Friedrich Thiersch: Ein Humanistenleben im Rahmen der Geistesgeschichte seiner Zeit Die Zeit des Reifens [Reprint 2019 ed.] 9783486750164, 9783486750157


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German Pages 536 [540] Year 1926

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis Der Vorkommenden Abkürzungen Für Archivalien
Verzeichnis Der Abgekürzt Zitierten Schriften
Einleitung. Die Geistigen Strömungen Des Ausgehenden 18. Und Des Beginnenden 19. Jahrhunderts
I. Buch. Die Zeit Des Reifens
I. Abschnitt. Lehr- Und Wanderjahre
II. Abschnitt. Die Münchner Kampfjahre 1809-1825
I . Kapitel. München Um Die Jahrhundertwende. Die Aufklärung In Bayern. Der Wismaiersche Lehrplan
II. Kapitel. Die Reform der Akademie, das Vordringen des Neuhumanismus und der spekulativen Philosophie. Die Germanistik. Das Niethammersche Normativ. Thierschs erste Wirksamkeit in München
III. Kapitel. Zwei Hauptvertreter des bayrischen Stammes, Westenrieder und Franz v. Baader
IV. Kapitel. Schlichtegroll. Die Technik. Die Naturwissenschaften unter dem Einfluß der Naturphilosophie
V. Kapitel. Das Ringen der Ideen der historischen Rechtsschule mit dem Rationalismus
VI. Kapitel. Die Aretinschen Händel. Der Kampf gegen die Berufenen
VII. Kapitel. Thierschs Tätigkeit im Dienste des Neuhumanismus. Seine philologischen Arbeiten. Die Entwicklung des Schulkampfes bis 1825
VIII. Kapitel. Friedrich Thierschs Reisen nach Paris, London, Dresden und Wien; seine archäologischen Arbeiten
IX. Kapitel. Die italienische Reise
X. Kapitel. Thierschs Philhellenismus. Seine politischen Anschauungen
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Friedrich Thiersch: Ein Humanistenleben im Rahmen der Geistesgeschichte seiner Zeit Die Zeit des Reifens [Reprint 2019 ed.]
 9783486750164, 9783486750157

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FRIEDRICH THIERSCH EIN HUMANISTENLEBEN IM RAHMEN DER GEISTES GESCHICHTE SEINERZEIT DR. HANS LO E V E S t u d i c n p r o f e s s o r u . a. o . P r o f e s s o r a n d e r T e c l i n i s < j i e n H o d i s d m l e München

DIE ZEIT DES REIFENS

MÜNCHEN UND BERLIN DRUCK UND VERLAG VON R.OLDENBOURG

Alle Rechte, auch das der Übersetzung vorbehalten. Copyright 1925 by R. Oldenbourg, Manchen und Berlin.

VORWORT. Wer immer sich mit der Geistes- und Bildungsgeschichte des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts näher beschäftigt, weiß, daß es oft unmöglich ist die Entdeckung leitender Gedanken bestimmten führenden Persönlichkeiten zuzuschreiben. Denn viele von diesen waren gleichsam Allgemeingut der geistigen Oberschicht. Eine neue Biographie von Thiersch, wie sie dieses vorliegende Buch bieten will, hat daher nicht die Aufgabe in dem Lebenswerk des Humanisten im einzelnen nachzuweisen, wem er diese oder jene Idee verdankt; vielmehr muß das Kernproblem seines ganzen Lebens im Mittelpunkt der Darstellung stehen, der Kampf der Aufklärung mit der Weltanschauung des deutschen Idealismus und des Goethischen Zeitalters. Es muß gezeigt werden, wie sich diese starke Persönlichkeit gerade im Ringen der beiden geistigen Strömungen entwickelte und festigte, und wie sie das Gedankengut ihrer Zeit in die Praxis umzusetzen verstand. Fällt doch die Jugend und das reifende Mannesalter in die entscheidenden Jahrzehnte jenes Kampfes. Dabei kommt es noch vor allem darauf an, das Lebenswerk nicht isoliert darzustellen, sondern es zu verstehen eben als Teil eines großen Kulturprozesses, der ganz Deutschland umspannte. Da aber gerade auch zum Verständnis geistiger Strömungen der Vergleich von größter Bedeutung ist, so müssen dem Neuhumanisten Thiersch die bedeutendsten Vertreter namentlich der bayerischen Aufklärung in ihrer individuell so verschiedenartigen Ideenwelt und Leistung gegenübergestellt werden; ferner ist zu verfolgen, welche Einwirkungen das Vordringen der Romantik und der Naturphilosophie auf die Geistes- und Naturwissenschaften ausübte. Das Bild wäre unvollständig, wenn nicht auch die Widerstände, die sich im bayerischen Partikularismus und Katholizismus erhoben, Berücksichtigung fänden. So erweitert sich die Thierschbiographie zu einer Geistesgeschichte Münchens und mehrfach darüber hinausgreifend zu einer Geistesgeschichte Deutschlands. Der vorliegende Band, der die Zeit des Reifens behandelt, bildet ein in sich abgeschlossenes Ganze, indem er Thierschs Entwicklung unter dem Einfluß der großen geistigen Strömungen seiner Zeit bis zu dem Augenblick verfolgt, da dieser an die Hochschule berufen wird. In einem später erscheinenden Band soll die Zeit der Reife, Thierschs akademische Wirksamkeit, zur Darstellung kommen, die mit der Verlegung der Universität nach München beginnt und mit deren raschem Aufblühen eng verbunden ist. München, im Juli 1925.

H. LOEWE.

INHALTSVERZEICHNIS. Seite

Einleitung: Die geistigen Strömungen des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts

1—15

I. B U C H . Die

Zeit

des

Reifens.

I. ABSCHNITT. Lehr- und W a n d e r j a h r e . I. Kapitel: Kindheit und Schulpforta 1784—1804

19—30

II. Kapitel: Die Universitätsjahre 1804—1809

30—51

II. ABSCHNITT. Die Münchener K a m p f j a h r e I. Kapitel: München um die Jahrhundertwende. Bayern. Der Wismaier'sche Lehrplan

1809—1825. Die Aufklärung in

I I . Kapitel: Die Reform der Akademie. Das Vordringen des Neuhumanismus und der spekulativen Philosophie. Die Germanistik. Das Niethammersche Normativ. Thierschs erste Wirksamkeit in München I I I . Kapitel: Zwei Hauptvertreter des bayerischen Stammes, v. Westenrieder und Franz v. Baader

in—179

Lorenz

I V . Kapitel: Schlichtegroll. Die Technik. Die Naturwissenschaften unter dem Einfluß der Naturphilosophie. Schelling und die Akademie der bildenden Künste V. Kapitel: Das Ringen der Ideen der Historischen Rechtsschule mit dem Rationalismus V I . Kapitel: Die Aretinschen Händel. Der Kampf gegen die Berufenen V I I . Kapitel: Thierschs Tätigkeit im Dienste des Neuhumanismus. Seine philologischen Arbeiten. Die Entwicklung des Schulkampfes bis 1825 V I I I . Kapitel: Thierschs Reisen nach Paris, London, Dresden und Wien; seine archäologischen Arbeiten I X . Kapitel: Die italienische Reise, Wanderungen X . Kapitel: Thierschs Philhellenismus. — Rückblick

51—m

Seine politischen Anschauungen

179—202

202—255 255—294 294—324

324—370 370—427 427—494 494—524

VERZEICHNIS der vorkommenden Abkürzungen für Archivalien. MA = Akten des Kreisarchivs München. K M = Akten des Ministeriums für Unterricht und Kultus. A.d.W. = Akten der Münchner Akademie der Wissenschaften. Thierschiana = Thierschs handschriftlicher Nachlaß in der Staatsbibliothek. Aretiniana = Aretins handschriftlicher Nachlaß in der Staatsbibliothek.

VERZEICHNIS der abgekürzt zitierten Schriften. A D B = Allgemeine deutsche Biographie. R E = Realien-Enzyklopädie für protest. Theologie u. Kirche, herausg. von A. Hauck. Adam, Leben = Adam A., Aus dem Leben eines Schlachtenmalers, herausg. von H. Holland, Stuttgart 1886. Aichinger, Sailer = Aichinger, G., Johann Michael Sailer, Bischof von Regensburg, ein biogr. Versuch, Freiburg 1865. Barth, Erziehung = Barth, P., Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und geistesgeschichtlicher Beleuchtung, 2. Aufl., Leipzig 1916. Bergmann, Platner = Bergmann, E . , Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrh., Leipzig 1 9 1 3 . Biese, Literaturgeschichte = Biese, A., Deutsche Literaturgeschichte, 4. Aufl., München 1 9 1 2 . Böckh, Kl. Schriften Bd. 7 = Böckh, A., Rezension in der Jen. A. Literaturztg., J a n . 1809, abgedr: 1872. Brie, Volksgeist = Brie, S., Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, Berlin 1909. Carolinens Leben in ihren Briefen = Carolinens Leben in ihren Briefen, eingel. von Richarda Huch in: Memoiren und Chroniken, 1. Bd., Leipzig 1 9 1 4 . Doeberl, Bayern = Doeberl, M., Entwicklungsgeschichte Bayerns. B d . 2. Vom westfäl. Frieden bis zum Tod König Maximilians I., München 1 9 1 2 . Doeberl, Verfassungsleben = Doeberl, M., Ein Jahrhundert bayerischen Verfassungslebens, München 1918. Döderlein, Niethammer = Döderlein, J . , Unsere Väter Kirchenrat Chr. Döderlein, Oberkonsistorialrat J . v. Niethammer, Hofrat L . v. Döderlein, Erlangen 1891. Eichler, Martius = Eichler, A. W., K . Fr. Philipp v. Martius, Nekrolog in Flora 1869, Nr. 1 u. 2. Elsperger, Niethammer = Elsperger, F., Niethammer in K . A. Schmids Enzyklopädie des ges. Erziehungs- u. Unterrichtswesens. 5. (2. Aufl., Leipzig 1883, S. 247 bis 251).

VIII Enneccerus, Savigny = Enneccerus, L., Friedr. K. v. Savigny und die Richtungen der neueren Rechtswissenschaft, Marburg 1879. Feuerbach, Feuerbach = Feuerbach, H., Anselm Feuerbach Leben, Briefe und Gedichte, Braunschweig 1853, Bd. I. Feuerbach, Nachlaß 2 = Feuerbach, L., Anselm v. Feuerbachs biographischer Nachlaß, 2 Bd., Leipzig 1853. Feuerbach, Leben und Wirken = Anselm Ritter v. Feuerbachs . . . . Leben u. Wirken aus seinen ungedruckten Briefen u. Tagebüchern, Vorträgen u. Denkschriften dargestellt von seinem Sohn, Leipzig 1852, 2 Bd. Fischer, Baader = Fischer, C. Ph., Zur 100jährigen Geburtstagsfeier Franz v. Baaders, Erlangen 1865. Fleischmann, Feuerbach = Fleischmann, M., Anselm v. Feuerbach, der Jurist als Philosoph, Erlanger Dissertation 1906. Föringer, Schmeller = Föringer, H. K., Lebensskizze Schmellers, München 1855, Geyer, Feuerbach = Gey er, A., Paul Anselm v. Feuerbach in: Deutsche Rundschau. 1877. Goebel, Martius = Goebel, C., Zur Erinnerung an K . Fr. Phil. v. Martius, Gedächtnisrede 9. Juni 1905, München, Akademie der Wissenschaften. Hamberger, Baader = Hamberger, J., Die Kardinalpunkte der Franz Baaderschen Philosophie, Stuttgart 1855. Heigel, Westenrieder = Heigel, K. Th., Lorenz v. Westenrieder in: ADB. Bd. 42 (1897), S. 173 ff. Heigel, Akademie = Heigel, K. Th., Die Münchner Akademie 1759—1909 in: Deutsche Reden 1916, S. 56—99. Heigel, Universität = Heigel, K. Th., Die Verlegung der Ludwigs-MaximiliansUniversität nach München im Jahre 1826 in: Neue geschichtliche Essays, München 1902, S. 21 ff. Hensel, Rousseau = Hensel, P., Rousseau in: Natur und Geisteswelt, Bdch. 180, 1907. Herrmann, Ast = Herrmann, J., Friedrich Ast als Neuhumanist. Ein Beitrag zur Geschichte des Neuhumanismus in Bayern. Münchner Dissertation 1912. Hettner, Sächsische Schweiz = Hettner, A.-, Gebirgsbau und Oberflächengestaltung der sächsischen Schweiz 1887. Hettner, Felsbildungen = Hettner, A., Die Felsbildungen in der Sächsischen Schweiz in: Geogr. Zeitschrift 1903. Heubaum, Bildungswesen = Heubaum, A., Geschichte des deutschen Bildungswesens seit der Mitte des 17. Jahrh., Bd. I, Berlin 1905. Heubaum, Pestalozzi = Heubaum, A., Johann Heinrich Pestalozzi in: Die großen Erzieher, ihre Persönlichkeit und ihre Systeme, herausg. von Rudolf Lehmann, Bd. III, Berlin 1910. Hirsch, Medizin = Hirsch, Aug., Geschichte der medizinischen Wissenschaften in Deutschland, München 1893. Hoelder, Savigny und Feuerbach = Hoelder, E., Savigny und Feuerbach, die Koryphäen der deutschen Rechtswissenschaft, Berlin 1881. Hoffmann, Baader = Hoffmann, Fr., Franz v. Baader in ADB. Bd. I (1875), S. 7 i 3 f f . Hoffmann, Böckh = Hoff mann, M., August Böckh, Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem schriftlichen Briefwechsel, Leipzig 1901. Huber, München = Huber, A., München im Jahre 1819, I. Teil, München 1820. Hübner, München = Hübner, L., Beschreibung der kurbayerischen Haupt- und Residenzstadt München 1803, Abt. I, Bd. 1 u. 2, Abt. II, Bd. 1 u. 2. Jacob, Lange = Jacob, K. G., Dr. Adolf Gottlob Langes Vermischte Schriften und Reden, Leipzig 1832.

IX Jacobi, Briefwechsel = Jacobi, Fr. H., Auserlesener Briefwechsel, 2 Bd., Leipzig 1827. Jacobi, Fr. H., SW = Fr. H. Jacobis Werke, Leipzig 1812-—1825. Jacobi, Studien = Jacobi, F., Studien zu den älteren griechischen Elegikern in: Hermes Bd. 53, 1918, S. 1 ff. Jacobi, Nachrufe = Friedr. H. Jacobi, nach seinem Leben, Lehren und Wirken bei der akademischen Feier seines Andenkens am 1. Mai 1819 dargestellt von Schlichtegroll, Weiller und Thiersch, München 1819. Joachimsen, Wilhelmsgymnasium = Joachimsen, P., Aus der Vergangenheit des Münchener Wilhelmsgymnasiums, Programm 1908/09. Kämmel, Jacobs = Kämmel, H., Jacobs in K. A. Schmids Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, 3. (2. Aufl.), Gotha 1880, S. 779 bis 785. Kern, Wolf = Kern, O., Friedrich August Wolf zum Gedächtnis seines 100. Todestages am 1. Nov. 1924, Hallische Universitätsreden 1925. Kerschensteiner, Krankenanstalten = Kerschensteiner, H., Geschichte der Münchener Krankenanstalten, insbes. des Krankenhauses links der Isar, München 1913Kirchner, Pforta = Kirchner, C., Die Landschule Pforta in ihrer geschichtlichen Entwicklung seit dem Anfang des 19. Jahrh. bis auf die Gegenwart, Naumburg 1843. Kirchner, Säkularbericht = Kirchner, C., Säkularbericht über die Feier der 3c>ojähr. Stiftung der kgl. Landesschule Pforta, Naumburg 1853. Kluckhohn, Westenrieder = Kluckhohn, A., Lorenz v. Westenrieder, Leben und Schriften in: Bayer. Bibliothek Bd. 12, Bamberg 1890. Kosch, Sailer = Kosch, W., Johann Michael Sailer, eine Sammlung von Zeit- und Lebensbildern, 6. Heft, M.-Gladbach 1913. Kreuzer, Bamberg = Kreuzer, O., Das geistige und gesellschaftliche Leben Bambergs zu Beginn des 19. Jahrh., Vortrag in der 16. Mitgliederversammlung der Gesellschaft für fränkische Geschichte 1920. Kügelgen, Kügelgen = Kügelgen, C. v., Gerhard v. Kügelgen als Porträt- und Historienmaler, Leipzig 1901. Landsberg, Rechtswissenschaft = Landsberg, E., Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, München 1910. Lefmann, Bopp = Lefmann, S., Franz Bopp, sein Leben und seine Wissenschaft, Berlin 1891. Loening, Rechtshistorische Schule = Loening, E., Die philosophischen Ausgangspunkte der rechtshistorischen Schule in: Internationale Wochenschrift Nr. 3 u. 4, 4. Jahrg., 1910. Loewe, Griechische Frage = Loewe, H., Friedrich Tiersch und die griechische Frage, Programm des Kgl. Maximiliansgymnasiums, München 1912/13. Loewe, Schulkampf = Loewe, H., Die Entwicklung des Schulkampfs in Bayern bis zum vollständigen Sieg des Neuhumanismus in: Beiheft I I der Mon. Germ. Paedagog., Berlin 1917. Loewe, Lebenswerk = Loewe, H., Friedrich Thierschs Lebenswerk, ein Beitrag zur Geschichte des Idealismus, in: Neue Jahrb., Jahrg. 1917, II. Abt., X L . Bd., Heft 8/9, S. 366ff. Loewe, Weltanschauung und Erziehungsgedanken = Loewe, H., Weltanschauung und Erziehungsgedanken, ein Beitrag zur Geschichte des Neuhumanismus in Bayern, in: Zeitschrift f. Gesch, d. Erzieh, u. d. Unterrichts, X I / X I I I , 1921/23, S. 73 ff.

X Loewe, Lehrplan 1829 = Loewe, H., Der Lehrplan von 1829, die Geschichte seiner Entstehung, in: Bayerische Blätter für das Gymnasialschulwesen Bd. 60, 1924. Ludwig, Zirkel = Ludwig, A. Fr., Weihbischof Zirkel von Würzburg in seiner Stellung zur theologischen Aufklärung und zur kirchlichen Restauration, Paderborn 1904/06. Martius, Moll = Martius, C. Fr. Phil., Karl Ehrb. v. Moll in: Akademische Denkreden, Leipzig 1866. Martius, Schrank = Martius, C. Fr. Phil.. Frz. Paula v. Schrank in: Akad. Denkreden, Leipzig 1866. Meißner, Denkschrift = Meißner, C. Fr., Denkschrift auf Carl Fr. Phil. v. Martius, München 1869. Merkle, Sailer = Merkle, S., Johann Michael Sailer, in: Religiöse Erzieher der katholischen Kirche, Leipzig 1920. Minor, Schlegel = Minor, J., Friedrich Schlegel 1794—1802, seine prosaischen Jugendschriften, Wien 1882. Moll, Mitteilungen = Moll, K. E. v., Mitteilungen aus seinem Briefwechsel 1834. Müller, Überblick = Müller, Friedr., Spekulation und Mystik in der Heilkunde, ein Überblick über die leitenden Ideen der Medizin im letzten Jahrh., 1914 (Münchener Rektoratsrede). Müller, Sailer = Müller, J. v., Jean Paul und Michael Sailer als Erzieher der deutschen Nation (eine Jahrhunderterinnerung), München 1908. Natorp, Pestalozzi = Natorp, P., Pestalozzi, sein Leben und seine Ideen, in: Naturund Geisteswelt 1919, Nr. 250. Noack, Deutsches Leben = Noack, Fr., Deutsches Leben in Rom 1700—1900, Berlin 1907. Oldenbourg, Malerei = Oldenbourg, R., Die Münchener Malerei im 19. Jahrh., I. Teil, Die Epoche Max Josephs I. und Ludwigs I., München 1922. Paulsen, Gelehrter Unterricht = Paulsen, Fr., Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten, 2. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1897. Prantl, Niethammer = Prantl, C., Niethammer, in: A D B . 23 (1886), S. 689—691. Püttrich, Schulpforta = Püttrich, L., Schulpforta, seine Kirche und seine sonstigen Altertümer, in: Denkmäler der Baukunst des M. A. in Sachsen, II. Abt., Bd. I, Leipzig 1838. Radlmaier, Sailer = Radlmaier, L., Joh. Michael Sailer als Pädagog, eine erziehungsgeschichtliche Studie, Münchener Dissertation, Berlin 1909. Reusch, Sailer = Reusch, I., Joh. Michael Sailer in: A D B . Bd. 30 (1889), S. 178—192. Riehl, Akademie = Riehl, B., Die Gründung der Akademie der bildenden Künste in: Beilage zur Allg. Ztg. 1896, Nr. 61/62. Ringseis, Erinnerungen = Ringseis, E., Erinnerungen des Dr. Joh. Nep. v. Ringseis, Regensburg 1886. Sakmann, Rousseau = Sakmann, P., Jean-Jacques Rousseau in: Die großen Erzieher, ihre Persönlichkeit und ihre Systeme, herausg. von Rudolf Lehmann, Bd. V. Sailer, S. W. = Joh. Mich. Sailers sämtliche Werke, unter Anleitung des Verfassers herausg. von Joh. Widmer, Bd. 1—41, Sulzbach i830ff. Salis, Griechen = Salis, A. v.. Die Kunst der Griechen, 2. Aufl., Leipzig 1922. Schmid, Katholische Kirche = Schmid, H., Geschichte der katholischen Kirche Deutschlands von der Mitte des 18. Jahrh. bis zur Gegenwart, München 1874. Schmid, Jacobi = Schmid, A. Fr., Friedrich Heinrich Jacobi, eine Darstellung seiner Persönlichkeit und seiner Philosophie, Heidelberg 1908. Schütz, Leben = Schütz, Chr. G., Darstellung seines Lebens, Charakters und Verdienste, herausg. von Fr, K . J. Schütz, Halle 1834.

XI Sengler, Feuerbach = Sengler, J., Gedächtnisrede auf A. Feuerbach, 15. Dez. 1853, Freiburg 1853. Spranger, Humboldt = Spranger, E., Wilhelm v. Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910, in: Die großen Erzieher, ihre Persönlichkeit und ihre Systeme, herausg. von R. Lehmann, Bd. IV. Spranger, Humanitätsidee = Spranger, E., Wilhelm v. Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909. Spranger, Neuhumanismus = Spranger, E., Der Anteil des Neuhumanismus an der Entstehung des deutschen Nationalbewußtseins (Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, 18. Jan. 1923), 1923. Stern, Europa = Stern, A., Geschichte Europas seit den Verträgen von 1815 bis zum Frankfurter Frieden 1871, Berlin 1894 ff. Stieler, Akademie = Stieler, E., Die Kgl. Akademie der bildenden Künste zu München 1808—1858, München 1909. Stölzle, Sailer = Stölzle, R., Joh. Michael Sailer, seine Maßregelung an der Akademie in Dillingen und seine Berufung nach Ingolstadt, Kempten 1910. Stölzle, Sailers Entwicklung = Stölzle, R., Joh. Michael Sailers religiöse Entwicklung in Theologie und Glauben, in: Aar, 2. Jahrg., 1912. Stölzle, Sailer in seinen Briefen in: Aar, 6. Jahrg., 1914. Stölzle, Erziehungsprogramm = Stölzle, R., Ein Erziehungsprogramm in 8 Paragr. von Joh. Michael Sailer in: Die christl. Schule, Jahrg. III, 7. Heft, 1912. Stölzle, Maßregelung = Stölzle, R., Joh. Mich. Sailer, seine Maßregelung an der Akademie Dillingen, 1910. Stölzle, Biographie = Stölzle, R., Zur Biographie J . M. Sailers in: Die christl. Schule, 3. Jahrg., 1912. Störmer, Westenrieder = Störmer, Fr., Die pädagogischen Anschauungen L. v. Westenrieders, Würzburger Dissertation 1912. Stoll, Savigny = Stoll, A., Friedrich K. v. Savignys Studienreise 1799—1800, Programm des Friedrich-Gymnasiums zu Kassel, 1890." Thalhofer, Niethammer = Thalhofer, F. X., Niethammer in: Roloff, Lexikon der Pädagogik, Bd. 3 (1914), S. 906—909. Thiersch, Betrachtungen = Thiersch, Fr., Betrachtungen über die angenommenen Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland, ein Beitrag zur Kenntnis der neuesten Äußerungen des Zeitgeistes, München 1809. Thiersch, Gelehrte Schulen = Thiersch, Fr., Über gelehrte Schulen mit besonderer Rücksicht auf Bayern, 3 Abt., Suttgart 1826—1829. Thiersch, Zentner = Thiersch, Fr., Gedächtnisrede auf Georg Fr. v. Zentner am 28. März 1837, Akademie der Wissenschaften. Thiersch, Roth = Thiersch, Fr., Gedächtnisrede auf Friedrich Roth am 27. März 1852, Akademie der Wissenschaften. Thiersch, Schmeller = Thiersch, Fr., Rede zur Vorfeier des Geburtsfestes Maximilians II. am 27. Nov. 1852 nebst einer Darstellung über Leben und Wirken Andreas Schmellers, Akademie der Wissenschaften. Thiersch, Reichenbach und Fraunhofer = Thiersch, Fr., Über die wissenschaftliche Seite der praktischen Tätigkeit nebst biogr. Nachrichten über die Akademiker v. Reichenbach, Fraunhofer und Roth, Rede am 27. März 1852, Akademie der Wissenschaften. Thiersch, Epochen = Thiersch, Fr., Über die Epochen der bildenden Kunst unter den Griechen, 2. Aufl., München 1829.

XII Thiersch, Reisen in Italien = Thiersch, Fr., Schorn, L., Gerhardt, E. und Klenze, L., Reisen in Italien, 1826, 1. Teil. Thiersch, Tagebuch = Thierschs Reisebriefe in: Thierschiana 62, 63. Thiersch, Westenrieder = Thiersch, Fr., Über L . v. Westenrieder im Verhältnis zu seiner Zeit, Rede am 1. Aug. 1854, Akademie der Wissenschaften. Thiersch, Biographie = Thiersch, H., Friedrich Thierschs Leben, 2 Bände, Leipzig Heidelberg 1866. Vägacs, Weiller = Vägacs, A., Kajetan Weillers Pädagogik, Münchener Dissertation 1917. Vägacs, Lehrpläne = Vägacs, A., Zur Entstehung der bayerischen Lehrpläne von 1804 und 1808 in: Z. f. Gesch. d. Erz. u. d. Unterr., V. Jahrg., Heft 4, 1915. Vogel, Frühromantik = Vogel, P., Das Bildungsideal der deutschen Frühromantik in: Z. f. Gesch. d. Erz. u. d. Unterrichts 1914. Wagner, Sömmering = Wagner, R., Sam. Thomas v. Sömmering, Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen, Leipzig 1844. Walther, Döllinger = Waither, Ph. Fr., Rede auf Ignaz v. Döllinger, geh. in der Akademie der Wissenschaften, 25. Aug. 1841. Weiller, Mutschelle = Weiller, K., Gedenkrede zum Andenken an unseren unvergeßlichen Mutschelle, 1 1 . Dez. 1800. Weiller, Unglauben = Weiller, K., Über den Unglauben, welcher in den Schulen gelehrt wird. Rede an die Lyzeisten 1802. Westenrieder, München = Westenrieder, L., Beschreibung der Haupt- und Residenzstadt München, 1783 ff. Wilamowitz, Textgeschichte = Wilamowitz, U. v., Textgeschichte der griechischen Lyriker, 1900, in: Abhdlg. d. Göttinger Gesellschaft d. Wissenschaft, phil.hist. Kl., N. F., Bd. IV, Nr. 3. Wörmann = Wörmann, R., Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker, 2. Bd., Leipzig-Wien 1905. Wüstmann, Hellas = Wüstmann, C. F., Hellas, Vorträge über Heimat, Geschichte Literatur und Kunst der Hellenen von Fr. Jacobs, Berlin 1852. Ziegler, Pädagogik = Ziegler, Th., Geschichte der Pädagogik mit bes. Rücksicht auf das höhere Unterrichtswesen, 4. Aufl., 1917. Zoeppritz, Briefwechsel = Zoeppritz, R., Aus Fr. H. Jacobis Nachlaß, 2 Bd., Leipzig 1869. Zwerger, Lehranstalten = Zwerger, F., Geschichte der realistischen Lehranstalten in Bayern = Mon. Germ. Paedagog., Bd. 53, Berlin 1914. Zwerger, Morawitzky = Zwerger, F., Graf Morawitzky, ein Förderer des bayerischen Schulwesens in: Bayer. Zeitschr. f. Realschulwesen, Bd. 18, 1910.

EINLEITUNG. Die geistigen Strömungen des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts. Friedrich Thierschs Kindheit und Jugend fällt in die zweite Hälfte des 18. und in den Beginn des 19. Jahrhunderts, in eine Epoche, die zu den folgereichsten der Geistesgeschichte der Menschheit gehört; denn zwei Weltanschauungen beginnen miteinander zu ringen: das Zeitalter der Aufklärung wird allmählich durch das Zeitalter Goethes abgelöst. In wundersamer Weise wirkten die verschiedenartigsten geistigen Strömungen, der Sturm und Drang, die Gefühlsphilosophie Rousseaus, der Pandynamismus Herders, der Kritizismus Kants, der Neuhumanismus, die spekulative Philosophie Fichtes und Schellings, die Romantik, die Reform Pestalozzis und die naturwissenschaftlichen Bestrebungen der Zeit, sich gegenseitig auf mannigfachste Weise beeinflussend, zusammen, bis in Goethes überragender Erscheinung und in seinen Werken das neue moderne Lebensideal Gestalt gewann. Bis zur Jahrhundertwende war die geistige Entwicklung bereits so weit fortgeschritten, daß diejenige Generation der Jugend, zu der auch Thiersch gehörte, sich dem überwältigenden Einfluß des neuen Zeitgeistes nicht mehr verschließen konnte, als sie aufnahmefähig und hochstrebend die Universitäten bezog; die Aufklärung mußte dem siegreich vordringenden Zeitalter künstlerisch-philosophischer und geschichtlicher Bildung weichen. Die Aufklärung, deren Ursprung bis zu den großartigen naturwissenschaftlichen Entdeckungen Keplers und den grundlegenden Forschungen der Philosophie eines Francis Bacon und Descartes zurückgeht, hatte ein neues Lebensgefühl geweckt, eine neue Weltanschauung geschaffen und zur Aufstellung eines eigenen Bildungsideales geführt. Bei dem Überwiegen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung und der starken Hinwendung zur kreatürlichen Welt trat die neue Philosophie mit dem Anspruch hervor, allein Hüterin und Pflegerin der Wahrheit zu sein. „Die Zeit traute sich zu" — so charakterisiert Windelband den L o e w e , Friedr. Thiersch.

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Grundzag des siècle éclairé — „aus der Vernunfterkenntnis heraus alle Lebensverhältnisse zu gestalten. An die Stelle des natürlich oder geschichtlich Gewordenen setzte es das von der Vernunft Erkannte und verlangte an Stelle des Zeitlichen das Ewige zu setzen." Kants Definition, „die Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" bezeichnet die negative Tendenz der neuen Weltanschauung, während die positive auf eine Neubegründung der konstruktiven Wissenschaften zielte. So entstand die Lehre von der natürlichen Religion unter Ablehnung jeder Tradition und Offenbarung; das Naturrecht erscheint „als eine ewige Ordnung für alle Menschen, die Gesetzgeber sowohl als die anderen" ; auf Grund desselben werden die Theorien des Absolutismus und der Volkssouveränität entwickelt und die „natürliche Freiheit" in der Wirtschaft von Adam Smith verkündigt, während Quesnay die Physiokratie dem Merkantilismus entgegensetzte. Die „natürliche Ethik" nahm an, daß das Sittengesetz von Natur im Menschen ist; die „naturgemäße Pädagogik" stellte die Anwendung der in den vier genannten Wissenschaften enthaltenen Prinzipien auf die Erziehung dar. 1 ) Das Königtum Friedrichs IL verhalf den Ideen der Aufklärung zum Sieg über den Pietismus; seine Akademie wurde der Mittel- und Sammelpunkt aller aufgeklärten Geister, sein Minister Zedlitz reformierte das Schulwesen im Sinne des Rationalismus, wobei entsprechend dem mechanischen Kulturgefüge der Aufklärung dasselbe ständisch gebunden blieb; die Universitäten sollten dem utilitaristischen Zug der Zeit gemäß in Berufsschulen aufgelöst werden, der Staat das gesamte Schulwesen übernehmen. Unter Massow wurden zahlreiche gelehrte Schulen in Bürgerschulen umgewandelt. Während in Voltaire, dem Gast und Freund des Philosophen von Sanssouci, die Aufklärung ihren Höhepunkt erreichte, in ihm der Zeitgeist gleichsam in Menschengestalt erschien2), war bereits der Mann aufgetreten, der, obgleich selbst der energischste Verkünder der Idee des Naturrechtes, der natürlichen Religion und der naturgemäßen Pädagogik, seinem Zeitalter den Krieg erklärte und der Prophet eines kommenden neuen Bildungsideales wurde, Rousseau, der Herold des „Evangeliums der Lebenstotalität." 3 ) 1762 veröffentlichte er den „Emile", der in Frankreich und Deutschland ungeheures Aufsehen erregte. Ausgehend von ienem Gedanken, der ihm bei der Diskussion über den zweiten Diskours wie eine Offenbarung gekommen war, „der Mensch ist von Natur gut", erfüllt von den Ergebnissen B a r t h , Erziehung. S. 337ff. ) H e n s e l , Rousseau. S. 1. 3 ) S p r a n g e r , Humboldt. S. 2. 2

semer Untersuchungen, zu denen ihn die beiden Preisaufgaben der Akademie von Dijon angeregt hatten, „die Kultur hat den Menschen verdorben", verkündete Rousseau sein Evangelium: „Zurück zur Natur" und pries als bestes Mittel die Erziehung. Ihr Ziel sollte aber nicht, wie es bei Montaigne und John Locke der Fall war und den Anschauungen der Zeit entsprach, durch die Rücksicht auf Stand, Beruf oder Volk bestimmt sein; das Persönlichkeitsideal Rousseaus ist vielmehr, ein Mensch zu sein. „Wenn der Zögling aus meinen Händen hervorgeht", — so lesen wir im Emile 1 ) — „wird er weder Beamter, noch Soldat, noch Priester sein; er wird in erster Linie Mensch sein. In der natürlichen Ordnung, wo die Menschen alle gleich sind, ist ihr gemeinsamer Beruf der rein menschliche, und wer nur immer für diesen gut erzogen ist, muß jeden anderen, der damit in Verbindung steht, recht ausfüllen können". „Der natürliche Mensch ist alles für sich selbst, eine abgeschlossene Einheit, ein absolutes Ganzes, das nur Beziehungen hat zu sich und seinesgleichen" 2 ). Rousseau stellte also ein vollwertiges Persönlichkeitsideal auf: es ist der gute, freie, klare Mensch. Er gab in seiner Erziehungslehre geniale Leitmotive 3 ): dem Trieb freie Bahn, die Naturmacht walten lassen und nachahmen, den Entwicklungscharakter des Menschenlebens achten, den Stufengang einhalten, das Ziel in allen Stadien sichtbar machen. Er erkannte endlich eines der wichtigsten Probleme: wie kann die stets wachsende Fülle des überlieferten Wissens so dargeboten werden, daß die dadurch gewonnene Erkenntnis eine neue Quelle der Kraft wird? Seine Antwort lautete: Anschauung, Selbsttätigkeit, Praxis, Zusammenhang. Ein genialer Mann, der sich zur Klarheit noch nicht durchgekämpft hatte, hatte ausgesprochen, was Ungezählte ahnend empfanden, was in der Zeit tief begründet lag, die Sehnsucht nach Ganzheit, Gesundheit und Selbstheit. „Was Kant als Lehre vom Selbstzweck des Menschen aussprach, Rousseau hat es zwar nicht entdeckt, aber als zündende Idee in die europäische Welt hineingeworfen"4). Ein Beweis für die überragende Bedeutung des Emile ist die Tatsache, daß dieses Werk der Ausgangspunkt einer gewaltigen Erziehungsbewegung namentlich in Deutschland wurde. Wen immer pädagogische Fragen beschäftigten, mußte zu ihm Stellung nehmen. Freilich „spiegelt sich dashohe Lebensgefühl der Großen in den Gedanken der minores gentes mit blasseren Farben". So knüpft an Rousseau der Philanthropinismus an, dem es nicht gelang, in seinem Bildungsideal die Enge der Berufs- und Standeserziehung *) §29s)

Ebenda I § 15, 32. S a c k m a n n , Rousseau. S. 167ff. 4) S p r a n g e r , Humboldt. S. 2.

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zu überwinden; entsprechend seiner übertriebenen Neigung bei allen Fragen in erster Linie den Nützlichkeitsstandpunkt zu vertreten und das Hauptaugenmerk auf die Außenwelt zu richten, legte er zu großen Wert auf die Heranbildung in ihrem Berufe tüchtiger Staatsbürger und glückseliger Menschen; in falschem Bildungsoptimismus befangen, glaubte man aus allen alles machen zu können. Bei der einseitigen Wertschätzung des Verstandes verlor man den Maßstab für die wahren Werte des Lebens. Die Religionsunterweisung artete vielfach in ein unerträgliches Moralisieren aus. Im Kampf mit der veralteten Methode des bisherigen Schulwesens verfielen die Anhänger des Neuen in das andere Extrem; anstelle der Beschränkung auf wenige Fächer trat der oberflächlichste Enzyklopädismus, eine Überlastung der Jugend mit einer Überfülle von Kenntnissen; die falsche Strenge schlug um in eine verfehlte Spielerei des Lernens; in einseitiger Weise wurde ein verfrühtes Raisonieren der Kinder großgezogen. Der Philanthropismus verstand es eben nicht, Rousseaus Idee des Menschen einen wertvollen Inhalt zu geben. Daher sah er sich bald überflügelt von zwei ebenfalls durch den Genfer Philosophen aufs entschiedenste beeinflußten geistigen Bewegungen, von dem Neuhumanismus und der Reform Pestalozzis, zumal es diesen gelang, in innige Verbindung mit dem neuen Idealismus zu treten, in dem die Welt- und Lebensanschauung der führenden Männer des Goetheschen Zeitalters wurzelt.1) In bedeutungsvoller Weise wurde dessen Entstehung vorbereitet durch Leibniz' Nouveaux Essais, die nur drei Jahre nach dem Emile 1765 erschienen, bemerkenswert durch ihre grundlegenden Erörterungen über die „unmerklichen Wahrnehmungen" und den Begriff der „Unruhe", der Summe aller unmerklichen oder kaum merklichen Antriebe, die unser Handeln bestimmen, sowie durch ihre starke Betonung der „Selbsttätigkeit des Geistes".8) Erst in Anknüpfung an diese Ideen konnte die noch überall herrschende Nachahmungslehre Batteux's überwunden und eine subjektivistische Ästhetik, eine Theorie des freien künstlerischen Schaffens aufgebaut werden. Indem Ernst Platner, ein Schüler des Neuhumanisten Ernesti, der vielgefeierte Leipziger Professor der Philosophie, den auch der junge Thiersch mit größtem Interesse hörte, infolge schwerer innerer Kämpfe und philosophischer Erlebnisse zu einem gefühlsmäßigen Skeptizismus kam und unter Benutzung des Leibnizischen Begriffes der „Unruhe" die an sich selbst beobachtete Gemütslage der Unruhe des Geistes und einer gewissen Art von Schwermut auf den subl

) S p r a n g e r , Humboldt. S. 5. ) B e r g m a n n , Platner. S. 6, 79.

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jektiven Zustand jedes Kunstschaffenden anwandte, wurde er zum Schöpfer der deutschen Kunstphilosophie. „Der Künstler" — so führt er aus 1 ) — „ist der empfindsame Zuschauer der Welt, Kunst ist Ausdruck der Empfindung, Empfindung ist Unruhe des Herzens über die großen Fragen der Welt und des menschlichen Daseins." Aufs lebhafteste beschäftigte ihn fortan das Problem: wie entsteht große Kunst und was will große Kunst ? Unter dem Einfluß des Engländers Young entwickelte Platner seine Anschauungen über das Wesen des Genies2) als des höheren Menschen. „Der hohe oder philosophische Künstler ist ein empfindsamer Mensch" — so lehrte er in seinem Kolleg — „mit beständiger innerer Unruhe seiner Seele, die an Gegenwart und Zukunft teilnimmt"; der Geist der Kunst und der Philosophie müssen sich im genial Schaffenden verbinden; als wichtigste Eigenschaften des Genies erscheinen Empfindsamkeit, Lebhaftigkeit der Phantasie, Nachahmungsgeist, im Sinne Youngs, Winckelmanns und Goethes „ein Bestreben des Geistes, alle die Vollkommenheiten zu haben, die an einer Sache, einer Wissenschaft, einer Kunst vorzüglich geschätzt werden", „innerliches Bestreben, vortrefflich zu sein", endlich Geschicklichkeit. Die Originalität Platners besteht darin, „daß seine Theorie überall aus dem Erlebnis keimt und quillt." Während die Hallenser Ästhetik ihrem rationalistischen Grundcharakter entsprechend den pädagogisch-teleologischen Zug betonte, Sulzer der Kunst namentlich moralische Wirkungen zuschrieb, Mendelsohn ihre „Absicht" in der Erweckung von Vergnügen, in der Erregung angenehm empfundener Gefühle sah, Lessing in seiner Genielehre schrieb: „Mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet," erkannte Platner schon in den 70 er Jahren im schärfsten Gegensatz zu diesem Eudämonismus und Utilitarismus in der Kunst eine gefühlsmäßige Erläuterung des Weltgeheimnisses; in den 90 er Jahren näherte er sich wohl bereits Schillerschen Gedanken, wie sie in dessen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" zur Darstellung kamen. Zwei besonders wichtige Tendenzen der Zeit, das psychologische Interesse" und ein „metaphysischer Zug" treten in Platners Auffassung deutlich hervor3). Jenes zeigt sich besonders in seiner Erklärung der Bildlichkeit in der dichterischen Sprache, in der Verlegung des Ursprungs des Kunstwerkes in eine seelische Gestimmtheit, dieser erscheint in seiner Analyse des künstlerischen Schaffens. Der Künstler hat ja eine religiöse Aufgabe; die Werke hoher Kunst geben ein Stück gefühlsmäßiger Weltinterpretation. Die Musik ist ihm eine klingend gewordene Metaphysik. B e r g m a n n , Platner. ) B e r g m a n n , Platner. 3 ) B e r g m a n n , Platner. 2

S. 87. S. I03ff. S. 216/18.



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Er entdeckt also die innige Verwandtschaft zwischen Philosophie und Kunst, ein Lieblingsgedanke Goethes und Schellings, der bis Richard Wagner und Nietzsche fortwirkte. Was der Leipziger Professor begonnen hatte, setzten K. P. Moritz und Goethe fort. Die von Schelling entworfene und ausgebaute Kunstphilosophie wurde im Zeitalter der Romantik durch Solger, Schopenhauer und Hegel im platonisierenden Geist vollendet 1 ). Die Entstehung der Platnerschen Ideen über die Kunstphilosophie fällt zeitlich mit der Periode der Stürmer und Dränger zusammen, die, ihren Ausgang von Rousseau nehmend, von Klopstock, Wieland und Lessing beeinflußt, Gefühl und Instinkt als die treibenden Kräfte im menschlichen Leben verehrten und sich über alles Hergebrachte hinwegsetzend, durch Anschluß an die Natur große Kunstwerke schaffen wollten. „Selbst erleben", wurde der Kampfruf der Jungen, der Mensch in der Fülle der Kräfte das erstrebenswerte Ziel. Sie fühlten wie der Königsberger Philosoph Hamann, daß der Baum der Erkenntnis den Baum des Lebens zerstört habe. „Phantasie und Gefühl" — so kündete dieser ihnen — „reichen weiter als die nüchterne Arbeit des Verstandes und der Begriffe bildenden Wissenschaft; das Zentrum jedoch der Lebensempfindung ist der Glaube. Gott offenbart sich in Natur und Geschichte" 2 ). Herder3), ein Schüler Kants und von diesem selbst in Rousseaus Ideenwelt eingeführt, wird unter dem starken Einfluß von Leibniz' Monadenlehre, die durch ihren Antimaterialismus und Dynamismus charakterisiert ist, von Hallers physiologischen Lehren über Muskelreizung, ihre Ausdehnung und Zusammenziehung, und Shaftesburys Pantheismus stehend, der Schöpfer des Pandynamismus, jener tiefsinnigen Naturanschauung, die in der ganzen wirklichen Welt eine von einem lebensvoll wirkenden Geist beherrschte Einheit erkennt. Kant, Schiller, Goethe, Humboldt und die Romantik bauten diese Idee immer feiner auf. Die Idee des organischen Zusammenhangs wurde herausgeboren aus der Not der Zeit; denn als schwersten Mangel empfanden die führenden Männer die einseitige Ausbildung der Kräfte, das Auseinanderklaffen von Natur und Mensch; die Aufklärung schien völlig außerstande, das Problem zu lösen, wie Persönlichkeitsbewußtsein und Weltkausalität in Verbindung gebracht werden können. Da bot der Organismusgedanke die höhere Einheit zur Ausgleichung jener Gegensätze. Aus der innigsten Wechselwirkung des Ganzen mit den Teilen erhebt sich der Gedanke eines universalen Entwicklungsprozesses, einer Stufenfolge von der einfachsten bis zur feinsten Organisation. 2)

B e r g m a n n , Platner. S. 4. B i e s e , Literaturgeschichte. Bd. i 4 .

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L o e w e , Lebenswerk.

S. 368/69.

1912.

S. 616.



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Wie die Frage nach dem Wesen der ursprünglichen Natur des Menschen in der Dichtung zu immer tieferer Erfassung des Begriffes „Genie", des künstlerischen Schaffens, zur Gestaltung des eigenen Erlebens führte, so auf dem Gebiet der Philosophie zum Kritizismus Kants 1 ). Wohl war die Aufmerksamkeit der Forscher auf den menschlichen Geist gelenkt worden, seitdem Descartes in der Selbsterkenntnis des Geistes einen festen Grund gefunden hatte, aber erst die „Prometheus-Tat" Kants entlockte ihm sein Geheimnis, überzeugte die Zeitgenossen von der produktiven Kraft des Bewußtseins und stellte den Menschen in den Mittelpunkt der Philosophie, die Geistesphilosophie wird. „Der menschliche Geist schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor," so lautet Kants gewaltige Entdeckung; er schafft sich Begriffe und verbindet die Erscheinungen nach seinen Gesetzen, mit Hilfe der Erfahrung erbaut er sich seine eigene Welt, das Ding an sich bleibt uns verborgen, das Weltbild ist eine Schöpfung des Menschengeistes. Damit war der Materialismus aufs tiefste erschüttert, eine lebendigere Erfassung der Wirklichkeit ermöglicht. Ja, Kant macht den grandiosen Versuch, die Gesamtheit der Erfahrung systematisch aufzubauen. Ein neues Problem taucht auf: Die wissenschaftliche Erkenntnis der Welt wird zur Selbsterfassung des menschlichen Geistes. Der menschliche Geist war als die bedeutendste schöpferische Kraft erfaßt. Indem Kant in seiner Erkenntniskritik die Frage beantwortet: was kann ich wissen?, wies er die Unbeweisbarkeit aller übernatürlichen Erkenntnis, die Unmöglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft nach; wohl aber besteht auch der Glaube zu recht; denn es gibt Ideen oder Vernunftbegriffe, die über die Erfahrung hinausweisen, die der Seele, der Welt und Gottes, regulative Prinzipien. Die praktische Vernunft ist autonom; in der Brust des Menschen entdeckte Kant eine höhere Unendlichkeit als die der Welt in Zeit und Raum, in dem Sittengesetz, das für jedes vernünftige Wesen und unter allen Umständen ein unbedingt Wertvolles, die ihm entsprechende reine und uneigennützige Gesinnung, gebietet. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt, der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." In der Kritik der Urteilskraft setzt sich Kant zunächst mit den Problemen der Ästhetik seiner Zeit auseinander, untersucht das „Schöne" und „Erhabene" und erläutert feinsinnig das Wesen des Genies. Im zweiten Teil zeigt er, wie in dem Gebiet der Natur, das durch die Begriffe OrganisL o e w e , Lebenswerk.

S. 367.



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mus, Organisation, Leben und Lebewesen charakterisiert ist, die teleologische Betrachtungsweise als heuristisches Prinzip der Naturerkenntnis aufzufassen ist, geht den Fragen nach : wie ist das Organische entstanden, wie verhalten sich gegenseitig Mechanismus und Teleologie? Er findet in der Wirklichkeit ein Stufenreich der Zwecke und als höchsten und letzten den Menschen als zur Freiheit bestimmtes Naturwesen. „Der Mensch überschattet in Riesengröße die gesamte Natur: der letzte Zweck alles Seienden besteht nur in dem immer vollendeteren Herausarbeiten des spezifisch Menschlichen, welches beschlossen ist in den drei Begriffen: Freiheit, Vernunft, Sittlichkeit" 1 ). Während so die Philosophie des Kritizismus, entsprechend einer Grundtendenz der Zeit, den Menschen in den Mittelpunkt aller Betrachtung stellte, war die Bewegung des Neuhumanismus2) bereits in lebhaftem Aufblühen begriffen. Sie hatte ihren Ausgang von dem Frankreich Franz' I. genommen, führte zu einer neuen Betrachtungsweise des klassischen Altertums und gewann ihm in der Kultur und der Jugendbildung wiederum eine bedeutsame Stellung, nachdem es dieselbe dadurch verloren hatte, daß es auch für die neue Zeit als Hauptquelle alles Wissens und aller Erkenntnis angesehen worden war. Eben zu der Zeit, da ein literarischer, von Karl Perrault eingeleiteter Streit über das Verhältnis der Alten zu den Modernen die Gemüter in Frankreich und England aufs heftigste bewegte, veröffentlichte Karl Rollin seinen „Traité des études", dessen Hauptinhalt ist: Die bleibende Bedeutung der Literatur und Denkmäler des klassischen Altertums für die geistige Kultur liegt nicht in dem Inhalt der Erkenntnis, in dem Stofflichen, sondern darin, daß sie Vorbilder des guten Geschmackes sind; darunter versteht aber Rollin die „Eigenschaft der logischen Klarheit, Einfachheit und Natürlichkeit, die der Schönheit, Wahrheit und Güte in gleicher Weise anhaftet". Rollins Tat wirkte auf die ganze Folgezeit. In Deutschland wurde Johann Matthias Geßner3) ein hervorragender Vertreter dieser Bestrebungen. Seine eigenartige Stellung gegenüber der lateinischen Literatur, für die er sich vor allem interessierte, ist dadurch charakteristiert, daß er, ganz abgesehen von den Nebenzwecken an ihr schreiben und reden zu lernen und positive Kenntnisse zu erwerben, das Augenmerk auf den Sinn, den Geist des Schriftstellers richtete; das „genium capere" wird ihm zur Hauptsache; das Altertum gewinnt für ihn Selbstwert. Die ästhetische Betrachtungsweise tritt an die Stelle der gelehrten Ausnützung und philiströs beschränkten moralischen Beurteilung." „Wer ihre Schriften (die K r o n e n b e r g , K a n t , sein L e b e n u n d sein W e r k . H e u b a u m , B i l d u n g s w e s e n . B d . I, S. I 9 9 f f . 3) H e u b a u m , B i l d u n g s w e s e n . B d . I. S. 225Ü. 2)

1904.

S. 344ff.

lateinischen) liest und versteht," — meint er •— „der genießt des Umganges der größten und edelsten Seelen, die jemals gewesen". Geßners Gefühl für Größe, Herrlichkeit und Vaterlandsliebe fand in den führenden Männern des alten Rom Kräftigung und Antrieb. „ E s war noch nicht jene Stimmung, die in dem klassischen Altertum, dann besonders im griechischen, das Ideal der Humanität, der vollendeten harmonischen Ausgestaltung des menschlichen Wesens erblickte" 1 ). Als besonderen Nutzen der Altertumsstudien betrachtete es Geßner, daß der Zögling mit dem Reden zugleich das Denken lerne. Als das Ziel der Unterweisung bezeichnete er daher das „eleganter et sapienter dicere"; sein Begriff der „Nachahmung" erinnert bereits an den Winckelmanns und Goethes, da es sich dabei nicht um „ängstliche und kindische Nachahmung" handeln soll, sondern darum, dem Vorbild ähnlich zu werden. Die Lektüre der klassischen Autoren endlich schätzte er als ein wertvolles Mittel zur Ausbildung in der Muttersprache. Geßner war es vergönnt seine Gedanken in die Wirklichkeit umzusetzen, und zwar an der Universität Göttingen, wo zuerst die Wissenschaft um ihrer selbst willen betrieben wurde und die Philologie ihre enge Verbindung mit der Theologie löste. Hier gründete er das Seminarium philologicum, das dem Mangel tüchtiger Lehrer abhelfen sollte; die revidierte braunschweigisch-lüneburgische Schulordnung 1737 ist sein Werk. In seinem Sinne wirkte in Sachsen Johann August Ernesti, der Lehrer Ernst Platners, der Verfasser der sächsischen Schulordnung (1773), und sein Nachfolger in Göttingen, Christian Gottlob Heyne, „der eigentliche Schöpfer einer Realphilologie in wissenschaftlicher Form", der seinen Schülern ein tiefes Verständnis für die Antiquitäten, die Mythologie und Archäologie der Kunst erschloß2). Die neue Betrachtungsweise des Altertuns, die moralisch-ästhetische Schätzung, beherrschte die letzte Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zu Friedrich August Wolf hin. „Lebensgefühl und Weltanschauung der besten Männer jenes Zeitalters erfuhren dadurch kräftige Förderung" 3 ). Die Erklärung, warum diese Bewegung sich so rasch vollzog, liegt darin, daß auch außerhalb der Schule neuhumanistische Ideen schon frühzeitig verbreitet wurden. Die junge Dichter- und Schriftstellergeneration um die Mitte der 40 er Jahre, Uz, Rabener, Geliert, Wieland, Klopstock und Lessing empfing ihre stärkste Anregung von der Hallischen Dichterschule, namentlich von Friedrich von Hagedorn, der in London in den Kreisen der englischen Aristokratie die Bedeutung der Antike für die BilH e u b a u m , Bildungswesen. B d . I. S. 226. ) L o e w e , Schulkampf. S. 6 1 . 3 ) H e u b a u m , Bildungswesen. Bd. I. S. 2 1 3 . 2



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dung des Geistes und Geschmackes kennen gelernt hatte. Was er für sich selbst gewann, zeigen die Verse: „Oft lehrte mich Plutarch die Helden unterscheiden, Oft läßt mich Theophrast der Laster Torheit seh'n, Oft hilft mir Tacitus der Großen Stolz entkleiden, Das rätselhafte Herz der Menschen zu versteh'n.*' 1 )

Den nachhaltigsten Einfluß aber auf fast alle bedeutenden Deutschen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts übte Anton Ashley Cooper, Graf von Shaftesbury, der vollendete Vertreter einer philosophisch und ästhetisch gebildeten Aristokratie, ein glühender Verehrer der wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur der Griechen, der nicht müde wird, ihre Originalität, Einfachheit und Natur zu preisen. Piatons und Aristoteles künstlerisch-ethische Auffassung wird seine eigene; zwischen Wahrheit, Schönheit und Tugend nimmt er einen tiefen inneren Zusammenhang an: „Alles Schöne ist auch harmonisch und proportioniert, alles Harmonische und Proportionierte auch wahr und alles zugleich Schöne und Wahre notwendigerweise auch angenehm und gut." Dieser Grundauffassung entspricht sein Erziehungsideal: die Kalokagathie der Antike, der harmonisch gebildete Mensch. Indem Shaftesbury die Beschäftigung mit der Wissenschaft und der Antike als ein wesentliches Merkmal der Bildung des Aristokraten bezeichnete, trug er nachdrücklich dazu bei, den Charakter der Wissenschaft zu ändern; er erkannte ihre Bedeutung für die Bildung der Persönlichkeit und die Verschönerung des Daseins. Mochte er auch in seiner Zeit unverstanden bleiben, wie mußte sein Einfluß wachsen, als das vergewaltigte Gefühl den Kampf gegen die einseitige Herrschaft des Verstandes und Begriffes aufnahm, Rousseau die Rückkehr zur Natur predigte, die Quellen der Volkspoesie entdeckt wurden, die Führer der erwachenden deutschen Literatur sich von den alten Dichtern zu eigener Produktion begeistern ließen, Klopstock in Anlehnung an die Antike seine Oden und sein religiöses Epos schuf! Vor Winckelmanns begeisterten Augen erschloß sich die unvergleichliche Schönheit der antiken Bildwerke und er lehrte die Deutschen, die Kunst im Zusammenhang mit den allgemeinen Kulturbedingungen, als ein geschichtlich sich Entwickelndes begreifen 2 ). Gleich ihm faßte Lessing in seinem Laokoon den Begriff der Nachahmung nicht mehr im Sinn sklavischer Nachbildung, sondern wetteifernden Strebens. Eine besondere Stärkung fand der Neuhumanismus durch die tiefgehende Veränderung der Weltanschauung seit den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts, durch den Anbruch des Goetheschen Zeitalters, *) H e u b a u m , Bildungswesen. Bd. I. S. 275ff. 2 ) P a u l s e n , Gelehrter Unterricht. Bd. II. S. 190ff.

dessen Bildungsideal die vollendete Entwicklung aller menschlich-geistigen Anlagen wurde. Herder trat als Führer auf. Schon in seinen Jugendwerken kündete sich eine feinsinnige Auffassung der Sprache an, „jenes Gesanges der Natur" und eine hohe Wertschätzung des Hellenentums. „Aus den Werken der Griechen spricht der Dämon der Menschheit rein und verständlich zu uns." Bei der Abfassung der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" wird ihm klar, daß Humanität der Zweck der Menschennatur ist, die zur Vernunft und Freiheit bestimmt ist. In den 1793—1797 veröffentlichten „Humanitätsbriefen" erscheint sein Humanitätsideal als eine Verbindung der großen Gedanken des klassischen Altertums mit dem Christentum. Das Menschheitsideal findet er am besten bei den Griechen verwirklicht. „In den Griechen ist die Idee des Menschen Fleisch geworden; es gilt, durch die Anschauung dieser uns selbst zu dem eigentlichen, dem idealen Menschentum zu erheben. Die Gelehrtenschule ist der Tempel des Griechentums auf Erden, in welchen die Jugend geführt wird um darin die Idee der Humanität in sich aufzunehmen." Als Frucht eindringenden Sprachstudiums erwartet er, daß der Schüler lernt, „Richtigkeit und Wahrheit, Genauigkeit und innere Güte über alles schätzen und lieben. Er wird ein „gebildeter Mensch" sein und sich als einen solchen im kleinsten und größten zeigen." Eine deutliche Beziehung Herders zu Pestalozzi zeigt seine Schulrede: Vitae, non scholae discendum: „Übe und bilde alle deine Seel- und Leibeskräfte, und zwar in gutem Verhältnis, in richtiger Proportion aus, so lernst du dem Leben". Der Gedanke einer formalen Bildung, einer Entwicklung der Kraft überhaupt verknüpft sich mit dem der humanen Bildung1). Mit Friedrich August Wolf, dem Begründer der klassischen Philologie als selbständiger Wissenschaft, beginnt die Blütezeit des Neuhumanismus, er wird zu einer philosophisch begründeten Bildungstheorie2). Aus der Tatsache der Einzigartigkeit der antiken Kultur, deren Studium eine harmonische Ausbildung des Geistes und Gemütes gewährleistet, folgert Wolf, daß ihr Wert für die Jugendbildung unvergleichlich ist. Scharf betont er die Bedeutung der alten Sprachen für die formale Bildung, die Entwicklung der Geisteskräfte; Grammatik ist die beste angewandte Logik. Als Erfolg der klassischen Studien preist er die Entfaltung der intellektuellen, moralischen und ästhetischen Kräfte. Wie der Neuhumanismus, so verband sich auch die Reform Pestalozzis mit dem deutschen Idealismus Goethes, Schillers, Kants und Fichtes. x

) Z i e g l e r , Pädagogik. S. 263. ) S p r a n g e r , Humboldt. S. 5.

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Pestalozzis ganze Lebensarbeit war, wie Fichte in seinen Reden ausführte, getragen „ v o n einem unversiegbaren, allmächtigen und deutschen Trieb, von der Liebe zu dem armen, verwahrlosten Volk". „ W i e ist eine sittliche Erneuerung des Volkes möglich?", das war das Problem, um dessen Lösung er unaufhörlich bemüht war. E r kam zu der Überzeugung, es gibt eine Elementarbildung, die für alle Menschen ohne Unterschied die gleiche ist und der Berufsbildung vorangehen muß. Sie bezweckt die gleichmäßige Entfaltung der im Kinde schlummernden Kräfte und Anlagen. Denn der Mensch ist ein Ganzes, ein Organismus, und wird durch keine einzelne Anlage in sich selbst vollendet; nur in der Verbindung aller wird die humane Veredelung erreicht, zu der unsere Natur bestimmt ist. Sie muß — das hebt er in seinem Schwanengesang hervor — in erster Linie eine individuelle sein. Die Kernfrage seiner Pädagogik wird daher: durch welche Mittel können die verschiedenen Kräfte und Anlagen des Kindes entfaltet werden? Erst müssen diese geweckt sein, dann soll auf Grund der gewonnenen Anschauung die Ausbildung der Denk- und Urteilskraft erfolgen. Besonders eingehend behandelte er die Mittel, die hiezu erforderlich sind 1 ). Betont Pestalozzi mit aller Entschiedenheit das Recht des Kindes auf Berücksichtigung seiner Individualität, so weist er doch auch wieder nachdrücklich auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Ordnung hin, in die der einzelne sich gestellt sieht. Erst in ihr erhält der Mensch höheren Wert durch die Entwicklung sittlicher Eigenschaften. Natorp 2 ) bezeichnet als das Grundprinzip der Pestalozzischen Pädagogik das „Prinzip der Naturgemäßheit der Erziehung"; es läßt sich umschreiben in fünf Leitmotiven: dies sind das Prinzip der Spontaneität, das Prinzip der Methode, das Prinzip der Anschauung, das Prinzip des Gleichgewichtes der Kräfte und das Prinzip der Gemeinschaft. Als Fichte nach eingehender Schilderung des Wesens der deutschen Nationalerziehung, durch die „der ganze Mensch nach allen seinen Teilen vollendet, in sich selbst abgerundet, nach außen zu allen seinen Zwecken in Zeit und Ewigkeit mit vollkommener Tüchtigkeit ausgestattet wird", die Frage aufwirft, an welchen in der Wirklichkeit vorhandenen Punkt die neue Nationalerziehung der Deutschen anzuknüpfen sei, antwortet er: „ A n den von J. Heinrich Pestalozzi erfundenen, vorgeschlagenen und unter dessen Augen schon in glücklicher Ausübung befindlichen Unterrichtsgang." Als übereinstimmend mit seiner eigenen Ansicht bezeichnet er die Grundanschauung Pestalozzis, es handelt sich um Volkserziehung, d. h. 2)

H e u b a u m , Pestalozzi. S. I3öff. S. 341 ff. N a t o r p , Pestalozzi. 1919. S. 42.

— 13 — letzten Endes um Nationalerziehung, ferner die Anregung und Bildung der freien Geistestätigkeit des Zöglings, die Einführung desselben in die unmittelbare Anschauung, und dabei das sorgfältige Schritthalten mit der allmählichen Entwicklung der kindlichen Kräfte. In innigem Zusammenhang endlich mit den Gedanken des Neuhumanismus, des Sturmes und Dranges, der Gefühlsphilosophie, mit den naturwissenschaftlichen Anschauungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts und mit der idealistischen Philosophie steht das frühromantische Weltbild und das auf ihm beruhende frühromantische Bildungsideal1), wie es von Friedrich Schlegel, Novalis und Tieck vertreten wird. Ihre Bildungsideen sind der „begriffliche Ausdruck tief innerlicher Erlebnisse großangelegter Naturen". Indem sie alle Kulturwerte umprägten, lehrten sie den Menschen auffassen als freie Persönlichkeit, die aus eigener Kraft die sittliche, religiöse, künstlerische und soziale Gebundenheit überwindet. Sie setzten den Kampf der Gefühlsphilosophie, wie sie Jacobi vertrat, gegen die Überschätzung des Intellekts erfolgreich fort, erkannten im seelischen Leben ein einheitsvolles Ganzes, ein Zusammenwirken und beständiges Wechseln der Vorstellungen, Gefühle und Willensvorgänge; unter dem Einfluß Fichtes legten sie innerhalb des Kräftekomplexes der Seele dem Willen eine besondere Bedeutung bei und betrachteten das ganze seelische Leben als einen Ausfluß der Spontaneität des Ichs. Menschenbildung im frühromantischen Sinn bedeutet daher möglichst umfassende Entfaltung aller der einzelnen von Natur verliehenen seelischen Kräfte von innen heraus. Uber Kant und Fichte, aus dessen Wissenschaftslehre die Frühromantiker die Erkenntnis schöpften, daß Selbsttätigkeit das Urwesen alles Seins sei, hinausschreitend, begründete Schelling seine Natur- und Kunstphilosophie mit ihrer Wertschätzung der wahrhaft schöpferischen Lebenskräfte, der translogischen und alogischen, mit ihrer Auffassung der organischen Einheit von Natur und Geist unter Verwertung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen der Zeit, wie des Sauerstoffes und der tierischen Elektrizität, die die Wesensgleichheit der elektrischen, chemischen und magnetischen Erscheinungen zu beweisen schienen; jeder Organismus erscheint jetzt als ein System zielstrebiger Kräfte, die Natur wird vergeistigt, die vollendete Bildung als Einheit von Poesie und Wissenschaft erkannt. Mit der Gefühlsphilosophie teilt die Frühromantik bei aller Wertschätzung des Verstandes den Glauben an einen rätselhaften Urgrund des Seins und sieht in dem mystischen Schauen die Offenbarungsquelle der letzten und höchsten Wahrheit. „Jacobis lebendige Philosophie" —so 1

) V o g e l , Frühromanfik.



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rühmt Schlegel in seiner,, Rezension des Waldemar'' — „ist ein reifes Resultat seiner individuellen Erfahrung und eine entschiedene Gegnerin jener toten Philosophie, welche nur mit Buchstaben, den Gespenstern des ehemals Wirklichen, ein Gewerbe treibt" 1 ). „Das bleibende Verdienst 2 ) der Frühromantik ist es, auf breiter, kritisch-philosophischer Grundlage und zugleich aus einem leidenschaftlichen, gehaltvollen Werterleben heraus den Nachweis erbracht zu haben, daß die höhere Menschenbildung eine harmonische Auflösung des ewigen Gegensatzes von Geist und Natur, Verstand und Gefühl, Wissen und Glauben bedingt." Die vom Geist des Neuhumanismus erfüllten deutschen Dichter lehrten die Frühromantiker, die Erziehung zur vollwertigen Persönlichkeit als Ideal anzusehen. Da die Kunst unter den Lebenswerten eine zentrale Stellung einnimmt, die ganze Erde ein Kunstwerk und Gedicht Gottes ist, fordern sie, von der überragenden Größe Goethes ergriffen, die ästhetische Erziehung mit der doppelten Aufgabe, den poetischen Sinn zu entwickeln und sittlich freie, künstlerisch genießende und schaffende Menschen zu bilden. Mit dem Neuhumanismus teilen sie die Auffassung vom Wesen und Wert des Griechentums; die Vertiefung in diese einzigartige Kulturwelt ist nicht Selbstzweck, sondern das Mittel zur Versöhnung des griechischen und deutschen Genius. Griechisches Leben und griechische Schönheit erkannten sie als organisch ineinander verwachsen,. als Offenbarung reinen Menschentums. „Bei keinem anderen Volk," so schreibt Schlegel in einem Aufsatz „Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern" 3 ) — , „konnten alle Anlagen und Kräfte des Menschen sich so frei, rein und bestimmt äußern und üben und durch alle Stufen der Bildung, aufwärts und abwärts, den Kreislauf der sich selbst überlassenen Natur vollenden. Ihre Geschichte ist die Geschichte der menschlichen Natur". In seiner Untersuchung „Über die Grenzen des Schönen"4) heißt es: „Durch Kunst allein wird der Mensch zu einer leeren Form, durch Natur allein wird er wild und lieblos. Es gab eine Zeit, es gab ein Volk, wo das himmlische Feuer wie die sanfte Glut des Lebens beseelte Leiber durchdringt, das All der regen Menschheit durchströmte!" In der harmonisch gestimmten Menschlichkeit wohnt nach Annahme der Frühromantiker die organische Sittlichkeit; den Sturm und Drang fortsetzend, entdeckten sie einen neuen Lebensbegriff. Das Gewissen ist ein intuitives Erleben, „das Mensch gewordene Gottes Wort". Mit dem M i n o r , Schlegel. Bd. 2. S. 73. V o g e l , Frühromantik. S. 202. 3) M i n o r , Schlegel. Bd. I, S. 29. 4) M i n o r , Schlegel. S. 22/23. 2)



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Neuhumanismus werden alle utilitaristischen und grob eudämonistischen Werte abgelehnt. Das frühromantische Bildungsideal verlangt eine genußfrohe Bejahung der ideellen Wirklichkeit, eine Veredelung der Individualität durch geselligen Umgang, eine soziale Gleichstellung der beiden Geschlechter, allseitige harmonische Ausbildung auch für die Frau; der hohen Wertschätzung der Individualität jedes einzelnen entspricht die Beschränkung der Erziehertätigkeit des Lehrenden zugunsten der Selbsterziehung. Die frühromantische Auffassung der Geschichte als einer organischen Kulturentwicklung lehrt den Zögling in großen Zusammenhängen denken, die ganze Menschheitsgeschichte als Entwicklung des menschlichen Geistes auffassen und die Kontinuität und Gesetzmäßigkeit aller geschichtlichen Vorgänge verstehen, und gewährt ihm Einblick in das organische Verwachsensein des einzelnen mit seinem Volk. Als Erziehungsaufgabe des Staates erscheint die freiwillige Einfügung des einzelnen in das Ganze zur Pflege der Kultur. Im Bund mit dem weltbürgerlichen Humanismus bestand für den frühromantischen Nationalismus nicht die Gefahr chauvinistischer Zuspitzung. Zur Universalität und Harmonie der Persönlichkeit gehört endlich die Religion; diese Ansicht wurde von Schleiermacher, Friedrich Schlegel und Novalis geteilt. Die religiöse Anlage ist angeboren und entwickelt sich spontan, wenn jeder Zwang ferngehalten wird. Der W e g zur Religion ist die Gefühlsbildung. „Die romantische Religion ist die mit der Denkklarheit des kritischen Geistes und mit der Leidenschaft gefühlsphilosophischer und pietistischer Gemütstiefe gesättigte cognitio dei intuitiva Spinozas". 1 ) Im Christentum sahen sie die Menschheitsreligion schlechthin. In ein so reiches, von den mannigfachsten Strömungen durchzogenes geistiges Leben sah sich die jugendliche Generation versetzt, welche in den achtziger Jahren des scheidenden Jahrhunderts geboren, um die Jahrhundertwende die Hochschulen bezog. Je stärker die Persönlichkeit war, um so tiefer mußte die Wirkung des Kampfes mit den Mächten der Zeit sein. *) V o g e l , Frühromantik.

S. 279.

I.

B u c h .

Die Zeit des Eeifens.

L o e w e , Friedr. Thiersch.

2

I, Abschnitt.

Lehr- und Wanderjahre. I. Kapitel.

Die Jugendzeit, Schulpforta 1784—1804. Friedrichs Thierschs Heimat ist Thüringen, eine deutsche Landschaft, im Herzen des Reiches gelegen, von allen Seiten leicht zugänglich, bewohnt von einer geistig außerordentlich regsamen und fleißigen Bevölkerung, von wasserreichen Flußtälern durchzogen, in denen sich eine blühende städtische Kultur entwickeln konnte, begünstigt durch den Reichtum der begrenzenden waldreichen Mittelgebirge an Erzen und Kohlen, hervorragend durch Schönheit der Natur ebenso wie durch gewaltige Erinnerungen der Volkssage und Geschichte. In den Kyffhäuser versetzte die dichtende Volkspoesie den großen Hohenstauferkaiser Friedrich Barbarossa, den stolzen Repräsentanten der alten Kaiserherrlichkeit. Der Hof des kunstsinnigen Landgrafen Hermann auf der Wartburg sah den Wettstreit der edelsten Minnesänger der Zeit; in Eisleben stand die Wiege des Bauernsohnes, der in einsamer Klosterzelle zu Erfurt mit seinem Gotte rang, bis er in dem Glauben an die aus Gnaden freisprechende Gerechtigkeit desselben Gewissensruhe und Mut fand, selbst Kaiser und Papst entgegenzutreten, Martin Luthers, des Begründers des Protestantismus. In Wittenberg lehrte und wirkte er mit Philipp Melanchthon, dem „Praeceptor Germaniae", dem Schöpfer des humanistischen Schulwesens der Reformation. Thüringens Hochschulen wurden Pflanzstätten des Humanismus, seine Gefilde der Schauplatz der revolutionären Wiedertäuferbewegung. In Eisenach wurde fast 100 Jahre vor Thiersch (1685) Johann Sebastian Bach geboren, der Meister des Orgelspieles und der großen Passionen. Halle an der Saale sollte eine der ersten Hochschulen werden, wo das Prinzip der „libertas philosophandi" verständnisvolle Pflege fand, an der bedeutende Vertreter des Pietismus, des theologischen Rationalismus und der klassischen Philologie lehrten; an der Universität Göttingen blühten die staatswissenschaftlichen und historischen Studien, seit 1763 2*



20



auch die Philologie unter Heynes Leitung. In Leipzig war das theologische Studium durch Crusius und Ernesti, einem begeisterten Neuhumanisten, glänzend vertreten, und schon scharte Ernst Platner einen immer wachsenden Hörerkreis um sich. Nach Weimar berief Anna Amalie, „die vollkommenste Fürstin mit vollkommenem Sinn", geistvolle Männer zur Pflege reichen künstlerischen Lebens, Wieland wurde der Erzieher der jungen Fürsten, 1775 traf Goethe ein; die Universität Jena, wo Schleiermacher, Schiller und Fichte wirkten, blühte auf. Der Protestantismus verband sich mit feinster geistiger Kultur. Auf protestantischem Boden, in einer lange eingesessenen Familie, deren Vorfahren die Kämpfe Luthers und Tetzeis erlebt hatten, wurde Friedrich Wilhelm Thiersch am 17. Juni 1784 in dem Pfarrdorf Kirchscheidungen nahe dem Kyffhäuser in der goldenen Aue geboren, wo sein Vater als Dorfschulze von dem Ertrag einer Landwirtschaft, eines Backhauses und einer Branntweinbrennerei eine zahlreiche Familie ernährte. Durch seinen Großvater, den Pastor Lange, und durch seine Mutter lernte das geweckte Kind die Religion in einer Form kennen, die ihm unauslöschlichen Eindruck machte; in gleichem Sinne wirkten musikalische Schulaufführungen, lateinisch-deutsche Wechselgesänge bei hohen Kirchenfesten, an denen sich Friedrich lebhaft beteiligte. Den ersten Unterricht empfing das Kind in der Dorfschule; spät zum Studieren bestimmt, fing es erst mit zwölf Jahren an, Latein bei einem Kandidaten zu lernen. 1796 kam es nach Naumburg in die Stadtschule in eine zu hohe Klasse, so daß es genötigt war, die Anfangsgründe des Griechischen für sich nach der Hallischen Grammatik zu lernen. Von dem zweijährigen Aufenthalt dortselbst sind uns nur zwei kurze, an eine Sakristeitüre geschriebene Gedichte, ein lateinisches und ein deutsches, erhalten, die bei aller Anspruchslosigkeit doch einen tiefen Einblick in das Wesen des Knaben gewähren, in sein inniges religiöses Empfinden und seinen gesunden natürlichen Sinn. Jugendlich will er sich seines Lebens freuen, aber so, daß es ihn im Alter nicht reuen möge. Der hohe sittliche Ernst des gereif ten Mannes kündet sich in dem Verse des Kindes an: Invia virtuti nulla est via Via virtutis maxima est pietas Via virtutis non est invia Omnia cum deo, nihil sine eo. Fr. w. Thiersch discip. N.

Nach der Konfirmation erhielt Friedrich 1798 eine Freistelle an der berühmten sächsischen Fürstenschule zu Pforta. 1 ) Sechs Jahre lang besuchte Thiersch jene Anstalt „von altertümlichem Geist und wohlbegrünL o e w e , Schulkampf.

S. 55ff.



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detem Ruhm" und empfing so tiefgehende Eindrücke, daß sie für seine spätere Reformtätigkeit in Bayern von größter Bedeutung wurden. Die ehemalige Zisterzienserabtei Pforta, 1 ) 1540 zur fürstlichen Landesschule erhoben, liegt an der großen Heeresstraße von Erfurt nach Leipzig, eine Stunde von Naumburg entfernt, in einem anmutigen und fruchtbaren Tal am Fuß eines großenteils mit Buchenwaldungen bedeckten Abhanges, umgeben von üppigen Getreidefeldern, Obstpflanzungen, Weinbergen und Pappeln. Eine aus der Klosterzeit stammende dicke Mauer umfaßt den ganzen Ort im Viereck und schließt ein Areal von fast 73 Morgen in sich, das mit Gebäuden, Höfen, Gärten und Wald besetzt ist; mitten hindurch fließt die kleine Saale. Die altehrwürdige, in gotischem Stil erbaute Kirche mit ihrem reich verzierten, in Spitzbogen gewölbtem Westportal und ihrem stimmungsvollen Innern, der den Primanergarten umschließende Kreuzgang, die im edelsten byzantinischen Rundbogenstil erbaute Kapelle sowie der plastische Schmuck boten starke künstlerische Anregungen. Der kleine Schulgarten diente den Alumnen als Spielplatz. Er war auf der einen Seite eingeschlossen von der Saale, auf der anderen von einer nicht unbedeutenden, bis zur südlichen Schulmauer hinansteigenden, mit schönen Waldbäumen aller Art und Gesträuchpartien besetzten Anhöhe; an deren Fuß hatte jede der fünf Klassen ihre eigene Kegelbahn nebst den dazugehörigen, in den Wald hinaufreichenden Räumen, die mit Bänken und Lauben ausgestattet waren; rings herum führte ein dammartig erhöhter, sehr breiter, mit Kies bedeckter Weg zum Ambulieren, beiderseits mit Akazien, Linden, Kastanien und Pappeln bepflanzt. In dieser anmutigen Einsamkeit verfloß das Leben der Schüler in wohlgeregeltem Gang. Der Absicht der Stifter und der eigentümlichen Verfassung nach war Pforta eine „Erziehungs- und Unterrichtsanstalt",2) bestimmt, eine kleine Anzahl Alumnen — die gesetzliche Höchstzahl der eigentlichen Alumnen war 180, die der Kostgänger 20 — und Extraneer aufzunehmen um sie vom reiferen Knabenalter an bis zum Übergang auf die Universität für das höhere wissenschaftliche Leben oder für den eigentlichen Gelehrtenberuf vorzubereiten. Sie bildete einen in sich geschlossenen Schulstaat, dessen Glieder von der alma mater nicht nur Geistes-, sondern auch sittliche und Charakterbildung erhielten. Dadurch bekamen in der Regel die Pförtner für das ganze Leben „das bestimmte Gepräge einer gewissen kernhaften Tüchtigkeit mit, das nicht aus einer willkürlichen Absichtlichkeit in ihrer Erziehung, sondern wie K i r c h n e r , Pforta. S. 2ff. — P ü t t r i c h , Schulpforta. K i r c h n e r , Pforta. S. i3ff.

II. Abt.

Bd. 1.



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ganz von selbst mit innerer Notwendigkeit aus dem männlichen, strengen und kräftigen Geist der Disziplin, aus dem frischen Zusammenleben des Coetus zu einem bestimmten würdigen Zweck, aus dem von aller Berührung mit städtischen Zerstreuungen geschiedenen Ernst der klassischen und diesen verwandten Studien und aus der Methode dieser Studien selbst hervorgeht". Thiersch sprach aus Anlaß der Säkularfeier Pfortas 1843 in seinem lateinischen Widmungsgedicht1) aus, was Hunderte empfunden und erlebt hatten. Mit Freuden gedenkt er der Spaziergänge im Schulgarten, bei denen die Jugend in fröhlichem Spiel sich tummelte, und der Ersteigung der Berghänge, wo sie den Frühlingsbeginn in Chorliedern feiert; lebendig steht vor seinem Auge das Bild der unvergeßlichen Lehrer, Adolph Lange und Ilgen, die den Jüngling mit sorgender Elternliebe hüteten. Das Ziel der Disziplin war in Pforta die eigentümliche Entwicklung der Charaktere zu sittlicher Kraft, Tüchtigkeit und Selbständigkeit und Durchbildung derselben zur Humanität durch Kunst und Wissenschaft. Zur Erreichung dieses Zweckes war das Zusammenleben genau geordnet, alle mußten sich an feste Gesetze und Regeln gewöhnen, an strenge Ordnung und Pünktlichkeit in der Zeiteinteilung und Pflichterfüllung, an ernsten wissenschaftlichen Fleiß, an Gehorsam und Ehrerbietung gegen Lehrer und Vorgesetzte, an Ehrfurcht vor dem Heiligen in täglicher Übung der Religionspflichten, an Achtung gegenseitiger Rechte und im fortschreitenden Alter an freie und selbstbewußte Gesetzlichkeit. Der besondere Vorzug dieser Disziplin lag in der Verbindung der Beaufsichtigung durch die Lehrer mit der gegenseitigen durch die Schüler, in der Gewinnung der Zöglinge in ihrem Zusammenleben für die Erhaltung der gesetzlichen Ordnung, indem sie in den verschiedenen Arten der Dienstleistungen und Verrichtungen tätig mitwirkten. So stellte sie im ganzen einen kräftigen lebendigen Organismus eines geordneten Gemeinwesens dar, in welchem eine gewisse innere Notwendigkeit herrschte. Noch im Lehrplan voni8oi 2 ) fehlte der Unterricht im Deutschen, in der Geographie und Geschichte ganz oder war der Privathilfe überlassen; das Griechische wurde in vier Klassen in drei Wochenstunden erteilt. Eifrig betrieb man lateinische und griechische Versifikationen. Allein welche Schwierigkeiten kostete es selbst begabten Schülern, in das Verständnis der alten Sprachen und namentlich des Griechischen einzudringen! Es fehlten geeignete Lehrbücher über Formenlehre und Syntax; auch die Lehrer waren zum großen Teil nicht hinreichend vorgebildet. x

) K i r c h n e r , Säkularbericht. S. 58. ) K i r c h n e r , Pforta. S. 62ff. Lehrplan von 1801 unter Rektor Heimbach abgedruckt. 2

— 23 — Da die beiden jungen Zöglinge, Thiersch und Dissen, zu stolz waren, die Eselsbrücken der Übersetzungen zu benützen, so waren sie auf sich selbst angewiesen. Seufzend saßen sie oft zusammen um die grammatischen Rätsel auf eigene Faust zu lösen, die Zeit herbeisehnend, wo sie die griechischen Partikeln verstehen würden. Indessen gerade die Überwindung der Schwierigkeiten stärkte ihre Kraft. Bald regten sich in beiden Anlagen, die später zur schönsten Entfaltung kommen sollten. Aus den Stoffen der Sprache selbst, unabhängig von den gangbaren Grammatiken, versuchten sie ihre Formen und Fügungen zu erklären. Nach und nach gelang es ihnen, tiefer in das Verständnis Homers einzudringen, und nun verwandten sie eigenmächtig die zur Erholung im Schulgarten bestimmte Zeit, um mit ihrem Homer die Wälder und das Gebirge zu durchschweifen. Tiefe Wirkung hinterließ die Klopstockfeier des Jahres 1800, als der Rektor Heimbach die von Göschen veranstaltete große Ausgabe des Messias im Auftrage des Dichters, der einst zu Pforta Schüler gewesen war, in feierlicher Weise in die Schulbibliothek bringen ließ. Ein Freund Klopstocks errichtete eine besondere Stiftung für Vorlesungen aus dem Werk. Der Grund zu Thierschs Verehrung für den Schöpfer des Messias mag hier gelegt worden sein. Seine religiöse Entwicklung fand eine entschiedene Förderung durch den starken Eindruck, den die Persönlichkeit seines Mathematiklehrers, Johann Gottlieb Schmidts, machte, eines Schülers von Crusius und Geliert, der für die oberen Klassen Privatvorlesungen über christliche Moral hielt. „Dieser stellte im Leben" — so schreibt Thiersch 1825 — „das vollkommenste Muster innerer Gewissenhaftigkeit und Tugend dar, wie es mir außer ihm nie in dieser Vollendung erschienen ist. Der tiefe Friede, den die wahre Frömmigkeit gewährt, war über ihn ausgegossen; die Wärme seines Gefühles bewirkte, daß ein von ihm gesprochenes Gebet durch Innigkeit des Inhaltes, Vortrag und seelenvollen Ausdruck seine Wirkung nie verfehlte". Als der Eßsaal der Schule, dessen Decke eingestürzt war, 1803 feierlich eingeweiht wurde, trug Thiersch, zum ersten Male öffentlich sprechend, ein Gedicht vor. In merklicher Anlehnung an Klopstock fordert er: „ Z u dem Erhalter schwing dich auf, o Herz! E r selbst hat dich, er hat sie alle Aus der versinkenden Gruft gerettet!"

Und dann preist er den heiteren, der Bildung und der Tugend geweihten Tempel: o stille Freistatt, höher stets an Klarheit Wird sich dein Name zu den Sternen heben, In deinem Heiligtume wird die Wahrheit In ew'gem Bunde mit der Bildung leben. Stets wird in dir der Tugend Funke glühen. Du bist unsterblich, du wirst ewig blühen.



24 —

In einem Brief an Lange, worin er die Wiedereinweihung des Saales schildert, findet sich die für Auffassung seines Wesens bedeutsame Stelle: „Wie unbeschreiblich mich der einfache Gesang rührte! O, es ist etwas Wunderbares in der Andacht, wenn sie nicht entheiligt wird; ich kenne nichts, selbst keine Begeisterung, die das Herz und alle seine Gefühle so leicht aufregte und durcheinander führte als sie oder vielmehr: sie ist die höchste, reinste Begeisterung."

Erst in den letzten Jahren seines Aufenthaltes zu Pforta erhielt Thiersch zwei hervorragende Lehrer an Carl David Ilgen und Adolph Gottlob Lange. 1 ) Ilgen hatte in Leipzig seit 1783 theologische, philologische und insbesondere orientalische Studien betrieben und hauptsächlich Reiz, Ernesti, Beck, Morus, Dathe und Platner zu Lehrern gehabt; sein berühmtester Schüler wurde Gottfried Hermann. Nachdem er vier Jahre lang das städtische Gymnasium in Naumburg geleitet hatte, folgte er 1794 einem Rufe nach Jena als Professor der orientalischen Sprachen. Acht Jahre bekleidete er diesen Posten, der ihn mit den berühmtesten Männern in Berührung brachte, wie Griesbach, Walch, Gabler, Paulus, Schütz, Hufeland, Schiller, Fichte, Schelling, Niethammer, Eichstädt, den Brüdern Humboldt und Schlegel. Bei den Besuchen in Weimar lernte er Wieland, Herder, Goethe und den Archäologen Böttiger kennen. 1802 übernahm er das Rektorat der Landesschule Pforta, die unter ihm einen großen Aufschwung erlebte. Ein geborener Schulmann, gründliche und vielseitige Gelehrsamkeit mit Würde und Energie des Charakters verbindend, sicherte er sich bei der Jugend Achtung und Ehrfurcht. Adolph Gottlob Lange, 1778 zu Weißensee in Thüringen geboren, der Sohn eines Geistlichen, hatte unter dem Rektor Heimbach sechs Jahre Pforta besucht, wo schon sein Vater und Großvater ihre Ausbildung genossen hatten. Wie später auf Thiersch, wirkte auf ihn besonders nachhaltig der Mathematiker J . G. Schmidt durch seine Vorträge über deutsche Literatur und seine moralischen Lektionen. Auf der Universität Leipzig, wo er bei Keil, Meißner, Beck und Künöl Theologie hörte, ging er bereits im ersten Jahre, angeregt durch die reiche Gelehrsamkeit Becks und den Scharfsinn und die Gründlichkeit Hermanns, deren historische und philologische Vorlesungen er von Anfang an belegt hatte, ganz zur Philologie über. Unterstützt von einer schnellen Fassungskraft und einem glücklichen Gedächtnis widmete er sich mit ganzer Energie seinem Hauptstudium sowie dessen Neben- und Hilfswissenschaften; sein Wissen wurde so umfassend, daß er seinen Universitätsfreunden, die verschiedenen Fakultäten angehörten, in dem von ihnen gegründeten Verein stets geistvolle Anregung zu bieten vermochte. Er gewann Beck und Hermann zu Freunden und bemühte sich, K i r c h n e r , Pforta.

S. 73ff. J a k o b , Lange.



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auch in seinen Schülern die Verehrung für diese Männer zu wecken. Platners Vorlesungen regten ihn stark an. Seine philologischen Studien nahmen unter dem Einfluß der reichen Sammlungen Leipzigs und unter der Leitung seiner Lehrer die Richtung auf die Archäologie. Nach der Promotion (1801) ging Lange nach Berlin, trat in Gedikes Seminar für Gelehrte Schulen ein und wurde Hilfslehrer am Grauen Kloster. Bald erkannte man sein ausgezeichnetes Lehrtalent. Welch neue Welt umgab den hochstrebenden Mann in Preußens Hauptstadt! Ein glänzender Königshof, das Militär noch erfüllt von den lebendigsten Erinnerungen an die Friderizianische Zeit, eine geistig hochstehende Beamtenschaft, reiche Schätze der bildenden Kunst, berühmte Gelehrte und Schriftsteller, ein durch Gegensätze reich bewegtes Leben in Religion, Kunst und Wissenschaft. „Ich stehe"—schrieb Lange 1 ) nach einiger Zeit — „gleichsam im Mittelpunkte von Deutschlands steigender Kultur, kann, wenn ich die Augen auftue, Erfahrungen bekommen, ohne eben alt zu werden, und Klugheit, ohne Schaden zu nehmen." In den Abhandlungen für das Seminar und die Humanitätsgesellschaft finden wir den Niederschlag seiner ausgedehnten Bemühungen durch Anschauung und Umgang mit Kennern und Kunstfreunden seine Kenntnisse in der alten Kunst zu vertiefen. Es entsprach dies einem starken Zug seiner Natur, denn von Jugend auf galt seine Verehrung dem Schönen; an den Meisterwerken der Dichtkunst und durch sinnige Anschauung der Natur, vor allem aber durch die Altertumsstudien bildete er sein ästhetisches Gefühl. Auf seinen Reisen in Deutschland, Böhmen, an der Ostsee und vor allem in Thüringen entzückte ihn die Großartigkeit und Lieblichkeit der Natur.2) „ I c h schreibe dies" — so lesen wir in einem Brief an einen Freund — „ d a die Einsamkeit kömmt. Einsam war ich noch im Garten und wandelte in stiller Betrachtung. Ein linder Hauch des Frühlings durchströmte mich; die Blütenbäume dufteten Wohlgeruch. Alles so still, so sanft feierlich. Da ergriff es mich auf einmal mit unnennbarer Gewalt. Warme Tränen feuchteten mein Auge, ungeduldiger klopfte das Herz, mein Blick fiel verklärt auf die wandelnden Gestirne und traf auf das holde Zwillingsgestirn Kastor und Pollux." Eine Stelle aus seiner Beschreibung des Jubelfestes der Universität Leipzig 1809 charakterisiert besser als lange Ausführungen das Wfesen Langes: „ W i e unter vielen tausenden schweigenden Zuhörern, unter dem feierlichen Glockengeläute, unter den wie zum Weltgericht tönenden Posaunen der schöne Zug sich langsam über den großen Markt im Umkreise desselben bewegte, wie die Fahnen wehten und wie nach vielen Wochen zum ersten Male die Wolken brachen und die Sonne strahlend hervortrat, sinnbildlich das Licht eines neuen Jahrhunderts, o, da hätte ich v o r überschwänglichem Entzücken aufjauchzen mögen, niederwerfen hätte !) J a c o b , Lange. ) J a c o b , Lange.

2

S. X V I I I . S. X X I I I .



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ich mich mögen in tiefer, stummer Andacht und anbeten, vor allem vor dem Großen und Heiligen, das hier in dem unermeßlichen, von keinem Menschenblute befleckten Reiche des Wissens und Forschens sich vereinigte. So einen Moment erlebe ich nicht wieder. Mein Jubiläum war in diesem Augenblick gefeiert."

Enge Freundschaft schloß Lange in Berlin mit Spalding, Heindorf, Kunzmann, Nieröse, vor allem mit Buttmann und Hasselbach. Aber trotz aller Anregungen der Hauptstadt erwachte in ihm immer wieder der Wunsch nach Pforta zu kommen. „Alles, was ich hier habe, wiegt doch nicht zum vierten Teil Pforta auf. Es ist mir jetzt recht klar geworden, daß ich ohne mein Wissen und Willen immer meinen Studien eine solche Richtung gegeben habe, als sollte ich dort einmal mit Hand anlegen. Meine Materiedien, meine Lektion, meine Ansicht der Pädagogik, der alten Literatur usw, alles ist mir auf den Pfortaischen Meridian gestellt." Im Jahre 1804 sollte sein Sehnen in Erfüllung gehen. Nach dreijährigem Berliner Aufenthalt kam er, 26 Jahre alt, an die Wirkungsstätte, die er bis zu seinem Tod nicht mehr verließ. Am 14. Mai 1804 erfolgte seine feierliche Einführung. Die bei dieser Gelegenheit gehaltene Rede 1 ) gewährt einen tiefen Einblick in seine Berufsauffassung. Der rechte Lehrer und Erzieher — so führte er aus — ist sich stets bewußt, daß er „mit Gottes Geschöpfen nicht Jahrmarkt spielen darf". „ D i e Nemesis, die allen Übermut straft, hat auch über viele der neueren Erzieher gewaltet, die sich erdreisteten, dies zu tun." E r ehrt in der Jugend ein ihm anvertrautes Gut und bemüht sich, die jedem Alter eigentümlichen Gaben zu pflegen und zu erhöhen. F ü r die Gegenwart arbeitend, ist er sich bewußt, am treuesten für die Zukunft gearbeitet zu haben. Sein Hauptziel ist Förderung des Guten und Ausbildung jeder Kraft, Fernhaltung aller schädlichen Einflüsse, damit jede Pflanze „durch sich zu ihrer vollkommenen Ausbildung in Blüte und Frucht gedeihe". Als Hauptmittel dient ihm „die Gewöhnung", „die bescheidene Anerkennung einer ewig wirksamen Kraft, ohne welche der Lehrer nichts auszurichten v e r m a g " .

Mit besonderer Freude übernahm Lange sein Amt in Schulpforta, weil hier durch Lage, Verfassung und Tradition, wie er selbst an sich erfahren durfte, eine der Hauptvorbedingungen erfolgreichen Unterrichtes und wirksamer Erziehung erfüllt war. Der rechte Geist belebte alle. Hier gedieh, fern von den Geräuschen der Welt, das innere Leben, aus dem allein die wissenschaftliche und künstlerische Bildung hervorgeht, gesichert vor allem äußeren Mangel. Die enge Verbindung junger Leute aus allen Teilen Deutschlands, aus verschiedenen Ständen, von verschiedener Erziehung und Bildung sicherte ihnen eine frohe Jugendzeit, stiftete Freundschaften, weckte die geistigen und moralischen Kräfte, gewöhnte an Einordnung in ein Ganzes. Ein besonderer Vorzug Pfortas war endlich ihr alter, festbegründeter und wohlverdienter Ruhm. 1

) J a c o b , Lange.

S. 291 ff.

— 27 — „Ein Pförtner zu heißen, müsse immer so viel bedeuten als an Kopf und Herz gesund sein, die Grundlagen aller Wissenschaften tüchtig inne haben, vertraut sein mit dem Geist der Alten und einen sicheren und empfänglichen Sinn besitzen für alles Große, Gute, Wahre und Schöne." Mit einer ernsten Mahnung an die Jünglinge, ihre Lehrer ebenso zu lieben wie ihre Studien, schloß Lange. Als sie an ihm vorüberzogen und „viele nicht ohne den sichtbaren Ausdruck ihrer Liebe" ihm die Hand reichten, wie ein Kind seinem Vater oder wie ein Freund seinem Freunde, „ohne Spur eines gehässigen Zwanges", 1 ) da wußte er, daß er den richtigen Ton getroffen hatte, daß das Band des Vertrauens geknüpft war. Auch der jugendliche Thiersch befand sich unter ihnen. Er sollte in Lange den treubewährten Freund finden, der ihm nicht nur in religiösen Zweifelsfragen wertvollen Rat erteilte, sondern auch tiefgehend seine Studien beeinflußte, von dem Goethes Wort gilt, „daß es eine wahre Gottesgabe um einen so weisen und sorgfältigen Freund sei". Denn er verband mit großen körperlichen Vorzügen gründliche Gelehrsamkeit und ein seltenes pädagogisches Geschick. An seine Schüler stellte er hohe Anforderungen und er durfte es tun, weil er ihnen unermüdlich mit gutem Beispiel voranging. Um sie zu einer allseitigen Erforschung des Altertums anzuleiten, drang er auf ein sorgfältiges grammatisches Studium und auf Entwicklung kritischen Urteils durch umsichtig betriebene Handschriftenkunde. E r selbst war zu durchdringender Anschauung der klassischen Welt gelangt und betrachtete sich zeitlebens als ein Priester dieses Heiligtums. Ergriffen von der Vollendung der altertümlichen Menschheit, begeisterte er die jugendlichen Gemüter für diese Welt. „Das Altertum zu einem Gegenstand einer lebendigen Anschauung zu machen, Sprache, Verfassung, Sitten, Gebräuche desselben in den rein menschlichen Gesichtspunkt zu stellen, die Erscheinungen der alten Zeit nicht bloß in ihrem Verhältnis zur Reflexion, sondern auch in ihrer Wirkung auf Gemüt und Gefühl aufzufassen, einzelnes nicht in seiner Vereinzelung, sondern immer in seiner Verbindung mit dem Nahen und Fernen zu betrachten, darum auch hinabzusteigen in die niederen Kreise des Volkes, in den Verkehr des alltäglichen Lebens, kurz das Altertum so anzusehen und zu behandeln wie den Staat, in dem wir eben leben, und die einzelnen Völkerschaften desselben wie nachbarliche und befreundete Familien, ist eine Aufgabe, deren Lösung als die Blüte und Frucht aller Altertumskunde gelten zu können scheint." 2 )

s

J a c o b , Lange. ) J a c o b , Lange.

S. X X . Brief an Caspari. S. X X X V I I I .



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Auf Grund sorgfältigster Studien von Abgüssen, Kupferwerken und den Nachrichten der alten Schriftsteller verstand es der für Schönheit so empfängliche Mann, die Jugend in die plastischen und darstellenden Kunstwerke der Antike einzuführen. Diese Kunstliebe, in seinem sittlichen Seelenadel wurzelnd, bestimmte die vorwiegend archäologische Richtung seiner philologischen Studien. „Wer die griechische Vorwelt" — pflegte er zu sagen — „nur durch das Wort sieht, der betrachtet sie nur mit einem Auge". Er war überzeugt, daß die Griechen als Künstler noch mehr und noch Größeres leisteten denn als Staatsmänner, Könige, Weltweise und Schriftsteller. Seine archäologischen Studien fanden lebhaften Beifall; sie beruhten auf grammatischer Kenntnis, unbefangener Erklärung der alten Schriftsteller und angeborenem Schönheitssinn. Eine Archäologie, die geringschätzig auf die Philologie herabsah, technische Einsicht und Fertigkeit besonders betonend, wies er entschieden ab. Mit der Archäologie verband er feinsinnige Studien der Mythologie und Symbolik. Besonders tief wirkte Lange durch seinen lebendigen Vortrag auf dem Katheder, wenn er die alten Klassiker erklärte. „Um 8 Uhr hatte ich griechische Stunde, in der ich die Apologie des Plato zü lesen anfing. Ich kann auf dies Stück nicht kommen, ohne warm zu werden, und heute gab es Augenblicke eines hohen Enthusiasmus, den ich diesmal nicht in die Brust zurückdrängte. Gewiß, du teilst mit mir das Entzücken, das dieses vortreffliche Denkmal des Altertums bei wiederholtem Lesen in dem Gemüte jedes Lesers hervorbringen muß. Wüßte ich doch nicht leicht ein Werk, das dem Geist so viele gesunde Nahrung und dem Herzen ein so köstliches Labsal böte." 1 )

Lange wollte — das zeigt diese Briefstelle deutlich — aus seinen Schülern nicht bloß Philologen bilden; durch gründliche Methode und sorgfältigste Stoffauswahl gedachte er ein die Form und den Geist der alten Klassiker gleichmäßig umfassendes Verständnis zu entwickeln. In den oberen Klassen, die Thiersch damals besuchte, machte Lange die Kritik nie zum Hauptgegenstand, versäumte sie aber auch nie ganz; metrische Untersuchungen trieb er maßvoll. Im Lateinischen pflegte er besonders einen fließenden und reinen Ausdruck. Nachdrücklich überwachte er den Privatfleiß seiner Schüler durch Anlage von Adversarien, Exzerpten aus gelesenen Schriftstellern, kleinen lateinischen Abhandlungen, Übersetzungen, metrischen Versuchen. Unermüdlich korrigierte er diese Arbeiten. Mit einigen ausgezeichneten Primanern hielt er Disputierübungen. In Oberprima erteilte er jahrelang Unterricht in Archäologie und Literaturgeschichte. Mit begeisterter Liebe hing er an den großartigen Denkmalen der deutschen Baukunst; die deutsche Sprache hielt *) J a c o b , Lange.

S. XLIV.



29 —

er für das edelste der uns von den Vorfahren hinterlassenen Güter. Selbst ein tieffrommer, guter Mann von feinstem Gefühl für die Bedeutung religiöser Gesänge, wußte er in den gemeinsamen Andachten auf das Seelenleben seiner Schüler unmittelbar einzuwirken. Trotz der täglichen Beschäftigung mit dem klassischen Altertum war er ein aufrichtiger Christ. Unter der Leitung dieses Lehrers konnte Thiersch seine Studien in Pforta abschließen. Was sie für ihn bedeuteten, faßte er 1809 in die Worte 1 ) zusammen: „Ich lernte dort seit meiner frühen Jugend, was man in Büchern leicht übersieht, aus eigener Erfahrung, daß Jünglinge nicht dann, wenn sie die Arbeit als ein Geschäft betrachten, das neben anderen Geschäften einen Teil ihrer Zeit und Kräfte einnimmt, sondern nur dann wissenschaftlichen Sinn fassen und ein Leben für die Wissenschaften und in denselben verstehen und liebgewinnen lernen, wenn sie das Studium zum einzigen Geschäft desselben machen und abgezogen von dem Tand und den Zerstreuungen um sich her in sich selbst zurückkehren und durch anhaltende Arbeit an allen Kräften des Geistes erstarken." Die maßvolle Arbeit hinderte nicht die Entwicklung seines Körpers, und mit Genugtuung konnte er feststellen, daß unter seinen zahlreichen Jugendfreunden nicht einer durch anhaltenden Fleiß geschädigt worden war. So wurde es ihm Bedürfnis sich zu rühren und anzustrengen. ,,Da ihm als Gegenstände seines Bestrebens vorzüglich Studium der alten Sprachen und Lesung der in ihnen geschriebenen großen Werke geboten waren, so hatte seine Kraft und sein Eifer den schönsten Stoff, in welchem sie sich zeigen konnten." Allerdings wurde alles Formelle im Betrieb der Studien, sowie die Aneignung von vielerlei Kenntnissen ferngehalten; dadurch entstanden manche Lücken in der Ausbildung. Aber der Geist der wahren „studia liberalia" wehte noch weckend und stärkend und Thiersch durchdrang sich mit der Überzeugung, daß eine Erziehung für die Wissenschaft die beste Vorschule für die Anforderungen des Lebens sei. Als er später eine strenge theologische Prüfung in Dresden bestand und Verhandlungen wegen Übernahme einer Sekretärstelle in Paris bei A. L. Miliin führte, wo noch ganz andere Wissenschaften als die seines Berufes erfordert wurden, — neben tiefer Kunde des Altertums und der alten Kunst umfassende Kenntnis der neuen Sprachen —• konnte er rückblickend über die Ergebnisse seiner Schulzeit in Pforta urteilen: „Meine Erziehung, auf wenige Gegenstände beschränkt, die von der praktischen Wirklichkeit entfernt und größtenteils im Altertum waren, hatten mich nicht, wie ein bekanntes Vorurteil für unvermeidlich hält, zu Einseitigkeit und Pedantismus verbildet." Ein volles Verständnis für „Einheit, Freiheit und Selbsttätigkeit" — so hat Paulsen 2 ) vortrefflich die wesentlichen Momente des Schulbetriebes in Pforta zusammengefaßt — das war für Thiersch das wertvolle Ergebnis seines Jugendunterrichtes; in ihnen sah er zugleich die Vorbedingungen der Freude und des Gelingens. Schon hier schlummert der Gegensatz, der ihn später mit dem Leiter des preußischen Schulwesens in harten Konflikt führen mußte, wo alles „auf die Dreiheit gestellt war: ' j ^ L o e w e , Schulkampf. S. 56/57. ) Gelehrter Unterricht. Bd. I. S. 412.

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— 30 — Allseitigkeit, Aufsicht, Prüfungen". Gleichzeitig erwachte die Liebe ;zu den klassischen Studien. In zierlichem Latein entwickelte seine Valediktionsarbeit „de origine Hexametri" den Ursprung dieses Verses aus der Orchestik der Griechen, schon vorher hatte er seine Anschauungen über Xenophons Kyropädie als geschichtliches und philosophisches Werk ebenfalls lateinisch in einem Brief an Lange niedergelegt. 1 ) Dazu gesellte sich dann die beglückende Erfahrung durch strenge wissenschaftliche Arbeit auch fürs Leben gebildet zu sein. Daß eine so stark ausgeprägte Individualität wie Thiersch diese persönlichen Eindrücke in seinen späteren Lebensstellungen mit allem Nachdruck vertrat, bedarf wohl keiner näheren Ausführung.

II. Kapitel.

Die Universitätsjahre 1804—1809. Der Grund war gelegt; in Leipzig sollte der Bau aufgeführt werden. Mit zwanzig Jahren bezog Thiersch die Universität um nach dem Wunsche seiner Eltern und seinem eigenen Entschluß entsprechend Theologie zu studieren. Indessen hatte die theologische Fakultät ihren Höhepunkt, den sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Crusius und Ernesti erreicht hatte, bereits überschritten. Der Prälat Burscher, in dem sich selbstgefällige Ueberhebung mit Gutmütigkeit mischte, war wenig geeignet wissenschaftlichen Anforderungen zu genügen. Der Primarius Johann Georg Rosenmüller war der Vertreter einer milden, vermittelnden Theologie; die von Kant geforderte moralische Schriftauslegung verwarf er; die klaren Aussprüche der Heiligen Schrift hielt er für ebenso maßgebend wie die Grundsätze der unbefangenen Vernunft. Nur von einem Theologen, Theophilus Keil, empfing Thiersch lebhafte Anregung, die sich freilich nicht auf seine Glaubensauffassung erstreckte. Voll Teilnahme hörte er nämlich dessen gewöhnlich für trocken gehaltenen Vorlesungen über Dogmatik, die mit Gründlichkeit, Besonnenheit, lichtvoller Deutlichkeit und Wahrheitsliebe gehalten, ihn mit steigender Bewunderung erfüllten und auf seine Art wissenschaftliche Probleme zu behandeln und zu lösen einen sehr wohltätigen Einfluß übten. Keil 5 ) war durch Ernesti und Morus veranlaßt worden neutestamentliche Schriftauslegung zu treiben. Den Bestrebungen, des T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 14/15. *) R.E. Bd. X , S. 196.

— 31 — Morus folgend, der Semlers Lehre, die Heilige Schrift als Produkt ihrer Zeit zu betrachten, mit Ernestis rein grammatischer Interpretationsmethode verknüpft hatte, vertrat Keil den Geist eines „moderierten Rationalismus". Eine poetische Deutung oder . eine philosophische Apologie des Dogmas in Schleiermachers oder Schellings Art war in Leipzig unbekannt. Von Keil abgesehen, der ihm nur sein kritisches Bedürfnis befriedigen konnte, fühlte sich der junge Student namentlich von den Vorlesungen aus dem Gebiet der Theologie abgestoßen; ähnlich erging es ihm mit Vorlesungen über Mathematik, Philosophie und Naturkunde. Tiefe Unzufriedenheit bemächtigte sich seiner. 1 ) Er spürte nach einem Vierteljahr qualvollen Tastens das Herannahen einer Krisis, die vielleicht für sein ganzes Leben entscheidend sein würde. Aus einem Brief, den er in dieser Verlegenheit an seinen vertrauten Freund Lange in Schulpforta schrieb, sehen wir, daß es die Berufswahl war, die ihn quälte. Erzogen im Gefühl dankbarer Anhänglichkeit gegen seinen Großvater und seine Eltern, sah er mit schwerem Kummer seine Neigung für das Fach der Theologie täglich schwinden; er empfand es als traurig sein ganzes Leben und die Fülle seiner Kraft einem Gegenstand zu widmen, den man bei richtigem Gefühl bald erfassen und sich seiner bemächtigen könne, „indes ein jahrelanges Studium seiner Formen unsere reine Ueberzeugung stören wird, ohne sie zu ändern." Auch schreckte ihn eine hoffnungs- und gänzlich wirkungslose Arbeit vor einer Schar unachtsamer Zuhörer. „So ganz wirkungslos aus der Welt zu scheiden, ist doch ein trauriger Gedanke." Daß seine eigene religiöse Stellung unerschüttert war, zeigen die schönen Worte an den Freund: „Sie kennen meine Ansicht der Religion und ihres Stifters, wie sie sich unter heftigen Kämpfen meines kindlichen Glaubens in meinem Innern gebildet hat, und die Stunde, in welcher wir beide darüber sprachen, wo sie noch mehr Farbe und Festigkeit erhielt, wird mir immer heilig sein." Im Gegensatz zur Theologie lockte die Philologie, glänzend vertreten durch Gottfried Hermann,2) den einer seiner bedeutendsten Schüler, Köchly, mit vollem Recht „einen akademischen Pädagogen ersten Ranges" genannt hat. Und dieser Mann mußte auf den hochbegabten Jüngling um so stärker wirken, weil er nicht nur seine Lehre in seiner Person verkörperte, sondern auch infolge seiner ganzen Naturanlage manchen wesensverwandten Zug besaß. Er konnte die Kräfte,

2)

T h i e r s c h * Biographie Bd. I, S. 28, Brief an Lange. L o e w e , Schulkampf, S. 58ft.

— 32 — die in Thierschs Natur schlummerten und durch den Besuch in Schulpforta geweckt worden waren, noch weiter entwickeln und vertiefen. Wie Hermann durch das Studium der Kantischen Philosophie den Begriff und die Methode, aber auch die Schranken des Denkens und Wissens lernte, so lehrte er auch seine Schüler unermüdlich: „Glauben ist Nichtwissen; Wissen aber heißt nicht zufällige Kenntnisse im Gedächtnis haben, es ist vielmehr Erkenntnis von Wesen, Grund und Ziel jeglichen Dinges einerseits und klare Entwicklung dieser Erkenntnis andrerseits." Mit unerbitterlicher Strenge drang er auf Klarheit und Schärfe des Denkens. „Klarheit der Begriffe und richtiges Denken", pflegte er oft zu sagen, „macht den Gelehrten." In den Vorlesungen über Aeschylus und Homer, die Thiersch mit Begeisterung hörte, besonders aber in den Uebungen der Griechischen Gesellschaft fand er reichlich Gelegenheit an fruchtbaren Stoffen aus den Gebieten der Philosophie, der Politik, der Kunst und Religion im Feuer des Wortgefechtes unter der Leitung eines genialen Lehrers, gerade diese Seite seines Geistes auszubilden. Hier gewann seine Sprache jene Klarheit und Folgerichtigkeit, die ihn zu einem so gefürchteten Gegner in wissenschaftlichen Streitigkeiten machte. Mit beißendem Spott traf er alle, welche sich unklar auszudrücken pflegten. Den Eindruck der Vorlesungen schilderte Thiersch später mit den Worten:*) „ J e d e seiner Vorlesungen über griechische Schriftsteller konnte für sich als ein Kunstwerk betrachtet werden, in dem die Entdeckung des Schwierigen, die Beleuchtung des Dunkeln, die Heilung des Schadhaften auf das innigste vereinigt und in das schönste Ebenmaß und Verhältnis gebracht wurde, wobei sein Scharfblick und die aller Hilfsmittel mächtige Kenntnis der Sprache noch durch die ganz ausnehmende Gabe einer ebenso raschen als klaren und gleichmäßigen Darstellung unterstützt wurde." „ D e r Agamemnon, besonders seine Chorgesänge gewinnen unter seiner Meisterhand eine fleckenlose, reine Gestalt." 2 )

Nicht minder wichtig war es, daß Hermann seine Schüler veranlaßte sich zunächst auf einen kleinen Studienkreis zu beschränken, da das Interesse an einem Gegenstand erst dann erwache, wenn er mit einiger Sicherheit beherrscht werde. In diesem Sinne schrieb Thiersch aus Anlaß eines Jubelfestes an Schulpforta. Hier klingt bereits jener Ton, der seinen Lehrplan von 1829 beherrscht: non multa, sed multum. Zu einer Zeit, da es noch keine vergleichende Sprachwissenschaft gab, entwickelte Hermann seine tief durchdachte Lehre von der Sprache als dem höchsten Kunstwerk des menschlichen Geistes. Die Aufgabe 2

Gelehrte Schulen Bd. II, S. 1 1 5 / 1 1 6 . ) T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 30.

— 33



der Wissenschaft ist es ihre Gesetze kennen zu lernen. Was sich der junge Thiersch in Schulpforta ersehnt, wozu er in mühevoller Arbeit den Grund gelegt hatte, das fand er bei Hermann: eine wissenschaftliche Begründung der Sprachgesetze. In diesem Sinne faßte er auch seine Arbeit, als er 1808 seine Tabellen über das griechische Paradigma veröffentlichte; in allen seinen Werken begegnet uns die gleiche Wertschätzung der Sprache. Hermanns Einfluß auf Thiersch ist jedoch mit der Ausbildung einer streng logischen, auf schärfster Begriffsbestimmung aufgebauten Methode, wie philologische Probleme der Kritik und Exegese zu handhaben und zu lösen sind1), und der Hochschätzung der Sprache als Kunstwerk noch nicht erschöpft. In Vorlesungen und Uebungen bot er ihm auch die reichste Anregung für die richtige Art die Schriften der alten Klassiker zu lesen und auf dem Gymnasium zu erklären; genau wies er auf den Unterschied in der Behandlung der Klassikerlektüre in der Schule und an der Universität hin; den kritischen Mißbrauch in der Schule verurteilte er aufs schärfste. „Erklären heißt Wort und Sinn eines Schriftstellers dem jedesmaligen Hörer und Leser nach dem ihm zukommenden Standpunkt zum Verständnis bringen." Nur ein Schriftsteller sollte auf einmal gelesen werden, damit nicht der jugendliche Geist durch die Vielheit der Eindrücke zerstreut werde; ferner forderte er „vieles und verständiges Lesen der Alten"; darunter verstand er das Eindringen in den Geist des Schriftstellers. Wer Thierschs Wirken am Gymnasium in Göttingen und München genauer verfolgt und die Mahnungen liest, die er als Prüfungskommissär in der Pfalz in den Konferenzen der Lehrerkollegien gab, findet überall die tiefen Spuren der Lehren des großen Leipziger Philologen. Ganz besonders wertvoll, wenn auch in Worte schwer zu fassen, war endlich der unauslöschliche Eindruck, den Hermanns ganze Persönlichkeit, die unbestechliche Wahrheitsliebe, sittliche Strenge, echt humane Bescheidenheit und seine Begeisterung für den von ihm erwählten Beruf auf den jugendlich empfänglichen Studenten machte. Ich glaube: die schönen Worte der Zueignung, welche F. Paulsen an seinen Freund Reuter richtete, dürfen auch auf das Verhältnis von Thiersch zu Hermann angewendet werden. „Du hast mir gezeigt, was in der Jugendbildung allein wesentlich und wahrhaftig wirkt: die lebendige Teilnahme des Lehrers für die Sache und die Schüler. Sie weckt lebendige Kräfte in den Seelen. Der Lehrplan tut's nicht und auch der Lehrstoff und die Methode tut's nicht. . . Der Mensch tut's, der selbst von der Sache erfüllt den der L o e w e , Griechische Frage S. 5. L 0 e w e, Friedr. Thiersch.

3

— 34 — Menschenseele eingeborenen Trieb zum Wahren und Guten und Schönen zu wecken weiß." „Hermann war", wie Köchly aus genauer persönlicher Kenntnis sagt, „ein Mann, ein voller, ganzer, aus einem Guß, in welchem die ethische Bedeutung der von ihm vertretenen Studien, quae ab humanitate nomen habent, Fleisch und Blut geworden war, ein Mann der Wissenschaft und des Lebens, Lehrer, Freund und Familienvater — das alles war bei ihm eins; in allem, was er dachte, sprach und tat, war er stets ganz er selbst." In der Schule dieses Mannes durchdrang sich Thiersch mit der Ueberzeugung von dem hohen Bildungswert der klassischen Sprachen und Literatur, einer A . von

Humboldts

Ueberzeugung, wie an

Hermann,

in

dem

sie er

auch ihm

in den

einem

Brief

Tod

seines

Bruders mitteilt, zum Ausdruck kommt: „Der Geist des klassischen Altertums hat in neueren Zeiten wohl nie einen Staatsmann so durchdrungen, als wie den Abgeschiedenen. A u c h von der Seite kann er als ein Zeuge und Beweis dastehen, daß begeisterte Kenntnis der alten Welt auf Energie des Charakters und edle Sinnesart wirke." Wertvolle Ergänzungen seiner philologischen Anschauungen boten Thiersch gelegentliche Besuche seiner Freunde in Halle. Die Berichte 1 ) über die Eindrücke in Wolfs und Schleiermachers Kollegien

zeigen

eine überraschend gute Beobachtungsgabe und Reife des Urteils. „Vorzüglich gefällt mir" — so lesen wir über einen Homervortrag Wolfs — „die Leichtigkeit, mit der er ihn ungeachtet der größten Gründlichkeit seiner Interpretation, zu behandeln weiß, daß man ihn tagelang hören möchte, immer unterhalten von seiner Laune und den überraschenden Resultaten seiner Untersuchungen, die ihm, jede einzelne, vielleicht monatelangen Fleiß gekostet haben und sich nun wie Schneeflocken, von seinem Witz getrieben, vorüberjagen." Von einem Kolleg über den Menon des Piaton heißt es: „Sie kennen wohl seinen schönen und so anspruchslosen Vortrag; als ob es in leichter Unterhaltung geschehe, wirft er die herrlichsten Bemerkungen wie im Vorübergehen hin; er sitzt gebückt auf seinem Stuhl im Katheder und verschwindet geräuschlos durch das Pförtchen hinter demselben, indes man Hermann in Stiefel und Sporen schon von fern über den Saal herschreiten, dann bald seine laute Stimme erheben und nach allen Seiten Streiche den armen Auslegern austeilen hört. Der feurige Mann gerät in Eifer, indes Wolf alles mit leiser Ironie abfertigt." Das Lateinsprechen des Gelehrten gefällt dem in Hermanns Schule erprobten Studenten gar nicht.

D i e Vorträge

über

die

alte

Kunst

erregen seine Kritik, wenn er auch von herrlichen Erörterungen und Gesprächen berichtet, die in dem auf die Vorlesungen folgenden Conversatorium mit unterlaufen. Im Seminar stoßen ihn die seichte Wort- und Sacherklärung ab. l)

T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 31/32.

