird. Diese Offenheit und Variabilität der Bezugsgröße in meiner Patriotismusdefinition bildet einerseits ein Charakteristikum, welches (in der Theorie) eine Abgrenzung vom Konzept des Nationalismus ermöglicht. Denn beide Begriffe sind inhaltlich eng miteinander verzahnt.225 Andererseits entspricht diese Konzeptionsweise der Genese des Ausdruckes, lassen sich in dessen historischen Denkweisen doch schon inhaltliche Verschiedenheiten feststellen. Denn der Terminus Patriotismus war laut Hermann eine Neuschöpfung des 18. Jahrhunderts, dessen Begriffsbedeutung sich von den älteren, (auch antiken) Vorstellungen der Vaterlandsliebe unterscheidet. Dazu lässt sich die Verwendung des Ausdruckes Patriot in einem Verständnis von Wohl für das Vaterland bis in die Anfangszeit des 17. Jahrhunderts nachweisen,226 woraus in der Begriffsbestimmung ein Bedeutungsunterschied zwischen Patriot und Patriotismus resultiere.227 In diesem Zuge liegt der inhaltliche Schwerpunkt meiner Begriffsanalyse von Patriotismus darauf herauszufinden, ab wann und in welcher Quantität der Begriff in den Ratgeberquellen verwendet und auf welche kollektiven Bezugseinheiten er bezogen worden ist. In Betracht kommen dafür nach Sichtung der Forschung das alte Reich, einzelne Territorien oder eine (kolportierte) Nationseinheit.228 Dazu kann Patriotismus in einer offenen, weltbürgerlichen229 Weise konzipiert oder im Sinne der Tugend der Va-

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tanismus. Zur Geschichte und Zukunft eines umstrittenen Ideals. Weilerswist 2010. S. 224– 241. Hier: S. 232f.) Vgl. Bremer/ Fink/ Nicklas (2013). Einleitung. S. 13. Ausführlich heißt es bei Hermann: »Das Wort P. war eine Neuschöpfung des 18. Jh.s; seit 1716 ist es für England nachgewiesen, seit 1751 für Frankreich, seit 1758 für Deutschland. Es ist ein Begriff der Nz. und auf ältere Vorstellungen von »Vaterlandsliebe« nur bedingt anzuwenden. Das zugrundeliegende griech. patrio´¯ te¯s bedeutete »Landsmann« (d. h. einer, der nicht Mitbürger derselben Polis war; vgl. spätlat. patriota). »Patriot« als Bezeichnung für einen Menschen, der sich um das Wohl des Vaterlandes kümmerte, findet sich seit dem frühen 17. Jh.« (Hermann (2009). Patriotismus. Sp. 932f.). Neben Hermann deuten dies Bremer, Fink und Nicklas an, wenn sie den sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Kontext des so genannten Siebenjährigen Krieges herausbildenden, als Propaganda fungierenden Patriotismus von älteren (Vor-)Formen abgrenzen. (Vgl. Bremer/ Fink/ Nicklas (2013). Einleitung. S. 13.). Neben einer auf den ganzen Reichsverband bezogenen Form, dem so genannten Reichspatriotismus, sprechen etwa Bremer, Fink und Nicklas noch von einem auf einzelne Territorien wie Preußen oder Österreich sowie auf eine nationale Identität bezugnehmende Patriotismusvariation. (Vgl. ebd. S. 15.) Vgl. Hermann (2009). Patriotismus. Sp. 932. Kleingeld spricht von einem kosmopolitischen Patriotismus oder einem patriotischem Kosmopolitismus, der bereits im 18. Jahrhundert in verschiedenen Denkweisen (u. a. von Wieland und Kant) entwickelt worden wäre. Sie zeigt dabei plausibel auf, dass beide Be-

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terlandsliebe verstanden worden sein.230 Weil Patriotismus innerhalb meines Identitätskonzeptes nicht als eine eigenständige Kategorie, sondern entsprechend meiner Definition als eine gesteigerte Wertzuschreibung einer Kollektivkategorie fungiert, fällt die Ermittlung der Autorenbewertungen weg. Ich konzentriere mich demgemäß auf die Konstruktion der historischen Begriffskonzepte von Patriotismus, welche es mir ermöglichen, die Forschungsannahme zu verifizieren, ob »sich seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges (republikanischer) Kosmopolitismus, (reichischer oder territorialer) Patriotismus und Ansätze zu ontologisch-biologischem Nationalismus in einer Gemengelage gegenüber«231 gestanden hätten. Anhand meiner Untersuchung lässt sich plausibilisieren, ab wann diese bestimmten Begriffskonzeptionen von den Ratgeberautorinnen und somit von einer anderen Akteursgruppe als die oftmals untersuchten, sogenannten Gelehrten genutzt worden sind. 1.5.6. Weltbürgertum – Kosmopolitismus Ein über einzelne Regionen, Territorien, Staaten und Nationen hinausgehendes Kollektiv wird in den Begriffen des Weltbürgertums und Kosmopolitismus entworfen,232 deren Grundannahme eine Zusammengehörigkeit aller Menschen

grifflichkeiten trotz ihrer gegensätzlichen, ursprünglichen Verständnisweisen konzeptionell miteinander verknüpft werden können und auch wurden. (Vgl. Kleingeld (2010). Weltbürger im eigenen Land. S. 231–239.) 230 So weist Ralf Pröve am Beispiel von Thomas Abbt nach, wie dieser historische Akteur im Zeitkontext des sogenannten Siebenjährigen Krieges Patriotismus im Sinne einer Ehre und Pflichtgefühls und als eine politischen Tugend versteht. (Vgl. Pröve, Ralf. Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Enzyklopädie deutscher Geschichte. Band 77. München 2006. S. 6.) 231 Bremer/ Fink/ Nicklas (2013). Einleitung. S. 18. Diese Unterscheidung des Patriotismus nimmt auch Kleingeld vor, die konkret besagt, dass im 18. Jahrhundert bereits Formen eines nationalistischen Patriotismus, eines militanten Republikanismus, den sie auch als sogenannten römischen Patriotismus bezeichnet, sowie eines Verfassungspatriotismus verbreitet waren. (Vgl. Kleingeld (2010). Weltbürger im eigenen Land. S. 233.) Weil der Verfassungspatriotismus dabei laut Kleingeld auf eine Staatsordnung bezogen worden ist, (Vgl. ebenda.) bin ich der Meinung, dass er mit der von Bremer, Fink und Nicklas skizzierten Variante des reichischen bzw. territorialen Patriotismus gleichgesetzt werden kann, womit in beiden Werken davon ausgegangen wird, dass im 18. Jahrhundert mindestens drei verschiedene Denkweisen von Patriotismus zirkulierten. 232 Die beiden Ausdrücke Weltbürger(tum) und Kosmopolitismus verstehe ich in synonymer Bedeutung und als eine Identitätseinheit. Ein solche Verständnisweise scheint nicht nur innerhalb der gegenwärtigen Forschung verbreitet, (Vgl. Kleingeld (2010). Weltbürger im eigenen Land. S. 225.) sondern schon unter den historischen Zeitgenossen im 18. und 19. Jahrhundert üblich gewesen zu sein, wie es etwa von Kleingeld am Beispiel Wielands oder von Stråth bei Kant und Fichte veranschaulicht wird. (Vgl. ebd. S. 227.) (Sowie: Stråth, Bo. World history and cosmopolitanism. In: Gerard Delanty (Hrsg.). Routledge Handbook of

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aufgrund ihres Menschseins impliziert.233 Trotz dessen, dass ein solches Konzept auch im Patriotismusbegriff verankert worden sein konnte, gilt es diese Bezugseinheit gesondert als eigenständige Identitätskategorie zu untersuchen. Denn das Konzept des Weltbürgertums, das sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen lässt und etymologisch auf die griechischen Ausdrücke cosmo und polis zurückzuführen ist,234 erfuhr laut Forschung im 18. Jahrhundert besonders unter der Akteursgruppe der sogenannten Gelehrten einen Anstieg an Bedeutsamkeit und Verbreitung. Grundsätzlich verstanden als Weltoffenheit235 hätte sich der Kosmopolitismus zu einem Ideal für die damaligen Philosophen entwickelt, das mit ein Fortschrittsversprechen verbunden wurde und der eigenen Profilierung gedient hätte.236 Den Kulminationspunkt für diese Entwicklung stelle laut Forschung Kant dar,237 wobei im 18. Jahrhundert noch weitere Kon-

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Cosmopolitanism Studies. Second Edition. London/ New York 2019. S. 56–68. Hier: S. 56 u. 64.) In diesem Sinne definieren etwa Jones und Vernon den Begriff: »Cosmopolitanism is the idea that each person is a citizen of the world« (Jones, Charles/ Vernon, Richard. Patriotism. Cambridge 2018. S. 45.). Vgl. Inglis, David. Alt-histories of cosmopolitanism. Rewriting the past in the service of the future. In: Gerard Delanty (Hrsg.). Routledge Handbook of Cosmopolitanism Studies. Second Edition. London/ New York 2019. S. 42–55. Hier: S. 42f. Sowie: Stråth (2019). World history and cosmopolitanism. S. 56. Vgl. Kleingeld (2010). Weltbürger im eigenen Land. S. 225. Ausführlich heißt es bei Eckert: »Auch dank der Normenbildung des Naturrechts wurde das W[eltbürger]tum im 18. Jh. zur wirkungsmächtigen zivilisatorischen Verheißung, deren universales Fortschrittsversprechen im 19. Jh. gleichwohl die europ. Nationalstaaten für sich zu reklamieren verstanden. […] Durch schriftlichen und persönlichen Austausch gefördert, entstand gleichsam ein W[eltbürger]tum als gelehrtes Ideal der tätigen Muße. Ein solcher Appell an ein großes Publikum diente gleichzeitig dem sozialen Zweck, sich durch eigene Leistung statt durch Herkunft auszeichnen zu können« (Eckert, Georg. Weltbürger. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14. Stuttgart/ Weimar 2011. Sp. 829– 833. Hier: Sp. 829ff.) Inglis fasst die übliche Forschungserzählung der Genese des Kosmopolitismus folgendermaßen zusammen: »The standard narration that has startet to become an orthodox one identifies the beginnings of cosmopolitanism in Greek Cynicism and Stoicism; examines the Roman adaptation of these ideas; jumps to the eighteenth century, where the name of Kant is above all invoked as the greatest of all Enlightment philosophers of cosmopolitanism; identifies a decline in the nineteenth century of cosmopolitical concerns, as European thought succumbs to the siren songs of nationalism; sees a rejuvenation of cosmopolitical concerns after World War II, as political theorists and others identify post-war, putatively global institutions like the United Nations as embodiments of Kantian concerns; with the story ending with the remarkable flourishing and diversification of the cosmopolitan intellectual field in recent times« (Inglis (2019). Alt-histories of cosmopolitanism. S. 42.). Seine Kritik an dieser, seiner Meinung nach zu vereinfachten Darstellung tritt schon in der zitierten Textstelle deutlich hervor und wird zudem an anderen Textstellen noch eindeutiger formuliert. (Vgl. ebd. S. 44ff.)

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zeptionsweisen vom Weltbürgertum entworfen wurden.238 Gleichzeitig ist bereits von damaligen Zeitgenossen wie etwa Jean-Jacques Rousseau oder Johann Georg Schlosser Kritik an kosmopolitischen Konzepten geübt worden,239 so dass grundsätzlich nicht angenommen werde sollte, dass es sich um ein allgemein akzeptiertes Menschenbild bzw. politisches Gesellschaftsmodell gehandelt hätte, welches von allen bzw. der Mehrheit der Gelehrten verfochten worden wäre. Als allgemein anerkannt gilt es innerhalb der Forschung, dass weltbürgerliche Konzepte im 19. Jahrhundert in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen an Bedeutung verloren hätten,240 auch wenn sich weiterhin kosmopolitische Ideen in zeitgenössischen politischen Entwürfen konstruieren lassen.241 Weil sich die aktuellen Forschungsanalysen primär auf die Akteursgruppe der Gelehrten konzentrieren, wird es äußerst interessant werden herauszufinden, welche Vorstellungen vom Weltbürgertum skizziert und wie das Konzept von den Ratgeberautoren bewertet wurde. Weltbürgertum und Kosmopolitismus verstehe ich dabei als ein Konzept von einer vorgestellten Gemeinschaft, bei der alle Menschen mit einbezogen und eine Verbundenheit qua Menschsein postuliert wird. Für die historischen Konzeptionsweisen sind derweil verschiedene Arten denkbar. Diese kann als eine Bezugseinheit aller Menschen und als deren Ideal einer Zusammengehörigkeit der menschlichen Spezies konzipiert, in einer spirituell-religiösen Dimension gedacht oder explizit mit politischen Vorstellungen wie etwa Forderungen nach zu realisierenden Grundrechten oder dem Postulat der Gleichheit aller Menschen verbunden werden. Findet sich eine politische Denkweise vom Weltbürgertum, gilt es wenn möglich, die konkreten Forderungen zu erfassen. Des Weiteren wird es spannend sein, zu ermitteln, ob die Einheit als ein ultimatives Ziel bewertet wurde, mit dem etwa die Überwindung der anderen Kollektivkategorien intendiert wird, oder ob sie als eine Ergänzung zu den anderen Formationen gedacht wurde. Dazu lege ich meiner Analyse noch die potentielle Denkweise zugrunde, dass der Begriff in synonymer Bedeutung vom Ausdruck Mensch benutzt und dabei keine weiterführenden Gedanken 238 Neben dem Konzept eines elitären Kosmopolitismus von Wieland (Vgl. Kleingeld (2010). Weltbürger im eigenen Land. S. 228.) führt Kleingeld noch »ökonomische Varianten (Lob des Weltmarkes), kulturelle Varianten (Lob des kulturellen Pluralismus), und religiös-emotionale Varianten (das romantische Ideal der spirituellen Einheit der Menschheit)« (Ebd. S. 229. Hervorhebungen von S.N.) an. 239 Ein guter, historischer Überblick über Kritikpunkte an kosmopolitischen Ideen im Kontext verschiedener gesellschaftspolitischer Hintergründe findet sich bei De la Rosa und O’Byrne. (Vgl. De la Rosa, Sybille/ O’Byrne, Darren. Introduction. In: dies. (Hrsg.). The Cosmopolitan Ideal. Challenges and Opportunities. London/ New York 2015. S. 1–9.) 240 Vgl. Eckert (2011). Weltbürger. Sp. 829. 241 Als weitere Beispiele für kosmopolitische Denkweisen im 18. und 19. Jahrhundert führt Inglis noch Tom Paine, Voltaire, Auguste Comte und Emile Durkheim an. (Vgl. Inglis (2019). Alt-histories of cosmopolitanism. S. 47ff.)

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entwickelt wurden. Eine explizite Kritik am Weltbürgertum halte ich zudem für genauso möglich wie eine Abwesenheit der Begrifflichkeit in den Erziehungsratgebern. Zusätzlich zu der inhaltlichen Bedeutungsebene soll für jedes Werk die quantitative Häufigkeit der Begriffsverwendungen sowie die Bewertung der Einheit in den Identitätsmodellen ermittelt werden. 1.5.7. Religion Die letzte Kollektivkategorie stellt mich vor die Herausforderung, den äußerst vielschichtigen und komplexen Begriff Religion zu definieren. Als herausfordernd kann dies bezeichnet werden, weil sich die Forschung darüber einig ist, dass es zum einen keine eindeutige Definition des Begriffes sowohl auf der Forschungs- als auch auf der Quellenebene geben kann.242 Zum anderen existier(t)en immer vielfältige und unterschiedlichste Glaubensformen243 sowie religiöse Praktiken,244 die sich nicht allein auf eine religiöse Sphäre reduzierten, bei der es primär um Diskussionen über Glaubenswahrheiten oder die »richtigen« religiösen Praktiken ginge.245 Anstelle dessen wirkt(e) Religion in alle gesell242 Vgl. Höffe, Otfried. Religion im säkularen Europa. Einführung. In: ders. und Andreas Kablitz (Hrsg.). Religion im säkularen Europa. Paderborn 2018. S. 7–17. Hier: S. 8f. Sowie: Stuckrad, Kocku von. Religionsbegriff. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 10. Stuttgart/ Weimar 2009. Sp. 1062–1064. Hier: Sp. 1062. Als auch: Bergunder, Michael. Religionen. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 10. Stuttgart/ Weimar 2009. Sp. 1048–1062. Hier: Sp. 1048f. 243 Erwähnt werden muss hierbei, dass ich die Ausdrücke von Religion und Glauben in synonymer Bedeutung verwende. Ein Überblick über die Entstehung und Genese des Glaubensterminus findet sich bei Friederike Nüssel. (Vgl. Nüssel, Friederike. Glaube. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4. Stuttgart/ Weimar 2006. Sp. 911– 918.) 244 Vgl. Langewiesche, Dieter. Säkularisierung und religiöse Vitalisierung. Religion, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert in Westeuropa. In: Otfried Höffe und Andreas Kablitz (Hrsg.). Religion im säkularen Europa. Paderborn 2018. S. 33–52. Hier: S. 42. Sowie: Paulmann, Johannes. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz – eine gesellschaftliche und politische Herausforderung in der europäischen Neuzeit. Einleitende Bemerkungen. In: ders., Matthias Schnettger und Thomas Weller (Hrsg.). Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit. Göttingen 2016. S. 9–17. Hier: S. 14. Als auch: Sparn, Walther. Kirchen und religiöse Kultur. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 15. Stuttgart/ Weimar 2012. Sp. 1025–1040. Hier: S. 1025. 245 Stollberg-Rillinger ist etwa davon überzeugt, »dass es bei religiösen Konflikten nicht allein um Glaubenswahrheiten, sondern auch um soziale Alltagspraxis und um politische Loyalitäten geht. Der Blick hat sich erweitert und gezeigt, dass religiöse Pluralität in historischer Perspektive eher die Regel, religiöse Homogenität eher die Ausnahme war« (StollbergRillinger, Barbara. Unversöhnte Verschiedenheit. Schlusskommentar. In: Johannes Paulmann, Matthias Schnettger und Thomas Weller (Hrsg.). Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit. Göttingen 2016. S. 197–203. Hier: S. 197.).

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schaftlichen Lebensbereiche hinein,246 weshalb die sich mit religiösen Aspekten befassenden Forschungsbereiche umfassend sind. Für den Terminus Religion, der in seinem antiken, auf den lateinischen Ausdruck religio zurückzuführenden Ursprung nicht in der Bedeutung von Glauben, sondern im Sinne von einer »korrekten Ausführung kultischer Handlungen«247 verstanden wurde, wird im Verlauf der Frühen Neuzeit eine Transformation hinsichtlich der Verwendungsals auch der Verständnisweisen angenommen. Neben einer zunehmenden singulären Nutzungsweise248 hätte sich eine vierfache Begriffssystematik verbreitet, in der Religion zusätzlich zu den zwei primären Verständnisweisen im Mittelalter als Gottesverehrung und zur Beschreibung christlicher Orden249 noch eine Aufteilung zwischen Judentum, Christentum und Islam als Offenbarungsreligionen sowie dem Heidentum als abweichende »Form natürlicher Gotteserkenntnis«250 inkludiert hätte. Diese vier Religionsformen sollten jedoch nur als grobe und übergeordnete Charakterisierung begriffen werden, weil sowohl innerhalb dieser einzelnen Religionsgemeinschaften als auch außerhalb dessen, etwa in den alltäglichen religiösen Praktiken oder den sozialen Verflechtungen vor Ort, ausgeprägte Vielfältig- und Unterschiedlichkeiten festzustellen sind.251 Deshalb hat die in der Forschung lange geteilte Annahme einer starken konfessionellen Spaltung in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit – Stichwort Konfessionialisierung – an Überzeugung verloren.252 246 Vgl. ebd. S. 198. Sowie: Graf (2010). Säkularisierung. Sp. 539. Als auch: Voigt, Friedemann. Religionswandel. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 10. Stuttgart/ Weimar 2009. Sp. 1131–1137. Hier: Sp. 1135.) 247 Stuckrad (2009). Religionsbegriff. Sp. 1062. 248 Vgl. ebd. Sp. 1063f. 249 Vgl. Bergunder (2009). Religionen. Sp. 1048f. 250 Ausführlich schreibt Bergunder: »In der Frühen Nz. setzte sich spätestens ab dem 17. Jh. eine vierteilige R[eligions]-Systematik durch, die aber wahrscheinlich keine Weiterführung oder Modifizierung des ma. Gebrauchs von R[eligion], sondern eine eigenständige Entwicklung darstellt. […] Dennoch enthielt diese Vierteilung meist die implizite Annahme, dass Judentum, Christentum und Islam sich auf eine Offenbarung beriefen, während die Heiden eine – wenn auch korrupte – Form natürlicher Gotteserkenntnis innehatten« (Ebd. Sp. 1049f.). 251 Die Pluralität innerhalb der christlichen Religionsgemeinschaft veranschaulicht etwa Sparn, wenn er deren Entwicklungsverlauf zwischen 1450 bis 1850 als »ein Prozess der institutionellen Pluralisierung, der relig. Differenzierung und der kulturellen Transformation des Christentums« (Sparn (2012). Kirchen und religiöse Kultur. Sp. 1025.) charakterisiert. Bestätigt wird diese zudem, wenn etwa die verschiedenen Denkweisen einer Vernunftreligion innerhalb des Judentums (Grözinger) und des Christentums (Vogt-Goy) sowie außerhalb dessen anhand sogenannter deistischer Religionskonzepte (Graf) illustriert werden. (Vgl. Grözinger, Karl-Erich. Vernunftreligion. Judentum. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14. Stuttgart/ Weimar 2011. Sp. 187–191.) (Sowie: Vogt-Goy, Christopher. Vernunftreligion. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14. Stuttgart/ Weimar 2011. Sp. 181–187.) (Als auch: Graf (2010). Säkularisierung. Sp. 535.) 252 Vgl. Paulmann (2016). Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz. S. 14ff. Sowie: Brockmeyer, Bettina. Selbstverständnisse. Dialoge über Körper und Gemüt im frühen

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Als weitere zentrale Themen des Forschungsdiskurses, die sich mit religiösen Transformationsprozessen in der Frühen Neuzeit befassen und vor allem meinen Untersuchungszeitraum tangieren, müssen noch die Annahme einer religiösen Individualisierung, die Säkularisierungstheorie sowie die Erzählung eines sich im Verlauf der Frühen Neuzeit kontinuierlich zunehmenden und ausbreitenden Toleranzgedankens erwähnt und kurz behandelt werden. Bei der zuletzt genannten Thematik erscheint es einleuchtend, dass anstelle einer linearen Entwicklung nunmehr angenommen wird, dass verschiedene Praktiken der Tolerierung und gesellschaftspolitischen Handhabungsweisen für das besagte Zeitfenster existiert hätten.253 Schließlich haben wir es mit verschiedensten Regionen und Territorien zu tun, in denen unterschiedlichste konfessionelle, machtpolitische, sozio-kulturelle sowie gesellschaftliche Strukturen herrschten. Die Annahme einer religiösen Individualisierung steht im Zusammenhang mit der Säkularisierungstheorie, weil sie impliziert, dass sich in Folge des angenommenen Macht- und Bedeutungsverlustes religiöser Institutionen im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts unter anderem ein Anstieg von institutionsloser Religiosität und individualistischer Frömmigkeitsformen verzeichnet hätte.254 Sowohl gegenüber der Charakterisierung einer religiösen Individualisierung als auch an der Säkularisierungstheorie255 sind in der Forschung bereits Zweifel artikuliert 19. Jahrhundert. Göttingen 2009. S. 389f. Eine ausführlichere Darstellung des auf Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard zurückgehende Forschungskonzeptes der Konfessionalisierung findet sich bei Freist oder Kaufmann. (Vgl. Freist (2017). Glaube, Liebe, Zwietracht. S. 144f.) (Sowie: Kaufmann, Thomas. Konfessionalisierung. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 6. Stuttgart/ Weimar 2007. Sp. 1053–1070.) 253 Während Paulmann die Darstellung einer linearen Zunahme von Toleranz im Verlauf der Frühen Neuzeit konsequent zurückweist, (Vgl. Paulmann (2016). Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz. S. 15.) führt Stollberg-Rillinger eine Vielzahl an verschiedenen politischen Umgangsweisen mit religiösen Minderheiten an, (Vgl. StollbergRillinger (2016). Unversöhnte Verschiedenheit. S. 199–201.), womit sie Paulmanns Aussage bekräftigt und die rekurrierte Toleranz-Erzählung entkräftet, indem sie deren vereinfachende Grundannahme aufzeigt. 254 Denn so heißt es bei Voigt: »Ebenso erlangte der dritte Vergemeinschaftungstypus, der relig. Individualismus, bes. seit der Aufklärung hohe Relevanz (Subjektivität). […] Diese institutionslose Religiosität wird in der religionssoziologischen Forschung als Individualisierung bzw. Privatisierung der Religion bezeichnet. […] Im Zusammenhang mit dem Anwachsen individualistischer Frömmigkeitsformen und dem gleichzeitigen Bedeutungsverlust gemeinschaftsorientierter Religionstypen führte dies zu einer Individualisierung und Intellektualisierung der Frömmigkeit« (Voigt (2009). Religionswandel. Sp. 1133f. Hervorhebungen von S.N.). Auch Graf weist auf den Zusammenhang zwischen den Forschungsannahmen einer religiösen Individualisierung und der Säkularisierung hin. (Vgl. Graf (2010). Säkularisierung. Sp. 526.) 255 Ein aktueller Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zur Säkularisierungstheorie findet sich bei Langewiesche und Graf sowie für den angelsächsischen Forschungsraum bei Joppke. (Vgl. Langewiesche (2018). Säkularisierung und religiöse Vitalisierung. S. 33–52.) (Sowie: Graf (2010). Säkularisierung. Sp. 525–542.) (Als auch: Joppke,

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worden.256 Für meine Untersuchung ist die Theorie einerseits von Bedeutung, weil in deren kolportierten zeitlichen Entwicklungsverlauf das 18. Jahrhundert und insbesondere die sogenannte Epoche der Aufklärung als zeitlicher Ausgangspunkt sowie das 19. Jahrhundert als Zeitraum bewertet wird, in dem sich die Säkularisierung realisiert hätte.257 Andererseits werden die mit der Theorie verbundenen Charakteristika als Argumente für die These herangezogen, dass sich im 19. Jahrhundert eine moderne Gesellschaft herausgebildet hätte.258 Indem ich herausfinden werde, welche Wertigkeiten dem Glauben von den Ratgeberautoren im Zeitfenster zwischen 1750 bis 1900 zugeschrieben wurden, wie die Religionseinheit von dieser Akteursgruppe konzipiert worden ist und ob in diesem Zuge auch Toleranzgedanken Erwähnung fanden, liefere ich Erkenntnisse zu allen drei genannten Diskussionsfeldern. Religion verstehe ich dabei als ein Konzept vorgestellter Gemeinschaft, in denen im Rahmen verschiedener Formen und mit variablen Grundprinzipien (Inklusions- und Exklusionmechanismen, Praktiken, Strukturen usw.) eine Verbundenheit zu einer metaphysischen Entität postuliert wird. Als potentielle historische Denkweisen kann Religion259 in einer natürlichen Weise konzipiert worden sein, in welcher die Welt als eine göttlich geschaffene und mit Naturgesetzen ausgestattete Lebenswelt gedacht wird.260 Oder sie wurde als ein indi-

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Christian. The Secular State Under Siege. Religion and Politics in Europe and America. Cambridge 2015.) Während etwa Graf an den mit der Säkularisierungstheorie einhergehenden Grundannahmen und Erzählungen eine Unterkomplexität und Simplifizierung kritisiert, (Vgl. Graf (2010). Säkularisierung. Sp. 538f.) weist Langewiesche auf die Bedeutungsvielfalt hin, die mit einer Individualisierung des Religiösen insbesondere im Protestantismus verbunden werden konnte. (Vgl. Langewiesche (2018). Säkularisierung und religiöse Vitalisierung. S. 44.) Vgl. Langewiesche (2018). Säkularisierung und religiöse Vitalisierung. S. 35f. Auf den Punkt gebracht von Graf: »Im Gebrauch des Begriffs schwingt immer die Leitannahme mit, dass sich die Neuzeit und mehr noch die Moderne im 19. Jh. von früheren, »alteurop.« Epochen (Alteuropa) v. a. durch den gewandelten und insgesamt minderen Stellenwert von Religion unterscheide. Analog zu anderen Prozessbegriffen – […] – soll im S[äkularisierungs]-Begriff ein fundamentaler soziokultureller Wandel hin zur Moderne erfasst werden, in dem sich sowohl Mentalitäten und Habitus der (meisten) Menschen als auch der gesellschaftliche Ort von relig. Organisationen und Institutionen, allen voran der christl. Kirchen, tiefgreifend verändert haben« (Graf (2010). Säkularisierung. Sp. 526. Hervorhebungen von S.N.). Explizit hervorheben möchte ich noch einmal, dass sich die Analyse nicht auf den Religionsbegriff beschränkt, sondern auf die Konzeptionierung von Religion in den Erziehungsratgebern. Eine Konzentration auf den Religionsterminus wäre verkürzt, weil die Ratgeberautoren sowohl den Religionsterminus als auch weitere Ausdrücke sowie Aspekte wie Tugenden und Untugenden genutzt haben. Deswegen verzichte ich auf die dezidierte quantitative Ermittlung der Begriffsvorkommen. Dass sich darunter eine Vielzahl von mitunter verschiedenen Konzepten subsumieren lassen und diese auch als Vernunftreligion oder als deistische Denkweisen klassifiziert werden könnten, ist mir bewusst, für meine Analyse aber nicht problematisch. Denn entscheidend

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vidueller Glauben an Gott, als eine auf Gruppen bezogene (Stichwort Sekten) oder als eine öffentliche und institutionelle Glaubensweise dargestellt.261 Besonders zu beachten gilt es bei der individuellen Glaubensform, ob diese als eine mit anderen Religionsformen kombinierbare Praktik entworfen wird oder ob entsprechend der Individualisierungsthese eine explizite Abkehr von den religiösen Institutionen und ein Rückzug ins Private gefordert wird. Des Weiteren gilt es zu ermitteln, ob die Religionskonzepte der Ratgeberautorinnen Bezug nehmen auf die monotheistischen Glaubensgemeinschaften und wenn dies der Fall ist, ob dabei eine konfessionelle Differenzierung vorgenommen wurde.262 Entsprechend der Forschungsdiskussion über Toleranz soll verifiziert werden, ob die Thematik einer Tolerierung anderer Religionsformen in den Ratgeberquellen Erwähnung fand und wenn ja, welche Aspekte sie impliziert.263 Oder ist die gegenteilige Konstellation zu verzeichnen, dass andere Religionen oder eine Ungläubigkeit etwa anhand von Termini wie Heidentum oder Atheismus kritisiert bzw. als Feindbilder illustriert wurden?264 Dazu werde ich untersuchen, ob von den Ratgeberautoren Kritik an spezifischen (christlichen) Religionsformen

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ist, dass ein Religionskonzept entworfen wird, in welchem die Natur, die durchaus als göttlich geschaffene angenommen werden kann, aber nicht muss, und die darin wirkenden Gesetzmäßigkeiten als wesentlicher Bezugspunkt dargestellt oder als Argument für Verhaltensweisen benutzt wird. (Für einen Überblick zum Forschungsstand von Vernunftreligionen sowie Deismus siehe: Vogt-Goy (2011.) Vernunftreligion. Sp. 181 u. 183ff.) Diese drei (historischen) Religionstypen führt etwa Voigt an. (Vgl. Voigt (2009). Religionswandel. Sp. 1133f.) Unter Sekten versteht er dabei eine »Gemeinschaft der Freiwilligkeit, in welcher der Beitrag jedes einzelnen Mitglieds von konstitutiver Bedeutung ist« (Ebd. Sp. 1133.) und zählt für die Frühe Neuzeit etwa christliche Freikirchen dazu. (Vgl. ebenda.) Ich teile diese Definition, was für meine Analyse bedeutet, dass ich bei der Erwähnung von Freikirchen oder Reformbewegungen in den Ratgebern diese als eine Form gruppenbezogener Glaubensweise bewerte. Die Fokussierung auf das Christentum resultiert aus dessen hegemonialer Vormachtstellung in den europäischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit. Es muss dabei grundlegend bedacht werden, dass sowohl der Begriff als auch dessen Idee verschiedene inhaltliche Dimensionen implizieren kann. (Vgl. Höffe, Otfried. Toleranz in Zeiten interkultureller Konflikte. In: Christian Augustin, Johannes Wienand und Christiane Winkler (Hrsg.). Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa. Wiesbaden 2006. S. 84–101. Hier: S. 85–89.) Deswegen gilt es wenn möglich herauszufinden, worauf sich der Begriff bezieht und was darunter verstanden wird. Mit den Begrifflichkeiten Atheismus und Heidentum wurden verschiedene sowohl inhaltliche Aspekte als auch positive oder negative Bewertungen verbunden, (Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm/ Sparn, Walter. Atheismus. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 1. Stuttgart/ Weimar 2005. Sp. 746–751. Hier: Sp. 746 u. 748ff.) (Sowie: Stuckrad, Kocku von. Heidentum. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 5. Stuttgart/ Weimar 2007. Sp. 295–298. Hier: Sp. 295 u. 297.) weswegen es sowohl für beide Termini kein einheitliches Begriffsverständnis bei den historischen Akteuren anzunehmen, als auch die Bewertungs- und Bezugsweisen in den Quellen zu ermitteln gilt.

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oder an der Religion und dem Glauben im Allgemeinen geübt wurde265 und ob es Werke gibt, in denen die Religionsthematik nicht behandelt wurde. Entsprechend der Forschungsliteratur ist das Spektrum an historischen Religionskonzepten umfangreich und eine ausgeprägte Vielfältigkeit in den Quellen zu erwarten. Zusätzlich zu den Denkweisen werde ich die Bewertungsweisen der Religionseinheit herausarbeiten.

1.6.

Abschließendes Identitätskonzept

1.6.1. Überblick über meine Begriffsverständnisse Vor der Ausformulierung einer für die historischen Analyse nutzbaren Identitätskonzeption werden noch einmal kurz die bisherigen Begriffsverständnisse rekapituliert, um die inhaltlichen Unterschiede und die Charakteristika der jeweiligen Begriffsdefinitionen in Erinnerung zu rufen. Unter einem Individuum verstehe ich einen Körper, der als ein offenes, interaktives und sich permanent vollziehendes Produktionszentrum betrachtet wird, in dem unter sozio-kulturellen sowie zeit- und raumspezifischen Einflussfaktoren Selbstbilder entstehen. Auch die Selbstbewusstseinserfahrung des Einzelnen resultiert aus diesem Prozess und ist im Individuumsbegriff verankert, wodurch die Voraussetzung gegeben wird, dass sich jeder Mensch als handlungsfähiges Wesen wahrnehmen und situative, mittel- und langfristige Selbstbilder erzeugen kann. Das Individuum fungiert in meinem Begriffskonzept also als ein Produktionszentrum von Identitäten, die in einem zweigliedrigen Prozess zwischen der Verarbeitung sozialer Rollenzuschreibungen, Normen, Wissensordnungen, außerkörperlicher Informationen und Sinneswahrnehmungen sowie der intrinsischen Selbstreflexion im Spannungsfeld von Emotionen, Selbstbildern, Wertvorstellungen und Erfahrungen hergestellt werden. Dieser Produktionsprozess vollzieht sich in einer für das Individuum bewusst sowie unbewusst ablaufenden Art.266 Weil nun dieses Begriffsverständnis eines Individuums sehr weitreichend ist, reduziert sich in dessen Folge die Definition des Subjektterminus. Unter einem Subjekt verstehe ich ein Individuum, welches zur Selbstannahme seiner Selbstständigkeit und Autonomie fähig ist. Das bedeutet, die

265 Auch wenn berücksichtigt werden muss, dass Religionskritik am Christentum nicht einfach in den (deutschsprachigen) Öffentlichkeiten geäußert werden konnte, sondern Zensur und Repressionen das Sagbare einschränkten bzw. zu verschiedenen Umgehungspraktiken führten. (Vgl. Mulsow, Martin. Religionskritik. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.). Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 10. Stuttgart/ Weimar 2009. Sp. 1114–1121. Hier: Sp. 1114ff.) 266 Für eine ausführlichere Darlegung, wie der Konstitutionsprozess eines Individuums, in dessen Zuge auch Identität entsteht, gedacht wird, siehe das Kapitel 1.2. Individuum.

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Vorstellung des Menschen über einen unabhängigen und freien Willen zu verfügen und zu eigenständigen Handlungen in der Lage zu sein, kennzeichnet meine Begriffsdefinition. Diese Selbstbewusstseinsfähigkeit macht ein Individuum somit zu einem Subjekt267 und stellt eine Voraussetzung dafür dar, dass ein Individuum überhaupt Identität ausbilden kann. Die Sinnhaftigkeit meiner reduzierten Subjektdefinition besteht vor allem darin, dass mit der Annahme der eigenen Autonomie und Selbstständigkeit im Subjektbegriff die aktive Handlungsfähigkeit des Einzelnen konzipierbar wird. Denn entsprechend meiner Darlegungen verstehe ich den Einzelnen als einen Akteur, der trotz seiner sozialen Einbettung zu eigenständigen Handlungen fähig ist.268 Die numerische Einzelheit eines Individuums verbunden mit seiner Eigenheit, gemeint ist seine Einzigartigkeit, kennzeichnet derweil meinen Individualitätsterminus. Die Einzigartigkeit zeichnet sich in der einmaligen, in gleicher Form bei anderen Individuen nicht erneut bzw. jemals wieder vorkommenden Selbstkonstitution der konstruierenden Identitäten aus sowie dessen Unmöglichkeit zur Duplikation. Die Singularität des Individuums in einer numerisch-quantitativen Dimension und in einer qualitativen Form der Einzigartigkeit bildet also das Charakteristikum meines Individualitätsbegriffes. Wie fällt nun aber die konkrete Definition des Identitätsbegriffes aus? 1.6.2. Das Konzept von Identität: Definition, Funktionen und Formen Identität definiere ich als eine permanente (Selbst-)Erzählung eines Individuums und seiner kulturellen Umwelt von einem eigenem Ich, welches in einer prozesshaften (re-)produzierenden Weise vom Individuum permanent selbst im Spannungsfeld seiner Selbstwahrnehmung und den sozio-kulturellen Denkweisen und Kategorien erschaffen wird. Das heißt, im gesellschaftlichen Rahmen werden durch Normen, Rollenmuster, Praktiken, Wissensordnungen, Sprache usw. erst die potentiellen Identitätskategorien geformt und festgelegt, die dann im Wirkungsfeld zwischen der Selbstkonstitution des Individuums und den externen Zuschreibungen und Einflussfaktoren zu individuellen Identitäten realisiert werden.269 Der Identitätsbildungsprozess findet also im Individuum statt und kann deswegen durchaus als eine »persönliche Angelegenheit«270 cha267 Zum besseren Verständnis dieser Begriffsdefinitionen sei noch ein Gegenbeispiel angeführt. Ein Mensch, der etwa in Folge eines Unfalles die geistigen Fähigkeiten verliert, sich seiner selbst bewusst zu sein – beispielsweise ein hirntoter Mensch-, entspricht weiterhin einem Individuum, aber keinem Subjekt mehr, da die Person nicht mehr über die Fähig- und Möglichkeit zu einem Selbstbewusstsein verfügt. 268 Siehe das Kapitel 1.3. Subjekt. 269 Siehe das Kapitel 1.2. Individuum. 270 Straub (2012). Identität. S. 334.

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rakterisiert werden, die jedoch immer in Abhängigkeit zur Außenwelt des Einzelnen und zu den Anderen271 steht und durch diese überhaupt erst hervorgebracht werden kann. Wichtig ist es dabei zu bedenken, dass Identität keine singuläre Erscheinungsform ist, die einmal ausgebildet wird und das Individuum zeitlebens begleitet. Sondern diese wird permanent hergestellt und ist demgemäß plural sowie wandelbar. Der Mensch hat nicht eine, sondern viele Identitäten, die sich je nach Situation und Kontext, den Selbstbildern, Erfahrungen und Wünschen permanent bilden, modifizieren, sich ergänzen oder auch widersprechen können.272 Von einer Einheitlichkeit oder Kohärenz kann demnach genauso wenig die Rede sein wie von einem substantiellen Wesenskern, der einem Menschen zugrunde läge und dementsprechend jedes Ich realisierte. Auch hybride Ansätze, bei denen etwa von einer inneren Substanz ausgegangen wird, die jedoch von gesellschaftlichen Einflussfaktoren beeinflussbar wäre,273 gilt es zurückzuweisen. Denn Identität ist immer zeit-, orts- und kontextgebunden, realisiert sich erst durch die gesellschaftlichen Einflussfaktoren, die zur Verfügung stehenden Identitätskategorien sowie den in der spezifischen Situation anwesenden als auch abwesenden oder imaginierten Anderen und resultiert nicht aus einer qua Geburt vermittelten Essenz. Substantielle Elemente erscheinen für eine Identitätsdefinition wenig plausibel.274 Anstelle dessen wird eine Prozesshaftigkeit angenommen und Identität als permanente (Selbst-)Erzählung definiert, weil damit die Eigenschaften der Variabilität, Konstruiertheit, Pluralität und Komplexität gegeben sind. Dementsprechend ist Identität nicht mehr im Sinne des Wortursprunges als ein gleich-seiendes Relationsverhältnis zwischen zweier oder mehrerer Entitäten oder Eigenschaften zu verstehen,275 sondern wird zu selbsterzählenden Orientierungs-, Handlungs- und Sinnmustern, die sich im situativen Kontext bilden bzw. modifizieren und dabei von individuellen Be271 Die aktive Einflussnahme der Anderen bedingt sich nicht nur aus deren artikulierten Zuschreibungen, sondern die Anwesenheit in einer Konstellation reicht schon aus, um die Identitätsbildung zu beeinflussen. Darüber hinaus muss es sich bei den Anderen nicht unbedingt um reale, anwesende Personen handeln. Auch Zustände wie Krankheiten, Ängste, Imaginationen oder transzendentale Entitäten wie Gott können die Identitätskonstitution beeinflussen. (Vgl. Brockmeyer (2009). Selbstverständnisse. S. 390f.) Die Anderen wirken also konstitutiv in der Identitätsbildung. (Siehe auch Butler (2014). Unbehagen des Geschlechts. S. 16f.) (Sowie: Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 102 u. 128.) 272 Auf die Ambivalenz-Widerspruchspotentialität weist Brockmeyer hin, (Vgl. Brockmeyer (2009). Selbstverständnisse. S. 27.) indessen Derix die Pluralität, Temporalität und Wandelbarkeit jedes Einzelnen im Verlauf seines Lebens hervorhebt. (Vgl. Derix (2015). Einführung. S. 530.) 273 Schulte legt dar, dass sich in heutigen prozesshaften Modellvariationen oftmals »Platzhalter für die substantielle Idee der Kohärenz des Subjektes« (Schulte (2011). Identität als Experiment. S. 44.) finden. 274 Siehe das Kapitel 1.1.1. Begriffstheorie im Rahmen des Substanz-Prozess-Dualismus. 275 Siehe oben.

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dürfnissen, Erfahrungen, Emotionen und (Wert-)Vorstellungen sowie externe Erwartungshaltungen und Zuschreibungen beeinflusst werden.276 Die Beachtung dieses Spannungsfeldes zwischen intrinsischen und extrinsischen Faktoren ist wichtig, weil Identität nicht nur als »ein Reflex von Struktur«277 begriffen werden kann. Jede Identitätsbildung steht zwar in Abhängigkeit zu dem gesellschaftlichen Umfeld. Dieses gilt es aber immer im Plural zu denken278 und dazu beeinflussen die intrinsischen, innerkörperlichen, geistigen Wahrnehmungen, Verarbeitungen und Bewertungen der äußeren Sinneseindrücke und Informationen ebenso die Identitätskonstruktion.279 Beide Einflusssphären zusammen bedingen die Identitätsbildung. Identität dient also der Herstellung von Orientierungs-, Handlungs- und Sinnmuster, womit sie gleich mehrere Funktionen für das Individuum erfüllt. Die Ausbildung von Sinnmustern, die sowohl temporär, kurzfristig, mittel- als auch langfristig sein können, liefern dem Individuum einerseits die Möglichkeit, sich selbst im Zuge seines Werdeganges zu vereinheitlichen, über die Retrospektion sowie die Voraussicht einen roten Faden zu konstruieren und dem eigenen Dasein Sinn zu verleihen.280 Sie verortet den Menschen damit in der Welt und liefert Sinnkonzepte, die der Stabilisierung und Realisierung des Lebens die-

276 Während beispielsweise Straub Identität in einem ähnlichen Sinne als »eine Aspiration, eine Art Sehnsucht [beschreibt], die der Selbst-Bildung von Personen Form und Richtung verleiht« (Straub (2012). Identität. S. 337.), betont Röttgers die Abkehr der Identitätsdefinition von der Eigenschaft der Sichselbstgleichheit hin zur Wandelbarkeit und situativen Offenheit. (Vgl. Röttgers (2016). Identität als Ereignis. S. 351.) 277 Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 71. 278 Die Betonung der Pluralität ist wichtig, denn es gibt keine homogene, einheitliche Struktur (von Gesellschaft oder Kultur etc.), wie es in den Sozialwissenschaften oder anderen Feldern oftmals suggeriert wird. Auch die sogenannten Strukturen sind komplex, vielschichtig, konträr sowie widersprüchlich. Homogenität kann besonders im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Betrachtungsweisen nicht beansprucht werden. Dieser Tatbestand kann nicht oft genug wiederholt werden. 279 In der Bewertung dieser Frage spiegeln sich die unterschiedlichen Arbeits- und Ansatzweisen, Denktraditionen sowie Forschungsschwerpunkte der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen wider. Während in den Sozialwissenschaften eher auf den Einfluss der äußeren Faktoren verwiesen wird, findet sich in den Naturwissenschaften und besonders den Neurowissenschaften die Hervorhebung der innerkörperlichen, psychischen wie biochemischen Prozesse. (Siehe oben.) Ich betrachte beide Einflussfaktoren als gleichwertig. 280 Oft deklariert als biographische Identität. (Siehe zum Beispiel Wohlrab-Sahr (2006). Realität des Subjektes. S. 88f.). Wichtig zu beachten ist jedoch, dass diese Vereinheitlichung eine Illusion darstellt. Das Individuum ist vielschichtig, plural, widersprüchlich, es reduziert und vereinfacht sein Selbstbild in seiner Selbstwahrnehmung jedoch, wie im Konstitutionsmodell des Individuums veranschaulicht worden ist, um in der Komplexität seines Seins und seines Umfeldes nicht unterzugehen.