— 35 — „Kein Funken Kritik, die er mit Händen und Füßen hinausstößt; ,das lassen Sie mant sein,' sagt er, wenn Konjekturen hervorgucken und tippt sie so lange auf die weichen Köpfchen, daß sie gar absterben und keine andere mehr wagt, ihr Häuptlein aus dem Strome der Seichtigkeit zu erheben.1)

Ueber Schleiermacher äußerte sich der Zwanzigjährige: „ E r ist ein tiefer, klarer Denker und im Vortrag kommen ihm seine Ideen nicht vom Papier entgegen, sondern sie gehen hervor aus der reinsten augenblicklichen Anschauung. Das tiefe ruhige Auge in dem braunen, edeljüdischen Gesicht, der Ausdruck, mit dem jeder Gedanke es zu beschatten scheint, bevor er an das Licht tritt, der bedeutende Zeigefinger, der an der Augenbraue liegt, die volle Stimme und die reine wunderbar geflochtene und runde Sprache, in der sich sein Vortrag bewegt, hielten mich, daß ich kein Auge von ihm verwenden konnte."

Mit Bedauern fügt er hinzu, daß Schleiermachers Kolleg wegen der Höhe seiner Anforderungen an das Mitdenken der Studenten nur schwach besucht sei, während ein Schellingscher Schwärmer, Keisler, ein gedrängt volles Auditorium habe, weil er verkünde, den Verstand könne man ruhig zu Hause lassen, die Philosophie sei bloß zur Anschauung des Absoluten durch die unendliche Potenz der organischen Denkkraft. Einen interessanten Einblick in die Wirkung der griechischen Klassiker auf den begabten Jüngling zeigt ein Leipziger Brief von 1806. Außer von Homer und den griechischen Tragikern fühlte sich Thiersch besonders von Piaton angezogen. Die Bücher der Republik erscheinen ihm als das größte menschliche Werk. Noch wagt er nicht über ihn zu urteilen, weil er kaum den dritten Teil seiner Werke kennt; aber unwiderstehlich lockt ihn „eine ganz eigene Welt in diesem Kopf, so groß und erhaben, als er selbst über seinen Zeitgenossen steht". Die Form versagt ihm, „wenn er die Seraphsflügel seiner Ideen in Begriffe binden muß, deswegen bricht er die Fesseln, wo er kann, und schwebt auf, ein herrlicher Schwan, in Poesie und wonneschauerndem Gefühl seiner Gottheit; aber es ängstigt ihn, wenn er den Begriff an den Begriff schulgerecht schließen soll, wie den Pegasus, der ihn zieht. Oder ist es nicht groß, daß er selbst zuerst die überfliegende Kühnheit hatte, Wahrheit nicht im Begriff, sondern in der Idee zu suchen, darin das Göttliche und Ewige zu erkennen, woran sein grammatischer großer Schüler zu bändigen hatte um sie in den Begriff herabzuziehen und der Welt verständlich zu machen ?" Enthusiastisch schließt Thiersch seine Betrachtungen: „Plato ist noch von keinem Menschen verstanden worden und wird nie von einem Menschen verstanden werden, des bin ich mir völlig bewußt." 2 )

In der Philosophie hörte Thiersch Carus und den einst viel gefeierten Ernst Platner. Jener vermochte ihn durch sein trockenes System nicht zu fesseln; vieles, worauf der Hörer begierig war, wurde nur gestreift oder gar nicht erwähnt, vieles, was ihm heilig war, fügte sich J

) T h i e r s c h , Biographie I, S. 33; K e r n , Wolf S. 22, 32, die vollständige Ablehnung des Thierschischen Urteils, da es nur auf einem flüchtigen Besuch des Studenten beruhe, scheint nicht hinreichend begründet. *) T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 37, Brief an Krehl.

3*

— 36 — ganz bescheiden in einen Winkel des Systems; der Gang des Psychologen durch die Labyrinthe von Kräften und Vermögen stieß ihn ab. Dieser gefiel ihm trotz seiner Weitschweifigkeit und seinen oft schiefen Ansichten aus einem besonderen Grund: „Ich finde oft meine eigenen Ideen überraschend bei ihm wieder, oft habe ich sie besser als er und da freue ich mich wieder. Auch macht es mir Spaß, ihm manchmal Viertelstunden in einem Gewinde nachzugehen, worin er sich verirrt hat und da Dinge nacheinander vorbringt, die einen drei Schritte vom Leib halten. Doch er ist immer der Paradoxe und manchmal kommen wie Blitze Ansichten und Erörterungen, über die ich in Versuchung gerate, ihn für ein Genie zu halten wie etwa den Rousseau." Die Deutung dieser Briefstelle ist schwierig. Der stärkste Gegensatz zwischen Platner und Thiersch bestand wohl in religiöser Hinsicht; denn Platner vertrat, Kant ablehnend, den Standpnkt eines weisen Skeptizismus; Thiersch dagegen war, wenn auch sein Kindheitsglaube aufgehört hatte, religiös stark interessiert und positiv gerichtet. Wohl aber könnte in den ästhetischen Anschauungen eine Erklärung für Thierschs anerkennende Worte zu finden sein.. Platner war, wie Bergmann in seinem interessanten Buch ausführt1) der Begründer der deutschen Kunstphilosophie, indem er, Leibniz' Ideen weiterbildend, das Wesen des künstlerisch Schaffenden geistvoll erläuterte. In fesselndem, zum Selbstdenken anregenden Vortrag vertrat er Lessingsche, Herdersche und Winckelmannsche Ideen, wurde zum Propheten des IRousseauschen Naturevangeliums, der erste hervorragende Kritiker Kants. Indem er schöpferisch-philosophisches Talent, systematisches Bestreben und lebendige, auf zahlreichen Reisen gesammelte Kunsterfahrung in sich vereinigte, wurde er der Verkünder von Ideen, die in inniger Verknüpfung mit der deutsch-klassizistischen Kunstlehre von Moritz und Goethe stehen. Thiersch war, wie wir in anderem Zusammenhang noch sehen werden, eine stark künstlerisch angeregte Natur und erkannte in der Kunst eine Offenbarung des Göttlichen. Der Künstler schafft nach seiner Ansicht wie der Weltenschöpfer selbst. Wie anregend muß es für ihn gewesen sein, aus Platners Mund ein so entschiedenes Bekenntnis zum Deutschtum in Sprache und Wissenschaft zu hören oder seinen Ausführungen über den „Geschmack" zu lauschen. „Geschmack ist Liebe zur Natur; wo Natur ist, da ist Freiheit und Unabhängigkeit." Das letzte Semester benützte Thiersch um der Reihe nach alle theologischen Disziplinen für sich durchzuarbeiten, die zu einem voll!) Einleitung S. 6ff.

— 37 — ständigen theologischen Kurs für nötig gehalten werden; dabei wurde ihm besonders klar, wie segensreich der Geist ist, mit welchem auf den norddeutschen Universitäten die wissenschaftlichen Dinge behandelt werden, nach welchem ein jeder bei Anordnung und Führung seiner Studien eine fast unumschränkte Freiheit hat und demjenigen nach eigenem Urteil nachgehen kann, was ihm zusagt und ihn bildet. Im Frühjahr 1807 bestand Thiersch zu Dresden das Examen. Das Thema der Probepredigt lautete: „Welche Hoffnungen gründet die christliche Kirche auf ihres Stifters fortdauernde Sorge für ihr Wohl?" Sie gab dem jungen Kandidaten Gelegenheit seine Ansicht über das Wesen der Religion und des Christentums zu äußern. Die einseitige Verstandesbildung und die stets wachsende Erkaltung und Verarmung der Gemüter erkennt er als die tiefsten Ursachen des Verfalles des Christentums. „Die Religion kann nur da als in einem fruchtbaren Boden Wurzel schlagen, wo Glaube, Liebe und Vertrauen die Herzen erfüllt und den Samen himmlischer Lehre befruchtet; 1 ) nur dann werde die Süßigkeit der Lehre, daß wir Gottes Kinder sind durch Christus, verstanden, nur dann werden wir in Christo bleiben, bis daß erscheine, was wir sein werden, Miterben seiner Herrlichkeit." Der Rationalismus der Leipziger theologischen Fakultät hatte nicht vermocht die Einflüsse zu zerstören, die das Vaterhaus und vor allem die Mutter auf ihn ausgeübt hatten. In Dresden sah Thiersch in dem japanischen Palast die erste Sammlung antiker Kunstwerke. Die Welt des bildenden Altertums war ihm bis dahin ganz fremd geblieben und umstand ihn jetzt wie ein großes Rätsel, dessen Bedeutung zu erforschen er durch die ernste Schönheit und große Eigentümlichkeit der zu ihm sprechenden plastischen Gestalten sich gedrungen fühlte. Gleichzeitig besuchte er eine reiche Gemäldeausstellung. Die tiefen Eindrücke, die er dort erhielt, fanden ihren Niederschlag in einer Reihe von Elegien, die in Wielands „Neuem Deutschen Merkur"2) Aufnahme fanden und für Thierschs künstlerische und religiöse Anschauungen in jener Zeit interessantes Material liefern. E r wählt drei Bilder von Kügelgen, „Adonis", „Moses" und „Christus" und die „Marien am G r a b " von Hartmann. „ D i e Kunst erschließt" — so betonen schon die einleitenden Verse und künden Gedanken, die später in den Vorlesungen über Ästhetik eine Rolle spielen — „die Gebiete der Schöpfung, ein unendliches Reich der Gestaltung, wo sich Blühen und Sein wiegen in Wechselumfang, gleich dem erschaffenden Wehn über dem Schoß der Natur, ') T h i e r s c h , Biographie B d . I, S. 27. 2 ) 6. Stück 1807, Bd. II, S. 5 7 f f .

— 38 — daß der Gestalt urheilige Form aufgehet in Klarheit Und in die Heimathöhn schwebet das göttliche Bild." In der ersten Elegie bewundert Thiersch tief entzückt die in süßer Enthüllung erscheinende Göttergestalt des jugendlichen Adonis und trauert, daß so große Schönheit zugrunde gehen muß. Der Anblick des Moses, dessen forschender Blick sich in die Wolken erhebt, läßt ihn ahnen eine Erscheinung, „Nicht von dem göttlichen Stamm hellenischer Kraft, Die Homerus schuf im Gewühl der Schlacht selber den Gott zu bestehn. Sondern mit Gottheit schauendem Blick hoch leuchtet Der Abglanz von des Unendlichen Licht Dir in den strahlenden Blick." Moses ist der von der Gottheit begeisterte Seher. Christus erhob sein göttliches Haupt an der Zeit Vollendung, schwebend zwischen den himmlischen Höhen und den Gründen der Erde. In dem Blick des Auges paart sich Ernst und Liebe, die auch sein Mund kündet. Bei diesem Anblick fühlt der Mensch seinen Fall und spürt aufs tiefste den Wunsch ihm nachzufolgen. Bei der Betrachtung der Marien am Grab preist Thiersch die Frauen, daß sie den Engelsruf hörten: „Wohl euch, denen die Ewigen nahn; ihr kennet die Hoheit, Tragt in der ahnenden Brust Wonne der seligen Welt, Daß sie erscheinet allein, wo sie wohnt in der süßen Gestaltung; Denn das Symbol spricht nicht statt dem Gebild in das Herz."

In Dresden kam Thiersch in das Haus Gerhard von Kiigelgens,1) von dem Goethe sagte: „Mensch und Maler waren eins in Ktigelgen und darum werden seine Bilder immer Wert haben." Hier lernte er „als hoffnungsvoller Kandidat der Theologie" auch Schubert,2) den Naturphilosophen, kennen, mit dem er später an der Münchener Hochschule jahrzehntelang gemeinsam arbeiten sollte. In Leipzig fehlte es ihm nicht an ästhetischem Verkehr; mit einigen Schauspielern, Hartknoch, Opitz und Vollbrück, hatte er Umgang; mit Friedrich Richter, dessen Schwägerin in Leipzig wohnte und mit Thiersch befreundet war, trat er in briefliche Verbindung. In der Zeitschrift „Der Freimütige" veröffentlichte er ästhetisch-kritische Aufsätze. Eine wertvolle Ergänzung zu den Elegien, zumal über Thierschs Naturauffassung, bieten seine Briefe aus der Sächsischen Schweiz",3) wohin er von Leipzig aus einen Ferienausflug machte (Sommer 1806). Besonders lebendig tritt uns nämlich hier die Persönlichkeit des jungen Studenten entgegen in einer merkwürdigen Mischung weicher, an die Wertherzeit erinnernder Empfänglichkeit und Schwelgens in Freundschaftsgefühlen und religiösen Stimmungen und eines kraftvoll kühnen Wagemutes im Aufsuchen nicht ungefährlicher Situationen. K ü g e l g e n , Kügelgen. S. 62ff. ) S c h u b e r t , Selbstbiographie Bd. III, S. 700ff. ) 3. Toilettengeschenk, ein Jahrbuch für Damen, 1807, S. 23 ff.

2 s

— 39 — Offenen Auges betrachtet er die Natur und läßt ihre Schönheiten und Schauer tief auf sich wirken. Der Sonnenuntergang, „die Rosenflur des stillen Abendhimmels", die Berge Gottes, die große Natur machen sein Inneres still und wecken die Erinnerung an seine Freundin. Der Blick von der auf einem Bergrücken gelegenen Einsiedelei entlockt ihm die Worte: „Ich erlag fast wortlos dem großen Eindruck. . . . Hier stand Stollberg, als er seinen Gesang: ,In deinen Tempel tret' ich hin, Natur, und bete an,' niederschrieb, hier stand auch Friedrich der Große beim Anfang des Siebenjährigen Krieges und rief: .Mein Gott, in welchem Paradies wohnt der Kurfürst von Sachsen,' denn ein Paradies muß man diese Gegend nennen, in welcher die üppigste Fülle italienischer Fluren sich wunderbar mit dem frischen Charakter der nördlichen Gegenden vertraut hat". Die Aussicht von der „Gans" in den Felsenkessel mit seinen gigantischen Felswänden veranlaßt ihn zu der Betrachtung: „Es drückt das Gefühl des Erhabenen und Furchtbaren wunderbar zusammen, wenn man lange in das Klippengetümmel hinabsieht, und man müßte sich hineinstürzen um ihm einen Weg zu offenen und es auszuströmen." Die Größe und Pracht der Natur stimmen ihn religiös. Beim Gang zur Bastei brach ein furchtbares Hochgewitter los. Thiersch verirrte sich in eine zur Elbe abstürzende Felsschlucht; er genoß das majestätische Schaupsiel der furchtbar widerhallenden Donnerschläge. „Ich sprang voll wilden Mutes empor, als sollte ich zum Kampf fortstürzen; wie Adlerflügel schlang es sich um meine Seele und hob und wog mutig an ihr. So war meine ganze Kraft noch nie aufgeregt worden. Ich hätte hineinspringen mögen in die gähnenden Felsenschlünde um in diesem großen Moment plötzlich unterzugehen." Bald aber trieben ihn ein furchtbarer Platzregen und dicht in seine Nähe einschlagende Blitze unter einen überhängenden Fels, bis die wieder durch die Wolken brechende Sonne ihn auf den Gipfel der Bastei lockte. Unter dem Eindruck der Rundsicht schrieb er: „Ein heiliger Hauch wehte aus der Dank atmenden Natur zu mir herauf, frischte neue Wonne überall, und die Schöpfung, die feiernd auf ihren Knien lag, die leuchtenden Felsenhäupter und die opferdampfenden Altäre rings am Horizont — das alles strömte wunderbar auf mich herein. Ich glaubte den Pulsschlag der Natur in den lautern Schlägen meiner Brust zu vernehmen; reinere Lüfte umwehten mich und trugen die Seele in die Unendlichkeit empor und die Knie beugten sich unwillkürlich: ich sank hin und betete. — Zwar waren es keine Worte, in die meine Gefühle sich lösten; ihr Strom flutete mutig und entführte nur Gedanken der Wonne und meiner Rettung hinauf vor den unnahbaren Thron des Unergründlichen. — Ist dieser Himmelstau, der auf die dürre Hülle der Seele fällt, daß Gefühle wie Blumen hervorsprossen und sie selbst erleichtert die Decke aufschlägt und wonneschauernd herausschaut und die Flügel hebt um sehnend aufzuschweben in die schöne Flur des Himmels, ist das die Andacht und sind diese Gefühle, die Wonnen gelöster Bande, ihre Geleiterinnen und die Schauer der Unendlichkeit und die Ahndungen eines Jenseits schweben über ihr; o so laß uns, meine Freundin, in ihr der Seele einzigen Schatz bewahren und still in unseren Herzen ihn verschließen!"

Der Blick in den Rabenkessel regt ihn zu kunsthistori sehen Betrachtungen an: „In der Tat, die großsinnigen Goten müssen solche Kessel, in denen die Felsmassen amphitheatralisch in wilder Größe sich aufbauen, betrachtet und aus ihnen die Majestät ihrer himmelhohen Arkaden lind die kühnen Schwingungen ihrer Bogen genommen haben, die wahrhaftig nicht wie die griechischen Tempel aus hochgesteigerter

— 40 — Verschönerung des Notdürftigen in der Bauart, sondern nur als Nachahmung erhabener Massen einer wildgroßartigen Natur erklärt werden können." Auch geologisch-physikalische Erscheinungen verfolgt er aufmerksam. Mineralische Quellen erregen ebenso sein Interesse wie die Ueberreste von Muscheltieren, die er in kleinen regelmäßig aneinanderliegenden Höhlungen an den Sandsteinfelsen findet.1) Bei Thierschs tiefer Empfänglichkeit für die Größe und Einfachheit der Natur überrascht es nicht ihn absprechend urteilen zu hören über „gebaute Ruinen, die ein wundersamer Geschmack, der alles mischt und das Seltsame hascht, aufführt". Die Briefe schließen mit dem Wunsch, daß viele jene schönen Gegenden des Vaterlandes kennen lernen möchten. „Wer sich in Dresden an den Kunstschätzen weiden will, tut wohl, erst auf so einer Pilgerschaft das Herz für die Natur zu erwecken." In die Zeit des Leipziger Aufenthaltes fällt endlich noch ein Vorkommnis, das geeignet war Einflüsse,2) die von Hermann auf den jungen Studenten ausgeübt wurden, wesentlich zu vertiefen. Der rege Sinn des großen Philologen für große deutsche Dichter wie Schiller und Klopstock hatte die ideal gesinnte Jugend begeistert. Da kam in den Augusttagen 1804 Schiller selbst auf seiner Berliner Reise nach Leipzig, wurde bei einer Aufführung der „Braut von Messina" erkannt und von der akademischen Jugend mit unermeßlichem Jubel begrüßt. Mächtig wirkte auch auf ihn die lebhafte Teilnahme seines Lehrers an den Geschicken des deutschen Vaterlandes. Mit Ingrimm vernahm er die durch Napoleon verfügte Hinrichtung Palms; sie entlockte ihm in einem Brief an seinen Freund Lange die Worte: „Die Geschichte ist schauderhaft und läßt uns ganz in den Abgrund unserer tiefsten Erniedrigung hinabsehen! Gott! Welch' ein Mann und welch' eine Nation, die hier mißhandelt wird! Möge die der Fluch treffen, deren Zaudern den Tag des Schicksals über das Vaterland geführt hat!" Sein starkes Vaterlandsgefühl lehnte sich dagegen auf, daß die Länder •¡der Rheinbundfürsten romanisiert werden sollen. „Französische Gesetzgebung, Gericht in französischer Sprache, Unterricht auf französischem Fuß, anstatt der Lehrer des Griechischen professeurs de la langue française auf Schulen und Akademien — sind nur einzelne Erscheinungen des Traurigen, das da kommen soll. — Der letzte Streich wird fallen, der auch unser Haupt treffen muß. Dann ist das Letzte x

) H e t t n e r , Sächsische Schweiz S. 293; derselbe, Felsbildungen S. 608ff., 613. ) L o e w e , Griechische Frage S. 4.

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verloren." ) „Preußen rüstet sich und bleibt in seinen Grenzen und will den Krieg dennoch. Das kann nicht gut enden." Wenige Wochen später war der Krieg zwischen Preußen und Napoleon ausgebrochen; während Thiersch eben im Elternhaus verweilte, wurde sein Heimatland Thüringen der Schauplatz der vernichtenden Niederlage von Jena und Auerstädt. Er ritt nach dem Schauplatz des Kampfes, doch die Flucht der Preußen warf ihn zurück. Mit eigenen Augen hatte er die Schmach des Vaterlandes gesehen und er fürchtete für deutsche Bildung und Gesittung. Sein Landesherr trat dem Rheinbund bei. Indes sein Glaube an Deutschlands Leistung blieb unerschüttert. 2 ) Als sein Freund Krehl auf die Deutschen schalt, rief er ihm mahnend zu: „Schilt nicht auf die Deutschen, die sich selbst den Fremdlingen unter das Joch gegeben haben; sie stehen doch über alle erhaben an Gerechtigkeit und weltbürgerlichem Sinn, an Gelehrsamkeit und innerer produktiver Kraft." Voll Stolz weist er auf ihre Leistungen in der Philosophie hin, die nicht, wie Adam Müller meint, nur Fragmente und Blätter aufweise, auf die so überschwenglich reiche Lyrik, „die in Goethe und Schiller ihre höchste Blüte treibt", auf die Dramatik: „Auf dem Weg vom Götz zur Eugenie liegen mehrere, die so rein und hell hervorspringen wie Edelsteine im Sonnenstrahl." Aber ein Gefühl banger Sorge taucht auf: „Wir sind zu beklagen, daß das Schicksal uns die Flügel bricht: unter einem gedemütigten, unterjochten, fremder Willkür und der Schmach hingegebenen Volk ist es keine Freude für das Große zu arbeiten; der Genius trauert nur, wo Gräber sind und Nebel wohnen in den Tälern." Schon in der Universitätszeit zu Leipzig hören wir auch die ersten Klänge des Philhellenismus in einem Gedicht: Klage des Demetrius über sein Volk. Resignierten Stimmungen sich hinzugeben entsprach jedoch nicht Thierschs energischer Natur; er fühlte in seinem Inneren einen gewaltigen Tatendrang, Kräfte, die nicht nur zum Sammeln, sondern auch zum Schaffen sich hinneigten.3) Und so sehen wir ihn von Leipzig nach Göttingen eilen um durch Abschluß seiner philologischen Studien die akademische Laufbahn einzuschlagen. Eine Hauslehrerstelle in Leipzig und das Angebot als Sekretär zu dem berühmten Archäologen Miliin nach Paris zu gehen, hatte er abgewiesen. T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 36. *) T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 37. L o e we, Griechische Frage S. 6.

— 42 — Als Hermanns „Schüler im Geist" verließ Thiersch nach dreijährigem Studium Leipzig, entschlossen in dem neuen Wirkungskreis selbständig weiter auszubauen, was ihm der Meister gelehrt hatte. Der Same, auf fruchtbaren Boden gestreut, konnte sich in Göttingen1) zu reicher Frucht gestalten; denn Thiersch hatte das große Glück hier wiederum einen Lehrer zu finden, der als Mensch und Gelehrter gleich bedeutend war: Ch. G. Heyne, einen Schüler J. A. Ernestis, den Nachfolger J. M. Geßners. Diese drei Männer hatten, an die Bestrebungen Ch. Rollins und der Holländer anknüpfend, die positivwissenschaftlichen Grundlagen des Neuhumanismus2) gelegt und diesen Ideen in den gelehrten Schulen Geltung verschafft, Geßner in Leipzig, Heyne in den Gymnasien Hannovers, besonders in Göttingen. In den Kreis dieser Anschauungen trat Thiersch vornehmlich von dem Wunsch geleitet mit seinem Jugendfreund Dissen die philologischen Studien wiederum gemeinsam zu treiben, nicht bloß als Lernender; sehr bald eröffnete sich ihm auch ein doppelter Wirkungskreis als Lehrer am Gymnasium und an der Universität. Die Bekanntschaft mit Heyne war um so wichtiger als hierdurch Hermanns Einfluß in wesentlichen Punkten ergänzt wurde. Hatte dieser zunächst den Nachdruck auf das Sprachlich-Grammatikalische gelegt, so fand Thiersch bei dem „eigentlichen Schöpfer einer Realphilologie in wissenschaftlicher Form" vor allem ein tiefgehendes Verständnis für die Antiquitäten, die Mythologie und Archäologie der Kunst und eine wissenschaftliche Behandlung dieser Fächer, bei der Interpretation der Klassiker eine stärkere Betonung des sachlichen Momentes. In Thierschs reger Tätigkeit für Sammeln und Erklären der antiken Denkmäler und in seinen Vorlesungen über Kunstgeschichte dürfen wir wohl sicher die Früchte jener Anregungen sehen. Wie sein Lehrer hat auch er über die Epochen der griechischen Kunst eingehende Untersuchungen angestellt. Eine verwandte Saite in Thierschs vielseitiger Persönlichkeit wurde berührt durch Heynes lebendige Teilnahme an den literarischen, künstlerischen, religiösen und politischen Bestrebungen der Gegenwart; stellte dieser doch die großen Ereignisse der französischen Revolution in Vergleich zu den Verfassungskämpfen des Altertums; besonders aber mußte es ihn anziehen, daß Heyne ganz Humanist sein wollte. „Die klassische Literatur war ihm der Mittelpunkt, von dem alles ausging, auf den er alles zurückführte. Er betrachtete sie keineswegs als ein bloßes Hilfsstudium für andere L o e w e , Schulkampf S. 6off. ) Einleitung S. 8ff..

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— 43 — Wissenschaften. Sie war ihm das Mittel zu jener edleren Ausbildung des Geistes für das Wahre, Gute und Schöne. Seine ganze Ansicht des Altertums kann eine poetische genannt werden. Diese Ansicht und die daraus entspringende Behandlung des Altertums mußte dem ganzen Studium einen neuen Reiz und Schwung geben. Er sah es von seiner schönsten und doch zugleich wahrsten Seite an. Hierdurch ward sogleich dahin gedeutet, daß es nicht bloß auf Sprachgelehrsamkeit, daß es vielmehr auf Bildimg des Geschmacks, auf Veredelung des Gefühles, auf Vervollkommnung unserer ganzen moralischen Natur bei diesem Studio abgesehen sei." So erhob Heyne die Philologie aus dem Schulstaub, führte sie in die Kreise der gebildeten Welt ein und war mit großem Erfolg in seinen Vorlesungen, die sich an Hörer aller Fakultäten wandten, bemüht, das klassische Altertum mit den Bildungsbestrebungen der Gegenwart zu verknüpfen. Besonderen Wert legte Heyne auf das philologische Seminar; denn er vertrat die Ansicht: „Mehr Wert als alle Vorschläge von Verbesserungen hat für mich überall ein recht gelehrter und tüchtiger Schulmann, der durch Eifer, Einsicht und angemessene Geisteskräfte bei einer auch fehlerhaften Schulverfassung mehr ausrichten wird, als alle Schulverbesserungen bewirken können, solange es an tüchtigen Schulmännern fehlt und bei unserem Schulwesen durchaus fehlen muß." Daher forderte er auch: „Der lehrende Stand muß in Achtung gesetzt werden, wenn er das, was wir von ihm verlangen sollen, leisten soll. Abgesondert von allem und unter andere geehrte Stände heruntergesetzt, wird er allen Nachdruckes zu dem, was er wirken soll, beraubt. Eine einzige Verbesserung- in diesem Stücke wird mehr Folgen haben als 100 Projekte und Vorschriften über die Methode." Thiersch sollte bald Gelegenheiten finden solche Ansichten zu vertreten und sein mannhafter Kampf für eine Besserung der Lehrerausbildung in Bayern zeigt ihn auch in dieser Hinsicht als würdigen Mitstreiter Heynes. Endlich war es für Thierschs spätere Wirksamkeit im Mittelschulwesen von besonderer Bedeutung, daß Heyne energisch für die Pflege des Griechischen an den gelehrten Schulen eintrat. Schon in einem Vorschlag, den er 1770 dem Minister einreichte um die Gelehrtenschule in Ilfeld im Sinne des Neuhumanismus zu reformieren, finden sich die vielsagenden Worte: „Alle anderen Absichten werden leicht zu erreichen sein, sobald sich nur das Griechische ein wenig wird in Gang bringen lassen; denn dann ist mir für das Latein und die ganzen übrigen Humaniora nicht bange; da hingegen da, wo das Griechische lieget, alles nur Stückwerk ist und alles nur Stümperei bleiben wird." Eine wertvolle Ergänzung dazu bilden die Ausfüh-

— 44 — rangen, die Heyne in der „Nachricht" Uber das Pädagogium zu Ilfeld über das Griechische macht; er entwickelt die Gründe, warum dieses Fach besser betrieben werden soll. Ganz abgesehen davon, daß ohne dasselbe die lateinische Literatur immer lückenhaft bleibt, so ist „das Lesen der großen griechischen Schriftsteller für die frühe Bildung des Geschmackes entscheidend. Größe und Einfalt prägen sich der jungen Seele ein; ich zweifle, daß derjenige, welcher Griechen zu lesen gewohnt ist, sich jemals durch alle die abenteuerlichen Geniestreiche unseres Zeitalters täuschen lassen wird; selbst der jugendliche Enthusiasmus bildet sich nach einem Homer, nach einem Pindar, nach einem Tragiker ganz anders als nach den Produkten einer verstellten oder verfehlten Natur." Freilich muß die Methode des Anfangsunterrichtes wesentlich besser werden. „Der Lehrer muß für den Lehrling alles selbst tun; er muß für ihn Grammatik, Lexikon und Interpret sein, ihm jedes Wort, das er noch nicht wissen kann oder doch nicht weiß, voraus erklären, die Worte stellen, den Sinn entwickeln, ins Gedächtnis prägen, ihm durch die kleine Summe des Erlernten Mut machen." In seinen Vorlesungen war Heyne einer der ersten, der die homerische Sprache grammatikalisch behandelte; besonders sorgfältig erläuterte er in den ersten Gesängen die einzelnen Wortformen; von dieser homerischen Grammatik ging das ganze neuere Studium der griechischen Grammatik überhaupt aus. Diese Anschauungen Heynes fanden in dem vierundzwanzigjährigen Thiersch einen verständnisvollen Vertreter. Bereits 1808 veröffentlichte er als Habilitationsschrift das „Specimen editionis Symposii Piatonis", in der nach Jacobs' fachkundigem Urteil ausgezeichnete Kenntnis des griechischen Altertums und der Sprache mit nicht gemeinem Scharfsinn verbunden waren. Sie ist Heyne gewidmet als „doaig ollyrj ze cpifo] rt". Thiersch schickte ein griechisches Gedicht in Jamben voraus, von dem der Rezensent in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen" sagen konnte: „Eine Seltenheit für unsere Zeit, aber noch mehr wegen der richtigen Sprache und des griechischen Geistes, der darin atmet." Ein strenger Kritiker erstand dem jugendlichen Thiersch in August Böckh; 1 ) zwar erkennt dieser gern den großen Scharfsinn, „die schwertscharfe Kritik" des Verfassers an sowie seine gute Kenntnis der alten Ausgaben, vermißt aber noch Reife und Gewandtheit der Untersuchung und Kraft der Darstellung; am besten gelungen erscheint ihm die Zuweisung des 29. Gedichtes unter den theokritischen an Alkäos; dagegen rügt er die falsche Beurteilung >} Böckh, K!. Schriften Bd. 7. S. 132ff.

— 45 — Piatons als Kompilators, die Thiersch, dem berühmten Kritiker Valckenaer allzu stark folgend, sich zu eigen gemacht hatte. „ W i r halten es für Pflicht, dem Verfasser auf seinem unseres Erachtens ganz unrichtigen Wege zu begegnen und setzen zugleich das Zutrauen auf ihn, daß er bei tieferem und umfassenderem Studium des Philosophen und größerem Überblick von selbst davon zurückkommen und eine würdigere Meinung von der vollendeten Eigentümlichkeit und Selbständigkeit der Platonischen Kompositionen fassen werde." . . . . „ P r ü f t der Verfasser seine Meinungen mehr, beurteilt er mehr aus dem Ganzen das Einzelne als aus dem Einzelnen das Ganze, welches sich bei genauerer Kenntnis des gesamten Plato von selbst ergeben muß, so wird er bei diesem Scharfsinne dem Gastmahle gewiß vielen Nutzen schaffen und wir bringen ihm, in Hoffnung auf die Erfüllung dieser Erwartungen, unseren Dank zum voraus für das Zukünftige dar."

Einen sehr interessanten Einblick in den mangelhaften Sprachbetrieb der Zeit, namentlich im Griechischen, gibt ein undatierter Brief, den Thiersch an August Böckhi) richtete, der damals Professor in Heidelberg war und durch Creuzers Vermittlung mit den Romantikern Clemens Brentano, Achim von Arnim und Joseph Görres in Beziehung stand. Thiersch hatte ihn bei einem Aufenthalt in Halle kennen gelernt und schätzte seine wissenschaftliche Tätigkeit sehr hoch. „Sie, teurer Freund, erscheinen mir als einer der Choregen einer besseren Zeit, der wir uns gemeinschaftlich entgegenbilden." Für die von ihm mitredigierten „Heidelberger Jahrbücher" lieferte Thiersch Beiträge. Am Gymnasium fand er den Unterricht in den alten Sprachen auf klägliche Art betrieben. „Kein Begriff von Sprache, von ihrem verschiedenen Geist, von tieferer Entwicklung der Formenlehre, noch weniger eine gründliche Synthesis der Syntax, welche die einfachen möglichen Beziehungen eines Gedankens vorzeichnen und dadurch Licht auf die Sprache selbst verbreiten könnte; endlich kein Funke pädagogischen Geistes, der das regsame Gemüt der Knaben für die Heldenwelt des hellenischen Altertums zu entzünden imstande wäre; so finde ich in trauriger Ungestalt die Erziehung für das Altertum, die dafür auch Früchte trägt wie Holzäpfel." Er erkannte daher die Notwendigkeit den Schülern durch eine möglichst klar gefaßte Darstellung des griechischen Verbums das Eindringen in das Verständnis der Autoren zu erleichtern. Angeregt von Dissen, Herbart und Kohlrausch, die griechische Etymologie zu reformieren, verfaßte er seine „Tabellen über das griechische Paradigma"; durchdrungen von der Ueberzeugung, daß der tiefe hellenische Geist sich auch in der grammatischen Ausbildung der Sprache nachweisen lassen müsse, geht Thiersch vom Wortstamm des Verbums aus und läßt die Schüler miterleben, wie nach und nach in völlig gesetzmäßiger Weise H o f f m a n n , Böckh, S. 229/30, Thiersch an Böckh (undatiert).

— 46 — durch Anfügung bestimmter, stets gleichbleibender Endungen die einzelnen Formen und Zeiten entstehen. Der Erfolg seiner Methode war ein so überraschender, daß Herbart mit acht Schülern seiner Pädagogik eine Woche lang dem Unterricht beiwohnte um sich darüber zu orientieren. „Ein Stoff, der in den meisten Grammatiken ein so mühsam bearbeiteter Gegenstand war, war mit einer Klarheit und in einem Zusammenhang dargestellt, wodurch er zuerst als ein leicht aufzufassendes Ganzes erscheint." So urteilte Jacobs und nicht minder anerkennend lautete die Rezension Passows in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung". Gelegentlich dachte Thiersch 1 ) eine Grammatik des homerischen Dialektes für seinen Zweck nachfolgen zu lassen und „in einigen Jahren muß wenigstens auf unserer Schule der griechische Unterricht reformiert sein und dem geraden Gang der Geistes- und Sprachentwicklung unter den Griechen gemäß, von Homer ausgehend, durch die Perserkriege des Herodot zu den Attikern, nicht aber den Krebsgang von diesem zu jenem übergehen." Böckhs Arbeiten über die Tragiker verfolgte er mit lebhaftestem Interesse; „denken Sie z. B. dem Euripides außer dem Rhesos noch einige Stücke abzusprechen, so bin ich schon im voraus Ihrer Meinung." Böckhs gewaltiger Plan, die vielseitige Entfaltung der griechischen Kultur in einem „Hellen" betitelten Werk darzustellen, entlockt ihm die Worte: „Macte tua virtute, sie itur ad astra". Thiersch fand mit seinen Arbeiten auch lebhaften Beifall in dem Kreise, der sich in Göttingen aus begabten jungen Männern gebildet hatte zu dem Zweck, in gemeinsamen Unterredungen ihre pädagogischen Ansichten zu besprechen und zu klären. Dazu gehörten G. L. Dissen, F. Kohlrausch, F. K. Griepenkerl. Sie erfuhren dabei die wohlwollendste Unterstützung Herbarts, dem Thiersch 1812 in dankbarem Gedenken schrieb: „Die Erinnerungen an die Stunden, welche ich zu Göttingen in Ihrem belehrenden und vielfach anregenden Umgang hingebracht habe, gehören zu den erfreulichsten meiner Vergangenheit." Sein Metaphysikkolleg hörte er, wie wir aus einem Brief an Krehl s ) entnehmen können, „mit dem schönen Gefühl doch endlich einmal in der Philosophie aufs Reine und — Sichere zu kommen." Wie viele Samen, die hier gestreut wurden, trugen später schöne Früchte; Kohlrausch wurde Leiter einer Anstalt, die er nach seinen !) Ebenda S. 230. *) T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 49.

— 74 — und Herbarts Grundsätzen ausbaute, Griepenkerl wurde in Ilofwyl der Mitbegründer und unermüdliche Förderer der Erziehungsschule Fellenbergs, Thiersch ging nach Bayern, Dissen blieb zunächst in Göttingen. Während sie noch vereinigt waren, hatte Dissen, gleich seinem Freunde Thiersch, in Schulpforta und bei Heyne gebildet, Gelegenheit mit Knaben, die noch nicht Griechisch konnten, die Odyssee zu lesen. Herbart interessierte sich für diesen Versuch um so mehr, als nach seiner Lehre des erziehenden Unterrichts das Studium der Alten mit den Griechen und zwar mit Homers Odyssee zu beginnen hat, und er veranlaßte Dissen die dabei gemachten Erfahrungen niederzulegen. So entstand die Schrift: „Kurze Anleitung für Erzieher, die Odyssee mit Knaben zu lesen." Warm empfiehlt darin Dissen Thierschs Tabellen und spricht die Hoffnung aus, daß sie die alte Methode gänzlich verdrängen werden. Schon war die Arbeit samt dem von Herbart verfaßten Vorwort druckfertig, als Thiersch und Kohlrausch sie lasen und ihre Bereitwilligkeit ausdrückten über einige verwandte Gegenstände ihre Ansichten niederzuschreiben. Die Aufsätze erschienen als erste und zweite Beilage mit Dissens Schrift. Thiersch handelte über die Lektüre des Herodot nach der des Homer, Kohlrausch über den Gebrauch des Alten Testaments für den Jugendunterricht. Thiersch geht von dem Plane aus, der ihn und seinen Freund Dissen schon längst beschäftigte und von Herbart unterstützt wurde. Da sie sahen, daß die griechische Literatur an den Schulen ohne Fortschritt, Ordnung und Zusammenhang betrieben und meist ohne Urteil und Geschmack behandelt wurde, so dachten sie daran einen Kreis von Lehrgegenständen auszubilden, indem sie ,,dasjenige aus den Werken der Alten heraushoben, verbanden und erläuterten, was die Fortschritte der beiden Völker in ihren bedeutendsten Momenten bezeichnet." Als leitende Gesichtspunkte sollten gelten: Beschränkung in der Zahl der Gegenstände, Reichtum und lebendige Anschaulichkeit des Dargestellten, Entwicklung der Sprache von Homer bis zu den Attikernl Thiersch hält die Lektüre des Herodot nach Homers Odyssee für sehr geeignet, wei. in seinem Hauptteil der Kampf der Perser mit den Griechen steht und nachdrücklich die Lehre verkündet wird, daß nicht Leben, nicht Genuß der Güter das Höchste sind, sondern Aufopferung für ein Höheres und der Tod fürs Vaterland. Dadurch wird eine erhöhte Teilnahme für das Volk in den empfänglichen Herzen der Jugend erweckt und sie bildet den Vereinigungspunkt für die verschiedenen Massen griechischer Geschichten, Kunst und Weisheit. „Nur dann wird eine Bildung durch das Altertum, welche die ganze Fülle der jugendlichen Kräfte harmonisch durchdringen und beleben soll, vollkommen gedeihen, wenn sie auf das tiefste Leben des Gemütes gegründet ist." Nach solchen allgemeinen Betrachtungen gibt Thiersch zunächst Winke, wie die Sprache mit den Knaben behandelt werden muß. An sehr glücklich gewählten Beispielen lehrt er die Bildung des einfachen und zusammengesetzten Satzes. Damit aber der grammatische Unterricht nicht ermüde, soll er in die übrige Vorbereitung verflochten werden. Dann führt er die Knaben in die Entstehung des großen Kolonialsystemes ein, das bald alle Teile des Mittelmeeres umfaßte, und stellt dieser frisch aufblühenden

— 48 — Kulturwelt den Orient mit seinen Nomadenstämmen gegenüber; er zeigt den Einfluß der Natur auf den Charakter der Bewohner und die dadurch bedingte Verschiedenartigkeit der Entwicklung in den selbständigen Griechenkolonien und den Despotien des Orients. Karten sollen diese Ausführungen erläutern und dabei bei passender Gelegenheit das Nötige aus der Geographie und Völkerkunde der alten Welt mitgeteilt werden. Dann setzt die Lektüre des Herodot ein. Neben der Umwandlung der Sprache und der Erweiterung des geschichtlichen Schauplatzes wünscht Thiersch als dritte Aufgabe eine Schilderung der verjüngten griechischen Nation, ihrer religiösen, politischen und geistigen Zustände. Als Frucht solcher Arbeit erhofft er, daß die Knaben allmählich zur eigenen Tätigkeit in der Behandlung der Sprache und zum Verständnis jener großen Zeit kommen.

So kurz diese Ausführungen auch sein mögen, so lassen sie doch erkennen, wie unter dem Einfluß Heynes, der mit der Interpretation der Klassiker viel höhere Zwecke als bloße Sprachgelehrsamkeit verband, und Heerens, der von Montesquieu, besonders aber von Adam Smith angeregt, in Vorlesungen und Schriften die Geschichte der alten Völker nach ihren wissenschaftlichen Grundlagen untersuchte, Thierschs Anschauungen über die Behandlung eines Schulklassikers sich gestalteten. Nicht einseitig-grammatische Schulung, sondern Eindringen in den Geist des Schriftstellers schwebte ihm als erstrebenswertes Ziel vor. In diesem Sinne lehrte er an dem Göttinger Gymnasium, wo ihm Heyne 1807 eine Kollaboratorstelle verschafft hatte, damit er sich an der Universität habilitieren könne. Zwar betrachtete er sie zunächst nur als „Krücke, die man wegwirft, wenn man auf festen Füßen steht" j1) aber sehr bald fand er sich in das neue Amt, das ihm Befriedigung gewährte, so daß" er seinem Freunde schreiben konnte: „Es freut mich, daß es geschehen ist, weil ich darin eine Blume finde, die ich zuvor geringschätzig übersah und jetzt mit großer Liebe pflege. Sie heißt Berufstreue, und die Frucht, welche sie zeuget, ist Zufriedenheit und Freude über das Gedeihen deines Werkes." Anfangs mußte er zwar in der völlig verwilderten Klasse um Ordnung zu schaffen sehr drastische Mittel anwenden, die das Kopfschütteln Heynes erregten; indessen erwarb er sich durch die Kraft seiner Persönlichkeit und die Tiefe und Vielseitigkeit seiner Kenntnisse bald die Zuneigung seiner Schüler. Das beweist das Urteil Heerens, des nächsten Vorstandes jener Schule, der in einem Brief®) an Thiersch nach München (26. Okt. 1809) schreibt: „Ihr Andenken hat sich mir viel zu tief eingeprägt und ohnehin wird es bei meinen Besuchen hier in der Schule nur zu lebhaft erneuert. Ihr Weggehen hat da eine Lücke gemacht, die keineswegs ausgefüllt ist; noch neulich, wie ich T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 5 1 , Thiersch an Krehl. *) L o e w e , Schulkampf S. 66.

— 49 — dort war, wurde Ihr Name nicht bloß mit Achtung, sondern auch mit Sehnsucht ausgesprochen. Möchten Sie dort (zu München) ein ebenso reiches Feld und eine ebenso schöne Ernte finden als hier Ihrer wartet. Nie kann ich anders als mit lebhaftem Anteil an Sie zurückdenken." Zugleich machte Thiersch eine für seine weitere Berufstätigkeit wichtige Beobachtung: „Ich habe, — so schreibt 1 ) er an Lange — dabei die Erfahrung gemacht, daß die menschliche Natur in den Jahren ihrer frühen Bildung durchaus unverdorben ist, so viel Schalen auch Vorbildung und Gewohnheit darum gelegt haben, und daß diese bei rechter Behandlung endlich doch zerspringen und der reine Mensch zur Freude des Bildners hervorgeht." Mit der Tätigkeit am Gymnasium verband Thiersch Vorlesungen an der Universität, zunächst über Piatons „Symposion" und über das akademische Studium. Mit seinem Freund Dissen plante er einen Zyklus von publicis einzurichten; im ersten Semester sollte dieser Odyssee, Thiersch griechische Literaturgeschichte lesen, im zweiten wollten sie wechseln, Thiersch einen Autor, Dissen ein Sachkolleg lesen. Auch Heeren wollte mitwirken, Heyne billigte den Plan. Aus Leipzig ließ Hermann seine warnende Stimme vernehmen: „Die Ausführung kömmt mir zu rasch vor; hüten Sie sich, ja nicht bloß auf Ansichten auszugehen; die Folge davon ist keine andere, als daß man in Ideen schwärmt. Sie wissen es selbst, daß ich sehr viel darauf halte, nach Ideen zu arbeiten; aber wenn die Ideen Früchte tragen sollen, so müssen die Bäume tief gewurzelt, d. h. lange und langsam gewachsen stehen. Nur aus tiefem und mühsamem Studium wachsen solche Ideen auf. Bedenken Sie, was z. B. der einzige Thucydides erfordert." Noch ehe die Absicht verwirklicht wurde, erging an Thiersch der Ruf nach Bayern. Mit welchen Erwartungen man in Göttingen Thierschs Tätigkeit begleitete, zeigt ein Brief 2 ) Heynes an Johannes v. Müller: „An der Schule haben wir hier einen Thiersch aus Sachsen seit einem Jahre, einen jungen Mann von seltenen Talenten, Feuer und Kraft. Er hat kürzlich gepredigt; man ist erstaunt gewesen über des jungen Mannes Kanzelgabe. Diesen könnte man zuziehen, er würde ein herrlicher Lehrer und künftig ein großer Exeget und Kanzelredner werden ; es würde dann das fumum ex fulgore nicht zu befürchten sein; man setze ihn künftig einmal zuerst zum Extraordinarius an. Dieser Tage promovierte er pro gradu, sein Kollege Wunderlich opponierte, das war eine seit langer Zeit nicht erlebte fête." *) T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 52. *) T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 44/45. Loewe, Friedr. Thiersch.

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— 50 — Trotz des Doppelamtes fand Thiersch noch immer Zeit, die reichen Bildungsschätze zu nutzen, die ihm Göttingen bot. Er hörte bei Herbart Metaphysik, in Heerens Vorlesungen empfing er tiefgehende Anregungen. „ W i r sind zusammen um dann bei Heeren zu horchen, wie er um 2 Uhr die Völker der neuen Welt, um 4 Uhr die der alten vor sich und uns mit wunderbarer Anmut und Kunst aufleben läßt, wie er ihre Schicksale, ihre Verhältnisse, ihr ganzes Tun und Verkehren aufrollt, daß sie sich wieder vor unseren Augen beleben : einer von den wenigen, die man im Leben sucht, mit sicherem ruhigen Blick die Weltgeschichte zu deuten und zu richten."

Begeistert schrieb 1 ) er an Lange: „Wie glücklich sind wir d o c h . . . . in den Schätzen unserer Bibliothek, welcher Reichtum auch an Werken über alte Kunst, das Museé Napoléon übertrifft an Glanz und Pracht alles was man bisher kannte." Durch Heynes Entgegenkommen durfte er sie wie seine eigene benützen. „Was einer längeren Durchsicht wert erscheint, trägt man vor ans Bureau und legt es dem Münchhausen, der gemalt in Lebensgröße dahängt, zu Füßen wie einem Schutzgeist, von wo es mittags gegen Eingabe der Titel abgeliefert wird." In Münchhausen verehrte er den ausgezeichneten Organisator der Universität, mit scharfem Blick erkannte er die Gründe, die zur Blüte der Georgia Augusta beitrugen, die Hochschätzung jedes Talentes, auch des jungen, das Fehlen des Kastengeistes, die Liberalität der Regierung, die Frische des Geistes, die Weite des Blickes, die unbeschränkteste Lehrfreiheit. Voll jugendlicher Kraft genoß er mit seinen Freunden, die gemeinsam mit ihm wohnten, zwei reichen Livländern, Baranof und Rennenkampf, das Leben und die schöne Umgebung Göttingens. Hatten sie zusammen Klassiker wie Homer und Tacitus gelesen, dann ging's auf die Berge zu tausend freundlichen Plätzen. Unter dem frischen Eindruck des regen geistigen Lebens und der herrlichen Natur entstand wohl jene Schilderung der Entstehung der Universität, die sich in einem Brief an Krehl, den einsamen Freund im „öden und engen Leipzig", findet: „O die Musen zogen lange umher in den Fluren, wo sonst die Cherusker wohnten; denn sie wollten sich niederlassen und ansiedeln in Landen, aus denen deutsche Freiheit entsprang, und ihr samt der Hoheit ein Heiligtum gründen, wenn alles umher stürzen und sich vernichten würde, zu bestehen in dem Drange der Zeit. — Da schauten sie in diese Flur herein: hier begrenzt von den ragenden Kulmen des Teutoburgerwaldes, dort von den letzten Gipfeln des Harzes. Sie sahen den sanften Strom, wie den Ilyssus J) T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 58/59, Brief an Lange.

— 51 — durch hochgrasige Wiesen geschlungen und die Lüfte rein und mild das schöne Tal umfangen und sanken herab in die Flur und wandelten durch die freundlichen lichten Gassen des lieblichen Landstädtchens und beschlossen, hier eine Kolonie anzulegen. So entstand die Universität Göttingen." In solcher Umgebung ging Thiersch erst das Leben auf und er empfand, was die Jugend sei. Zwei Jahre genoß er dieses Glück, da machten ihm die inzwischen eingetretenen politischen Veränderungen den Abschied leichter als er wohl gedacht hatte. Seit der Einverleibung Göttingens in das Reich Jérôme Bonapartes war die Universität in ihrem Bestand bedroht. In eigenartiger ironisierender Weise versuchte der jugendliche Dozent ihr zu Hilfe zu kommen. In der Zeitung für die elegante Welt 1 ) erschienen mit „Y" gezeichnete „Briefe über Göttingen", durch die er auf Jérôme einzuwirken versuchte, aber vergebens. In diesem Augenblick erhielt er den Ruf nach München. Da Heyne, der ihn unter allen Umständen zu halten hoffte, in Cassel nicht 50 Taler für ihn bekommen konnte, folgte er der Einladung nach Bayern, wo er eine zweite Heimat finden sollte. II. Abschnitt.

Die Münchner Kampfjahre 1809-1825. i . Kapitel.

München um die Jahrhundertwende. Die Aufklärung in Bayern. Der Wismaiersche Lehrplan. Im Frühling 1809 zog Thiersch mitten durch das zusammenrückende französische Heer durch Franken und Bayern und traf kurz vor der Besetzung der Stadt durch die Oesterreicher in München ein. Es folgte die kriegerische Katastrophe des Feldzuges von 1809, der Siegeszug des französischen Heeres nach Wien, unter dem Jubel des Volkes die Rückkehr des Königs in seine Hauptstadt. Ein Neuling, der aus Norden kam, wo der nur schwer verhaltene Zorn über die französische Gewaltherrschaft schon damals auszubrechen drohte, sah sich Thiersch hier in eine neue Welt von anderen Einsichten, Bestrebungen und Hoffnungen versetzt. 27. Juni 1808, vgl. Thierschs Brief an Lange, 1. Sept. 1908 in T h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 58.

4*

— 52 — Hauptstadt1)

Die. des jungen Königreiches mit ihren zahlreichen, von hohen Sattel- und Giebeldächern überragten Häusern, mit ihren vielen engen, düsteren und ungesunden Gäßchen machte noch immer einen altertümlichen Eindruck, umschlossen von einer doppelten Stadtmauer, die von vier stark mit Türmen befestigten Haupttoren, dem Isar-, Schwabinger-, Neuhauser- und Sendlingertor und mehreren kleineren unterbrochen war; zwischen der ersten und zweiten Stadtmauer lagen die Zwinger, wo die Bürgermeister und Räte schöne Gärten angelegt hatten; außerhalb der zweiten Mauer zog sich ein ziemlich breiter, tiefer, mit Wasser gefüllter Graben um die Stadt, dann folgten in der Höhe die innere Straße und der Wall, um den wieder ein Kanal floß. Von den vier Haupttoren liefen zwei Hauptstraßenzüge in nordsüdlicher und ost-westlicher Richtung im Marienplatz, dem alten Schrannenplatz, zusammen, der mit seinen nach italienischer Bauart errichteten Häusern, die unten mit Bögen versehen waren — jene auf der Seite zu St. Peter dienten zu Handlungsgewölben, die auf der Seite zu U. L. Frau zu Getreidehallen —, einen malerischen Anblick bot. Noch reichten Felder und Aecker bis an die Dörfer heran, welche die Münchner als beliebte Ausflugsorte besuchten, im Norden das uralte Schwabing und Schleißheim, im Westen Neuhausen und Nymphenburg, im Osten auf den Höhen des Gasteigs Bogenhausen, Au und Giesing, im Süden Sendling und Thalkirchen, eine halbe Stunde südwärts im Wald bei einer Heiligen Geist-Schweige Häselohe mit Kirche und Klause „am Rand eines gähen Abhanges, in dessen Tiefe die Isar vorbeirauscht". Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts begann man die Befestigungen und Wälle in zierliche Gärten umzuwandeln und bequeme Promenaden mit Alleen von Fruchtbäumen anzulegen. Noch unter Karl Theodor wurde seit 1789 der gegen Norden des Hofgartens gelegene Hirschanger, die Hirschau, in englische Gartenanlagen umgeschaffen, die östlich vorbeiströmende Isar eingedämmt und die von ihr ausgehenden Kanäle zu künstlicher Bewässerung benützt; an einem derselben wurde 1790 die Tierarzneischule mit Stallungen errichtet. Dadurch, daß der Kurfürst die Erlaubnis gab, die dem Englischen Garten entlangziehende Höhe (jetzige Königinstraße) zu bebauen, entwickelte sich allmählich die Schönfeldvorstadt. Fast gleichzeitig mit der Einebnung der Festungswerke im Norden und Nordosten entstanden im Westen die ersten Häuser, durch die später W e s t e n r i e d e r , München, München im Jahre 1819.

S. 23U.;

Hübner,

München 1803;

Huber,

— 53 — der Karlsplatz gebildet wurde. Besonders starke Veränderungen im Stadtbild brachten 1803 die Klostersäkularisationen. Die Aufhebung des Klosters der Bittricher Nonnen, das fast die ganze Länge der Perusastraße eingenommen und sich tief in die Theatinerstraße erstreckt hatte, ermöglichte eine Erweiterung dieses wichtigen Verbindungsweges und die Anlage einer Reihe neuer Häuser. Plätze wurden freigelegt; der Max Josephplatz da, wo das frühere Franziskanerkloster und die Ueberreste des Klosters der Riedler Nonnen gestanden hatten; hier erhob sich seit 1811 der Bau des Nationaltheaters, das nach den Plänen des Professors v. Fischer errichtet wurde; die Beseitigung des Kapuzinerklosters ermöglichte die Schaffung des Maximiliansplatzes, in das Theatinerkloster kamen die Bureaus mehrerer Ministerien; in die Augustinerkirche wurde die Mauthalle verlegt und so der Promenadeplatz freigemacht; auf der Stelle des Klostergebäudes der Karmeliter erhob sich das Lyzeum und das Gebäude für das männliche Erziehungsinstitut. Im St. Annaviertel (dem Lehel) ließ die Armeeverwaltung von 1804—1810 eine Kaserne und Stallungen auf dem Boden des ehemaligen Hieronymitenklosters bauen, in der Isarvorstadt eine Kavalleriekaserne; den wachsenden Bedürfnissen des Heeres dienten ferner an der Burgfriedensgrenze ein Pulvermagazin, ein Laboratorium und ein Wachhaus; an der Marstallstraße entstand das kgl. Zeughaus; das Kriegsministerium erhielt ein eigenes Gebäude an der Residenz- und Theatinerstraße. Am Hofgraben erhob sich die neue Münze. Zum großen Leidwesen der Altmünchener fiel 1807 der schöne Turm an der Kaufinger- und im folgenden Jahre der Ruffiniturm an der Sendlingerstraße der Stadterweiterung als Verkehrshindernisse zum Opfer. Vor dem Sendlingertor, wo das Kloster der barmherzigen Brüder und der Elisabethinerinnen lagen, die in der Krankenpflege Hervorragendes leisteten, wurde 1809 der Grundstein zum allgemeinen Krankenhaus gelegt. Der erweiterte Bau der Jesuiten an der Neuhauser- und Kapellenstraße nahm die kgl. Akademien der Wissenschaften und der bildenden Künste mit der kgl. Bibliothek auf. Hier und in dem ganz nahe gelegenen Lyzeum und Gymnasium fand der junge Thiersch seinen ersten Wirkungskreis. Die Klostersäkularisation zerstörte zwar eindrucksvolle Bauten vergangener Jahrhunderte, vermochte aber das Aussehen Münchens nicht grundlegend zu verändern. Noch immer war die Hauptstadt ein getreues Spiegelbild der Bavaria sancta. In welch eigentümliche, ihn zunächst wohl fremdartig anmutende Welt sah sich der Protestant

— 54 — Thiersch versetzt! In dem engen Mauerring des umfriedeten Gemeinwesens, dessen Umfang Westenrieder 1783 mit 5800 gemeinen Schritt angibt,1) begegneten ihm auf Schritt und Tritt stattliche Kirchen, beredte Zeugen dessen, was der Glaubenseifer des Fürstenhauses, künstlerisches Können und Anhänglichkeit des Volkes an die Religion zu leisten vermochten. In die Zeit der werdenden Stadt und ihrer wachsenden religiösen Bedürfnisse versetzten die drei Pfarrkirchen: St. Peter, um den sich das München Heinrichs des Löwen gruppierte, entstanden aus einer Dorfkirche, einer romanischen Pfeilerbasilika, nach wechselvollen Bauschicksalen im 18. Jahrhundert mit einer Rokokoinnendekoration geschmückt ; die ehrwürdige Gemeindekirche zu unserer lieben Frau, das Werk Jörg Ganghofers, das nur durch die gemeinsame Arbeit der Bürgerschaft, der Geistlichkeit und des Fürstenhauses möglich wurde, zum Ausbau der Türme steuerte die fromme Landbevölkerung erhebliche Summen bei, endlich die später von den Gebrüdern Asam umgebaute Heilige Geistkirche nahe dem Viktualienmarkt. Die Gegenreformation51) in ihrem höchsten kirchlichen Glanz und ihrer größten politischen Macht unter Wilhelm V. und Maximilian I. bestimmten das Stadtbild in nachhaltigster Weise. Unweit des Karlstors kündet die Michaelskirche mit ihrer wuchtigen Fassade, ihrem stattlichen Gewölbe in Verbindung mit der in unmittelbarer Nachbarschaft errichteten Residenz des Herzogs, der heutigen Herzog-Maxburg, von dem unbeugsamen Willen Wilhelms V. und der Jesuiten, der Reformation einen unerschütterlichen Damm entgegenzusetzen. „Sie war gedacht als Dank- und Siegeszeichen für den glücklich bestandenen Kampf gegen die Ketzerei — als ein weithin vorbildliches Denkmal der neu erstandenen Religion, wie einer neuen an der Antike sich begeisternden Kunstgesinnung." In dem an die Kirche stoßenden, die Neuhauserstraße begrenzenden schloßartigen Kloster sollte Thiersch, freilich erst nach Jahrzehnten unermüdlichen Kampfes, als Präsident der Akademie eine umfassende Tätigkeit entfalten. Die Residenz des Kurfürsten Maximilian I. mit ihren Höfen, Korridoren, der Prunktreppe und der Gemäldesammlung, die bedeutende Dürerwerke erhielt, wurde der glanzvolle Rahmen für die Macht dieses Führers der katholischen Kirche; die Muttergottesstatue, die Patrona Bavariae in der reichen Nische, zeigt, welche Gesinnung den Hausherrn erfüllte. Am Marienplatz erinnert die Mariensäule an den Sieg München, S. 62. *) Max H a u t t m a n n , „Zur älteren Geschichte der Stadt" in München, Bayerisches Wanderbuch 1922, S. 6.

— 55 — Tillys und des Ligaheeres am Weißen Berg über Friedrich V. von der Pfalz. Aus der Zeit des Rokoko und Barock, da die Münchener Kunst, durch die Schule des Auslands gegangen, sich zn eigeuem Leben durchringt, stammen jene stimmungsvollen, heiteren Gotteshäuser wie Barellis Theatinerkirche mit der mächtigen Kuppel an der Theatinerstraße, damals noch in unmittelbarer Nähe des Schwabingertores gelegen, Viscardis Dreifaltigkeitskirche in der Pfandhausstraße keck vorspringend, hervorgegangen aus einem Gelübde, das in den Zeiten der Kriegsnot 1704 von den drei Ständen Bayerns gemacht worden war, Gunezrainers Damenstiftskirche, St. Anna im Lehel von Fischer und die von den Brüdern Asam erbaute und ausgeschmückte Johann Nepomukkirche in der Sendlingergasse. In besonders sinnfälliger Weise zeigte sich der ausgesprochen religiöse Zug der Münchener Bevölkerung an den hohen Kirchenfesten, die unter großer Feierlichkeit abgehalten wurden; die königliche Hofkapelle, die hervorragende Künstler zu ihren Mitgliedern zählte, wirkte selbst in den Hofkirchen mit, bedeutende Messen kamen zur Aufführung. In den letzten drei Tagen der Karwoche strömte das Volk zu den in allen Kirchen aufgestellten heiligen Gräbern, die mit den schönsten Blumen und zahllosen Lichtern geschmückt waren. Graf Anton von Törring-Seefeld, der seit 1793 Präsident der Akademie war, legte sich am Karsamstag in das heilige Grab in der Michaelshofkirche, wo sonst eine in einer Grotte liegende verhüllte Statue den Erlöser darstellte, ein Beweis, wie innig man auch in den Kreisen des Adels an der katholischen Kirche hing. Die größte religiöse Feierlichkeit aber war das Fronleichnamsfest. Unter dem Vorantritt des Hofes und der höchsten Behörden nahm alt und jung daran teil. Die ganze Garnison und Landwehr rückte aus, das Landvolk strömte von allen Dörfern herein, die Zünfte entfalteten ihren reichsten Prunk. Auch im Monat Mai fanden während der Kreuzwoche zahlreiche Prozessionen und Umgänge statt. Indessen nicht nur an den Festtagen drängte sich das Volk in die Gotteshäuser zu Predigt oder Messe; Ungezählte begannen ihr Tagewerk mit einem Besuch der Kirchen oder verbrachten, wenn die Dämmerung begann, einige Zeit der Sammlung in den ihnen so vertrauten Räumen. Streng wurden die Vorschriften der Kirche beobachtet. Konnte Thiersch die ausgesprochen kirchlich-religiöse Gesinnung der Münchener Bevölkerung, die sich in der breiten ungebildeten Masse zuweilen mit Aberglauben und, wenn eine planmäßige Verhetzung erfolgte, mit Fanatismus mischte, immer wieder beobachten, so fand er

— 56 — bald auch Gelegenheit noch andere Charakterseiten des altbayerischen Stammes zu studieren. Mit dem entschieden künstlerischen Sinn war nämlich eine starke Neigung zu behaglichem Lebensgenuß, gesunde Sinnlichkeit, lebhafte Freude am geselligen Zusammensein, ein derber Humor, ein zähes Festhalten an überlieferten Volksbräuchen, Stolz auf heimische Art und Geschichte verbunden, der, durch ungeschicktes Benehmen Fremder herausgefordert, nur allzu leicht als einseitiger Partikularismus in Erscheinung trat. Selbst in weiten Kreisen der höheren Stände war gegen anhaltendes wissenschaftliches Arbeiten eine gewisse Abneigung zu verspüren. Thiersch fand viele Beobachtungen, die ihm sein Göttinger Studienfreund Baranoff 1 ) von einem Münchener Aufenthalt mitteilte, bestätigt. „Die Bayern sind" — so heißt es darin — „eine tüchtige, brave, biedere, muntere Nation, für Wissenschaft und Künste aber nicht geschaffen. Der Bayer, wenn er seinen Acker oder sein Handwerk oder sein Amt redlich bestritten, will froh und heiter, ohne weitere Sorgen sein Leben genießen; er geht dann in das Bierhaus oder ins Theater oder ins Museum und läßt sich's gut schmecken bei einem Gläschen Wein oder einem Journal und Roman, je nachdem sein Stand, und kümmert sich den Teufel nicht um die Fortschritte in Kunst und Wissenschaft." Besondere Gelegenheit den fröhlich ausgelassenen Sinn der Münchener, kennen zu lernen bot der Karneval, der von einem Zeitgenossen Westenrieders, Hübner,2) also geschildert wird: „In den letzten drei Tagen des Karnevals erscheinen die Masken in den öffentlichen Gasthöfen: „man glaubt dann in Venedig zu wohnen, alle Straßen wimmeln von einzelnen und gesellschaftlichen Maskeraden, welche alle Gasthäuser durchströmen; die Fröhlichkeit ist allgemein und wird nur höchst selten von wilder Ausgelassenheit getrübt." Unter den übrigen Volksbelustigungen nahm das in eigenen Schützengesellschaften gepflegte Scheibenschießen den ersten Rang ein, eine Kunst, in der sich jeder eintretende Bürger üben mußte. Bei den Pferderennen, die von den Dorfwirten der Umgebung feierlich ausgeschrieben wurden, strömte stets eine Menge Städter zusammen, wobei ansehnliche, die ausgesetzten Gewinste weit übertreffende Wetten abgeschlossen wurden. Wettlaufen, Stelzengehen und dergleichen kamen nicht selten vor. Von Zeit zu Zeit wurden Kegelschieben, die oft Wochen lang dauerten, angekündigt. In den meisten Gesellschaften und Schenken wurde Karten gespielt. Großer BeliebtT h i e r s c h , Biographie Bd. I, S. 54. ) Statistik S. 560ff.

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heit erfreute sich das Lipperltheater, eine bretterne Schaubühne vor dem Karlstor, wo 14 Tage vor und nach der Jakobidult um 1 Kreuzer zwerchfellerschütternde extemporierte Spiele aufgeführt wurden; die Gewerbe hatten ihre sogenannten „Jahr- und Tänzeltage"1), an denen die meisten in ihrem eigenen Ornat und mit den Attributten ihrer Lade unter musikalischer Begleitung durch die Stadt in die Kirche und ihre Herbergen zogen. Das Freischlagen der Metzgerjungen am Marienplatz lockte jährlich am Faschingsmontag eine große Zuschauermenge an den Fischbrunnen; alle sieben Jahre tanzten die Schäffler mit buchsumwundenen Reifen den großen Achter durch die Stadt. Eine eingehende Schilderung des Charakters der Münchener Bevölkerung verdanken wir einem der besten Kenner, Lorenz von Westenrieder.2) „Sie sind" — schreibt er — „männlich höflich und schämen sich einem anderen eine unverdiente Schmeichelei zu sagen; über ihre Angelegenheiten sprechen sie ohne allen Umweg; sagen, was sie denken; in hergebrachter Bescheidenheit rühmen sie sich ihres Verdienstes nicht." Gelehrsamkeit, Aufklärung des Verstandes, Verbesserung des Geschmackes und Erhebung des Charakters fand Westenrieder im allgemeinen beim Mittelstand; von diesem wird geschrieben, das meiste gelesen, gearbeitet und in Künsten und Wissenschaften den übrigen Ständen Unterricht erteilt. Eine Lieblingsbeschäftigung der Einwohner ist die Musik; in wohlgeordneten Häusern wird sie als ein wichtiges Stück guter Erziehung betrachtet. „Überhaupt" — meint Westenrieder — „sind sie sehr empfindsam und weinen herzliche Tränen bei einer tragischen Vorstellung, wozu sie mehr als zu lachenden Scherzen geneigt sind." Stark ausgeprägt ist der Gemeinschaftsgeist. „Sie sprechen bei gemeinschaftlichen Dingen, als gehörten sie alle zu einer Familie; der Name Vaterland ist ihnen heilig." Öffentliche Feierlichkeiten sind sehr beliebt; hier fehlt jeder Zwang. Voll Stolz schließt Westenrieder seine Betrachtungen mit den Worten: „Das Blut der Altbaiern wird nie versiegen; es ist hier gut sein und wer nur eine kleine Zeit zugegen ist, will hier seine Wohnung sich bauen."

Der Aufbau der Gesellschaft im München Max Josephs I. war einfach; die Gesamtzahl der Bewohner belief sich nach der Volkszählung von 1801a), die auch die Vororte Au, Haidhausen, Falkenau, Lohe und Giesing sowie den Burgfrieden umfaßte, auf 48 745. Die oberste Schicht bildeten die zahlreichen adeligen Familien4), die sich um den königlichen Hof scharten und im Hof-, Militär- und Staatsdienst die wichtigsten Stellen bekleideten. Sie bewohnten nicht nur in den ansehnlichsten Straßen der Stadt palastähnliche, meist in Rokoko oder Barock erbaute Häuser, wie die Törring, Preysing u. a., sondern siedelten sich auch !) 2 ) 3 ) 4 )

Hübner, München. Hübner, Hübner,

Statistik S. 238. S. 329ff.; ferner H ü b n e r , Statistik II., S. 563; Topogr. II., S. 373. Statistik I., S. 10. Statistik I., S. i 2 7 f f .



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im Burgfrieden innerhalb blühender Gärten an, die vielfach im englischen Geschmack angelegt wurden. Dem Adel gesellte sich ein arbeitsames, in Zünften organisiertes Bürgertum von hoher Leistungsfähigkeit, von dessen Reichtum zahlreiche Patrizierhäuser der Altstadt zeugen. 1803 erreichte die Zahl der bürgerlichen Gewerbe 1397. Von den Fabrik- und Manufakturbetrieben 1 ) blühten einzelne rasch auf, wie die Nymphenburger Porzellanfabrik; unter den Privatunternehmungen entwickelte sich am günstigsten die Herstellung von Gold- und Silberdraht, Leder, Papier, Spielkarten, Glas- und Spielwaren, Pinseln und Hüten. Eifrig braute man Bier. Der Speditionshandel hatte geringen Umfang. Wirtschaftlich war München eben noch eine Landstadt2), deren eigentliche Warenhäuser die großen Wochenmärkte und die Dulten waren; zu ihnen strömten vom Land die Bauern mit den Erträgnissen ihrer Felder. Die Floßfahrt auf der Isar vermittelte den Verkehr zwischen den Alpen und der Hauptstadt. „Dieses alte München war eine fürstliche und geistliche und bäuerliche Stadt, umgeben von dem altbayerischen, streng katholischen Land, aus dem sie hervorgewachsen war, den Bergen nah, deren würzig frische Luft sie durchweht, mit wenigen Beziehungen zum übrigen nördlichen protestantischen Deutschland, von dem es seit langem abgetrennt war." Neben Adel und Bürgertum bestand Münchens Einwohnerschaft noch aus Hofbefreiten und unter Hofschutz Stehenden, einigen Privaten, pensionierten Staatsdienern, aus dem dienenden Personal der Schreiber, Bedienten, Künstler und Taglöhner.3) Die Statistik des Aktuars Ignaz Piechl vom Jahre 1 7 8 1 4 ) gibt hierüber interessante Aufschlüsse; er erwähnt 267 Schreiber, Sekretäre und Hausoffizianten, 104 Gouvernanten und Kammerjungfern, 64 Instructores und Präceptores, 1 2 6 von eigenen Mitteln lebende Privatpersonen, 109 Haubenmacherinnen, 338 Pensionisten, 7 5 5 Lakais, Kutscher, Läufer, 2 1 7 Kostkinder, 1 1 6 Austrägler, 1 3 5 9 Tagwerker, 168 dienstsuchende Menschen, 1 2 7 5 Bettler, 46 Müßige und Verdächtige, 2 1 Juden.

Hübner 5 ) berechnet 1783 die Zahl der Juden mit Weibern, Kindern und Bedienten auf 56. 1788 waren es 124, 1799 136, 1801 263 Köpfe. Günstig wirkte für sie ein Schreiben des Kurfürsten Maximilian Joseph (26. Januar 1802), worin die Generallandesdirektion angewiesen wurde die Judenedikte zu revidieren und Anstalten zu treffen, durch welche J

) H ü b n e r , Statistik T . II, S. 4 5 5 f f . *) Karl Alexander v. M ü l l e r , Das kulturelle Leben des 19. Jahrh. und der Gegenwart in Bayerisches Wanderbuch, München 1922, Bd. I, S. I 3 f f . s ) H ü b n e r , Statistik I., S. 239. 4 ) H ü b n e r , Statistik Teil II, S. 2 2 5 f f . 6 ) H ü b n e r , Statistik Teil II, S. 247.

— 59 — die Juden zu nützlichen Staatsbürgern erzogen werden könnten. 1805 besaßen sie zu München noch keine Synagoge und keine eigene Begräbnisstätte. Die meisten wohnten im Tal, einige hatten sich prächtige Häuser gekauft, nur einer führte ein öffentliches Gewerbe. In künstlerischer und wissenschaftlicher Beziehung bot München dem jungen Thiersch die reichste Anregung. Die königlichen Theater pflegten die italienische und deutsche Oper, sowie die Posse. Die Kirchen, Paläste und Bürgerhäuser der Stadt und die Schlösser und Kirchen der Umgebung, die einheimische und fremde Künstler geschaffen hatten, ermöglichten ihm die tiefsten Einblicke in das Wesen der Gotik und vor allem des Barock und des Rokoko und dessen Weiterbildung auf bayerischem Boden; „das letzte Wort des Rokoko wurde in Deutschland gesprochen." Dazu kamen die wertvollen Schätze der königlichen Galerien; was die kunstsinnigen Wittelsbacher in langen Jahrzehnten gesammelt hatten, begann allmählich in München vereinigt zu werden. Die von Karl Philipp gegründete Mannheimer Galerie kam in den letzten Jahren der Regierungszeit Karl Theodors nach der Hauptstadt, die Düsseldorfer unter seinem Nachfolger. Schon Karl Theodor ließ an der Nordseite des Hofgartens in den Gebäuden, die jetzt das Gipsabgußmuseum und das Ethnographische Museum beherbergen, eine Gemäldesammlung anlegen, die für jedermann offen stand und von Schülern und Schülerinnen eifrig benützt wurde. Als Thiersch nach München berufen wurde, war Manlich, der Verfasser der bekannten Selbstbiographie, Galeriedirektor, Johann Georg von Dillis Galerieinspektor. In anziehender Weise hat der Schlachtenmaler Albrecht Adam1) geschildert, wie er als Zwanzigjähriger seine ersten Kopierstudien in der Münchener Sammlung an einem Wouvermann machte und mit zwei Künstlerinnen bekannt wurde, die ihn in die Hofkreise einführten, wo der feingebildete kgl. Oberstallmeister, Baron von Wesling, sein Gönner wurde. Rittershausen, der 1788 einen Kunstführer durch die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Hauptstadt schrieb, wird nicht müde den Reichtum an Meisterwerken zu schildern. Ueberraschend gut sind die Niederländer vertreten, namentlich Rubens und Van Dyck. Ueber Rubens' Skizzen zur Lebensgeschichte der Königin Maria von Medici bemerkt Rittershausen: „Das sind Wunderwerke des Geistes, welche Rubens zum Entsetzen über der menschlichen Seele göttliche Kraft der Nachwelt hinterließ." Unter den Italienern erscheinen Bellini, Tizian, Tintoretto, Paul Veronese, Caraccio u. a. Besonders l

) A d a m Leben, 1886.



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feierlich aber mahnt Rittershausen ) die Beschauer, bevor er sie in das Innerste des Heiligtums führt, zu den altdeutschen Meistern, zu Altdorfer, Bartholomäus Beham, Burkmeier, Lukas Cranach, Dürer, Hans Holbein: „Dieser Platz gebührt ihnen aber auch, indem die Kraft des Ausdruckes, welcher die erhabenste Stufe der Kunst ist, eigentümlich ihren Charakter bezeichnet." Einzig in ihrer Art waren für jeden wissenschaftlichen Forscher die Bestände der kgl. Hof- und Staatsbibliothek, besonders seit durch die Klostersäkularisationen unschätzbare Handschriften und kostbare alte Drucke in ihren Besitz gekommen waren. Sie wurden in schönen Sälen des ehemaligen Jesuitenkollegs untergebracht. Bald gehörte Thiersch zu den eifrigsten Besuchern der Bibliothek, die ihm für seine humanistischen Studien unentbehrlich wurde. Auch im Rechbergischen Palast an der Promenadestraße wird er wohl bald aus- und eingegangen sein; denn dort befand sich seit 1802 das Museum®), seiner Bestimmung nach ein literarisches Institut, das seinen Mitgliedern Gelegenheit zu einer gebildeten und geselligen Unterhaltung bieten sollte; die bedeutendsten in- und ausländischen Zeitungen sowie zahlreiche literarische Erzeugnisse lagen zur freien Benutzung; als Hilfsmittel dienten Diktionnäre, wissenschaftliche Repertorien, topographische, statistische und historische Wörterbücher und Landkarten. Künstler hatten die Möglichkeit ihre Werke auszustellen, Gelehrte hielten Vorlesungen, Musik und Geselligkeit wurden in Abendunterhaltungen, Bällen, Festen und Konzerten in den glanzvoll eingerichteten Räumen gepflegt. Zu der Fülle von Anregungen, die München dem jugendlichen Thiersch bot, kam noch der spannende Kampf der großen geistigen Strömungen der Zeit, der verhältnismäßig spät auch Bayerns Hauptstadt ergriff. Vor allem war es zunächst die Aufklärung, die sich durchzusetzen versuchte. Zum vollen Verständnis der Schul- und Bildungsbewegung, in die Thiersch bestimmend einzugreifen berufen sein sollte, ist ein kurzer Rückblick auf die Regierung des aufgeklärten Kurfürsten Maximilians III. Joseph, des Zeitgenossen Friedrichs des Großen, sowie Karl Theodors notwendig, weil die neuen Reformen immer wieder an die früheren Verhältnisse anknüpften. In dem Amortisationsgesetz Max Josephs von 17643) kündigte sich der Zusammenbruch der „Bavaria Sancta" an; Befreiung der Wissen!) Kunstführer. S. 268 ff. 2 ) H u b e r , München, S. 319ff. s ) D ö b e r l , Bayern Bd. II, S. 274, W e s t e n r i e d e r , München. S. 24off. H ü b n e r , Statistik. S. 30iff. L o e w e , Schulkampf. S. 3ff.



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schait und der Schule von der Bevormundung der Kirche wurde das Ziel der Reformen, die Ickstatt für die gelehrten Schulen und die Universitäten durchsetzte. Die Gründung der Akademie der Wissenschaften 1759 diente vor allem der wissenschaftlichen Forschung wie popularisierenden Bildungsbestrebungen. Die Neueinrichtung der Volksschulen war das Verdienst Heinrich Brauns. Die Aufklärung begann auch in Bayern festen Fuß zu fassen. Pflege der Muttersprache und der deutschen Literatur wurde die Losung jener Männer, die das Zurücktreten Bayerns gegenüber dem Norden des Vaterlandes mit tiefem Schmerz empfanden. Der Adel, die Geistlichkeit, das höhere Bürgertum wurden die Träger der neuen Kultur; freilich begegnete sie in den unteren Kreisen der Bevölkerung, bei den Kleinbürgern und Bauern, beim niederen Klerus und den volkstümlichen Bettelmönchen starkem Widerstand. Denn das Volk hing mit Zähigkeit an dem Hergebrachten und wurde darin noch bestärkt durch die fortgesetzten Versuche die neue Bewegung mit dem Protestantismus oder gar mit dem Unglauben in enge Verbindung zu bringen. Zudem war der Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten noch zu groß als daß die Aufklärung volkstümlich werden konnte. Karl Theodor führte zunächst die Regierung im Sinne seines Vorgängers. 1781 übertrug er dem Prälatenstand die finanzielle Unterhaltung der Mittelschulen; den Unterricht erhielten die vier Prälatenorden der Benediktiner, Augustinerchorherren, Zisterzienser und Prämonstratenser. 1 ) Die neue Schulordnung von 1 7 8 2 sicherte dem Neuhumanismus die errungene Stellung für die folgenden zwei Jahrzehnte; Religion und Sittenlehre standen obenan, einen breiten Raum nahmen die Bestimmungen über die Sprachen ein; besonderes Gewicht wurde auf das Latein gelegt. Bewußt stellte man sich in Gegensatz zu der alten Lehrart der Jesuiten. Im Sinne Brauns 2 ), der dem Neuhumanismus nahestehend als Hauptziel des Unterrichtes nicht mehr Imitation der alten Klassiker, sondern umfassende Lektüre und dadurch Eindringen in den Geist des Schriftstellers betrachtete, wurde Latein-Deutsch ein Programmpunkt, der Kreis der zu lesenden Schriftsteller stark erweitert. Sorgfältig pflegte man die Muttersprache in allen Klassen als selbständiges Unterrichtsfach. Im Griechischen scheinen die Leistungen recht dürftig gewesen zu sein, zumal brauchbare griechische Grammatiken fehlten und zu viel Wert auf spielendes Lernen gelegt wurde. Neben den drei Sprachen wurde auch den Fächern der Geschichte und Geographie, Arithmetik und Mathematik Beachtung geschenkt. Naturkunde wurde erst 1800 in den Lehrplan der Gymnasien aufgenommen. Über den Gymnasien bauten sich Lyzeen auf, aus zwei Jahreskursen bestehend, eine A r t Oberstufe des Gymnasiums; die im Gymnasium gewonnene Bildung wurde ») L o e w e , Schulkampf. 2 ) L o e w e , Schulkampf.

S. 8 f f . S. 5 f f .



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hier zum Abschluß gebracht. Sehr eingehend behandelte man den naturgeschichtlichen und ökonomischen Unterricht; die philologischen Fächer fehlten bis 1799 völlig; wurde doch auch erst 1788 an der Universität der erste Lehrstuhl für Philologie errichtet; seine Besetzung war lückenhaft und die Forderungen sehr dürftig. Zeichnen und neuere Sprachen waren fakultative Fächer, das Turnen und die Turnspiele fanden keine Berücksichtigung. Die Realschulen unterstanden seit 1782 dem deutschen Schuldirektorium; mit dem Beginn des Schuljahres 1784/85 sollten sie zwar vom Gymnasium ganz unabhängige höhere Bürgerschulen sein; tatsächlich aber bildeten sie auch nach jenem Jahre noch eine Unterstufe des Gymnasiums, zumal das Latein für eine Reihe bürgerlicher Berufe unentbehrlich schien. Neben der lateinischen Formenlehre waren Unterrichtsgegenstände: Moral, Geschichte, Erdbeschreibung, Naturgeschichte und Naturlehre, Rechnen und Meßkunst. In den Realschulen 1 ) lehrten weltliche Lehrer, in den Gymnasien und Lyzeen geistliche; unter diesen befanden sich aufgeklärte und pädagogisch gebildete Männer, die mit Begeisterung ihren Lehrberuf ergriffen, wie der Benediktiner Benno Ortmann2). Einen eigenen Lehrerstand mit akademischer Vorbildung gab es noch nicht; nur in Norddeutschland waren pädagogische Seminare errichtet worden, in denen Theologen auch für das Schulamt vorgebildet wurden. Der Adel wurde fast durchgehends von Privatlehrern zu Haus unterrichtet; die nicht zahlreichen Bürgersöhne in öffentlichen Schulen größtenteils für den geistlichen Stand; die übrigen Klassen studierten nach dem Grad ihres Gutdünkens oder einer zufälligen Anweisung. Eine Nationalerziehung, wo die gesamte Jugend nach bestimmten Grundsätzen gebildet und den Klassen derselben nach den verschiedenen Graden ihrer künftigen Ämter und Geschäfte eine zweckmäßige Erziehung erteilt wurde, gab es damals noch nicht. Ansätze zu einer gesunden Entwicklung waren vorhanden; aber in der Frage der Lehrerausbildung, der Lehrmethode, der Lehrbücher herrschten noch bedeutende Mängel. Bedenkt man, daß das gesamte Unterrichtswesen von dem Grundsatz bestimmt war den Schülern das Lernen möglichst angenehm zu machen, daß der Dienstag nachmittag und der ganze Donnerstag frei, der Unterricht täglich von 8—10 und 2—4 dauerte, so daß also 18 Stunden auf die Woche trafen, und daß vom 8. September bis zum 4. November seit den 80er Jahren Ferien 3 ) gehalten wurden, so wird man das pessimistische Urteil eines aktiven Lehrers jener Zeit verstehen4): „Jetzt . . . wollen sich Leute, so jung sie sind, nur ganz ohne Zwang ziehen lassen; man soll ihnen die alten Sprachen recht süß und leicht machen, alles Schulmäßige entfernen, ihren Geschmack bessern, ihren Manieren Firnis der feinen Welt anstreichen und in kurzer Zeit nicht allein kleine Vielwisser und Gelehrte, sondern auch schöne Geister und glatt geschliffene artige Leute aus ihnen machen. Darüber werden sie nichts, weil sie auf einmal alles werden wollen und was das Wichtigste ist: die dem Menschen so nötige Strebsamkeit geht aufs ganze Leben verloren. Daher eben das seichte und oberflächliche Wissen, die ausgeartete Empfindsamkeit, die Schwärmereien unseres Zeitalters." Das deutsche Schulwesen6) erfuhr unter Karl Theodor eine entschiedene Förderung durch die von Heinrich Braun 1778 verfaßte neue Schulordnung, die am Sitz jeder 1

) ) 3 ) 4 ) 6 ) 2

W e s t e n r i e d e r , München. S. 241. Ebenda S. 247. J o a c h i m s e n , Wilhelmsgymnasium. S. 29. W e s t e n r i e d e r , München. S. 242. L o e w e , Schulkampf. S. I 3 f f . D o e b e r l , Bayern. Bd. II. S. 3 i 2 f f .

— 63 — Regierung die Errichtung einer Musterschule zur Heranbildung tüchtiger Lehrer vorsah. 1 7 8 3 zählte 1 ) München 1 2 Normal- und Trivialschulen, von denen die Stiftsschule zu Unserer Lieben Frau und die Pfarrschule zu St. Peter den stärksten Besuch zeigten.

Die Akademie2) erhielt durch den Kurfürsten eine Bestätigung ihrer Privilegien und ihres Fonds und siedelte in die Räume des ehemaligen Jesuitenkollegiums über. 1777 wurde als 3. Klasse eine belletristische den zwei bestehenden hinzugefügt, die freilich 1785 wegen des Verdachtes des Uluminatismus wieder der Aufhebung verfiel. Zu ihren eifrigsten Mitgliedern zählte der junge katholische Priester Westenrieder; denn er konnte es, in seinem treuherzigen Patriotismus aufs tiefste gekränkt, nicht länger mit ansehen, daß sein Vaterland „hinter den Sachsen zurückstehe". Schaffung einer deutschen Nationalbühne schien der Akademie ein erstrebenswertes Ziel, und Westenrieder suchte durch literarische Arbeiten dem Theater eine würdige Stellung unter den Kulturanstalten zu verschaffen. Als Geheimrat von Lippert Direktor der historischen Klasse wurde, litt das wissenschaftliche Leben der Akademie zusehends. Einige ihrer Mitglieder griffen den Weimarer Kreis an und eröffneten gegen Kants kritische Philosophie den heftigsten Kampf; Westenrieder nannte den Königsberger Philosophen nur groß in anmaßendem Niederreißen und Zerstören. Der Botaniker Schrank spottete, das akademische Leben mache „den Eindruck eines Wagens, den die Pferde, man weiß nicht, wohin? ziehen, weil Kutscher und Passagiere vom süßen Schlaf umfangen sind". Alle hoffnungsvollen Fortschritte wurden durch die im zweiten Teil der Regierungszeit Karl Theodors hervortretende Reaktion gehemmt, wenn nicht zerstört. Als der Illuminatenorden entdeckt wurde und die französische Revolution auch auf den Süden Deutschlands überzugreifen drohte, ließ sich der Kurfürst durch seinen Beichtvater Frank, die geistlichen Räte Stattler und Hueber und den Oberlandesregierungsrat von Lippert bestimmen die schärfsten Maßregeln der Reaktion zu ergreifen. Eine Zensurkommission suchte die schädliche und falsche Aufklärung in Religion und Sittlichkeit zu beseitigen, der Schulkuratel sollte nach einer Denkschrift Huebers von Illuminaten gesäubert, das Generalstudiendirektorium mit anderen Prälaten besetzt, ein neuer Schulplan und streng katholische Vorlesebücher eingeführt werden. Die Vorlesungen über praktische Philosophie sollten durch solche über das praktische Christentum ersetzt werden. Ein geheimes Komitee mit richterlicher Gewalt unter Freiherr von Vieregg, später 2

W e s t e n r i e d e r , München. S. 2 4 2 f f . ) H e i g e l , Akademie. S. 69ff.

— 64 — unter Graf Wilhelm von Leiningen bekämpfte aufs rücksichtsloseste geistliche und weltliche Freigeister, unterdrückte jede freie Meinungsäußerung; selbst der später hochangesehene Johann Michael Sailer wurde 1795 aus München ausgewiesen. Die große Masse des Volkes bestärkte man in ihrer Neigung zu abergläubischen Vorstellungen und übertriebenen Andachtsübungen. Das Beispiel, das von oben gegeben wurde, wirkte nach unten. In einem Priesterseminar äußerte 1 ) sich der Leiter desselben: „Kant, der besoffene Mann, der seine Schriften im Rausch geschrieben hat, behauptet, nicht der Verstand, sondern der Wille sei moralischer Gesetzgeber." „Schon viele haben sich von diesem Kant verführen und Sand in die Augen streuen lassen." In München zeigte man siebzehn wundertätige Bilder; von einer heiligen Statue in der St. Peterskirche wurde eine neue Augenwendung berichtet. In der Umgebung der Stadt, z. B. in Ramersdorf, Harleding fand man wundertätige Kreuzpartikel und Muttergottesbilder; die eifrigen Katholiken hörten täglich eine Messe, die Bauern jeden Sonntag, die Fast- und Festtage wurden von den Rechtgläubigen sehr streng gehalten. Beim großen Haufen der Münchener waren die Andachtsübungen auf dem Land in den umliegenden Dörfern besonders beliebt. „Es findet sich" — so heißt es in vertraulichen Briefen aus München*) — „kaum ein Land, wo man eine bequemere Religion und lustigere Andachten hat als in Bayern." Wenig günstig lautet das Urteil über die Bettelmönche, die als Prediger in München auftraten: „Ein äußerst unangenehmer, bellender, stets einförmiger Ton, höchst fehlerhafte Mundart, breiteste Aussprache, bootsknechtmäßige Gebärden, unbändiges Schlagen mit Händen und Füßen, bierschenkenartiges Schimpfen und Toben auf ihre Zeitgenossen, grobe Ausfälle auf gewisse Personen und ihnen nicht behagende obrigkeitliche Anstalten sind die äußeren Zierate der Bettelmönchpredigten. Die Komposition selbst gleicht einer Hanswurstjacke aus buntscheckigen Flicken zusammengesetzt und ist meist aus einem alten lateinischen Prediger ins Volksdeutsche übersetzt." Ein Karmeliter ließ sich in München von der Kanzel also vernehmen: „Liebe Christen, morgen gehen wir öffentlich mit der Prozession. Ihr werdet — wenn ihr acht habt — Freimaurer und Freidenker an vielen Fenstern der Stadt sehen und Christen, die unserer Andachten, wo nicht laut, doch wenigstens im Stillen spotten. ') W e i l l e r , Unglauben. 2

S. 15.

) Beiträge zur Vaterlandskunde Bayerns oder freimütige Schilderung der Geistlichkeit und des Bürgerstandes, auch des Betragens der Franzosen im Land. 1801. i . H e f t .

— 65 — Waffnet euch dann mit dem Eifer des Herrn, greift nach Steinen und werft sie nach ihnen!" Zur Belohnung für seinen Eifer bekam er vom Pater Frank sechs Krüge Wein und einen Eierkuchen; auch Karl Theodor bezeigte ihm sein Wohlwollen. Wären nicht die Münchener von Natur gutmütig, so würde es wohl bei solchen Aufreizungen öfters zu Exzessen gekommen sein. Die Unzufriedenheit mit der Regierung Karl Theodors steigerte sich noch durch die auswärtige Politik des Kurfürsten, die Bayern den Oesterreichern preiszugeben drohte. Die Selbstsucht des Adels und der Geistlichkeit, die Ungleichheit der Lastenverteilung, das unsittliche Leben und die Willkür des Hofes, die Ueberzahl des Beamtenheeres, die Rücksichtslosigkeit der Zensur vertieften die Erbitterung bis zum äußersten. 1 ) Da starb 1799 unerwartet rasch Karl Theodor. Mit dem Einzug des Kurfürsten Maximilian IV. Joseph in München am 12. März 1799 beginnt eine neue Epoche der bayerischen Geschichte.2) Denn der zielbewußten Politik des leitenden Ministers Montgelas gelang es durch engen Anschluß an das militärisch überlegene Frankreich Bayern zu einem „wirklichen Mittelstaat" zu erheben. Als Ersatz für die durch die Abtretung des linken Rheinufers erlittenen Verluste und als Lohn für treugeleistete Waffenhilfe empfing es die geistlichen Fürstentümer Würzburg, Bamberg, Augsburg, Passau und Eichstätt, 13 reichsunmittelbare Abteien und 15 reichsunmittelbare Städte in Schwaben und Franken, Ansbach und Bayreuth, Regensburg, Augsburg und Nürnberg, vorübergehend Tirol und Vorarlberg. Die Erhebung zum Königreich und die dadurch gewonnene volle Souveränität gab F. G. von Montgelas die Möglichkeit in Bayern die Grundlägen des modernen Staates auf politischem, wirtschaftlichem, sozialem, kirchlichem und geistigem Gebiet zu legen. Da München die Hauptstadt des Königreiches und der Sitz des Hofes und der Regierung war, so mußten sich hier die Auswirkungen der Umwälzungen in besonderem Maße zeigen. Als Thiersch 1809 eintraf, fand er bereits eine sehr beträchtliche Spannung der Gegensätze vor. Er sah sich mitten hinein versetzt in eine Bevölkerung, die durch Montgelas' allzu rücksichtslos durchgreifende Aufklärungsmaßregeln beunruhigt war; bald sollte er mit allen führenden Persönlichkeiten in Verbindung treten und selbst zu einer bedeutsamen Tätigkeit berufen werden. Im kräftigsten Alter stehend, ließ er die verschiedenartigen Einflüsse und Eindrücke auf sich wirken und immer klarer und be2

D ö b e r l , Bayern. Bd. II, S. 32off. ) L o e w e , Schulkampf. S. 14ff.

L o e w e , Friedr. Thiersch.

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stimmter trat die Eigenartigkeit seines Wesens in Erscheinung. Es ist reizvoll zu sehen, wie er in diesem Ringen seine Bildung immer umfassender gestaltete und sich seines Lebensberufes und seiner Kraft bewußt wurde. Montgelas' gewaltige Leistung wird erst dann klar, wenn man bedenkt, daß sie „in eine Zeit des Ueberganges fiel, der gewaltigen Erschütterung des aus seinen Fugen getretenen Weltteiles, die erst mit dein Sturz der französichen Weltherrschaft zu Ende ging.1) Alte und neue Zeit rangen miteinander. Die tiefe Erbitterung über die reaktionäre Regierung Karl Theodors zitterte noch nach und drohte zu extremer Aufklärung zu führen. „Wie ganz Bayern" — so schrieb 2 ) über diese Verhältnisse ein Freund Feuerbachs aus Landshut — „gewissermaßen in drei Parteien, in Illuminaten, Obskuranten und Mittendurchgehende geteilt ist, so auch unsere Universität." Dieses Urteil findet eine Bestätigung durch einen Brief Heinrich von Schenks3) an Jacobi. „Es gibt eine sehr tätige Partei in Bayern, die außerordentlich viel auf das Fortschreiten mit dem Zeitgeist hält Was dieser Partei einen Mißbrauch erleichtert, ist der aristokratische und bigotte Unsinn der Gegenwart." Die Regierung und der Kurfürst waren für maßvolle Aufklärung, freilich vielfach im Sinne jenes Kantianismus, der als neu bestaunt wurde, während er im übrigen Deutschland zu veralten begann. Bei ihrer grundlegenden Reform des Bildimgswesens 1804, die stark realistischen Einschlag zeigt, bediente sie sich vor allem auch des Rates jener Gruppe von Theologen, wie Mutschelle und Weiller, die an die kritische Arbeit des Königsberger Philosophen anknüpfend ihre kirchlichen Anschauungen in Einklang mit den Forderungen der Zeit zu bringen suchten. Neben der Aufklärung mit ihrem Mangel an historischem Sinn machte sich in immer steigendem Maße der Neuhumanismus geltend, der vielfach im Bund mit der spekulativen Philosophie erscheint, sowie die Romantik, die namentlich in München und Landshut rege Pflege fand. Unter den strengen Anhängern des Katholizismus war Anlehnung an den Mystizismus Jacob Böhmes sowie eine auf dem lebendigen Geist der geoffenbarten Religion beruhende Richtung bemerkbar. Von da spannen sich Fäden zu den Vertretern der Romantik und der spekulativen Philosophie. !) T h i e r s c h , Zentner. Der Artikel von Eisenhart in der A.D.B. (Bd. 45, 1900) S. 67ff., beruht im wesentlichen auf Thierschs Rede. 2 ) F e u e r b a c h s Nachlaß. Bd. i s , S. 953 ) J a c o b i s Briefwechsel. Bd. 2, S. 322ff. Heinrich Schenk an Jacobi, 6. November 1802.

— 67 — So begegneten sich in Bayern alle bedeutenden geistigen Strömungen der Zeit. Der Kampf, der sich zwischen ihnen entspann, gewährt einen eigentümlichen Reiz. In der Ueberzeugung, daß die Blüte des neuen Staates unauflöslich mit der erweiterten und gründlicheren Pflege der Wissenschaften wie überhaupt mit einer Hebung der Volksbildung verbunden sei, richtete Montgelas sein Hauptaugenmerk auf die Neuorganisation der jenen Zwecken dienenden Anstalten. Das gesamte Unterrichtswesen wurde unter Aufsicht des Staates gestellt und sollte seines konfessionellen Charakters entkleidet werden. Montgelas' bedeutendster Mitarbeiter an leitender Stelle war Graf Topor M o r a w i t z k y 1 ) , der Minister des Innern, der damals das ganze Unterrichtswesen zu beaufsichtigen hatte. Ein geborener Münchener, der Sohn des Kurfürstlich Geheimen Rates und Vizestatthalters der Oberpfalz Joseph Clemens Morawitzky, empfing er seine Ausbildung zu Frankfurt a. Main und am Gymnasium und Lyzeum zu Amberg. Während er an der Universität zu Ingolstadt juristische Studien betrieb, gewann der fortschrittliche Freiherr von Ickstatt auf ihn großen Einfluß. Durch weite Reisen in Deutschland und Frankreich seine allgemeine Bildung vertiefend, trat Morawitzky 1758 in den Dienst seines Landesherrn und wurde bald darauf Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Als deren Vizepräsident förderte er alle Bestrebungen zur Hebung der Volksbildung, der Pflege der deutschen Sprache und zur Errichtung von Realschulen. In der „Akademischen Rede vom Nutzen der Wissenschaften in Rücksicht auf die Bildung des Herzens" 2 ) zeigt er sich als der überzeugte Aufklärer, für den klare Verstandeserkenntnis mit Willensbetätigung aufs innigste verknüpft ist. „ D i e Wissenschaften besitzen den ausnehmenden Vorzug, daß sie, indem sie den Verstand bessern, zugleich das Herz bilden." „Sobald der Verstand urteilt, so will schon das Herz." „ K a u m zeigt uns der Verstand die Gottheit als unendlich gut, gerecht, vorsichtig und unbegreiflich, so fühlet das Herz schon Triebe der Dankbarkeit, der Furcht, des Vertrauens, der Demut." Die Einsicht des Verstandes in die Bedeutung des gesellschaftlichen Lebens weckt Vaterlandsliebe, Gehorsam gegen die Obrigkeit und ruft kluges Betragen und geselligen Umgang hervor. „ W i r d das Wahre bis zur äußerst möglichen Überzeugung gebracht, so schlägt das Gute Wurzeln." Wer die Wissenschaften enzyklopädisch, d. h. in ihrem ganzen Umfang und Zusammenhang treibt, bei dem erreicht die Sittenlehre den höchsten Grad. In der Geschichte im Sinne Voltaires, die uns Kenntnis der Sitten, die Wirkungen der menschlichen Leidenschaften, die schlimmen Folgen der Unwissenheit, den Faden des Fortganges der Künste zeigt, sieht er eine der reichsten Quellen für dieselbe und den Hauptgrundstein der ausübenden Weltweisheit. Die mit Naturgeschichte und Mathematik ver-

s

Z w e r g e r , Morawitzky S. 2 9 5 f f . ) Gehalten am Namensfest des Kurfürsten 1769.

S. 3, 5, 6, 7, 8, 1 3 , 17.

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bundene Naturlehre entdeckt uns „den entzückenden Glanz der Herrlichkeit Gottes, die Sinn und Witz starrmachende Weisheit und Allmacht des Schöpfers". „Von den unermeßlich großen Weltkörpern an bis auf den unfühlbaren Staub ist alles Pracht, Ordnung und bewunderungsvolles Geheimnis; Gott zeigt allenthalben seine Herrlichkeit gleichförmig in dem Zederbaum wie in dem Kleeblatt, Wir finden und fassen ihn doch niemals an dem Hypopotam so wie an dem Moderwurm. Der Kreislauf des Lebenssaftes in dem unsichtbaren Ephemer verkündigt ihn wie die Ebbe und Flut des grundlosen Ozeans."

Heinrich Braun, der energische Schulreformator, wurde von ihm besonders geschätzt. Großen Einfluß übte Morawitzky auf die Entwicklung des gelehrten Schulwesens in den 80er Jahren, als dieses vom Prälatenstand übernommen wurde; denn Karl Theodor bestimmte ihn heben dem Geheimen Rat Häffelin und dem Revisionsrat Vacchiery zu Mitgliedern des Kuratoriums. Lebhaft trat er seit Mitte der 80er Jahre auch für die Gründung von Feiertagsschulen ein, wie die in der Ortskommende Biburg blühende Anstalt ihm seine Entstehung verdankt. Die Mißregierung Karl Theodors seit der Aufhebung des Illuminatenordens veranlaßte Morawitzky 1791 sich nach der Kommende B i b u r g zurückzuziehen, wo er die sieben glücklichsten Jahre seines Lebens im Studium der Staaten-, Kunst- und Literaturgeschichte zubrachte; eifrig unterstützte er die Landwirtschaft und die Ortsschule. Die großen politischen Ereignisse des ausgehenden Jahrhunderts führten ihn in den Staatsdienst zurück. Von dem Legationsrat Zentner unterstützt, vertrat er Bayerns Ansprüche auf dem Rastatter Kongreß. Wegen seiner Verdienste ernannte ihn Max Joseph 1799 zum Geheimen Staats- und Konferenzminister und stellte ihn an die Spitze des geistlichen Departements, das die Oberaufsicht über Kultus, Künste und Wissenschaften sowie Schul- und Studiensachen hatte. Das von Branca verfaßte kurfürstliche Reskript vom 24. September 1799 zeigt deutlich das Programm der neuen Regierung: im Interesse des Nationalwohlstandes, der von einer besseren Bildung der Untertanen bedingt sei, müssen die Real- und Bürgerschulen mehr begünstigt werden. Die von Morawitzky am 3. August 1803 erlassenen „Allgemeinen Grundsätze" gaben das Programm für eine Reform des gesamten Unterrichtswesens im Sinne der philanthropischen Ideen. Die Heranbildung von moralisch guten, verständigen und geschickten Bürgern durch den Staat ist das Ziel. Der besonderen Bestimmung der Menschen, also ihrer Brauchbarkeit entsprechend, wird die Errichtung von Dorf-, Bürger-, Gelehrten- und Industrieschulen gefordert. Feiertagsschulen erscheinen für diejenigen Stände notwendig, die schon früh die Lehrschulen verlassen müssen um zu arbeiten. Besonderes Augenmerk richteten die „Allgemeinen Grundsätze" auf die

— 69 — Herstellung einer „genauen Verbindung" von den Elementarschulen bis zur Hochschule, auf die Heranbildung tüchtiger Lehrer, die Auswahl der Lehrgegenstände und guter Bücher, die richtige Unterrichtsmethode, sowie eine unausgesetzte Aufsicht über die Erziehungsanstalten. Morawitzkys Fürsorge erstreckte sich auf alle Schulgattungen. Die Kurfürstliche Verordnung vom 23. Dezember 1802 brachte für alle Kinder vom 6.—12. Lebensjahre den Schulzwang; damit war der Grundstein für ein rasch aufblühendes Volksschulwesen im Sinn Heinrich Pestalozzis gelegt. Schon 1804 wurde der erste, in den folgenden Jahren noch mehrmals überarbeitete Volksschullehrplan veröffentlicht. 1803 bestimmte eine Generalverordnung nach dem Muster der in München von Franz Xaver K e f e r gegründeten Feiertagsschule die Errichtung von Sonntagsschulen in allen Städten, Märkten und Pfarrdörfern, zu deren Besuch Knaben und Mädchen bis zum 18. Jahre verpflichtet waren. Das Regulativ von 1809 förderte die Bildung der Volksschullehrer wesentlich. Zwei Lehrerbildungsanstalten in Franken, in Würzburg und Bamberg, übernahm der Staat; an der Münchener Feiertagsschule wurde 1803 eine Lehrerpflanzschule eröffnet, die 1813 nach Freising verlegt wurde. Besondere Sorgfalt widmete Morawitzky der Landesuniversität Ingolstadt; nachdem schon am 25. November 1799 eine Instruktion erlassen worden war, die in gleicher Weise auf die Zweckmäßigkeit des Unterrichtes und die moralische Ausbildung der Studenten Rücksicht nahm, erfolgte 1800 die Verlegung nach Landshut; den äußeren Anlaß boten, wie die Bitte des Rektors und Senates zeigt, die kriegerischen Ereignisse, der Rückzug der kaiserlichen Armee aus Schwaben; tatsächlich sollte die Hochschule mit dem Ort auch die Art wechseln, dem Einfluß des Bischofs von Eichstätt, des jeweiligen Kanzlers derselben, sowie den Nachwirkungen des aufgehobenen Jesuitenordens entzogen werden. Der kurfürstliche Rat Zentner war entschieden für eine Verlegung nach München als dem am besten genügenden Platz eingetreten. Ein nach Beendigung des Krieges 1801 von den Vertretern Ingolstadts unternommener Versuch, die Universität in die „echte Heimat" der hohen Schule zurückzuführen, scheiterte an dem Widerstand des geheimen Universitätskartells, das aus den Räten Zentner, Branca und Vacchiery bestand. Morawitzkys Einfluß auf die Schulen hörte auf, als er 1806 das Ministerium der Justiz und Polizei übernahm; 1810 starb der um Bayern hochverdiente Staatsmann. Er war ein überzeugter Anhänger der Auf-

— 70 — klärung; religiös stand er dem Kreis Kajetan Weillers und Wißmaiers nahe; seine ausgesprochene Neigung zur Kunst bestimmte ihn, den Hofbildhauer Franz Schwanthaler, den Vater des berühmten Erzgießers, zur Schöpfung der Jünglingsstatue zu veranlassen, die den Eingang des Englischen Gartens ziert: „Harmlos wandelt hier, Dann kehret neu gestärkt Zu jeder Pflicht zurück!" Nach Morawitzky gewann Z e n t n e r als Leiter des Schulwesens besondere Bedeutung. Die Landshuter Hochschule erfüllte die hohen Erwartungen, die man auf die Reform gesetzt hatte, nicht. Die Landshuter Jahre wurden „die eigentlichen Not- und Kriegsjahre der Hochschule".1) Besonders schädlich wirkte die Nichtbeachtung der beiden Grundforderungen, auf denen das Wesen der deutschen Hochschule beruht, für deren Durchsetzung Friedrich Thiersch später die ganze Kraft seiner Person einsetzte, der Lehrfreiheit und Lernfreiheit. Montgelas vertrat aus Angst vor der Unabhängigkeit der deutschen Universitäten viel zu rücksichtslos die Organisation napoleonischen Stils; darum wurde die Lehrfreiheit beschränkt, der Lernzwang eingeführt; die Studenten durften am anmutigen Gestade der Isar nicht fischen und jagen, auf der Straße nicht rauchen, ja nicht einmal eigene Hausschlüssel führen. Dazu kamen die heftigen Streitigkeiten unter den Professoren, auf die Feuerbachs Briefe so interessante Streiflichter werfen. Auch dieser geistig hochstehende, etwas allzu reizbare Lehrer mußte über die mangelnde Selbständigkeit, das Fehlen eines wahrhaft wissenschaftlichen Sinnes der Studierenden klagen. Endlich wirkten die einander bekämpfenden geistigen Strömungen der Zeit, Aufklärung und Romantik, störend; während die Professoren der Philosophie Reiner und Socher Kant verherrlichten, drang schon die Schellingsche Philosophie ein, aufs entschiedenste vertreten von dem Theologen Zimmer und dem Mediziner Röschlaub, die 1805 über Schelling lasen. Die Geister platzten so scharf aufeinander, daß die Universitätskuratel jene Vorlesungen verbot; Reiner starb bald darauf, Socher ging wieder auf seine Pfarrei, Zimmer wurde entlassen.*) Der Regens des Georgianums, das die an der Universität studierenden Theologen vereinigte, Fingerlos,3) war ein entschiedener Anhänger Kants und bekämpfte die M e r k l e , Sailer in „Religiöse Erzieher der katholischen Kirche". S. I 2 i . H e i g e l , Universität. S. 26. 2 ) A i c h i n g e r , Sailer S. 3 3 3 .

1920.

3

) A i c h i n g e r , ebenda S. 3 5 o f f .

Leipzig

— 71 — biblische Lehre von der Erbsünde, der Erlösung durch den Gottmenschen, der Gottheit Christi und den Heilmitteln der Kirche. Die Alumnen sollten in ihren Vorträgen stets aufs praktische Leben bezügliche Themata über Ackerbau, Straßenbau, Gewerbe wählen. Als erste Pflicht des Geistlichen bezeichnete er ein gründliches Studium des Kantschen Systems und eine Befolgung seiner Grundsätze in Predigt und Lebenswandel. Bald fand der Neuhumanismus einen entschiedenen Vertreter an Friedrich Ast. Wenn trotz all dieser Schattenseiten die Universität doch auch Erfolge zu verzeichnen hatte, so verdankte sie es in erster Linie einigen überragenden Persönlichkeiten. Eine besonders bedeutsame Rolle spielt Johann Michael S a i 1 e r, neben Mutschelle und Kajetan Weiller wohl der interessanteste Vertreter eines maßvoll toleranten Katholizismus. Durch sein Wirken als Lehrer und Schriftsteller gewann er im Geistesleben seiner Zeit eine weit über die Grenzen seines engeren Heimatlandes hinaus reichende Bedeutung, die katholische Kirche verehrt ihn als einen ihrer größten Verteidiger in der Zeit schwerster Erschütterung durch Rationalismus, Revolution und Napoleons Gewaltherrschaft; Protestanten und Katholiken suchten seine Freundschaft. Mit dem Münchener Kreis, der auf den jugendlichen Thiersch so stark einwirkte, namentlich mit Jacobi, Schelling und Feuerbach trat Sailer in nahe Beziehungen. Als eindrucksvoller Redner der Hochschule bereitete er den Boden, auf dem Thierschs Saat später so reich aufgehen sollte. Das Charakterbild S a i 1 e r s wird nur verständlich, wenn man ihn als Kind der Aufklärungszeit betrachtet.1) Der englische Deismus hatte in Frankreich einen wohlvorbereiteten Boden gefunden; denn Religion und Kirche waren durch die allzu enge Verbindung mit dem Staat, die Gefügigkeit der Hierarchie gegenüber den Forderungen des absoluten Königtums, durch die Duldsamkeit des Jesuitenordens gegen die Entsittlichung des Hofes und der Gesellschaft, durch sein rücksichtsloses Machtstreben und die intolerante Verfolgung anderer kirchlicher und theologischer Richtungen, durch die bevorrechtete Stellung des Klerus und die Ausartung der Schultheologie aufs schwerste geschädigt. In Deutschland wirkte für die Weckung eines antikirchlichen Geistes besonders günstig das Verhalten zahlreicher geistlicher Fürsten und ihrer Hofhaltungen, das Zurückbleiben des jesuitischen Studienbetriebes hinter den dringenden Forderungen der Zeit und die rücksichtslose Absperrung der katholischen Universitäten gegenüber allen !) M e r k l e , Sailer.

S. i85ff.

— 72 — Einflüssen von außen, während im protestantischen Norden bereits weite Kreise der Theologie unter dem Einfluß des Rationalismus die Inspiration und Gottheit Christi leugneten und die biblischen Wunder natürlich erklärten, die zweite Blütezeit der deutschen Literatur in religiöser Hinsicht sich ihm anschloß und die Philosophie unter Wolff und Kant eben diese Wege einschlug. Bei der engen Lebensgemeinschaft der Protestanten und Katholiken mußte sich die übermächtige Zeitströmung auch in katholischen Kreisen bemerkbar machen; es geschah in doppelter Form, als Radikalismus und als gemäßigte Richtung; innerhalb des ersteren unterscheidet man verschiedene Abarten; so bestritt Eulogius Schneider in Straßburg und Bonn überhaupt alles Uebernatürliche in Christentum und Kirche; andere verleugneten privatim ihre öffentlich vertretenen Ansichten. Die Anhänger der gemäßigten Richtung trennten sich von dem starr konservativen Traditionalismus; denn sie erkannten in dem verknöcherten Studien- und Wissenschaftsbetrieb, in dem übertriebenen Konfessionalismus, der Bevorzugung der kirchlichen Organisation gegenüber der Religion, in der Fernhaltung nationaler Kultureinflüsse und der allen Forderungen des Christentums Hohn sprechenden Art der Polemik die schwersten Gefahren für den Katholizismus. Diese Richtung hielt treu am Dogma fest, glaubte an die Möglichkeit zwischen Kants Weltanschauung und der eigenen eine Vermittlung zu finden, bemühte sich „das äußere Gewand", nicht das „innere Wesen des Kirchentums" zeitgemäß zu erneuern. 1 ) Zu ihr gehört Johann Michael Sailer, der nur insoferne im Gegensatz zu zahlreichen anderen Anhängern der gemäßigten Aufklärung geriet, als er hinsichtlich der kirchlichen Disziplin, des kirchlichen Lebens und Kultus treu zum Ueberlieferten hielt.2) Von den extremen Aufklärern wurde er als Obskurant, Jesuit und Römling verschrien, von den strengen Eiferern als Separatist, heimlicher Protestant, Schwärmer und Mystiker getadelt. Tatsächlich hielt er während seines ganzen Lebens jede Trennung von der römisch-katholischen Kirche für frevelhaft und war ein Gegner jeder Sektenbildung. Treu bekannte er sich zur Lehre seiner Kirche und führte einen priesterlich fleckenlosen Wandel. Sein klarer Verstand hielt ihn davon ab, sich einer falschen Mystik hinzugeben. Johann Michael Sailer, 1751 als Sohn eines armen Schusters Aresing in Oberbayern geboren, empfing die nachhaltigsten

zu J

) M e r k l e , Sailer.

2 3

S. 188.

) S t o l z l e , Sailers Entwicklung.

S. 52gff.

) K o s c h , Sailer. R e u s c h , Sailer. S. I 7 8 f f .

M e r k l e , Sailer.

S. i 8 3 f f .



73



Eindrücke durch ein tief religiös gesinntes Elternhaus; durch Vater und Mutter wurde ihm von den frühesten Jahren an das ewige Leben, das Gefühl der Religion gleichsam neu eingeboren, und dies Gefühl konnte nachher kein Begriff, kein Zweifel, kein Leiden, kein Druck, selbst keine Sünde töten. „Es lebt noch in mir" — so bekennt er später — „dies ewige Leben, ob du gleich schon vor mehr als vierzig Jahren das Zeitliche gesegnet hast." Schon auf dem Münchener Gymnasium geriet er unter den Einfluß der deutschen Literaturbewegung, indem sein Lehrer Zimmermann die begabteren seiner Schüler mit Klopstocks Messias, Lessings Minna von Barnhelm, mit den Schweizer Dichtern, den Satiren Rabeners, den Fabeln, Kirchenliedern und Schauspielen Gellerts und mit Kästners Sinngedichten bekannt machte. 1 ) Auch im Gymnasium war die Religion die natürliche Grundlage der ganzen Erziehung. 2 ) Der Unterricht in den Glaubenswahrheiten wurde in die Erklärung der klassischen Werke und in alle anderen Schulhandlungen verwoben. Jeden Morgen fand ein Gottesdienst statt; nach der Schule besuchten die Zöglinge mit ihren Magistern die Jesuitenkirche, abends gingen sie in kleineren Gruppen in eine der altehrwürdigen Kirchen Münchens. Nach schweren Gewissensqualen und Glaubenszweifeln trat Sailer (1770) als Novize bei den Jesuiten in Landsberg am Lech ein; als Gewinn der zwei „paradiesischen Jahre" bezeichnete er „das wahrhaft höhere Leben des Geistes, Betrachtung des Ewigen, Liebe des Göttlichen und eine Andacht, die sich in diesem Doppelelement bewegt". Sein Hochschulstudium an der Universität Ingolstadt (1773—1774) umfaßte Philosophie, Physik, Mathematik und Theologie; am stärksten wirkte auf ihn der Jesuit Benedict Stattler aus Kötzting im Bayerischen Wald, der „zuerst das schlafende Nach- und Selbstdenken in Bayern, in Schwaben, im ganzen Katholischen mächtig aufgeweckt and dem Studium einen neuen Schwung und eine ganz neue Gestalt gegeben hat". 3 ) Mit großer Entschiedenheit trat Stattler für eine Reform der scholastischen Philosophie und Theologie ein, bekämpfte den Illuminatismus, die französische Revolution und den Kantianismus. Rühmend erkannte der Königsberger Philosoph an, der Doktor Stattler sei einer seiner konsequenteren, lieberen Gegner, bleibe sich von Anfang bis Ende gleich und habe sich und ihn verstanden. Stattler hielt auf Ordnung im Denken, Gesinnung und Handlung; von ganzem Herzen war er religiös.4) A i c h i n g e r , Sailer. S. 12, 13. ) K o s c h , Sailer. S. 6. 3 ) Sailer in der Biographie Winkelhofers. Sämtl. Werke X X I . S. 195. 4 ) S a i l e r . Sämtliche Werke X X X V I I I , S. n 8 f f . 2

— 74 — Schon bald fand Sailer als Repetitor der Philosophie und Theologie (1777) und als zweiter Professor der Dogmatik in Ingolstadt Gelegenheit sein großes Lehrtalent zu zeigen. Die Ueberweisung der Schulen und Lehrstühle an die Orden durch Karl Theodor zwang den jungen Professor zu unfreiwilliger Muße (1781—84), die er in angestrengter literarischer Tätigkeit verbrachte. Es entstand die „Vernunftlehre" und „das Gebetbuch". Die „Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind, d. i. Anleitung zur Erkenntnis und Liebe der Wahrheit" erregte in weitesten Kreisen Aufsehen, da sie die Grundlagen für eine Philosophie des Lebens gab; sie untersucht die Aufgaben und Bestimmung der Vernunft. „Das Tun ist der sicherste Weg zum Wissen." Lavater bezeichnete sie als „das zeitbedürftigste Buch".1) 1829 ließ Sailer einer neuen Auflage als Nachrede eine Charakteristik der deutschen Philosophie der Zeit beidrucken, deren Verfasser Heinrich Steffens, ein Verehrer Sailers, war; 2 ) sie betont das gärende Chaos der Systeme, das ein Eindringen in die Meinungen der einzelnen nahezu ausschließe. Das „Gebetbuch" sollte „das katholische Volk von dem Zufälligen unserer Religion zum Wesentlichen und vom Mechanischen zum Geistigen derselben hinführen, nur Volksdogmatik und Volksmoral geben und durchaus auf praktische Schriftkenntnis und vollständige Herzensbesserung dringen". Es war in der kernigen Rede der Schrift und der heiligen Väter geschrieben. „Täglich, morgens und abends erbaue ich mich in Sailers Gebetbuch, auch in der Kirche," so schrieb König Ludwig 1854 an Christoph von Schmid.3) Eduard von Schenk, der spätere Leiter des Kultus- und Erziehungswesens, erzählt, wie schon in früher Kindheit Sailers Name ihm vertraut wurde, indem die katholischen Dienstboten in seines Vaters Haus zu Düsseldorf an Weihnachten das Gebetbuch als beste Gabe erhielten.4) Von der Berliner Aufklärung eines Nicolai mußte sich Sailer den Vorwurf, er sei Kryptojesuit und versuche durch seine Schriften das protestantische Deutschland anzustecken, gefallen lassen; man ahnte und fürchtete wohl dort schon den sich anbahnenden Umschwung der Geister. Scharf und schneidig wies Sailer die platten Anwürfe des Aufklärers zurück. „Man hat bisher für gut befunden, den Katholizismus mit Dummheit zu verwechseln. Wenn nun ein Katholik vernünftig redet, so schallt es gleich von allen *) A i c h i n g e r , Sailer. S. 7 1 . 2 ) Philipp K l o t z , J . W . Sailer als Moralphilosoph. 1909.