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nen.281 Andererseits unterstützt die Bildung von Sinnmustern den Entscheidungsprozess des Einzelnen. Das Trennen von Wichtigem und Unwichtigem, die Ausbildung einer Hierarchie von als relevant betrachteter Aspekte, präferierten Lebensweisen oder Eigenschaften stehen oftmals im engen Zusammenhang mit den entwickelten Sinninhalten. Betrachtet eine Person zum Beispiel die Familiengründung als einen zentralen Lebensinhalt, beeinflusst dies im entscheidenden Maße die Partnerwahl. Es müssen jedoch nicht immer solche grundsätzlichen Sinngegenstände sein, die dem Individuum in der Entscheidungsfindung helfen. Auch temporäre Selbstbilder, kurzfristigere Ziele oder Wünsche dienen als Orientierungsmuster in der Priorisierung des Lebens sowie der Bewältigung der alltäglichen Lebensgestaltung.282 Als Drittes trägt Identität zur Handlungsfähigkeit des Menschen im sozialen Ganzen bei. Denn zum einen unterstützen Identitätskategorien die Verarbeitung der sozialen Außenwelt. Sie bilden die Grundlage, die Anderen zu erkennen, einzuordnen und wahrzunehmen, in welcher sozialen Konstellation oder Praktik man sich befindet und welche spezifischen Normen und Erwartungshaltungen darin wirken. In diesem Zuge lernt der Einzelne zudem, welche Verhaltensweisen, Eigenschaften, Sprechweisen, Symbole, Materialitäten usw. erforderlich sind, um einem Kollektiv anzugehören oder dessen Mitglied zu werden und von den Anderen Anerkennung zu erfahren. Umgedreht ermöglichen die dargestellten, realisierten Selbstbilder und Verhaltensweisen auch das eigene Erkanntwerden, die eigene Klassifikation durch den Anderen. Sie vollzieht sich also in permanenter Gegenseitigkeit.283 Zum anderen 281 Vgl. Müller (2011). Empirische Identitätsforschung. S. 366f. Es gilt aber immer zu bedenken, dass auch die Sinnkategorien plural sind, sich situativ sowie im Verlauf des Lebens verändern und deswegen nicht als dauerhafte, feste Bezugsgrößen der Individuen fungieren. 282 Zur Unterstützung von Identität bei der Entscheidungsfindung siehe auch Straub oder Kaufmann. (Vgl. Straub (2015). Ein Selbstbildnis erzählen. S. 25ff.) (Sowie: Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 185ff.) Unter Orientierungsmuster verstehe ich eher kurz- und mittelfristig ausgebildete Wertvorstellungen, Präferenzen, Wünsche oder Selbstbilder, die in der Retrospektion oder Selbstreflexion jedoch auch zu Sinnmustern erhoben werden können. Die Orientierungsmuster unterliegen entsprechend der Identitätsherstellung einem permanenten Wandel, denn auch vormalige Sinnmuster können eine Modifikation erfahren, wie es zum Beispiel die Studie Regretting Motherhood verdeutlicht, in der sich mit Müttern befasst wird, die ihre Entscheidung bereuen, Kinder bekommen zu haben. (Vgl. Donath, Orna. Regretting motherhood. A Study. Berkeley 2017.) 283 Vgl. Müller (2011). Empirische Identitätsforschung. S. 76. u. 370f. Sowie: Schwaiger, Bernhard. »Persönlichkeit«. Zu einem notorisch schwierigen Begriff der Persönlichkeitspsychologie. In: Orsolya Friedrich und Michael Zichy (Hrsg.). Persönlichkeit, Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellung. Münster 2014. S. 83–113. Hier: S. 103.) Weil sich die gegenseitige Bedingtheit und Abhängigkeit der intrinsischen und extrinsischen Einflussfaktoren in der Identitätsbildung als äußerst plausibel herausstellt, erscheint mir die von Schlögl vollzogene Bewertung der Einflusssphären abstrus, ob etwa die Eigen- oder Fremdzuschreibungen für die (historischen) Akteure entscheidender gewesen wären. Bezogen auf das 18. Jahrhundert schreibt er: »Identitätsbildung erfolgte durch Selbstbeob-

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obliegt es dem Einzelnen entsprechend des von mir skizzierten Prozesses der Individuumskonstitution sowie der Handlungstheorie, aktiv zum Gelingen der sozialen Interaktion beizutragen, zum Beispiel indem die erwarteten Verhaltensweisen reproduziert werden, oder dessen Scheitern bzw. zumindest eine Irritation zu erzeugen, wenn eine abweichende Handlungsweise vollzogen wird. Letzterer muss jedoch nicht zwingend eine bewusste Entscheidung gegen das Gelingen zugrunde liegen, oftmals haben auch Unwissenheiten, Unvermögen, unterschiedliche Gewohnheiten oder Wissensordnungen als auch abweichende sozio-kulturelle Prägungen einen entscheidenden Einfluss.284 Unabhängig vom Ablauf und Ausgang einer Interaktion oder Kommunikation wirkt Identität bei deren Realisierung entscheidend mit. Zu den wichtigsten Funktionen von Identität zählen also die Bildung von Sinn-, Orientierungs- und Handlungsmuster.285 Die Formen, in welche Identität(en) unterschieden werden können, sind derweil äußerst vielfältig. In der Forschung finden sich unter anderem Kategorien wie personale, soziale, sexuelle, geschlechtliche, religiöse, konfessionelle, biographische, narrative, private, kollektive, öffentliche, virtuelle, berufliche, transtemporale Identität.286 Deren Klassifikation wird häufig anhand einer achtung und nicht mehr vorrangig durch Fremdzuschreibung« (Schlögl (2019). Körper, Seele, Verstand. S. 173.). Allein aus erkenntnistheoretischer Perspektive ist es nicht möglich, diese Selbstwahrnehmungen der (historischen) Akteure zu konstruieren geschweige denn generalisierende Aussagen für die Akteure eines spezifischen Zeitraumes zu treffen. Wir selbst sind uns nicht einmal aller Einflussfaktoren bewusst, die unseren eigenen Identitätsbildungsprozess beeinflussen, da dieser auch von uns unbewussten Faktoren sowie nicht mehr bewussten, vergessenen Erfahrungen geprägt wird. (Siehe das Kapitel 1.2. Individuum.) Wie wollen wir dann solche Urteile über die historischen Akteure treffen? Dies ist schlicht und einfach nicht möglich! 284 Besonders im Bereich der Umgangsformen verdeutlicht sich dies. Diese weichen nicht nur zwischen unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen voneinander ab, sondern variieren schon innerhalb der einzelnen Gesellschaften in den unterschiedlichen sozialen Räumen und Gruppen. (Vgl. Lange-Vechter, Andrea/ Teiwes-Kügler, Christel. Das Konzept der Habitushermeneutik in der Milieuforschung. In: Alexander Lenger, Christian Schneicker und Florian Schumacher (Hrsg.). Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2013. S. 149–174. Hier: S. 151f.) 285 Es gibt selbstverständlich noch weitere Funktionen, (Vgl. Müller (2011). Empirische Identitätsforschung. S. 370.) (Sowie: Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 82f. u. 168f.) ich belasse es aber bei diesen wesentlichen Funktionsweisen. 286 Siehe unter anderem die Beiträge zum Identitätsbegriff in der Enzyklopädie der Neuzeit (Jaeger, Friedrich (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 5. Stuttgart/ Weimar 2007. Sp. 769– 780.) von Claudia Jarzebowski, Wolfgang Schmale und Volker Leppin. Sowie: Butler (2014). Unbehagen des Geschlechts. S. 16ff. Als auch: Crone (2016). Identität von Personen. S. 87– 144. Oder: Kaufmann (2005). Erfindung des Ich. S. 79, 111 u. 126ff. Oder: Schreiber, Raphaela. Berufliche Identitätsentwicklung in Zeiten prekärer Anstellungsverhältnisse und diskontinuierlicher Berufsbiografien. Berlin 2014. S. 43ff. u. 177ff. Oder: Göttmann, Frank. »Identität«. Überlegungen zu einem kulturwissenschaftlichen Leitbegriff. In: Jutta Langenbacher-Liebgott und Dominique Avon (Hrsg.). Facteurs d’Identité. Faktoren der Iden-

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dualistischen Gegenüberstellung vorgenommen, die sich an dem Schemata von Kultur und Natur orientiert. So werden die nach innen gerichteten Kategorien als Teil des biologischen, psychologisch-mentalen Körpers betrachtet und der natürlichen Sphäre zugeordnet, während die nach außen gerichteten Identitätsformen als kulturell bedingte Erscheinungsformen gelten und in das Wirkungsfeld der Kultur subsumiert werden.287 Die Vereinigung beider Sphären vollziehe sich dann zum Beispiel in einer sogenannten Ich–Identität288 oder in anderen Modellvariationen. Entgegen dieser üblichen Unterscheidungspraxis plädiere ich für die Aufhebung dieser Trennung, weil sich beide Einflusssphären in jedem Modell von Identität gegenseitig bedingen. Es lässt sich kein schlüssiges Identitätskonzept entwickeln, welches eines der beiden Bereiche außen vorlässt, denn der Mensch ist einerseits in seiner Entwicklung immer auf sein Umfeld (auf den Schutz, die Versorgung und die Wissensvermittlung der Eltern, Erzieher oder anderer Fürsorge übernehmender Personen) angewiesen. Auch die Vorstellung des Selbstseins realisiert sich erst durch die Anderen und unterliegt somit immer der Prägung des sozio-kulturellen Umfeldes.289 Andererseits lässt sich auch die Wirkung der biologisch-chemischen Körperkonstellationen nicht ausblenden. Die intrinsische Verarbeitung der extrinsischen Einflussfaktoren, die durch die neuronalen Netzwerke des Gehirns, den Nerven- und Reizsystemen des Körpers, den Erfahrungen und Emotionen des Individuums usw. beeinflusst werden, ist nicht vorhersehbar, durchschaubar oder determinierbar. Für einzelne Forschungsanliegen mag es zwar durchaus erkenntnisfördernd sein, einzelne Formen von Identität isoliert nach deren Spezifika zu untersuchen. Dabei muss jedoch das Kreieren einer Laborsituation, die vereinfachende, nur in dieser Konstellation zutreffende Idealtypen und Cluster erzeugt und nicht einem Abgleich von Realität entspricht, explizit erwähnt werden, damit daraus keine unplausiblen Verallgemeinerungen resultieren.290 Das Problem einer dualistischen

287 288 289 290

tität. Bern 2012. S. 9–25. Hier: S. 10ff. Oder: Müller (2011). Empirische Identitätsforschung. S. 74ff. Die Liste ließe sich unendlich erweitern. Vgl. Göttmann (2012). »Identität«. S. 10ff. Sowie: Müller (2011). Empirische Identitätsforschung. S. 13ff. u. 74ff. Vgl. ebd. S. 85ff. Vgl. Lacan, Jacques. Schriften III. Aus dem Französischen von Norbert Haas und weitere. Freiburg 1980. S. 54ff. In der wissenschaftlichen Praxis ist oftmals das Gegenteil der Fall, wenn etwa Forschungsergebnisse als objektiv oder faktisch, als Abbild von Vorhandenem, als Wahrheiten oder nicht zu ändernde Tatsachen dargestellt werden. Die Aussage, »die Zugehörigkeit zu einer Großgruppe ist ein natürliches Phänomen des Lebens« (Volkan, Vamık. Großgruppenidentität, schweres Trauma und seine gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen. In: Susanne Walz-Pawlita, Beate Unruh und Bernhard Janta (Hrsg.). Identitäten. Bonn 2015. S. 111–130. Hier: S. 111.), exemplifiziert dieses Fehlverhalten. Dieser vermutlich als harmlose Aussage zur Einleitung geschriebene Satz klassifiziert eine spezifische kulturelle Erscheinungsform als etwas Natürliches, wodurch der Gegenstand nicht hergeleitet und kritisch

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Unterscheidung von Identitätsformen nach biologisch-mentalen, körperlichen Eigenschaften und sozial bedingten Einflussfaktoren besteht indessen darin, dass diese einseitige Sichtweisen und starke Reduzierungen in der Identitätskonstitution befördert. So führt zum Beispiel die Annahme, der Mensch verfüge über personale, also sozial unabhängige, qua Geburt inhärente, »natürliche« Eigenschaften zu einer Verschleierung der wirkmächtigen sozialen Bewertungsdimensionen und Zuschreibungen. Es lassen sich zwar solche körperlichen Merkmale wie Haut-, Haarfarbe, Wachstum, Größe, (Erb-)Krankheiten etc. durchaus benennen. Entscheidend in der Identitätsbildung sind aber nicht deren einfaches Vorhandensein, sondern die durch das Umfeld vermittelten Bewertungsmaßstäbe, die sich in Abhängigkeit zu weiteren Faktoren wie dem soziokulturellen Rahmen, dem Milieu, dem Bildungsgrad, zeit- und ortsspezifischen Trends ausprägen. Schönheitsideale illustrieren dieses Wirkungsprinzip sehr gut. Die präferierten Körpermaße und -formen, Haar- oder Augenfarben werden in den Gesellschaftsdiskursen immer erst durch Wertzuschreibungen, ästhetische Konzepte sowie durch Medien erzeugt, verbreitet und wirken erst danach klassifizierend. Es wird ein Orientierungsmaßstab benötigt, anhand dessen nach Abstufungen von Schönheit unterschieden werden kann. Dies resultiert nicht aus den Eigenschaften an sich, sondern wird immer erst im sozialen Rahmen durch Akteure, Normen etc. gebildet, die wiederum die Herstellung von Selbstbildern, Wünschen beeinflussen. Die vorhandenen körperlichen Merkmale eines Individuums erzielen also durch die gesellschaftlichen Wertzuschreibungen eine Wirkung in der Identitätsbildung, nicht aufgrund ihres reinen Vorhandenseins. Dazu hat ein Mensch immer die Möglichkeit, sich diesen sozialen Wirkungsfeldern in gewisser Weise zu entziehen, indem er zum Beispiel spezifische Orientierungsmaßstäbe als für sich nicht relevant betrachtet, Alternativen entwickelt bzw. sich abweichenden Sichtweisen anschließt. Denn auch Schönheitsideale, Wertvorstellungen usw. sind immer plural und keine singulären Erscheinungsformen. Es mag zwar in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit hegemoniale Diskurse und Sichtweisen geben, die in Abhängigkeit zum Freiheitsgrad in unterschiedlicher Intensität versucht werden durchzusetzen, gegebenenfalls zu erzwingen. Menschen vermögen und vermochten es aber trotz dessen immer, alternative Sichtweisen, Selbstbilder und Identitäten zu produzieren.291 reflektiert werden muss. Anstelle dessen wird er als etwas Gegebenes, nicht zu Hinterfragendes, Wahres dargestellt. Diese Form der Naturalisierung und Objektivierung von Erkenntnissen und Wissen wird in allen Wissenschaftsfeldern praktiziert. Butler veranschaulicht das Prinzip der Naturalisierung, bei dem Eigenschaften, Merkmale zu vorkulturellen, natürlichen Entitäten gemacht werden, sehr gut. (Vgl. Butler (2014). Unbehagen des Geschlechts. S. 17ff.) 291 Dies veranschaulichen Widerstandsformen, die es auch in jeder totalitären Gesellschaftsform gegeben hat bzw. gibt.

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Es erscheint also sinnvoller, ein prozesshaftes Modell der Identitätsbildung zu präferieren, in dem beide Einflusssphären in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit berücksichtigt werden, als den Dualismus von biologischen und kulturellen Identitätsformen zu reproduzieren und einer von beiden entscheidende Wirkmächtigkeit zuzusprechen. Wie ausgeführt wurde, definiere ich Identität als (Selbst-)Erzählung eines Individuums und seiner kulturellen Umwelt von einem eigenem Ich, das als ein Produkt eines doppelten, permanent ablaufenden Prozesses bei der Individuumskonstitution im Spannungsfeld der Selbstwahrnehmung des Einzelnen und der sozio-kulturellen Denkweisen und Kategorien des Umfeldes immer wieder hergestellt wird. Dieses sich permanent konstituierende Selbstbild ist somit vielschichtig, wandelbar und dient der Ausbildung von Orientierungs-, Handlungs- und Sinnmuster, welche die Funktion der Herstellung von Sinninhalten zur Selbststabilisierung und -verortung erfüllen, die Entscheidungsfindung des Menschen unterstützen sowie dessen Handlungsfähigkeit und die Kommunikation ermöglichen. Wie lässt sich nun jedoch das entwickelte Identitätskonzept für die historische Analyse erkenntnisfördernd anwenden und welche historischen Erkenntnisse können durch welche Herangehensweisen und Fragestellungen erschlossen werden? 1.6.3. Eine Identitätskonzeption für den Zugang zu historischen Erkenntnissen Die von mir entwickelte theoretische Konzeption von Identität ist für die historische Herangehensweise von Vorteil. Denn es erweitern sich aus den genannten Eigenschaften eines prozesshaften Identitätsmodells die historischen Gegenstandsfelder, anhand derer die zeitgenössischen Identitätsvorstellungen konstruiert werden können. Wird eine substantielle Identitätsvorstellung als Prämisse vorausgesetzt, reduzieren sich die Erkenntnismöglichkeiten, denn mit einer solchen Grundannahme existieren viele identitätsthematische Gegenstandsfelder nicht, wodurch ein von allgemeinen Kategorien sowie Stereotypen geprägtes Erklärungsmuster entsteht. In den überwiegenden Forschungsdarstellungen vormoderner Gesellschaftsformen, in denen eine absolute Determination der Individuen durch die Gemeinschaft behauptet wird, exemplifiziert sich diese Vorgehensweise.292 Die prozesshafte Grundannahme von Identität erfordert es hingegen, sich den zeit-, orts- sowie akteursspezifischen Konstellationen zuzuwenden, die Pluralität von Identitätsvorstellungen in den vergangenen Gesellschaften anzuerkennen und dadurch ein vielschichtigeres Bild historischer Identitätskonzepte zu entwerfen. Allein dieses Zugeständnis an die historischen Akteure, über (potentiell) komplexere Selbstbilder verfügt haben zu 292 Erinnert sei an Harböcks Identitätskategorie des ständischen Typus. (Siehe oben.)

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können, die darüber hinaus allen damaligen Gesellschaftsangehörigen als zur Verfügung stehend betrachtet und nicht nur einigen sozialen Gruppen oder Individuen zuerkannt werden,293 stellt schon ein Erkenntnisgewinn dar. Denn damit verlieren homogenisierende und vereinfachende historische Darstellungen an Plausibilität. Die konkreten Selbstwahrnehmungen und Selbstbilder historischer Akteure werden sich zwar niemals erschließen lassen, dessen ist sich inzwischen selbst die Selbstzeugnisforschung bewusst.294 Mithilfe der Konstruktion der Rede- und Denkweisen von Identität lässt sich jedoch zumindest herausfinden, welche Vorstellungen zu welchen Zeiten in öffentlichen Diskursen vorhanden waren und welche potentiellen Identitätsangebote den jeweiligen Zeitgenossen damit verfügbar schienen. Zu ermitteln gilt es also, wie das Individuum in den Ratgeberquellen konstruiert worden ist. Welche Wertvorstellungen und Eigenschaften werden dabei als grundlegende Charakteristika, welche als Feindbilder beschrieben? Welche Wertigkeit ist dem Individuum als einzelnes Wesen zugesprochen und welches Verhältnis ist zu den potentiellen Kollektivkategorien konzipiert worden? Wurde der Einzelne als ein Wesen verstanden, welches im Rahmen einer göttlichen Ordnung einen fest zugewiesenen Platz einnehmen soll oder obliege es der individuellen Verantwortung, selbst einen Platz in der Gesellschaft zu finden? Skizziert man eine Erwartungshaltung im Sinne der Vormoderne-Moderne-Erzählung und Individualisierungsthese, müsste für das 18. Jahrhundert vor allem das Eingebundensein und die vorherbestimmte Verortung der Individuen in der Gemeinschaft als dominante Sichtweise in den Ratgeberquellen vertreten worden sein, während im Verlauf des 19. Jahrhunderts dann ein Wandel beschrieben worden sein müsste, bei dem das Heraustreten des Individuums aus den zuvor determinierenden Strukturen, die Herausbildung von Selbstwahrnehmungen sowie eine Selbstfokussierung von den zeitgenössischen Akteuren thematisiert wird. Entsprechend meiner These vermute ich hingegen, dass kollektive Bezugsgruppen über den gesamten Untersuchungszeitraum von 1750 bis 1900 als die entscheidenden Identitätskategorien von den Ratgeberautorinnen dargestellt worden sind und sich Denkweisen von Identität bereits in den vormodernen Erziehungsratgebern nachweisen lassen, weswegen Identität nicht als ein Produkt moderner Gesellschaften charakterisiert werden kann. Interessant wird es zudem sein herauszufinden, ob sich zeit-, orts- oder akteursgruppenspezifische Präferenzen in den Identitätskategorien herauskristallisieren und sich daraus grundlegende zeitgenössische Sichtweisen über Identität und deren Konstruktionsfaktoren ableiten lassen. 293 Wie bereits aufgezeigt, werden spezifischen Gruppen von historischen Akteuren wie Gelehrten oder Adligen oftmals von dieser Forschungszuschreibung ausgenommen. (Siehe oben.) 294 Vgl. Hämmerling, Christiane/ Zetti, Daniela. Einführung. In: dies. (Hrsg.). Das dokumentierte Ich. Wissen in Verhandlung. Zürich 2018. S. 7–15. Hier: S. 13f.

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Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

Finden sich für den gesamten Untersuchungszeitraum gar zentrale Charakteristika in den Identitätskonzeptionen? Anhand der Untersuchung von Erziehungsratgebern lassen sich Antworten auf diese Fragen formulieren und damit historische Identitätsvorstellungen konstruieren. Im folgenden Kapitel werde ich aber zuerst einmal aufzeigen, dass Erziehungsratgeber eine nutzbare Quellengattung mit großem Erkenntnispotential darstellen.

2.

Ratgeber als Quellenmedium

2.1.

Forschungsstand und Erkenntnispotentiale

Innerhalb der Wissenschaft finden sich zwar einzelne Zweige, in denen bereits historische Ratgeber als Quellen genutzt worden sind,295 in der Geschichtswissenschaft stecken solche Forschungen jedoch noch in den Anfängen.296 Dies ist überraschend, da Ratgeber doch eine geeignete Quellengattung darzustellen scheinen. Schließlich sind es gerade diese, welche sich nicht nur gegenwärtig, sondern schon in vergangenen Zeiten großer Aufmerksamkeit erfreuten.297 Dazu 295 In der Pädagogikforschung wurden in den 1980er und 1990er im Zuge der Beschäftigung mit der historischen Genese des eigenen Fachbereichs sowie bei der Erschließung historischer Erziehungskonzepte Ratgeber als Quellengattung genutzt. (Vgl. Marré, Beatrice. Bücher für Mütter als pädagogische Literaturgattung und ihre Aussagen über Erziehung (1762–1851). Ein Beitrag zur Geschichte der Familienerziehung. Weinheim/Basel 1986.) (Oder: Fuchs, Michaela. »Wie sollen wir unsere Kinder erziehen?«. Bürgerliche Kindererziehung im Spiegel der populärpädagogischen Erziehungsratgeber des 19. Jahrhunderts. Wien 1997.) In der Literaturwissenschaft ist seit knapp zehn Jahre eine erhöhte interdisziplinäre Beschäftigung mit der Thematik Ratgeber zu beobachten. In Sammelbändern wie Guter Rat – Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900–1940 oder Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen bilden Ratgeber die Quellengrundlage verschiedenartiger Untersuchungen. Eine intensive Beschäftigung mit Ratgeberquellen, die vor 1900 veröffentlicht worden sind, ist jedoch nicht festzustellen. Der bisherige Fokus in der Forschung konzentriert sich primär auf Ratgeberquellen aus dem 20. Jahrhundert. (Vgl. Hesse, Alexander/ Senne, Stefan. Genealogie der Selbstführung. Zur Historizität von Selbsttechnologien in Lebensratgebern. Bielefeld 2019. S. 29–34.) 296 Vgl. Duttweiler, Stefanie. Glück durch dich Selbst. Subjektivierungsformen in der Ratgeberliteratur der 1920er-1940er Jahre. In: Stephanie Kleiner und Robert Suter (Hrsg.). Guter Rat. Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900–1940. Berlin 2015. S. 41–59. Hier: S. 44. Eine Ausnahme in der historischen Forschung über Ratgeber vor dem 19. Jahrhundert stellt die Dissertation von Johan Lange dar. (Vgl. Lange, Johan. Die Gefahren der Akademischen Freiheit. Ratgeberliteratur für Studenten im Zeitalter der Aufklärung (1670–1820). Ostfildern 2017.) 297 Sowohl Keller als auch Klein/ Martinez behaupten einen Ratgeberboom um 1800. (Vgl. Keller (2008). Pädagogische Ratgeber. S. 67f.) (Sowie: Klein, Christian/ Martinez, Matias. Herausforderungen meistern, Krisen überwinden. Über Ratgeberliteratur aus narratologischer Sicht. In: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen. Ratgeber. 7. Jahrgang 2012.

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liefern Ratgebermedien einen Zugang zu zeit-, orts- sowie akteursspezifischen Ansichtsweisen genauso wie zu den alltagspraktischen Wissensbeständen, deren Analyse es somit vermag, deren Modifikationen und Entwicklungsprozesse aufzuzeigen.298 Darüber hinaus ermöglichen Ratgeberquellen es, Erkenntnisse zu historischen Identitätsvorstellungen zu konstruieren, da sie immer im Zusammenhang mit der Identitätsthematik stehen.299 Worin könnten jedoch die Ursachen begründet liegen, dass Ratgeber trotz deren hohen Erkenntnispotentiale bisher kaum in geschichtswissenschaftlichen Werken genutzt und das Quellenmedium immer noch nicht als Gattungsbegriff bzw. Quellentypus in diesem Forschungszweig definiert wurde? Ein Blick in die Genese des Mediums liefert erste Erklärungen.

2.2.

Historische Genese

Die Entstehung des Mediums der Ratgeber ist nicht, wie mehrfach in der Forschung postuliert,300 mit dem »Beginn« der Moderne verbunden! Trotz einzelner Aspekte, die für diese These sprechen,301 erweist sich die Behauptung als nicht plausibel. Dies ist zum einen in den oftmals schwammig skizzierten Kontextualisierungen der einzelnen Forschungen begründet, was genau unter Moderne eigentlich zu verstehen sei und in welchen Bereichen sich welche konkreten Modifikationen vollzogen hätten, die einen grundlegenden Wandel des Ratgebermediums und seiner Nutzung bedingt hätten.302 Zum andern spricht der

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Heft 1/2. Herausgegeben von David Oels und Michael Schikowski. Hannover 2012. S. 57–69. Hier: S. 59.) Vgl. Duttweiler (2015). Glück durch dich Selbst. S. 44. Sowie: Kleiner, Stephanie/ Suter, Robert. Konzepte von Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur (1900–1940). Eine Einleitung. In: dies. (Hrsg.). Guter Rat. Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900–1940. Berlin 2015. S. 9–40. Hier: S. 15 u. 34. Oder: Reckwitz (2010). Subjekt. S. 9f. u. 137f. Sowie: Göttmann (2012). »Identität«. S. 23. Siehe das Kapitel I Einleitung. Vgl. Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 58ff. Oder: Kleiner/ Suter (2015). Konzepte von Glück und Erfolg. S. 10. Als auch: Macho, Thomas. Was tun? Skizzen zur Wissensgeschichte der Beratung. In: Thomas Brandstetter, Claus Pias und Sebastian Vehlken (Hrsg.). Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft. Zürich 2010. S. 59–85. Hier: S. 81f. Im 18. Jahrhundert erfolgte eine quantitative Verdichtung von Ratgeberpublikationen (Vgl. Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 61.) und ab der Mitte des Jahrhunderts verschwindet der seit dem 17. Jahrhundert verbreitete Ratgebertypus der Hausväterliteratur. (Vgl. Keller (2008). Pädagogische Ratgeber. S. 50ff.) (Sowie: Zeller (2018). Ratgeber lesen. S. 73–76.) Als Beleg sei auf die Beiträge von Klein/ Martinez, Macho als auch Klein/ Suter verwiesen. In diesen wird der Forschungsbegriff Moderne ohne (kritische) Reflexion bzw. ohne Verweis auf den Forschungscharakter des Begriffes verwendet. Anstelle dessen wird die Erzählung

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Tatbestand dagegen, dass sich schon weit vor dem 18. Jahrhundert eine sowohl quantitative als auch thematische Vielzahl an unterschiedlichen Ratgeberformaten nachweisen lässt.303 Die Entwicklung des Buchdruckes ab der Mitte des 15. Jahrhunderts hat zu einer starken Ausweitung der Produktion und Verbreitung des Genres geführt, wodurch sich die Textart Ratgeber schon relativ frühzeitig als wichtige Produktsparte im Medium des gedruckten Buches etablieren konnte.304 Mit diesem Wachstum war eine Vervielfältigung der Themenfelder sowie der Adressaten verbunden. Ratgeber lieferten beispielsweise Anleitungen zur Ausübung von Herrschaft, zum Erlernen sozialer Praktiken, die der Bewältigung des Hoflebens dienlich waren,305 oder richteten sich schon im 16. und 17. Jahrhundert entweder an spezifische Akteursgruppen oder an eine breite Allgemeinheit und deckten eine ausgeprägte Bandbreite an Themen ab.306 Des-

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der einfachen Vormoderne und der komplexen Moderne reproduziert. Bei Macho und Klein/ Martinez werden zumindest Gründe genannt und Beispiele gegeben, worin sich ein Wandel vollzogen hätte, bei Kleiner/ Suter findet sich hingegen nichts. (Vgl. Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 58ff.) (Sowie: Macho (2010). Skizzen zur Wissensgeschichte. S. 81f.) (Als auch: Kleiner/ Suter (2015). Konzepte von Glück und Erfolg. S. 10f.) Neben der Hausväter-Form gab es schon im 16. und 17. Jahrhundert andere Ratgeberformate, weswegen der skizzierte Wandel in jener Sparte des Ratgebermediums nicht verallgemeinernd auf das komplette Ratgebergenre übertragen werden kann. Als Belege sei beispielhaft der Ratgeber des Pfarrer Peter Arbiter »Die regeln des Christlichen Ehestandes. Wie die Eheleute gegen einander nach Gottes willen leben sollen« angeführt, der 1553 in Magdeburg publiziert wurde, sowie auf die Vielzahl an weiteren, vor meinem Untersuchungszeitraum publizierten Werke und deren thematische Bandbreite verwiesen. (Siehe die im Quellenverzeichnis im Unterpunkt »Ratgeberquellen vor 1750« gelisteten Werke.) Vgl. Messerli (2010). Zur Geschichte. S. 30ff. Sowie: Zeller (2018). Ratgeber lesen. S. 62 u. 69– 76.) Die Kommunikationsform des Rat geben begann in seiner schriftlichen Form aber nicht erst mit dem Buchdruck, sondern lässt sich auch für das Mittelalter nachweisen. (Vgl. Macho (2010). Skizzen zur Wissensgeschichte. S. 77ff.) Des Weiteren stellte schon in der Antike das Rat geben eine wichtige kulturelle Tradition dar, wobei orale Vermittlungsmodi überwogen. (Vgl. ebenda. S. 62ff.) Zur theoretischen, sprachwissenschaftlichen Einbettung des Rat geben sei auf den Beitrag von Karl Renner in der Zeitschrift Non Fiktion sowie auf die Ausführungen von Michael Niehaus verwiesen. (Vgl. Renner, Karl. Massenmediales Ratgeben unter den Bedingungen der Medienkonvergenz. In: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen. Ratgeber. 7. Jahrgang 2012. Heft 1/2. Herausgegeben von David Oels und Michael Schikowski. Hannover 2012. S. 27–36. Hier: S. 29ff.) (Sowie: Niehaus, Michael. Logik des Ratgebens. Eine Standardversion zur Beschreibung eines Typs von Sprechaktsequenzen. In: ders. und Wim Peters (Hrsg.). Rat geben. Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns. Bielefeld 2014. S. 9–63.) Diese thematische Reduzierung von Vorläuferformen von Ratgebern findet sich bei Klein/ Martinez. (Vgl. Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 59.) Vgl. Freist (2013). Praktiken der Selbst-Bildung. S. 165f. Dieser Tatbestand wird zudem anhand des Forschungsgegenstandes und Zeitrahmens von Langes Werk (Vgl. Lange (2017). Ratgeber für Studenten (1670–1820). S. 18ff.) sowie anhand der im Literaturverzeichnis aufgelisteten Ratgeberwerke veranschaulicht, die vor 1750 veröffentlicht worden sind. Allein anhand von deren Titeln wird offensichtlich, dass seit dem 15. Jahrhundert eine unterschiedliche Adressatengruppen (Studierende, Richter, Schultheiße, Amtspersonen, Gesel-

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wegen ist die Behauptung nicht überzeugend, dass sich im 18. Jahrhundert das Lesepublikum der Ratgeber ausdifferenziert hätte und dies eine neue Entwicklung gewesen wäre, die als Beleg für einen Wandel des Ratgebermediums gelten könne.307 Anstelle dessen spricht vieles dafür, dass sich dieser Prozess schon im Verlauf des 16. Jahrhunderts in Folge des sich verbreitenden, neuen Buchdruckverfahrens vollzogen hätte.308 Veränderungen im Ratgebergenre kristallisieren sich für das 18. Jahrhundert aber im Bereich der quantitativen Verdichtung, einer modifizierten Legitimation309, im Verschwinden einiger Ratgebertypen sowie dem Auftauchen anderer Medienformate heraus. Anstelle des Buches als wesentliches Medium des Rates wären weitere Formate wie »periodisch erscheinende Kalender, die Moralische Wochenschrift und die Frauenzeitschriften, seit dem 19. Jahrhundert die illustrierte (Familien-)Zeitschrift, die Zeitung, das Magazin«310 hinzugekommen. Charakteristisch für das 19. Jahrhundert wären neben dem Expansionsprozess der Ratgeberformate zudem die Erweiterung der Autorengruppe gewesen. Im bis dahin von Männern dominierten

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len, Schwangere, Hebammen) angesprochen und eine umfangreiche thematische Varianz in den Ratgebern (Schulden, Befestigung von Städten und Schlössern, Handel, Trauer, Religion, Schutz vor der Pest, Gesundheit und Behandlung von Pferden) behandelt wurde. (Siehe den Unterpunkt 6.1.3. Ratgeberquellen vor 1750.) Vgl. Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 61f. Selbstverständlich muss bei dieser Frage die Alphabetisierung berücksichtigt werden, weil diese schließlich eine Grundvoraussetzung für den direkten Konsum der Ratgeber bildete. Da es für die Zeit vor 1800 kaum serielle Quellen gibt, aus denen die Verbreitung der Leseund Schreibfähigkeiten bemessen werden kann, gilt es solcherlei Angaben aber mit Vorsicht zu betrachten. Denn in gängigen Handbuchdarstellungen resultieren die numerischen Angaben für die Zeit vor 1800 immer aus einer Extrapolation eines oder mehrere Parameter. (Vgl. Maas, Utz. Was ist Deutsch? Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland. München 2012. S. 137ff.) Deswegen sind solche Zahlen als Orientierung zu begreifen und kritisch zu kontextualisieren. Oftmals liegen diesen auch gegenwärtige oder gar historische Stereotype oder Topoi zugrunde. Gerade im 18. Jahrhundert bildete die Erzählung der »ungebildeten Landbevölkerung« ein im Intellektuellendiskurs verbreitetes Topos, dass nicht aus einer Erhebung der Schreibfähigkeit resultiert hätte, sondern anderen Motiven der Autoren entsprang. (Vgl. ebenda.) Einige Befunde sprechen zudem für eine größere Verbreitung und Nutzung der Schriftkultur auf dem Land für das 16. und 17. Jahrhundert, (Vgl. ebenda. S. 202ff. u. 222f.) als es der in den heutigen Handbüchern oftmals angenommene, 25 %ige Anteil lese- und schreibfähiger Menschen in der Bevölkerung nahelegt. (Vgl. ebd. S. 137f.) Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass die in den Büchern enthaltenen Informationen aufgrund verschiedener Praktiken semioraler Vermittlungstechniken und -traditionen auch den lese- und schreibunfähigen Personen zugänglich sein konnten. (Vgl. Messerli (2010). Zur Geschichte. S. 35f.) Nach Zeller hätte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Veränderung in der Legitimation von traditionalen, religiösen oder metaphysischen Begründungen hin zu einer wissenschaftlichen Argumentation vollzogen. (Vgl. Zeller (2018). Ratgeber lesen. S. 76.) Messerli (2010). Zur Geschichte. S. 30.

100

Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

Verfasserfeld sind fortan Publikationen von Autorinnen zu verzeichnen,311 die zwar eine klare quantitative Minderheit im Autorenfeld bildeten, von denen es einigen jedoch gelang, sich als erfolgreiche Schriftstellerinnen zu etablieren.312 Diese Zunahme weiblicher Ratgeberverfasserinnen im 19. Jahrhundert stellt jedoch kein Argument dafür dar, dass sich an dessen Ende einer Zäsur im Ratgebergenre vollzogen hätte.313 311 Mein Quellenkorpus umfasst sieben Autorinnen – namentlich in alphabetischer Reihenfolge: Rosa Fischer, Wilhelmine von Gersdorf, Betty Gleim, Johanna Goldschmidt, Rosette Niederer, Marie Susanne Kübler sowie Johanna von Sydow -, deren Publikationen alle im 19. Jahrhundert erschienen sind. Für das 18. Jahrhundert habe ich in meiner Quellenrecherche nur einen Erziehungsratgeber gefunden, der von einer Autorin verfasst worden ist. (Vgl. Rebours, Marie Angelique le. Unterricht für Mütter, welche ihre Kinder selbst tränken wollen. Aus dem Französischen der Frau Anel le Rebours. Breslau 1772.) Weil das Werk jedoch eine Übersetzung ist, fiel es aus meinem Quellenkorpus heraus. (Siehe das Kapitel 2.4. Begriffsverständnis eines Ratgebers.) Dass es aber auch schon im 18. Jahrhundert vereinzelte Ratgeberwerke von weiblichen Verfasserinnen gegeben hat, veranschaulicht beispielsweise das Brandenburgische Koch-Buch von Maria Sophia Schellhammer. (Vgl. Schellhammer, Maria Sophia. Das Brandenburgische Koch-Buch. Die wohl-unterwiesene Köchinn. […] 2. Aufl. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1723.) 312 So veröffentlichte Betty Gleim zum Beispiel 15 Bücher, deren Bandbreite von einem Kochbuch, über politische Flugschriften bis hin zu pädagogischen Fachpublikationen sowie Ratgebern zählten. (Vgl. Pilz, Elke. Betty Gleim. Pädagogin aus Leidenschaft. In: dies. (Hrsg.). Bedeutende Frauen des 19. Jahrhunderts. Elf biographische Essays. Würzburg 2010. S. 9–22. Hier: S. 15f.) Auch Marie Susanne Kübler erlangte breite Aufmerksamkeit mit ihren Ratgebern, die zu vielen, auch posthum neu aufgelegten Auflagen sowie einem Nachruf in der Zeitschrift Die Gartenlaube führte. (Vgl. Scherr, Johannes. »Nur eine Hausfrau«. In: Ernst Keil (Hrsg.). Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt. Jahrgang 1873. No. 10. Leipzig 1873. S. 158–159.) 313 Kleiner/ Suter begründen ihre Zäsursetzung um 1900 für das Ratgebergenre unter anderem mit dem Aufkommen weiblicher Autorinnen sowie mit der Erschließung eines dezidierten weiblichen Lesepublikums. (Vgl. Kleiner/ Suter (2015). Konzepte von Glück und Erfolg. S. 11ff.) Weil sich jedoch schon während des 19. Jahrhunderts Autorinnen auf dem Buchmarkt behaupten konnten sowie weibliche Leser als Zielgruppe bereits erschlossen waren, was etwa aus dem Anstieg von Erziehungsratgebern zwischen 1780 bis 1850 geschlussfolgert werden kann, (Vgl. Keller (2008). Pädagogische Ratgeber. S. 67.) hält die gesetzte Zäsur einer kritischen Überprüfung nicht stand. Sie erweckt hingegen den Eindruck, mehr dem zeitlichen Rahmen des Forschungsprojektes zwischen 1900 und 1940 als den historischen Entwicklungen im Ratgebergenre zu entsprechen. Auf die Willkür der Grenzziehung von Kleiner/ Suter verweist sogar schon Helmstetter in seinem Aufsatz in deren Sammelband. (Vgl. Helmstetter (2015). Wille und Wege. S. 61.) Jede forschende Person ist zwar per se gezwungen, eine Vielzahl von eigenen Setzungen vorzunehmen, seien es zeitliche, inhaltliche oder auch in der Quellenauswahl, anders ließen sich Forschungsarbeiten weder erkenntnistheoretisch noch methodologisch realisieren. (Vgl. Landwehr, Achim. Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt/Main 2016. S. 9–30.) Diese von den Forschenden getätigten Setzungen jedoch als historische Zäsuren darzustellen, die angeblich nur in den jeweiligen historischen Zeitpunkten begründet wären, und die eigene Rolle und Verantwortung der Forschenden dabei außen vor zu lassen, gilt es aus erkenntnistheoretischer Sichtweise zu kritisieren und als unwissenschaftliche Praktik zu diskreditieren.

Ratgeber als Quellenmedium

101

Bei der Konstruktion einer historischen Genese von Ratgebern kristallisiert sich zudem die Problematik heraus, dass es keine einheitliche Vorgehensweise in der wissenschaftlichen Klassifikation von Ratgeberquellen gibt. Schon mit der quantitativen Zunahme des Mediums im 16. Jahrhundert ist die Schwierigkeit verbunden, die Textsorte des Ratgebers begrifflich konkret zu fassen. Denn neben der enormen Vielzahl an Selbstklassifizierungen von verschiedenen Ratgebertypen in den Quellentiteln314 finden sich in der Forschungsliteratur weitere Begrifflichkeiten,315 die entweder als Ratgeber firmieren, oder die mit Verweis auf vermeintliche, bei genauerer Betrachtung jedoch fragwürdig erscheinende Veränderungen316 als Vorläuferformen deklariert werden. Es existieren zwar einige Vorschläge in der Forschung für eine Klassifizierung bzw. für Kriterien, die einen Ratgeber ausmachen: zum Beispiel die Selbstlegitimation der Autoren in der Einleitung, Vorrede oder im Beitext,317 die Benutzung spezifischer rhetorischer 314 Aus meiner Quellensammlung allein ergeben sich folgenden Typbeschreibungen: Anweisungen, Anleitungen, Noth- und Hülfsbücher, Rathgeber, Belehrungsbücher, Trostbücher, Unterrichtsbücher, Kochbücher, Warnungsbücher, Handbücher, Erziehungslehre, RathBücher und Artzneybücher. (Siehe mein Quellenverzeichnis im Anhang.) 315 Begriffe wie Anstandslehren, Fürstenspiegel, Manierbücher, Hausväterliteratur, Complimentierbücher, Weltweisheits-Traktate, Prinzenerziehungsbücher oder Klugheitslehren finden sich in der Forschung. (Vgl. Freist (2013). Praktiken der Selbst-Bildung. S. 165f.) (Sowie: Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 58.) (Oder: Kleiner/ Suter (2015). Konzepte von Glück und Erfolg. S. 10.) (Als auch: Messerli (2010). Zur Geschichte. S. 30.) (Oder: Meyer-Sickendiek, Burkhard. Vorformen moderner Ratgeberliteratur. Die neuzeitlichen Klugheitslehren von Machiavelli bis Thomasius. In: Michael Niehaus und Wim Peters (Hrsg.). Rat geben. Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns. Bielefeld 2014. S. 159–178. Hier: S. 159f.) 316 Neben der gerade bereits widerlegten Annahme von einer sich im 18. Jahrhundert vollziehenden Ausdifferenzierung des Publikums findet sich bei Klein/ Martinez die Behauptung, dass erst ab diesem Zeitpunkt »flexible Grundideen präsentiert [werden], aus denen der Einzelne eigenverantwortlich situationsangemessene Reaktionen generieren kann« (Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 59.). Es wird also ein Mentalitätswandel suggeriert, der sich ab dem 18. Jahrhundert in den Ratgebern widergespiegelt hätte. Das Problem an dieser Darstellung ist jedoch, dass ausgeblendet wird, dass dem Ratgebermedium die Vermittlung von eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Handlungen per se inhärent ist. Denn Ratgeber offenbaren immer Handlungsoptionen, die den Lesenden für spezifische Situationen oder auch grundsätzliche Lebensweisen unterbreitet werden. Daraus resultiert einerseits das Wissen über die Pluralität an Möglichkeiten. Andererseits vermitteln sie den Konsumierenden, dass diese es sind, die über die Entscheidungsgewalt verfügen, weil diese über die Art der Rezeption des Buches sowie über die Umsetzung der Ratschläge bestimmen. Deswegen befördert jeder Ratgeber, auch die des 16. Jahrhunderts, die Eigenverantwortlichkeit der Rezipienten. (Vgl. Heimerdinger, Timo. Wem nützen Ratgeber? Zur alltagskulturellen Dimension einer populären Buchgattung. In: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen. Ratgeber. 7. Jahrgang 2012. Heft 1/2. Herausgegeben von David Oels und Michael Schikowski. Hannover 2012. S. 37–48. Hier: S. 45.) (Sowie: Duttweiler (2015). Glück durch dich Selbst. S. 47.) 317 Vgl. Klein/ Martinez (2012). Herausforderungen meistern. S. 60f. Sowie: Helmstetter (2015). Wille und Wege. S. 88.

102

Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

Mittel wie »das Anschlagen eines autoritativen Tons [oder] den Gestus der Belehrung«318 oder die Inszenierung von Mündlichkeit durch die direkte Anrede der Lesenden.319 Eine kongruente Unterscheidbarkeit historischer Variationen sowie eine eindeutige Definition des Ratgeberbegriffes ergibt sich aus diesen jedoch nicht. Ferner finden sich viele unterschiedliche Begriffsvorstellungen innerhalb der Forschung, die entweder anhand einer eigenen Definition veranschaulicht oder ohne eine Präzisierung gebraucht werden.320 Die theoretische Einbettung des Genres erschwert die wissenschaftliche Quellennutzung von Ratgebern zusätzlich.

2.3.

Theoretische Probleme des Ratgebergenres

Eine weitere Schwierigkeit bei der Verwendung von Ratgeberquellen besteht in der Bewertung der Relevanz und Wirkmächtigkeit der Quellen. Zwar erreichte das Genre eine hohe quantitative Verbreitung und einige Exemplare erzielten viele Auflagen und Nachdrucke.321 Aus dem Erwerb eines Ratgebers können jedoch keine Rückschlüsse über den Lesekonsum und über die Umsetzung der nahegelegten Verhaltensweisen gezogen werden. Zudem sind die Nutzungsweisen eines Ratgebers schon immer von pluraler Art gewesen, sie können vielerlei Funktionen erfüllen: sie geben spezifische Handlungsweisen für konkrete Situationen vor, vermitteln Moral- und Wertvorstellungen, zeigen grundsätzlich die Potentialität der individuellen Gestaltbarkeit des Lebens auf, eröffnen damit einen unendlichen Phantasieraum für Wünsche oder alternative Selbstbilder, offenbaren neue Möglichkeitshorizonte, geben Zuspruch, bestärken Sichtweisen, liefern Argumente und Beispiele, dienen zur Unterhaltung oder als Glücksbringer und stellen allein im Bücherregal ein Objekt zur Re- und Präsentation, zur Dekoration sowie zur Distinktion dar.322 Des Weiteren fördern sie die Selbstbestimmung der Rezipienten, denn diesen obliegt sowohl die Entschei318 Duttweiler (2015). Glück durch dich Selbst. S. 48. 319 Vgl. Messerli (2010). Zur Geschichte. S. 32. 320 In Kleiner/ Suters Einleitung zum Sammelband Guter Rat – Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900–1940 sowie in Duttweilers Beitrag im selben Werk findet sich zum Beispiel keine Definition des Ratgeberterminus. (Vgl. Kleiner/ Suter (2015). Konzepte von Glück und Erfolg. S. 9–40.) (Vgl. Duttweiler (2015). Glück durch dich Selbst. S. 41–59.) 321 Als Beispiel sei Friedrich August von Ammons Ratgeber Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege angeführt, der noch im 19. Jahrhundert mindestens eine 38. Auflage erreicht hat. (Vgl. Ammon, Friedrich August von. Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege. Belehrungsbuch für junge Frauen und Mütter. 38. Aufl. Leipzig 1898.) 322 Vgl. Heimerdinger (2012). Wem nützen Ratgeber. S. 46f. Sowie: Helmstetter, Rudolf. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf. Experten für erfolgreiches Leben im falschen. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/10. 66. Jahrgang. Stuttgart 2012. S. 957–970. Hier: S. 960. Als auch: Duttweiler (2015). Glück durch dich selbst. S. 49f.

Ratgeber als Quellenmedium

103

dung, in welcher Art und Weise das Medium konsumiert wird, als auch welche Schlüsse und Reaktion daraus gezogen werden. Auch der dringlichste Appell für eine Handlungsweise vonseiten des Ratgebenden führt nicht per se zur deren Umsetzung durch den Raterhaltenden, sondern dieser besitzt immer die Entscheidungsgewalt.323 Es zeigt sich also, dass die Reichweite und Wirkweise von Ratgeberquellen schwer zu bemessen sind. Diese Quellengattung suggeriert zwar, eine hohe »TextPraxis-Relation«324 zu besitzen, sich an den Problemen und Sichtweisen der jeweiligen Zeitgenossen zu orientieren und aufgrund ihrer normativen Erscheinungsform direkte Rückschlüsse auf die zeitgenössischen Handlungsweisen und Lebenswelten zuzulassen. Dies entspricht jedoch einer Verzerrung, denn Ratgeberquellen wirken aufgrund ihrer pluralen Funktionalisierungspotentialitäten sowie der einseitigen Entscheidungsgewalt auf Seiten der Rezipierenden mitnichten normierend.325 Dieses dem Quellentypus inhärente Täuschungspotential schließt die wissenschaftliche Nutzung von Ratgebern als historische Quellen jedoch in keiner Weise aus. Es zwingt die Forschenden aber zu einem theoretisch besonnenen und transparenten Umgang.

2.4.

Begriffsverständnis eines Ratgebers

Es gilt also erstens immer zu bedenken, dass Ratgeberquellen nicht als eine Textsorte betrachtet werden können, in der historische Lebenswirklichkeiten festgehalten sind.326 Ratgeber ermöglichen zwar den Zugang zu zeitgenössischen Rede- und Denkweisen, dabei handelt es sich jedoch immer um eine spezifische Sichtweise der Verfassenden, die von individuellen Intentionen, von der Biographie und der Sozialisation der jeweiligen Akteure beeinflusst wird. Auch wenn sich die Autorinnen als Akteure auf dem öffentlichen Buchmarkt bewegten und ihnen die Absicht unterstellt werden kann, sich an den Bedürfnissen oder Sorgen 323 Vgl. ebenda. S. 47. Sowie: Heimerdinger (2012). Wem nützen Ratgeber. S. 45ff. In der Forschung existiert für dieses Phänomen der Begriff des »eigensinnigen Lesers«. (Vgl. Messerli (2010). Zur Geschichte. S. 43.) Diese in jeder Situation des Rat gebens vorherrschende Konstellation, die auch in einer Face-to-Face-/ gesprächsförmigen Beratung vorliegt, weil dem Beratenden letztlich die Entscheidungsgewalt obliegt, die Ratschläge umzusetzen, zu modifizieren oder zu ignorieren, wird durch das Medium Buch sogar noch verstärkt. Denn die Nutzung basiert auf Freiwilligkeit und folgt komplett den individuellen Handhabungen und Interessen der Lesenden. (Vgl. Duttweiler (2015). Glück durch dich Selbst. S. 47.) (Sowie: Kleiner/ Suter (2015). Konzepte von Glück und Erfolg. S. 13f.) (Sowie: Messerli (2010). Zur Geschichte. S. 33ff.) 324 Heimerdinger (2012). Wem nützen Ratgeber. S. 45. 325 Vgl. ebenda. 326 Eine solche Textsorte gibt es auch darüber hinaus nicht! (Siehe meine erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundannahmen im Kapitel 1. Begriffsreflexion.)

104

Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

ihrer Leserschaft oder dem angestrebten Publikum zu orientieren, allein um einen ordentlichen Absatz ihres Produktes zu erzielen,327 ist eine gewisse Zurückhaltung im Umgang mit Pauschalisierungen und Urteilen notwendig, die zu zeitgenössischen Charakteristika erklärt werden. Solche Beurteilungen von Diskursräumen sind nicht per se ausgeschlossen, sie bedürfen jedoch einer umfangreichen quantitativen Grundlage und sollten nicht aus der Analyse einzelner Werke abgeleitet werden.328 Zweitens ist jede forschende Person gezwungen, den Ratgeberbegriff genau zu definieren und die Kriterien der Quellengattung sowie -auswahl zu benennen. Ich verstehe unter Ratgeber buchförmige Publikationen, die außerhalb des wissenschaftlichen Feldes zu praktischen, am Alltag oder lebensweltlichen Umständen orientierten Fragen und Problemen Antworten und Lösungen anbieten. Andere Ratgeberformate wie Zeitschriften, Kalender, Katechismen oder im wissenschaftlichen Gewand geschriebene Verhaltenslehren werden von meiner Analyse ausgeschlossen. Als kennzeichnende Kriterien zur Bestimmung eines Ratgebers werden die Selbstklassifikation des Autors im Titel oder im Werk, selbstlegitimatorische Aussagen des Autors in der Vorrede oder in den Textpassagen,329 die Benennung eines Adressatenkreises bzw. Zielpublikums außerhalb der Wissenschaft als auch die Zuschreibungen des Verlegers oder Herausgebers im Vorwort betrachtet. Dabei muss nur eines von den genannten Kriterien erfüllt sein, damit es als Ratgeberquelle für meine historische Untersuchung in Frage käme. Des Weiteren werde ich mich auf deutschsprachige Veröffentlichungen konzentrieren,330 die sich mit dem Themenfeld der Erziehung befassten. Ansonsten wäre mein Quellenkorpus zu umfangreich und mein Forschungsvorhaben ließe sich nicht realisieren.

327 Im Vergleich zum wissenschaftlichen Diskurs sogenannter Gelehrter jeder Zeit müssen sich Ratgeberautorinnen viel mehr an der breiten Mehrheit der lese- und schreibfähigen Bevölkerung orientieren, da je nach Gegenstand der Ausführung alle Klassen, Schichten, soziale Gruppen potentielle Adressaten und Konsumenten darstellen konnten. 328 So geschehen bei Eitler, der mit Verweis auf eine einzige Ratgeberquelle ein pauschales Urteil für Erziehungsratgeber eines halben Jahrhunderts fällt. (Vgl. Eitler, Pascal. »Weil sie fühlen, was wir fühlen.« Menschen, Tiere und die Genealogie der Emotionen im 19. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag. 19. Jahrgang 2011. Heft 2. Herausgegeben von Gesine Krüger und Aline Steinbrecher. Köln/ Weimar/ Wien 2011. S. 211–228. Hier: S. 219. Fußnote 38.) Diese unwissenschaftliche Arbeitsweise wird von ihm noch gesteigert, in dem er in einer kurz darauffolgenden Fußnote die selbe Quelle, die zuvor als Erziehungsratgeber galt, nun als Kinderbuch deklariert und damit erneut eine verallgemeinernde Bewertung für dieses andere Genre zu belegen meint. (Vgl. ebenda. S. 219. Fußnote 42.) 329 Diese sind in der Forschung als ein ratgeberspezifisches Topoi beschrieben. (Siehe oben.) 330 Diese Reduktion ist notwendig, weil die Anzahl der Quellen ansonsten zu groß wird. Übersetzte Werke ins Deutsche werde ich auch nicht berücksichtigen.

105

Ratgeber als Quellenmedium

Der Untersuchungszeitrahmen von 150 Jahren wurde von mir in der Annahme gewählt, anhand dieser langen Zeitperiode einen besseren Querschnitt und Überblick über die unterschiedlichen Identitätsmodelle und Eigenheitsvorstellungen konstruieren zu können und mit dem Zeitrahmen zwischen 1750 bis 1900 besonders die Forschungsnarrationen der sich um 1800 herausbildenden Moderne sowie der Individualisierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert verifizieren zu können.331 Zusammengenommen werde ich 50 deutschsprachige Erziehungsratgeber untersuchen, deren Publikationen sich über den Zeitraum zwischen 1750 bis 1900 verteilen. Damit eine bessere Übersicht und Lesefähigkeit entsteht, unterteile ich den Untersuchungszeitraum in sechs Teilperioden, siehe Tabelle 1. Ausschlaggebend bei der Einteilung war eine ungefähre gleichen Anzahl an Ratgeberquellen in jeder Zeitphase. Tabelle 1: Übersicht über den Quellenkorpus hinsichtlich der zeitlichen Verteilung der Werke, der Anzahl der Ratgeberautoren und deren Geschlechtereinordnung. Teilperiode I. 1750–1774

Anzahl der Anzahl Erziehungsratgeber Ratgeberautoren 8 6

Davon männlichen Geschlechtes 6

Davon weiblichen Geschlechtes 0

II. 1775–1800 8 III. 1801–1820 8

6 7

6 5

0 2

IV. 1821–1850 8 V. 1851–1870 9

8 9

6 7

2 2

VI. 1871–1900 9 insgesamt: 50

9 45

8 38

1 7

Wie es in der Tabelle 1 zudem ersichtlich wird, ist die Mehrheit der untersuchten Erziehungsratgeber von männlichen Verfassern geschrieben worden, wobei im 19. Jahrhundert auch Werke weiblicher Autorinnen Bestandteile des Quellenkorpus sind.332 Des Weiteren werden von fünf Autoren jeweils zwei Ratgeberwerke untersucht, weswegen die Gesamtanzahl der Verfassenden 45 beträgt. In der Analyse konzentriere ich mich auf die Textanalyse, in den Erziehungsrat331 Die Zeitgrenzen habe ich auf 1750 ab- und auf 1900 aufgerundet, obwohl meine erste zu untersuchende Quelle 1752 und die letzte Quelle 1898 publiziert wurde, weil sich abgerundete Forschungszeiträume meiner Meinung nach besser verkaufen lassen. 332 Dass ich Geschlecht nicht im Sinne einer binären Aufteilung zwischen Mann und Frau verstehe, habe ich bereits veranschaulicht. (Siehe Unterkapitel 1.5.2 Geschlecht.) Weil ich von den Quellenverfassern jedoch keine weiteren Ausführungen zu deren eigenen Geschlechtsbildnis gefunden habe und in allen Werken durchweg eine binäre Aufteilung vermittelt wird, unterteile ich die Autoren entsprechend dieser vereinfachten Unterscheidung.

106

Theoretische und methodologische Vorüberlegungen

gebern enthaltene Illustrationen wie etwa die Titelbilder schließe ich von meiner Analyse aus.333 Es sind nun also alle definitorischen Voraussetzungen erfüllt, um eine geschichtswissenschaftliche Analyse von Erziehungsratgeberquellen zu vollziehen.

333 Diesen Hinweis verdanke ich dem Workshop »Konstruktivistisches, wissenschaftliches Arbeiten in den kulturwissenschaftlich arbeitenden Geisteswissenschaften – Theorie und Methoden in der Dissertation«, der im Februar 2019 in Potsdam stattgefunden hat.

III

Quellenuntersuchung

3.

Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven in den deutschsprachigen Erziehungsratgebern zwischen 1750 bis 1900

Aufgrund des langen Untersuchungszeitraumes, der hohen Anzahl an Ratgeberquellen sowie der umfangreichen Analyse sowohl in einem quantitativ-numerischen als auch in einem qualitativ-inhaltlichen Sinne werde ich mich im ersten Unterpunkt auf die historischen Konzeptionen und Bewertungsweisen der Kategorie des Einzelnen und auf die Vorstellungen von Eigenheit und Individualität konzentrieren und in diesem Zuge alle von mir untersuchten Quellen chronologisch nach den Publikationsjahr bearbeiten. Bei der jeweils ersten Verwendung einer Quelle werde ich diese jeweils kurz einführen, die Autoren kontextualisieren und aufzeigen, warum es sich bei dem Werk um einen Erziehungsratgeber handelt.334 Der Umfang dieses Unterkapitels fällt deswegen recht umfassend aus, weshalb ich in den darauf folgenden Kapiteln stärker systematisieren werde. Dabei werde ich jeweils mehr einen Überblick über die verschiedenen Konzeptionsweisen der Kollektivkategorien, über deren quantitativen Verwendungen, deren Auswertung entsprechend der Kategorien in Tabelle 2 vorgenommen wird,335 sowie über die Bewertungsdimensionen der Kollektiveinheiten geben.336 334 Dabei werde ich zum einen Belege anführen, die es entsprechend meiner Ratgeberdefinition und Kriterien rechtfertigen, die Quelle als einen Erziehungsratgeber zu bezeichnen. Zum anderen wird eine soziale Kontextualisierung der Autoren vollzogen, bei der deren, über den Schriftstellertatbestand hinausgehenden Berufstätigkeit(en) anhand ihrer eigenen Werke, anderer zeitgenössischer Quellen oder mithilfe der Forschungsliteratur ermittelt werden, um einen Eindruck von deren sozialen Kontexten zu gewinnen. 335 Bei der quantitativen Erfassung der Begrifflichkeiten gilt es zu bedenken, dass es sich bei den genannten Werten immer um eine Mindestanzahl handelt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich noch darüber hinausgehende Ausdrucksverwendungen in den Werken finden, die ich übersehen habe. Von einer absoluten Vollzähligkeit ist also nicht auszugehen.

108

Quellenuntersuchung

Tabelle 2: Übersicht über die Auswertungsklassifikation des numerischen Vorkommens Kategorie abwesend

Numerische Anzahl an Begriffserwähnungen 0

sehr wenig wenig

1–2 3–9

mittel viel

10–14 15–30

sehr viel

>30

In der Auswertung des Wertzuspruches gegenüber den Identitätsformationen unterscheide ich zwischen sechs Klassifikationsbereichen: keine Bedeutung, nebensächlich, eine von mehreren, wichtig, sehr wichtig, allerwichtigste. Inhaltlich wird sich in der Quellenanalyse vor allem auf die im ersten Kapitel skizzierten Fragestellungen sowie auf die aus der jeweiligen Begriffskonstruktion resultierenden Spezifika jedes Terminus konzentriert. Das bedeutet, dass ich mich mit meinen verwendeten Begrifflichkeiten primär auf Quellenebene befinde. Die konkrete Verknüpfung meiner Ergebnisse mit den gegenwärtigen Forschungsdiskussionen rückt in diesem Kapitel in den Hintergrund und erfolgt primär im vierten Kapitel. Somit wird die Klarheit über die behandelten Sprachebenen und den Ort der Diskussion (Quelle oder Forschung) erhöht und die Transparenz gesteigert.

3.1.

Der Entwurf vom Einzelnen und von Individualität

Von der Abwesenheit bis hin zum Gedanken einer Essenz (1750–1774) Den Anfang meiner Untersuchung bestimmt Johann Gottlob Krüger,337 aus dessen Feder die im Verlauf des Jahres 1752 erschienenen Werke Gedanken von der Erziehung der Kinder. Erster Theil. Von der Bildung des Leibes338 sowie der Weil bei den zu analysierenden Begrifflichkeiten öfter mehrere Nutzungen auf derselben Ratgeberseite zu verzeichnen sind, deren explizite Angabe aber die ohnehin meist schon lange Aneinanderreihung von Zahlen noch erweitern würde, gebe ich diese Vielzahl an Begriffsnennungen auf einer Textseite nicht im Einzelnen an. Anstelle dessen verweise ich mit der Abkürzung MEV auf diesen Tatbestand. 336 In der Analyse der Geschlechtervorstellungen weiche ich von meiner Vorgehensweise ein wenig ab, weil ich bei dieser darauf verzichte, das numerische Vorkommen zu erfassen, da dieses Unterfangen aufgrund der Vielzahl an potentiell dazuzählenden Begrifflichkeiten ein endloses wäre. 337 Krüger erwarb sich den medizinischen Doktorgrad laut Meusels Lexikon 1742 und war daraufhin als außerordentlicher und ordentlicher Professor der Medizin und ab 1751 als Professor der Medizin und Philosophie an der Julius-Carls-Universität zu Helmstädt tätig. Eine außeruniversitäre Tätigkeit als Arzt schien er nicht ausgeübt zu haben. In seiner Pu-

Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven

109

dazugehörige, aber erst später im selben Jahr publizierte Zweyte Theil. Von der Bildung der Seele339 stammen.340 In seinem ersten Teil, diesen ersten Erziehungsratgeber341 meiner Analyse erfolgt eine Bezugnahme zur Kategorie des Einzelnen insgesamt nur an drei Textstellen, wenn Krüger zweimalig Eigenliebe und einmalig Eigensinn als eine Untugend darstellt.342 Abgesehen von diesen negativen Bewertungen findet weder die Kategorie des Einzelnen Erwähnung, noch der Begriff selbst Verwendung, weswegen die Abwesenheit anderer Ausdrücke wie Individuum oder Individualität als auch des Grundgedankens von Eigenheit nicht überrascht. Weil sich außer weniger Aussagen über die Menschen im Allgemeinen343 keine weiteren Verweise auf den Einzelnen feststellen lassen, wird die Kategorie als eine unbedeutende Formation in Krügers Identitätsmodell bewertet.344

338 339 340

341

342

343

344

blikationsliste finden sich Werke zur Naturlehre, zu Tieren und Steinkohle, zur Arzneigelehrtheit, zur Erziehung, Gott und Erdbeben. (Vgl. Meusel (1808). Schriftsteller-Lexikon. Siebenter Band. S. 381ff.) Krüger gilt es deswegen der akademischen und somit auch pädagogischen sowie der medizinischen Lebenswelt zuzuordnen. Krüger, Johann Gottlob. Gedancken von der Erziehung der Kinder. Erster Theil von der Bildung des Leibes. Halle 1752. Krüger, Johann Gottlob. Gedancken von der Erziehung der Kinder. Zweyter Theil von der Bildung der Seele. Halle 1752. Beide Werke wurden getrennt von- und nacheinander veröffentlicht, weswegen ich diese als jeweils eigenständige Quelle behandle. Die zeitliche Varianz beider Veröffentlichungen wird durch eine Rezension zu Krügers ersten Teil in der 17. Ausgabe der Freymüthige Nachrichten plausibilisiert. Denn dort heißt es: »Wir erwarten den andern Theil [sic!] dieser angenehmen Schrift mit Begierde« (Bodmer, Johann Jacob (Hrsg.). Freymüthige Nachrichten. Von neuen Büchern und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. Zehnter Jahrgang. XVII. Stück. Mittwochs, am 25. April 1753. Zürich 1753. S.136, Sp. 2.). Weil das Werk explizit an Eltern adressiert ist (Vgl. Krüger (1752). Gedancken. Erster Theil. S. 13 u. 89.) und sich selbst als »eine kleine Schrift […] von der Erziehung der Kinder« (Ebd. (Einleitung.) Seite 1 von 2.) beschreibt, betrachte ich dessen Klassifikation als Erziehungsratgeber als gerechtfertigt. So hätte etwa Eigenliebe den Menschen »Muth eingeflößt, die Grentzen [sic!] zu überschreiten, welche die Natur der Vernunft gesetzt hatte« (Krüger (1752). Gedancken. Erster Theil. S. 13f.), während jugendlicher Eigensinn der Unerfahrenheit der Protagonisten geschuldet und sich oftmals als deren Nachteil erweise. (Vgl. ebd. S. 71.) Die zweite negative Darstellung von Eigenliebe erfolgt aus Seite 61 des Werkes. So schreibt er etwa: »Menschen sind erschaffen, ihr Geschlecht fortzupflanzen« (Ebd. S. 87). Oder: »Der grosse Schritt, welchen ein Mensch in die Welt thut [sic!], denn so heißt der Punct [sic!] des Weltgebäudes, den wir bewohnen, dieser Schritt macht ihn auf einmal zu einem Bürgern der Welt« (Ebd. S. 46f.). Im zweiten Zitat veranschaulicht sich, wie der allgemein skizzierte Einzelne direkt mit einer Kollektivkategorie verbunden wird, in diesem Fall der Kategorie des Weltbürgertums. Nur drei Textstellen innerhalb eines Werkumfanges von 90 Seiten sind auffallend wenig. Zudem wird der Einzelne bzw. die Fokussierung auf das Eigene auch noch als etwas Negatives dargestellt.

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Quellenuntersuchung

Eine andere Konstellation kristallisiert sich in Krügers Zweyten Theil heraus,345 da in diesem Werk nicht nur einige Textstellen vorkommen, in denen die Kategorie des Einzelnen explizit thematisiert wird, sondern mehrfach Gedanken von einer Eigenheit346 der Menschen geäußert werden. So pocht er wiederholt darauf, dass Eltern die Neigungen und Fähigkeiten sowie die Verschiedenheit ihrer Kinder in der Erziehung berücksichtigen sollten347 und erwähnt, dass jedes Kind über seine eigene Maxime verfüge.348 Krüger deutet damit eine Eigenheit der Kinder an, die angeboren zu sein scheint, da er diese als ihre Natur bezeichnet,349 und rekurriert ohne die Verwendung des Begriffes auf die Kategorie des Einzelnen. Andere Begrifflichkeiten wie Individuum oder Individualität kommen nicht in Krügers zweitem Teil vor, womit es insgesamt ein Vorkommen der Kategorie des Einzelnen sowie des Gedankens von (menschlicher) Eigenheit zu verzeichnen gilt. Weil jedoch nur vereinzelte Bezugnahmen zur Einzelheit erfolgen,350 darüber hinaus die Aufforderung zur Unterordnung der Kinder als auch deren Bezeichnung als Untergebene wiederholt getätigt351 und als Erzie345 Für diesen zweiten Teil werden wiederholt Eltern (Vgl. Krüger (1752). Gedancken. Zweyter Theil. S. S. 72, 105, 123, 131, 138, 153, 171, 183 u. 196.) als auch Lehrmeister als Adressaten benannt, (Vgl. ebd. S. 36.) weswegen die Klassifikation als Erziehungsratgeber gerechtfertigt erscheint. 346 Es sei kurz darauf hingewiesen, dass der Begriff Eigenheit zumindest in diesem ersten Teil des Kapitels der Quellenanalyse überwiegend als ein Forschungsbegriff fungiert; kommt der Begriff selbst in den Quellen vor, setze ich diesen wie alle anderen Quellenbegrifflichkeiten zur besseren Kenntlichmachung kursiv. Wie im ersten Kapitel geschildert, betrachte ich den Eigenheitsbegriff als Teil meiner Individualitätsdefinition und verstehe darunter die Einzigartigkeit jedes Einzelnen. Eigenheit und Eigentümlichkeit verstehe ich dementsprechend als Synonyme. (Siehe das Kapitel 1.4.1. Begriffsgenese und eigene Definition.) 347 Vgl. ebd. S. 9, 20, 55 u. 103. 348 Ausführlich schreibt er: »es wird keine grosse Dialectik [sic!] dazu erfordert um einzusehen, daß es gewissen Maxime gebe, nach welchem alle Kinder urtheilen [sic!], ingleichen daß ein jedes Kind dabey [sic!] noch seine eigene habe« (Ebd. S. 76. Hervorhebungen von S.N.). 349 Denn er schreibt: »Prüfet daher die Neigung und Fähigkeit eurer Kinder sehr wohl, und hütet euch sie zu einer Lebensart zu bestimmen, welche wider ihre Natur ist« (Ebd. S. 103.). 350 An einer weiteren Textstelle wird auf den Einzelnen noch verwiesen: »Diese reitzende [sic!] Schöne ist die Naturlehre […], sie lehret uns selber kennen« (Ebd. S. 68.). Dazu wird Eigensinn, insgesamt zweimal erwähnt, als eine Untugend geschildert, die entsteht, wenn das Kind »seinen vollkommenen Willen gehabt hat« (Ebd. S. 71.). Bei einem gesamten Werkumfang von 222 Seiten sind dies sehr wenige Verweise auf den Einzelnen. 351 Krüger bezeichnet die Kinder nicht nur als Untergebene (Ebd. S. 43 u. 69.) und fordert Gehorsam, (Vgl. ebd. S. 138 u. 140.), sondern er legitimiert beim Auftreten eines Lasters den Einsatz von Schlägen: »Das eintzige [sic!] Laster, welches Schläge verdienet, ist die Halsstarrigkeit. […] und eure völlige Zuneigung nicht eher wieder zu erkennen geben, als bis er durch völligen Gehorsam sein voriges Verbrechen gebessert, und bewiesen hat, daß er entschlossen sey ein treuer Unterthan [sic!] seiner Eltern zu bleiben« (Ebd. S. 151ff. Hervorhebungen von S.N.). Die in diesem Zitat vorkommenden Steigerungsformen völliger Gehorsam und Untertan sowie die Legitimation von Prügel plausibilisieren meine Bewertung.

Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven

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hungsziel deren Nützlich- und Brauchbarkeit für die Gesellschaft angegeben wird,352 was ich als ein Indiz für eine präferierte kollektive Verortung deute, wird die Kategorie des Einzelnen als nebensächliche Einheit in Krügers Identitätsentwurf bewertet. Eine andere Konstellation bei der Verwendung und Bewertung der Kategorie des Einzelnen stellt sich in den beiden Ratgeberquellen353 von Johann Friedrich May heraus.354 In seinem Werk über Mädchen sind die Ausdrücke Einzelne, Individuum oder Individualität abwesend, auf die Kategorie des Einzelnen wird aber vereinzelt rekurriert und diese dabei ambivalent bewertet. Denn neben einer einmaligen, positiv konnotierten Erwähnung im Kontext einer Auflistung mehrerer relevanter Bezugsgruppen355 wird die Kategorie vor allem in Form der Untugenden Eigensinn, Eigennutzen und Eigenliebe angedeutet und als etwas negatives illustriert.356 Des Weiteren ist einmalig die Aufforderung an Lehrer vermerkt, dass diese ihren Unterricht nach den Fähigkeiten und Temperamenten der Kinder ausrichten sollten,357 womit der Gedanke einer individuellen Eigenheit skizziert wird, auch wenn offen bleibt, wie sich diese bilde. Es verdeutlicht sich aber, dass die Kategorie des Einzelnen sowie ein Gedanke von Eigenheit in 352 Vgl. ebd. S. 55, 63, 69 u. 100. 353 May, Johann Friedrich. Vorschläge zum glücklichen Unterricht eines jungen Frauenzimmers bis in das sechzehende Jahr. Als der andere Theil der Vorschläge zum glücklichen Unterricht eines Knabens bis in das sechzehende Jahr. Wobey zugleich die Pflichten eines Schülers gegen seinen Lehrer ausgeführet werden. Nebst einer Vorrede. Von dem glücklichen Zeitpunkte, worinnen die guten Anweisungen zur vernünftigen Kinderzucht größere Wirkungen thun werden als jetzo. Leipzig 1761. Sowie: May, Johann Friedrich. Vorschläge zum glücklichen Unterricht eines Knaben bis in das sechzehende Jahr, wobey zugleich die Pflichten und Kennzeichen eines wahren Lehrers, und wie Eltern in der Wahl desselben glücklich seyn können, gezeigt wird. Zweyte vermehrte Auflage. Leipzig 1762. Der 1761 erschienene Ratgeber für Töchter wird als andere Theil des auf Jungen spezialisierten Ratgebers angegeben, dessen zweite Auflage von 1762 mir vorlag. Dessen erste Auflage konnte ich nicht ausfindig machen. 354 Der Verfasser war laut Titelblatt als ein »der Politic und Sittenlehre öffentlicher Lehrer in Leipzig« (May (1761). Vorschläge junge Frauenzimmer. Titelblatt.) tätig. Bestätigt werden diese Angaben in einer Rezension zu Mays Ratgeber für Mädchen in den Neuer Zeitungen für gelehrte Sachen. (Vgl. Mencke, Friedrich Otto (Hrsg.). Neuer Zeitungen von gelehrten Sachen (1761). No. LXXXI. Leipzig, den 8. Oktober 1761. S. 681–682.). Der berufliche Hintergrund von May lag also im akademischen und pädagogischen Feld. 355 So schreibt May: »Beherrschen diese beyden [sic!] Vorzüge das Herz eines Frauenzimmers, so ist es wohl gebildet, und macht GOtt [sic!], und sich und der Welt Ehre« (May (1761). Vorschläge junge Frauenzimmer. S. 32.). 356 Jeweils zweimal wird Eigensinn (Vgl. ebd. S. 51 u. 74.) und Eigenliebe genannt (Vgl. ebd. S. 27,107) sowie viermal Eigennutz. (Vgl. ebd. S. 12, 15, 17 u. 114.) Alle Ausdrücke werden immer negativ konnotiert und etwa als Fehlentwicklung oder unangebrachtes Verhalten dargestellt. 357 Konkret heißt es: »Man weiß also, wie man nach dem Unterschiede der Fähigkeiten des Verstandes und der Temperamente sich im Unterrichte der Kinder auch unterschiedlich bezeigen solle« (Ebd. S. 60.).

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Quellenuntersuchung

Mays Ratgeber Erwähnung finden. Aufgrund von deren Seltenheit und der durchaus ambivalenten Darstellung der Einzelheit bewerte ich diese als eine von mehreren Identitätseinheiten. In Mays Ratgeber über Jungen358 zeigt sich dagegen ein verändertes Bild in der Beurteilung der Einheit, weshalb eine geschlechterspezifische Varianz wahrscheinlich erscheint.359 Zusätzlich zu der mehrmaligen Erwähnung der Kategorie des Einzelnen im Zuge einer Auflistung verschiedener Bezugskategorien360 findet sich erneut mehrfach die Aufforderung, die einzelnen Kinder kennenzulernen und den eigene Umgangsweise nach diesen auszurichten.361 Denn »die Subiecta [sic!] [wären] in ihren Fähigkeiten und Gemüthsneigungen mehrentheils [sic!] so verschieden«362. May deutet somit nicht nur die Unterschiedlichkeit der Einzelnen und deren Eigenheit an, über die jedoch keine weiteren Aussagen getroffen werden, weshalb der Bildungsprozess von Eigenheit unklar bleibt, sondern er benutzt dazu (zweimalig)363 den Subjekt-Terminus, der bislang in der Untersuchung noch nicht verzeichnet wurde. Inhaltlich verwendet May den Subjektausdruck als Synonym von Einzelnen, die Begriffe Einzelne, Individuum und Individualität kommen wiederum nicht im Werk vor. Im Ganzen zeichnet sich aber eine Anerkennung der Kategorie des Einzelnen ab, weil er eine Selbstverantwortlichkeit des Menschen postuliert364 und der Einzelne direkt in Form des Subjektbegriffes Erwähnung findet. Dazu werden aber Eigenliebe und Eigennutz als Untugenden der Jungen angegeben,365 weshalb die Einheit letztlich eine wichtige Identitätsformation in Mays Ratgeber für Jungen bildet. 358 Als Adressaten des Werkes werden Eltern und Lehrer angeführt. (Vgl. May (1762). Vorschläge Knaben. S. 93.) 359 Ausführlicher werde ich die geschlechterspezifischen Denkweisen im Kapitel 3.2.2. Die Funktionalisierung des Geschlechts aufzeigen. 360 Dargestellt etwa in einer Trias von unser selbst, Nächsten/Mitbürgers und ganzer Nationen (Vgl. ebd. S. 9.) oder in einem Tableau vom Einzelnen ( jeder Mensch), Vaterland/Bürger, Kirche/Christen und der Welt/Menschen. (Vgl. ebd. S. 62.) 361 So heißt es etwa an Lehrer gerichtet: »den Untergebenen, wie man sagt, kennen zu lernen, und so wohl seinen Unterricht selbst, als auch die Art des Vortrages, und des gänzlichen Umganges weislich darnach einzurichten« (Ebd. S. 74.). 362 Ebd. S. 29. Der Subjekt-Ausdruck ist dabei in lateinischen Buchstaben und nicht wie die restlichen Wörter des Satzes in Fraktur gedruckt, womit er exponiert wird. 363 An der zweiten Textstelle ist sowohl die Bedeutung des Begriffes als auch die Aussage identisch: »Die Mittel müssen allerdings nach den Subjecten [sic!] eingerichtet werden« (Ebenda. S. 20.). Der Begriff ist in diesem Fall jedoch nicht hervorgehoben durch eine Schreibweise in lateinischen Buchstaben wie in der ersten Nutzung, sondern ist in gleicher Frakturschrift wie die restlichen Buchstaben geschrieben. 364 Denn er schreibt: »Ist ein ieder [sic!] Mensch seines Glücks und Unglücks Schmidt, so muß er in diesen Jahren den Anfang auf besagte Weise machen« (Ebd. S. 62.). 365 Eigenliebe wird zweimalig (Vgl. Ebd. S. 16 u. 19.) und Eigennutz einmalig als etwas negatives dargestellt. (Vgl. ebd. S. 75.) Interessanterweise wird der Eigensinn-Terminus nicht im Werk verwendet, während er im Ratgeber über Mädchen vorkam.

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In Johann Friedrich Zückerts366 1765 veröffentlichten Ratgeber Von der dia¨tetischen Erziehung der entwo¨hnten und erwachsenen Kinder bis in ihr mannbares Alter367 wird zwar elfmalig auf die Kategorie des Einzelnen anhand von Begriffen wie der Jüngling, der Mensch, selbst oder einem jeden Menschen verwiesen,368 der Ausdruck selbst wird aber genauso wenig genutzt wie der Subjektbegriff.369 Wiederholt wird aber der Gedanke von Eigenheit skizziert, etwa wenn Zückert fordert, dass es die Eigenheiten der Kinder in der Erziehung zu beachten gelte.370 Aussagen über deren Entstehungsprozess werden jedoch nicht geäußert. Trotz der häufigen Verweise auf die Kategorie des Einzelnen sowie der Anerkennung von Eigenheit wird die Einzelheit nicht als wichtige Identitätskategorie entworfen, weil die Fokussierung auf das Eigene mehrfach in Form der Untugend des Eigensinns kritisiert371 und die Integration in kollektive Bezugsgruppen als das wesentliche Ziel der Erziehung dargestellt wird.372 Die Einheit wird demgemäß als eine von mehreren Identitätskategorien bewertet.

366 Zückert gilt es laut Meusel als einen promovierten und an der Universität arbeitenden Mediziner zu klassifizieren, (Vgl. Meusel (1816). Schriftsteller-Lexikon. Fünfzehnter Band. S. 472–475. Hier: S. 472f.) der dementsprechend sowohl dem medizinischen als auch der akademischen und somit auch pädagogischen Lebenswelt zuzurechnen ist. 367 Zückert, Johann Friedrich. Von der dia¨ tetischen Erziehung der entwo¨ hnten und erwachsenen Kinder bis in ihr mannbares Alter. Berlin 1765. Das Werk richtete sich primär an Eltern und Arzneigelehrte (Vgl. Zückert (1765). Diätetischen Erziehung. (Vorrede.) Seite 2 von 6.) und wird im Text indirekt als Ratgeber klassifiziert, wenn Zückert »meine Rathschläge [sic!]« (Ebd. S. 17) schreibt. 368 Vgl. ebd. S. 5, 57, 118, 119, 120, 138, 141, 241, 251, 254 u. 256. Dass Zückert der Kategorie des Einzelnen Wertschätzung entgegenbringt, veranschaulicht sich in folgender Textstelle: »Er wird also durch das Lesen solcher Bücher mit Gott, mit der Natur, mit sich selbst bekannter« (Ebd. S. 254.). Die Kategorie des Einzelnen wird demnach als eine relevante Entität dargestellt. 369 Interessanterweise ist der Subjektbegriff erst in der zweiten Auflage in einer synonymen Verwendung für den Einzelnen zu finden: »Aber robuste Subjecte [sic!] gestatten freylich [sic!] eine Ausnahme« (Zückert, Johann Friedrich. Von der dia¨ tetischen Erziehung der entwo¨ hnten und erwachsenen Kinder bis in ihr mannbares Alter. Zweyte verbesserte Auflage. Berlin 1771. S. 207f.). 370 So etwa sollten Eltern »sich dabey [sic!] nach dem Temperament, Stand, Gemüthsart [sic!], nach den herrschenden Leidenschaften und den Seelen Fähigkeiten des Jünglings richten« (Zückert (1765). Diätetischen Erziehung. S. 220.). Die Aufforderung zur Berücksichtigung der Eigenheiten der Kinder wird zudem weitere Male im Werk erwähnt. (Vgl. ebd. S. 206, 215 u. 217.) 371 Im Ganzen wird siebenmalig Eigensinn als eine Untugend angegeben. (Vgl. Zückert (1765). Von der diätetischen Erziehung. S. 2 von 6, 3, 69, 70, 105 u. 244. MEV.) 372 Zückert verweist allein fünfmal darauf, dass der Einzelne zum Nutzen des Staates existiere, zum Beispiel wenn er schreibt: »Solcher Mensch kann nur wenige Jahre mit seiner Gelehrsamkeit dem Staat dienen« (Ebd. S. 256.). (Für die weiteren Textstellen siehe: Ebd. S. 121, 122, 198 u. 255.)

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Quellenuntersuchung

In Andreas Meyers vermutlich373 1772 veröffentlichen Ratgeber Wie soll ein junges Frauenzimmer sich würdig bilden?374 sowie in Johann Werner Streithorsts 1773 publizierten Schrift Gedancken von Vermeidung schädlicher Eindrücke in der ersten Erziehung375 kommt die Kategorie des Einzelnen kaum vor. In Meyers an junge Frauenzimmer gerichtete376 Ausführungen wird die Einzelne nur zweimalig angedeutet, wenn von Eigensinn bzw. der Eigensinnigkeit als zu vermeidende Verhaltensweise die Rede ist.377 Ansonsten wird das einzelne (weibliche) Wesen nur im Hinblick auf den (zukünftigen) Mann gedacht. Selbst die

373 Das Erscheinungsjahr des Werkes ist unklar, da ein Stück des unteren Randes des Titelblattes fehlt, weswegen keine Jahreszahl, sondern nur der Ort ersichtlich wird. Weil die Vorrede des Verfassers auf den 16. November 1771 datiert ist, wird die Quelle im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin vermutlich mit dem Erscheinungsjahr 1771 geführt wird. Mir erscheint jedoch 1772 als Publikationsjahr wahrscheinlicher, weil dieses in einem zeitgenössischen Lexikoneintrag zum Verfasser angegeben wird. (Vgl. Gadebusch, Friedrich Konrad. Livländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung. Zweyter Theil. Riga 1777. S. 253.) Dies wäre in zeitlicher Perspektive mit der Datierung der Vorrede vereinbar, denn zwischen deren Verfassen und dem schussendlichen Druck und der Veröffentlichung vergeht und verging immer Zeit. 374 Meyer, Andreas. Wie soll ein junges Frauenzimmer sich würdig bilden? Zueignungsschrift an meine Schwestertochter. Leipzig 1772. In seiner Vorrede bezeichnet Meyer seine Darstellungen noch relativierend als »bloße Allgemeingedanken; alltägliche Gedanken« (Ebd. (Vorrede.) Seite 2 von 2.) während er am Beginn seiner Hauptausführung dann von Maximen spricht (Ebd. S. 7.) und im Text eindeutig Ratschläge erteilt, wenn er meint: »Doch rathe ich Ihnen« (Ebd. S. 22.). An der Klassifikation als Ratgeber besteht für mich deswegen kein Zweifel. Der Ratgeber von Meyer kann zudem als relativ erfolgreich betrachtet werden, weil das Werk mindestens fünf Auflagen erreichte und selbst die letzte noch im literarischen Zeitungsdiskurs besprochen worden ist. (Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1786. Vierter Band. October, November, Dezember. Numero 303. Mittwochs, den 20. Dezember 1786. Jena/ Leipzig 1786. S. 561.) Meyer hat anscheinend Theologie studiert und danach als »Hofrath in anspachbayreuthischen Dienste« gearbeitet und dabei in Kulmbach residiert, (Vgl. Gadebusch (1777). Livländische Bibliothek. S. 253.) womit sein Tätigkeitsbereich in der höfischen Verwaltung liegt. 375 Streithorst, Johann Werner. Gedancken von Vermeidung schädlicher Eindrücke in der ersten Erziehung. Wernigerode 1773. Der Aufsatz, wie Streithorst selbst das Werk in seiner Widmung beschreibt, (Vgl. ebd. Widmung.) umfasst lediglich 24 Seiten, was für mich jedoch kein Widerspruch, sondern eher ein Argument für die Klassifikation als ein Erziehungsratgeber darstellt. Denn zum einen wird ergänzend zum Titel der Schrift noch eine direkte Adressierung an Eltern und Lehrer erwähnt. (Vgl. ebd. S. 6.) Zum anderen vereinfacht ein reduzierter quantitativer Umfang die Konsumierbarkeit für die Rezipienten; weniger Produktions- und Zeitaufwand, schnellere Verarbeitung und vermutlich auch noch ein geringer Kostenaufwand. Johann Werner Streithorst hatte seit 1771 eine Predigerstelle in Halberstadt inne und war in dieser Zeit am selben Ort noch als Subkonrektor an einer Schule tätig; (Vgl. Meusel (1813). Schriftsteller-Lexikon. Dreyzehnter Band. S. 461–67. Hier: 461f.) er übte demgemäß eine pädagogische als auch theologische Tätigkeit aus, weshalb es ihn in beide Bereich einzuordnen gilt. 376 Vgl. Meyer (1772). Junges Frauenzimmer. S. 7. 377 Vgl. ebd. S. 24 u. 27.

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erteilten Ratschläge für die Verhaltensweisen in der Gesellschaft378 sollen dem Erreichen des Ehestandes und damit einhergehend dem Aufgehen im Gemeinsamen dienen.379 Andere Ziele werden von Meyer für jungen Frauen nicht angegeben. Der Begriff und die Kategorie einer weiblichen Einzelnen sind in seinem Ratgeber also genauso abwesend wie der Gedanke einer (weiblichen) Eigenheit. Die Kategorie der Einzelnen erfährt somit keinerlei Bedeutung. In Streithorsts Schrift wird zwar zweimalig der Gedanke von einer Eigentümlichkeit380 der Kinder illustriert, die es in der Erziehung zu berücksichtigen gelte, und dabei auch der Einzelne thematisiert.381 Wertschätzung wird der Kategorie jedoch trotz der erstmaligen Verwendung des Ausdruckes Eigentümlichkeit kaum zugesprochen, weil die Einheit ansonsten nur in einem negativen Kontext als Untugend des Eigensinnes382 Erwähnung findet. Weitere Bezugnahmen lassen sich nicht vermerken, weswegen die Formation nur eine nebensächliche Identitätskategorie bei Streithorst bildet. In Carl Daniel Küsters Sittliches Erziehungs-Lexikon383, dessen 1774 veröffentlichtes Werk laut Brachmann das erste »»Lexikon« […] in der deutsch-

378 Von Meyer verstanden im Sinne von Salons bzw. einer feineren, höheren Gesellschaft, nicht als soziale Großkategorie bzw. sozialer Raum. (Vgl. ebd. S. 14f., 16 u. 17.) 379 Während zu Beginn noch grundsätzlichere Bewertungen über die Ehe dargeboten werden, folgt darauf eine Schilderung der Herausforderungen und Anforderungen, um in den gesellschaftlichen Welten zu bestehen und dabei »alle Gattungen von Mannspersonen kennen [zu] lernen, um das Gute von dem Bösen zu unterscheiden« (Ebd. S. 9. Hervorhebungen im Original.), damit die richtige Wahl des künftigen Ehepartners getroffen wird. Die Ausführungen zu Ehe-Thematiken dominieren die Seiten des Ratgebers, womit dessen Fokus auf das Aufgehen der Frauen in der Ehe ersichtlich wird. 380 Ich verstehe diesen Begriff in synonymer Bedeutung zu dem bisher primär als Forschungsterminus von mir verwendeten Ausdruck von Eigenheit. (Siehe oben.) 381 Denn er sagt: »Aber sie sind es nicht für jeden, und man muß den eigenthümlichen [sic!] Hang der Kinder dabey nie aus den Augen fallen lassen« (Streithorst (1773). Gedancken zur Vermeidung. S. 20.), und führt kurz danach fort, »die kleinen Grundsätze der Kinder, ihr Temperament und eigenthümliche [sic!] Neigungen [zu] erforschen, und dieselben beständig in Augen [zu] behalten« (Ebd. S. 21.). 382 Jeweils enthalten in einer Auflistung mehrerer Untugenden. (Vgl. ebd. S. 9 u. 23.) 383 Küster, Carl Daniel. Sittliches Erziehungs-Lexicon, oder Erfahrungen und geprüfte Anweisungen. Wie Kinder von hohen und mittlern Stande, zu guten Gesinnungen und zu wohlanständigen Sitten können angeführet werden. Ein Handbuch für edelempfindsame Eltern, Lehrer und Kinder-Freunde, denen die sittliche Bildung ihrer Jugend am Herzen liegt. Erste Probe. Magdeburg 1774. Die auf dem Titelblatt des Werkes als Berufsbezeichnung unter seinem Namen angegebenen Abkürzungen »Magdeb. Conf. Rath, Inspect. und Pred.« (Ebd. Titelblatt)) lassen sich durch eine andere zeitgenössische Quellen schlüssig entziffern. In Samuel Baurs Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands von 1790 steht zu C. D. Küster geschrieben: »Königlich preussischer Konsistorialrath und Inspektor der reformirten Kirchen und Schulen im Herzogthum Magdeburg, wie auch erster Prediger der deutschen reformirten Gemeinde zu Magdeburg« (Baur, Samuel. Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands. Ein Handbuch für Erzieher. Leipzig 1790. S. 228–231. Hier:

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Quellenuntersuchung

sprachigen Erziehungspublizistik«384 darstelle,385 wird nicht nur öfters auf die Kategorie des Einzelnen verwiesen,386 sondern der Ausdruck wird selbst zweimalig benutzt,387 was bisher noch in keiner Ratgeberquelle der Fall gewesen ist. Des Weiteren skizziert Küster erstmalig für die Analyse einen Bildungsprozess von der Eigentümlichkeit des Menschen, deren Berücksichtigung eine Hauptmaxime für Eltern und Lehrer wäre.388 Eigentümlichkeit wäre göttlich prädestiniert, einem Menschen bereits im embryonalen Zustand gegeben389 und überdies von der Nationszugehörigkeit abhängig.390 Denn als Anforderung für einen Er-

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S. 228.). Er war dementsprechend sowohl als Theologe (der reformierten Kirche) als auch in der preußischen Verwaltung tätig. Brachmann, Jens. Der pädagogische Diskurs der Sattelzeit. Eine Kommunikationsgeschichte. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaften. (Band 30.) Bad Heilbrunn 2008. S. 340. Die Klassifikation als Erziehungsratgeber ist für Küsters Lexikon über jeden Zweifel erhaben, weil er sein Werk selbst beschreibt als »practischen [sic!] Erziehungs-Bemerkungen: in der Form eines Wörter-Buchs […] [welches] zu einem Handbuch, in den Erziehungsstuben bestimmet ist, wo es einer gewissen Classe von Eltern und Lehrern an Zeit, Geduld, oder Fähigkeit fehlet, ein Buch im Zusammenhange zu lesen« (Küster (1774). Sittliches Lexikon. (Vorrede.) Seite 3 von 4.). Damit rechtfertigt er nicht nur das (neue) Format, sondern benennt direkt seine Adressaten. Dazu erteilt er im Werk wiederholt Ratschläge, wenn er etwa dazu auffordert, »diesen Rath [sic!] zu befolgen« (Ebd. S. 163. Siehe auch: Ebd. S. 81 u. 103.) Wiederholt benutzt Küster Formulierungen wie jedes Kind, jeden Erzieher oder das Wort selbst für die Darstellung des Einzelnen. (Vgl. Küster (1774). Sittliches Lexikon. S. 10, 18, 42, 46, 48 u. 58.) Im Unterpunkt Gesetzmäßig heißt es: »der Jugend zu zeigen: „daß sich nicht alles für dem Gewissen eines einzelnen gutdenkenden Menschen rechtfertiget, was allgemeine LandesGesetze, zur Vermeidung größerer Uebel [sic!] verordnen, oder erlauben« (Ebd. S. 76. Hervorhebungen von S.N.). Die Textstelle wird zwar von Küster mit Anführungszeichen versehen, es finden sich aber keine weiteren Hinweise, dass es sich um ein Zitat handelt. Dies bleibt somit offen. Es findet sich noch eine zweite Begriffsnutzung im Unterpunkt Societät der Wissenschaften: »Das wahrhaftig Patriotische Geschäfte der einzelnen, ordentlichen Glieder« (Ebd. S. 141.). Vgl. ebd. S. 93. Dass die Eigenheiten der Kinder beachtet werden müssen, erklärt er zusätzlich zu deren Bezeichnung als Hauptmaxime sechs Mal. (Vgl. ebd. S. 18, 42, 93, 116, 152 u. 157.) So schreibt er: »Nach gewissen allgemeinen Gesetzen, welche der Schöpfer der Natur vestgesetzet [sic!] hat, werden dem Embrio [sic!], in seinem noch unbewußten Zustande gewissen Empfindungen, angenehm oder unangenehm. […] Das Kind tritt also schon mit Nerven in die Welt, welche im gewissen Grad geübt sind, und welche auch schon ihre eigenthümliche [sic!] Fähigkeit und Richtung erhalten haben« (Ebd. S. 152.). Küster entwirft damit also den Gedanken von einer göttlichen Prädestination der Eigenheiten. Der Nationsterminus wird inhaltlich primär in einer synonymen Bedeutung von Staat und Volk verwendet. So sagt er zum Beispiel: »so würden sich aus diesen allgemeinen Erziehungs-Regeln für alle Kinder aller Völker, sehr leicht die Pädagogie [sic!] für jede Nation – für jedes Alter […] endlich für jedes Kind insbesondere – erfinden lassen« (Ebd. S. 10.). (Eine ausführliche Auseinandersetzung findet sich im Unterpunkt 3.4.1. Staat und Nation als kollektive Bezugsrahmen des Einzelnen.)

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zieher des Regenten stellt Küster die Bedingung auf, dass „diese Erzieher aus dem eigenen Lande ausgehoben [werden müssen], denn sonst leidet der NationalCharakter“391. Mit dieser Kombination der Begriffe National und Charakter vermittelt Küster einerseits den Gedanken, dass es spezifische Eigenschaften von Völkern oder Nationen überhaupt gebe. Ein oder mehrere Merkmale werden als vorhandene Charakterformen aller Zugehörigen postuliert, dadurch alle Mitglieder generalisiert und mit spezifischen Eigenheiten ausgestattet, eben jenen National-Charakter. Gleichzeitig wird in diesem Zuge die Kollektivkategorie singularisiert. Andererseits knüpft Küster die Zugehörigkeit zur Nation an das Kriterium der Herkunft, die über die Zugehörigkeit zu dieser Einheit bestimme. Die Wichtigkeit dieses Kriteriums in Küsters Sichtweise verdeutlicht sich in der expliziten Hervorhebung der Wörter aus dem eigenen Lande.392 Die Herkunft bedinge damit die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Nationsgruppe, die wiederum spezifische Charakterformen und somit Eigenheiten zur Folge hätte. Dementsprechend kann von einer Essentialisierung sowie Territorialisierung des Eigenheitsgedankens bei Küster die Rede sein, da bestimmte Eigenheiten an ein spezifisches Kollektiv inklusive eines (geographischen) Raumes geknüpft (Territorialisierung) und zu einer genuinen Wesenheit erklärt werden, die aus der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv resultierten (Essentialisierung). Für Küsters Lexikon kann somit festgehalten werden, dass die Kategorie des Einzelnen vermehrt Erwähnung findet, erstmalig in meiner Untersuchung der Begriff des Einzelnen verwendet sowie Eigenheit in einer zweifachen Art gedacht und dabei in einer essentialisierten Weise sowie in einer Verknüpfung mit der Nationskategorie entworfen wird. Die Formation des Einzelne wird als eine von mehreren Identitätskategorien bewertet. Denn Küster bezeichnet zum einen im Unterpunkt Eigensinn diesen und den Eigenwillen „als die Erbsünde der Jugend und der Erwachsenen“393 und stellt zum anderen die Nützlichkeit und Brauchbarkeit des Einzelnen für die Allgemeinheit in den Mittelpunkt.394 Weil er die Berücksichtigung der Eigenheit des Einzelnen aber als eine Hauptmaxime in der Erziehung bewertet, überträgt er der Formation auch Bedeutung, weswegen letztlich ein ausgeglichenes Maß an Wertzuspruch zu verzeichnen ist. Zusammenfassend zeigt die Analyse der ersten Teilperiode, dass im Ratgeberdiskurs zwischen 1750 bis 1774 sowohl die Grundvorstellung als auch der 391 392 393 394

Ebd. S. 130. Hervorhebung im Original. Siehe oben. Ebd. S. 38. Gleich zu Beginn seiner Ausführung formuliert er dieses, wenn er sagt: »Kinder in den Käntnißen [sic!] und Wissenschaften nach und nach unterrichten zu lassen, durch welche sie einst brauchbare Glieder in der menschlichen Gesellschaft werden können« (Ebd. S. 2.). Dieses ausgegebene Ziel wiederholt er Werk (Vgl. ebd. S. 115.) und betont überdies im weiteren Verlauf die notwendige Unterordnung des Einzelnen. (Vgl. ebd. S. 50 u. 83.)

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Quellenuntersuchung

Begriff des Einzelnen, der Subjektausdruck in einer synonymen Bedeutung von einem Einzelnen, Gedanken einer Eigenheit des Menschen sowie der Begriff der Eigentümlichkeit vereinzelt vorkommen. Die Ausdrücke Individuum und Individualität sind dagegen nicht zu verzeichnen gewesen. Eigenheitsvorstellungen werden in sechs der acht Quellen395 angedeutet oder entwickelt und mehrheitlich als ein einfaches Konzept von einer individuellen Eigentümlichkeit konzipiert. Einmalig ließ sich zudem ein zweifaches Modell von einer individuellen sowie einer nationalen Eigenart konstruieren. Hinsichtlich der Bewertung der Kategorie des Einzelnen stellt sich mehrheitlich eine geringfügigere Bedeutung heraus, da die Einheit einzig in Mays Ratgeber über Jungen als eine wichtige Identitätskategorie bewertet worden ist.396 Vom Einzelnen zur Individualität und Abwesenheit (1775–1800) In Konrad Friedrich Udens 1783 erschienenen Werk Über die Erziehung der Töchter des Mittelstandes397 wird erstmalig in meiner Quellenanalyse der Individualisierungsausdruck verwendet. Unter »Individualisirung« versteht Uden die Autorenstilistik, »oft in dem Buch von mir selber [zu] rede[n]« und »seine Gedanken individuell zu machen«398. Der Terminus wird also im Sinne von eigenen, persönlichen Angelegenheiten bzw. individuellen (Lebens-)Erfahrungen verstanden, welche ein Autor im Werk als Stilmittel einsetzen sollte, und nicht auf Charaktereigenheiten eines Einzelnen bezogen. Den Gedanken einer charakterlichen Eigenheit des Menschen entwirft Uden aber auch, wenn er postuliert: »Ein jeder Mensch hat seine Bestimmung. Die Natur versah ihn mit Anlagen und mit Mitteln, diesen Endzweck, den sie mit ihm hatte, zu erreichen. Diese Bestimmung ist in

395 Einzig in Krügers erstem Teil und bei Meyer sind keinerlei Eigenheitsgedanken ermittelt worden. 396 In allen anderen Schriften ist der Kategorie des Einzelnen hingegen eine reduziertere Wertigkeit zugesprochen worden: drei Schriften fallen in das Feld eine von mehreren (Mays Ratgeber über Mädchen, Zückert und Küster), zwei in den Bereich nebensächlich (Krügers zweiter Teil und Streithorst) und in ebenfalls zwei Quellen erfährt die Einheit keinerlei Bedeutung (in Krügers erstem Teil sowie bei Meyer). 397 Uden, Konrad Friedrich. Über die Erziehung der Töchter des Mittelstandes. Stendal 1783. Udens Ratgeber, der laut eigenem Titelblatt sowie laut Baur als Arzt erst in Spandau und ab 1786 dann im russischen Dienst in Tscherginow in der Ukraine tätig war, (Vgl. ebd. Titelblatt. Als auch: Baur (1790). Charakteristik der Erziehungsschriftsteller. S. 523ff.) und somit als Mediziner zu klassifizieren wäre, benennt seinen spezialisierten Gegenstand direkt im Titel, woraus sich auch der Adressat ableiten lässt. Denn durch die Eingrenzung auf eine spezifische Standesgruppe (Mittelstand) sowie auf die Erziehung der Töchter kristallisieren sich Mütter und Väter bzw. Eltern als Zielgruppe heraus. Diese benennt er zudem im Werk als solche. (Vgl. Uden (1783). Töchter des Mittelstandes. S. 235.) Und weil er im Werk selbst Ratschläge erteilt, (Vgl. ebd. S. 215.) ist die Klassifikation als Ratgeber gerechtfertigt. 398 Beide Zitate sowie der Ausdruck Individualisirung, angegeben in seiner Originalschreibweise, sind zu finden: Ebd. (Vorerinnerung.) Seite 9f. von 11.