S. 19. 3 ) A i c h i n g e r , Sailer S. 66. 4 ) Charitas 1838. S. 2 5 7 .

Dissertation.

Paderborn

— 75 — Ecken Deutschlands zurück: er will uns bekehren, traut ihm nicht. Wer also nicht stark genug ist gegen alle verdammenden Urteile und die papierene Krone des Zeitungslobes ein Held zu sein, der wird das Nachdenken wieder aufgeben und lieber das Prädikat der Dummheit mit sich fortschleppen um nur nicht unter die unehrlichen Kerls, die ihre Religionsbegriffe maskieren, gezählt zu werden." 1 ) ,,Das Warnen eurer Glaubensbrüder vor unseren Schriften hat übrigens eine große Analogie mit dem Betragen der Pedanten und alten Weiber unter uns." „ W a s reitet Herr Nicolai notorisch sonst für Steckenpferde ? Antwort: drei: —• des Anti-Lavaterismus, AntiKatholizismus, des Anti-Jesuitismus."

Ohne Scheu trat Sailer mit Protestanten in Briefwechsel und suchte ihre persönliche Bekanntschaft; 2 ) die Schriften des Matthias Claudius begleiten ihn auf einer Reise durch Oberschwaben: „Da war kein Tag, wo wir nicht unsere Morgen- und Abendlieder aus dem Wandsbecker gebetet, kein Tag, wo wir nicht in einem Zirkel, der mit uns zu harmonieren schien, eine Vorlesung aus dem Asmus hielten." „Ich finde in Ihrem Buch" — so lesen wir in dein Brief, mit dem er seine Bekanntschaft 1787 einleitete — „teurer Mann, einen Geist, den ich in vielen anderen nicht finde, und dieser Geist macht auch still, ruhig, und wenn ich ihm folge, gut," „um dieses Geistes willen liebe ich den Asmus vor vielen anderen Büchern und Schriftstellern". Zu Lavater fühlte er sich besonders hingezogen, weil dieser so warm für den Christusglauben eintrat. Seinen „Pontius Pilatus, oder der Mensch in allen Gestalten" bezeichnet Sailer als „das Handbuch seiner Seele, darin er Stärkung im Glauben an Christus findet; durch Verbreitung seiner Schriften gewann er viele Männer und Jünglinge dem Bibelglauben zurück. Besonders herzliche Beziehungen unterhielt Sailer auch zu der protestantischen Grafenfamilie Christian Friedrich Stollberg-Wernigerode, namentlich zu der Gräfin Eleonore Auguste, einer sehr gebildeten und belesenen Frau, in deren Haus Lavater, Jung Stilling und andere „in Gott lebende Männer" wiederholt verkehrten. Für sie schrieb er ein „Erziehungsprogramm in 8 §, 3 ) ausgezeichnet „durch den Geist der Natürlichkeit, Sittlichkeit und Religiosität"; die religiös-sittliche Bildung ist die Basis aller Bildung; die Verstandesbildung trete freundlich hinzu. Ein schöner Wirkungskreis eröffnete sich Sailer 1784 durch Berufung an die Akademie Dillingen 4 ) als Professor der Ethik und Pastoraltheologie. In kürzester Zeit hatte er Kollegen und Hörer für sich gewonnen; seinen klaren, begeisternden Vorträgen in deutscher Kosch, ) Stölzle, 3 ) Stölzle, 4 ) Stölzle,

2

Sailer. S. 7. Sailer in seinen Briefen. S. 369ff. Erziehungsprogramm. S. 3 8 5 f f . Maßregelung. Derselbe: Biographie.

S. 388ff., 459ff.

— 76 — Sprache lauschten nicht nur Studenten, sondern auch gereifte Männer, Offiziere, Beamte; auf Waldspaziergängen hielt er Seminarübungen ab, keinem Rat Suchenden war sein Haus verschlossen. Gleichzeitig arbeitete er unermüdlich literarisch. 1786 erschien seine zweibändige „Glückseligkeitslehre", 1788/89 seine Vorlesungen über Pastoraltheologie. Für die Reorganisation des Gymnasiums sorgte er dadurch, daß er die Berufung tüchtiger Lehrer wie Feneberg, Weiß und Keller durchsetzte. In kurzer Zeit blühte die Akademie auf. Der 33jährige Sailer bildete den Mittelpunkt der „Neuerdenkenden", der „Literarischen"; ihm schlössen sich seine gleichgestimmten Freunde an, der Professor der Physik Weber, der Professor der Dogmatik Zimmer, der Professor der Aesthetik und Rethorik Hörmann und die Professoren am Gymnasium, Feneberg und Keller. Während diese Männer an den katholischen Grundsätzen streng festhielten, kamen sie den Zeitforderungen entgegen, indem sie das Gute und Wertvolle am Neuen in den Dienst der katholischen Wahrheit stellten und in nicht grundsätzlichen Dingen Zugeständnisse machten. Sie verwerteten protestantische philosophische und schöngeistige Literatur, trugen in der Muttersprache vor, gaben die streng scholastische Methode auf und verlangten eine dem Alter der Studenten angepaßte vertrauensvolle Handhabung der Disziplin. Eine andere Partei, die „Altdenkenden", an der Akademie dagegen glaubte durch rücksichtslose Abschließung, strengstes Festhalten an der bisherigen Methode und rücksichtslose Disziplin den Geist der Aufklärung bekämpfen zu können. Zu diesem sachlichen Gegensatz kam ein persönlicher, da die Vertreter des Alten sich von der akademischen Jugend gemieden sahen. So begann der Kampf, der schließlich 1794 mit der Amtsentlassung Sailers endete, ohne daß dieser Gelegenheit hatte die gegen ihn erhobenen Anklagen kennen zu lernen. Die Partei der „Altdenkenden" konnte triumphieren. Eine neue strenge Studienordnung wurde erlassen, dem Verfall des Lateinischen gesteuert, auf die deutsche Lektüre sollte nicht mehr Zeit als unbedingt nötig verwendet werden. Nahezu alle Vorlesungen in deutscher Sprache wurden abgeschafft. Die Kantische Philosophie durfte bis auf weiteres nicht mehr gelehrt werden. Von seinen Feinden bis nach München verfolgt, fand Sailer, der das schwere, ihm zugefügte Unrecht mit Ergebung trug, endlich zu Ebersberg bei dem Pfleger Karl Theodor Beck Aufnahme. In der stillen Zurückgezogenheit der Jahre 1794—99 entstanden „die Briefe aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung", „die Uebungen

— 77 — des Geistes" und die „Uebersetzung der Nachfolge Christi" mit Einleitung und Anmerkungen. In den „Uebungen" legte er den Nachdruck darauf, eine Anleitung zu geben, die nicht in gelehrten Abhandlungen bestehe, sondern in lauter Uebungen; Nicolai1) erklärte in der neuen allgemeinen Bibliothek, er habe „die Kunst des Verfassers bewundert, die katholischen Unterscheidungslehren zu verstecken und seine Asketik dem vernünftigen Geist des Christentums anzupassen" und erhob die warnende Frage: „Sollte das Buch etwa für die Protestanten berechnet sein, sie zu dem Wahne zu verleiten, daß das Wesen des Katholizismus eine andere Gestalt gewonnen hat?" Er war eben nicht fähig Sailers literarische Tätigkeit unbefangen zu würdigen. An die Uebersetzung der Nachfolge Christi knüpfte sich der völlig unberechtigte Vorwurf. Sailer rechtfertige den Protestantismus. Der Regierungsantritt Maximilians IV. Joseph und Montgelas' Reformen brachte Sailer an die Stelle, wo er 22 Jahre lang (1799 bis 1821) eine tiefgehende Wirksamkeit ausüben konnte, an die Universität Ingolstadt-Landshut;2) zu seinen aufmerksamsten Hörern zählten Kronprinz Ludwig und Eduard Schenk, die bei der Schulreform des Jahres 1829/30 auf so entscheidenden Posten standen. Sailer las über Moraltheologie, Pastoraltheologie, Homiletik, Pädagogik, später auch über Liturgie und Katechetik. Seine Vorlesungen über die Grundlehren der Religion hielt er vor Hörem aller Fakultäten. Als Universitätsprediger bestieg er oft die Kanzel. Was Sailer wollte, war eine wissenschaftliche, aber positiv gläubige Philosophie. Die moderne Philosophie sollte dazu die Mittel bieten. In den vor Studenten aller Fakultäten gehaltenen Vorlesungen „Ueber Grundlehren der Religion"3) beruft sich Sailer mit Worten begeisterter Anerkennung auf Jacobi: „Die Vernunft kann in sich selbst einen Grund finden, der sie nötigt, das Ausmessen des Unausmeßlichen aufzugeben. Dieser Grund liegt im Wesen der Vernunft und selbst die Abstammung des Wortes Vernunft verrät ihn schon. Jacobi hat ihn ans Licht hervorgezogen. Eben dieses gibt seiner Ansicht einen wunderbaren Bestand, indes die Systeme seiner Zeit das Schicksal der Zeit erfahren." Als besonders merkwürdige Stellen erwähnt Sailer „Aus dem Brief an Fichte" die Ausführungen Jacobis über „die Vernunft" und ein Stück aus der „Abhandlung über Lichtenbergs Weissagung", worin der Glaube *) A i c h i n g e r , Sailer. S. 241 ff. 2 ) S t ö l z l e , Maßregelung. S. I49ff. R a d l m a i e r , Sailer. S. 191 ff. K o s c h , Sailer. S. I2ff. 3 ) München 1805. 6. Vorlesung. S. 6sff.

Sailer.

S. 6/7.

Merkle,



78



an Gott als ein Instinkt des vernünftigen Menschen aufgefaßt wird. „Was der Verfasser hier darstellt, möchte das Denkwürdigste und Bleibendste sein, was unsere gärungsreichen Zeiten über das Verhältnis des menschlichen Erkennens zum Göttlichen ausgesprochen haben." Jacobis Vernunftlehre, von der in anderem Zusammenhang noch zu sprechen ist, knüpft an Kants Erkenntnistheorie an und so wird auch hier der Zusammenhang zwischen den Ideen des Königsberger Philosophen und einflußreicher Vertreter der katholischen Theologie klar. Gerade diejenigen, die im Gegensatz zu einer übertriebenen Einschätzung des Verstandes dem Gefühl weitgehende Bedeutung zuschrieben, fanden in Jacobis Anschauungen wertvolle Unterstützung. Jacobi 1 ) schrieb über diese Schrift: „Sailer ist einer der hellsten Köpfe und trefflichsten Menschen, die ich kenne. Das beste Werk dieses ausgezeichneten Mannes sind seine „Grundlehren der Religion"; ich halte dieses Buch überhaupt für eines der besten in der deutschen Sprache." Sailers umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit war, wie wir aus einem seiner Briefe 2 ) sehen, von einem grundlegenden Gedanken bestimmt: Kampf gegen die Verwüstungen, die „ein sogenannter" Rationalismus in Deutschland anrichtete, „der durch das Raisoniervermögen die Eine wahre seligmachende Religion zu gründen und zu sichern wähnte und sich nicht damit begnügte, die Unterscheidungslehren der katholischen Kirche zu bestreiten, sondern von dem ganzen positiven Christentum nichts annahm als die darin ausgesprochene Vernunftmoral und die Lehre, daß Gott Allvater sei und der Menschengeist unsterblich. Alles übrige war ihm Gedicht, Aberglaube, Unsinn." „Da ich nun diesen Rationalismus überall verbreitet... vorfand, so faßte ich den Entschluß, in Schriften und Predigten, in Gesprächen und Vorlesungen diese Irrtümer zu bekämpfen, bis mich Gott von diesem Schauplatz abrufen würde. Dieser antichristlichen und unvernünftigen Denkart setzte ich die Grundlehren der Vernunft und des Evangeliums entgegen." Die Wirkung seiner Persönlichkeit vom Katheder und von der Kanzel namentlich auch auf die Jugend erklärt sich aus dem Zauber der Liebe und des Geistes. Durch sein tiefes Gefühl verstand es „der in allen und allem das vorhandene Goldkorn herausfindende, Liebe und Milde atmende Geistesmann" — so nennt ihn Ringseis 3 ) in seinen Denkwürdigkeiten — „auch anders denkenden in vorbildlicher Toleranz Briefwechsel II. S. 358 ff. ) S c h m i d , Katholische Kirche S. 263, 281. 3 ) R i n g s e i s , Erinnerungen. Bd. I, S. 69. 2

— 79 — gerecht zu werden. Seine Mystik nahm weder an der Kirchenlehre noch an der kirchlichen Ordnung Anstoß; sie trennte ihn vom Aberglauben und toter Kirchlichkeit." Clemens Brentano nannte Sailer einen „modernen Mystiker";1) denn damals unterhielt er lebhafte persönliche Beziehungen zu den Führern jener merkwürdigen Erweckungsbewegung, die zuerst im Allgäu innerhalb der katholischen Kirche sich bemerkbar machte und dieselben Ziele wie der Pietismus im protestantischen Deutschland verfolgte, zu Martin Boos, dem Kaplan seines Freundes Feneberg, Johann Goßner, der 1811 in München volkstümliche Religionsvorträge unter massenhaftem Zulauf hielt, und Ignaz Lindl. So sehr das lebendige religiöse Gefühl jenes Kreises Sailer anzog, so scharf bekämpfte er ihre separatistischen Gedanken. Durch Gerüchte beschuldigt, einer geheimen Gesellschaft anzugehören, deren eigentlicher Herd Landshut sei, schrieb Sailer an die Gräfin Sophie: „Vor Gottes Angesicht darf ich bezeugen: Ich kenne keine Gesellschaft, die sich von der katholischen Kirche trennen möchte, am allerwenigsten bin ich ein Glied von einer solchen Gesellschaft, noch weniger das Haupt. Ich kenne nur zwei große Gesellschaften, denen ich als Glied angehöre: mein Vaterland Bayern und die katholische Kirche."2) Sailers Haus in Landshut, in dem er mit seinen Freunden Weber und Zimmer wohnte, war ein Mittelpunkt3) anregender Geselligkeit; unter seinen Freunden waren Katholiken und Protestanten, Ast, die Mediziner Röschlaub und Walther; besonders nahe stand ihm Savigny, der als junger Lehrer von Marburg gekommen war; Clemens Brentano und seine Schwester Bettina waren gern gesehene Gäste; ferner verkehrten bei ihm die Tiroler Salvolli und di Pauli, Steffens und Passavant, Kronprinz Ludwig, der schwärmerische Ringeis, Ed. Schenk und der später als Historiker und Staatsmann berühmte Freyberg-Eisenberg. Mit Bettina machte Sailer (1810) Ausflüge in die Umgebung; er ist ihr von allen Landshutern der liebste. Katholizismus, Romantik und Neuhumanismus begegneten sich. „Vielen der edelsten Familien in und außerhalb Bayerns" — so berichtet Eduard Schenk,4) der 1806—1810 in Landshut studierte, — „war Sailer mehr als Freund; er war ihnen erhebender, ratender, tröstender Genius in der Ferne wie in der Nähe." Nachdem er Schelling in Jena kennen gelernt hatte, knüpften sich seit K o s c h , Sailer. S. I3ff. ) K o s c h , ebenda S. 16. 3 ) R i n g s e i s , Erinnerungen. 4 ) Charitas 1838. 2

S. 71 ff. K o s c h , Sailer.

S. I2ff.



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dessen Uebersiedlung nach München engere Bande; mit inniger Liebe und Verehrung sprach Sailer stets von ihm, wenn er sich auch von •dessen wechselnden Systemen unabhängig hielt. Ihm widerstrebte, die Philosophie auf die Kanzel zu bringen: „Heute den kategorischen Imperativ, morgen die moralische Weltordnung, übermorgen die ewige Geburt der Dinge aus der höchsten Einheit alles Seins und Erkennens" dem Volk vorzutragen, hielt er gleichbedeutend damit, den Hungernden die ungenießbarsten Früchte anzubieten.1) Sein Freund Zimmer freilich machte den Versuch Schellings Philosophie, besonders die Lehre vom Abfall der Ideen mit der katholischen Auffassung in Einklang zu bringen. 2 ) Jacobi und Sailer besuchten sich gegenseitig; während Jacobi und Schelling einander als Schriftsteller bekämpften, verband sie die Liebe für Sailer. „Nachdem Sailer weg war," — berichtet Bettina an Goethe — sagte Jacobi: „Nun, die Bettina hat dem Sailer das Herz gewonnen." „ W e r ist der Mann?" fragte ich. „Wie, Sie kennen Sailer nicht, haben ihn nie nennen hören, den allgemein gefeierten, geliebten, den Philosophen Gottes, so gut wie Plato der göttliche Philosoph ist?" In Feuerbachs Briefen 3 ) aus Landshut an seinen Vater steht die bezeichnende Stelle: „Gerade die wärmsten Katholiken, flie hier angestellten Geistlichen, sind meine innigsten Freunde." Auch hier sieht man wie in der Stellung Feuerbachs zu Weiller, welch bedeutsame Annäherung zwischen den Protestanten und jenen von Toleranzgedanken erfüllten Katholiken möglich war. Weitblickende Männer beider Konfessionen erkannten die Notwendigkeit eines festen Zusammenschlusses aller Gläubigen zum Kampf für den christlichen Glauben wider das Freidenkertum und den offenbarungsfeindlichen Unglauben, überzeugt von der Richtigkeit des Goetheschen Wortes: „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Glaubens und Unglaubens." Sailer folgte in seiner Irenik dem Beispiel seines Lehrers, des Jesuiten Stattler, der in seinem „Wahren Jerusalem" und der „Demonstratio Catholica" entschieden zur Duldsamkeit gegenüber gläubigen Protestanten aufforderte.4) Sailers Patriotismus, seine treudeutsche Gesinnung, wurzelte in seiner Religiosität. Seine genaue Kenntnis der deutschen Stämme und ihrer Eigenart und der fortgesetzte Verkehr mit Deutschen aus i) ) 3 ) 4 ) s

Merkte, Sailer. S. 197. R e u s c h , Sailer. S. 186. F e u e r b a c h s Nachlaß. Bd. I 2 , S. 99. 6. Juli 1804. Merkle, Sailer. S. 199, 200.



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allen Himmelsrichtungen schützten ihn vor engherzigem Partikularismus. Darum mahnte er 1808: „Tretet nie in eine Opposition wider euer Vaterland, weder in eine geheime noch in eine öffentliche. Liebet euer Vaterland, aber wollet ihm nicht Ehre machen durch Haß des Auslandes. Heilig sei euch jedes Verdienst, es sei in Süd oder Nord, in Ost oder West daheim." 1 ) Im Hörsaal und in seinen Schriften bediente er sich der deutschen Sprache; die deutschen Klassiker schätzte er als wertvolles Bildungsmittel für die deutsche Jugend. Als der Verleger Perthes 1809 für das „Deutsche Museum" deutsche Männer zur geistigen Wiedererhebung der Nation sammelte, bat er Sailer nicht umsonst um seine Mitarbeit. König Ludwig I. schätzte gerade auch diese Seite seines Sailer hoch. 1821 wurde Sailer Domkapitular zu Regensburg, im folgenden Jahr Generalvikar und Koadjutor des Bischofs, 1829 Bischof. Damit war er dem Lehrberuf entzogen. Sailers Bedeutung als Pädagoge beruht auf seiner Persönlichkeit und seinen Schriften. „ W a s auf die Schüler so entschieden wirkte," —• bekennt der Schweizer Pfarrer Schiffmann —• „und deren Gemüt und Geistesrichtung vor allem bestimmte, waren nicht so sehr Sailers Schriften noch seine Vorlesungen; vielmehr war es sein Privatumgang, seine ungemein interessante Persönlichkeit, der Reichtum der Literatur, der Schatz der Erfahrungen, die sich als unnachahmliche Lebensweisheit ausprägten, seine väterlich wohlwollende Gesinnung, seine nichts Böses argwöhnende Herzensgüte, die Kunst jeden Schüler auf allen Stufen der Bildung, in allen Lebensverhältnissen, bei den verschiedensten wissenschaftlichen Ansichten politischer und religiöser Natur zu nehmen wie er war, ohne sich ihm feindlich gegenüber zu stellen, aber dann allmählich ihm das Herz abzugewinnen und ihn unvermerkt von Vorurteilen, Verkehrtheiten, Sünden und bösen Angewöhnungen loszumachen" 2 ).

Siebzehn Jahre lang war Sailer in diesem Sinne zum Besten der akademischen Jugend tätig. Weit über die Grenzen seines engeren Vaterlandes wirkte er hinaus. Ein besonders bedeutsames Beispiel seines Einflusses auf die Jugend bildet die Bekehrung Diepenbroks, des späteren Kardinals und Fürstbischofs. Voll Interesse verfolgte er die pädagogischen Bestrebungen seiner Zeit, besuchte Schulen und Erziehungsinstitute, nahm an Prüfungen teil, gab Ratschläge bei der Abfassung von Lehrplänen; 1830 wandte sich M. Freyberg als Mitglied der Kommission zur Revision des neuen Schulplanes an ihn mit der Bitte seine Ansichten mitzuteilen. 3 ) Eduard von Schenk schreibt in der Charitas: „Ueber Angelegenheiten der Schule und Kirche hatte ich !) Ebenda S. 206. ) R a d l m a i e r , Sailer. S. 14. 3 ) Ebenda S. 15, Anm. 3. 2

L o e w e , Friedr. Thiersch.

6



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als Vorstand des neugebildeten obersten Kirchen- und Schulrates mit Sailer in ununterbrochene amtliche Berührung zu treten. Es verging fortan keine Woche, daß wir nicht Briefe wechselten." Außerordentlich umfassend war Sailers schriftstellerische Tätigkeit;1) 1807 erschienen gleichzeitig Jean Pauls Levana und Sailers „Erziehungslehre", einig im Ziel, in der Wiedergeburt des künftigen und aller kommenden Geschlechter; in akademischen Vorlesungen nahm er zu grundlegenden Fragen des Hochschulstudiums Stellung, so 1805: „Geist der akademischen Gesetze", Rede,2) 1806: „Wie Ankömmlinge auf Universitäten ihr Studium einrichten sollen". Für den Kronprinzen Ludwig verfaßte er 1803 auf Wunsch des Königs „Weisheitslehre in Maximen für künftige Regenten"; sie gehört zu dem Besten, was in der einst literarisch oft behandelten Frage der Prinzenerziehung ausgedacht worden ist.'"3) Gemäß seiner Grundauffassung stand Sailer in scharfer Kampfstellung zum Rationalismus seiner Zeit. Die herrschende Praxis bekämpfend wies er der positiv christlichen Religion in der Menschenbildung die zentrale Stellung an. „Unter allen Prinzipien der Nationalbildung ist aber die Religion das eine Höchste und zugleich die Seele aller übrigen Bildungsprinzipien," so schrieb 4 ) er in der „Weisheitslehre" für den Kronprinzen Ludwig. „Alles, was Wissenschaften, Künste, Kultur, Gewerbe, Industrie, Tapferkeit in einer Nation zur Bildung der Nation wirken können, ist von der Art, daß es die Religion in ihrem göttlichen Beruf die Nation zu bilden nicht stören darf, nicht entbehrlich machen kann und nie ersetzen wird." In der „Erziehungslehre" 5 ) bezeichnete er die Trennung von Moral und Religion, „so daß man diese zur Tochter, jene zur Mutter machte," als den Fehlgriff der kritischen Philosophie. Gegenüber dem Versuch beide von einander völlig zu lösen, wodurch eine unendliche Kluft zwischen dem Schauen des Göttlichen und dem Tun des Pflichtgemäßen entstünde, betont Sailer: „Ich glaube nicht an diese Kluft. Denn wenn die Religion als Einigung des Gemütes mit Gott die höchste Schönheit des menschlichen Geistes werden muß, so wird sie wohl auch die Quelle des Sittlich-Schönen sein müssen."6) !) Ein Verzeichnis seiner pädagogischen Schriften bei R a d l m a i e r , Sailer. S. 21. 3

) 4 ) 6 ) «)

R a d i m e i e r , Sailer. S. 33/34. Müller, Sailer. S. io3ff. S a i l e r , S. W. Bd. 7, S. 226 V u. VI. S a i l e r , S. W. Bd. 6, S. 22. Ebenda S. 23.



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Sailer bekämpft also die beiden Grunddogmen des theologischen Rationalismus, die Ablehnung des positiven Christentums und die Trennung von Moral und Religion. Die vollkommene Erziehung muß religiös sein, „religiös in ihrem Wesen, in ihrer Tendenz und in ihren Arbeiten" j1) erst durch die Bildung zur Religion wird das höchste Bedürfnis der Menschheit befriedigt. Da aber die Religion nach Sailers Ueberzeugung, die er mit Jacobi und vielen bedeutenden Männern seiner Zeit teilt, mit dem Gefühl aufs innigste zusammenhängt, so kommt er zu einer ganz anderen Schätzung dieser Seite menschlichen Seelenlebens als die Aufklärungspädagogik. Wie später Thiersch, so verlangt auch er die entschiedene Berücksichtigung des dem kindlichen Alter eigentümlichen Gefühlslebens, „der schönen Kindlichkeit", und verwirft daher die Forderung der Philanthropisten nach „Schnell- und Vielwissen", ihre übertriebene Betonung der bloßen Verstandesbildung. Viel stärker als es damals üblich war, trat er daher für die Erziehung überhaupt ein, für Herzensbildung; denn er kannte die Gefahren einseitiger Wissenskultur, die mangelnde Gewöhnung des Zöglings zum Guten, die Zerdrückung des Sinnes für das Unendliche. Entsprechend den in jedem Menschen liegenden drei Keimen des tierischen, menschlichen und göttlichen Lebens sieht Sailer 2 ) die Vollendung der Menschheit darin, „daß die animalische Sphäre der geistigen untergeordnet und in der geistigen Sphäre das religiöse Prinzip das gebietende werde und von diesem aus Leben in die Sittlichkeitssphäre und Licht in die Erkenntnissphäre ausströme. Während Kant in seiner „lateinisch-deutschen" Sprache für das Menschenkind Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung fordert, fügt Sailer noch die „Divinisierung", „wenn ich einen fremden Ausdruck in unsere Sprache einführen darf", die Bildung zum göttlichen Leben hinzu. Mit Thierschs pädagogischen Grundanschauungen zeigt die Erziehungslehre Sailers weitgehende Uebereinstimmung, so in der tiefen Erfassung der kindlichen Natur, in der Forderung einer gründlichen körperlichen Durchbildung, in der Warnung vor verfrühter Ausbildung des Verstandes, in dem Verlangen nach sorgfältiger Pflege der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses. 3 ) R a d l m a i e r , Sailer. S. 44. Erziehungslehre. S. W. Bd. 6, S. 17. 3) R a d l m a i e r , Sailer. S. 45ff. 2)

6*

— 84 — Wie Thiersch betont Sailer für die gelehrten Schulen als erste Voraussetzung ihres Blühens ein gründliches Sprachstudium in anhaltenden Uebungen und mit unbesiegtem Ernst.

Nur so können — heißt es in der „Erziehungslehre" 1 ) — die Oberflächlichkeit des Wissens, die offenbar einen Charakterzug des Zeitalters ausmacht, verhütet und die Bildung zu wahrer Gelehrsamkeit möglich gemacht werden; „hierdurch unterscheidet sich vorzüglich der echte Humanismus, der sich leider aus den Schulen verdrängen lassen mußte, von dem falschen Philanthropinismus, der sich darin gewaltig breit machte. Dieser füllet den Knaben mit einzelnen Begriffen, Urteilen aus 100 zerschnittenen Fächern an, die er im Leben anwenden sollte, die er aber nicht in das Leben einführen kann, weil er sie längst vergessen hat, ehe er zu leben anfangen wird; jener bildet die Kraft zu denken, zu urteilen, zu handeln". Warm tritt Sailer für den Klaßlehrer, für die sorgfältige Scheidung zwischen Gymnasien und Lyzeen und Universitäten, für Beschränkung der Fächer ein. Wie Thiersch sieht er im Schulplan nur eine Form; das meiste kommt auf die Lehrerpersönlichkeiten an.

Den jungen Studenten in Landshut ruft2) er zu: „Jedes Zeitalter hat seine Blendwerke, die es täuschen, seine Zauberformeln, die es betören; mein Zeitalter . . . hat in Hinsicht auf gelehrte Bildung ein entscheidendes Los- und Machtwort: Realkenntnisse, Realkenntnisse, Realkenntnisse. Gutmeinende wollten es in der kürzesten Zeit, die jungen Seelen mit Realkenntnissen austapezieren. Darüber wurden die Sprachkenntnisse versäumt. Meine vielsehende Zeit sah nicht ein, daß der Lehrer, der die Sprachkenntnisse zu fördern versteht, auch Realkenntnisse mit in die Seele zu legen weiß, sie sah nicht ein, daß die Seele der menschlichen Gedanken sich zunächst nur in dem Leib der menschlichen Sprache bewegen kann." „Dank den Edlen, die nicht müde werden, diese Seite zu berühren."

Die Lyzeen hält Sailer 3 ) für unentbehrlich, zumal wenn nur eine Universität fürs ganze Land eingerichtet wird; denn die entscheidende Frage ist die Erleichterung des Studiums zumal auch für die Minderbemittelten. Der Umstand, daß sie nur für einzelne Fächer Lehrer aufstellen, wirkt nicht schädlich; denn das Ganze des Wissens kann nicht durch Lehre gegeben werden. Es muß sich ein jeder durch Selbstbildung zu einem Ganzen bringen. Elemente der Wissenschaft werden gegeben, die Wissenschaft macht jeder sich selbst. Die Lyzeen brauchen gar nicht zu Universitäten des philosophischen und theologischen Faches gemacht werden; sie dürfen die Hochschulen nicht zum Muster nehmen. Ein Vorzug liegt gerade in der geringeren Zahl der Professoren; denn es ist leichter, sechs Männer, die an Kenntnis und Tugend, an Religion und Verträglichkeit sich auszeichnen, als dreißig ausfindig zu machen."

*) Erziehungslehre Bd. 2 (S. W. 6/7, S. 65/66). Hauptbedingung für gelehrte Schulen. 2 ) S a i l e r , Zwei Vorlesungen: Wie Ankömmmlinge auf Universitäten ihr Studium einrichten sollen? München 1806. s ) Erziehungslehre 2. Teil. S. 69ff. (S. W. Bd. 7.)

— 85 — Die Universität, ein Nationalinstitut, soll nach Sailers Ansicht „eine vollständige Bildungsanstalt für den ganzen Menschen sein," eine öffentliche Mediationsakte, wodurch das Wissen — Tugend, das Wissen — Religion, das Wissen — Weisheit wird". Aus ihnen sollen Männer, hell im Wissen, rein im Wollen, treu im Handeln, gesund an Leib und Geist hervorgehen. Das ist der Zweck der Universalbildung. Bei der Auswahl der Hochschullehrer ist zu sehen auf Tugend, Wissenschaft und Lehrgabe. Sie sind nicht nur Lehrer der Wissenschaft, sondern auch Erzieher, Stellvertreter der Eltern. Weil Sailer in den Hochschulen ,,Organe des wissenschaftlichen Geistes für Männer, für Jünglinge, für die Welt, für das Vaterland" sieht, fordert er so eindringlich gründliche philologische Vorkenntnisse, namentlich in Sprachen, Vorübungen in schriftlichen Aufsätzen, die „die Erfordernisse der Grammatik mit jenen der Ästhetik, das Gefühl der Sprachrichtigkeit mit dem Gefühl der Schönheit verbinden", und eine ,,echt akademische Gemütsstimmung", die in dem Wunsch zum Ausdruck kommt: „ I c h will mir das Studium meiner Wissenschaft in ihrem Zusammenhang mit den vorbereitenden und angewandten Wissenschaften heilig sein lassen"; die Wissenschaft muß dem Studenten heilig sein. Das eigentliche Wesen des akademischen Studiums besteht darin, sich die Wahrheit anzueignen und zum Eigentum zu machen. E s begreift also in sich die Treue des Auffassens, den Eifer des Nachsinnens und -forschens, bis das Aufgefaßte nach Inhalt, Grund und Zusammenhang verstanden ist, den Fleiß des Wiederdurchdenkens, bis das Durchdachte so tief im Gedächtnis haftet und so oft daraus hervorgeholt ist, daß es so getreu wiedergegeben werden kann als es richtig aufgefaßt wurde, anhaltende Übung mit eigenen Gedanken und Worten, die Geschicklichkeit das Durchdachte in neue Zusammenhänge zu bringen, die Fertigkeit das Durchdachte zu verteidigen und zu beleuchten, die Gewandtheit, den Geist des treuen Auffassens, des schnellen Durchschauens, des lichten Vortrages als die Seele des Studiums in den Umgang, in die Geschäfte, ins Leben zu übertragen. Zu der ersten Regel: „Dein akademisches Studium sei ein Studium" gesellt sich die zweite: „Dein akademisches Studium sei ein akademisches, d. h. dem Zweck einer wissenschaftlichen Bildung angepaßt; diese besteht in der Aneignung des Allgemeinen — das ist die Seele des menschlichen Wissens, das philosophische in unserem Wissen — und in der Verknüpfung desselben mit dem Besonderen — das ist der Körper des Wissens, jede Kenntnis, insofern sie von der Seele des Wissens ihr Leben empfängt. Die Bildung zur Wissenschaft hat drei Gesetze: i . Das Allgemeine zuerst, 2. nach dem Allgemeinen das Besondere, 3. das Allgemeine mit erstem Fleiß und das Besondere mit hinreißendem Fleiß. Als Frucht der wahren Philosophie erkennt er sich und die Welt und etwas Besseres und Höheres als das Ich und die Welt ist, anschauen lernen und durch dieses Anschauen immer hellere Augen zum richtigen Anschauen bekommen. Die letzten Regeln lauten: Dein Studium sei anhaltend und ein menschenwürdiges; der Student muß das Bild der kultivierten Menschenvernunft darstellen.

In der Rektoratsrede „Geist der akademischen Gesetze" (1805)2) sucht er die Frage zu beantworten, „was ist die vernünftigste Ansicht, in der sie aufgefaßt werden sollen?" 2

S. W. Bd. 7, S. 77. ) S. 5.



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Jede menschliche Einrichtung muß, wenn sie mehr als Skelett und nicht ganz Kadaver werden soll, ein Belebendes durchdringen und zum Ganzen binden. „Dies Belebende ist in jeder vernünftigen Gesetzgebung der Geist der Gesetze." Wie sie einst in dem anschauenden Geist des Gesetzgebers ein höheres Leben hatten, so werden sie von edlen Jünglingen aufgefaßt und in ihre Vernunft und in ihren Willen aufgenommen. Sie können als Gesetze die Idee des Wahren, des Guten und Schönen nicht unmittelbar erzeugen, aber „verstanden und geachtet" sind sie imstand die Jugend bildsamer, d. h. für Wahrheit, Tugend und Schönheit empfänglicher zu machen. Als Gesetze vermögen sie die Wissenschaft des Wahren, des Guten und Schönen nicht selbst hervorzubringen, aber zahllose Irr-und Abwege zu verhindern; „gekannt und geachtet" verhindern sie, „daß die unselige Trennung zwischen Wissen und Tun, zwischen Wissen und Tugend, zwischen Wissen und Religion . . . noch allgemeiner, unheilbarer und verwüstender, die Gesundheit des Leibes zerstört und der höhere Geist ausgelöscht wird. Der Geist dieser Gesetze verbürgt Seelenfreiheit und Herzensadel und eine lichtere Zukunft, während ihre Feinde, die gesetzlose, blinde, schnell vordringende und gewaltsam stürmende Sinnlichkeit sie als lästige Schranken bezeichnet, der vernünftelnde Verstand das Fortschreiten mit dem Zeitgeist fordert und daher die Unterwerfung unter Gesetze als entehrend betrachtet. Vielmehr kann die Weisheit unter Umständen ein Zurückgehen um mehrere Jahrhunderte verlangen, wenn z. B. in höheren und mittleren Ständen vergessen wird der Zeit, „wo ein Mann ein Wort, wo D e u t s c h h e i t noch Charakter war" 1 ). Die Bestimmung der Geschichte ist uns zu den großen Menschen zurückzuführen, damit uns die Kleinen unserer Zeit nicht zur Bewunderung ihrer kleinen Ansichten hinreißen. Oder die Weisheit fordert ganze Jahrhunderte zu antizipieren, wie es alle großen Männer machen, so Erasmus, „der vor beinahe drei Jahrhunderten schrieb, was, wenn er jetzt wiederkehrte und wieder schriebe, an Inhalt und Form noch oben stünde und als heilende Arznei unseres kranken Zeitalters empfohlen zu werden verdiente." „ S o antizipierten Sokrates und Plato, die ein alter Kirchenlehrer Christen vor dem Christentum und ein neuer Philosoph Vorläufer des Christentums nannte, manche Lehre des göttlichen Evangeliums." Endlich kann die Weisheit gebieten, nicht sowohl mit meinem Jahrhundert als mit den Edlern gleichen Schritt zu halten. „ W o ich ganze Herden nach eurer Weisheit rennen sehe, weiß ich im voraus, daß es nicht Weisheit ist, was sie treibt; denn wahrhaft Großes ist noch nie ohne andauernde Arbeit errungen, wahrhaft Unvergängliches noch nie ohne Selbstverleugnung erstritten, wahrhaft Schönes noch nie von andern Gemütern angeschaut worden als die nach Reinheit und Erhabenheit des Geistes strebten" 2 ). Wer sich in die notwendigen Verhältnisse des akademischen Lebens (die von der Vernunft ausgesprochen G e s e t z e heißen) einzupassen gelernt hat, der wird einst als Mann auch die Bürde des öffentlichen Lebens mit Würde tragen. „Wenn die Mehrzahl der Akademiker diesen Geist aus unseren Hörsälen zurückbringen wird, dann wird die Universität, was sie sein soll, — die Residenz der Wissenschaft und Weisheit werden; dann, dann wird die Lehranstalt einen und denselben Ruhm auskünden, den die Himmel erzählen, eine Sprache mit den Sternen sprechen."

Der Geist der Aufklärung, wie er in Sailers Persönlichkeit an der Hochschule wirksam war, verbreitete sich rasch auch über das mittlere 1) 2)

Ebenda S. n . Ebenda S. 12.

— 87 — Schulwesen, als die Regierung das von ihrer Vorgängerin ungelöste Problem, das Verhältnis der Real- und Bürgerschulen zu den gelehrten Anstalten, energisch in Angriff nahm. Noch waren kaum sechs Monate seit dem Einzug Max Josephs verflossen, da erschien am 24. September 1799 eine kurfürstliche Verordnung. Zur Beseitigung der Ueberzahl der Studierenden wurden die Anstalten zu Ingolstadt, Landsberg und Burghausen aufgehoben, so daß nur fünf bestehen blieben, zu München, Amberg, Landshut, Neuburg und Straubing. Das gleiche Schicksal widerfuhr den Lyzeen zu Landshut, Neuburg und Straubing; nur München und Amberg behielten diese sogenannten höheren Schulen. Die in den Prälatenklöstern bisher eingerichteten Studenten-, Seminarien- und lateinischen Schulen sollten geschlossen und in Realschulen verwandelt werden, „in denen bloß jene Elementarkenntnisse gelehrt werden mögen, die für alle Stände gleich nötig und brauchbar sind; — von der lateinischen Sprache dürfen selbe nicht mehr als die allerersten Anfangsgründe in ihren Unterricht aufnehmen". Der Fonds des Burghauser Seminars wurde zur Errichtung einer nach verbesserten Grundsätzen daselbst zu erbauenden bürgerlichen Realschule, mit der eine Feiertagsschule nach dem Muster der Münchener verbunden werden kann, bestimmt. Zur Abschaffung des zweiten Uebelstandes, der mangelhaften Durchbildung zahlreicher Absolventen der gelehrten Anstalten, traf die Regierung Vorkehrungen die Frage der Lehrerausbildung zu lösen. Künftig sollten ohne Rücksicht auf den Stand nur Professoren von allgemein anerkannten Fähigkeiten angestellt werden. Für München und das Lyzeum in Amberg erfolgten die Ernennungen sofort; berühmte Namen begegnen uns hier, Benediktiner und Weltgeistliche, neben Pfarrer Mutschelle Kajetan Weiller. Beide erscheinen als besonders interessante Vertreter des aufgeklärten Katholizismus und der Aufklärungspädagogik. Weiller war an der Abfassung des Wismayrschen Lehrplans beteiligt; seine scharfe Kritik an Niethammers Normativ sollte zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen ihm als Direktor und seinem jugendlichen Kollegen Friedrich Thiersch führen; dann aber fanden sie in Jacobis Philosophie zahlreiche Berührungspunkte, so daß sich ein auf persönliche Achtung begründetes Verhältnis entwickelte. M u t s c h e l l e , 1 ) der Altersgenosse Goethes, in der Schule der Jesuiten erzogen, zeigte schon während seiner Studienzeit einen eigentümlichen, an keine Sekte gefesselten Geist, der durch Nachdenken und W e i l l e r , Mutschelle.



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Lektüre sich selbst zu bilden trachtete. Durch die Verbindung des theologischen und philosophischen Studiums hoffte er die Theologie von unhaltbarem Flickwerk zu säubern und so ihre haltbaren Teile desto fester und fruchtbarer zu begründen. 1784 veröffentlichte er eine „Geschichte Jesu" in deutscher Sprache, die vier Evangelien in eines zusammengefaßt. Die beigegebene Einführung in das Verständnis der Heiligen Schrift läßt seine religiöse Stellung deutlich erkennen. Er sieht in Gottes Wort, in dessen richtiger Auslegung Stütze und Erhöhung der Vernunft, Stärke und Leben für das Herz, in ihr stecke mehr Weisheit als in einer scholastischen und kasuistischen Theologie. Entschieden warnt er den Leser, seine Denkart in das Buch und die Geschichte hineinzulesen und gibt daher einen Abriß über das jüdische Volk, seine Verfassung, Sitten und Religiosität. „Jesu Zweck und Absicht war, das Menschengeschlecht zu bessern und mittels dieser Besserung glückselig zu machen." Für Gottes Geist, für höhere Gotteskraft sind Wunder die natürlichste und leichteste Sache; sie stellen Jesus als den Messias, als den Urheber aller Tugend und Seligkeit, als Gottes Sohn, als Menschenretter dar. Der auferstandene und fortwirkende Jesus-Messias ist kein abgezogener, metaphysischer, sondern der sinnlichste Beweis für Unsterblichkeit und ewiges Leben. Aufs lebhafteste berührt wurde Mutschelle durch die Philosophie Kants, von dessen Schriften er die Kritik der reinen und praktischen Vernunft, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die metaphysischen Anfangsgründe der Natur-, Rechts- und Tugendlehre, die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und den Entwurf zum ewigen Frieden eingehend studierte, „Werke, von denen sich nach seiner Ueberzeugung ein neuer Umschwung und eine Revolution im Reiche der Philosophie datiert." Welche Bedeutung er ihnen beimaß, zeigt sein „Versuch einer solchen faßlichen Darstellung der Kantischen Philosophie, daß hieraus das Brauchbare und Wichtige derselben für die Welt einleuchten möge". Den Ueberblick über das Ganze dachte er im Anschluß an drei Fragen zu geben: Was kann ich wissen ? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Der Tod verhinderte den Verfasser mehr als das erste Heft zu veröffentlichen, das in schlichter und klarer Sprache das schwierige Erkenntnisproblem behandelt; doch genügt es um seine Stellung zu Kant eindeutig zu bestimmen. Mutschelle bezeichnet1) es als ein großes Verdienst des Königsberger Philosophen, daß er durch seine Kritik den Blick auf den Menschen selbst richtete H e f t i . S. 27.

— 89 — und ihn zur Selbstforschung veranlaßte; indem er die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis von übersinnlichen Dingen verneinte, stellte er damit nicht die Wirklichkeit der Sache in Abrede. Von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit gibt es vielmehr ein Ueberzeugtsein und einen Glauben. Er hat also das Feld, wo wir etwas wissen können, scharf abgegrenzt, hier sollen wir mit dem Verstand, der nicht schöpferisch ist, arbeiten. Mutschelle schließt mit der sehr bezeichnenden Feststellung, die angehenden Studierenden sollten sich nicht mit dem schwierigsten und dunkelsten Teil der Kantischen Philosophie beschäftigen, der Erkenntnistheorie, „wo des Trockenen und Spekulativen so viel, des Brauchbaren und Wichtigen für die Welt so wenig, wo noch selbst die ersten Denker sich in Parteien trennen". Denn so werde dem mehr Praktischen und Gemeinnützigen die Zeit geraubt und doch keine alle Zweifel behebende Beruhigung geschaffen. Entsprechend dem Grundzug seines Wesens in Seelsorge und Unterricht erzieherisch auf Jugend und Volk zu wirken, suchte Mutschelle populäre Sittenschriften zu verfassen, die auf sicherem Grunde ruhten.1) Die bisherige gewöhnliche Moral der katholischen Theologie war ein Aggregat von Abhandlungen über hierher gehörige oder auch nicht gehörige Gegenstände, ohne Ordnung, Bestimmtheit und Einheit. Daher ging Mutschelles Bestreben dahin sie zu einer Wissenschaft zu erheben, unbekümmert um die Vorwürfe der Irreligiosität und des Jakobinismus. Sein Hang zur Erforschung des ersten Prinzipes aller Sittlichkeit wurde lebhaft geweckt durch Kants Kritik der reinen Vernunft, namentlich durch dessen Trennung zwischen Klugheit und Sittlichkeit, zwischen Glückseligkeit und Würdigkeit glückselig zu sein und noch verstärkt durch die Schrift: „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten." Eigenes Nachdenken verband sich mit den Ergebnissen der Lektüre und so entstand die Abhandlung: „Ueber das sittlich Gute", in der er in überzeugender Weise das Urteil Kants, „eines unserer größten Denker", zu rechtfertigen sucht, daß dasjenige System, das die Merkmale des Guten und die Ermunterungsgründe dazu von der größten Summe angenehmer Folgen und Empfindungen hernimmt, mehr selbstsüchtige, sinnliche als tugendhafte Menschen zu bilden, mehr die Sittlichkeit zu verderben als zu gründen geeignet sei. In interessanten Auseinandersetzungen mit den Theologen und Verteidigern des moralischen Gefühles als eines sechsten Sinnes des Menschen erscheint Mutschelle als Gesinnungsverwandter Fergusons, „Über das sittlich Gute" 1788, Vorbericht.

— 90 — Garves und Kants; begeistert preist er die Vernunft als höchsten Vorzug des Menschen, als die Königin, unter deren Herrschaft die Neigungen stehen, als ein Geschenk Gottes, als die Verkünderin der allgemeinen Hauptgebote, der Liebe Gottes und des Nächsten und kommt zuletzt zu folgender Grundlegung der Sittenlehre 1 ): „Wohlwollende Liebe gegen andere, vorzüglich vernünftige Geschöpfe, gegen alle und jede, ist das sittlich Gute, das unsre reinste Hochachtung und alles mögliche Streben verdient, nach dieser Achtung zu handeln; wohlwollende Liebe überall, wo wir sie finden, über alles zu schätzen und wo wir können, mit Tätigkeit zu erweisen und mit Freuden zu üben." „Diese wohlwollende Liebe gegen andere ist uns aber darum so achtungswert, weil sie die Vernunft als des allgemeinen Beifalles und der allgemeinen Ausübung würdig, als allgemein gut, rechtmäßig und für das erklärt, was allein hohe sittliche Würde gibt, und was sich im Himmel und auf Erden wahrhaft Großes und Edles denken läßt". Dieser Ausspruch der Vernunft ist und muß mir ehrwürdig sein, weil ich der Verachtung meiner selbst nicht ausweichen kann, wenn ich widerstrebe, und mich im Augenblick heiter und ruhig fühle, da ich männlich gegen alle Einrede gehorche, weil mir Vernunft, die den Wert aller Dinge beurteilt, das werteste sein muß — weil sie mir Gläubigen an ein höheres Wesen, Herold der Gottheit und, wenn ich nach ihr handle, der Grund der Unabhängigkeit von äußeren Bestimmungen, der Grund der Selbsttätigkeit und Freiheit ist." „Nichts ist gut als Güte." „Nichts wahrer hochachtender Liebe würdig als Liebe."

Mutschelle gehört also in den Kreis jener Theologen, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts den Versuch machten das christliche Glaubenssystem in Einklang mit der Vernunftphilosophie zu bringen und starke Anregungen von Kant empfingen. Doch während er seinem ganzen Charakter entsprechend an den kirchlichen Dogmen festhielt, war es in der Würzburger Diözese vor allem der Regens des Priesterseminars, Zirkel, der seit 1799 den Klerus im rationalistischen Sinn erzog. Aus seinen Tagebüchern läßt sich nachweisen,2) daß er ein konsequent durchgeführtes System einer katholischen Dogmatik im Sinne Kants aufstellte. Schon als Subregens hatte er auf Veranlassung des Fürstbischofs Franz Ludwig während der Karwoche 1793 in der Hofkirche Predigten „für die höheren und aufgeklärten Stände" gehalten, in denen er als überzeugter Kantianer erscheint. Er ruft seiner Gemeinde zu: „Höret auf den kategorischen Imperativ!" „Erhabene Gedanken, Pflicht, Gesetz und du, göttliche Freiheit, die du aus ihrem Schoß hervorgehst! In euch liegt das Kreditiv meiner geistigen Natur. Ihr führt mich auf die Erkenntnis eines höchsten Urwesens" Die !) A. a. O. S. 2 3 7 . 2 ) Dr. L u d w i g , Zirkel.

Bd. I, S. i o i f f .

— 91 — Predigten wurden gedruckt und fanden auch in protestantischen Kreisen große Anerkennung. Professor Paulus in Jena zählte sie zu dem Vollkommensten, was je in der protestantischen und katholischen Kirche erschienen sei. In seinem System unterscheidet Zirkel scharf wie Kant zwischen Volksreligion und der Religion der Weisen; gleich Schleiermacher findet er ihren Sitz im menschlichen Gemüt, ihren Ursprung im Gefühl der Abhängigkeit von etwas Uebersinnlichem. Den Glauben an eine Offenbarung als Grundlage des Kirchenglaubens nennt er ein praktisch notwendiges Postulat. Das Christentum ist ihm die natürliche Religion des sittlichen Menschengeistes. In der Heiligen Schrift, feinem rein menschlichen Buch, findet er starke Einflüsse persisch-babylonischer Anschauungen, Jesus erscheint ihm als ein religiös außerordentlich veranlagter Mensch, die Kirche ist eine ethische Gemeinschaft zur Verwirklichung der moralischen Forderungen. Später machte Zirkel eine entschiedene Wandlung durch. 1 ) Von der einseitigen Bewunderung des Kantschen Moralsystems sagte er sich los und lehnte mit aller Schärfe seine These ab, die Religion gehe aus der Moral hervor. Gleich Jacobi schrieb er jetzt dem Gefühl die Kraft zu, unmittelbar von den übersinnlichen Dingen zu überzeugen. 1801 um sein Urteil über die Kantsche Philosophie befragt, äußerte er: „Sie gibt den Köpfen geradezu eine schiefe Richtung, indem sie das Ganze des Menschen nicht umfaßt, Moral und Religion zur Sache der Spekulation macht, wobei das Gefühl verloren geht." Wie als Theologe steht Mutschelle in seinen pädagogischen Anschauungen der Aufklärung nahe. Zum Professor ernannt, hielt er am ersten Tage des Studienjahres 1799 eine Rede 2 ) über das Thema: „Was soll die Schule für die Welt sein ?" Als ihre Hauptaufgabe bezeichnet er die Ausbildung der Schüler zu „vernünftigem Selbstdenken und zu freiem moralischen, religiösen Selbstwollen". Nach diesem Gesichtspunkt unterzieht er die einzelnen Lehrstoffe einer Betrachtung. In der Naturgeschichte und Naturlehre wünscht er vor allem die Beschäftigung mit dem Verständlichen, Brauchbaren, Einheimischen. Die Menschheitsgeschichte soll die Entwicklung des Menschen überhaupt und die Fortschritte der Menschheit, sowie die guten und großen Menschen, die vorzüglich dazu beitrugen, schildern. „ W i r werden die Sprachenkunde als den wichtigsten Schlüssel zur Auffindung fremder und zur Mitteilung eigener Gedanken ansehen, aber doch im und zum allgemeinen Unterricht das, was lebt, dem, was tot ist, vorziehen und mehr auf das halten, was uns im ganzen Leben nötiger und brauchbarer und worin Schönheit und Vollkommenheit leichter und sicherer zu erreichen und zur Einwirkung auf die Menschen fruchtbarer zu benutzen ist." Über dem Nützlichen soll aber nicht geringer geachtet werden, was zum !) L u d w i g , Zirkel, Bd. I. S. i 8 3 f f . 2 ) L o e w e , Schulkampf. S. 16/17.

— 92 — Geschmackvollen, zur Zierde und Verschönerung der Darstellung gehört. Zuletzt zeichnet Mutschelle das Bild des Schulreformators, wie er ihn sich wünscht. „ I c h stelle mir ihn vor, wie er nur immer die Tauglichkeit und Tätigkeit für die Welt zum Grundsatz für die Schule m a c h t . . ., wie er um diesen Mittelpunkt ein solch organisches Ganzes bildet, daß jeder Unterricht von Schule zu Schule seine bestimmt angewiesene Stufe erhält, daß alle Teile der sämtlichen Unterweisung sich so aneinander reihen und schließen, daß jeder in das Ganze und das Ganze in alle Teile eingreift und alles zur Erreichung des Hauptzieles beiträgt."

Neben Mutschelle steht K a j e t a n W e i l l e r , 1 ) tief verwurzelt in den Ideen der Aufklärung, „ein Mann" — wie Thiersch an Jacobs schrieb, — „der das Gute, wo er es erkannte, mit Entschiedenheit gewollt hat, voll Eifer für die Bildung und gegen Trug und Wahn jeder Art". Wie sein dreizehn Jahre älterer Freund Mutschelle hatte er Theologie und Philosophie studiert und war zum Priester geweiht worden. 1799 wurde er Professor der praktischen Philosophie und Pädagogik und Rektor am Münchener Lyzeum. Damit eröffnete sich ihm ein sehr bedeutender Wirkungskreis; denn von Jahr zu Jahr wuchs die Zahl der Schüler, an deren Ausbildung er mit hingebender Liebe arbeitete. Sein Hauptziel sah er darin, die Jugend zum rechten Gebrauch ihres Verstandes anzuleiten und gleichzeitig ihr Herz zu bilden. In religiöser und philosophischer Hinsicht waren seine Anschauungen scharf ausgeprägt. Unbekümmert um alle Angriffe von seiten der streng gerichteten katholischen Kreise vertrat er in Gelegenheitsschriften, Schulreden und Büchern seine religiöse Ueberzeugung. Wie Mutschelle vor allem darauf bedacht, auf immer größere Kreise zu wirken, galt sein vorzügliches Interesse der Moral und Religionsphilosophie und der Religionsgeschichte. Neben dem Studium Kants wurde namentlich die Bekanntschaft mit den Schriften Jacobis von nachhaltigstem Einfluß. Schon 1802 hielt er mit schärfsten Ausfällen gegen fanatische katholische Seminarleiter eine Rede an die Lyzeisten: „Ueber den Unglauben, der in unseren Schulen gelehrt wird"; sie fand reißenden Absatz.2) Im Mittelpunkt von Weillers Gedankenwelt steht die Frage nach der Entstehung und dem Wesen der Religion.3) Sein ganzes Leben brachte er in religiösem Suchen und religiösen Erfahrungen zu. „Wenn der Kopf vorzugsweise sich der Religion bemächtigt, muß sie leiden." V ä g a c s , Weiller. Z w e r g e r , Lehranstalten. S. 2j6ii. ) i 8 i g sprach er über die „Religiöse Aufgabe unserer Zeit", im gleichen J a h r „ Ü b e r das Wesen des Christentums", 1820 „ Ü b e r das Christentum in seinem Verhältnis zur Wissenschaft", 1824 „ Ü b e r den Geist des ältesten Katholizismus". Sehr interessant ist sein dreibändiges Werk „Ideen zur Geschichte der Entwicklung des religiösen Glaubens". 1. Teil 1808, 2. Teil 1 8 1 2 , 3. Teil 1 8 1 4 . 3 ) Über die religiöse Aufgabe unserer Zeit. 2

— 93



Die Idee Gottes, in unserem Innern ruhend, das Wesen unseres Wesens bildend, die Wurzel aller Religion, offenbart sich zuerst als Gefühl des Göttlichen, angeregt durch die Kraft des Christentums; erst aus diesem Gefühl entwickelt sich die weitere, bestimmtere Vorstellung. „Ewiges", so sagt er in der Totenrede 1 ) auf nur im Gemüte kund.

Jacobi



tut

sich

ursprünglich

Nur dem Gefühl in seiner höchsten Bedeutung

ist das Reich des Uebersinnlichen unmittelbar zugänglich." Im Religiösen gibt es eine in ihrer A r t einzige

Zeit, worin das

E w i g e in einer Fülle erschien, in welcher es dämmernde Strahlen schon in

die

Vergangenheit

zurücksendete,

sie

zu

heiligen

Hoffnungen

weckend, und nun durch alle kommenden Jahrtausende hinableuchtet und wirkt, der große Wendepunkt der Weltgeschichte, wo Christus in die Menschheit eintrat. 2 ) „ I n ihm, nur in ihm stellt sich das Ewige sichtbar dar. Nur in ihm offenbarte sich die Gottheit zugleich in ihrer Fülle und in unsrer menschlichen Weise, nahm sie menschliche Natur und Gestalt an." Diesem reinen Christus will sich die Zeit zuwenden. Er hat uns einige Grundlehren hinterlassen; es sind die Fundamentalartikel von Gott, Unsterblichkeit und Tugend; aber sie dürfen nicht in jener seichten und matten Bedeutung genommen werden, in welcher sie oft auf dem Gebiet einer sog. natürlichen Religion erscheinen, sondern in dem tiefen und lebendigen Sinn, in welchem sie in den christlichen Offenbarungen auftreten. Nicht der zweideutige, großenteils hohle Gott irgendeiner Methaphysik, sondern der h e i l i g e und p e r s ö n l i c h e Gott des Menschengeschlechtes, die Urquelle der Liebe ist gemeint, ebenso nicht die auf den Krücken einer bloßen Theorie hinkende, nicht die am Boden eines irdischen oder überirdischen Eigennutzes kriechende Tugend, sondern die in einem eigenen göttlichen Dasein aufrecht stehende und mit eigenen göttlichen Kräften sich bewegende. Es ist nicht gemeint irgendeine mythische oder metaphysische Andeutung des künftigen Lebens in dunklen Ahnungen oder unsicheren Schlüssen, sondern die lebendige Bürgschaft darüber in unserem tiefsten Wesen, wie sie von Christus ausgesprochen." In diesen Fundamentalartikeln sieht Weiller die Grundlage der christlichen Rechtgläubigkeit. „ D a s Herz muß in unendlicher Sehnsucht ahnend einen Gott über sich finden, die K r a f t der Tugend in sich, die Aussicht auf Fortdauer vor sich. Das Christentum hat sein eigentliches Wesen im Geistigen. Aus den Tiefen des Geistes Gottes kommend und tiefgeistiges Leben bringend muß es in die Tiefen des Menschengeistes eindringen und dort die verborgensten Kräfte der Achtung, Liebe und Verehrung wecken. Das Gottliche über uns muß das Göttliche in uns wecken." „Christentum ist in seinem inwendigsten Wesen Glaube, heiliger, aus lebendiger Liebe im eigenen Busen stammender Glaube an eine heilige, über dem All waltende lebendige, unendliche Liebe." „Christentum ist Glaube an Christum, den von Gott im heiligsten Sinn Gezeugten und ihn daher auch am eigentlichsten Bezeugenden." „Christentum ist Entwicklung der höchsten Menschheit im Menschen, ist Verklärung derselben durch Hervorhebung des ihr eingeborenen göttlichen Ebenbildes." Das Christentum ist also nicht nur Kultus, bloße Lehre, sondern lebendige Kraft, die das beseligende Gefühl des Heiligen, Guten und x) 2)

Totenrede. S. 36. Was ist Christentum.

S. 6.

— 94 — Wahren in ausgezeichneter Reinheit und einzigartiger Innigkeit hervorruft. Will es in seiner Katholizität erscheinen, so muß es sich als ein solches Prinzip unseres ganzen geistigen Seins und Bewegens unter uns aufstellen. Nur im Katholizismus tritt uns das Christentum nicht als bloße Morallehre, als bloßer Tempeldienst auf, sondern als Kraft alles Glaubens, Strebens und Tuns. Die Verschiedenheiten der Bekenntnisse dürfen nicht überschätzt werden. „Eine der wesentlichsten Aufgaben des Katholizismus ist das Christentum als göttliche Offenbarung zu ergreifen und festzuhalten." „An Christus glauben heißt an das durch ihn geoffenbarte Himmlische glauben, an die in ihm sichtbar gewordene Wirklichkeit des Unsichtbaren als des höchsten Zweckes und der letzten Bedeutung alles Sichtbaren." Der Katholizismus ist Gegensatz des Heidentums, Kraft des Glaubens, des Hoffens und der Liebe, göttliche Offenbarung. „Nur jener universelle Katholizismus ist alt, der älteste, ist ewig, hervorgegangen aus dem ewigen Gott selbst durch seinen Sohn Christus." So wird Weiller zum begeisterten Verkünder eines mit lebendigstem Leben erfüllten Christentums; der Toleranzgedanke der Aufklärung hat den Sieg davongetragen über jede Form orthodoxer Rechthaberei; mit rücksichtsloser Schärfe bekämpft er jede Veräußerlichung im Kultus und jeden Lehr- und Gewissenszwang, jede übertriebene dogmatische Bindung oder Spekulation; über das Papsttum fand ich in seinen Schriften nicht eine Stelle. Mit diesen Anschauungen gehört Weiller zu jener Gruppe von Anhängern der katholischen Kirche, die unter dem Einfluß des Trierer Weihbischofs Nicolaus von Hontheim, der unter dem Pseudonym „Febronius" das aufsehenerregende Werk „Von der Verfassung der Kirche" veröffentlicht und damit den Angriff gegen die päpstliche Gewalt eröffnet hatte, das Recht der Kritik auch an den kirchlichen Lehren in Anspruch nahmen. Ueber das Verhältnis des Christentums zur Wissenschaft äußerte sich Weiller in einer Akademierede (12. Okt. 1820) i1) Die Wissenschaft wird erst Wissenschaft, wenn sie sich des hinter dem Stoff und seinen Gestalten waltenden Geistes bemächtigt. Das Christentum erregt diesen Geist für das Ideale in einer Tiefe, wie er sonst nirgends zu treffen ist; es führt durch das Leben zur Einsicht, durch die T a t zur Anschauung und zum Begriff. Das Wissen, besonders des Höchsten, hat seinen lebendigen Ursprung in der Gesinnung, der Begriff bedarf der Anschauung und die Anschauung des Lebens. „ W i r kennen ja die Jahrmärkte der Empirie und die toten Gewölbe der Scholastik und Sophistik." „Weisheit ist die höhere und festere Gesinnung, ohne welche kein Wissen ein gründliches und lebendiges, sondern ein bloß zerstückeltes und zufälliges Meinen ist." Kleine Schriften.

2. Bdch., S. 2 9 8 — 3 2 3 .

— 95 — Deutlich wird hier der Zusammenhang zwischen Weillers religiöser und philosophischer Gedankenwelt, und es ist nicht schwer, seine Stellung zu Kant und Jacobi, sowie zur spekulativen Philosophie zu charakterisieren. Weiller ist überzeugt, 1 ) daß eine Philosophie, die einseitig nur eine geistige Kraft bevorzugt, ihr Ziel niemals erreichen kann. Daher sucht er bei seinen Schülern Ruhe, aber auch Lebendigkeit des ganzen Geistes, Liebe und Achtung für Wahrheit und nur für Wahrheit, aber für reelle und nicht bloß für logische anzuregen und so die innere höhere Tätigkeit einzuleiten, ohne die alles Philosophieren höchstens ein totes Spekulieren oder nur ein unruhiges Phantasieren ist. Es kommt ihm also auf eine genaue Abgrenzung der Vermögen des menschlichen Geistes an. Kants Beweis über die Unzulänglichkeit des Verstandes über sich selbst hinaus zu den Objekten, zum Reellen zu gelangen erkennt er voll und ganz an. „Jacobi, dieser große und geistvolle Denker, sagte den ganzen Gang, den der Kritizismus an den leidigen Buchstab gefesselt nehmen würde, lange vorher." 2 ) Er behauptete und bewies, daß dem Kritizismus, wie er in Kants konsequentem Buchstab dalag, jedes Objekt (jede objektive Realität) verschwinden müsse. Allein er hatte Unrecht, bis Fichte k a m . . . Jacobi behauptete und bewies gegen Fichte, daß so fortgefahren, auch jedes Subjekt (jede subjektive Realität) verschwinden müsse und nur das „Ist" oder die Kopula als einzige Realität übrig bleiben könne. Allein er hatte wieder Unrecht, bis Schelling auftrat In Uebereinstimmung mit Jacobi, von dessen Schriften er das „Gespräch über Idealismus und Realismus", den „Brief an Fichte" und die Untersuchung „Ueber das Unternehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstand zu bringen" zitiert, verwirft er das Identitätssystem als hohles Phantasiegebilde. Nachdem der Verstand in seiner Leistungsfähigkeit weit überschätzt worden ist, gilt es der Vernunft zu ihrem Recht zu verhelfen. 3 ) Jacobi, der den ganzen neuen Krieg auf dem philosophischen Feld eigentlich immer als Sieger ehrenvoll mitmachte, wies am ununterbrochensten und mit seltenem Nachdruck auf das lebendige Prinzip hin, von dem allein alle wirkliche Wahrheit kommen kann. So will auch Weiller der neuen Philosophie folgen und alle unsere höheren Geisteskräfte zu ihrem Recht kommen lassen. Er untersucht die einzelnen Vermögen, die Empfindung, den Verstand und die Vernunft 5 ). „Die Vernunft als das Prinzip x)

A n l e i t u n g zur freien A n s i c h t der Philosophie.

s)

Weiller,

3)

Anleitung.

S. 151,

201.

Weiller,

Anleitung.

S. 159.

Weiller,

Anleitung.

S. 204, 209ff., 231.

M ü n c h e n 1804.

Vorw. V I / V I I .

— 96 — der Unabhängigkeit in uns gibt zu ihren Wirkungen Form und Stoff; sie kann es; denn sie schafft Ideen und gibt in diesen nicht mehr ein bloßes Subjektives, welches für gewisse vernünftige Subjekte, sondern ein Objektives, welches für alle Vernunftwesen gültig ist." Solche Ideen sind die der Schönheit, Erhabenheit, Wahrheit, noch größer und eigentümlicher ist die der Sittlichkeit, die dem Vernunftwesen sein wahres Wesen zeigt, die höchste die der Heiligkeit. Allen diesen Ideen liegt eine Uridee zugrunde, die der lebendigen Einheit. So gibt erst die Vernunft den Begriffen und Urteilen Inhalt, sie allein erzeugt Wissen. „Das Fühlen ist ein unmittelbares Vorstellen eines höheren Wertes, eines Wertes an sich. Es macht das Wissen, das durch die Vernunft möglich wird, zu unserem Wissen und bringt uns mit dem Einen, das uns jene vorhält, in unmittelbare Berührung." Die Vernunft und das Gefühl bringen uns mit dem Urquell nur in unmittelbare Berührung. Der Wille muß das nur Berührte ergreifen und handeln. Er ist das Vermögen sich frei etwas anzueignen, sich nach Vernunftvorstellungen zu bestimmen. Auf Grund dieser Untersuchung erkennt Weiller als Aufgabe der Philosophie den Menschen mit Hilfe von Verstand, Wille, Gefühl und Vernunft zum Absoluten zu leiten. Das Absolute ist aber der ewige lebendige, heilige Gott1). Weiller verehrt in Kant2) den „großen Stifter einer neuen tief eindringenden Philosophie," den Zerstörer der vermeintlichen Allgewalt des bloßen Raisonnements. „Wie klar und innig offenbarte sich seinem großen lebendigen Geist die innere eigentliche Beschaffenheit des Schönen, des Erhabenen, des Guten, des Heiligen! Wie klar und innig stand nicht bloß der Unendliche, der Allmächtige, sondern vor allem der Heilige vor seiner kräftigen Seele. Wie klar und innig schied sich vor seinem hellen scharfen Blick das Ganze nicht bloß in zwei physische, dem Grad nach verschiedene Reiche, sondern in ein physisches und in ein heiliges, also in zwei der Art nach getrennte Reiche." So faßte Weiller den Geist der Kantschen Lehre. Jacobis Schriften bestimmten ihn seine Gedanken über Vernunft, Gefühl und Wille weiter auszugestalten. In der Einschätzung der göttlichen Offenbarung weicht er von ihm ab. Eine zusammenfassende Darstellung seiner religiösen Anschauungen gibt Weiller in den drei Bänden: „Ideen zur Geschichte der Entwicklung des religiösen Glaubens". Der 1. Teil bereitete Jacobi solche Freude, Weiller, 2)

Ebenda

Anleitung. S. 426.

S. 330.

— 97 — daß er sich entschloß, seine eigene Schrift von den göttlichen Dingen zu vollenden: „Wie ich dem Verfasser der Ideen die Schrift von den göttlichen Dingen bei ihrer ersten Erscheinung in stillem Geist widmete, so eigne ich sie demselben jetzt öffentlich zu als ihm angehörend wie außer mir selbst keinem anderen. Ich weiß auch, er stehet zu ihr, wie ich selbst zu ihr stehe. Der reinsten, uneigennützigsten Freundschaft setze ich dieses Denkmal." 1 ) Weillers Auffassimg, daß die Katholizität des Christentums in der Erhabenheit über alle Formen und in der Verträglichkeit mit allen liege, bewirkte, daß seine Schriften auch in protestantischen Kreisen lebhaftes Aufsehen erregten. Feuerbach, 2 ) der berühmte Jurist, brachte Weillers Schrift „Ueber die religiöse Aufgabe unserer Zeit" nach Schloß Löbichau, wo er bei seiner Freundin, der Herzogin Dorothea von Kurland, in angeregtester Gesellschaft der Gräfin Elise v. Recke von Tiedge, dem Vater Theodor Körners und anderen Erholung von schwerer Berufsarbeit suchte. Mit größtem Interesse wurde sie gelesen und Feuerbach lud Weiller im Auftrag der Herzogin ein, sie zu besuchen; mit Worten höchster Anerkennung äußerte er sich über die Rede, „welche an innerem Gehalt und kräftiger Wirksamkeit nach außen viele Zentnerlasten unserer literarischen Meßwaren aufwiegt — nicht bloß ein herrliches, durch Reichtum und Wahrheit der Gedanken, durch Tiefe und Innigkeit hochreligiöser Gefühle und durch hinreißende Kraft echt männlicher Beredsamkeit ausgezeichnetes Werk des wissenschaftlichen Geistes, sondern zugleich eine große Tat, eine höchst denkwürdige, in ihren Folgen nicht auszurechnende Begebenheit, wie sie nur ausgehen kann von einem Manne, in welchem der lautere Geist beseligender Wahrheit, der hohe Geist der Kraft und des Mutes wohnt." Noch wiederholt erwähnt Feuerbach 3 ) in seinen Briefen an Elise von Recke des treuen Vorkämpfers für ein reines Christentum, „Welches Bekenntnis eigener Schwäche — das Stillschweigen des Papstes zu Weillers kühner Unternehmung " „Und was sind alle die Bemühungen der Adam Müller, Schlegel und Konsorten anders als ebenso viele augenscheinliche Beweise, daß die Finsterlinge zu eben der Vernunft, welche sie unterjochen wollen, ihre Zuflucht zu nehmen genötigt sind? Mit der Dummheit allein, das sehen sie ein, — kommen sie nicht mehr fort, darum versuchen sie ein Bündnis der Dummheit mit dem Geist um womöglich durch Verstand den Menschen um den Verstand zu betrügen," eine Auffassung, wie sie in ähnlicher Weise J a c o b i s Werke. Bd. III, 1816, S. 260. F e u e r b a c h , Nachlaß. Bd. 2 2 , S. i43ff. *) a. a. O. S. 149. Loewe, Friedr.Thiersch. 2)

7

— 98 — Weiller in der erwähnten Rede äußerte: „Mit bloßer unbedingter Autorität wird jetzt nichts mehr ausgerichtet. Man bedarf überall der Gründe selbst um grundlosen Behauptungen Eingang zu verschaffen... Sonst huldigte man dem Ungereimten aus herkömmlicher Resignation auf Vernunft; jetzt huldigt man ihm aus Respekt für die erst gemachte Entdeckung, daß eben das Ungereimte das wahrhaft Vernünftige sei." Mit Weillers religiösen und philosophischen Anschauungen hängen seine pädagogischen Gedanken1) aufs innigste zusammen. Seine Lebensarbeit gehörte der Erziehung der Jugend; ihr hat er seine beste Kraft in Schrift und Amt gewidmet, seitdem er 1763 als 21jähriger Hofmeister im Hause des Geheimrats von Pettenkofen in München eingetreten war. Nachdem er vorübergehend Mathematik an der von Adrian von Riedel errichteten Anstalt für künftige Straßen- und Wasserbauverständige und seit 1792 an der lateinischen und deutschen Realschule von Fuchs Religion, Mathematik und Geschichte gelehrt hatte, wurde er um die Jahrhundertwende Professor der praktischen Philosophie und Pädagogik am Lyzeum in München, bald auch Rektor dieser Anstalt, 1809 erhielt er auch noch die Leitung des Gymnasiums. Bis 1823 bekleidete er dieses Doppelamt. In größeren Werken und zahlreichen Schulreden legte er seine Gedanken über Erziehung und Unterricht, wie er sie in Theorie und Praxis gewonnen hatte, nieder. Da seine Hauptwirksamkeit in einflußreicher Stellung in die Jahre 1800—1823 fällt, so geriet er, der überzeugte Anhänger der Aufklärungspädagogik, wenn er auch in der Frage der Willensbildung, des spielenden Lernens und der Ueberlastung der Jugend mit zu viel Kenntnissen von den Philanthropisten entschieden abwich, in einen scharfen Gegensatz zu dem eben damals in Bayern lebhaft vordringenden Neuhumanismus. Alte und neue Zeit kämpften miteinander. Es entbehrt nicht eines eigentümlichen Reizes zu sehen, wie schon beim ersten Besuch Weillers in Thierschs Klasse der sachliche Gegensatz zwischen beiden Männern hervortrat, wie der jugendlich ungestüme Thiersch mit seinem Rektor, der an dem Entwurf des Wißmayrschen Lehrplanes stark beteiligt war, wegen des Niethammerschen Regulativs in Konflikt geriet, dann aber in einer Laufbahn von 15 Jahren oft seine treue Teilnahme und Hilfe erfuhr, während sich in Weillers Anschauungen über Sprachbildung ein langsamer, aber grundlegender Wandel vollzog, bis drei Jahre nach Weillers Tod der Neuhumanismus im Lehrplan von 1829 zum vollen Siege kam. Weillers pädagogische Anschauungen sind vor allem niedergelegt in den recht weitschweifigen Büchern über „Jugendkunde" (1800) und !) V ä g a c s , Weiller.

S. i6, 5 5 f f . ein Verzeichnis der Schriften.

— 99 — „Erziehungslehre" (1802), sowie in seinen zahlreichen Schulreden. Als echter Aufklärer und begeisterter Anhänger Rousseaus, „des größten Denkers im Erziehungsfach", wie er ihn nennt, zeigt er sich in seinem Bildungsoptimismus, der uns ähnlich heute in den Anschauungen links gerichteter Schulreformer entgegentritt. Während Goethe als erster die Erziehung als Problem erfaßt, an dessen Lösimg er bis zu seinem Tode arbeitet, und schon dem Kinde ausgeprägte Individualität zuschreibt, so daß dem Erzieher kaum eine positive Leistung bleibt, scheint Weiller keine Schwierigkeit zu kennen, wenn anders der Erzieher nur sein Geschäft versteht. Ueberzeugt, daß der Erziehungserfolg von einer genauen Kenntnis des Wesens der Jugend abhängig ist, entwickelt er seine Lehre von der Anlage 1 ) des Zöglings; es ist „eine Geneigtheit, ein Streben, eine Tendenz zu einer gewissen Beschaffenheit; ihrer Form nach ist sie unbestimmt; in Anlehnung an Rousseau behauptet Weiller, es gibt keine vorzüglichen und keine schlechten Anlagen, in der Hand des Erziehers liegt, was aus ihr wird. Aus der Kenntnis der Anlagen folgt die richtige Behandlung: das Vorlegen des passenden Stoffes soll den Zögling zur Selbsterziehung reizen. In Weillers Lehre von der Anlage und dem Wesen der Jugend ist besonders charakteristisch die starke Betonimg der Selbsttätigkeit des Zöglings und der überraschend große Einfluß, der dem Erzieher durch die Wahl des Stoffes gegeben ist. Geht doch Weiller sogar so weit zu behaupten (§ 121 S. 203): „Glaube nicht, daß du aus deinem Zögling gerade nur einen Deutschen, einen Franzosen, einen Engländer usf. werden lassen könnest; er kann, wenn du willst, dein Geschäft verstehst, und früh an selbes gehst, in Deutschland ein Franzos oder Engländer und in Frankreich oder England ein Deutscher werden." Dazu kommt die völlige Verkennung der individuellen Verschiedenheit der Anlagen, das Vorherrschen des Formalen, die Uebertreibung der Abstraktion namentlich im zweiten Band der Erziehungslehre, der 1805 erschien, wo die Anlage und die „Nebenanlagen" als solche betrachtet werden, ohne daß auf die Entwicklung des Menschen Bezug genommen wird, endlich die entschiedene Berücksichtigung der Gesetze der Natur. Weillers System baut sich auf der Natur des Zöglings auf. Schon 1799 veröffentlichte er einen Lehrplan: „Grundlinien eines auf die Natur des jungen Menschen berechneten Schulplanes"; scharf trennt er hier2) Erziehung und Unterricht, tadelt als Hauptgebrechen der bisErziehungslehre. §70—124. ) Grundlinien § 5, § 7 ff-

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V ä g a c s S. 65ff.

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herigen Schulen, daß sie mehr Namen als Sachen lehren und beide Unterweisungen zu früh beginnen. Latein ist neun Jahre lang der Hauptgegenstand; „man nahm nicht auf die Natur der Jugend Rücksicht," „man schnitt ihnen nur die gewöhnliche Kost der Erwachsenen in kleineren Portionen vor". Grammatik ist nach der Metaphysik vielleicht das abstrakteste Studium. „Der Knabe, der auf den Ebenen der Sinnenwelt noch so oft strauchelte, mußte nun schon auf dem Bergrücken der Spekulation herumklettern, er lernte weder Klettern noch Gehen. Er sollte im 13. und 14. Jahr ein Philosoph, im 17. und 18. Jahr ein vollendeter Jurist oder Theolog oder weiß Gott was — werden. Man wollte Treibhausfrüchte." Den Schluß der „Grundlinien" bilden Vorschläge über Einrichtung eines Erziehungsrates, bestehend aus allen Schulhaltern, der in pädagogischer Rücksicht die Gegenstände, Methoden und Personen des Schulwesens bestimmt; sie enthalten beherzigenswerte Ausführungen über Lehrerpersönlichkeit, Beurteilung der Schüler, Errichtung der Schulgebäude, Abhaltung der Schulfeste, Schuldisziplin; die Schüler sollen sich die Schulgesetze selbst geben; sehr seltsam sind Weillers Ansichten über Lehrbücher: diese sind eine Stütze für den Lehrer, in den Elementarschulen muß der Schüler überhaupt nicht aus dem Buch, sondern aus eigenen Versuchen lernen, in den Kulturschulen können passende Schulbücher zugelassen werden; doch soll vor dem 18. Jahr hier der Zögling nach dem bloß mündlichen Unterricht nach und nach ein eigenes, wenn schon fehlerhaftes Lehrbuch entwerfen. Besonders gern benützte Weiller festliche Gelegenheiten um vor den Lyzeisten und ihren Eltern zu wichtigen Problemen der Erziehung und des Unterrichtes Stellung zu nehmen. So hielt er 1801 eine Rede: „Ueber die Notwendigkeit, den Eintritt in die gelehrten Schulen und den Aufenthalt darin zu erschweren" ;*) er untersucht, was der Zeitgeist von den Absolventen gelehrter Schulen fordert, und kommt zu dem Ergebnis: genaue Bekanntschaft mit dem Fach, allgemeinere Kenntnis aller übrigen Fächer, Selbsttätigkeit, einen starken Willen gegenüber den Hindernissen, die dem Erwerb so ausgedehnter Kenntnisse entgegenstehen, hohe Sittlichkeit. Aus diesen Anforderungen folgert er für die Schulen die Notwendigkeit äußerst sorgfältig in der Aufnahme und Beibehaltung der Schüler zu sein. Nur der durch vorzügliche Anlagen des Herzens und Kopfes ausgezeichnete Jüngling fange das Studium auf den gelehrten Schulen an, aber erst nach Durchlaufung der allgemeinen mit dem 13. oder 14. Jahr; zur Realisierung dieses Vorl

) L o e w e , Schulkampf.

S. 19.



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schlages empfiehlt Weiller als sicherstes Mittel: „Man nehme unseren bisherigen Schulen für die oberen Stände nur den Charakter lateinischer, also der Sprachschulen, so werden sie sich leicht in die nötigen Sachschulen verwandeln lassen"; der Lateinunterricht soll von einem eigenen Fachlehrer gegeben werden. Mit beißendem Spott sucht Weiller die überragende Stellung, die dieser Sprache noch immer eingeräumt wird, zu erschüttern. „Schlägt man mit allem Latein in der Welt — eine Armee ? Stillt oder hindert man — damit einen Aufruhr ? Bekehrt oder verscheucht man damit das Laster und seinen Unglauben?" „Künftig gelte nur derjenige für einen Studierten, welcher mehr weiß, fester selbst denkt und selbständiger handelt als jeder Gemeine." Bereits im Oktober desselben Jahres veröffentlichte Weiller als Kommentar zu dieser Rede: „Mein Glaubensbekenntnis über den Artikel der allein selig machenden Sprache", eine Schrift, in der er seinen Standpunkt noch viel schroffer formulierte. Zwar sei die Erlernung des Lateinischen als Grundlage der modernen Sprachen nützlich, aber nicht notwendig; die durch sein Studium gewonnenen Sachkenntnisse eignen sich nicht für die frühe Jugend; das Gedächtnis werde einseitig ausgebildet. Gute Uebersetzungen erschließen besser die in ihr erhaltenen Geistesschätze. Weillers Auffassung der Sprache und insbesondere des Lateins steht in schärfstem Widerspruch zu der des Neuhumanismus, wie er von Thiersch vertreten wurde. In einer dritten Rede 1 ) am Ende des ersten Semesters 1803 behandelte Weiller sein Lieblingsthema: „Ueber die Herstellung des gehörigen Verhältnisses der Bildung des Herzens zur Bildung des Kopfes als der dermaligen Hauptaufgabe der Erziehung". Vor allem drei für eine Schulreform wichtige Grundforderungen lassen sich also aus Weillers Reden und Schriften aufstellen: Beseitigung der Monopolstellung des Lateins, Sachschulen statt Sprachschulen, neben der Pflege des Verstandes eingehende Berücksichtigung des Gemütes. Den Anschauungen Weillers sehr nahe stand sein Vorgänger im Rektorat des Gymnasiums, M. Lechner. 2 ) In sehr temperamentvoller Weise sprach er bei der Preisverteilung am 1. September 1802 „Ueber die Verbindung des Sprach- und Sachunterrichtes in den gymnastischen Schulen". Als Hauptforderung stellt er die Verbindung von Sach- und Sprachunterricht auf. Spottend ruft er den Gegnern zu: „Man sollte frei2

L o e w e , Schulkampf. S. 20. ) L o e w e , Schulkampf. S. 17.



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lieh kaum denken, daß es am Anfang des 19. Jahrhunderts noch irgendwo eine Streitfrage sein könne, ob man die im Gymnasium studierende Jugend nur allein Worte oder auch Sachen lehren, ob man vorzüglich nur ihr Gedächtnis oder auch zugleich ihren Verstand bearbeiten solle." Mit dieser einseitigen Beurteilung des Sprachstudiums verbindet sich bei Lechner der Mangel an geschichtlichem Verständnis und die Vorliebe für „die wahre, sanft fortschreitende Aufklärung". In den „ehemaligen Tägen erkünstelter Finsternis" erheischte es nach seiner Meinung die Sicherheit von Thronen und Altären, die künftigen Staatsbürger statt mit aufklärendem Sachunterricht mit dem Spielzeug der Worte und Phrasen hinzuhalten. „Je mehr der Buchstabe herrscht, desto mehr wird der Geist abgetötet." Jetzt aber, da die an allen Greueln der Revolution unschuldige Aufklärung zur Herrschaft gelangt ist, muß die gesunde Politik zum Vorteil des Vaterlandes den Sachunterricht wieder in sein Recht einsetzen. Nachdem Lechner durch solche Ausführungen sich gleichsam den Boden für weitere Untersuchungen geebnet hat, verkündet er in immer neuen Wendungen das Dogma der Aufklärungspädagogik: „Man muß von dem Gesichtspunkt ausgehen, was der studierende Jüngling für seinen künftigen Beruf zu wissen nötig hat; dieses Bedürfnis — denke ich — sollte vorzüglich die Auswahl und das Maß seiner Schulbeschäftigung bestimmen. Jede andere Kenntnis . . . hat in den Augen der vernünftigen Welt einen sehr geringen Wert." Die Sachkenntnisse gruppiert Lechner nach den drei Begriffen Gott, Mensch und Natur. Die vorzüglichsten Klassiker des Altertums sollen die Schüler in guten Uebersetzungen lesen und das, was an Schönheit der Form dadurch verloren geht, durch die Lektüre deutscher Klassiker ersetzen. Klar und bestimmt lehnt es Lechner also ab, die Kenntnis der alten Sprachen zum Hauptzweck des Gymnasialstudiums zu machen. Doch schätzt er sie als Mittel um die Schüler mit den Meisterwerken der Alten vertrauter zu machen und ihren Geschmack zu bilden. Daher fordert er eifrige Uebungen namentlich des Lateinischen und macht sogar das Zugeständnis, daß diesem Sprachunterricht mehr Zeit als jedem Sachgegenstand zu widmen ist. Zuletzt beschäftigt sich Lechner mit der wichtigen Frage, in welchem Verhältnis Sprach- und Sachunterricht in den Mittelschulen stehen sollen. Beide dürfen nicht von einander getrennt werden. Dem Einwurf, daß eine Vereinigung so vieler Gegenstände Lehrern und Schülern die Arbeit erschwere, hält er entgegen, die Schule müsse sich an rastlose Tätigkeit gewöhnen; als wichtiges Mittel den gefürchteten Uebelstand zu beseitigen, empfiehlt er die Einführung des Fachlehrer-

— 103 — systems, mit dem man in anderen Ländern gute Erfahrungen gemacht habe. Wie Mutschelle, Lechner und Weiller dachten viele andere; daher ist es nicht verwunderlich, daß unter den Reform Vorschlägen, welche auf Wunsch des Kurfürsten von den Lehrerkollegien eingereicht wurden, die der Münchener besonders radikal erscheinen. Für die Auswahl der Lehrgegenstände sollte nur ihre Brauchbarkeit für das künftige Leben maßgebend sein und Latein durch Französisch ersetzt werden. Nur Westenrieders energischem Eintreten für den Humanismus war es zu danken, daß in der Sitzung der geistlichen Ratsschuldeputation am 12. Juli 1800 die Kommission einhellig dem Referenten zustimmte: „Wenn nicht alle gründliche und echte Gelehrsamkeit zum unabsehbaren und unersetzlichen Nachteile des Vaterlandes verfallen soll, muß die lateinische Sprache und klassische Literatur als wichtigste Hauptsache betrachtet und behandelt werden". Zeigte sich in diesem Punkt von Seiten der Regierung kein Entgegenkommen, so wurde durch höchste Entschließung vom 27. Okt. 1802 „Ueber die Einführung der Lehrart in Fächern" den Wünschen in weitgehender Weise Rechnung getragen. Damit ein richtiges Verhältnis zwischen Sach- und Sprachunterricht entstehe und die Verbindung mit den Bürgerschulen erleichtert werde, bestimmte der Kurfürst: Die bisherigen Klassennamen würden durch die Nummern I—V ersetzt; die Professoren des Gymnasiums sollten künftig nur in jenen Fächern unterrichten, welche ihren Kenntnissen und individuellen Neigungen am angemessensten seien, entweder durch alle fünf Klassen oder durch so viele, als der natürliche Zusammenhang und die Gleichförmigkeit des Unterrichtes erfordern. Das Verhältnis der Lehrgegenstände untereinander ordnete eine Übersichtstabelle folgendermaßen: A. Für die Gegenstände des Sachunterrichtes: Religion und Sittenlehre 2 h Bayerische, deutsche und allgemeine Weltgeschichte . . i h Erdbeschreibung von Bayern, Deutschland, Europa und den übrigen Erdteilen ih 8h Naturgeschichte nebst Naturlehre der Elementarkenntnisse der Anthropologie 2 h Arithmetik, Algebra, Globuslehre 2 h B . Sprachunterricht: Lateinische Sprache und Literatur 5 h Griechisch i h f i o h Deutsche Sprache, poetischer und rhetorischer S t i l . . . 4 h wöchentlich 18 h Das Französische wird wegen seines allgemeinen Gebrauches für alle Schüler aller Klassen verbindlich gemacht. Der Münchener Plan wurde als „allgemeines Normale" an sämtliche Anstalten versendet, damit ungesäumt überall ein gleichmäßiger Unterricht eingeführt werde.



104 —

In den ,, Gesetzen und Vorschriften für die Schüler der kurbayerischen Gymnasien vom I.Januar I803"1), die von dem kurfürstlichen Schulen- und Studiendirektionsrat Joachim S c h u b a u e r entworfen waren, bestimmte der § 7 : „Diejenigen Schüler, welche dereinst Rechtsgelehrte, Priester, Ärzte, Chirurgen oder Buchdrucker zu werden gedenken, sind unerläßlich verbunden auch die griechische und lateinische Sprache wenigstens bis zum hinlänglichen Grade zu erlernen. Jenen Schülern aber, welche sich zur gründlicheren Erlernung einer Kunst oder zum näheren Umgang mit der feineren Welt bloß in dazu erforderlichen Realgegenständen vollkommen auszubilden wünschen und nach Verlauf einiger Schuljahre das Gymnasium wieder verlassen werden, ist die Erlernung der gelehrten Sprachen nicht aufzudringen." Die „Gesetze und Vorschriften" 2 ) in den Lyzeen, zu gleicher Zeit erlassen, regeln die äußere, intellektuelle und sittliche Bildung. Alle Kandidaten der Philosophie sollen ohne Ausnahme auch den Vorlesungen aus der Naturgeschichte, Pädagogik und Experimentalphysik ununterbrochen beiwohnen; besonders empfohlen werden deutsche Stilübungen unter Leitung eines Professors und eifrige Lektüre klassischer Schriftsteller. Die Anweisungen über die sittliche Bildung mit ihrer starken Betonung der Bedeutung der Religion für die moralische Veredelung menschlicher Herzen (§ 44) spiegeln die Anschauungen Weillers wieder. Welche begeisterte Aufnahme die kurfürstliche Entschließung in den Kreisen der Münchener Professoren fand, lehrt eine Rede 3 ), die F. X . Weinzierl, der Lehrer der griechischen und lateinischen Literatur, am Ende des Schuljahres 1803 über den „neuen Schulplan" hielt; zwei Fragen wirft er auf: 1. Ist es zur Aufnahme der Literatur vorteilhaft, daß jedes Fach seinen eigenen Lehrer bekam ? 2. Soll die Neuerung, daß man Sach- und Sprachgegenstände unterscheidet, nicht eine Schimäre sein ? Mit „bayerischem Mut" macht er sich an die Beantwortung der ersten und preist die Weisheit der Regierung; als Lehrer, mit 22 Jahren hatte er ja selbst alle Nachteile des Klassenlehrersystemes durchgemacht. „ I c h mußte einen Morgen über das griechische Evangelium, über Horaz und Gaspari vorlesen. Ich glaubte, man sollte den Unterricht allezeit mit Gotteslehre beginnen; ich erklärte also eine Stelle von dem verlorenen Sohn nicht ohne Rührung und reuige Anbetung; nun schlug ich (ich, der nämliche Lehrer) den Horaz auf und da traf die Ode: Nunc est bibendum . . ., das schien mir ein gewaltiger Kontrast zu sein; um so mehr, da ich sogleich nach England segeln mußte um meinen jungen Freunden zu sagen, daß Liverpool mit seinem Negerhandel die Menschheit schände. Nun wünschte ich mir Glück den Morgen durchgekämpft zu haben. Den Nachmittag rief die Glocke zu einem gleich verworrenen Geschäft; das Idyllenfach wird unter die ausgedehntere Lyrik gemischt; ich las also nachmittag: Quo te Moeri pedes ? An quo via ducit in urbem ? Dann nahm ich die Kreide und berechnete eine mathematische Aufgabe. Und zum freundlichen Abschied erzählte ich noch aus der Geschichte, daß Moriz von Sachsen allein die Rechte Deutschlands gegen den eroberungssüchtigen Karl V. rettete. Muß da der Lehrer am Ende der Schule nicht mit Horaz ausrufen: „Sic me servavit Apollo ?" Als Hauptvorzug des Fachlehrersystems erscheint es ihm, daß die Professoren fortan ihr Gebiet mit sicherem Blick überschauen, mit philosophischer Gelassenheit denken und handeln und sich die nötigen Hilfsmittel anschaffen können. Die Trennung des Sprach- und Sachunterrichtes begrüßt er vor allem deshalb, weil dadurch das Recht jedes Standes auf die Ausbildung seiner Söhne Ansprüche zu machen gewährleistet wird. !) H ü b n e r , Statistik. S. 350. 2) H ü b n e r , Statistik. S. 365ff., § 15. 3) L o e w e , Schulkampf. S. 22/23.

— 105 — So klingen uns aus den Ausführungen dieser Münchener Professoren die Wünsche und Erwartungen entgegen, die man in ihren Kreisen wegen des kommenden Schulplanes hegte. Da diese Reden stets vor einem stattlichen Kreis von Zuhörern gehalten und auch im Druck verbreitet wurden, so trugen sie ihrerseits dazu bei, die Stimmung im Publikum zu beeinflussen. Auch die Regierung versäumte es nicht die lieben Untertanen über ihre wohlgemeinten Absichten aufzuklären. Diesem Zweck dienten die im Jahre 1803 erschienenen „Allgemeinen Grundsätze, nach welchen bei öffentlichen Erziehungs- und Lehranstalten zu Werk gegangen werden soll".1) Zu ihrer Charakteristik genügt es, auf die Zweckbestimmung hinzuweisen, welche die Schulen zu erfüllen haben. „Die Bestimmimg ist für jeden Menschen doppelt: die allgemeine und die besondere ; die allgemeine Bestimmung jedes Menschen ist die reine Sittlichkeit, die besondere ist Brauchbarkeit, das heißt als ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft muß er in den Stand gesetzt werden, zu seinem und zu dem allgemeinen Wohl der Gesellschaft, in welcher er lebt, das Möglichste beizutragen. Indem die Zöglinge moralisch, intellektuell und technisch ausgebildet werden, erhält der Staat moralisch gute, verständige und geschickte Bürger." Derselbe Geist eines auf einen engen Gesichtskreis beschränkten Utilitarismus spricht sich in dem von J. Wißmayr entworfenen „Lehrplan für alle kurpfalz-bayerischen Mittelschulen" aus, der am 27. August 1804 vom Kurfürsten genehmigt wurde und einem längst gefühlten Bedürfnis abhelfen sollte. J o s e p h W i ß m a y r , 2 ) Oberstudien- und Oberkirchenrat, war ein geborener Bayer, der seine Bildung in den Schulen und im Seminar von Freising genossen hatte. Durch seinen Freund Benno Michl, der ihn in die Schriften Campes, Gleims und Rousseaus einführte, ließ er sich bestimmen Weltpriester zu werden. Mit 18 Jahren trat er ins Alumnat ein, Mutschelle und der bald als Illuminat verdächtigte Anton Michl wurden seine Lehrer. Eine Zeit schwerer innerer Nöte brach für den begabten jungen Mann an, als nach Michls Versetzung die Leitung des Alumnates einem dummdreisten, rohen Landgeistlichen, dessen ganze Denkungsart das Gepräge des 13. und 14. Jahrhunderts trug, anvertraut wurde. „Wenn ich Roheit und Dummheit in einem Subjekt vereint personifizieren müßte, würde ich ihn kopieren;" in diesen Worten des Greises zittert die qualvolle Erfahrung nach, die er damals machen mußte, als er sich wie in einem Käfig fühlte. Trotz der L o e w e , Schulkampf. S. 23/24. ) W i ß m a y r , Meine Selbstbiographie für Freundliche und Freundlichgesinnte. Freising 1 8 5 7 . 2

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üeberwachung las Wißmayr viel und studierte neuere Sprachen; ganz besonders aber beschäftigte ihn das Deutsche. 1788 bezog er, 21 jährig, die Universität Salzburg und hörte Jus, Kirchen- und Universalgeschichte. Der erzbischöfliche Pagenhofmeister, sein Jugendfreund Benno Michl, bestimmte ihn sich ganz der Pädagogik zu widmen und die Sprachstudien fortzusetzen. Den nachhaltigsten Einfluß für sein ganzes Leben hatte jedoch auf ihn Hübner; durch ihn lernte er Französisch und Italienisch und wurde Mitarbeiter an der „Oberdeutschen Literaturzeitung". Seit 1800 gab er die Ephemeriden der italienischen Literatur und Kunst heraus um die großen Schriftsteller in Deutschland bekannt zu machen. 1801 ernannte ihn die Akademie zu ihrem auswärtigen Mitglied. Zwei Jahre später berief ihn Montgelas als Generalschulen- und Studiendirektionsrat. Er bekam den Auftrag den neuen Lehrplan für die bayerischen Gymnasien zu entwerfen. „Ich begann" — so erzählt er in seiner Selbstbiographie — „diese sehr schwierige Aufgabe, zu der mir die wesentlichen Grundzüge vorgezeichnet waren; ich las, prüfte, sichtete die Masse des Lehrstoffes, des älteren wie des neueren, und nahm das, was ich für unsere Schulen und Schüler als zweckmäßig erkannte, in gehöriger Ordnung und Form in den Entwurf des Planes auf." Noch deutlicher sprach er sich in jenem Gutachten aus, das er über Niethammers Normativ zu erstatten hatte; man schrieb ihm vor, zwei Zwecke, nämlich humanistische und realistische Ausbildung, durch ein Mittel zu erreichen; als er gegen diese Schwierigkeiten Einspruch erhob, erklärte man ihm, ein anderer Ausweg sei wegen der Finanzen unmöglich, das ergebe sonst einen doppelten Aufwand für Staatsgebäude und Personal. Erst nach eingehender Prüfung im Oberstudienrat wurde der Plan dann dem Ministerium übergeben, das ihn nach weiteren Abänderungen dem Kurfürsten vorlegte. Der neue Lehrplan brachte an Ickstatts Ideen anknüpfend im Sinne von Mutschelles Reformator und in Übereinstimmung mit Weillers Ansichten die Einheitsschule. Dem deutlichen Wink der Natur gemäß wird das Studium vor dem Übertritt in die Universität, die eigentlich gelehrte Schule, in vier Triennien zerlegt (§ 14): vom 6.—9. Lebensjahr besucht der Knabe die Elementarschule, vom 9 . — 1 2 . die Realschule, vom 1 2 . — 1 5 . das Gymnasium, vom 1 5 . — 1 8 . das Lyzeum. Der Lehrstoff ist stets der gleiche, nur der „ G r a d von Intention und Extension ist auf verschiedenen Lehrstufen verschieden" (§6). In diesem wesentlichen Zusammenhang der niederen und höheren Lehranstalten sieht der Lehrplan einen „unübersehbaren Vorteil" für das ganze Bildungsgeschäft. Der Unterricht wird nach Fächern erteilt; daher war die Möglichkeit gegeben, daß Schüler je nach ihren Fortschritten in den verschiedenen Fächern verschiedenen Kursen angehörten (§ 18). Ein besonders schwieriges Problem bedeutete die Frage, wie das Verhältnis von Sach- und Sprachunterricht geregelt werden sollte, wie die eine Schule den so ver-

— 107 — schiedenartigen Bedürfnissen der künftigen Staatsbürger gerecht werden konnte. Man hatte sich eine doppelte Aufgabe gestellt: man wollte „brauchbares Wissen fürs wirkliche Leben erzielen, also verständige Bürger und kluge, wohlunterrichtete Geschäftsmänner bilden", anderseits „aus den höheren Klassen allen Sektengeist verbannen oder vielmehr davon entfernt halten und dafür den aus unseren Schulen lange verscheuchten Geist wahrer Lebensweisheit, vorzüglich auch mittels Beförderung des Studiums der alten römischen und griechischen Klassiker und ihrer Sprachen wieder zurückkehren machen". Man beabsichtigte also den immer stürmischer auftretenden Forderungen auf weitgehende Berücksichtigung der Realien gerecht zu werden ohne den humanistischen Studien zu sehr Abbruch zu tun. Da der Realschüler mit zwölf Jahren die Schule verläßt und daher die Vorbildung zum Handwerks- und Gewerbsmann haben soll, so nahm Wißmayr eine Fülle von Fächern in den Lehrplan auf; neben Religion und Sittenlehre Deutsch, Geschichte, Geographie und Arithmetik erscheinen Naturgeschichte und Technologie (2 Wochenstunden), Naturlehre und Meßkunst. Wenn man sich auch auf das für die Jugend Wichtigste beschränkte, so war doch die Menge des Stoffes übergroß; die Naturlehre mußte z. B. die ohne Mathematik verständlichen Lehren von Luft, Schall, Licht, Feuer, Wasser umfassen, auf die Erklärung der gewöhnlichsten atmosphärischen, elektrischen, magnetischen Erscheinungen eingehen, dann eine womöglich anschauliche Darstellung vom Weltgebäude geben und endlich einige im gemeinen Leben besonders nützliche Instrumente wie Barometer, Thermometer, Sprachrohr, Blitzableiter, Magnetnadel u. dgl. behandeln. Der Lateinunterricht beginnt im zweiten Jahr mit zwei Wochenstunden und steigt im folgenden auf sieben; erst hier soll er „mit allem Ernst betrieben und die lateinische Grammatik vollständig abgehandelt und praktisch geübt werden (§ 26)". „Um die alten Klassiker mehr als bisher zu ehren, da man sie zu Lesebüchern für die Unmündigen erniedrigte," werden mit Rücksicht auf die vielen in ihnen enthaltenen historischen, antiquarischen und literarischen Vorkenntnisse Reallesebücher, aber nur für diese Klasse empfohlen. Zeichnen und Musik wird außer den ordentlichen Schulstunden gelehrt, ebenso wie im 2. Triennalkurs. Der Gymnasiast besucht bis zum 15. Jahr die Mittelschule und soll dann für den höheren Bürgerstand des Künstlers, Kaufmanns, Ökonomen, Unterbeamten u. dgl. (§ 15) vorgebildet sein; diesem Ziel gemäß steigert sich der Sach- und Sprachunterricht: zu Deutsch und Latein kommt Griechisch, dem in den 3. Klassen des 2. Kurses nur 2, 3 und 3 Wochenstunden zugewiesen sind, ferner Altertums-, Völker- und Menschenkunde. Einen erfolgreichen Betrieb des alten Sprachstudiums, namentlich im Lateinischen, hoffte man durch „die sehr empfohlene Verwebung" desselben mit dem Sachunterricht zu erreichen, einen nur dem denkenden und geübten Schulmann ganz hellen Unterrichtspunkt; dadurch werde die Jugend in kürzerer Zeit mit mehr Vorteil und auf angenehmere Weise die Sprachen lernen; auch könnte ihnen so eine größere Zahl von Stunden gewidmet werden. Nächst der Verwebung wird als besonders wirksames Hilfsmittel das Sprechen in der fremden Sprache empfohlen. Die Schüler sollen lateinisch denken und antworten lernen. Erst wenn diese Vorübungen beendet sind, beginne das Übersetzen aus Klassikern, die sprachlich und inhaltlich erläutert werden müssen. Für Übersetzungen ins Lateinische sollen nur bereits übertragene Stellen aus den gelesenen Autoren benutzt werden. In der letzten Klasse des Gymnasialkurses, in dem die Schriftsteller größtenteils kursorisch behandelt werden, haben die Schüler über einzelne Sätze derselben ihre eigenen Gedanken anzugeben und die großen Muster nicht bloß den Wörtern, sondern auch dem Geiste nach nachzuahmen. Der gleichen Klasse fallen dann noch lateinische Aufsätze und einzelne Versuche im



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Versemachen zu. Eigene Anweisungen über die griechische Sprache werden nicht gegeben. Entgegen dem bisherigen Brauch wurde endlich der mit praktischen Übungen verbundene philologische Unterricht auch auf die philosophischen Klassen des Lyzeums ausgedehnt. Alle Zöglinge, die sich den höheren Staats- und Kirchenämtern widmen wollten, waren verpflichtet den dritten Triennalkurs durchzumachen, ,,die eigentlich philosophischen Klassen". Dieser Teil des Lehrplanes ist fast wörtlich aus einem Gutachten Kajetan Weillers entnommen, das er für das Generalschul- und Studiendirektorium verfaßte 1 ). „Nachdem der jugendliche Geist in einer besonderen Vorbereitungsklasse rücksichtlich der Vernunft durch das Studium der Menschheitsgeschichte und Kosmographie, rücksichtlich des Willens durch Biographien guter Menschen, rücksichtlich des Gefühles durch philosophisches Studium der römischen, griechischen und der neuern.besonders der deutschen Klassiker und rücksichtlich des Verstandes durch allmähliche Einführung in das Gebiet der Mathematik, der größeren Naturgeschichte und der praktischen Logik angeregt worden ist, erhalten die Schüler in einem zweijährigen Kurs Vorlesungen über die Philosophie, welche den Schlußstein des Ganzen bilden." In einem besonderen § 45 wird die Frage behandelt: „ W i e soll auf unseren Lyzeen Philosophie gelehrt werden ? oder welche Hauptrücksichten hat der Lehrer der Philosophie bei dem Vortrage über Weillers Anleitung zur freien Ansicht der Philosophie als dem §37 allgemein vorgeschriebenen Lehrbuch zu nehmen?" Das hier erwähnte Lehrbuch war eine gegen Schellings Philosophie gerichtete Streitschrift; im § 45 wird „ P u n k t für Punkt der Lehrer gemahnt, sich vor einer Richtung zu hüten, unter welcher unverkennbar Schellings Lehre gemeint war". „Alle gegen Schelling geläufigen Gemeinplätze von dem Gegensatz der Schulphilosophie und Lebensweisheit, von der Verstandesgrübelei und Erkenntnissucht usf. hatten hier Eingang gefunden in ein offizielles Schriftstück und trugen den Stempel der öffentlichen Autorität" 2 ). In einem Brief an den Grafen Thürheim protestierte Schelling gegen ein solches Vorgehen. Der Wißmayrsche Lehrplan ist also charakterisiert durch das starke Ueberwiegen

des

Sachunterrichtes

gegenüber

den Sprachen,

denen besonders das Griechische vernachlässigt

unter

erscheint, durch die

scharfe Betonung des Nützlichkeitsstandpunktes bei Auswahl der Lehrgegenstände, durch die Ueberzahl der Fächer und die bewußte

Ab-

lehnung der spekulativen Philosophie, sowie durch die straffe Organisation der Einheitsschule. In

den

Zeitschriften

setzte

alsbald

eine

lebhafte

Kritik in

zu-

stimmendem und ablehnendem Sinn ein. Während „die Nationalchronik der Deutschen",

„die fränkischen

Provinzialblätter"

und die

„Ober-

deutsche Allgemeine Literaturzeitung" ihn lebhaft priesen, verwarf ihn J. H. Voß

in der „Jenaisch-Allgemeinen

Literaturzeitimg"

aufs ent-

schiedenste und wies das Anerbieten der bayerischen Regierung unter dem Schutz

der Akademie

ein philologisches Seminar mit

wählten Gehilfen einzurichten, ab.

kreisen entstand lebhafte Mißstimmung. *) Vägacs S. 251. 2) L o e w e , Schulkampf.

S. 27.

selbstge-

In den Gymnasial- und Hochschul-

— 109 — „Die Universitätsprofessoren" — so berichtet 1 ) der Lokalkommissär Hupfauer aus Landshut am 1. Juni 1806 — „nehmen auf unseren Studienplan g a r keine Rücksicht und nur insoferne von demselben Notiz, daß sie einmütig behaupten, unsere Gymnasiasten würden immer . . . zu viele Sachkenntnisse, w e n n sie zu Sattlern, Schlossern und Schreinern usw., aber zu wenig Sprachkenntnisse mitbringen, wenn sie zu soliden Gelehrten ausgebildet werden sollen." Die Landesdirektion von B a y e r n mußte am 17. Oktober 1805 dem Ministerium mitteilen, es sei n a c h dem W u n s c h fast aller Schulvorstände und L e h r e r darauf hinzuwirken, „daß künftig zur zweckmäßigen E r l e r n u n g der teutschen, lateinischen und griechischen Sprachen und besonders für das Studium der schönen Wissenschaften und klassischen Literatur als der Urquelle der veredelten Humanität, des reinen Geschmackes und der soliden bescheidenen Gelehrsamkeit etwas mehr Zeit als für die sogenannten Sachgegenstände verwendet werden dürfte." D a h e r sah sich die R e g i e r u n g genötigt, 1805 einen „ N a c h t r a g " 2 ) zu erlassen. Die Stundenzahl des i. Trienniums wurde von 19 auf 20 erhöht. Der Unterricht im Lateinischen sollte bereits in der ersten Klasse des 1. Trienniums beginnen und in' den ersten sieben Klassen dem Studium der Sprachen und älteren Klassiker zwei Drittel der wöchentlichen Stunden gewidmet werden, während die übrigen den Sachgegenständen verbleiben. Das Lesen und Schreiben des Griechischen muß in der zweiten Klasse gelehrt und dann die Unterweisung stufenweise fortgesetzt werden. Damit durch dieses Zugeständnis an den Sprachbetrieb der Sachunterricht nicht leide, schärfte die kurfürstliche Entschließung nochmals den Lehrern ein, die Lehrgegenstände nach ihrer natürlichen Verbindung zu verweben und den Stoff zu den schriftlichen und mündlichen Übungen aus Geschichte, Naturkunde und Naturbeschreibung zu nehmen; in der Regel ist auf dieser Stufe das Erlernen des Französischen verboten. Im 2. Triennium sind von den 19 Stunden 12 auf Sprachen zu verwenden, wobei besonders auf das Deutsche Rücksicht genommen werden muß; Altertumskunde soll mit diesen, Völker- und Menschenkunde mit Geschichte verwebt werden. In den Realklassen wird künftig ein Professor alle Lehrgegenstände geben; für das Gymnasium wurde das Fachlehrersystem beibehalten. Betreffs der Vorbereitungsklasse gestattete die Regierung die Verschmelzung der Biographien edler Menschen mit dem Studium der alten und neuen Klassiker. Dem Wunsche der klassischen Literatur auch in den zwei letzten Klassen des Lyzeums mehrere Stunden zu widmen konnte nur insoferne Rechnung getragen werden, als die Professoren der Tugendlehre und Pädagogik Gutachten einzureichen hatten, ob sie auf eine Stunde verzichten können. Die Regierung glaubte genug getan zu haben, indem die Schüler dieser Klasse alle zwei Monate sich über die fortgesetzte Lektüre der Klassiker auszuweisen, alle halbe Jahre einen bedeutenderen lateinischen Aufsatz zu liefern und am Ende des Jahres für die Prüfung ein Thema auszuarbeiten hatten. Den in der Philologie sich besonders Auszeichnenden stellte man Universitätsstipendien in Aussicht. 2

Z w e r g e r , Lehranstalten S. 239. ) L o e w e , Schulkampf. S. 30.



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Auf diese Weise hoffte der Kurfürst den berechtigten Wünschen Genüge getan zu haben. Allein die Klagen mehrten sich. Westenrieder fällte das herbe Urteil: „Der endliche, gemeinere Erfolg war, daß man die eigentlichen Schulstudien, die Sprachen und Literatur der Alten, verhöhnte und verachtete, allein die auswärtigen Sprachen als die erste Hauptsache erklärte, und daß man vermöge eines unbegreiflichen Unsinnes Kinder und Knaben mit der Erlernung von 20 so betitelten bürgerlichen und philosophischen Gegenständen überhäufte und marterte; lehrte man einst zu wenig, so lehrte man jetzt das meiste um einige Jahre zu früh und zu gleicher Zeit zu viel und zu unrichtig." Friedrich Jacobs, der 1808 als Lehrer an das Lyzeum berufen worden war, schrieb 1 ) an einen Freund: „In den Einrichtungen der Schule war noch viel Mönchisches, wie denn auch die Mehrzahl der Lehrer aus gewesenen Mönchen bestand. Der Wißmayrsche Lehrplan war noch in voller Kraft, das Studium der alten Sprachen lag darnieder und war vom Katheder herab der Verachtung preisgegeben." „Mitleid muß es einflößen", so äußerte er sich ein andermal an den Vorstand der Studiensektion, Zentner, „zu sehen, daß Leute, die nicht eine Seite im Plato oder einem anderen alten Philosophen verstehen, über die Geschichte der Philosophie mit einer Keckheit vom Hörensagen aburteilen, die sich kein Kenner erlauben würde." In wesentlicher Uebereinstimmung mit diesen Männern faßte Friedrich Thiersch sein Urteil über den Lehrplan in die Worte: „Er glaubte dem drückenden Bedürfnisse an Sachkenntnissen, dem allgemeinen und gerechten Begehren nach denselben dadurch begegnen zu können, daß von den frühesten Jahren an dieselben dem Knaben in den mannigfaltigsten Arten und Zubereitungen geboten würden. Die alten Sprachen und Literaturen sollten nicht eben aus der Schule gebannt sondern von dem schwerfälligen Pedantismus ihrer Lehrart befreit, nutzbar gemacht, dabei aber nicht zu früh und in gehöriger Unterordnung gegen die Fülle brauchbarer Realien getrieben werden. Indes, der Betrieb dieser Realien selbst geriet, wo er überhaupt nicht bloß dem Namen nach begann, bei der Unordnung und Verwirrung ihrer Stoffe in dem Lehrplan, bei der Unkunde und Gleichgültigkeit der meisten Lehrer für sie und dem Mangel guter Lehrbücher in eine fast allgemeine Stockung und Mißachtung. Dabei konnte, unter den Druck derselben Ursachen gebeugt und außerdem spät angefangen und notdürftig betrieben, das Studium der alten Sprachen nicht auch nur zu Loewe, Schulkampf. S. 31.

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einiger Kraft gelangen und der Plan müßte unter einem so vielfachen äußeren Mißgeschick notwendig zugrunde gehen, wenn seine innere Wichtigkeit, nach welcher der Ernst der gelehrten Studien und die Richtung des Geistes auf das Innere und Ideale in ein müßiges Beschauen und Aufnehmen äußerer Dinge gezogen und aufgelöst würde, ihn nicht schon allein einem frühen Untergang geweiht hätte." Die neuere Forschung erkennt fast übereinstimmend die schweren Fehler des Lehrplanes an. Eine zu späte Blüte des Aufklärungszeitalters, wurde er von dem auch in Bayern mächtig vordringenden Neuhumanismus beseitigt. II. Kapitel.

Die Reform der Akademie, das Vordringen des Neuhumanismus und der spekulativen Philosophie. Die Germanistik. Das Niethammersche Normativ. Thierschs erste Wirksamkeit in München. Da Montgelas in der Akademie eine kraftvolle Stütze bei der Durchführung seiner Grundsätze in der Staatsverwaltung zu finden hoffte, so galt es sie durch geeignete Maßregeln zu reformieren. Unter den Männern, die ihn bei diesem Werke behilflich waren, steht an erster Stelle Georg Friedrich v o n Z e n t n e r . In einer sehr gehaltvollen Gedächtnisrede1) hat Friedrich Thiersch das Bild dieses bedeutenden Staatsmannes in scharfen Umrissen auf Grund seiner Kenntnis der Persönlichkeit und der Verhältnisse gezeichnet; gehörte er doch seit seiner Berufung nach München im Jahre 1809 als Lehrer am Gymnasium und Lyzeum, sowie als Akademiker zu dem Kreis jener Männer, die als die bedeutendsten Mitarbeiter Zentners gelten können. Sie ermöglicht zugleich durch die Art der Charakterisierung und der Hineinstellung der Lebensarbeit Zentners in die allgemeinen Zeitströmungen Rückschlüsse auf Thierschs politische und pädagogische Anschauungen. Thiersch legt besonderen Wert darauf zu zeigen, in welchem Geist Zentner als gefeierter Hochschullehrer zu Heidelberg von 1779 bis 1797 auf die akademische Jugend wirkte. Das Geheimnis seines Erfolges auf die Gemüter der Studenten erkennt er in der seltenen Verbindung aller Gaben der Natur und des Geistes, der kraftvoll männlichen Persönlichkeit, der Gründlichkeit und dem Umfang des Wissens. Im Mittelpunkt seiner Lehre stand das Staatsrecht, wie es T h i e r s c h , Zentner.



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vorzüglich auf den deutschen Universitäten, namentlich in Göttingen, „in welchem der altrechtliche Sinn des Hauses und Landes Hannover mit dem freien Blick des britischen Geistes vereinigt war," 1 ) vorgetragen wurde, durch Männer, wie Schlözer, Pütter, Achenwald, Spittler und Gatterer, während außer dem Kreise der akademischen Lehrer reich begabte Männer wie die beiden Moser, der große Justus Möser, Dohm und Johannes Müller in demselben Geist durch Schriften zu wirken bemüht waren. Die publizistischen Studien wurden dort „in jener Form ausgebildet, in welcher sie zugleich eine Gewähr des Bestehenden und eine Quelle der Einsicht in das zu seiner weiteren Entfaltung Nötige wurden". Deutlich erkennen wir hier jene Grundanschauung von Thiersch, die man als eine Verbindung von gesundem Konservatismus und maßvollem Liberalismus bezeichnen kann, die er während seines ganzen Lebens vertreten hat. „Jene Lehre, die auf Recht, auf Ueberlieferung gebaute Wissenschaft des öffentlichen Rechtes war es, welche Zentner in dem Geiste einer lernbegierigen Jugend zu befestigen bemüht war, überzeugt, wie er noch in späteren Jahren erklärte, daß sie bei längerem Bestand der überlieferten Ordnung hinlänglich Kraft gewonnen hätte, die allerdings zahlreichen Gebrechen derselben der Einsicht der Verständigen zu enthüllen und durch ihre Heilung dem Despotismus und der Anarchie in gleicher Weise vorzubeugen."2) Um Einsicht in die Sphäre und Art der späteren Wirksamkeit Zentners zu eröffnen, zieht Thiersch einen interessanten Vergleich zwischen der verschiedenartigen Entwicklung der publizistischen Studien in Frankreich und Deutschland; dort waren dieselben den Universitäten fremd, das absolute Königtum drängte die Parlamente in eine feindselige Opposition und diese und die Advokatur verschmähten Untersuchungen über den Staat, die positive Grundlage seiner Gewalt, über Befugnis seiner Glieder, über Pflichten und Rechte der einzelnen und des Ganzen, das Collège de France in Paris, die Académie des Inscriptions et Belles Lettres, die Académie des Sciences wurden durch die Eifersucht der Regierung entgegengesetzt; so gerieten jene Studien in die Hände sogenannter Philosophen von oberflächlicher Bildung, ohne gründliche Kenntnis der Vergangenheit, voll Haß gegen das, was ihnen in ihr als Feudalismus, Obskurantismus und Despotismus erschien ; diese wollten die Gebrechen des Staates in seinem Umsturz begraben und auf dem geebneten Feld aus ihnen selbst und ihren Vorstellungen !) Ebenda S. 9. s ) Ebenda S. 9.

— 113 — ein Reich der Freiheit, der Gleichheit und der Glückseligkeit gründen. Aus solchen von Rousseau und Voltaire verbreiteten Gesinnungen heraus erwuchsen durch die Arbeit der Enzyklopädisten die Ideen der Revolution. In Deutschland dagegen war die Lehre vom Staat und seinem Recht auf historischen Boden gegründet und unter dem Geist der Ordnung und Einsicht in das dem Ganzen und Einzelnen Gebührende und Zweckmäßige zu einer wohlgegliederten, die Freiheit durch das positive Recht schirmenden Wissenschaft ausgebildet worden. Die Universitäten, meist durch die Fürsten der Nation gegründet, unter der Pflege der öffentlichen Macht gedeihend, pflegten die staatswissenschaftlichen Studien. In diesem Sinne lehrte Zentner in einer Zeit, da die französische Revolution auch in Deutschland den überlieferten Zustand erschütterte. Es galt den Staat durch Reform zu stärken ohne ihn darum von seiner historischen Basis ganz abzureißen und von dem überlieferten Recht weiter zu trennen, als für jenen Zweck nötig schien. Auch in Bayern stand dieses Problem zur Lösung, und Zentner war seit 1799 berufen daran teilzunehmen. Zuvor hatte er auf dem Friedenskongreß von Rastatt als Legationsrat noch die Möglichkeit die Natur der neuen französischen Macht, die Stärke der in ihr waltenden Ideen, ihre unabwendbare Richtung nach außen und die äußerste Gefahr zu durchschauen, mit welcher von ihnen alles bedroht war, was sich außer ihrem Kreise bewegte oder den Bestand des Alten mit den gewöhnlichen Mitteln zu sichern gemeint war. Diese Wahrnehmungen entschieden über seine Ansichten, Grundsätze und Handlungen in seiner neuen Laufbahn, als er 1799 als geheimer Referendar ins Departement für Kultus und Unterricht berufen und Kurator der Universität Ingolstadt wurde. Zum Chef der Sektion für Kultus und Unterricht bei der Organisation des Staatsministeriums des Innern am 15. September 1808 ernannt, hatte er die Leitung der Anstalten für Erziehung und Unterricht. Unter ihm standen drei Räte, Hobmann für das Volksschulwesen, Niethammer, Wißmayr, später Hauptmann für die kirchlichen Dinge. Die Aufgabe war bei der Verschiedenartigkeit der Ansichten über Mittel und Wege eine gewaltige: Reform des Elementarunterrichtes, der mittleren Schulen, der Universitäten und der Akademie. Der Grundbau, der damals zu einem bald das ganze Volk durchdringenden Elementarunterricht gelegt wurde, durch zweckmäßige Ordnung der Schule, durch Bildung fähiger Lehrer und Verbesserung ihrer Lage, durch Befriedigung der Ansprüche des bürgerlichen Standes auf Unterricht in nützlichen Kenntnissen, durch Herstellung L o e w e , Friedr.Thiersch.

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— 114 — zweckmäßiger Lehrbücher und Verbesserung veralteter Methoden, wurde später nicht mehr verlassen. In der Frage der Neugestaltung der gelehrten Schulen vertrat Zentner mit aller Entschiedenheit die Anschauung, daß die künftigen Führer und Beamten des Staates die Geistlichen, Richter und Sachwalter, die Aerzte und Lehrer und alle Männer von Kenntnissen und umfassenderem Urteil vor allem das Studium der Sprachen, der Literatur und ihrer Werke betreiben müssen; schon als Dekan der Juristenfakultät in Heidelberg hatte er bei der Säkularfeier betont, wie die Vernachlässigung des klassischen Studiums und der Kenntnis der besseren Werke der alten und neuen Literatur zu einer rauhen und zanksüchtigen Art der Wissenschaftsbehandlung führt. So unterstützte er aufs lebhafteste den Niethammerschen Lehrplan und suchte durch Gewinnung hervorragender Lehrkräfte die nach Landshut verlegte Universität zu heben. Im gleichen Geist sorgte er für die Akademie der Wissenschaften. Wenn er dabei auch den Willen des Königs vollzog, der in der Bildung seines Volkes die vorzüglichste Stärke seines Reiches und seines Thrones sah und von einem durch Einsicht und Geist gleich ausgezeichneten Staatsminister vertreten und in der Ausführung von hervorragenden Männern unterstützt wurde, so steht doch fest, daß „von ihm das ganze und einzelne umfaßt und beraten, das meiste in Antrag gebracht und der Vollzug seiner Einsicht und seiner Leitung vertraut war, und daß ihm vorzüglich, der Milde seiner Gesinnung, seiner Erfahrung und Klugheit zu danken ist, daß bei jenen schwierigen Geschäften so viel Widerstreit vermittelt und der Hemmungen ein großer Teil besiegt wurde." „Anerkannt und durchgeführt wurde der Grundsatz, daß die wissenschaftliche Bildung, unabhängig von der Konfession, obwohl nicht von religiöser Gesinnung, in ihrem Wesen, ihren Mitteln und Folgen nur eine, die Wahrung ihrer Einheit die sicherste Gewährschaft des inneren Friedens, der geistigen Erstarkung und der inneren Vereinbarung mit dem gemeinsamen deutschen Vaterlande sei, daß zugleich mit dem Wissen die Sitte und mit ihr christliche Ueberzeugung und Lehre in den Schranken müsse gepflegt werden, welche die Kirchen um die Religion gezogen und zu bewahren haben. Es wurde der gerade Weg zur Wissenschaft durch klassische und deutsche Studien, durch Geschichte und Mathematik bei allen Irrungen nie mehr verlassen, während zugleich auf der Universität die Ausbreitung der allgemeinen Studien über Philosophie und Naturwissenschaften für alle Gesetz blieb. Die Methode wurde verbessert, die Zahl fähiger Lehrer allmählich vermehrt, die Freiheit der akademischen Lehre geschirmt, der

— 115 — Geist wissenschaftlicher Unabhängigkeit geachtet, das junge Talent aufgemuntert."1) Mit der Umgestaltung des Staatsministeriums im Jahre 1817 endete Zentners Tätigkeit an der Spitze der Unterrichtssektion. „Der Zustand des bayerischen Volkes," so schrieb Zentner in seinem Entwurf 2 ) vom 31. März 1800, „kann nur gefördert werden, wenn eine vernünftige Denkungsart zum Sieg gebracht wird." Auch die Akademie sollte also der Aufklärung dienen. Auf Vorschlag Zentners wurde zu ihrem Präsidenten Friedrich Heinrich J a c o b i berufen; von ihm erwartete man, daß er „die spekulative Philosophie, soweit es gebührt, in Ehre und Würde, aber auch in Schranken halten werde". „Jacobi stellte den Philosophen und feinen Weltmann in harmonischer Verbindung d a r . . . von der edelsten Physiognomie im schönsten Ebenmaß aller Teile, mit schön gewölbter bedeutender Stirn, fein gebogener Nase, höchst geistvollem Blick, mit großer Milde im Ausdruck, einem leichten Zug von Ironie um die feinen Lippen, von einer hohen schlanken Gestalt."3) Der Jugend- und Altersfreund Goethes, der Anhänger und Kritiker Kants, der Begründer und Gegner der Romantik, eine der interessantesten und gebildetsten Persönlichkeiten des damaligen Deutschland, schien Jacobi infolge Naturanlage und Bildungsgang wie geschaffen eine vermittelnde Stellung in dem lebhaften Streit der Geister einzunehmen und die Gedankenwelt des 18. zu der des 19. Iahrh. hinüberzuleiten. Verkörperte er doch in seiner Person alte und neue Zeit. Als ein echter Vertreter des Humanismus verstand er es, sich in alle Erscheinungsformen menschlichen Geisteslebens hineinzuversetzen und ihre Bedingungen zu würdigen. Ein scharfer Verstand, Tiefe des Gefühls und Einsicht in die Probleme des Lebens zeichneten ihn aus. Auf seine Erkenntnistheorie gewann Kant den größten Einfluß, in den praktischen, erkenntnisbegründenden Philosophemen zeigt sich Goethes Kraft des künstlerischen Schauens, in der Religionsphilosophie Hamanns Mystik.4) Nach seiner Abstammung und mancherlei erheblichen Resten in seinen Denkvoraussetzungen gehört Jacobi zum Zeitalter des Rationalismus. Indessen noch ehe er Kants kritische Philosophie kennen lernte, hatte er bereits, unbefriedigt von den übertriebenen Ansprüchen des Verstandes, das Problem des Lebens untersucht und war zu dem Er!) 2 ) 3 ) *)

T h i e r s c h , Zentner. S. 18/19. H e i g e l , Akademie. S. 73. Lebenserinnerungen von Christian Heinrich Pfaff. S c h m i d , Jacobi. S. 1^7.

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gebnis gelangt in der Seele nichts anderes als eine gewisse, bestimmte Form des Lebens zu sehen, im Leben nicht eine Beschaffenheit der Dinge, vielmehr in diesen nur verschiedene Ausdrücke des Lebens. Schon wird ihm klar, daß das Gebiet des Verstandes das Sinnlich-Objektive ist und seine Begriffe im Endlichen sich erschöpfen. Zur unmittelbaren Erfassimg des Unendlichen in sich selbst, zur Gotteserkenntnis braucht der menschliche Geist ein besonderes Vermögen, die Vernunft, auf die der Verstand selbst schon hindeutet. Zu voller begrifflicher Klarheit führte Jacobi das Studium der Schriften Kants; mit Freuden übernahm er dessen Dreiteilung der Vermögen in sinnliche Apperzeption, Verstand und Vernunft, freilich mit dem bedeutsamen Unterschied, daß deren bei dem Königsberger Philosophen regulative Funktionen zu konstitutiven werden. Indem Jacobi so mit dem Dogmatismus des Verstandes brach, löste er sich in entscheidender Weise vom Zeitalter des Rationalismus und gewann den echt wissenschaftlichen Blick dafür, daß „jedes Zeitalter seine eigene Wahrheit hat, deren Gehalt wie der Gehalt der Erfahrungen ist, und ebenso auch seine eigene lebendige Philosophie, welche die herrschende Handlungsweise dieses Zeitalters in ihrem Fortgang darstellt''. Er wird einer der ersten Vertreter der Romantik, deren „Geist sich in derjenigen Grundkonstitution des Bewußtseins offenbart, für die die entwicklungsgeschichtliche Identitätsphilosophie, die ästhetisch fundierte Ideenlehre und ein universaler mystischer Symbolismus bezeichnend sind". 1 ) Soll Weltverständnis zustande kommen, müssen Einbildungskraft und Gefühl, Verstand und dunkles Ahnen zu einer allgemeinen Intuition zusammenwirken. Der Begriff der Realität wandelt sich. Individualismus und Universalismus fordert der romantische Geist; durch seine Persönlichkeitslehre wird Jacobi der eigentliche Vorläufer der Romantik. Verknüpfungsmöglichkeit bot auch seine Stellung zu Piaton, dem Entdecker der Vernunft, der die sophistische Aufklärung bekämpfte und in den Ideen Realität fand. Zeitlebens sah Jacobi in seiner Philosophie, die den Primat der Religion verkündete, die Piatons, „erhöht und vermehrt um das Moment der Christusoffenbarung", in der Ideenlehre eine wesentlich religionsmetaphysisch begründete Lehre von den erkennbaren Formen der Vernunft. Scharf scheidet Jacobi die Aufgabe des Verstandes Wissenschaft zu begründen von der der Vernunft unmittelbare Gewißheit über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit zu schaffen. „Begeistert erkennt sie ganz, findet und erfährt ihren Ursprung, — wird in sich gewiß." Durch einen S p r a n g e r , Die Humanitätsidee.

S. 477.

— 117 — untrüglichen Instinkt offenbart sie in jedem einzelnen gemäß seiner inneren Lebens- und Glaubenskraft eine Wirklichkeit, die keines Bürgen bedarf. Die Unmittelbarkeit der Gotteserkenntnis war damit aufs kräftigste betont. Indem Gott jedem Menschen so viel Wahrheit gab, als er ihm Leben erteilte, — denn „Leben allein ist Wahrheit" — erhielt der einzelne die Aufgabe, sich selbst anschauend nach Wahrheit zu forschen. In der Glaubensgewißheit offenbart sich ihm zugleich die Quelle und der Grund des Guten und Schönen und des Lebens überhaupt. Mit dem ahnungsvollen Ausblick, daß die Entwicklung des Lebens Entwicklung der Wahrheit, daß Wahrheit und Leben ein und dasselbe sind, erreicht Jacobis Erkenntnistheorie ihre Höhe. Im Mittelpunkt seiner ethisch-religiösen Anschauungen steht der Begriff der Persönlichkeit. „Mir ist Personalität a und o." „Mensch sein" bedeutet ihm daher „Person sein" im vollen Sinn des Wortes; der Charakter des Menschen liegt in seiner Selbstbestimmung. Die lebendige Persönlichkeit ytar eioxtfv. Sie wird geboren durch den Sieg' der Vernunft über Sinnlichkeit und Verstandesgesetze auf praktischem Gebiet. Die vollkommene sittliche Persönlichkeit ist stark, souverän, schöpferisch, heroisch. In allem sittlichen Tun ist nicht ein Zweck wirksam, sondern der Trieb des Lebens selbst, durch Vernunft geoffenbart. Außerhalb derselben gibt es kein Gesetz. Deutlich erkennt man hier die Beziehung zu Kant und Goethe; mit jenem betont er, daß die Unabhängigkeit des Prinzipes der Sittlichkeit von dem Prinzip der Selbstliebe ein Hauptgrundsatz sei, mit diesem sieht er das höchste Glück der Erdenkinder in der Persönlichkeit. Indem freilich Jacobi die geniale Persönlichkeit in allen Fragen der praktischen Philosophie als obersten Richter anerkannte, verzichtete er auf die von Kant geforderte allgemein gültige Verbindlichkeit des Sittengesetzes und es entstand die Gefahr eines extremen ethischen Individualismus, der die spätere Romantik erlag. Er selbst vermied sie dadurch, daß er das Maß der Dinge in der Person findet, die absolutes Leben mit absolutem Selbstbewußtsein vereinigt, in Gott, einer Intelligenz, die durch Freiheit und Vernunft wirkt. Rechte Gotteskinder sind die, welche treu ihrer eingeborenen, vernünftigen Ueberzeugung als autonome Persönlichkeiten wollen und wirken. Völlig lebendig sein wird gleich bedeutend mit völlig fromm sein. So führt Jacobis Philosophie der Persönlichkeit zu einer Anweisung zum seligen Leben. Ihr entspricht seine Geschichtsphilosophie, die nicht nach Art der Rousseauschen Geschichtskonstruktion mit einem goldenen Zeitalter beginnt, noch ein Menschheitsziel aufstellt. Er sieht in der Geschichte der Menschheit vielmehr „die Geschichte der fortschreitenden Individuation



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durch den Fortschritt der Persönlichkeitswerte in ( den einzelnen Individuen". Was die ästhetischen Ansichten Jacobis betrifft, so ist es von besonderer Bedeutung zu sehen, wie innig bei ihm die Begriffe des Wahren, Guten und Schönen verbunden sind. „Das Gute und Schöne setzen zum voraus das Wahre, auf welches alle Vernunft gegründet ist. Das Vermögen der Voraussetzung des Wahren und mit ihm des Guten und Schönen heißt Vernunft." Das Vermögen der Gefühle ist im Menschen nach seiner Behauptung das über alle anderen erhabene Vermögen. „Die Vorstellungen des im Gefühl allein Gewiesenen nennen wir Ideen." Unter Ideen versteht Jacobi im Sinne der überlieferten Platonauslegung „die treuen Abdrücke der wirklichen Dinge", die Urbilder, und zwar gibt es solche Ideen von wirklichen und möglichen Dingen. Durch den göttlichen Instinkt offenbart die Vernunft auch Schönheit. „Wie ein Gesicht schön wird dadurch, daß es Seele, so die Welt dadurch, daß sie einen Gott durchscheinen läßt." In der Schönheit tritt wie in Wahrheit und Güte die göttliche Liebe in Erscheinung. Die Schönheit der Natur und die der Seele lassen einen Gott erkennen. Mit dieser Auffassung ist der Uebergang zur Heiligkeit gewonnen. Auch hier begegnet uns Jacobis Hochschätzung der Persönlichkeit. Der sittlich-religiöse Glaube begründet das Reich der Freiheit, er ist eine Tat des sittlichen Charakters und erfordert unaufhörlichen Kampf, unbedingte Hingabe an höchste Werte. Der wahre praktische Vernunftglaube ist identisch mit dem Christentum ; denn Jacobi wie Kant und die meisten seiner philosophischen Zeitgenossen sahen in diesem die Repräsentation des wahren praktischen Vernunftglaubens in seiner idealen Vollkommenheit. Die religiöse Gewißheit baut sich auf der Freiheit des Menschen auf, einem Abbild der göttlichen Freiheit im kleinen, d. i. seinem „Vermögen, kraft dessen er er selbst ist und allein tätig in sich und außer sich handelt, wirkt und hervorbringt", sowie auf der Unsterblichkeit im Sinne der christlichen Glaubenslehre. Entwickelt sich im Herzen des Menschen das Vermögen reiner Liebe, die mit dem igtog Piatons nächste Verwandtschaft zeigt, so entsteht Religion, deren Gegenstand das &tTov im Menschen ist. Ein Instinktvermögen macht uns fähig zur Religion. „Die dreieinige Erkenntnis eines in sich Wahren, Guten und Schönen . . . geht aus einem überschwenglichen Gefühl unmittelbar hervor; wo dieses Gefühl ist und nur da ist Bewußtsein der Freiheit, der Person, Geistesbewußtsein." Schleiermacher übernahm diesen Gedanken im wesentlichen unverändert. Das letzte, jedoch die ganze Philosophie Jacobis beherrschende Problem ist die Frage nach dem Wesen des Instinktes; es

— 119 — gilt dessen metaphysische Begründung. Der Instinkt des Menschen, eines jenseitigen Wesens, ist Religion. Der Eingang zur Gotteserkenntnis, ins Allerheiligste, ist im Menschen selbst. Dahin führt der Weg zur Gotteserkenntnis, zum seligen Schauen Gottes als der Idee einer beseligenden Vollendung, „des Weltschöpfers, der aus Daseinsfreude schafft, dessen Liebe das Leben will, höchste Intelligenz und höchste Persönlichkeit, selbstbewußter Geist in absoluter Vollkommenheit". So erscheint Jacobis Philosophie als entschieden dualistisch und theistisch; wie Piaton war er der energischste Bekämpfer des Monismus, des idealistischen Fichte wie des naturalistischen Schelling. „Der Instinkt ist die Offenbarung der göttlichen Weltordnung im Unbewußten," wie Piatons ?$«>$', „sein ursprünglicher reinster Ausdruck die Liebe, mit der das Endliche die Gottheit fühlt, ahnt, glaubt und schließlich religiös ergreift". Vom Pietismus ausgegangen, entwickelte Jacobi einen ausgeprägten religiösen Individualismus; dem orthodoxen Kirchentum stand er ablehnend gegenüber, wenn er auch die Bedeutung der sichtbaren Kirche für die Massenorganisation des religiösen Bewußtseins und die Stärkung der Schwachen, sowie als äußeres Symbol der idealen Gemeinschaft der ganzen Menschheit nicht unterschätzte. Jacobi1) fand bei seiner Ankunft in München (11. August 1805), wo er schon 25 Jahre vorher, wenn auch nur kurze Zeit als Geheimrat im Zollwesen gewirkt und hochgebildete gleichgesinnte Männer wie Lori und Eisenreich als Freunde gewonnen hatte, freundliche Aufnahme, namentlich von seiten des Geheimrats Heinrich Schenk, der ihn aufs höchste verehrte und seine Berufung als „Bundesgenossen für Licht und Aufklärung" beim Kurfürsten durchgesetzt hatte2). Die Eingewöhnung wurde zwar durch die politischen Ereignisse, die Abreise des Kurfürsten, das Einrücken der Oesterreicher, das Erscheinen der Franzosen erschwert; indessen fühlte sich Jacobi bald in seinem Hause heimisch, das zwischen abgetragenen Wällen zunächst der Stadt lag; gleich hinter seinem Garten rechts führte der Weg über den Wall zur Isarbrücke und der Vorstadt Au, links nach dem Englischen Garten. Die landschaftliche Schönheit der Umgebung Münchens, der „mächtige Isarstrom mit seinen steilen, manchmal turmhohen Ufern, die himmelhohen Berge, die reizvollen Anlagen des Englischen Gartens", all das entzückte ihn aufs höchste und trug wesentlich dazu bei ihm den Aufenthalt freundlich zu gestalten. !) J a c o b i , Briefwechsel. Bd. I. Vorbericht S. X V I I , X X V I I . ) Ebenda II, S. 307. 15. Sept. Heinrich Schenk an Jacobi.

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Trotzdem seine Gesundheit stark angegriffen war, begann Jacobi sogleich wieder einen außerordentlich regen Briefwechsel, las unermüdlich alle Neuerscheinungen und machte sein Haus zum Mittelpunkt anregender Geselligkeit. Sehr intim gestaltete sich der Verkehr mit Heinrich von Schenk, dessen in nächster Nähe gelegenes Haus der Sammelplatz jener Ideologen war, die zwar Montgelas' Bemühungen Bayern zu einem modernen Staatswesen umzugestalten lebhaft unterstützten, dagegen die auswärtige Politik des Ministers, seine Anlehnung an Napoleon, entschieden verwarfen. Hier lernte Jacobi einheimische und berufene Gelehrte kennen wie Cajetan Weiller, Michael Sailer, Niethammer, Schlichtegroll, Breyer, Roth, Sömmering und bald auch Friedrich Thiersch. Die gute Meinung, die er von Weiller hatte, wurde durch persönliche Bekanntschaft vollkommen bestätigt. Mit besonderem Interesse las Jacobi die drei ihm von Fichte mit einem sehr freundschaftlichen Brief übersandten Werke, die Anweisung zum seligen Leben, die Grundzüge und die Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten. In den „Grundzügen" fand er „sehr viel Vortreffliches enthalten, was Fichte nicht aus seinem System, sondern in dasselbe geschöpft hatte". So stark war der Eindruck der Lektüre, daß er gegenüber seinem vertrauten Freund Köppen 1 ) in die ungeduldige Klage ausbricht: „Meine Einsicht in das Seichte und Verkehrte der neuesten Philosophie wird mit jedem Tage vollkommener und tiefer; ich möchte es von den Dächern predigen und habe nur keine Füße um hinaufzusteigen, keinen Atem zu vernehmbarer Rede." In den „Grundzügen" fand er am besten Aufschlüsse, die zum Begreifen des Wesens des Gewaltigen -(Napoleon) gehören. „Denn so gewiß Er ein Grundzug der Zeit ist, ist es Fichte auch." 2 ) „Es ist unmöglich, daß, wenn alle hassen, er in der Dauer über alle herrsche." Daher richtet sich die Hoffnung des greisen Philosophen auf ein neues Geschlecht deutscher Art, in der Ueberzeugung, daß Deutschland nicht untergeht. Mit stärkstem Mißtrauen beobachtete er „eine Rotte in Deutschland, welche sich die Vertilgung des deutschen Sinnes vorsetzt und ihn geradezu für aufrührerisch erklärt", 3 ) und begrüßte daher die mutige Tat von Friedrich Perthes, der es in den Heften des vaterländischen Museums wagte den Kampf gegen Napoleon, den großen Feind deutschen Wesens und deutscher Bildung, aufzunehmen. ') J a c o b i , Briefwechsel. Ebenda Bd. II, S. 396. 16. Sept. 1806. 2) Ebenda Bd. II, S. 399 wohl an Dohm. 3) Ebenda Bd. II, S. 4 i 7 f f . Zwei Briefe an Friedrich Perthes. 25. Jan. 1810, 9. Sept. 1810.



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Tief bekümmert durch die Nachrichten über die Schlacht bei Lützen suchte und fand er Trost in Jean Pauls „Dämmerungen", namentlich in dem Aufsatz „Ueber den Gott in der Geschichte und im Leben", und in der Schrift: „Die Sphinxe", und er ruft 1 ) ihm zu: „0 du Herrlicher! Wie hat mein Herz, meine ganze Seele dir gedankt." Als dann die Völkerschlacht geschlagen war, konnte Jacobi, dessen Gesundheit bedenklich erschüttert war, vor Freude an den herrlichen Ereignissen nicht sterben. „Ich habe das Herz so voll von dem, was seit 1812 geschehen ist, finde meinen Geist auch über die Vergangenheit so wunderbar erleuchtet, so daß ich, sobald ich darüber zu reden anfange, kein Ende mehr zu finden weiß. Nie hat sich die Gewalt des Unsichtbaren über das Sichtbare, des Göttlichen über das Ungöttliche, so mannigfaltig und durchgreifend offenbart."2) Die Nachricht von der Einnahme von Paris entlockte ihm das Wort des Psalmisten: „O daß ich tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund". Voll Spannung wartete er auf Jean Pauls3) Erziehungslehre; seine Vorschule der Aesthetik, die 1803 erschien, las er zum größten Teil mit Bewunderung und Entzücken wie die „Dämmerungen", während er in den Flegeljahren über manches brummen und schelten mußte. Im Briefwechsel mit Jacobs erörterte er eifrig Pascals Schriften und wurde nicht müde auf die Bedeutung der Werke Fergusons hinzuweisen, die History of Civil Society, die Institutes of Moral Philosophy und die „herrlichen Principles of Moral and Political Science", sowie auf die vortrefflichen Schriften von Th. Reid, namentlich die Essays on the Intellectual Powers of Man; dabei kann er sich der bitteren Bemerkung nicht enthalten: „Die Deutschen bedürfen immer eines goldenen Kalbes, das vor ihnen hergehe, und eines Aaron, der es ihnen gieße und fertig aufrichte". 3 ) Bouterweks „Abhandlung über die Wiederherstellung der Moralphilosophie" entzückte ihn.4) Es ist rührend zu beobachten, wie der greise Philosoph bis kurz vor seinem Tode sich mit den geistigen Strömungen seiner Zeit auseinanderzusetzen suchte. Gelegentlich eines Landshuter Aufenthaltes läßt er sich den einleitenden Aufsatz aus Savignys Zeitschrift, der Ebenda II, S. 438ff. An Jean Paul Friedrich. 14. Mai 1813. ) Ebenda II, S. 442 ff. 3 ) Ebenda II, S. 385ff. An Jean Paul, 19. Jan. 1806. Paul N e r r l i c h , Jean Paul, sein Leben und seine Werke. 1889. S. 447 ff. 4 ) Ebenda II, S. 445, 448/49. 6 ) Ebenda II, S. 404. An Friedrich Bouterwek in Göttingen. 12. Jan. 1808. 2



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von dem berühmten Rechtsgelehrten selbst verfaßt war, vorlesen und findet in seinem Hauptbegriff: „Die höhere Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen, in dem Freiheit und Notwendigkeit sich durchdringen" große Aehnlichkeit mit der katholischen Lehre, und will nicht ruhen, bis er darüber zu voller Klarheit kommt. Seinen zuletzt stark hervortretenden Hang zu mystischen Betrachtungen befriedigte Blümners Schrift „Ueber die Idee des Schicksals in den Tragödien des Aeschylus".1) Besonders lebhaft beschäftigte ihn die seltsame religiöse Bewegung, die damals Europa ergriff, ein positives historisches Christentum, und er fand bei hervorragenden Vertretern dieser Richtung, wie seinem Freunde Sailer, „einem der hellsten Köpfe und trefflichsten Menschen, die ich kenne", daß sie sich „in die feste Burg des individuellen Gefühles und der individuellen Erfahrung zurückziehen". Er liest die Kieler Blätter, worin diese Richtung von Männern wie Falk und Twesten vertreten wird. Die Arbeiten seines Freundes Dohm über Friedrich den Großen reizten ihn den Briefwechsel des preußischen Königs mit d'Alembert wieder zu lesen, und er sah sein früheres Urteil bestätigt. Seine Denkwürdigkeiten verschafften ihm großen Genuß. In Steffens Buch „Ueber die gegenwärtige Zeit" entdeckte er viel Geist und tiefen Sinn, wenn auch ein gewisser Bodensatz von Naturphilosophie hie und da wunderliche Blasen treibe.5) Unermüdlich studierte er Reinholds Grundlegung; „welch ein unbegreiflicher Mensch dieser Reinhold . . . die Spontanität reibt in ihm alle Rezeptivität auf".3) Ein Jahr vor seinem Tode (1818) las er alle Schriften über den in Deutschland durch Tittmann und besonders Harms erregten theologisch-philosophischen Streit über Supranaturalismus und Rationalismus. In der historischen Literatur bereitete ihm das Leben des schottischen Reformators Johann Knox den reichsten und mannigfachsten Genuß.4) Auch mit Goethe wechselte er zahlreiche Briefe. Von seinem Freunde Roth unterstützt, arbeitete er an der Herausgabe seiner sämtlichen Werke. Umfassend wie sein Briefwechsel war auch sein geselliges Leben von unbeschreiblicher Wirksamkeit. „Sein tägliches Leben war, oft selbst unter körperlichen Leiden, ein stiller Dienst, den Wissenschaften und der Menschheit geleistet." Jüngeres Verdienst erkannte er gerne Ebenda II, S. 455, 474. ) Ebenda II, S. 462. 1 1 . Mai 1817. An Jean Paul. 3 ) Ebenda II, S. 432. An Jean Paul. 4 ) Ebenda II, S. 485 ff. An Dohm, 20. Juni 1818. 2



123 —

Wärme. 1 )

an und pflegte es mit Hier bei dem edlen, gastfreien Hausherrn und geistreichen Schriftsteller fand auch der junge Thiersch die freundlichste Aufnahme und unermüdlichste Förderung. Welch eine Fülle von Anregungen mußten von diesem Manne ausgehen! Ein lebendiges Bild seines Lebens, Lehrens und Wirkens geben die Reden,2) die bei der akademischen Feier seines Andenkens von drei ihm nahestehenden Freunden, Schlichtegroll, Weiller und Thiersch, gehalten wurden. Der Generalsekretär der Akademie schilderte Jacobis Werdegang in reizvollen Bildern, das Ringen des jugendlichen Kaufmanns nach Wahrheit und geistiger Selbständigkeit, den Pempelforter Kreis, „wo der Geist vielseitiger Wissenschaft und Kunst, höherer Sittlichkeit, veredelter Geselligkeit, ernsten Strebens nach Beruhigung über die höchsten Interessen des Menschen einheimisch war", dessen Mittelpunkt der Hausvater bildete, „von dem alles ausging und der durch diese besondere Lage den schönen Einfluß auf das Zeitalter gewann, der ihn auszeichnete", den originellen Schriftsteller, der nicht müde wurde das spröde Wort dem lebendigen Gedanken, der in seiner gefühlvollen Seele lebte, aufs genaueste anzupassen, den unbefangenen Kritiker der französischen Revolution, den edlen Menschen, der in einem Briefs) an Herder von sich sagen durfte: „Reines Herz und gewisser Geist, Gott weiß, wie ich darum mit ihm ringe; der Eingang ins Allerheiligste ist im Menschen selbst oder nirgends". Weiller 4 ) steht unter dem erschütternden Eindruck, daß ein „Meister- und Musterleben aus einem Guß" seinen Abschluß gefunden hat; „sein Leben erschien uns als ein von Innen kommendes Leben, als derselbe Odem der Liebe in verschieden wechselnden Zügen"; so versucht er der Quelle dieses Lebens nachzuspüren; er findet sie in der einzigartigen Tiefe des Gefühls, das seinen Willen ergriff und zu besonderer Klarheit gelangte, so daß er die uns eingeborene, offenbarende Macht selbst erkannte. Da bei Jacobi der Verstand sichtbar aus dem Gemüt wuchs, so war sein Denken ein anschauliches Denken, seine Begriffe keine toten Bezeichnungen toter und abwesender Dinge, sondern lebendige geistige Anschauungen eines vor dem Auge des Geistes sich bewegenden Lebens. Dadurch gewann er eine ganz neue Stellung zur Wissenschaft, die aufhörte bloß formell zu sein; er führte das Gefühl in die Philosophie ein und begründete die „lebendige, ewige, in unsere innerste Menschennatur gegründete Metaphysik"; S c h l i c h t e g r o l l in der Denkrede auf Jacobi. J a c o b i , Nachrufe. 3) J a c o b i s Werke, Bd. III, S. 491. 4) J a c o b i , Nachrufe, S. 33 bis 72. 2)

— 124 — auch das Verhältnis von Religion und Philosophie vertiefte er, indem er dieser das Gemüt zur Grundlage wies, aus dem sich auch die Religion erhebt. „Von Jacobi wurde die inwendigste Bedeutung des Christentums, welche zugleich seine wesentlichste und unantastbarste ist, so bestimmt ausgegeben, daß sie nun auch zur Grundlage wissenschaftlicher Spekulation taugte". Thiersch1) sucht Jacobis Persönlichkeit und Wirken in den gewaltigen Gang der Menschheitsgeschichte einzuordnen; um in der unendlichen Fülle geschichtlichen Lebens gleichsam einen festen Halt, einen Maßstab zur Bewertung und Einordnung der einzelnen Ereignisse zu finden nimmt er den Kampf zweier Richtungen an, des Idealismus und Materialismus. Er unterscheidet ein doppeltes Streben des menschlichen Geistes, das eine auf das Hohe, geboten durch den göttlichen Trieb im Menschen nach Freiheit und Tugend, nach möglichst hohem Grad von Sittlichkeit, Bildung und Einsicht, bestimmt, durch Entfaltung der äußersten Kräfte und Erhebung des ganzen Gemütes die Herrschaft der Ideen des Guten und Wahren, des Großen und Gerechten, das wahre Reich Gottes im Leben zu begründen, das andere auf das Niedere und Gemeine, gelenkt durch den Trieb, den wir mit niederen Geschöpfen gemein haben, den Trieb der Selbsterhaltung, des Genusses, und bedingt durch die Erwägung der Vorteile, die einen Genuß verschaffen, und der Mittel, die ihn vermehren. Es ist dem Menschen gegeben die Erde anzuschauen und seinen Blick zum Himmel zu erheben. Waltet in einem Zeitalter jener Trieb der übersinnlichen Natur vor, blüht im Staat Freiheit, die bürgerliche Gesellschaft gedeiht, die Religion erweist sich im Sinne Christi als eine Lehre des Lichtes und der Erhebung zu Gott; wo aber der Blick des Menschen in das Irdische versinkt, da herrscht Gewalt, der religiöse Sinn erstirbt, die Wissenschaft geht in Knechtsgestalt auf Erwerb und Nahrung aus. Beide Triebe liegen seit dem Beginn der Geschichte in unauflöslichem Kampf, und die Gestalten des Staates, des öffentlichen Wohles, der Wissenschaft und Bildung erscheinen als Folgen jenes Kampfes der Triebe. Der große Mann muß sich seiner Stellung bewußt werden und den Kampf für das Hohe führen. Durch diese allgemeinen Betrachtungen gewinnt Thiersch den Rahmen, aus dem sich Jacobis Bild lebensvoll abhebt. Denn sein männliches Alter und seine schönste Tätigkeit fiel in die Jahre 1763 bis 1789, da das Niedere das Uebergewicht über das Höhere gewonnen J a c o b i , Nachrufe, S. 73ff.



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hatte; schon waren aber Männer an der Arbeit dem Uebel zu begegnen,

Klopstock,

Justus Reihen.

Möser.

Hamann, Kant, Jacobi,

beinahe

Herder, : allen

Claudius,

vertraut,

Johannes

stellte

sich

Müller, in

ihre

Den Beweis führt Thiersch im einzelnen auf Kenntnis seiner

Werke gestützt.

Ebenso wie die Schriften Johannes Müllers enthal-

ten die Jacobis fortgesetzte Klagen über den politischen Verfall der Zeit, über den Mißbrauch des hunderthäuptigen Despotismus.

Jacobis

Schrift „Etwas über Lessing" 1 ) bezeichnet Thiersch als ein Buch voll tiefer politischer Ansichten; denn das Wesen das Wesen der Vernunft und auf

des Staates werde auf

die höchsten Bedürfnisse der sitt-

lichen Natur zurückgeführt. Im Anschluß an Äußerungen Lessings über Febronius und Justus Mosers über wirkliches und formales Recht versucht nämlich Jacobi zu klarer Erkenntnis über das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft dadurch zu kommen, daß er die Eigentümlichkeit der menschlichen Natur betrachtet. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch besteht darin, daß dieser das Vermögen besitzt einen Zusammenhang von Zwecken einzusehen und nach dieser Einsicht seinen Wandel einzurichten; aus dieser Quelle der Menschheit fließt überall dieselbe V e r n u n f t ; insofern der Mensch sich in und nach sich selbst bestimmen, d. h. freie Handlungen verrichten kann, insofern zeigt er sich von Vernunft bewegt; wo keine Freiheit, da ist keine Selbstbestimmung; insofern der Mensch sich von außen bestimmen läßt, handelt er nach fremdem Antrieb, er wird von Leidenschaften bewegt. Eine bürgerliche Gesellschaft ist eine menschliche Gesellschaft, eine Anstalt der Vernunft und nicht der Leidenschaft, ein Mittel der Freiheit und nicht der Sklaverei für Wesen, die von Natur zwischen beiden in der Mitte stehen. Eine förmliche Gesetzgebung, ein System des Zwanges, bezieht sich auf den Menschen, insofern er von Leidenschaften beherrscht ist; die Gesellschaft muß also jedes ihrer Glieder vor Schaden schützen, der aus Ungerechtigkeit entsteht; sie muß jedem das unveräußerliche Eigentum seiner Person, den freien Gebrauch aller seiner Kräfte, den vollkommenen Genuß der Früchte ihrer Anwendung auf gleiche Weise sichern. Sicherheit des Eigentums im ausgedehntesten Verstand und schlechterdings im allerhöchsten Grad und unverletzliche Gerechtigkeit ohne irgendeinen Zwang zu irgendeinem anderen Ende sind die Mittel, damit das Beste aller und eines jeden gleichmäßig gewährleistet ist. Im Anschlüsse an Fergusons Essay, ,on the History of Civil Society'' u. Montesquieus ,,de l'esprit des lois" wirft Jacobi den Regierungen seiner Zeit vor, daß sie durch übertriebene Verstandesbildung vielfach den Menschen zum Egoismus verleiteten, daß auf Pflege der Tugend und Religion zu wenig gesehen wird. Der Despotismus macht das Volk feig und habgierig. Frei ist der Bürger und jeder Mensch, soferne er nicht gehindert wird seine wahren Vorteile auf alle Weise zu fördern. Innere moralische Freiheit und äußere politische Freiheit hängen aufs innigste zusammen; wo ein höherer Grad politischer Freiheit vorhanden ist, wird auch die moralische Freiheit in höherem Grad vorhanden sein. W o keine Gesetze sind, gibt es keine bürgerliche Freiheit; ebensowenig wo willkürliche Gesetze sind; willkürlich aber ist jedes Gesetz, welches keine notwendige Folge der unendlichen und ewigen Gesetze der Natur ist. Gesetze der Freiheit sind Gesetze der strengsten Gerechtigkeit, d. h. der !) J a c o b i s Werke, Bd. 2, S. 324ff.



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vernünftigen Gleichheit; gute politische Gesetze sind Wirkungen der Tugend und Weisheit. Groß sind die Vorteile, wo viele zu beraten haben; denn jede zum Vorschlag kommende Sache wird allseitig beleuchtet. Piatons Ausführungen im 4. Buch der Republik erscheinen Jacobi als das Weiseste, was über Staatsverwaltung gesagt werden kann. Unserer Zeit — so schließt er — war es vorbehalten ein förmliches System der Willkürherrschaft aufzubauen.

Mit besonderem Nachdruck betont Thiersch, wie Jacobi auch in den Tagen der Napoleonischen Gewaltherrschaft seine politische Ueberzeugung vertrat und das Schlechte mit gerechtem Haß von sich stieß, sodaß der König selbst ihn bei dem furchtbaren Fremdling schützen mußte; aber er durfte auch noch erleben, daß sich in Bayern das öffentliche Leben zum Besten wandte, als „jenes allgemeine und bewegliche Gesetz der Gerechtigkeit", die Verfassung, der er mit so großer Sehnsucht entgegengesehen hatte, erlassen wurde. Sterbend segnete er den König um dieser Tat willen. Als ein glänzendes Beispiel, wie von der Einsicht in das Höhere und die letzten Gründe der Dinge das der Gesellschaft Förderliche geschieht, betrachtet Thiersch die „politischen Rhapsodien"; begeistert stimmt er Jacobi zu und findet hier die reinen Ansichten über den Staatshaushalt. 1779 war Jacobi nach München als Leiter des Zollwesens berufen worden j1) entschieden trat er für Handelsfreiheit ein und setzte die Verordnung über Meierschaftsfristen durch. In den anonym erschienenen „politischen Rhapsodien"®) vertrat er die Lehre von Adam Smith, die damals in Bayern noch wenig bekannt war; er geht den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft nach und erkennt die grundlegende Bedeutung der Ackerbauenden. Ein Staat blüht, wenn in demselben die Mittel zur Unterhaltung und zu den Bequemlichkeiten des Lebens für seine gesamten Glieder in der seiner Einrichtung gemäßen Stufenfolge sich immer erneuern und vermehren; Vermehrung der Menschen kann nicht ohne Vermehrung der Lebensmittel gedacht werden. Vermehrung der Lebensmittel bedeutet aber Agrikultur. Diese setzt Festsetzung des Eigentums und schützende Macht voraus, die die Beibehaltung desselben schirmt. Die Gesellschaft hat die natürliche Pflicht ihren Oberen nebst seinen Beamten und Soldaten zu unterhalten. Der eigentliche Gegenstand des commercii ist den Überfluß in Notdurft zu verwandeln, er ist das eigentliche Band der Gesellschaft. Die Wohlfahrt des Staates wächst wie sein Commercium. Die Grundeigentümer vermehren die Güter, die die Erde hervorbringt, Handwerker und Künstler reizen die Bauern zu stärkerem Anbau. In einem fruchtbaren Land stützt sich alles auf Agrikultur; das Interesse der produktiven Klasse ist daher das wahre Interesse des Staates. Jacobi polemisiert gegen Colbert, der die Ausfuhr der Landfrüchte verbot, damit die Manufaktur desto wohlfeiler arbeiten könne, und verlangt freie Ausfuhr. Der Hauptirrtum liegt in der J a c o b i s Briefwechsel, Nachricht von dem Leben. S. X I X f f . ) Bayerische Beiträge zur schönen und nützlichen Literatur. München 1779, Jahrgang I, Bd. I, S. 4Q7ff. 2

— 127 — falschen Auffassung der Population; sie ist nicht eine Quelle der Wohlfahrt des Staates, sondern eine Folge, ein Symptom derselben. Nicht ebenso verderblich ist das Verbot der Einfuhr fremder Produkte zur Begünstigung inländischer Fabrikation. Geld ist als Ware zu betrachten; je größer der Wohlstand, desto entbehrlicher das Geld. Dasjenige commercium, das mit inländischen Produkten getrieben wird und eine eigene Agrikultur in immer größeren Flor bringt, ist das beste. In einer zweiten Rhapsodie entwickelt Jacobi, wie jedes Recht eine Pflicht voraussetzt; wenn der Staat Gehorsam fordert, muß er auch die Einzelnen in ihrem Eigentum schützen. Am Beispiel des Getreidehandels zeigt er, wie manche Politiker mit Unrecht, damit das Ganze gewinne, dem einen rauben um dem anderen zu geben. Ein Staat gedeiht nie, wenn der Bauer verliert, was der Bürger gewinnt. Das Interesse des Kornhandels und das des Volkes ist das gleiche. Das Verbot des Getreidehandels nach außen schränkt Verbesserung und Kultur des Landes ein. Englands Vorgehen Prämien für Ausführung des Getreides zu geben und die Einfuhr zu behindern ist falsch. Nach längeren Ausführungen über das Geld und den Wahn, daß der Wohlstand des Staates im Geld beruhe, bekämpft Jacobi energisch den Monopolgeist und befürwortet ein System der natürlichen Freiheit im Verkehr mit anderen Nationen.

In den Erscheinungen der Staaten, ihrem Aufblühen, Gedeihen und Untergang sah Jacobi wie im Gebiet der Wissenschaften Offenbarungen der gleichen geistigen Kraft; daher erkannte er seine Lebensaufgabe darin, ihr und den ewigen Gesetzen auf die Spur zu kommen, das Ursprüngliche, Unbedingte im menschlichen Gemüte aufzusuchen. Auch auf philosophischem Gebiet findet ihn Thiersch in kraftvollem Kampf gegen den rücksichtslos vordringenden niederen Trieb, : namentlich seit Helvetius und die französische Philosophie das Gottlose zum Sieg führten. Religion und Philosophie entarteten. Wie die Illuminaten in Bayern untergruben die Aufklärer in Brandenburg die feste Religion. Thiersch sieht den Grund dieser Erscheinung darin, daß die früheren Mittel der Ueberzeugung, der unbefangene Glaube der Vorfahren, ihre Kraft verloren hatten; vom Wissen, wie es durch die Forschung gewonnen war, kehrt niemand zum Glauben, es sei denn durch eine höhere Erkenntnis des Wesens und Bedürfnisses unserer sittlichen Natur. Durch eine Erschütterung im Gebiet des Geistes mußten dessen innere Tiefen erschlossen werden. Hiezu führte kein Weg der Versenkung und Mystik, sondern allein ein heller, offener Weg der schärfsten und tiefsten Forschung über die letzten Gründe der Erkenntnis. Jacobi fühlte das vom ersten Beginn seines Wirkens an und suchte in zwei seiner geistreichsten Werke, im Woldemar undAUwyls BriefSammlung, dieses Ringen nach höherer Erkenntnis, nach „Menschheit, wie sie ist und strebt", zu zeigen. An Kant wurde ihm sein Bedürfnis und die Mittel es zu stillen klar, wenngleich dessen Lehren von den seinen abwichen. In wenigen Strichen charakterisiert Thiersch die Stellung Jacobis zu dem Königsberger Philosophen und wir



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dürfen darin wohl auch seine eigene Ueberzeugung ausgesprochen sehen. Kant hatte die Forschung vollendet, welche von den Erscheinungen ausgeht; er hat dargelegt, daß von ihr zum Uebersinnlichen kein Weg und Uebergang ist. Jacobi suchte und fand ihn auf einem anderen Gebiet als dem der äußeren Erscheinung und er lehrte, daß, wenn Gott ihn verhülle, ihn die Vernunft offenbare. „In dieser Lehre war nicht nur die lauterste Quelle der Erkenntnis, sondern auch für alle Bemühungen, welche von jener Zeit an den Menschen in die ihm ursprüngliche Richtung zu dem Höheren und zu Gott wieder einlenkten, ein fester Grund und Boden gewonnen." Schon war durch Kant in dem praktischen Teil seiner Lehre die sittliche Kraft und Würde des menschlichen Geistes von neuem erstarkt und gehoben worden. Dankbar erkennt Thiersch an, wie sich durch die beiden Männer und die Genossen ihres Ruhmes eine höhere und reinere Ansicht von dem Wesen und der Bestimmung des Menschen über unser Volk verbreitete. Philosophen, Gottesgelehrte, ja selbst Geschichtsschreiber und die großen Dichter der Nation haben daran ihren Anteil, und in der geistigen Erstarkung und Verjüngung, welche selbst in der schwersten Zeit mit jugendlicher Kraft wuchs und die Tage der Rettung vorbereitete, gelangte das Gemüt aus langer Irre, erholt vom Strahl der höheren Einsicht, wieder in seine Heimat zu Gott und zu Christus, der ihn verkündet hatte. Ein Zeitalter, das im öffentlichen Leben, in Wissenschaft und Religion vom Höheren zum Niederen sich wandte, mußte auch in der Erziehimg platt werden. Damals erhob „eine neue pädagogische Schule, die traurigste Gestalt einer traurigen Zeit" ihr Haupt, welche den Unterricht auf das Nützliche beschränkte und namentlich das gründliche Altertumsstudium bekämpfte. Die Richtung BasedowsCampes wurde noch verstärkt durch den Verfall der gelehrten Schulen. Mit großer Genugtuung führt Thiersch das vernichtende Urteil an, das Jacobi, im Besitz der lautersten Bildung und klar über die Wege, die zu ihr führen, über das Revisionswerk in einem Brief 1 ) an Herder fällte: „Die Ankündigung einer neuen Heilsordnung des Unterrichtes und der E r ziehung ist Ihnen ohne Zweifel zu Gesicht gekommen. Auf mich hat sie einen solchen Eindruck gemacht, daß ich nichts sehnlicher wünsche als daß Menschen edlerer Gattung diesem häßlichen Unternehmen in den Weg treten. Für den Geschmack unserer Zeiten — was jene Leute das Bedürfnis unserer Zeit nennen —• wird von so vielen Seiten her so nachdrücklich gesorgt, daß beinahe zu fürchten steht, sie erfinden noch am Ende und bringen wenigstens die Präliminarien zu einem Frieden des Teufels J a c o b i , Werke. 3. Teil.

S. 48z.

— 129 — zustande und erklettern so den Gipfel ihrer Weisheit. Aber vielleicht ist es Weg der Vorsehung durch dies alles die unter Wahn und Dunkel fast erloschene Erkenntnis neu und heller wieder offenbar zu machen, daß Gottes Bild im Menschen der positivste Unterricht, der sich denken läßt, die einzige Quelle aller Einsicht des Wahren sowie aller Liebe des Guten sei. Das zu allem Guten Richtungslose, Zug und sinnlichen Anlaß Versagende in unseren Tagen und das Reizende darin zu allem Niedrigen und Schlechten liegt wie ein Berg auf mir und drückt mich täglich bei dem Anblick meiner Kinder, daß ich oft laut aufschreien möchte. —• Und das Einzige, was wir noch haben, Wissenschaften, was noch hie und da ein bißchen Menschenverstand und Menschengefühl erhält, und die Quelle der besten Wissenschaften, Philologie und Reste der Vorwelt, das soll nun auch weggeplaudert werden; Bahrdtische Offenbarungen an die Stelle der göttlichen, philanthropinische Tugenden und Gefühle an die Stelle echter menschlicher gesetzt werden. — Und den schalen, schleichenden, aufgeblasenen Quacksalber, der mit Pauken und Trommeten dieses vor sich her verkünden läßt, den sollt ich nicht an den Beinen aufhängen, wenn ich es vermag?"

Im gleichen Sinn und Geist sprach Jacobi beim Eintritt in die Münchener Verhältnisse über das, was unseren Schulen nottut, vor Männern, in deren Hand ihr Schicksal lag und die auf sein Urteil hörten. So verdankte das Altertumsstudium ihm selbst sehr viel. Das geschah in dem Augenblick, da der Neuhumanismus durch bedeutsame Berufungen bereits in energischem Vordringen begriffen war. 1805 kam auf Veranlassung Feuerbachs aus Jena F r i e d r i c h A s t 1 ) als Professor der klassischen Philologie, Philosophie und Aesthetik nach Landshut; in der interessantesten Weise vertritt er die Anschauungen des Neuhumanismus, der Romantik und der spekulativen Philosophie. Auf seine wissenschaftliche Ausbildung hatten bedeutende Philologen am Gymnasium seiner Vaterstadt Gotha den größten Einfluß gehabt, wie der ausgezeichnete Latinist Döring und der hervorragende Gräzist Friedrich Jacobs. Ganz besonders wichtig aber wurde für den begabten Studenten der sieben Jahre umfassende Aufenthalt an der Universität in Jena (1798—1805), einem geistigen Mittelpunkt Deutschlands in jener Zeit. Nach vorübergehendem Studium der Theologie widmete er sich ganz der Philosophie und Aesthetik unter der Leitung Fichtes, Schellings und Friedrich Schlegels. In der Philologie waren seine Lehrer Schütz und Eichstädt. In einer Privatgesellschaft talentvoller Jünglinge disputierte er mit begeisterten Freunden abends über Schellings Vorträge, die den transzendentalen Idealismus, Kunst- und Naturphilosophie sowie das akademische Studium behandelten. Hier knüpften sich auch die ersten Fäden zu einer näheren Bekanntschaft L o e w e , Schulkampf. H e r r m a n n , Ast. S. 15ff. L ' o e w e , Friedr.Thiersch.

S. 32ff.

Feuerbach,

Nachlaß.

Bd. i 2 .

S. 103. 9

— 130 — mit Clemens Brentano. Friedrich Schlegel, einer der Hauptführer der frühromantischen Dichterschule, die damals in Jena sich zu bilden begann, nahm lebhaften Anteil an Asts Piatonstudien, zumal er selbst mit Schleiermacher an einer Uebersetzung des griechischen Philosophen arbeitete. Vermutlich lernte Ast auch den Kreis kennen, der sich um A. W. Schlegel und den Buchhändler Frommann scharte. Von diesen literarischen Neigungen abgesehen, galt seine Hauptbeschäftigimg der Philosophie und Philologie. 1803 begann er bereits seine Vorlesungen über Aesthetik und Geschichte der Philosophie an der Universität; 1805 folgte er dem Ruf nach Landshut. Hier eröffnete ',er seine Lehrtätigkeit mit einer Rede: „Ueber den Geist des Altertums und dessen Bedeutung für unser Zeitalter." Sie ist ein hohes Lied auf die einzigartige Schönheit der hellenischen Bildung, charakteristisch für Asts Auffassung des Griechentums und der Sprache. Die freundschaftlichsten Beziehungen gewann er zu Michael Sailer, in dessen gastlichem Haus er allabendlich verkehrte, im anregendsten Gedankenaustausch mit Savigny und den Medizinern Röschlaub und Walther.1) In diesen Jahren ließ er eine Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst erscheinen, zu deren Mitarbeitern auch der junge Eichendorff gehörte. Wie Ast selbst zahlreiche Gedichte hier im Druck erscheinen ließ, so öffnete er seine Zeitschrift auch einem Kreis begabter junger Akademiker, die sich in Landshut um Ringseis sammelten. Dadurch wurde dieselbe ein „bedeutendes Organ" der späteren romantischen Schule auf bayerischem Boden. Das Hauptwerk der Landshuter Periode wie seines Lebens war eine Biographie Piatons mit einer kritischen Beurteilung der Dialoge, sowie eine Gesamtausgabe der Platonischen Schriften mit lateinischer Uebersetzung. Ast gehört zur Blütezeit des Neuhumanisums, da derselbe in eine philosophisch begründete Bildungstheorie verwandelt wird.2) Seine Philosophie hat er in den „Grundlinien"3) näher charakterisiert: „Die Idee, welche mir vorschwebte, war die lebendige Einheit der Spekulation und Reflexion, oder des Realismus (im höheren Sinn des Wortes) und des Idealismus ; die Tendenz und der Geist meiner philosophischen Ansichten ist also platonisch, ohne daß das Ganze in seiner Ausführimg gedacht, dem Piaton nachgebildet wäre." Ein Geist oder 1

) ) 3 ) 1807. 2

H e r r m a n n , Ast. S. 37. S p r a n g e r , Humboldt S. 5. H e r r m a n n , Ast. S. 54. Landshut 1809. Vorrede und Grundriß einer Geschichte der Philosophie. Vorrede. S. II ff.

— 131 — ein Bildungsgesetz verbindet organisch das Einzelne mit dem Ganzen, das Grund und Zweck des Einzelnen ist. Gemäß seiner vollkommenen Idee ist das Leben eine sich selbst bildende Harmonie, eine „Totalität, die in sich selbst sowie in ihren einzelnen Gliedern zugleich Individualität ist". Das Unbedingte ist universell und individuell zugleich. Das Leben an sich, in seiner reinsten Wesenheit aufgefaßt, ist Religion, als individuelles, nach der Idee des Höheren in sich selbst gebildetes angeschaut, Poesie, als universelles, d. h. als Idee begriffen, Philosophie, und die der Religion als ihrer Idee entsprechende wirkliche Einigung der Philosophie und Poesie ist die Geschichte; denn in dieser muß sich die Auffassung des Endlichen mit der Erkenntnis des Unendlichen (des höheren Geistes, in welchem das Endliche gebildet ist) durchdringen." Sie hat ihren letzten metaphysischen Grund in der Sichselbstoffenbarung des Ewigen, Absoluten; als Erforschung und Darstellung des zeitlichen Lebens ist sie Natur- und Menschengeschichte. Da Ast in der Menschheit ein „Individuum des Allebens nach seiner Idee und Wesenheit gebildet und sich bildend", erblickt, so erkennt er als Ziel der Weltgeschichte: „Die Menschheit lebt nur um zu leben." Auf individuelle Weise tritt ihr Leben in Erscheinung in jedem Volk, Staat usf. „Jedes besondere Volk ist eine besondere Tugend und Lebenskraft der Menschheit." Die wahre vollendete Geschichte hat vier Elemente ihres Wesens; denn sie muß das Universum in seinem vierfachen Wesen darstellen, in seiner ursprünglichen ewigen Einheit, die nur dem Verstand als ein schlechthin Chaotisches, Unbestimmtes erscheint: mythisches Leben der Dinge, in seiner wirklichen Offenbarung, d. i. im Gegensatz des Realen (Physischen) und Idealen (Geistigen): eigentlich historisches Leben der Dinge, in dem harmonischen Wechselleben des Realen und Idealen: universelles Leben der Dinge, und in seiner Verklärung: religiöses Leben der Dinge. Das erste Element der Geschichte ist Mythologie, das zweite Geschichte der Natur und der Menschheit, das dritte Universalgeschichte und das vierte Religionsgeschichte." Als die Lebensgeister der Geschichte kehren diese vier Elemente in jeder besonderen Geschichte wieder. In Uebereinstimmung mit den führenden Männern seiner Zeit wie Kant, Goethe, Herder, Schiller, Schelling sieht Ast in dem geschichtlichen Verlauf eine organische Entwicklung. Gleich Schelling leitet er aus der ursprünglichen Einheit des Geistes alle Gegensätze im Universum ab: Ideales und Reales, Geist und Natur. Weitere Zusammenhänge zeigt seine Auffassung von der einen, das Universum 9*



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durchziehenden Bildungskraft und von der des Individuums als einer in der Wirklichkeit dargestellten Idee; seine Forderung an den wahren Historiker lautet das zeitliche Leben der Dinge, einzig auf die Idee derselben bezogen, zu erforschen. An der Geschichtsschreibung seiner Zeit tadelt er, daß sie nicht von „der Idee des Unendlichen durchdrungen, sondern auf empirische Wahrheit oder auf einen zeitlichen Begriff von Nationalität, Rechtsverfassung gerichtet ist." In Herodot und Livius sieht er Muster der objektiven, reinen Geschichte. Asts Griechenauffassung steht im engsten Zusammenhang mit seiner metaphysischen Welt- und Lebensansicht. Wie Wilhelm v. Humboldt will er kein streng historisches Bild der Antike geben, sondern er tritt mit einer bestimmten Fragestellung an sie heran. In den „Grundlinien der Philosophie"1) führt er seiner Geschichtskonstruktion entsprechend aus: „Die alte Welt charakterisiert sich durch reale Darstellung der Menschheit in allen Elementen ihres Wesens, durch plastische Verkörperung ihres Geistes." Ihr Wesen ist die Darstellung des äußeren, frei und schön gebildeten Lebens der Menschheit; in den Griechen stellt sie ihr inneres, künstlerisches und wissenschaftliches Leben dar, in den Römern ihr äußeres, politisches und geschichtliches. Indem Ast seine ästhetische Grundauffassung, daß im echten Kunstwerk die Form der vollkommenste Ausdruck der Idee ist, auf die Griechen anwendet, kommt er zu der Ueberzeugung: in ihnen äußerte sich die Menschheitsidee in ihrer reinsten, vollsten Form. „In den Musterbildern der griechischen Kunst und Wissenschaft finden wir die Urformen und höchsten Gesetze der Schönheit und Wahrheit selbst. Jeder griechisch Gebildete trägt darum das Gepräge der höchsten, reinsten Vollendung an sich und steht wie von der ewigen, unwandelbaren Natur selbst gebildet, in der bewunderungswürdigsten Gediegenheit, in der selbständigsten Schönheit da." Sehr charakteristisch für die neue Richtung ist Asts Ansicht über das Wesen der Sprache. Sie erscheint ihm „als die ursprünglichste und wahrhaftigste Offenbarung des menschlichen Geistes, als die Urpoesie eines Volkes". 2 ) An Winckelmann, Lessing und Herder sich anschließend, preist Ast das klassische Altertum als „Ideal", als nachahmenswertes Muster; wohl kennt er die Vorzüge seiner eigenen Zeit, den Reichtum ihres inneren künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens, „das phantasiereiche, liebedurchdrungene Leben der Romantik", „die Tiefe und Innig!) 1809. s. 154. ) L o e w e , Schulkampf.

2

S. 33.



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keit des deutschen Idealismus", „die alles verklärende Geistigkeit des Christentums, der Mutter und des Zentrums unserer gesamten Bildung"; aber es fehlt die harmonische Bildung und objektive Vollendung, der künstlerische Trieb. Daher kommt er zu dem Schluß: die Form und das ganze Gesetz der Bildung ist im Altertum gegeben, ihren Inhalt erfüllen die modernen Künste und Wissenschaften, und er verlangt „Wiedererweckung der klassischen Bildung zu einem höheren verklärten Leben". Er erhofft eine neue nationale Kunst und Wissenschaft, in denen der antike und romantische Geist lebendig sich verschmelzen. 1 ) In Asts Auffassung des klassischen Altertums2) erscheinen Gedanken des Klassizismus und der Romantik eng verknüpft; besonders bemerkbar macht sich der Einfluß Friedrich Schlegels in der Beurteilung des Wesens der griechischen und modernen Poesie und Kirnst, der Schellings in der Deutung des Christentums und in der Griechenauffassung. Mit den führenden Neuhumanisten teilt Ast ein tiefes nationales Empfinden. Asts Humanitätsidees)ist charakterisiert durch die Verbindung von Individualität, Universalität und Totalität. Wie Goethe erscheint ihm jeder einzelne Mensch als Individuum mit einem eigentümlichen Charakter. Zugleich sucht sich aber in jedem die Menschheit zu realisieren. Daher fordert Ast: „Stelle die Menschheit in dir dar". Die Universalität verlangt eine harmonische Durchbildung des Leibes und Geistes, wobei letzterer aber gleichwohl als besonders wichtig zu berücksichtigen ist. Die Totalität wird erreicht, wenn in dem gebildeten Menschen die Harmonie des Unendlichen (Universellen) und des Endlichen (Individuellen) zur Erscheinung kommt, wenn er ein lebendiges Kunstwerk wird. Als Mikrokosmus ist der Mensch ein getreues Abbild des Makrokosmus, ein Gedanke, der zuerst von Schelling vertreten wurde. Die ethischen Anschauungen4) Asts sind aufs innigste mit seinem Humanitätsideal verschmolzen. Die höchste Bestimmung des Menschen als des edelsten Wesens ist das Gute, das Streben nach einem geistigen, freien und sittlichen Leben. Die harmonisch gebildeten Einzelindividuen schließen sich zum idealen Staat zusammen. Asts ästhetische Gedankenwelt endlich baut sich auf Schellings Ideen auf; 5 ) doch während dieser Kants Dualismus von Schönem und 1

) H e r r m a n n , Ast. S. 41. ) Ebenda. S. 42/43. 3 ) Ebenda. S. 48 ff. 4 ) Grundlinien. S. 123. 6 ) H e r r m a n n , Ast. S. 30. Eduard v. H a r t m a n n , Die deutsche Ästhetik seit Kant. Berlin 1886. S. 387 ff. 2

134 — Erhabenem nicht überwand, gelingt dies Ast, indem er als Gegensatz des Erhabenen das Angenehme, das Reizende annimmt und die vollendete Schönheit erst in der Eintracht des Erhabenen und Reizenden erkennt und sie definiert als „die Anmut, in welcher sich das Endliche und Lebendige zugleich als ewiges Lebendiges, d. h. als vollendetes Sein darstellt". Er beschritt damit einen Weg, der schließlich zu einer befriedigenden Lösung führen sollte; als erster nachkantischer Aesthetiker reihte Ast die Tanz- und Schauspielkunst als ebenbürtig in sein System der Künste ein; durch seine Einteilung der Künste bot er wichtige Anregungen.1) Ast ist also ein typischer Vertreter jener Richtung des Neuhumanismus, die stark ästhetisch und philosophisch interessiert von den Romantikern lebhafte Anregung empfing. Während er in erster Linie die Verbreitung Schellingscher Ideen in Bayern begünstigte, drangen durch K a r l F r i e d r i c h W i l h e l m v o n B r e y e r Fichtesche Gedanken in weite Kreise der Studentenschaft und der Gebildeten. Ebenfalls durch Feuerbach herbeigezogen las er in Landshut über Universalgeschichte, wurde dann Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Professor am Lyzeum in München. Thiersch hat ihm am 29. April 1818 die Leichenrede gehalten. Sie ist charakteristisch für die Auffassung des jungen Gymnasialprofessors von der Bedeutung des altsprachlichen Unterrichtes für Charakterbildung, von der Würde der Wissenschaft, der Hochschätzung führender Lehrerpersönlichkeiten, der Wichtigkeit freier Forschung und Lehre. Breyer war ein geborener Württemberger (1771 geb.), der Sohn eines evangelischen Pfarrers; aufs trefflichste ausgebildet in der strengen Zucht der Latein- und Klosterschulen seines Heimatlandes bezog er bei Ausbruch der französischen Revolution das Stift Tübingen, die Pflanzstätte der großen Männer Württembergs. In lichtvollen Vorträgen führte Johann Friedrich Flatt den begabten Jüngling in Kants Philosophie ein, der charakterfeste gelehrte Christian Gottlieb Storr in Theologie. Geschichte lehrte der gründliche Herausgeber der Bibliothek der Kirchenväter und der Chroniken des Mittelalters, Christian Friedrich Rößler. „Vorherrschend blieb" — so faßt Thiersch die Ergebnisse der Schul- und Lehrzeit zusammen — „wie bei allen so auch bei Breyer Liebe und Achtung der Alten, die aus tieferem und stets reiferem Studium entsprungen, gleichsam die Seele ist und die Lebenskraft, aus der die gründliche Bildung des Württembergers, sein Ernst im Leben, H a r t m a n n , a. a. O. S. 510, 53off.

— 135 — seine Liebe für gesetzmäßige Freiheit und jene Beharrlichkeit im Rechten hervorgeht, die als Stärke der Gesinnung dem Altertum in Wort und Tat innewohnt und aus ihm in seine besseren Verehrer übergeht." Die vier Jahre der Hauslehrerschaft fielen (1794—98) in jene Zeit politischer Aufregung, „da man von Frankreich viele Verbesserungen der Formen des öffentlichen Lebens erwartete, festere Begründung der gesetzlichen Freiheit durch wohlgeordnete Verfassungen". Breyer versuchte in anonymen Schriften die öffentliche Meinung auf das Rechte hinzuweisen; zugleich veranlaßten ihn die Erlebnisse noch tiefer Völkergeschichte zu studieren. In Jena wirkte dann in entscheidender Weise Fichte durch seine Vorträge über Wissenschaftslehre und Sittenlehre. Durch ihn gewann er die philosophische Richtung, die ihn auch später als Historiker auszeichnete und ihm für die Gegenstände der Geschichte höhere Maßstäbe in die Hand gab als bloße Gelehrsamkeit. Sein Enthusiasmus für Menschheit, allgemeines Glück und Recht nährte sich. Er gewann die Achtung und Freundschaft Fichtes. Das Beispiel wissenschaftlicher Freiheit und Wirksamkeit machte den größten Eindruck auf ihn und regte seinen Lehrtrieb mächtig an. Bald trat er Niethammer, Schelling und Paulus näher. Als er sich 1800 habilitierte, bewährte sich ihm das gründliche Studium des Altertums, wodurch Kräfte entwickelt und gestärkt werden, als Grundlage aller Wissenschaften, die Freiheit der Auffassung und die Methode der Behandlung gewährt. So konnte er in jedes Fach tiefer und erfolgreicher eindringen. Thiersch fand in Breyers Entwicklungsgang seine eigene Lebenserfahrung bestätigt. Auf Grund der von ihm herausgegebenen Universalgeschichte erhielt Breyer 1803 eine außerordentliche Geschichtsprofessur in Jena und gewann die Hochschätzung Johannes von Müllers, der „in ihm ein treffliches, aufblühendes historisches Genie" sah. 1804 erfolgte die Berufung nach Landshut; drei Jahre später zog ihn Montgelas nach München, da er seine Verdienste im Fach der Geschichte hoch einschätzte, an die neu organisierte Akademie. Hier erfreute er sich in kurzer Zeit der Freundschaft und Achtung des Präsidenten Jacobi. Er erhielt den Auftrag unter Heranziehung der Bestände des Reichsarchivs die Geschichte Maximilians I. fortzusetzen. Für die Studienanstalten des Königreichs Bayern verfaßte er ein Lehrbuch der allgemeinen Geschichte. Den lehrreichsten Einblick in Breyers Geschichtsauffassung gibt seine 1804 in Landshut gehaltene Antrittsvorlesung „Was ist Universalgeschichte?". Er leitet den Begriff „Universalgeschichte" aus ge-



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wissen höheren Grundsätzen der Vernunft ab, indem er von der Philosophie eine Reihe Lehnsätze nimmt, für deren Richtigkeit sie den Beweis führen muß, und zwar sind es sechs Prämissen: Die Menschheit ist ein reales Ganzes, eine Totalität, ihr innerer Charakter das Göttliche oder die ¡Vernunft in ihrer Vollendung gedacht; es ist unendlich und offenbart sich in unendlichen Entwicklungen; zwischen ihnen besteht ein fortschreitender Zusammenhang durch das Werk der Vorsehung, welche die Freiheit mit der Notwendigkeit, ohne daß jene verletzt wird, in Harmonie setzt. Wahrheit, Kunst, absolute Freiheit sind die Tendenzen dieser Evolutionen des Göttlichen; der erste Schritt und die notwendige Bedingung, ohne welche jener fortschreitende Zusammenhang der Evolutionen des Göttlichen schlechthin unmöglich ist, ist die Realisierung der Rechtsverfassung, indem die Individuen in Staaten zusammentreten und ein Völkerstaat errichtet wird. Auf diesen sechs Prämissen fußend erkennt Breyer als Sinn der Geschichte der Menschheit: ob und wie weit hat die Menschheit in der bisher abgelaufenen Periode ihres physischen Daseins ihrem Ideal sich angenähert? Die Universalgeschichte ist daher die zusammenhängende Darstellung derjenigen Begebenheiten der Menschheitsgeschichte, deren weitgreifender Einfluß auf die Realisierimg des Ideales der Menschheit sich mit Bestimmtheit zeigen läßt. Ihr Inhalt umfaßt die politische Kultur: ob und inwieweit ist die Idee der Rechtsverfassung bis jetzt realisiert worden? Die philosophische Kultur, hier handelt es sich um die Annäherung zur Idee der Wahrheit; die ästhetische Kultur, die Erhebung zur absoluten Freiheit. Der Historiker muß Künstler sein, belebt von der Idee des Ganzen. Neben Ast stehen als markante Vertreter des Neuhumanismus in Bayern Niethammer und Friedrich Jacobs; zu beiden trat Thiersch in engste persönliche Berührung. N i e t h a m m e r , 1 ) ebenfalls der Sohn eines evangelischen Pfarrers aus Württemberg, in den trefflichen Schulen seiner Heimat durchgebildet, wurde in Jena von Paulus und Reinhold freundlich aufgenommen. Paulus") war einer der charakteristischsten Vertreter des theologischen Rationalismus; für ihn war die Religion nicht ein im Gemüt wurzelndes Leben, sondern ein Wissen von Gott. „Die Glaubenspflicht des Christen geht auf die gewissenhafteste Anwendung des Verstandes zu E l s p e r g e r , Niethammer. P r a n t l , Niethammer. F. X . T h a l h o f e r , Niethammer. L o e w e , Schulkampf. S. 34ff. D ö d e r l e i n , Niethammer. Z w e r g e r , Lehranstalten. S. 267 ff. s ) R. E. Bd. 15. S. 90ff. 1904. Artikel Paulus.



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unbezweifelter Erkenntnis der Christuslehre"; „wahr ist nur das Begreifliche und Erweisliche." Reinhold,1) der Schwiegersohn Wielands und Mitarbeiter am „Deutschen Merkur", der berühmte Verfasser der „Briefe über Kants Philosophie", trug durch seine Vorlesungen namentlich über die Kritik d§r reinen Vernunft wesentlich dazu bei das Verständnis Kants in weiteren Kreisen zu verbreiten. Indem er in seinem Hauptwerk „Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens" (1789) zwischen Subjekt, Objekt und Vorstellung unterschied, bildet er die Uebergangsstufe von Kant zu Fichte. Der junge Privatdozent Niethammer vertrat zunächst Kants Philosophie. Seine anonym erschienene Abhandlung: Ueber Fichtes „Kritik aller Offenbarung" wurde für ein Werk Kants angesehen. Bald schloß er sich jedoch ganz an Fichte an und wurde ein energischer Vertreter seiner Ideen. In seiner Schrift „Versuch einer Ableitung des moralischen Gesetzes aus der Form der reinen Vernunft" (1793) wollte er Kantische Lehren mit Hilfe Fichtescher Anschauungen erweitern und stützen. 1795 gründete er das philosophische „Journal einer Gesellschaft deutscher Gelehrter", dessen Mitherausgeber seit 1797 Fichte wurde, als Organ für die neue kritische Philosophie gedacht. Schon früher hatte er den dann freilich nicht verwirklichten Plan gefaßt eine „neue Bibliothek der deutschen Literatur" zu gründen um damit der Allgemeinen deutschen Bibliothek Nicolais und der gelehrten Zeitung das Grab zu graben. Im gleichen Jahre zum außerordentlichen Professor ernannt, wurde Niethammer auf den jungen Schelling aufmerksam und regte ihn, wie sein Briefwechsel2) zeigt, zu immer neuen Arbeiten an, indem er ihm seine Zeitschrift zur Verfügung stellte und schließlich den Eintritt in den Weimarer Kreis dadurch ermöglichte, daß er ihm eine Rezensentenstelle an der Literaturzeitung verschaffte und Goethe und Schiller für ihn interessierte. Auch die nähere Bekanntschaft mit Fichte vermittelte er. Als Schelling sein „System des transzendentalen Idealismus" an Goethe überschickte, nahm dieser bei Niethammer in täglichen Kolloquien eine Art philosophischen Kursus um auf diesem Weg zu einer Einsicht in die Philosophie der letzten Tage zu gelangen. „Die Colloquia werden immer interessanter und ich kann hoffen, wenn ich mir nur Zeit lasse, das Ganze recht gut einzusehen." Schiller 3 ) schrieb an Niethammer: „Mir wird es wahre A . D. B . Bd. 28. S. 82ff. ) D a m m k ö h l e r , Georg, Schellings Beziehungen zu Niethammer. 1 7 9 5 — 1 7 9 8 . Erlanger Diss. 1 9 1 3 , veröffentlicht den Briefwechsel zwischen Niethammer und Schelling. 3 ) D ö d e r l e i n , Niethammer. S. 2 2 f f . 2

— 138 — Wohltat sein die Abende mit Ihnen durchzuphilosophieren. Lassen Sie bald etwas von sich hören." Eine ausgedehnte Korrespondenz unterhielt Niethammer und Reinhold, Hufeland, Humboldt, Herder. Unter dem Einfluß des Studiums der spekulativen Philosophie änderten sich seine religiösen Anschauungen, sodaß er eine ihm in Tübingen angebotene Stelle als Repetent am Stift ablehnte. Doch nahm er 1804 einen Ruf Montgelas' nach Würzburg als Professor an die Universität und Oberpfarrer an die protestantische Gemeinde zu St. Stephan an. In seiner Antrittspredigt1) finden wir die charakteristischen Worte: „Wer durch Wissen zum Glauben kommen will, läuft den verkehrten W e g . " . . . „Der wahre Glaube kommt aus uns selbst; aber dieser Glaube ist nicht der egoistische Glaube an unser Individuum, sondern an die heilige ewige Dreifaltigkeit: Menschheit, Tugend, Vernunft". An der Universität las er über theologische Moral, Dogmatik und eine Anweisung zum Volksunterricht in Religion und Moral. Hierüber trat er in Korrespondenz mit dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in München und nahm sich des Schulwesens auch im übrigen Bayern an. 1807 nach Abtretung Würzburgs berief Montgelas Niethammer nach München als Zentraloberstudien- und Oberschulrat ins Ministerium des Innern, wo ihm die Ausarbeitung eines neuen Schulplanes übertragen wurde. Als Vorbereitung hiezu veröffentlichte er seine Aufsehen erregende Schrift: „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit". 2 ) Wie viele Anregung mag er bei deren Abfassung durch den lebhaften Gedankenaustausch der Freunde Jacobi, Jacobs, Schlichtegroll empfangen haben, wenn sie sich gesellig vereinigten, wobei „das lebendige Gespräch so vieles unvermerkt anregte, aufklärte und entwickelte und wo bei den milden Strahlen gegenseitigen Wohlwollens die in der Tiefe des Gemütes schlummernden Keime fruchtbarer Gedanken entfaltet wurden"!3) Thiersch wies in seinem Buch „Ueber gelehrte Schulen" darauf hin, wie „in diesem merkwürdigen und für unsere Schulen folgenreichen Buch" Niethammer „zuerst die Sache im großen faßte, bemüht in dem ganzen Umfang der Erziehung den Widerstreit der sich bekämpfenden Systeme offen und vollständig aufzudecken, ihre Natur in einer wissenschaftlichen und tiefer eindringenden Untersuchung darzutun und das trostlose Ziel zu bezeichnen, an dem die neue Lehre zuletzt anlangen müsse".

2 8

D ö d e r l e i n , Niethammer. ) Jena 1808. Froman.

) L o e w e , Schulkampf.

S. 27.

S. 36/37.



139 —

Im Mittelpunkt des Werkes steht der Grundgedanke 1 ), der alle Ausführungen beherrscht: Der Mensch besteht aus Körper und Geist; das Unbedingte, das Höchste in ihm ist die Vernunft; seine geistige Natur begründet sein eigentliches Wesen; trotzdem darf aber diese niemals isoliert von der animalischen gedacht werden, da sonst „die hohe Bedeutung selbst verloren geht, welche die ganze sichtbare Welt eben durch den unerklärlichen Zusammenhang und die unauflösliche Einheit derselben mit dem Unsichtbaren hat, und welche der Mensch auch seinem Handeln in dieser Welt beilegen muß, sobald er erkennt, daß sein Leib nicht von dem Geist getrennt, bloß die Maschine ist, sein tierisches Leben zu tragen, sondern von dem Geist innig durchdrungen, das Organ sein geistiges Leben in der äußeren Welt darzustellen und ihm dadurch einen Inhalt zu verschaffen, ohne welchen es in leerer Träumerei verkömmt". Im Sinne Kants und Fichtes bezeichnet Vernunft 2 ) für Niethammer das Tiefste im Menschen, den inneren Sinn für die Ideen der Gottheit, Notwendigkeit und Freiheit. Die Bildung der Vernunft, die eigentliche Humanitätsbildung, muß daher der Hauptzweck des Erziehungsunterrichtes sein, um so mehr, da die sinnliche Natur beim Kinde überwiegt und ein einmal gemachtes Versäumnis nie wieder gut gemacht werden kann. Das Unsichtbare, Hohe, Göttliche, was zum ganzen Menschen, und zwar eminent gehört, und doch in ihm nicht durch sich selbst allein mit Sicherheit zum Leben und zur Herrschaft kömmt, muß durch die Erziehung zur Gewöhnung und zum festen Glauben kommen, so lange das kindliche Gemüt noch ungeteilt offen und empfänglich ist. Die Schule ist die Bildungszeit des Menschen, nämlich der Menschheit im Menschen, im Individuum. Die Menschenbildung 3 ) besteht aber in intellektueller und praktischer Vernunftbildung. Jene besteht darin, „daß der Mensch die Idee des Ewigen und seiner Erscheinung in dem Naturreiche und dem Menschenstaate oder ein höheres Sein überhaupt und eine darauf gegründete und sich beziehende höhere Bedeutung sowohl der Naturwelt als der Menschenwelt erkenne", „die praktische aber einerseits in dem lebendigen Glauben an Gott und sein unsichtbares ewiges Reich, in festem Vertrauen auf seine Regierung der Natur- und Menschenwelt und ihrer Schicksale, in tiefer Achtung der uns noch unaufgedeckten Bestimmung der sichtbaren Welt und in ehrfurchtvoller Beachtung der wundersamen Werke und des unermeßlichen Strebens und Wirkens der Natur- und Menschenkräfte, andererseits in tätiger Mitwirkung zur Bearbeitung dieser sichtbaren Welt nach dem in unserer Vernunfterkenntnis liegenden Ideal ihrer Vollendung, d. i. in Religiosität und Moralität, welche letztere ihrem Inhalt nach nichts anderes sein kann als die Virtuosität des Individuums in Absicht auf das Ideal der Vollendung sowohl der Natur als des Menschenvereines". Vernunftbildung 4 ) ist aber noch nicht die ganze Menschenbildung; „der ganze Mensch ist die mit den mannigfaltigsten Anlagen und Kräften zu einem wunderbaren Ganzen vereinigte Vernunft; die vollendete allseitige und harmonische Ausbildung dieses einen Ganzen ist das Ideal der Menschheit". Zur Vernunftbildung als notwendiger Menschenbildung kommt die freie Menschenbildung, die „Humanitätsbildung im bedeutungsvollsten Sinn des Wortes". Die freie Bildung 5 ) bedeutet niemals Einförmigkeit aller Individuen, Vernichtung der Individualität, Umgestaltung des Zöglings zu einem dürftigen Kompendium aller menschlichen *) 2 ) 3 ) 4 ) 6 )

N i e t h a m m e r , Der Streit. Ebenda. S. 93, 185. Ebenda. S. 184 ff. Ebenda. S. 189 ff. Ebenda. S. 198.

S. 39, 43.



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Fertigkeiten und Geschicklichkeiten; vielmehr gilt es harmonische Ausbildung der individuellen Anlagen. Wissen, die Masse und Mannigfaltigkeit eingesammelter Kenntnisse ist nur ein Mittel der Bildung; „ihre Quelle strömt aus jeder individuellen Tätigkeit des Geistes, wie verschieden sie auch sei, sobald sie nur in ihrer ganzen Kraft sich regt und mit sich selbst harmonisch sich entwickelt". 1 ) „Die Bildung können wir dem Blütenduft in einem Blumengarten vergleichen, dem erquickenden Hauche, der dem stillen, kräftigen Leben der mannigfaltigsten einzelnen Blumen entströmt, jeder einzelnen als erhöhtes Labsal zurückkehrt." Wahre, allgemeine Bildung ist also das Produkt der individuellen, des stillen Wirkens und der ruhigen Entwicklung der Eigentümlichkeiten des Einzelnen. „Bildung ist das innere Leben selbst." Aus dieser Auffassung des Wesens der Bildung ergibt sich für Niethammer ohne weiteres die Feststellung: sie wird nur erreicht durch Entwicklung der Kräfte des Zöglings. „Das Unterrichtsbedürfnis wird entschieden durch die Individualität der Lehrlinge, die darnach eingerichtete Bildung entscheidet den künftigen Beruf 2 )." Die Unterrichtsgegenstände sind daher überhaupt nicht nach dem künftigen Beruf zu wählen; die Hauptsache ist Schonung der Individualität der Zöglinge. Nach Art der Begabung 3 ) zerfallen dieselben in zwei Hauptgruppen; für die eine eignen sich die „Realgegenstände" besser als Objekte des Unterrichtes, für die andere die „Idealgegenstände". Dieser Auffassung trug Niethammer beim Entwurf seines Lehrplanes dadurch Rechnung, daß er den Gymnasien parallel Realinstitute einrichtete. Als Hauptzweck des Erziehungsunterrichtes ergibt sich Kräfteentwicklung und Erwerbung bestimmter Kenntnisse. Von diesen Grundgedanken über das Wesen der Bildung und die Bedeutung der Vernunft ausgehend prüft 4 ) Niethammer die Forderungen des Humanismus und Philanthropismus in der Theorie des Erziehungsunterrichtes seiner Zeit; so wenig er sich den Einseitigkeiten des extremen Humanismus verschließt, so wenig verkennt er die berechtigten Anregungen des Philanthropismus. Dieser habe dem Erziehungsunterricht einen neuen Impuls gegeben, indem er die Reformbedürftigkeit der Schulen und Gymnasien als notwendig erwies und begründete Forderungen durch seine Theorie aufstellte; mit vollem Recht verlange er in der Bildung des Zöglings die Rücksicht auf die objektive Welt und die Erweiterung des Kreises der Lehrfächer und fordere die Kunstübungen als einen wesentlichen Teil der freien Bildung zurück, in der Methode zeigen sich Fortschritte. Rücksichtslos scharf freilich bekämpft Niethammer jene Erscheinungen dieses modernen Bildungssystems, die nach seiner Überzeugung den Bestand der Kultur bedrohen; das ist vor allem das mangelhafte Verständnis desselben für die Vernunftbildung, die falsche Auffassung der Bildung, die Überhäufung der Zöglinge mit Lehrfächern, die verheerenden Übertreibungen der Methode des spielenden Lernens, die darin sich kundgebende Verkennung der kindlichen Natur, die unsinnige Gegenüberstellung der Begriffe: „Worte — Sachen", die geringe Einschätzung der Form der Unterrichtsgegenstände und des Wertes des klassischen Altertums als Fach, ganz besonders aber „den gefährlichsten Grundsatz dieses Systemes, „der Natur in der Entwicklung der Geisteskräfte an die Hand zu gehen". Niethammer wirft mit vollem Recht dem Philanthropismus eine Vergewaltigung der kindlichen Natur vor, indem er das Gedächtnis vernachlässige und die VerstandesJ

) ) ) 4 ) 2

8

Ebenda. S. 146, 153/154. Ebenda. S. 206/207. Ebenda. S. 3i9ff. Ebenda. S. 25, 161, 309.

— 141 — tätigkeit durch künstliche Mittel unnatürlich beschleunige. „Unleugbar ist es ein Grundfehler unserer modernen Erziehung überhaupt, daß man nicht genug eilen zu können glaubt die Kinder zu Verstand zu bringen und, wie man es nennt, vernünftig zu machen, daß man die natürliche Entwicklung ihrer Geisteskräfte nicht abwarten kann und in der Blütezeit schon die Früchte will 1 )." Gegenüber all diesen Verkehrtheiten, in deren Verurteilung sich Niethammer mit den bedeutendsten Führern seiner Zeit eins weiß, betont er die Notwendigkeit sich vom Geist des Zöglings eine richtige Vorstellung zu machen; es läßt sich nicht eine einzeln gedachte Kraft gleichsam einzeln herausheben und wie ein Schuh über einen Leisten schlagen. Die isolierten Abstraktionen bezeichnen vielmehr nicht isolierte Teile eines mechanischen, sondern unterschiedene Funktionen eines organischen Ganzen. Daher erleiden, wenn eine derselben verändert wird, alle Seelenkräfte eine Veränderung. „Der Geist ist ein Organismus, in welchem jede einzelne Bewegung sich dem Ganzen nach den Gesetzen seines systematischen Zusammenhanges mitteilt 2 )." Der natürliche Gang 3 ) der stufenweisen Entwicklung ist aber: i. Auffassen des Einzelnen, 2. Verbinden von Einzelnem, Trennen von Verbundenem und Einzelnem, Wiederverbinden von beiden und Verknüpfen zu einer höheren Einheit. An diesen Gang hat sich der Erziehungsunterricht zu halten, er muß einseitige Gedächtnisübungen ebenso meiden wie verfrühte Verstandesausbildung. Da die Anschauungsübungen4) des Philanthropismus nichts anderes sind als Zergliederungen einzelner materieller Naturgegenstände und insoferne mehr Übungen des Urteilens als Übungen des Anschauens, verlangt Niethammer entsprechend der Natur des kindlichen Geistes, der zuerst vielmehr auf Synthese gerichtet ist, also auf Verbindung einzelner Gegenstände in ihrer Ganzheit, Anschauungsübungen an Gegenständen der Innenwelt, zumal in jener frühen Entwicklungsperiode der jugendliche Geist noch gar nicht reif ist in die Tiefe der Naturgegenstände einzudringen. Die größte Gefahr wäre eine künstliche Weckung der Kritiksucht, die Zerstörung des Vermögens, „irgendetwas rein und ungeteilt mit unbefangenem Gemüt aufzunehmen 5 )." ,,Der junge Superklug, der den Baum, anstatt sich an seiner Gestalt zu ergötzen, in Wurzel, Stamm usw. zergliedert, und seine mathematischen Dimensionen aufzählt, ist ein Schiefkopf, der dem ungebildeten Naturkind weit nachsteht, dem der Baum noch gar nichts weiter ist, als ein Ort, wo es Obst und Vogelnester sucht." Also gilt es zunächst Übung der Anschauung an „geistigen Gegenständen", d. h. Pflege des Gedächtnisses, wodurch der jugendliche Geist lernt geistige Gegenstände zu fixieren und reichen Stoff zu sammeln. In der zweiten Hauptperiode des Unterrichtes folgt dann die Übung des Urteils entsprechend den Hauptanlagen der Zöglinge mehr an Geistesideen oder Naturideen. Für die Stellung Niethammers zum Neuhumanismus besonders charakteristisch sind endlich seine Ausführungen über die Sprache und das klassische Altertum 6 ). Er betrachtet es als das erste Gesetz in der Bildung des Menschengeschlechtes keinen Punkt einmal errungener Bildung untergehen zu lassen. Die Bekanntschaft mit der früheren Kultur beruht aber auf einer genauen Kenntnis der alten Sprachen und der in ihnen niedergelegten „glänzendsten Offenbarungen der Vernunft". Der Zweck !) 2 ) 3 ) 4 ) 6 ) «)

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

S. 276. S. 285. S. 286. S. 300. 303/304. S. 217 ff.

— 142 — der gelehrten Bildung — und nur für diese kommt die Erlernung der alten Sprachen in Betracht — ist vernünftigerweise nur auf jenes Ziel gerichtet. Die ganze neuere Kultur ist durch wiedererwecktes Studium der alten Kultur begründet. Der Wert des Sprachenstudiums an und für sich macht die Erlernung der Sprachen zu einem wesentlichen Mittel der freien Bildung. „Die Sprache ist das unmittelbarste Medium, in welchem der Geist seine herrlichsten Schöpfungen darstellt." „ D a s Wort ist das unmittelbarste, allgemeinste, freieste, bedeutungsvollste, bildsamste Werk des Geistes, in dem er sich selbst darstellt." „Die Rede ist eine Vereinigung von Künsten •— Musik, Plastik, Malerei." „Die Kunst der Rede vereinigt mit der Darstellung für das Auge zugleich so wunderbar eine eigene Kunst der Darstellung für das Ohr im Wohlklang, Rhythmus, in Gang und Fall der Silben und Worte. Die Schriftsteller der Griechen und Römer sind in ihrer Musterhaftigkeit noch nicht erreicht; zur Erlernung der Grammatik eignen sich besonders die alten Sprachen; denn diese sind nicht nur das Vorbild aller neueren kultivierten Sprachen, sondern auch das einzige gemeinschaftliche Band, das die Kultur aller neueren Völker umschlingt. Endlich ermöglicht ihr Studium vermöge der inneren Festigkeit, Gesetzmäßigkeit und Konsequenz eine Übung des Geistes, die dem Studium der Mathematik völlig gleichkommt, aber doch auch von ihm ganz verschieden ist. Durch die Form der Darstellung der Ideen in der Sprache wird das Gemüt am mächtigsten ergriffen. 1 ) In Hinsicht der Sachgegenstände zeichnen sich die Werke der Alten durch reine Beobachtung und ruhigen Naturblick aus, der die Erscheinungen scharf faßt und durchdringt. In dem unruhevoll gärenden Kampf der Naturwissenschaften, dessen Versöhnung erst in ferner Zukunft zu hoffen steht, bietet einen Ruhepunkt die Ansicht der Natur, „die uns als Muster in den Überresten der alten klassischen Zeit aufbewahrt ist." Die innige Verschmelzung von Form und Sache in den Werken der Alten, die Harmonie des Gefühles und des Gedankens, die Einheit, Innigkeit und Gediegenheit, die Reinheit, Klarheit und Haltung könnte für unsere Naturforscher ebenso vorbildlich sein wie für die junge Generation in ihrem unsicheren Schwanken. Durch das Studium der Alten erhofft Niethammer endlich auch eine Bildung unseres Nationalgeschmackes; denn mit tiefem Schmerz sieht er die Meisterwerke Goethes und Schillers vom Volk mißachtet und das Urteil der Ästhetiker völlig unsicher umhertasten. Das Herrlichste aus den klassischen Geisteswerken unserer Nation muß durch den Erziehungsunterricht zum Gemeingut der Nation erhoben werden. Was die Bildung der Mädchen 2 ) betrifft, so fordert Niethammer vor allem Berücksichtigung des eigentümlichen Charakters des weiblichen Geistes, die Unmittelbarkeit des Denkens, Tuns und Fühlens. „Wahrheit, Tugend, Schönheit kennt das Weib durch unmittelbares, lebendiges Gefühl. Dieses Gefühl den Frauen in Begriffe, Gesetz und Regel auflösen, heißt ihnen ihre Welt zerstören." „ W i r dürfen die Frauen nur lehren, ihr Gemüt auszusprechen und darzustellen.... Dieses Gefühl zur höchsten Lebendigkeit und Sicherheit auszubilden ist das Ideal und die Aufgabe des weiblichen Erziehungsunterrichtes." „ D e r Berufskreis für das ganze weibliche Geschlecht ist der häusliche Kreis; ehrwürdig ist die Frau, die als Gattin, Mutter und Familienhaupt ihre Stelle ausfüllt." Der dritte der Neuhumanisten, der, wenn er auch nur wenige Jahre in München wirken konnte, dennoch einen nachhaltigen Einfluß auf weite J) 2)

Ebenda. Ebenda.

S. 231 ff. S. 340, 352/353.



143 —

Kreise übte, ist F r i e d r i c h J a c o b s . Zu ihm, dem 20 Jahre älteren, trat Friedrich Thiersch in ein Freundschaftsverhältnis, das auf Uebereinstimmung in den Grundanschauungen, wechselseitige Wertschätzung und Gemeinsamkeit des Amtes begründet, sich von Jahr zu Jahr vertiefte. Während Jacobs Münchener Aufenthaltes vergingen nur wenige Tage, wo sich die beiden Freunde nicht sahen. 1 ) Als Jacobs, den niederträchtigen Angriffen der Gegner weichend, nach Gotha zurückkehrte, da tröstete ihn der Gedanke, daß Friedrich Thiersch das begonnene Werk fortsetzen werde. „Ich kannte seinen durch Jugend und innere Kraft befestigten Mut, ich kannte die Liebe der Wissenschaft, die sein ganzes reiches Gemüt erfüllte, und so war ich des festen Glaubens, daß er, wenn irgend jemand, berufen sei den Samen auszustreuen, welcher aus tieferen Furchen eine frohe und reiche Saat schöner klassischer Bildung erzeugen könnte." 2 ) Auch nach der Trennung blieben die Freunde in eifrigem Briefwechsel verbunden. Friedrich Jacobs gehört zu jenen Humanisten, „in denen ihre Wissenschaft die treibende, bildende, verklärende Macht des Lebens geworden ist, in denen Wissen und Streben sich zu einer Einheit zusammengeschlossen haben, in denen ein sicherer Takt ebenso für die tieferen Erregungen des Gemütes als für die klaren Ergebnisse des Denkens die entsprechende Form zu finden weiß um dann selbst dem äußeren Auftreten das Gepräge des Maßvollen und Harmonischen zu geben." 3 ) Er selbst schreibt rückblickend als Greis in seinen Lebenserinnerungen: 4 ) „Heftigkeit und Ungestüm ist meiner Natur zuwider. Meine Erziehung, meine Studien und die Verbindungen, in denen ich gelebt, empfahlen mir vor allen anderen Gottheiten die Sophrosyne und diese hat mich immer von ungestümem Handeln und extremen Meinungen entfernt gehalten." Jacobs Jugendbildung 5 ) stand ganz unter dem Einfluß der aufblühenden deutschen Literatur und des rasch sich entwickelnden Neuhumanismus. Im Vaterhaus vertiefte er sich in die Dichtungen von Kleist, Zachariä und Geßner. Schon als Gymnasiast interessierten ihn Lessings Laokoon, Herders kritische Wälder, alle Schriften Winckelmanns, namentlich die Geschichte der Kunst und die Briefe, die letzteren vorzüglich wegen des Stils, „aus dem mich ein Duft des Altertums an') J a c o b s , Personalia. S. 86. ) Vermischte Schriften, Teil 3, Widmung an Niethammer. 3 ) K ä m m e l , Jacobs. Bd. 3 2 . S. 779. — R e g e l , Jacobs in A . D . B . S. 600ff. 1881. 4 ) Personalia. S. 44. 5 ) Personalia. S. 20 ff. 2

Bd. 13.

— 144 — wehte, der mich auf eine wunderbare Weise rührte und die klassischen Schriftsteller, die ich nebenbei las, besser verstehen lehrte. Ein Widerklang der Ideen, die ich hier aufgefaßt hatte, war eine Rede: „Ueber die edle Einfalt der Griechen", die ich bei einer Schulfeierlichkeit vorlas". Unter der Leitung tüchtiger Lehrer wie des Rektors Geißler, eines Schülers Ernestis, und vor allem seines Nachfolgers Stroth, lernte er römische und griechische Schriftsteller kennen. An der Universität Jena förderte ihn der Theologe Griesbach durch die Schärfe seiner philologischen Kritik und leitete Schütz seine humanistischen Studien. Die Philosophie war damals schlecht vertreten. Endgültig für die Philologie gewonnen, vollendete Jacobs seine akademischen Studien unter Heyne in Göttingen; Spittlers Vorlesungen über Staatengeschichte regten ihn lebhaft an. Seit 1785 wirkte er als begeisterter und begeisternder Lehrer an dem Gymnasium seiner Vaterstadt Gotha.1) Das gewaltige Ereignis der französischen Revolution hatte sein stärkstes Interesse erregt. Wohl huldigte er den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Freiheit, mit denen sich jene soziale Bewegung in ihrem Beginn der Welt empfahl; doch „der theatralische Prunk der Versammlungen der neuen Solone, der Hochmut, der sich für Freiheitsliebe ausbringen wollte, die eitle Schönrednerei, der nur allzu oft Ernst und Wahrheit weichen mußte," die sich häufenden Gewalttaten der ausgearteten Revolution stießen ihn ab. Seitdem las er den „Moniteur" mit dem Wunsch die Nemesis der begangenen Greuel erscheinen zu sehen. Die Fortschritte Bonapartes bei Beginn des Jahrhunderts veranlaßten Jacobs mit innigerer Teilnahme als je die philippischen Reden des Demosthenes zu lesen. Der makedonische Eroberer erschien ihm als Vorbild des korsischen.2) So entstand allmählich seine Uebersetzung der Reden mit historischen Einleitungen; um dieselbe Zeit und in gleicher Absicht gab Niebuhr die erste philippische Rede heraus. Der unerhört schnelle Zusammenbruch Preußens 1806 und der Gewaltfriede von Tilsit erschütterten den sein Vaterland über alles Liebenden aufs tiefste. In diesem Augenblick traf ihn der Ruf Montgelas' nach München. Ein großer Wirkungskreis schien sich ihm hier zu eröffnen. Denn er wurde Professor am Lyzeum, Mitglied der Akademie und erhielt den Auftrag dem Kronprinzen Vorträge über griechische Geschichte und Literatur zu halten und lateinische Klassiker zu lesen. Wenn auch der Krieg von 1809 diese letztere Tätigkeit unterbrach, so war Jacobs doch Gelegenheit geboten dem künftigen König nahe genug zu treten „um !) 6. Bd. der Vermischten Schriften. S. 583 ff. 2 ) S p r a n g e r , Neuhumanismus, Die Ausführungen über Jacobs.

— das edle

Blut

145 —

des wittelsbachischen

Stammes

in ihm

zu

erkennen,

seinen Eifer Kenntnisse zu sammeln, seinen Ernst in wissenschaftlichen Beschäftigungen, die lebendige Achtung, die er gegen alles Große und Schöne hegte, seinen Haß gegen Gewalttätigkeit und Unrecht zu lieben und zu bewundern". 1 ) Die starke Wirkung, die von Jacobs Lehrtätigkeit ausging, beruht auf seiner Persönlichkeit und seinem umfassenden Wissen. E r war der geborene Erzieher und Lehrer der Jugend. Durch seine beiden Rektoren in Gotha für den Stand des Schulmannes gewonnen, stellte er seine ganze Kraft in den Dienst des neuen Berufes. W i e hoch er von ihm dachte, zeigen seine wunderschönen Abschiedsworte 2 ) in Gotha, als er den

Ruf

nach

München

angenommen

hatte

und

die

Begrüßungs-

ansprache im Lyzeum. „ I c h beteuere, daß ich, wenn ich noch öfters einen Stand zu wählen hätte, keines anderen Glanz mich verführen würde ihn diesem — unter allen den glücklichsten — vorzuziehen. Gibt es etwas Erfreulicheres als die ununterbrochene Beschäftigung mit der Blüte der Künste und Wissenschaften, wie sie in den schönsten Zeiten, von den edelsten Menschen unter den ruhmvollsten und geistreichsten Völkern gepflegt wurden ? oder wäre ein würdigeres Geschäft zu denken als den Sinn für das Edelste und Schönste, was sich je in dem menschlichen Geist gestaltet hat, anderen zu öffnen und die empfänglichen Seelen einer unverdorbenen Jugend mit des Altertums Größe und Hoheit zu nähren? Kein Geschäft ist zugleich einfacher und mannigfaltiger, keines belohnender an sich und in seinen Folgen. Hier bedarf es keiner verschlagenen Weltklugheit, keiner lauschenden Vorsicht, keiner heuchelnden Falschheit". „ I s t nicht jedes reine Herz, das sich ihm öffnet, ein schönerer Anblick als jeder Glanz, mit dem sich der Reichtum umgibt ? Bietet ihm nicht jeder gesunde Keim, der seiner Pflege entgegenschwillt, eine Fülle freudiger Hoffnungen dar? Oder kann sich die irdische Macht einer reicheren Ernte von Freuden rühmen, als der väterliche Lehrer, wenn er seine Bestrebungen gelingen sieht? Jedes edlere Gemüt ist ihm verwandt; seine Schüler sind seine Freunde; und was das Leben in seinen verschlungeneren Verhältnissen selten bietet, das bietet die Schule, einen Bund reger Kräfte, die mit uneigennütziger Liebe nach einem gemeinsamen Mittelpunkt des Edelsten und Besten streben; Wetteifer ohne Mißgunst, Freiheit mit Gesetzmäßigkeit, Liebe ohne Eifersucht, mit einem Wort einen Verein der Humanität, in welchem Wissenschaft und Weisheit vön den Grazien der Liebe, der Anmut und Schönheit umschlungen wird." Zu dieser idealen Berufsauffassung gesellte sich eine seltene Gabe der Rede. Schülers) —

„Friedrich

Jacobs übte"



so schreibt

ein

begeisterter

„in jedem seiner Vorträge einen unbeschreiblichen Zauber

auf die Gemüter seiner Zuhörer aus. Der geistreiche Gedanke fand geeigneten Ausdruck; zu dem richtigsten Ausdruck gesellte sich der lieb*) Personalia. S. 89. . 2) Abschiedsrede am Gymnasium zu Gotha Schriften. Bd. I. S. 87. 8) W ü s t m a n n , Hellas. Vorwort. S. I V f f . Loewe, Friedr. Thiersch.

24. Oktober 1807, in Vermischte

IO

— 146 — liehe Ton der Stimme und beides wurde noch durch das Feuer des Redenden, welches unwiderstehlich hinriß, gehoben." Bereits am 7. Dezember 1807 eröffnette Jacobs seine Tätigkeit am Lyzeum mit einer programmatischen Rede:1) „Vom Zwecke der gelehrten Schulen"; — unter seinen Zuhörern saßen auch Schelling und Niethammer.2) — In ihr tritt uns der scharfe Gegensatz zu der Aufklärungspädagogik und Jacobs' Ansicht über die Bedeutung des Altertums für die höhere Bildung in charakteristischer Weise entgegen. In ihren Grundgedanken berührt sie sich mit Niethammers Anschauungen, wie er sie in seinem schon erwähnten Buch entwickelt hatte. Eine wertvolle Ergänzung zu diesen programmatischen Ausführungen bildet Jacobs' Akademierede „Ueber die Erziehung der Griechen zur Sittlichkeit"3) (28. März 1808), die den Hauptzweck verfolgte den Charakter der griechischen Nation und ihre Literatur weiteren Kreisen verständlich zu machen und so die bestehenden Vorurteile gegen das griechische Studium zu beseitigen. Widerspruch gegen die hier vorgetragene Ansicht, als ob das griechische Volk überschätzt werde, gaben Jacobs Veranlassimg sich mit solchen Kritikern noch näher auseinanderzusetzen, nachdem bereits Roth in einer kleinen Abhandlung: „Bemerkungen über den Sinn und Gebrauch des Wortes Barbar"4) darauf hingewiesen hatte, jene Gelehrten hätten zu wenig erwogen, daß, wo große Tugenden, durch ein Naturgesetz auch große Fehler sind, und daß, wer ein Volk ausnehmend lobt, ihm doch nicht Vollkommenheit überhaupt, sondern bestimmte Vorzüge vor anderen zuschreibt; er selbst teilt vollkommen Jacobs' Auffassung, indem er als wichtigsten Beweis der ungewöhnlichen Bildungshöhe der Hellenen die Tatsache anführt, daß Sophokles' Schauspiele vor den Bürgern Athens und ihren Gästen aus allen Teilen Griechenlands mit einem Beifall aufgeführt wurden, den eigenes Verständnis und Gefühl hervorbrachte." Jacobs6) beruft sich bei seiner Wertschätzung der Großartigkeit der Hellenen in ihren Gesinnungen und Sitten auf Männer wie Niebuhr; er verschließt sein Auge weder den Schattenseiten im griechischen Verfassungsleben noch den verdammungswürdigen Lastern noch den moralischen Mängeln auch edlerer Naturen; aber trotz alledem beweisen ihm die Schriften der Alten eine sittliche Bildung edelster Art. 1

) Venn. Sehr. Teil i . S. i o i f f . ; vgl. auch L o e w e , Schulkampf. S. 34 ff. ) Personalia. S. 80. 8 ) Gedruckt in Verm. Sehr. Teil 3. S. 1—374- Personalia. S. 81/82. Vorrede. S. X V I I I f f . 4 ) Gelesen in der öffentlichen Versammlung der Akademie zur Feier des Maximilianstages. 1814. S. 6. 5 ) Vorrede. S. XVIIIff. s



147 —

Als besonderen Vorzug des griechischen Volkes erkennt Jacobs in jener Akademierede1) „das uneigennützige Streben nach Erkenntnis, das sich in der Beschauung, und das freie Spiel, das sich in der Erzeugung und Darstellung des Schönen kund tut", eine Gesinnung, die in der ganzen Einrichtung des öffentlichen Lebens und der festlichen Vereine lebendig hervortrat. In den Werken der Literatur und Kunst erscheint eine religiöse Stimmung des Gemütes, die nur das über die irdische Sphäre sich Erhebende als groß achtet. Es war eine „Welt voll gewaltiger Kraft, wie voll Anmut und Reiz, in welcher die Schönheit sittlich, die Sittlichkeit schön und beides als ein eigentümliches Gewächs der Natur erscheint". Den Gründen nachforschend, welche die Hellenen zu so überlegener Stellung führten, will Jacobs, offenbar gegen Winckelmann polemisierend, den Fehler vermeiden äußeren und zufälligen Einflüssen, wie Boden, Klima, Volkscharakter, zu viel Gewicht beizulegen; als das Entscheidende um die Menschheit zur Sittlichkeit zu bilden findet er vielmehr die „Idee der Schönheit und Erhabenheit, in welcher sich das Göttliche als Quell und Ursprung des Sittengesetzes im Irdischen offenbart. Dieses ist die Sonne unseres inneren Himmels, um die sich die Elemente unseres Wesens zum gesetzmäßigen und freien Tanz sammeln, von deren Strahlen durchdrungen jeder Trieb sich verklärt und, wenn es der Tat gilt, wie des Tydeus Sohn mit Glanz überströmt, Bewunderung und nacheifernde Lust erweckend, hervortritt". Die Forderungen, die an eine sittlich bildende Erziehung zu stellen sind, ergeben sich hieraus von selbst; neben dem gebieterischen Gesetz muß sie die Idee des Schönen und Großen in dem Gemüt aufstellen und beleben; in der inneren Oekonomie des Menschen soll jede Kraft die Stelle erhalten, auf der sie das Meiste und Heilsamste wirken kann; indem sich alle seinem göttlichen Teile zuneigen, soll sich sein inneres Wesen zu einem Ganzen der reinsten und heiligsten Harmonie gestalten. Deutlich klingen hier Platonische Gedanken an: „Die Tugend kommt von Gott; alles, worin die göttliche Natur sich spiegelt, führt zu ihr hin. Sie spiegelt sich aber am klarsten in der Schönheit; denn das, was in der Schönheit entzückt, ist eben die Unendlichkeit des Uebersinnlichen, die sich in sinnlicher Begrenzung offenbart. Darum wird durch sie die Idee der Gottheit in dem Gemüt lebendig und ein Verlangen erzeugt die Harmonie, die in Gott ist, in sich darzustellen." Auf diesem Weg wird ästhetisch-religiöse Bildung gewonnen.2) 2

S. 5. ) Zugaben.

S. 1 5 1 .

10*

— 148 — Eine freie harmonische Entwicklung der Kräfte des Gemütes wird aber unmöglich, wenn man nur den Verstand bildet; denn der Geist wird dadurch nicht zur Freiheit geführt, sondern der Gewohnheit unterworfen, die von der Tugend sehr verschieden ist. „Nie hat in der sittlichen Welt der Mechanismus Großes erzeugt." Die Griechen erkannten die Mäßigung als den Mittelpunkt der Bildung und erzogen dementsprechend ihre Jugend und sich selbst durch Gymnastik und Musik. Feinsinnig schildert Jacobs die körperliche und musische Ausbildung der griechischen Jünglinge, wobei ihm besonders daran gelegen ist zu zeigen, wie die Uebungen der Palästra auf Geist und Sittlichkeit wirkten, welche Bedeutung der Musik für die harmonische Charakterbildung beigelegt wurde, Gedanken, die auch von Thiersch entschieden betont wurden. Ueber die homerische wie über die ganze hellenische Poesie war der himmlische Aether der Sittlichkeit, mit einer Fülle großartiger Kraft, ergreifender Wahrheit und tiefen Sinnes vereint, ausgegossen und ging aus ihr in das Gemüt der Zuhörer über. Der Geschmack der Griechen war ein zarter, sittlicher Sinn; daher spiegelt sich in ihrem Leben ihre Kunst und in ihrer Kunst das Leben der Nation. Die Besprechung der Poesie als eines der vornehmsten Bildungsmittel der Jugend gibt Jacobs Gelegenheit auf die wertvolle vaterländische und dramatische Dichtung und den erzieherischen Einfluß der Bühne der Griechen hinzuweisen; selbst die Komödie des Aristophanes nimmt er gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit in Schutz; denn nach seiner Auffassung reinigte sie, indem sie sich des Triebes nach Ungebundenheit bemächtigte, denselben durch Poesie, durch Vermählung des an sich Gesetzlosen mit dem Gesetz der Kunst. Die Sinnlichkeit selbst, aus deren Schoß der Mutwille erwächst, wird gereinigt durch die Auflösung seiner Erscheinungen in ein geistiges Spiel des Witzes und durch die Veränderung, die sie seiner Richtung gibt. Für die Erwachsenen waren die Schulen der Philosophen der Ort, wo die sittliche Erziehung der Jugend fortgesetzt wurde, weniger durch Lehren als durch die dreifache Macht der Wahrheit, der Beredsamkeit und des Beispieles. Dadurch wurde teilweise den Mängeln abgeholfen, die in der Religion des Altertums lagen. Mit Nachdruck weist jedoch Jacobs darauf hin, daß trotz der Unsittlichkeit der alten Göttermythen durch sie wie durch die ganze Art der Götterverehrung in Tempeln und Hainen das Gemüt poetisch bewegt und die Idee des Göttlichen in ihm genährt wurde. Bei anderer Gelegenheit1) betonte er: die Religion des Heidentums war mit aller Entschiedenheit auf die Verm. Sehr. Bd. 6.

S.

22gii.

— 149 — Lehre von der Notwendigkeit des Gehorsams und der Unterwerfung unter die göttliche Macht gerichtet. Alle Lehren der Weisen und Dichter deuten auf Gott, auf die Abhängigkeit der Menschen von Gott und auf die Nichtigkeit alles Menschlichen. Der Glaube an den engen Zusammenhang des Göttlichen mit dem Menschlichen durchdrang alle Werke des Altertums. „Ich habe einen so festen Glauben an die Weisheit der Weltregierung und an die väterliche Liebe Gottes zu dem armen Geschlechte der Menschen, seinem Werke, daß es mir schwer fällt irgend eine Art der Religion oder des Kultus ohne weiteres zu verdammen." „Der Gedanke an Gott ist mit dem Menschen geboren; er erwacht in ihm mit dem Erwachen der Vernunft." „Wie die Stufen der Erkenntnis zahllos sind, so sind es auch die Arten der Verehrung Gottes."1) Den sittlich erzieherischen Wert der bildenden Künste der Hellenen endlich sieht er nicht in ihrer feineren Sinnlichkeit, sondern darin, daß sie Stoff und Gestaltung zwar von dem Irdischen entliehen; aber beseelt durch das fromme Gemüt des Schaffenden und durchdrungen von der Kraft der Begeisterung, gestaltete sich der tote Stoff zum Symbol der höheren Natur. Der Schluß der Rede schildert noch die äußeren Verhältnisse, aus denen die Quellen der sittlichen Kraft der Griechen entsprangen, die Einfachheit des Lebens, die Bedürfnisse und Geschäfte des Altertums, die innige Verflechtung des Einzelnen mit dem Ganzen, so daß die religiöse Idee des Vaterlandes auch das Geringfügigere veredelte, die Gestaltung der staatlichen Verhältnisse nach dem Muster des Familienkreises. Das lebhafte. Eintreten von Jacobs für die Pflege der Altertumsstudien im Jugendunterricht erklärt sich also in erster Linie aus seiner Ueberzeugung,2) daß der Wert jener Denkmale des Altertums in der sittlichen Würde, in dem religiösen Adel liegt, der gleichsam ihren innersten Kern bildet und sich in dem Maß und Gleichgewicht der Form als dem Symbol der inneren Vollendung ausspricht, so daß in der Tat kein Mittel der Bildung bei der Erziehung der Jugend gefunden werden möchte, „das mit allen Verfassungen und Berufsarten gleich vereinbar, so geschickt wäre den ganzen Menschen zu ergreifen und ihn aus Niedrigkeit, Verworrenheit und Tand zu Ernst, Klarheit und Selbstgefühl emporzuheben."3) Dasselbe Problem, das einst den Begründer des Neuhumanismus in Frankreich, Karl Rollin, beschäftigte und in der Geschichte der 1

) Ebenda. S. 241. ) Vorrede zum 3. Teil. S. X X I I I f f . 3 ) R o t h , Vergleichung des Thukydides und Tacitus.

2

— 150 — Philologie des 19. Jahrhunderts immer wieder auftaucht: inwieweit läßt sich das Altertumsstudium mit der Pflege christlicher Anschauungen in Einklang bringen? trat auch an Jacobs heran. Ihn selbst begleitete sein ganzes Leben lang der Glaube i), daß „Frömmigkeit und Glaube an schwankende Lehren verschiedene Dinge sind und daß die Seligkeit, d. i. das Bewußtsein von dem Frieden mit Gott durch ein sittliches und reines Handeln, nicht aber durch das Bekenntnis dieses oder jenes Symbols gewonnen werde". Die Behauptung, durch die heidnischen Schriftsteller werde das Christentum gefährdet, kann er nicht als richtig anerkennen; denn er sieht im Heidentum mit seiner Idolatrie eine der notwendigen Stufen, auf denen Gott das menschliche Geschlecht zur rechten Erkenntnis der Wahrheit leiten wollte. In der Bibel ebenso wie bei heidnischen Weisen findet er die Offenbarung ausgesprochen, durch welche die Wurzeln des sittlichen Lebens am tiefsten befestigt werden, daß die Grundsätze eines weisen und tugendhaften Lebens der einzelnen Menschen wie ganzer Staaten auf ein ewiges, in dem göttlichen Willen gegründetes Gesetz zurückgeführt werden. Der Glaube an die Gewißheit der sittlichen Offenbarung in uns, der Glaube an ihre göttliche Abkunft als ewiges Gesetz ist Religion und Grundlage der Tugend und Jacobs findet ihn nicht nur in den Werken der griechischen Dichter und Philosophen, sondern auch in ihrer Gesetzgebung. Jacobs Akademierede vertritt, was die Pädagogik betrifft, im wesentlichen Platonische Ideen, vor allem die Auffassung, daß die bildende Erziehung eine ästhetisch-religiöse sei, während einer bloß unterrichtenden und lehrenden ein solches Prädikat nicht zukomme; mit ihm ist er von der Notwendigkeit einer harmonischen, körperlichen und geistigen Durchbildung und von den günstigen Wirkungen der Gymnastik auf den Charakter überzeugt. Seine Schilderung des griechischen Lebens und der griechischen Kunst basiert auf dem leitenden Gedanken, daß der Grundcharakter der hellenischen Kultur ein sittlich-religiöser ist. Noch zweimal ergriff er während seines Münchener Aufenthaltes in der Akademie das Wort um zwei für den Neuhumanismus besonders wichtige Probleme zu erörtern, das Wesen des Geschmackes und die Stellung der Griechen zur Plastik. In einer Rede „Ueber einen Vorzug der griechischen Sprache im Gebrauche ihrer Mundarten"2) erörtert er das eigentümliche Phänomen, daß sich die Personalia. Vorrede. S. X V f f . ) Verra. Sehr. Teil 3. S. 375 ff.

a

— 151 — verschiedenen Mundarten der griechischen Sprache, soweit es ihre Natur gestattete, zur klassischen Vortrefflichkeit ausbildeten und mehrere nebeneinander in ihrer eigentümlichen Gattung selbt bis über die Zeit ihrer physischen Dauer hinaus blühen konnten; der epische Dichter wählte den jonischen, der lyrische den äolischen und dorischen, der dramatische den attischen Dialekt, für die lyrischen Partien einen gemilderten Dorismus. Der dorische Herodot schrieb sein Geschichtswerk in jonischer, Thukydides in attischer Mundart. Die Erklärung liegt in dem eigentümlichen Sinn der Hellenen für die Harmonie aller Teile eines organischen Ganzen und in ihrer frommen Scheu an das Alte zu rühren, wenn es durch die Kunst geheiligt war. Indem die äußere Form festgehalten wurde, stand auch das innere Wesen einer jeden Gattung heiliger und unverletzlicher. In diesem zarten und tiefen Sinn offenbart sich die höchste Blüte des Geschmackes, der selbst wieder die reinste Blüte der Humanität ist. Jacobs erwartet daher von dem Studium dieser Werke einen günstigen Einfluß auf die deutsche Literatur und Kunst, die in anderen Bedingungen am ersten mit den Hellenen wetteifern möchten, vor allem in seiner Zeit eine lebendigere Erregung und Befestigung des Sinnes für das Schöne und Große, da auf dem geistigen Gebiet der Wissenschaften in seinem ganzen Umfang eine Erschütterung eingetreten ist, eine gegenseitige Anziehung ihrer sonst so getrennten Elemente erfolgt, gerade die Besten von dem Streben nach dem Ideal erfüllt sind und die Liebe zur Kunst allgemein verbreitet ist. Nur gestreift wird der Gedanke, wie „der beseelende Hauch der griechischen Sprache überall, wo er gefühlt ward, die Gemüter erhöht, die Blüten der Schönheit öffnet und die Töne der Sprache veredelt."1) Mit der Rede „Ueber den Reichtum der Griechen an plastischen Kunstwerken" (am 12. Oktober 1810) beschloß Jacobs seine Laufbahn in München. Nach einer Wanderung durch die berühmtesten Kunststätten von Hellas beschäftigt ihn die Frage, warum die Alten den Neueren in der Plastik so weit überlegen sind. Durch eine vergleichende Betrachtung hofft er das innere Wesen beider aufzuschließen. Vor allem aber kommt es ihm darauf an, den tieferen Zusammenhang zwischen dem Leben und dem Geist des Volkes und der Kunst zu zeigen. Wie trefflich ihm dies gelang, beweisen die Ausführungen des Kunstkritikers K. Fr. von Rumohr in seinen italienischen Forschungen :s) „Niemand hat wohl in der Entwicklung der altgriechischen Kunst aus dem eigentümEbenda. S. 381. «) Teil 1. 1827. S. 112.