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zwei Perioden getheilet [sic!]. Die erste beschränkt sich auf das Leben, das wir besitzen; die zweite umfaßt ein anderes, das wir hoffen.«399

Beim Übergang von der einen in die andere Sphäre übertrüge sich der Einzelne »mit Empfindungen der übrigbleibenden Persönlichkeit«400. Uden kennzeichnet Persönlichkeit damit als eine durch die Natur determinierten Eigenheit, die sich über die physische Existenz des Menschen in der »diesseitigen« Welt erhielte und in einem kolportierten »Jenseits« fortbestünde.401 Im Persönlichkeitsbegriff verankert er also die Vorstellung einer individuellen Eigenheit, welche jedoch nicht nur durch die Natur und durch ein erhabenes Wesen vorherbestimmt,402 sondern auch von der nationalen Zugehörigkeit beeinflusst wäre. Denn Uden spricht von Formen eines spezifisch deutschen Grundcharakters sowie Gestalt und postuliert demgemäß die Existenz einer deutschen Eigenheit. Diese unterscheide sich von der anderer Nationen und müsste in der Erziehung beachtet werden, weswegen eine französische Erziehung nicht für deutsche Kinder geeignet wäre.403 Eine Essentialisierung von Eigenheit in Verbindung zur nationalen Zugehörigkeit wird demnach unverkennbar in Udens Ratgeber skizziert.404 Der Gedanke einer (charakterlichen) Eigenheit wird von ihm dabei aber mit dem Persönlichkeitsbegriff und nicht mit dem Individualisierungsausdruck verknüpft. Insgesamt stellt sich in Udens Ratgeber eine komplexe Denkweise einer doppelt determinierten (durch die Anlagen der Natur bzw. von Gott sowie durch die Nationszugehörigkeit), individuellen Eigenheit heraus. Der Einzelne, dessen 399 Ebd. S. 84f. 400 Ebd. S. 86. 401 In der zweiten Nutzung des Persönlichkeitsausdruckes im Werk erhärtet sich das skizzierte Begriffsverständnis. Dort schreibt Uden: »Alles bringe man auf den unsichtbaren, durch sie thätigen [sic!] Geist, der ihre Persönlichkeit ist; und auf das ebenfalls unsichtbare allein nicht zu verkennende erhabene Wesen zurück, das, wie sie selbst, geistiger Natur ist« (Ebd. S. 193. Hervorhebung im Original.). Er stellt Persönlichkeit demnach als eine geistige Eigenheit des Einzelnen dar, die verbunden wäre mit der göttlichen Wesenheit, weswegen sie auch nicht auf die physische, körperliche Existenz des Einzelnen begrenzt wäre, sondern darüber hinaus bestünde. 402 Vgl. ebenda. 403 Konkret schreibt er: »Es ist die größte Thorheit [sic!], deutschen Kindern eine französische Erziehung zu geben. Unser Vaterland, unsere Sprache, unser Grundcharakter, unsere Gestalt, sind so weit von den französischen unterschieden, haben vielleicht ihre Mängel, aber auch ihr Gutes« (Ebd. S. 146.). 404 Inwiefern sich diese essentialisierte Eigenheit in Anlehnung an Udens Unterteilung der menschlichen Existenz in eine lebendige und eine geistige Sphäre nur auf das »Diesseits« beschränke oder auch ins »Jenseits« transformiere, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Zwar bestimme sie den Einzelnen in seinem Wesen eindeutig mit, denn sie realisiere sich entsprechend des Dargestellten im Grundcharakter, weswegen in logischer Schlussfolgerung auch deren Transformation anzunehmen wäre. Allerdings findet dies an beiden Textstellen zum Persönlichkeitsausdruck keinerlei Erwähnung, weswegen es nicht aufzuklären ist.

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Quellenuntersuchung

Begrifflichkeit zwar selbst nicht vorkommt, jedoch mehrfach angedeutet wird,405 wird als eine von mehreren Identitätskategorien entworfen, da für Uden jedes menschliche Wesen primär als Teil eines Ganzen zu begreifen wäre.406 Jeder Mensch verfüge zwar über Eigenheiten in der jeweiligen Persönlichkeit, diese sollten aber zum Wohl aller in den bestimmten sozialen Rollen eingesetzt werden. Es wird vom Einzelnen dementsprechend eine Unterordnung erwartet. 1783 ist auch Joachim Heinrich Campes Theophron – Oder der erfahrene Rathgeber für die unerfahrne Jugend407 veröffentlicht worden, ein anscheinend erfolgreiches Werk,408 in dem erstmalig in meiner Analyse der Individualitätsterminus gebraucht wird. Im Zuge einer Verteidigung nutzt Campe zweimalig in seiner Vorrede den Begriff individuell im Sinne von Eigentümlichkeit bzw. Besonderheit.409 Des Weiteren nutzt er dessen substantive Form, wenn er schreibt: 405 Während drei Mal eigene Glückseligkeit, Mundart und Kräften (Vgl. ebd. S. 81, 149 u. 161.) geschrieben steht, findet sich fünfmalig der Hinweis auf den Einzelnen durch das Pronomen jede/r (Vgl. ebd. S. 50, 84, 110, 131 u. 195.) als auch einmal die Bezeichnung ihr Ich. (Vgl. ebd. S. 115.) 406 Der Einzelne wird nicht nur wiederholt als Mitglied einer bzw. mehrerer Gemeinschaft(en) dargestellt, (Vgl. ebd. S. 89, 90 u. 94f.) sondern Uden fordert mehrfach zur Aufopferung (Vgl. ebd. S. 25, 61, 62 u. 73.) und Uneigennützigkeit (Vgl. ebd. S. 73.) auf. Dazu werden zweimalig Eigensinn (Vgl. ebd. S. 49 u. 61.) und einmal Eigenliebe (Vgl. ebd. S. 49.) als Untugend bezeichnet sowie Freidenkerinnen als ein Feindbild skizziert, welches es zu verhindern gelte. (Vgl. ebd. S. 166.) Ein eigenständiges, unabhängiges Wesen soll demnach nicht als Resultat der Erziehung hervorgerufen werden. 407 Campe, Joachim Heinrich. Theophron. Oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Ein Vermächtniß für seine gewesenen Pflegesöhne, und für alle erwachsnere junge Leute, welche Gebrauch davon machen wollen. Zwey Theile. Hamburg 1783. Bei der Berufsklassifikation Campes, der bereits zum Zeitpunkt jener Veröffentlichung als ein anerkannter, sich im Feld der Erziehung verdient gemachter Mann galt, (Vgl. Baur (1790). Charakteristik der Erziehungsschriftsteller. S. 70ff.) ist nicht nur seine Arbeit als Pädagoge ins Auge zu fassen, sondern auch seine ursprüngliche Feldpredigertätigkeit zu berücksichtigen. (Vgl. Baur (1790). Charakteristik der Erziehungsschriftsteller. S. 67.) Er ist dementsprechend in beide Auswertungskategorien einzuordnen. Die Diskussion bezüglich der Klassifikation des Werkes erübrigt sich, weil in dessen Titel bereits die Selbstbezeichnung als Ratgeber vorhanden ist. 408 Es erreichte mindestens eine zwölfte Auflage, die noch im Jahr 1872 neu herausgegeben worden ist. (Vgl. Schicha, Nadine. Lesarten des Geschlechts. Joachim Heinrich Campes Jugendratgeber revisited. Bad Heilbrunn 2014. S. 154ff.) 409 Zu seiner Verteidigung, nur Auszüge aus der Übersetzung der Briefe des Grafen von Chesterfield im Werk anzuführen, führt Campe an, dass »manche Vorstellung und Erinnerung, welche in Rücksicht auf diese individuelle Bestimmung zweckmäßig war, für die meisten andern jungen Leute unnüz [sic!], manche sogar in hohem Grade schädlich sein würde. Ich getraue mir daher zu glauben, daß wohl keiner die von mir übernommene Bemühung, die besten und gemeinnützigsten Lebensregeln aus so vielen adern, theils [sic!] bis zum Ekel widerholten [sic!], theils zu individuellen, theils [sic!] auf zu leichtsinnige Sittenlehre gebauten Vorschriften auszuheben und sie diesem meinem Werkchen, um ihm eine größere Vollständigkeit zu geben, beizufügen, für überflüssig halten werde« (Campe (1783). Theophron. (Vorrede.) S. VIIf. Hervorhebungen von S.N.). Ersetzt man in dieser

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»So werden alle deine Fähigkeiten in gleichem Maaße entwikkelt [sic!] werden; so wird ein glükkliches [sic!] Gleichgewicht unter allen deinen Kräften herschen [sic!]; so wird endlich deine ganze Individualität den höchsten Grad von Volkommenheit [sic!] erreichen, welchen die Güte und Weisheit des Schöpfers in der gegenwärtigen Periode deines Daseins für dich bestimt [sic!] haben.«410

Unter Individualität versteht Campe demgemäß die Eigentümlichkeit eines Einzelnen, die sich im menschlichen Wesen, im Charakter und in den Fähigkeiten ausdrücke und die in Abhängigkeit zur göttlichen Prädestination stünde. Die Eigenheit wäre dem Menschen in den von Gott bestimmten Anlagen gegeben, müsste vom Einzelnen entwickelt und Zeit seines Lebens vervollständigt werden.411 Die Ausbildung von Individualität obliegt jedem Einzelnen demnach qua seiner Existenz als eine gottgegebene Pflicht. Campe gesteht mit dieser Begriffsbedeutung von Eigenheit dem Einzelnen grundsätzlich ein hohes Maß an Anerkennung zu, setzt der Kategorie des Einzelnen jedoch auch Grenzen. Denn er denkt die Selbstveredelung primär in einer kollektiven Funktionsweise: Wenn sich jeder in seinen Verhalten und Fähigkeiten verbessert, profitieren schlussendlich alle und die gesamte Gesellschaft davon, »[d]enn Gott hat seine Welt nicht für unthätige [sic!], blos [sic!] betrachtende Einsiedler geschaffen. Er will, daß der Mensch gesellig sei, und daß jeder das Maaß von Kräften, welches ihm verliehen worden sind, zum gemeinen Besten verwende.«412

Der Einzelne wäre demnach als ein kollektives Wesen zu denken und sollte als eigene (Lebens-)Zielsetzung die Verbesserung des Ganzen verfolgen.413 In diesem Sinne vermittelt Campe die Uneigennützigkeit und die Gemeinnützigkeit als wichtige Tugenden,414 kritisiert in vielfacher Weise die Fokussierung auf das Eigene415 und stellt, wie im Zitat ersichtlich wird, die Abkehr von der Gemein-

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Textstelle individuell mit den beiden genannten Wörtern, verändert sich der Inhalt der Aussage in keiner Weise. Die Beschreibungen des Grafen wären zu sehr auf dessen eigentümliche bzw. besondere Bestimmung bezogen sowie teils zu eigentümlich bzw. zu besonders. Ebd. S. 74. Wiederholt stellt Campe eine Vervollkommnung bzw. Veredelung als wichtige Tugend bzw. gar als »wahre Bestimmung des Menschen« (Ebd. S. 142.) dar. (Vgl. ebd. (Widmung). Seite 7 von 10, 74 u. 193.) Ebd. S. 19. Diese Bestimmung des Einzelnen als ein Mitglied mehrerer Kollektivformationen wird in weiteren Textstellen hervorgehoben. (Vgl. ebd. S. 25, 154, 200 u. 202.) Beide Begrifflichkeiten kommen überaus häufig in Campes Werk vor, da Uneigennützigkeit mindestens sechsmalig (Vgl. ebd. S. 121, 123, 125 u. 126. MEV.) und Gemeinnützigkeit mindestens zehnmalig als Tugenden angeführt werden. (Vgl. ebd. Seite 3 u. 7 von 10, III, VII, 3, 19, 27, 30, 70 u. 248. MEV.) Dabei verwendet er folgende Begrifflichkeiten: Eigenliebe (Vgl. ebd. S. 37 u. 128.), Selbstsucht (Vgl. ebd. S. 82, 113, 123, 125, 126 u. 217.), Eigensinn (Vgl. ebd. S. 101 u. 222.), Eigennutz (Vgl. ebd. S. 125, 153 u. 179.), Selbstgefälligkeit (Vgl. ebd. S. 152.) und Eigendünkel (Vgl. ebd. S. 160.) im durchweg negativer Konnotation. Die Quantität mag in Hinblick auf den Umfang

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Quellenuntersuchung

schaft als ein Feindbild dar. Der Einzelne soll also nicht im Mittelpunkt seiner selbst stehen, sondern bilde den Ausgangspunkt eines allgemeinen Verbesserungsprozesses, der mit der Arbeit an sich selbst beginne und sich auf das Ganze auswirken soll. Die Kategorie des Einzelnen steht dementsprechend nicht im Zentrum von Campes Identitätsentwurf. Dennoch wird ihr Bedeutung verliehen,416 weswegen sie als eine wichtige Identitätsformation bewertet wird. Mit der Begriffsverwendung von Individualität oder Individualisierung weichen Campe und Uden von den folgenden Ratgeberwerken meiner Analyse ab. Denn weder in Christian Gotthilf Salzmanns Anweisung zu einer unvernu¨nftigen Erziehung der Kinder, das 1788 veröffentlicht wurde,417 noch in Georg Friedrich Hoffmanns 1789 publizierten Ratgeber Wie ko¨nnen Frauenzimmer junge Mu¨tter gesunder Kinder u n d selbst dabei gesund und schön bleiben?418 wird die Kate-

der beiden Teile, der erste umfasst 270 Seiten, der zweite 192 Seiten, nicht überraschen, die vielfältige Varianz bei den verwendeten Begrifflichkeiten hingegen schon. 416 Dies spiegelt sich auch in den Begriffsverwendungen wider. Denn neben häufigen Verweisen auf die Kategorie anhand von Formulierungen wie jeder Mensch oder eigene/n (Vgl. ebd. S. 16, 19, 25, 32, 37, 49, 85, 95, 100 u. 200.) verwendet er sowohl den Einzelnebegriff einmalig (Vgl. ebd. S. 154.) als auch den Subjektausdruck in synonymer Bedeutung von diesem. Dazu kommt einmalig der Persönlichkeitsterminus vor, welcher als Synonym für die charakterliche Eigenheit des Einzelnen konzipiert wird. (Vgl. ebd. S. 37.) 417 Salzmann, Christian Gotthilf. Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder. Neue rechtmäßige, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Erfurt 1788. Um die erste Auflage des Werkes entbrannte ein Eigentumskonflikt, den der Verleger Georg Adam Keyser ausführlich in der Einleitung der zweiten Auflage im eigenst von ihm verfassten Nachschrift und Appellation an das ehrliebende Publikum thematisierte. (Vgl. ebd. S. XXIX bis XXXVIII.) Auch in der Rezension der Schrift in der Allgemeinen Literatur-Zeitung findet dieser Konflikt Erwähnung. (Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1789. Dritter Band. Julius, August, September. Numero 250. Montags den 17. August 1789. Jena/ Leipzig/ Wien 1789. S. 453f.) Diese Streitigkeit führte dazu, dass Salzmann direkt eine Überarbeitung und Erweiterung vornahm, die dann erneut veröffentlich wurde. (Vgl. ebd. S. XXXVII.) In seinen eigenen Ausführungen bezeichnet der Verleger Keyser die Schrift bereits als Krebs-Büchlein (Vgl. Salzmann (1788). Unvernünftige Erziehung. (Nachschrift und Appellation an das ehrliebende Publikum.) S. XXXVII.), wobei dieser Name noch nicht selbst auf dem Titelblatt der zweiten Auflage verzeichnet war, sondern erst ab der dritten Auflage von 1792. Unter diesem Titel Krebsbüchlein oder Anweisung… erlangte die Schrift dann eine weite Verbreitung. Einerseits wurde 1829 eine sechste Originalausgabe in Keysers Verlag veröffentlicht. Andererseits erschienen noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitere neue Ausgaben. Im Jahr 1947 publizierte zum Beispiel der Reclam-Verlag einen Neudruck. 418 Hoffmann, Georg Friedrich. Wie können Frauenzimmer frohe Mütter gesunder Kinder werden u n d selbst dabei gesund und froh sein. Frankfurt/ Leipzig 1789. Hoffmann wird auf dem Titelblatt der Schrift als ein »ausübende[r] Arzte zu Frankfurt am Main« (Ebd. Titelblatt.) bezeichnet und benennt sich dazu selbst im Werk mehrfach als ein solcher, (Vgl. ebd. S. XXII, 98, 127 u. 137.), weswegen es ihn als einen Mediziner zu verzeichnen gilt. Die Einordnung der Schrift als ein Ratgebermedium ist gerechtfertigt, weil er im Werk wiederholt Rat erteilt, (Vgl. ebd. S. 33, 37, 114, 115, 129, 137 u. 174.) grundsätzlich Ärzte als qualifizierte Ratgeber für Schwangere legitimiert (Vgl. ebd. S. 2, 15, 48, 62, 72, 80, 87, 99, 109,

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gorie des Einzelnen in einer umfangreicheren Art und Weise thematisiert. Salzmann419 deutet zwar sechsmalig ein einzelnes Wesen an und deklariert dazu viermalig Eigensinn als eine zu verhindernde Untugend,420 den Ausdruck selbst sowie den Gedanken von einer Eigenheit des Menschen erwähnt er jedoch nicht. Auch alternative Begrifflichkeiten werden von ihm nicht verwendet, weswegen der Einzelne als Kategorie kaum in seinem Werk vorkommt und im Ganzen eine unbedeutende Identitätskategorie bildet. In Hoffmanns an Frauen und Schwangere adressierten421 Ratgeber findet sich neben der zweimaligen Andeutung eines einzelnen Wesens sowie der einmaligen Verwendung des Subjektterminus, der in synonymer Bedeutung eines Einzelnen verstanden wird,422 an vier Textstellen der Hinweis auf die Verschiedenheit der Frauen, die sich entsprechend »der Beschaffenheit ihrer körperlichen Constitution, Erziehung, und Lebensart«423 realisiere. Dazu verwendet er zweimalig den Ausdruck Disposition in dem Sinne, dass das Verhalten der Schwangeren während der Schwangerschaft bereits körperliche Neigungen des Kindes bedingen könnte424 und verweist mehrfach auf die körperliche sowie charakterliche Verschiedenheit der Men-

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114, 115 u. 165.) und potentiell andere Personen als Rat gebende diskreditiert. (Vgl. ebd. S. XVIII, 82 u. 189.) Salzmann gilt es bei der beruflichen Kontextualisierung doppelt zu verzeichnen. Denn einerseits studierte er zwischen 1761 bis 1764 Theologie in Jena und war zwischen 1768 bis 1781 in verschiedenen Gemeinden als Pfarrer und/oder Diakon in und um Erfurt tätig. Im Jahr 1781 schloss er sich dem Dessauer Philanthropin als Religionslehrer an und gründete 1784 in Schnepfenthal eine eigene Erziehungsanstalt, weswegen er andererseits auch in das pädagogische Berufsfeld fällt. (Vgl. Schmitt, Hanno. Salzmann, Christian Gotthilf. In: Rudolf Vierhaus (Hrsg.). Deutsche Biographische Enzyklopädie. 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Band 8. München 2007. S. 688–689.) Salzmann rekurriert viermalig in Form von sich selbst und zweimalig durch die Formulierung jeder Mensch auf die Kategorie des Einzelnen. (Vgl. Salzmann (1788). Unvernünftige Erziehung. S. 145 u. 165. MEV.) Der Eigensinnbegriff ist in allen vier Verwendungen negativ konnotiert. (Vgl. ebd. S. VIII, X, XX u. 254.) Die Reduktion der Zielgruppe auf Frauen und speziell auf Schwangere verdeutlicht sich neben dem Titel und Thema des Ratgebers im Werk selbst, wenn Hoffmann mehrfach seine schönen oder meine/n Leserinnen direkt anspricht. (Vgl. Hoffmann (1789). Wie können Frauenzimmer. S. XV, XVII, 13, 20, 33, 96 u.165.) Denn er schreibt: »Es versteht sich von selbst daß Frauenzimmer überhaupt, und besonders schwächliche, sehr reizbare Subjekte, alle übele Folgen einer vernachläßigten Diät, immer in einem höhern Grade empfinden müssen« (Ebd. S. 147.). Ebd. S. 148. (Für die anderen drei Erwähnungen der Verschiedenheit bzw. der Besonderheit der Einzelnen siehe: Ebd. S. XIX, 52 u. 80.) Während Hoffman in seiner ersten Begriffsverwendung auf die starke Beeinflussung des Kindes durch das Verhalten der Schwangeren verweist, wenn er schreibt: »die ihm nur gar zu oft schon im Mutterleibe eine unglükliche [sic!] Disposition zu allerlei Krankheiten zuwege bringen können« (Ebd. S. 17.), spricht er in der zweiten Begriffsnutzung von: »die Disposition oder die Neigung des Körpers zu dergleichen Unglücksfällen« (Ebd. S. 144.). Den Ausdruck Disposition versteht er demgemäß im Sinne einer Anlage bzw. Neigung, die von der Umwelt beeinflussbar wäre und aus denen individuelle Eigenheiten resultieren könnten.

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Quellenuntersuchung

schen.425 Hoffmann skizziert dementsprechend einen Eigenheitsgedanken, der jedoch keiner unmittelbaren Bewertung unterzogen, sondern als ein Faktum dargestellt wird. Weil darüber hinaus keine weiteren Erwähnungen der Kategorie des Einzelnen vorgenommen werden und wiederholt die Nützlichkeit des Einzelnen für den Staat als primäres Erziehungsziel angegeben wird,426 gilt es für Hoffmanns Ratgeber ein reduziertes Vorkommen sowie eine nebensächliche Bedeutung der Kategorie des Einzelnen festzuhalten. Campes Väterlicher Rath für meine Tochter427 erschien erstmalig 1789 und ist entgegen einiger Forschungsdarstellungen nicht als einer der ersten Mädchenratgeber zu betrachten. Allein deswegen, weil ich in meiner bisherigen Quellenanalyse bereits einige, auf Mädchen fokussierte Ratgeberwerke behandelt habe.428 Hervorgehoben werden kann das Werk trotz dessen, weil in diesem eine Vielzahl an bisher in der Analyse noch nicht vermerkter Ausdrücke wie Eigentümlichkeit, Eigenheit, Ichheit oder Individuum vorkommen sowie eine bislang noch nicht verzeichnete Form von Eigenheit entwickelt wurde, die sich aus dem sozialen Lebensumfeld bzw. der Ständezugehörigkeit der Menschen ergebe.429

425 Diese bedinge bei jeder Behandlung eines Heil- oder Arzneimittels eine ärztliche Konsultation, denn »so wenig findet man Menschen, von einer ganz ähnlichen Constitution [sic!] des Körpers, der Reizbarkeit, des Temperaments. Muß daher nicht das nemliche [sic!] Mittel bei verschiedenen Menschen verschiedene Würkungen [sic!] hervorzubringen im Stande seyn [sic!]?« (Ebd. XIXf.). Diese Aussage wird an weiteren Textstellen getroffen. (Vgl. ebd. S. 52 u. 80.) 426 Vgl. ebd. (Einleitung.) S. VII, X u. XIII. 427 Campe, Joachim Heinrich. Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet. 4. rechtmäßige Auflage. Braunschweig [zuerst 1789] 1791. Für meine Quellenanalyse verwende ich die vierte Auflage, die 1791 erschienen ist, weil mir keine frühere Ausgabe zur Verfügung gestellt wurde. Der Tatbestand, dass bereits zwei Jahre nach der ersten Veröffentlichung eine vierte Auflage erschienen ist, deutet eine starke Nachfrage und einen Erfolg an, was zudem in der Forschung bestätigt wird. (Vgl. Schicha (2014). Lesarten des Geschlechts. S. 101.) Überdies erschien noch 1872 eine dreizehnte Auflage bei Vieweg in Braunschweig, von späteren Neudrucken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz abgesehen. 428 Unter anderem bei Schicha findet sich diese Behauptung, wenn sie schreibt: »Campe hatte mit diesem Buch als erster einen regelrechten Katalog mit Regeln und Pflichten für die Mädchenerziehung entworfen« (Schicha (2014). Lesarten des Geschlechts. S. 104.). Dass diese Aussage nicht zutreffend ist, verdeutlichen allein die drei von mir analysierten Ratgeberquellen von Johann Friedrich May (1761), Andreas Meyer (1772) sowie Konrad Friedrich Uden (1783), die sich schon vor Campes Publikation explizit auf die Mädchenerziehung fokussierten und dabei auch Regel- und Pflichtenkataloge aufstellten. 429 Bisher wurde Eigenheit in drei verschiedenen Weisen gedacht: Entweder als eine sich in den Anlagen und Fähigkeiten ausdrückende Charakteristik des Einzelnen, die vorherbestimmt wäre (wie bei Krüger, May, Zückert und Streithorst), oder die aus Anlagen resultiere und dazu von der Umwelt geformt werde (wie Campes erstem Ratgeber und bei Hoffmann), oder die eine dem Wesen inhärente Essenz wäre, die abhängig von der Nationszugehörigkeit wäre (wie bei Küster und Uden).

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Den erstmals in meiner Quellenanalyse festzustellenden Individuumsbegriff nutzt Campe viermalig und versteht ihn in synonymer Bedeutung von einem Einzelwesen, da er schreibt: »zur Bestimmung ihres Einzelwesens (Individuums)«430. Neben dem Individuumsterminus gebraucht er den Einzelnebegriff mindestens sechzehnmalig,431 was numerisch im Vergleich mit den bislang untersuchten Quellen einer starken Steigerung entspricht und als ein Indiz für dessen Bewertung der Kategorie bewertet werden kann. Zudem werden die Ausdrücke Eigentümlichkeit und Eigenheit ausgesprochen häufig verwendet und dazu führt Campe weitere neue Synonyme wie Ichheit, Selbstheit oder Originalmenschen in den Ratgeberdiskurs ein.432 Die Wertschätzung der Kategorie der Einzelnen verdeutlicht sich auch in seinem Eigenheitsmodell und lässt sich beispielsweise anhand des Individualitätsbegriffs exemplifizieren, den er viermalig im gesamten Werk benutzt.433 Denn laut Campe gilt es, jedes Mädchen nach ihren »menschlichen Gemüthsarten [sic!], nach ihren individuellen Grundzügen und Schattirungen [sic!]«434 auszubilden und dabei immer zu berücksichtigen,

430 Campe (1791). Väterlicher Rath für meine Tochter. S. 293. Bei drei der vier Begriffsverwendungen wird der Ausdruck in dieser Art und Weise verwendet. (Vgl. ebd. S. 370 u. 419.) Diese Formulierungsweise lässt vermuten, dass Campe den Begriff als einen bei seinen Rezipienten unbekannten Ausdruck betrachtete, den es deswegen in eindeutiger Weise einzuführen gilt. Wobei er den Begriff in seiner ersten Nutzung nicht in Klammern setzte, sondern einfach als Substantiv im Text gebrauchte. Denn er schreibt: »Der Mensch ist gutartig von Natur; das heißt zuvörderst: alle seine ursprünglichen Anlagen, Fähigkeiten, Kräfte und Triebe, sind in ihrer Quelle rein und mit keinem sittlichen Bösen vermischt; sie Zwecken vielmehr alle, ohne Ausnahme auf etwas recht Gutes, auf Beglückung des Individuums und anderer mit ihm verbundener Wesen ab« (Ebd. S. 262f. Hervorhebung von S.N.). Es bleibt somit unklar. Anhand des Zitates verdeutlicht sich aber, dass Campe sowohl eine individuelle als auch kollektive Glückseligkeit als ein Ziel ausgibt. 431 Vgl. ebd. S. 10, 107, 260, 307, 403, 421, 426, 437, 438, 439, 470, 483, 504 u. 515. MEV. Weil der Begriff an sich sowie der Individuumsausdruck schon so häufig genannt werden, habe ich es unterlassen, wie bisher die stellvertretenden Andeutungen zu zählen. Denn die Wichtigkeit der Kategorie des Einzelnen in Campes Sichtweise zeigt sich auch unabhängig von deren Ermittlung. Erwähnt werden muss noch, dass im Vergleich zu seinem vorherigen Ratgeber für Jungen in dieser Schrift für Mädchen weder der Subjekt- noch der Persönlichkeitsbegriff von Campe verwendet wird. 432 Während der Ausdruck Eigentümlichkeit allein achtzehnmal in einem menschlichen Bezug Verwendung findet, (Vgl. ebd. S. 9, 32, 81, 102, 232, 261, 262, 278, 279, 308, 331, 354, 387, 388, 392 u. 439. MEV.) benutzt Campe Eigenheit fünfmalig. (Vgl. ebd. S. 184, 188, 248, 392 u. 515.) Von Selbstheit und Ichheit ist jeweils nur einmalig (Für beide siehe: Ebd. S. 292.) sowie von Originalmenschen zweimalig die Rede. (Vgl. ebd. S. 261 u. 331.). Alle drei Begriffe versteht Campe im Sinne einer individuellen Eigenheit. Der Eigenheitsbegriff ist bisher auch noch in keinem der untersuchten Erziehungsratgeber enthalten gewesen. 433 Vgl. ebd. S. 108, 289, 429 u. 430. 434 Ebd. S. 108.

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»daß die Menschen einerseits nach ihren individuellen Vorstellungsarten urtheilen [sic!], und daß andrerseits jene Vorstellungsarten, mithin auch die daraus entspringenden Urtheile [sic!], Neigungen, Abneigungen und Handlungen ursprünglich nicht von ihrer eigenen Wahl, sondern von den Lagen und Umständen abhängen, worin sie sich, von ihrer Geburt an bis auf den gegenwärtigen Augenblick befunden haben.«435

Jedem Einzelnen seien demnach (in Unabhängigkeit der Geschlechterzugehörigkeit) gewisse grundsätzliche Eigenheiten inhärent, die es in der Erziehung436 zu beachte gelte und die sich entsprechend der jeweiligen sozialen Verortung auch in einer für das Einzelwesen unbewussten Dimension entwickelten. Eigenheit wird in diesem Verständnis nicht als etwas Festes und (absolut) Determiniertes betrachtet, sondern als eine sich zeitlebens verändernde, prozesshafte Entität gedacht, deren Ausgangspunkt die individuellen Anlagen und Fähigkeiten bildeten. Dementsprechend wird den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen generell sowie besonders im Hinblick auf Erziehungsfragen und der Entwicklung des Menschen eine Verantwortlichkeit zugesprochen. Weil das soziale Umfeld die Ausbildung der individuellen Eigentümlichkeit beeinflusse, hätte »nicht nur jedes Volk, sondern auch jede besondere Volksclasse [sic!] in Ansehung dieser äußerlichen Gebräuche und Sitten etwas Eigenthümliches [sic!], etwas den Sitten und Gebräuchen anderer Völker und anderer Stände oft ganz Entgegengesetztes.«437

Diese standesspezifische Form der Eigenart gelte es laut Campe als etwas Gerechtfertigtes zu respektieren, bestehen zu lassen und nicht in anderen Ständen zu adaptieren.438 Zusätzlich verdeutlicht sich anhand des Zitates, dass Campe von pluralen Eigenheitsformen in jedem Menschen ausgeht und Eigentümlichkeiten von Völkern annimmt. Wie sich diese dritte Eigenart jedoch bilde, ob sie aus lebensweltlichen Prägungen oder im Gegenentwurf dazu aus einer dem Wesen inhärenten Essenz resultiere, bleibt offen und unbeantwortet. Denn diese dritte 435 Ebd. S. 430. 436 Als Adressaten benennt Campe explizit Mütter und Eltern des Mittelstandes, wobei er Personen der höheren Ständen nicht ausschließen möchte, sondern diesen selbst die Entscheidung überlässt, welche seiner Ratschläge sie anwenden und welche sie nicht beachten. (Vgl. ebd. (Vorrede zur ersten Auflage.) S. VIIIf.) 437 Ebd. S. 308. In dem Zitat verdeutlicht sich, dass Campe zudem von einer volksspezifischen Form von Eigenheit ausgeht. Worin sich diese jedoch konkret auszeichne, lässt sich nicht herausfinden, weil er sich zu dieser Thematik nicht weiter im Text äußert. 438 Es gehöre sich nicht, »manches von den Eigenthümlichkeiten [sic!], den Sitten und der Lebensart der Großen anzunehmen, die zwar für die Großen – selbst ganz schicklich, anständig und gut seyn [sic!] mögen, an Personen bürgerlichen Standes hingegen unschicklich, lächerlich und schädlich sind. Jeder Stand hat sein Eigenthümliches [sic!], und soll es haben« (Ebd. S. 354.). (Siehe auch die weiteren Textstellen, in denen Campe diese Eigenheitsform skizziert: Ebd. S. 81 u. 308.)

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Eigenheitsform findet keine weitere Erwähnung im Werk. Es zeigt sich aber klar Campes Bewertung des Einzelwesens auf. Wie zuvor in seinem Ratgeber für Jungen schreibt Campe dem Individuum und den Eigenheiten Bedeutsamkeit zu, zieht jedoch auch Grenzen. Im Allgemeinen und unabhängig vom Geschlecht bestimmt er die Selbstvervollkommnung jedes Individuums zu dessen wesentlichen Aufgaben.439 Es solle sich jedoch nicht zu sehr auf sich selbst fokussieren,440 sondern vor allem als ein nützliches Mitglied der Gesellschaft fungieren.441 Dem weiblichen Geschlecht erlegt er zudem eine exponierte Funktion auf, weil es für Frauen gelte, sich grundsätzlich dem/ihrem Mann zu unterwerfen, auf ihren freien Willen zu verzichten und die eigene Selbstverleugnung als eine ihrer Haupteigenschaften zu betrachten.442 Während dem männlichen Geschlecht eine freie und unabhängige Selbstständigkeit zuzugestehen sei, wären Frauen (von Gott) dazu bestimmt, im Haus als Mutter, Hausfrau und Gattin zu wirken. Weitere Lebenssphären oder andere Berufstätigkeiten seien für sie nicht vorgesehen.443 Campe entwirft damit eine geschlechterspezifische Sichtweise, die sich zudem auf sein Eigenheitsverständnis auswirkt. Er spricht »zwar« dem weiblichen Geschlecht nicht die Existenz von Eigenheiten ab, weil der Einfluss ihres Lebensumfeldes sie trotz der Eingrenzung beeinflusst. Als deren Ziel skizziert er aber die Überwindung des eigenen Ichs sowie das Aufgehen in der Kollektiveinheit Ehe, Familie, Haus. Das Einzelne und Eigene wird dadurch für Frauen ein Stück weit obsolet und nur als eine nebensächliche Identitätskategorie entworfen. Für das männliche Geschlecht bildet es 439 Vgl. ebd. S. 6, 9, 10 u. 104. 440 Dies drückt er in mannigfaltiger Weise anhand der Untugenden aus. So stellen Selbstliebe, (Vgl. ebd. S. 169.) Selbstsucht, (Vgl. ebd. S. 74, 185 u. 186.) Eigensinn, (Vgl. ebd. S. 74 u. 397.) Eigennützigkeit, (Vgl. ebd. S. 186.) Eigenwille (Vgl. ebd. S. 186) sowie Selbstdünkel (Vgl. ebd. S. 166.) Fehlverhalten dar, während Uneigennützigkeit, (Vgl. ebd. S. 223.) Anspruchslosigkeit (Vgl. ebd. S. 74.) und vor allem Bescheidenheit (Vgl. ebd. S. 74, 83, 137, 168 u. 181.) als Tugenden gelten. 441 Vgl. ebd. S. 126, 159 u. 238. 442 So schreibt er: »Sey [sic!] endlich diesem allen zufolge fest überzeugt, daß Geduld, Sanftmuth [sic!], Nachgiebigkeit und Selbstverläugnung [sic!] die allerunentbehrlichsten [sic!] Tugenden deines Geschlechts sind« (Ebd. S. 24.). (Siehe auch: Ebd. S. 19, 178 u. 188.) Auch in Fragen der Geschlechterhierarchie bleibt er eindeutig: »Thue [sic!] Verzicht auf einen unabhängigen Willen, vornehmlich auf eigene Launen und auf jede Art von Widersetzlichkeit. Lerne, dich als das zweite Glied in der Kette deines Hauswesens denken; dein künftiger Gatte wird und muß das erste seyn [sic!]« (Ebd. S. 247.). (Siehe auch: Ebd. S. 23 u. 142.) 443 So heißt es etwa: »Tausend Aeußerungen [sic!] einer freien unabhängigen Selbstständigkeit sind dem Manne – so will es die Weltsitte – vergönnt, oder werden ihm nachgesehn [sic!]: euch nicht!« (Ebd. S. 25f.). Frauen müssten hingegen »der dreifachen Bestimmung des Weibes – der zur Gattin, zur Mutter, und zur Vorsteherin des Hauswesens – entsprechen« (Ebd. S. 85.). Dass diese Bestimmung dabei von Gott und der bürgerlichen Gesellschaft stammt, (Vgl. ebd. S. 46, 85, 171, 172 u. 173.) sowie dass sich die Tätigkeit von Frauen auf das Haus und die genannten Rollen reduzieren sollte, (Vgl. ebd. S. 15, 16, 17, 26, 46, 85, 135, 142, 172, 173, 213 u. 228.) äußert er mehrfach.

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aber eine wichtige Identitätsformation, da er diesem (eine gewisse Form von) Selbstständigkeit und individuelle Eigenheiten zugesteht. Campe knüpft die Anerkennung des Einzelwesens sowie dessen Eigenheit somit an die Geschlechterzugehörigkeit und konzipiert geschlechterspezifische Identitätsmodelle. In den anderen drei Ratgeberquellen der zweiten Teilperiode ist solch ein ausgeprägtes Vorkommen an Begrifflichkeiten sowie Eigenheitsformen wie bei Campe nicht enthalten. Während in Salzmanns zweitem, 1796 erschienenen Ratgeber Conrad Kiefer oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Kinder444 zumindest elfmalig auf die Kategorie des Einzelnen verwiesen445 und mehrfach die Berücksichtigung der Kinder bei der Erziehung als eine wesentliche Aufgabe dargestellt wird,446 wird in Christian August Struves im Jahr 1800 veröffentlichten Ratgeber Wie können Schwangere sich gesund erhalten, und eine frohe Niederkunft erwarten?447 nur an drei Textstellen auf das Einzelwesen eingegangen.448 Dazu wird noch Eigensinn als auch Eigennutz als Untugend be444 Salzmann, Christian Gotthilf. Conrad Kiefer oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Kinder. Ein Buch fürs Volk. 1. Aufl. Schnepfenthal 1796. Das Format im Ratgeber weicht von den bisherigen ab. Denn der Erzähler inszeniert sich in einer Ich-erzählenden Vaterperspektive, in der seine Erziehungserfahrungen mit seinem Sohn Conrad in der dörflichen Lebenswelt von seiner eigenen Hochzeit bis hin zu der seines Sohnes schildert. Diese (neue) Form schien sowohl bei den zeitgenössischen Rezensenten – in der Allgemeinen Literatur-Zeitung wird das Werk etwa als »äußerst lehrreich« (Allgemeine LiteraturZeitung vom Jahre 1796. Dritter Band. Julius, August, September. No. 296. Sonnabends, den 27. August 1796. Jena/ Leipzig 1796. S. 534.) bewertet – als auch bei der Leserschaft gut angekommen zu sein, erreichte das Werk doch eine vierte, 1845 veröffentliche Auflage. 445 Primär verweist Salzmann auf den Einzelnen in Form von jeder/der Mensch, (Vgl. Salzmann (1796). Conrad Kiefer. S. 77, 146, 153, 156, 157, 215, 225, 234 u. 245.), seinen eigenen (Vgl. ebd. S. 146.) sowie sich selbst (Vgl. ebd. S. 241.). Dazu skizziert er zweimal Eigensinn als Untugend (Vgl. ebd. S. 69 u. 126.) und stellt die Selbstbeherrschung als Tugend dar. (Vgl. ebd. S. 109 u. 221.) Das Einzelwesen findet als Kategorie also häufiger Erwähnung. 446 Etwa wenn Salzmanns Erzähler rät: »gebt genau Achtung, wozu eure Kinder vorzüglich Lust und Geschicklichkeit haben und das laßt sie lernen« (Ebd. S. 227f.). 447 Struve, Christian August. Wie können Schwangere sich gesund erhalten und eine frohe Niederkunft erwarten? Nebst Verhaltensregeln für Wöchnerinnen. Hannover 1800. Die Klassifikation des Werkes fällt leicht, da er zusätzlich zu der Andeutung im Untertitel, in dem er von Verhaltensregeln spricht, in der Einleitung schreibt: »In wiefern das gegenwärtige Buch seinem Zwecke gemäß ist, wird sich zeigen, wenn man die gerügten Vorurtheile [sic!] vermeidet, und die darin gegebenen guten Rathschläge [sic!] befolgt« (Ebd. S. IV.). An der Einordnung als ein Ratgeber bestehen also keine Zweifel. Den Verfasser gilt es als Mediziner und Arzt zu klassifizieren. Denn auf dem Titelblatt wird er als »ausübende[r] Arzt zu Görlitz« (Ebd. Titelblatt.) angeführt, eine Angabe, die auch in der Forschungsliteratur bestätigt wird. (Vgl. Malich, Lisa. Wie die Schwangere zur Mutter wurde. Zur Geschichte eines Gefühlskomplexes. (1770–2010). In: Eva Tolasch und Rhea Seehaus (Hrsg.). Mutterschaften sichtbar machen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge. Opladen/ Berlin/ Toronto 2017. S. 25–41. Hier S. 27.) 448 Verweise auf die Kategorie des Einzelnen nimmt er vor, wenn er schreibt: »jede gesunde Mutter hat die Pflicht auf sich, ihr Kind selbst zu säugen« (Struve (1800). Wie können Schwangere. S. 47.), sich zu den einzelnen Männer und Frauen äußert: »Doch dieser Wink

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wertet.449 Weitere Ausführungen zum Einzelnen finden sich darüber hinaus jedoch genauso wenig wie Gedanken zur Eigenheit. Deswegen erscheint es plausibel, die Kategorie des Einzelnen bei Salzmann aufgrund der numerisch öfteren Verweise als eine nebensächliche Identitätseinheit zu bewerten, indessen sie in Struves Identitätskonzept keinerlei Bedeutung erfährt. In Christoph Wilhelm Hufelands 1799 publiziertem Werk Guter Rath für Mütter450 erhält die Kategorie des Einzelnen trotz der Abwesenheit der Begrifflichkeiten Individuum, Individualität und Einzelne eine herausragende Bedeutsamkeit. Denn Hufeland rückt das Einzelwesen und dessen zu entwickelnde Selbstständigkeit in den Mittelpunkt seiner Abhandlungen und führt dieses als zu erreichende Zielsetzung jeder Erziehung an. Denn er schreibt etwa: »Die erste Regel aller Erziehung ist nie zu vergessen, daß der Mensch ein selbstständiges Wesen seyn [sic!] soll, das seine physischen und moralischen Kräfte selbst entwickeln und sobald wie möglich selbst kennen und brauchen lernen muß, damit er das werde, wozu er organisirt [sic!] ist.«451

Wenn Kinder »ihre Kräfte selbst entwickeln, und eben dadurch mehr Kraft, Selbstständigkeit und Brauchbarkeit erhalten«452, kämen sie dem »große[n] Zweck [näher], gesunde, dauerhaft und brauchbare Menschen zu bilden«453. Hufelands Zielvorgabe für seine Leserschaft ist dementsprechend eindeutig. Es gelte, die Selbstständigkeit jedes Kindes zu befördern. Dies wird als erste Regel aller Erziehung und als Entsprechung der Wesenhaftigkeit der menschlichen Natur bezeichnet, womit die Eigenständigkeit des Einzelnen zu einer generellen genuinen Eigenschaft des Menschen erklärt und zugleich überhöht wird. Denn sie stellt demnach nicht nur eine (von ihm) präferierte Verhaltensweise dar, sondern wäre dem menschlichen Wesen inhärent und damit jedem Exemplar

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sey [sic!] genug für jeden verständigen Mann und vernünftige Frau zur Vorsicht und Mäßigung« (Ebd. S. 142.), sowie auf die Frau, auf »das Glück Ihres Lebens, Ihr Leben selbst, und das Glück ihrer Familie« (Ebd. S. 181.) rekurriert. Zweimalig wird Eigensinn (Vgl. ebd. S. 29 u. 174.) sowie viermalig Eigennutz als eine Untugend dargestellt. (Vgl. ebd. S. 70, 75, 184 u. 221.) Hufeland, Christoph Wilhelm. Guter Rath an Mütter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung in den ersten Jahren. Berlin 1799. Der Ratgebercharakter des Werkes ist allein aufgrund des Titels eindeutig, in dem Hufeland einen direkten Adressaten und seine Intention benennt, diesem Rat zu geben. Dies trifft auch auf die berufliche Kontextualisierung von Hufeland zu, weil auf dem Titelblatt angegeben wird: »der Medizin ordentl. Lehrer zu Jena« (Vgl. ebd. Titelblatt.). Dazu bezeichnet er sich im Werk als einen Arzt, (Vgl. ebd. S. 11.) weshalb es Hufeland als einen Medizinlehrer und Arzt zu klassifizieren gilt, der auch gelehrt hat, womit Hufeland auch noch in den pädagogischen Auswertungsbereich fällt. Ebd. S. 61. Ebd. S. 60f. Ebd. S. 13. Dass es die (potentielle) Brauchbarkeit und Gesundheit der Kinder als Zweck zu betrachten gelte, betont Hufeland auch noch an weiteren Stellen. (Vgl. ebd. S. 2 u. 44.)

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gegeben. Deswegen schränkt er seine Zielvorgabe der Selbstständigkeit auch nicht auf eine Geschlechtergruppe ein, sondern deklariert es als Ziel aller Wesen. Durch die Verknüpfung der Selbstständigkeit jedes Einzelnen mit seiner Brauchbarkeit sowie durch die Deklarierung von Eigensinn454 als Untugend zieht Hufeland ferner aber eine Grenze im Verhältnis des Einzelnen zu anderen Kollektiven bzw. dem Ganzen. Anstelle den Einzelnen voranzustellen solle dessen Eigenständigkeit zum Nutzen aller beitragen. Zumindest interpretiere ich den Begriff Brauchbarkeit in diesem Sinne, schließlich sei laut Hufeland jeder zu einem gewissen Zweck geschaffen worden und könnte durch die Realisierung der jeweiligen Anlagen und Fähigkeiten seinen dementsprechenden Beitrag leisten. Worin dieser jeweils bestünde, lässt sich nicht im Allgemeinen oder vorab bestimmen, sondern resultiere aus den Anlagen der Einzelnen. Denn als Erziehungsziel führt er an, dass der Mensch »das werde[n] [solle], wozu er organisirt [sic!] ist«455. Dies ließe sich am besten durch die Entwicklung der Selbstständigkeit erreichen, die sowohl dem einzelnen Wesen als auch der Gesamtheit zu Gute käme. Der Einzelne erhält in Hufelands Sichtweise also eine zentrale Funktion und wird als allerwichtigste Identitätseinheit entworfen. Der Begriff an sich kommt zwar nicht in dem Werk vor, auf die Kategorie wird jedoch in Form von selbst, der Mensch oder anhand des Subjektterminus verwiesen, den er zweimalig in synonymer Bedeutung eines Einzelnen benutzt.456 Auf die Eigenheit der Menschen geht er derweil nur rudimentär ein, wenn einmalig von Eigentümlichkeit die Rede ist.457 Weitere Begriffsverwendungen finden sich ansonsten nicht.458 Auswirkungen auf die Bewertung des Einzelnen hat dies aber keine, die Kategorie bildet die allerwichtigste Einheit in Hufelands Identitätsmodell.459 454 Vgl. ebd. S. 60. 455 Ebenda. 456 Und zwar schreibt er einerseits, dass »die härtere Erziehung unserm Klima überhaupt, oder wenigstens diesem Subjekt insbesondere nicht angemessen sey« (Ebd. S. 8.), während andererseits von »so zarten, nichts als Wärme gewohnten Subjekten« (Ebd. S. 30.) die Rede ist. 457 Vgl. ebd. S. 39. 458 Indirekt ließe sich der Eigenheitsgedanke aus der Bewertung der Selbstständigkeit ableiten, da sich seiner Meinung nach die Menschen entsprechend ihrer eigenen Organisation entwickeln sollen, was deren Eigentümlichkeiten miteinbeziehen würde. Weil er sich jedoch nicht eindeutig und umfangreicher äußert und die bisherige Untersuchung bereits eine Varianz an Eigenheitsformen aufzeigen konnte, die bereits in jener Zeitphase in der Ratgeberliteratur zirkulierten, erschwert sich die Einordnung von Hufelands wenigen, diesbezüglichen Textstellen. Deswegen verzichte ich darauf. Es gilt also festzuhalten, dass Hufeland einen Eigenheitsgedanken andeutet, die konkrete Denkweise jedoch nicht ermittelt werden kann. 459 Diese Einschätzung begründet sich neben der skizzierten Hervorhebung der Kategorie darin, dass Hufeland auf keine weitere Kollektivformation weiterführend eingeht. In einem Umfang von 86 Seiten erwähnt er nur ein einziges Mal sowohl den Volks- als auch den Nationsbegriff, ein Wertzuspruch ist dabei aber nicht erkennbar. Andere Bezugsgruppen kommen weder begrifflich noch gedanklich vor.

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Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Begrifflichkeiten Individuum, Individualität und Individualisierung vereinzelt in einigen wenigen Ratgeberwerken der zweiten Teilperiode verwendet wurden. Dazu konnten weitere, für meine Analyse zentrale Ausdrücke wie Einzelne, Eigentümlichkeit, Subjekt, Persönlichkeit, Disposition sowie Eigenheit, Ichheit oder Selbstheit verzeichnet werden. Der Gedanke von Eigenheit ist (auch ohne explizite Begriffsverwendungen) bereits umfangreich in der zweiten Teilperiode verbreitet und nur in einer Minderheit von zwei Quellen nicht skizziert worden.460 In allen anderen Werken wurde mindestens der Grundgedanke angedeutet oder gar mehrdimensionale Eigenheitskonzepte entwickelt. Eigenheit wird dabei als eine individuelle, ständische sowie nationale oder völkische Form konzipiert. Hinsichtlich der Bewertung der Kategorie des Einzelnen als Identitätskategorie kristallisiert sich eine abwechslungsreiche Varianz heraus, womit sich in allen Untersuchungsbereichen eine plurale Konstellation feststellt. Kein Wandel in Sicht: die Varianz setzt sich fort (von 1801–1820) In der ersten Quelle der dritten Teilperiode – Johann Heinrich Sternbergs 1802 veröffentlichte Belehrungen für Mütter denen das Wohl ihrer Kinder und die Gesundheit ihres eigenen Körpers am Herzen liegt461 – stellt sich ein stark reduziertes Vorkommen von der Kategorie des Einzelnen fest, da ein Einzelwesen nur in indirekter Art angedeutet wird.462 Eine Vorstellung menschlicher Eigenheit entwirft Sternberg aber, wenn er schreibt: »Das Kind ist noch an nichts gewöhnt, und das Gesetzbuch seiner künftigen Bedürfnisse wird ihm nicht von seiner eigenen Willkühr [sic!] entworfen und festgesetzt, sondern bloß durch die Erwachsenen, denen die Wartung und Pflege desselben obliegt.

460 In Salzmanns Unvernünftige Erziehung und bei Struve wird kein Eigenheitsgedanke entworfen. 461 Sternberg, Johann Heinrich. Belehrungen für Mütter denen das Wohl ihrer Kinder und die Gesundheit ihres eigenen Körpers am Herzen liegt. Erstes Bändchen. Ueber die Ernährung der Kinder in den ersten beiden Lebensjahren. Hamburg 1802. Die Klassifikation der Schrift als Ratgeber fällt leicht, weil Sternberg in der Einleitung schreibt: »Rathschläge [sic!] will ich Euch darbiethen [sic!], wie Vernunft und Erfahrung sie gelehrt haben« (Ebd. S. 2.). Bezüglich der beruflichen Kategorisierung gilt es, Sternberg als einen Arzt zu verzeichnen. Auf dem Titelblatt wird dies zwar nur durch ein in abgekürzter Form angegebenen Doktortitel angedeutet, (Vgl. ebd. Titelblatt.) in der Einleitung rekurriert Sternberg aber auf jene Tätigkeit: »mein schöner Beruf, Krankheit und Schmerzen von den Menschen zu verscheuchen« (Ebd. S. 1.). Darüber hinaus wird er in zeitgenössischen Überblickswerken als ein solcher klassifiziert. (Vgl. Strieder, Friedrich Wilhelm. Grundlagen zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten. Band 15. Kassel 1806. S. 302–213. Hier: S. 309f.) 462 Mit einer zweimaligen Erwähnung von Erdenbürger (Vgl. Sternberg (1802). Belehrungen für Mütter. S. 1 u. 18.) sowie einmalig von eigenen Willkür (Vgl. ebd. S. 114.) wird die Kategorie des Einzelnen angedeutet.

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Das Kind sey [sic!] einer glatten Wachstafel zu vergleichen […] und gewiß trifft die Wahrheit davon nicht bloß die moralische, sondern auch die physische Erziehung.«463

Eigenheit wird von Sternberg also entsprechend des bis in die sogenannte Antike zurückreichende Menschenbildkonzeptes einer tabula rasa gedacht.464 Dieses impliziert die Grundannahme, dass jeder Mensch über keinerlei Formen pränataler Eigenheiten oder diesbezüglicher Anlagen verfüge, sondern jegliche Eigentümlichkeiten erst während der Lebenszeit durch Umwelteinflüsse und andere Menschen gebildet werden. Sternberg skizziert damit ein prozesshaftes Verständnis von Eigenheit, ohne den Begriff selbst zu benutzen. Denn in der einzigen Textstelle, in der er den Ausdruck von Eigentümlichkeit verwendet, bezieht er diesen auf die Konstitution der Muttermilch.465 Weitere Ausführungen zur Eigenheit und zur Kategorie des Einzelnen kommen im Ratgeber nicht vor, weswegen die Kategorie als eine nebensächliche Formation bewertet wird. Es gilt aber festzuhalten, dass sich im Werk ein bisher noch in keinem Ratgeber konzipiertes Wachstafel-Modell von Eigenheit ermitteln ließ. Johann Anton Schmidtmüller verwendet in seinem 1804 erschienenen Handbuch für Mütter466 den Individuumsausdruck und entwirft dazu ein Eigenheitskonzept, in dem die grundlegenden Wesensformen des Menschen primär

463 Ebd. S. 114. 464 In der im Fließtext gekürzten Zitatstelle verweist Sternberg noch auf die Ideenquelle: »ein angesehener Gelehrter der Vorzeit« (Ebenda.). Aufgrund dieses Verweises und weil er von Wachstafel und nicht von einem weißen Blatt schreibt, nehme ich an, dass er sich eher auf die antiken Ideen von Platon oder Aristoteles zu beziehen scheint als auf John Lockes tabula rasa-Konzept, welches Locke in An Essay Concerning Human Understanding entwickelte. (Vgl. Regenbogen, Arnim/ Meyer Uwe. Begriff Tabula rasa. In: dies. (Hrsg.). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Begr. von Friedrich Kirchner und Carl Michaelis. Fortges. von. Johannes Hoffmeister. Vollständig neu hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer. Hamburg 1998. S. 653. Sp. 1–2.) 465 Denn er schreibt: »mit der Muttermilch vorgehen. Nun wollen wir auch einmal ihre Eigenthümlichkeiten [sic!] betrachten« (Sternberg (1802). Belehrungen für Mütter. S. S. 25.). 466 Schmidtmüller, Johann Anton. Handbuch für Mütter zur zweckmäßigen Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjahren. Fürth 1804. Das Werk ist in zwei Abschnitte unterteilt, weswegen ich bei Zitaten sowie Paraphrasierungen jeweils die Information ergänze, in welcher Abteilung sich dieses befindet. Auf dem Titelblatt wird vor dem Namen ein Doktortitel ohne weitere, konkretisierende Angaben angeführt. Im Werk bezeichnet sich Schmidtmüller aber zweimalig als Arzt, (Vgl. ebd. Zweite Abteilung. S. 197 u. 210.) was auch in Meusels Das Gelehrte Deutschland bestätigt wird. In diesem steht zudem, dass Schmidtmüller seit 1801 als Privatdozent in Erlangen und ab 1804 als außerordentlicher und ein Jahr später als ordentlicher Professor der Geburtshülfe und Staatsarzneykunst an der Universität zu Landshut wirkte. (Vgl. Meusel (1811). Gelehrte Teutschland. 15. Band. S. 347–349. Hier: S. 347.) Er ist also im medizinischen sowie im pädagogischen Bereich einzuordnen. Eine Klassifikation als Ratgeber erscheint berechtigt, weil Schmidtmüller das Werk selbst als einen solchen klassifiziert, wenn er schreibt: »in diesen wohlgemeinten Rathschlägen [sic!]« (Ebd. Erste Abteilung. S. 117.).

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aus der Vererbung sowie aus der individuellen Konstellation zwischen Körperund Charaktermerkmalen resultierten. Eigenheit würde »[v]om Vater auf das Kind übergehe[n], als in deren Verschiedenheit in verschiedenen Individuen, die einem jeden Menschen eigenthümliche Nüance [sic!] von Temperament begründet ist. […] Jeder Mensch bereitet sich, zum Theile [sic!] nach der Verschiedenheit seiner Nahrungsmittel, aber vorzüglich nach der verschiednen Gesammtthätigkeit [sic!] seines Körpers.«467

Kein Mensch gleiche demnach einem anderen, auch wenn sie voneinander abstammen. Jedes menschliche Wesen besäße ein Maß von Eigenheit, welches sich vor allem im Temperament als auch im Körper ausdrücke und welches unter anderem von lebensweltlichen Faktoren wie der Ernährung beeinflusst wird. Diese individuelle Eigenheit sowie die Verschiedenheit aller voneinander wäre den Menschen qua ihrer Existenz gegeben und sei in deren biologischer Konstitution begründet.468 Schmidtmüller entwirft damit eine genuine, den Menschen inhärente Form von Individualität, ohne den Begriff selbst, dafür jedoch die Ausdrücke Eigentümlichkeit sowie Eigenheit zu benutzen.469 Neben dieser individuellen Form skizziert er eine geschlechterspezifische Eigenart, die sich sowohl in einer unterschiedlichen Körperkonstitution manifestiere, als auch in gewissen Präferenzen jedes Geschlechtes zu spezifischen Eigenschaften zeige.470 467 Schmidtmüller (1804). Handbuch für Mütter. Erste Abteilung. S. 10. Der Individuumsterminus wird hier im Plural als synonymer Begriff für das Einzelwesen verstanden. Im zweiten Teil benutzt Schmidtmüller den Begriff in selber Bedeutung, wenn er vom »Besten des Individuums« (Ebd. Zweite Abteilung. S. 72.) schreibt. Den Ausdruck des Einzelnen gebraucht er zudem in direkter Weise in Form von der einzelne Mensch und der Einzelne. (Vgl. ebd. Erste Abteilung S. 3 u. 10.) Weitere Andeutungen vom Einzelnen werden in der Art von der Mensch oder sich selbst getätigt. (Vgl. ebd. Zweite Abteilung. S. 3, 65, 160 u. 189.) 468 Schmidtmüller nimmt an, dass »in jedem männlichen Menschen ein Saame [sic!] abgesondert [sei], der zwar die allgemeinen Eigenheiten des menschlichen Zeugungsstoffes hat, aber doch dem Einzelnen eigenthümlich [sic!] […] [und] von dem Saamen [sic!] eines jeden andern Mannes verschieden ist« (Ebd. Erste Abteilung. S. 10f.). 469 Neben den schon in den Zitaten vorkommenden Begriffsnutzungen von Eigentümlichkeit sowie Eigenheit finden sich im Ratgeber weitere Verwendungen vom Eigentümlichkeitsausdruck. (Vgl. ebd. Erste Abteilung. S. 11. MEV. Sowie: Ebd. Zweite Abteilung. S. 4, 31, 65 u. 210.) Insgesamt gebraucht Schmidtmüller einmalig den Eigenheits- und achtmalig den Eigentümlichkeitsausdruck. 470 Denn so schreibt Schmidtmüller etwa: »Außer dem Verschönerungstriebe, der dem Weibe schon in der Anlage vor dem Manne zugetheilt [sic!] ist, und der die Verschiedenheit des so eben ganz kurz beschriebenen verschiedenen Benehmens bewirkt, ist an demselben allerdings die ganze innere Eigenthümlichkeit [sic!] des weiblichen Körpers zugleich Mitursache; und es liegt am Tage, daß der Junge einen ganz anders gearteten Körper habe. […] Es liege im Jungen mehr Feuer, er hat von der Mutter Natur mehr Stärke, mehr Kraft, vermöge der er mehr ausdauern kann, und die er stets äußert, schon zur noch unverdienten Mitgabe bekommen, als d i e Kleine« (Ebd. Zweite Abteilung. S. 31. Hervorhebung im Original.). (Siehe auch: Ebd. Zweite Abteilung. S. 210.) In Schmidtmüllers Konzept bestünden dementsprechend die jeweiligen Eigenheitsformen der Geschlechter in spezifischen körperlichen sowie

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Eine Ausbildung der individuellen Anlagen sowie die Vervollkommnung jedes Einzelnen führt er derweil als Hauptzweck der Erziehung an,471 die dazu dienen soll, dem Staat ein brauchbares und nützliches Mitglied zu sein.472 Auch wenn Schmidtmüller damit die Kategorie des Einzelnen nicht exponiert, weil als dessen zentrales Ziel der Beitrag für ein Kollektiv ausgegeben wird,473 bildet die Formation eine wichtige Identitätseinheit. Denn anhand einer Vielzahl an Begrifflichkeiten verweist er häufig auf die Kategorie474 und stellt dessen Vervollkommnung als ein Erziehungsziel und als Grundlage dar, um einen Beitrag für das Gemeinwesen leisten zu können. Des Weiteren entwickelt er ein zweidimensionales Eigenheitsmodell, in dem eine aus vererbten Anlagen resultierende sowie von lebensweltlichen Einflüssen geprägte, individuelle Eigenart und eine geschlechterspezifische Eigenheitsform angenommen wird, die sich in der Präferenz bestimmter Eigenschaften und in der grundlegenden Varianz der Körperlichkeit manifestiere. In dem 1804 erschienenen Ratgeber Der gute Jüngling, gute Gatte und Vater475 von Johann Ludwig Ewald kommt nicht nur der Individuums- sowie der Individualitätsausdruck in numerisch häufiger Nutzung vor,476 sondern der Einzelne

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geistigen Anlagen, die zu bestimmten Eigenschaften führten und jedem Wesen qua seiner Existenz und qua seinem Geschlecht gegeben und eigen wären. Vgl. ebd. Erste Abteilung. S. 142. Sowie: Ebd. Zweite Abteilung. S. 69. Vgl. ebd. Zweite Abteilung. S. 3 u. 189. Bekräftigt wird dies zudem von der wiederholten pejorativen Darstellung von Eigensinn in Schmidtmüllers Werk als eine Untugend. (Vgl. ebd. Erste Abteilung. S. 160 u. 190. Sowie: Ebd. Zweite Abteilung. S. 42, 50 u. 89.) Neben den Einzelnen- und Individuumsausdruck verwendet Schmidtmüller einmalig den Subjekt-Ausdruck als dessen Synonym, wenn er schreibt: »weil es wirklich nicht um das Geistesvermögen eines jeden Kindes subjektiv gleich gut steht« (Ebd. Zweite Abteilung. S. 73.). Ewald, Johann Ludwig. Der gute Jüngling, gute Gatte und Vater, oder Mittel, um es zu werden. Ein Gegenstück zu der Kunst ein gutes Mädchen zu werden. 2 Bände. Frankfurt am Main 1804. Das Werk umfasst zwei Bände, weswegen ich kennzeichnen werde, aus welchen Band die Zitate oder Verweise jeweils stammen. Sein Werk klassifiziert Ewald selbst als Ratgeber, wenn er schreibt: »Ein solcher Rathgeber [sic!] möchte ich Ihnen seyn in diesen Vorlesungen« (Ebd. Erste Band. S. 5.). Es bestehen diesbezüglich also keine Zweifel. In der dem Werk vorangestellten Widmung für Alexander I. bezeichnet sich Ewald als »Doktor und Professor in Bremen« (Ebd. Erste Band. (Widmung.) Seite 10 von 10.). Der Doktor- und Professorentitel scheint sich jedoch nicht auf den Fachbereich der Medizin zu beziehen, sondern auf den der Theologie, wie ein Blick in Meusels Lexikon verrät. Dort wird zusätzlich ersichtlich, dass Ewald sowohl an der Universität als auch seit 1807 als Badischer Kirchenrat tätig war, (Vgl. Meusel (1808). Gelehrte Teutschland. 13. Band. S. 353–354. Hier: S. 353.) womit es ihn in den theologischen sowie pädagogischen Bereich als auch in die Verwaltung einzuordnen gilt. Den Begriff Individuum benutzt Ewald zweimalig an der selben Textstelle als Synonym des Einzelwesen, (Vgl. Ewald (1804). Der gute Jüngling. Zweite Band. S. 104) während er Individualität fünfmalig im Sinne von (charakterlichen) Eigenheiten verwendet. (Vgl. ebd. Erste Band. S. 180 u. 201. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 397 u. 399.). Zudem ist im Werk dreimalig

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und vor allem dessen Eigenheit erfahren einen starken Wertzuspruch. Bei der Auswahl von Vorbildern dürfe es etwa »kein allzubestimmtes Ideal seyn [sic!]; […] sonst hindert es das Ausbilden der eigenen Individualität. Sie [die Jünglinge] sind sonst in Gefahr, ein Gemeinplatz von liebenswürdigem, edlem Jüngling, ein Grandison der zweite, ohn’ alle Originalität zu werden. Hätte das Ideal gar, selbst viel Individualität; so würden Sie zu einem sklavischen Nachahmer eines fremden wol [sic!] gar fremdartigen Ich.«477

Ewald bestimmt die Ausbildung der Individualität demzufolge zu einem wesentlichen Erziehungsziel von Jungen und warnt ausdrücklich vor Elementen wie Vorbildern, die dieser Entwicklung entgegenstünden könnten. Dazu überhöht er die Eigenheit, indem er sie als eine Originalität beschreibt und deren Gegenteile als Feindbilder darstellt.478 Die Anlagen der auszubildende Eigenheit wären jedem Wesen qua Geburt gegeben sowie »mehr oder weniger bestimm[t] und fes[t]«479, womit ein hybrider Entstehungsprozess konzipiert wird. Denn diese essentiellen Grundanlagen eines Menschen müssten erst ausgebildet werden und unterlägen lebensweltlichen Einflüssen, die deren Realisierung potentiell verhindern könnten. Dies gelte es jedoch zu vermeiden und die angeborene Individualität zu befördern,480 damit der einzelne Junge am Ende der Erziehung zu einem freien, unabhängigen und selbstständigen Menschen reift, der sich aus eigener Einsicht den Gesetzen der Sittlichkeit fügt und sich dem Wohl der Gemeinschaft verschreibt.481 Ein Zwang besteht für Ewald dafür jedoch nicht, nur die eigene Überzeugung bestimme über die Anerkennung der Gesetze.482 Der

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von Eigenheit, (Vgl. ebd. Zweite Band. S. 112 u. 405.) viermalig von Eigentümlichkeit im Bezug zum Menschen (Vgl. ebd. Erste Band. S. 179, 180 u. 194. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 397.) sowie einmalig von Persönlichkeit die Rede. (Vgl. ebd. Erste Band. S. 82.) Ebd. Erste Band. S. 180. Anders können die Beschreibungen von sklavischen Nachahmern sowie eines fremdartigen Ichs meines Erachtens kaum interpretiert werden. Ausführlich heißt es: »Der Mensch wird mit mehr oder weniger bestimmten und festen Anlagen zu einem individuellen Charakter geboren; er soll also nicht bloß gut, kein Gemeinplatz von Sittlichkeit, sondern auf seinem eigenen Wege, in seiner eigenthümlichen [sic!] Art, sittlich werden« (Ebd. Zweite Band. S. 397.). Vgl. ebd. Erste Band. S. 180 u. 201. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 397. Ewald lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass er diese Zielsetzung sowie die Werte von Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstständigkeit als zentrale, einem (männlichen) Geschöpf gerecht werdende Eigenschaften betrachtet. Denn schreibt er etwa: »Nur der f r e i e Mensch kann sittlich seyn« (Ebd. Erste Band. S. 21. Hervorhebung im Original.). Oder: »Und eben aus Freiheit, aus freiem Entschluß soltet [sic!] Ihr Euren Aeltern [sic!] folgen, Eure Aeltern [sic!] ehren, Alles, was Ihr vermöget, für sie thun [sic!]; und nicht weil Ihr m ü s s e t , sondern weil Ihr w o l l e t . Wir sind f r e i , um s i t t l i c h seyn [sic!] zu können« (Ebd. Erste Band. S. 46. Hervorhebung im Original.). Solche Aussagen werden noch häufiger getroffen. (Vgl. ebd. Erste Band. S. 4, 75, 76, 201 u. 202.) So schreibt er zum Beispiel: »Zeigen sie, daß Sie unabhängige Wesen sind; und nur von sich selbst, von eigener Ueberzeugung, Geseze [sic!] annehmen, wie es dem Menschen gebührt,

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Quellenuntersuchung

Einzelne wird dadurch eigentlich über das Ganze erhoben, weil er von den gesellschaftlichen Verhaltensregeln erst innerlich überzeugt sein muss, bevor er sie anwendet. Im Umkehrschluss würde dies auch deren Ablehnung und ein Zuwiderhandeln legitimieren. Diese Möglichkeit scheint Ewald jedoch auszuschließen. Denn seinen Schilderungen zur Folge führe die Freiheit per se zur Sittlichkeit und zu gesetzestreuen Handlungsweisen.483 Neben dieser anscheinenden Vernunftgrenze, welche sich dem Individuum automatisch durch die Freiheit und die damit einhergehende Sittlichkeit einzustellen scheint, formuliert Ewald noch weitere Zurückweisungen für den Einzelnen gegenüber einem Ganzen. So fordert er einerseits ein ausgeglichenes Maß zwischen beiden Kategorien484 und verurteilt andererseits Formen der Selbstfokussierung mehrfach als eine Untugend.485 Darüber hinaus stellt er Gehorsam, Folgsamkeit und Unterwerfung als wichtige Tugenden dar, denn »[n]iemand kann sittlich werden, ohne Folgsamkeit, ohne freiwillige Unterwerfung seines Willens, unter Anderer Willen«486. Eine individuelle Zurücknahme sowie Folgsamkeit resultierten dementsprechend aus der Sittlichkeit und bildeten eine (quasi) automatische Konsequenz im freiheitlichen Erkenntnisprozess des Einzelnen. Ewald zeichnet damit zwar gewisse Grenzen für das Individuum, weswegen von einer Priorisierung der Kategorie des Einzelnen gegenüber anderen kollektiven Gruppen keine Rede sein kann. Die Bedeutsamkeit, die er dem Einzelnen und dessen Individualität zuspricht, reduziert sich in Folge dieser Einschränkungen jedoch kaum, zu zentral erscheint sie im Ganzen seines Ratgebers, weswegen die Formation als eine sehr wichtige Identitätseinheit bewertet wird. Eine solche Beurteilung des Einzelnen und dessen Individualität vermittelt Ewald auch in seinem Mädchenratgeber Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute

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dessen höchste Würde, Freiheit ist« (Ebd. Erste Band. S. 202f.). Der (männliche) Einzelne muss also selbst von den ihn reglementierenden Gesetzmäßigkeiten überzeugt sein, wenn er sie respektieren und anwenden sollte und sie nicht einfach aus Konformität oder gar wegen Befürchtungen von Repressionen ausführen. Eine andere als diese Grenze setzt Ewald dem (männlichen) Wesen nicht. (Siehe auch: Ebd. Zweite Band. S. 419.) Siehe die vorherigen Fußnoten. Denn er rät, »daß über der Sorge für das Ganze, nie die Sorge für das geringe Individuum, und über der Sorge für das Individuum, nie die Sorge für das Ganze hintenangesetzt werde[n]« (Ebd. Zweite Band. S. 104f.) sollte. So entwirft Ewald mehrfach Eigensinn, (Vgl. ebd. Erste Band. S. 44 u. 184. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 359.) Eigensucht, (Vgl. ebd. Erste Band. S. 119 u. 221. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 363.) Eigenwille (Vgl. ebd. Erster Band. S. 44.) als auch Eigennutz als eine Untugend. (Vgl. ebd. Erster Band. S. 219.) Ebd. Erste Band. S. 46. Auch an weiteren Stellen im Werk werden Folgsamkeit, Unterwerfung und Gehorsam propagiert. (Vgl. ebd. Erste Band. S. 39, 41, 42, 43, 47, 67 u. 236. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 401.)

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Gattin und Hausfrau zu werden487, auch wenn in der Begriffsnutzung kleinere Abweichungen zu verzeichnen sind. Denn in diesem voluminösen Werk,488 in dem der Individualitätsaudruck abwesend ist, werden der Indiviuums-, Eigentümlichkeits-, Eigenheits- sowie Einzelnenbegriff oftmalig gebraucht489 und zudem ist vom Ich und von Persönlichkeit die Rede.490 Zusätzlich zu diesen vielen Verweisen erfährt der Kategorie des Einzelnen eine explizite Hervorhebung, wenn es heißt: »Nein, der Mensch ist bestimmt, ein Wesen für sich zu seyn [sic!], s i c h s e l b s t und zunächst um s e i n S e l b s t w i l l e n , zu entwickeln. Er ist ein Mensch, ein sittliches Wesen, eh’ er irgend etwas Anderes ist. Sie sind Menschenwesen, ehe sie Gattinnen, Mütter und Hausfrauen sind. […] Jede mit einem eigenthümlichen [sic!] Ich, Jede zunächst ohne Beziehung auf Andere, Jede Selbstzweck, eine Person für sich, mit ihrer von allen andern verschiedenen Seele, wie sie ihren von allen andern Körpern verschiedenen Körper hat.«491

Unabhängig von der geschlechtlichen oder anderen Zugehörigkeiten gesteht Ewald dem einzelnen Wesen demnach eine Berechtigung zu, die allein aus dem Menschsein resultiere. Der Mensch sei zuallererst einmal ein Mensch, dies wäre seine erste Bezugskategorie, bevor weitere hinzukämen. Daraus folge ein Selbstzweck, den jeder Mensch aus sich heraus besäße und der ihm ein grundsätzliches Recht auf Einzelheit sowie auf individuelle Eigenheit garantiere. Diese entsprächen nun einmal der menschlichen Konstitution und Bestimmung, weswegen Ewald hierbei (erst einmal) keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht, sondern explizit für Töchter eine Erziehung zur Selbstständigkeit fordert. Denn er schreibt: »Ob Sie diese Selbstständigkeit bedürfen? das ist ja wol [sic!] keine Frage. […] Ich wiederhol’ es: Kein Menschenwesen ist blos [sic!] Mittel für Andere; jedes ist Selbstzweck, soll sein eigenes Ich haben und behalten, in allen Lagen des Lebens. Wo wär’

487 Ewald, Johann Ludwig. Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin und Hausfrau zu werden. 4., vermehrte und verbesserte Auflage. 3 Bände. Frankfurt/Main [zuerst Bremen 1798] 1807. Weil mir nur die vierte, 1807 erschienene Auflage des Mädchenratgebers zugänglich war, habe ich dieses Werk in meine dritte Teilperiode von 1801–1820 eingeordnet. 488 Dieses umfasst drei Bände und in toto 776 Seiten. 489 Siehe für Individuum: Ebd. Erste Band. S. 145. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 3, 23, 85, 119 u. 151. Für Einzelne: Ebd. Erste Band. S. XI u. 196. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 3, 4 u. 14. Als auch: Ebd. Dritte Band. S. 122, 129 u. 131. Für Eigentümlichkeit: Ebd. Erste Band. S. 22, 25, 85, 211 u. 214. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 253. Und für Eigenheit: Ebd. Erste Band. S. 24 u. 192. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 60. Als auch: Ebd. Dritte Band. S. 124. 490 Das Ich wird dabei jeweils in Verbindung zum Eigenen gesetzt. (Vgl. ebd. Erste Band. S. 46, 213 u. 222.) Persönlichkeit scheint Ewald als synonymen Ausdruck für das charakterliche, eigentümliche Wesen des Einzelnen zu verstehen. (Vgl. ebd. S. 222f.) 491 Ebd. Erste Band. S. 213f. Hervorhebung im Original.

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Quellenuntersuchung

auch Sittlichkeit bei einem Menschen, der sich nicht als Selbstzweck fülte [sic!], und seine Persönlichkeit behauptete?«492

Ewald entwirft Eigenheit demgemäß als eine in der Natur des Menschen begründete Wesenheit, die dem Menschen damit angeboren wäre. Individualität wird dadurch naturalisiert, da sie zu einer biologischen Grundkategorie erhoben wird, die jedem Menschen gegeben wäre. Deswegen gelte es diese auch in Unabhängigkeit zur sozialen Herkunft, vom Geschlecht oder von anderen Kriterien auszubilden. Denn die Ausbildung von Eigenheit wird als eine Grundbedingung sowohl für das Leben des einzelnen Menschen als auch für die erfolgreiche Koexistenz aller und somit für das Funktionieren der Gemeinschaft dargestellt. Individualität befördere demnach Sittlichkeit. Zusätzlich zu dieser entwickelt Ewald noch eine weitere, geschlechterspezifische Form von Individualität, welche »die Natur selbst, in der Bildung des weiblichen und männlichen Geschlechts gezeichnet hat«493. Diese kennzeichne sich einerseits in spezifischen, prädestinierten Eigenschaften der Geschlechter494 und werde andererseits von den gesellschaftspolitischen und lebensweltlichen Umwelteinflüsse geprägt.495 Ewald konzipiert deren Entstehungsprozess dementsprechend in einer zweifachen, hybriden Weise, in dem sowohl angeborene und damit feste Prädestinationen als auch die verschiedenen lebensweltlichen Rahmenbedingungen einfließen. Die Eigentümlichkeit wird damit als teilweise veränderbar gedacht, enthält aber auch eine feste Essenz, die den grundlegenden Unterschied zwischen den Geschlechtern markiere.496 Die geschlechterspezifische Eigenart dient Ewald ferner als ein Grund, warum es seiner Auffassung nach eine geschlechterspezifische Einschränkung der Lebenssphären und der Tätig492 Ebd. Erste Band. S. 222f. Neben der Selbstständigkeit gibt Ewald die Selbstveredelung und die Ausbildung der Individualität als primäre Erziehungsziele an. (Für Selbstveredelung siehe: Ebd. Erste Band. S. 19 u. 181. Sowie: Ebd. Dritte Band. S. 140.) (Für die Eigentümlichkeitsausbildung siehe: Ebd. Erste Band. S. 211, 213f. u. 222.) 493 Ebd. Erste Band. S. 29. 494 So behauptet Ewald etwa, dass »das Weib mehr zum stillen Dulden gemacht ist […] [und] mehr als der Mann dulden kann« (Ebd. Erste Band. S. 33.). Dazu finden sich noch weitere Erwähnungen geschlechterspezifischer Eigentümlichkeiten. (Vgl. ebd. Erste Band. S. 22, 24, 37 u. 192.) 495 Über Männer schreibt er beispielsweise: »Der Sinn, die Ansicht, die Laune, die Empfindungsart der Männer ist so verschieden; sie haben so viele Eigenheiten, Sonderbarkeiten, Unbegreiflichkeiten in ihrem Wesen, und diese bestimmen sich durch Stand, Umgang, Lebensart, Lagen und Umstände auf so mancherlei Art« (Ebd. Zweite Band. S. 124.). Die große Varianz an Eigentümlichkeiten innerhalb der Geschlechter wäre demnach in den variierenden Lebensumständen begründet. 496 Entsprechend seiner Denkfigur würden die prädestinierten Grundeigenschaften der Geschlechter vermutlich weiterführend durch die jeweiligen Rahmenbedingungen geprägt und abgewandelt werden, wodurch sich die Vereinheitlichung der Geschlechter aufgrund des Grundstockes an gleichen Prädestinationen aufrechterhalten ließe.

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keiten geben sollte. Das weibliche Geschlecht solle auf die Rollen einer Mutter, Ehefrau und Hausfrau und in diesem Zuge auf die Lebenswelt des Hauses beschränkt werden,497 während sich das männliche Geschlecht in der häuslichen Sphäre und in der Öffentlichkeit ohne jegliche Begrenzung bewegen solle.498 Das Geschlecht markiert damit ein Unterscheidungskriterium für die Rechte, Möglichkeiten und Verhaltensweisen, die dem Individuum gewährt werden sollten. Diese Ansichtsweise spiegelt sich auch in Ewalds Tugendkatalog wider. Als Tugenden für Töchter nennt er nicht nur die Selbstaufopferung499, Beherrschung ihrer selbst500, Folgsamkeit501 und Gehorsam502, wohingegen jegliche Formen von Eigensinn und Egoismus Untugenden darstellten,503 sondern er fordert gar eine absolut scheinende Unterwürfigkeit ein, da er empfiehlt, »sich so beherrschen, so entbehren, still dulden, verleugnen, sich willenslos unterwerfen«504 zu lassen. Die Geschlechterzugehörigkeit wirkt sich demzufolge auf Ewalds Bewertung eines Einzelnen aus. Grundsätzlich schreibt er der Kategorie zwar Bedeutsamkeit zu, der Mensch hätte schließlich ein Recht auf die Ausbildung seiner Individualität und auf ein umfangreicheres Maß an Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.505 Vom weiblichen Einzelwesen wird jedoch eine individuelle Selbstaufgabe sowie die Einschränkung von deren Lebensfeldern gefordert, weshalb die gewährten Rechte letztlich nur dem männlichen Einzelnen zugestanden werden. Für das 497 Veranschaulicht wird diese Sichtweise im folgenden Zitat: »Will also das Weib eine eigentliche D e n k e r i n , eine Philosophin, eine spekulative Politikerin werden; so vernachläßigt sie ihre Eigenthümlichkeiten [sic!], in denen sie Meisterin werden kann, und hascht nach andern, in denen sie doch nur mittelmäßig bleiben wird. […] Dabei gefällt sie nicht dem Mann, dem sie doch zu gefallen bestimmt ist« (Ebd. Erste Band. S. 37. Hervorhebung im Original). Diese Bestimmung der Frau inklusive der unzähligen Verweise auf die für sie vorgesehenen Tätigkeiten erwähnt Ewald durchweg. (Vgl. ebd. Erste Band. S. V, 5, 10, 12, 37 55, 59, 67, 94, 99f., 101, 106 u. 187. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 153. Als auch: Ebd. Dritte Band. S. 3, 5, 131, 140 u. 207.) 498 Denn es sei die Bestimmung des Mannes, im Haus und in der Welt zu agieren. (Vgl. ebd. Erste Band. S. 9, 55, 97 u.126. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 124 u. 126. Als auch: Ebd. Dritte Band. S. 131.) Ausführlicher werde ich diese Thematik im Kapitel 3.2.2. Die Funktionalisierung des Geschlechts behandeln. 499 Vgl. ebd. Erste Band. S. 5. 500 Vgl. ebd. Erste Band. S. 58, 70, 87 u. 180. 501 Vgl. ebd. Erste Band. S. 66. Sowie: Ebd. Dritte Band. S. 80. 502 Vgl. ebd. Dritte Band. S. 79. 503 Eigensinn wird wiederholt (Vgl. ebd. Erste Band. S. 209, 210, 224, 225 u. 226. Sowie: Ebd. Zweite Band. S. 134 u. 153.) und Egoismus einmal als Untugend genannt. (Vgl. ebd. Zweite Band. S. 87.) 504 Ebd. Erste Band. S. 180. 505 So schreibt er: »Die Menschheit ist nicht eine Kette, deren Glieder n u r a l s Glieder der Kette brauchbar wären, sondern eine Kette von Solitärringen, deren Jeder seinen eigenen Brillanten hat, und als Einzelne Ring gelten kann; […] [deswegen] müssen Sie für sich, Jede ein frei-sittliches Wesen werden, und sich a l s s o l c h e s bilden für das große sittliche Reich« (Ebd. Erste Band. S. 214. Hervorhebungen im Original.).

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Quellenuntersuchung

männliche Geschlecht bildet die Einzelheit deswegen eine sehr wichtige, für das weibliche Geschlecht hingegen eine nebensächliche Identitätsformation. In Karl Hahns 1809 erschienenem Ratgeber Wilhelmine506 findet sich weder der Individuums- und Individualitätsbegriff noch einer der bisher ermittelten, synonymen Ausdrücke wie Subjekt oder Persönlichkeit. Die Kategorie des Einzelnen wird einmalig in Form des Begriffes sowie mehrfach anhand indirekter Verweise thematisiert.507 Dazu formuliert Hahn zwar als Ziel, dass »das Kind sich selbst leiten«508 solle, verbindet dies jedoch mit der übergeordneten Zielsetzung einer Nützlichkeit für die Gemeinschaft.509 Anstatt des Einzelnen stünde also das Gemeinwesen im den Mittelpunkt der Erziehung. Aussagen über die Eigenheit des Individuums werden derweil nicht getroffen, obwohl der Ausdruck Eigentümlichkeit sogar dreimal vorkommt, dabei jedoch nicht in Bezug zum Menschen gesetzt wird.510 Alles in allem findet die Kategorie des Einzelnen kaum in Hahns Ratgeber Erwähnung, weswegen diese als eine nebensächliche Identitätskategorie beurteilt wird. Betty Gleim verwendet in ihrem 1810 veröffentlichten Werk Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts511, dem ersten Erziehungsratgeber meiner 506 Hahn, Karl Heinrich August. Wilhelmine. Oder das erste Buch für Mütter, die auf den Verstand ihrer Kinder, von der frühesten Zeit an, wirken wollen. Zwei Theile. Berlin 1809. Weder auf dem Titelblatt noch in der Vorrede oder im Haupttext finden sich Angaben über die Tätigkeit von Hahn. Laut Meusels Lexikon war er als königl. Preussischer Regierungs- und Schulrath zu Erfurt tätig, (Vgl. Meusel (1821). Gelehrte Teutschland. 18. Band. S. 23. Hier: S. 23.) womit er im Berufsfeld der Verwaltung einzuordnen ist. Das Werk kann als Ratgeber klassifiziert werden, weil als Adressat wiederholt Mütter angegeben werden (Vgl. Hahn (1809). Wilhelmine. S. 3, 25, 44, 55 u. 90.) und er Anleitungen zu Verhaltensweisen im Umgang mit Kindern formuliert. 507 In der einmaligen Nutzung des Einzelnenbegriffes im Bezug auf den Menschen schreibt Hahn vom »einzelne[n] Mensch« (Ebd. S. 12.). Darüber hinaus spricht er von Mensch an mindestens fünf Textstellen als Verweis auf die Kategorie des Einzelnen. (Vgl. ebd. S. 4, 36, 42, 48 u. 76.) 508 Ebd. S. 33. 509 Beispielsweise schreibt er: »Der Verstand ist nicht allein dazu nöthig [sic!], daß wir gut sind, er muss uns auch beistehen, daß wir nützlich in der menschlichen Gesellschaft leben können« (Ebd. S. 36.). (Er äußert weitere solcher Aussagen, siehe: Ebd. S. 5 u. 90.) 510 Der Eigentümlichkeitsbegriff wird von Hahn auf Speisen, auf Katzen und Vögel bezogen, (Vgl. ebd. S. 11, 28 u. 79.) nicht jedoch auf einen Menschen. 511 Gleim, Betty. Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts. Ein Buch für Eltern und Erzieher. Leipzig 1810. In dem Werk ist selbst kein Hinweis auf die Tätigkeit der Autorin enthalten. Laut Schindel gründete Gleim aber im Jahr 1806 eine Mädchenschule in Bremen und leitete diese, (Vgl. Schindel, Carl Wilhelm Otto August von. Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts. Erster Theil A–L. Leipzig 1823. S. 163–166. Hier: S. 164.) was zudem von neueren Forschungsbeiträgen bestätigt wird. (Vgl. Pilz, Elke. Betty Gleim. Pädagogin aus Leidenschaft. In: dies. (Hrsg.). Bedeutende Frauen des 19. Jahrhunderts. Elf biographische Essays. Würzburg 2010. S. 9–22. Hier: S. 12f.). Gleim gilt es also im pädagogischen Tätigkeitsfeld einzuordnen. Weil das Werk in zwei Teile untergliedert ist, mache ich die konkrete Zugehörigkeit jeweils ersichtlich.

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Untersuchung, der von einer weiblichen Autorin verfasst wurde,512 eine ausgesprochen quantitative Begriffsvielfalt inklusive der Verwendung des Identitätsterminus513. Dazu kommt im Werk zwölfmalig der Individuumsbegriff 514, gar achtundzwanzigmalig (!) der Individualitätsterminus515 sowie die vereinzelte Nutzung von Ausdrücken wie Persönlichkeit, Ichheit und Ichheitssein und Subjectivität vor.516 Solch ein numerisches Begriffsvolumen konnte bisher noch nicht ermittelt werden. Des Weiteren wird in ihrem Werk ein bislang in der Untersuchung noch nicht festgestelltes Eigenheitsmodell entwickelt. Denn so schreibt sie:

512 Gleim benennt Eltern und Erzieher explizit in ihrem Untertitel als Adressaten und die Erziehung und den Unterricht als ihren Gegenstand, womit ich die Klassifikation des Werkes als einen Erziehungsratgeber als gerechtfertigt ansehe. 513 Vorwegnehmend kann hier angemerkt werden, dass das Werk die einzige aller meiner untersuchten Quellen ist, in dem der Identitätsbegriff verwendet wird und das sogar zweimalig sowie in einer eindeutigen Definition. Denn es heißt: »Die Religion bezweckt Heiligkeit. […] Einssein (Identität) mit Gott« (Gleim (1810). Erziehung und Unterricht. Zweite Teil. S. 121.). Sowie: »Heiligkeit! höchster Abscheu an dem Bösen, höchstes Wohlgefallen an dem Guten; Identität mit dem Guten« (Ebd. Zweite Teil. S. 130.). Gleim versteht also die Gleichheit zweier Dinge oder Wesen miteinander als Identität. 514 Vgl. ebd. Erste Teil. S. 3, 11, 42, 52. Sowie: Ebd. Zweite Teil. S. 9, 11, 35, 45 u. 148. MEV. Ihre Definition vom Individuum fällt eindeutig aus, da sie schreibt: »Jeder Mensch, der uns im Leben vorkommt, ist ein Individuum; d. h. nicht ein Mensch im Allgemeinen und schlechthin, sondern ein so und so bestimmtes und bedingtes, und durch die und die Eigenthümlichkeiten [sic!] von allen andern Wesen seiner Gattung sich unterscheidendes Einzelwesen« (Ebd. Zweite Teil. S. 9.). 515 Vgl. ebd. Erste Teil. S. 11, 21, 52, 55, 60, 81, 83, 104, 106 u. 161. Sowie: Ebd. Zweite Teil. S. 10, 11, 29, 30, 32, 45, 97, 113 u. 148. MEV. Diese Anzahl ist im Vergleich zu den bisherigen Begriffsvorkommen überraschend und stellt keine Folge etwa eines großen Seitenumfanges dar, weil Gleims Ratgeber 316 Seiten umfasst. Als Vergleich, Campes Ratgeber für Mädchen beanspruchte zum Beispiel 516 Seiten, Ewalds Werk für Jungen 747 Seiten oder sein Werk für Mädchen 776 Seiten. 516 Während sie siebenmalig den Persönlichkeitsausdruck im Sinne von Charakter gebraucht, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 21, 29, 97, 115 u. 162. Sowie: Ebd. Zweite Teil. S. 36 u. 46.) spricht sie je einmalig von Ichheit, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 93.) Ichheitssein, (Vgl. ebd. S. 21.) Subjectivität (Vgl. ebd. Zweite Teil. S. 101.) sowie subjectiv. (Vgl. ebd. S. 147.) Der Einzelnebegriff kommt mehrfach vor. (Vgl. ebd. Erste Teil. S. XI, 13, 55 u. 57.) Bezüglich der inhaltlichen Verständnisweise erscheint es interessant, dass Gleim eine ähnliche, aber dennoch verschiedenartige Bedeutung zwischen Subjektivität und subjektiv skizziert. Denn Subjektivität versteht sie als eine auf das menschliche Wesen bezogene Eigenheit, da sie schreibt, dass der »erste Eindruck von der Entwicklung und den Schicksalen des Menschengeschlechts für die Subjectivität [sic!] des Zöglings wichtig ist« (Ebd. Zweite Teil. S. 101.). Den Ausdruck subjektiv nutzt sie dagegen in einer numerischen Schwerpunktsetzung von eigen und setzt ihn in einen anderen, nicht direkt auf das menschliche Wesen bezogenen Kontext. Denn es heißt: »sie verwechselt auch hier den objectiven [sic!] und weltlichen Nutzen mit der subjectiven [sic!], ewig gültigen Bedeutung der Cultur [sic!]« (Ebd. S. 147.). Damit stellt sich ein feiner Unterschied zwischen beiden Begrifflichkeiten fest.

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Quellenuntersuchung

Da aber der Mensch in der Erscheinung nicht als reiner Mensch auftritt, sondern in der Individualität eines Mannes oder Weibes, und unter bestimmten Standes- und Berufsverhältnissen, so geht hieraus die Nothwendigkeit [sic!] hervor, außer der allgemeinen Menschenbildung auch noch auf eine besondere Geschlechts- und Berufsbildung Rücksicht zu nehmen. […] Jeder Mensch ist nun entweder Mensch, Mann und Erdenbürger; oder Mensch, Weib und Erdenbürger.«517

Gleim deutet in diesem Zitat drei Dimensionen an, welche die Entstehung von Individualität bestimmen. Als Erstes wäre diese eine Folge eines allgemeinen Menschseins, aus dem die grundlegenden Prädestinationen und Eigenheiten jedes Individuums resultierten.518 Als Zweites existiere eine Geschlechtsindividualität519, aus welcher sich sowohl bestimmte Charakterformen als auch konkrete Pflichten sowie Tätigkeitsfelder ableiteten.520 Als Drittes wirkten die lebensweltlichen, sozialen Einflussfaktoren auf die Entstehung der Individualität ein. Während also in den ersten beiden Dimensionen die Eigenheiten des Einzelnen verankert wird, stellt die dritte Ebene eher eine Wirkungssphäre dar, welche die Genese der vorhandenen Anlagen der jeweiligen Individualität be517 Ebd. Erste Teil. S. 55ff. Im Zuge der Ausbildung des Einzelnen gelte nach Gleim sowohl »die Schonung seiner Individualität« (Ebd. Erste Teil. S. 161.), »[w]eil diese Methode die Individualität schützt, und die Selbstständigkeit und das Emporkommen eines eigenen Characters begünstigt,« (Ebd. Zweite Teil. S. 30.) als auch diesem »auf das freieste seine eigenste Individualität auszubilden« (Ebd. Zweite Teil. S. 45.) und als Eltern dabei nicht »ihre eigene Persönlichkeit ihren Kindern anzueignen und aufzudringen« (Ebd. Erste Teil. S. 161f.). Die Ausbildung der Individualität wird also von Gleim zu einer Hauptmaxime der Erziehung erklärt. 518 Gleim führt aus, dass jedes Einzelwesen schon in Folge seiner Grundkonstitution von allen anderen menschlichen Wesen verschieden sei, weil es »ein so und so bestimmtes und bedingtes, und durch die und die Eigenthümlichkeiten [sic!] von allen andern Wesen seiner Gattung sich unterscheidendes Einzelwesen« (Ebd. Zweite Teil. S. 9.) wäre. Sie deutet damit sowohl prädestinierte (bestimmte) als auch von lebensweltlichen Faktoren geprägte (bedingte) Eigenheiten an. 519 Dieses von Gleim zweimalig verwendete Kompositum (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 56 u. 83.) bringt den Gedanken einer Eigenheit der Geschlechter auf einen Begriff und ist in keinem weiteren der bislang untersuchten Erziehungsratgeber festgestellt worden, auch wenn sich der Grundgedanke in einigen anderen Werken herausarbeiten ließ (etwa bei Uden oder in Campes sowie Ewalds Ratgeber über Mädchen). 520 So schreibt Gleim: »Das Wort Weiblichkeit […] versteht richtig darunter, die Summe derjenigen Eigenschaften, welche die Individualität des Weibes ausmachen und begründen. Der Mann hat seinen eigenen Geschlechtscharacter und das Weib den seinigen; beide aber vereinen sich in dem Gattungscharacter, und sind in diesem nicht weiter unterschieden« (Ebd. Erste Teil. S. 60. Hervorhebungen von S.N.). Dazu ergänzt sie an anderer Stelle, dass dies die »Ausbildung der Geschlechtsindividualität und Vorbereitung für die mögliche Erfüllung der Pflichten in dem Berufe der Gattinn [sic!], Mutter und Hausfrau [bedinge]. Die weibliche Individualität ist, was man auch dagegen sagen möge, von der männlichen wesentlich verschieden; diese Individualität soll nun nicht verletzt oder geknickt, sondern schonend und pflegend cultivirt [sic!] werden« (Ebd. Erste Teil. S. 83. Hervorhebungen von S.N.).

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einflusse, aus der jedoch selbst keine eigenen Formen von Eigenheit entspringen. Gleim skizziert bis hierin ein zweifaches Eigenheitskonzept. Bei diesem belässt sie es jedoch nicht, sondern entwirft noch eine weitere Eigenheitsform der Volksindividualität521. Diese wäre durch die geographische Lage, den klimatischen Rahmenbedingungen, der Historie sowie den Traditionen und Lebensweisen eines Volkes bestimmt522 und führe zu »verschiedenen Menschenracen [sic!]; [die] eine Characteristik [sic!] der Nationen [ermögliche], in so fern sie sich durch Naturanlagen und durch den Einfluß, den die Lage ihres Wohnorts auf sie, als Naturwesen, ausübt, unterscheiden«523.