— -152 — liehen Lebensgeist des Volkes tiefe Gelehrsamkeit besser und glücklicher mit Helligkeit der Anschauung verbunden, als in dieser Schrift geschehen, deren Darstellung ein vollendetes . Bild ist." Bei den Griechen findet Jacobs als besondere Eigentümlichkeit, „daß sie unter allen Erscheinungen der Natur den Menschen als die erste und herrlichste auszeichneten und in seiner Gestalt die höchste sinnliche Offenbarung des göttlichen Wesens erkannten". Der Grieche schuf Gott nach seinem Bild als dem reinsten Symbol der göttlichen Natur. Die Plastik wurde durch die Darstellung der Götter göttlich; sie mußte versuchen, durch großartige Formen die göttliche Herrlichkeit in der Beschränkung menschlicher Leiber zu zeigen. „Wie die Religion Idealität der Kunst erzeugte, so erzeugte die Idealität der Kunst Religion." Bald erweiterte sich der Kreis der Kunst, vom Staat lebhaft unterstützt, begünstigt von begeisterter Vaterlandsliebe, Gemeinsinn, von der Verfassung und dem Klima. Von der Kunst wurde das Leben veredelt. Die inneren Ursachen des überschwenglichen Reichtums an plastischen Kunstwerken waren also in Hellas Religion, Gemeinsinn und Liebe zur Kunst, — die Plastik erwuchs aus des Lebens tiefsten Wurzeln, aus Liebe und Notwendigkeit. Bei der deutschen Plastik seiner Zeit vermißt Jacobs eigentümliche Gestalt; sie sei mehr eine Tochter des Ehrgeizes als der Liebe und lebe fast nur durch den Gebrauch äußerer Mittel. Das äußere Leben wirkte auch ungünstig; das Christentum verlegte die Beschauung des Göttlichen ins Gemüt, es schien die Erde und das Leben die Gestalt zu verändern. Unter den Einflüssen einer so geistigen Religion konnte die an strenge Formen gebundene plastische Kunst nicht mehr gedeihen. Die Musik als die geistigste Dolmetscherin des Unaussprechlichen übertraf alle übrigen Künste; die Poesie wandelte sich, in die Unendlichkeit der Mystik versenkt. Die Malerei erfüllte die Bedürfnisse des Menschen nach religiöser Erhebung leichter als die Skulptur. Ungünstig wirkte auch die Veränderung der Verfassung, die Ausdehnung der Staaten, die Trennung der Stände, die veränderte Bildung, die erhöhte Bedeutung des häuslichen und inneren Lebens. Soll aber auch in der Gegenwart, — mit diesem Gedanken schließt Jacobs — etwas hervorgebracht werden, was durch innewohnenden Geist und äußere Vollendung auch kommende Geschlechter befriedigt, genügt es nicht „das Vollendete nachzuahmen; auch die Zeit behauptet ein Recht und der Charakter des Volkes. Jedes.Volk soll ohne Zweifel das sein, was es nach seiner ganzen Eigentümlichkeit am vollkommensten sein kann; die moderne Zeit kann nicht in das Altertum verfließen; noch können sich Deutsche zu Hellenen umwandeln,



153 —

aber jeder Zeit und jedem Volk kann das, was einst in Vollkommenheit war, als ein Spiegel dienen, in welchem es sich besser erkennt". So sollen auch alle, denen um tiefere Bildung zu tun ist, „in die Vergangenheit des Altertums schauen um dort den männlichen Geist zu erfassen, ohne den nichts Großes gedeiht, und um sich selbst zu erkennen durch den Gegensatz. Bilden sollen sie sich aus dem Altertum, aber nicht von ihm borgen, mit ihm in ernster Anstrengung wetteifern, nicht aber mühelos seine Schätze an sich reißen". Für die Schul- und Geistesgeschichte Bayerns endlich waren die Vorträge 1 ) von großer Bedeutung, die Jacobs dem Kronprinzen Ludwig über Hellas hielt. Denn in dem hochbegabten Fürstensohn weckte er das Verständnis für die Größe des griechischen Volkes und seiner Kultur. Er lehrte ihn aus der Betrachtung des organischen Zusammenhanges aller Teile ihrer Bildung ein Urteil über die Gründe zu gewinnen, welche die Hellenen zu einem der gebildetsten Völker aller Zeiten machten und sie befähigten, durch alle Jahrhunderte auf alle Kulturvölker zu wirken, Kunstsinn weckend und Geschmack bildend. Die letzte Mahnung, die Jacobs seinem fürstlichen Hörer einprägt, lautet: „Die wirkende Kraft des Großen und Schönen ist ewig, und es ist wohl kein schönerer Verein denkbar, als griechischer Großsinn in einem Gemüt mit dem Sinn des Christentums, Stolz mit Demut, Hoheit mit Liebe vermählt." Die Taten des Königs zeigten, welchen Eindruck solche Lehren hinterließen. In München kam Jacobs in eine ihm fremde Welt. Er fand den Unterschied des katholischen und protestantischen Deutschland weit größer als er in der Ferne geglaubt hatte. Die literarische Regsamkeit war im Verhältnis zum Norden schwach, das humanistische Studium sah er schwer darniederliegen, die Achtung dafür in der Wurzel angegriffen, doch in den jungen Gemütern lebte ein empfänglicher Sinn. Angesichts der Erregung des Parteigeistes durch einzelne Personen und der Animosität der „patriotischen" Bayern beschränkten sich die Berufenen größtenteils auf gegenseitigen Verkehr. Nach seiner Rückkehr nach Gotha erinnerte sich Jacobs vor allem mit Liebe an Friedrich Heinrich Jacobi2), „des Mannes von reichem Gemüt und reinem Herzen wie wenig andere". Was Plutarch von Plato erzählt, daß er beim Nahen seines Todes Gott gepriesen habe, daß sein Leben mit dem des Sokrates zusammengetroffen sei, wendet er auf sich an. „Ich preise W ü s t e m a n n , Hellas. S c h ü t z , Leben. Bd. i . S. 209. 5. März 1808 an Schütz. J a c o b s Verm. Sehr. Teil 6. 1837. Zerstreute Blätter. Vorrede. 2)



154 —

mein Los, das mich nach München geführt hat, als Jacobi dort lebte, um an ihm einen väterlichen Freund und in seinem Umgang zugleich Anregung und Beruhigung zu finden."1)

Eine wertvolle Unterstützung fand der Neuhumanismus in den Kreisen des höheren Beamtentums in Bayern, in Z e n t n e r , in dem Oberfinanzrat und späteren Präisidenten des protestantischen Oberkonsistoriums, K a r l J o h a n n F r i e d r i c h v o n R o t h s ) und in dem Generaldirektor der Finanzen H e i n r i c h v. S c h e n k , dem Vater des späteren Ministers für Unterricht und Kultus. Roth war durch seinen Vater, einen der berühmtesten Präzeptoren Württembergs, für das klassische Altertum gewonnen worden. Mit der Liebe zur Antike verband sich, nachdem die Sturm- und Drangperiode der Jugend und die Schwärmerei für Rousseau überwunden war, eine starke positiv-christliche Ueberzeugung. Ein Jahr nach Thierschs Ankunft in München wurde Roth durch v. Schenk, „einen der besten Männer jener Zeit, der wie kein anderer die würdigsten zu erkennen wußte",') als Oberfinanzrat nach München berufen. Noch während seines fränkischen Aufenthaltes hatte er die „Commentarii de bello borussico" veröffentlicht, eine Auseinandersetzung über die Geschichte des Zusammenbruches bei Jena und die Ursachen des inneren Verfalles der preußischen Monarchie. A l s Mitglied der Akademie hielt er eine Reihe von Vorträgen, die sein lebhaftes Interesse für die Antike bekunden und Verständnis für den Neuhumanismus erwecken sollten. Die vergleichenden Betrachtungen über Thukydides und Tacitus, schließen mit Bemerkungen, in denen wir ohne Zweifel den Niederschlag eigenen Erlebens sehen dürfen. „Die Schriftsteller, von welchen bisher gesprochen worden, kundbar unerreicht als Denker und Darsteller, rechtfertigen vornehmlich die Verehrung des klassischen Altertums, welche Bayern niemals fremd war, doch jetzt eigener als je zuvor wird. Wenn man bedenkt, einmal, was alles für Gegenwart und Zukunft, für die Ruhe und die Macht, für das Bestehen und das Blühen des Staates von einer gründlichen Bildung des gelehrten Standes abhängt, welchen alle, denen die Nichtigkeit des Wahnes allgemeiner Aufklärung dargetan ist, als den Pfleger der ganzen geistigen K r a f t des Volkes anerkennen müssen, sodann wie jene Werke der Alten, die ein gütiges Geschick auf uns gebracht, zwar nicht die einzigen, jedoch die sichersten, bewährtesten, am Über die Gründe von Jacobs Weggang s. Kap. V I . a)

Artikel von Bürger in R. E.

3)

T h i e r s c h , Roth.

Sp. 41.

Bd. 17.

S. 161 ff.

— 155 — allgemeinsten tüchtigen Bildungsmittel sind, verträglich mit allen Verfassungen, vereinbar mit allen Berufsarten, geschickt den ganzen Menschen zu ergreifen, aus Niedrigkeit, Verworrenheit und Tand zu Ernst, Klarheit und Selbstgefühl emporzuheben, so wird man keinen Zweifel hegen, daß den Gesetzen über den Unterricht in den gelehrten Schulen, der Auszeichnung jener Studien, welche das 16. Jahrhundert vor anderen verherrlicht haben, ein vorzüglicher Platz gebühre unter den Wohltaten der Regierung Max I. Joseph."

In München trat Roth besonders Jacobi nahe, der ihn wie einen Sohn liebgewann und in sein Haus aufnahm, und fand bei den dort verkehrenden Männern eine Genossenschaft, die seinem Geist und der Richtung seiner Studien entsprach; 1830 wurde er berufen an der Revision des Lehrplanes für die Mittelschulen mitzuwirken; auch als er seit 1848 seine kirchlich-administrative und seine politische Tätigkeit aufgegeben hatte, lebte er in München und Fürth zurückgezogen „treu der Liebe zu den klassischen Werken der griechischen und lateinischen Literatur, die sein ganzes Denken und Handeln durchdrungen hatte, und von ihm bis in seine letzten Tage als das sicherste, ja als das einzige Heilmittel contra ingruentem ingeniorum barbariem betrachtet und gepriesen wurde."1) Es entspricht der Vielseitigkeit dieses gelehrten Finanzbeamten, daß er eine Sammlung, Erläuterung und Ausgabe der Schriften Hamanns veranstaltete, wie er auch die Drucklegung der drei letzten von Jacobis Werken besorgte. Ueber seine historischen Arbeiten bemerkt Thiersch: „Sie spiegeln seine Grundsätze und Handlungsweise auf dem Gebiete der Literatur, der Kirche und der Politik. Welch eine Verklärung der Heroen menschlicher Tatkraft und Bildung in seinen Schilderungen des Thukydides, des Tacitus, des Arminius, welcher strafende Unwille über die leere Eitelkeit, die formlose Nichtigkeit und nutzlose Geschäftsmacherei der römisch-imperialistischen Verwaltungsform in der Schrift über Fronto!"

In seinen politischen Anschauungen stand er Thiersch nahe. Mit der ganzen' Kraft seiner starken Persönlichkeit, unbekümmert um alle Anfechtungen in aufgeregter Zeit verurteilte er den /Absolutismus, forderte er die Achtimg des Gesetzes von hoch und niedrig; Thiersch erläutert diese Stellungnahme mit einer Begründimg, die wir sicherlich auch auf ihn selbst anwenden dürfen. „Ein Pflegling der alten Weisen, Staatsmänner und Geschichtskundigen konnte er nicht ein Anhänger oder Verteidiger des Gesetzlosen oder des Absolutismus sein, den ein ihm an konservativer Gesinnung gleichstehender Mann auf öffentlicher Rednerbühne noch neulich nicht das Ziel, sondern den Bankerott des Staates und der Gesellschaft genannt hat." T h i e r s c h , Roth.

Sp. 42.

— 156 — Die Persönlichkeit Roths charakterisiert 1 ) Thiersch auf Grund eines über 40jährigen Verkehrs mit den Worten: „Roth ist allen, die mit ihm in amtlichen oder geselligen Verkehr kamen, als ein Mann von scharfem und durchdringendem Verstand, solider Bildung und fester Gesinnung bekannt, der dem Schatz des Großen und Edlen, welchen die Geschichte und die Werke unsterblicher Männer aller Zeiten enthalten, damit aber dem durch innere Gesundheit Festen und Achtbaren im Staat, im Leben und in der Bildung mit aufrichtiger Zuneigung anhing, dagegen alles Unklare, Kraftlose oder Verworrene und zumal das Unfähige, unter welchem Gewände es sich auch verhüllen mochte, mit entschiedener Verachtimg zu belegen und mit unbedingter Schärfe von sich fernzuhalten bedacht war." „Seine Schriften tragen sämtlich und bis in das Einzelnste dasselbe Gepräge. Sie sind klar, männlich, zum Teil neu in der Auffassung und bündig, kurz, geistvoll in Darstellung." Was Thiersch an sich selbst erlebt hat, findet er an Roth bestätigt, daß eine rein wissenschaftliche und ideale Pflege des Geistes die beste Befähigung für die praktischen Bedürfnisse des Amtes und Lebens gewährt und Praxis mit Wissenschaft als die natürliche Frucht derselben mit innerer Notwendigkeit verbunden ist. H e i n r i c h v. S c h e n k 2 ) griff zwar infolge seines Amtes im Finanzministerium in den Kampf des Neuhumanismus nicht direkt ein; aber seine hervorragende Stellung im Kreise Jacobis trug doch sicherlich dazu bei jene Bestrebungen zu unterstützen; tief veranlagt zu gelehrter Bildung, hatte er es trotz der ungünstigsten äußeren Verhältnisse in seiner Jugend bis zur Meisterschaft im Lateinischen und Französischen gebracht und sich in dem Hause Jacobis durch den Umgang mit den berühmtesten Männern der Zeit immer mehr vervollkommnet. Inmitten der anstrengendsten Berufsarbeiten in München waren ihm die Werke der Alten, seine erste Liebe, stets nahe; noch kurz vor seinem Tode las er mit größter Lust mehreres ihm wohl Bekannte wieder, besonders den Gorgias und den Staatsmann des Piaton. Die Akademie suchte er auf jede Weise zu fördern; obwohl er nie Schriftsteller war, war er ein echter Gelehrter; wie er die niedrige Denkungsart, welche das unmittelbar nützliche Wissen zum Nachteil der Wissenschaft begünstigt, von sich fern hielt, verwarf er gleich entschieden die für das Ansehen der Wissenschaften gefährliche Schwärmerei, die den Mangel an Kenntnis durch freies Denken zu ersetzen wähnt. Aufs glücklichste vereinigte 2

Ebenda. Sp. 43. ) Gedächtnisrede Roths, 10. Juni 1 8 1 3 „ Z u m Andenken Heinrich Schenks".



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er gelehrte Bildung und Tüchtigkeit im Staatsdienst und zeigte durch sein Beispiel, wie durch jene das Berufsgeschäft von dem Handwerksmäßigen, das ihm leicht anhaftet, rein gehalten und zu einer edlen Kunst erhoben werden könne und auch der größte Drang vielfacher, oft kleinlicher und schwächere Köpfe ganz abnützender Geschäfte, von einem wohlerzogenen Geist, wenn er sich nur unablässig weiterbildet, ohne allen Schaden für den Adel seiner Natur bestanden werden möge.1)

Neben den Vertretern der Aufklärung und des Neuhumanismus saßen in der Akademie auch entschiedene Förderer der damals mächtig aufblühenden germanistischen Wissenschaft, Schmeller, Scherer und Docen. Besonders zu Schmeller, seinem Altersgenossen, trat Thiersch in nahe persönliche Berührung. Der Nachruf,2) den er seinem Freunde hielt, zeigt in schlagender Weise, wie töricht der bis heute noch nicht verstummte Vorwurf ist: Thiersch sei ein so einseitiger Philologe gewesen, daß er die Muttersprache nicht genügend würdigte. Die Darstellung der Persönlichkeit und das Urteil über, die einzelnen Schriften Schmellers beweisen vielmehr, mit welchem Interesse und Verständnis Thiersch dessen Lebenswerk verfolgte. Hier begegnete ihm nämlich ein Mann von ausgesprochenster pädagogischer Begabung und feinstem Verständnis für das Wesen der Sprache, der mit einem der bedeutendsten Reformer des Erziehungswesens, mit Pestalozzi, in persönliche Beziehung getreten war und in dessen Sinne arbeitete. Schmeller lieferte für Thierschs Werk über gelehrte Schulen3) eine gedankenvolle Abhandlung „Ueber das Studium der deutschen Sprache auf Schulen", die weitgehende Uebereinstimmung zwischen ihren Grundanschauungen beweist. S c h m e l l e r war ein geborener Oberpfälzer, der — so charakterisiert ihn Thiersch — „mit allen Fasern seines Geistes und Herzens in seinem Volke gehaftet, es verstanden und geliebt und als Träger seiner Kraft und Art, als Dolmetsch seiner Sprache und seiner Gebräuche Ruhm und Ehre gefunden hat." Nach einer schweren Jugend in Scheyern und Ingolstadt kam er, als die Aufklärung in München in voller Blüte stand, an das dortige Lyzeum. „Hier (in München)" — heißt es in seinen' autobiographischen Aufzeichnungen — „wehte, anfangs weniger in der Schule selbst, als im Ganzen der Umgebungen, ein anderer Geist. Auch die Gegenwart französischer Krieger unter Moreaus siega. a. O. S. 32. ) T h i e r s c h , Schmeller. *) Bd. I. S. 468ff. 2



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reicher Führung war nicht ohne Einfluß auf das aufwachsende, im Vergleichen scharfsinnige Geschlecht. Die alten Ideale zergingen im Licht des freien Gedankens. Neue von ganz entgegengesetzter Art gingen auf, die Schmeller, als er im Jahre 1803 bei dem überaus praktischen Imhof Physik und Chemie, bei Weiller, dem Mann ohne Furcht und Tadel, Philosophie und Pädagogik gehört hatte, mit keinem der Berufe, unter denen nun herkömmlichermaßen zu wählen war, vereinbar fand. Vertreter werden von Satzungen und Rechten, für die er nicht mit Leib und Seele einzustehen vermöchte, schien ihm gegen die erste und letzte aller Tugenden, die Wahrhaftigkeit zu sein." 1 )

Schon in jungen Jahren vor die schwierige Frage der Berufswahl gestellt, schwankte er, bis die Grundneigung ihn zur Jugendbildung trieb. „Die Neigung für das Organ aller menschlichen Bildung, die Sprache in ihrer lautersten und beseeltesten Gestalt, ihre Erforschung, ihr Gebrauch schien ihm in jenem Lebensberuf Befriedigung zu finden." Gerade als er die Abhandlung: „Ueber die naturgemäßste Art, Kinder, die eine von der Schriftsprache abweichende Mundart reden, im Schreiben und Lesen zu unterweisen", schrieb, aber keinen Verleger fand( erregte Pestalozzi durch die Grundsätze einer naturgemäßen Erziehung und Unterweisung der Jugend ungewöhnliches Aufsehen. Schmeller wanderte in die Schweiz. „Es war" — wie Thiersch ausführt — „als ob seine eigenen Erfahrungen und Wünsche ihm in der Lebensfrische und Gemütsfülle des dem Volk unmittelbar zugewendeten Schweizer Pädagogen entgegenträten." 2 ) Zunächst keine Möglichkeit findend bei diesem beschäftigt zu werden, ließ sich der Neunzehnjährige für das Solothurner Regiment nach Spanien anwerben. In Tarragona unterrichtete er die in seinem Bataillon vereinigten Patriziersöhne aus der Schweiz nach Pestalozzis Art und konnte, nachdem er die Freundschaft seines Hauptmannes gewonnen hatte, in Madrid eine Schule nach den Grundsätzen des Schweizer Reformers einrichten; sie war zunächst für Offizierssöhne bestimmt; bald aber erzielte Schmeller solche Erfolge, daß aus allen Teilen der Monarchie Schullehrer, Professoren, Geistliche, Beamte und Offiziere kamen, die neue Lehrart kennen zu lernen. Die Revolution vernichtete das hoffnungsvolle Werk. Schmeller ging nach der Schweiz, besuchte in Yverdun Pestalozzi und gründete mit Hopf zu Basel eine rasch aufblühende Anstalt, in der das Hauptgewicht auf eine möglichst naturgemäße Entwicklung der jugendlichen Kräfte und der Selbsttätigkeit des Denkvermögens der Zöglinge gelegt wurde. Bei dem „sauren Geschäft des Schulmeisters" erkannte Schmeller seine eigentliche Bestimmung, sein ausgesprochenes Talent für Sprach2)

F ö h r i n g e r , Schmeller. S. 8/9. T h i e r s c h , Schmeller. 2. Spalte S. 18.

— 159 — forschung; daher benützte er jede freie Zeit zu den umfassendsten Studien der deutschen Sprache, ihrer Bildungsgesetze und ihres Zusammenhanges mit den übrigen Sprachen. Von diesem Mittelpunkt seiner geistigen Beschäftigung aus pflegte er auch Geschichtsforschung und Dichtkunst. Da erscholl 1813 aus Bayern der Ruf des Königs an die „Söhne des Vaterlandes" und ohne Rücksicht auf seine gesicherte Stellung wanderte Schmeller nach München. In dem Schreiben1) an den bayerischen Gesandten, worin er um seinen Paß bittet, finden wir überaus charakteristische Aeußerungen für das tiefe Vaterlandsgefühl des jugendlichen Forschers. In der Fremde, unter Spaniern und Franzosen, hatte er alle Lande, wo deutsch gedacht und gesprochen wird, als Vaterland umfassen und mit seltener Sehnsucht lieben gelernt. „Schon seit längerer Zeit hatt' ich mich dem Studium unseres mächtigsten Nationalbandes, unserer Muttersprache, gewidmet, in der Absicht, durch eine eigene Bearbeitung derselben zum Behuf des Jugendunterrichtes für unsern jungen Nachwuchs neuen Stoff zur Erweckung und Befestigung eines deutschen Nationalsinns zu bereiten, fest überzeugt, daß aus einer Nation ohne Nationalsinn so wenig als aus einem Menschen ohne Ehrgefühl etwas werden könne und daß ein allem Fremden hingegebenes, nach fremden Sitten und in fremder Sprache regiertes Volk bei aller ursprünglichen Bravheit und Biederkeit niemals gesichert sei, nach und nach in Juden und Neugriechen auszuarten." In Bayerns Hauptstadt traf er auf wohlbekanntem Grund eine neue Gesellschaft, neue Verhältnisse, neue Freunde. Die Eindrücke, die er in einer Audienz beim Kronprinzen empfing, als sie in seinem innersten Gemach auf- und abgehend sich unterhielten, schildert Schmeller in einem Brief an seinen treuen Hopf :2) „Fürwahr ein deutscher Mann ist der Fürstensohn; mir war um ihn wie um einen Jugendfreund." Schon am folgenden Tag erhielt er eine Anstellung als Oberleutnant im freiwilligen Jägerkorps des Illerkreises; zugleich wünschte Ludwig seine Gedichte, die er wegen ihrer deutschen Gesinnung schätzte. Kaum war Schmeller in seinem Garnisonsort Kempten angelangt, da schien mit dem Einzug der Verbündeten in Paris der Friede in naher Aussicht zu stehen; doch die Rückkehr Napoleons machte noch einen schweren Waffengang notwendig. Die Zwischenzeit benützte Schmeller zur Abfassung seiner ersten Schrift: „Soll es eine allgemeine europäische Verhandlungssprache geben?" !) Schriften zum U n i v e r s i t ä t s j u b i l ä u m Münchens. lationsschreiben Berns. S. 8/9. a

) Ebenda Brief an Samuel Hopf, 6. Januar 1814.

S. 9.

1872.

Nr. 27.

Gratu-



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Thiersch schätzte sie hoch ein; denn er fand darin Schmellers durch die großen Begebenheiten erhöhtes nationales Selbstbewußtsein. Die Abhandlung enthält außerdem nach seinem Urteil über den Geist der einzelnen Sprachen, besonders aber über Natur und Wert der deutschen, so viel Neues und gründlich Ausgeführtes, daß man sie als die Vorläuferin jenes großen Systems neuer Ideen und Forschungen betrachten kann, das seitdem unter dem Namen der germanischen Philologie bekannt geworden ist.1) Unter dem gewaltigen Eindruck stehend, den der Zusammenbruch der Napoleonischen Herrschaft auf tiefer Blickende ausübte, sieht Schmeller2) in diesem Ereignis, dessen Gelingen nur dadurch ermöglicht wurde, daß „alle sich verzweiflungsvoll erhoben und mit vereinter Kraft den drohenden einen Herrn, die drohende eine Sprache abwendeten", den Beweis erbracht für die Wahrheit des Satzes: „Die Weltherrschaft ist das Grab der Menschheit." ,,Zur gedankenlosen, auf kümmerliche oder auch auf fette Weide geführten Herde kann und darf die Menschheit nimmer werden." Von diesem Grundgedanken ausgehend betont Schmeller, daß Vollendung, Einheit —• Tod, nur das Ringen darnach Leben ist, und sieht den Beweis in der ganzen Natur und der bisherigen Lebensgeschichte der Menschheit. Er verfolgt das Entstehen der Völker in Jahrhundert- und jahrtausendlanger Entwicklung zur geschlossenen Eigenart. Als die auffallendste Eigenheit eines Volkes erkennt er seine Sprache3), „das von Geschlecht zu Geschlecht fortgeführte Selbstbewußtsein eines Volkes"; „nur durch sie dauert ein Volk als Volk". Die Geschichte der Völker ist auch die Geschichte ihrer Sprache. Mit Grauen gedenkt er der Möglichkeit, daß durch Roms rücksichtslose Vergewaltigung der Sprachen der Unterworfenen auch das Germanische und Slavische vernichtet worden wäre, und der furchtbaren damit verbundenen Folgen, der trägen Kurzsichtigkeit und des dummen Selbstbehagens. Zur gerechten Vergeltung für Roms frevlerisches Eingreifen in den Gang der Natur gelang es ihm nicht, Italien, Gallien, Spanien, Britannien die reine Sprache Latiums einzuimpfen und diese selbst ging zu Grund. Von den fünf ursprünglichen Schwestersprachen erhielt sich in frischer ununterbrochener Kraft nur noch die germanische und die slavische. Wirklich beherrschen kann jeder nur eine Sprache, seine Muttersprache; durch den Gebrauch des Lateins waren alle Nationen Europas in gleichem Maße unmündig; als das Französische mit dem Anspruch hervortrat allgemeine Verhandlungssprache zu werden, begaben sich die übrigen Nationen in neue Vormundschaft, da sie so wenig reif und selbständig waren ihrerseits das Gleiche zu tun. Mit Bitterkeit betont Schmeller die schwächliche Nachgiebigkeit des politisch zerstückelten Deutschlands; die Fürsten, Staatsmänner und Gelehrten bemühten sich nicht nur das Französische zu verstehen, sie gebrauchten es sogar. Voll stolzen Selbstbewußtseins fordert er, daß nach Napoleons Sturz auch die übrigen Nationen die volle Gleichberechtigung erlangen. „Zu einem Gleichgewicht der Staaten in Europa gehört auch eine gleiche Würdigung der Sprachen dieser Staaten." 4 ) Die vier Hauptsprachen Europas sollen daher künftig gleich geachtet sein. T h i e r s c h , Schmeller. H. A. S c h m e l l e r , Soll es eine allgemeine europäische Verhandlungssprache geben? Kempten 1815. 8 ) Ebenda. S. 6, *) Ebenda. S. 29.! 2)



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Von ihnen soll aber einer nur seiner Muttersprache Meister werden; die übrigen braucht er nur verstehen zu lernen. So kommt Schmeller zu dem Schluß: „ S o wie keine Weltherrschaft, auch keine Weltsprache", und er hofft, daß die endliche Mündigkeit Europas in seinen zahlreichsten und wichtigsten Nationen von den Wiener Kongreßteilnehmern feierlichst erklärt werde, indem „ f ü r jetzt wenigstens die amtliche Verkündigungssprache" ihrer Beschlüsse nicht bloß französisch, sondern auch englisch, deutsch und russisch sei". — In einem Bruderbund sollen Europas Völker sich kennen und schätzen lernen. Die Bedeutung des Deutschen als der germanischen Hauptsprache erörternd, gedenkt Schmeller des zu hoher Ausbildung und Feinheit gediehenen altschwäbischen Dialektes, verfolgt die Sprachentwicklung über das Oberdeutsche und Obersächsische zur allgemeinen Schriftsprache; durch eigene Kraft erhielt sich das Deutsche trotz fremder Gängelung, und der schwerlastenden Hintansetzung eines großen Königs bis Geliert und Rabener, keiner anderen von Europa weichend. Sie ist eine Stammsprache.

Neben jener Erstlingsschrift besitzen wir aus dem Winter noch Aufzeichnungen, die nach Thierschs Meinung1) zu den bedeutendsten und belehrendsten der biographischen Verlassenschaft gehören. Das Jahr 1813 erscheint Schmeller2) als „die wichtigste Zeit seit Jahrhunderten für der Menschheit höchstes Hoffen und Werden! Jetzt Deutschland oder nimmer mehr!" Aufs tiefste hatte ihn schon in der Schweiz die Kunde von Moskau erregt. „Laßt nur den deutschen Geist nicht untergehen, die deutschen Fäuste sind hoffentlich noch immer die alten — und der deutsche Geist wird durch deutsche Federn wach erhalten und geweckt," so schrieb er im August 1812. Der Aufruf des Königs Friedrich Wilhelm III. und die Erhebung Preußens begeisterte ihn zur Abfassung des Sturmliedes. Am 4. Oktober 1812 entstand das Gedicht:3) O Vaterland, mein Vaterland, wie lieb ich dich! In Tarragonas ew'gem Sonnenschein Wie oft, du winterliches, dacht' ich dein!

Mit bitterem Schmerz gedenkt er des Bruderzwistes der deutschen Stämme, Hamburg in fremden Händen! „Dein Straßburg welscher Sitte fröhnt, Der Deutschen Stolz einst, ach, wie schmerzt es mich!"

Im „Deutschen Lied" zieht er die Grenzen des Vaterlandes weit: „ E s reicht des Deutschen Vaterland So weit man deutsch empfindet, denkt und spricht, Was Gatt durch Sinn und Wort verband, Das trennet des Erobrers Machtspruch nicht!" x

) S c h m e l l e r . S. 22. ) G. M. T h o m a s , Denkblätter an Andreas Schmeller in Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger. 1885. 24. und 26. Juli. 3 ) Münchner Universitätsjubiläum, 1872. Nr. 27. S. 5. Loewe, Friedr.Thiersch. II 2



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Doch deutsches Blut soll nicht für leeren Kriegsruhm fließen. „ E s seien andre groß durch Kampf und Streit, Wir Deutsche seien groß — durch Menschlichkeit."

„Ein Fluß darf keine Grenzscheide sein" — so lesen wir am 5. Mai 1813. „Der Rhein rechts und links muß deutsch sein." Es ist der Kampfruf, der dann in Arndts Flugschrift: „Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze" so beredten Ausdruck fand. Mit bangem Schmerz erlebt er die Niederlage von Großgörschen; die Tage von Leipzig bringen auch ihm Erlösung: am Sonntag, den 14. November 1813 trägt er in sein Tagebuch ein: „Gekommen sind sie, Deutschlands schönste Tage, Die Tage der Erlösung sind gekommen: Frei atmet unsre Brust, so lang beklommen, In Jubel löst sich die verjährte Klage.

In jenem ernsten Jahr schreibt er die Betrachtungen nieder: „Eigentümlichkeiten der deutschen Geschichte", und „Was die Deutschen für die Menschheit getan". Voll Stolz preist er sein Volk als das älteste, größte, noch lebende Urvolk von Europa, unbezwungen, mit geretteter Ursprünglichkeit in Sitten und seiner lebendigen Sprache, die von allen anderen lebenden weniger hat als sie von ihr haben. „Die deutsche Geschichte hat einen ununterbrochenen Zusammenhang, der nirgends weniger durch einfallende Zwischenzeiten gestört wird." „Hier war ein Weltstaatsverein im kleinen, wo jede kleine Volkstümlichkeit geachtet wurde und jede eigene Selbstgesetzgebung und Selbstregierung." So mischt sich starkes nationales Empfinden mit kosmopolitischen Ideen. Fichtesche Gedanken klingen an. Die Entscheidung bei Waterloo am 18. Juni fiel, während die bayerischen Freiwilligen über Heidelberg nach der Pfalz gegen Luneville vorrückten. So wurde für den gelehrten Oberleutnant der Feldzug „mehr zu einer bewaffneten Lustfahrt in der ehrenvollsten Umgebung und für den herrlichsten, erhebendsten Zweck."1) Die Briefe2) an Hopf spiegeln die Eindrücke aufs lebendigste wider. Mit unaussprechlichen Gefühlen betritt er das linke Rheinufer, voll Genugtuung stellt er fest, daß die sechzehnjährige französische Herrschaft dem gemeinen Mann nur wenig von seiner kernigen Deutschheit nahm. Mit einem Tacitus und Homer, den Dialekt des Landes studierend und auf andere Hilfsmittel gestützt arbeitet er an seinem weiteren Lebensplan. Der 2

F ö h r i n g e r , Schmeller. S. 18. ) Münchner Universitätsjubiläum.

a.a.O.

S. 1 1 ff.

— 163 — Sieg Blüchers und Wellingtons ermöglicht den Marsch nach Paris, Schmeller hofft, — da begegnen sich seine Wünsche mit denen Gneisenaus, Blüchers und anderer Patrioten — „diesmal wird denn doch das deutsche Elsaß und Lothringen wieder an die Mutter Nation zurückgegeben werden, wenn der zuckersüße Alexander nicht wieder im Honig kleben bleibt". Fünf Tage bringt er in Paris zu, in „dem chaotischen Gewirr und Gewoge dieser Weltstadt." Der Friede preßt ihm die bittere Bemerkung ab: „Statt durch das Abreißen einer schützenden Grenzprovinz ist Englands Vorschlag genehmigt Frankreich durch Kantonierung und Kontributionen zu schwächen. Ich wäre des Schwächengeschäftes satt." Nach München kehrte er zurück im Vorgefühl, daß seiner eine große nationale Aufgabe warte. Zwei Männer vertraten damals in der Akademie das deutsche Studium, Bibliothekar Scherer und Kustos Docen. J o s e p h v o n S c h e r e r 1 ) hatte eine merkwürdige Ausbildung genossen. Nachdem er in Heidelberg als Jurist studiert hatte, unternahm er Reisen durch Oesterreich und Ungarn, beschäftigte sich in Konstantinopel mit orientalischen Sprachen und durchwanderte dann drei Jahre lang Kleinasien und die nördliche Provinz von Persien, bis er über Aleppo und Jerusalem nach Europa zurückkehrte. In München kaufte er eine Buchhandlung; doch fehlten Fonds und kaufmännischer Sinn. Eine günstigere Wendung nahm sein Geschick erst, als ihm Aretin eine Stelle als Unterbibliothekar an der Hof- und Staatsbibliothek verschaffte. Später zum Mitglied der Akademie und Direktor der Bibliothek ernannt, führte er im Verein mit anderen ihre Neuordnung und Einrichtung durch. E r starb in einem Irrenhaus bei Wien. Neben dem Welt- und Lebemann wohnte in ihm ein anderer, dessen er sich fast eher schämte als rühmte! Schmeller schätzte diesen an ihm und Scherer faßte so großes Vertrauen zu seinem Freund, daß er ihm seinen gesamten literarischen Nachlaß vermachte. Zahlreiche Pläne hatten ihn beschäftigt; weit fortgeschritten waren die Vorarbeiten für eine Heliandausgabe; eingehende Studien hatte er über Ulrich von Hutten und Firdusis Schah-Nameh gemacht. 1813 hielt er in einem kleinen Freundeskreis Kurse im Persischen; unter den Teilnehmern waren Schelling und Thiersch. Nur wenige Arbeiten hat er wirklich vollendet, so sieben Abhandlungen über Sprache und Schrift, worin ihn vor allem die physiologischen Gesetze des Sprechens und das Problem x ) S c h m e l l e r , Nachruf auf Jos. v. Scherer in Gel. Anzeigen der Akademie der Wissenschaften. 1842. Nr. 8o, 81, 82, 83.

TI*

— 164 — der Ur- und Stammsprache interessierte. In der Zeitschrift „Aurora", die er begründete, veröffentlichte er Teile seiner orientalischen Reise. In Göttingen zunächst Medizin studierend, wandte sich der Kustos D o c e n , 1 ) seinen künstlerischen Neigungen folgend, der Archäologie und Literatur zu; eifrig zeichnete er und war, von Heyne hochgeschätzt, bald ein unermüdlicher Besucher der Bibliothek. Nach kurzem Aufenthalt in Jena erwachte in Nürnberg, der Stadt Dürers, und in Altdorf seine Vorliebe für ältere deutsche Literatur — es erging ihm wie zahlreichen Romantikern. Mit dem Vorstand der Münchener Hofbibliothek kam er in wissenschaftliche Verbindung. Er siedelte nach München über, lebte sich aber erst ein, als sich der Gallerieinspektor Dillis und Aretin seiner annahmen. Seit 1804 arbeitete er regelmäßig auf der Bibliothek an den Handschriften, später (1812) wurde er Mitglied der Akademie. Gerade die schweren Ereignisse des 19. Jahrhunderts richteten seinen Blick auf den Wert der deutschen Sprache und ihrer Erzeugnisse. Bald nach seinem Eintreffen veröffentlichte er zwei Bände Miszellaneen zur Geschichte der deutschen Literatur, die neu aufgefundene Denkmäler der Sprache, Poesie und Philosophie unserer Vorfahren enthielten; in zahlreichen periodischen Zeitschriften ließ er kleinere Schriften im Druck erscheinen. Der 1819 in Frankfurt gestifteten Gesellschaft für Deutschlands ältere deutsche Geschichtskunde, die um die Aufhellung der deutschen Vergangenheit große Verdienste hat, gehörte er ale korrespondierendes Mitglied an. 1814 erschien in den Abhandlungen der Akademie seine Untersuchung über die Ursachen der Fortdauer der lateinischen Sprache seit dem Untergang des abendländischen Reiches. Besonders liebte er die bildende Kunst, er zeichnete und schrieb Kunstkritiken; er war auch einer der Stifter des Münchener Kunstvereins, zu dessen ersten Mitgliedern Thiersch gehörte. Ueber einer Sammlung aller deutschen Glossen der Münchener Bibliothek und älterer deutscher Volkslieder und bei der Abfassung eines Wörterbuchs der älteren deutschen Sprache überraschte ihn der Tod. Die Arbeiten Scherers und Docens umfaßten neben den schriftlichen Urkunden auch das Altertümliche und Volkstümliche der Dialekte. Sie schlössen sich dadurch jenen Bestrebungen an, welche schon früher in Bayern von Zaupzer, Westenrieder und anderen patriotisch gesinnten Vertretern gepflegt worden waren, und trafen mit Schmellers Richtung in mehreren Punkten zusammen. Kronprinz Ludwig erkannte die nationale Bedeutung dieser Untersuchungen und !) S c h m e l l e r , Erinnerung an Bernhard Jos. Docen in Inland. 1829, 20. April. Nr. 110, i n , 112.

— 165 — beauftragte die Akademie ihm einen Mann zu nennen, der die in Bayern gesprochenen Mundarten zum Gegenstand gründlicher Erforschung und Behandlung zu machen imstande wäre. Darauf wurde Schmeller, der Schlichtegroll, Scherer und Docen kennengelernt hatte, in die Akademie berufen. Durch die Vermittlung des Kronprinzen wurde er Lehrer am Kadettenkorps und erhielt den Auftrag ein Werk über die in Bayern gesprochenen Mundarten zu schreiben. Er konnte das Land nach allen Richtungen bereisen, jahrelang seine Ergebnisse durch planmäßige Vernehmung der jungen Rekruten ergänzen; in der Staatsbibliothek fand er für die älteren Entwicklungsepochen der Sprache überreiche Schätze; bald gesellten sich ihm Helfer im ganzen Königreich. Zudem erschienen gerade damals die grundlegenden Werke, das Konjugationssystem von Franz Bopp, die erste Grundlage für die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprache, Karl Lachmanns Untersuchungen über das Nibelungenlied, der Anfang der späteren Sagenkritik, der erste Teil von Jakob Grimms deutscher Grammatik und die beiden ersten Bände von Konrad Leopold Schneiders lateinischer Grammatik; kurz zuvor legte Dobrowsky durch seine „Institutiones linguae Slavicae" den Grund zur slawischen Philologie. In einer Sitzung der philosophisch-philologischen Klasse der Akademie hielt Schmeller (1816) einen Vortrag über die Vorbereitungen zur Schaffung eines bayerischen Idiotikums. Von einer Kommission, die aus Scherer, Docen und Schelling bestand, unterstützt, gelang es ihm in unermüdlicher Arbeit, sein Buch über die Mundarten Bayerns und nach 20 Jahren sein epochemachendes Werk „Das bayerische Wörterbuch" herzustellen. Thiersch faßt sein Urteil über diese literarische Tätigkeit in den Worten zusammen: „Beide Werke — die Grammatik und das Idiotikon — zeigen, daß die Sprache des Volkes als das, was sie ist, als ein organisches, lebensvolles Ganzes und die Eigentümlichkeiten ihrer Mundarten, nach Ausscheidung der zufälligen oder verunstalteten, als der Ausdruck seiner Art und Sitten ihm deutlich geworden war. Beide erheben sich darum über den grammatischen und lexikalischen Bereich zu einem wahren Schatz fortgehender Sacherklärungen wie zu einem Spiegel echt altertümlichen Gebrauches, der sich trotz vieler Jahrhunderte dem Wesen nach frisch und kräftig erhalten hat."1) Eine Ergänzung dieser Forschungen bildeten Schmellers Untersuchungen über die Sprache der in den südlichen Alpen lebenden Thieisch Schmeller S. 29.



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deutschen Gemeinden. In seinem Nachlaß fand sich ein vortreffliches althochdeutsches Wörterbuch. Ferner verdankt ihm die Wissenschaft die Ausgaben des Heliand und des Muspilli und eine Abhandlung über die alliterierende Poesie, Werke, von denen Thiersch rühmt: „Konjekturen erlaubt er sich sehr selten, und wenn er sie wagt, sind sie klassisch." „Ihm war die Sprache als die tiefste Offenbarung, als der Ausdruck göttlichen Wesens und Webens im menschlichen Geist heilig wie sein Beruf, dieses Wirken, dieses Gestalten der in ihr vorwaltenden übersinnlichen Kraft nach seinen Ausstrahlungen unter den Völkern, ihren Stämmen und Zeitaltern zu verfolgen und zur Uebereinstimmung und Erkenntnis, dadurch aber zur Anerkennung zu bringen. Sein reges Wirken fällt darum mit dem Geist und der Gestaltung der neuen Philologie zusammen, welche, was er und Jakob Grimm unter vielfacher Beteiligung würdiger Genossen bezüglich des deutschen Sprach- und Völkerstammes unternahmen, auf den anderen Sprach- und Völkergebieten zu leisten unternommen hat. Schon ist dadurch der innere Zusammenhang der Sprachen, die man früher isoliert und sich fremd betrachtete, die Entfaltung der einen aus der andern nach unwandelbaren Gesetzen und die tiefere Erkenntnis jeder einzelnen, zugleich aber auch im Verband der Völker, inniger als ihn die Bruchstücke der Geschichte lehrten und gleichsam die Genesis der Geschichte vor unseren Augen erschlossen." Mit Rührung gedenkt Thiersch des tiefen Gemütes. „Noch glauben wir ihn unter uns zu sehen, den Mann von schlichtem Wesen, edlen, fast vergeisteten Zügen, in denen sich ein Inneres abspiegelte, das den oft harten Kampf des Lebens bestanden und sich zu höherer Sittlichkeit und Güte verklärt hatte. Wer hat je von ihm ein Wort, ein Begehren, ein Urteil gehört, wenn er, der meist Schweigsame und in sich selbst Befriedigte, zur Mitteilung bewogen wurde, das jenen Adel der Seele und Gesinnung verleugnet hätte?" 1 ) Mit herzlicher Zustimmung führt er die ehrenden Worte Jakob Grimms an: „Darin sind wir einig, daß Bayern keinen besseren deutschen Mann aufzuweisen hatte als diesen edlen, liebenswürdigen, bescheidenen Schmeller, der alles, was er geworden ist, seiner rein angelegten und rein gebliebenen inneren Natur verdankte. Seinen Wert wird das Land nun, da er fort ist, besser zu erkennen und noch höher zu achten anfangen. Sein bayerisches Wörterbuch wird für immer als ein unerreichbares Muster dastehen, wie sich Sprach- und Sachkenntnis lebendig durchdringen soll." !) T h i e r s c h , Schmeller.

S. 39-



167 —

Großes Interesse hatte Schmeller auch für Erziehungsfragen. 1 ) Als grundlegendes Mittel zur Weckung des patriotischen Sinnes der Jugend betrachtet er die körperlichen Übungen; denn sie verleihen Mut, Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein; dazu soll sich Fertigkeit im Landbau und Handwerk gesellen, zumal dadurch der Sinn für das Naheliegende und Heimische belebt wird. Damit Zerstreuung vermieden werde, muß die Erziehung vom Heimischen ausgehen; das Kind soll erst seine Umgebung kennen lernen; es gilt erst das H e i m i s c h e vor allem kennen und lieben lernen; das Seinige muß er für das Schönste und Beste halten; denn nur Selbstgefühl bringt vorwärts". Geschichte des eigenen Vaterlandes weckt und nährt den nationalen Sinn. In der deutschen Sprache liegt ein Hauptmittel die deutsche Jugend zu erwärmen und zu begeistern. Sie allein vermag auch schon den kindlichen Geist mit Sachen zu beschäftigen, durch fremde Sprachen wird die frühe Jugend nicht selten zu leeren Wortmachern abgerichtet. Deshalb muß die deutsche Sprache ein Hauptgegenstand des Unterrichtes sein. Die Muttersprache ist das heiligste, unzertrennlichste Eigentum. Die zartesten Rücksichten erfordert sie. In der seinigen muß der Deutsche Meister sein; die übrigen braucht er nur verstehen zu lernen. Der innere geistige Wert eines Volkes wie eines einzelnen Menschen ist nur an seiner Sprache ermeßbar. Planmäßig soll das Gefühl für die Muttersprache gepflegt werden. Zur Erreichung dieses Zweckes empfiehlt Schmeller die Einführung der Jugend in die Volksmundarten und Lektüre von deutschen Sprachdenkmälern aller Zeiten. Zur Bildung der Urteilskraft trägt bei, wenn der Zögling lernt Wortstoff und Wortform zu unterscheiden, wenn er die Lautveränderung und Lautverschiebung studiert. Es gilt „ein allmähliches Anschauen all der Fülle ihres Stoffes in neueren und älteren Mundarten, ein freies Aufsuchen und Vergleichen ihrer verschiedenen Formen, das ununterbrochene Sichten des Wesentlichen und Bleibenden vom Zufälligen und das selbsttätige Auffinden ihrer Gesetze und Regeln". Ein Hauptmittel zur Erweckung des vaterländischen Sinnes liegt in der historischen Betrachtung der Sprachgesetze, wie auch in dem Studium der Denkmäler. Wenn so der Mehrheit unseres Volkes das Bewußtsein des eigentlichen Lebens und der wahren Würde unserer Geschichte, unserer Sprache, unserer Literatur klar geworden, dann wird die geistige Einheit unseres Volkes geschaffen sein und die Liebe zu Volk und Vaterland müßte von neuem geboren werden. Germanistik und Neuhumanismus standen sich damals nicht,

wie

es heute vielfach der Fall ist, als feindliche Brüder gegenüber, sondern förderten einander.

Da

zudem

gerade

unter den Männern,

welche

Montgelas' Regierung nach München zog, die bedeutendsten Vorkämpfer der Altertumsstudien waren und die neue Richtung mit den lebendigen Kräften der

Zeit, dem deutschen

Idealismus, in Verbindung

trat, so

konnte eine Auswirkung 2 ) auch auf dem Gebiete des höheren Schulwesens nicht ausbleiben. Als die Augsburger Schulen und Studienanstalten neu geordnet werden sollten, hielt die Regierung den Zeitpunkt für gekommen eine Revision des Wismayerschen !) Johannes N i c k l a s , „Schmellers Gedanken über das vaterländische Moment in Erziehung und Unterricht". Ein Beitrag zu Schmellers Säkularfeier in ,,Blätter für das Bayrische Gymnasialschulwesen". 1885. S. 356ff. 2) L o e w e , Schulkampf. S. 38ff.

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Lehrplanes, in dem die Aufklärung eine zu späte Blüte getrieben hatte, anzukündigen. „ E s zeigte sich" — so heißt es in der Beurteilung desselben — „unverkennbar, daß in dem bisherigen Schulplan der zu erziehende Mensch allzu generell und in einem viel zu idealisierten Bild genommen war." „Man glaubte, daß das Volk gehoben würde, indem die Schüler des Volkes mit den anderen Lehrlingen zusammen unterrichtet würden. Die Erfahrung und die höhere Beobachtung der nicht idealisierten Wirklichkeit lehrt, daß das Volk eines solchen Gehobenwerdens nicht fähig ist und unter dem Druck der Zeit, der Verfassung, der Dürftigkeit auch so leicht nicht fähig werden kann." Infolgedessen ordnete die Regierung an, daß die allgemeine Volksschule, deren Anforderungen nicht überspannt werden dürfen, künftighin nicht mehr eine Elementarschule im Sinn des Wismayrschen Lehrplanes sein sollte. Für die Lehrerseminare, wo „die Schuldienstkandidaten mit einer Menge von Lehrgegenständen überladen und dadurch bei ihrer Unvermögenheit und zugleich bei dem Mangel an Zeit zur gehörigen Verdauung nur noch untauglicher geworden", wurde ein neuer Lehrplan in Aussicht gestellt. Neben die allgemeinen Volksschulen sollen dann die Bürgerschulen treten, in deren Lehrplan kein Gegenstand aufgenommen werden darf, der bloß als Vorbereitung für eine höhere Schule gilt. „Das Gymnasium ist als eine ganz eigene Art von Lehranstalt wieder herzustellen; die Verwandlung der Gymnasien in höhere Bürgerbildungsanstalten konnte nicht anders als nachteilig für die Nationalbildung wirken. Es soll seine eigenen Elementarschulen bekommen. Da sein Unterrichtsziel der Eintritt zum akademischen Studium ist, so werden die Lyzeen, welche das akademische Studium vertreten, aufgehoben; nur in einigen Orten können solche als Lehranstalten des allgemeinen oder philosophischen Studiums erhalten bleiben. Für die Gymnasien ist ein eigenes Lehrinstitut einzurichten, wo die Kandidaten die Theorien der humanistischen Praxis kennen lernen und sich in ihren Wissenschaften vervollkommnen." In dieser Weise legte eine Ministerialentschließung vom 10. Juli 1807 die allgemeinen Grundsätze für die Revision fest. Niethammer erhielt den Auftrag unter Berücksichtigung derselben „Bemerkungen zu einer Revision des Lehrplanes für die bayrischen Mittelschulen" zu verfassen; denn er schien der geeignetste Mann die Ideen des siegreich vordringenden Neuhumanismus in einem Schulplan zu verwirklichen. Da die Regierung jene „Bemerkungen" von Jacobs, Weiller und Wismayer begutachten ließ und auch der jugendliche Thiersch das „Normativ" in der oberdeutschen Literaturzeitung sehr temperamentvoll besprach, so gewinnen wir einen interessanten Einblick in das Ringen der beiden Weltanschauungen, der Aufklärung und des Neuhumanismus, zumal sie von so ausgeprägten Persönlichkeiten vertreten wurden. Von der Tatsache ausgehend, daß sich der Lehrplan von 1804 das vielleicht unlösbare Problem stellte für die vollaufberechtigten Bedürfnisse aller Staatsbürger in einer Anstalt zu sorgen, wodurch die Schüler genötigt wurden ihre Kräfte an einer Überzahl von Fächern zu zersplittern ohne sich in einige vertiefen zu können, fordert Niethammer die Trennung in humanistische und realistische Anstalten. Für beide stellt er das gleiche Ziel auf: Die freie Bildung, die zwar eine, aber nicht eine einförmige ist und sich nicht auf einerlei Objekt und Bildungsmittel beschränkt. Die Lehrlinge müssen durch den Erziehungsunterricht in allen Anlagen der Humanität so ausgebildet werden, daß sie für gebildete Menschen gelten können. Da aber die Anlagen der Zöglinge verschieden sind, indem die einen mehr für die realen, die andern für die ideellen Gegenstände Empfänglichkeit zeigen, so ergibt sich eine natürliche Teilung des Lehrstoffes. Die zur Ausbildung künftiger Techniker, Gewerbeleute, Künstler usf. bestimmte Realschule hat ihren Stoff vorzüglich aus der Natur, das



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Gymnasium dagegen, dessen Absolventen Lehrer des Volkes, Rechtskundige usf. werden, aus dem Gebiet des Geistes. Aus der Realschule kann der Übertritt in einen bürgerlichen Beruf jederzeit erfolgen. Das Progymnasium bereitet für das eigentliche Gymnasium vor und muß vor allem die Erlernung der griechischen Grammatik betreiben. Damit aber die zum Studium der Naturideen besonders geeigneten Köpfe auch an die Universität übertreten können, so muß sich an die Realschule, die dem Progymnasium entspricht, ein Realinstitut als Parallelanstalt zum Gymnasium anschließen. Für dieses bildet das Naturstudium die Hauptgrundlage des Unterrichts, aber, wie Niethammer ausdrücklich hervorhebt, „nicht sowohl in Absicht auf den m a t e r i e l l e n Zweck der Kenntnis der Naturgegenstände selbst, als vielmehr in Absicht auf den f o r m e l l e n Unterrichtszweck der durch die Beschäftigung mit jenen Gegenständen zu erwerbenden G e i s t e s b i l d u n g . Während also die Hauptlehrgegenstände in der Realschule und im Realinstitut Naturlehre und Naturgeschichte sind, pflegt das Gymnasium vor allem die alten Sprachen, damit seine Schüler die innere, übernatürliche Welt des Geistes erfassen lernen. Am tiefsten ist der Unterschied zwischen den beiden Anstalten in Rücksicht auf die Behandlung der Lehrgegenstände. Niethammer zeigt dies am Beispiel der Mathematik und Geschichte. Der Schüler des Realinstituts braucht die materielle Kenntnis der Mathematik, die Bekanntschaft mit ihrem Inhalt und das Behalten desselben. Für die Gymnasiasten ist dieses Fach formales Bildungsmittel. Zwar fehlt es an der Methode und an Lehrbüchern; aber Niethammer hofft, daß die Praxis für die Realinstitute bald die notwendigen Verbesserungen lehren werde. So löst Niethammer die Frage nach dem Verhältnis von Sach- und Sprachunterricht. Hinsichtlich des Problemes der Vorschulen verlangt er unbedingt als gemeinsamen einheitlichen Unterbau für beide Schulgattungen die Primärschule, welche die Schüler vom 8. bis 12. Jahr besuchen; denn das wesentlichste Gebrechen des Lehrplanes von 1804 war ja gerade die Nichtbeachtung des Unterschiedes, der zwischen den Unterrichtsbedürfnissen der Volksschüler und der künftigen Mittelschüler besteht. Ihre Hauptaufgabe ist die Ausbildung der Sprachrichtigkeit und Sprachfertigkeit, weil „die geistige Anlage zum Erlernen der Sprachen die am frühesten erwachende und natürlich hervortretende ist." Und zwar soll neben einer toten eine lebende gelernt werden, da ein Vergleich beider für den Unterricht sehr wertvoll ist. Abgesehen von dieser Rücksicht auf die Sprache spricht für den gemeinsamen Unterbau noch der Umstand, daß die besondere Veranlagung sich erst später zeigt. Unter bestimmten Voraussetzungen soll auch Volksschülern der Eintritt in die Realschule möglich sein. Die Lyzeen sollen nach Niethammers Vorschlag aufgehoben werden; denn es sei schwer, wenn nicht unmöglich für die höchste Ausbildung in den allgemeinen Wissenschaften an ihnen ebenso vorzüglich wie an den Universitäten zu sorgen; der Hauptvorteil des Universitätsstudiums, die Freiheit, sei für sie nicht anwendbar, ganz abgesehen von dem Mißbrauch, daß die Lyzeisten häufig das philosophische Vorbereitungsjahr überspringen ohne das Lyzeum ganz besucht zu haben. Im Gegensatz zu dem Lehrplan von 1804 tritt Niethammer endlich energisch dafür ein, daß für die Lehrklassen das Lebensalter der Schüler als Grundlage genommen wird; denn gerade die fähigen Köpfe könnten dann um so tiefer in die Stoffe eindringen; nichts schade der Jugendbildung mehr als Übereilung und Vollpfropfen mit Kenntnissen. Das Fachlehrersystem erscheint zum Teil wieder aufgegeben. Die von Niethammer vorgeschlagene Unterrichtsorganisation entspricht also, von der Sprache, die für den gemeinsamen Unterbau gewählt wird, abgesehen, im wesentlichen der modernen Reformschule; die Hauptpunkte des Lehrplanes von 1804, Einheitsschule, Verbindung von Sprach- und Sachunterricht, Fachlehrer-



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system, Zuteilung der Schüler in die einzelnen Klassen nach Kenntnissen waren aufgegeben. Von den Gutachtern betont Jacobs als Hauptvorzug des Niethammerschen Entwurfes die Hervorhebung des Prinzipes der Bildung als eines formellen; auf Grund langer Erfahrung kann er bezeugen, „daß die Altertumsstudien, welche bei rechter Anwendung ebenso sehr in die Tiefe als in die Weite führen, die schönsten und kindlichsten Gemüter am heftigsten angezogen, die lebendigste Liebe entflammt und die edelsten und dauerhaftesten Freundschaften erzeugt haben". Weillers Gutachten spiegelt die tiefe Verstimmung eines Mannes, der gerade die beiden Hauptpunkte, für welche er auf Grund einer dreißigjährigen Erfahrung unermüdlich kämpfte, die Vereinigung von Sach- und Sprachunterricht und eine umfassende Ausbildung des Herzens, durch Niethammers Entwurf unberücksichtigt sah. Sie steigert sich bis zu einem Grade, daß er wiederholt grundlose Verdächtigungen ausspricht. Einen großen Teil der Ausführungen füllen scharfe Ausfälle gegen das Sprachstudium; als wichtigstes Mittel für die Bildung des Herzens erscheint Weiller die Religion. Doch dringen seine Vorschläge über Erbauungsstunden, Umgestaltung der Schulfeiern, Verstärkung der Macht des Rektors nicht tief. Wismayr, der Verfasser des Lehrplanes von 1804, lehnt Niethammers Vorschläge als zu radikal ab; besonders bekämpft er die geplanten Primärschulen. Ehe Niethammer zu den Entwürfen seiner Kritiker Stellung nahm, machte er im Auftrage des Ministeriums eine Inspektionsreise nach den alten und neuen Teilen des Königreiches um vor der Neuorganisation das Lehrermaterial und seine Verwenbarkeit in der neuen Richtung, den Zustand der Lehranstalten und Schullokalitäten kennen zu lernen und Vorschläge über eine zweckmäßige Einrichtung der Studienseminare, Alumnen usf. zu entwerfen. Die gemachten Erfahrungen bestärkten ihn nur noch in seinen Reform Vorschlägen. Er fand nämlich zwei Hauptgebrechen, einen infolge der mangelhaften Vorbildung der Lehrer sich bis in die obersten Klassen mühselig hinschleppenden Unterricht in den alten Sprachen und eine alles Maß überschreitende Ungleichheit in der Vorbildung der Schüler beim Eintritt in die unteren Gymnasialklassen, da die Elementarschulen, denen die Vorbereitung zufiel, an Wert ganz verschieden waren. Am 18. September 1808 ging er an die Widerlegung der Einwürfe Weillers und Wißmayrs. In eingehender Weise polemisierte er gegen den „ganz flachen Mißverstand" Weillers, der nur Sach- und Sprachunterricht kenne, während s e i n e Einteilung der Lehranstalten auf dem Gegensatz von Sachen zu Sachen beruhe; in der einen werden ideelle Sachen, Geistesgegenstände, in der anderen reelle Sachen, Naturgegenstände zum Bildungsobjekt verwendet. Da die ideellen Sachen vorzugsweise in der Sprache ausgedrückt und die Ideen in den Worten zu Sachen fixiert sind, so steht das Sprachstudium mit den Gymnasien in einer engeren und selbst notwendigen Verbindung. Es gibt auch Ideen, die in Naturgegenständen zu Sachen fixiert sind, die Produkte der bildenden Kunst; die ideelle Bildungsanstalt behandelt aber die reellen Sachen nicht als reelle, sondern als ideelle, gibt jedoch der formellen Übung des Geistes eine größere Mannigfaltigkeit, als wenn sie sich bloß auf die ideellen Sachen beschränkte, die sich in Worten darstellen lassen. Diese Ideen Niethammers sind ein Gemeingut der neuen klassisch-deutschen Geistesbewegung; die lebendigere Sprachauffassung geht auf Herder und Humboldt zurück, die begriffliche Formulierung auf Schelling und Hegel. Da Weiller dieses wahre Verhältnis der Sprache zu den ideellen Sachen nicht durchschaut — zu diesem Schluß kommt Niethammer — , so versteht er weder die Notwendigkeit des Sprachstudiums noch die Wichtigkeit und Wirklichkeit des

— 171 — Sachstudiums in den vorgeschlagenen ideellen Bildungsanstalten, noch kann er eine richtige Vorstellung der Realbildungsanstalte.i gewinnen Und doch ist die Natur ein Buch, in dem man lesen soll, sie hat Buchstaben und Worte und einen davon zu unterscheidenden Geist. Das Leben der Materie und des Wortes ist für dea Beschauenden aber nur dann Leben, wenn er in ihnen den Geist des Schaffenden zu erkennen vermag. — „Beide Hauptarten von Bildung zur Idee, sowohl die an geistigen als die an Naturgegenständen, haben ein parallellaufendes Vorbereitungsstadium, die eine Alphabet, Wörterbuch, Grammatik, die andere etwas Ähnliches, dem bis jetzt noch ähnlich bestimmte Benennungen fehlen. Da nun aber die grammatische und naturwissenschaftliche Technik eine eigene Vorbereitung und viel Zeit der Übung erfordern, müssen die Anstalten getrennt werden. Endlich darf nicht übersehen werden, daß die Trennung auch auf dem Bedürfnis materieller Bildung der Lehrlinge beruht. Die Berufe teilen sich ja auch in zwei Hauptklassen, in Beschäftigung mit Naturgegenständen und mit geistigen Gegenständen. Für beide ist ein technischer Teil zu erlernen, und zwar zu einer Zeit, da das jugendliche Gedächtnis am leistungsfähigsten ist." Auf diese Weise widerlegt Niethammer treffend Weillers ersten Einwurf; lange vor Helmholtz führte er die Gegenüberstellung von „Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften" durch. Weillers Vorschlägen zur Bildung des Herzens steht er sehr skeptisch gegenüber; höher als jede gesetzliche Anordnung schätzt er den Einfluß starker Lehrerpersönlichkeiten. In der Frage der Lyzeen besteht zwischen Niethammer und seinen Gegnern ein unüberbrückbarer Gegensatz; der tiefste Grund lag wohl, wie wir noch in einem anderen Zusammenhang sehen werden, in der verschiedenen Auffassung des Begriffes Wissenschaft und des Wesens der Universität. In einem besonderen Anhang erläuterte Niethammer noch ausführlich die äußeren Bedingungen der Reform, namentlich die finanzielle Frage. Auch der Personalstatus wurde von ihm bearbeitet und dann in Kommissionssitzungen durchberaten. Nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen waren, konnte im wesentlichen in Niethammers Sinn Zentner seinen Antrag über die Revision am 21. Oktober 1808 stellen; am 3. November wurde das allgemeine Normativ dem König vorgelegt, am 5. unterzeichnete Max Joseph. Niethammers Werk, die Zweiteilung des höheren Unterrichtes bei gemeinsamer Unterstufe, hatte sich im Kampf mit der Aufklärung siegreich behauptet. Über einer Primärschule, die in vier Jahreskursen die Schüler vom 8. bis 12. Jahre aufnimmt, erhebt sich eine doppelt geteilte Sekundärschule mit zwei Jahreskursen, die Realschule und das Progymnasium; an diese schließt sich das Gymnasium, an jene das Realinstitut, beide von den Schülern vom 14. bis 18. Jahre besucht. Den Abschluß bilden die Lyzeen und die Universität. Für die Gesamtentwicklung des Schulkampfes war es von Bedeutung, daß in der Primärschule Latein in 10, deutsch in 6 Wochenstunden gelehrt wurde und 16 Stunden dem sachlichen Unterricht gewidmet waren; da bis zum Eintritt in das Gymnasium eine fast vollständige Technik der alten Sprachen erreicht sein mußte, waren in dem Progymnasium 7 Stunden für Griechisch, 6 für Latein angesetzt, während das Deutsche nur mehr 3 aufwies. Französisch wurde in 2 Stunden betrieben; Religion, Arithmetik, Geschichte und Geographie, sowie Kalligraphie hatten 14 Stunden. In der Realschule erschien Mathematik mit 6, Kosmographie und Physiographie mit 3, bzw. 5, Französisch mit 4, Kalligraphie und Zeichnen mit 6, Religion, Rechts- und Pflichtenkenntnis mit 6 Stunden. Im Gymnasium waren dem Studium der lateinischen, griechischen und deutschen Klassiker 1 4 , 1 3 , 12 Stunden zugewiesen; in dem Lehrplan der Realschule und des Realinstitutes bildeten die Naturwissenschaften die Grundlage.

— 172 — Bemerkenswert erscheint in Niethammers Normativ die entschiedene Berücksichtigung der Muttersprache durch alle Klassen; im Gymnasium werden Lessing und Herder, Goethe und Schiller, Klopstock und Voß, Uz, Haller und Winkelmann behandelt. Niethammer wünschte sogar die Abfassung eines deutschen Nationalbuches, „eine Sammlung des Vorzüglichsten unserer deutschen Klassiker, die in der nationalen Erziehung durch die Aufstellung der höchsten Muster den Kunstsinn aus seiner tief beklagten Barbarei zu erheben vermöchte". Außer einem Schulbuch sollte es „als das natürlichste gemeinschaftliche Bildungsmittel" der Nation den Deutschen das sein, was Homer einst für die Griechen war. Goethe wurde ersucht, diesen gewaltigen Gedanken zu verwirklichen; doch lehnte er nach reiflicher Überlegung die Bitte wegen der zu großen Schwierigkeiten des Unternehmens ab. Eine besondere Stelle in Niethammers Lehrplan nahm das philosophische Studium ein; die Schüler sollten zum „spekulativen Denken" angeleitet und durch stufenweise Übung bis zu dem Punkt geführt werden, daß sie in der Universität das systematische Studium der Philosophie beginnen könnten. In der Unterklasse wurde mit Logik begonnen, in der zweiten folgte Kosmologie, damit der Jüngling lerne über die Welt zu philosophieren, verbunden mit natürlicher Theologie; die Kantschen Kritiken des Gottesbeweises konnten von den Lehrern dabei benutzt werden. Der dritte Kurs behandelte Psychologie, ethische und rechtliche Begriffe; die Oberklasse faßte die zuvor einzeln behandelten Objekte des spekulativen Denkens in einer philosophischen Enzyklopädie zusammen. Deutlich zeigt sich hier der Einfluß der spekulativen Philosophie, den Niethammer bereits in Jena erfahren hatte und der durch den Umgang mit Schelling und Hegel sicher noch vertieft worden war. In dem,.spekulativen Denken" hatte das neue Lebensgefühl seinen philosophischen Ausdruck gefunden. In diesem Punkt war eine Einigung mit Weiller ausgeschlossen, der, ein Verehrer Kants, die spekulative Philosophie als eine völlige Verirrung des Verstandes aufs heftigste bekämpfte. Das mathematische Studium endlich ging im Gymnasium parallel der Übung des spekulativen Denkens. Die Zahl der täglichen Unterrichtsstunden war auf 5 festgesetzt, Mittwoch und Samstag blieben frei. Die technischen, artistischen, mechanischen und gymnastischen Übungen sollten in besonderen Stunden betrieben werden. Mit Ausnahme der letzten Klasse war die Lehrform in allen die erotematische um die Schüler in ununterbrochener Aktivität zu erhalten und die Lehrer an die „genetische Methode" zu binden, welche die Einsichten mehr in den Zuhörern selbst entstehen läßt als sie ihnen mitzuteilen strebt. Während in der Primär- und den Sekundärschulen das Klaßlehrersystem wieder eingeführt wurde, wobei nur für Französisch, Religion und Kalligraphie Fachlehrer bestimmt waren, wurde am Reali institut das Fachlehrersystem beibehalten. Für den Erfolg der Schulreform war es von ausschlaggebender Bedeutung, ob es gelang tüchtige Lehrkräfte zu finden. Besonders sorgfältig traf Niethammer die Auswahl für das Realinstitut in Nürnberg. Neben dem Naturphilosophen G. H. Schubert wirkten die Mathematiker Dr. Wolf und J . W. A. Paff, Physik und Chemevertrat Dr. J . S. Ch. Schweigger, der Geschichts- und Geographieunterricht lag in den Händen J . A. Kannes, die Philosophie lehrte Dr. J . S. Erhardt. Für die humanistischen Gymnasien wurden namentlich zwei Berufungen von Bedeutung: Hegels nach Nürnberg an das Ägidiengymnasium und Friedrich Thierschs nach München. Hegels Rede bei der Preisverteilung am 29. September 1809 zeigt, wie hoch er die Kultur der Antike als unentbehrliche Grundlage für das höhere Studium schätzte, und gerade diese Wertschätzung war es ja auch, die Hegel veranlaßte Niethammer für „die Emporhebung des Griechischen" zu danken. Nach genauerem Studium

— 173 — des Normatives schrieb er ihm: ,, Seyen Sie dafür drey-, sieben- und neunmal gepriesen, sowie für das negative, der Ausmerzung aller der Schnurrpfeifereien von Technologie, Ökonomie, Papillonfangen usf., für die weise Klassenverteilung, für die Verweisung nicht dieser Dinge an die Realabteilung, sondern für die Errichtung eines gleichfalls gründlichen Studiums der wahren, d. h. der wissenschaftlichen Realkenntnisse in derselben." Von dieser grundsätzlichen Trennung beider Anstalten erhofft Hegel ein besonderes Aufblühen des von ihm so hochgeschätzten Altertumsstudiums. Acht Jahre lang wirkte Hegel als Rektor am Ägidiengymnasium und nahm sich besonders des philosophischen Unterrichtes an; er mußte bald erkennen, daß die vom Normativ verlangten praktischen Übungen im spekulativen Denken zum Allerschwersten gehörten und daß wohl im Gymnasium überhaupt schon zu viel Philosophie gelehrt werde. Besondere Schwierigkeiten entstanden bei der Durchführung des Normatives infolge der Knappheit der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Aber Niethammers unermüdliche Arbeitskraft siegte auch über solche Hindernisse. Nach der Durchsicht aller Jahresberichte von 1808/09 konnte das Ministerium am 26. Juli 1810 mit Wohlgefallen bemerken, daß die Neueinrichtung des Schul- und Studienwesens schon im ersten Jahr „eine sehr wohltätige und erfreuliche Wirkung gezeigt hat und um so mehr für die Folge, wenn die aufgestellten Organe mit gleichem Eifer fortfahren, der die schönsten Hoffnungen erweckt." Mit wenigen Ausnahmen hatten die Berichte die Stimmung des Publikums als günstig für die strengeren Anforderungen des Normativs gerühmt. Nur wenige Änderungen stellten sich als notwendig heraus. Der französische Unterricht sollte künftig erst in der Unterklasse des Gymnasiums begonnen werden; für die Realstudienanstalten blieb die bisherige Einrichtung. Der Religionsunterricht, der im Normativ mit 4 Wochenstunden für die Unterklasse des Gymnasiums allein vorgeschrieben war, wurde mit 5 Wochenstunden auf alle Klassen des Gymnasiums ausgedehnt; denn der Widerstand der kirchlichen Kreise gegen die ursprüngliche Regelung war zu stark; schon kündigte sich eine Opposition an, die dem Normativ gefährlich werden sollte. Die Wichtigkeit des deutschen Sprachstudiums wurde nochmals eingeschärft und bei den „philosophischen Vorbereitungsstudien" verlangt, daß die Lehrer nicht theoretische Vorträge halten, sondern die praktischen Übungen des spekulativen Denkens zum Hauptzweck machen. Eine entschiedene Hebung des Mittelschullehrerstandes, der an der Durchführung des Normativs arbeiten sollte, erhoffte Niethammer durch Schaffung einer Prüfungsordnung (September 1809). Sie umfaßte nicht nur die alten Sprachen, sondern auch Philosophie, Gesohichte, Altertumskunde, deutsche klassische Literatur, Mathematik und Naturwissenschaften. So lagen die Verhältnisse in Bayern, als durch die Vermittlung Niethammers und Jacobs' Friedrich Thiersch nach München berufen wurde; mit ihm betrat der Mann den Schauplatz, der dem Neuhumanismus hier zu endgültigem Sieg verhelfen sollte.1)

Er hatte dem Rufe

gerne Folge geleistet; nur hob er in seinem Schreiben

ausdrücklich

herv.or, er erwarte bei der Einrichtung und Leitung des philologischen Unterrichtes keinem fremden Willen an der Schule unterworfen zu sein.

Zu dieser Bedingung bestimmte ihn die in Göttingen gemachte L o e w e , Schulkampf.

S. 67ff.

— 174 — Erfahrung, daß ein von den Elementen der Sprache bis zum gründlichen Studium fortgesetzter Unterricht unmöglich gedeihen könne, wenn er nicht konsequent geleitet und bei der Ausführung in allen Teilen sorgfältig gehütet werde. Am 17. Februar 1809 erfolgte die Ernennung zum Professor der oberen Mittelklassen des Münchener Gymnasiums. Es war zunächst nur ein enger Wirkungskreis; der begeisterte Neuhumanist wurde dem Direktor Weiller, dem typischen Vertreter der bayerischen Aufklärung, untergeordnet. Aber mit der ihm eigenen Energie ging Thiersch an seine Arbeit, fest entschlossen den Unterricht nach den Grundsätzen zu erteilen, die er in seiner bisherigen Tätigkeit als richtig erkannt hatte. Mit Freuden begrüßte er es, daß die Regierung, den gebieterischen Forderungen der Zeit folgend, von den Schülern Gründlichkeit und wissenschaftliche Bildung forderte. Mochte er auch manchmal sich wie einer der alten Heidenbekehrer, wie Severin oder Korbinian vorkommen, die in mühevoller Arbeit in Bayern den schwer zu bearbeitenden Boden auflockerten, so ruhte er doch nicht durch sein eigenes Beispiel aufmunternd tätig zu sein, bis der gewünschte Erfolg erreicht war. Sein umfassendes Wissen, das er unermüdlich vertiefte, stellte er ganz in den Dienst der Schule; in dem Bestreben den Unterricht interessant zu gestalten und dadurch die Schüler zur Selbsttätigkeit und Freude an der eigenen Arbeit zu bringen behandelte er mit ihnen auch allgemeine Sprachlehre nebst philosophischer Begründung der deutschen, griechischen und lateinischen Syntax und führte sie in die deutsche, griechische und lateinische Literatur, in Geschichte und Geographie ein. Weit entfernt in den Zöglingen nur Objekte zu sehen, denen er eine gewisse Summe von Kenntnissen beizubringen hatte, erfüllte er wie selbstverständlich eine Forderung, die die moderne Pädagogik nicht müde wird mit tönenden Phrasen zu verkünden, er beobachtete sorgfältig die Individualität der einzelnen um darnach die Behandlung einzurichten. Die noch erhaltenen ausführlichen Zensuren zeigen, wie gründlich er dabei verfuhr. Den größten Nachdruck legte er auch darauf, der Jugend ein Verständnis für den Wert der eigenen Arbeit beizubringen. Der Vertreter einer aristokratischen Bildung nahm sich mit der gleichen Liebe aller seiner Zöglinge an; saßen doch in seiner Klasse neben den Söhnen der vornehmsten Adels- und Beamtenfamilien auch die Kinder einfacher Taglöhner und Hirten 1 ); gerade bei der Würdigung ihrer Leistungen zog er alle hemmenden Momente wie ungenügende Vorbildung, Armut, zeitraubende Instruktionen in Betracht. Thierschiana 1 1 3 , Schulsachen 1809—1814.

— 175 — Der Erfolg blieb nicht aus und das Prüfungsergebnis gestaltete sich sehr günstig. Zentner erklärte Thiersch, er könne nur wünschen, die Geschichte würde auf allen Gymnasien und von allen Professoren so vorgetragen wie von ihm; die Art, wie er die Sache behandelt und geprüft habe, habe überall den wohlverdienten Beifall gefunden. Mit diesem Urteil stimmt vollkommen das Gutachten von Jacobs überein, das dieser auf Wunsch des Präsidenten F. H. Jacobi ausstellte, als es sich im Dezember 1810 um Thierschs Aufnahme als Adjunkt der Akademie handelte. „Ob Ihnen gleich mein Urteil" — so schrieb er — „über unseren trefflichen Thiersch aus unseren häufigen Unterredungen über ihn vollkommen bekannt ist, so setze ich das, was ich von ihm und seiner Bildung denke, mit Vergnügen auf; vielleicht können Sie davon Gebrauch machen, wenn es darauf ankäme sein Los zu verbessern und ihn für dieses Königreich zu fixieren. Was Thiersch als öffentlicher Lehrer leistet, ist, dünkt mich, ziemlich bekannt und auch, wenn man einige mit Vorurteilen Behaftete ausnimmt, anerkannt. Klarheit und Lebhaftigkeit des Vortrags, Leichtigkeit der Mitteilung, inniges Interesse an den Gegenständen, die er lehrt, rastloser Eifer und eine seltene Gewandtheit — das sind Eigenschaften, die ihm jedermann zugesteht und die auch bei mittelmäßigen Kenntnissen einen Lehrer überaus nützlich machen können. Diese Eigenschaften aber setzen vieles voraus, ohne das sie gar nicht stattfinden würden, Klarheit des Verstandes, Einbildungskraft, ein glückliches Gedächtnis, eine richtige Beurteilungskraft. Alles das ist mit einem Reichtum von Kenntnissen vereinigt, den man in einem solchen Alter nicht so leicht finden dürfte und der sich bei dem Ernst und der Anhaltsamkeit seiner Studien täglich mehrt." Während Thiersch in den Kreisen der führenden Männer volle Anerkennung fand und dort offenbar schon der Gedanke erwogen wurde ihm einen weiteren Wirkungskreis zu eröffnen, konnte sich der junge Lehrer bei seinem Anstaltsvorstand, dem Direktor Weiller, nicht einer gleich verständnisvollen Beurteilung erfreuen. Schon bei dem ersten Besuch Weillers in einer Geschichtsstunde trat der starke sachliche Gegensatz beider hervor. „Professor Thiersch erzählte eben von Kaiser Hadrian er fuhr über eine halbe Stunde fort von Antonius Pius,, Mark Aurel u. s. f. zu reden. Es war eine förmliche Universitätsvorlesung, sowohl der Form nach als dem Stoffe — es wurden nicht einzelne anschaulichere und eingreifendere Daten des Menschen, sondern allgemeine abstraktere Handlungsweisen des Regenten und Feldherrn angeführt Seine norddeutsche Spracheigenheit, verbunden mitunter

— 176 — mit einer etwas schnellen Zunge, macht ihn oft unverständlich. Er spricht g mit j, k wie g, s wie ss etc. Auch lief in ziemlich schneller und ununterbrochener Sprache manche sehr unrichtige Aeußerung mit unter, z. B. das Menschengeschlecht war nie so glückselig als unter Hadrian, besonders unter Antonin Pius. (Vom römischen Volk war ja doch noch ein Schritt von ziemlicher Bedeutung — bis zum Menschengeschlecht.")1) Dieser Gegensatz mußte bei der Kleinlichkeit des Rektors, zumal der allgemeine Kampf gegen die norddeutschen Gelehrten bis in die Schule hinein seine Wirkung äußerte, indem sogar Schüler gegen protestantische Lehrer Partei ergriffen und Thiersch infolge der ihm eigenen Art, mit voller Energie sich für eine als richtig erkannte Sache einzusetzen, persönliche Rücksichten außer acht ließ, gegen Ende des Schuljahres 1810 zu einem schweren Konflikt führen. Weiller, der in Thiersch „das unmittelbare Triebrad" der Unruhen an der Anstalt sah, beschuldigte ihn in einer Eingabe an den König, er suche seine Kollegen und Schüler gegen ihn aufzuwiegeln; ja er habe noch weitergehende Absichten gegen ihn. „Ich wollte meinen früheren Vermutungen hierüber nicht glauben, nun aber haben sich seine Pläne hinreichend entwickelt, und ich verstehe ihn jetzt ganz; ich sehe, daß seine früheren Schritte nur Einleitung eines großen Hauptangriffes gegen mich gewesen waren." Weillers Hinweis auf frühere Schritte bezieht sich wohl auf eine Veröffentlichung, die Thiersch in der „Oberdeutschen Literaturzeitung" gemacht hatte.2) Ohne seinen Namen zu nennen hatte er zwei Artikel erscheinen lassen: „Schulwesen im Königreich Bayern". Ihr Hauptzweck ist die Aufklärung des Publikums über das Normativ Niethammers. Als besonders begrüßenswert erscheint ihm die Trennung der Anstalten, weil dadurch die Bahn der Bildung freigegeben sei; jetzt erst könne am Gymnasium eine gründliche Kenntnis der alten Sprachen, Altertumskunde, Mathematik und Philosophie im richtigen Umfang betrieben werden. „In dieser so organisierten Verfassung der Gymnasien erscheint das Sachstudium in seinen bildenden Hauptmomenten ergriffen und mit dem Sprachstudium so verbunden, daß eines das andere modifiziert und ergänzt, beide aber als die unzertrennlichen Faktoren dieser Art von Bildung zur innigsten Einheit verschmolzen sind." „Neu und folgenreich aber ist die Idee neben so organisierten Anstalten, die den Sinn nach innen wenden und die Gemüter durch Erhebung zum Ideellen bilden, auch für diejenigen, deren Talent sich in Auffassung und Be1

) Weillers Tagebucheintrag, s. Joachimsen, Wilhelmsgymnasium. S. 38. ) 1809. Nr. 103/104. S. 482 ff.

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— 177 — handlung äußerer Gegenstände und durch Eindringen in gegebene Objekte auszeichnet, eigene Bildungsanstalten zu eröffnen, in denen der Grammatik des Gymnasiums strengeres Auffassen mathematischer Wahrheiten, seiner Hinleitung zu einem großen Altertum durch klassisches Studium tiefere Ergründung der Natur durch Physik, Chemie und ähnliche Wissenschaften entgegensteht. Es ist zu erwarten, daß bei der Gründlichkeit und dem Umfang, in dem hier das Sachstudium behandelt werden soll, aus den Realinstituten bald ebenso gut wie aus den Gymnasien gewichtige und wahrhaft gebildete Männer für alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen werden." Da Thiersch so entschieden für das Normativ Niethammers eintrat, gestaltete sich naturgemäß die Kritik für Weiller, der im Münchener Jahresbericht seiner Anstalt das Verschwinden des Wißmayrschen Planes bedauert und gegen das Normativ zahlreiche Einwände erhoben hatte, ungünstig. Mit scharfem Spott spricht Thiersch von den umschweifenden Gedanken des Verfassers, deren Sinn man erst festhalten und deutlich aussprechen müsse, zumal er eine Stelle in Weillers Bericht als eine schwere Beleidigung der Lehrer in ihrer Berufstreue und Lehrfähigkeit auffaßte. Zu diesen Verstimmungen kam endlich noch eine innere Schulangelegenheit. Thiersch hatte, da er durch die Ausdehnung des Religionsunterrichtes auf das Gymnasium eine Stunde von 16 verloren hatte, im Einverständnis mit dem Rektorat eine außerordentliche eingeführt, zu der nach Umständen freilich noch eine zweite kam. Er hielt sich dazu berechtigt, da die im Normativ vorgeschriebene Stundenzahl 24 noch nicht erreicht war. In diesen gab er den Schülern Anweisungen zum Kartenzeichnen, besprach schriftliche Arbeiten, zeigte ihnen interessante Bücher und Kupferwerke und stellte Gedächtnisübungen an. Wegen dieser außerordentlichen Stunden kam es zu einer Beschwerde der Klasse bei Weiller, der die Angelegenheit nicht eben geschickt behandelte. So wirkten alle Umstände zusammen im Juni (1810) jene Krise herbeizuführen. Weiller und Thiersch wandten sich beschwerdeführend an den König. Ein Regierungsvertreter wurde mit einer genauen Untersuchung beauftragt, deren Ergebnis war, daß die Autorität des Rektors gewahrt und dem jugendlichen Lehrer ein Verweis erteilt wurde; doch fand sein Bemühen das philologische Studium zu fördern Anerkennung. Thiersch war durch diesen Verlauf der Angelegenheit aufs tiefste gekränkt; denn er fühlte sich zu Unrecht bestraft; er setzte daher in einer eingehenden Rechtfertigungsschrift an den König sein Verhalten L o e w e , Friedr.Thiersch.

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auseinander. Bei Beginn des neuen Schuljahres kam es jedoch zu einer Aussöhnung mit seinjem Direktor. Thiersch suchte ihn auf und bat alles Vergangene zu vergessen, was ihm sogleich freudig zugesagt wurde. Seitdem wurde ihre Eintracht nicht mehr gestört, und als Weiller 1826 starb, schrieb Thiersch an Jacobs die schönen Worte: „Er war ein Mann, der das Gute, wo er es erkannte, mit Entschiedenheit gewollt, voll Eifer für Bildung und gegen Trug und Wahn jeder Art." Neben seiner amtlichen Tätigkeit am Gymnasium hatte Thiersch noch die Möglichkeit in einem kleinen Kreise seine Methode zu erproben, wie die griechische Sprache leichter und gründlicher erlernt werden könne. E r führte nämlich mehrere Knaben befreundeter Familien im Alter von 10—12 Jahren in die Homerlektüre ein. Das Verfahren berührt durchaus modern. 1 ) Von Anfang an ließ er das Erlernen der grammatischen Dinge und das Lesen zusammenhängender einfacher Texte (in diesem Falle der Odyssee) nebeneinandergehen ; die Hauptregeln wurden möglichst genau eingeübt und memoriert; beim Lesen des Textes wurden die Knaben nur nach dem gefragt, was sie schon wußten oder wissen sollten, und zwar nur so lange, bis es ihnen geläufig war; das übrige, was der Text an Wörtern, Wortformen und Verbindungen Unbekanntes enthielt, wurde einfach und kurz angegeben, indem so der spätere zusammenhängende Unterricht vorbereitet wurde. Von Stunde zu Stunde erweiterte sich der Kreis des genau Erlernten. In der ersten Stunde waren die Kinder bemüht nach den Tabellen das Alphabet zu lernen und sich am Lesen und Übersetzen des ersten Verses der Odyssee zu versuchen. Bei wöchentlich 6 Lehrstunden waren sie am Schluß desselben Monats mit den Tabellen, sowie mit dem Lesen und Verstehen des ersten Gesanges der Odyssee zu Ende gekommen; sie wußten nicht nur die Formen des Zeitwortes aus den Stämmen und den Ansätzen an diese zu bilden, sondern auch die kleine Zahl der Grundregeln der Wortverbindung temporaler, kausaler und transitiver Sätze anzugeben. Die Freude der Knaben an den Fortschritten und das wachsende Interesse an der Sache trugen mit zum Erfolge des Lehrers bei.

Thiersch war geistig viel zu angeregt als daß ihn sein Lehrberuf allein ausfüllte. Mit vollen Zügen genoß er die künstlerischen und wissenschaftlichen Anregungen, die ihm München bot, und versäumte keine Gelegenheit im Kreise Jacobs' und seiner Freunde in das große Ringen der geistigen Strömungen der Zeit einzugreifen. Fand er in den Vertretern des Neuhumanismus willkommene Bundesgenossen im Kampf um sein eigenes Lebenswerk, so unterließ er es auch nicht die Meinungen der anderen Richtungen kennen zu lernen. In einer Zeit, wo er am aufnahmefähigsten war, fand er die für seine ganze innere Weiterbildung einzigartige Möglichkeit auch das Eindringen der bald das ganze Zeitalter beherrschenden Schellingschen Ideen und die eigentümlichen Widerstände bayerischer Sonderart zu beobachten. Bei der ') T h i e r s c h , Griechische Grammatik 4 .

S. V I I I .



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geheimnisvollen Wechselwirkung lebenserfüllter Persönlichkeiten läßt sich naturgemäß oft eine gegenseitige Beeinflussung im einzelnen nicht nachweisen. After es bleibt die Tatsache bestehen, daß Leben Leben erweckt. III. Kapitel.

Zwei Hauptvertreter des bayrischen Stammes, Westenrieder und Franz v. Baader. An hervorragender Stelle im Geistesleben Bayerns standen zu der Zeit, da Thiersch in München eintraf, der Geschichtsschreiber der Akademie und der „philosophus Christianus". Beiden trat er persönlich näher. Westenrieders Leben und Weltauffassung zogen ihn um so mehr an, weil er beim Studium seiner Schriften sich über seine eigene Aufgabe um so klarer wurde, ganz abgesehen davon, daß die Persönlichkeit selbst außerordentlich anziehend war. Baader, streng konservativ und tief religiös, lehrte ein philosophisches System, das zu einer Auseinandersetzung mit den Ansichten Schellings und Jacobis geradezu herausforderte. Lorenz Westenrieder,1) dem neuhumanistischen Kreise in vieler Beziehung nahestehend, ist ein Altbayer von echtem Schrot und Korn, aufs innigste verwachsen mit seiner Heimat, ein Anhänger des ursprünglichen christlichen Geistes und ein erbitterter Gegner jedes undeutschen Wesens, ein Freund wahrer Aufklärung trotz aller konservativen Neigungen. Unter dem starken Eindruck persönlichen Erlebens stehend führte Schelling 2 ) in einer akademischen Rede aus: „ Es war nicht leicht sein Vertrauen zu gewinnen, noch suchte er selbst anderen zu schmeicheln und liebenswürdig zu erscheinen; sondern ganz und gar gehörte er nach seinem Aeußern wie nach seinem Innern zu dem nicht eben sehr zahlreichen Geschlecht, welches man mit einem geistreichen Ausdruck das Geschlecht der umgekehrten Heuchler nennen könnte. Ein durchaus wohlwollendes menschliches Herz verheimlichte er unter einer rauhen Außenseite." Thierschs Nachruf in der Akademie gibt nicht nur ein klares Bild der edlen und starken Persönlichkeit; voll Verständnis für die Tragik im Leben dieses Mannes schildert der Präsident der Akademie auch die Zeitströmungen, in denen es verlief. Literatur: T h i e r s c h , Westenrieder. H e i g e l , Westenrieder in A. D. B. Bd. 42. S. 1 7 3 f f . K l u c k h o h n , Westenrieder. *) S . W . , I . A b t . Bd. 9. 1861. S. 4 i 4 f f .

12»



180



umfaßte1)

Es fast drei Menschenalter; zwei Weltepochen trafen feindlich zusammen, die Epoche einer friedlichen und nur an inneren Kämpfen reichen Entwicklung, in welcher seine schönste Tätigkeit, die des Jünglings und des gereiften Mannes, begriffen ist, und durch die französische Revolution eingeleitet, in seinen späteren Jahren die Epoche politischer, kirchlicher und sozialer Katastrophen, die auch über Bayern hereinbrachen und neben heilsamen Reformen und wesentlichen Verbesserungen gewaltsame Umgestaltungen alter ihm lieb und ehrwürdig gewordener Einrichtungen und Zustände herbeiführten. Gegenüber der früheren Epoche fördernd, erregend, vorwärts drängend und für die angestrebten oder errungenen neuen Güter kämpfend, gegenüber der neuen Epoche mehr auf sich beschränkt, nach Umständen warnend, zurückdrängend, den Kampf gegen diejenigen Richtungen der Zeit wendend, welche den alten Gütern feindlich entgegentraten. Treu sich selbst hat er auch in dieser Zeit des Volkes Wohl und Ehre gefördert. Schon auf der Schule, wo ihn der trockene Formalismus des alten Unterrichtes zurückstieß, empfand er die ungeahnte Schönheit deutscher Rede in den lebensfrischen Werken seiner Zeitgenossen, begrüßte sie mit Begeisterung und trachtete mit Hingebung ihrem Geist zu dienen — so erzählte er noch als Greis mit sichtbarer Erregung 2 ). Einer seiner Lehrer weckte in ihm den Sinn für die Schönheit und Größe der Werke römischer Literatur. „Bald war durch ihr Studium sein Gemüt mit Bewunderung für die in ihnen ausgedrückte Weisheit, Kraft und Männlichkeit des Geistes der Römer, ihrer Taten und Einrichtungen erfüllt, dadurch aber sein Urteil über das Mangelhafte und Verkommene der Zustände, die ihn umgaben, gebildet und geschärft." Horaz liebte er neben Vergil unter den römischen Dichtern am meisten und wählte gleich dem großen Haller ihn zum Begleiter, Freund und Lehrer seines Lebens. Mit der ganzen Energie seines Geistes und der vollen Tiefe seines Gemütes ging er daran, dem Teuersten und Heiligsten, das er besaß, dem Vaterlande, die verlorenen Güter höherer Bildung wieder zurückzuführen und es durch sie zu stärken und aufzurichten. Schon früh stellte er an sich selbst, an sein Volk und seine Zeit die Frage: „Was gibt einer Nation Macht und Ehre?" Die Antwort lautete: Der Besitz der Literatur, Wissenschaften und Künste. T h i e r s c h , Westenrieder. *) T h i e r s c h ,

Westenrieder.

überhaupt nicht erwähnt.

Spalte 10. Spalte 5/6.

Thierschs Rede ist von Kluckhohn



181



Noch ehe er das 30. Jahr erreichte, nahmen ihn jene Männer als willkommenen Kampfgenossen in ihre Mitte auf, die „gleich den Genossen Nehemias nach der babylonischen Gefangenschaft bauten, das Werkzeug in der einen, das Schwert in der anderen Hand",1) die Begründer der bayerischen Akademie, die nicht die angriffslustige Aufklärungsphilosophie der Maupertuis und La Mettrie vertraten, sondern falschen Religionseifer und dumpfen Aberglauben bekämpften. „Aufklären heißt," — so führt Westenrieder in seinen Beiträgen2) aus — „im wahren Verstand Dünste und Wolken wegräumen, damit man das Tageslicht sehe und durch Hilfe desselben die Hindernisse, die einem auf seinem Wege zum Ziel und Glück entgegenkommen, zeitig entdecke und den geradesten und sichersten Weg erkenne." „Dahin zielt . . ., wenn ich nicht irre, alle unsere Aufklärung, nicht einzelne, sondern die meisten der Früchte dieser Erde teilhaftig und ihres Lebens froh zu machen." Die Aufklärung ist nicht „das Zuvielwissen, das ausgelassene Raisonieren und Betragen". Als Früchte solcher Aufklärung erwartet er für sein Bayerland das Verschwinden von Aberglauben, Pedanterie und des „unsinnigen hartnäckigen Festhaltens zum Schaden der Wirtschaftlichkeit und Wissenschaft, die Heranbildung von recht guten Christen, Bürgern und Untertanen, Nachbarn, Eheleuten und Eltern". Den wahren und guten Geschmack in den Wissenschaften sieht er darin, daß „man den Wert und Zweck und das Verhältnis jedes wissenschaftlichen Zweiges erkennt und von jedem den gehörigen Gebrauch zu machen versteht, daß man überall, wo der Verstand regieren soll, klar sieht, bestimmt erkennt, richtig bezeichnet, ausscheidet und vergleicht, daß man mit Sicherheit urteilt und schließt".3) Im Dienste dieser Aufklärung wirkte er unermüdlich als Lehrer der Jugend in Poetik und Rhetorik und besonders als Schriftsteller und Mitglied der belletristischen Klasse der Akademie. Sein Vaterland sollte „nicht länger hinter den Sachsen zurückstehen". Zur Förderung des Geisteslebens in Bayern veröffentlichte4) er seine bayerischen Beiträge zur schönen und nützlichen Literatur; auch das Theater sollte in den Dienst der Kultur gestellt werden. Neben Rezensionen über alle bedeutenderen Erscheinungen der Poesie, der bildenden Künste und T h i e r s c h , Westenrieder Spl. 8. ) 1790. S. 340. S t ö r m e r , Westenrieder. S. I3öff. s ) B e i t r ä g e zur vaterländischen Historie, Geographie und Statistik. Bd. 9. 1812. S. 377. Von einigen Kennzeichen des verfallenden wissenschaftlichen Geschmackes. 4 ) H e i g e l , Westenrieder. A . D . B . Bd 42. S. 174. 2

— der Erziehung Romane

schrieb

Richardsons.

182



er Erzählungen

Das

Leben

nach Art

des guten

wohl eine Nachbildung von Rousseaus Emile.

der

Jünglings

moralischen Engelhof

ist

Dringend empfiehlt er

die Schriften von Lessing, Voß, Winckelmann, Geliert.

Klopstock gilt

ihm als größter Dichter, Herder als schärfster Denker des deutschen Vaterlandes.

In einer anonymen Schrift „Dringende Vorstellungen an

Menschlichkeit und Vernunft um Aufhebung des ehelosen Standes der katholischen Geistlichkeit" trat er, der Katholik, lebhaft für die

Be-

seitigung des Zölibates ein und erörterte in einem Schlußkapitel den Segen des Familienlebens und den sittigenden und bildenden Einfluß, den das Haus des verheirateten Pfarrers auf das Gemeindeleben ausübe.

Indem Talente aller Art von einem solchen Haus ausgehen, ge-

winne 1 ) Wissenschaft und Literatur, Kunst und Industrie. Die Grundauffassung Westenrieders über die Aufklärung zeigt sich naturgemäß auch in seinen pädagogischen

Anschauungen. 2 )

Den Zweck und die Aufgabe der Schule sieht er in der Vermittlung alles dessen, „ w a s man seinerzeit gelernt zu haben braucht um ein tüchtiger und glücklicher Mensch zu werden". Als Ideal betrachtet er eine „Nationalerziehung", der zufolge im ganzen Land alle Kinder in die öffentlichen Schulen geschickt würden, wo sie einen „gleichförmigen und zweckmäßigen Unterricht erhielten, wo in kurzen faßlichen Nationalschriften allein die Angelegenheiten des Bürgers und Bauern, allein das, was seine Lebensart, seine Nahrung, sein Gewerbe, seine Wirtschaft betrifft, und die Hauptgesetze seines Landes behandelt würden". Der Staat braucht aufgeklärte, brauchbare Bürger und Bauern, die verständige tüchtige Staatsbürger sind; solche heranzuziehen ist seine vorzügliche Aufgabe. Bei Beurteilung der einzelnen Fächer der Universität läßt sich Westenrieder ganz von der Rücksicht auf den Nutzen leiten. Die Schriften des Philanthropen Campe, Robinson und Theophron schätzt Westenrieder zwar hoch; um so nachdrücklicher aber bekämpft er die Methode des berüchtigten Basedow. Mit drastischen Worten schildert 3 ) er die immer flacher werdende pädagogische Bewegung, die marktschreierische Anpreisung ihrer Lehrweise, den schließlichen Erfolg, „daß man die eigentlichen Schulstudien, die Sprachen und die Literatur der Alten, verhöhnte und v e r a c h t e t e . . . , in der Mitte von Deutschland die französische Sprache für die erste Hauptsache erklärte, und daß man . . . vermöge eines unbegreiflichen Unsinns Kinder und Knaben mit der Erlernung von zwanzig so betitelten bürgerlich-philosophischen Gegenständen überhäufte und marterte, wodurch man „einer gräßlichen Barbarei zueile". Das Meiste werde jetzt einige Jahre zu früh gelehrt, zu gleicher Zeit zu viel und zu unrichtig und Lehrern und Schülern alles wirkliche Lernen mit der Aufbürdung von Lernereien verhaßt gemacht, „bei deren oberflächlicher und unverdaut bleibender Einpfropfung den ganz betäubten und zerkrüppelten Schülern nichts weiter als am Ende das traurige Schicksal bevorsteht, vieles durcheinander plaudern und —• was allen Ignoranten eigen ist — , auch im ganzen zukünftigen Leben überall sich mit einer bei Geschäften zumal höchst x)

K l u c k h o h n , Westenrieder. S. 44ff. S t ö r m e r , Westenrieder. S. 40. 3) Geschichte der Akademie. II. S. 372ff. S t ö r m e r , Westenrieder. S. 130/131. 2)



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schädlichen Anmaßung und vornehmen Einbildung benehmen zu lernen." Als besonders schlimme Mängel rügt 1 ) er das spielende Lernen, die Überladung der Kinder mit zu viel Stoff, das zu frühe Raisonieren, die völlig verkehrte Art des Religionsunterrichtes, die Absonderung der Moral von der Religion und das ewige Anpreisen der Hinlänglichkeit der Vernunftmoral, die gefährlich verfrühte sexuelle Aufklärung, die Verwöhnung der Kinder durch zu baldigen Theaterbesuch. Im vollen Gegensatz zu diesen Irrtümern eines oberflächlichen Enzyklopädismus und überspannter Aufklärung betonte Westenrieder als Hauptgrundsatz des Unterrichtes „non multa, sed multum", forderte Pflege des Gedächtnisses, Weckung und Erhaltung des Interesses und der Selbsttätigkeit der Jugend, Anregung des Verstandes und Gemütes, Berücksichtigung der Individualität. Deutlich zeigen sich Beziehungen zu Rousseaus Gedankenwelt. Hier konnte auch Thiersch anknüpfen. Wich Westenrieder in der Methode aufs entschiedenste von dem Ph ilanthropismus ab, so geschah es auch in der Auffassung der Antike und ihrer Bedeutung für den Jugendunterricht. Damit nähert er sich den Neuhumanisten, die seit 1807 so großen Einfluß auf die Neugestaltung des Schulwesens in Bayern erlangten. In einem entscheidenden Augenblick, als Reformvorschläge 2 ) einzureichen waren, leistete Westenrieder, wie schon erwähnt, dem Humanismus einen wertvollen Dienst. In der Hochschätzung der Antike steht Westenrieder dem von ihm verehrten Heinrich Braun 3 ) nahe und berührte sich so mit dem Neuhumanismus, wie er von Geßner in Braunschweig und Ernesti in Kursachsen erfolgreich vertreten wurde. Nicht mehr Imitation der alten Klassiker sondern umfassende Lektüre und dadurch Eindringen in den Geist des Schriftstellers betrachtete Braun als das Hauptziel des Unterrichtes und er erwartete dadurch Übung des Geschmackes, der Denk- und Urteilskraft und Verbesserung des deutschen Stils. Westenrieder schätzt 4 ) als einen Hauptvorzug der sogenannten toten „Sprachen", daß sie die „lebendigsten, unentbehrlichsten Sachen" enthalten; „die Schriften der Alten enthalten noch diese Stunde für einen Regenten, für den Minister, den General, den Juristen, den Mediziner, den Geistlichen und für unzählige Bürger des Staates die herrlichsten Quellen nicht nur von schönen, sondern von wesentlichen Kenntnissen, die in keiner der lebenden Sprachen so vorhandenen Muster und Meisterstücke von Beredsamkeit, von historischer Darstellung, von vollendeter Reinheit, Anmut, Wohllaut, Richtigkeit und Stärke im Vortrag und Ausdruck und man findet sie daher auch als die täglichen Ratgeber, Aufmunterer und Freunde noch diese Stunde in den Händen der größten Staatsmänner von England, sowie man sie in den Händen eines Herzberg und seines großen Königs, der seine Größe ihnen zu danken hatte, fand". In der „Geschichte der Akademie" 5 ) macht er sich das Urteil des „denkenden Königs zu eigen, das jener in seiner Schrift über die deutsche Literatur gefällt hatte, das kräftigste und einzige Mittel den Geschmack, Verstand und Charakter junger Studierender in den Schulen zu bilden, sei ein gründliches Studium der klassischen griechischen und lateinischen Schriftsteller als der Kleinodien des Altertums". In einem Aufsatz „Warum Dikasteriäten keinen Geschmack an der Literatur besitzen ?" 6 ), verfolgt er die Einwirkung der Altertumsstudien auf den Soldaten!) 2) 3) 4) 6) •)

Geschichte der Akademie. Bd. II. S. 374 ff. L o e w e , Schulkämpfe. S. 21. L o e w e , Schulkampf. S. 5. Beyträge. Bd. 6. 1800. S. 275 ff. Anm. Bd. 2, 1807. S. 6ff. Beiträge. Bd. 3. S. 376.



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stand (die Offiziere). ,, Die dadurch beförderte Entwicklung und Bildung des Geistes macht ihn im Feld zehnmal brauchbarer als einen anderen und stärkt, unterhält und ziert ihn im Frieden. Die Bekanntschaft mit Wissenschaften mildert die unbändige Rohheit seines Standes, bewahrt ihn vor Leerheit des Kopfes, vor Langweile und Ausschweifungen, welche der Mangel an Beschäftigung und Nachdenken veranlaßt". „ D i e griechische Sprache ist nach Westenrieders Meinung 1 ) unentbehrlich für einen Literator, Gelehrten, kritischen Theologen, wahren Philologen. Da aber in jungen Jahren kein Studierender wissen kann, welchem Beruf er sich später zuwendet, sollten die Anfangsgründe dieser edelsten aller Sprachen schon in den ersten Schulen betrieben und die Sprache selbst bis zum Verstehen der Klassiker, wozu eine gute Chrestomathie nötig ist, gelernt werden." 2 ) Der Lektüre der griechischen Dichter 3 ) stand Westenrieder skeptisch gegenüber, soweit sie für die Sittlichkeit der Jugend Gefahren bergen und den Zwecken der bürgerlichen Gesellschaft nicht entsprechen, und er hielt es mit Piaton, der Ciceros Billigung fand, sie aus einem wohl eingerichteten Staat zu verbannen. Die übertriebene Gräcomanie lehnte er entschieden ab. Mit bitterem Spott geißelt 4 ) er die Art und Weise, wie man diese Sprachen lernen wollte „nach der heutigen, unendlich albernen Art sich auszudrücken bloß als eine Galanterie" und nur insoweit als nötig ist um lateinische Bücher zu verstehen; vielmehr würde er, wenn er jemals in gelehrten Schulen eine Stimme gehabt hätte, nach den großen Beispielen der gelehrten Humanisten des 16. Jahrhunderts die humanistische alte und neue Literatur zur Hauptsache seiner gymnastischen und zur unzertrennlichen Nebensache aller seiner höheren Schulen machen. Allen Behauptungen heutiger K r a f t - und Wundermänner zum Trotz, daß sie in drei bis vier Jahren vollkommen ausgebildete Gelehrte und (in ihrer Einbildung) brauchbare Staatsmänner auf die Beine stellen, würde er seine Gymnasiasten fünf bis sechs J a h r e mit der griechischen, lateinischen und deutschen Sprache, mit der Erklärung der klassischen Schriften nämlich, welche in diesen drei Sprachen vorhanden sind, dann mit unaufhörlichen Übersetzungen, Nachahmungen und Selbstaufsätzen üben. „Man lernt nicht vortrefflich sein, ohne große und beharrliche Mühe." Unvermerkt würden seine Gymnasiasten alte und neue Geographie, die Staatengeschichte und manche andere damit verbundene Wissenschaft mit den klassischen Schriftstellern lernen. Westenrieder ist überzeugt, daß eine Hauptursache 5 ) des verfallenden wissenschaftlichen Geschmackes, des Niederganges der Literatur, der Verschlechterung des Zeitgeistes, des Sinkens der Theatermoral und der trostlosen, ewigen Änderung und Verzerrung der Schuleinrichtungen in der Geringschätzung und Verachtung des Studiums der antiken Sprachen und der klassischen Gelehrsamkeit zu suchen ist. Mit Entsetzen stellt er fest 6 ), wie in Norddeutschland im Anschluß an die Meisterwerke Goethes: Die Leiden des jungen Werther und Götz von Berlichingen J

) S t ö r m e r , Westenrieder. S. 7 1 . ) Sein Lehrplan von 1799/1800 sieht für die erste gymnastische Klasse die Anfangsgründe und Aesops Leben und Fabeln, für die zweite bis vierte Chrestomathien bzw. das neue Testament, für die fünfte Chrysostomus, Demosthenes und Chrestomathien vor. S t ö r m e r , Westenrieder. Beilage. S. 145. Lehrplan Westenrieders 1792/1800. 3 ) Beiträge. B d . 9. 1 8 1 2 . S. 17. Denkschrift auf Joh. Nep. Medor. 4 ) Beiträge. Bd. 6. S. 277. 6 ) Beiträge. Bd. 9. S. 383. 6 ) Geschichte der Akademie. Bd. I I . S. 9ff. 2



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und Bürgers Balladen tausend Zwerge und riesige Ungeheuer nach dem geheiligten Musentempel strömten, „ u m auch ihren Werther leiden, ihren Lenardo klagen zu lassen", und „alle literarischen Feuerfänger in Schauspielen lebten, worin deutsche Kraftmänner der Vorzeit auftreten. Während in den damaligen dramatischen A r beiten von Goethe und Lenz poetische K r a f t mit Formlosigkeit sich verbanden, hielten sich die Nachahmer nur an die Regellosigkeit. „ E i n scheußliches Gespenst von Geniewesen wurde überall sichtbar."

Westenrieders Standpunkt gegenüber dem Neuhumanismus läßt sich also dahin charakterisieren, daß er die Schriften der Alten ganz im Sinne der Humanisten des 16. Jahrhunderts als eine unersetzliche Quelle für Sachen und als unentbehrlich zur Bildung des Geschmackes, Urteiles und Charakters schätzte. Von einer formalbildenden Kraft der Sprache als solcher spricht er nirgends. Sein Verhältnis zu den Neuhumanisten des Münchener Kreises war durch seine oft so rücksichtslos hervortretende Ablehnung der protestantischen Gelehrten getrübt. Nur zu Jacobs fühlte sich der sonst so mißtrauische Mann hingezogen. Dieser schätzte ihn ebenso wie sein Freund Thiersch als einen ehrlichen, wahrheits- und vaterlandsliebenden Mann. „Als einen solchen" — schreibt 1 ) er 1811 an Jacobi — „habe ich ihn immer erkannt, und hätten mehrere Bayern sich so aufrichtig und freundschaftlich gegen mich bewiesen wie er, ich hätte mehr Vertrauen gefaßt und wäre vielleicht noch jetzt in München." Mit einem sonderbaren Gefühl von Vergnügen und Rührung las Jacobs eine Stelle in Westenrieders Beiträgen über Roth, die ihm zeigt, daß der alte wunderliche Mann auch für das Verdienst der Ausländer gewonnen werden kann. Im 9. Band seiner Beiträge 2 ) äußerte sich nämlich derselbe über Roth sehr anerkennend, „weil er echt historisch denkt und von der ausgebreiteten Kopfseuche unseres wüsten Zeitgeistes unverletzt geblieben ist". „Mit unaussprechlicher Rührung las ich die Schilderung von den schnellwirkenden und gräßlichen Folgen eines Uebels, von welchem eine noch vor kurzem mit Ruhm bedeckte Nation ergriffen worden, in Roths 3 ) Commentarius de bello Borussico." Roth sieht eine der Hauptursachen des Zusammenbruchs Preußens in dem Auftreten jener aufklärerischphilosophischen Richtung Frankreichs, die unter dem Deckmantel der Humanität die Religion zerstörte und das ganze Lebensglück in dem Genuß des diesseitigen Lebens fand. Westenrieder fügt noch bedauernd bei, daß Friedrich II. selbst nicht ohne Schuld an dieser Entwicklung Z ö p p r i t z , Aus Jacobis Nachlaß. Bd. II. S. 70. Jacobs an Jacobi, 8. November 1 8 1 1 . 2 ) S. 4 1 1 . Anm. 3 ) Erschienen 1808. Vgl. Z ö p p r i t z . Bd. II. S. 69. Tagebuch Westenrieders. S. 90. Anm. 1.



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war, weil er zu spät die ganze Verwerflichkeit der Enzyklopädisten erkannte und erst dann mit aller Schärfe brandmarkte.1) So sehr Westenrieder die Aufklärung schätzte, wenn sie zur Erhaltung und Bildung des Verstandes führte, so schroff lehnte er sie ab, wenn sie mit seiner religiösen Auffassung in Konflikt geriet.2) Seine Zugehörigkeit zum Illuminatenorden, die als Beweis seiner Unkirchlichkeit angesehen wurde, dauerte nur sehr kurze Zeit, da er dort nicht fand, was er suchte, und durch sein stolzes Selbstbewußtsein Anstoß erregte. Die Schrift über die Aufhebung des Zölibates berührte seine kirchlichen Anschauungen in keiner Weise. Wenn auch sein Katechismus,3) den er 1774 für Realschulen veröffentlichte, dem Zeitstreben entgegenkam, das die Sittenlehre gegenüber dem Dogma stärker betonte und Menschenliebe und Toleranz an Stelle der kirchlichen Engherzigkeit zu setzen suchte, so geriet er doch zu Unrecht in den Ruf unkatholischer Gesinnung. Westenrieder sieht in der christlichen Religion4) das Kernstück des gesamten Unterrichtes; wer die Religion nicht für etwas Wirkliches, Wahres und Unentbehrliches hält, ist so unglücklich, daß er „nur die Hälfte von einem menschlichen Wesen, nur ein belebter Körper ist". Die christliche Sittenlehre allein ist herzstärkend, die Mittel der Religion sind die höheren und zuverlässigeren. Gründlicher Religionsunterricht muß sich mit praktischer Religiosität verknüpfen. Von hier aus läßt sich auch Westenrieders Ablehnung der Philosophie seiner Zeit verstehen. Herb spottet er über das „Hauptsurrogat", das die Herren ' an Stelle des positiven Glaubensdogmas setzen, die Vernunftmoral; „die allerunmoralischsten, landkundigsten Wüstlinge sprachen mit brennendem Getrieb von der Notwendigkeit die reinmenschliche Moral, das in der Vernunft gegründete Naturrecht, die Moral- und Vernunftphilosophie — anstatt des bisherigen Tands und Quarks — mitzuteilen, inständig einzuprägen und zu empfehlen".5) Gerade diese modischen Behauptungen bestärken Westenrieder in der Ueberzeugung, daß es eine solche Vernunftmoral überhaupt nicht gibt. „Ein Grad von der allertiefsten Verkehrtheit heutiger Moralphilosophen ist es, daß sie das, was sie in ihren Moralen als etwas ganz Vollkommenes aufstellen, das Licht der Vernunft nennen; es ist das Licht der Religion und nicht der Beiträge. Bd. 8. S. 398. Anm. ) K l u c k h o h n , Westenrieder. S. 22/23. 3 ) K l u c k h o h n , Westenrieder. S. 11. 4 ) Stornier, Westenrieder. S. 64ff. These III in Beiträge. Bd. X . 1817. S. 282. e ) Beiträge. Bd. 9. 1812. S. 424ff. „Fortsetzung über die Kennzeichen des verfallenden wissenschaftlichen Geschmackes". 2



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Vernunft." Er schließt sich Geliert an, „der gewiß Verstand besaß, wenn er in seinen moralischen Vorlesungen sagt: „Was das natürliche Licht der Sonne dem Leibe ist . . . ., das ist sie, die Offenbarung der Schrift, dem Auge des Geistes'." Den Niedergang der deutschen Literatur stellt Westenrieder in seiner „Geschichte der Akademie" 1 ) in engen Zusammenhang mit den höchst merkwürdigen Vorgängen auf dem Gebiet der Philosophie; er kommt dabei zu einer überraschend scharfen Ablehnung Kants. Man gewinnt den Eindruck, daß er selbst die Schriften des Königsberger Philosophen nicht gelesen hat, weil er nur die günstigen oder ungünstigen Urteile anderer anführt; wenn er sich den Gegnern Kants anschließt, so findet diese Stellungnahme wohl eine Erklärung in seinen Beobachtungen des Zeitgeistes und seiner Vertreter. Besonders stießen ihn die Anhänger jener neuen philosophischen Richtung mit der Behauptung ab, der Wert der kritischen Philosophie liege in den Seltsamkeiten und wirklichen Dunkelheiten der Sprache Kants, das neue System sei die einzig echte und achtbare Philosophie. Noch schlimmer trieben es jene Schüler Kants, die die Philosophie des Meisters im Vergleich zu ihren eigenen Philophien eine sehr seichte und lückenvolle Schreiberei nannten. A l s die charakteristischen Merkmale des neuen philosophischen Geistes bezeichnet Westenrieder die wegwerfende Anmaßung, die nur die eigene Meinung gelten läßt, die Verfolgungs- und Zerstörungssucht, „der alle seit Jahrhunderten in der allgemeinen Achtung glücklicher Völker gestandenen Begriffe und Einrichtungen für alberne und des augenblicklichen Niederreißens würdige und bedürftige Dinge erklärte und im Zerstören sein einziges Verdienst und seine philosophische Größe suchte". Die entsetzliche Wirkung 2 ) war, daß „in allen deutschen Ländern unzähligen Gelehrten, Lehrern und Schülern die Köpfe verrückt wurden, daß sie Dinge, an denen nicht das geringste gelegen war, mit der sonderbarsten Ernsthaftigkeit vorbrachten und sich dabei so ungebärdig benahmen, wie nur verlorene Irre tun konnten", „daß sie in sich und außer sich alles ganz anders sahen als andere Menschen". Wer sich kühle Ueberlegung bewahrte, stimmte dem Humanisten Herder bei, vermöge eines unbegreiflichen Schicksals habe sich in den Bd. II. S. 360. Siehe auch: Historischer Kalender. teilung. S. 526 ff. 2) Historischer Kalender. 1815. S. 527ff.

1815.