Jede Nation hätte demzufolge eine eigene Individualität, die sich in einer hybriden, zweifachen Weise konstituiere. Einerseits durch spezifische Naturanlagen, die demnach dem Einzelnen schon vor der Geburt inhärent wären, womit Gleim den Gedanken einer Essenzialität der Nationen entwickelt. Andererseits scheint sich die Volksindividualität aber auch permanent verändern zu können, schließlich weist Gleim auf die Einflussfaktoren von Klima, Geographie sowie den sozio-kulturellen Gesellschaftsbedingungen auf die Individualität eines Volkes hin. Deswegen wird diese nicht als eine feste und abgeschlossene Eigenheitsform gedacht, sondern in einer hybriden Variante mit einer Grundessenz, die zudem veränderbar wäre. Die drei Eigenarten bestimmen zusammen die Individualität des Einzelnen,524 deren Ausbildung von Gleim als eine Hauptmaxime der Erziehung betrachtet wird. Damit rückt aber nicht der Einzelne ins Zentrum ihres Identitätsmodells, sondern sie sieht dies als Voraussetzung dafür, welche den »Mensch[en] nach und nach befreit von dem bösen Ichheitssinn, der das Grundübel unserer Natur ist«525. Zudem befördert es das Ideal eines Aufgehen im Kollektiv: 521 Auch dieser Terminus, den Gleim einmalig verwendet, (Vgl. ebd. Zweite Teil. S. 97.) ist bisher noch nicht in meiner Untersuchung verzeichnet worden, auch wenn das zugrunde liegende Konzept genuiner Eigenheiten von Völkern oder Nationen schon mehrfach skizziert worden ist, zum Beispiel bei Küster oder Uden. Die Ausdrücke Volk und Nation verwendet Gleim als synonyme Begriffe. 522 Vgl. ebd. Zweite Teil. S. 97ff. u. 113. 523 Ebd. Zweite Teil. S. 93. 524 Diese wird auch sechsmalig als Persönlichkeit bezeichnet, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 46, 97, 115 u. 162. Sowie: Ebd. Zweite Teil. S. 36 u. 46.) womit der Begriff als Synonym von Individualität genutzt wird. 525 Ebd. Erste Teil. S. 21. Deswegen stellt sie Selbstüberwindung, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 63.) Selbstverläugnung (Vgl. ebd. Erste Teil. S. XIV u. 123. Sowie: Ebd. Zweite Zeil. S. 47.), Selbstvergessenheit (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 44 u. 95.) als auch Unterwürfigkeit (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 38, 111 u. 139.) als Tugenden dar, fordert die »Ertödtung [sic!] des eigenen Selbsts« (Ebd. Zweite Teil. S. 120.) und stellt in unzähliger Varianz die Fokussierung auf sich selbst als Untugend dar: Egoismus, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 21, 22, 63 u. 110.) Eigensucht, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 28 u. 32.) Eigendünkel, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 28 u. 45.) Eigennutz, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 32) Ei-

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Quellenuntersuchung

»Jeder Einzelne soll in sich die Idee der Menschheit zu realisiren [sic!] streben; das Individuelle Besondere soll zu dem allgemeinen Gattungscharakter erweitert, erhoben und veredelt werden. Würde diese Idee bei allen Individuen in Ausführung gebracht, so wäre das Ideal der Erziehung erreicht; jedes Individuum wäre so gebildet, daß alle Individuen zusammen ein großes organisches Ganzes ausmachten, in welchem jeder Theil [sic!] zugleich Mittel und Zweck, das Ganze aber Selbstzweck der Vollkommenheit, Seligkeit und Gottesgemeinschaft wäre.«526

Die Kategorie des Einzelnen erfährt in Gleims Ratgeber demgemäß zwar Bedeutung und wird als eine wichtige Identitätskategorie bewertet, letztlich gelte es jedoch, das Individuelle zu überwinden und in anderen Kollektivkategorien bzw. dem Ganzen aufzugehen. In Karl Wittes 1820 veröffentlichter Erziehungsschrift Ueber Erziehung deutscher Töchter aus den gebildeten Ständen527, die sich an Mütter richtet,528 kommt das Einzelwesen genauso wenig vor wie ein Gedanke von Individualität.529 Anstelle dessen wäre es das Ziel in der Erziehung von jungen Frauen, dass diese »ein liebenswürdiges Mädchen und späterhin eine vorzügliche G a t t i n , H a u s f r a u und M u t t e r werden«530 und damit die von Gott bestimmten Rollen erfüllten.531

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genliebe, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 63, 89, 95 u. 120.) Eigenwillen, (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 89 u. 142.) Eigensinn (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 89 u. 144.) und Selbstsucht. (Vgl. ebd. Erste Teil. S. 120 u. 140.) Ebd. Erste Teil. S. 11. Witte, Karl Heinrich Gottfried. Ueber Erziehung deutscher Töchter aus den gebildeten Ständen. Von dem Prediger Dr. Karl Witte. Dresden 1820. Bereits im Untertitel wird auf die Tätigkeit des Verfassers verwiesen, der als anscheinend promovierter Theologe im Priesteramt tätig gewesen war und damit dem institutionellen Feld der Kirche zuzuordnen ist. Bei Meusel wird zudem noch erwähnt, dass er dieses Amt 1810 aufgegeben hätte, um sich auf die Erziehung seines Sohnes zu konzentrieren. (Vgl. Meusel (1827). Gelehrte Teutschland. 21. Band. S. 644–646. Hier: S. 644.) Weil er darüber hinaus noch eine Vielzahl an Büchern veröffentlicht hat, (Vgl. ebenda.) gilt es ihn auch als einen Schriftsteller zu klassifizieren. In zeitgenössischen Rezensionen, in denen eine abweichende Titelendung angegeben wird, da anstelle von gebildeten Ständen dort edlern Herkunft geschrieben steht, wird das Werk als Winke und somit bereits als ein Ratgeber charakterisiert. (Vgl. Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung. No. 80. December 1820. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahr 1820. Siebzehnter Jahrgang. Vierter Band. October, November, December. No. 80. Nebst Ergänzungsblätter. Jena/ Leipzig 1820. S. 617–624. Hier: S. 619f. Sowie: Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1820. Dritter Band. September bis December. No. 316. Halle/ Leipzig 1820. S. 781.) Die Adressatengruppe der Mütter wird direkt im Werk genannt. (Vgl. Witte (1820). Ueber Erziehung deutscher Töchter. S. 13.) Erwähnenswert ist zudem, dass die Schrift als ein Gespräch zwischen einem Ich-Erzähler und drei Frauen inszeniert ist, an dessen Ende die Gesprächspartnerinnen den Erzähler auffordern, das Besprochene aufzuschreiben und zu veröffentlichen. (Vgl. ebd. S. 88.) Eine solche Ratgeberform kam bisher in der Analyse noch nicht vor. So findet sich im Werk weder der Einzelne-, Individuums- oder Individualitätsausdruck noch werden Gedanken von Eigentümlichkeiten oder Eigenheiten auch nur angedeutet. Ebd. S. 14. Hervorhebungen im Original.

Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven

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Witte entwirft die Frau damit nicht als eine mit Individualität ausgestattete Einzelne, sondern als ein Wesen, welches komplett in den für sie bestimmten Kategorien und Lebenssphären aufzugehen und sich dessen Anforderungen unterzuordnen hätte.532 Die Kategorie des Einzelnen erfährt in seinem Identitätsentwurf demgemäß keinerlei Bedeutung. In dem 1820 erschienenen Ratgeber Belehrende Briefe einer Mutter an ihre Töchter533, der von Wilhelmine von Gersdorf 534 verfasst wurde, ist der Gedanke einer (weiblichen) Individualität dagegen genauso enthalten wie die Begriffe Individuum, Einzelne, Eigenheit und Eigentümlichkeit.535 Auch wenn der Individualitätsterminus selbst nicht vorkommt, skizziert von Gersdorf ein zweifaches Eigenheitsmodell, in dem neben einer individuellen536 noch von einer ge531 An mindestens zehn Textstellen wird die göttlichen Bestimmung dieser Rollen genannt. (Vgl. ebd. S. 2, 14, 22, 30, 34, 42, 56, 73, 79 u. 86.) Andere Tätigkeiten werden von Witte abgelehnt: »Gelehrte Frauenzimmer sind v e r f e h l t e Wesen« (Ebd. S. 1. Hervorhebung im Original.) und Abweichungen von dieser Bestimmung würden bestraft: »So rächte die Natur die Abweichungen von ihrem Pfade an einer Person, welche bestimmt zu sein schien, zu den liebenswürdigsten ihres Geschlechts zu gehören; eine glükliche [sic!] und beglükkende [sic!] Gattin zu werden; ihrem Hauswesen musterhaft und h ö c h s t n ü t z l i c h vorzustehen; gesunde, kräftige und sehr gebildete Kinder zu erziehen« (Ebd. S. 79. Hervorhebungen im Original.). 532 Diese von Witte vertretene Sichtweise kristallisiert sich bereits in dem obigen Zitat heraus. Darüber hinaus postuliert er eine grundsätzliche Minderwertigkeit der Frauen gegenüber Männern, wenn er schreibt: »Jede Erinnerung daran daß sie We i b e r und nicht M ä n n e r sind, kränkt sie schon. Sie schämen sich sogar nicht, oft und bitter die G o t t h e i t a n z u k l a g e n , daß diese ihr Geschlecht s o p a r t h e i i s c h z u r ü c k g e s e t z t habe« (Ebd. S. 8f. Hervorhebungen im Original.). Dementsprechend scheint er die geschlechterspezifische Unterteilung der sozialen Rollen und Lebenswelten als gottgegeben zu betrachten, was jegliche Kritik sowie Änderung ausschließt. 533 Gersdorf, Wilhelmine von. Belehrende Briefe einer Mutter an ihre Töchter. Leipzig 1820. Weil sich von Gersdorf sowohl im Titel als auch häufig in ihrem Werk als eine Mutter inszeniert, die durch ihre Belehrende Briefe ihren Töchtern Ratschläge erteilt, betrachte ich die Klassifikation des Werkes als Erziehungsratgeber als gerechtfertigt. 534 Die bereits adlig geborene Wilhelmine von Gersdorf übte entsprechend ihrer Herkunft keine dezidierte berufliche Tätigkeit aus, veröffentlichte jedoch eine Vielzahl an Romanen, Erzählungen und Gedichten und wurde in der Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste als eine Schriftstellerin und Dichterin bezeichnet, (Vgl. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1855). S. 467–469. Hier: S. 468, Sp. 2.) weswegen ich sie als eine solche klassifiziere. 535 Siehe für den Individuumsausdruck: Gersdorf (1820). Gelehrte Briefe. S. 38, 46, 98, 125, 193 u. 289. Für Einzelne: Ebd. S. 27, 90, 96, 145, 196 u. 206. Für Eigenheit: Ebd. S. 45, 48, 86 u. 144. Und für Eigentümlichkeit: Ebd. S. 46, 47, 217 u. 233. Für Eigenheit gilt es noch anzumerken, dass der Begriff nur in der letzten angegeben Textstelle auf ein menschliches Wesen bezogen wird. (Vgl. ebd. S. 144.) An den vorherigen wird er im chemisch-physikalischen (Vgl. ebd. S. 45 u. 48) sowie im philosophischen Kontext und Bezug verwendet. Der Gedanke der Verschiedenheit der menschlichen Charakterformen und somit von Eigenheit wird aber sowohl anhand des Eigenheits- als auch Eigentümlichkeitsbegriffes entwickelt sowie noch ein weiteres Mal ohne eine Begriffsnutzung skizziert. (Vgl. ebd. S. 250.) 536 Siehe die vorherige Fußnote.

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Quellenuntersuchung

schlechterspezifischen Eigenart ausgegangen wird, die angeboren wäre.537 In den Vorstellungen, wie sich das weibliche Geschlecht verhalten und welche Rollen es erfüllen sollte, ähnelt die Sichtweise von Gersdorfs aber der Wittes. Denn neben dem Wertekatalog, in dem Selbstbeherrschung, Aufopferung sowie Gehorsam als Tugenden und jegliche Selbstfokussierung in mannigfacher Art als Untugend dargestellt wird,538 fordert sie die Frau zur Unterwürfigkeit gegenüber dem (Ehe-)Mann auf 539 und reduziert ihr Tätigkeitsfeld auf das Haus und die Rollen einer Mutter, Ehe- und Hausfrau. So schreibt sie direkt an Töchter gerichtet: »[E]s kommt bloß auf Euer Bestreben, auf Euern Fleiß in frühen Jahren an, wo Ihr am fassungsfähigsten, am lernbegierigsten seyd [sic!], um dasjenige zu werden, was Ihr nach Euern Fähigkeiten und Lagen werden könnt, angenehme Gesellschafterinnen, nützliche Freundinnen, verdienstvolle Gattinnen, vernünftige Mütter und Erzieherinnen, kluge Hausfrauen, kurz – glückliche Geschöpfe.«540

Die Auswahl der potentiellen Tätigkeiten fällt für Frauen demgemäß überschaubar aus und konzentriert sich in erster Linie auf die häusliche Lebenssphäre. Damit leiste das weibliche Geschlecht jedoch einen wichtigen Beitrag zum Gemeinwesen,541 weswegen als Erziehungsziel einerseits die Selbstvervoll537 Denn so heißt es bei von Gersdort etwa, dass die Tugenden der Liebe und des Wohlwollens »eigenthümlich [sic!] der veredelten Weiblichkeit zugehört« (Ebd. S. 180.) und dass »uns die Natur mit tiefern Empfindungsvermögen und zärtern Organen ausgerüstet hat als die Männer« (Ebd. S. 74.). 538 Während von Gersdorf sowohl Selbstbeherrschung (Vgl. ebd. S. 84, 86, 159 u. 278.) als auch Aufopferung (Vgl. ebd. S. 84, 88, 205 u. 232.) viermalig und Gehorsam (Vgl. ebd. S. 229, 257 u. 264.) dreimalig als Tugend skizziert, kritisiert sie die Selbstfokussierung in vielfacher Variation: als Eigenwillen (Vgl. ebd. S. 87.), Eigensinn (Vgl. ebd. S. 88 u. 260.), Selbstsucht (Vgl. ebd. S. 177, 199, 290 u. 291.), Eigenliebe (Vgl. ebd. S. 177.), Eigennutz (Vgl. ebd. S. 148, 199, 208, 213, 255 u. 302.), Selbstliebe (Vgl. ebd. S. 212.) und als Egoismus (Vgl. ebd. S. 113 u. 141.). Insgesamt also mindestens siebzehnmal. 539 So schreibt sie: »Es ist ein allgemeines Naturgesetz, daß der Schwache dem Starken unterwürfig ist, das Weib kann sich nur zu ihrer eignen Schande ausschließen, die Oberherrschaft desjenigen Beschützers, den ihr die Natur und die Weltordnung gegeben hat, in allen billigen Dingen gehörig anzuerkennen. Ein herrschsüchtiges Weib würdigt sich und ihren Lebensgefährten herab« (Ebd. S. 229f.). Erwähnenswert ist zudem noch, dass ein erwachsenes weibliches Wesen außerhalb der Ehe in von Gersdorfs Ratgeber generell nicht vorkommt. Die Ehe, die sie als geheiligt und die Ehe-Scheidung als überflüssig bezeichnet, (Vgl. ebd. S. 220f.) scheint ihr ein Naturgesetz zu sein. 540 Ebd. S. 16f. Weitere Rollen oder Tätigkeiten, die außerhalb des Hauses lägen, werden für das weibliche Geschlecht nicht geschildert, vermutlich weil sie annimmt, dass Frauen zu den von ihr skizzierten Aufgaben göttlich bestimmt wären. (Vgl. ebd. S. 16, 84, 88, 238, 289, 290, 329 u. 336.) 541 Denn »auf den Fleiß der Frauen und ihre gute Anordnung beruht das zum Gesammtwohl [sic!] des Staats so nöthige [sic!] Familienglück. […] [S]o befördern wir den Wohlstand unsrer Aeltern [sic!], Gatten und Kinder in der Folge, denn die geringste unsrer Leistungen ist unentbehrlich für das uns theure [sic!] Individuum, und wichtig im Ganzen« (Ebd. S. 289.).

Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven

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kommnung sowie andererseits die Nützlichkeit für das Ganze ausgegeben und ein Aufgehen der Einzelnen in diesem propagiert wird.542 Von Gersdorf gewährt der einzelnen Frau und ihrer Eigenheit damit zwar durchaus Anerkennung, verlangt jedoch letztlich mit dem Aufgehen in die prädestinierten Rollen und Kollektivkategorien eine Selbstüberwindung der Einzelnen für das kolportierte Ganze. Deswegen wird die Kategorie des Einzelnen in ihrem Identitätsmodell als eine nebensächliche Identitätseinheit betrachtet. Zusammenfassend stellt sich für die dritte Teilperiode damit eine ausgeprägte Varianz in den Begriffsvorkommen und den Eigenheitsmodellen heraus. Die Vorstellung von Individualität ist beispielsweise in einigen Werken abwesend oder wird in einer ein-, zwei- oder dreidimensionalen Denkweise entweder als eine individuelle, geschlechterspezifische oder nationale Eigenart konzipiert. Auch in der Bewertung der Kategorie des Einzelnen zeigt sich eine Pluralität auf. Neben Vielfalt auch Einheitlichkeit? (1821–1850) Im ersten Ratgeber der vierten Teilperiode, Leopold Gölis’ in zweiter Auflage543 1823 in Wien publiziertes Werk Vorschläge zur Verbesserung der körperlichen Kindererziehung544, wird die Kategorie des Einzelnen nur selten thematisiert. 542 Sowohl die Vervollkommnung und Veredelung (Vgl. ebd. S. 91, 145, 157, 176, 177, 188, 222 u. 260.), die Nützlich- und Brauchbarkeit für die Gemeinschaft (Vgl. ebd. S. 42, 90, 219 u. 329.) als auch das Aufgehen der Einzelnen in den vorhergesehenen Kollektivkategorien für ein Ganzes wird wiederholt gefordert. (Vgl. ebd. S. 90, 206, 218, 262 u. 289.) 543 Die 1811 veröffentlichte Erstausgabe schien im Gegensatz zur zweiten Auflage von 1823 von den zeitgenössischen Rezensenten kaum wahrgenommen worden zu sein, konnte ich für die erste keine und für die zweite Auflage mehrere Rezensionen finden. (Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1824. Vierter Band. Die Ergänzungsblätter dieses Jahrgangs enthaltend. No. 71. Junius 1824. Halle/ Leipzig 1824. S. 568.) (Sowie: Literarischer Anzeiger. No. XXXI. Leipzig 1823. In: Johann Friedrich Pierer und Ludwig Choulant (Hrsg.). Allgemeine Medizinische Annalen des neunzehnten Jahrhunderts auf das Jahr 1823. Oder Kritische Annalen der Medizin als Wissenschaft und als Kunst von dem dritten Jahrzehende des neunzehnten Jahrhunderts an. Leipzig 1823. o. S.) Weil mir die zweite Auflage leichter zugänglich war und diese zudem laut Verfasseraussage überarbeitet worden ist, entschied ich mich entgegen meiner bisherigen Vorgehensweise dafür, diese und nicht die Erstausgabe als Quelle zu verwenden. 544 Gölis, Leopold Anton. Vorschläge zur Verbesserung der körperlichen Kindererziehung in den ersten Lebens-Perioden, mit Warnungen vor tückischen und schnell tödtenden Krankheiten, schädlichen Gewohnheiten und Gebräuchen, und verderblichen Kleidungsstücken. Angehenden Müttern gewidmet. Zweyte, vermehrte und verbesserte Auflage. Mit drey Kupfertafeln. Wien 1823. Auf dem Titelblatt wird die medizinische Tätigkeit des Verfassers als Sanitätsrathe, Leibarzt des Herzogs von Reichstadt sowie als Director des KinderKranken-Institutes genannt. (Vgl. ebd. Titelblatt.) Diese Angaben werden auch in späteren, zeitgenössischen Lexikaeinträgen bestätigt, (Vgl. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1861). S. 76–77. Hier: S. 76, Sp. 2.) weshalb es ihn als einen Mediziner sowie als in der Verwaltung tätigen einzuordnen gilt. Die Klassifikation als Ratgebermedium fällt derweil leicht, da Gölis in seinem Werk wiederholt davon schreibt, Rat zu erteilen. (Vgl. Gölis (1823). Vorschläge zur Verbesserung. S. VI, 114 u. 193.)

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Quellenuntersuchung

Zusätzlich zu wenigen indirekten Verweisen verwendet Gölis ein einziges Mal den Individuumausdruck,545 kritisiert darüber hinausgehend eigenmächtiges Handeln von Eltern oder Schwangeren546 und deklariert Eigensinn als eine Untugend.547 Weitere Bezugnahmen zur Kategorie des Einzelnen lassen sich nicht entdecken und der Gedanke von einer menschlichen Individualität fehlt gänzlich. Dem einzelnen Individuum wird demgemäß kaum Beachtung geschenkt, weshalb die Formation des Einzelnen als eine nebensächliche Identitätskategorie beurteilt wird. In Rosette Niederers 1828 veröffentlichen Ratgeber Blicke in das Wesen der weiblichen Erziehung548 stellt sich eine quantitative Flut im Begriffsvorkommen fest, verwendet Niederer doch dreiundzwanzigmalig den Individuums-, jeweils vierzehnmalig den Individualitäts- und Einzelnebegriff sowie sechzehnmalig den Eigentümlichkeitsterminus.549 Zudem entwirft sie ein dreidimensionales Ver545 Neben der einmaligen Verwendung von Individuum (Vgl. ebd. S. 111.) wird zweimalig auf den kleinen Mensch verwiesen. (Vgl. ebd. S. 60 u. 61.) Dazu wird die Kategorie des Einzelnen dreimal indirekt in Form von jede/r angedeutet. (Vgl. ebd. S. 55, 68 u. 172.) Der Begriff Einzelne selbst wird zwar auch gebraucht, dabei jedoch nicht auf den Menschen, sondern auf die Kollektivkategorie der Familie (Vgl. ebd. S. 128.) oder auf andere Themenbereiche bezogen. (Vgl. ebd. S. 83, 84 u. 135.) 546 So schreibt er zum Beispiel: »[S]o soll der Genuß und der Gebrauch derselben vom Arzte bestimmet, und niemahls [sic!] von den Ältern [sic!] eigenmächtig und willkürlich angenommen werden« (Ebd. S. 159.). (Weitere solcher Aussagen finden sich noch: Vgl. ebd. S. 88, 104 u. 108.) 547 Vgl. ebd. S. 73. 548 Niederer, Rosette. Blicke in das Wesen der weiblichen Erziehung. Für gebildete Mütter und Töchter. Berlin 1828. Weil die Schrift einerseits an gebildete Mütter und Töchter adressiert ist, wie es der Titel veranschaulicht, und es in diesem mehrfach zur Selbstbezeichnung als ein Leitfaden kommt, (Vgl. ebd. S. 254, 302, 310 u. 312.) betrachte ich dessen Klassifikation als ein Ratgeber als gerechtfertigt. Zu Beginn der Schrift verweist Niederer selbst auf ihre Tätigkeit als »Erzieherin und Vorsteherin einer Bildungsanstalt« (Ebd. S. 4.), was auch in den zeitgenössischen Rezensionen Bestätigung findet, (Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1829. Fünfter Band. Die Intelligenzblätter dieses Jahrgangs enthaltend. No. 1. Januar 1829. Halle/ Leipzig 1829. S. 6–7. Hier: S. 6.) weswegen ihre Einordnung ins pädagogische Feld erfolgt. Die von Niederer zusammen mit ihren Mann geleitete Erziehungsanstalt für Mädchen lag wie ihre eigene Herkunft in der Schweiz, (Vgl. Leimgruber, Yvonne. In pädagogischer Mission. Die Pädagogin Rosette Niederer-Kasthofer (1779–1857) und ihr Wirken für ein »frauengerechtes« Leben in Familie und Gesellschaft. Bad Heilbrunn 2006. S. 263.) was es besonders im Hinblick ihres Verständnisses der Kategorie deutsch zu berücksichtigen gilt. Erwähnenswert ist noch, dass die im Titel angekündigte geschlechterspezifische Eingrenzung nicht im Werk umgesetzt wurde. Denn Niederer beschränkt ihre Erziehungsratschläge nicht auf dieses Geschlecht, sondern äußert sich auch zu Knaben. (Vgl. Niederer (1828). Blicke in das Wesen. S. 44, 45, 64, 240, 241 u. 421.) 549 Das Individuum versteht sie im Sinne eines numerischen Einzelwesens. (Vgl. ebd. S. 9, 43, 46, 73, 82, 98, 106, 116, 128, 172, 229, 273, 305, 324, 326, 338, 345, 401, 420, 433, 435 u. 463. MEV.) Unter Individualität versteht Niederer die Eigentümlichkeit eines Menschen, (Vgl. ebd. S. 40, 43, 73, 116, 186, 191, 257, 326, 379, 380 u. 434. MEV.) die sie in synonymer Bedeutung auch mit dem Begriff Persönlichkeit gleichsetzt, wenn sie schreibt: »Ich, welches das Kind

Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven

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ständnis von Eigenheit, in dem von einer aus dem Individuum stammenden, einer aus der Geschlechter- sowie einer aus der Volkszugehörigkeit resultierenden Eigenheitsform ausgegangen wird, die einen Menschen im Wesentlichen bestimmten. Denn: »Kein Mensch tritt je außer den ihm angeborenen geistigen Horizont seiner Individualität, seines Geschlechts und seines Volkes; jeder bezieht Alles auf ihn, nicht weil er will, sondern weil er muß. Darum kann auch die allgemeinste und umfassendste Geistesbildung Jeden nur in demjenigen stärken und befestigen, was er selbst ist.«550

Jeder Mensch wäre demnach durch die von Gott gegebenen, inhärenten Anlagen und Eigentümlichkeiten, durch sein Geschlecht und durch seine Volkszugehörigkeit determiniert und weder Umwelteinflüsse noch andere Menschen könnten daran etwas modifizieren.551 Die Individualität jedes Menschen wäre also bereits vor dessen Geburt festgelegt. Während die Eigentümlichkeit des Geschlechts dabei primär bestimmte Lebenssphären und Tätigkeiten bestimmten,552 wirke sich die Volkszugehörigkeit vor allem auf die Charakterbildung aus: ausspricht. Es hat mit diesem Wort ein individuelles Daseyn [sic!] als Geist, es hat seine Persönlichkeit gewonnen« (Ebd. S. 257.). Den Ausdruck Persönlichkeit verwendet sie insgesamt achtmal. (Vgl. ebd. S. 88, 143, 172, 199, 257, 358 u. 375. MEV.) Während sie den Einzelnenbegriff auf den Menschen bezieht und vierzehnmalig verwendet, (Vgl. ebd. S. 7, 45, 46, 77, 84, 89, 129, 380 u. 418. MEV.) kommt der Ausdruck Eigentümlichkeit sechzehnmalig vor. (Vgl. ebd. S. 5, 11, 34, 72, 87, 167, 188, 268, 324, 325, 379, 410, 433, 442 u. 443. MEV.) Ferner nutzt sie einmalig das Wort Eigenheit. (Vgl. ebd. S. 410.) 550 Ebd. S. 326. Auch an anderen Textstellen entwirft Niederer diese Eigenheitsformen. Für die geschlechterspezifische Eigenart siehe: Ebd. S. 8, 11, 116, 325 u. 344. Für die nationale bzw. Volkseigenart – beide Ausdrücke werden in synonymer Bedeutung als ein und dieselbe Kategorie verwendet – siehe: Ebd. S. 73, 325, 433, 474, 477, 482 u. 484. 551 Grundlegende Änderungen des Individuums, gar Abweichungen von dessen Individualität seien nicht möglich, daran lässt Niederer keinen Zweifel, wenn sie zum Beispiel schreibt: »Zur Stärke kann nicht jede Individualität gelangen, noch dazu erzogen werden« (Ebd. S. 191.). Die angeborenen Eigenheiten setzen demnach die Grenzen sowie Möglichkeiten der individuellen Entwicklung. (Siehe auch: Ebd. S. 326 u. 474.) 552 Für Frauen sei primär die Lebenssphäre des Hauses bestimmt. Denn das Ziel »weiblicher Bestimmung [läge] im Leben der Häuslichkeit […] [und] [s]obald das Weib sich eine andere Lebensaufgabe wählt, und einen der Häuslichkeit fremden Zweck verfolgt, so fällt es von der Weiblichkeit ab« (Ebd. S. 188). Zwar kritisiert sie auch, dass Frauen nicht »in Staat und Kirche als positive Kraft hervortreten [können] zu höherem Berufe« (Ebd. S. 428.) und fordert die »Erweiterung der Häuslichkeit durch alle Kreise des Daseyns [sic!]« (Ebd. S. 435.). Dies scheint sie jedoch als ein Recht für unverheiratete Frauen zu verstehen, damit diese einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten können. (Vgl. ebd. S. 426.) Denn sie äußert einerseits: »Das Gebiet der Oeffentlichkeit [sic!] kann und darf als solches nie das Gebiet des Weibes seyn« (Ebd. S. 454.). Es sei den Männern vorbehalten, Frauen wirken durch diese in jene Sphäre hinein. (Vgl. ebenda.) Andererseits verweist sie wiederholt darauf, dass die Bestimmung der Frau im Haus und in ihren Rollen als Mutter und Erzieherin, Ehefrau und Hausfrau liege. (Vgl. ebd. S. 6, 21, 35, 87, 90, 131, 134f., 235, 242f., 247f., 275, 348, 350, 353 u. 479.) Die Lebenswelt des Mannes sei hingegen neben seiner Rolle als Vater und Ehemann »das Dorf, worin er wohnet, die Gemeinde, deren Glied, die Stadt, deren Bürgern er ist, und

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Quellenuntersuchung

»Das Wesen des Vaterlandes als Volksthümlichkeit [sic!] und Nationalität ist das gemeinschaftliche Ergebniß [sic!] der Natur, des Landes, des Grundcharakters seiner Bewohner und der ursprünglichen, geschichtlichen Thatsachen [sic!], die dasselbe in die Reihe der Völker stellten und zur Würde einer Nation erhoben. […] Die physische Natur jedes Landes ist unveränderlich, eben so der psychologische Grundcharakter seiner Einwohner.«553

Damit widerspricht sich Niederer inhaltlich in ihrem Verständnis von Eigenheit, da eine Beeinflussung der Eigenheitsform des Volkes durch Einflussfaktoren wie der Geschichte, der Natur sowie der Gegebenheiten des Landes erwähnt werden,554 sie jedoch an der Behauptung von deren Unveränderlichkeit festhält. Denn jedem Wesen wären aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation qua Geburt spezifische Eigenarten inhärent, die es mit allen anderen Mitgliedern der Nation teile, die »selbst die im Ausland Erzogenen«555 besäßen und die unaustilgbar556 wären. Die nationalen Eigentümlichkeiten befänden sich dementsprechend in der Substanz und in dem Körper jedes Menschen, wodurch sie zu einer biologischen Kategorie erklärt und demzufolge naturalisiert und essentialiert werden. Niederer definiert die Nation damit als eine Schicksalsgemeinschaft, die eine auf gemeinsamen Eigenheiten und Charakterzügen basierende, homogene Gruppe sei, deren Zugehörigkeit nur aus Abstammung und Herkunft resultiere. Im Zuge dieser Definition überrascht es nicht, dass sie das kollektive Ganze gegenüber dem Einzelnen in ausdrücklicher Art priorisiert. So betont sie wiederholt, dass »das Besondere, das Individuelle dem Allgemeinen untergeordnet«557 und man »sich selbst als einzelnes Glied der Gesellschaft fügen, ihre Formen annehmen und zu ihrer Einheit beitragen lernen«558 solle. Auch in ihren Wertvorstellungen spiegelt sich dies wider, werden doch Selbstüberwindung, Unterordnung, Aufopferung, Gehorsam sowie Gemeinsinn- und -nützigkeit

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das Vaterland, dem er angehört; es ist der Staat aller Staaten, die Welt« (Ebd. S. 244f.). (Siehe auch: Ebd. S. 6, 244, 246 u. 427.) Die Geschlechterzugehörigkeit fungiert demnach bei Niederer zur Bestimmung der Lebenssphären. Ebd. S. 482. Anders ließe sich diese Eigentümlichkeit kaum konstruieren, denn Völker oder Nationen existieren nicht vom Anbeginn der Zeit, sondern entstehen, entwickeln sich und gehen auch wieder unter. Deswegen muss in deren Eigenheitsform eine Entwicklungsfähigkeit sowie eine Beeinflussung externer Faktoren enthalten sein, die Niederer aber als etwas ursprüngliches bezeichnet und damit zeitlich vorverlegt. Ebd. S. 474. Denn Niederer schreibt: »Der Deutsche, der Schweizer, der Franzose, der Russe, der Engländer, selbst die im Ausland Erzogenen, beziehen von selbst alles, was sie sehen, hören und lernen, auf ihr Land und tragen den Stempel ihres Volkes unaustilgbar an sich« (Ebd. S. 474.). Ebd. S. 379. Ebd. S. 380. Es finden sich zudem noch weitere Textstellen mit dieser Aussage. (Vgl. ebd. S. 87, 89 u. 258.)

Das Spannungsfeld vom Einzelnen zu den Kollektiven

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zu Tugenden erklärt559 und Formen individueller Bevorzugung mannigfaltig verurteilt.560 Alles in allem erfährt die Kategorie des Einzelnen zwar eine gewisses Maß an Anerkennung, die Unterordnung und das Aufgehen im kollektiven Ganzen wird jedoch eindeutig präferiert. Deshalb bildet die Formation des Einzelnen eine von mehreren Kategorien in Niederers Identitätsmodell. Individualität wird in ihrer Schrift in einem dreifachen Verständnis mit einer individuellen, einer geschlechterspezifischen und einer aus der Volkszgehörigkeit resultierenden Eigenheit konzipiert. Ein mehrdimensionales Individualitätskonzept entwickelt auch Theodor Heinsius in seinem 1838 publizierten Ratgeber Die Pädagogik des Hauses561. In diesem zeichnet sich zudem ein mannigfaltiges Begriffstableau ab, werden zusätzlich zu den Ausdrücken Individuum und Individualität noch die Begriffe Eigentümlichkeit, Subjekt, Naturell als auch Persönlichkeit verwendet.562 Eigen-

559 Während dabei zweimal Selbstüberwindung, (Vgl. ebd. S. 224 u. 318.) Aufopferung (Vgl. ebd. S. 143 u. 204.) und Gemeinsinn (Vgl. ebd. S. 129 u. 432.) gefordert wird, ist fünfmal von Gemeinnützigkeit, (Vgl. ebd. S. 379, 385, 426, 454 u. 477.) sechsmal von Unterordnung (Vgl. ebd. S. 37, 82, 129, 316, 379 u. 380.) und gar zehnmal von Gehorsam die Rede. (Vgl. ebd. S. 37, 102, 140, 152, 173, 175, 180, 205, 218 u. 392.) 560 Es werden Selbstsucht, (Vgl. ebd. S. 106, 171 u. 210.) Eigensinn, (Vgl. ebd. S. 171.) Egoismus, (Vgl. ebd. S. 468.) Eigenwille (Vgl. ebd. S. 174.) und Eigendünkel (Vgl. ebd. S. 169.) als Untugenden dargestellt. 561 Heinsius, Theodor. Die Pädagogik des Hauses. Eine klassische Fruchtlese für Eltern und deren Stellvertreter. Berlin 1838. Heinsius klassifiziert sein Werk in der Vorrede selbst als einen »pädagogische[n] Rathgeber der Familie« (Ebd. (Vorrede.) S. XIII.), weswegen dessen Klassifikation als Ratgeberquellen eindeutig ist. In der Vorrede bezeichnet sich Heinsius mehrfach als ein Pädagoge und verweist auf seine diesbezüglichen Erfahrungen. (Vgl. ebd. S. V, XII, XIII u. XVI.) Diese Angabem werden zudem in zeitgenössischen Blättern bestätigt, (Vgl. Zürcherisches Wochenblatt. Nr. 25. Montag, den 26. März 1838. Zürich 1838. Sp. 1. Auf: Bayerische Staatsbibliothek. (09. 01. 2019, 16:30 Uhr).) weswegen es ihn als einen solchen zu klassifizieren gilt. Weil das Format des Ratgebers in der Art abweicht, dass dessen erster Teil eine reine Zusammenstellung von Zitaten anderer pädagogischer Autoren bildet und der zweite Abschnitt eine »alphabetisch geordnete Tugend- und Heilmittel-Lehre« (Ebd. S. XXI.), also einem Lexikon entspricht, beschränke ich die Analyse auf die Vorrede des Verfassers und den zweiten Abschnitt des Lexikons, in welchem ich nur die Textstellen verwende, welche sichergehend von ihm selbst stammen und kein Zitat sind. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass es sich bei den jeweiligen Sichtweisen um die Auffassung von Heinsius handelt. 562 Während er das Individuum im Sinne eines Einzelnen definiert und dreimalig benutzt, (Vgl. Heinsius (1838). Pädagogik des Hauses. S. 190, 230 u. 286.) versteht er den Individualitätsausdruck, der dreimalig im Werk vorkommt, im Sinne von Eigentümlichkeit. (Vgl. ebd. S. XIII, 278 u. 329.) Den Persönlichkeitsbegriff nutzt er im Sinne von Charakter und Eigenheit viermalig (Vgl. ebd. S. 126, 128, 156 u. 160.) genauso wie den Eigentümlichkeitsterminus. (Vgl. ebd. S. 127, 278, 286 u. 290.) In selber numerischer Anzahl findet der Subjektbegriff Verwendung, davon einmal als Substantiv im grammatikalischen Sinne (Vgl. ebd. S. 300.) und dreimal als Adjektiv im Sinne von eigenen, eigentümlich. (Vgl. ebd. S.193, 272 u. 278.) Den Naturellbegriff, den er viermalig gebraucht, charakterisiert er als kaum bis

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heit denkt Heinsius in einer aus der allgemeinen Gattung des Menschen sowie dem Körper des Einzelnen resultierenden, sich im jeweiligen Charakter und den Fähigkeiten des Individuums ausdrückenden, individuellen Eigenart, die mit einer durch die Volkszugehörigkeit determinierten Eigenheitsform ergänzt wird, welche sich primär in der Körperlichkeit des Einzelnen manifestiere. So schreibt er: »Wir denken bei Te m p e r a m e n t an die verschiedene Mischung des Physischen und Geistigen im Menschen ü b e r h a u p t , bei N a t u r e l l mehr an die Eigenthümlichkeit [sic!] der physischen Natur, wie sie durch klimatische und tellurische Einflüsse unter den Völkern der Erde bewirkt wird. Jenes also bezieht sich auf den Menschen als Mitglied seines G e s c h l e c h t s , dieses auf den Menschen als Mitglied eines bestimmten Volkes; jenes wird durch dieses in den Graden seiner Stärke und Schwäche bestimmt, und kann durch Erziehung und Bildung veredelt werden; das Naturell dagegen ist schwer oder gar nicht zu besiegen, und geht als Nationalzug auch bei Veränderung aller äußern Verhältnisse auf die spätesten Generationen über.«563

Während die erste, als Temperament bezeichnete Individualitätsform dementsprechend im Einzelnen als Anlagen enthalten wäre und durch die Erziehung sowie andere Umwelteinflüsse modifiziert werden könnte, definiert er die zweite Art von Eigenheit, das Naturell, als eine quasi unveränderliche, sich vererbende Wesenheitsform spezifischer Völker. Diese hätte sich zwar in Folge von lebensweltlichen Einflussfaktoren wie dem Klima oder den Bodenbedingungen gebildet, müsste sich dann aber an einem von Heinsius offen gelassenen Zeitpunkt zu einer festen Wesenheit weiterentwickelt haben, da er den Nationalzug trotz aller lebensweltlicher Wandel als unveränderlich beschreibt. Heinsius konzipiert damit eine essentialisierte Form von Eigenheit, die sowohl spezifische körperliche Eigenschaften als auch genuine Charakterweisen bei den allen Volksangehörigen hervorbrächten.564 Während sich der Grundzug der nationalen Wesenheit also nie modifiziere und in einer kolportierten ursprünglichen Natur konstant erhalten bliebe, fließen in den Entwicklungsprozess des Temperaments – der angenommenen individuellen Eigenart – die lebensweltlichen Rahmenbedingungen mit ein. Damit skizziert Heinsius eine hybride Bildungsweise von gar nicht veränderbare, physische Eigentümlichkeiten eines Menschen. (Vgl. ebd. S. 250 u. 278. MEV.) 563 Ebd. S. 278. Hervorhebungen im Original. Im Zitat verdeutlicht sich zudem bereits, dass die Begriffe Nation und Volk in einer synonymen Bedeutung verstanden werden. 564 Denn es heißt: »Daß die Deutschen ihrer ursprünglichen Natur nach ein treures, biederes, dem Körper nach gesundes und starkes, dem Gemüth [sic!] nach einfaches, Wahrheit und Recht liebendes; daß sie ein muthiges [sic!], tapferes, beharrliches, immer nach Freiheit ringendes, daneben ein bildsames, und besonders auch einer vielseitigen Bildung empfängliches Volk waren und sind; […] – dieß [sic!] Alles bestätigt sich über, wo sich d e u t s c h e r G e i s t u n d S i n n in seiner Reinheit offenbart« (Ebd. S. 289. Hervorhebungen im Original.).

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Eigenheit. Die Beförderung der Individualität stelle eine wichtige Aufgabe der Erziehung dar,565 weil diese dazu führe, dass der Einzelne ein nützliches Mitglied seiner Nation werde und zusätzlich dabei helfe, fehlerhafte Entwicklungen entgegenzuwirken und dem Ideal jener ursprünglichen Essenz des Volkes wieder näher zu kommen.566 Heinsius nutzt also wiederholt eine biologisierende Sprache und entwirft die Metapher eines Volkskörpers, wenn er von der Reinheit einer deutschen Volks-Natur schreibt und die »Milderung oder Ausrottung heilbarer Gebrechen«567 bei eben jenem Kollektiv als Ziel ausgibt. Trotz der dargelegten Wichtigkeit der Individualität wird die Kategorie des Einzelnen damit als ein Mittel zum Zweck gedacht, als ein Bestandteil, welcher für den Erhalt und die Verbesserung des Kollektives sorgen soll. Die im Ratgeber vermittelten Wertvorstellungen bekräftigen dies, da verschiedene Formen der Selbstfokussierung als eine Untugend bezeichnet werden.568 Der Kategorie des Einzelnen wird dementsprechend keinerlei Bedeutung zugeschrieben. Sowohl in dem von Eugen Nesper verfassten Ratgeber Grundsätze zur physischen Erziehung569 als auch in Friedrich Köhlers Die Mutterschule570, deren beider 565 So schreibt er: »es wird daher eine Aufgabe für den Erzieher sein, in der Natur seines Zöglings die I n d i v i d u a l i t ä t zu erkennen, und darnach sein subjectives [sic!] Verfahren bei dem Urtheil [sic!] über ihn […], kurz bei jeder Art der Einwirkung auf ihn einzurichten« (Ebd. S. 278. Hervorhebungen im Original.). 566 Umfassend heißt es an dieser Textstelle: »Jedes Kind muß durch den Geist und in dem Geiste seiner Nation herangebildet werden, wenn es einst als Mann für seine Nation passen und wirksam sein soll. Auch das Fehlerhafte derselben muß der Zögling im Gange seiner Bildung kennen lernen, und in seiner Liebe für das Volk die Kraft finden, zur Milderung oder Ausrottung heilbarer Gebrechen in seinem Kreise mitzuwirken« (Ebd. S. 293. Hervorhebungen von S.N.). Hier verdeutlicht sich, dass die Kategorie der Nation gegenüber der des Einzelnen eine übergeordnete Stellung erhält, denn die Aufgabe des Individuums sei die Wirksamkeit für die Verbesserung der Nation. 567 Ebd. S. 293. (Für die Aussage von der Reinheit eines deutschen Geistes und Sinn siehe oben oder: Ebd. S. 289.) 568 Als Untugend deklariert Heinsius Eigensinn, Eigenwille, Ungehorsam, (Vgl. ebd. S. 146.) Eigennutz (Vgl. ebd. S. 150.) sowie Selbstsucht. (Vgl. ebd. S. 150, 250 u. 269.) 569 Nesper, Eugen. Grundsätze zur physischen Erziehung des Kindes in seiner ersten Lebensperiode. Von der Geburt bis zum Durchbruch der ersten Zähne. Mit besonderer Rücksicht auf gewöhnliche häusliche Verhältnisse. Liebenden Müttern der gebildeteren Klassen geweiht. Wien 1840. Mit der eindeutigen Adressierung des Werkes an Mütter der gebildeten Klassen im Untertitel sowie der wiederholten Erteilung von Rat in der Schrift (Vgl. ebd. 28, 29, 91 u. 130.) erscheint dessen Klassifikation als ein Ratgeber gerechtfertigt. Auf dem Titelblatt wird angeführt, dass der Autor ein »Doctor der Arzneykunde, Accoucheur, Mitglieder der löbl. medic. Facultät und practischem Arzte zu Wien« (Ebd. Titelblatt.) sei, weswegen er als ein Mediziner und Arzt zu klassifizieren ist. 570 Köhler, Friedrich. Die Mutterschule. 3. Bde. Berlin 1840. Köhler richtet sich direkt an Mütter, (Vgl. ebd. (Vorwort.) S. IX.) und erteilt mehrfach Ratschläge, (Vgl. ebd. S. 130 u. 188.) weswegen ich die Klassifikation der Schrift als Ratgeber als gerechtfertigt betrachte. In der (älteren) Forschungsliteratur wird Köhler als ein Haus- sowie Vorschullehrer beschrieben, der eine Kleinkindschule gegründet und nach einem Theologiestudium ab 1829 als Pfarrer

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Werke 1840 erschienen sind, stellt sich ein reduziertes Begriffsvorkommen heraus. In beiden Ratgebern ist jeweils nur eine einmalige Nutzung des Individuums- als auch Individualitätsausdruckes zu vermerken,571 während der Eigentümlichkeits- und der Eigenheitsterminus abwesend sind. Köhler gebraucht darüber hinaus noch vereinzelt den Begriff des Einzelnen.572 Der Gedanke einer menschlichen Individualität wird von beiden Autoren nur selten thematisiert. Abgesehen von der Begriffsnutzung deutet Nesper Eigenheit einmalig an, wenn er äußert, dass sich Charaktereigenschaften durch die Muttermilch übertragen ließen.573 Daraus ergibt sich, dass Nesper von einer Beeinflussung der Eigenart einer Person durch Umwelteinflüsse und Menschen ausgeht. Schließlich weist er ausdrücklich darauf hin, dass sich psychische Fehler einer Amme auf ein von ihr gestilltes Kind übertrügen, die sich bei den Eltern in keiner Weise vorfänden.574 In Köhlers Ratgeber kommt der Eigenheitsgedanke zusätzlich zu dem einmaligen Begriffsgebrauch von Individualität nur in indirekter Weise in Form der Grundannahme einer Existenz von geschlechterspezifischen Unterschieden vor. Diese bedingten gewisse Charakterpräferenzen bei jedem Geschlecht sowie eine bestimmte Lebensausrichtung und gelte es in der Erziehung zu berücksichtigen.575 Trotz dessen sich keine weiteren Aussagen zur Eigenheit im Werk finden

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gearbeitet hätte. (Vgl. Marré (1986). Bücher für Mütter. S. 249.) Damit ist er zweifach, im pädagogischen sowie im religiösen Tätigkeitsbereich einzuordnen. Anzumerken gilt es noch, dass der Ratgeber zwar drei Bände umfasst, meine Analyse sich jedoch nur auf den ersten Band stützt, weil im zweiten und im dritten nur Erzählungen, Gedichte und Fabeln enthalten sind. Das Individuum wird von Nesper als ein einzelnes Wesen definiert, wenn er »von einem und demselben Individuum« (Nesper (1840). Grundsätze zur physischen Erziehung. S. 23.) spricht. Individualität versteht er im Sinne von Eigenheit, wenn er schildert, dass der Zeitpunkt des Zahnes variiere und »nach der jedesmahligen [sic!] Individualität« (Ebd. S. 93) bestimmt würde. Köhler stellt in seiner einmaligen Begriffsnutzung das Individuum dem Kollektiv gegenüber, wenn er »von tausend Familien und Individuen« (Köhler (1840). Mutterschule. S. 57.) schreibt und dementsprechend den Ausdruck im Sinne eines Einzelnen versteht. Den Individualitätsterminus verwendet er im Sinne von eigentümlich, da es bei ihm heißt: »während ein Einzelner doch immer seine individuelle Beschränktheit in seinen geistigen Aeußerungen [sic!] abspiegelt« (Ebd. S. 137.). Vgl. ebd. S. 137 u. 172. Ausführlich heißt es: »Ich will hier nicht von der psychischen Ähnlichkeit zwischen Müttern und Kindern reden, welche sich aus vielen anderen Ursachen, als aus dem Säugungsgeschäfte weit besser erklären läßt, […], sondern von jenen Fällen, welche das tägliche Leben tausendfach nachweist, wo nach Ernährung des Kindes durch eine Amme, bey [sic!] Unvermögen der Mutter dasselbe selbst zu stillen, oft alle psychischen Fehler der ersteren, wovon sich in den Ältern [sic!] keine Spur vorfindet, im Kinde wiederholen« (Nesper (1840). Grundsätze zur physischen Erziehung. S. 75.). Vgl. ebenda. So schreibt Köhler in eindeutiger Art: »Bei der Auswahl des Spielzeuges wirst Du nun vor allen Dingen den Unterschied der Geschlechter vor Augen haben müssen. Die empfängliche Natur des Mädchens, die Richtung seines Geistes nach innen, seine Beschränkung auf einen kleineren Umkreis des Lebens fordert ganz andere Gegenstände zu seiner spielenden Un-

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lassen, skizziert Köhler damit ein zweifaches Eigenheitsverständnis mit einer individuellen und einer geschlechterspezifischen Art. Bei der Bewertung der Kategorie des Einzelnen gleichen sich beide genannten Quellen erneut. Denn Nesper kritisiert mehrfach ein individuelles Voranstellen durch die Ausdrücke von Eigensinn sowie Selbstsucht576 und geht darüber hinaus kaum auf die Kategorie des Einzelnen ein,577 weshalb die Formation als eine nebensächliche Identitätskategorie bewertet wird. Die selbe Einschätzung erfährt Köhler, da er Eigenwillen und Selbstsucht als eine Untugend578 und die Unterordnung und Unterwerfung als ein Ziel der Erziehung darstellt, für welches auch der Einsatz von Zwang zur Beugung der Kinder gerechtfertigt wäre.579 In Johannes Ramsauers 1846 publizierten Ratgeber Buch der Mütter580 wird auf das einzelne Wesen nur im geringfügigen Maß direkt verwiesen, sowohl der Individuumsausdruck als auch der Einzelnebegriff werden im Bezug zum Menschen jeweils zweimalig verwendet,581 indessen die Auseinandersetzung mit

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terhaltung, als die thatkräftige [sic!] Natur des Knaben; sein Drang, nach Außen zu wirken und alle Lebensverhältnisse unter seine Herrschaft zu bringen« (Köhler (1840). Mutterschule. S. 59. Hervorhebungen von S.N.). Nesper stellt Eigensinn (Nesper (1840). Grundsätze zur physischen Erziehung. S. 25) als auch Selbstsucht (Vgl. ebd. (Vorrede.) Seite 1 von 4.) je einmalig als eine Untugend dar. Die seltene Thematisierung eines Einzelnen könnten in dem inhaltlichen Fokus des Ratgebers auf Kleinkinder begründet sein. Denn Nesper konzentriert sich auf Kleinkinder in der ersten Lebensphase, weswegen andere Themenfelder besprochen werden und eine Vernachlässigung der Kategorie des Einzelnen als auch Fragen zu dessen Selbstständigkeit naheliegend erscheinen. Während Köhler zweimalig Selbstsucht (Vgl. Köhler (1840). Mutterschule. S. 146 u. 151.) und einmalig den Eigenwillen (Vgl. ebd. S. 134.) kritisiert, kommt an keiner Textstelle der Eigensinnterminus vor. Als Tugenden skizziert er dazu noch strengen Gehorsam. (Vgl. ebd. S. XI, 150 u. 156.) Köhler schreibt, man solle die Kinder »schon früh fühlen [lassen], daß sie eine untergeordnete Rolle spielen, daß es eine höhere Ordnung der Dinge giebt [sic!], unter welcher sie sich beugen müssen, daß sie eine uneingeschränkte Freiheit nicht als ein Recht fordern können« (Ebd. S. 66.). Auch spricht er davon, »sie den höheren Zwecken des Lebens [zu] unterwerfen« (Ebd. S. 129.). Ramsauer, Johannes. Buch der Mütter. Die Liebe in Erziehung und Unterricht. Ein Büchlein für Eltern und Lehrer, namentlich für Mütter aus den gebildeten Ständen. Zum Andenken Pestalozzi’s und zu seinem hundertjährigem Geburtstage. Mit 27 Tafeln Steindruck. Elberfeld 1846. Das Werk entspricht einem Erziehungsratgeber, weil der Verfasser es als seine Intention benennt, »jungen Mütter[n] gebildeter Stände Anleitung [zu] geben, wie […] einige Winke [zu] geben« (Ebd. S. 11.) und seine Schrift dementsprechend selbst als Anleitung und Winke charakterisiert. Im Werk bezeichnet sich Ramsauer als Lehrer und Erzieher, (Vgl. ebd. S. III u. 97, Fußnote 4.) was in anderen Quellen bestätigt wird. (Vgl. Kolfus, Hermann/ Pfister, Adolph (Hrsg.). Real-Encyclopadie des Erziehungs- und Unterrichtswesens nach katholischen Principien. […] Erster Band A bis F. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage. Mainz 1872. S. 467.) Deshalb gilt es, ihn als einen Pädagogen einzuordnen. Siehe für Individuum: Ramsauer (1846). Buch der Mütter. S. X u. 65. Und für Einzelne: Ebd. S. 20 u. 60. Darüber hinaus ist der Einzelnebegriff noch fünfzehnmalig im Werk zu finden,

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dem Eigenheitsgedanken umfangreicher ausfällt. Neben der achtmalig Nutzung des Individualitätsterminus und dem zweimaligen Gebrauch von Eigentümlichkeit582 schreibt Ramsauer der Eigenheit des Menschen Bedeutung zu. Denn die Individualität, die sowohl aus den qua Geburt enthaltenen Anlagen resultiere, als auch von lebensweltlichen Einflussfaktoren geprägt wäre,583 solle in der Erziehung berücksichtigt und deren Entwicklung befördert werden.584 Zudem gelte es als eine wichtige Erziehungsaufgabe, den Kindern zu vermitteln, »vor der I n d i v i d u a l i t ä t Anderer Achtung zu hegen«585. Darüber hinaus stellt er die Ausbildung eines selbstständigen Charakters als ein Erziehungsziel dar,586 womit sich zeigt, dass Ramsauer der Kategorie des Einzelnen sowie dessen Individualität Bedeutung zuschreibt. Eine exponierte Hervorhebung erfährt die Einzelheit jedoch nicht, weil Ramsauer einen Tugendkatalog entwirft, in dem Gehorsam, Unterordnung, Untertänigkeit sowie die Selbstüberwindung zentrale Wertvorstellungen bilden und die Selbstfokussierung des Individuums mannigfach verurteilt wird.587 Es wird also eine Integration in die Kollektiveinheiten präferiert und somit ein Identitätsmodell konzipiert, in dem die Formation des Ein-

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wird dabei aber nur in einer numerischen Bedeutung ohne Bezugsetzung zum Menschen gebraucht. Für Eigentümlichkeit siehe: Ebd. S. 24 u. 51. Für Individualität siehe: Ebd. S. 32, 45, 46, 54, 65, 81 u. 100. Dass letzterer Ausdruck im Sinne von Eigentümlichkeiten verstanden wird, veranschaulicht sich an folgender Textstelle: »Andere, die dem Lehrer beständig Mühe machen, seine Aufmerksamkeit beständig in Anspruch nehmen, durch Unruhe, Unart, Flüchtigkeit u., die aber dabei eine Individualität beweisen, die, einmal entwickelt, zu den größten Hoffnungen berechtigt, d i e s e t r ä g t m a n g e r n u n d h o f f t m i t G e d u l d « (Ebd. S. 65. Hervorhebungen im Original.). Sehr schön exemplifiziert sich seine hybride Denkweise des Bildungsprozesses von Individualität im folgenden Zitat: »Es giebt [sic!] zwar tausend und tausend Kinder, denen eine gute Haltung und Bewegung des Körpers, so wie eine gewissen Anständigkeit und Ordnungsliebe angeboren ist, aber eben so wohl giebt [sic!] es auch tausende unter allen Ständen, die hierin auffallend schwach […] oder zu eigensinnig sind, und bei denen die E r z i e h u n g – hier als die A n g e w ö h n u n g – der Natur oder dem Mangel an Willen nachhelfen muß« (Ebd. S. 36. Hervorhebungen im Original.). Diese zweifache Bildungsweise von Individualität skizziert er zudem an weiteren Textstellen. (Vgl. ebd. S. 24, 75 u. 91.) Denn er schreibt: »Kann sich ein Erzieher nicht in die Individualität seines Zöglings hineindenken und hineinfühlen, so fordert er natürlich, daß dieser gerade s o denke, handle und fühle wie e r […] – und beide thun [sic!] ihrem Untergebenen unrecht und erdrücken dessen Individualität« (Ebd. S. 81. Hervorhebungen im Original.). Ebd. S. 46. Hervorhebung im Original. Im Zuge der Warnung vor den negativen Auswirkungen einer Verweichlichung heißt es: »Denn […] durch eine zu vornehme Erziehung so verweichlicht wird, daß es, trotz aller guter Anlagen, sich nie zu einem selbstständigen Charakter, d. i. nie zu einer, mit Bewußtsein [sic!] sich geltend machenden Eigenthümlichkeit [sic!] empor heben kann« (Ebd. S. 24.). Während Ramsauer dreimalig Gehorsam (Vgl. ebd. S. 15, 100 u. 106) und jeweils einmalig Selbstüberwindung (Vgl. ebd. S. 42.), Unterordnung (Vgl. ebd. S. 77.) sowie Untertänigkeit (Vgl. ebd. S. 79.) fordert, kritisiert er sechsmalig Eigensinn (Vgl. ebd. S.36, 48, 49, 52, 60 u. 76.) als auch zweifach Egoismus. (Vgl. ebd. S. 67 u. 79.)