20. Jhrg. 2. Ab-



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Köpfen mancher idealistischen Philosophen der einst verschriene Veitstanz eingestellt. Die Abneigung Westenrieders gegenüber dem philosophischen Zeitgeist steigerte und vertiefte sich durch die Beobachtung, daß zwischen ihm und den Ideen der französischen Revolution eine enge Verbindung bestehe: „Es wurde Zeitgeist von allgemeinen Menschenrechten, womit sich kein gesetzlicher Zwang, keine zunftähnelnde Einschränkung vertrüge und von allgemeiner Weltbürgerei, vom freien, unbedingten Hinausdenken und vom Hinwegsetzen über alles, was bisher war, zu sprechen." 1 ) Er stellte fest, daß wiederholt Verhöhnung von Rechtsvorschriften vorkamen und Polizeimänner nur nach ihrem augenblicklichen Dünkel und Starrsinn verfuhren. „Es war etwas Wildes, Menschenfeindliches, etwas mit Erbitterung und Gepolter Raschdurchfahrendes in dieser Art des philosophischen Zeitgeistes." Mit Bedauern sah er, wie der echt philosophische Mittelweg von Jahr zu Jahr einsamer wurde, und voll Spott wies er auf die Entartungen der Naturphilosophie, die Versuche philosophischer Schriftsteller hin Entwicklungsreihen festzustellen, die Kalkformation als die Tendenz der Natur nachzuweisen Pflanzen zu produzieren, die Kieselformation als den Trieb Tiere hervorzubringen, oder aus Granitsteinen Pflanzen und Tiere, aus den größeren Affenarten Menschen entstehen zu lassen. Als Montgelas daran ging die Akademie im modernen Geist zu reformieren und Baader und Stengel auch die kritische Philosophie vertreten sehen wollten, widersetzte sich Westenrieder mit ihm Gleichgesinnten in der Befürchtung, „die Akademie werde, in unvermeidliche Unruhen und bei dem Zottelgeist der neuphilosophischen Humanität in tausend unvermeidliche Verunglimpfung hineingezogen". Seinem Tagebuch 2 ) vertraute er seine tiefe Mißstimmung über die geplanten Veränderungen an; daß die milden Stiftungen im Land ihre Kapitalien zur Besoldung der neuen Akademisten, des Bibliothekpersonales, der Künstler, der unzählbaren Aufseher bereitstellen sollten, war ihm gar nicht recht. Am 9. März trug er ein: „Es wurden um dieselbe Zeit eine Menge Ausländer, fast lauter Protestanten, mit großen Besoldungen zu Akademikern in München berufen." Die versuchsweise Anbringung von drei Laternen in der Kaufingergasse, die an quer über die Straße gespannten Stricken befestigt waren, veranlassen ihn *) Geschichte der Akademie. Bd. II. S. 367 ff. ) Herausgeg. von K l u c k h o h n aus dem handschiiftl. Nachlaß L . v. Westenrieders in Abhandlungen der historischen Klasse der Kgl. Akademie der Wissenschaften 1886, Bd. 16, 2. Abt., S. 82/83. 2

— 189 — zu der Bemerkung: „Es war ein Bild des Zeitgeistes voll elender Verlegenheit und Mangel an Licht, wo das Licht sein sollte." Ja, er kann sich nicht versagen einen Vers über die Laternen, die niemandem gefielen, anzuführen: „ S i e kosten viel und leuchten wenig, Sie sind auch von Schlampampen her. Drum lieber, guter König, Mach sie zu Akademiker." # Als 1809 die schweren Konflikte zwischen den Süddeutschen und den Berufenen ausbrachen, mußte er sich in der Gesellschaft von Leuten sehen, die ihm an Charakter und Reinheit der Gesinnung nicht entfernt gleichkamen. In der Vorrede 1 ) zum 2. Band der Geschichte der Akademie spricht sich Westenrieders Unmut über die Herabsetzung Bayerns in auswärtigen Journalen besonders scharf aus. Während er die Behauptung, die Protestanten seien als solche für jede Art von Wissenschaften und Geschicklichkeiten empfänglicher und fähiger als Katholiken, als zu kopflos und abgeschmackt keiner Widerlegung für wert hält, erörtert er ausführlicher den „angeblichen Vorsprung" des Nordens vor dem Süden in Sachen der Literatur; gerne erkennt er die Bedeutung des Nordens für die Entwicklung der neuen deutschen Literaturblüte seit 1750 an, aber ebenso entschieden schiebt er ihm die Schuld am Verfall des echten Geschmackes zu. Sein eigenes Ideal der Akademie hat Westenrieder im gleichen Werk 1 ) entwickelt: er hält eine öffentliche Anstalt für desto schätzbarer, je größer und unmittelbarer ihr Nutzen für das Land ist. „Die Akademiker sollen praktisch nützen, klassisch denken und handeln, der Nation in Beförderung wissenschaftlicher Kenntnisse und Fertigkeiten vorangehen, Launen und Schwächlichkeiten des immer unsteten Zeitgeistes ins wahre Geleise führen, mit einem Wort „der Nation in gesetzter sicherer Haltung vorleuchten, sie leiten, sie auf eine vorzügliche Art unterstützen und regieren."

Je rücksichtsloser Montgelas' Reformen, namentlich auf kirchenpolitischem Gebiet wurden, desto herber und schärfer wurde Westenrieders Urteil; furchtlos gab er seinem Unmut Ausdruck, wie sich noch an anderer Stelle zeigen wird. Ein wichtiger Zug in seinem Bilde ist endlich sein tiefes Gefühl, seine feine Beobachtungsgabe und seine Heimatliebe. Gerade von !) Bd. II. 2

1807.

) Bd. II. S. 3 2 3 f f . ; Das Organisationsreskript 1 1 . I V . 1 7 9 8 hält er für sehr gut.

Friedrich Wilhelms III, vom



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dieser Seite lernte ihn Thiersch bei gemeinsamem Aufenthalt in Gastein kennen. Während er den Besuchern seines Heimes im Sabadinihaus in der Kaufingerstraße rauh und mürrisch erschien, rief er den Kleinen, die ihm vertrauensvoll die Hände entgegenstreckten, freundliche Worte zu, wenn er „im langen, braunen Rock, den dreieckigen Hut auf dem Kopf, das silberbeschlagene Rohr in der Hand, durch die Straßen seiner Vaterstadt dahinwandelte", wie ihn Poccis Zeichnung darstellt. Welch' tiefes Empfinden er für die Schönheiten der Natur besaß, zeigen die Briefe, 1 ) die er von einer Wanderung im Inntal von Brannenburg auf den Wendelstein an einen ihm sehr nahestehenden Freund schrieb. Eine scharfe Beobachtungsgabe verbindet sich mit einem weichen, fast romantisch schwärmenden Gefühl. ,,Es ist N a c h t ; " — so heißt es am g. August — „Und wenn Sie nur izt hier stünden, und auf die nahen Berge und fernen Felsen und auf die weiten, ebenen Lusthaine sähen, alles im Mondlicht und dann mit mir in jeder gerührten Nerve fühlten, wie der sanfte Schlummer mit einem angenehmen lauen Geflister sich auf die Blumen und Früchte herabsenkt. Ein solcher Anblick macht ein gutes Herz und macht empfinden wie eine liebliche Nachtmusik menschliche Gefühle auch den, der nie welche gefühlt hätte." Die Besteigung des Wendelsteins, „des höchsten Felsen in Baiern" veranlaßt ihn zu folgenden Ausführungen: „ A n einer beinahe senkrechten Wand entdeckten wir mit Hilfe des Fernglases einige Geisböcke und war es so steil und der Abgrund so fürchterlich, daß ich die Augen wegwenden mußte." „Schweigend gingen wir den schmalen Pfad hinan und stunden wir oft ermattet und schweratmend still." „Herrlich, herrlich und groß ist die Welt und groß ist ihr Schöpfer, Gott. Wer nie daran gedacht hat, denkt hier daran und wer sich nie in seinem Leben auf einen Ausdruck besonnen hat, tut es hier; aber er findet keinen. Gott ist Gott." — „ E s ist rund umher heilig. Ich bin hier im Reich der Ruhe und höre das Stillschweigen: Hier wohnt keine Sorge und auch die Freude ist still und bescheiden! Mir ist, als wäre ich gestorben, (o wenn ich es wäre!) und als wäre ich eben zu neuem Leben erwacht."

Mit scharfem Blick und tiefem Stolz beobachtet er den kraftvollen, treuherzigen und doch selbstbewußten, gastfreien, natürlich empfindenden Menschenschlag jener Gegenden; „alle gerade, schlank, tragen ihren Körper, über den sie ihren Kopf in die Höhe gen Himmel heben, auf eine erhabene und würdige A r t " ; der naive Witz, die ungezwungene Art des Benehmens, der fröhliche Kindessinn, die frische Sangeslust der Almerinnen, die er sich als stumme, plumpe, schüchterne Statuen gedacht hatte — wobei „kein zu freies, zweideutiges oder ungezogenes Wort" vorkam — , entzückte ihn. Nur wenn das Gespräch sich der Landesgeschichte zuwandte, dann sah Westenrieder die Bewohner aus ihrer Ruhe kommen: „Ihr Ausdruck wurde löwenartig !) Bayerische

Beiträge

zur

schönen

und

nützlichen Natur.

S. i235ff und i356ff. Auszug aus Briefen eines Reisenden aus Bayern.

2. Bd.

2. A b t .



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und feierlich und, was nicht alt war, hielt den Atem an und sah ernsthaft herum, als wäre etwas Ehrwürdiges in die Mitte getreten. Und mit einem Wort, teuerster Fjeund: soll ein Volk gut sein, so muß es gerade so beschaffen sein. — Diese Liebe zum Vaterland ist ein Beweis innerer Stärke." 1 ) Was der in voller Jugendkraft stehende Mann empfunden hatte,, das empfand auch der Greis. In den „Briefen über und aus Gastein" 1810—1816 2 ) finden wir das gleiche Interesse für die Natur. Anschaulich beschreibt Westenrieder die schaurige Klamm, die nach Gastein hinaufführt, das alte,, aus Holz gezimmerte Gasthaus, das die vornehmsten Gäste barg. „Gras und Bäume sind hier saftiger, kühner gewachsen als anderswo. Wir atmen wie in einem Meere balsamischer Wohlgerüche und hauchen ganze Gewölke ein von herumschwimmenden Dünsten von Rosen und Veilchen und Bergblumen." „Hier saß ich heute auf einem rot angelaufenen Stein, unter dem lieblichen Schatten der saftigsten Erle, an der mit Hohlbeeren und Erdbeeren überzogenen Gebirgswand, und auf der Erle hüpfte ein Vögelchen, das von Zeit zu Zeit flötete; und einige Schritte neben mir rieselte aus der Wand eine Quelle, die sich unter der Straße verlor. Vor mir erblickte ich am jenseitigen Gebirge einen großen Silberstrom von der himmelhohen Wand herabschimmern und in einiger Entfernung von diesem Strom zerstreute Hütten und Kühe wie Bilder in Krippen. Ein heiliger Schatten umgab mich. Ich hörte nichts als das Flöten des Vogels und das Rieseln der Quelle. Ich sah und empfand, was sich durch kein Geld erkaufen, was durch keine Macht sich gebieten, was durch kein Buch sich lernen läßt."

Manchmal bricht ein echt aufklärerischer Zug durch, so, wenn er sich ausmalt,3) wie nützlich es wäre, die Ache in ein gerades Bett zu leiten, das gewonnene Gebiet zu bebauen, schöne Landhäuser und ein steinernes Bad anzulegen, „eine Herrlichkeit, welche als Badeanstalt in ganz Europa bei weitem die erste und einzige ihrer Art sein würde". Die Bevölkerung beobachtet er genau und vergleicht die meistens schmächtigen Männer mittlerer Größe mit den Lenggriesern, Mittenwaldern und Tegernseern, die in Gestalt und Wuchs saftigen Eichstämmen ähneln. Der Liebe Westenrieders zu seinem Volk und seiner Heimat verdanken wir zahlreiche geographische Schriften.*) a. a, O. S. 1362. ) Briefe aus und über Gastein in Bd. X der Beiträge. 1807. S. 333 ff. 3 ) a. a. O. S. 350. 4 ) „Der Würmsee," „Die Beschreibung Münchens", „Briefe bayrischer Denkart," Monographien über Dachau, Erding, Au und Tölz, „Das Jahrbuch der Menschengeschichte in Bayern." Erdbeschreibung der bayerisch-pfälzischen Staaten zum Gebrauch für Jugend und Volk. Christian G r u b e r , Die Verdienste L. v. Westenrieders um die bayrische Geographie in Festschrift der geographischen Gesellschaft in München. 1894. S. 91 ff. 2

— 192 — Durch sie wollte er zu selbständigem Erkennen, eigenem Urteilen und freiem Schaffen anregen, die Empfänglichkeit für äußere Eindrücke steigern, wie sie sich in den Wechselbeziehungen zwischen Volk und Land äußern. Thiersch findet1) in der ganzen Arbeit seines Geistes, welche in mehr als 100 Schriften kleineren und größeren Upifanges vor uns ausgebreitet liegt, ungeachtet ihrer inneren Mannigfaltigkeit wesentliche Zusammengehörigkeit und Einheit. „Wenn er.als Lehrer der Jugend den echten Grundsatz der Erziehung für höhere Bildung, das fruchtbare Studium der alten griechischen, römischen und der deutschen Literatur vertritt und die Theorie der redenden und bildenden Künste in geistvoller Weise entfaltet, wenn er die junge Literatur mit Werken aus den Fächern des Dramas und Romanes bereichert, wenn er bald die größten Erzeugnisse der Maler und Bildhauer, bald die Darstellungen des Theaters schildert und gleich Lessing in seinen dramaturgischen Schriften ihr inneres Leben, ihre höhere Beziehung darlegt, wenn er später die Vergangenheit des Vaterlandes aus ihren Urkunden an das Licht zu stellen sucht und dessen Geschichte in einer Geist und Gemüt erhebenden Art vorträgt, wenn er in biographischen Schilderungen das Verdienst and die Ehre ruhmwürdiger Zeitgenossen, besonders seiner Vorgänger und Mitarbeiter in der Akademie preist, oder in die bürgerlichen Verhältnisse eindringend zu enthüllen strebt, was den Ackerbau, was die Gewerbe hemmt und was zu ihrer Förderung nötig ist, so ist es überall derselbe Geist, der ihn drängt und treibt, dasselbe Ziel, das er verfolgt, die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes."

Neben dem Aufklärer steht der Mystiker. F r a n z v o n B a a d e r war eine in sich geschlossene, zielklare Persönlichkeit, ein echter Vertreter seines bayerischen Stammes, in seiner idealen, tief religiösen Gesinnung ein echter Deutscher.2) Eine wertvolle Quelle zum Verständnis des Menschen und seiner Philosophie bieten die von Emil August von Schaden, dem Schwiegersohn Friedrich Thierschs, herausgegebenen Tagebücher Baaders. Franz von Baaders 3 ) Interessen waren von Anfang an zwei Gebieten zugewandt, den Naturwissenschaften und der Philosophie. Westenrieder. Spl. 8. ) F i s c h e r , Baader. S. 3. 3 ) H o f f m a n n , Baader. Bd. I. 2

S. 7 i 3 f f . Ferner S. W.

Bd. 15.

— 193 — Während ihn seine medizinischen Studien nach Ingolstadt und Wien führten, wo Stoll eine weltberühmte Klinik leitete, leinte er bei seinen mineralogischen und chemischen Forschungen die deutschen, englischen und schottischen Berg- und Hüttenwerke kennen und trat mit berühmten Gelehrten wie Alexander v. Humboldt und Abraham Werner in Verbindung. Technische und philosophische Abhandlungen gingen immer Hand in Hand. Auf seinen großen Reisen beobachtete er mit scharfem Blick die geistigen und politischen Strömungen und suchte den Umgang hervorragender Männer. So machte er schon vor seiner Niederlassung in München die Bekanntschaft Johann Michael Sailers, Jacobis, Claudius' und Perthes'. Schellings und Fichtes Jugendschriften studierte er genau, Lavaters Physiognomik zog ihn an. In Sachsen waren ihm die Folgen übertriebener Aufklärung, Schlaffheit und Schwäche, nicht entgangen. Noch während des schottischen Aufenthaltes entstand die Schrift: „Ueber Kants Deduktion der praktischen Vernunft und die absolute Blindheit der letzteren", die bereits keimartig seine ganze Philosophie enthält. Im Jahre der Uebersiedlung nach Bayern entstand die naturphilosophische Untersuchung: „Ueber das pythagoräische Quadrat in der Natur oder die vier Weltgegenden", die von Schelling und Eschenmayer benützt wurde und von Goethe das Lob empfing: „Das Werklein hat mir wohl behagt." Novalis rühmte die reale Psychologie. Während des Münchener Aufenthaltes war seine gewaltige Arbeitskraft wiederum zwischen Naturwissenschaft und Philosophie geteilt. Zum Münz- und Bergrat ernannt (1798), stieg Baader in dieser Laufbahn bis zum Oberstbergrat, einer Stellung, in der er auch Vorlesungen über Bergbaukunde und Probierkunst hielt. Seinen geistigen Neigungen entsprach sein Verkehr; zu Tieck zog ihn das gemeinsame Interesse an dem Mystiker Jakob Böhme. Bald folgte die persönliche Bekanntschaft mit Schelling. Beide waren von Kant ausgegangen und stimmten in der Naturphilosophie in manchen Punkten überein. Baader sah in Schelling zu viel Fichte und Spinoza, Schelling in Baader zu viel Mystik; im Gespräch war Baader entschieden der Ueberlegenere und Schelling spürte manchmal fast unwillig diesen Einfluß. Auch als Mitglied der Akademie (1808) beschäftigte sich Baader lange Zeit mit Experimenten Glaubersalz statt der Pottasche zur Herstellung des Glases zu verwerten; gleichzeitig untersuchte er in einer Akademierede das Verhältnis der Ethik und Physik. Die politischen Ereignisse, wie der Wiener Kongreß, erregten sein stärkstes Interesse; namentlich reizte ihn das Problem einer innigeren Verbindung der Religion und Politik. In Napoleon sah er den Fürsten der Loewe, Friedr.Thiersch,

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politischen Finsternis. Trotz seiner umfassenden Anitsgeschäfte fand er noch Zeit die Schriften der Kirchenväter, Theosophen, der großen Scholastiker und der neueren Philosophen eingehend zu lesen, vor allem Kant und Hegel. In den Ruhestand versetzt (1820), widmete er seine ganze Kraft der Philosophie und den großen Fragen der Gründung einer Akademie für religiöse Wissenschaft und der Wiedervereinigung der morgen- und abendländischen Kirche. Nach Verlegung der Universität berief König Ludwig Baader als Honorarprofessor der Philosophie neben Schelling. Baaders Tagebücher, 1 ) die die Jahre 1786—1793 umfassen, zeigen, wie sich der begabte Jüngling mit den großen Problemen der Geistesgeschichte auseinandersetzt und in unermüdlichem Ringen seine eigene Weltanschauung aufbaut. Sein Wahrheitssinn war viel zu lebendig als daß er irgend etwas auf bloß äußere Autorität hingenommen hätte. Die Beschäftigung mit den geistigen Errungenschaften der Vorzeit und Gegenwart mußte dazu dienen die in seinem Innersten schlummernden Keime seiner Individualität zu wecken. Baader ist im eminenten Sinne der philosophus christianus f ) denn so wie er haben nur wenige ihr gesamtes Wissen von natürlichen und menschlichen Dingen von dem großen christlichen Grundgedanken durchdringen lassen; „Physik, Ethik, Sozietät sind für ihn nur Ausflüsse und verschiedene Modifikationen einer und derselben, d. i. der religiösen und christlichen Wahrheit." Schon der Einundzwanzigjährige in München achtet die Heilige Schrift von allen Büchern am höchsten, da sie dem Gemüt und Geist sich als höchste und lauterste Erkenntnisquelle erschließt und er in ihrem Inhalt sein tiefstes Sehnen wirklich befriedigt findet. Es ist nicht ein sentimentales Gefühlschristentum, sondern ein mit dem höchsten sittlichen Ernst verbundenes Forschen nach den innersten Zentralwahrheiten des Glaubens. Von Tantalus' Höllenqualen wird er befreit sein, 3 ) wenn das Problem des Dinges an sich in der Natur und in der menschlichen Seele gelöst ist. „Tief fühle ich das innere Bedürfnis der Erkenntnis." Er vermutet, daß im yvio&i aeacrov das ganze Geheimnis des Rätsels verborgen liege. Schon ahnt er die Einheit von Physik und Ethik, die Uebereinstimmung der Gesetze im Reiche der Natur und in der Welt der Geister und den Zusammenhang der Seele mit der Gottheit. !) Franz v. B a a d e r s S. W . Bd. II. 2 ) S c h a d e n , Tagebuch. S. X X V I . 3 ) S c h a d e n , Tagebuch. S. 7.

Leipzig 1850.

H a m b e r g e r , Baader.



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„Sieh! 1 )

die Blume, wie sie sich ihrem Bräutigam, der Sonne, entgegenwendet, sie sauget Licht, pranget und blühet — Nacht, Finsternisse umgeben sie — sie welkt — das geht täglich vor unseren Augen nach physikalischen Gesetzen, wie man sagt, vor. Und sollten im Innern der Dinge, in der Geisterwelt, diese Gesetze nicht wirken? Ist denn mein Geist so isoliert, abgetrennt, willkürlich in allem seinen Tun als wir wähnen? — Nein! Er wendet sich hinauf zum Quell und zu der Sonne aller Wesen, und Licht und Wahrheit und Güte und himmlische Wollust füllt ihn und er vergißt seines Gottes, wandelt in irdischen Dingen herum, greift nach Schatten — und welkt! — Alles nach denselben ewigen physikalischen Gesetzen! Ein wahrer Influxus, den unser Selbstgefühl beweist. — Einzig wahre Philosophie und Physik alles Gebetes." Er hofft2) durch Anstrengung und tätiges Wollen schon hier eine Stufe der inneren Vollkommenheit, Weisheit und Güte zu erreichen. „Moral ist ja nur höhere Physik des Geistes." „Je besser, wahrhaftiger ich mich fühle und bin, desto wahrer und unfehlbarer wird meine Erkenntnis alles Wahren und Falschen in anderen." Bei der Lektüre Klopstocks, Herders und Pascals wird ihm klar, „daß wir mit allem Spekulieren und Demonstrieren immer ohne Gott in der Welt sind", daß es „Augenblicke deiner Erbarmungen, o Vater, sind, wenn du das hi'mmelvolle Gefühl deiner Allgegenwart in meine Seele strahlst." „Ich brauche nur das Auge zu öffnen, so erleuchtet und erwärmt mich Gottes Sonne. Sollte es mit Erkenntnis, Gefühl des Allbelebenden anders sein?" 3 ) Er findet einen „inneren Sinn" in sich, der bei Heiterkeit und Stille des Geistes erwacht und ihm die größten und wichtigsten Wahrheiten offenbart. Durch „Schauen" kommt er zur Enthüllung des Geheimnisses Gottes in der Natur.*) „Oeffne deine Augen — weiter nichts — und du siehst." Die ganze Psychologie und Theologie des Altertums ging von „dieser schönen, holden, allgegenwärtigen Erscheinung Gottes in der Natur aus." „Und wahrlich, auch ich mag ewig von keiner anderen Theologie und Psychologie wissen alä von dieser." Was für die Offenbarung Gottes in der Außenwelt gilt, das gilt auch für die in unserem Innern. „Ich öffne mein Auge und sehe, was da ist." Die „intuitive Erkenntnis" zerstört dem jugendlichen Kämpfer alle beängstigenden Zweifel. Tagebuch. S. 8. 13. April. Ebenda. S. 24. 20. April. 3) Ebenda. S 32. 4) H a m b e r g e r , Baader. S 13 2)

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— 196 — A l s ihm überwältigend klar wird, daß in ihm ein Gefühl einer wüsten Leere jedem Fortschritt zum besseren Wissen vorausgeht, schreibt er in sein Tagebuch: „Gärung und anscheinender Tod des Wissens, Skeptizismus als wahrer kritischer Todeskampf zu lebendiger Erkenntnis Gottes!! — Hier fing ich an, die Heilige Schrift zu lesen." Durch ein konsequentes Studium der Bibel und Selbstbeobachtung entwickelten sich allmählich die Grundanschauungen seiner späteren Naturphilosophie: das starke Gefühl menschlicher Sündhaftigkeit 1 ) und der dadurch bedingten Schwächung aller höheren Kräfte, die Gedanken der Notwendigkeit der Erlösung und Wiedergeburt, der unerschütterliche Glaube an ein physisch und psychisch im Menschen vorhandenes inneres Streben nach Gott — „erste und letzte Philosophie ist und bleibt doch immer die Religion" 2 ) — , die Ueberzeugung, daß die geschichtliche Tatsache des Christentums der feste unverrückbare Eckstein eines felsenfesten Glaubens bleibt, daß der W e g zum Schauen „das Experimentemachen mit dem Christentum an sich selbst sei", die Gewißheit von der helfenden Liebe Jesu, „des göttlichen Dramaturgen". 3 ) Noch einmal mußte dieses Gedankensystem die Feuerprobe des Zweifels bestehen; dann waren Baaders Kämpfe um seine Weltanschauung beendigt. Infolge seiner tief religiösen Grundanlage fühlte sich Baader am stärksten durch die Schriften der Mystiker gefördert; nachdem Eckartshausen in dem ahnungsreichen Jüngling „das Licht höherer Erkenntnis" entzündet hatte, schöpfte dieser reichste Belehrung aus Hamanns und St. Martins Werken und vor allem aus dem Studium Jacob Böhmes, auf den er durch den Württemberger Philosophen Oettinger aufmerksam gemacht wurde. Aber auch Klopstock, Herder, Claudius, Lavater verdankte er, wie seine Tagebücher beweisen, viel. In nähere persönliche Berührung trat er mit Claudius, Jacobi, Jung; für seine spekulative Selbstentwicklung am wichtigsten wurde sein Verkehr mit Schelling. 4 ) Da Baader in den Mittelpunkt seiner ganzen Gedankenarbeit die christliche Wahrheit stellt, so beginnt er sein System mit einer religiösen Erkenntnistheorie und einer religiösen Grundwissenschaft; darauf baut er eine religiöse Naturphilosophie, darauf eine religiöse Geistphilosophie, die ihren Höhepunkt in einer religiösen Sozietätsphilosophie findet. H a m b e r g e r , Baader. S. 17/18. Tagebuch. S. 113. 3) Ebenda. S. 117, 119. 4) F i s c h e r , Baader. S. 9ff. 2)



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verehrt 1 )

Er in Gott den Schöpfer und Vater des Alls, die absolute Macht seiner inneren Natur wie der Natur des Alls, die sich selbst bestimmende und wissende Persönlichkeit, einen urlebendigen Geist; die göttliche Natur, deren wir teilhaftig werden sollen, ist die urbildliche Wahrheit, das Prototyp der Natur des Alls und des Menschen. „Der seiner Idee entsprechende und mithin vor allem der absolute göttliche Geist existiert nicht naturlos, sondern „naturfrei"." Scharf schied er „Gottes absolute und mithin unendliche, in sich vollendete Selbstverwirklichung oder Selbstbestimmung und mithin sein ewiges Leben, welches die Wahrheit eines untätigen Seins und eines passiven unruhigen Werdens ist", von seiner zeitlichen sukzessiven Offenbarung durch die Schöpfung, Regierung, Erlösung und Vollendung der Welt. Durch diese Scheidung überwand er Jacobis subjektiven Theismus und den Gott und die Welt identifizierenden Pantheismus und wurde der entschiedenste Vertreter des christlichen Theismus. In seiner Erkenntnislehre stellt er sich in entschiedenen Gegensatz zu Hegel und allen, die den göttlichen und menschlichen Denkprozeß nicht scheiden. Unser Erkennen ist eine conscientia, ein Mitwissen, eine Teilnahme am göttlichen Wissen. Drei eng zusammenhängende Begriffe, die sich in allen Schriften Baaders finden,2) die der „Einwohnung", „Beiwohnung" und „Durchwohnung" erscheinen auch in der Erkenntnistheorie. „Nur im dynamischen Erkennen" — führt er aus — „wohnt das Erkennende dem Erkannten ein als Seele, beim mechanischen Erkennen findet von Seiten des Erkennenden bloß ein Durchwohnen statt; wenn das Erkennende dem Erkannten einwohnt, so erkennt dieses jenes an und erkennt hiermit dessen wesentliche lebendige Einwohnung. Was ich dagegen nur von außen begreife und erkenne, was ich bloß durchwohne, ohne ihm einwohnen zu wollen, das beherrsche ich nicht mit und durch Liebe, sondern bloß durch Furcht." Da nach Fichte jedes wahre Sein Selbstbewußtsein ist, weiß sich Gott in uns; er existiert durch die innere Vollkommenheit seines ewigen Lebens oder die unendliche vollendete Energie seiner Selbstbestimmung an und für sich „räum-" und „zeitfrei"; er affirmiert seine innere Unendlichkeit und Freiheit durch die Allmacht und objektive Freiheit, mit der er ohne räumlich und zeitlich beschränkt zu sein und mithin allgegenwärtig und allwirksam durch die Perioden der Weltentwicklung, deren ewiger Herr er ist, sich offenbart. Durch!) Ebenda. S. i 6 f f „ 21. 2) S c h a d e n , a. a. O. S. X .

— 198 — wohnt das göttliche Wissen das Geschöpf, so ist dieses gezwungen von Gott zu wissen; wohnt es bei, so besitzt das Geschöpf empirisches Wissen; wohnt das göttliche Wissen dem Geschöpf inne, so besitzt es freies, spekulatives Wissen; der Mensch kommt zum richtigen Gebrauch der Vernunft. Da er durch den Sündenfall sein Erkenntnisvermögen zerrüttet hat, hilft ihm der göttliche Logos; doch steht ihm frei diese Hilfe anzunehmen oder abzuweisen. Mit dieser vom Geist der Religiosität erfüllten Erkenntnistheorie im engsten Zusammenhang steht Baaders Metaphysik oder „philosophische Grundwissenschaft". 1 ) Als besonders charakteristisch erscheint hier seine Auffassung, daß auch in den vollendeten Wesen eine „fortwährende Lebensströmung", „ein unaufhörliches Werden", „eine beständige Erneuerung ihres Seins" aus dessen tiefsten und innersten Quellen stattfindet und Geist und Leib Korrelata sind. Er kennt eine materielle und eine dem Geist ganz eigentlich entsprechende vergeistigte Leiblichkeit; aus dem Chaos läßt der Geist die Leiblichkeit sich entwickeln. In der Lehre von der Siebengestaltigkeit der Natur schildert er den Kampf zwischen dem geistigen Leben und der Natur. Die Naturphilosophie Baaders ist aufs stärkste von seiner Auffassung der Zeit und des Raumes beeinflußt. Er unterscheidet Zeitlichkeit — Ewigkeit — Unterzeitlichkeit und analog Räumlichkeit — Ueberräumlichkeit und Unterräumlichkeit. Das „ewige Leben" faßt er in einem konkreten lebendigen Begriff: „Alles, was in dem vollkommenen Leben besteht, ist immer, ist immer gewesen und wird immer sein; es ruht immer in seiner Bewegung und bewegt sich immer in der Ruhe, es ist immer neu und doch immer dasselbe." Diesem Begriff des ewigen Lebens, in dem Vergangenheit und Zukunft zur Einheit verbunden sind, steht gegenüber der des ewigen Todes, der ungestillten, brennenden Sucht. Die Zeitlichkeit liegt in der Mitte und hat teil an der Natur beider. In der Ueberräumlichkeit waltet das engste Ineinanderleben, in der Region der Unterräumlichkeit bekämpfen sich die Kräfte der Zusammenziehung und Ausdehnung, in der der Räumlichkeit bestehen sie nebeneinander. Baaders Naturphilosophie verwirft den Atomismus und Mechanismus zugunsten der dynamischen Auffassung. Als besondere Aufgabe betrachtet 8 ) er es, die Naturkunde in eine engere Verbindung mit der Religionswissenschaft zu setzen und er suchte daher überall die Analogie zwischen dem Reich der Natur und der „Gnade" zu zeigen; zu*) H a m b e r g e r , Baader. S. 24Ü. 2 ) F i s c h e r , Baader. S. 33ff.

— 199 — gleich geht sein Streben dahin, eine übermaterielle himmlische Leiblichkeit nachzuweisen. In entschiedenem Gegensatz zu einseitigem Spiritualismus erkennt Baader die Realität der materiellen Welt an, wenn in ihr auch die eigentliche Fülle des Lebens nicht walte; in ihrer materiellen Gestalt habe sie ursprünglich nicht existiert und solle dereinst zu einem übermateriellen Dasein erhoben werden. Der Dreiheit von Zeit und Raum entspricht die Dreiheit der Regionen der Materie, der Uebermaterialität, Materialität und Untermaterialität. Die letzte, in der Idee und Natur einander völlig feindlich gegenüberstehen, ist die infernale, im Himmel findet die Idee ihre vollkommene Offenbarung, auf der Erde kommt die Idee nur zu unvollkommener Darstellung. In der übermateriellen Leiblichkeit hat die Gewalt der Idee alles Widerstrebende besiegt; „die Natur ist zur lauteren Form des Geistes und für diesen ganz durchsichtig geworden; Trübheit, Schwere, Beschränkung in Raum oder Zeit, Zerfall oder Untergang ist gewichen". Ein wissenschaftliches Verständnis des Christentums ist ohne die Annahme einer derartigen übermateriellen Leiblichkeit nicht möglich. Im Christentum, in der Verklärung des Heilandes erscheinen Idealismus und Realismus versöhnt. Mit nicht mißzuverstehender Klarheit weist Baader auf die Gefahren hin, die die Beschäftigung mit den Erscheinungen aus dem Nachtgebiet der Natur, z. B. des Somnambulismus, in sich bergen. Scharf weist er eine Verwandtschaft desselben mit der religiösen Ekstase ab. Baader ist der Vertreter einer dynamischen und organischen Lebensauffassung. 1 ) Wie Hamann „empfand er alles aus der Einheit" und stellte es aus ihr dar; daher bekämpfte er schon in seinen Jugendschriften jede atomistische Vorstellungs- ünd Erklärungsweise; gleich Goethe hielt er es für unmöglich individuelles Dasein oder organisches Leben durch die mechanische Vorstellung des Zusammengesetztseins zu verstehen. Daher verwarf er die abstrakte Entgegensetzung von Natur und Geist, wie sie Cartesius lehrte, ebenso wie Schellings und Hegels Identifizierung beider. Den Kosmos betrachtete er als eine Einheit; nur unter dieser Voraussetzung schien ihm ein System des Seins und Wissens möglich. Aber mit aller Bestimmtheit forderte er eine scharfe Trennung der verschiedenen Stufen der Natur und eine klare Herausarbeitung ihrer wesentlich verschiedenen Daseins- und Lebensprinzipien. Im Gegensatz zu Darwin, dem Baader die Nichtbeachtung grundlegender Unterschiede bei der Aufstellung seiner Hypothese vorwirft, lehrt er: „Der Mensch ist noch weniger das vollkommenste, durch die vorteilhafteste Organisation F i s c h e r , Baader.

S. 32ff.



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und kräftigste Selbstentwicklung im Verhältnis zur Außenwelt raffinierteste Tier, als dieses die entwickeltste Pflanze und diese das am vollkommensten kristallisierte Mineral ist." Die organische Natur muß streng von der anorganischen geschieden werden, die sinnliche Seele des Tieres von dem freien intelligenten Geist des Menschen. Jede Sphäre und Stufe weist auf die vorhergehende zurück und auf die folgende hin; darin besteht die Einheit des Kosmos; in den elektrischen, chemischen, magnetischen Kräften erkannte er die wesentlichen inneren Potenzen und Energien des unorganischen Lebens; sie sind die Voraussetzungen und Bedingungen des organischen Lebens, nicht zureichende Erklärungsgründe seiner Selbstentwicklung und Selbsterhaltung. So unterscheidet Baader bestimmte Schöpfungsepochen, durch die jedesmal die neuen Prinzipien und Lebenskreise entstanden. In der Einheit und Gesetzmäßigkeit des Weltganzen und in den speziellen Gesetzen und Typen offenbart sich ihm Gottes systematisierende Kunsttätigkeit. In Natur und Geisteswelt sucht er die Analogie beider Reiche nachzuweisen. Ueber der Harmonie der Natur ließ er aber nicht die relative Disharmonie der zeitlichen Entwicklung und Erscheinung des Naturlebens unbeachtet, und so forscht er auch nach dem Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde; von dem Gedanken ausgehend, daß die Disharmonie die Harmonie voraussetzt, nimmt er die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt als Realisierung der Idee Gottes und seiner Schönheit in der Natur an und begreift als Ziel der Schöpfung die Gottebenbildlichkeit des Urmenschen, der ihr selbstbewußter Einheitspunkt ist. Aus dem überwältigenden Sündenbewußtsein ergibt sich ihm das Erlösungsbedürfnis der Welt durch Christus, in dem er die persönliche Selbstoffenbarung Gottes und den zweiten urbildlichen Urmenschen, den Herrn und das Haupt der erlösungsbedürftigen Menschheit erkennt. Die organische Weltanschauung Baaders kulminiert so „in der Idee der Rekapitulation oder Zusammenfassung des Alls in seinem persönlichen Einheitspunkt oder Haupt, dem eingeborenen Sohn Gottes". Die Philosophie der Natur, dieser äußeren Offenbarung Gottes, wird die Voraussetzung der Philosophie der Geschichte und Welt des Geistes; daher verfolgt Baader die ethische Offenbarung des dreieinigen Gottes im Reich der Geister, die ihm ähnlich sind und deren Ziel es ist zur persönlichen Gemeinschaft mit Gott zu gelangen. Während der Rationalismus auch gebildete Katholiken ergriff, betonte Baader, daß das Wesen des Christentums, das die Menschheit geistig regenerieren und heiligen soll, die Annahme der persönlichen Selbstoffenbarung in dem Erlöser voraussetze und wesentlich Lebensgemeinschaft



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des Menschen mit Gott durch ihren gottmenschlichen Mittler und in ihm sei. In Uebereinstimmung mit Männern wie Schleiermacher und Daub lehrte Baader die wesentliche Einheit der Lehre Jesu und seiner Person. Christus ist die Vollendung der ethischen Offenbarung Gottes, durch seine gottmenschliche zentrale Persönlichkeit der Schlußpunkt und das Ziel der Offenbarung Gottes in der Geschichte der alten Welt wie durch seine erlösende, person- und gemeinschaftsbildende Wirksamkeit der Schöpfer und das Haupt eines neuen geistigen Gesamtlebens, eines göttlichen Reiches der ewigen Freiheit, Liebe und Wahrheit. Tief überzeugt von der person- und gemeinschaftsbildenden Erlösertätigkeit Jesu entwickelte er seine Anschauung über die Organisation der christlichen Gemeinschaft oder der Kirche, ihr Wesen, ihre ursprüngliche Gestaltung und ihren organischen Fortschritt und bekämpfte den Ultramontanismus oder hierarchischen Despotismus. Am klarsten zeigt sich seine organische Lebensanschauung in dem Versuch als ihr wesentlichstes Gesetz das der „Evolution" nachzuweisen durch eine Prüfung der Voraussetzungen und Vorstufen der gegenwärtigen Gestaltung. Daher war er der energischste Bekämpfer jeder revolutionären Tendenz. Das beweist seine Auffassung des Staates und der Kirche. Gleich Thiersch und Schelling vertritt er eine gesunde Mischung konservativer und liberaler Ansichten. Bei aller Hochschätzung des Gewordenen tritt er für organischen Fortschritt ein. Der Staat vermag seinen Zweck nur in freier Gemeinschaft mit der Kirche zu verwirklichen, durch Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung das äußere und innere geistige Wohl der Stände und Individuen sicherzustellen. 1 ) In diesem Sinn arbeitete er ungeschreckt durch Mißerfolge für eine Wiedervereinigung der Politik mit der Religion und Moral. In der Religion sah er das innerste Prinzip der Gründung wie die sicherste Garantie der gesunden Fortentwicklung des Staates. In Konsequenz dieser Grundauffassung bekämpfte er die unchristlichen und unvernünftigen Forderungen der Volkssouveränität, des allgemeinen Stimmrechtes und der parlamentarischen Regierung; diese hindere geradezu die freie harmonische Entwicklung des Volkes und der Individuen, indem sie die Autorität der verfassungsmäßigen Regierung und die Einheit des Regierungssystems unmöglich und das Wohl des ganzen und der einzelnen von wechselnden Beschlüssen 1 ) Bruno E r d m a n n , Grundriß der Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 2. S. 591 ff. 1896.



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nicht der geistigen sondern der numerischen Majorität abhängig mache, zu deren Vollzieherin sie die Regierung degradiert. Der christliche Staat ist ihm das Ideal der wahren Politik, die ständische Monarchie die vollkommenste Organisation, da sie die Einheit des durch Verfassung und Gesetz normierten Regierungssystemes, die freieste, vollkommenste Entwicklung und das einheitlichste Zusammenwirken der Stände und Individuen und ihre zweckmäßigste, berechtigtste Vertretung sichere. Die Religion war ihm auch die Seele des sittlichen Familienlebens und der Gliederung der Sozietät in die einander ergänzenden Stände der materiellen Produktion und Formierung und der geistigen Bildung und Wirksamkeit. Entsprechend seinem tief religiösen Wesen verehrte Baader die romantische Kunst, die im Dienst der Religion steht; in der Wissenschaft dünkte ihm die letzte und höchste Aufgabe die Erforschung Gottes im gesamten Universum. Diese Grundauffassung berührt sich aufs engste mit Thierschs Ansicht, die er in einer Akademierede näher ausführt: die Wissenschaft erscheint ihm als ein Ganzes, als die Lehre vom All. Sie sucht uns der schicksalsvollen Frage näher zu führen, die schon der hellenische Sänger dem menschlichen Geist gestellt hat: „Was ist Gott? Was das All? Gott ist, der uns alle erschaffen.'' 1 )

IV. Kapitel.

Schlichtegroll. Die Technik.

Die Naturwissenschaften

unter dem Einfluß der Naturphilosophie. Ein interessantes Bindeglied zwischen dem lebhaft aufblühenden Neuhumanismus, den Naturwissenschaften und der rasch sich entwickelnden Technik in München bildete Friedrich Adolf v. Schlichtegroll,2) der älteste Freund von Jacobs. Der Briefwechsel mit seinem Landsmann Thiersch,3) als dieser in Paris weilte, zeigt, in welch vertrautem Verhältnis beide Männer zueinander standen; neben wissenschaftlichen und geschäftlichen Dingen nehmen persönliche Angelegenheiten einen breiten Raum ein. Als der jugendliche Student die Universität Jena bezog, vertiefte er sich unter der Leitung Griesebachs, x)

L o e w e , Lebenswerk S. 372. Über Schlichtegroll handeln: J a c o b s im X. N. der Deutschen. Bd. 1. Heft 1. H o c h e in A . D . B . Bd. 31. S. 484ff. W e i l l e r , Rede am 28. März 1882. M o l l , Mitteilungen. III. S. 714—804. J a c o b s , Personalia. S. I79ff. S c h ü t z , Leben. Bd. 2. S. 438ff. 3) Thierschiana. 60. 2)

— 203 — des hervorragendsten Schülers Semmlers, in theologisch-philologische Studien; aber Schütz und Hufeland gewannen ihn immer mehr für die Altertumswissenschaft und so ging er nach Göttingen um bei Heyne seine Studien abzuschließen. Nach Gotha zurückgekehrt unterrichtete er 13 Jahre lang am Gymnasium in Religion, Deutsch, Hebräisch und Latein, war seinen Schülern ein in allen Lagen hilfsbereiter Freund und benützte die freie Zeit zu immer umfassenderen archäologischen Arbeiten. 1800 legte er seine Schulstelle nieder und widmete seine ganze Kraft dem herzoglichen Münzkabinett. Zumal seit seiner Heirat mit der geistreichen Tochter des Geheimhofrates Rousseau wuchs die Zahl der Gelehrten, die sein gastliches Haus aufsuchten; eine Pariser Reise (1805) brachte ihn mit Miliin, Visconti und Winkler in Verbindung; zwei Jahre später traf ihn der Ruf als Generalsekretär an die reformierte Münchener Akademie. Schlichtegroll nahm an in dem Wunsche zur Hebung eines Institutes beizutragen, das der gesunkenen deutschen Ehre doppelt not tat. Mit wahrem Feuereifer ging er an die Arbeit und fand an dem Vorsitzenden der mathematisch-physikalischen Klasse, Freiherrn von Moll, einen stets bereiten Helfer. Sein Briefwechsel mit diesem auch humanistisch feingebildeten Mann gewährt einen Einblick in die wechselvolle Geschichte der Akademie von 1807—1822, bis der Tod den Nimmermüden erlöste. Ueber den Charakter Schlichtegrolls sind alle einig. Moll,1) der in besonders nahe Bekanntschaft mit ihm kam, urteilt: „Der der Akademie der Wissenschaften zu München gewiß so wie mir unvergeßliche — wahrlich zum Generalsekretär geborene — geist- und gemütvolle, unermüdlich arbeitsame, mitteilende, dienstfertige, bei regem Sinn für alle Zweige des Wissens und dankbarer Anerkennung jeder Bemühung zur Erweiterung desselben, hatte er einen wohlwollenden, vermittelnden, versöhnenden Charakter". Der Grundzug seines Wesens tritt wohl am deutlichsten in einem Brief an Schütz2) entgegen. „Ich lasse mich durch keine Erfahrung in meiner vorherrschenden Stimmung, in zutrauungsvoller Liebe, in verzeihender und bessernwollender Nachsicht gegen die Menschen irremachen. Diese Lehre des Evangeliums, die doch auch der rüstige, gar nicht bloß empfindsame Paulus 1. Cor. 13 mit Worten predigt, ewig wahr wie die Sterne am Himmel, ist verachtet von unserem kriegerischen Zeitalter, kriegerisch in der Politik wie in der Literatur, von den Kaisern, Ministern und Philosophen; 2

Mitteilungen aus seinem Briefwechsel. I I I . Abt. S. 714. ) S c h ü t z , Leben. Bd. 2. S. 438. 2 1 . April 1 8 1 2 .

1834.

— 204 — und doch wird sie das einzige Menschliche bleiben bis an das Ende der Tage, und das Geschlecht dauert nur fort, und alles, was gedeiht, gedeiht nur, weil zwischen den Gewaltmenschen immerfort Gemüter gefunden werden, die trotz der Verhöhnung und der Anklage, als wären sie schwach, an diesem Sinn unerschütterlich festhalten. ' „Schlichtegrolls ganzes Dichten und Trachten" — so äußerte sich Weiller 1 ) in seiner Gedächtnisrede — „ging auf die wichtigste Angelegenheit unserer Gattung, die höchsten heiligsten Zwecke des bürgerlichen und religiösen Lebens." Fünfzehn Jahre lang wirkte Schlichtegroll für die Akademie; die Arbeitslast war besonders groß, weil, abgesehen von den gewöhnlichen Dienstverpflichtungen, zahlreiche Hilfsinstitute mit ihr verbunden waren, die Bibliothek, die Naturaliensammlung, das Kabinett der mathematischen und physikalischen Instrumente, das polytechnische Kabinett, das chemische Laboratorium, das Münzkabinett, das Antiquarium, das Observatorium und der Botanische Garten. Da galt es Baulichkeiten zu schaffen und einzurichten, die vorhandenen Sammlungen neu aufzustellen, zu ordnen und die Verhandlungen wegen Ergänzungen zu führen; gerade die Zusammenarbeit mit der mathematisch-physikalischen Klasse brachte ihn in nächste Berührung mit den führenden Technikern, und es ist interessant, zu sehen, wie der Humanist nicht müde wird nach Kräften an dem Aufblühen der Technik mitzuarbeiten, wie er sich freut, wenn Fortschritte erzielt werden. „Es geht doch alles vorwärts" — so schreibt er an Schütz 2 ) — , unsere Sternwarte hat nun die drei Reichenbachischen Instrumente, die zusammen noch keine Sternwarte hat, den ganzen Kreis und das Aequatorial. Das chemische Laboratorium wird sehr bald zu bauen angefangen, ebenso das Gewächshaus für den Botanischen Garten, der neuangebaute Flügel für die Bibliothek kann im künftigen Frühjahr mit Büchern besetzt werden." Die Anlage des Botanischen Gartens auf dem Schotter des alten Isarbettes kostete unerhört viel, Mühe; für Alpenpflanzen wurde eine Felsenpartie, für Sumpfpflanzen eine Wasserpartie eingerichtet. Mit Genugtuung berichtet er ein anderes Mal,3) daß die Versuche Baaders und Wiebekings, der Gegner Reichenbachs, über das Brechen der von diesem vorgeschlagenen Röhren zu den Brückenbogen an der Isar zu seinen Gunsten ausfielen. „Indigo, Zucker und Brückenvorschläge sind unsere gangbarsten Artikel" heißt Vermischte Reden und Abhandlungen. Passau 1826. Leben. S. 438. 21. April 1812. 3) S c h ü t z , Leben. Bd. II. S. 442. 16. August 1814. 2)

3. Bdch.

S. 17ff.

— 205 — es 1812 im Anschluß an eine Mitteilung, daß an die Akademie vier Eingaben über neue Brückenkonstruktionen erfolgten; „Thiersch nimmt sich des philologischen Teiles wacker an". Die Münzsammlung wurde durch die Cousiniersche Sammlung bereichert, die naturhistorischen Sammlungen erfuhren durch brasilianische Erwerbungen großen Zuwachs. Lebhaft interessierte sich Schlichtegroll für die Entdeckung der Lithographie; durch unaufhörliche Ermunterung gelang es ihm Senefelder dazu zu bringen, die Geschichte seiner Entdeckung zu schreiben; für sein Lehrbuch des Steindruckes verfaßte er eine Vorrede. In dem „Anzeiger für Kunst- und Gewerbefleiß" (1816/17) erschienen seine Briefe über die Erfindung des Steindruckes. Als das Gewerbe und die Technik darniederlag, gründete er zusammen mit Zeller und Yelin 1815 den polytechnischen Verein „zur Förderung des vaterländischen Kunst- und Gewerbefleißes".1) Ganz besonderes Interesse wandte Schlichtegroll den Schulen zu; nie unterließ er es am Schluß des Studienjahres den öffentlichen Prüfungen beizuwohnen, die Ausstellung der Arbeiten zu besuchen und bei den Preisverteilungen gegenwärtig zu sein. Daneben fand er noch Zeit für den Verein für ältere deutsche Geschichtskunde zu wirken, zusammen mit Hofbibliothekar Scherer eine Zeitschrift „Teutoburg" zur Läuterung, Fortbildung und Geschichte der deutschen Sprache herauszugeben. Wie Schlichtegroll trat auch Friedrich Thiersch in persönliche Berührung mit Reichenbach und Fraunhofer. In einer 1852 gehaltenen Akademierede 2 ) des greisen Präsidenten fühlt man in den Stellen, die der Persönlichkeit der beiden großen Techniker und Wissenschaftler gewidmet sind, deutlich den Niederschlag eigenen Erlebens. „Charakter und Gesinnung des Mannes" — so faßt Thiersch sein Urteil über Reichenbach zusammen — „trug das Gepräge hoher Trefflichkeit, und auch an ihm bewährte sich der alte Satz, daß die höchste Genialität mit der größten Herzensgüte und mit der durchdringendsten Kraft des Denkens die Aufrichtigkeit und Verlässigkeit des Handelns in natürlicher Weise verbunden ist." Von Fraunhofer 3 ) heißt es: „Er erlag am 7. Juni 1824 im 37. Lebensjahre tief beklagt nicht nur als eine Zierde höherer Technik und Wissenschaft, sondern auch wegen seines edlen Charakters und sanften Wesens, durch welche geschah, daß ein jeder, der ihm nahe kam, in ihm das 1 8 1 5 — 1 9 1 5 . 100 Jahre technischer Erfindungen und Schöpfungen in Bayern. S. 33. 2 ) T h i e r s c h , v. Reichenbach, v. Frauenhofer. Spalte 20. 3 ) T h i e r s c h , Frauenhofer. Spalte 33.

T922.



206

1 >ikl der mildesten Güte und der reinsten Sittlichkeit erblickte." Damit stimmt überein die Ansicht des auch als Mensch hervorragenden Anatomen Sömmering, der an Moll schrieb, 1 ) als Fraunhofer hoffnungslos erkrankt dem Tod entgegensiechte: „Und nun vollends der sittliche Engel Fraunhofer, wie Sie ihn mit vollem Recht nennen! A c h teurer Freund! Man möchte für Jammer vergehen! Quis desiderii sit pudor aut modus tum cari capitis — Gerne gäbe ich mein Leben für Fraunhofers Gesundheit hin — denn er würde der Wissenschaft mehr nützen, der Wissenschaft, welche am Ende den Menschen doch am höchsten hebt und sicher zu den richtigsten Religionsbegriffen leitet. An den fest begründeten, wahren Lehren dieser Wissenschaft muß zuletzt aller Obskurantismus scheitern." Neben der Persönlichkeit der beiden Forscher interessierte Thiersch vor allem das Problem des Zusammenhanges der Wissenschaft mit der praktischen Tätigkeit. Unter diesem Gesichtspunkt gibt er die biographischen Rückblicke; er benützt gerade die Beispiele der hervorragendsten Mitglieder der Akademie um zu zeigen, „daß auf dem Gebiet des idealen Schaffens Forschung und Anwendung, Theorie und Praxis als die nach innen und nach außen gerichteten Tätigkeiten ebenso eng verbunden und so wenig ohne Tod lösbar sind wie Geist und Körper". Den Ruhm Fraunhofers und Reichenbachs, „zweier unserer glorreichsten Mitglieder", sieht er darin begründet, daß sie in fast gleicher Weise von der praktischen Seite zur wissenschaftlichen durchgedrungen und durch Vereinigung von beiden zu großen Resultaten gelangt sind. Er zeigt, wie das Bedürfnis nach genauen mechanischen Instrumenten Reichenbach auf das Problem führte: wie kann eine nicht durch Versuche, sondern nach mathematischer Methode zu bewirkende, vollkommen gleichmäßige Teilung des Kreisbogens erfolgen? Das Suchen und Ringen nach dem Prinzip dieser Teilung fand nach zahllosen Entwürfen seine Lösung in der Herstellung der berühmten Teilmaschine. Als es sich darum handelte, die in Berchtesgaden und Reichenhall gewonnene Sole zum Sud nach Rosenheim zu leiten, brauchte man Maschinen. Auch hier war es ein neues, auf rein wissenschaftlichem W e g gefundenes Prinzip, nach dem Reichenbach die zum Werk nötigen Maschinen mit doppelten Wassersäulen ebenso genial als einfach herstellte. Fraunhofer 2 ) sah sich vor die grundlegende Frage gestellt, achromatische Verbindungen von Flint- und Crownglas auf mathematisch-optischem Weg vollständig und nach

a)

M o l l , Mitteilungen. 4. Abt. S. 1359. T h i e r s c h , Fraunhofer. Spalte 29.

— 207 — sicherer Berechnung herzustellen. Erst nach Entdeckung der dunklen Linien im Farbenspektrum und der Beobachtung, daß sie für die Berechnung der Winkel, unter denen die Zerstreuung der Farben in zwei zu einander gebrachten Flächen von Flint- und Crownglas sich aufheben, die Grundlage und Formel enthielten, fand er das Gesetz dafür. Durch diese epochemachende Entdeckung, über die Fraunhofer in den Denkschriften der Akademie 1817 handelte, gab er der Optik ein neues Prinzip, hob die von Goethe versuchte Theorie der Farben auf und schuf der Anwendung des Teleskopes und Mikroskopes ungeahnte Möglichkeiten. Nicht, minder folgenreich wurden die Untersuchungen über die Beugung des Lichtes. Thiersch kommt durch seine Betrachtungen zu dem Schluß1), daß „die rein praktische Tätigkeit, je reger und genialer der Geist ist, der sie übt, desto entschiedener zur Wissenchaft und zur theoretischen Erforschung und Darlegung der Gesetze führt, unter denen sie steht und nach denen allein sie sich entfalten kann". Fraunhofers und Reichenbachs Tätigkeit zeigt aber nur einen Teil und eine Seite eines großen Ganzen. Von allen großen Zweigen und Prozessen der Technik, der Industrie und des Ackerbaues gilt dasselbe. „Wer auf diesem Gebiete in irgend einer Weise betätigt ist, tritt gleichsam mit seinen Fragen vor die Natur und sucht die Antwort in der Beobachtung und Deutung ihrer Erscheinungen oder er folgt dem Gebrauch, der sich auf frühere Erfahrungen und Beobachtungen der Art gründet und als eine Tradition in den Werkstätten fortgepflanzt hat. Wie auf dem Gebiet der Mechanik und Optik muß auf den übrigen ein genialer Mann kommen um durch Vereinigung von wissenschaftlicher und praktischer Tätigkeit einen großen Fortschritt zu erzielen. Besonders auf chemischem Gebiet ist die Möglichkeit gegeben. Aus solchen Erwägungen erfolgte 1851 die Einsetzung einer naturwissenschaftlich-technischen Kommission bei der Akademie der Wissenschaften. Es entspricht dem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und dem warmen Mitempfinden von Thiersch, daß er im Zusammenhang seiner Rede auch des genialen und gründlich gebildeten Mathematikers und Astronomen, des Benediktiners und Akademiemitgliedes Ulrich Schiegg gedenkt, der in dem nordöstlichen Turm des Wilhelminums Sternbeobachtungen anstellte und sich um die Vermessung der bayerischen Provinzen in Franken Verdienste erwarb. Eine wertvolle Ergänzung der Rede von Thiersch bildet jene, die er am 17. Nov. 1850 hielt: „Ueber die praktische Seite wissenschaftJ

) T h i e r s c h , Fraunhofer.

Spalte 19.



208



licher Tätigkeit." Denn in ihr würdigt er die Leistungen zweier hervorragender Vertreter der Naturwissenschaften, Joseph v. Baaders und Samuel Thomas v. Sömmerings, „die Bezug haben auf die beiden praktisch wichtigsten und größten Erfindungen der Gegenwart, durch welche die bewegenden und elektrischen Kräfte zu Trägerinnen des Verkehrs und der Völkerverbindung geworden sind". Mit Genugtuung stellt er fest, daß Baaders glänzende Erfindungen, die bessere Konstruktion der Eisenbahnen und ihrer Wagen, die Kompensationsmaschine für das Emporheben der Wagenzüge an schrägen Flächen und der Bergwinde für das Herablassen an denselben betreffend, aus seinen grundlegenden wissenschaftlichen Untersuchungen über die Gesetze der höheren Mechanik hervorgingen, muß aber sofort mit Bedauern hinzufügen, daß trotz der gelungenen Vorführungen in Nymphenburg und der lebhaften Unterstützung der Akademie die wichtige Erfindung in Bayern und Deutschland noch zehn Jahre ruhte; erst auf dem Totenbett habe Baader die Aufträge empfangen, die bezüglich der Anlage, Ausführung und Leitung größerer Eisenbahnen an ihn gerichtet wurden. Mit Samuel Thomas v. Sömmering 1 ) kam Thiersch im Hause Jacobis, der gleich Schenk zu seinen alten Freunden zählte, sowie in der Akademie in persönliche Bekanntschaft; der berühmte Anatom war 1805 als Mitglied der Akademie nach München berufen worden; hier trat er als Assistent im Sekretariat der mathematisch-physikalischen Klasse besonders Moll und Schlichtegroll sehr nahe und gewann die Freundschaft von Jacobs; mit Heyne stand er in regem Briefwechsel, da er mit ihm in Neigungen und Grundsätzen vollkommen harmonierte. 2 ) Thiersch gedenkt in seiner Gedächtnisrede Sömmerings mit Worten höchster Anerkennung als eines Physiologen und Anatomen ersten Ranges, der durch seine Untersuchungen über das Auge und das Gehirn der neueren Physiologie und ihren für die praktische Heilkunde so wichtigen Erfolgen mit seinem Freunde Ignaz v. Döllinger die Wege öffnete; er rühmt seine Vielseitigkeit in der Erfassung der Probleme, die ihn zu einer so wichtigen Entdeckung führte wie das Verhalten der Tierhäute bei Verdunstung, mit deren Hilfe es ihm gelang ein Verfahren zur Veredelung des Weines herzustellen, oder seine paläontologischen Untersuchungen im Anschluß an die versteinerten Tierreste in der Sammlung der Akademie. Als bedeutsamste Erfindung SömmW a g n e r , Sömmering. 2. Abt. S. n 6 f f . S. 1 2 5 5 — i 4 0 2 f f . Sömmerings Briefe. 2 ) W a g n e r , Sömmering. 2. Abt. S. 2 1 2 .

Moll,

Mitteilungen.

I V . Abt.

— 209 — rings aber, die nur durch streng wissenschaftliche Forschung ermöglicht von höchster praktischer Bedeutung wurde, nennt Thiersch die Anwendung und Ausführung des elektrischen Telegraphen, womit er seiner Zeit weit vorauseilte. Sicherlich hat Thiersch den Apparat, der (1820) in dem Wohnzimmer des Gelehrten und dann in den Sälen der Akademie Aufstellung fand, selbst gesehen und den Versuchen beigewohnt. Wie bei Baader muß er auch bei Sömmering konstatieren, daß die epochemachende Erfindung über zwanzig Jahre wenig beachtet wurde; wie in Vorahnung dieses Schicksales hatte Sömmering einen genauen Bericht in den Denkschriften der Akademie niedergelegt zur Aufbewahrung und Benützung, „es anderen gerne überlassend, seinen durch Elektrizität vermittelten Telegraphen zum Gebrauch des Staates anzuwenden". Zwanzig Jahre nach seinem Tode konnte Thiersch in einer Akademiesitzung feststellen, daß „durch die besondere Tätigkeit eines Mitgliedes unter Festhaltung der Grundlage von Sömmering die telegraphische Kunst auf rein wissenschaftlichem Wege zu einer Vollendung geführt wurde, in welcher sie die Gedanken und Mitteilungen der Völker und die Befehle der Mächtigen selbst unter Flüssen und über Meeresgrund mit mehr als Lichtesschnelle hinwegträgt.'' Abgesehen von der Hochschätzung des Geistes als schöpferischer Kraft und der Wissenschaft, die um ihrer selbst willen gepflegt werden muß, gab es zwischen Thiersch und Sömmering noch mannigfache Berührungspunkte. „Durch seine ganze Naturbetrachtung", sagt Rudolf Wagner, 1 ) Sömmerings Biograph, „geht eine wohltuende Ehrfurcht vor den geschaffenen Dingen und die Erkenntnis eines schaffenden Geistes. Es war eine Zartheit in der Naturbetrachtung und ein sittliches Element, ein Ernst in der Forschung, welche auch bei Goethes freilich mehr ästhetischem als streng wissenschaftlichem Bemühen sich eine Kenntnis der natürlichen Erscheinungen zu verschaffen, uns so wohltuend entgegentritt." Dieselbe Ehrfurcht, das gleiche kraftvolle Bewußtsein Diener der Wahrheit zu sein finden wir auch bei Thiersch. Uebereinstimmung besteht ferner in den politischen Ansichten.2) Palms Erschießung empört ihn, der mangelnde deutsche Patriotismus in Bayern bereitet ihm Qual; als der berühmte Imperator nach München kam, ließ Sömmering sich nicht blenden; er sah ihn im Theater und zergliederte seine Erscheinung in seinem Tagebuch physiologisch: „Zuerst sah ich Bonapartes Kopf im Spiegel in der Loge. Aeußerst steif, zur Habitude gewordene Spannung — zumal die Hände, sogar im Sömmering. 2. Abt. S. 185. ) W a g n e r , Sömmering. S. 136, I38ff.

2

L o e w e , Friedr.Thiersch.

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Sessel. Sehr bleich, fast erdfahl. Ein wahrer acteur in folio... Er allein saß, indem man ihm gar wohl ansah, daß er schlechterdings allein sitzen wollte und gerne noch breiter gesessen hätte . . . Er sprach mit niemandem; er gähnte dreimal ganz unverschämt, gleichsam mit Fleiß, ohne die Hand vor den Mund zu halten. — Kleine Augen. — Er muß die Menschen, die ihn zunächst umgeben, so behandeln, wie er es tut — verachtend, sonst ging es nicht. Er achtet auf sich, um alles andere verachten zu können." Sömmering gehörte zu dem vertrauten Freundeskreis, der sich um Karl Ehrenbert von Moll sammelte. Dieser war ein „ganzer Mann",1) „ein Edelmann im besten Sinne des Wortes", ein feiner Menschenkenner, ein Mann des Rechtes und historischer Rechte, aber auch ein Vertreter historisch-überkommener Pflichten, „er dachte groß von der Menschheit, doch nicht ebenso groß von den Menschen. Er freute sich des Fortschrittes in der Wissenschaft als ein Freund der Wahrheit, des Fortschrittes im Wohlsein der Völker als ein Menschen- und Volksfreund, des Lichtes in kirchlichen Dingen als ein stiller und unerschütterlicher Denker". Er wollte für nichts gelten als für einen Freund der Wissenschaften. Schlichtegroll nennt ihn den „edelsten Panurgos unter der Sonne". Ueberraschend ist die Vielseitigkeit Molls; er war nicht nur ein hervorragender Verwaltungsbeamter, dessen Verdienste als fürstbischöflicher Hofkammerdirektor weit über Salzburgs Grenzen hinaus Anerkennung fanden, sondern auch ein hervorragender Kenner des Berg- und Hüttenwesens. Mit nie ermüdendem Eifer versenkte er sich in das Studium der Naturgeschichte und Landeskunde und legte großartige natur- und kulturhistorische Sammlungen2) an. Seine „naturhistorischen Briefe über Oesterreich, Salzburg, Passau und Berchtesgaden" gehören zu den wertvollsten Beiträgen zur Kenntnis dieser Gebiete. Hatte er die Volksdialekte schon in seiner Jugend verfolgt, so beschäftigten ihn, angeregt durch den geistreichen Direktor der Münchener Hof- und Staatsbibliothek Joseph Scherer, während der letzten zwanzig Jahre phonetische Wortvergleichungen, deretwegen er mit seinem Freunde Schmeller manchen Strauß auszufechten hatte. Seine sprachliche Bildung erregte die Bewunderung Heynes. J)

M a r t i u s , Moll. S. 97ff. G ü m b e l , K . E. v. Moll in A. D. B. Bd. 22. S. i u f f . Seine Bibliothek umfaßte 80000 Werke, mehr als 70000 Porträts in Kupferstichen, Lithographien und Holzschnitten ergänzten sie. Die Mineraliensammlung enthielt 5000 vorzügliche Exemplare, sein Herbarium 2000 Pflanzenarten, meist der Alpenflora, ferner Sammlungen von Insekten, Conchylien, Fischen und höheren Tieren. 2)



211



1804 berief ihn Montgelas nach München; als Berater im Direktorium und Vorstand der mathematisch-physikalischen Sektion der Akademie gewann er durch seine zielklare und vornehme Haltung das Vertrauen aller Kollegen. Seine organisatorische Begabung freilich konnte sich nicht recht entfalten; denn die politisch-kriegerischen Verwicklungen, mit denen das junge Königreich zu kämpfen hatte, hemmten einen raschen Aufschwung der neuen wissenschaftlichen Schöpfung; stärker als Molls Bemühen, gerade die exakten Wissenschaften zu fördern und dadurch die Volkswirtschaft entschieden zu heben, war das Bedürfnis einer literarischen Volksbildung durch Pflege der klassischen Studien; es hatte auch in der Akademie das Uebergewicht gewonnen. „Moll war . . . für das, was seinen höchsten Ehrgeiz anregte, Organisator realistischer Studien im freiesten und liberalsten Sinne zu werden, — zu früh gekommen."1) Von dem leitenden Minister trennte ihn „der deutsche Ernst des Alpensohnes;'"2) dagegen hatte er vertrauten Umgang mit den freisinnigen Staatsmännern wie Krenner, Hartmann, Gönner, Georg von Stengel sowie dem Minister v. Zentner; seiner ganzen Naturanlage nach fühlte er sich mehr zu Schelling, dem Gründer der deutschen Naturphilosophie, hingezogen, als zu dem feingebildeten Vertreter der Glaubensphilosophie, Jacobi; fremd blieb ihm Baaders Theosophie. Die Musik, die er schon in seinem gastlichen Haus in Salzburg gepflegt hatte, verschönte auch seinen Lebensabend; durch Händel und Bach, Mozart und Beethoven fühlte er sich besonders angezogen; Joseph Haydn war sein Liebling. „In der Ruhe des echten Weisen hat er auch von dieser sublunarischen Welt Abschied genommen, er hatte diese Ruhe als die Vorschule einer höheren Harmonie gesucht und gefunden."3) S c h e l l i n g s Uebersiedlung nach München im Jahre 1806 als Mitglied der Akademie der Wissenschaften und als Generalsekretär der neu zu gründenden Akademie der bildenden Künste bedeutete nicht nur eine wesentliche Verstärkung der romantischen und naturphilosophischen Bestrebungen in der Hauptstadt und dem Landshuter Kreis, sondern auch eine bedeutsame Anregung des künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens des neuhumanistischen Kreises. Bald knüpften sich die Fäden mit Erlangen und Bamberg; die Verbindung mit M a r t i u s , Moll. S. 106. ) Ebenda. S. 109. 3 ) M a r t i u s , Moll. S. m . 2

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W eimar war nie unterbrochen worden. Schellings Haus wurde der Sammelpunkt aller Romantiker, die nach München kamen. Seine und Carolinens Briefe1) geben von diesem Verkehr ein lebendiges Bild. Hier weilte Zacharias Werner, der Verfasser der „Weihe der Kraft", der sich die Verherrlichung des Wunders und des Martyriums zur Lebensaufgabe gemacht hatte; in ihm erreichte die katholisierende Richtung der Romantik ihren Höhepunkt.2) Caroline, die nach den ihr bekannt gewordenen Bruchstücken seiner Werke kein gutes Vorurteil hegte, wurde durch sein Wesen für ihn eingenommen und fand ein großes und des Fortschreitens fähiges Talent; Sophie Tieck, die geschiedene Frau Bernhardis, kam aus Rom und wußte über den Humboldtschen Kreis, dem später Overbeck, Cornelius, Schnorr, Führich, Steinle, Philipp Veit angehörten, zu berichten. Weihnachten 1808 fand sich Schlegel und Frau von Stael mit ihrer Familie ein. Ludwig Tieck3) verbrachte mehrere Wochen des Winters (1808) mit seiner Schwester bei Schellings. „Und wie so gar lieb wäre mir eben dieser Winter, wenn Du bei uns sein könntest" — schrieb Caroline an Pauline Gotter —. „Auch Dir würde es nicht mißfallen. Statt der großen Spectacle hätten wir hier ein kleines, aber exquisites. Tieck nämlich, der Lustspiele vorliest und uns schon manchen Abend in die Täuschung versetzt hat, als säßen wir vor einer Bühne, auf der alle Rollen aufs auserlesenste besetzt wären. Schon ehemals las er gut, aber es ist jetzt das Beste, was man in der Art genießen kann, und eigentlich etwas ganz Einziges." Schellings Naturphilosophie sagte Tiecks feinem Naturempfinden besonders zu. In seinen Märchen „Der getreue Eckart und der Tannhäuser", im „Runenberg" und im „Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens" verwertete er die Idee von der Belebtheit aller Natur dichterisch. Etwas unmutig berichtet«) Caroline 1809, daß man, „da Deutschland weit und breit genug ist, so oft mit den nämlichen Figuren seckiert wird". „Es scheint sich jetzt mancherlei Volk auf die Art nach München ziehn zu wollen wie ehemals nach Jena. Wir besitzen alleweil die ganze Ange Brentanorei; Savigny, ein Jurist, der eine von den Brentanos geheiratet, ist an Hufelands Stelle nach Landshut C a r o l i n e n s Leben in ihren Briefen. Inselverlag 1914. S. 421. ) H a y m , Die romantische Schule. S. 537, 992. Erich S c h m i d t , Carolinens Briefe. 1912. s ) C a r o l i n e n s Leben in ihren Briefen. S. 428/429. S. 426. 4 ) Ebenda. S. 429. 2

— 213 — gerufen und bringt mit: den Clemens (Demens) Brentano samt dessen Frau, . . . .; dann Bettina Brentano, die aussieht wie eine kleine Berliner Jüdin und sich auf den Kopf stellt um witzig zu sein, nicht ohne Geist, tout au contraire, aber es ist ein Jammer, daß sie sich so verkehrt und verrenkt und gespannt damit hat; alle Brentanos sind höchst unnatürliche Naturen." Die sehr subjektiv gefärbten Schilderungen Carolinens über die Münchener Geselligkeit erfahren eine wertvolle Ergänzung durch Bettinas eigene Briefe. 1 ) Sie lernte viele Personen kennen, die für Thierschs Leben bedeutsam wurden, und entwirft von ihnen mit der ihr eigentümlichen geschickten Art der Charakterisierung anschauliche Bilder. Ebenso spiegelt sich in ihnen die gefährliche politische Spannung, die bald nachher durch maßlose Angriffe auf die „Berufenen" zu einer schweren Erschütterung führen sollte. Goethes Beziehungen zu dem Münchener Kreis fanden durch sie eine lebhafte Förderung, zumal sie für Kunst und Künstler stark interessiert war. Oft besuchte Bettina Jacobi:2) „Er ist zart wie Psyche, zu früh geweckt, rührend." „Mitteilung ist sein höchster Genuß; er appelliert in allem an seine Frühlingszeit, unermüdlich erzählte er von Pempelfort." „Seine höchst edle Gestalt ist gebrechlich; es ist, als ob die Hülle leicht zusammensinken könne um den Geist in die Freiheit zu entlassen." Bei ihm traf sie Sailer und gewann seine Zuneigung. Am ausführlichsten äußert sich Bettina über den Kronprinzen, dessen Bekanntschaft sie auf einem Maskenball machte. Voll Lebenslust genoß sie nämlich den Münchener Karneval, „einen Strom von Festen, die einen wahren Strudel bilden, so greifen sie ineinander. Es werden wöchentlich neue Opern gegeben, die meinen Winter sehr in Atem halten". Winter war ihr Lehrer in Musik und Gesang, über dessen Franzosenfreundlichkeit sie sich oft sehr ärgern mußte, da er feurige Siegesmärsche für sie komponierte. In der Mitte eines kleinen Theaters, worauf pantomimische Vorstellungen von Harlekin, Pierrot und Pantalon gegeben wurden, sprach Bettina eine Weile mit dem Kronprinzen, ohne zu wissen, wer er sei. In einem Brief an Goethe schildert sie ihre Eindrücke: „Er (der Kronprinz) hat etwas Zusprechendes, Freundliches und wohl auch originell Geistreiches; sein ganzes Wesen scheint zwar mehr nach Freiheit zu ringen, als mit ihr geboren zu sein; seine Stimme, seine *) Bettina von A r m i n , von Jonas Fränkel. Bd. 2. 2) Ebenda. S. 49.

Goethes Briefwechsel mit einem Kind. 1906. S. 55ff.

Herausgegeben

— 214 — Sprache und Gebärden haben etwas Angestrengtes, wie ein Mensch, der sich mit großem Aufwand von Kräften an glatten Felswänden hinaufhalf, eine zitternde Bewegung in den noch nicht geruhten Gliedern hat. Und wer weiß, wie seine Kinderjahre, seine Neigungen gedrängt oder durch Widerspruch gereizt wurden, ich sah ihm an, daß er schon manches überwinden mußte und auch, daß sich Großes aus ihm entwickeln kann." „Er ist die angenehmste, unbefangenste Jugend, ist so edler Natur, daß ihn Betrug nie verletzt...; er ist eine Blüte, auf welcher der Morgentau noch r u h t . . . seine besten Kräfte sind noch in ihm." „Seine guten Münchener, wie er sie nennt, sind ihm nicht grün; ja wartet nur, bis er mündig ist; entweder er beschämt Euch alle oder er wird's Euch garstig eintränken." Daß er den Garten, den er als Kind hatte, noch jetzt pflegte und die in seinem Zimmer blühenden Blumen begoß, selbst holperige, aber von Begeisterung erfüllte Gedichte machte, nahm Bettina für ihn ein. Im Englischen Garten kletterte sie auf alle Freundschaftstempel, chinesischen Türme und Vaterlandsmonumente um die Tiroler Bergkette zu sehen. Denn mit tiefstem Anteil verfolgte sie den Heldenkampf des tapferen Bergvolkes. Dadurch wurde sie in jene gefährliche Spannung versetzt, die in der Hauptstadt alle Gemüter beherrschte und zwei Parteien hervorrief, eine Napoleon freundliche und feindliche. Als ihren einzigen Freund in München bezeichnet Bettina den Grafen Stadion, den Domherrn und kaiserlichen Gesandten, der die Mission hatte das dem Rheinbund beigetretene Bayern von Napoleon abtrünnig zu machen. Er verbrachte bei ihr seine freien Abende, Zeitung lesend, Depeschen schreibend und plaudernd; Sonntags las er ihr in der königlichen Kapelle die Messe. Durch ihn erfuhr sie, daß der Kronprinz auf die Gesundheit der Tiroler getrunken und Napoleon ein pereat brachte mit den Worten: „Erinnern Sie sich daran, daß im Jahre 9 im April während der Tiroler Revolution der Kronprinz von Bayern dem Napoleon widersagt." Beim Anstoßen zerschellte der Fuß des Glases. Ludwig sandte es Bettina: „Das schickt Ihnen der Kronprinz und läßt Ihnen sagen, daß er die Gesundheit derjenigen daraus getrunken hat, die Sie protegieren, und hier schickt er Ihnen seine Kokarde als Ehrenpfand, daß er Ihnen sein Wort lösen werde, jeder Ungerechtigkeit, jeder Grausamkeit zu steuern." Bettinas Freude an der Kunst führte sie mit zahlreichen Münchener Künstlern zusammen. Im Atelier Friedrich Tiecks sah sie die Marmorbüste Schellings, die er im Auftrag des Kronprinzen für die künftige Walhalla herstellte. Mit Ludwig Grimm ging sie oft nach Tisch spazieren. „Ein Bettelkind bekömmt ein Gröschel, daß es still-

— 215 — steht, Grimm radiert es gleich auf eine kleine Kupferplatte, zu Hause wird es geätzt, so hat er schon mehrere allerliebste kleine Bilder zusammengebracht." Von seinen Wanderungen in die Umgebung brachte er stets einen Schatz radierter Blättchen heim, „mit schöner Treue für das Gemütliche nachgeahmt". Ein von ihm gezeichnetes Bild Bettinas fand Goethe „sehr natürlich und kunstreich dabei, ernst und lieblich" und ließ dem Künstler sagen, er möge ja fortfahren sich im Radieren nach der Natur zu üben. „Das Unmittelbare fühlt sich gleich; daß er seine Kunstmaximen dabei immer im Auge habe, versteht sich von selbst."1) Dürers Selbstbildnis in der Galerie, das auf Bettina den größten Eindruck machte, weil ihr in ihm die „geistige Erscheinung der Unsterblichkeit" entgegentrat, ließ sie kopieren und sandte es an Goethe. Im Auftrag Franz Baaders schickte sie ihm einige seiner Abhandlungen und erzählte, mit welcher Hochachtung der Philosoph ihn verehre, wie er auf seiner schottischen Reise in winzigem Nachen den Egmont bei sich trug. Sehr amüsant ist die Schilderung des Münchener Malers Matthias Klotz, „des ägyptischen Ungeheuers", weil „erstens sein Antlitz wie von glühenden Harzen geschmiedet zugleich eine ungeheure Pyramide darstellt, und zweitens, weil er in 25 Jahren mit außerordentlicher Anstrengung sich nicht vom Platz gearbeitet hat"; er las Bettina sein ganzes Manuskript über Farbenlehre vor. Schon in Frankfurt hatte sie die Bekanntschaft des Kunstschriftstellers Rumohr gemacht, der später mit Thiersch in München eine interessante Kontroverse über Realismus und Idealismus in der Kunst hatte. Er war ihr Begleiter auf einer Fußtour nach Harlaching; anmutig beschreibt sie die landschaftlichen Eindrücke, den Weg zwischen Weiden, Mühlen und Bächen, die Ueberschreitung der Isar auf schmalem Steg von zwei Brettern, des „wunderlichen Flusses": „ . . . wie ein schäumender Drache mit aufgesperrtem Rachen braust er hüben und drüben über hervorragende Felsstücke verschlingend her, seine grünen dunklen Wellen brechen sich tausendfach am Gestein, und schäumend jagen sie hinab. — Die Möwen fliegen zu Tausenden über dem Wassersturz und netzen die Spitzen ihrer scharfen Flügel." „Die Wellen brachen sich in schwindelnder Eile auf dem Weg unter dem zitternden Steg." Als sie abends zurückkehrten, verrichteten an der Statue des heiligen Nepomuk nahe der Stadt Leute kniend ihre Andacht. Während Bettina an Goethe schrieb, kritzelte Rumohr die Kölner Vignette hin, die dem Dichter einen freundlichen guten Abend beOriginalbrief 16.

S. 191..

3. November 1809.



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reitete und ihn zu der Bemerkung veranlaßte: „Der Freund weiß, was er will, und versteht mit Feder und Pinsel zu hantieren." 1 ) Wie von Bettina, so wurde auch von Schellings Familie Goethes Wirken aufs lebhafteste verfolgt. Pauline Gotter berichtete ausführlich über seine literarische Tätigkeit nach München und sandte immer die neuesten Werke, so den ersten Teil der Selbstbiographie. Die Nachricht von der Fortsetzung des Wilhelm Meister erregte das höchste Interesse; aus Anlaß des Festes am 28. Januar — gemeint ist Goethes Maskenzug am 30. Januar 1809 — schreibt Caroline: „Der liebe alte Herr, er hat schon lange von seinen silbernen Locken gesprochen, die er gewiß immer noch nicht hat, aber Rosen genug windet er sich zum häuslichen Kranze, er umgibt sich mit Jugend und hält sich so das Alter fern." Eifrig studiert ihr Mann die Farbenlehre. Goethe selbst blieb in stetem Briefwechsel 2 ) mit Schelling; er äußerte seine Freude, daß die schönen Wissenschaften an ihm eine so gute Akquisition erworben hätten. Auf eine Schilderung der Kriegsun/ruhen, wie sie der Entscheidungskampf zwischen Napoleon und Preußen mit sich brachte, antwortet Schelling mit den bezeichnenden Worten: „In diesen Tagen des Zerfalles kehrt sich unsere Liebe fast von dem öffentlichen Leben ab, das doch keiner zu retten vermag, und wendet sich ganz den einzelnen Herrlichen zu, in denen wir ein harmonisches Ganzes lebendig und gegenwärtig sehen. Die Welt ist noch nicht arm, wenn ein Geist wie der Ihrige in ihr wirkt und seinen Glanz auf sie wirkt." Tief empfand er die Unheilbarkeit der Zeit, freute sich der Zertrümmerung. Durch die Dummheit von oben her und die tiefe Gemeinheit der Regierungen abgestoßen, möchte er am liebsten mithelfen das Alte zu zerstören. „Ich erwarte eine völlige Versöhnung aller europäischen Völker und wieder eine gemeinschaftliche Beziehung auf den Orient; bewußtlos oder bewußt arbeitet der Zermalmer dahin und ist schon außer den Grenzen, worin er bisher sich hielt. Diese hergestellte Einheit der Beziehungen mit dem Morgenland halte ich für das größte Problem, an dessen Auflösung der Weltgeist jetzt arbeitet." 3 ) Die Eingewöhnung in München fiel Schelling offenbar schwer; wiederholt begegnen wir in seinen Briefen Klagen. „Hier muß ich in einer wahren Einöde leben, unter Menschen, mit denen es gleich vorteilhaft erscheint umzugehen und nicht umzugehen." Ein andermal Originalbrief. Nr. 14. Anhang. S. 1 9 2 / 1 9 3 . Jena. 1 1 . September 1809. ) Aus Schellings Leben in Briefen. 2. Bd. 1 8 0 3 — 1 8 2 0 . 3 ) Ebenda. S. 108. Schelling an Windischmann, 18. Dezember 1808. 2

— 217 — jammert er über den „Abendschlaf der Wissenschaften" und besonders der Poesie. „Nur der Musik und der bildenden Kunst scheint dieser Himmel noch hold. In der ersten wurde mir kürzlich ein großer Genuß durch den Gesang der Madame Milder von Wien, die hier auch in Glucks Iphigenie auftrat." „Es geht doch nichts in der Musik über diese göttliche Iphigenie, die mich jedesmal neu erquickt." Voll des Lobes ist er auch über das unvergleichliche königliche Orchester. Als Leiter der Akademie der bildenden Künste schrieb Schelling 1811 eine allgemeine bayerische Kunstausstellung aus; den viel gepriesenen Glanzpunkt bildete Joseph Kochs originelle Landschaft, die er nicht genug bewundern konnte. Schon ein Jahr nach seiner Uebersiedlung nach München hielt Schelling in der Akademie eine Rede, die außerordentliches Aufsehen erregte: „Ueber das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur"; 1 ) aus Thierschs Vorlesungen über Aesthetik seilen wir, welche Bedeutung er ihr beilegte. Sie enthält eine Reihe bedeutsamer Gedanken über das Problem des Verhältnisses von Kunst und Natur. Die Natur erscheint dem begeisterten Forscher als „die heilige, ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werktätig hervorbringt". Die Vollkommenheit jedes Dinges ist das schaffende Leben in ihm, seine Kraft da zu sein. Unserem Innern sagen sie nur etwas, wenn wir sie auf das Wesen in ihnen ansehen. Winckelmanns Ansicht lehrte zwar das Geheimnis der Seele, aber nicht das des Körpers. Das Nachdenken über seine Entdeckung führt Schelling zu der Frage: Welches tätig wirksame Band bindet die Schönheit, die im Begriffe ist und aus der Seele fließt, mit der Schönheit der Form? Durch welche Kraft wird die Seele samt dem Leib zumal und wie mit einem Hauche geschaffen? Winckelmann zeigte nicht, wie die Formen von dem Begriff aus erzeugt werden können. Er zuerst betrachtete die Werke der Kunst nach der Weise und den Gesetzen ewiger Naturwerke. Sein letztes Sehnen ging nach einem tieferen Verstehen der Natur. Damit wir das Wesen in der Form lebendig erfassen, muß es uns als tätiges Prinzip, als Geist und werktätige Wissenschaft erscheinen. Die Wissenschaft, durch die die Natur wirkt, ist freilich keine der menschlichen gleiche, die mit der Reflexion ihrer selbst verknüpft wäre. Diese werktätige Wissenschaft, die in den stereometrischen Gebilden der Gesteine ebenso in Erscheinung tritt wie in den Bahnen der Sterne, im Gesang des Vogels, wie in den leichten Werken der Architektur ') 12. Oktober 1807.



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kleiner kunstbegabter Geschöpfe, ist in Natur und Kunst das Band zwischen Begriff und Form, zwischen Leib und Seele. Jedem Ding steht ein ewiger Begriff vor, der in dem unendlichen Verstand entworfen ist. Die schaffende Wissenschaft verkörpert ihn. Das Höchste der Kunst entsteht dadurch, daß in dem Künstler eine bewußtlose Kraft sich bewußter Tätigkeit verbindet bis zu völliger Durchdringung. In allen Naturwesen zeigt sich der lebendige Begriff nur blind wirksam; dem nur wie durch Sinnbilder redenden Naturgeist soll der Künstler nacheifern. Der Begriff ist das allein Lebendige in den Dingen. Am liebsten greift die Kunst nach dem Höchsten und Entfaltetsten, der menschlichen Gestalt; hier muß der Künstler erst im Begrenzten treu und wahr sein um im Ganzen vollendet und schön zu erscheinen. Nur durch Vollendung der Form kann die Form vernichtet werden, und das ist im Charakteristischen das letzte Ziel der Kunst. Das Charakteristische bleibt die noch immer wirksame Grundlage des Schönen. Wo in völlig ausgewirkter Form Anmut erscheint, da ist das Werk von Seiten der Natur vollendet, auch hier schon ist Seele und Leib in vollkommenem Einklang; Leib ist die Form, Anmut ist die Seele, obgleich nicht Seele an sich, sondern die Seele der Form oder die Naturseele. Das reine Bild der auf dieser Stufe angehaltenen Schönheit ist die Göttin der Liebe. Die Schönheit aber der Seele an sich, mit sinnlicher Anmut verschmolzen, diese ist die höchste Vergöttlichung der Natur. Der Geist der Natur ist nur scheinbar der Seele entgegengesetzt, an sich das Werkzeug ihrer Offenbarung; im Menschen allein als im Mittelpunkt geht die Seele auf, ohne welche die Welt wie die Natur ohne die Sonne wäre. Durch die Seele wird der Mensch der Betrachtung und Erkenntnis des Wesens der Dinge, eben damit der Kunst fähig. Willkürlich die Kraft des Schmerzes, des empörten Gefühles zurückhalten, wäre gegen Sinn und Zweck der Kunst gesündigt. In Niobes Gestalt strahlt durch Schmerz, Angst und Unwillen wie ein göttliches Licht die ewige Liebe als das allein Bleibende, und in dieser bewährt sich die Mutter, die durch ein ewiges Band mit den Geliebten verbunden bleibt. Eine Schönheit, welche aus der vollkommenen Durchdringung sittlicher Güte mit sinnlicher Anmut, der Verklärung des Naturgeistes, hervorgeht, ergreift uns wie ein Wunder; denn die Gewißheit, daß aller Gegensatz nur scheinbar, die Liebe das Band aller Wesen und reine Güte Grund und Inhalt der ganzen Schöpfung ist, wirkt erregend. Das höchste Verhältnis der Kunst zur Natur ist dann erreicht, wie sie diese zum Medium macht die Seele in ihr zu versichtbaren.



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Die Kunst entspringt nur aus der lebhaften Bewegung der innersten Gemüts- und Geisteskräfte, die wir Begeisterung nennen; nur ein neues Wissen und ein neuer Glaube vermag die Kunst aus ihrer Ermattung zu erheben. Schelling schließt mit der Ueberzeugung, daß das deutsche Volk, von dem die Revolution der Denkart in dem neueren Europa ausging, dessen Geisteskraft die größten Erfindungen bezeugen, das dem Himmel Gesetze gegeben und am tiefsten von allen die Erde durchforscht hat, dem die Natur einen unverrückten Sinn für das Rechte und die Neigung zur Erkenntnis der ersten Ursachen tiefer als irgend einem anderen eingepflanzt hat, in einer eigentümlichen Kunst endigen muß. Der Eindruck der Rede war ein starker. Westenrieder 1 ) schrieb damals an Moll: „Zumal München wird laut aufjauchzen über so herrliche Unterstützung des Kunstgeschmackes!" Caroline berichtete2) voll Stolz an Luise Gotter: „Schelling hat mit einer Würde, Männlichkeit und Begeisterung geredet, daß Freund und Feind hingerissen war und nur eine Stimme darüber gewesen ist, vom Kronprinzen und den Ministern an, die gegenwärtig waren, bis zu dem Geringsten. Es ist mehrere Wochen nachher bei Hof und in der Stadt von nichts die Rede gewesen als von Schellings Rede." Sie war für den Philosophen die beste Empfehlung zum Generalsekretär der in Aussicht genommenen reformierten Akademie der bildenden Künste. Sieben Jahre dauerten bereits die Vorverhandlungen; Entwürfe waren von M i t t e r e r und M a n n l i c h 3 ) eingereicht worden, die die geistigen Strömungen der Zeit widerspiegeln. Bei Mitterer, dem Professor der Zeichenkunst, macht sich der Nützlichkeitsstandpunkt der Aufklärung und die Rücksicht auf den damals langsam aufstrebenden Bürgerstand besonders bemerkbar. „Vorzüglich aber soll auf die bürgerlichen Künste und Gewerbe Rücksicht genommen und besonders die praktische Mechanik als die Mutter aller Fabriken und bürgerlichen Arbeiten auf das fleißigste geübt werden. Auch sollen von dem Lehrer und Schüler allmählich die im bürgerlichen Leben gangbarsten Maschinen von den einfachsten bis zu den zusammengesetztesten verfertigt werden." Die Akademie der Künste soll mit der Akademie der Wissenschaften in enge Fühlung treten, „damit Künste und Gelehrsamkeit sich freundschaftlich die Hände reichen. Die Aufklärung des Bürgerstandes würde *) H e i g e l , Akademie. S. 22. 2) C a r o l i n e n s Leben in ihren Briefen. S. 420/421. 3) S t i e l e r , Akademie. S. 8 und Anhang, Beilage II, S. V I ff.



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dadurch im höchsten Grade gewinnen". Mannlich, seit 1799 der Direktor der kurfürstlichen Bildergalerie, ein geborener Straßburger, als „Fremder" viel angefeindet, von Montgelas wenig wohlwollend behandelt, entwickelte in der Einleitung zu seiner Denkschrift, worin er die Ursachen des Verfalls der bildenden Künste behandelt, Gedanken, wie sie von Thiersch in ganz ähnlicher Weise für das Gebiet der Geisteswissenschaften vertreten wurden. Es fehlte den Künstlern seiner Zeit der Trieb Ruhm und Ehre zu erwerben, die Möglichkeit für den Staat und ein großes Publikum zu arbeiten; „Religion und Vaterlandsliebe sind immer die Erzeugerin der bildenden Künste"; nicht mehr öffnete „die fromme Andacht und ein begeistertes Ehrgefühl ihrer Einbildungskraft und ihrem Talent ein weites Feld, große und schöne Kunstwerke zu verfertigen". Schon berührte er das grundlegende Problem vom Verhältnis der Künste im Staat, wies dem Künstler und dem Handwerker ihren Wirkungskreis und zeigte den Einfluß der Zeichenschulen auf Bildung des Geschmackes, Förderung des Handwerkes und der Industrie. Als Hauptfehler bei der Hebung der Kunst in Bayern bezeichnete er, daß man zuviel Künstler erzog und ihnen nicht Arbeit genug gab. Unter den Einzelvorschlägen Mannlichs sind charakteristisch seine Forderung, der Lehrer solle bei den Aufträgen, die er an Stelle der Preise gesetzt wissen möchte, die Arbeit der Schüler zwar korrigieren, „aber ohne ihm seine eigene Art aufzudrängen", also Achtung der Individualität und Selbsttätigkeit, sowie der Wunsch den fertigen Künstlern statt der bisherigen Besoldung Aufträge zu geben; denn „anhaltende Arbeit und der Trieb vollkommener zu werden ist das, was dem Künstler unentbehrlich ist'. Trotz der trefflichen Anregungen Mannlichs machte die Angelegenheit der Akademie zunächst keine Fortschritte. Da erhielt der Oberfinanzrat Georg Freiherr v. Stengel 1803 den Auftrag zu einem neuen Bericht 1 ); energisch verlangte er eigene Schulen für „das Gebiet der Schönheit" und „jenes der technischen Zweckmäßigkeit". „Die Kultur des Schönen muß als Selbstzweck angesehen werden, nicht bloß als Mittel zu anderen Zwecken." „Alles konzentriert sich immer auf die Errichtung einer Akademie der bildenden Künstler"; sie solle in allen die Kunst betreffenden Fragen zu entscheiden haben; zur Aufmunterung und Förderung aller Künstler sind Kunstausstellungen einzurichten, in denen der Staat die besten Werke um einen „großmütigen Preis" erwirbt. Nochmals vergingen fünf Jahre, bis die Konstituierung der Akademie 1808 gelang. Johann Peter Langer, der Direktor der ») S t i e l e r , Akademie.

Beilage IV.

S. X H I f f .



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Düsseldorfer Akademie, wurde 1806 als Direktor der neu zu begründenden Hochschule mit seinem Sohn Robert nach München berufen; von Maximilian beauftragt einen genauen Plan1) für die künftige Einrichtung dieser Anstalt zu entwerfen entledigte er sich dieser Aufgabe als erfahrener Praktiker in der Weise, daß er einen eingehenden Lehrplan aufstellte und Vorschläge für die Besetzung der Lehrstellen machte; es fehlten diesem Organisationsentwurf große allgemeine Gesichtspunkte. Wertvolle Vorarbeit war geleistet. Aber erst jetzt fand sich der Mann, der das Beste in großzügiger Weise zu formulieren verstand. Nach einer ansprechenden und wohlbegründeten Vermutung Stielers2) war Schelling der Schöpfer der Konstitutionsurkunde.3) Zum erstenmal wird in Bayern die Kunst als ein Kulturfaktor anerkannt ; die Akademien der bildenden Künste sind „als das wirksamste Mittel zu betrachten, welches der Staat für die Erhaltung und allgemeinere Ausbreitung der Künste ergreifen kann". Die Münchener Akademie erhält eine doppelte Aufgabe: „Die Erhaltung und Fortpflanzung der Künste, welche nur durch lebendige, ja persönliche Ueberlieferung möglich ist, zu sichern; sodann, den Künstlern ein öffentliches Dasein, eine Beziehung auf die Nation und den Staat selbst zu geben, wodurch sie fähig werden, ihrerseits vorteilhaft auf das Ganze zurückzuwirken, den Sinn für Schönheit und den Geschmack an edleren Formen allgemein zu verbreiten." Nach dem Wunsche des königlichen Stifters4) sollte die Akademie eine „Lehr- und Bildungsanstalt" und eine „Kunst-Verbindung oder Gesellschaft" nach dem Muster aller bisher bestandenen Kunstakademien sein, für die Künstler des Reiches ein Punkt der Vereinigung, wo sie ihre wissenschaftlichen Begriffe von der Kunst immer mehr erhöhen und erweitern können „durch Wechselerregung und gegenseitige Mitteilung erworbener theoretischer und praktischer Kenntnisse"; sie trete mit allen gleichzeitigen Kunstbemühungen in Wechselwirkung, wirke auf das Zeitalter und werde von ihm gefördert, damit auf solche Weise jede beschränkte Nationalität vermieden werde. Zur Erfüllung so grundlegender Aufgaben verlieh der König der Akademie „alle Rechte und Vorzüge einer gelehrten Gesellschaft" und erklärte sie „als ein freies selbständiges Institut", das unter seinem unmittelbaren Schutze x

) S t i e l e r , Ebenda. Anhang; Beilage. S. VI. ) a. a. O. S. 18. 8 ) Abgedruckt ebenda. Beilage V I I . S. X X I I ff. 4 ) S t i e l e r , Akademie. S. X X V I I I . Verhältnisse der Akademie als einer Kunstgesellschaft. 2



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steht; als Mittel zur Erreichung dieser Zwecke bestimmte er die Versammlung der Mitglieder und jährlich wenigstens einmal eine öffentliche, sowie Kunstausstellungen und Wechselverkehr mit allen in- und ausländischen Kunstanstalten, mit berühmten Künstlern, Kunstfreunden und Vorstehern von Kunstsammlungen. Besonders deutlich spricht sich der Geist der neuen Gründung auch in den Bestimmungen aus, die von der Akademie als Lehranstalt handeln; sie zeigen, wie auf dem Gebiet der Kunst ebenso wie auf dem der Wissenschaft neue Gedanken durchzudringen beginnen; die Veränderungen in Philosophie, Literatur und Geschichte waren so groß, daß auch die deutsche Kunst ihren Charakter veränderte. Der Klassizismus forderte von dem Künstler tiefere Bildung und gab ihm eine höhere soziale Stellung. Daher verlangt die Konstitutionsurkunde, daß tüchtige ausübende Künstler gebildet werden, „welche fähig sind das, was sie gedacht, mit Richtigkeit, Wahrheit und Schönheit darzustellen, nicht aber Halbkünstler, welche bloß über die Kunst zu räsonieren, nicht aber etwas auszuführen imstande sind". Bei aller Rücksicht auf die praktische Natur des Unterrichtes wird betont, „der Zögling muß das Wissenschaftliche seiner Kunst zugleich mit der Ausführung erlernen"; 1 ) eine „bloß gedankenlose Fertigkeit der Hand und des Auges" wird abgelehnt; besonderes Gewicht wird auf einen streng theoretischen, auf wissenschaftlichen Grundsätzen beruhenden Unterricht in Perspektive und Architektur gelegt; die Schüler der höheren Klassen hören Vorlesungen über die Mythologie und die allgemeinen Kunstgegenstände, verbunden mit einer anschaulichen Geschichte der allmählichen Ausbildung der vornehmsten Kunstideale. Außer den eigentlichen Kunstbüchern soll noch eine Sammlung der vorzüglichsten klassischen Dichter alter und neuer Zeit angeschafft werden. Der regelmäßige Besuch der Kunstsammlungen des Staates gilt der vergleichenden Kunstbetrachtung um die Eigentümlichkeit der einzelnen Meister kennen zu lernen. Den allgemeinen Forderungen der Zeit, wie wir sie auch bei Humboldts Reform verwirklicht sehen, entspricht die Bestimmung, daß dem Unterricht Freiheit und Lebendigkeit erhalten bleibe und die Eigenart und Selbsttätigkeit des Zöglings begünstigt werde, sowie die Warnung an die Lehrer gleichförmigen Mechanismus aufkommen zu lassen. In der Gründung der Münchener Akademie der bildenden Künste gewannen also Schellingsche Ideen, wie er sie in seiner programmatischen Rede entwickelt hatte, greifbaren Ausdruck. Sie trat als Anhang.

S. XXIII.

III. Art des Unterrichtes.

— 223 — Staatsschule für das ganze Königreich an Stelle der Lokalschulen in der kurfürstlichen Residenz. Durch Verbindung mit den Provinzialschulen in Augsburg, Nürnberg und Würzburg wurde der Einfluß aufs Land angestrebt. In allen bedeutenderen Städten sollten Zeichenschulen eingerichtet und das Kunsthandwerk gefördert werden. P e t e r v. L a n g e r wurde der Leiter der Akademie, ein ausgesprochener Vertreter des Klassizismus, jener Kunstrichtung, die im Gegensatz zu dem in seiner letzten Periode manchmal zu einer recht oberflächlichen Hofkunst gewordenen Rokoko, das die Form immer mehr verachtete, flüchtigen Reiz erstrebte und rein dekorativen Charakter annahm, tiefes Empfinden und ernste Gedanken zum Ausdruck bringen wollte. Die Münchener Kunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts lehnte zwar diese vom nördlichen Deutschland kommende Richtung entschieden ab, aber bei der Macht dieser Strömung mußte sie doch schließlich siegen; denn nur so konnte die Münchener Kunst den Charakter einer kleinen und kleinlichen Lokalschule verlieren und die in ihr liegenden gesunden Keime freier entwickeln.1) Die absterbende Historienmalerei war durch Seidl und Hauber vertreten, Peter Langer und sein Sohn pflegten die moderne Hauptrichtung; sie verlangten strenges Studium der Form nicht nur durch Nachahmung der Werke des Altertums und anderer Muster, sondern vor allem durch Studium der Natur, da, wie Peter Langer in einem Bericht2) vom 2. Februar 1809 sagt, „die Erfahrung gezeigt h a t . . . , daß, wo nur immer ein neuer frischer Geist der Kunst in ganzen Zeiten oder in einzelnen Künstlern sich regte, dieser jederzeit durch ein abermaliges Zurückgehen auf die Natur geweckt worden ist". Zugleich vertraten diese Künstler zusammen mit mehreren anderen Pfälzern wie Klotz, Quaglio, Kellerhofen jene hohe Anschauung des Klassizismus von der Bedeutung der Persönlichkeit und sozialen Stellung des Künstlers3). Die Erneuerung ging aus von der Landschaftsmalerei, und zwar, wie Oldenbourg gezeigt hat, naturnotwendig; denn infolge der Umwälzungen, welche Bayern im Napoleonischen Zeitalter politisch und sozial erfahren hatte, hatte die Historienmalerei ihren natürlichen Boden verloren. Für ein Gedeihen der antik-mythologischen Richtung fehlte in München die Voraussetzung. Johann Georg Dillis, Dorner und Wagenbauer gehören zur ersten Generation, die in Bayern der Ausgangspunkt der gesamten Landschaftskunst des 19. Jahrhunderts wurde. ') R i e h l , Akademie. Nr. 60. 2 ) Gedruckt bei S t i e l e r , a . a . O . S. 31. 3 ) O l d e n b o u r g , Malerei. S. 29, 31 ff.

— 224 — Dillis, damals bereits Galerieinspektor, erhielt an der Akademie die Professur für Landschaftsmalerei. 1814 schickte ihn der Kronprinz zum erstenmal nach Italien um Kunstwerke zu erwerben; 1815 konnte er den größeren Teil der aus den Münchener Galerien geraubten Bilder, zu deren Reklamation Thiersch nach Paris gesandt worden war, in Empfang nehmen. 1817/18 war er der Begleiter des Kronprinzen auf dessen Reise nach Südfrankreich, der Schweiz, Italien und Sizilien, auf der Cornelius für München gewonnen wurde. Indem Dillis durch seinen Gönner, den Grafen Rumford, veranlaßt wurde Landschaftsstudien im bayerischen Gebirge zu machen, wurde der Münchener Landschaft eine stoffliche Grundlage geschaffen, die später immer mehr ausgebaut wurde. Seine Zeichnungen im Kupferstichkabinett geben entzückende Ausschnitte aus der Hauptstadt, wie das Schwabinger Tor, der Abbruch des roten Turmes, die Stadtmauer mit dem roten Turm. Die Skizzen, Aquarelle, Kreide- und Tuschezeichnungen von der mit dem Kronprinzen unternommenen Reise zeigen, welcher Fortschritt gegenüber der bisherigen Landschaftsmalerei gemacht worden war. Der erste Vertreter des Kupferstichs an der Akademie war Karl Ernst Christoph Heß; den Lehrstuhl für Baukunst übernahm der Architekt Karl Fischer, ein geborener Mannheimer, der Schöpfer des neuen Hoftheaters (1811—18), des Palais' für den Abbé Salabert (des späteren Prinz Karl-Palais'), sowie des Portals zum Botanischen Garten. Die von ihm erbauten Wohnhäuser an der Briennerstraße und am Karolinenplatz sowie das Palais des Kronprinzen daselbst beweisen seinen guten Geschmack. Da er früh starb, so konnte er seine Kräfte nicht voll entfalten. Zudem waren die Verhältnisse für eine großzügige Entwicklung der Architektur ungünstig.1) Bei den durch die zahlreichen Kriege erschöpften Mitteln beschränkte man sich auf das Nötigste. Die Rücksicht auf das Praktische trat in der Anlage gerader Straßen in Erscheinung; damals entstanden der Dultplatz,2) die Karlund Briennerstraße mit dem Karolinen- und Königsplatz. Edle Einfachheit wurde angestrebt; was jedoch erreicht wurde, war meist nüchtern und langweilig. Für die Professur der Bildhauerei versuchte der König vergebens Heinrich Dannecker aus Stuttgart zu gewinnen ; so mußte er sich mit dem 70jährigen Hofbildhauer Peter Simon Lamine, einem geborenen Mannheimer, begnügen. Das Generalsekretariat übernahm Schelling. Indessen scheint sein Bemühen um die ihm gestellte Doppelaufgabe den Gemeingeist im künstlerischen Sinne zu 2

R i e h l , Akademie. Nr. 6i. ) Jetzt Maximiliansplatz.

— 225 — beeinflussen und mit den Künstlern aller Länder und Völker in Wechselwirkung zu treten nicht sehr groß gewesen zu sein. Denn am 28. Februar 1811 mußte sich Direktor Langer 1 ) an den König selbst beschwerdeführend wenden, weil der Generalsekretär Schelling ihm „nicht undeutlich zu verstehen gibt, daß ihm die Arbeiten unserer Akademie keine Liebe einflößen können, welche Gesinnung er auch durch Nichtbesuch der Akademie und der Werkstätten der Künstler an den Tag legt; weder ich noch die Professoren verstehen die Kunst, Herrn Schelling wahre Kunstliebe beizubringen". Langer bittet daher den König durch einen Allerhöchsten Befehl den Generalsekretär an die konstitutionellen, bis jetzt von ihm noch unerfüllten Pflichten zu erinnern. In dem mit der Akademie enge verbundenen Kunstkomitee2) zur Beratung des Ministeriums in künstlerischen Fragen begegnen uns Franz und Wilhelm Kobell, die Vertreter zweier einander ablösenden Kunstrichtungen. Franz 3 ) erscheint noch als Maler der klassizistischen Landschaft im Sinne Claude Lorrains und Poussins; Wilhelm dagegen, zunächst an die Holländer, vor allem an Wouvermann anknüpfend, vollzieht durch seine „Helldunkelbehandlung, die überlegene Beherrschung wirkungsvoller Gegensätze oder zarter Lichtübergänge", 4 ) den Umschwung zur bürgerlichen Kunst. Große Hoffnungen wurden an die Akademie geknüpft; wenn diese nicht so bald in Erfüllung gingen, so lagen mannigfache Gründe vor: Die Finanznot des Staates nötigte immer wieder zu Einsparungen, es fehlte an passenden Lehrmitteln und hinreichenden Räumen; zunächst konnte nur der Modellsaal im Wilhelminum in Benützung genommen werden. Dazu kam, daß eine Anzahl gerade sehr begabter junger Künstler wie Albrecht Adam, Klein, Wagenbauer, Bürkel und Peter Heß, mit dem Thiersch in Rom zusammentraf, abseits von der Akademie, ohne Rücksicht auf Tradition und Schuleinrichtung, ihren eigenen Weg gingen, den „eines gesunden Naturalismus".5) Während aber diese sich damit begnügten ihre Eigenart ungestört zu entwickeln, wurde von Rom aus durch die jungen Meister ein scharfer Kampf gegen die Akademien „als Verderberinnen der Kunst" geführt. Schwere Lücken in den Reihen der Eleven rissen die für und gegen Napoleon geführten Kriege. 2

) 3 ) 4 ) 6 )

L o e w e , Der Lehrplan von 1829. S t i e l e r , Akademie. S. 35/36. O l d e n b o u r g , Malerei. S. 42. O l d e n b o u r g , Malerei. S. 66. S t i e l e r , Akademie. S. 37.

L o e w e , Friede. Thiersch.

S. 208.

15



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Im ersten Abschnitt der Geschichte der Akademie fanden einige bedeutsame Personalveränderungen statt; 1814 folgte auf Georg Dillis Wilhelm Kobell. Drei Jahre später wurde Lamine durch den Algäuer Schnitzerssohn Konrad Eberhard ersetzt, „den ersten Romantiker in der Plastik",1) der in Rom sich an Cornelius, Schadow und Overbeck angeschlossen hatte, da ihr Kunststreben dem seinen entsprach. Als er 1835 pensioniert wurde, betonte das von Gärtner unterzeichnete Schreiben2) der Akademie „die ungemeinen Verdienste um die ganze neuere Kunstrichtung überhaupt wie insbesondere um das Beste der Anstalt". Karl v. Fischer wurde 1820 durch einen seiner Schüler, Friedrich Gärtner, ersetzt. Das Generalsekretariat ging 1823 an Johann Martin Wagner über, mit dem Thiersch in Rom in nahe Verbindung getreten war; doch übernahm er sein Amt nie, weil er Rom nicht verlassen wollte. Während Schelling für die Kunst die wertvollsten Anregungen bot, wurde er zugleich ein lebendiger Mittelpunkt der romantischen und naturphilosophischen Bestrebungen. Zwischen München und Landshut herrschte ein lebhafter Verkehr. Die Vertreter der Universität und der Akademie traten in einen regen persönlichen Gedankenaustausch. In welche Welt eigenartiger Ideen sah sich Thiersch versetzt! Der Zug nach Einheit und Universalität beherrschte gerade die führenden Männer. Naturwissenschaft und Philosophie, wie überhaupt die ganze intellektuelle Bildung standen in einem viel innigeren Wechselverkehr als heute, da die fortgesetzte Spezialisierung immer neue Arbeitsteilung notwendig macht. Herder 3 ) suchte durch seinen ästhetisch-ethischen Naturalismus „den Einheitspunkt, die Analogien zwischen Natur und Geist, die Begeistung der Natur, die Naturbedingtheit des Geistes, ins Licht zu stellen". Bei Goethe deckten sich wissenschaftliches Naturstudium und dichterische Naturanschauung. Kant hatte die Materie als die lebendige Einheit zweier sich entgegengesetzter Kräfte, der Repulsiv- und Attraktivkraft aufgefaßt und eine höhere Ansicht des Lebendigen vertreten, indem er die organischen Wesen als ein sich selbst durch sich Erzeugendes anzusehen lehrte. Die Naturwissenschaften zeigten die allgemeine Tendenz an Stelle der bisher überwiegenden mechanischen Erklärung der Naturerscheinungen die Erforschung der in ihrem 1

) S t i e l e r , Akademie. S. 55. *) Gedruckt bei S t i e l e r , Akademie. S. 58. ) Rudolf H a y m , Die romantische Schule. 1920 4 .

3

S. 641 ff.

— 227 — inneren treibenden Kräfte zu setzen. Die Entdeckung der Wirkungen der Elektrizität durch Galvani und Volta, des Sauerstoffgases durch Friestley, die Erklärung des Verbrennungsprozesses erregten das größte Aufsehen. Schelling, obwohl streng philologisch und theologisch gebildet, ahnte mit genialem Weitblick das Anbrechen einer neuen Epoche der Naturwissenschaft. Angeregt durch eine Rede seines Landsmannes Karl Fr. Kielmeyer, eines Freundes und Schulgenossen Cuviers, worin dieser auf Grund sorgfältiger Vergleichung zahlreicher organischer Wesen die Vermutung ausgesprochen hatte, daß dieselbe einheitliche Kraft und derselbe einheitliche Plan der Natur in der ersten Hervorbringung der Organismen wie in ihrem Bestand und ihrer Erhaltung walte, beschäftigte sich der junge Philosoph mit dem Problem der Einheit und der Einfachheit der Naturgesetze. Um dieselbe Zeit wies die Theorie Browns die praktische Heilkunde nach derselben Richtung. In den Schriften der 90er Jahre, den „Ideen zu einer Philosophie der Natur" (1797), „Von der Weltseele" und dem „Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" (1799), läßt sich beobachten, wie seine Idee der Naturphilosophie Gestalt zu gewinnen beginnt, wie poetische Anschauung, Spekulation und Verwertung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen sich verbinden. Als das höchste Piroblem1) der Naturwissenschaft erscheint Schelling die Entwicklung des ersten Gesetzes, aus welchem alle anderen Naturgesetze abgeleitet werden können; es gilt „die Natur in ihrer höchsten Einfachheit zu finden. Nur die Spekulation gibt die höhere Begründung, die dieses Gesetz haben muß". So versucht er denn aus bloßen Vernunftgründen die Natur a priori zu erklären und zu konstruieren, und zwar aus ihrer Tätigkeit, aus ihrem in ewigem Wechsel Begriffensein, aus ihrem Werden. Ueberall findet er Leben. Das eigentliche Wesen der Natur ist eine Intelligenz, die sich im Bewußtsein reproduziert. Der Geist erhebt sich über die Natur und läßt sie entstehen. Die Gesetze des Denkens und die der Natur müssen sich als übereinstimmend nachweisen lassen. Daher wäre die „vollendete Theorie der Natur diejenige, kraft welcher die ganze Natur sich in Intelligenz auflöst". Den großartigsten Stoff für die spekulative Naturforschung liefern die in der Chemie und Physik aufgefundenen Naturkräfte und Gesetze; sie muß Atomistik und Dynamik miteinander verknüpfen, in dem Ruhenden das Bewegte, in dem Verharren das ewig Wechselnde, in dem Getrennten das Geistige, die ganze Natur 1

) H i r s c h , Geschichte der Medizin.

S. 404ff.

15*



228



Verknüpfende und Schaffende suchen. „Den drei Dimensionen der Materie entsprechen die drei Grundkräfte Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozeß, die sich im Organismus als Sensibilität, Reizbarkeit und Reproduktion darstellen". Die Natur organsiert sich in immei engeren Grenzen, ihre Tätigkeit in der organischen und anorganischen Welt ist ursprünglich von denselben Bedingungen abhängig, das Leben ist nur eine höhere Potenz des scheinbar Toten, über beiden schwebt als deren gemeinschaftliche Quelle der organisierende Weltgeist. Als die charakteristischen Merkmale dieser Naturphilosophie Schellings erscheinen die Auffassung der Welt als eines organischen Ganzen, der Gedanke des gleichmäßigen Waltens aller Naturgesetze in allen Naturkörpern, die Idee der Entwicklung der Gesamtheit aller Naturerscheinungen in einer fortschreitenden Reihe immer höherer Entwicklungsphasen der Materie, die Vorstellung eines organisierenden Weltgeistes. Der Aufenthalt in Dresden und die Berufung nach Jena brachten Schelling dann in dauernde Berührung mit den Vertretern des neuen Kunst- und Literaturevangeliums, den Romantikern. Die Lehrtätigkeit in Jena nötigte ihn seine naturphilosophischen Ideen zu einer geschlossenen Disziplin auszubauen. Er entwarf seine Identitätsphilosophie. Im Gegensatz zu Fichtes „Ichlehre" glaubte er beweisen zu können, daß Natur und Geist, Reales und Ideales im Absoluten identisch und mittels der intellektuellen Anschauung erkennbar sind. Die ursprünglich ungeschiedene Einheit tritt in die polaren Gegensätze des positiv idealen und negativ realen Seins auseinander. Der Natur wohnt ein Lebensprinzip inne. „Nichts ist außer der absoluten Vernunft, sondern alles in ihr; die absolute Vernunft ist die totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven, die Vernunft ist das Wahre an sich." Die überraschende Wirkung der naturphilosophischen Lehren Schellings auf die deutschen Gelehrten seiner Zeit findet also ihre Erklärung in dem romantischen Zug des damaligen geistigen Lebens und in dem dem deutschen Charakter eigentümlichen Hang zum Idealismus, zur Beschäftigung mit den letzten und höchsten Fragen. Als Schelling 1806 nach München kam, war er eben daran die bereits in Würzburg hervorgetretene Richtung weiter zu verfolgen, den Uebergang von der Naturphilosophie zur Religionsphilosophie zu vollziehen.1) Hatte er bisher in der Natur den bewußtlosen Geist, die Entwicklung eines und desselben Lebens gesehen, so betrachtet er jetzt das Naturleben als Theogonie, die Naturkräfte als Organe dunkler !) Kuno F i s c h e r , Schellings Leben, Werke und Lehre.

1902.

S. I 4 8 f f .

— 229 — Willenskräfte, die im Menschen bewußt und frei werden. Besonders interessieren ihn jetzt die Probleme des Magischen und Mystischen, die Erscheinungen auf der Nachtseite der Natur und des menschlichen Seelenlebens, der Magnetismus und das Hellsehen. Unter den jungen begabten Naturforschern der Hauptstadt gewann er namentlich zwei zu Freunden, G e h l e n , einen geborenen Pommern, der 1807 an die Akademie berufen wurde zur Pflege der Chemie, die bis dahin in Bayern nur als eine gelegentlich untergeordnete Zugabe zur Mineralogie und Physik behandelt wurde, und den um ein Jahr jüngeren J o h a n n W i l h e l m R i t t e r , einen gebürtigen Schlesier, der 1804 Mitglied der Akademie geworden war, einen um die Erforschung des Galvanismus und der physiologischen Elektrizität hochverdienten Gelehrten, dessen Verdienste nur deshalb lange nicht anerkannt wurden, weil er „seine Beobachtungen in ein so wunderbares und undurchdringliches Dunkel zeitgemäßer Philosopheme zu verkleiden wußte, daß viel guter Wille dazu gehörte die darin versteckte Wahrheit zu entziffern". 1 ) Die kriegerischen Verwicklungen erlaubten es nicht ein den Talenten Gehlens würdiges Laboratorium zu erbauen. Der Plan im Wilhelminischen Gebäude einen Saal als Versuchsraum einzurichten scheiterte an dem Widerspruch des Staates, der Feuersgefahr für die Bibliothek befürchtete; Gehlen mußte daher einen großen Teil seiner Wohnung für speziellere Arbeiten einräumen. Erst 1814 durfte er seine Ansichten und Wünsche über einen Neubau äußern; 1815 begann derselbe, der im Erdgeschoß das Laboratorium, in den beiden Oberstocken die Wohnungen der Konservatoren des chemischen Laboratoriums und des Botanischen Gartens enthalten sollte. Da starb Gehlen, erst 40 Jahre alt, an einer Vergiftung. Tief erschüttert schrieb Schelling an Schubert: „Ein harter Schlag nahm mir Gehlen hinweg, den einzigen in München, der mir und dem ich ganz Freund sein konnte." Der Tod verhinderte auch eine nach Paris geplante Reise, wo Gehlens Freund, der sein Nachfolger auf dem Münchener Posten werden sollte, Heinrich August v. Vogel an der Ecole de Pharmacie lehrte. Als zwischen beiden Freunden die Uebersiedlung nach Deutschland besprochen wurde, schrieb Gehlen die für seine ganze Auffassung so bezeichnenden Worte :s) „Sie kommen ins deutsche Vater] ) Du B o i s - R e y m o n d , S. 263, 3 1 7 . 2

Untersuchungen über tierische Elektrizität.

Bd. I.

) 1. Dezember 1 8 1 2 in August V o g e l , Denkrede auf Heinrich August v. Vogel, 28. März 1868.