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zelnen eine wichtige Kategorie bildet. Individualität denkt Ramsauer in einer einfachen Dimension, welche in einer hybriden Art entstünde und veränderlich wäre. In Georg Hartwigs 1847 veröffentlichter Ratgeberschrift Die physische Erziehung der Kinder588 erfährt die Kategorie des Einzelnen trotz einer geringfügigen Verwendung des Einzelne-, Individuums- und Individualitätsausdruckes589 eine umfassende Präsenz590 und Anerkennung. So seien nicht allein Selbstständigkeit und Selbstsorge wichtige Ziele der Erziehung, sondern auch die Selbsterkenntnis, da diese dazu führe, dass sich Gemüter veredelten, große Ideen entwickelten und sich Vorurteile reduzierten.591 Diese Wertschätzung des Individuums scheint Hartwig jedoch nur für das männliche Geschlecht in Betracht zu ziehen, weil alle diesbezüglichen Aussagen immer im Kontext der Erziehung von Jungen getroffen werden.592 Er beanstandet zwar auch Erziehungsweisen der weiblichen Jugend und erteilt diesbezügliche Verbesserungsvorschläge, reduziert Frauen dabei jedoch immer auf die Rollen einer Mutter, Erzieherin und Hausfrau.593 588 Hartwig, Georg. Die physische Erziehung für Kinder. Ein Belehrungsbuch für Eltern. Düsseldorf 1847. Weil das Werk im Untertitel als Belehrungsbuch bezeichnet wird und der Verfasser in diesem von Rat geben und Regeln aufstellen schreibt, (Vgl. ebd. S. 110 u. 170.), ist die Einordnung der Schrift als ein Ratgebermedium mehr als ersichtlich. Als Berufsangabe ist auf dem Titelblatt des Werkes verzeichnet, dass der Autor als »Dr. Med. et Phil., prakt. Arzte und Badearzt in Ostende« (Ebd. Titelblatt.) tätig sei, weswegen er als ein Mediziner zu klassifizieren ist. 589 Jeweils dreimalig verwendet Hartwig den Individuumsausdruck im Sinne eines Einzelnen (Vgl. ebd. S. 8, 19 u. 70.) sowie den Einzelnebegriff. (Vgl. ebd. S. 8 u. 116. MEV.) Von Individualität ist einmalig im Verständnis von Eigenheit die Rede, wenn es heißt: »Eine feste, allgemein gültige Zeitperiode für den Schlaf genau zu bestimmen, ist unmöglich, da das Bedürfniß [sic!] desselben nach den verschiedenen Individualitäten so verschieden ist« (Ebd. S. 93.). Der Eigentümlichkeitsbegriff wird auch gebraucht, bezieht sich dabei aber auf den Geruch kleiner Kinder und somit nicht auf eine Eigenheit des Individuums. (Vgl. ebd. S. 53.) 590 Denn Hartwig verweist immer wieder in indirekter Art auf die Kategorie des Einzelnen, wenn er Ausdrücke wie jede/r, selbst oder der Mensch benutzt. (Vgl. ebd. S. 56, 125, 126, 127, 134, 149 u. 151.) 591 So schreibt er: »Man muß die Natur unmittelbar studiren [sic!]. Sie ist das Buch aller Bücher, in ihr lernen wir uns selbst erkennen; sie streift so viele Vorurtheile [sic!] von uns ab« (Ebd. S. 125.). Dass die Selbstständigkeit eine Zielsetzung der Erziehung sei, erwähnt er dreimal, (Vgl. ebd. S. 38, 80 u. 134.) wobei er einmal zusätzlich die Selbstsorge ergänzt. (Vgl. ebd. S. 134.) 592 Vgl. ebd. S. 118, 125ff., 131 u. 134. 593 So sei die Mädchenerziehung »wo möglich noch fehlerhafter als die der Knaben, da man sie zu nichts weniger als zu künftigen Hausfrauen und Müttern bildet, und die gesunde Entwickelung [sic!] ihres Körpers noch mehr vernachlässigt«. Deswegen wäre es »[n]och besser, wenn ihr selbst diese schöne Rolle übernehmen könnt, wenn euer Kind euch nicht allein das Leben verdanken wird, sondern mehr noch als das Leben, eine Erziehung« (Beide Zitate: Ebd. S. 132.). Hartwig kritisiert damit nicht die Ausrichtung der Mädchenbildung auf die prädestinierten Tätigkeitsfelder des Hauses und Mutterschaft, sondern die Vernachlässigung der körperlichen Ausbildung der Mädchen und fordert von den Müttern, dass sie ihre

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Nirgends im Werk schildert er ein über diese Rollen und dem Ort des Hauses hinausgehendes Szenario für das weibliche Geschlecht, weswegen die Selbsterkenntnis als auch Selbstständigkeit meines Erachtens dem männlichen Geschlecht vorbehalten wären. Eigenheit deutet Hartwig als eine sich aus den Anlagen ergebende Form an, da er vom Grundcharakter der Kinder schreibt, der sich in deren Spiel erkennen ließe.594 Weiteren Aussagen trifft er darüber jedoch nicht, weswegen die Frage zum angenommenen Bildungsprozess von Eigenheit offen bleiben muss. Der Individualitätsgedanke ist im Ratgeber demnach enthalten, wird aber nicht weiterführend thematisiert. In Hartwigs vermittelten Wertvorstellungen zeichnet sich noch eine stückweite Begrenzung des Individuums ab. Denn er fordert die Fügung des Einzelnen und beschreibt die Selbstaufopferung als einen anzustrebenden sowie die Selbstfokussierung in Form von Eigensinn und Eigenwillen als einen zu verhindernden Wert.595 Die individuelle Zurücknahme und Integration des Einzelnen in die Kollektive werden demgemäß als Ziele formuliert. Nichtsdestotrotz bleibt die Kategorie des Einzelnen für das männliche Geschlecht eine wichtige Identitätseinheit, weil Hartwig als Folge der individuellen Selbsterkenntnis positive Auswirkungen für die gesamte Gesellschaft postuliert. In dem für das weibliche Geschlecht entwickelten Identitätsmodell erfährt die Formation hingegen keine Bedeutung. In Johanna Goldschmidts 1849, ursprünglich anonym erschienenen Ratgeber Muttersorgen und Mutterfreuden596 kristallisiert sich obgleich der geringfügigen Nutzung des Individuums- und Einzelnebegriffes597 ein breites Tableau an

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Rolle ausfüllen und selbst ihre Töchter erziehen, womit er eben jene Tätigkeitsreduktion reproduziert. Ausführlich heißt es: »Hier läßt sich so schön der Grundcharakter beobachten, hier kann man ihn so recht auf seinen geheimsten Fehlern ertappen (denn kindliche Leidenschaft entdeckt alles) und Winke für seine moralische Besserung sammeln. Das Spielen ist das eigentliche Leben des Kindes« (Ebd. S. 39.). Während je einmal die Selbstaufopferung von Müttern (Vgl. ebd. S. 77.) sowie von den Kindern (Vgl. ebd. S. 116.) verlangt wird, ist zweimal von der Fügung der Kinder die Rede. (Vgl. ebd. S. 84 u. 109.) Den Eigensinn (Vgl. ebd. S. 84.) und Eigenwillen (Vgl. ebd. S. 109.) kritisiert er jeweils einmal. Goldschmidt, Johanna. Muttersorgen und Mutterfreuden. Worte der Liebe und des Ernstes über Kindheitspflege. Von einer Mutter. Mit einer Vorrede von Seminardirektor Dr. Diesterweg. Hamburg 1849. Die Klassifikation der Schrift als Ratgeber fällt leicht, weil die Verfasserin ihre Schrift in ihrer Einleitung als Erziehungsschrift (Vgl. ebd. S. XX.) bezeichnet und mehrfach von Winke (Vgl. ebd. 3, 172 u. 217.) sowie von einer Anleitung (Vgl. ebd. S. 88.) spricht. Dazu erteilt sie häufig im Werk Rat. (Vgl. ebd. S. 27, 31, 48, 49, 53, 60, 136 u. 168.). Erwähnenswert ist noch, dass Goldschmidt einen jüdischen Lebens- sowie Glaubenshintergrund besaß. (Vgl. Le-Huu, Inka. Die sociale Emanzipation. Jüdisch-christliche Begegnungen im Hamburger Bürgertum 1830–1871. Göttingen 2017. S. S. 70ff.) Vom Individuum ist einmalig (Vgl. Goldschmidt (1849). Muttersorgen und Mutterfreuden. S. 9.) und vom Einzelnen im Bezug auf den Menschen zweimalig die Rede. (Vgl. ebd. S. 133 u. 183.)

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Ausdrücken heraus, die auf Eigenheit rekurrieren. Denn zusätzlich zum Individualitäts- und Eigentümlichkeitsbegriff kommen noch der Dispositions-, Persönlichkeits- und Naturellterminus vor und einmalig spricht sie von Idiosynkrasie. Alle genannten Ausdrücke werden dabei im Sinne von Eigenheit verstanden.598 Ihr Individualitätskonzept ist derweil durch eine zweifache Dimensionalität gekennzeichnet, einer individuellen und einer nationalen Eigenart. Erstere wären im Einzelnen qua Geburt enthaltene Anlagen,599 die es zu erkennen und originalgetreu auszubilden gelte. Deren Modifikation durch die Erziehenden lehnt Goldschmidt explizit ab,600 womit ersichtlich wird, dass sie diese erste Eigenheitsform als potentiell veränderbar konzipiert. Gleiches gilt für die zweite, nationale Eigenart. Denn diese wird nicht als eine dem Individuum schon inhärente Essenz gedacht, sondern ergäbe sich während der Erziehung komplett aus der jeweilige Lebensweise, Sprache sowie den Sitten einer Nation. Deswegen wäre es laut Goldschmidt von besonderer Wichtigkeit, alles Fremde aus der Erziehung auszuschließen.601 Nur so könne eine Entfremdung der Kinder 598 Goldschmidt versteht Individualität im Sinne von Eigentümlichkeit, wenn sie von der »verschiedenartige[n] Individualität jedes Kindes« (Ebd. S. XXI.) oder vom »individuellen Charakter« (Ebd. S. 50.) des Kindes schreibt. Insgesamt nutzt sie den Ausdruck zwölfmal. (Vgl. ebd. 50, 100, 140, 148, 167, 172, 177 u. 192. MEV.) Der Eigentümlichkeitsbegriff wird vierfach gebraucht. (Vgl. ebd. S. 14, 92, 147 u. 149.) Der Dispositionsbegriff wird von Goldschmidt fünfmalig im Sinne von vorherbestimmten Eigenheiten verstanden, (Vgl. ebd. S. 70, 98, 143 u. 145. MEV.) wobei diese Definition auch ihrem Naturellterminus entspricht, den die zweimal gebraucht. (Vgl. ebd. S. 33 u. 149.) Während der Persönlichkeitsausdruck eher auf die charakterlicher Eigenheit des Individuums hinweist und dreimalig vorkommt, (Vgl. ebd. S. 17, 34 u. 133.) verweist sie erneut auf die prädestinierten Eigenschaften des Einzelnen, wenn sie schreibt: »es entferne euch eine angeborne Idiosynkrasie von einer Maus« (Ebd. S. 128.). Der Ausdruck Idiosynkrasie kommt erstmalig in meiner Untersuchung vor. 599 Vgl. ebd. 33, 91, 112, 128, 150 u. 216. 600 Denn so schreibt sie beispielsweise: »Wenn nur jede Mutter die schlummernden Fähigkeiten der Kinder zu wecken und festzuhalten verstände, so wäre das große Werk der Erziehung kein so schweres; so manche aber wollen etwas in das Kind hineinlegen, das sich nun platterdings nicht mit seiner Eigenthümlichkeit [sic!] verträgt, und über dieses vergebliche Ringen mit dem Natürell [sic!] des Kindes geht Zeit, Mühe und Vertrauen verloren« (Ebd. S. 149.). Ein Eingriff der Erziehenden in die Entwicklung der Individualität der Kinder negiert von Gersdorf also grundsätzlich, es gelte, diese entsprechend ihrer Konstitution auszubilden. (Vgl. ebd. S. XXI, 100, 140, 143, 147 u. 167.) Einmalig bezeichnet sie zudem die Individualitäten der Kinder als heilig (Vgl. ebd. S. 100.) und spricht von deren Menschenwürde. (Vgl. ebd. S. 83.) 601 So schreibt sie: »Ein ähnlicher Vorwurf trifft auch die oben von mir gerügte Unsitte, das fremde Element englische oder französischer Pädagogie [sic!], durch das Herbeiziehen fremder Kinderwärterinnen, auf unser Kinder zu übertragen. Der Deutsche hat eine ganz verschiedene Lebensweise von jenen Nationen, und will nun seine Kinder zuerst an die fremde Sprache, dann an die Sitten, und zuletzt gar an die verschiedensartige Auffassung des Familienlebens gewöhnen« (Ebd. S. 44.). Dazu fordert sie an einer anderen Stelle: »Fort also mit jedem fremden Elemente aus der Kinderstube! Erziehet Euer Kind in strenger Pietät, und laßt ihm nicht durch fremdartige Einflüsse vielleicht gar den ersten Keim der Vater-

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vom Vaterland sowie eine fremdartige Beimischung verhindert und eine »Bewahrung« des Eigenen erreicht werden.602 Es wird damit offensichtlich, dass die nationale Eigenart mit einem biologistischen Reinheitsgedanken verknüpft, die eigene Nation bzw. das Vaterland überhöht und deren Bewahrung vor dem pejorativ konnotierten Fremden und dessen Einflüssen als eine wesentliche Aufgabe der Erziehung betrachtet wird. Der Ausbildung von Individualität gebührt deswegen in der Erziehung eine besondere Bedeutung und führe idealerweise zu einer harmonischen Integration der eigenen in die Individualitäten der Anderen.603 Dieses allgemeine Ideal, welches von den Wertvorstellungen Goldschmidts bekräftigt wird,604 gelte insbesondere für das weibliche Geschlecht. Denn spätestens zum Zeitpunkt der Schwangerschaft müsse die Aufgabe der eigenen Persönlichkeit sowie eine Aufopferung für den Ehemann und die Kinder erfolgen. Dies wäre der Beruf und die Bestimmung der Frau.605 Das Geschlecht markiert damit bei Goldschmidt einen wesentlichen Unterschied in der Realisierung der Individualität und in der Bewertung der Einzelheit. Während für Frauen die Kategorie des Einzelnen spätestens ab der Schwangerschaft wegfällt und somit keine Bedeutung erfährt, bildet sie für Männer eine von mehreren

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landsliebe verkümmern« (Ebd. S. 47.). Die Ablehnung des Fremden sowie die Bildung des Eigenen anhand der lebensweltlicher Einflüsse werden damit offensichtlich. Denn »der englisch erzogene Knabe […] [wird von] dem gemüthlichen [sic!] Familienleben, wie es der Deutsche in patriarchalischer Weise liebt, völlig entfremdet« (Ebd. S. 47.) Es wäre deswegen »naturgemäßer, das deutsche Kind zuerst deutsch zu lehren, und von einer vernünftigen deutschen Wärterin groß ziehen zu lassen« (Ebd. S. 46.) und gelte die Erziehung »frei zu erhalten von j e d e r fremdartigen Beimischung, die dem späteren Wachsthum [sic!] und Gedeihen störend in den Weg treten könnte« (Ebd. S. 218. Hervorhebung im Original.). Die Überhöhung des Eigenen wird genauso ersichtlich wie die Homogenisierung des nationalen Kollektives, weil dieses durchweg als etwas einheitliches entworfen wird. So formuliert sie als ein Ideal: »Die Schätzung seiner e i g e n e n Individualität muß harmonisch verbunden werden, mit dem Aufgehen derselben in die Individualitäten A n d e r e r « (Ebd. S. 172. Hervorhebungen im Original.). Denn eine grundsätzliche Tugend unabhängig vom Geschlecht wäre die Selbstüberwindung. (Vgl. ebd. S. 70 u. 128.) Von Frauen wird zusätzlich noch Selbstverleugnung (Vgl. ebd. S. 18.) und Aufopferung eingefordert (Vgl. ebd. S. XIX.) sowie Egoismus (Vgl. ebd. S. 20, 70, 76, 79, 86, 88, 136 u. 177.) und Selbstsucht verurteilt. (Vgl. ebd. S. 138.) Eineindeutig heißt es: »[F]ühlt das Weib, w o z u es berufen ward, und gerade dieses Gefühl muß in der Resignation den Gedanken klar veranschaulichen, daß die eigene Persönlichkeit, die schon zum Theil [sic!] bei der Sorge für den geliebten Gatten zurücktrat, in den Pflichten welche der Mutter obliegen, völlig untergehen. Zu einer solchen Resignation gehört allerdings ein hoher Muth, da er die völligste Selbstverläugnung [sic!] fordert« (Ebd. S. 17f. Hervorhebung im Original.). In der wiederholten Betonung auf das völlige untergehen bzw. auf die völligste Selbstverleugnung verdeutlicht sich die absolute Dimension ihrer Forderung, eine individuelle Frau soll es spätestens mit der Ehe und der Schwangerschaft nicht mehr geben. Das entspräche ihrem Beruf (Vgl. ebd. S. XVIII, 3, 18, 68, 188 u. 218.) und ihrer Bestimmung. (Vgl. ebd. S. 1, 4, 16, 178, 190 u. 218.)

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Identitätskategorien, da den kollektiven Kategorien grundsätzlich mehr Bedeutung von Goldschmidt zugesprochen wird.606 Die Werke der vierten Teilperiode zeichnen sich also durch eine Varianz sowohl hinsichtlich der jeweiligen Begriffsvorkommen als auch bezüglich der entwickelten Eigenheitsmodelle aus. In fast allen Erziehungsratgebern kommen die zentralen Begrifflichkeiten von Individuum als auch Individualität in stark variierenden quantitativen Umfängen vor. Die inhaltliche Denkweise von Eigenheit fällt verschieden aus und impliziert ein-, zwei- oder dreidimensionale Modelle sowie Formen von einer individuellen, einer geschlechterspezifischen oder einer nationalen Eigenart.607 Hinsichtlich der Bewertung der Kategorie des Einzelnen kristallisiert sich eine Mehrheit an Quellen heraus, in denen der Formation eine geringfügige Bedeutsamkeit erfährt. Die Verbreitung von Pluralität (1851–1870) Der erste Ratgeber der fünften Teilperiode, dem von Hermann Heinrich Ploß verfassten und 1851 publizierten Anweisung zur Pflege und Wartung der Kinder in den ersten Lebensjahren608, ist gekennzeichnet von einem stark reduzierten Vorkommen an Begrifflichkeiten und Eigenheitsvorstellungen. Im ganzen Werk wird nur einmalig der Eigentümlichkeitsaudruck genutzt sowie auf die Kategorie des Einzelnen einzig indirekt verwiesen.609 Vom Individuums-, Individualitätund Einzelnebegriff fehlt jede Spur. Zwar verweist Ploß einmalig darauf, dass es in der Erziehung die sittlichen Gefühle des Kindes nach dessen Eigentümlichkeit

606 Dies veranschaulicht sich in folgender Aussage: »D a s aber ist der wahre Segen des Hauses, das ist die echte Familie, in der jedes Glied dieser Kette sich aufs engste verbunden mit dem anderen sieht, und nur im fröhlichen Gedeihen des Ganzem, das eigene Glück befestigt glaubt« (Ebd. S. 132. Hervorhebung im Original.). Die Wichtigkeit der kollektiven Kategorien geht also über die des Einzelnen hinaus. 607 Abwesend ist der Gedanke einer menschlichen Eigenheit zudem nur in Gölis Werk. 608 Ploß, Hermann Heinrich. Anweisung zur Pflege und Wartung der Kinder in den ersten Lebensjahren. Für Mütter, Wärterinnen und Zieheltern. Mit einem Vorwort von Dr. Meißner. Leipzig 1851. Der Verfasser wird auf dem Titelblatt als auch in dem von einem anderen Arzt (Dr. Meißner) stammenden Vorwort als ein Arzt beschrieben, was zudem in der zeitgenössischen Rezension Bestätigung findet. (Vgl. Die sächsische Dorf-Zeitung. Ein unterhaltendes Wochenblatt für den Bürger und Landmann. Redigiert von Friedrich Walther. Fünfzehnter Jahrgang. Nr. 19. Freitag, den 13. Mai 1853. Dresden 1853. S. 152.) Es gilt Ploß also als einen Mediziner zu klassifizieren. In dem vom Ploß selbst verfassten Vorwort bezeichnet er sein Werk als eine belehrende Volksschrift, (Ploß (1851). Anweisung zur Pflege. (Vorwort.) S. V.) welche »jeder Mutter als Leitfaden zum Selbstunterrichte, als Hilfsbuch zum Nachschlagen […] und gegen die falschen Rathschläge [sic!] der Großmütter« (Ebd. S. VI.) dienen soll. Die Klassifikation als Ratgeber ist mit dieser Selbstbeschreibung gerechtfertigt. 609 Anhand von Begrifflichkeiten wie selbst, Kind, sein oder eigene deutet Ploß die Kategorie zumindest an. (Vgl. ebd. S. 4, 37 u. 39. MEV.) Für Eigentümlichkeit siehe: Ebd. S. 43.

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zu berücksichtigen gelte.610 Er erklärt jedoch auch die Zügelung des Begehrens des Kindes sowie die Vermittlung von Selbstbeherrschung als Ziel und beschreibt die Eigenwilligkeiten als eine auszurottende Untugend.611 Der Gedanke einer Eigenheit des Individuums wird von Ploß also skizziert, gleichzeitig jedoch eingeschränkt und als eine Untugend klassifiziert. Der Kategorie des Einzelnen wird also kaum Wertschätzung entgegengebracht und deswegen als eine nebensächliche Identitätseinheit bewertet. In Friedrich August von Ammons Ratgeber Die ersten Mutterpflichten612 stellt sich ein reduzierter Begriffsgebrauch fest, der vereinzelte Nutzungen vom Individualitäts-, Selbstigkeit- sowie Einzelnebegriff beinhaltet, wohingegen der Individuums- und Eigentümlichkeitsausdruck abwesend sind.613 Eigenheit entwirft von Ammon in einem Verständnis eines Zwischenschrittes in der Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins. Denn er schreibt: »Das ist in kurzen Zügen eine Entwickelungsgeschichte [sic!] der kindlichen Individualität in geistiger Hinsicht, von deren gründlicher Auffassung und richtigen Deutung und naturgemäßem Verständnis jede geistige Erziehung ausgehen muß. […] Es gibt sich ihnen rasch hin, denn die S e l b s t i g k e i t ist in ihm allein vorherrschend, es hat nur sich, und deshalb kann das Ich in seiner Individualität sich zunächst nur ausbilden, und es muß erst eine gewisse Reife der Kraft erreicht haben, ehe es Gefühle für Andere 610 Konkret schreibt er: »Die sittlichen G e f ü h l e im Kinde müssen je nach dessen Eigenthümlichkeit geregelt, das Kind an S i t t l i c h k e i t gewöhnt werden« (Ebd. S. 43. Hervorhebungen im Original.). 611 Vgl. ebd. S. 42. 612 Ammon, Friedrich August von. Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege. Ein Belehrungsbuch für junge Frauen und Mütter. 5. verbesserte Auflage. Leipzig 1851. Die erste Auflage des Werkes, die laut Magnus Schmidt im Jahr 1827 erschienen ist, (Vgl. Schmid, Magnus. Friedrich August von Ammon. In: Neue Deutsche Biographie. Band 1. Berlin 1953. S. 254. [Online-Version.] (22. 01. 2019, 15 Uhr.).) ließ sich genauso wenig auffinden wie dessen folgende drei Auflagen. Erst die fünfte, 1851 veröffentlichte stand mir zur Verfügung, weswegen ich diese als Quellengrundlage nahm. Weil ich keinerlei zeitgenössische Rezensionen zu einer der vorherigen Auflagen recherchieren konnte, bin ich mir bezüglich der Jahresangabe der Erstveröffentlichung unsicher. Insgesamt erschien die Schrift bis ins Jahr 1927 in mindestens 43 Auflagen, es kann also eine enorme Verbreitung angenommen werden. (Vgl. ebenda.) Den Verfasser von Ammon, der Adliger Abstammung war und laut dessen Titelblatt als Leibarzt des sächsischen Königs und als gehobener Medizin-Rath tätig war, (Vgl. Ammon (1851). Die ersten Mutterpflichten. (Titelblatt.)) gilt es als einen Mediziner und in der Verwaltung Tätigen zu klassifizieren. Im Werk spricht von Ammon wiederholt von Winken (Vgl. ebd. S. 3 u. 233.) und erteilt Rat, (Vgl. ebd. S. 12, 52, 87, 197 u. 253.) weswegen die Einordnung der Schrift als Ratgeber als gerechtfertigt erscheint. 613 Von Individualität und Selbstigkeit ist jeweils zweimalig an einer inhaltlich zusammengehörigen Textstelle die Rede. (Vgl. Ammon (1851). Die ersten Mutterpflichten. S. 234f. MEV.) Der Einzelneausdruck wird einmalig im Bezug zum Menschen gebraucht, wenn es heißt: »es ergab sich, daß einzelne geimpfte Kinder« (Ebd. S. 203.). Ferner werden weder der Individuums- und der Eigentümlichkeitsterminus noch der Subjekt- sowie der Persönlichkeitsausdruck verwendet.

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haben kann, als des M i t g e f ü h l s fähig ist. Später schreitet es nach und nach auf den Punkt vor, wo es seine Gefühle denen der Andern unterordnet. Diese Bildungsstufen des Gefühls wollen richtig geleitet sein; denn der angeborne Egoismus, dieses Gefühl des Ichs der Selbstigkeit erscheint leicht als Gemüthslosigkeit [sic!], […].«614

Im Prozess der Selbsterkenntnis durchläuft das Individuum demnach eine erste Phase eigener Individualität, in welcher sich die Eigenheiten ausbildeten und der Einzelne alles nur auf sich beziehen könne. Der zweite Entwicklungsschritt sei darauf folgend die Wahrnehmung der Anderen und die Entstehung von Empathie, in dessen Folge und befördert durch eine richtige Erziehung der Mensch seinen angeborenen Egoismus überwindet und sich den Anderen unterordnet. Eigenheit wird von ihm also als ein temporäres Entwicklungsstadium des Menschen gedacht, in welchem die Selbstwahrnehmung des Einzelnen herausgebildet wird, die es dann aber durch die Erziehung zu einer Aufgabe des Eigenen und Priorisierung der Anderen zu leiten gelte.615 Die Selbstüberwindung und das Aufgehen in Kollektiven werden demgemäß als Erziehungsziele ausgegeben, womit ersichtlich wird, dass die Kategorie des Einzelnen wenig Bedeutung erfährt. Deshalb wird sie als eine nebensächliche Identitätseinheit beurteilt. Rosa Fischer nutzt in ihrem 1852 veröffentlichten Ratgeber Gedanken über weibliche Erziehung616 einmalig den Individuums- sowie mehrfach den Einzelneund Individualitätsausdruck617 und stellt darüber hinaus die Ausbildung der Individualität als eine wesentliche Erziehungsaufgabe dar.618 Denn mit deren 614 Ebd. S. 234f. Hervorhebungen im Original. 615 So schreibt er: »Die Wohltaten der Mutter wecken Liebe und Milde, das bloße Ichgefühl geht ins Mitgefühl über, der Ernst und die Macht des Vaters stößt Achtung ein und führt zum Gehorsam, das Mitgefühl vermag sich so zu gestatten, daß das Gefühl für Andere das Uebergewicht [sic!] bekommt über das Gefühl des Ichs. Das sind die ersten Züge der S i t t l i c h k e i t im Verhältnisse zu den Aeltern [sic!]« (Ebd. S. 235f. Hervorhebung im Original.). Das Ziel der Erziehung sei es also, dass das Ichgefühl durch das Mitgefühl bzw. Gefühl für Andere verdrängt wird. Bekräftigt wird dies durch sein Untugendkatalog, in dem von Ammon in vielfacher Weise die Selbstfokussierung in Form von Eigensinn (Vgl. ebd. S. 32,163 u. 167.), Eigenwillen (Vgl. ebd. S. 32 u. 228.), Egoismus (Vgl. ebd. S. 235.) und Eigenliebe ablehnt. (Vgl. ebd. S. 21.) 616 Fischer, Rosa. Gedanken über weibliche Erziehung. Mit einleitenden Worten von C. F. Braniß. Breslau 1852. Sowohl von der Verfasserin selbst (Vgl. ebd. S. 46) als auch in der zeitgenössischen Rezeption wird das Werk als Winke klassifiziert, (Vgl. Allgemeine SchulZeitung. Jahrgang 1855. Herausgegeben von Prof. Dr. K. Wagner und Dr. K. Zimmermann. No. 121. Dienstag, den 9. October 1855. Darmstadt 1855. S. 1033–35. Hier: S. 1034.) weswegen dessen Klassifikation als ein Ratgebermedium gerechtfertigt erscheint. Über die Verfasserin habe ich leider keinerlei Informationen gefunden, weshalb deren berufliche Klassifikation offen bleiben muss. 617 Siehe für Individuum: Fischer (1852). Gedanken. S. 75. Für Einzelne: Ebd. S. 32, 50, 122 u. 140. Und für Individualität: Ebd. S. XV, 26f., 47, 52, 66, 80 u. 91. Letztere versteht sie im Sinne von Eigenheit. 618 So schreibt sie: »Darum ist es die erste, heiligste Pflicht der Eltern und Erzieher, die Natur der Kinder zu studiren [sic!]; und es gehört ein sehr ernstes, von Liebe geleitetes Studium dazu,

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Entwicklung wird die naturbestimmte und nicht modifizierbare Wesenheit des Menschen verwirklicht und dadurch beim Einzelnen die Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung ausgebildet, die das Hauptresultat aller Erziehung wären.619 Dem Einzelnen und dessen Individualität scheint Fischer damit eine ausgesprochen hohe Wertschätzung entgegenzubringen, wird doch eine Ausrichtung nach den individuellen Präferenzen und Bedürfnissen suggeriert sowie Selbstbefreiung gefordert. Fischer versteht diesen Begriff jedoch nicht in einem heutigen Sinne von Selbstverwirklichung, sondern als eine Art von Selbstoptimierung, die eigenen Schwachpunkte wahrzunehmen und darauf folgend zu verbessern – sich selbst also von seinen Schwächen zu befreien.620 Des Weiteren fordert sie vom weiblichen Geschlecht, das Eigene nicht in den Vordergrund zu stellen und insbesondere von Müttern, die eigenen Bedürfnisse zu vergessen und sich ganz ihrer Mutterrolle zu fügen.621 Als deren Tugenden führt sie zudem die Anspruchslosigkeit, Selbstverleugnung und Aufopferung an und kritisiert wiederholt die Selbstfokussierung.622 Der Kategorie der (weiblichen) Einzelnen wird dementsprechend doch keine umfangreiche Bedeutsamkeit zugestanden. Zwar soll deren Individualität ausgebildet werden, diesbezüglich äußert Fischer keine

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jedes Kind in seiner Individualität kennen zu lernen. Dahin zu wirken, daß sich das Kind in seiner Individualität entwickle, ist die große, allgemein zugestandne [sic!] Aufgabe der Erziehung« (Ebd. S. XV.). (Siehe auch: Ebd. S. 52, 80 u. 91.) Denn Fischer ist der Auffassung, dass »der Mensch, trotz der besten Erziehung, doch kein Anderer [werden könne], als er eben von Natur ist. Das Letztere ist wahr, aber es ist auch nicht der Zweck der Erziehung, den Menschen zu einem Andern zu machen, als er von Natur ist. Durch die Erziehung soll er nur Herr seiner selbst werden, soll sich kennen und beherrschen lernen. Das Hauptresultat aller Erziehung muß Selbsterkenntniß [sic!], Selbstbefreiung sein« (Ebd. S. XIIIf.). Denn sie schreibt: »Ich verstehe unter Selbstbefreiung ein Sichlosmachen von den Schwächen und Mängeln, denen wir unterworfen sind, und die uns in unserm Streben nach Vervollkommnung hemmend in den Weg treten. Nicht, daß es uns gelingen könnte, wirklich frei davon zu werden; das Unvollkommne, Mangelhafte ist an unser irdisches Dasein unauflöslich geknüpft. Aber wenn ich meine Fehler und Schwächen kenne, dann wird es mir auch mehr oder weniger gelingen, ihrer Herr zu werden und sie unschädlich zu machen« (Ebd. S. 139.) Ebd. S. 34. Dazu heißt es schon zu Beginn ihres Ratgebers: »ich fordre vielmehr von einer Mutter, daß die Erziehung ihrer Kinder die Hauptbeschäftigung ihres Lebens sei. Es lassen sich damit sehr wohl alle häuslichen Geschäfte verbinden; es schließt auch keineswegs geistige Thätigkeit [sic!] aus: aber es giebt [sic!] eine Menge Dinge, die eine Mutter, so lange sie kleine Kinder hat, unterlassen muß« (Ebd. S. 5.). Die Rolle einer Mutter und einer Gattin bezeichnet Fischer zudem als den heiligen Beruf der Frau, der ihnen von Gott bestimmt wäre. (Vgl. ebd. S. 2, 35, 124 u. 141.) Damit reduziert sie die Tätigkeitssphäre der Frauen auf diese drei Rollen und die dazugehörigen Lebensbereiche. Während je einmal Anspruchslosigkeit (Vgl. ebd. S. 31.), Selbstverleugnung und Aufopferung gefordert wird, (Vgl. ebd. S. 34.) wertet sie zweifach Eigennutz, (Vgl. ebd. S. 31 u. 34.) dreifach Egoismus (Vgl. ebd. S. 32, 103 u. 134.) und je einmal Selbstliebe (Vgl. ebd. S. 94) als auch Selbstsucht (Vgl. ebd. S. 123.) als etwas negatives ab.

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geschlechterspezifischen Einschränkungen.623 Dies ändert jedoch nichts daran, dass Fischer die Rollen und Lebenssphären der Frau einschränkt, deren Aufgehen in den kollektiven Kategorien sowie die Zurücknahme ihrer selbst fordert und Abweichungen nur im Ausnahmefall erlaubt.624 Inwiefern sie dem männlichen Einzelnen weiterführende Möglichkeiten zugesteht, bleibt offen, weil sich dazu keinerlei Aussagen im Werk finden. Die Kategorie der Einzelnen bildet also in Fischers Ratgeber eine von mehreren Identitätskategorien und Individualität wird in einer eindimensionalen Art und als eine nicht modifizierbare Essenz gedacht. In Karl von Raumers 1853 erschienenen Ratgeber Die Erziehung der Mädchen625 ist die Kategorie der Einzelnen komplett abwesend. Während die Ausdrücke Individuum, Individualität und Einzelne als auch synonyme Termini wie Persönlichkeit oder Subjekt nicht vorkommen, wird der Gedanke einer Eigenheit des Individuums zusätzlich zu der einmaligen Verwendung des Eigentümlichkeitsterminus nur vereinzelt angedeutet. Neben dem Ratschlag, dass jedes Kind bei der Vermittlung von kindergerechten Arbeitsaufgaben »nach seiner Eigenthümlichkeit [sic!] behandelt werden«626 müsse, legt von Raumer nahe, dass es geschlechterspezifische Eigenheiten gebe, welche in den Anlagen der Einzelnen begründet seien, jedoch durch die Erziehung veränderbar wären.627 Ausführlich 623 Ganz im Gegenteil dazu äußert sie sogar explizit, dass die Hierarchie der Geschlechter sozial konstruiert wäre: »In keiner Art geistiger Ausbildung ist den Frauen eine andre Grenze gesetzt, als die der Sitte; so verstehe ich diese Worte. Sie sind zu Allem gleich berechtigt, gleich befähigt, die Sitte allein ist das Maß, gleichsam der Rahmen weiblicher, geistiger Entwickelung [sic!]. Die Schwäche der Frauen, die an dem Manne ihre Stütze sucht, das Unterwerfen unter den Willen des Mannes, der biblische Ausdruck, daß der Mann der Herr des Weibes sein soll, ist eben wiederum nichts Anderes als Sitte« (Ebd. S. 39.). Sie macht also die Sitte verantwortlich für das gesellschaftliche Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern und schließt natur- oder gottbedingte Ursachen aus, die sie zumindest für die Individualität als ursächlich betrachtet. 624 Als einzige Ausnahme lässt sie ein künstlerisches Talent gelten, »[w]o das vorhanden ist, läßt sich nicht von den Verhältnissen unterdrücken, sondern beherrscht sie vielmehr: da spricht es sich aus als Lebensberuf, bei Frauen sowohl, wie bei Männern« (Ebd. S. 83.). 625 Raumer, Karl von. Die Erziehung der Mädchen. Stuttgart 1853. Karl von Raumer war nach einer überwiegend selbst verfassten, aber fragmentarisch und posthum erschienenen Autobiographik seit 1810 als Professor für Mineralogie an der Universität Breslau tätig gewesen. (Vgl. Raumer, Karl von. Karl von Raumer’s Leben von ihm selbst erzählt. Zweiter Abdruck. Stuttgart 1866. S. 147.) Dazu verfasste er eine Geschichte der Pädagogik, dessen dritter Teil eben jenen Ratgeber zur Mädchenerziehung enthielt. Deshalb gilt es ihn als einen Pädagogen zu klassifizieren. Die Klassifikation des Werkes als ein Ratgeber ist gerechtfertigt, weil von Raumer sein Werk mehrfach als ein solches darstellt. (Vgl. Raumer (1853). Erziehung der Mädchen. S. 35, 66 u. 147.) 626 Ebd. S. 137. 627 So schreibt er einerseits: »Von Natur pflegen die Bewegungen gesunder, zweckmäßig behandelter kleiner Kinder anmuthig [sic!] zu sein, zumal ist den Mädchen eine gewisse Feinheit oft angeboren. Werden sie etwas größer, so erwacht wohl ein Trieb zur Wildheit und

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behandelt wird der Gedanke aber nicht, weswegen ein komplettes Eigenheitsmodell nicht konstruiert werden kann. In der Bewertung der Kategorie der Einzelnen ist von Raumer hingegen eindeutig. Als das wesentliche Ziel der Mädchenerziehung betrachtet er es, diesen das Dienen beizubringen.628 Dazu soll die Aufopferung vermittelt und die Selbstfokussierung verhindert werden.629 Die Kategorie der Einzelnen erfährt in von Raumers Identitätsangebot also keine Bedeutung. In dem von August Wilhelm Grube 1855 veröffentlichten Ratgeber Von der sittlichen Bildung der Jugend im ersten Jahrzehend des Lebens630 ist ein Begriffstableau in einem bislang in der Untersuchung noch nicht verzeichneten, quantitativen Ausmaß zu vermerken. Denn vom Individuum ist dreizehnfach, vom Einzelnen in einer Bezugsetzung zum Menschen zweizwanzigfach,631 von

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sogar zu einer gewissen Plumpheit. Diese nun bei den Mädchen nicht aufkommen zu laßen, ist die Aufgabe einer verständigen Mutter« (Ebd. S. 63) und ergänzt auf der folgenden Seite noch: »Die Mädchen mögen von Natur einen Hang zur Eitelkeit und zur Putzsucht haben; dieser Hang läßt sich wie alle unsere angeborenen Fehler, durch frühe, gute Gewöhnung bekämpfen« (Ebd. S. 64f.). Er stellt damit bestimmte Eigenschaft als spezifisch weiblich sowie als in den Anlagen enthaltene dar, welche jedoch durch die Erziehung behoben werden könnten. Andererseits attestiert er dem weiblichen Wesen eine generelle Minderwertigkeit gegenüber dem Mann bezogen auf ihre geistigen Fähigkeiten, wenn er schreibt: »Nach Männer Weise in der Wißenschaft [sic!] gründlich zu sein, darnach könnte nur ein ganz unweibliches Mädchen streben, und nur vergebens streben, da ihr Kraft und Talent des Mannes mangelt« (Ebd. S. 82.). Anhand der Geschlechterzugehörigkeit bedinge sich laut von Raumer die Fähigkeit zu wissenschaftlichen Arbeiten, welches schlussendlich nur dem Mann möglich wäre und für Frauen grundsätzlich vergebens sei. Er schreibt in Folge eines Goethe-Zitates: »In diesen goldenen Worten ist das wesentliche Moment in der Mädchen-Erziehung ausgesprochen: sie sollen d i e n e n lernen, damit sie hierdurch befähigt werden, nicht bloß mit Worten und mit der Zunge, sondern mit der That und Wahrheit zu lieben« (Ebd. S. 88. Hervorhebung im Original.). Daraus erschließt sich auch die von von Raumer angenommene Geschlechterhierarchie mit einer männlichen Dominanz und Hegemonie. Er stellt einmal Aufopferung als eine Tugend dar (Vgl. ebd. S. 143.) und bezeichnet je einmal Eigennutz (Vgl. ebd. S. 44.) als auch Eigensinn als eine Untugend. (Vgl. ebd. S. 56.) Grube, August Wilhelm. Von der sittlichen Bildung der Jugend im ersten Jahrzehend des Lebens. Pädagogische Skizzen für Eltern, Lehrer und Erzieher. Leipzig 1855. Die Klassifikation des Werkes als einen Ratgeber erscheint gerechtfertigt, weil sich der Verfasser direkt im Untertitel an Eltern (sowie Lehrer und Erzieher) wendet und im Vorwort die Intention äußert, dem Leser bei der Herausbildung einer »gesunde[n| Familien-Pädagogik fördern helfen« (Ebd. (Vorwort.) S. VI.) zu wollen. Der Verfasser war als ein Lehrer an der Volksschule sowie als Hauslehrer und Privaterzieher tätig und verfasste ab den 1840er mehrere pädagogische Werke, (Vgl. Sander, o. A. August Wilhelm Grube. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Band 49. Leipzig 1904. S. 575–577. [Online-Version] (29. 01. 2019, 11:40 Uhr).) weswegen er in das pädagogische Auswertungsfeld einzuordnen ist. Die Definition des Individuumbegriffes ist eindeutig, weil Grube vom »menschlichen Einzelwesen – Individuum« (Grube (1855). Bildung der Jugend. S. 10.) schreibt. Für die weiteren Begriffsnutzungen im Werk siehe: Ebd. S. 11, 29, 55, 112, 133, 212, 274, 275 u. 286. MEV. Für

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Persönlichkeit achtzehnfach,632 vom Subjekt zwölffach,633 vom Naturell vierfach,634 von Eigentümlichkeit neunfach635 und von Individualität sogar fünfzigfach die Rede.636 Letztere versteht Grube im Sinne von Eigenheit, die er jedoch vom Charakter eines Menschen unterscheidet. Denn diesen betrachtet er als eine weiterentwickelte Form von Individualität, in der sich nicht mehr nur das Eigene widerspiegelt, sondern auch »das Allgemein-Menschliche, [das] den sittlichen Geist der Menschheit darstellt«637. Grube konzipiert damit ein Entwicklungsmodell des Menschen, in dem Individualität als eine anthropologische Grundausstattung und als Ausgangspunkt betrachtet wird, an dem der Mensch als ein selbstbezogenes Wesen mit spezifischen Eigenheiten existiere. Im Verlauf seiner Entwicklung löse er sich aber durch die Erziehung von seiner Selbstfokussierung und entwickle sich idealiter zu einem charaktervollen Wesen, in dem sich die Vereinigung des Individuellen mit dem Allgemeinen realisiere.638 Dazu besäße

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Einzelne siehe: Ebd. S. 10, 11, 27, 28, 32, 92, 117, 118, 143, 151, 153, 155, 200, 212, 215, 223 u. 264. MEV. Den Persönlichkeitsbegriff versteht Grube als synonym zum Charakterbegriff, womit auch dieser als eine (weiter-)entwickelte Form der Eigenheit definiert wird. Dies zeigt folgende Textstelle: »Der Prozeß [sic!], welcher die ganze Erziehung durchdringt und ihr Wesen ist, nämlich aus dem selbstischen Eigenwillen des Zöglings den selbstsuchtlosen Willen einer freien Persönlichkeit zu bilden« (Ebd. S. 131.). In dieser Aussage spiegelt sich die von Grube erachtete Zielsetzung der Erziehung schon wider. (Für die weiteren Begriffsvorkommen siehe: Ebd. S. 5, 12, 33, 39, 54, 55, 70, 95, 104, 108, 109, 113, 115, 118, 154 u. 262.) Der Subjektbegriff wird als Synonym von Individuum und Einzelnen verwendet. (Vgl. ebd. S. 32, 47, 59, 95, 119, 131, 200, 206, 229 u. 270.) Naturell versteht Grube im Sinne einer qua Geburt gegebenen, spezifischen Grundanlage des Menschen zu bestimmten Eigenschaften und dementsprechend als Synonym zum Individualitätsbegriff. Denn er schreibt: »ein Mensch […] sei mit üblen Dispositionen seines Naturells, mit Schoßsünden und Lieblingsneigungen« (Ebd. S. 110.) ausgestattet und ergänzt kurz darauf: »Niemand soll sein Naturell von sich werfen, Niemand kann sich seines Temperamentes erledigen« (Ebd. S. 112.). An den anderen beiden Begriffsnutzungen wird dem Naturell eine nationale Eigenheit hinzugefügt. (Vgl. ebd. S. 301 u. 302.) Den schon im Zitat wiedergegebenen Dispositionsausdruck verwendet er zweimalig im Werk. (Vgl. ebd. S. 110 u. 141.) Vgl. ebd. S. 8, 13, 17, 21, 25, 123 u. 343. MEV. Vgl. ebd. S. 9f., 10, 11, 12, 14, 16, 18, 19, 25, 27f., 28f., 29, 39, 45, 55, 57, 113, 117, 123, 140, 154, 169, 175, 187, 189, 219, 275, 308f. u. 343. MEV. Ausführlicher wiedergegeben heißt es: »Jeder Mensch hat als Mensch eine Individualität, aber nicht jeder bringt es zum Charakter. Das heißt: nicht Jeder kommt auf den Punkt, wo sein individuelles Leben das Allgemein-Menschliche, den sittlichen Geist der Menschheit darstellt. Erst dann, wenn in dem menschlichen Einzelwesen – Individuum – das menschliche We s e n , die Gattung, mit besonderer Entschiedenheit hervortritt, sprechen wir von einem c h a r a k t e r v o l l e n M e n s c h e n « (Ebd. S. 9f. Hervorhebungen im Original.). (Siehe auch: Ebd. S. 11f.) Dies formuliert Grube als eine dezidierte »Aufgabe der Erziehung, in dem individuellen b e s o n d e r e n den generellen a l l g e m e i n e n Menschen aufzuerbauen« (Ebd. S. 12. Hervorhebungen im Original.).