— 230 — land z u r ü c k . . . . Und dann, wenn Sie erst in Deutschland sind und sich wieder auch in deutsche Art und Kunst, die denn doch von französischer im Wesen wie in der Form nicht zu ihrem Nachteil immer sich unterscheidet, hineingearbeitet haben, so kann es Ihnen nicht fehlen, auf einer Universität angestellt zu werden." Für Ritters 1 ) elektrische Versuche interessierte sich Schelling ganz besonders. Schon mit 22 Jahren veröffentlichte Ritter eine Schrift, „Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß im Tierreich begleitet". Zwei Jahre vor Erfindung der Voltaschen Säule entwickelte er bereits das Prinzip derselben und die Anfänge des Spannungsgesetzes. In rascher Folge erschienen weitere wissenschaftliche Arbeiten. Besonders deutlich zeigte sich der verderbliche Einfluß vorgefaßter philosophischer Meinungen bei Ritter im Falle Campettis. Der ganze Kreis der Münchener Naturphilosophen geriet nämlich durch die Versuche eines Welschtirolers in Aufregung. Ritter hatte gehört, daß der junge Bauer die Fähigkeit besitze Wasser und Metalle unter der Erde zu empfinden, und er wünschte das Phänomen selbst zu untersuchen. Franz Baader, „ein divinatorischer Physiker, einer der herrlichsten Menschen und Köpfe nicht in Bayern, sondern in Deutschland", 2 ) setzte es durch, daß Ritter auf Kosten der Regierung die „lebendige Wünschelrute" nach München holen durfte. Zahlreiche Versuche wurden mit Schwefelkiespendeln, mit der Baguette angestellt. Schellings Bruder Karl beobachtete an einer mit Krämpfen geplagten Person, daß entgegen allen Erwartungen das Eisen sie rotieren machte. „Wenn man einen Schlüssel mit ihr balanzierte, so fing ihr Arm an sich zu drehen, und zwar so unwiderstehlich, daß er aus dem Gelenk getrieben werden könnte, wenn nicht Einhalt getan würde." 3 ) Jubelnd berichtete Schelling an Hegel: „Es ist dies eine wirkliche Magie des menschlichen Wesens, kein Tier vermag sie auszuüben. Der Mensch bricht wirklich als Sonne unter den übrigen Wesen, die alle seine Planeten sind, hervor". Eine neue Art magnetischer Anziehung, die „siderische", schien entdeckt; Ritter entwickelte seine Theorie des Siderismus. Schelling glaubte, der magische Wille sei entdeckt. In einem Brief an Windischmann bezeichnete er die Muskeln als Wünschelruten. „Hier oder nirgends ist der Schlüssel der alten Magie". Unter den Schülern und AnK a r s t e n , Joh. Wilh. Ritter, in A . D . B . 2 3

) Carolinens Leben in ihren Briefen.

) Ebenda.

S. 4 1 7 .

Bd. 28.

S. 4 1 3 .

S. Ö75ff.

— 231 — hängern Schellings wurde Gotthilf Heinrich Schubert ein entschiedener Anhänger dieser mago-mystischen Richtung. Bald nach jenen Versuchen mit der Wünschelrute wurde Ritter am 23. Januar 1810 ein Opfer seiner Wissenschaft, indem er sich bei einer Untersuchung über die reizbaren Pflanzen eine tödliche Krankheit zuzog. Trotz der schwierigsten äußeren Verhältnisse war sein ganzes Leben der Erforschung der Wahrheit geweiht. Nur der verständnisvollen Unterstützung Jacobis und Schlichtegrolls, die auf seine großen wissenschaftlichen Leistungen hinwiesen, verdankte er wiederholt eine königliche Unterstützung, so daß er wenigstens vor dem Aeußersten bewahrt blieb.1) In besonders starkem Maße waren Schellings naturphilosophische Gedanken in der m e d i z i n i s c h e n F a k u l t ä t 2 ) der Universität vertreten. Hier sowohl wie auch in München konnte Thiersch die interessantesten Beobachtungen machen, wie hervorragende Vertreter der Naturwissenschaften danach rangen Klarheit über das Wesen ihrer Wissenschaft zu gewinnen, wie sie sich mit dem übermächtigen philosophischen Zug der Zeit auseinanderzusetzen versuchten, wie Ideen der Aufklärung und des deutschen Idealismus miteinander in Widerstreit gerieten. Wenn er später in seinen groß angelegten Akademiereden3) über „das Verhältnis der Wissenschaften des Geistes und der Natur" und „Ueber die Grenzscheide der Wissenschaften" mit aller Schärfe eine reinliche Scheidung der Wissensgebiete fordert, für jede Wissenschaft auf dem eigenen Gebiete völlige Selbständigkeit verlangt und eine Zusammenarbeit der einzelnen in der Weise wünscht, daß jede Wissenschaft ihre Ergebnisse der anderen zur Verfügung stellt, so dürfte er die erste Anregung zu solchen Ergebnissen durch die Beobachtungen erhalten haben, welche er in den ersten Jahrzehnten seiner Münchener Tätigkeit machen konnte. Nur Tiedemann, der aus Würzburg berufene Vertreter der Anatomie und Zoologie, der bei weitem hervorragendste Hochschullehrer, hielt sich von den Einflüssen der Naturphilosophie fern. Seine Monographien über das menschliche Arteriensystem, über Bau und Entwicklung des Säugetiergehirns, über die Strahlentiere, gelten noch heute als klassisch. Durch sein mit Gmelin herausgegebenes Vgl. die Eingaben Jacobis und Schlichtegrolls sowie Gehlens an den König in Fase. 291, Nr. 27. Hofamtsregistratur.

MA. 2

dizin. 3

) M ü l l e r , Überblick. S. 395 ff.

) L o e w e , Lebenswerk.

Kerschensteiner, S. 374/375.

Krankenanstalten.

Hirsch,

Me-

— 232 — Werk „Die Verdauung nach Versuchen" und durch seine Untersuchung über die Nahrungsbedürfnisse schuf er die Grundlagen für die Erforschung des Stoffwechsels, auf denen Bischofif, K. Voit, Pettenkofer und Rubner weiterbauten. Schon 1816 folgte er einem Rufe nach Heidelberg. Alle anderen Vertreter der Medizin standen mehr oder weniger im Banne der Lehre des schottischen Arztes Brown und Schellings. P h i l i p p v o n W a l t h e r und R ö s c h l a u b waren aus der damals blühenden Landarztschule in Bamberg nach Landshut berufen worden, jener für Physiologie und Chirurgie, dieser für innere Medizin. Welche Verehrung sie in den romantisch gestimmten Studentenkreisen genossen, zeigen die Erinnerungen von Ringseis;1) er spricht nur von „dem geistvollen, in jugendlicher Kraft und Schönheit blühenden Philipp von Walther" und von dem genialen Röschlaub mit „seinem Atome spaltenden dialektischen Scharfsinn". Nachdem Haller durch seine Lehre von der Sensibilität und Irritabilität in die Auffassung des Lebensprozesses einen Dualismus gebracht hatte,8) ging das Bestreben der Nachfolger dahin, das verbindende Glied zwischen den beiden Phänomenen der Empfindung und Reizbarkeit, die das gesamte Leben beherrschende Potenz, zu finden. Brown, ein Mann ohne tiefere wissenschaftliche Bildung, faßte die Irritabilität als das Zentrum des Lebensprozesses, als Tätigkeitsursache jedes Organes und jedes Organteiles. Als äußere anregende Potenzen unterschied er Temperatur, Nahrungsmittel, Blut, Luft, als innere -die Muskelbewegung, die Sinne, Denktätigkeit, Affekte. Erregbarkeit nennt er die Eigenschaft des Körpers von den äußeren oder inneren Potenzen affiziert zu werden; die Potenzen bezeichnet er als Reize (incitamenta), die Wirkung der Reize auf Erregbarkeit als Erregung (incitatio); dabei erklärt er nicht, ob er unter Erregbarkeit einen selbständigen Stoff oder bloß Qualität der Materie versteht. 1780 erschien sein Buch „Elementa medicinae". Das Leben im kranken und im gesunden Zustand — so führte er aus — setfct sich aus einer Reihe von Erregungen zusammen; dem Grad des Reizes entspricht die Höhe der Erregung. Gesundheit ist der Zustand mäßiger Erregung, die Krankheit die Folge zu starker oder zu schwacher Erregung. Das Heilverfahren braucht nur den jeweiligen Zustand festzustellen und dann die entsprechenden Mittel zu verordnen.3) R i n g s e i s , Erinnerungen. 2 3

Bd. I.

) H i r s c h , Medizin, S. 3 9 5 f f .

) M ü l l e r , Überblick.

S. 5.

1856.

S. 7 3 f f .



233



Diese auf rein spekulativer Basis aufgebaute Lehre machte eine mühsame Untersuchung am Krankenbett überflüssig; sie bestach durch ihre Einfachheit und Konsequenz und wirkte auf die deutschen Aerzte namentlich auch durch ihren dynamischen Charakter; die englische und französische Medizin blieben unberührt. Durch Joseph und Peter Frank wurde Browns System unter der deutschen Aerzteschaft verbreitet. Wien und Bamberg wurden besondere Mittelpunkte der neuen Bewegung. Röschlaubs Auftreten in der Regnitzstadt bedeutete eine neue Phase in der Geschichte des Brownschen Systems. Der Schwächen desselben wohl bewußt, versuchte nämlich dieser der Lehre des schottischen Arztes eine solide physiologische Grundlage und streng wissenschaftlichen Charakter zu geben. In den zwei Bänden: „Untersuchungen über Pathogenie" (1800—1803) legte Röschlaub seine Anschauungen nieder. Die Erregungstheorie sollte geeignet sein „der Theorie der Heilkunde ein System apriorischer Sätze zu verschaffen, welche sämtlich auf einen obersten Grundsatz (ausgesprochen in den Begriffen der Proportion und Disproportion zwischen der Gewalt des Incitamentes, d. i. des Reizes, und der Stärke des Wirkungsvermögens, d. i. der Erregbarkeit) sich stützen und die Heilkunde zur Würde einer Wissenschaft oder doch einer wissenschaftlichen Bearbeitung erheben". Der oberste Grundsatz der Pathologie lautet: Krankheit entsteht, sobald eine Disproportion zwischen der Stärke des Wirkungsvermögens und der Gewalt des Incitamentes statthat. Das Leben ist von zwei Bedingungen abhängig, von einer äußeren: der Organisation, und einer inneren: dem Lebensprinzip, einer an den Organismus gebundenen Eigenschaft, durch äußere Eindrücke erregt zu werden und durch Selbsttätigkeit bestimmte Handlungen hervorzubringen. Ohne jede lebendige Berührung mit den vielgestaltigen Erfahrungen am Krankenbett oder mit der damals schon hochentwickelten Anatomie und Physiologie, sich nur mit Abstraktionen über das Wesen der Krankheit beschäftigend, erklärte Röschlaub diese „als ein dem Menschen beiwohnendes, fremdartiges, parasitisches Wesen materieller oder geistiger Art, als ein an den Gebilden des Leibes haftendes Gewächs mit eigenen Wachstumsgesetzen". 1 ) Röschlaub und Marcus suchten eine tiefere Begründung der Erregungstheorie mit Hilfe von Schellings Naturphilosophie zu erlangen; der Philosoph machte, einen Sommersemesterurlaub in Jena benützend, 1800 einen Kurs der Heilkunde bei Marcus mit und schloß mit ihm Freundschaft; gemeinsam gaben sie die „Jahrbücher der Medizin als Wissenschaft" heraus. Auf Veranlassung von Marcus ge!) v. M ü l l e r , Überblick.

S. 6.

— 234 — stattete der Fürstbischof Christoph von Buseck, daß Reubel, ein Schüler Schellings und damals Privatdozent an der medizinisch-chirurgischen Schule, Vorlesungen über Naturphilosophie hielt, die von Professoren Und Studenten fleißig besucht wurden. Begeistert berichtete 1802 Marcus an Aug. Wilhelm Schlegel: „Hier lebt jetzt alles in der Naturphilosophie. Wenn Freund Schelling jetzt zu uns käme, würde er seine Freude an uns haben."1) Bald erweiterte sich der Kreis der Romantiker in Bamberg durch das Erscheinen von Steffens und Gotthilf Heinrich Schuberts; auch Karoline und August Wilhelm Schlegel kamen vorübergehend dorthin. Die Blütezeit der neuen Richtung begann jedoch mit der Uebersiedlung E. Th. A. Hoffmanns; neben ihm wirkte der gemütvolle Dichter Friedrich Gottlob Wetzel, vermutlich der Verfasser der „Nachtwachen des Bonaventura", zu dessen Freundeskreis die jüngeren Romantiker gehörten. Durch Wetzel wurde die Verbindung mit dem Direktor des Nürnberger Realinstitutes, G. H. Schubert, aufrechterhalten. Bei einem gemütlichen Zusammensein mit dem Verlagsbuchhändler Kunz entstand der Plan zu dem epochemachenden Buch Schuberts, „Die Symbolik des Traums". Andere Fäden liefen nach Bayreuth, wo Jean Paul sich seit 1804 niedergelassen hatte, und nach München. Anselm Feuerbach, der in Bayerns Hauptstadt in entscheidungsvollen Jahren gewirkt hatte, kam 1814 an das Appellationsgericht als zweiter Präsident; trotz seiner ausgesprochenen Hinneigung zur Aufklärung schätzte er doch auch Jean Paul und Tieck; gerne verkehrte er in dem gastlichen Haus von Marcus. Niethammer, der Schöpfer des Normatives, weilte einige Zeit in Bamberg als Konsistorialund Schulrat. Durch seine Vermittlung übernahm Hegel die Stelle eines Redakteurs der „Bamberger Zeitung". Als nach erfolgter Säkularisation die Universität Bamberg aufgelöst und mit der Würzburger vereinigt worden war, blieb die medizinischchirurgische Schule in Bamberg und erlangte unter der Leitung von Marcus und Röschlaub einen solchen Ruf, daß aus allen Gegenden Studenten und Aerzte herbeiströmten. In Bamberg waren eben auch die Vorbedingungen für das Eindringen romantischer Ideen von Jena her besonders günstig ;2) die landschaftlich reizvolle Lage der Stadt, der Charakter der bei aller Frömmigkeit frohem Lebensgenuß nicht abgeneigten Bevölkerung, die alte Kultur, die reichen historischen Erinnerungen, die ehrwürdigen Kirchen, die Burgruinen mußten romantisch gestimmte Gemüter geradezu anlocken. Tieck und Wackenroder, ') K r e u z e r , Bamberg.

S. ig, 42.

2

S. 5, 17ff.

) K r e u z e r , Bamberg.

— 235 — die in Erlangen studierten, kamen schon 1793 hierher und empfingen von der Entfaltung des kirchlichen, durch Musik und Gesang verklärten Kultus tiefe, in ihren Werken nachwirkende Eindrücke. Röschlaubs Werke fanden in den Kreisen seiner Fachgenossen in Ingolstadt und Landshut großen Anklang. Heinrich Maria Leveling benützte seine Pathogenie als Vorlesebuch an der Universität zu Ingolstadt; in Landshut schrieb er ein Lehrbuch der Anthropologie, das eben diesen Begriff des Lebens entwickelt. Röschlaub schloß sich auch dort dem Kreis jener Männer an, die Schellings naturphilosophische Ideen vertraten. Schon der 1804 erschienene „Entwurf eines Lehrbuches der allgemeinen Iatrei" zeigt eine starke Beeinflussung durch jene Gedankengänge. „Einheit, Identität, absolute Indifferenz ist der wesentliche Charakter der absoluten Natur, folglich des Lebensprinzipes". In rein konstruktiver Weise entwickelte er sein System der Medizin, das mit dem Anspruch absoluter Gültigkeit auftritt; die Gesetze des Weltalls spiegeln sich in der menschlichen Vernunft und diese hat erkannt, daß das menschliche Leben sich aus drei Kreisen, einem vegetativen, einem tierischen und einem geistigen Anteil zusammensetzt. Es gibt nur eine echte theoretische Ansicht, also nur eine richtige Behandlung; die ärztliche Erfahrung ist also wertlos; Versuche zeugen nur von Unwissenheit. Durchaus willkürlich benützte Röschlaub die neugefundenen Tatsachen der Chemie, besonders die Lehren des Galvanismus und Magnetismus; wie in der Voltaschen Säule nimmt er in allen Naturerscheinungen, vor allem in den Lebensvorgängen positive und negative Polwirkungen an und die Aufhebung dieser Polaritäten im Indifferenzpunkt. Ringseis, der 1809 Röschlaubs Assistent wurde, erzählt in seinen Erinnerungen 1 ) voll Stolz, wie er und sein Bruder als die ersten dessen Ansicht über die allgemeine Natur der Krankheit sich aneigneten. In seinem späteren „System der Medizin" spielte diese „mit schärfster Dialektik durchdachte" Lehre eine bedeutsame Rolle. Freilich wurde er durch sein Wirken an der Universität, indem er starr an den Verstiegenheiten der Naturphilosophie festhielt, die Ursache, daß die Münchener medizinische Fakultät erst spät zur Blüte gelangte.2) Der sympathischste Vertreter der Medizin in Landshut war P h i l i p p v o n W a l t h e r,3) ein geborener Rheinpfälzer (1782), „unter den >) Bd, I S. 73. 2 ) K e r s c h e n s t e i n e r , Krankenanstalten. S. i 9 5 f f . 3 ) v . M ü l l e r , Überblick. S. 7. K e r s c h e n s t e i n e r , Krankenanstalten. S. 2 i 6 f f . Die deutsche Medizin im 19. Jahrhundert; F e s t g a b e , dargebracht Herrn Ph. Frz.

— 236 — Münchener Aerzten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der einzige, der Weltruf und wahre historische Bedeutung genießt". In seinem Entwicklungsgang lassen sich zwei Perioden unterscheiden: die jugendliche der naturphilosophischen Medizin, die männliche der naturhistorisch-physiologischen. Die Jahrzehnte des Reifens verbrachte er gerade in den Städten, die durch die Pflege der Naturphilosophie besonders bekannt geworden waren, in Wien, Bamberg, Landshut und Bonn. Schon in Bamberg trat er in freundschaftliche Beziehung zu Schelling. Seit 1830 wirkte er als Klinikdirektor und Oberarzt in München, bis zuletzt auch mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigt. Es gelang ihm, die Chirurgie auf die Höhe einer naturwissenschaftlichen Disziplin zu heben; unermüdlich kämpfte er für ihre innige Verbindung mit der Medizin, sowie für die Freiheit der ärztlichen Praxis; gleich Thiersch war er ein energischer Vorkämpfer der deutschen Universitäten und der akademischen Freiheit. Durch gründliche philosophische Bildung gewann Walther jenen Ueberblick und jene Klarheit, die neben der angeborenen geistigen Produktionskraft zur Erweiterung und Begründung von wissenschaftlichen Doktrinen nötig sind. Im Umgang mit Döllinger und Schelling war ihm frühzeitig der Wert der Philosophie für den Naturforscher und Arzt klar geworden. Ihm konnte ebensowenig wie Döllinger eine gedankenlose Empirie und das müßige Zusammenschleppen von halb zuverlässigen Beobachtungstatsachen genügen. Als die innerste Seele der deutschen Naturwissenschaft wie des ganzen wissenschaftlichen Lebens erkannte er die Philosophie, „durch welche die dunkle Bahn zu stetig gesichertem Fortschritt erleuchtet, das Ziel und Ende des Strebens dem forschenden Auge klar erhellt und zu jenem die alles übertreffende Kraft und innere Tüchtigkeit erhalten" wird. „Als einer der ersten Aerzte führte Walther die Schellingschen Ideen über Naturphilosophie in die Medizin ein, ihr verdankt er auch die Einheit und den logischen Zusammenhang, der durch alle seine Schriften hindurchgeht, daher stammt die genetische Entwicklung, die seinen Ansichten und Darstellungen von Beobachtungen und Tatsachen solche Klarheit verleiht.1) Walthers Hauptziel war die Heilkunde als Wissenschaft der organischen Natur durch philosophische Prinzipien zu begründen, stets das richtige Verhältnis zwischen Spekulation und Empirie festhaltend. v. Walther zu dessen 40jährigem Dienstjubiläum vom ärztlichen Verein, 1 8 4 3 . G. K o r n , Artikel der A . D . B . 1896. S. I 2 i f f . R i n g s e i s , Rede zum Andenken an Dr. Ph. F r . v. Walther ( 1 8 5 1 , Münchner Akademie). ') Festgabe.

S. 49.

— 237 — Immer wies er auf die notwendige Einheit der gesamten Naturwissenschaft hin, „die wie alles Erkennen sich auf ein Handeln bezieht, notwendig in die Medizin endigt, welche ein Handeln nach den Ideen im Gebiet der Naturwissenschaft ist". In den „Jahrbüchern der Medizin als Wissenschaft" arbeitete er lebhaft mit. Durch Darstellung des Bichatssystems erwarb er sich die größten Verdienste um die Förderung der Anatomie und Physiologie. Er versuchte die Bedeutung der Gewebe im allgemeinen und besonderen und ihre gegenseitigen Uebergänge und Zusammenhänge im Geist der Naturphilosophie zu erklären. Sein „Lehrbuch der Physiologie des Menschen", mit durchgehender' Rücksicht auf die vergleichende Physiologie der Tiere, ist die vollständigste Bearbeitung dieser Wissenschaft im naturphilosophischen Sinn. Für die Verbreitung der Galischen Lehre trat er lebhaft ein; er benützte sie zur Aufstellung einer Theorie der Geisteskrankheiten; die Entstehung des Wahnsinns führte er auf angeborene Anlage zurück, gab Winke für Einrichtung von Irrenanstalten; von Gall angeregt, beschäftigte er sich viel mit der Physiologie des Gehirns und des Nervensystems. Der Natur selbst schrieb er Heilkraft zu, so wie sie künstlerisch sei. „Die Krankheit ist die Reaktion der Natur gegen die Kulturbestrebungen des Menschen; ihre Ursachen aber das Austreten desselben aus dem Stand der Natur." Als Lehrer an der Landshuter Hochschule wurde Walther der Begründer des chirurgischen Klinikums und bereitete die Wiedervereinigung von Chirurgie und Medizin vor; denn wie Thiersch war er davon überzeugt, daß Theorie und Praxis eng verknüpft sein müssen. Er erfüllte die drei Hauptpostulate an einen klinischen Lehrer: „Er soll heilen, er soll den Jüngern ein lebendiges Vorbild in der Heilkunst sein, er soll die Wissenschaft selbst fördern.' In der Akademierede 1 ) von Ringseis spürt man noch den tiefen Eindruck, den das Wirken Walthers auf die akademische Jugend hinterließ: „In diesen Kreis (Savignys), wie für die Wissenschaft so für Deutschlands wahre Ehre glühend, trat der selbst noch in jugendlicher Kraft und Schönheit blühende 22jährige Walther; selbst begeistert, begeisterte er die Jugend und erschien dieser als ein Heros, vom Himmel gesandt um, ein neuer Herkules, die Welt zu befreien von dem gewaltigsten Ungetüm der Krankheit." Sie fühlte sich offenbar zu ihm hingezogen, weil er nicht nur die sinnliche Auffassung in jeder Weise achtete, die große Bereicherung unserer Sinne durch Physik, Chemie und Mikroskop, sondern auch in allem sinnlich Wahrnehmi) 1851.

— 238 — baren, in der organischen und unorganischen Natur, in Physiologie, Pathologie und Therapie ein inner und über dem Aeußeren waltendes Seelisches und Geistiges und die Lebensprozesse desselben suchte und erkannte, weil er, wie in der Natur selbst, im Wirken des Arztes ein künstlerisch-divinatorisches Walten sah.1) Besonders förderte Walther endlich die Augenheilkunde; er betrachtete das Auge in innigstem Zusammenhang mit dem Gesamtorganismus. Die Natur war ihm Gottes ewige Schriftsprache. Da Schelling unter Empirie nicht die nüchterne Feststellung der Tatsachen sondern „etwas durch Freiheit Hervorgebrachtes, durch Willkür Geschaffenes" verstand, so verwechselten die der Naturphilosophie anhängenden Mediziner vielfach die Produkte ihrer ungezügelten Phantasie mit den „von der Vernunft geschaffenen Naturgesetzen".'-') Dagegen wirkte er durch seine „Entwicklungsidee" auf die Medizin günstig ein. Er nimmt einen Entwicklungsprozeß der Natur von ihren Uranfängen bis zur Vollendung ihres Zieles in der menschlichen Intelligenz an. Die Welt ist ihm „eine stetige Entwicklungsreihe, worin das Subjektive (der Geist) fortschreitend sich von Stufe zu Stufe erhöht und immer mehr das Objektive überwindet. Daher das Gesetz der durchgängigen Polarität der Natur, der Vergleich mit der magnetischen Linie. Setzen wir in den einen Pol die Natur selbst und in den anderen Pol die Geschichte des Geistes bis zu ihrer höchsten Entfaltung, so ist der Stufengang des gesamten Weltprozesses eine magnetische Linie, welche in dem menschlichen Bewußtsein ihren Indifferenzpunkt hat". Unter Schellings Einfluß begründete Walther sein Lehrbuch der Physiologie auf die vergleichende Entwicklung der Tierreihe. I g n a z D ö 11 i n g e r benützte den Entwicklungsgedanken desselben zum Aufbau der entwicklungsgeschichtlichen Forschung, die von seinen Schülern C. E. v. Baer und d'Alton namentlich für die Embryologie fruchtbar gemacht wurde. 3 ) Döllinger ist ein besonders belehrendes Beispiel, wie die philosophischen Ideen der Zeit, namentlich die Kants und Schellings, auf einen hochbegabten Naturforscher fördernd wirken konnten. In einer zwar kurzen, aber geistvollen Denkrede 4 ) versuchte Schelling den wissenschaftlichen Charakter des großen Anatomen in seiner Ent') R i n g s e i s , Erinnerungen. S. 30. 2) v. M ü l l e r , Überblick. S. 12. 3) v. M ü l l e r , Überblick. S. 13. *) S c h e l l i n g s Rede, gewidmet dem Andenken Döllingers, 27. März 1841, in Gelehrte Anzeigen der Akademie, 1841, Nr. 64/65. v. W a l t h e r , Döllinger. 1841.

— 239 — stehung klarzulegen; er findet eine doppelte Erklärung, den außerordentlich gründlichen Unterricht am humanistischen Gymnasium seiner Vaterstadt Bamberg und die eingehende Beschäftigung mit der Philosophie Kants und seiner Nachfolger. Durch jenen wurde sein Geist in strenge Zucht genommen, wodurch Dünkel und falsche Einbildung frühzeitig niedergehalten und Stetigkeit und gleichmäßiges Fortschreiten, verbunden mit freier geistiger Bewegung, erzielt wurden. Durch das Philosophiestudium erhielt er die Weihe, in die Tiefe auch jener Probleme der Naturforschung einzudringen, „wo dem sinnigen Forscher die dringende Aufgabe begegnet, in der, wie oberflächlich abstrakte Betrachtung wähnt, dem Geist entfremdeten Natur selbst die Spuren und Wege zu entdecken, die in eine höhere Ordnung der Dinge hinüberleiten". Döllingers Jugend (geboren zu Bamberg 1770 als Sohn des Leibarztes des um die Pflege von Kunst und Wissenschaft hochverdienten Fürstbischofs Ludwig von Erthal) fiel noch in die Anfänge der großen wissenschaftlichen, durch Kant hervorgerufenen Bewegung, von der Goethe urteilte, daß kein geistig strebender Mann ungestraft gleichgültig gegen sie geblieben sei. Durch sie wurden auch die obersten Gründe aller Naturwissenschaften einer aufhellenden Kritik unterzogen. „Ihr Urheber hat das besondere Verdienst durch sein geistvollstes Werk zuerst die eigentliche Tiefe der organischen Natur, jenes blind-zweckmäßige Bilden kühn beleuchtet und dadurch, wie auch von Goethe anerkannt wurde, den wahren Weg der organischen Naturwissenschaft bezeichnet zu haben." „An dieser Philosophie entzündete sich auch für Döllinger das Licht, das ihn in die Tiefe führte, all seinen Studien ein Ziel, dadurch all seinen Arbeiten eine Bedeutung gab und ihn vor dem Versinken in eine platte, zweck- und darum zugleich sinnlose Empirie bewahrte." Bis zu seinem Tode beschäftigte er sich mit Philosophie; denn er verehrte in ihr das Licht auf seinem Wege; „sie bestimmte ihm die Richtung und das letzte Ziel seiner Forschung". Die wahre Wissenschaftspflege verlieh ihm auch Ernst und Ruhe der moralischen Gesinnung und eine Klarheit des Urteiles über allgemein menschliche Dinge. Sein Studiengang war ein umfassender; 1 ) in Bamberg und Würzburg widmete er sich philosophischen, mathematischen, physikalischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien. In Wien und Pavia fand er nicht nur glänzende Lehrer wie Frank und Scarpa, sondern auch hervorragend eingerichtete Institute. Seit 1794 gehörte er der ») Walther, Döllinger. S. sff.



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medizinischen Fakultät in Bamberg an und zeichnete sich durch treffliche äußere Sinnesorgane, scharfsinnige Auffassungsgabe, treues Gedächtnis, klaren Verstand und sehr scharfes Urteil aus. „Sein hervorragendes Talent war das ,intuitive'." „Er fühlte das geistige Bedürf nis der Forschung nach den letzten Gründen der natürlichen Dinge.'' Stolz weist Walther darauf hin, daß im Gegensatz zu den französischen Naturforschern (von wenigen Ausnahmen abgesehen), welche die von Napoleon proklamierte Gefahr der Ideologie ängstlich mieden und sich mühselig in den engen Fesseln der Logik Condillacs weiterschleppten, die innerste Seele der deutschen Naturwissenschaft die Philosophie sei; „die philosophische Richtung eines Naturforschers offenbart sich aber nicht durch dürre, unfruchtbare Spekulation, auch nicht durch unklares träumerisches Hinbrüten über einzelne von außen aufgenommene Gedanken und einige durch fromme Naturbetrachtung aufgeregte Gefühle, am wenigsten durch die Verwebung philosophischer Lehrsätze in die Masse der fremden oder eigenen Beobachtungen, worin sie sich ausnehmen — um mit Horaz zu sprechen — wie Purpurflecke, einem überall durchlöcherten Bettelrock eingeflickt, sondern durch die Erhabenheit und innere Kraft der Gedanken, durch den tieferen Zusammenhang derselben, durch die von ihnen kommende Erleuchtung, gemäß welcher der forschende Geist sich in der Natur heimisch und wie eingebürgert findet und in der Masse der Tatsachen keine zerstreuten und regellos untereinander gewirrten Objekte, sondern sogleich jede an ihrem natürlichen Platz und mit allen übrigen in göttlicher Ordnung verbunden erkennt." Döllinger liebte die Poesie und die bildenden Künste; unter einer harten Außenseite verbarg sich ein weiches Gemüt; besonders gerne las er Goethes und Tiecks Werke; nach Goethe hat er seinen Stil, seinen mündlichen und schriftlichen Vortrag gebildet; seine Ideen über Morphologie erfaßte er in ihrer tieferen Bedeutung. Ein besonders schönes Zeugnis seines philosophischen Geistes liefern seine „Betrachtungen über das Wesen der deutschen Universitäten" (Würzburg 1819). Sie zeigen eine innige Verwandtschaft mit dem Wissenschaftsbegriff des deutschen Idealismus, den Schelling in seinen „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" entwickelt hatte, dem wir auch bei Thiersch wieder begegnen. Vor allem kommt es ihm auf die Herausarbeitung des Wesens der „Deutschen Universität" an; sie ist eine wissenschaftliche Lehranstalt und als solche soll sie ,,die Kenntnisseals erkannt darstellen und in ihrer Einheit umfassen"; ,,ich k e n n e einen Gegenstand, wenn er mir als Objekt nach seinen äußeren Beziehungen bekannt ist; ich erkenne ihn, wenn ich einsehe, welches seine Bedeutung in dem Ganzen und

— 241 — für das Ganze ist. „Das Wissen hat keinen Zweck; was es ist, das ist auch sein Wirken, die Wahrheit." 1 ) Unerschöpflich sind die Gebiete des Geistes und der Natur, so daß kein Mensch allein das Ganze zu übersehen vermag; und doch fordert die „Idee der Wissenschaft", daß das Einzelne immer in Beziehung auf das Ganze bearbeitet werde. Zwei Heiligtümer hat die Menschheit, die Wahrheit und die Schönheit. In der Erkenntnis jener, in der Darstellung dieser erstrebt der menschliche Geist seine Vollendung. Mit besonderem Nachdruck betont Döllinger, daß es nur eine v o l k s t ü m l i c h e Kultur gibt, deren Träger die Künstler und Gelehrten sind; in dem Trachten nach dem Wahren und Schönen liegt ihre Würde, ihr Anspruch den Besten und Edelsten im Staat gleichgesetzt zu werden. „Die Universität muß dem Geist der Wissenschaft entsprechen, sie muß ihren Zweck in sich selbst haben. Den Weg zur Wahrheit bahnt allein Moralität, echte Religiosität, gebildeter, sanfter Sinn. Der Universitätslehrer muß zuerst den Standpunkt seiner vorzutragenden Doktrin und ihr natürliches Verhältnis zur Philosophie darlegen, darauf ihr besonderes Sein auseinandersetzen, dann mit steter Zurückweisung auf den Ursprung der einzelnen Lehrsätze entwickeln oder vielmehr die Zuhörer so leiten, daß sie selbst alles entwickelt zu haben glauben". Scharf verurteilt Döllinger den Vorlesungszwang, der den Lehrer träg mache und den Studenten eine falsche Vorstellung vom Wesen der Wissenschaft beibringe; alles kommt darauf an, Vertrauen zur Jugend zu haben. Die höhere Weihe erhält das jugendliche Gemüt durch das Studium des klassischen Altertums. Für jene Bedürfnisse, welche nur Sachkenntnisse und technische Ausbildung verlangen, sind Spezialschulen notwendig. Gleich Thiersch denkt Döllinger hoch von dem Beruf des akademischen Lehrers: Dieser muß in seinen Schülern den wissenschaftlichen Geist wecken, ihr Vertrauen gewinnen, ihnen Vorbild in Leben und Lehre sein; gleich ihm gilt seine Sorge dem akademischen Nachwuchs; das Universitätsleben soll ein vernünftiges sein, das bedeutet akademische Freiheit; der Jugend soll ihr Recht in Verbindungen sich zusammenzuschließen gewahrt bleiben. Die Beschäftigung mit Politik hält er für etwas dem Gemüt des Jünglings ganz Fremdartiges.

Neun Jahre hatte Döllinger in Bamberg Physiologie und Pathologie gelehrt, in nahe Berührung mit Röschlaub und Marcus tretend, die die gleichen Ideen vertraten wie seine Lehrer in Wien und Pavia, ohne aber sich ihnen ganz hinzugeben. Da kam er 1803 durch Schellings Vermittlung nach Würzburg, wo unter Caspar von Siebold das Anatomiestudium blühte. Bald war er Meister und wurde der Begründer der neuen anatomisch-physiologischen Schule. 1823 wurde er nach München als ordentliches Mitglied der mathematisch-physikalischen Klasse als Nachfolger Sömmerings berufen. Bis zur Uebersiedlung der Universität nur für die Akademie tätig, erwarb er sich die größten Verdienste durch den Bau des anatomischen Theaters. Diese kurze Uebersicht über hervorragende Vertreter der Medizin ergibt die überraschende Tatsache, daß im Süden die Schulen von Würzburg, Bamberg, Erlangen, Landshut und Wien einen mehr oder minder starken Einfluß der Naturphilosophie erfuhren. In Norddeutschland a. a. O. S. I O . Loewe, Friedr. Thiersch.

— 242 traten ihr zwar Hufeland und Humboldt entgegen; doch blieb keine Universität ganz unberührt. In Bonn hielt sie sich am längsten. In München selbst konnte Thiersch aus nächster Nähe das Ringen beider Richtungen beobachten. Als Direktor des allgemeinen Krankenhauses, als Oberarzt und Lehrer wirkte nämlich eine der originellsten Persönlichkeiten, Dr. F r a n z X a v e r v o n H ä b e r l , 1 ) vom Volksmund der „Haberl" genannt, tief verwurzelt in der Aufklärung, ein entschiedener Gegner der Romantik. Eine Lithographie der MaillingerSammlung zeigt uns den ausgesprochenen Charakterkopf mit den klaren Augen, den tiefgezogenen Falten um den festgeschlossenen Mund, dem energischen Doppelkinn; das etwas unordentliche Haar reicht tief in die Stirne und über die Ohren. Seine Jugend fällt in die Zeit, da unter Maximilian III. Joseph die Aufklärung in Bayern sich auszubreiten begann. Schon während seiner Studien am Lyzeum in München wurde er von dem Leibarzt der Kurfürstin Marianne, Professor Baader, für die Naturwissenschaften gewonnen. Als einen Erfolg seiner Unterweisung dürfen wir die Dissertation Häberls ansehen, worin er über die Naturwissenschaften schreibt: Sie bewirken, „ut fugiant superstitionum monstra, ut purificato intellectu non amplius in luce trepidemus, quae pueri in tenebris pavitant fugiuntque." Der Hochschulunterricht in Ingolstadt vermochte den geistig sehr angeregten Studenten nicht zu befriedigen; denn die Vorlesungen führten fast nur in die Theorie ein; zu praktischer Betätigung in einer Klinik war keine Möglichkeit gegeben. Nachdem er in Wien unter Stolls Leitung seine Ausbildung beendet hatte, ließ sich Häberl als praktischer Arzt in München nieder und begann die in Wien gesammelten Erfahrungen zu verwerten, als es galt die gänzlich unzulänglichen Zustände in dem Spital der Barmherzigen Brüder zu verbessern. Zunächst gelang es ihm in den Jahren 1794—96 einen Umbau des bestehenden Krankenhauses mit zum Teil epochemachenden Verbesserungen zu erreichen. Als unter Max Josephs Regierungsantritt die großen Reformen begannen, legte er ein Projekt vor die alten Münchener Krankenanstalten durch ein einziges neues und musterhaftes Institut zu ersetzen. Die Ereignisse der Napoleonischen Kriege und Gegenprojekte aus den Kreisen des Magistrates verzögerten jedoch die Ausführung. Erst als Montgelas und der Medizinalreferent Simon von Häberl, der hochverdiente Organisator des bayerischen Medizinalwesens, sich der Sache annahmen, wurde 1809 der Grundstein zum ]

) K e r s c h e n s t e i n e r , Krankenanstalten.

S. I09ff.

— 243 — neuen Krankenhaus gelegt. Für die medizinischen Unterrichtsverhältnisse Münchens war es sehr nachteilig, daß die Universität nach Landshut kam; so mußte sich die Hauptstadt mit einer Medizinschule für Aerzte zweiten Ranges, die sogenannten Landärzte, begnügen. Häberl empfand den Mangel wohl tief. So mag sein Organisationsentwurf1) vom 13. Mai 1813 entstanden sein, der interessante Aeußerungen über seine Stellung zur Naturphilosophie enthält. Häberl fordert die Errichtung einer medizinischen Hochschule in München, die er sich als eine Hochschule mit einer Fakultät denkt. „Man gibt an, das gemeinsame Streben nach Vervollkommnung und Erweiterung der Wissenschaften an einem Orte wirke auf jeden Zweig derselben wohltätig und verhindere, daß nicht der eine oder andere zurückbleibe. Nachdem man von dem Revolutionsgeiste die positiven Wissenschaften in das Gewand einer jeden neuen philosophischen Sekte zu zwingen in unseren Tagen wieder zur Besinnung gekommen zu sein scheint, so möchte der Urgrund dieses Vorgehens am Tage liegen. Für die Arzneiwissenschaft insbesondere ist zu wünschen, daß philosophische Sektionen nicht immer verheerende Streifzüge in das Gebiet der Medizin vornehmen und dieselben nicht oft ähnlichen Schaden verursachen, wie erweislich in den letzten fünfzehn Jahren geschehen ist." Die scharfe Kritik Häberls an den bestehenden medizinischen Theorien richtete sich wohl vor allem gegen Röschlaub in Landshut, seine Forderung der Lösung der Medizin aus den Banden der Philosophie entsprang den üblen Erfahrungen, die er mit dem Eindringen der Naturphilosophie Schellings machte. Für die von ihm geplante Schule wünschte er den Namen einer medizinischen Universität ; zur Förderung des Wetteifers sollen die verdientesten Professoren in die mathematisch-physikalische Klasse der Münchener Akademie aufgenommen werden; die Leitung übernimmt ein Rektor und ein akademischer Senat, alljährlich gewählt aus der Zahl der praktischen Aerzte der Stadt München und vom König bestätigt. Montgelas ging auf diese Ideen, die Thierschs Grundauffassung vom Wesen der Universität widersprachen, nicht ein; die medizinischen Fakultäten der drei bayerischen Hochschulen blieben mit der Gesamtuniversität verbunden. Die Universitas literarum des deutschen Idealismus hatte über die Fachschule der Aufklärung gesiegt. Nur vorübergehend gewann Häberls Plan Gestalt, als die landärztliche Schule 1824 in die medizinisch-praktische Lehranstalt umgewandelt wurde, in eine Art Akademie der Medizin. Die Organisation war einer medizinischen Fakultät ähnlich. Ueber innere Medizin lasen Ringseis und Grossi, über Chirurgie ') K o l d e , Geschichte der Universität Erlangen.

1910.

S. I22ff. 16*

— 244 — Koch und Wilhelm, über Psychiatrie und Kinderheilkunde Loe, über Geburtshilfe Weißbrod. Im allgemeinen Krankenhaus übernahm nach Häberls Rücktritt A n d r e a s K o c h 1 ) die Leitung, ein Schüler Röschlaubs in Bamberg. In seiner Landshuter Dissertation „Ueber die Regulierung der Lebensfunktion der Wunden" bewegt er sich ganz in den Gedankengärigen seines Meisters; im gleichen Sinn hatte ihn sein Landshuter Lehrer Bettele beeinflußt. Unter Koch wirkten zwei Oberärzte, G r o s s i 2 ) und R i n g s e i s. Ernest v. Grossi wäre — so urteilt Kerschensteiner —, wenn er nicht bereits 1829 im 47. Lebensjahr unerwartet früh aus dem Leben geschieden wäre, berufen gewesen für München zu werden, was Schönlein für Berlin und Deutschland war. Grossi war als Mensch und Lehrer gleich hervorragend; fein gebildet, ein vortrefflicher Kenner des Latein und der modernen Sprachen, voll Güte, Geduld und aufopferndster Selbstlosigkeit gegen seine Patienten; als Forscher zeichnete ihn eine ungemein scharfe, methodische und gründliche Beobachtungsgabe aus; als Lehrer wurde er von seinen Schülern vergöttert, seine Krankheitsgeschichten waren vorbildlich ; bei Sektionen beleuchtete er „den vorliegenden Fall bei seiner erlangten Meisterschaft in der pathologischen Anatomie auf eine Art, daß der Tote selbst zur mannigfachen Belehrung diente". 1811 erschien sein Hauptwerk: „Versuch einer allgemeinen Krankheitslehre", entworfen auf dem Standpunkt der Naturgeschichte, nach Hirschs Urteil „mit das Beste, was die deutsche Universität jener Zeit an derartigen Schriften aufzuweisen hat". Völlig unberührt von der Modekrankheit seiner Zeit, den Theorien über Erregung, Lebenskraft. Teleologie, behandelt Grossi mit umfassender Gelehrsamkeit und Literaturbeherrschung in höchst persönlicher Ausdrucksvveise die allgemeinen Probleme bis in die letzten Tiefen. Seine Professur an der landärztlichen Schule gab er auf, weil man ihm zumutete allgemeine Pathologie nach dem Lehrbuch von Kurt Sprengel vorzutragen, „einer wertlosen, an inneren Widersprüchen reichen Kompilation nach Gaubius und Röschlaub", wie er in seiner Rechtfertigungsschrift ausführte. Neben Grossi wirkte seit 1817 als Vorstand der zweiten medizinischen Abteilung R i n g s e i s, ein fanatischer Anhänger der Ideen Röschlaubs, dessen Assistent er in Landshut war. Selbst tief religiös und stark künstlerisch angeregt, fand er bald Anschluß an den Kreis der Romantiker, die in Savignys Haus verkehlten; mit Clemens und K e r s c h e n s t e i n e r , Krankenanstalten. S. ic>5ff. ) In der Maillinger Sammlung ist eine Bleistiftskizze erhalten, die die feingeschnittenen Gesichtszüge E . v. Grossis wiedergibt; abgebildet bei Kerschensteiner. 2

— 245 — Bettina Brentano schloß er Freundschaft. Im Bann dieser Ideen machte er den Versuch romantischen Katholizismus und medizinische Wissenschaft mit einander zu verbinden; für sein ganzes späteres Leben bestimmend wurde es, daß er als Reisebegleiter mit dem Kronprinzen Ludwig wiederholt nach Italien ging. Hier knüpfte sich jenes Vertrauensband, das ihm ermöglichte den späteren König in zwei für die Geistesgeschichte Münchens bedeutsamen Fragen zu beeinflussen; Ringseis riet zur Verlegung der Universität nach der Hauptstadt und machte Ludwig mit Cornelius bekannt. Nachdem Ringseis1) (1818) definitiv am Krankenhaus angestellt worden war, hielt er meist vor absolvierten Medizinern, die Landshut verlassen hatten, klinische Vorträge in lateinischer Sprache, worüber ihm Schelling seine besondere Freude aussprach. Siebzehn Jahre beobachtete er „diesen auch für die Kranken wohltuenden Brauch"; dann nötigte ihn die mangelnde Ausbildung der Studenten in den alten Sprachen davon Abstand zu nehmen. In seinen Erinnerungen spricht er in unzweideutigen Worten sein Bedauern über diesen Mißerfolg des gelehrten Unterrichtes aus. „Seltsam! Ich und meine Schulgenossen hatten bei weitem nicht soviel Zeit auf philologische Ausbildung verwendet, nicht soviel und solang Buchstaben und Silben gestochen als in der späteren hyperkritischen Epoche geschah, wo nicht nur der Inhalt eines Klassikers zerlegt, sondern alle seine Lesarten vor den Schülern verglichen wurden — der Zeit, wo ein hochgepriesener Schulplan immer wieder von einem noch herrlicheren gejagt wurde — und nun!" Er wirft den Schulen Ueberbürdung und Schädigung der Jugend vor und preist die alte Zeit: „Uns Früheren war freilich die Gewandtheit unserer mönchischen Lehrer im Lateinischen zugut gekommen. Ja, da lag eben der Has im Pfeffer." Ringseis bezog Wohnung im Haus des Barons v. Mayer in der Fürstenfeldergasse, in dem der Ueberlieferung nach von Claude Lorrain gebauten Haus, von dessen Hofseite man über prächtige Linden die Frauentürme emporragen sah; er sammelte bald einen stattlichen Kreis geistig hervorragender Menschen um sich. Monatelang wohnte Cornelius bei ihm, während er die Kartons für die Glyptothek zeichnete. Allabendlich flammte ein kleines Heer von Wachslichtern in dem großen Saal, dessen Decke mit schöner Stukkaturarbeit verziert war, Künstler wie Schlottenhauer, Eberhard, Heideck fanden sich zu fröhlicher Geselligkeit ein. Von auswärts erschienen der Buchhändler Reimer, Professor de Wette, der Maler Zimmermann, Wilhelm v. Humboldt, Röschlaub, Sailer. R i n g s e i s , Erinnerungen.

Bd. 2.

S. i f f . , besonders S. 3.

— 246 — Der Hausherr, der nie untätig sein konnte, verließ manchmal seine Gäste um in seinem großen Bibliothekzimmer, das König Ludwig einen wahren Dr. Faust-Saal nannte, zu studieren oder Mineralien zu ordnen, da immer neue dazu kamen; bei solcher Gelegenheit sagte Cornelius „Der Doktor ist gewiß wieder mit seinen Büchern oder Steinen beschäftigt, der ewige Jude kann sich keine Ruhe gönnen." 1 ) Mit dem Amt am Krankenhaus verband er eine umfangreiche ärztliche Privatpraxis: zu seinen Patienten zählten die Philosophen Baader und Schelling sowie Feuerbach; denn der Eindruck und Einfluß seiner Persönlichkeit war groß. Schon als er in Berlin weilte (1814/15), äußerte2) Hufeland: „Dr. Ringseis kam zu uns um zu lernen, aber er überragte uns bereits". Er selbst pflegte zu sagen: „Der rechte Arzt wird geboren, wie der rechte Künstler." Im ärztlichen Heilen sah er eine Kunst, beruhend auf jener Inspiration, von der als dem innersten Antrieb des künstlerischen Handelns und Gestaltens der Künstler wie der Arzt sich nicht Rechenschaft abzulegen vermögen. Tiefer wie die meisten seiner Zeitgenossen erkannte er die Bedeutung der Psychotherapie; er hält es mit Paracelsus, der schrieb: „Seiner (des rechten Arztes) Nähe muß die Krankheit erzittern wie die Geister der Finsternis den Engeln des Lichtes . . . Der Arzt muß mächtiger geboren sein als die Krankheit." Großes Interesse hatte er für Magnetismus; in Berlin hatte er die Anstalt des Professors Wolfart kennen gelernt und wandte die Kunst des Magnetisierens an. Jean Paul äußerte, nachdem er seine Bekanntschaft gemacht hatte, „das kennt man dieser Physiognomie gleich an, daß hier eine Macht vorhanden ist". Wie in der Medizin, so fand Thiersch auch in der B o t a n i k , deren Vertreter er in der Akademie kennen lernte, ein Ringen mit Schellings naturphilosophischen Ideen; zugleich konnte er das interessante Problem, den Uebergang von einer systematisierenden zu einer entwicklungsgeschichtlichen Wissenschaft beobachten. In zwei führenden Männern traten dieser Kampf und dieses Problem besonders deutlich in Erscheinung. F r a n z P a u l a v o n S c h r a n k , der dem geistlichen Stand angehörende Altbayer, repräsentiert gleichsam das alte, der aus Franken stammende M a r t i u s das neue Bayern. In einem feinsinnigen Nachruf hat Martius,3) der zweiundzwanzig Jahre lang Schrank amtlich nahestand, seine Bedeutung gewürdigt. !) Erinnerungen. Bd. 2. S. 15. Brief der Schwester Kathrine. 2 ) K e r s c h e n s t e i n e r , Krankenanstalten. S. 198. 3 ) Martius, Schrank. S. 33. Vgl. E. W u n s c h m a n n , A . D . B . Bd. 32. S. 4 5 0 f r

— 247 — Zwei volle Menschenleben umfaßte seine wissenschaftliche Tätigkeit; während sich alles um ihn her änderte, blieb er sich selbst treu und wurde durch seine umfassende Gelehrsamkeit, sein scharfes Urteil und seine unbestechliche Wahrheitsliebe „Rei herbariae in Bavaria stator", wie die Inschrift auf dem Postament seiner Büste im Botanischen Garten rühmt. Durch einen Missionar, Pater Sluha, während seines Aufenthaltes im Jesuitenkollegium in Oedenburg für die Naturwissenschaften gewonnen, betrieb der junge Novize zunächst deskriptive Zoologiestudien, indem er Spinnen sammelte, verglich und nach ihren Unterscheidungsmerkmalen zu beschreiben suchte; in Wien gelang es ihm durch angestrengte Beobachtungen auf der Sternwarte des Kollegiums einer der Entdecker des berühmten Kometen von 1769 zu werden. Linnes Genera und Species plantarum erschlossen ihm in der Botanik eine ganz neue Welt. Bald nahmen seine Forschungen immer mehr den Charakter der damaligen Literaturperiode an. Linnes systematische Prinzipien waren in der Naturwissenschaft in Deutschland damals allgemein angenommen. „Während Geister wie Haller, Bonnet, Buffon Ansichten verbreiteten, die weniger von der Idee des individuellen Lebens und des lebendigen Organismus als von der einer erhabenen, göttlich-prästabilierten Zweckmäßigkeit durchdrungen waren, bemühten sich die zahlreichen Jünger Linnes, von der Konsequenz und Klarheit des Systems angezogen, die Kenntnis der konkreten Formen im Tier- und Pflanzenreich zu erweitern." 1 ) Die Folge war, daß in Deutschland fast in jeder Provinz die einheimischen Naturkörper gesammelt und nach Linnes System eingeordnet wurden. Eine ungemessene Zahl von Spezialfaunen und -floren entstand; die einzelnen Naturwesen wurden als „fertige" Dinge in ihren äußeren Merkmalen fixiert. So wurde das Material zusammengetragen, auf dem später eine Lebens- und Entwicklungsgeschichte errichtet werden konnte. Schrank besaß die Eigenschaften auf diesem Gebiet erfolgreich zu arbeiten; scharfe Sinne, ein ruhiges ernsthaftes Temperament, Freiheit des Ausdruckes im Deutschen und Lateinischen und einen logisch gebildeten Verstand. Viele seiner Pflanzenbeschreibungen erreichen die besten Muster Linnes, Jussieus u. a. Zum Professor in Ingolstadt ernannt, kam er in literarische Verbindung mit Moll. Als Frucht dieses regen Verkehrs entstanden seine Werke über die Flora in Bayern und Salzburg. Unermüdlich erweiterte Martius, Schrank. S. 40.

— 248 — der „ernste Mann" auch seine literarischen Kenntnisse durch sorgfältiges Studium fast aller Neuerscheinungen im Gebiet der Naturgeschichte, Physik und Chemie. In seiner wissenschaftlichen Arbeit folgte er der Richtung der Zeit. „Die Naturwissenschaft schreitet von der Formenkunde zur Formengeschichte, von dieser zur Geschichte des Lebensprozesses fort." „Das Streben die typischen Verhältnisse zu erfassen und damit ein über das bisher herrschende künstliche Linnesche System hinausgehendes, ein sogenanntes natürliches System zu begründen" trat am frühesten bei den Franzosen hervor, weil ihnen der größte Reichtum an Formen zu Gebote stand. „Jussieu im Pflanzen-, Cuvier im Tierreich gewannen durch Vergleichung der typischen Werte eine neue, wahrere Ansicht des Systems in der Natur." „Wir Deutsche erforschten mit mehr Eifer, vielleicht auch mit mehr Beruf, die Natur jenseits des Gebietes der Formen, in ihrem Leben selbst, wo wir zu Gesetzen und endlich, selbst jenseits dieser, zur Ahnung und Erkenntnis von Kräften hindurchzudringen suchten." 1 ) In Schranks Naturgeschichte der Pflanzen, besonders in der Fauna boica zeigt sich die physiologische Betrachtungsweise, „sorgsames Streben, auf den Kern der Erscheinungen zu dringen und sich zur Idee des Organismus zu erheben". „Er faßt Stoff, Form und Tat in ihrer innigen, wahren Wechselbeziehung und Einheit, er sondert mit logischem Blick in den Verwicklungen des Lebens die einzelnen Sphären der Tätigkeit, hebt die Psyche aus dem Getriebe organischer Kräfte hervor und eröffnet heitere Blicke in eine harmonisch vollendete Schöpfung". Durch Betrachtung der lebendigen Natur, besonders der niederen Tiere und durch das Studium von Aristoteles und Reaumur gewann er seine Idee des Organismus. Im Weltall freilich erkannte er nur das System der höchsten Zweckmäßigkeit an. „Alles sei," so sagte er, „sich gegenseitig Zweck und Mittel und dafür sei ein jedes Einzelne vorhanden." Aus seiner umfangreichen akademischen Tätigkeit — in Landshut übte er auch auf den Kronprinzen Ludwig durch seinen Patriotismus, Freimut, seine umfassende Gelehrsamkeit und vielseitige Tätigkeit Einfluß — wurde er durch den Ruf nach München an die Akademie 1809 gerissen. Trotz seines hohen Alters widmete er dem Botanischen Garten seine ganze Kraft, beschrieb die ihm anvertrauten Pflanzen und erweiterte seine Korrespondenz über ganz Europa nach beiden Indien. Sein Geist blieb frisch; Horaz und Vergil verschönten ihm die wenigen Stunden, die er sich zur Erholung gönnte. Die letzte Spanne M a r t i u s , Festreden.

S. 47/48.

— 249 — seines Lebens widmete er theologischen Arbeiten. Er tat damit seinem Herzen, seinem Glauben Genüge. Denn in den Fragen der letzten Dinge des Menschen fand er volle Befriedigung in den Dogmen und Symbolen seiner Kirche. Martius sah den ausgezeichneten Greis sterben. „Er empfand in diesem ernstesten Moment tief und innig die beruhigende Kraft der Wissenschaft und des Glaubens."1) Während Schrank in seiner auf dem Grund der katholischen Religion ruhenden Weltanschauung einen so festen Halt besaß, daß er von den Einwirkungen des philosophischen Zeitgeistes kaum Verührt wurde, sah sich M a r t i u s,2) der Vertreter des neuen Bayern, schon in seiner Jugend mitten in das Ringen der geistigen Strömungen hineinversetzt. Denn diese fiel in die Zeit der Blüte der deutschen klassischen Dichter, der mächtig vorwärtsdrängenden spekulativen Philosophie und des Neuhumanismus. Ein gründlicher humanistischer Unterricht weckte in ihm den tiefen sittlichen Ernst und das Streben nach allseitiger harmonischer Geistesbildung und regte das poetische Gemüt des Knaben mächtig an. Auf der Erlanger Universität beeinflußte den phantasievollen Studenten besonders tief der Umgang mit den begabten Brüdern Christian Gottfried und Theodor Friedrich Nees von Esenbeck. Gerade damals zeigte sich der Einfluß der Naturphilosophie auch in der Botanik, und die Brüder wußten Martius, wie die Schriften der 20er und 30er Jahre beweisen, für diese Richtung vorübergehend zu gewinnen. Der Eintritt in die Münchener Akademie als Eleve und die bald erfolgende Ernennung zum Adjunkten (1816) ermöglichten es Martius, unter Schranks Oberleitung sich ganz der Botanik zu widmen. Mit dem ihm eigenen Feuereifer vollzog er die übertragenen Arbeiten, zunächst die systematische Bestimmung und Anordnung der Pflanzen des Botanischen Gartens. Auf ausgedehnten Exkursionen bis nach Salzburg und Kärnten lernte er die Landesflora kennen. Er hat sich später selbst Uber die Richtung, die die Botanik damals verfolgte, geäußert: 3 ) „Es galt zunächst die Pflanzenspecies als ein Fertiges zu fixieren, zu beschreiben und sie zwischen den übrigen anzuordnen, zu klassifizieren. Je mehr man hierbei, von einzelnen Merkmalen absehend, die Totalität eines gegebenen Pflanzenwesens und ihren Bezug zu allen übrigen ins Auge faßte, um so mehr näherte man sich dem, was die sogenannte natürliche Methode als ihre letzte Aufgabe anerkennt. Inzwischen zeigte !) M a r t i u s , Festreden. S. 54. 2 ) M e i ß n e r , Denkschrift. G o e b e l , Martius. 3) G o e b e l , Martius. S. 7.

Eichler,

Martius.



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eine gründliche Prüfung der Prinzipien, die Ant. Laur. de Jussieu seinem unsterblichen Werke der „Genera Plantarum" zugrunde gelegt und die er noch 36 Jahre später bekannt hat, daß dieses sogenannte natürliche System des Pflanzenreiches in seinem Grundbau den rein logischen Charakter nicht verleugnet, daß es ebenso wie die früheren, sogenannten künstlichen, vielmehr eine Anordnung des Mannigfaltigen nach gewissen Begriffen d. i. eine Klassifikation als ein aus der höheren Einheit einer Idee organisiertes Mannigfaltiges, ein System im-philosophischen Sinne sei." Martius erkannte deutlich, daß die systematische Botanik noch auf lange Zeit statistisch-deskriptiv betrieben werden müsse; doch mit dieser Erkenntnis verknüpfte sich das Bestreben „über Einzelheiten hinweg zu allgemeinen Resultaten zu gelangen", „ein Bestreben, das sich bei ihm allerdings in der Form eines subjektiven Idealismus ausspricht, der die Einzelnaturkörper als Erscheinungsformen einer „Idee" betrachtete und dadurch zu einer tieferen Auffassung des Systems zu gelangen glaubte".1) Das rege Interesse des Königs, der bei seinen häufigen Besuchen des Botanischen Gartens gewöhnlich Martius' Begleitung wünschte, sollte dann für dessen ganze Laufbahn bedeutsam werden. Inzwischen war die Aufmerksamkeit der ganzen wissenschaftlichen Welt durch Alexander von Humboldts Reisen nach Mittel- und Südamerika und die Robert Browns nach Australien auf die außereuropäische Pflanzenwelt gelenkt worden. Humboldts „Ansichten der Natur" erfüllten die Herzen der jüngeren Naturforscher mit dem Wunsch die Wunder der tropischen Pflanzenwelt kennen zu lernen. Robert Brown führte mit A. L. de Jussieu, A. P. de Candolle eine neue Epoche in der Geschichte der Pflanzenkunde herauf.2) „Linné hatte zuerst über die ganze Welt der individualisierten Schöpfung das Netz des Systems ausgebreitet : Reiche, Klassen, Ordnungen, Gattungen, Arten in bestimmten Charakteren festgestellt, de Jussieu ergriff das von Linné logisch eingeteilte Pflanzenreich und gliederte es mittels der Synthese glücklich hervorgehobener wesentlicher Merkmale zu dem sogenannten „natürlichen Pflanzensystem". Es war ein herrlicher Bau, aber er war nicht fertig, teilweise gleichsam nur im Grundriß vorhanden. An seiner weiteren Ausführung haben sich die letztvergangenen 60 Jahre beteiligt — zumal im Umfang schuf de Candolle, in die Tiefe und Höhe Robert Brown." !) G o e b e l , Martius. S. 7/8. 2 ) M a r t i u s , Festreden. Robert Brown.

S. 365ff.

— 251 — Dieser schlug durch die evolutive Natur des Gewächses bestimmt die analytische Forschung ein; er untersuchte auch die Anfänge und jugendlichen Zustände der pflanzlichen Organisation und erkannte so das Wesen und die Gesetze der Gestaltung. In einzigartiger Weise enthüllte er zwischen den mannigfaltigsten Gestalten die verborgensten Beziehungen. „Der Pflanzengeographie gab er eine sichere Begründung durch Hinweisung auf die Gesetzmäßigkeit in den Zahlenverhältnissen der Gewächse nach verschiedenen Zonen und Ländern." Die mehrere Jahre dauernde Erforschung Australiens (1800—1805) veranlaßte Brown zur Herausgabe seines epochemachenden Werkes, der „Flora Novae Hollandiae". Die gewaltige Wirkung desselben auf Deutschlands Botanik erklärt sich aus der innigen Verwandtschaft Robert Browns mit dem deutschen Geist in den morphologischen Forschungen. Indem er „von dem mikroskopischen Keimkorn des Mooses und dem sogenannten vegetabilischen Ei bis zur Blume, von den Staubfäden und ihrem Befruchtungsstaub bis zu den Fruchtblättern und der Frucht alle Organe in den verschiedensten Ordnungen und in allen Stadien der Entwicklung untersuchte und verglich, wurde er, beherrscht von dem tiefsten Gefühl für Naturwahrheit und Naturbezüge, einer der Begründer der Morphologie. Noch ehe die von Goethes Pflanzenmetamorphose angeregten morphologischen Ideen sich verbreiteten und, durch Männer wie Nees von Esenbeck, Röper, Ernst Meyer, Link, Alex. Braun u. a. weiter entwickelt, in die Schule übergingen, war Brown in Australien zu verwandten Anschauungen gekommen." Zusammenfassend charakterisiert Martius Browns Epoche als die der „botanischen Peripatetiker" man unternahm große Reisen, untersuchte die entlegensten Länder und Meere auf Pflanzen. „Man botanisierte — forschte und dachte, indem man wanderte." „Es galt die Welt der P f l a n z e n . . . gleichsam in der Vogelperspektive zu überschauen und den Forschern einer späteren Generation — Aporotiker (Seßhafte) könnte man diese nennen — das geschichtete und systematisierte Material zu übergeben für die Untersuchungen über das Wesen, Leben und Wirken der Pflanze. Jener Männer Tätigkeit ging auf direkte Beobachtung: sie waren, was man beschreibende Systematiker nennt." König Max sollte Veranlassung werden, daß auch Martius an erste Stelle unter den Peripatetikern kam. 1817 erhielt er zusammen mit dem Zoologen Sphix den Auftrag zu einer Forschungsreise nach Brasilien. Der von der Münchener Akademie in großzügigster Weise entworfene Festreden.

S. 366.



252



Plan 1 ) forderte von den Reisenden die Hauptprovinzen ohne Bevorzugung bestimmter Gegenden auf dem längsten W e g forschend und sammelnd zu durchziehen. Nach fast vierjähriger Abwesenheit trafen die Forscher wieder in München ein.2) Die Reise bestimmte Martius' ganze weitere wissenschaftliche Tätigkeit. Für die systematische Botanik von grundlegender Bedeutung wurde die „Palmenmonographie" und die „Flora Brasiliensis". Goethe interessierte sich für das Palmenbuch aufs stärkste;3) er rühmt als besonderen Reiz der Darstellung „ein reines warmes Mitgefühl an der Naturerhabenheit in allen ihren Szenen, frommsinnig, klar empfunden und ebenso mit deutlicher Fröhlichkeit entschieden ausgesprochen." Eine große Gefahr, die in des Forschers Persönlichkeit und der Zeit lag und die durch die brasilianische Reise noch verstärkt wurde, zeigt sein Briefwechsel') mit Goethe: er plane — so lesen wir — eine astrologisch-geographische Pflanzenphysiologie. „Meine Neigung zöge vor, die allgemein poetischen und sittlichen Eindrücke (die brasilianische Reise ist gemeint) eher laut werden zu lassen, als immer nur Zug für Zug am einzelnen weiter zu ziehen; aber eine innere Stimme sagt mir, daß diese Ruhe heilsamer sei." „So vermeinte ich denn am besten zu tun, wenn ich den Mut hätte mich zu bescheiden und den für das einzelne einfachen Weg der Beobachtung durch die Natur fortzugehen, für das Allgemeine, Unendliche aber mich dem Unendlichen in mir zu überlassen, meinem Naturgefühl zu trauen, welches das Einzelne verbände." Sein klarer Verstand und eiserner Wille siegte über sein Gefühl und bewahrte ihn vor Irrwegen in das Gebiet der spekulativen Naturphilosophie. Mit der Verlegung der Universität nach München erweiterte sich der Tätigkeitskreis des Gelehrten, indem er das Ordinariat für Botanik erhielt; als begeisternder Lehrer sammelte er einen großen Schülerkreis um sich. J)

Eichler,

2)

Meißner,

Grundlage

der

Martius.

Nr. i .

Martius.

S. 6 f f .

S. 8, A n m .

Bayerischen

D i e A u s b e u t e war gewaltig und wurde die

Staatssammlungen:

außer

wertvollen

Mineralien

und

G e b i r g s a r t e n : Säugetiere 85 A r t e n , V ö g e l 350, A m p h i b i e n 130, Fische 116, Insekten 2700, Arachniden und K r u s t a z e e n j e 50, an P f l a n z e n ca. 6500 Arten.

Eine

Strecke

v o n f a s t 1400 geographischen Meilen w a r in den mühe- und gefahrvollsten Gegenden der N e u e n W e l t

zurückgelegt.

3)

Goebel,

Martius.

S. I 3 f f .

4)

Goebel,

Martius.

S. 5/6.

— 253 — Neben seiner Hochschultätigkeit galt seine Hauptsorge dem Botanischen Garten, den er als erster Konservator (seit 1832) zu einer Musteranstalt von europäischem Ruf erhob. Als der Glaspalast für die bevorstehende Industrieausstellung auf dem Areal desselben erbaut wurde, legte er seine Professur und die Konservatorstelle nieder, vielleicht auch von dem Gedanken geleitet, daß die neue Richtung der Botanik, die anatomisch-physiologische einen ungeahnten Aufschwung nahm, während sein Arbeitsfeld auf einem anderen Gebiet lag.1) Martius2) war selten reich und vielseitig begabt; Schärfe des Verstandes, feinste Beobachtungsgabe und ein eminentes Gedächtnis verbanden sich mit einem warmen, tieffühlenden Gemüt und einer leicht erregbaren, nicht bloß empfänglichen, sondern auch freigestaltenden Phantasie. „Aufs engste mit der sinnigen Richtung seines Gemütes hing seine tiefe Religiosität zusammen"; „streng festhaltend am Wesentlichen des Glaubens war er doch mild und duldsam in bezug auf die Abweichungen und Verschiedenheiten der Form desselben und gleich entfernt von Indifferenz wie von Intoleranz." Diese Gesinnung entsprang jenem Grundzug seines Charakters, dem Wohlwollen und liebevollen Eingehen auf jede Persönlichkeit, der ihm die Zuneigung auch der bedeutendsten Zeitgenossen gewann. Goethe schrieb3) 1824 in sein Tagebuch: „Sodann gedenke ich sehr gerne der kurzen Gegenwart des Herrn Ritter von Martius aus München. Der hohe Wert seines inneren Vermögens hat sich durch eigentümliche Aufnahme der Außenwelt auf einen solchen Grad gesteigert, daß man sich zusammennehmen muß um würdig zu schätzen, was man mit Bewunderung anerkennt." Neben Schrank und Martius erscheint als dritter Botaniker J o s e p h G e r h a r d Z u c c a r i n i ; ' ) auf ihn wendet Martius einen Ausspruch Wilhelm von Humboldts an, „daß jeder Mensch, wie gut er auch sei, einen noch besseren Menschen in sich trägt, der sein viel eigentlicheres Selbst ausmacht"; er habe das Glück genossen, diesen inneren Menschen in einem so durchsichtigen Aeußern zu tragen, daß beide ein einiges Bild ohne Brechung und Schiller darstellten. Sein eigentlichster Beruf war der naturwissenschaftliche. Mit einer seltenen Tragkraft und Klarheit des Auges verband sich ein heller Verstand, eine schnelle, freie und unbefangene Auffassung, ein rasches, sicheres und besonders in praktischen Fragen selten scharfes Urteil. Nicht sowohl logische Entwicklung G o e b e l , Martius. 2 3

S. 17.

) E i c h l e r , Martius.

Nr. 2.

) G o e b e l , Martius.

S. 17.

4

) M a r t i u s , Festreden.

S. 2 2 f f .

S. 241 ff.

— 254 — als unmittelbare Anschauung führten ihn zur Erkenntnis des Rechten und Wahren. Seine Einbildungskraft war mehr lebhaft als gewaltig, die Phantasie mehr malerisch als plastisch. Mit seinem weichen und warmen Gemüt umfaßte er liebend die ganze Welt. Unter Schranks Leitung verfaßte er zunächst systematische Arbeiten; bald aber folgte er der bedeutsamen Entwicklung seiner Wissenschaft, die eine Uebergangsperiode 1 ) durchmachte; von der Methode der Klassifikationen sich abwendend, schritt man dazu fort, die Entwicklungsgeschichte der Pflanze zu studieren, das Werden der Zelle, des Gefäßes, des Gewebes. Damit war zugleich die Aufgabe gestellt den Zusammenhang der Botanik mit den übrigen Naturwissenschaften, der Physik, Chemie und Geognosie klarzustellen; mit Hilfe des Mikroskopes und den Apparaten der Physik und Chemie beschritt man den Weg einer vielseitigen Induktion, nach Möglichkeit jede vorgefaßte Meinung ausschließend, also gerade das der spekulativen Naturphilosophie entgegengesetzte Verfahren. Dabei zeigte sich das Bedürfnis mit besonderer Stärke die Gesetze des organischen Lebens in dessen Totalität, im Tier- und Pflanzenreich solidarisch zu begreifen; „die großen Fragen von den Urbedingungen der Erscheinung eines Organischen überhaupt, von der Urerzeugung, von den Grenzen zwischen Tier- und Pflanzenreich" wurden in ihrer ganzen Bedeutsamkeit erfaßt. Zugleich forderte der Zeitgeist immer energischer die Berücksichtigung der praktischen Landwirtschaft. So wurden die Klassifikationsmethoden vielseitig und energisch fortgebildet, Physiologie und Anatomie der Pflanzen, Pflanzengeographie, -geschichte und Paläophytologie zu selbständigen Fächern ausgebildet. Jussieu, Robert Brown und de Candolle wurden die Führer auch für Zuccarini. In Deutschland hatte sich die „morphologische Naturauffassung" entwickelt, wodurch der Einwirkung Browns der Weg gebahnt war. Nachdem Blumenbach die Einheit des Menschengeschlechtes nachgewiesen hatte, die Zoologen den Versuch machten die Mannigfaltigkeit der Tiergestalten auf einige Typen zurückzuführen und Goethes Beispiel die Metamorphose der Pflanze zu erklären, die Anschauungen der Botaniker tiefgehend beeinflußte, war der leitende Gedanke, „daß alle Bildungen in dem seinem ganzen Wesen nach so vorzugsweise evolutiven Pflanzenreiche auf innere organische Einheit zurückgeführt werden könnten." Aehnliche Ideen machten sich in der Zoologie und Mineralogie geltend. Hier tritt der Einfluß der deutschen NaturJ)

Martius,

2)

Ebenda.

Festreden. S. 254.

S.

249Ü.

philosophie deutlich in Erscheinung; bei dem engen Zusammenhang dieser Richtung mit der romantischen Schule in der deutschen Poesie vermochte auch die Botanik ihrer Einwirkung nicht zu entgehen. Obwohl Zuccarini selbst eine poetische Natur war, blieb seine Naturauffassung und seine Forschung von dem unmittelbaren Einfluß jener Elemente frei. Ueberzeugt von einer höheren Einheit der Organe versuchte er mit Hilfe der Kombinationen der Phantasie zu einer geistigen Anschauung dieser Einheit zu gelangen; indessen blieb er sich stets der Gefahren eines Ueberwiegens der Phantasietätigkeit bewußt. Seine Arbeiten sind daher durchgehend durch ihre „morphologische Auffassungsweise" charakterisiert. Zuccarinis Ansicht von der Wissenschaft zeigt nahe Berührung mit dem Wissenschaftsbegriff des deutschen Idealismus; sein höchstes Ziel war „lebendiges Wissen", „das aus dem Innersten des ganzen Menschen sprießt und deshalb auch nicht einseitig oder pedantisch wirkt, sondern mit der Totalität des Menschen, von Geist und Gemüt ergriffen, von diesem Zentrum nützlich nach außen zurückwirkt."1) Daher suchte er durch die Wissenschaft in die moralischen und bürgerlichen Zustände verbessernd einzugreifen. Ein solcher Mann war auch der geborene akademische Lehrer, wie Thiersch pflegte er den persönlichen Umgang mit der ihm anvertrauten Jugend. Unermüdlich leitete er sie an zur unerbittlichen Wahrheitsliebe und zur Treue, die stets eins ist mit dem redlichen Festhalten am Rechten und an der gesetzlichen Ordnung.

V. Kapitel.

Das Ringen der Ideen der historischen Rechtsschule mit dem Rationalismus. Eine eigentümliche Fügung des Schicksals hatte wenige Jahre, bevor Thiersch nach München kam, zwei Führer der deutschen Rechtswissenschaft nach Bayern gebracht, A n s e i m v o n F e u e r b a c h und Fr. K. v o n S a v i g n y; zu jenem trat Thiersch von Beginn seiner neuen Tätigkeit an in nahe persönliche Berührung, sodaß ihn derselbe bereits 1811 in einem Brief2) an seinen Vater als einen seiner besten Freunde bezeichnen konnte; in dem Streit gegen die „Berufenen" stand er ihm M a r t i u s , Festreden. 2

S. 264/265.

) F e u e r b a c h s Leben und Wirken. Bd. I.

1852.

S. 203.



256



energisch.zur Seite; seinen beiden ältesten Kindern wurde er ein treubesorgter Lehrer. Ob Thiersch Savigny persönlich kennen lernte, läßt sich zwar nicht durch ein Zeugnis belegen; doch ist es höchst wahrscheinlich, da dieser mit Jacobi verkehrte, in dessen Haus Thiersch wie ein Sohn aufgenommen war. Jedenfalls empfing er von beiden Männern tiefgehende Anregungen ; denn in außerordentlich belehrender Weise verkörperten sich in ihnen geistige Strömungen der Zeit, unter deren Einfluß Thierschs eigene Persönlichkeit reifte. Feuerbach wie Savigny teilten die Auffassung von dem hohen Wesen der Wissenschaft, der Würde und den Aufgaben des akademischen Lehrers und der Bedeutung der Universitäten, beide besaßen eine sehr gründliche philologische Schulung und schätzten den erzieherischen Einfluß der Altertumsstudien auf die Heranbildung der Jugend hoch ein, beide verband die gleiche Abneigung gegen Napoleon und die Mechanisierung des französischen Bildungswesens, die Hochschätzung der deutschen Kultur, beide stehen Thiersch durch ihre tiefe Religiosität, ihr vielseitiges philosophisches Interesse nahe. In Feuerbach tritt uns ein genialer Vertreter der Aufklärung im Sinne Kants entgegen, Savigny erscheint als der Begründer der historischen Rechtsschule, trotz aller Berührung mit dem romantischen Ideenkreis jedoch ein Klassiker, in Charakter und Weltanschauung Goethe sehr ähnlich. In Feuerbachs Natur überwiegt ein leidenschaftlicher, oft jäh aufbrausender, auf hohe Ideale gerichteter Wille und ein scharfer, klarer Verstand; eine fast krankhafte Reizbarkeit läßt ihn zwischen zwei Extremen schwanken, zwischen glühender Hinneigung und menschenfeindlicher Verachtung. Die für sein ganzes Leben entscheidenden Eindrücke empfing er, als er mit sechzehn Jahren, das Vaterhaus fliehend (1791), nach Jena sich begab, das damals die Hauptfeste des Kantianismus war, und zunächst seiner Neigung folgend, vor allem Philosophie und Geschichte, später dann Jurisprudenz studierte. Reinhold wurde, wie er seinem Vater berichtet,1) „sein Führer zum Guten" und „sein väterlicher Freund". „Ihm danke ich es (und mit mir unzählige Jünglinge), daß ich besser geworden bin, ihm danke ich die Ausbildung meines Geistes und die Schärfung meiner Denkkraft, ihm danke ich es endlich, daß ich warmer Freund reeller Wissenschaften, Freund des eigentlichen angestrengten Denkens geworden bin." Den besten Einblick in sein Wesen gewähren die Tagebucheinzeichnungen 2 ) aus jenen Jahren. Sie spiegeln zugleich die tiefen Einflüsse, die er 4. März 1794 in F e u e r b a c h s , Leben und Wirken. Bd. I. S. 8/9. ) A. F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. S. I2ff.

2

— 257 — durch umfassende Lektüre der Schriften Humes, Lockes, Burkes und Rousseaus erfuhr. „Ich will mich darstellen wie ich bin," — so lesen wir am 16. April — „jede nur merkliche Falte meines Herzens will ich durchforschen und weder in meinen Fehlern noch in meinen Tugenden mich belügen. — Ich will immer besser werden, ich will mich des hohen Namens Mensch würdig machen und um dies ausführen zu können, muß das ,Erkenne dich selbst' der Führer auf meinem Weg zur Tugend sein." Mit Entschlossenheit bekämpfte er die Sinnlichkeit durch sein besseres Selbst. „Durch mein Gewissen genieße ich eine Seligkeit, die mir kein äußeres Glück gewähren kann." Ein brennender Ehrgeiz und Ruhmbegierde erfüllten die Brust des jugendlichen Studenten, freilich nicht gerichtet auf das Lob der Umgebung oder eines engen Zirkels, sondern auf das Ganze, auf die Welt. In ihm lebte ein Ideal von Gelehrsamkeit und Verdienst, dent wenigstens näherzukommen seine einzige Sorge war. „Im Tempel der Unsterblichkeit will ich prangen, dies ist mein höchster Wunsch, dies ist das einzige Ziel all meines Strebens, daher ich auch nicht den Umgang großer Gelehrten und in ihrem Zirkel zu prangen suche." Schon bald begann er eine reiche schriftstellerische Tätigkeit, die er dann unermüdlich bis zu seinem Tod fortsetzte. „Denn das Büchermachen liegt nun einmal so sehr in meiner Natur wie das Schnurren in der Natur einer Katzenseele." 1 ) In einer Schrift: „Ueber die einzig möglichen Beweisgründe gegen das Dasein und die Gültigkeit der natürlichen Rechte" verteidigte er die Menschenrechte und begründete sie durch Prinzipien der kritischen Philosophie. In seinem „Antihobbes" (1798) oder „über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn" stutzte er sich auf Kants Philosophie und seine Auffassung des Staates als eines Vereins zur Sicherung der Rechte, und entwickelte eine eigentümlich modifizierte Abschreckungstheorie; als Zweck des Staates erkennt er die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung; das Strafrecht übt einen psychologischen Zwang. Durch „die Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechtes" wurde er zum ersten deutschen Kriminalisten. „Sie ist nichts anderes als eine Begründung des Strafrechtes vom Standpunkt der Kritik der reinen Vernunft." 2 ) In ihr wie in den vorausgegangenen Schriften begegnen sich die beiden Strömungen der französischen Revolution, deren Propheten Rousseau Feuerbach 1

) A. F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. ) H o l d e r , Savigny und Feuerbach. S. 8. Loewe, Friedr.Thiersch. 2

S. 83.

17

— 258 — sehr hoch hielt, und der kantischen Philosophie. Der epochemachende Grundgedanke war die Zerbrechimg der Herrschaft richterlicher Willkür, die Trennung des positiven Rechtes von der Moral in bewußtem Gegensatz zu jener dem Aufklärungszeitalter eigenen Vermengung von Recht und Moral, die scharfe Unterscheidung zwischen dem Zweck des die Strafe drohenden Gesetzes und dem lediglich im Gesetz als ihrem Rechtsgrund gelegenen Zweck der wirklichen Bestrafung. 1 ) Zu dem Romantikerkreis in Jena unterhielt Feuerbach keine näheren Beziehungen. Ueber August Wilhelm Schlegel fällte er in einem Brief an seinen Vater2) ein sehr scharfes Urteil; von den Dichtern lobe er nur Goethe, Hans Sachs und sich selbst, er predige einen neuen Geschmack, sowie die Wiedergeburt der wahren Poesie mit dem Schwert des Fanatismus; seine Eitelkeit und der Eigendünkel führen ihn zu Handlungen und Aeußerungen, die ein echt moralischer Mensch sich nicht erlaubt; zuweilen machte er seiner Frau Visite. „Unter „Frau'' ist aber liier weiter nichts zu verstehen als eine weibliche Person, deren Hand ein Geistlicher in Schlegels Hand gelegt hat und die dessen Namen führt, die wirklichen Eherechte besitzt und übt aus Professor Schelling, der Idealist, wie allgemein bekannt ist. Schlegel als Dichter und Transzendentalphilosoph ist von Rechts und Vernunft wegen bei diesem Punkt gar nicht weiter interessiert, da er ja weiß, daß alles nur das selbst geschaffene Produkt von ihm selbst und Schelling doch nur in ihm und durch ihn und als Teil seiner eigenen Ichheit vorhanden ist." Zu Fichte gewann er ebenfalls kein persönliches Verhältnis. „Ich b i n . . ein geschworener Feind von Fichte als einem unmoralischen Menschen und von seiner Philosophie als der abscheulichsten Ausgeburt des Aberwitzes, die die Vernunft verkrüppelt und Einfälle einer gärenden Phantasie für Philosopheme verkauft... Als Phantasiephilosophie hat sie auch allerdings etwas Gefälliges und Anziehendes, aber nicht für den, den der Kantsche Geist genährt hat und der es weiß, daß mit leeren Begriffen spielen noch nicht philosophieren heißt. Dieser Unsinn wird bald verweht sein."3) Bei Leibniz, Locke und Kant findet er unsterblichen, philosophischen Geist. Die Jenenser Periode Feuerbachs, die seines philosophischen Wirkens, ging bald zu Ende. 1802 folgte er einem Rufe nach Kiel, bei seinem Weggang von der Hörerschaft aufs rührendste verabschiedet. Schon dort beschäftigte er sich mit einer Kritik des Kleinschrodschen *) H o l d e r , ebenda. G e y e r , Feuerbach. S. 469. 2 ) 18. Januar 1802 in A. F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. 3 ) A. F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. S. 51/52.

S. 69/78.

— 259 — Entwurfes zu einem bayerischen Kriminalgesetzbuch und mit einem Entwürfe. Die Sammlung von Stoff zu zivilistischen Abhandlungen und einer Geschichte des Kriminalrechtes veranlaßten ihn zu eifriger Lektüre Ciceros und Quintilians; gleichzeitig trieb er energisch Griechisch. 1 ) „Jetzt gehts nach Landshut!" — so schließt der Rückblick über den Kieler Aufenthalt — . „Wie wird das Blatt lauten, das ich dort bei meinem Abschied niederschreibe?" Von Staatsminister von Zentner war der Ruf an ihn ergangen als Professor des gemeinen Zivil- und Kriminalrechtes an die katholische Hochschule zu kommen. Gelockt von dem „lieblichen Klima, der schönen Gegend, der Wohlfeilheit der Lebensmittel, der großen Frequenz und vor allem der hohen Liberalität der Regierung" nahm Feuerbach an. Die mit soviel Hoffnungen übernommene Tätigkeit an der Alma mater sollte freilich nur ein Jahr dauern. Denn der außerordentlich reizbare Mann geriet sehr bald in schwere persönliche Streitigkeiten mit seinem Kollegen in der Juristenfakultät, Gönner, der offenbar gekränkt über die Bevorzugung Feuerbachs durch die Regierung, die ihm den Auftrag erteilt hatte an einer Reform des bayerischen Strafgesetzbuches mitzuarbeiten, in seiner behaglichen Ruhe und Untätigkeit aufgestört, alles tat ihm den Aufenthalt unleidlich zu machen. Wäre man geneigt die scharfen Ausdrücke, die Feuerbach in einem Brief an Jacobi2) von Gönner gebraucht: der „sittenloseste Wüstling", „der ausgelassenste Tor, der gewissenloseste und unfleißigste Lehrer" als starke Uebertreibungen eines in seiner Ehre schwer Gekränkten anzusehen, so muß es doch nachdenklich stimmen, daß ein so human denkender Mann wie Jacobi seine Ueberzeugung dahin zusammenfaßt: „Ich weiß ebenfalls, daß Gönner wirklich ganz so hassenswürdig und verächtlich ist als Sie ihn schildern." 3 ) Auch die Polemik, die Savigny einige Jahre später gegen Gönner zu führen hatte, wirft ein sehr ungünstiges Licht auf dessen Charakter. Zu dieser persönlichen Differenz kam wohl noch eine sachliche; in jener feierlichen Disputation eines der Feuerbachschen Schüler, die den letzten Anstoß zu seinem Scheiden von Landshut gab, warf, wie Feuerbach an Jacobi berichtete,4) „dieser mit vielen beschmutzten, zertretenen Brosamen von Schellings Tafel nach mir als Kriminalisten". Diese Bemerkung steht in Zusammenhang mit dem Versuch Gönners seine aufklärerischen Ideen mit Schellingschen Gedanken zu verbinden. Ebenda. S. 90 ff. Über meinen Aufenthalt in Kiel. Leben und Wirken. Bd. I. S. 114. 3) Ebenda. S. 108. 4) Leben Und Wirken. Bd. I. S 117. 2)

17*



260

Dazu gesellte sich dann noch die Beobachtung Feuerbachs, die Beeinträchtigung der akademischen Wirksamkeit, die ja auch Thiersch viel zu schaffen machte. Durch einen verkehrten Studienplan, „der, fast möchte ich sagen, von Staats wegen laut schreiend den Studierenden zuruft: ihr sollt mit euren Ohren hören, aber nicht mit eurem Geist, der die Universität, soweit sie auch Rechtsgelehrte bilden soll, zu einem Hör- und Schreibinstitut organisiert, wo einer für Bezahlung Worte sagt, die von anderen mit Ohren aufgefangen, mit der Feder aufs Papier gebracht und dann schwarz auf weiß in dem Pult zur Ruhe getragen werden. Denn wo nur leeres Vielerlei und Allerlei die alles belebende Seele ist, wo der Jüngling jeden Tag fast vom grauenden Morgen bis zum dämmernden Abend auf den Bänken des Hörsaals sitzen muß um eine fast ungeheuere Menge gesetzlich vorgeschriebener, großenteils unnötiger Vorlesungen durchhören zu können, wo er z. B. Polizeirecht und Polizeiwissenschaft, ein besonderes Naturrecht für Philosophen und dann noch ein besonderes Naturrecht für Juristen zu hören hat, wo ferner alle Ordnung des Studierens umgekehrt und die höchste Verwirrung vom Gesetz erlaubt, vom Eigennutz der Lehrer begründet und befördert wird, da kann doch wohl vom Denken und Begreifen, von Studieren und wissenschaftlichem Interesse — nicht einmal vom Auswendiglernen des vom Lehrer Gesagten die Rede sein." 1 ) Feuerbach erkannte, daß unter diesen Umständen seine Hauptaufgabe ein Wirken durch und für die Wissenschaft unlösbar sei, mit Schrecken gewahrte er die schlimmen Folgen des Lehrplanes; der zwecklose Finger- und Ohrenfleiß tötete den Geist der Jünglinge, und das Chaos eines verworrenen Vielerlei brachte oberflächliche Seichtigkeit und mit dieser den leeren Dünkel der Vielwisserei hervor. Bis zu einer endgültigen Regelung seiner dienstlichen Verhältnisse blieb Feuerbach noch in Landshut und las in seiner Privatwohnung für acht Studierende Pandekten und Kriminalrecht; 1805 berief ihn Montgelas als außerordentlichen geheimen Referendar beim geheimen Justiz- und Polizeidepartement; damit beginnt die Münchener Periode, der Höhepunkt, aber auch die dornenvollste Zeit seiner Wirksamkeit. Er kam in die Hauptstadt eines Landes, dessen Monarch seinen Aufstieg einem Machtwort Napoleons verdankte; der Reichsstädter Feuerbach verwuchs mit dem bayerischen Staat.2) Voll Feuereifer ging er an seine Arbeit. Denn die neue Tätigkeit befriedigte ihn. „Bei dem Umgang mit lauter schweinsledernen Bänden assimiliert sich nach und

s)

Ebenda. S. I i 2 f f . H o l d e r , Savigny und Feuerbach.

S. 10.



261



nach Seele und Leib der schweinsledernen Natur," schrieb er an seinen Vater. 1 ) Er hatte gefürchtet durch das unaufhaltsame Wühlen in Büchern, in trockenen Theorien und mikrologischem Staube und so vielen anderen geistigen Notzüchtigungen, die dem akademischen Lehrer Pflicht sind, allmählich zu vertrocknen. In München kam er in den Kreis vieler anregender Personen, fühlte sich „von der Liebe der ersten Männer an Geist und Herz gepflegt und gehegt". In Morawitzky hatte er einen gütigen Vorgesetzten, der ihm keine Schwierigkeiten in den Weg legte, Geheimrat Schenk wurde sein Freund und Ratgeber, Jacobi, bei dem er täglich mehrere Stunden zubrachte, wurde ihm Lehrer und väterlicher Freund. Der König und Montgelas vertrauten ihm rückhaltlos. Sein Wirkungskreis war ein großer, auf das Wohl von Millionen gerichtet. Bald nach Antritt seines Amtes legte er dem König einen Antrag auf Abschaffung der Tortur in Bayern vor, überzeugt, 2 ) daß es sich um einen Ueberrest alter barbarischer Gewohnheiten handelte, für welchen sich mit Vernunft nichts vorbringen läßt, mit Vorschlägen, wie die Kriminaluntersuchung durch bessere Unterweisung der Richter im Inquisitionsverfahren gefördert werden könne. Ein Befehl des Königs Max bei seiner Rückkehr aus Mailand den Code Napoleon zur Grundlage einer neuen bürgerlichen Gesetzgebung zu machen gab Feuerbach Gelegenheit zu einem der brennendsten Probleme in Bayern sich zu äußern, zu dem Verhältnis zu Frankreich. Sein Vortrag im geheimen Rat3) ist ein wichtiges Zeugnis für seine persönliche Auffassung und für die energische Klarstellung der tatsächlichen Verhältnisse. Ausdrücklich betont er, daß er sich bei der Darstellung der Zusammenhänge zwischen der Forderung des Königs und der größeren politischen Weltverhältnisse nur als Historiker betrachte, der mit dem Verstände auslegt, was sein Auge gesehen und sein Ohr vernommen hat, „weit entfernt ein politisches Glaubensbekenntnis ablegen zu wollen". Mit schonungsloser Schärfe charakterisiert er dann das neue System konföderierter Staaten des westlichen Europa mit ihrem großen Mittelpunkt Frankreich, im Sinne seines Stifters nicht „ein bloßer Völkerbund", sondern ein „wahres Staatensystem", dessen Bestehen und innere Konsistenz davon abhängt, daß alle konföderierten Staaten in ihrer äußeren Form in den Hauptgrundsätzen der Staatsverfassung und Verwaltung, sowie in allen Prinzipien J)

F e u e r b a c h , Leben und Wirken.

Bd. I.

S. 126.

2)

F e u e r b a c h , Leben und Wirken.

Bd. I.

S. 136, I38ff.

») F e u e r b a c h , Leben und Wirken.

Bd. I.

S. i62ff.



262



der Gesetzgebung, die auf den Völkerverkehr Einfluß haben, sich dem Hauptstaat assimilieren; nur so werde die nötige Gleichförmigkeit hergestellt. Napoleon wolle seinen Code zum europäischen bürgerlichen Gesetzbuch machen. Damit kommt Feuerbach zu der Feststellung : „In dem Bunde sein und sich in den Grundsätzen des Bundes isolieren, sind widersprechende Dinge. Diesem Widerspruch auszuweichen, das ist es, was allein die Veranlassung werden konnte, den Code Napoléon auf Bayern in Anwendung zu bringen." Aus dieser Sachlage ergeben sich die Grundsätze der Bearbeitung von selbst: Beibehaltung der Grundideen des Code Napoléon; diese aber sind: 1. Jeder Untertan ist im Verhältnis zu anderen Untertanen ein freier Mensch; er ist frei geboren und muß frei bleiben. 2. Alle Untertanen sind gleich vor dem Gesetz. 3. Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Staates von der Kirche in allen bürgerlichen Dingen. 4. Freiheit des Eigentums soll begünstigt werden. 5. Der freie Umtausch des Eigentums soll befördert werden. 6. Die Verteilung des Eigentums soll befördert werden. Diese scharfe Herausarbeitung der tatsächlichen Sachlage mißfiel den Gegnern der französischen Sache ebenso wie ihren Anhängern und trug nicht dazu bei die Stellung des Protestanten und Ausländers Feuerbach zu erleichtern. Von beiden Seiten warf man ihm Hochverrat vor. Trotz aller Mißhelligkeiten arbeitete er aber an der Reform des Kriminalgesetzbuches und des Codex Maximilianeus ;*) denn als Bayern sich politisch etwas freier bewegen konnte und keine dringende Aufforderung mehr zu haben glaubte, ein der Nation fremdes Gesetzbuch unter allen Umständen anpassend zu machen, wurde beschlossen jenen Codex einer neuen Gesetzgebung zugrunde zu legen. 1813 wurde das Strafgesetzbuch eingeführt, „das Produkt meiner besten Kräfte, die Frucht meiner schönsten, glücklichsten Stunden, die durch Fleiß und Zeit mühsam gereift war". Im zweiten Teil wurden seine glänzendsten Ideen, die Humanisierung des finsteren Inquisitionsprozesses, die Verbindung der Vorzüge des alten Untersuchungsprozesses mit denen des öffentlichen Verfahrens im geheimen Rat gestürzt. In einem höchst interessanten Vortrag,8) den Feuerbach ebendort hielt, entwickelte er seine Ansichten über den Geist des neuen Strafgesetzbuches. Nach einem kurzen Ueberblick über die grausame Willkür der älteren Strafgesetzgebung und die kränkelnde Empfindsamkeit des weibischen, mit der Philosophie verbündeten Zeitalters, da „weichliches 2

F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. ) Ebenda. Bd. I. S. 2 i 2 f f .

S. 258, 260.

— 263 — Schonen die Nerven der Staatskraft und die Bande des bürgerlichen Vereins erschlafft", betrachtet er es als eine der ersten Aufgaben des Strafgesetzgebers „die Gerechtigkeit mit der Milde, die Strenge mit der Humanität geschickt zu vereinigen, eine kräftige, jedoch menschlich gerechte Kriminaljustiz zu gründen, die richterliche Willkür ihrer angemaßten Herrschaft zu entsetzen, ohne darum die Vernunft des Richters bloß an tote Buchstaben zu fesseln". Durch sein Strafgesetzbuch wurde der siebenunddreißigjährige Feuerbach der „Schöpfer des neuen deutschen Strafrechtes; er brachte die Grundsätze zur Geltung, welche zu den charakteristischen Grundzügen unseres Strafrechtes wurden". 1 ) Feuerbach hatte den Höhepunkt seiner Wirksamkeit erreicht, als es seinen Gegnern gelang seine persönliche Stellung zu untergraben. Die gewaltigen Ereignisse in Rußland, die Besiegung Napoleons auf den Schlachtfeldern von Leipzig versetzten die deutsch empfindenden Kreise in München in höchste Spannung. Da griff Feuerbach zur Feder. 2 ) In der ersten Woche nach der Völkerschlacht veröffentlichte er eine Flugschrift: „Ueber die Unterdrückung und Wiederbefreiung Europens", das erste Wort in Süddeutschland, laut in die Welt hinausgerufen, das das bängliche Schweigen unterbrach, das selbst nach dem Vertrag von Ried noch fortdauerte. Auch Thiersch, der Ende 1813 von einer wissenschaftlichen Reise aus Paris nach München zurückgekehrt war, fühlte sich gedrängt durch die Feder tätig zu sein; mannigfache Entwürfe in allen möglichen Formen setzte er auf; aber alles war ihm nicht gut genug. „Ich dankte es" — so berichtete 3 ) er Jacobs — „Männern wie Feuerbach, Ihnen und Arndt, daß sie gesagt haben, was not tat und besser als ich es vermocht hätte." Nach der Einnahme von Paris erschien Feuerbachs zweite Flugschrift: „Die Weltherrschaft — das Grab der Menschheit".4) Bei Eröffnung des Wiener Kongresses endlich ließ er im Oktober die Abhandlung drucken: „Ueber teutsche Freiheit und Vertretung te'utscher Völker durch Landstände". 5 ) Die drei Schriften gewähren einen sehr wichtigen Einblick in Feuerbachs Ideenwelt, besonders in den Zusammenhang seiner GeI2) wich. Ä ) 4 ) 5 )

H o l d e r , Savigny und Feuerbach. S. 14. F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. S. 268. Brief an General v. RagloFerner: Kleine Schriften vermischten Inhaltes. 1833. T h i e r s c h , Biographie. Bd. I. S. 109. Gedruckt in A. F e u e r b a c h , Kleine vermischte Schriften. S. 28ff. F e u e r b a c h , Kleine Schriften. 1833. S. 73ff.

— 264 — schichts-, Rechts- und Religionsphilosophie mit den Erlebnissen der sturmvollen Zeit. 1 ) Unter dem Einfluß Kantscher und Schellingscher Gedankengänge stehend wahrt sich der geniale Jurist doch auch seine Selbständigkeit der Auffassung. Jubelnd begrüßt er in der ersten Schrift2) den großen Kampf der vereinten europäischen Welt um Freiheit und Gerechtigkeit. Der edle Mensch weiß, daß er, wo es die Menschheit gilt, zum Handeln geboren ist. „Aus dem, was geworden und wie es geworden, erkennen wir das Werdende und dies sagt uns, was wir handelnd sollen und dürfen." Um den Geist der Zeit zu verstehen, befragt Feuerbach die Geschichte. Sie lehrt ihm, daß „jedes Streben nach Weltherrschaft als eitles Unternehmen der Torheit sich nur durch Mißlingen oder eigenes Verderben straft, daß jeder Staat in dem Maße an innerer Kraft verliert, in welchem er äußerlich über seine natürlichen Grenzen hinaus sich aufbläht," . . . „daß jedes Volk unübertrefflich ist, welches ernstlich seine Selbständigkeit will, und daß jedes sie ernstlich wollen wird, sobald es fühlbar das Elend der Knechtschaft an sich selbst erfahren hat," daß der zu lange unterdrückte freie Geist zuletzt in Taten hervorbricht, an welchen alle Macht der Tyrannei zuschanden wird. „Napoleon, der gefeierte Held des Jahrhunderts, mußte in der zweiten Hermannsschlacht auf den Feldern bei Leipzig lernen, daß er für seinen Zweck umsonst gelebt hat." Er war ein Werk der Vorsehung Millionen von Menschen aus innerer Verderbnis und Trägheit zu reißen. Er verdankte seine Größe nicht bloß der Uebermacht seines Talentes, sondern hauptsächlich dem Umstand, daß er es meisterlich verstand den Geist jener Revolution zu beschwören, zu bannen, sich dienstbar zu machen. „Der teutsche Name war bis zum Schimpfwort entehrt, von teutscher Ehre sprechen, der Teutschheit oder eines Volkes der Teutschen nur gedenken war Verbrechen." Schon hier taucht ein Gedanke auf, der dann in der zweiten Flugschrift nähere Ausführung findet. „Es ist eine uralte Wahrheit, daß durch Vernunft allein das Menschengeschlecht nimmer zum Bessern gelangt; der Weg durch den Kopf in den Willen zur Tat ist ein langer Weg, der durch einen Abgrund unterbrochen ist, über welchen nur das Herz die Brücke baut." Wuchtig formuliert3) zum Schluß neuesten Geschichte in den Sätzen: J)

S. a. F l e i s c h m a n n , Feuerbach. Kleine Schriften. S. 2/3, 6. ") Kleine Schriften. S. 26/27.

2)

Feuerbach

die

Lehren

der

— 265 — 1. Was die Völker stark macht, ist nicht der Leib sondern die Seele; was sie unüberwindlich macht, ist allein die begeisternde Kraft des Herzens; was sie vor Unterjochung bewahrt und aus der Unterjochung rettet, ist allein der kräftige Mut der Freiheit wert zu sein. 2. Was die Throne befestigt und aus großer Gefahr rettet, ist nicht bei diesem oder jenem Stand, sondern bei der Gesamtheit der Untertanen, in dem Gemeinsinn der Bürger, in der Liebe und Begeisterung für Fürst und Vaterland. 3. Was die Staaten zum Untergang führt, ist, wenn sie den Geist der Zeit nicht erkennen und verstehen und dem Siegerwagen des Genius der Menschheit verblendet in die vom Abhang rollenden Räder greifen. Die Gegenwart mit ihren Erscheinungen verkündet nicht eine Rückkehr zur alten Zeit, sondern nur die Fortsetzung und Entwicklung einer schon lange begonnenen Neuzeit. In der zweiten Flugschrift: „Die Weltherrschaft — das Grab der Menschheit" begegnet uns in Anlehnung an Ferguson 1 ), Johannes Müller2) und Luden 3 ) eine Auffassung der Volkspersönlichkeit, wie sie seit Herder der deutsche Idealismus immer tiefer ausgebildet hatte analog der Idee des Individuums, die für die Pädagogik jener Zeit so grundlegend wurde. Jedes Volk hat seine besonderen Anlagen und Kräfte, die es in voller Freiheit entwickeln soll und muß. „Nicht in einförmigem Einerlei, sondern in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit, im unendlichen Reichtum der Formen und Gestalten, in endloser Verschiedenheit der Bildungen offenbart sich der große Weltgeist wie in der leblosen so in der lebenden Natur.'1 Das Menschheitsziel ist die Ausbildung der vernünftigen Natur; doch jedes Volk soll es nur auf seine Art und Weise, auf seinen eigenen Wegen erreichen; daher erhielt jedes seine besondere Gestalt, Bildung, Sprache, Wohnplatz, seine ihm eigentümlichen Vorstellungen, Empfindungen und Leidenschaften, seine besonderen Sitten, Gebräuche und Gesetze. Das dem Volk eigentümliche Wesen offenbart sich in einem besonderen Staat. „Daher ist die höchst mögliche Grenze der Ausdehnung eines Staates bestimmt durch die Grenze der Volkstümlichkeit und bezeichnet durch die gemeinsame Sprache. Die Selbständigkeit der Völker, die souveräne Freiheit der Staaten wird so die erste Bedingung alles eigentümlichen Seins, das heiligste Palladium der Menschenwürde und der Persönlichkeit eines jeden Volkes, welches mit den höchsten Aufopferungen nicht zu teuer erkauft Versuch einer bürgerlichen Gesellschaft. ) Darstellung des Fürstenbundes. ') Von der Staatsweisheit. a



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werden kann." Ein Weltstaat vernichtet durch seine Gleichmacherei gerade das, was die moralische Persönlichkeit der Völker ausmacht, setzt weniger Kräfte in Bewegung, beruht auf brutaler Gewalt und kann nur durch sie erhalten werden. So vergleicht Feuerbach ein despotisches Reich einer Maschine, „in welcher eine Reihe von Hämmern, einer über dem anderen steht, immer schlägt der nächst höhere auf den nächst unteren; die einzig freie Hand, die das Ganze in Bewegung setzt, ist der Padischah, der breite Amboß, auf den zuletzt die Kraft aller Hämmer herabgeht, ist — das Volk". Die Weltmonarchie ist ein Reich des Lasters, der Finsternis, ein „geistiges Totenreich", alle Wirksamkeit der Staatskraft desselben ein „Mechanismus, der, sowie die Kette angezogen wird, sogleich alle Räder in Bewegung bringt"; „dazu ist nötig, daß die lebendigen Glieder dieser Maschine sich soviel als möglich nicht als Menschen, als Geist, als Seele, sondern nur als Klammern, als Räder oder als Walzen fühlen". „Nach dem Rat des Marcus Varro de re rustica lib. III. wurden — wir haben es mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört — in dem Hauptstaat des neuesten Weltreiches die sogenannten nützlichen Wissenschaften von den sogenannten unnützen oder verderblichen (der Ideologie) ausgeschieden, jene allein belobt, begünstigt, unterstützt, diese der Unterstützung beraubt oder durch Spottnamen verrufen oder der Empörung verdächtig angeklagt." Nur die Wissenschaften, welche den Zwecken Napoleons unmittelbar dienten, wurden empfohlen. Den gleichen Absichten dienten die kaiserliche Universität, die Verordnungen über Druckereien und Buchhandel, die Preßgesetze. So sank Europa moralisch und wurde ein großes Weltgefängnis. Damit war das „herrliche Bild des Traumes" jener Phantasten, die von dem goldenen Zeitalter europäischer Weltherrschaft Frieden überall und das Aufhören der Kriege erwartet hatten, jäh zerstört. Die Annahme eines Weltgeistes, die auf Schelling hinweist, und eines Naturplanes führt Feuerbach auf eine höchst bedeutsame Abweichung von Kant. 1 ) In der Schrift über „die einzig möglichen Beweisgründe gegen das Dasein und die Gültigkeit der natürlichen Rechte" gibt er zwar zu, daß der Krieg eine der schrecklichsten Erfindungen des menschlichen Geistes sei, doch erzeuge er auch die Tugenden des Heroismus, erhöhe die Festigkeit des Willens, gebäre Größe des Geistes und bringe Taten ans Licht, die wir kaum genug anstaunen und bewundern können. Hier künden sich spätere Ideen Hegels an. x)

F l e i s c h m a n n , Feuerbach.

S. 46.

— 267 — Die dritte der Flugschriften endlich, „über teutsche Freiheit und Vertretung teutscher Völker durch Landstände ll ) sollte, im Oktober 1814 bei der Eröffnung des Wiener Kongresses herausgegeben, zu der entscheidungsvollen Frage Stellung nehmen, ob den deutschen Völkern ständische Verfassungen in der Bundesakte zuzusichern seien. Sie rollt das große Problem des deutschen Freiheitsbegriffes auf. Wohl brachte der Befreiungskrieg durch die neu erstandene Macht deutscher Gesinnung, durch den hohen freundlichen Genius der Eintracht, durch den gerecht strafenden Geist des nun volkstümlich gewordenen Hasses gegen die Erbfeinde des deutschen Namens die Abschüttelung des fremden Joches. Aber die Freiheit nach außen, wenn schon eine wesentliche Bedingung der moralischen Persönlichkeit jedes Volkes, ist eine bloße Verneinung, sie findet ihre Ergänzung in der durch eine Verfassung gesicherten staatsbürgerlichen Freiheit. Angesichts des durch den Krieg herbeigeführten Zustandes der Verarmung, der Erschütterung des Eigentumsbegriffes, der Zertrümmerung der Formen des öffentlichen Rechtes, der Niederreißung aller Schranken gesetzlicher Ordnung gilt es den Neuaufbau. „Gerechtigkeit findet der Teutsche bloß in dem Heiligtum gesetzmäßiger Freiheit und eine seiner würdige öffentliche Ordnung nur da, wo diese Freiheit anerkannt und durch eine Verfassung gesichert ist." ) Verallgemeinert begegnen wir diesem Gedanken in einem Brief von Thiersch, 3 ) worin er Betrachtungen über die Vernichtung der Neapolitanischen Verfassung im Jahre 1821 anstellt. Naturwidrig nennt er die Mittel, mit denen die Mächte der heiligen Allianz den Brand Europas im Süden zu löschen versuchen; „sie führen ein Schwert mit zwei Schneiden, von denen die eine den Feind, die andere den verwundet, welcher es führt. Fest steht jetzo nirgends mehr etwas, welches nicht auf die Bedürfnisse der Zeit gegründet ist, diese aber begehren unbedingte Herrschaft des Gesetzes statt der Willkür". Bedauernd fügt er hinzu: „Noch wird der erwartet, welcher sich der neuen Kräfte für die Zeit ebenso zu bedienen wüßte, wie der Gefangene auf St. Helena sie gegen dieselbe gebraucht hat. Er erst wird die Ruhe herstellen und die beglückten Zeitgenossen werden von ihm sagen: Deus nobis haec otia fecit." Die Verhandlungen der bayerischen Ständeversammlung verfolgte Thiersch, der stark in dem Rufe eines Konstitutionellen und Liberalen stand,4) mit steigendem !) 2 ) 3 ) 4 )

Kleine Schriften. 1833. S. 73ff. Kleine Schriften. S. 79. T h i e r s c h , Biographie. Bd. I. S. 204; an Günther, 12. Mai 1821. Ebenda. Bd. I. S. 170, 177, 183.



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Interesse, und im Juni 1819 schien ihm „die große Angelegenheit" gegen innere und äußere Feinde vollkommen gesichert. Im weiteren Verlauf seiner Flugschrift unterscheidet Feuerbach scharf zwischen der Freiheit, welche der Deutsche sein nennt, und der Freiheit des Demokraten, die, den Thronen feindselig, bloß da gefunden werden soll, wo das Volk mit einer idealen Souveränität und Majestät begleitet ist; besonders lehnt er, unter dem tiefen Eindruck der französischen Revolution stehend, die neufränkische Freiheit ab, „unter deren Herrschaft nichts frei ist als die Gewalt und das frevelnde Unrecht". Gerade im Vergleich mit dem Nachbarn wird ihm der eigentümliche Charakter des Deutschen, sein Ernst und seine Gesetztheit, die Gediegenheit, Tiefe und der Rechtssinn klar. „Der Teutsche ist seiner Gesinnung nach ein monarchisches Volk und war es, so weit wir seine Geschichte zurückverfolgen." „Die Freiheit, die allein unter dem heiligen Fürstenzepter gedeiht, aber auch nur in einer Staatsverfassung, wo die höchste Gewalt bloß die Macht hat frei das Recht zu tun, weil sie in anerkanntem, durch Grundgesetz geheiligtem, von der öffentlichen Meinung beschütztem Recht der Nation ihre Schranken findet, — sie ist der deutschen Völker unveräußerliches Eigentum, das heilige Erbteil ihrer Väter." Schon Tacitus erwähnt den ehrwürdigen Grundsatz staatsbürgerlicher Freiheit: „Nec regibus illimitata potestas". Er unterscheidet die germanischen Völker von den slawischen. Der Zusammenhang des Organismusgedankens mit Feuerbachs staatsrechtlichen Auffassungen zeigt sich deutlich in dem von ihm gebrauchten Bild, wonach der Fürst dem verständigen Haupt eines kräftigen Körpers gleicht, das alle Glieder beherrscht, aber in steter Wechselwirkung mit ihnen steht. Die Formen mögen wechseln; aber das Notwendige und Allgemeine ist, „daß eine Nation durch Stände vertreten wird". Als einzig würdiger Preis der Opfer der Freiheitskriege erscheint daher die Gewinnung der staatsbürgerlichen Freiheit, zugleich der besten Bürgschaft für die Sicherheit der Fürsten. Die gesamte deutsche Nation ist also interessiert, daß jede Völkerschaft des Deutschen Bundes eine Verfassung erhält. So bezeichnet diese Schrift Feuerbachs die erste Stimme für Einführung ständischer Verfassungen in Deutschland. Nur durch Ueberlistung des Zensors war es Feuerbach gelungen seine Flugschrift „Ueber die Unterdrückung und Wiederbefreiung Europas", 1 ) die er auch Wrede und dem Kronprinzen übersandte, *) F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Jahre 1813/14, besonders seit März".

Bd. I.

S. 27off. „Zu meinem Leben im

— 269 — zum Druck zu geben. Er hatte es nicht mehr mit ansehen können, wie zurückhaltend die Regierung sich den großen Ereignissen des Oktober 1813 gegenüber verhielt, „Die Schlacht bei Leipzig fast gar nicht geleiert, kein Tedeum außer in der Hofkapelle und für die Soldaten"; „die Nationalbewaffnung sowie die der Freiwilligen unter der Hand so gut als möglich zurückgehalten." „Im Hause des Ministers Montgelas insbesondere Hohnlachen über die nun „wieder aufkommende fatale Deutschheit." „So verlor sich die laute Freude der Nation bald wieder in dumpfe ängstliche Stille." In den Kreisen Aretins fühlte man die Verpflichtung weiteren Kreisen des Volkes die Bedeutung der Ereignisse klar zu machen; so erschien 1813 ohne Namenszeichnung eine von dem Oberhofbibliothekar verfaßte 1 ) Flugschrift: „Was wollen wir?" 2 ) In ihr mischen sich in eigentümlicher Weise dankbare Anerkennung für die Rettung Bayerns von der österreichischen Bedrohung durch Napoleon und für die von ihm gewährten Segnungen auf konstitutionellem Gebiet mit dem bitteren Gefühl der Zurücksetzung bei der Länderverteilung des Jahres 1810 und bei der Errichtung des Königreiches Westfalen und der gewalttätigen Behandlung durch die Kontinentalsperre und die französischen Generale. Dazu gesellt sich grimmer Haß wegen Mißachtung der in Rußland geleisteten Dienste. Mit keinem Wort gedenkt der Verfasser des großen deutschen Vaterlandes, der Bedeutung des Volkes für das Gelingen des Befreiungskampfes. Weil der König in seiner Weisheit die Aushebungen für den russischen Feldzug befahl, folgten ihm, wenn auch schweren Herzens, seine Untertanen. In engem Partikularismus befangen ruft er aus: „Wir werden sein, wir werden Bayern bleiben" und gibt auf die Frage: was wollen wir? die Antwort: „Wir wollen uns und unseren Kindern erringen den sicheren Genuß des Erworbenen, den freien Absatz des Erzeugten, den Wohlstand, der unsere Väter beglückte, die eines alten Volkes würdige Unabhängigkeit, welche es vor Vergeudung seiner Kräfte für fremde Zwecke sichert, wir wollen uns und unseren Kindern erhalten das Glück einem Fürstenhaus anzugehören, auf welches Bayern seit mehr als sechs Jahrhunderten stolz ist, das Glück regiert zu werden nach unseren Gesetzen und Verfassungen, zu behalten unsere Sprache, unsere Sitten, zu erringen und erhalten alles, was dem Bürger heilig und teuer ist." „Wir wollen kämpfen, siegen und sterben für Maximilian Joseph." 2

A. v. F e u e r b a c h , Leben und Wirken. ) Staatsbibliothek Bav. 2847.

Bd. I.

S. 270.

— 270 — In einem offenbar für weite Volkskreise bestimmten „Gespräch im Bräustübchen 1 ) über die Schrift: Was wollen wir" zwischen einem Gutsverwalter, einem Schloßkaplan, Amtsschreiber, Schullehrer und Bräumeister wird der geschichtliche Inhalt des Aretinschen Flugblattes selbst den Unerfahrensten mundgerecht gemacht. Auch hier ist die Rede vom blinden Vertrauen der Untertanen zur Regierung, zumal bei der Konskription zur Nationalgarde II die Bauernburschen dem Landrichter in sehr unzweideutiger Weise ihre Bereitwilligkeit erklärten mitzumachen, wenn es gegen Frankreich gehe, von der Dankbarkeit für Napoleon und Montgelas.

So begreift man, daß Feuerbach der Volksschrift Aretins bitter spottend mit den Worten gedenkt, „eine Verteidigungsschrift der Regierung gegen den möglichen Vorwurf eines verbrecherischen Abfalles. Um das Bayerntum dreht sich alles; nichts von deutscher Ehre! Bayern ist die Welt! Der Hauptrechtfertigungsgrund ist: Wir Bayern gingen mit dir, Napoleon! gegen unsere deutschen Nachbarn auf den Raub und du hast, wie der Löwe mit den schwächeren Tieren viel zu ungleich den Raub geteilt; wir haben nicht genug bekommen". Es ist dieselbe Proteststimmung gegenüber einem verbohrten Partikularismus, wie sie uns aus Thierschs Schrift über die angenommenen Unterschiede zwischen Nord und Süden und aus den wuchtigen Kundgebungen Arndts, Scharnhorsts und Gneisenaus entgegenklingt. Gereizt schlug Feuerbach in seiner kleinen anonymen, 1813 gedruckten populären Schrift: „Was sollen wir? Worte eines Baiern an das baierische Volk"2) ganz andere Töne an. Ihr Hauptzweck war das allenthalben emporlodernde Feuer der Begeisterung wach zu halten. „Die Gefahr ist noch nicht vorüber, das Gewonnene noch nicht geborgen," so ruft er den Baiern zu, „ein zum Kampf gerüsteter Löwe ist das Sinnbild der baierischen Nation". Dann zeichnet er ihnen in wenigen kraftvollen Zügen ein Bild Napoleons, des herzlosen Welteroberers, und des in seinem Ehrgeiz tödlich beleidigten französischen Volkes. Die Bedeutung des bevorstehenden Kampfes liege in der Wahrung des Allerheiligsten, der Selbständigkeit der Nation. „Unsere deutschen Brüder im Norden gingen durch hohes Beispiel uns voran; sie zerbrachen zuerst die entwürdigenden Ketten, tilgten durch heldenmütige Tapferkeit die Schmach, die so lange den deutschen Namen befleckte, und pflanzten auch für uns das heilige Panier auf, auf welchem geschrieben stehet: für König, für Freiheit und Vaterland. Die Ehre des baierischen Namens fordert, daß keiner von uns zurückbleibt in dem edlen Wettkampf für die große Sache der Menschheit, daß wir unseren nordischen Brüdern nicht nur gleichkommen, sondern Ebenda beigebunden. 2

) Staatsbibliothek München Bavar. 4053/12.