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jeder Mensch eine spezifische Lebensaufgabe.639 Grube schreibt dem einzelnen Menschen und dessen Eigenheit also viel Bedeutsamkeit zu, sieht das Ziel jedoch im Aufgehen aller in den Kollektiven und im Ideal in der Vereinigung aller in einem kolportierten religiösen Ganzen.640 Deswegen warnt Grube auch vor einer individuellsten Absonderung und stellt die atomistische Zersetzung der Gesellschaft als ein Feindbild dar,641 fordert zur Unterordnung, freiwilligen Selbstbeschränkung, Aufopferung sowie zur Selbstgenügsamkeit auf 642 und lehnt die Selbstfokussierung in mannigfaltiger Weise ab.643 Die Kategorie des Einzelnen wird demnach als eine wichtige Identitätskategorie skizziert, aber nicht zu einer Zielsetzung erhoben. Dies wäre die Integration des Einzelnen in den kollektiven Kategorien. Das Eigenheitsmodell von Grube fällt aber noch umfassender aus, als es bisher dargelegt wurde, und beinhaltet vier verschiedene Dimensionen. Die erste Eigenart bildet der Einzelne selbst, der durch die qua Geburt enthaltenen Anlagen eine Grundprägung hätte, die sich teilweise modifizieren, jedoch nicht grundlegend ändern ließe.644 Die zweite Eigenheitsart verankert Grube auf der Gesellschaftsebene des Standes, denn er behauptet: »daß [d]er |Mensch] in einem bestimmten Lande, in einer bestimmten Gegend, Gesellschaft, Familie geboren wird, wodurch ohne alles Zuthun [sic!] der Kunst sein 639 So schreibt er: »Jeder Mensch, weil er ein besonderes, ihm eigenthümliches [sic!] Leben zur Welt bringt, bringt damit auch eine ihm besonders zu Theil [sic!] gewordene Lebensaufgabe mit, die Er und nur Er in dieser eigenthümlichen [sic!] Weise lösen soll« (Ebd. S. 13.). 640 An der bereits angedeuteten Präferenz für das Kollektiv gegenüber dem Einzelnen lässt er keinen Zweifel. Denn es wäre »jeder Mensch berufen, zum Wohl des Ganzen zu arbeiten« (Ebd. S. 64.) und dabei »das Selbst zu opfern, damit Gottes Wille allein regiere, Gottes Persönlichkeit Alles in Allen sei« (Ebd. S. 131.). Dadurch werden die »v e r s c h i e d e n s t e n I n d i v i d u a l i t ä t e n […] zu Gliedern des Einen großen Leibes, dessen Haupt Jesus Christus ist« (Ebd. S. 55. Hervorhebung im Original.). Das kolportierte Ganze, in dem sich idealiter alle vereinigen, bildet bei Grube also die christliche Religion. 641 Beide Begriffspaare finden sich an der selben Textstelle. (Vgl. ebd. S. 19.) 642 Zur freiwilligen Selbstbeschränkung wird einmalig, (Vgl. ebd. S. 22.) zur Unterordnung dreimalig, (Vgl. ebd. S. 32, 33 u. 47.) zur Aufopferung zweimalig (Vgl. ebd. S. 131 u. 166.) und zur Selbstgenügsamkeit einmalig aufgefordert. (Vgl. ebd. S. 295.) 643 Und zwar siebenmalig in Form von Egoismus, (Vgl. ebd. S. 26, 52, 115, 233, 278, 295 u. 304.) zweimalig als Eigensinn, (Vgl. ebd. S. 36 u. 229.) dreimalig als Eigenwillen, (Vgl. ebd. S. 130, 230 u. 304.) zweimalig als Eigendünkel, (Vgl. ebd. S. 230 u. 305.) achtmalig als Selbstsucht (Vgl. ebd. S. 39, 71, 113, 116, 130, 133, 135 u. 296.) und gar zweimalig in Form von subjektiver Willkür. (Vgl. ebd. S. 59 u. 206.) 644 Neben der bereits zitierten Aufforderung, das eigene Naturell nicht zu verwerfen, (Siehe oben.) fügt er noch hinzu: »Niemand kann sich seines Temperamentes entledigen, aber er soll was natürlich ist in ihm und an ihm durch den Geist bändigen« (Ebd. S. 112.). Darin verdeutlicht sich, dass er die individuelle Eigenheit als im Wesen enthaltene Anlagen versteht, die durch den eigenen Geist veränderbar wären. Auch externe Einflüsse können auf diese einwirken, denn er schreibt, »daß Kinder oft wider ihre eigene natürliche Disposition, Gewohnheiten, Fehler und Vorzüge ihrer ältern [sic!] Geschwister annehmen« (Ebd. S. 141.).

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Geistes- und Gemüthsleben [sic!] ein bestimmtes Gepräge erhält, indem es veranlaßt wird, an den Lebensinteressen seiner Umgebung Theil [sic!] zu nehmen. Noch ehe der Zögling sich selber seinen Beruf wählen kann, hat der Stand, das Lebensverhältniß [sic!], in welchem er geboren wurde, ihm eine bestimmte Richtung gegeben.«645

Der soziale Rahmen führe dementsprechend zu eigentümlichen Prägungen des Menschen und bestimme in einer grundlegenden Art dessen Lebensweg. Deswegen sollte es ein Ziel der Erziehung sein, die Identifikation des Menschen mit dessen individuellen Stand zu befördern und damit der göttlichen Determination zu entsprechen.646 Grube entwirft die Ständezugehörigkeit demgemäß als eine Schicksalhaftigkeit, der es sich zu fügen gelte und aus der Eigenarten im Einzelnen resultierten. Die dritte Form stellt eine nationale Eigenheit dar, da Grube von der Existenz einer allgemeinen Landesnatur647, etwa einem französischen oder deutschen Naturell ausgeht, die eigentümliche Eigenschaften implizierten.648 Diese wären entsprechend des von Grube definierten Naturellbegriffes angeboren.649 Die vierte Eigenheitsform knüpft an die nationale Eigenheit an und wird als deren kollektive Metaebene gedacht und mit dem Volksbegriff verbunden. Denn indem Grube romanische Völker mit germanischen vergleicht und letztere Kategorie zumindest in Engländer und Deutsche untergliedert,650 erhebt er die Volkskategorie zu einer übergeordneten Einheit von Nationen. Gleichzeitig verbindet er diese Kategorie mit generalisierenden Erscheinungsformen als auch 645 Ebd S. 15. 646 Denn »so gilt es nun, Liebe für den Beruf, Stolz auf den individuellen Stand zu erzeugen d u r c h d i e B i l d u n g für eben diesen Stand. Erst dann wird unsere Erziehung charaktervoll werden, wenn sie die Jugend dazu anleitet, daß jeder in s e i n e m Stande seinen Stolz, in seinem Berufe seine Freude findet, daß die Schranken, welche der Schöpfer von Haus aus jedem einzelnen Menschen gezogen hat, zugleich erkannt und geachtet werden« (Ebd. S. 28. Hervorhebung im Original.). 647 Vgl. ebd. S. 10. 648 So schreibt er einerseits davon, dass ein »französisches Naturell von vornhinein das Leben des Kindes unruhiger und bewegter mache« (Ebd. S. 301.) und spricht andererseits kurz darauf von einer »besonnenen That, wie sie dem deutschen Naturell entspricht, wie sie aber frühzeitig herangebildet werden muß, wenn der verderbliche Hang des Deutschen zu thatenloser »Ueberlegung« [sic!] überwunden werden soll« (Ebd. S. 302.). Das jeweilige nationale Naturell wird von Grube also mit spezifischen, aber veränderbaren Eigenheiten versehen, die allen Zugehörigen per se gegeben wären. 649 Siehe oben. 650 So stellt er einerseits die Behauptung auf: »Engländer und Deutsche stehen in dieser Beziehung hoch über den romanischen Völkern, denn die Familie steht bei ihnen noch in Ehren, und der individuelle Mensch hat noch seine Bedeutung« (Ebd. S. 154.). Andererseits äußert er generalisierend, dass die »romanischen Völker, die von Natur mit einem viel feineren ästhetischen Sinn begabt sind und in der Geschmacksbildung als solcher die germanischen Völker übertreffen« (Ebd. S. 290.). Neben den nationalen Kollektiven bestünden dementsprechend noch eine diesen übergeordnete Entität der Völker, in welche sich verschiedene Nationen aufgrund verschiedener Eigenheiten oder auch Erscheinungsformen subsumieren lassen.

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mit spezifischen Eigenarten, wenn er den »Orientalen und Südländer[n] scharf markirte [sic!] Gesichtszüge […] [sowie] überhaupt eine markirte [sic!] abgeschlossene Körperbildung [attestiert, die sie] vor den Okzidentalen und Nordländern voraus«651 hätten, oder wenn er den romanischen Völkern eine höhere ästhetische Begabung gegenüber den germanischen Völkern zuschreibt, die ihnen von Natur aus gegeben wäre.652 Völker besäßen damit spezifische Eigenheiten, die er als natürliche und dementsprechend bereits in den jeweiligen Wesen enthaltene Eigenschaften als auch Körpermerkmale illustriert. Summa summarum konzipiert Grube damit ein viergliedriges Modell von Eigenheit, in dem zwei Formen (die Individuelle und Völkische) als eine Essenz konzipiert werden, die in Form von Anlagen bereits in den Menschen enthalten wären und zu spezifischen Eigentümlichkeiten führten, die aber auch stückweit veränderbar wären. Die ständische Eigenart entstünde dagegen aus den lebensweltlichen, sozialen Einflüssen und führe zu spezifischen Prägungen des Einzelnen, indessen die nationale Eigentümlichkeit sowohl aus angeborenen Anlagen als auch aus Prägungen resultiere. Damit entwirft Grube in seinem Erziehungsratgeber ein komplexes, hybrides Konzept von angeborenen, essentialisierten sowie veränderbaren und von extern verursachten Eigenheitsformen, die zusammen die Individualität des Einzelnen bestimmten. In dem von Ernst Schreiber verfassten und 1863 in Wien veröffentlichten Ratgeber Das Mädchen in Bezug auf dessen Bestimmung653 kristallisiert sich ein quantitativ umfangreiches Vorkommen der Ausdrücke Individuum, Individualität, Einzelne, Subjekt sowie Eigentümlichkeit heraus.654 Trotz dieser Begriffs651 Ebd. S. 7. 652 Vgl. ebd. S. 290. 653 Schreiber, Ernst. Das Mädchen in Bezug auf dessen Bestimmung. Belehrungen über zweckmäßige Richtung der körperlichen und geistigen Erziehung heranwachsender Töchter. Zur Erziehung wahrhafter Bildung des Geistes, Veredelung des Herzens und eines würdevollen Benehmens im gesellschaftlichen Leben. Nebst einem Anhange über die verschiedenen Krankheiten in den Entwickelungsjahren des weiblichen Geschlechtes. Wien 1863. Ich betrachte die Einordnung der Schrift als einen Ratgeber als gerechtfertigt, weil der Autor im Untertitel von Belehrungen schreibt und im Werk Rathschläge (Vgl. ebd. S. 80.) und Vorschriften (Vgl. ebd. S. 87.) erteilt und sich an Mütter und Eltern richtet. (Vgl. ebd. S. 112 u. 117.) Auf dem Titelblatt wird der Verfasser als »Dr. der Medizin und Chirurgie, Magister der Augenheilkunde und Geburtshilfe, […] [und als] prakt. Arzte in Wien« (Ebd. Titelblatt.) beschrieben, weswegen es ihn als einen Mediziner zu klassifizieren gilt. Erwähnenswert ist zudem, dass sich der Ratgeber laut Titel auf die Mädchenerziehung zu beschränken scheint, im Werk jedoch auch einige Hinweise zur Erziehung von Jungen zu finden sind. (Vgl. ebd. S. 2, 3, 4, 5, 27 u. 37.) Deswegen können die Analyseergebnisse nicht auf das weibliche Geschlecht reduziert bzw. per se als geschlechtsspezifisch betrachtet werden. 654 Der Individuumsbegriff kommt fünfmalig im Sinne vom Einzelnen, (Vgl. ebd. S. 49, 52, 111 u. 126.) der Einzelnebegriff im Bezug zum Menschen sechsmalig (Vgl. ebd. S. 3, 10, 18, 22, 24 u. 82.) und der Individualitätsausdruck zweimalig vor. (Vgl. ebd. S. 141.) Er versteht den

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bandbreite wird der Eigenheitsgedanke eines Menschen an keiner Stelle angedeutet, weil die Termini in keinerlei Bezug zum Individuum gesetzt werden. Zudem vermittelt Schreiber der Kategorie des Einzelnen wenig Bedeutsamkeit. Er äußert zwar, »daß Gott jeden einzelnen Menschen, ja jedes einzelne Atom beachtet«655, fordert aber zur Unterordnung und Aufopferung des eigenen Willen und gar zur Unterwerfung unter den göttlichen Willen und dessen Gesetze auf.656 Dazu stellt er Eigensinn, Eigenwille als auch Selbstsucht als eine Untugend dar657 und erwartet vom männlichen Einzelnen eine Nützlichkeit für die Gesellschaft und von der weiblichen Einzelnen ihre Selbstaufgabe.658 Schreiber skizziert damit eine geschlechterspezifische Bewertung der Formation des Einzelnen. Während diese für das männliche Geschlecht eine von mehreren Identitätskategorien bildet, fungiert sie für das weibliche Geschlecht als eine nebensächliche Identitätseinheit. In Marie Susanne Küblers Werk Das Buch der Mütter659, das vermutlich zuerst 1867 in Zürich veröffentlich wurde,660 kommen die Begrifflichkeiten Individuum,

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Begriff zwar im Sinne von Eigenheit, bezieht ihn jedoch nicht auf den Einzelnen bzw. auf etwas bei Kindern Auszubildendes, sondern charakterisiert damit die Arbeit von Künstlern. So schreibt er: »Entsprechen endlich die Produkte des Künstlers nicht den a l l g e m e i n e n g i l t i g e n [sic!] Regeln von Schönheit nicht, sondern zeigen jedesmal das Eigenthümliche, das I n d i v i d u e l l e des Meisters oder der Schule, so sagt man: er habe Manier, er sei individuell« (Ebd. S. 141. Hervorhebungen im Original.). Von Eigentümlichkeit ist viermalig die Rede. (Vgl. ebd. S. 117 u. 123.) Dabei bezieht sich Schreiber aber nie auf den Charakter des Menschen oder dessen Erscheinungsformen, sondern verwendet den Ausdruck nur im Kontext von Krankheiten und deren spezifischen Eigenheiten. Der Subjektbegriff wird zweifach im Ratgeber genutzt, einmal im grammatikalischen Sinne, (Vgl. ebd. S. 12.) das andere Mal in einer Bezugsetzung zur Eigenheit eines Künstlers. Dieser sei subjektiv, wenn sich in seinen Werken die allgemeinen Schönheitsvorstellungen mit seinem Wesen vereinbaren würden. (Vgl. ebd. S. 141.) Ebd. S. 18. Ausführlich heißt es: »so wird das Kind immer nur nach seinem eigenen Kopfe, nach seinem eigenen Willen handeln und durchaus nicht an eigentlichen, wirklichen Gehorsam, nämlich an Unterordnung und Aufopferung des eigenen Willens dem eines Andern gewöhnt werden. So lange wir leben, müssen wir Alle unsern Willen dem göttlichen Willen, unsere Wünsche den göttlichen Gesetzen unterordnen und unterwerfen« (Ebd. S. 21.). Siehe für Eigensinn und Eigenwillen: Ebd. S. 21. Siehe für Selbstsucht: Ebd. S. 22. So schreibt er: »Die Aufgabe des Mannes ist, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein, die Bestimmung des Weibes, nützlich und liebevoll dem Manne zur Seite zu stehen und in der Liebe und im Leben für Andere ihr eigenes höchstes Glück zu finden« (Ebd. S. 5.). Diese geschlechterspezifische Rollenverteilung und Erwartungshaltung wird mehrfach und besonders im Hinblick auf die Aufgaben der Frau wiederholt. (Vgl. ebd. S. 3, 4, 30, 35, 38, 40 u. 60.) Dem männlichen Geschlecht teilt Schreiber zwar die hegemoniale Rolle zu, beide Geschlechter müssten sich aber als Einzelne den Kollektiven unterordnen. Kübler, Marie Susanne. Das Buch der Mütter. Eine Anleitung zu naturgemäßer leiblicher und geistiger Erziehung der Kinder und zur allgemeinen Krankenpflege. Zürich 1867–68. Weil Kübler ihr Werk im Untertitel als eine Anleitung bezeichnet, dazu vielfach in der Schrift Ratschläge erteilt werden (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 18, 41, 97 u. 150.) und ihr Vorwort mit

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Individualität sowie Eigentümlichkeit in häufiger numerischer Nutzung sowie der Subjekt- und Persönlichkeitsausdruck vereinzelt vor.661 Ihr Eigenheitskonzept ist gekennzeichnet von der Grundannahme, dass jeder Mensch über angeborene Grundanlagen verfüge, von denen in der Erziehung die Guten zu befördern und die Schlechten zu minimieren wären.662 Aus dieser Konfrontation der individuellen Anlagen mit den Erziehungsweisen entstünde die Individualität des Menschen, die in den Verhaltensweisen sowie der Sprache Ausdruck fände und die Kübler unter dem Charakterbegriff subsumiert.663 Neben dieser individuellen Eigenheitsform nimmt Kübler noch eine zweite, geschlechterspezifische Eigenart an. Denn sie geht von Eigentümlichkeiten der weiblichen Natur aus, die

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folgender Intention beschließt: »Darum möge dieses Buch M ü t t e r e r z i e h e n !« (Ebd. (Vorwort.) S. IV. Hervorhebungen im Original.), betrachte ich die Klassifikation als einen Ratgeber als gerechtfertigt. Auf dem Titelblatt wird unter der Namensangabe der Autorin auf andere Werk verwiesen, weswegen es sie als eine Schriftstellerin zu klassifizieren gilt. Weil der Ratgeber in drei Bücher unterteilt ist, gebe ich in meinen Quellenverweisen die jeweilige diesbezügliche Zugehörigkeit an. Über das Publikationsjahr besteht eine Unsicherheit, weil auf dem Titelblatt der von mir untersuchten ersten Auflage 1868 angegeben, im zwei Seiten späteren Inlay jedoch 1867 angeführt wird. Das Vorwort ist gar auf 1866 datiert. (Vgl. ebd. (Vorwort.) S. IV.) Weil in zwei zeitgenössischen Publikationsverzeichnissen 1867 als Veröffentlichungsjahr angegeben wird, (Vgl. Hinrichs fünfjähriger Bücher-Catalog. Verzeichniss der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutsche Buchhandel erschienenen Bücher und Landkarten. Vierter Band 1866–1870. Bearbeitet von Adolph Büchting. Leipzig 1871. S. 209. Sp. 2.) (Sowie: Heinsius, Wilhelm. Allgemeines Bücher-Lexikon. Oder vollständiges Alphabetisches Verzeichniß aller von 1700 bis zu Ende 1867 erschienenen Bücher […]. Bearbeitet und herausgegeben von Karl Robert Heumann. Erste Abtheilung A-K. Leipzig 1869. S. 722. Sp. 1.) schenke ich dieser Angabe glauben. Der Individuumsbegriff wird im Ganzen zweimalig im Sinne eines einzelnen Menschen gebraucht. (Vgl. Kübler (1867–68). Buch der Mütter. Erste Buch. S. 150. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 335.) Der Einzelneausdruck wird unzählige Male verwendet, dabei jedoch nur einmal auf den menschlichen Einzelnen bezogen. (Vgl. ebd. Dritte Buch. S. 463.) Von Individualität im Sinne von Eigenheit ist insgesamt dreimalig die Rede, (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 146. Sowie: Ebd. Zweite Buch. S. 265. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 459.) indessen der Eigentümlichkeitsterminus zusammengenommen elfmalig genutzt wird. (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 26 u. 159. Sowie: Ebd. S. 166, 240 u. 304. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 429, 439, 447 u. 466.) Den Subjektbegriff bezieht Kübler nicht auf einen menschlichen Einzelnen, sondern nutzt ihn in einem grammatikalischen Sinne als Satzgegenstand. (Vgl. ebd. S. 414.) Den Persönlichkeitsbegriff versteht sie im Sinne von Charakter. (Vgl. ebd. S. 465.) So schreibt sie: »Die Eltern sind im Interesse der Gesittung und Bildung verpflichtet, die Unarten, Fehler und die mehr und mehr sich regenden Leidenschaften des Kindes, deren Keim es schon mit sich zur Welt bringt, zu strafen, durch Bestrafung abzugewöhnen oder zu zähmen. Jedem Menschen sind mehr oder weniger gute oder schlechte Grundanlagen angeboren« (Ebd. Dritte Buch. S. 437.). So heißt es: »Temperament und Erziehung bilden jedem Menschen die besondere Eigentümlichkeit an, durch welche er sich von andern Menschen unterscheidet. Den Inbegriff der aus dieser Eigentümlichkeit entspringenden Äußerungen und Handlungen nennt man C h a r a k t e r « (Ebd. Dritte Buch. S. 439. Hervorhebung im Original.). Der Charakter eines Menschen wäre also dessen ausgebildete Eigenheit.

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eine Prädestination zu gewissen Eigenschaften als auch zu bestimmten Entwicklungscharakteristika bedingten und die zu spezifischen Berufstätigkeiten führten.664 In ihrer Instruktion, dass sich Väter bei der Erziehung der Knaben beteiligen sollten, um »sie männlich denken und handeln [zu] lehren«665, verdeutlicht sich, dass sie die geschlechterspezifischen Eigenarten als im Wesen enthaltene Anlagen denkt, die dann durch die eine geschlechtergetrennte Erziehung ausgebildet werden müssten.666 Für beide Geschlechter gelte es aber, »[d]as eigene Ich auszubilden«667. Denn nur dadurch könnte die Grundvoraussetzung geschaffen werden, um zur Verwirklichung der menschlichen Lebensbestimmung zu gelangen.668 Gleichwohl steht diese jeweils in direkter Abhängigkeit zur Geschlechterzugehörigkeit. Denn Kübler entwickelt einen Gesellschaftsentwurf, der durch geschlechterspezifische Rollenerwartungen, Lebenssphären und Einschränkungen gekennzeichnet ist. Während das männliche Geschlecht für die Öffentlichkeit und das Haus bestimmt sei, reduziere sich die weibliche Bestimmung auf das Haus und auf die Rollen der Mutter und Erzieherin, Gattin und Hausfrau.669 Nur in Ausnahmesituationen sei eine Abweichung davon ge-

664 An drei Textstellen erwähnt Kübler diese Geschlechtereigenarten. Einerseits wenn sie schreibt: »Im ersten Kindesalter wird das Gebärdenspiel des Knaben kräftiger und sein Wesen entschiedener als das des Mädchens, bei welchem jetzt die Eigentümlichkeiten der weiblichen Natur, Zartheit und einige Weichlichkeit hervortreten« (Ebd. Dritte Buch. S. 447.). Andererseits wenn sie äußert: »Die weibliche Natur eilt nun schneller einer gewissen Reife entgegen, als die männliche, und während der Knabe unbändiger und eigenwilliger wird, macht sich beim Mädchen bereits eine gewisse Befangenheit und Schüchternheit bemerkbar« (Ebd. Dritte Buch. S. 478.). Als auch wenn es heißt: »so wird es der Jungfrau nun nicht schwer fallen, sich dem durch die Natur ihrer Anlagen und ihres ganzen Wesens ihr vorgezeichneten Berufe für’s Haus, für die Hauswirthschaft [sic!| mit Eifer und Umsicht zu widmen« (Ebd. Dritte Buch. S. 496.). 665 Ebd. Dritte Buch. S. 479. 666 Mehrfach fordert sie die Trennung der Geschlechter in der Erziehung ab einem gewissen Alter. (Vgl. ebd. Dritte Buch. S. 436, 447 u. 477f.) 667 Ebd. Dritte Buch. S. 483. 668 Diese Begründung führt sie zweifach in fast identischer Art im Werk an. Während es zu Beginn heißt: »In treuer Erfüllung des Berufes der Gattin und Hausfrau ist dieser nicht nur Gelegenheit zur Erreichung ihrer menschlichen Lebensbestimmung, sondern auch zur vollkommenen Ausbildung des eigenen Ichs gegeben« (Ebd. Erste Buch. S. 3.), formuliert sie zum Ende hin prägnanter: »Das eigene Ich auszubilden ist daher zur Erreichung ihrer menschlichen Lebensbestimmung eine wesentliche Aufgabe« (Ebd. Dritte Buche. S. 483.). Die Entwicklung der Individualität wird demgemäß für beide Geschlechter als Erziehungsziel ausgegeben, auch wenn die Reduktion der weiblichen Tätigkeitsfelder und somit eine gewisse Beschränkung ihrer Eigenheit schon im ersten Zitat angedeutet wird. 669 So heißt es: »Der Jüngling wird nun gleichsam hinausgedrängt in das öffentliche Leben und voll Kraftgefühl sehnt er sich, die Welt am Wanderstabe zu durchmessen« (Ebd. Dritte Buch. S. 494.). Für Mädchen gelte hingegen: »so wird es der Jungfrau nun nicht schwer fallen, sich dem durch die Natur ihrer Anlagen und ihres ganzen Wesens ihr vorgezeichneten Berufe für’s Haus, für die Hauswirthschaft [sic!] mit Eifer und Umsicht zu widmen« (Ebd. Dritte

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rechtfertigt.670 Das Geschlecht wirkt sich also auf die Bewertung der Einzelnen und ihrer Individualität aus. Denn damit einhergehend wird ein Tugendkatalog an das weibliche Geschlecht gerichtet, in dem Selbstüberwindung, Selbstverleugnung und Aufopferung gefordert und jede Form der Selbstfokussierung abgelehnt wird.671 Von Frauen wird schlussendlich die Selbstaufgabe ihrer in der Erziehung ausgebildeten Individualität sowie das Aufgehen in den vorgesehenen Rollen und Kollektivformationen verlangt. Eine gleichbedeutende Erwartungshaltung wird für das männliche Geschlecht nicht formuliert, weswegen festzuhalten ist, dass die Kategorie des Einzelnen nur für das männliche Geschlecht eine wichtige Identitätsformation bildet. Der weiblichen Einzelnen wird trotz des Erziehungszieles der Ausbildung ihrer Eigenheit letztlich keine Individualität zugestanden und der Kategorie der Einzelnen eine nebensächliche Bedeutung zugesprochen. Ernst Böhme illustriert in seinem 1869 erschienenen Ratgeber Des Sohnes Erziehung672 ein Bild vom Einzelnen, in welchem der Gedanke einer individuellen Eigenheit höchstens in den vermittelten Wertvorstellungen angedeutet wird. Die Ausdrücke Individualität, Eigentümlichkeit und Eigenheit werden genauso wenig verwendet wie der Individuums- oder Einzelneterminus. Auf die Kategorie des Einzelnen verweist Böhme ferner nur in indirekter Art,673 wenn neben dem entworfenen Tugendkatalog und dessen Ideal von einer sittenreinen Persön-

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Buch. S. 496.). Hinzu kommen noch ihre Rollen als Mutter und Gattin. (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 3f., 8 u. 62. Sowie: Ebd. Zweite Buch. S. 323. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 447, 461, 480 u. 481.) Wenn der Verdienst des Mannes nicht ausreiche, sei die Ausübung eines bürgerlichen Berufes zur Mehrung des Erwerbes gerechtfertigt. (Vgl. ebd. Dritte Buch. S. 456f.) Während Selbstüberwindung zweifach, (Vgl. ebd. Dritte Buch. S. 433 u. 489.) Selbstverläugnung vierfach, (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 62. Sowie: Ebd. Zweite Buch. S. 166. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 484 u. 490.) und Aufopferung dreifach (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 62. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 484 u. 490.) als eine Tugend dargestellt wird, wird Eigensinn ganze zwölfmalig, (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 65, 114 u. 160. Sowie: Ebd. Zweite Buch. S. 176, 208 u. 336. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 411, 416 u. 429.) Eigennutzen einmalig, (Vgl. ebd. Dritte Buch. S. 433.) Eigendünkel zweimalig, (Vgl. ebd. Dritte Buch. S. 429 u. 439.) Eigenwillen einmalig (Vgl. ebd. Dritte Buch. S. 417.) als auch Selbstsucht viermalig (Vgl. ebd. Erste Buch. S. 31. Sowie: Ebd. Dritte Buch. S. 433, 476 u. 489.) als eine Untugend kritisiert. Böhme, Ernst. Des Sohnes Erziehung. Pädagogische Briefe an eine Mutter. Dresden 1869. Die Klassifikation des Werkes als einen Ratgeber fällt leicht, da Böhme sich selbst als ein solcher beschreibt, wenn er am Schluss der Schrift von »meine[n] Rathschläge[n] [sic!]« schreibt, die »zu Ihrem und Ihres Sohne Glück« (Ebd. S. 150.) führen sollen. Auch die berufliche Einordnung des Verfassers ist eindeutig, da auf dem Titelblatt angegeben wird, dass der Autor Direktor einer Erziehungsanstalt sei. (Vgl. ebd. Titelblatt.) Deshalb gilt es ihn als einen im pädagogischen Feld tätigen Akteur zu klassifizieren. Auf die Kategorie des Einzelnen wird fünfmal indirekt anhand von eigene (Vgl. ebd. S. 81, 97, 100, 102 u. 110.), sechsfach durch selbst (Vgl. ebd. S. 19, 23, 43, 56, 106 u. 143.) sowie einmalig anhand von jeder Mensch verwiesen. (Vgl. ebd. S. 46.)

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lichkeit674 die Rede ist. Böhmes Grundannahme besteht darin, dass die Eigenschaften des Kindes in keiner Form angeboren seien, sondern aus der Erziehung resultierten und demzufolge eingepflanzt werden.675 Es ließe sich dadurch eine gewisse Art von Eigenheit unterstellen, die sich in Form der durch die Erziehung erzeugten Tugendkonstellationen des Einzelnen konstituiere. Weil er jedoch einen einheitlichen Katalog an Verhaltensweisen entwirft und nirgends von individuellen Erscheinungsformen spricht, komme ich zu dem Schluss, dass der Gedanke von einer menschlichen Individualität nicht in Böhmes Werk entworfen wird. In der Bewertung der Kategorie des Einzelnen stellt sich eine gewisse Ambivalenz heraus. Denn so erklärt er zum einen mehrfach die starke Selbstfokussierung des Einzelnen zu einer Untugend, für dessen Unterbindung er sogar den Einsatz von Schlägen legitimiert,676 und fordert damit einhergehend Gehorsam und Selbstüberwindung.677 Zum anderen stellt er jedoch Selbstständigkeit als auch die Selbstvervollkommnung als Erziehungsziele dar und überträgt damit dem Einzelnen eine gewisse Eigenständigkeit.678 Weil insgesamt jedoch die Kategorie des Einzelnen primär im Bezug zur Tugendhaftigkeit thematisiert wird und zentrale Begriffe wie Individuum nicht vorkommen, gehe ich davon aus, dass er den Einzelnen primär als kollektiv verankertes Wesen konzipiert. Die Kategorie des Einzelne bidlet deswegen eine von mehreren Identitätsformationen. In Hermann Klenckes 1870 publizierten Ratgeber Die Mutter als Erzieherin ihrer Töchter und Söhne679 stellt sich eine umfangreichere Begriffsbandbreite fest. 674 Im Zuge der Skizzierung der Vorbildfunktion des Vaters für den Sohn verwendet Böhme den Persönlichkeitsbegriff im Verständnis einer sittsamen Person. Konkret heißt es: »Woher kommt dieser segensreiche Einfluß? Es ist g a n z a l l e i n d e r Z a u b e r e i n e r s i t t e n r e i n e n P e r s ö n l i c h k e i t . Das Kind fühlt, daß ein solcher Vater in jeder Beziehung hoch über ihm steht« (Ebd. S. 136. Hervorhebungen im Original.). 675 Böhme erwähnt mehrfach, dass die Tugenden nicht angeboren wären. (Vgl. ebd. S. 13, 44 u. 49.) Dazu gibt er das Erziehungsziel eines »eingepflanzte[n] Streben[s] nach immer größerer sittlicher Vervollkommnung« (Ebd. S. 149.) aus. 676 So schreibt er: »Ein paar t ü c h t i g e Schläge von der Mama hätten ihn bald beruhigt. Wenn diese Schläge ohne Zank und ohne Zorn, aber mit ruhigem Ernste erfolgen, so wirken sie Erstaunliches: sie machen nämlich das Kind aufmerksam auf sich selbst. Es denkt: Was habe ich denn eigentlich gewollt? warum habe ich denn geweint? Und damit ist der Eigensinn des Kindes gebrochen« (Ebd. S. 42f. Hervorhebungen im Original.). 677 Gehorsam wird zweimalig, (Vgl. ebd. S. 32 u. 100.) Selbstüberwindung einmalig gefordert. (Vgl. ebd. S. 56.) Den zu brechenden Eigensinn kritisiert er insgesamt sechsmalig (Vgl. ebd. S. 32, 41, 42, 43 u. 44.) und wertet dazu zweimalig Eigenliebe (Vgl. ebd. S. 49 u. 133.) sowie viermalig Selbstsucht (Vgl. ebd. S. 49, 52, 132 u. 133.) als Untugenden ab. 678 Beide Zielsetzungen erwähnt er je zweimalig. (Siehe für Vervollkommnung: Ebd. S. 46 u. 149. Und für Selbstständigkeit: Ebd. 25 u. 84.) 679 Klencke, Hermann. Die Mutter als Erzieherin ihrer Töchter und Söhne zur physischen und sittlichen Gesundheit vom ersten Kindesalter bis zur Reife. Ein praktisches Buch für deutsche Frauen. Leipzig 1870. Im Vorwort gibt Klencke an, dass er mit dieser Schrift »Belehrung, Rath und Anweisung geben« (Ebd. (Vorwort.)S. VI.) und jede »Mutter und jedes Weib […]

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Quellenuntersuchung

Neben der vereinzelten Nutzung der Ausdrücke vom Einzelnen, Subjekt und Individualität kommt der Eigentümlichkeitsbegriff sechzehnmal vor.680 Der Individuumsterminus wird hingegen nicht verwendet. Eigenheit konzipiert Klencke derweil in einer dreifachen Art. Die erste Eigenheitsform ergäbe sich aus den im Individuum enthaltenen Naturanlagen der Seele, die bereits während der Schwangerschaft durch das Verhalten und den Stimmungen der Schwangeren als auch durch die Erziehung nach der Geburt beeinflusst werden.681 Jeder Mensch verfüge dementsprechend über individuelle Anlagen, die ab dem biologischen Entstehungsprozess des Menschen modifiziert werden könnten. Die zweite Form von Eigenheit bestimmt in Klenckes Modell die Geschlechterzugehörigkeit, die schon in den »leiblichen und seelischen Anlagen und Neigungen«682 verankert

p r a k t i s c h belehren« (Ebd. (Vorwort.) S. VII. Hervorhebung im Original.) wolle. Die Klassifikation der Schrift als Ratgebermedium ist damit gerechtfertigt. Nicht nur der auf dem Titelblatt angegebene Titel Dr. med. verweist auf die medizinische Tätigkeit des Verfassers, sondern auch die darauf folgende, umfangreiche Erwähnung seiner Vereins- und Gesellschaftsmitgliedschaften etwa in »der Kaiserlichen Leopoldinischen Deutschen Akademie der Naturforscher, der Kaiserl. medicin. Societäten zu Wien und St. Petersburg, der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Erfurt« (Ebd. Titelblatt.). Entsprechend gilt es den Verfasser als einen Mediziner zu klassifizieren. 680 Für Einzelne siehe: Ebd. S. 530 u. 611. Für Eigentümlichkeit siehe: Ebd. S. 18, 39, 40, 247, 287, 292, 311, 322, 344, 373, 391, 399, 424, 445, 578 u. 613. Der Subjektbegriff wird im Sinne eines Einzelwesens gedacht und in den beiden Verwendungen negativ konnotiert, da von »nutzlosen Subjecten [sic!] aller Art und Menschenklassen« (Ebd. S. 450.) und von den Auswirken der vorherrschenden Unterhaltungslectüre auf den Einzelnen als »subjectiv [sic!], empfindsam, egoistisch, unpraktisch und leidenschaftlich« (Ebd. S. 574.) die Rede ist. Individualität versteht er im Sinne von Eigenheit, wenn er »von der individuellen Constitution [sic!] des Kindes« (Ebd. S. 118.) schreibt. (Für die anderen Begriffsvorkommen siehe: Ebd. S. 257, 272 u. 514.) 681 So schreibt er einerseits: »Aber so wie Leidenschaften und niederdrückende Gefühle das leibliche Reifen der Frucht zerstören oder schwächen können, so vermögen auch Temperamente und sittliche Verstimmungen der Mutter in die schlummernde Seele des Kindes geheimnißvolle [sic!] Wurzeln einzusenken« (Ebd. S. 35.), womit er auf den Beginn der Einflussnahme auf die Eigenheiten des Kindes schon ab dem Zeitpunkt der Schwangerschaft hinweist. Andererseits äußert er: »Auch die absichtliche Unwahrheit hat ihre Quellen in der menschlichen Naturanlage der Seele, und zwar in ihren verschiedenen Trieben, Instincten [sic!] und Strebungen, die aus ihrem Gleichgewichte getreten und durch fehlerhafte Erziehung nicht geregelt sind« (Ebd. S. 450.). Dadurch veranschaulicht er, dass die Ursache der Eigenschaften in den Anlagen des Einzelnen begründet seien. 682 Ausführlich heißt es: »Für diese erhabene Bestimmung des Weibes hat der Schöpfer auch das Weib natürlich und seelisch ausgerüstet; alle seine leiblichen und seelischen Anlagen und Neigungen beziehen sich auf dieses Verhältnis der Mutter zum Kinde, […]. Der Mann hat andere Ziele und Pflichten, deshalb auch andere Anlagen; des Weibes Leben ist die F a m i l i e , des Mannes Leben die We l t ; ihn hat schon die Natur von der leiblichen Pflege seines Kindes entbunden« (Ebd. S. 2f. Hervorhebungen im Original.). Schon in den Anlagen der geschlechterspezifischen Eigenheiten wären laut Klencke die jeweiligen Bestimmungen, Lebenssphären und Tätigkeiten der Geschlechter begründet.

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wäre und zu dezidierten Eigenschaften der Geschlechter führe.683 Die jeweiligen Anlagen müssten in der Erziehung berücksichtigt und verstärkt werden, damit jedes Individuum in dessen spezifischen, vom Geschlecht bestimmten Lebenswelten wirken und die vorhergesehenen Aufgaben und Rollen erfüllen könne.684 Mit der kolportierten Geschlechtereigenart begründet Klencke also die geschlechterspezifische Einteilung der Lebenswelten sowie die Einschränkung auf genuine Rollen und Tätigkeiten. Damit wird der Gedanke einer gesellschaftlichen Trennung der Geschlechter naturalisiert, weil dieser als etwas aus der biologischen Konstitution der Menschen resultierendes dargestellt und in diesem Zuge als unveränderlich konzipiert wird. Die dritte, nationale Eigenart denkt Klencke in einem zweifachen Sinne. Einerseits deutet er sie als genuine, physiognomische Erscheinungsformen an, wenn er schreibt: »Der Plattfuß, diese den Gang und die Haltung der Erwachsenen so sehr verunschönende Form des Fußes wird, wo sie nicht eine nationale Eigenthümlichkeit [sic!], wie bei den Juden ist, namentlich im germanischen Volksstamm größtentheils [sic!] erzeugt; […].«685

Die nationale Eigentümlichkeit sei entsprechend seines Verweises auf die Juden eine schon in der Wesenheit des Einzelnen enthaltene Prägung zu bestimmten Körperkonstitutionen, die generalisiert allen Nationsangehörigen eigen wären und damit in Unabhängigkeit zu externen Einflüssen bestünden. Diese wird demnach als eine Essenz gedacht. Andererseits deutet Klencke eine Beeinflussbarkeit der nationalen Eigenheit durch die lebensweltlichen Einflüsse an, wie es sich im Zitat beim germanischen Volksstamm und der diesbezüglichen Verbreitung des Plattfußes veranschaulicht. Neben den Lebensweisen, den Sitten und dem Klima686 wirke sich die Erziehung auf die Ausbildung der nationalen Eigenarten aus. Klencke schreibt ihr sogar eine erhöhte Verantwortlichkeit zu, 683 So sei ein Mann durch »Kraft, Würde, Festigkeit, Muth, Standhaftigkeit, Verstand und Urtheil [sic!] [gekennzeichnet, während] das Weib dagegen Anmuth [sic!], Fügsamkeit, Ergebung, Geduld [auszeichnet]; des Mannes Ehre ist Wissen, Willenskraft und Tapferkeit, des Weibes Schmuck ist Gefühl, Schamhaftigkeit und Keuschheit« (Ebd. S. 3.). Klencke konzipiert damit genuine Eigenschaften der Geschlechter. 684 So schreibt er in eindeutiger Aussage: »Um ihn m ä n n l i c h zu machen, das heißt seiner Kraft und Widerstandsfähigkeit, seiner Wehrhaftigkeit bewußt zu werden, um mit den Schwierigkeiten des Lebens kämpfen zu können, um Muth [sic!] und Ehre zu fühlen, werden seine Anlagen zur männlichen Stellung in der Welt durch den Lehrplan der Schule entwickelt, während des Mädchens Charakter und moralische Stärke die Wehrlosigkeit bleibt« (Ebd. S. 415. Hervorhebung im Original.). 685 Ebd. S. 247. 686 Auf den Einfluss des Klimas, der schon in den nationalen Lebensweisen berücksichtigt würde, verweist Klencke in einem Vergleich zwischen Schotten und Deutschen, wenn es heißt: »Einmal ist der Hochschotte ein anderer Menschenschlag als der Deutsche im flachen Binnenlande, ferner aber ist seine Lebensweise, seinem Klima entsprechend, eine andere« (Ebd. S. 289.).

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Quellenuntersuchung

wenn er die Bevorzugung fremder Sprachen gegenüber der Muttersprache als »für eine deutsche Mutter unwürdig und für die deutsche Nation erniedrigend« bezeichnet, welche die Ausbildung des »Geist[es] seines nationalen Blutes«687 störe. Klencke konzipiert diese dritte, nationale Eigenheitsform also in einer hybriden, zweifachen Weise. Zum einen resultiere diese aus einer Essenz, die genuine Eigentümlichkeiten und physiognomischen Erscheinungsformen bedinge. Zum anderen wird sie von lebensweltlichen Umwelteinflüssen geprägt, weshalb es sie während der Erziehung zu befördern gelte.688 Die ausgeprägte Wertschätzung, die Klencke dieser Eigenart und der Nationseinheit zuschreibt, wird gleichermaßen anhand der zitierten Aussagen offensichtlich. Daraus leitet sich eine reduzierte Wichtigkeit der Kategorie des Einzelnen ab. Es solle zwar die Individualität des Einzelnen ausgebildet und berücksichtigt sowie Selbstachtung und Selbstbestimmung vermittelt werden,689 was für eine grundsätzliche Anerkennung der Kategorie spricht. Das Ziel in der Erziehung bestünde für Klencke jedoch darin, »das als vollständiges Selbstwesen (Egoist) in die Welt [tretende] und nur sein Ich [fühlende]«690 Wesen von seiner Selbstsucht zu befreien,691 es zur Selbstüberwindung zu leiten692 und es in die Familie »als ein harmonisches, gleichartiges

687 Ausführlich heißt es: »Es ist zwar die leichteste Weise, in fremden Sprachen reden zu lernen, aber wir halten es für eine deutsche Mutter unwürdig, und für die deutsche Nation erniedrigend, wenn nicht die Muttersprache, als e r s t e s und hauptsächliches Object mütterlicher Erziehung, dahin wirkt, daß das deutsche Kind auch deutsch denken und deutsch sich ausdrücken lernt; (kein Franzose oder Engländer wird sein Kind früher Deutsch lernen lassen, ehe es nicht in seiner Muttersprache den Geist seines nationalen Blutes in sich zum Bewußtsein [sic!] und Ausdruck gebracht hat); […] Warum sollen deutsche Mütter aus dem Geschöpfe ihres Blutes Franzosen erziehen?« (Ebd. S. 386. Hervorhebung im Original). 688 So müsste laut Klencke »[d]ie Schule des K n a b e n […] als höchstes Ziel die intellectuelle [sic!] und nationale Bildung vor Augen« (Ebd. S. 415. Hervorhebung im Original.) haben. Zudem kritisiert er die unnationale Sucht der Deutschen und den daraus resultierenden Achtungsverlust von anderen Nationen. (Vgl. ebd. S. 387.) Dem Nationalen schreibt Klencke demgemäß eine hohe Wichtigkeit zu. 689 So schreibt er: »Ohne Selbstachtung ist keine Achtung des Menschen im Allgemeinen« (Ebd. S. 463.) und ergänzt kurz darauf, »[a]uch das körperlich schwache Kind soll einen kräftigen Willen der Selbstbestimmung erwerben, […] d a ß e s f ä h i g i s t , sich in seinen fehlerhaften Neigungen, Begierden und Leidenschaften b e h e r r s c h e n z u k ö n n e n « (Ebd. S. 468. Hervorhebungen im Original.). Selbstachtung und Selbstbestimmung werden somit als Grundlage betrachtet, um als ein soziales Wesen in einer Gemeinschaft funktionieren und sich kontrollieren zu können. 690 Ausführlicher heißt es: »Zärtlichkeit und Pflege der Mutter erwecken im Kinde, das als vollständiges Selbstwesen (Egoist) in die Welt tritt und nur sein Ich fühlt, sobald das Gefühl seines Daseins aufdämmert auch allmählig [sic!] Zärtlichkeit und Liebe« (Ebd. S. 481.). 691 Dass Selbstsucht eine Untugend wäre, von der es den Menschen zu befreien gelte, erwähnt Klencke mehrfach. (Vgl. ebd. S. 463, 593 u. 597.) Dazu stellt er Eigennutz, (Vgl. ebd. S. 450 u. 585.) Egoismus (Vgl. ebd. S. 492, 503 u. 596.) und Eigenwille als Untugend dar. (Vgl. ebd. S. 503.) 692 Vgl. ebd. S. 471.

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Glied in diese Gemeinschaft h i n e i n w a c h s e n «693 zu lassen, damit es »ein glückliches und nützliches Mitglied der menschlichen Culturgesellschaft [sic!] werden«694 kann. Das ultimative Erziehungsziel bilde demgemäß die Selbstaufgabe und das Aufgehen des einzelnen Menschen in (mehreren) Kollektivkategorien, weshalb die Kategorie des Einzelnen als eine nebensächliche Identitätskategorie bewertet wird. Dazu entwickelt Klencke in seinem Ratgeber ein komplexes, dreifaches Modell von Individualität. Zusammenfassend betrachtet sind die Ratgeberquellen der fünften Teilphase von einer ausgeprägten Vielfalt in den Begriffsvorkommen sowie Individualitätskonzepten gekennzeichnet. Neben der Abwesenheit von Eigenheitsvorstellungen in einigen Werken ist Individualität als ein nur temporär bestehendes Entwicklungsstadium sowie in einer ein-, zwei-, drei- sowie vierdimensionalen695 Weise als eine individuelle, geschlechterspezifische, ständische, nationale oder völkische Eigenart konzipiert worden. Hinsichtlich der Bewertung der Kategorie des Einzelnen stellt sich heraus, dass der Formation in nur wenigen Ratgebern Bedeutung zugeschrieben und sie mehrheitlich als eine wenig relevante Identitätskategorie entworfen worden ist. Kein Abbruch in der Varianz (1871–1900) In Franz Xaver Schmid-Schwarzenbergs 1873 publizierten Ratgeber Sonnenblumen – Briefe über vernünftige Erziehung für das deutsche Volk696 kristallisiert sich eine hohe Bedeutsamkeit der Kategorie des Einzelnen heraus, die sich bereits im 693 Ebd. S. 597. Hervorhebung im Original. 694 Ebd. S. 427. Dazu verweist er an weiteren Textstellen auf die Zielsetzung, in das Allgemeine aufzugehen und zu diesem einen Beitrag zu leisten. (Vgl. ebd. S. 305, 597 u. 616.) 695 Eine vierfache Denkweise von Individualität konnte bisher noch in keiner Quelle meiner Analyse verzeichnet werden. 696 Schmid-Schwarzenberg, Franz Xaver. Sonnenblumen. Briefe über vernünftige Erziehung für das deutsche Volk. Zweite Auflage. Forchheim 1873. Das Werk entspricht einem Ratgeber, weil sich der Verfasser in einem inszenierten Format eines Briefaustausches mit seinem Vetter zu Erziehungsfragen äußert und das Werk an das deutsche Volk adressiert, wie es im Untertitel angegeben wird. Der Autor bezeichnet sich mehrfach als ein Erzieher, (Vgl. ebd. S. 5 u. 53.) der zudem ein Mitglied und Initiator eines Erziehervereins wäre. (Vgl. ebd. S. 65 u. 186.) Diese Angaben bestätigen sich in zeitgenössischen Quellen, in denen zudem die Titelzuschreibung Prof. Dr. ersichtlich wird. (Vgl. Verein für Volkserziehung in Erlangen. Jahresbericht über das Vereinsjahr 1872–1873. Erstatten vom Ausschuß zur Jahresfeier der Eröffnung der Erziehungsanstalt für Knaben nach ihren Schulstunden. Erlangen 1873. S. 5.) Deshalb gilt es Schmid-Schwarzenberg dem pädagogischen Feld sowie der akademischen Sphäre zuzuordnen. Angemerkt sei noch, dass die mir zugrunde liegende Quelle die zweite Auflage des Werkes darstellt, die anscheinend im selben Jahr wie die Erste erschienen ist, weil laut zeitgenössischer Anzeige die erste Auflage schnell vergriffen gewesen sei. (Vgl. Bamberger Neueste Nachrichten. XIII. Jahrgang. No. 226. Mittwoch, 20. August 1873. Bamberg 1873. S. 4. Auf: Bayerische Staatsbibliothek. Überwindung< der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts. Heidelberg 2011.

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