— 271 — sie in allem Herrlichen und Großen, was sie für diese Sache getan, womöglich zu übertreffen suchen. Der Süden Deutschlands hat dem Norden eine große Schuld zu bezahlen." „Was glorreich von unseren Brüdern begonnen ward, wollen wir glorreich mit ihnen vollenden, und wie unser Name in den Denkbüchern deutscher Tapferkeit schon lange eingetragen steht, so soll er auch in der Geschichte der wiedergewonnenen und standhaft behaupteten deutschen Freiheit unseren spätesten Enkeln als erhebendes Muster der Nachahmung glänzen." Dieser große Zweck werde nur erreicht, wenn alle besonderen Empfindungen, Wünsche und Hoffnungen in einem einzigen Gefühle untergehen, — „in dem Gefühle für die Pflicht zur Errettung und Erhaltung der Selbständigkeit unseres Volkes, daß keine andere Ehre, kein anderer Ruhm mehr gelte als die Ehre und der Ruhm durch kräftiges Handeln und standhaftes Ertragen des deutschen Namens, Baier, wert zu sein." Eisern ist die Zeit, darum müssen alle Opfer bringen. Von dem Kronprinzen, Minister Rechberg, Wrede und anderen erhielt Feuerbach anerkennende Zuschriften; schiefe Gesichter von Montgelas und seinen Anhängern kündeten ihm Böses. Obwohl man in München die Verbreitung der Volksschrift Feuerbachs zu hindern suchte, durchflog sie in vielen tausend Ab- und Nachdrucken alle Provinzen, alle Stände und erregte noch größere Sensation. Am 5. Dezember 1813 tadelt ein Ministerialreskript1) in scharfen Worten sein Vorgehen; „man habe die ruhige, leidenschaftslose, würdige Sprache ebenso wie die dem feindlichen Souverän und den in allen Staaten bestehenden Institutionen gebührende Achtung gänzlich vermißt". Es erschien die Schrift: „Die Weltherrschaft — das Grab der Menschheit". Mit steigendem Mißtrauen verfolgte man im Ministerium Feuerbachs Schritte; ein im Museum aus Anlaß der Einnahme von Paris von ihm veranstaltetes Fest wurde sehr feindselig ausgelegt, ebenso sein Umgang mit dem preußischen Minister von Küster. Da brachte die dritte Flugschrift über die Landstände den Sturm zum Losbrechen. Montgelas sah darin einen Widerspruch gegen die Regierungsmaximen und setzte die Entfernung Feuerbachs durch. König Max gab seine Einwilligung nur unter der Bedingung, daß Feuerbach weder an Rang noch Gehalt etwas verlor. So kam dieser als Präsident des Appellationsgerichtes nach Bamberg (21. Juni 1814). In die Zeit des dortigen Aufenthaltes fällt die Freundschaft mit Tiedge und der Gräfin Elise von Recke. Mit lebhaftestem Interesse las2) Abgedruckt in F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. S. 273/274. Anm. ) A. F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. I. S. 302ff. 29. August 1815. Brief an Tiedge und Elise von der Recke. 2

— 272 — Feuerbach die Verhandlungen der württembergischen Stände mit dem König, die ihn zu der Aeußerung veranlassen: „Kräftiger kann sich der erwachte Volksgeist gegen den Despotismus nicht aussprechen"; um so mehr empörten ihn die Auslassungen der Allemania, eines fast offiziellen Journals, dazu bestimmt, „die Undeutschheit und die Absonderung vom deutschen Vaterland und den Despotismus als das Eine, was not tue, zu predigen"! Es warf den württembergischen Ständen vor, „sie verdienten die Strafe der Hochverräter". Nach Montgelas' Sturz kam Feuerbach nach Ansbach; die Verbindung mit München pflegte er eifrig. Wie Thiersch erfüllte ihn ein starker religiöser Glaube. In einem tiefempfundenen Brief 1 ) an seinen ältesten Sohn Anselm bezeichnet er die „christliche Religion als die herrlichste und göttlichste von allen, durch welche die Gottheit sich dem armen Menschengeschlecht offenbart hat" und bittet ihn in der Schrift mit freiem eigenem Geist zu forschen; „denn dieser eigene Geist ist es, an den sich Christus wendet, wenn er sagt:: Suchet und forschet". „Diejenige Religion ist die beste, in welcher der Mensch am besten seine Beruhigung und die stärksten Beweggründe zu den edelsten Taten findet"; nach diesem Kriterium müsse man sich für das, was Jesus gelehrt hat, entscheiden. Während Feuerbachs Wirksamkeit für Bayern Jahrzehnte umfaßte, wurde S a v i g n y schon nach zwei Jahren seiner Landshuter Tätigkeit wieder entzogen; aber sie genügten doch reichste Anregung zu spenden; denn der junge Hochschullehrer, fünf Jahre älter als Thiersch, war bereits durch sein Buch: „Das Recht des Besitzes" in die Reihe der ersten Zivilisten getreten, besaß eine seltene Lehrgabe, vertrat eine Auffassung der Wissenschaft, die sich mit der von Thiersch nahe berührte, und hatte jene Anschauungen bereits weit entwickelt, die ihn dann zum Begründer der rechtshistorischen Schule machen sollten. Durch seinen Entwicklungsgang war er mit Persönlichkeiten in nahe Verbindung getreten, die auch für Thierschs Leben große Bedeutung gewannen, wie Creuzer, Jacobi und Schelling. Savigny kam, schon als er die Universität Marburg bezog, unter den bestimmenden Einfluß des Juristen Weiß, der im Gegensatz zu der naturrechtlichen Schule Deutschlands in Anlehnung an die französischen Juristen des 16. Jahrhunderts das unmittelbare Quellenstudium besonders pflegte.2) Mit den juristischen Studien verband Savigny ein1

) F e u e r b a c h , Leben und Wirken. Bd. II. S. n 6 f f . ) E n n e c c e r u s , Savigny. S. 8ff.

2

— 273 — gehende Beschäftigung mit Philosophie und Philologie. Auf den Besuch Göttingens und Marburgs folgte eine zweijährige für seine Weiterbildung höchst bedeutsame Studienreise nach Sachsen, über die wir durch Tagebuchblätter 1 ) und Briefe an die Freunde, namentlich an die Brüder Creuzer, genau unterrichtet sind. Mit Friedrich, der später in Heidelberg eine sehr erfolgreiche Lehrtätigkeit als Professor der Philologie ausübte und durch seine „Symbolyk und Mythologie" einen weitgehenden Einfluß gewann, einem geborenen Marburger, verband Savigny innige Freundschaft, beruhend auf Aehnlichkeit der Charakteranlage und Verwandtschaft der geistigen Interessen; beide waren tiefe und sinnige Naturen, selbstlos, aufopfernd, tolerant, von wahrhaft vornehmer Denkungsart, beide für das klassiche Altertum begeistert, dessen erziehenden Einfluß auf die folgenden Geschlechter sie anerkannten und verwerteten. Selbst philologisch aufs gründlichste durchgebildet, ein Meister der Interpretation, wurde Savigny zum Reformator der Jurisprudenz. Der Hauptzweck seiner Reise war Weimar und Jena kennen zu lernen, die damals blühendsten Mittelpunkte deutscher Dichtkunst und Philosophie. Naturschilderungen wechseln mit historischen Erinnerungen. Tief bewegt sah er auf der Wartburg das Zimmer und die Kanzel, auf der Luther stand; „die Gegend ist herrlich, erst das nahe waldige Gebirge, den breiten nackten Fels in der Mitte, wild wie die Männer, die hier hausten und groß wie der, der einen größeren Kampf unternahm als sie und ihn siegreich vollendete". Ein Zusammentreffen mit Jean Paul brachte wegen starker Abweichung in der Auffassung der Wissenschaft Enttäuschung. In Jena besuchte er vor allem die Hochschule. „Schütz hört man mit vielem Interesse, das Ausgezeichnte besteht in einem gewissen Glanz von Geist und Leben, der über das Ganze ausgegossen ist und selbst über seine Gestalt." 1 „Feuerbach lehrt sehr gründlich und gut; nur hat sein Aeußeres zu wenig; man vernachlässigt das überhaupt zu sehr ohne zu bedenken, daß das der einzige Punkt ist, der mündliche Vorträge nützlich und in gewissen Fällen unentbehrlich macht." „Schelling sieht ganz jung aus; mit Gleichgültigkeit und Stolz steht er auf dem Katheder und spricht, als ob er etwas nicht sehr Bedeutendes schnell erzählt. Hier ist das Wesentliche seines Vortrages, Es ist schwer, ihm zu folgen." „A. W. Schlegels Auge hat viel Idealisches, aber in seinen Gesichtszügen erscheint die Wirkung einer zerstörenden Gewalt; man sieht, daß diese Gestalt nicht das ist, was sie sein könnte und auf S t o l l , Savigny. Besonders Tagebuchblätter und die Briefe Savignys. L o e w e , Friedr.Thiersch.

18

— 274 — natürlichem Weg sein würde; auch soll er sich seit einigen Jahren von Grund aus verändert haben, indem er damals ein blühender schöner Jüngling war." Bei den Studenten beobachtete er „viel Interesse für geistige Beschäftigung um ihrer selbst willen" und „das ist schon viel, aber es wird noch mit wenig Gründlichkeit, vielem Hang zum äußeren Schein und einem gewissen Leichtsinn verbunden". In Leipzig machte Savigny die Bekanntschaft mit Gottfried Hermann ohne sich ganz in ihn finden zu können, da er z. B. auf die Propyläen schimpfte. Tieck sprach Schiller alles Genie ab, während er sich über Jacob Böhme anerkennend äußerte. Wichtige Aufschlüsse geben Savignys briefliche Mitteilungen über die literarischen Studien, die ihn damals beschäftigten. „Leset doch, ihr Lieben" —• so hören wir — „die Reden über Religion, ich bitte euch darum; ich kann noch weiter nichts darüber sagen; der Verfasser ist der Prediger Schleiermacher in Berlin." „Im Fach der Literatur habe ich euch etwas Herrliches anzukündigen: Jacobi an Fichte; der wissenschaftliche Teil muß tief studiert werden; aber der Mensch, der darin auftritt, erscheint mir als ein hohes heiliges Wesen. Man hat Toleranz gesehen und Vielseitigkeit in Verbindung mit seichter Gleichgültigkeit — Gründlichkeit und inniges Interesse in Verbindung mit einseitiger unduldsamer Härte — aber jene Toleranz mit dieser teilnehmenden Gründlichkeit vereinigt ist mir hier zuerst erschienen, und ich ehre darum ihn wie keine unserer literarischen Größen. Wie hoch erscheint er über Fichte! Wie hoch über Jean Paul! Wie hoch über Friedrich Schlegel — und daß der heilige Mann mitspricht über die Sache, die unter uns verhandelt wird, wer sollte sich nicht darüber freuen? „„Ich lasse mich nicht befreien von der Abhängigkeit der Liebe um allein durch Hochmut selig zu werden,"" wahrlich das hat auch meinen Mut zu sprechen erhöht." Bei der Ausarbeitung seiner Vorlesungen über Kriminalrecht wurde ihm klar, „Totalübersicht ist nur das Resultat eines ganzen wissenschaftlichen Lebens, weil sie das Höchste ist, was alle wissenschaftliche Arbeit geben kann"; unwillkürlich erinnert man sich der Mahnung Gottfried Hermanns, als der junge Thiersch in Göttingen in allzu kühnem Jugenddrang sich an zu hohe Aufgaben wagte. Als Savigny die Rückreise nach Marburg antrat, behandelte er in seinen Briefen an die Freunde Probleme, die seine reifende geistige Entwicklung und sein vielseitiges Interesse klar erkennen lassen. Vor allem beschäftigte ihn die Persönlichkeit Feuerbachs, die Frage der Philosophie des Kriminalrechtes und Ideen über die Kunst. „Feuerbach ist

— 275 — unstreitig mehr Kopf (sein bestes Werk scheint mir die Kritik des natürlichen Rechtes) und hat viel Originalität und Solidität; Logik und Geschmack hat er wenig mehr als Grolmann, seine Prätensionslosigkeit unterscheidet ihn von diesem am meisten." Von Leonhard Creuzer hofft er, daß er als Grund des Strafrechtes den Kantischen annehme, „weil mir dieser am meisten repugniert und mir folglich eine ausführliche Entgegensetzung desselben am nötigsten ist als Gegengift gegen Einseitigkeit." Goethe und Jacobi („ich meine nicht Jacobi den Schriftsteller, sondern den Verfasser des Allwill") erscheinen ihm allein unter unseren Schriftstellern als praktische Philosophen. „Jene beiden sind und bleiben die Systematiker in der Moral." Eingehend erörtern die Freunde das Wesen des künstlerischen Zweckes. Savigny erkennt in ihm eine ganz bestimmte Wirkung auf den anschauenden Menschen, nämlich die Anregung seines Schönheitssinnes oder im Objekt Schönheit selbst. „Dieser künstlerische Zweck hat mit der Absicht des Künstlers nichts zu schaffen, und ich kann mir den vollendeten Künstler ohne Bewußtsein irgend einer künstlerischen Absicht denken; er erreicht das Ziel, zu dem ihn Gott leitet, und er schaut verwundert das Werk an, das er schuf." Bei einer Vergleichung der Schriften Jacobis und Goethes macht er die Wahrnehmung: „Es ist zum Teil Jacobi selbst, den wir vor uns sehen und an dem wir menschlich teilnehmen. Das alles ist bei Goethe anders: Seine Gestalten sind vollendete Individuen, wir empfinden bei ihnen nicht, was wir in Wirklichkeit empfinden; aber das, was wir empfinden, ist das edelste, was wir empfinden können." Rückhaltlos gab sich Savigny dem Zauber von Jena hin; großenteils als Wirkung des Ortes fand er, daß Menschen, ohne individuelle Tendenz dazu, wahren Sinn für Philosophie und ästhetische Bildung gewannen. Mit Schelling traf er jetzt persönlich zusammen. „Ich habe Schelling gesprochen; ein herrlicher Mensch mit großen, weitumfassenden Ideen, die Religion soll durch Mythologie dargestellt werden, die Geschichte ist, als Kunst betrachtet, dem Zweck und der Wirkung nach mit der eigentlich tragischen Kunst einerlei, nämlich Darstellung des Schicksals als siegend und herrschend. Dieser Behandlung ist sie aber bloß in der ersten Periode fähig, in der zweiten fällt sie zusammen mit der Naturwissenschaft, in der dritten mit der Religion"; mit ihm unterhielt er sich auch über die Entstehung der Begriffe von mathematischen Figuren und Körpern. Die Werke Schillers und Goethes zogen ihn besonders an. „Die anmutige Weise, mit welcher er wohl gelegentlich etwas vorlas, eine Stelle aus Wilhelm Meister, ein Lied von Goethe, so erzählt 18*

— 276 — Wilhelm Grimm, ist mir noch so lebhaft in Erinnerung, als habe ich ihn erst gestern gehört." Gries,1) der Hamburger Dichter und berühmte Uebersetzer des Tasso und Ariost, der im Hause Karolinens mit Friedrich Schlegel und dessen späterer Frau, Madame Veith, sowie mii Tieck Verkehr pflegte, hörte durch seine Freunde, Savigny sei durch das Lesen des „Wilhelm Meister" aus einem zerstreuenden Leben auf sich selbst und in die Einsamkeit zurückgeführt worden. Den Ernst und das fast Feierliche seines Charakters bewunderte er ebenso wie das Positive, was Savigny in Leben und Wissenschaft offenbarte. Staunend beobachtete er, daß ein junger, reicher Mann von Adel, der auf die ersten Stellen in jeder Hinsicht Anspruch machen konnte, nur den Wissenschaften und sich selbst leben wollte. Bald nach der Rückkehr nach Marburg erschien „Das Recht des Besitzes", das Savigny mit einem Schlag in die Reihe der ersten Zivilisten führte und ihm die akademische Laufbahn eröffnete. Für die Wirksamkeit eines Hochschullehrers ist von grundlegender Bedeutung die Eigenart seiner Persönlichkeit, die Fähigkeit das in ihm pulsierende wissenschaftliche Leben auch in seinen Hörern zu wecken. Wie trefflich Savigny dies verstand, beweist das Zeugnis Jacob Grimms:2) „Durch das Wehen Ihrer milden Lehre weckten Sie meinen Geist, daß er wissenschaftliche Stimmung annahm, und da alle Wissenschaften im Grunde eine einzige sind und die vier Fakultäten zusammenfallen in eine große, so hat auch Ihr Einfluß auf mich fortgewährt." In das Wesen dieser Lehre gewinnen wir einen Einblick durch die Rezension des Lehrbuches Hugos über Geschichte des römischen Rechtes, die Savigny 1806 veröffentlichte.3) „Bei dem vorliegenden Werk hegt eine höhere Idee zugrunde, nach welcher die ganze Rechtswissenschaft selbst nichts anderes ist als Rechtsgeschichte. Durch das ganze Werk erscheint ein Geist, der sich in dem Studium der besten Historiker aller Nationen gebildet hat, und in dieser Schule allein kann man lernen jedes Faktum in seiner historischen Eigentümlichkeit zu schauen, frei von handwerksmäßiger Beschränktheit." Hugos Errungenschaften, eine unmittelbare sorgfältige Quellenforschung, kritische Gründlichkeit und eine sich darauf gründende wissenschaftliche Methode wurden von Savigny in genialer Weise gehandhabt, wobei er über Hugo noch insofern hinaus*) Aus dem Leben von Johann Friedrich Gries. Nach seinen eigenen und den Briefen seiner Zeitgenossen. 1855. S. 40. 2 ) „Das Wort des Besitzes", eine linguistische Abhandlung zum 50jährigen Doktorjubiläum Savignys in J . G r i m m , Kleine deutsche Schriften. Berlin 1864. Bd. I. S. i i 3 f f . a ) L a n d s b e r g , Rechtswissenschaft. 3. Abt. 2. Halbband. S. 192.



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ging, als sich ihm alle Einzeluntersuchungen zu einem harmonischen Ganzen zusammenschlössen. Zu jener seltenen Gabe gesellten sich sympathische Züge, wie feiner Anstand, freundliches Entgegenkommen, handbietende Hilfe, heiterer Scherz, eine freie, ungehinderte Persönlichkeit um die W i r k u n g zu vervollständigen. „ W i e stand er vor uns auf dem Katheder, wie hingen w i r an seinen W o r t e n ! " so schreibt J a c o b Grimm noch 1 8 6 4 ; „Damals lag meine Seele offen vor Ihnen, ich hätte Ihnen alles vertrauen können." Von Marburg aus trat dann Savigny, vor allem um Materialien zu einer mittelalterlichen Rechtsgeschichte zu sammeln, eine mehrjährige Studienreise an. 1808 erhielt er einen Ruf n a c h Landshut an die Hochschule, an der F r i e d r i c h Thiersch seine Haupttätigkeit entfalten sollte. „ E r wurde hier der Mittelpunkt edelster Bestrebungen, insbesondere auch von vaterländischen gegen den auswärtigen Bedränger, versöhnend zwischen Einheimischen und F r e m d e n , Altem und Neuem, Denken und Glauben." 1 ) Seine Briefe 2 ) an B a n g gewähren in die Organisation der Hochschule und den Geist der Professoren und Studenten die wichtigsten Einblicke. Die Universität erscheint ihm als ein wunderliches Wesen. „Was den Hauptunterschied von allen übrigen ausmacht, liegt nicht bloß in dem äußerst schlechten Zustand der unteren Schulen, sondern zugleich in der ganz verschiedenen Komposition des Volkes. Bei weitem die meisten sind Söhne von Bauern, Schustern etc., die Vornehmen größtenteils Adel (und roher Adel), so daß der gebildete Mittelstand, der bei uns den Kern des Volkes, der Gelehrten, der Studenten ausmacht, hier sehr unbedeutend ist. Sehr wichtig ist auch deshalb der Zölibat, indem geradezu alle Theologen Bauernsöhne sind." „Aber die Hauptsache..., ist die provinzielle Beschränktheit des Volkes und so auch der Universität." Was Thiersch und Feuerbach beklagten, erfuhr auch Savigny: „Deutschheit wird nicht genannt und nicht gefühlt, und solange nicht Fremde hierher kommen, wird keine Universität werden." Eine gewisse Besserung beobachtet Savigny durch das Eintreffen der Neubayern aus Franken und Schwaben. „Viel wichtiger wäre, wenn Regensburg Bairisch wäre und wir Regensburger." „Das Beste, ja das einzig Gute 3 ), was von Anstalt und Einrichtung hier ist, liegt in den Resten der alten geistlichen Verfassung." Savigny versteht darunter die eigentümlichen Verhältnisse der katholischen Geistlichkeit, ihrer Erziehung und Bildung. „ E s ist etwas in seiner Art ebenso Vortreffliches und Herrliches, als das ganz verschiedene Wesen unserer Universitäten." Bedauernd fügt er hinzu, es seien freilich nur noch Reste, denn mit plumpen Händen hätten die Regierenden das herrliche Werk gebrochen, unfähig, an seine Stelle etwas Treffilches von dieser oder anderer Art zu bilden." „Ich muß sagen, was mir neulich der alte Jacobi sagte: „Wenn mich etwas katholisch machen könnte, so wären es diese geistlichen Professoren (Sailer vor allen) und ihr Verhältnis zueinander und zu ihren Jüngern." *) A. v. B r i n z , Festrede zu Fr. C. v. Savignys 100. Geburtstag. München 1879. a ) Gedruckt bei E n n e c c e r u s , v. Savigny. S. 57. Brief vom 22. Dezember 1808. 3 ) Ebenda, Brief vom 25. September 180g. S. 60.

— 278 — Das Lehramt bereitete Savigny viele Freude; zwar vermißte er bei den Zuhörern die nötige Vorbildung und besonders das allgemeine lebendige literarische Interesse, „was unsere Universitäten so einzig machte"; aber die Masse bestand aus braven, fleißigen Menschen. Um sie zu fördern, wandte Savigny dasselbe Mittel an, das Thiersch in Konflikt mit seinen Vorgesetzten brachte: „Ich lasse sie viel arbeiten, und meine Erfahrung bestätigt mir immer mehr, daß gerade das Beste und Gründlichste in der Wissenschaft, die unmittelbare Quellenanschauung nämlich, bei dem Unbefangenen am meisten Lust und Liebe erregt. Ich lasse zu dem Ende allmählich eine kleine Chrestomathie aus dem corpus iuris in einzelnen Bogen abdrucken, und die Exegese erregt am meisten die allgemeine Teilnahme". Eine Gruppe für sich bildete eine kleine Zahl von Studenten, „meist sehr brave, fleißige, unschuldige Menschen, die es gar ernst und treu meinen, aber auf wunderlichem Wege wandeln. Asts Dürftigkeit haben sie durchgefühlt, Schelling ist ihnen auch nichts, sie reden nur von Christus und den Mystikern, „das Burschenwesen ist ihnen ein Greuel, so auch die Griechen, von welchen alle Sünden herkommen. Und das alles ist kein leeres Geschwätz, sie meinen es so." Von diesen sonderte sich Rottmanner, dessen Wesen in seinen Schriften zwar Savigny unsympathisch war, vornehm ab, „wie denn überhaupt jetzt die Leute gar frühe das Alter der höchsten vollendeten Weisheit erreichen, worauf sie dann sehr bald ganz absterben, etwa 30—40 Jahre vor ihrem wirklichen Tod." Gerade aus diesen Kreisen erfolgte später der Angriff gegen die Berufenen. Unter den Professoren fand Savigny so wenig Zusammenhang wie vielleicht nirgends; „die Juristen sind im ganzen die schlechtesten". Röschlaub und Ast traf er bereits sehr kränklich an. Sein Urteil über des letzteren Schriftstellerei lautet hart: wenn man sie nur kennte, könnte man böse auf ihn sein; „unstreitig hat die in seinem Munde mit dem Athenäum verknüppelte Naturphilosophie der kleinen Zahl von Studenten zuerst das Wort gegeben, welche jetzt selbst im Ausland einiges Aufsehen machen". Am eingehendsten beschäftigte sich Savigny in seinen Briefen mit Sailer 1 ); um seinem Freunde Bang den Wert der katholischen Geistlichen vor Augen zu stellen, entwirft er folgendes Bild: „Laßt mich von Sailer anheben, dessen Persönlichkeit leicht zu würdigen ist; ich kann ihn Euch am deutlichsten machen, wenn ich ihn mit Euch vergleiche. Denkt an Eure warme lebendige Freude über die literarische gelehrte Regung aller Zeiten und aller Gestalten, welche zu beschauen Ihr besonders geneigt seid, und setzt nun in Gedanken das religiöse Gemüt an Stelle der Gelehrtheit, so habt Ihr ein Bild von der herrschenden Richtung seines Geistes. Mit der innigsten, lebendigsten Liebe hat er von jeher betrachtet und ergründet, was er in dieser Art finden konnte, und er kennt die Mystiker, von denen er eine ansehnliche Sammlung besitzt, so genau und vollständig wie wir. Dabei könnt Ihr Euch sein Interesse an diesen Dingen kaum liberal genug vorstellen. Das Polemische liegt außer seinem Wege, ja auch das Gelehrte, Literarische; ja selbst das Dogmatische scheint ihn wenig zu interessieren. Wenigstens die Verschiedenheit der Konfessionen stört ihn nicht im geringsten, und er ehrt und würdigt die religiöse Begeisterung in jeder Form mit gleicher Liebe. So habe ich niemals den hohen herrlichen Sinn Luthers mit mehr Gefühl anerkennen sehen als von diesem Mann, der von ganzem Herzen Katholik ist und nie nach dem Ruhm eines Aufgeklärten gestrebt hat. Er hat eine außerordentliche Verbindung mit Menschen aus allen Ständen; alle verehren und lieben ihn wie einen Vater, vor allem seine Schüler. Nach allen Seiten strebt er auf gleiche Weise zu wirken, erweckend, belebend, befestigend, aus dem Innersten seines religiösen E n n e c c e r u s , S. 61. Nr. 5. 4. März 1810, an Bang.

— 279 — Gemütes. Auch seine Schriften sind nur so zu nehmen als Briefe oder Reden an diese Schüler, jene Volksklasse, für diesen Augenblick, nicht Bücher in unserem Sinne. E r selbst erscheint so ganz ohne Stolz, ganz ohne Anspruch und Feierlichkeit, lustig, derb, kindisch. „ I c h bin ein Student," sagt er oft im Scherz, aber es liegt dem Scherz ein tiefer Sinn zugrunde."

Sailers gemütvolle Religiosität machte auf Savigny den tiefsten Eindruck, zumal, wie Bethmann von Hollweg in seinen Erinnerungen erzählt, beide verwandte Naturen waren. In den Briefen an Bang läßt sich dieser Einfluß verfolgen. „Seit längerer Zeit" — so berichtete1) Savigny dem Freunde — „lese und gebrauche ich Sailers Homilie; ich habe den Verfasser geliebt und verehrt wie wenige Menschen, und obgleich er weit höher stand als alle seine Bücher, so ist mir doch jenes Buch durch Einfalt, Innigkeit und entschieden tiefgehende Gesinnung so wert, daß ich es nie meiden werde." Für die weitere Ausgestaltung des höheren Bildungswesens in Bayern konnte Savignys Auffassung von der Wissenschaft und der Aufgabe des Hochschullehrers nicht ohne Folgen bleiben. Wir finden sie in einer Rezension über Schleiermachers Universitätsschrift 2 ), zuerst in den Heidelberger Jahrbüchern gedruckt, und in Savignys Untersuchung: „Wesen und Wert der deutschen Universitäten", erste Ausgabe in Rankes historisch-politischer Zeitschrift. (Bd. 1, 1832.)3) In der Rezension erkennt er besonders an, daß Schleiermacher trotz der Erforschung des idealen Zustandes der Universität sich von der Würdigung der bestehenden Einrichtungen nicht abziehen ließ und daß es ihm überall gelingt die tiefere Bedeutung der alten Sitte aufzuzeigen, worauf die aufgeklärte Menge schon längst als veraltete Formen mitleidig herabzusehen gewöhnt ist. Da Schleiermacher von einem getrennten Interesse des Staates und des wissenschaftlichen Vereins spricht, hebt Savigny um Mißverständnisse zu vermeiden besonders hervor: ein Staat, der seinen Beruf ganz erfüllt, muß jede Richtung, jede Tätigkeit, ja das ganze Leben des Volkes gleichmäßig umfassen und daher die Wissenschaft in ihrer Selbständigkeit anerkennen und pflegen. Das von Schleiermacher angegebene Verhältnis gelte vielmehr nur von der einseitigen Richtung unserer gegenwärtigen Staaten. Gegenüber Schleiermachers Behauptung, die wissenschaftlichen Vereine seien aus sich selbst und durch den bloßen Trieb nach Erkenntnis entstanden, weist Savigny darauf bin, wie die Mehrzahl der deutschen Universitäten vom Staate ausgegangen sind. Beide Männer sind gegen Ebenda. S. 69. 7. März 1840. ) S a v i g n y , Vermischte Schriften. B d . I V . 1850. 3 ) S a v i g n y , Vermischte Schriften. Bd. IV. 1850.

2

S. 255. S. 2 7 o f f .



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jede wissenschaftliche Sperre, für eine genaue Abtrennung der Aufgaben von Schule, Universität und Akademie, für eine demokratische Verfassung der Hochschule. Die Aufgabe der Universität sehen sie darin, daß die Idee der Wissenschaft in den Jünglingen herrschend gemacht werde; dadurch wird das Vermögen der eigenen Erfindung in ihnen ausgebildet. Darum ist hier der philosophische Unterricht Grundlage, Philosophie in ihrem lebendigen Einfluß auf das reale Wissen. Beide stimmen in der Ansicht über den Kathedervortrag überein: Der Lehrer muß sein Wissen vor den Schülern entstehen lassen. Die notwendige Vorbedingung freier wissenschaftlicher Entwicklung ist die akademische Freiheit: „So wahr und geistreich hat noch niemand über sie gesprochen wie Schleiermacher"; bloß menschlich und sittlich betrachtet ist sie einzig in ihrer Art und gibt den Universitäten unschätzbaren Wert. Savigny fügt noch den Gedanken hinzu, man solle den Studenten „als öffentlich anerkannter Korporation" einige konstitutionelle Rechte anvertrauen; bei zweckmäßigem Gebrauch werde dadurch ernster und würdiger Sinn befördert und die feindliche Gesinnung gegen Gesetz und Recht finde ihre natürliche Ableitung. Zwischen der Rezension und Savignys eigener Schrift lagen die Jahre 1813—1815 mit ihrer ganzen ferneren Entwicklung, in welcher Gutes und Böses, Wahres und Falsches so wunderlich gemischt erscheint. Angesichts des starken Widerstandes, den die Universitäten von zahlreichen Gegnern fanden, die sie teils infolge der Entwicklung des Buchdruckes für überlebt, teils als bedenklich für die Ruhe des Staates und das Wohl und die Sitte ansahen, hält es Savigny für seine Pflicht, wie es auch Thiersch tat, für „diese eigentümlichsten und würdigsten der gemeinsamen Besitztümer der Nation" einzutreten. Um die Vorzüge gegenüber dem bloßen Unterricht nach Büchern kennen zu lernen, untersucht er die verschiedenen Formen möglicher Mitteilung der Wissenschaften in ihrer Eigentümlichkeit. Während der wissenschaftliche Schriftsteller zu allen ohne Unterschied der Bildungsstufe redet, steht dem Universitätslehrer gegenüber eine Anzahl ziemlich gleichgebildeter Jünglinge, frisch, unabgenützt, die die Wissenschaft noch nicht kennen. Diesen Schülern soll sie, soweit sie gegenwärtig entwickelt ist, in dem Lehrer gleichsam personifiziert erscheinen; er soll das, was in langer Zeit und sehr allmählich entstanden ist, so lebendig in sich aufgenommen haben, daß ein ähnlicher Eindruck entsteht als wäre die Wissenschaft jetzt und mit einem Male in seinem Geist erzeugt worden. Der Lehrer bringt die Genesis wissenschaftlichen Denkens unmittelbar zur Anschauung. Dadurch wird in dem Schüler die verwandte geistige Kraft geweckt und zur Reproduktion



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gereizt; er wird nicht bloß lernen und aufnehmen sondern lebendig nachbilden, was ihm in lebendigem Werden zur Anschauung gebracht wird. „Die Universitäten erhalten ihren hohen, durch nichts zu ersetzenden Wert durch die höhere Wirksamkeit persönlicher Mitteilung, die gleich mit dem ersten Eintritt in die Wissenschaft verbunden wird, die Frische des Jünglingsalters tritt hinzu, die Wechselwirkung vieler, die gleichzeitig denselben Eindruck an sich erfahren." Es ist dieselbe Erfahrung, wie sie Goethe in seinem Leben ausdrückt: „Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen durch seine Persönlichkeit, die Jugend am stärksten auf die Jugend." Der Wert des Lehrers soll nicht abgeschätzt werden nach den von ihm gemachten wissenschaftlichen Entdeckungen, wenn schon dadurch das Interesse der Hörer erhöht wird, nicht nach dem guten Vortrag oder dem Grad der Anregung, wenn schon es wichtig ist die wissenschaftliche Aufgabe sehr hoch darzustellen, zu strenger unermüdlicher Forschung zu ermuntern, nicht nach der persönlichen Berührung, welche zwischen Lehrern und Schülern besteht. „Der wahre Grund der Wirksamkeit der Universitäten besteht in der Anregung des wissenschaftlichen Denkens durch die Anschauung einer gleichartigen, aber bereits ausgebildeten Tätigkeit in dem Geist des Lehrers." Am wirksamsten wird der Lehrer sein, in welchem das Geschäft der wissenschaftlichen Gedankenbildung am deutlichsten in Erscheinung tritt. Die Universitäten müssen, da die einzelnen Erscheinungen wissenschaftlicher Tätigkeit durch den Buchdruck unpersönlicher werden, dem Persönlichen in der Wissenschaft eine Zuflucht gewähren. Darin liegt ihre erhöhte Bedeutung. In diesem Sinne übte Savigny in Marburg, Landshut und Berlin den größten Einfluß durch seine Lehrtätigkeit auf Praxis, Methode und Entwicklung der Wissenschaft. Meisterhaft verstand er es die im Vortrag verwendeten Quellen zu interpretieren, die Schwierigkeiten zu zeigen und zu lösen. Der Gegensatz zwischen egoistischem Partikularismus und historisch begründeter Auffassung des Deutschtums, zwischen Aufklärimg und Romantik, wie er uns schon in München begegnet ist, läßt sich endlich auch an dem Streit, der zwischen Gönner und Savigny wegen der historischen Rechtsschule ausbrach, beobachten. G ö n n e r 1 ) wurde (1799), als Schelling nach Würzburg kam, nach der Jesuitenuniversität Ingolstadt berufen, da die seit Ickstatts Reformen unterdrückte Aufklärung neu belebt werden sollte. „Er ging hervor aus dem stagnierenden Milieu eines deutschen Kirchenkleinstaates l

) L a n d s b e r g , Rechtswissenschaft.

3. Teil.

2. Halbband.

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freilich, in jener Abart patriarchalisch - geistlicher milder Aufklärung, wie sie gerade in Bamberg unter dem Erthalschen Regiment ausgeprägt worden war." Die Verlegung der Universität nach Landshut sollte die Absichten der Regierung noch mehr fördern. Gönner veranlaßte vor allem Feuerbachs und dann Savignys Berufung. Nachdem er in der Behandlung des gemeinen deutschen Zivilprozeßrechtes, ohne einen Bruch mit der wissenschaftlichen Bewegung des 18. Jahrhunderts zu vollziehen, durch die energisch und geschickt durchgeführte Methode bedeutende Gesichtspunkte zu suchen und so den Geist der Sache zu erfassen und dann erst Einzelheiten nachzugehen, bedeutsame Erfolge erzielt hatte,1) z. B. durch Ausprägung des Gegensatzes von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime, durch scharfe Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Prozeßteilen, wandte er das gleiche Verfahren mit Erfolg auf das Staatsrecht an.2) 1804 erschien zu Landshut sein „Deutsches Staatsrecht". Ein Vergleich dieses Werkes mit seiner Studie über „Die Entwicklung des Begriffes und des rechtlichen Verhältnisses deutscher Staatsrechtsdienstbarkeit" zeigt einen bemerkenswerten Fortschritt über die hier noch teilweise vertretene patrimoniale Staatsauffassung. Zu der starken Wirkung der Montgtiasschen Regierungsreformen kam der wohl auf persönliche Bekanntschaft zurückzuführende Einfluß Schellingscher Ideen, während gleichzeitig Kantische Gedankengänge noch stark sich geltend machten. Entsprechend der Kantischen Schulauffassung weist Gönner der Polizei lediglich die Aufgabe zu Sicherheitsdienst zu leisten; dagegen weicht er unter dem Eindruck der Lehren von Adam Smith von dem Königsberger Philosophen insofern ab, als von dem Staat neben der Gewährung des Rechtsschutzes auch die Förderung der wirtschaftlichen Wohlfahrt der Bürger verlangt wird. In den Beamten sieht er nicht mehr privatrechtlich angestellte Fürstendiener, sondern durch einen Akt der Staatsgewalt herangezogene Staatsdiener. Am deutlichsten zeigen sich Schellingsche Einflüsse in dem „Bestreben alle Seiten des Staats- und Gesellschaftslebens als Teile einer großen Einheit aufzufassen." „Hinter alledem liegt eine neue Auffassung großen Stils, die des Staates als eines Organismus, als eines organischen Naturerzeugnisses von organischer Einheit und Zusammengehörigkeit."3) Zwei Jahre vor Gönners Staatsrecht (1803) waren Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" erschienen*); 1

) ) *) 4 ) 2

L a n d s b e r g , Noten. S. 74. Nr. 10. L a n d s b e r g , Rechtswissenschaft. 3. Teil. 2. Halbband. S. i s o f f . L a n d s b e r g , Rechtswissenschaft. 3. Teil. 2. Halbband. S. 1 5 1 ff. S c h e l l i n g , Vorlesungen. Herausgegeben von Otto B r a u n . 1907.

S. 1 2 5 .

— 283 — hier fordert er als erste Vorbedingung für jeden, der die positive Wissenschaft des Rechtes und des Staates selbst als ein Freier begreifen will, „die echte und aus Ideen geführte Konstruktion des Staates," eine Aufgabe, von der bis jetzt die Republik des Plato die einzige Auflösung ist. Alle bisherigen Versuche den Staat wieder als reale Organisation zu konstruieren leiden daran, daß man immer eine Einrichtung des Staates ersann, „damit jenes oder dieses erreicht werde. Ob man diesen Zweck in die allgemeine Glückseligkeit, in die Befriedigung der sozialen Triebe der menschlichen Natur oder in etwas rein Formales, wie das Zusammenleben freier Wesen unter den Bedingungen der möglichsten Freiheit setzt, . . . in jedem Fall wird der Staat nur als Mittel, als bedingt und abhängig begriffen". „Das Herausheben der bloß endlichen Seite dehnt den Organismus der Verfassung in einen endlosen Mechanismus, in dem nichts Unbedingtes angetroffen wird." Den Staat konstruieren heißt nicht ihn als Bedingung der Möglichkeit von irgend etwas Aeußerem fassen; wird er als das unmittelbare und sichtbare Bild des absoluten Lebens dargestellt, wird er auch von selbst alle Zwecke erfüllen, wie die Natur nicht ist, damit ein Gleichgewicht der Materie sei, sondern dieses Gleichgewicht ist, weil die Natur ist." Für Schelling wird die Rechtsordnung zu einer höheren Naturordnung, die Rechtsgesetze erscheinen als eine Art Naturgesetze. In Gönners Programm von 1804, finden wir den Niederschlag solcher Gedanken: „Der Verein ist organisch; das Universum ist nur ein Organismus und alle Teile können im Universum nur organisch existieren; sind, wie nicht geleugnet werden kann, Staaten ein Produkt der Natur, so sind sie nur durch und im Organismus da, folglich Teile desselben und können nur als organisch gedacht werden." 1 ) „Daß Staaten als organische, durch die Natur selbst produzierte Vereine der Kräfte auch unter physischen Naturgesetzen stehen, zeigt sich am deutlichsten durch das Dasein mehrerer Völker und durch die Notwendigkeit ihres Daseins. Jede Kraft kann nur in einer bestimmten Entfernung und in bestimmter Richtung wirken, jeder Staat muß also auf einen bestimmten Teil des Erdrundes beschränkt sein." Mit Recht weist Landsberg darauf hin, man glaube in dergleichen Sätzen schon einen Naturphilosophen Schellingscher Schule, etwa einen Oken reden zu hören. Doch der heftige Streit, der durch Gönners Schuld zwischen ihm und Savigny 1815 ausbrach, zeigte, daß jener im Grund der Seele derselbe geblieben war, „der Naturrechtler und Rationalist dieser ebbenden L a n d s b e r g , Rechtswissenschaft. 3. Teil. 2. Halbband S . 1 5 2 .



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Strömung, die mühsam darüber gehefteten Flicke Schellingscher und patriotischer Schlagworte — letztere in diesem Mund peinlich und unangebracht — fallen ab und es tritt hervor der kleinpartikularistische, in der Stickluft des Episkopalstaates groß gewordene, josephinische aufklärerische Anhänger des Vernunftrechtes". 1 ) Wie auf pädagogischem Gebiet der Wißmayrsche Lehrplan dem Niethammerschen Normativ Platz machen mußte, so setzte sich auf juristischem die historische Rechtsschule unter Savignys und Eichhorns Führung gegenüber den auf das Naturrecht aufgebauten Theorien durch. Gönner glaubte durch sein Buch: „Ueber Gesetzgebung und Rechtswissenschaft in unserer Zeit" dem ihm verhaßten Gegner einen Streich versetzen zu können, da traf ihn selbst der vernichtende Gegenschlag durch Savignys Rezension seines Buches.2) Durch diese wird besonders klar, daß es sich bei dem Streit um den Kampf der neuen mit der alten Zeit handelt. In der Frage der Bedeutung der Universitäten3) weichen die Ansichten beider Gelehrten aufs stärkste von einander ab. Savigny steht wie Thiersch auf dem Boden des siegreich vordringenden deutschen Idealismus, Gönner kämpft für die absterbende Aufklärung. Seine Vorschläge lassen sich im wesentlichen also zusammenfassen: Ein taugliches Mittel das gemeinsame Studium äußerlich zu begründen und zu befördern sind die Universitäten nicht. Nach vollendetem Studium sollen daher jene, welche zu Höherem streben, auf Reisen gehen und die Welt mehr aus eigener Anschauung als aus Büchern kennen lernen. Diesen Wunsch teilt Gönner mit Leibniz. Der unbeschränkte Besuch auswärtiger Universitäten erscheint ihm unangebracht, da es keinem Staat gleichgültig sein könne, wo und wie der künftige Beamte seine Bildung für den Staatsdienst gründet; „das wissenschaftliche Rechtsstudium muß durchaus mit dem vaterländischen Rechte verbunden sein". Das ehrwürdige Institut der Universität bedarf, trügen nicht alle Zeichen, einer Grundreform. Die allgemeinen Lehrgegenstände für alle Klassen der Studierenden sollen gründlich (drei Jahre statt der bisherigen zwei) auf veredelten Lyzeen gelehrt werden. Für Kants drei Fakultäten, Theologie, Rechts- und Staatswissenschaften und Medizin sind ein zweijähriges Studium umfassende Spezialschulen anzuordnen, endlich ist zur Vollendung der höheren Bildung derjenigen, die sich durch Talent, Fleiß und Kenntnisse auszeichnen, für das ganze Gebiet der Wissenschaft eine große Anstalt zu errichten. Gönner ist überzeugt, es 1

) L a n d s b e r g , Rechtswissenschaft. 3, 2 . S. 158. ) S a v i g n y , Vermischte Schriften. Bd. V. S. n g f f . 3 ) G ö n n e r , Über Gesetzgebung und Rechtswissenschaft: X : Das Gemeinsame. S. 266ff. S a v i g n y , Rezension. Bd. V. Vermischte Schriften. S. I55ff. 2

— 285 — könnten so mit Ersparung an Kosten alle Nachteile der bisherigen Universitäten abgewendet, alle Vorteile erhalten bleiben. In schärfstem Gegensatz dazu stehen Savignys Anschauungen 1 ) und seine Kritik: Das Universitätsstudium muß völlig frei gemacht und der Besuch auswärtiger Hochschulen unbeschränkt gestattet werden; der preußische Staat hat sein eigenes Gesetzbuch; obwohl er vollkommene Studienfreiheit gewährt, befindet sich alles aufs beste. „Das ist Erfahrung." Dem Reisevorschlag Gönners begegnet er mit dem für die großen preußischen Reformer bezeichnenden Einwand, daß das Reisen nur den Reicheren offen stehen würde; bildender erscheint ihm der Besuch mehrerer deutscher Universitäten. Ironisch fragt er, woher nach Zerschlagung der Universität die von Gönner geforderten geistvollen Lehrer kommen sollen. „Insbesondere die Jurisprudenz, noch mehr als Theologie und Medizin würden bei dieser Absonderung von dem Ganzen des wissenschaftlichen Unterrichtes ganz zum gemeinen Handwerk herabsinken"; die Franzosen, deren Rechtsschulen schlecht seien, könnten sich leichter in einem gewissen leidlichen Mittelzustand erhalten, die Deutschen . dagegen, durch verkehrte Anstalten in der natürlichen Richtung auf freie Entwicklung des Geistes gehemmt, müßten bald weit unter jenem Mittelzustand stehen. So kommt Savigny zu dem Schluß: „Man sieht, diese Vorschläge enthalten kurz zusammengedrängt alles, was in dieser Art Schlechtes durch Bonaparte in Frankreich gemacht und durch seine Anbeter außer Frankreich ausgebildet und empfohlen worden ist; und es ist merkwürdig, daß selbst das französische Königreich Westfalen durch eine gewisse Scheu mancher Machthaber vor der öffentlichen Stimme freigeblieben ist von diesen heillosen Dingen, zu welchen hier ein Deutscher deutsche Regierungen ohne Anstoß ermuntert." „Was zur geistigen Entwicklung des Menschen gehört," — betont Savigny mit Nachdruck — „kann nur in voller Freiheit gedeihen, und was dieser Freiheit entgegenwirkt, ist despotisch und ungerecht." „So sind in Deutschland durch inneres Bedürfnis die Universitäten ein Gemeingut der Nation geworden und die freie Konkurrenz derselben hat in Lehre und Literatur aufs wohltätigste gewirkt. Diese Anstalten, die wahres Leben haben, weil sie durch inneres Bedürfnis entstanden sind, kann eine Regierung leicht zerstören; aber dem, was sie an die Stelle setzt, Leben zu verleihen steht nicht ebenso in ihrer Macht. Aber freilich gerade jenes Nationale, Gemeinsame der Universitäten haßt man; man fürchtet oder gibt vor zu fürchten, die Liebe zu dem besonderen Vaterland werde dadurch geJ

) Rezension. S. i55ff.



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schwächt; wohl Erfahrung wird darüber sicherer entscheiden als allgemeines Raisonnement. Der preußische Staat beschränkt jene Freiheit auf keine Weise und wo ist der Staat, der sich durch alle Stände hindurch eines feurigeren Patriotismus rühmen kann?" Savigny sollte recht behalten. Als König Ludwig die Universität nach München verlegte, gelang es Schelling und Thiersch dem Geist der Freiheit zum Sieg zu verhelfen. Ein weiterer bedeutsamer Gegensatz bestand zwischen beiden Hochschullehrern in der Staatsauffassung. Trotz alles Schellingschen Gedankengutes vertrat Gönner eine „absolutistisch-politische Tendenz" ; das Gesetzbuch, das von oben herabkommend, das Volk glücklich macht, darf nicht herabgesetzt werden. Das fordert das Wohl des Staates und die Autorität der Regierung. Gönner ist daher dem Beispiel Justinians folgend der Ansicht, es sollten alle Urteile darüber mit Ausnahme der lobenden verboten werden. Er erwartet davon ein immer gleichförmigeres Hinstreben der Wissenschaften nach demselben Ziel. Es schwebten ihm hier wohl die Verhandlungen über den Code Napoléon im Tribunat vor. Besonders deutlich zeigt sich seine Neigung zur absolutistischen Staatsform in seiner Polemik1) gegen die historische Rechtsschule, wo er über die Aufgabe der Gesetzgebung spricht. Da Savigny und Hugo der Selbstbildung des Rechtes durch Volk und Juristen so unermeßlichen Spielraum anweisen, so führe das offenbar dahin, „daß die Staaten nicht vom Regenten, sondern vom Volke und den Juristen regiert, und daß die Rechtslehrer auch Rechtsgebieter oder, da ihnen ja doch das Bewußtsein des Volkes anheimgefallen ist, die einzigen Gesetzgeber werden, mit Ausnahme jener wenigen Punkte, wo ihre Macht allein nicht hinreicht, also der Regent nur als Gesetzgeber bei ihnen aushelfen und übrigens zusehen mag, was dem Volk im politischen und den Juristen im technischen Element zu treiben beliebt." Gönner denunziert also die Vertreter der historischen Methode bei den Regierungen, als ob sie ihnen das Recht der Gesetzgebung entziehen und es in die Hände des Volkes und der Juristen als Volksrepräsentanten spielen wollen. „Das Recht, dem Volk und den Juristen überlassen, gleicht einem Garten, worin das Unkraut üppig heranwächst und den Keim edleren Samens erstickt; nur die Gesetzgebung, ausgehend von der obersten Gewalt des Staates, kann das Recht, wie alles, was das Allgemeine betrifft, in einen löblichen Zustand 1

) G ö n n e r , Über Gesetzgebung und Rechtswissenschaft.

S. 4 3 f f .

— 287 — 1

bringen und erhalten." ) Savigny2) vermag in solcher Anschauung nur einen Despotismus zu sehen, der sich hinter den schönen Worten wie Aufklärung, Humanität und Menschenrechte verbirgt; die Sache aber bleibe darum immer dieselbe: „Der einfache Unterschied des Despotismus und der Freiheit wird ewig darin bestehen, daß der Regent (oder eigentlich die, denen er Gewalt gibt), dort eigenwillig und willkürlich schaltet, hier aber Natur und Geschichte in den lebendigen Kräften des Volkes ehrt, daß ihm dort das Volk ein toter Stoff ist, den er bearbeitet, hier aber ein Organismus höherer Art, zu dessen Haupt ihn Gott gesetzt hat und mit welchem er innerlich eins werden soll." Derselbe Gedankengang kehrt wieder bei dem Zurückweisen der Gönnerschen Vorschläge über die Universitäten. Was der Freiheit der geistigen Entwicklung entgegenwirkt, ist despotisch und ungerecht. Die Stärke der Regierung, die auf der geistigen Kraft des Volkes beruht, wird dadurch aufs höchste gefährdet, daß diese durch Despotismus getötet wird. Der Teil der Rezension Savignys endlich, welcher sich mit Gönners Vorwürfen gegen die von ihm begründete historische Rechtsschule befaßt, zeigt den tiefsten Grund der zwischen ihnen bestehenden Meinungsverschiedenheit und ermöglicht den interessantesten Einblick in die Zusammenhänge der literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Strömungen. Wir sehen, in welchem Geist Savigny seine Hochschultätigkeit auffaßte und auf die Männer wirkte, die zum Teil die Reform von 1826 und 1829 durchführten. Er besaß jenen feinen Sinn für das historische Geschehen, der auch Thiersch in hohem Maße eigen war, während Gönner von den Konstruktionen der Vernunft sich nicht losmachen konnte. Da er als das eigentliche Wesen der „historischen Schule" die unbedingte und ausschließliche Anpreisung des römischen Rechtes ansieht und sich zu der Behauptung3) hinreißen läßt, „als abgeschieden von der höheren Region der Wissenschaft und des ewigen Vernunftrechtes läßt diese Methode das Recht in dem Zustand von Bildung, in dem es bei den Römern stand", „sie trennt sich von der Erfahrung und Kultur des Rechtes bis auf unsere Zeit, sie macht eine rückgängige Bewegung auf tausend Jahre", die Gottheit hörte mit den Römern nicht auf, die Menschen mit gesunder Vernunft, dem ius, quod naturalis ratio apud omnes homines constituit, auszustatten", so muß er sich von Savigny eine schlagende Widerlegung gefallen lassen. >) Ebenda. S. 87/88. ) Rezension. S. 1 3 1 . 3 ) G ö n n e r , a. a. O. S. 222/223. a



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Mit überlegener Sachkenntnis und beißendem Spott entwirft1) Savigny ein Bild von der allgemeinen Rechtsgeschichte, wie sie Gönner stillschweigend voraussetze: „Erst war römisches Recht in der Welt; dann kam das Mittelalter, dessen elende Barbarei gar keine Aufmerksamkeit verdient; und dieses Mittelalter geht bis etwa 1750; endlich erscheint das Licht vollkommener Aufklärung und in diesem werden Gesetzbücher gemacht, gegen welche nun natürlich auch das römische Recht wie gar nichts ist." Ebenso schlimm ergeht es dem Versuch 2 ) Gönners eine philosophische Rechtsgeschichte bildlich nach den vier Lebensaltern des Menschen darzustellen. Gewohnheitsrecht in der Kindheit, wo alles auf Gefühl und Anschauung zurückgeht und die Begriffe schlummern, im Jünglingsalter, da das Gefühl zum Bewußtsein, die Anschauung zur Erkenntnis und Begriffe sich entfalten, das Streben dieser Unvollkommenheit durch Rechtsbücher zu entrinnen, das Mannesalter, den Charakter der Kraft, Ueberlegung und Entschlossenheit tragend, das Zeitalter der Gesetzbücher, die den Wohlstand auf Jahrhunderte begründen; im Greisenalter kraftloses Nachhelfen durch Novellen." „Dabei ist nur zu bemerken", — so fügt Savigny3) bei — „daß niemals bei irgend einem Volke dieser Kreislauf wirklich existiert hat." Gegenüber der völlig mißverstandenen Darstellung der Absichten der historischen Rechtsschule, wie sie Gönner gibt, entwirft Savigny in kurzen klaren Zügen seine eigenen Ideen. „Sie will verhüten, daß man sich von irgend einer Ansicht oder irgend einem System befangen lasse und darüber den wirklichen, durch die ganze Vorzeit bestimmten Rechtszustand des Volkes vergesse. Sie dringt auf genaue Ergründung des römischen Rechtes, weil dieses durch unsere Geschichte ein Stück unseres Rechtes geworden ist; aber sie fordert nicht weniger gründliches Studium des ursprünglichen germanischen Rechtes, ja auch der Modifikationen, welche römisches und germanisches Recht durch Uebung und wissenschaftliche Behandlung vieler Jahrhunderte unter uns erfahren haben."4) Mittels seiner Methode will Savigny in dem Mannigfaltigen, das die Geschichte darbietet, die höhere Einheit aufsuchen, das Lebensprinzip, woraus diese einzelnen Erscheinungen zu erklären sind; so wird das Materielle immer mehr vergeistigt. Das gegebene Mannigfaltige ist aber ein Zweifaches, teils ein Gleichzeitiges, Savigny, ) a. a. O. S. 3 ) Savigny, 4 ) Rezension. 2

a. a. O. S. 125. 31 ff. a. a. O. S. 126. S. 119/120, 140.

— 289 — teils ein Sukzessives; daher muß eine zweifache wissenschaftliche Behandlung entstehen. Das Zurückführen des gleichzeitig Mannigfaltigen auf die ihm innewohnende Einheit ist das systematische Verfahren, kein bloßes Ordnen nach formalen, logischen Rücksichten. Die Behandlung des sukzessiv Mannigfaltigen ist das eigentlich historische Verfahren; es gilt das Gegebene aufwärts durch alle seine Verbindungen hindurch bis zu seiner Entstehung aus des Volkes Natur, Schicksal und Bedürfnis zu verfolgen. Dadurch wird das ursprünglich Gegebene verwandelt und vergeistigt, indem das, was zuerst als toter materieller Stoff erschien, nunmehr als lebendige Kraft und Tätigkeit des Volkes angeschaut wird. Die allgemeine Voraussetzung bei diesem Verfahren ist die, „daß jedes Volk in seinen Zuständen überhaupt und so auch besonders in seinem bürgerlichen Recht eine nicht bloß zufällig, sondern wesentliche und notwendige, durch seine ganze Vorzeit begründete Individualität habe, daß mithin die Erfindung eines gemeinsamen Rechts für alle Völker ebenso nichtig sei wie die einer allgemeinen Sprache, durch welche die wirklichen lebenden Sprachen ersetzt werden sollten. Dabei aber wird keineswegs verkannt, daß in jenem Individuellen und Verschiedenen gewisse allgemein menschliche und gleichförmige Richtungen angetroffen werden, welche man das philosophische Element alles positiven Rechtes nennen könnte."1) „Das Recht hat seinen Grund in dem geistigen Dasein des Volkes, zieht also seine Lebenskraft aus denselben Wurzeln wie jede andere Art geistiger Tätigkeit und Bildung. Da es nun Gott so gefügt hat (so sehr es auch zu bedauern sein mag), daß es keine hannoveranische, nassauische, isenburgische usw. Sprache und Literatur gibt, sondern eine deutsche, so wird offenbar jeder einzelne Volksstamm in demselben Maße an geistiger Kraft und Entwicklung verlieren, als er sich dem allgemeinen geistigen Verkehr der deutschen Nation entzieht. Dasselbe gilt wie von jeder Wissenschaft, so auch vom Recht."2) Durch den Streit um die historische Schule wurden zwei bedeutsame Probleme3) in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt: eine grundlegende theoretische Frage: wie entsteht das Recht ? und eine eminent praktische: kann ein allgemein deutsches Zivilgesetzbuch erlassen werden? Savignys Antwort 4 ) auf die erste Frage lautete: Das Recht hat kein gesondertes Dasein im Leben des Volkes; Sprache, Sitte, Recht, Rezension.

S. 141/142.

2)

Rezension.

S. 164.

3)

Enneccerus,

4)

L o e n i n g , Edgar, Rechtshistorische Schule.

Savigny.

L o e w e , Friedr.Thiersch.

S. 34ff. Spalte 68ff. 19



290



Verfassung sind nur einzelne Kräfte und Tätigkeiten des einen Volkes, die in der Natur untrennbar verbunden sind. Was sie zu einem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Ueberzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Notwendigkeit, welches alle Gedanken an zufällige und willkürliche Entstehung ausschließt. Bei dem organischen Zusammenhang, der zwischen Sprache, Sitte und Recht einerseits und dem Wesen und Charakter des Volkes anderseits stattfindet, entsteht, wächst und stirbt das Recht mit dem Volk. Wie jeder einzelne ein Glied einer Familie, eines Volkes, eines Staates, so ist jedes Zeitalter eines Volkes Fortsetzung und Entwicklung aller vergangenen Zeit. Daher Savignys scharfe Zurückweisung Gönners, der in dem unschuldigen Glauben lebe, in dem ihm seine Ansicht als die absolute Welteinsicht erscheint. Hier tritt der Mittelpunkt des ganzen Gegensatzes zwischen Savigny und Gönner in Erscheinung. Savigny 1 ) hatte verlangt, „den geschichtlichen Sinn gegen uns selbst zu kehren, d. h. in Gedanken aus unserer Individualität herauszutreten und uns zu betrachten als selbst in der Geschichte lebend, unter den mannigfachsten Einflüssen der Vorzeit und Gegenwart stehend und in der Zukunft nach denselben Gesetzen verfließend." Gönner nennt diese Forderung „eine Mönchsregel, deren Tendenz es war alles auf die Klosterregel zurückzuführen und durch sie den Geist und den Leib des Novizen abzutöten"; er erwartet, „daß sie uns abzieht von wissenschaftlicher Erkenntnis des Rechtes und den Zugang zu dem Vernunftrecht, von welchem doch alles Recht ausgehen soll, und zu der naturalis ratio, welche selbst die römischen Juristen ehrten, verschließt." In dem einleitenden Aufsatz der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft führt Savigny 2 ) den Gegensatz bis auf die letzten Gründe zurück: es handelt sich um die allgemeine Frage: „In welchem Verhältnis steht die Vergangenheit zur Gegenwart oder das Werden zum Sein?" Gönner und die ihm Gleichgesinnten lehren, daß jedes Zeitalter sein Dasein, seine Welt frei und willkürlich selbst hervorbringe, gut und glücklich oder schlecht und unglücklich, je nach dem Maß seiner Einsicht und Kraft. Ihnen ist die Geschichte „eine moralischpolitische Beispielsammlung". Das Genie könne dieser Betrachtung entraten. Die Aufgabe jedes Zeitalters besteht vielmehr darin etwas Gegebenes anzuerkennen, „einen mit innerer Notwendigkeit gegebenen J) S a v i g n y , Rezension. wissenschaft. S. 144, 2 3 1 .

S. 1 7 2 .

Gönner,

Über Gesetzgebung und Rechts-

2 ) S a v i g n y , Übet den Zweck dieser Zeitschrift. Z. f. gesch. Rechtswissenschaft. 1. Bd. 1 8 1 5 . S. i f f .

— 291 — Stoff zu durchschauen, zu verjüngen und frisch zu erhalten". Die Geschichte ist daher der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes. Das Recht entsteht also nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers sondern durch innere, stillwirkende Kräfte, wie Sitte, Volksglaube, Jurisprudenz. Der Gesetzgeber muß das wirkliche Recht, den eigentlichen Willen des Volkes, das notwendig und frei zugleich ist, hervorgebracht von der höheren Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen 1 ) dadurch fördern und rein erhalten, daß er Zweifel und Unbestimmtheiten entfernt. „Stets wird das, was vor unseren Augen von Menschenhand gemacht ist, im Gefühl des Volkes von demjenigen unterschieden werden, dessen Entstehung nicht so sichtbar und greiflich ist. Wir sollen nie vergessen, daß aller Glaube und alles Gefühl für das, was nicht unseresgleichen ist, sondern höher als wir, auf einer ähnlichen Sinnesart beruht."2) Während Savigny eine tiefere philosophische Begründung seiner Ansichten nicht gab, machte C. F. Puchta diesen Versuch im 1. Band seines Gewohnheitsrechtes (1828). Bedenkt man den engen Zusammenhang, der zwischen allen geistigen Aeußerungen eines Volkes besteht, so muß eine Beantwortung der Frage nach den philosophischen Ausgangspunkten der rechtshistorischen Schule auch klärend auf die Er/iehungsprobleme jener Zeit wirken. Denn wer wie Thiersch in sich den Beruf fühlte in entscheidender Weise in die Reform des mittleren und höheren Schulwesens einzugreifen, der konnte sich der mächtigen philosophisch-literarischen Bewegung seiner Zeit gar nicht entziehen, die über Individuum, Volk, Geschichte so grundlegende neue Ansichten entwickelte. Dazu kam, daß Savignys Schlußfolgerungen aus seinen Grundideen, wie gründlichstes Quellenstudium nach wissenschaftlicher Methode, beruhend auf sorgfältigster Kenntnis namentlich der alten Sprachen, Thierschs Reformideen aufs stärkste begünstigen mußten. Loening, Landsberg und Brie3) sind der Lösung jener Frage nachgegangen. Durch die Wolfsche Aufklärungsphilosophie war die schon im 18. Jahrhundert auftauchende Erkenntnis, daß das Recht eine Entwicklung durchmache, verdunkelt worden. Da griff Herder den Gedanken wieder auf, angeregt von Voltaire und Montesquieu. Dieser ist der „gemeinsame Ahnherr aller neueren Theorien von der nationalen Bestimmtheit und Entstehung des Rechtes".4) Im L'esprit des lois zeigt 1

) S a v i g n y , Z. f. gesch. Rechtswissenschaft. ) Beruf unserer Zeit. S. 8ff., i 4 f f .

I. Bd.

S. 4 und 6.

2 3

) B r i e S., Volksgeist.

«) B r i e , Volksgeist.

S. 8.

19*



292



er, wie Sitten, Gebräuche und Gesetze zur Bildung der Nation beitragen, wie neben physischen Momenten geistige in hohem Grade bei der Entwicklung des gemeinsamen Volksgeistes in Betracht kommen, der seinerseits wieder auf jene zurückwirkt. Herders Geschichtsphilosophie versucht die Völker in ihrer Eigenart kennen zu lernen und findet in dem Nationalcharakter die Quelle des gesamten geistigen Lebens; die einzelnen Völker erscheinen als die „Ketten einer Kultur", „die Glieder einer fortgehenden Entwicklung, deren von Gott gestecktes Ziel die Humanität ist". Daran anknüpfend lehrt die rechtshistorische Schule, daß das natürliche Recht durch eine im Volk unbewußt wirkende Kraft, in der „dunklen Werkstätte des Volksgeistes in einer Notwendigkeit und Freiheit vereinenden, der geschichtlichen Forschung nicht zugänglichen Weise" geschaffen wird. Hier wird die Beziehung zur spekulativen Philosophie der Zeit deutlich.1) Hatte noch Kant die wissenschaftliche Erkenntnis des Uebersinnlichen für unmöglich erklärt, so lehrte Fichte, die Vernunft müsse das Ding an sich, die absolute Vernunft, das absolute Ich erfassen können. Dieses erlöst sich durch fortschreitende Entwicklung zur sittlichen Vernunft in dem einzelnen konkreten Ich, in der menschlichen Vernunft. Und zwar erfolgt dieser Vorgang im menschlichen Ich in bewußtloser Produktion; diese bildet den Grund und Kern des Bewußtseins und gibt dem menschlichen Bewußtsein seinen ganzen Inhalt. Den Inhalt der Geschichte bildet die Erlösung der sittlichen Vernunft in unendlicher Entwicklung, das Mittel der Erkenntnis die „intellektuelle Anschauung". Schelling geht noch einen Schritt weiter, indem er der von Fichte vernachlässigten Natur eine bedeutsame Stellung in seiner Identitätsphilosophie einräumt. Er sieht in der gesamten Weltentwicklung in Natur- und Geisteswelt die bewußtlose Entwicklung des Absoluten; der Geist, der sich in der intellektualen Anschauung erfaßt, ist Subjekt und Objekt, diese wird so zur Selbstanschauung des Absoluten. Dieser Grundauffassung entsprechend erkennt Schelling im Recht eine Potenz in der Entwicklung des absoluten Geistes, das Recht ist das Objekt der Geschichte, die Rechtswissenschaft der wichtigste Zweig der Geschichte, die Geschichte das laut gewordene Mysterium des göttlichen Reiches, der Spiegel des Weltgeistes. Sie stellt Freiheit und Notwendigkeit in Vereinigung dar und ist nur durch diese Vereinigung möglich; der letzte Zweck, der nur durch die Gattung realisierbar ist, ist die Realisierung der wahren Rechtsverfassung, der Bildung eines objektiven Organismus der Freiheit des Staates. Die Menschheit gliedert sich in Staaten. L o e n i n g , Rechtshistorische Schule. III. Spalte 73ff.

— 293 — 1

In Jena ) verkündeten Fichte und Schelling ihre Ideen; unter ihrem Einfluß entstand eine Weltanschauung, deren charakteristische Merkmale sind: die Welt der lebendige Organismus der Gottheit, der Geist eine nach eigenen Gesetzen sich verwirklichende Kraft, der Mensch zwar im Handeln frei, aber ein Werkzeug eines höheren Geistes, die Welt, die Natur, die Menschheit, die einzelnen Staaten und Völker, die einzelnen Menschen Individuen und Träger des Geistes. Damit war die Voraussetzung für die Entstehung der romantischen Weltanschauung und der Philosophie Hegels geschaffen. Da griff mitten in die Spekulation Fichtes und Schellings über das Weltganze tiefwirkend das Erlebnis der Napoleonischen Aera. Das Nationalbewußtsein und das Vaterlandsgefühl erwachten. Daher trat das Problem des Nationalcharakters eines Volkes in den Mittelpunkt philosophischer Betrachtung. Der Vergleich schärfte den Blick für die Besonderheiten der einzelnen Völker. In jedem Volk wirkt ein eigenartiges Gesetz um das Göttliche zur Darstellung zu bringen, und zwar in jedem einzelnen unbewußt, alle zu einem natürlichen Ganzen verbindend; diese Kraft bringt auch die Sprache hervor. Indem solche Gedanken auf das Recht und seine Entstehung Anwendung fanden, entstand die Theorie der rechtshistorischen Schule. Savigny übernahm die metaphysischen Voraussetzungen der pantheistischen Identitätsphilosophie Schellings nicht; daß er aber die Gedanken des Philosophen durch die Männer, welche in Heidelberg und Marburg seinen Freundeskreis bildeten, wie Clemens Brentano, die Brüder Grimm, Ch. Fr. Creuzer, einen Freund und Schüler Schellings, kennen lernte, ist wohl sicher anzunehmen. Puchta versuchte eine Grundlegung im Anschluß an die supranaturalistische Offenbarungsphilosophie, wie sie Schelling seit 1810 ausbildete. In überzeugender Weise zeigt Loening im Gegensatz zu Brie, daß Hegel eine ganz andere Vorstellung vom „Volksgeist" hat, wie die rechtshistorische Schule. Während diese und Puchta unter Volksgeist eine unerforschliche, im Volk als einer natürlichen Verbindung wirkende Kraft verstehen, die in dunkler Werkstätte das Recht schafft, versteht Hegel unter Volksgeist den Staat, den Weltgeist auf dieser Stufe der dialektischen Entwicklung. „Der Staat," — sagt er in seiner Rechtsphilosophie — „ist göttlicher Wille als gegenwärtiger sich zu wirklicher Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist." Der objektive allgemeine Wille, der nach Hegel das Recht hervorbringt, ist nicht die volonté générale im Sinne Rousseaus noch der 1

) L o e n i n g , Rechtshistorische Schule. IV.

Spalte 76ff.

— 294 — allgemeine Wille des Volkes als einer natürlichen Gemeinschaft, sondern „er ist das sich selbst Besondernde und in seinem Denken in ungetrübter Klarheit bei sich selbst Bleibende". Die zweite Frage, die der Streit über die historische Schule her vorrief: kann ein allgemeines deutsches Zivilgesetzbuch erlassen werden ? zeigt den bedeutsamen Gegensatz zwischen dem partikularistisch gesinnten Gönner und dem deutsch empfindenden Savigny. 1 ) Dieser stimmte mit Thibaut, der zuerst jenen Vorschlag gemacht hatte, in dem äußeren politischen Zweck, der Einheit der Nation, überein; während aber Thibaut die Einheit durch ein gemeinsames Gesetzbuch fördern» wollte, hoffte Savigny sie durch gemeinsames Studium erreichen zu können. Gönner dagegen verlangt für jeden größeren Staat ein eigenes Gesetzbuch, das die eigentliche Grundlage alles wissenschaftlichen Rechtsstudiums sein soll, und erklärt eine deutsche Reform der Zivilgesetzgebung aus Gründen, die noch fortdauern, für unmöglich. Daher vermutet Savigny, daß er einer innigeren Vereinigung entgegenwirken wolle, und er wirft ihm vor, er arbeite darauf hin, daß im Recht wie im Rechtsstudium der Deutschen alles Gemeinsame aufhöre.2) Die historische Rechtsschule Savignys und Eichhorns brachte der deutschen Wissenschaft, insbesondere der Jurisprudenz wertvolle Erkenntnisse: sie zeigte den unauflöslichen Zusammenhang des Rechtes mit der gesamten geistigen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung des Volkes, die Notwendigkeit ein Verständnis des Rechtes aus seiner Geschichte zu gewinnen, sie vermittelte eine tiefere Erfassung des Gewohnheitsrechtes und seiner Entwicklung. Indessen bewirkten die Schellingschen Gedanken doch auch den Nachteil, daß das Gewohnheitsrecht als natürliches Recht auf Kosten der Gesetzgebung überschätzt wurde. Das auch in der historischen Schule enthaltene Prinzip der freien Entfaltung konnte daher nicht zur Geltung kommen. Hier griff Hegels Rechtsphilosophie fördernd ein.3) V I . Kapitel.

Die Aretinschen Händel.

Der Kampf gegen die Berufenen.

Anfangs schien es, als ob unter Jacobis Führung die Berufenen einträchtig zusammenwirken würden. Schelling besuchte wiederholt Jacobi, x

) Rezension. S. 159. ) Ebenda. S. 164. *) L o e n i n g , Rechtshistorische Schule. 2

Schluß.

Spalte i 2 0 f f



295



und dieser hatte den Eindruck, als ob er seine Freundschaft aufrichtig wünsche. Mit feinem Humor berichtet er seinem Freund Nicolovius, welche Versuche Franz von Baader machte eine Annäherung zwischen den Anschauungen des Begründers der Naturphilosophie und denen des Pempelforter Philosophen herzustellen1): „Baader hat sich vorgenommen, eine Transfusion meiner Theologie mit Schellingscher Naturphilosophie zustande zu bringen, nämlich Schelling soll einnehmen, was von wahrer Weisheit in mir ist, und ich soll einnehmen, was von wahrer Weisheit in Schelling ist; daraus, meint er, würde dann Jacob Böhme werden und St. Martin und er selbst; heute abend will er mit Ritter zu mir kommen, und ich soll von ihnen beiden einen naturphilosophischen Angriff aushalten. Ich mag dies Getreibe wohl, so lang es nicht zu arg wird.'' Da sollte die Eröffnungsrede des Präsidenten in der Akademie 1807 und die bald darauf folgende Diskussion zeigen, daß sich zwischen ihm und den Vertretern romantischer Anschauungen eine Spannung vorbereitete. Jacobi sprach über „Gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck". Eindringlich wies er die Regierung darauf hin die Würde der Wissenschaft zu achten und ihr nicht bloß Nützlichkeit zum Augenmerk zu geben. Die Akademie als die Vereinigung der Priester der Humanität schaffe einen wissenschaftlichen Gemeingeist und zerstöre alle Vorurteile. Ein längerer Exkurs über die römische Kaisergeschichte zeigt die enge Verknüpfung zwischen dem Blühen der Wissenschaft und dem Glück des Staates und die Unvereinbarkeit grenzenlosen Herrschaftsstrebens mit ihrer Pflege. Ein zweiter verfolgt das Werden der Vernunftkultur seit Karl dem Großen, wobei die Beurteilung namentlich des späteren Mittelalters recht einseitig erscheint; erst das Wiederaufleben der antiken Kultur habe das Entstehen eigentlicher Vernunftkultur, deren Träger das freie Bürgertum wurde, gebracht. Der letzte Teil der Rede entwickelt Jacobis Lieblingsgedanken über die Bedeutung des religiösen Instinktes, die Aufgabe der Vernunft, den Weg zu Gott und Tugend zu weisen, über die Notwendigkeit den Verstand in den Grenzen des ihm zustehenden Gebietes zu halten, über das Wesen wahrer Kultur. Gewarnt durch die mit der Französischen Revolution gemachten Erfahrungen fordert Jacobi Heroen der Humanität und schließt mit einem Worte Schellings: „Eine Anstalt des Friedens und der Vermittlung des Widerstrebenden in der Zeit durch die Wissenschaft ist gegründet." Noch in demselben Jahre hielt Schelling die Aufsehen erregende Rede „Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur". x

) Z ö p p r i t z , Aus Friedrich H. Jacobis Nachlaß.

Bd. 2.

1869. S. 15.



296



Da erfolgte von Landshut her ein scharfer Vorstoß gegen Jacobi. Dort hatte sich ein Kreis von Männern gebildet, die in jugendlichem Überschwang nach einem unklaren Ideal, das alles Gute, Reine und Hohe umfassen sollte, strebten; 1 ) nach Überwindung einer Krise des Unglaubens schwärmten sie für die Größe der Kirche ohne sie noch deutlich zu kennen; eine neu zu gründende allgemeine Zeitschrift: „Die Jugendblätter" war bestimmt unter Ausschluß alles Politischen die herrschende Seichtigkeit und Gottentfremdung zu befehden, Religion und Vaterland zu verteidigen. Mit Begeisterung verfolgten sie die aufblühenden Studien des Mittelalters und schöpften daraus Mut und Hoffnung auf bessere Zeiten; den Rundgesang Achim v. Arnims gegen die Unterdrücker des Werdenden und der Literatur2) hatten sie nicht nur mit Begeisterung gelesen, sondern gesungen, gejubelt, verschlungen, in Geist und Leben verwandelt; an den Meister Görres wurde ein stürmischer Brief gesandt, von dem Herrn des Himmels fühlten sie sich zu besonderen Zwecken bestimmt. Voll Mißtrauen betrachteten sie die häufige Berufung von Auswärtigen zu den verschiedensten bayrischen Staats- und Lehrämtern und sie glaubten die unverkennbare Absicht zu bemerken Bayern zu entchristlichen, vor allem zu dekatholisieren. Die Empörung über die unsägliche Anmaßung, womit von vielen In- und Auswärtigen Bayern, sein Volk, seine Geschichte, seine Gesinnung mißhandelt wurde, verband sich mit dem Haß gegen die napoleonische Tyrannei, die in innigster Wechselwirkung mit dem bureaukratisch-liberalen Fanatismus stand. Ringseis' kochender Ingrimm machte sich in verschiedenen Gedichten Luft, die in der von Achim v. Arnim und Brentano herausgegebenen „Zeitung für Einsiedler" 3 ) zugleich mit denen seines Bruders und seiner Freunde erschienen; wegen ihres Inhaltes verursachten sie einen Höllenspektakel; aus Bayern erhielt er zustimmende, vom Norden bis Hamburg bekämpfende Zuschriften. In der „Herausforderung an die Fremden" erklingt schon jener Ruf, der die Gegensätze zwischen Nord und Süd verhängnisvoll verschärfen sollte. ,,Ha, warum verachtest du mich, Du kalte Brut, du der anderen Zone ? Heraus du Kalte, heraus will ich dich Auf den Sand des bayrischen Bodens. Ich schlage dich nieder bei allen Göttern, Dich nieder in rötlichen Sand! *) R i n g s e i s , Erinnerungen. B d . I. S. 68ff., 82, 1 0 1 . ) Gedruckt in der Zeitung für Einsiedler. Nr. 33. 23. J u l i 1808. ®) 23. Juli 1808. Nr. 33. S. a.: J a c o b s , Personalia. S. 404. Brief an Zentner, R i n g s e i s , Erinnerungen. I. S. 92. a

— 297



Da liegst du schon, ha, von meinen Wettern Gestürzt, da liegst du im Sand. Wer will die Fehde noch mit mir wagen ? Heraus nur! Tausend an Wissenschaft Schlag ich, werde alle, alle euch schlagen Mit des Willens allmächtiger Kraft. Nun krönt mich, Freunde, mit grünendem Laub, So wie es dem Sieger gehört, Und also schlage ich jeden in Staub, Der Bayerns Söhne nicht ehrt."

Die „Nationalzeitung der Deutschen"1) druckte das Gedicht mit der Bemerkung ab: „Wer sind die Helden, die sich mit dem Gänsekiel zu dieser lächerlichen Fehde gerüstet haben? Ein N.R. hat zuerst eine förmliche Herausforderung an die norddeutschen Schriftsteller erlassen," und sie lädt den Reimheld ein nach Frankfurt zu kommen und sich auf die Sachsenhauserbrücke zu stellen, die neutrales Territorium ist, indem nach der zwischen dem südlichen und nördlichen Genie gezogenen Demarkationslinie der Main die Grenze macht, also Sachsenhausen zum feurigen Süden und Frankfurt zum kalten Norden gehört. Hier vernehme er zur Antwort auf seine Herausforderung folgende Szene aus dem Trauerspiel: „Der kleine David und der große Riese Goliath," das in Bayern in den sog. Rauchnächten von herumziehenden Bettelkomödianten, die man die Weber nennt, aufgeführt wird. D a v i d : Du großer Eisenfresser, du Ich dich, schau, gar nicht fürchten thu Und wirf dir 'n Stein ins Gesicht.

D.: Gott macht mich stark, das sollst du sehn, Bleib nur ein wenig vor mir stehn So hast den Stein an Kopf.

G o l i a t h : Was redst, du Fraz, du böser Bue, Gib acht! wenn ich einmal schlag zue, So sieht man dich gar nicht.

G.: Haha! Da muß ich lachen gar, Du red'st daher als wie ein Narr Und bist ein kleiner Tropf.

D . : Bist du gleich groß und ich noch klein Und schaust du noch fuchswilder drein So schlag' ich dich doch z'sam.

D.: Das laß ich mir nicht zweimal sag'n, Jetzt wirf ich zu, will nimmer frag'n, Gott stärke meinen Arm! (Et wirft.)

(Schlägt auf den Schild.)

G.: Jetzt geh, du kleiner Prahlhans du, Bis du nicht wachs'st in meine Schuh Meld' dich nicht bei mir an.

G . : (Fällt zu Boden.) Au weh. Au weh! Was tat ich doch! Im Kopf hab' ich ein großes Loch, Ich stirb, daß Gott erbarm.

7. Stück, 15. Februar 1810. Der Verfasser R. Z. ist Becker selbst.

— 298 — Die Jenaer-Literaturzeitung warf Ringseis unredliche Gesinnung und die erneute Eröffnung des unseligen Kampfes der Süd- gegen die Norddeutschen vor. Aus dem Kreis dieser jungen Stürmer erfolgte 1808 der Angriff gegen Jacobi. Rottmanner, einer der Begabtesten, Philosoph und Dichter, ließ eine Schrift erscheinen: Kritik der Abhandlung Fr. H. Jacobis „Über gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck", und zwar als erstes Heft einer von Ast herausgegebenen Zeitschrift, deren Zweck sein sollte „das heilige Licht der Kunst und Wissenschaft, das Prinzip und Ideal aller Bildung gegen jede Entweihung zu schützen.". Rottmanner ist Katholik, Romantiker und ein begeisterter Anhänger der neuesten Philosophie; 1 ) er begrüßt das Erscheinen der Abhandlung Jacobis als eine willkommene Gelegenheit auch im Süden das Mangelhafte, Unbefriedigende und Leblose jener Art von Bildung, die, im nördlich-protestantischen Deutschland aufgetreten, sich lange Zeit für die höchste hielt, zur Sprache zu bringen. Er sieht es im Charakter des neueren Protestantismus, also in Einseitigkeit, bloßer Verstandesmäßigkeit und in dem Mangel an höherem Sinn und Leben an sich; die neuere Bildung dagegen, zwar auch im nördlichen Deutschland erwacht, wurde fast gleichzeitig in den Süden verpflanzt und genährt ; sie ist eine allgemeine—also wahrhaft deutsche oder, was vielleicht das nämliche sagt, eine universelle, philosophische. Das nördliche Deutschland — darunter versteht er die Mehrzahl der Gelehrten, Pastoren, Superintendenten, Politiker, Zeitungsschreiber, die sog. gebildete Schicht •— ist nach seiner Meinung undeutsch geworden, indem es sich absonderte, den Gegensatz in die alte Verfassung warf und sie fremden Völkern zum Spiel gab. So trat an Stelle des munteren, frischen Lebens toter Mechanismus, der hohe Sinn und das tiefe Gemüt der Ahnen wurde mit kalter Verständigkeit vertauscht, fremde Sitte nachgeahmt, ausländische Eitelkeit und entnervende Verfeinerung angenommen, die Anhänglichkeit an den alten Glauben, der schlichte, natürliche Sinn der Nachbarn auf mannigfache Weise verachtet. Scharf lehnt es Rottmanner ab den Borussismus für Deutschland, die einseitige Kultur für absolute Gebildetheit zu halten. „Nur ein dritter höherer Geist, nur eine gänzliche Umgestaltung der intellektuellen Bildung, nur ein neueres, schöneres Leben kann wieder ein Teutschland bilden, ein Germanien, ein Europa." Durch den eitlen Hochmut mancher norddeutschen Gelehrten in seinem Nationalgefühl empört, greift Rottmanner zur Feder. Angesichts dieser Grundanschauungen muß natürlich die Kritik an Jacobis philosophischen und historischen Ideen scharf ablehnend ausfallen. !) V o r w o r t .

S. V I I f f .

— 299 — Schroff verwirft Rottmanner denn auch den protestantisch-theologischen Standpunkt seiner Lehre, den krassesten Dualismus, die einseitige Auffassung der Vernunft nur von ihrer praktischen Seite und die damit im engsten Zusammenhang stehende „gänzliche Mißkennung des Geistes der Geschichte und des Wertes der intellektuellen Kultur sowohl in der vergangenen als gegenwärtigen Zeit". Ein großer Teil der Schrift ist dem Nachweis dieses Fehlers gewidmet; dabei zeigt sich Rottmanners Hochschätzung des Griechentums, dessen lebendige Bildung und organisches Leben er ebenso preist wie ihre Hochschätzung der Künstler und Weisen und seine Abneigung gegen Gelehrte, unter denen er sich offenbar nur einseitige Verstandesmenschen ohne Zusammenhang mit dem Leben vorstellen kann, eine Kaste, „ein höchst gemeines, geist- und gemütloses Leben führend". Besonders stark ist natürlich der Gegensatz zwischen Rottmanner und Jacobi in der Auffassung des Mittelalters. Denn jener sieht in der christlichen Religion die Seele der ganzen modernen Geschichte, in Karl dem Großen den Begründer der christlichen Periode. In der christlich-romantischen Bildung, deren höchste Blüte eben ins Mittelalter fällt, erkennt er eine verschiedene, aber ebenso bedeutende Form wie in der antik-klassischen. „Der Katholizismus war die Krone, die Blüte und die Frucht aller Bildung." Auch hinsichtlich der Auffassung des Protestantismus war keine Einigung möglich. Denn nach Rottmanners Überzeugung gründete die Reformation „das traurige Reich der bloßen Verstandesherrschaft". „Mechanismus ist das Charakteristische der drei letzten Jahrhunderte." Der Staat wurde nicht mehr betrachtet als ein aus dem Innern der Menschheit lebendig sich bildender Organismus, sondern als Maschine. Der größte politische Mechaniker war Friedrich der Große. Der von ihm vertretenen neuesten Philosophie endlich schreibt Rottmanner die Aufgabe zu, den Himmel wieder mit der Erde, die Götter mit den Menschen, den Verstand mit der Vernunft auszusöhnen. Ihr wahrer Protestantismus werde den protestantischen Jesuitismus vernichten. Jacobis Rede und Rottmanners Entgegnung erregten großes Aufsehen. Goethe schrieb an Jacobi: 1 ) „Wir sind dir alle, besonders aber wir anderen in den besorgten protestantischen Ländern großen Dank schuldig, daß du diese wichtigen Angelegenheiten so tüchtig und mächtig zur Sprache brachtest. Der Anfang ist dir weniger geglückt als das Folgende und das Ende." Dann kommt ein leiser Tadel. „Im Streit gegen die Philister und Nützlichkeitsforderer bist du zu bitter und mitunter ungerecht." „Freilich kann ich begreifen, daß dir dieses Geschlecht den Kopf sehr warm machen 1 ) H e i g e l , Akademie. und Fr. H. Jacobi.

S. 19/20. Max J a c o b i , Briefwechsel zwischen Goethe

— 300



muß. Leid' ich doch als Poet und Künstler schon lange Zeit von ihnen. Sie sind aber Legion, und man muß sie gewähren lassen, nur allenfalls sie hänseln, wie ich es von Zeit zu Zeit getan habe. Man ärgert sich ja auch nicht über Kinder, daß sie lieber in einem Kirschgarten naschen als in einem jungen Fichtendickicht spazieren, das erst in 100 Jahren Enkeln und Urenkeln Vorteil und Freude bringen soll." Auf eine Klage Jacobis über Rottmanners Streitschrift meinte der Dichter: Auch er denke von den sog. dunklen Jahrhunderten des Mittelalters weit besser als sein aufgeklärter Freund. „In meines Vaters Hause, sage ich mir, sind viele Appartementer. Es bietet herrlichen Genuß, in das dunkle, tiefe energische Wirken hereinzuschauen! Auch damals schon erscholl ein lauter Chorgesang der Menschheit, dem die Götter gern zuhören mochten." 1 ) Wie man im Kreise der Freunde Jacobis dachte, zeigt eine Flugschrift von Friedrich Thiersch, die nicht im Druck erschienen ist: „Die verfolgten Protestanten in Bayern an die Unparteiischen der bayrischen Nation." „Herr Rottmanner gehört zu den Jüngern der neupoetischen, leider in Norddeutschland entstandenen Schule, die sich selbst eines höheren Lebens und der Begeisterung für das Göttliche durch den Katholizismus rühmen und deshalb das Skapulier in der einen und den Rosenkranz in der anderen Hand statt der ehemaligen Mönche und Ketzerrichter gegen wissenschaftliche Kultur, Protestantismus und Lutheraner zu Felde ziehen." Mit aller Schärfe weist Thiersch die Verwechslung des „literarischen Trosses" mit der Literatur zurück und die Auffassung, als ob die protestantische wissenschaftliche Kultur nichts anderes sei als ein Aggregat geistund herzloser Kompendien und Journale, die Hunger, Armut und Leidenschaften diktiert haben. Schon in Rottmanners Schrift und in Ringseis' Gedichten kündet sich der Gegensatz zwischen Nord- und Süddeutschen an, zwischen protestantischer und katholischer Auffassung, der durch das Hereintragen politischer Motive in den folgenden Jahren zu außerordentlich bedauerlichen Händeln führte, die erst mit einem Attentat auf Friedrich Thiersch ihr Ende finden sollten. Als der junge Professor, aus dem Norden kommend, wo der Druck der französischen Gewaltherrschaft kaum mehr ertragen werden konnte, in München eintraf, sah er sich wie in eine ganz andere Welt versetzt. Die Franzosen wurden als Freunde, Beschützer und Retter von Bayern gefeiert, Napoleon als Wohltäter und Wundermann gepriesen;2) Montgelas leitete die auswärtige Politik im Sinne Frankreichs. In den Kreisen freilich, 1

) H e i g e l , Akademie. S. 21. ) Heigel, Akademie. S. 21.

2

— 301 — die sich um den Präsidenten Jacobi scharten, fand Thiersch eine stattliche Zahl patriotischer Männer, die an Deutschlands Zukunft nicht verzweifelnd den Zusammenschluß der Bayern mit den übrigen Bruderstämmen zu einer Nation wünschten. Es waren vor allem die aus der „Fremde" berufenen Gelehrten, Franken, Schwaben, Thüringer und Sachsen. Ihr Hauptfeind war der Oberbibliothekar Freiherr v. Aretin, über den Jacobi das Urteil fällte: „Er ist durchaus ohne alle innere wahre Bildung und auch seine literarischen und bibliographischen Kenntnisse sind nur fragmentarisch und seicht." 1 ) Der von ihm selbst geschriebene Lebenslauf,2) worin er sich der Abstammung von einem armenischen Fürstengeschlecht rühmt, bestätigt durch die selbstgefällige Hervorhebung der angeblich großen eigenen Verdienste und die unaufrichtige Beschuldigung der berufenen Gelehrten vollauf die Ansicht, die man sich auf Grund der Händel bilden kann, daß dieser Mann falsch und maßlos eitel war. Seine Stellungen als Sekretär der philosophisch-philologischen Klasse der Akademie und als Oberhofbibliothekar versah er so mangelhaft, daß die Reibungen mit dem Präsidenten, den Mitgliedern und dem Personal nicht aufhörten, bis Aretin nach Neuburg kam. Aus an und für sich unbedeutenden Ursachen entwickelte sich ein bösartiger Konflikt. Jacobs verlangte seine Versetzung in die historische Klasse, da „wir durch die Untätigkeit dieses Mannes dem Spott und der Verachtung der anderen Klassen und des Publikums preisgegeben sind." 3 ) Hamberger, der nach den Berichten Jacobis und Schlichtegrolls „durch bewiesenen Eifer, Fleiß und Geschicklichkeit die Erwartung des Präsidiums und der Bibliothekskommission nicht nur erfüllte sondern sogar übertraf, auch Sonntags und an Festtagen auf der Bibliothek arbeitete, so daß große Fortschritte in der Ordnung derselben erzielt wurden," 4 ) zumal er vor seiner Berufung nach München die Einrichtungen der Göttinger Bibliothek aufs genaueste studiert hatte, gab aus Anlaß der Streitigkeiten zu Protokoll, daß Aretin für die Bibliothek absolut nichts tue. In persönlichen Besprechungen mit Jacobi entblödete sich der Baron nicht von dem Präsidenten zu verlangen, er solle für sich und ihn beim König eine Belohnung durchsetzen; als er Jacobis Empörung bemerkte, meinte er, man halte ihn für französisch gesinnt; aber er habe Patriotismus genug, seine Regierung so lange nicht bei einer fremden Macht, zu kompromittieren als er nicht gezwungen werde. Daher habe er bisher seine Vorteile nicht alle gebraucht; er habe sich schon erboten dem Herrn Minister 1)

Z ö p p r i t z , Briefwechsel.

2)

Cgm. 1809.

Bd. 2.

S. 42.

Staatsbibliothek.

3)

16. Juli 1810.

4)

M. A. fasc. 291.

M. A.

204.

Nr. 27.

A. B.

1897.

Nr. 29.

— 302 — nach Paris Entdeckungen zu machen und demselben dieses Erbieten vor kurzem wiederholt. 1 ) Dieser Mann machte sich zum Stimmführer aller jener Unzufriedenen, die glaubten, durch die Herbeiziehung der Norddeutschen in Gehalt und Ehre zurückgesetzt oder durch geringschätziges Absprechen über die geistige Rückständigkeit der Bayern beleidigt zu sein. Da er offenbar mit Rücksicht auf den Hof und die Regierung seinen Kampf nicht offen zu führen wagte, so arbeitete er durch anonyme Verleumdungen darauf hin die Berufenen in der öffentlichen Meinung herabzusetzen und sie der Regierung verächtlich zu machen. Mit besonderer Gehässigkeit wurde von ihm und seinen Helfershelfern der Gegensatz zwischen Nord und Süd vertieft. In der Vorrede zur „ L i t e r a t u r der Staatengeschiehte in B a y e r n " b e t o n t e A r e t i n die große B e d e u t u n g

der E r z i e h u n g

charakters; die B a y e r n am

wenigsten

f ü r die A u s b i l d u n g

des bayrischen

sollen keine ausländischen und j a keine

nordländische

Erzieher

haben.

„Die

National-

kosmopolitischen,

Norddeutschen

(mit

wenigen

Ausnahmen) v e r a c h t e n und hassen die Süddeutschen, g l a u b e n sich w e i t vor ihnen voraus und werden nie den herzlichen u n d unbefangenen Sinn derselben zu fassen oder zu schätzen wissen.

W e n n es ihnen g e l i n g t unsere üppige Lebensfülle m i t ihrer

nördlichen K ä l t e und Steifheit zu ersticken, so ist unser Vaterland unwiderbringlich zu grund

gerichtet."

Vergebens hatte Thiersch bald nach seinem Eintreffen in München versucht durch seine zunächst ohne Namensnennung erschienenen „Betrachtungen über die angenommenen Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland" die törichten Vorurteile, wie sie in Flugschriften und Zeitungsartikeln laut geworden waren, zu beseitigen und durch Hinweis auf die Bedeutung des allen Stämmen gemeinsamen Bildungsgutes „das Ungetüm der zwei Deutschheiten" zu vernichten, damit nicht die Nation, von schwerem äußerem Unheil bedroht, durch Parteisucht und Verfolgung noch mehr gespalten werde. Denn er hatte eine hohe Auffassung 2 ) von deutscher Kultur und damit zusammenhängend von Deutschheit überhaupt; in einem Augenblick, da von einem politisch starken Deutschland noch keine Rede war, als Napoleons Imperialismus sich am mächtigsten entfaltete, betont er, „die deutsche Kultur ist durch Grund, Inhalt und Schicksal eine einzige; die Deutschheit, der durch sie umgestaltete und erhöhte Charakter unserer Völker, bildet ebenfalls eine Einheit, die weder durch politischen Zwist noch durch geographische Trennung zerschlagen werden kann; denn unerschütterlich gründet sie sich auf die Wahrhaftigkeit, die Unbescholtenheit, die freie Huldigung für das Große, die höhere Liebe für x)

Bericht Jacobis v o m 15. N o v e m b e r 1810.

Schütz, 2)

Leben.

Loewe,

B d . I.

S. 2 i i f f .

Schulkampf.

S. 380.

M. A . 204 (I.)

A. B.

1897-

Nr. 29.

— 303 — das Heilige „im Menschen, in der Kunst und in der Religion". „ W e n die Ansichten lebendig bewegen, welche durch unsere Kultur erzeugt worden sind, wer zu dem Ideale einer besseren Menschheit sich erheben kann, wer seine K r a f t daran setzt das Reich derselben durch die Herrschaft der Ideen zu begründen und zu verherrlichen, wem bei solchem Berufe keine Schicksale widerstehen, kein Umgang die Freudigkeit, kein Mißlingen die Hoffnung raubt, wem auch die Wissenschaft sich in ursprünglicher Würde und Heiligkeit samt dem Wege, der zu ihr führt, enthüllt hat, daß er durch Schrift und Wort zu ihr leiten, für sie arbeiten, für sie begeistern kann — der ist im Besitze der Deutschheit und trägt sie wandellos in seinem Herzen." 1 ) „ D e r Baum der deutschen Kultur streckt seine Wurzeln nach allen Seiten, zieht aus allen Provinzen Leben und spendet dafür freiwillige Früchte. In seinem Schatten gibt es keinen Streit des Südens und Nordens." Durchdrungen von der Größe und Einheit der deutschen Kultur trifft Thiersch mit überlegenem Spott die traurigen Gesellen, die, wie der K a meralkorrespondent von Erlangen, 2 ) den deutschen Geist nach Breitegraden abmessen, das Gemüt nach Wärmemessern auswiegen, das Reich der Ideen durch Berge trennen und die Genialität nach Weltgegenden abstecken ; der Norden — so war in einem Aufsatz desselben zu lesen — könne nicht das Vaterland der großen Geister sein; „ w o die Natur in ewiger Erstarrung liege'', produziere sie Männer, welche durch Studium und Fleiß sich Verdienste um die Literatur erwarben, wohl aber zeuge der Süden die genialischen Köpfe. Wie wohltuend berührt gegenüber solch unklaren, von kleinlichem Parteistandpunkt eingegebenen Erörterungen Thierschs Schilderung der führenden Männer des deutschen Geisteslebens aus Nord und Süd, „der ewigen Pfeiler unserer Nationalität", mit ihren kurzen, aber so treffenden, manchmal jugendlich übertreibenden Charakteristiken, die uns einen Einblick in die Denkweise des temperamentvollen Gelehrten geben. Seine Grundeinstellung ergibt sich mit aller Deutlichkeit. „Unerreicht groß" — so lesen wir — „steht Luther aus Eisleben dar, an dem aller Tadel der Jahrhunderte verschollen"; das Licht, das von Wittenberg ausging, schuf die Gelegenheit zu reicher Kulturblüte in Deutschland; in der letzten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts ergriff ein Geist, genährt durch einerlei nationalen Sinn, durch dieselbe Erziehung durch das Altertum zur Wissenschaft die Würdigsten; namentlich auf norddeutschen Universitäten, Leipzig, Halle, Göttingen und Jena, gedieh die schöne Pflanze der Bildung unter der Pflege ausgezeichneter Männer aus T h i e r s c h , Betrachtungen. S, 46, 50/51. Allgemeiner Kameralkorrespondent. Nr. 42. Norden kommt." 2)

1810.

„Über das Licht, das aus

— 304 — allen Provinzen zu einem Gemeingut. Auch in Weimar, wo sich die drei großen Dichter aus dem südlichen Deutschland vereinigten, „überall freudige Anerkennung, Teilnahme, Bewunderung des heranblühenden Morgens." Luther ähnlich an Kraft und an Geist verwandt ist Klopstock, zu Quedlinburg geboren, „der Sänger Gottes, in welchem sich zum erstenmal die Tiefe und die Hoheit eines deutschen Gemütes in voller Unermeßlichkeit und Reinheit offenbart hat". „In einem Flecken der Altmark entwickelte sich der Genius Winkelmanns; wie er durch Kunst und Kunde des Altertums, so ging Lessing, ein Lausitzer, als läuterndes Feuer durch Geschmack und Poesie so machtvoll als wohltätig wirkend hindurch und in dem milderen Herder sollte sich die umfassende Erkenntnis in der reichsten Fülle des Geistes und Gemütes verklären, damit es nach Plato noch einmal offenbar würde, zu welcher Herrlichkeit Philosophie, von Dichtung durchdrungen und verklärt, gedeihen könne." Unter den Philosophen nennt Thiersch Leibniz den Begründer der Philosophie im Norden, Kant den Schöpfer der neuesten philosophischen Periode, der glänzendsten, die nach Sokrates gewesen; er setzte ganz Deutschland in Nahrung und Tätigkeit. Die Charakteristik Jacobis, „des geist- und gemütvollen, der in ruhiger Größe durch den Norden geht, die einzige klare Erscheinung in dem Drang der Systeme", zeigt, wie viel Thiersch dem Studium seiner Werke dankt. Fichte wird als der schärfste Denker und der tiefste Mensch bezeichnet. Als Vertreter des Südens erscheinen Niethammer, der enthusiastisch als Erzieher der Menschheit und als der Philosoph unter den Theologen gepriesen wird, und Schelling, „der die hellsten Lichtstrahlen in den dunklen Schacht der Schöpfung fallen ließ". Zu den Führern in der Philosophie gesellen sich die Begründer und Förderer der protestantischen theologischen Wissenschaft, der Philologie, Astronomie und Mathematik. Friedrich, den gekrönten Geschichtsschreiber seiner Taten, feiert Thiersch als den größten Mann, den Deutschland kennt. Ein durch Tatkraft wie Geisteshoheit gleich verwandtes Paar ist Georg Forster und Alexander Humboldt, jener der hellsten Denker und gemütvollsten Schriftsteller einer und in Schrift ein Meister, wie es zu allen Zeiten nur wenige gab, dieser so tief als Forscher, als Beobachter, wie unergründlich an Gelehrsamkeit und als Schriftsteller den größten gleich, der edle Raphael Mengs, groß und genial als Maler um selbst als Schriftsteller zu seinem Freund Winkelmann zu treten. Mit den Großen verbanden sich die ihnen Befreundeten und Verwandten, selbst die Gründer und Heerführer der neueren Romantik; alle die Genien aus Süddeutschland, Goethe, Schiller, Schelling, schüttelten zürnend die goldenen Köcher und ihr heiliges Haupt, als in der nordischen deut-

— 305 — sehen Erde die Pflegerin gelästert wurde, bei der sie sämtlich Bildung gesucht und in der sie Ruhm, Verehrung und eine neue Heimat gefunden hatten. „Die wahre, die einzige und unzertrennliche Deutschheit erschien in den verbundenen Gemütern aus Norden und Süden, in denen sie lebt um das Haupt der Lüge zu zertreten." Wie sehr Thiersch bemüht ist auch seiner neuen Heimat, Bayern, gerecht zu werden, zeigen seine Ausführungen über das Eindringen der deutschen Literatur zur Zeit Max III. Joseph und sein Urteil über Westenrieder,1) den Geschichtschreiber der Akademie, „der keineswegs den Norddeutschen hold, jedoch als ein Mann von Geist und gründlichem Wissen auch im Auslande hochgeachtet und wegen seiner rücksichtslosen Geradheit und Rechtschaffenheit sowie wegen seiner lebendigen Vaterlandsliebe von allen, die ihn näher kennen, verehrt wird". Die mit innerer Wärme, behaglichem Humor und beißender Ironie geschriebene Schrift fand so lebhafte Anerkennung, daß bald eine zweite Auflage erschien. In der Nationalzeitung der Deutschen2) wurde mit Bedauern festgestellt, daß der Dämon der Trennung nun auch in das Gebiet des Geistes sich einschleiche, und der Versuch zwischen dem südlichen und nördlichen Deutschland eine eingebildete Grenzlinie zu ziehen als unlauteres Gewäsch bezeichnet, das von Bayern ausgegangen sei. Anerkennend heißt es dann von Thiersch' Schrift: „Mit einer unter den Deutschen seltenen Fülle von Witz und Spott wird der Verfasser des K.K. übergössen und mit der Herkuleskeule der gesunden Vernunft zu Boden geschlagen." Die Beweisführung über die Einheit deutscher Kultur wird als unwiderlegbar bezeichnet. Aretin ließ der Erfolg, den Thiersch erzielt hatte, nicht ruhen, und so verfaßte er eine Broschüre: „Kritische Untersuchung über Nord- und Süddeutschland", 3 ) deren Erscheinen freilich noch während der Drucklegung durch die Polizei verhindert wurde. Er will witzig sein, verfällt aber sogleich in plumpe persönliche Beleidigungen. Thiersch hatte die zweite Auflage einer von ihm hochgeschätzten Frau gewidmet. Darauf Bezug nehmend, schreibt Aretin: „Der Herr Verfasser (um den geneigten Leser sogleich mit der Inniglichkeit seiner Gefühle bekannt zu machen) dediziert sein Büchlein einem Frauenzimmer mit schönen Augen in süßer Hoffnung die ferne Freundin werde sein Unternehmen billigen, indem er den schönen Garten sächsischer4) Kultur vor bösartigen Insekten zu bewahren sucht, die an den Wurzeln seines Gedeihens nagen möchten." Der Inhalt der Schrift, a. a. O. S. 46/47. 50. Stück. 14. Dezember 1809. S. 994ff. 3) Aretiniana 2 (aus dem Nachlaß des Poli-.e'direktors v. Stetten). 4) Thiersch hatte geschrieben ,,unserer K u l t u r " . 2)

L o e w e , Friedr. Thiersch.

20

— 306 — soweit er vorliegt, zeigt die völlige Unfähigkeit des Verfassers sich über seinen beschränkten Parteistandpunkt zu erheben. W a r ihm durch das Eingreifen der Polizei der W e g sein Machwerk zu veröffentlichen versperrt, so fand er Gelegenheit auf andere Weise zu hetzen; in der oberdeutschen Allgemeinen Literaturzeitung verdächtigte er Thiersch, selbst der Verfasser der Rezension seiner Schrift zu sein; 1 ) vor allem aber nahm er 1809 in Wien längere Zeit Aufenthalt um ohne Angabe des Druckortes in Linz den „Morgenboten" 2 ) erscheinen zu lassen, angeblich eine Zeitschrift für die österreichischen Staaten, herausgegeben von einer Gesellschaft biederer Österreicher, die nach dem Vorbericht in der politischen Schule Josephs erzogen, durch Verfolgung und Druck mit traurigen, aber wichtigen Erfahrungen bereichert und mit den weisen Staatseinrichtungen des großen Napoleon seit längerer Zeit innig vertraut sind. In vier von diesem Blatt erschienenen Heften stehen eine Reihe von Artikeln, die in der gehässigsten Weise die Gegensätze zwischen dem Norden und Süden Deutschlands schürten und Napoleon gegen die Protestanten scharf zu machen suchten; deutliche Beziehungen lassen sich auch zu dem Romantikerkreis in Landshut feststellen. Den Gegensatz zwischen Nord und Süd behandelt vor allem das Fragment 3 ) eines größeren Werkes: „Süden und Norden, Roman und Geschichte zugleich"; es sind Briefe und Tagebuchblätter. August ist nach Sachsen gefahren und berichtet von seinen Beobachtungen; er findet die Bildung im Norden durchaus nur auf den Verstand gerichtet. „Ich traf überall nur Köpfe, nirgends Herzen an." „Zwar ertönte ein ganzes Wörterbuch süßer Phrasen, von Freundschaftsversicherungen, von der Seligkeit eines harmonischen Lebens, volle Körbe poetischer Blumen wurden ausgeschüttet über die alltäglichsten Dinge, doch ohne die mindeste Herzensergießung. Es ist diese Geisterkost nur ein Surrogat für die gute süddeutsche Küche." In Tagebuchblättern teilt 4 ) ein Herr von Grau seiner Schwester seine Erfahrungen im katholischen südlichen Deutschland mit; „dort prädominiert offenbar der Körper über den Geist, während im nördlich-protestantischen der Geist über den Körper. Der Überfluß der Natur ruft im Süden jede Art von Luxus und namentlich übermäßige Eßgier hervor; hier herrscht Finsternis, Aberglaube, Unempfindlichkeit für das Gute, Unbehilflichkeit des Geistes, dort Licht, eine vernünftige praktische Religion, Sinn für das Bessere, hohe Fertigkeit und Bildung des Geistes; hier schwingen noch die Priester ihr Szepter, nähren den Zunftgeist, verkrüppeln durch ihren Unterricht die Jugend, dort sind die Priester Lehrer der Religion und Tugend; die Schulen schreiten fort. Freilich — damit schließt das Fragment — über Baiern waltet jetzt ein besserer Genius, seit wir im Land sind; möchte doch sein Einfluß dauernd sein, damit deutsches schönes Land endlich wieder ein deutsches Land werde." 2

) seinen 3 ) , ßai.tfzrjv, die Stämme

ßaXtto, an:

ßoXtfoo,

ßXe,

ßaX,

¿ßdXrjaa,

ßeßdXijxa,

ßdXX und

ßoXt;

er erkennt die Abhängigkeit der Formen von den Wurzelsilben, welche teils dem ganzen Zeitwort als Wortstämme, teils den Formenschichten der einzelnen Tempora als Tempusstämme, als ein Unveränderliches zugrunde liegen, und aus denen durch Vereinigung mit den das Tempus, den Modus und die Person bestimmenden Buchstaben und Silben eine jede vorkommende Form sich hervorbildet; da zwischen den Stämmen ßsX und ßa'/., ßaX und ßaXX, ßeX und

ßoXe

eine bestimmte Analogie

waltet,

auf der

die ganze Lehre der A n o m a l a als auf einer gemeinsamen Grundlage ruht, so reiht er sie nach dieser Analogie zusammen.

Dieses Verfahren setzte sich in den später er-

scheinenden Lehrbüchern durch, so daß Thiersch 1854 von einem „gemeinsam gewordenen Erwerb sprechen kann."

Durch Übersetzung der Tabellen und der Gram-

matik wurde es auch im Ausland bekannt und fand durch die Arbeiten des Gennadico in den Schulen des neuen Griechenland

Eingang.

Ebenso notwendig wie die Reform der Formenlehre hielt Thiersch 2 ) die der Syntax. Ihr muß die allgemeine Lehre von der Wortverbindung oder von der menschlichen Rede, welche auf rein logischen Gesetzen beruht und auch ihrerseits das Mannigfaltige in seinen inneren Zusammenhang bringen und zur Einheit erheben, dadurch aber die Überzeugung gewähren soll, daß in den Lehren selbst alles und jedes an den ihm gebührenden Platz gestellt ist, als allgemein gültige Grundlage dienen. Jede Grammatik einer einzelnen Sprache kann nur die Anwendung dieses Allgemeinen auf den einzelnen Fall sein. Thiersch sah sich bei der Abfassung seines Werkes vor die Schwierigkeit gestellt, daß eine solche allgemeine Sprachlehre fehlte, ja daß auf diesem Gebiete selbst unter den Vertretern der grammatischen Studien die größte Unklarheit herrschte. Er faßte daher mehr als einmal den Entschluß 1)

Thiersch,

2)

Thiersch,

Griech. Gram.

S. 702/703.

Schulgrammatik.

Vorrede.

S. X f f . 23*

— 356 — die deutsche Grammatik in dieser Weise als die allgemeine Grundlage der griechischen, lateinischen und selbst der romanischen zu behandeln, welche jede Spezialgrammatik voraussetzen und für ihren besonderen Zweck gebrauchen könnte. Diese einzelnen würden sich dann mit gleichem Schematismus der Anordnungen und Gliederungen, mit gleichen Bestimmungen des Begriffes und übereinstimmender Terminologie als Parallelgrammatiken der einzelnen Sprachen darstellen, wodurch eine große Erleichterung im Erlernen der Sprachen erreicht werde. In diesem Sinne erörterte Thiersch die Frage auf der Philologenversammlung in Bonn. Seine eigene berufliche Überlastung machte es ihm unmöglich den Plan selbst auszuführen; daher nahm er das Wesentliche zwischen die konkreten Lehren der griechischen Sprache als Basis derselben auf. Was den Inhalt dieses im Lehrbuch zerstreuten Allgemeinen betrifft, so schließt sich das auf Silben-, Wort- und Formenbildung Bezügliche dem Überlieferten in den meisten Punkten an; in der Syntax oder Lehre von der Wortverbindung geht Thiersch von der Überzeugung aus, daß es sich hier neben den Eigenheiten im Gebrauche jeder Wortart vor allem um Beziehungen und Verhältnisse der Wörter zueinander, sowohl der Nomina als der Verba handle. Er sucht die Grundverhältnisse der Nomina in der Art zu bestimmen, daß neben den genitiven, akkusativen und ablativen (mit Einschluß der dativen) ein weiteres nicht gegeben und nicht erweislich ist. Da'die Partikeln ihre Bedeutung erst durch ihre Beziehung auf den Satz erhalten, in dem sie auftreten, werden sie hier besonders behandelt. Bei der Verbindung der Sätze vertritt Thiersch die Ansicht, „daß jeder Satz als eine Vereinigung mehrerer Begriffe sich seinerseits deshalb als einen kombinierenden Begriff mit Bezug auf Zeit, Ursache und Modalität darstellt und darum dem einfachen Nomen als ein aus mehreren Begriffen zusammengesetztes entgegentritt". Er nimmt daher an, daß zwischen den Sätzen dasselbe Verhältnis wie zwischen den Nominibus stattfindet, daß also die ablativen, genitiven und akkusativen Verhältnisse zwischen den Sätzen im wesentlichen diesen Teil der Syntax erschöpfen. „Das ablative Verhältnis t r i t t ' ' nach seiner Anschauung deutlich „als das der äußeren Beziehung des Einen auf ein Anderes, durch welche ihre innere Struktur nicht berührt wird", hervor. „Es ist auch hier das Beieinander und Nacheinander der zu Sätzen erhobenen Begriffe oder Verhältnisse und begreift darum alle Fälle der einfachen Kopulation, der Nebenordnung, des Gegensatzes, der Disjunktion; dann die relativen Sätze, welche sich in ihren einfachen Formen dem ablativen Verhältnisse anschließen. Für diese Beziehungsweise ist von mir der Name der Parataxis gewählt und seitdem in die Grammatik von mehreren Seiten aufgenommen worden." In dieser Parataxis sieht Thiersch den Schlüssel zur homerischen Satzlehre, die einen Übergang aus der Parataxis zur Syntaxis darstellt. Der Syntax im engeren Sinne schreibt Thiersch die Aufgabe zu das innere Verhältnis der Sätze zu untersuchen, durch welches nach Umständen ihre Struktur bedingt und gestaltet wird, „indem der eine des anderen Zeit, Ursache, Bedingung, Erstreckung und Absicht enthält und dadurch beide als innerlich verbundene Glieder einer und derselben Vorstellung erscheinen läßt. Keines kann ohne das andere gedacht werden, beide zusammen sind die auseinandertretenden Teile einer Gesamtvorstellung, und die Ansicht, nach der die Sätze in keinem anderen Verhältnis als die Nomina stehen können, erhält dadurch ihre tatsächliche Bestätigung, daß hier die genitiven

— 357 — und akkusativen Beziehungen zwischen diesen allen offen liegen und der sie enthaltende Satz deshalb in den Genitiv oder Akkusativ zurücktritt, wo die Form des Satzes aufgehoben und er auf ein Nomen zurückgeführt wird."

Gleichzeitig mit der x. Auflage der Grammatik erschienen 1 8 1 2 die Untersuchungen 1 ) Dissertatio de verborum modis, quibus apud Homerum tempora et causae rerum indicantur; da Gottfried Hermann in zwei Dissertationen: De legibus quibusdam subtilioribus sermonis Homerici, Leipzig 1 8 1 2 und 1813, Thierschs Auffassung bekämpfte, antwortete dieser mit der „Dissertatio, qua leges de usu Modorum apud Homerum contra Hermanni Dissertationes defenduntur". 2 ) J e länger und gründlicher er sich mit Homer beschäftigte, um so unerträglicher erschien ihm eine Auffassung, wie sie z. B . noch Heyne vertrat, der die Ursache des scheinbar willkürlichen Gebrauchs der Modi des Indikativs, Konjunktivs und Optativs durch den Dichter in der Unvollkommenheit des Homerischen Dialektes sah. Die sorgfältigste kritische Vergleichung aller in Betracht kommenden Stellen ließ in ihm vielmehr die Überzeugung reifen, daß die vollkommene epische Sprache Homers, qua nihil ad percipiendum neque clarius cogitari potest neque iucundius, auch in der S y n t a x und besonders in den Beziehungen zwischen den einzelnen Sätzen in Erscheinung tritt und ganz bestimmten Gesetzen unterworfen ist. Für die Temporalsätze werden drei aufgestellt und durch geschickt gewählte Beispiele erläutert, indem zwischen einmaligen Ereignissen der Vergangenheit, zwischen Wiederholung in der Gegenwart und Vergangenheit, zwischen tatsächlichem Geschehen und Vorstellen unterschieden wird. In einem Epimetrum ad duas priores praecedentis dissertationis partes 3 ) zieht er auch Stellen aus Hesiod, den Dichtern von Hymnen, Gnomen, Elegien und Epigrammen sowie Bukoliker und Lyriker zum Vergleich heran. Im dritten Teil findet Thiersch zwei Regeln, nach denen sich die sententiae causales richten. Einen Teil dieser Aufstellungen griff Gottfried Hermann 4 ), damals einer der anerkanntesten Führer auf grammatikalischem Gebiet, entschieden an. In der Auffassung des Homerischen Dialektes als der Quelle der späteren Sprachentwicklung stimmen Lehrer und Schüler weitgehend überein; die Abweichung beginnt erst in der Auffassung des Wesens der Modi. In vornehmer Weise verteidigte sich Thiersch, indem er die schwachen Punkte der Beweisführung klar hervorhob. Hermann hatte übersehen, daß Thiersch die in seiner Grammatik bereits näher begründeten Regeln in den Abhandlungen der Acta nur noch schärfer erläutern wollte; daher bedeuteten seine Einwände nicht so sehr eine Widerlegung der Modilehre, wie sie Thiersch gegeben hatte, als eine Entgegenstellung seiner eigenen Ansichten. Den Kernpunkt des Angriffs sieht Thiersch mit Recht in der Definition der Modi; Hermann 6 ) nimmt an, daß alle temporalen, kausalen und finalen Konstruktionen den gleichen Regeln folgen; sie haben nämlich das gemeinsam, wovon die Art der Konstruktion abhängt, die „conditio". „ E s t autem omnis conditio talis, x ) Acta Phil. Mon. I, 1. pars prima S. i f f . , pars secunda. S. 435 ffa ) Ebenda. S. 468 ff. 3 ) Acta I. S. 2 0 5 f f . 4 ) Dissertatio prima S. I I I . e ) a. a. O. S. IV.

S. I 7 5 f f . pars tertia,

— 358 — ut aut vere esse aliquid vel non esse aut posse esse dicatur. Hoc postremum rursus duplex est: nam quae possunt esse, ea, si philosophorum more loqui licet, aut objective possibilia sunt aut subiective.... His rationibus indicandis inventi sunt modi, Indikativus, Konjunktivus, Optativus". Diese Definition der Modi findet Thiersch lückenhaft, da der Imperativ fehlt und Hermann zwar den Begriff der Möglichkeit, nicht aber den der Notwendigkeit berücksichtigt; zudem stehen Indikativ und Optativ für sich völlig unabhängig; während der Begriff der Bedingung nur dem Konjunktiv eignet, will Hermann denselben zum Fundament der Moduserklärung machen. Über die Unterscheidung des obiective aut subiective possibilia spricht sich Thiersch nicht näher aus, da er sie für die Erklärung des Wesens der Modi nicht für so bedeutsam hält. In der Methode der Spracherklärung zeigt sich zwischen Hermann und Thiersch eine weitgehende Ähnlichkeit: beide untersuchen die Konstruktion jeder Partikel und jedes Satzes, sammeln und vergleichen die Beispiele und beobachten den sermo homericus und forschen nach den Gründen der Konstruktion, wie sie mit der Natur des Modus und der K r a f t der Partikel zusammenhängt. Von hier ab scheiden sich die Wege; findet Hermann eine doppelte Konstruktion, verteidigt er häufig beide als richtig; Thiersch nimmt, falls eine Erklärung versagt, eine Verderbnis der Lesart an. Als Hauptstreitpunkt bezeichnet er Hermanns Behauptung, die Partikeln haben keinen Einfluß auf die Modi des Verbums. In ausführlicher Beweisführung sucht er diese zu widerlegen.

Gerade in jene Jahre angestrengter wissenschaftlicher Tätigkeit fällt endlich Thierschs Bekanntschaft mit dem später als Begründer der allgemeinen vergleichenden Sprachwissenschaft gefeierten Franz Bopp. 1 ) Dieser hatte an der Universität zu Aschaffenburg den bestimmenden Einfluß auf sein Leben und seinen Bildungsgang durch Karl Joseph Windischmann erfahren, der als junger Arzt, Philosoph und Altertumsforscher nach dem Erscheinen von Schellings „Ideen zu einer Philosophie der Natur" zum begeisterten Anhänger dieser Richtung geworden war. Durch seine von tiefstem Gefühl getragenen philosophischen Vorträge regte er seinen Schüler an, sich mit der Sprache und Literatur des Orients, namentlich Indiens zu beschäftigen, zumal seit Friedrich Schlegels Buch von der „Sprache undWeisheit der Inder" (1808) das neue Evangelium verkündete. Für die Vertiefung seiner linguistischen Studien wirkte während eines Pariser Aufenthaltes vor allem De Sacy, das Haupt der französischen Orientalisten, durch die ihm eigene Gründlichkeit, durch die Klarheit des Denkens und des Ausdrucks und sein lebendiges Interesse für Wissenschaft überhaupt; bei ihm trieb er vor allem Arabisch und später Persisch. Im Sanskrit blieb er von Anfang bis Ende Autodidakt; bald bewunderte er in dieser Sprache die deutliche Struktur ihrer Glieder und Formen, ihre Verbindung von Wurzeln und Stämmen mit Flexions- und Ableitungssilben, die Regelmäßigkeit und Harmonie ihres ganzen Baus, die strenge Analogie; auffallend war ihm die Verwandtschaft mit dem Griechischen, Lateinischen und anderen europäischen Sprachen. Nachdem schon bald *) L e f m a n n , Bopp.

S. 5 4 f f .

— 359 — der Gedanke aufgetaucht war als Vorbereitung einer besonderen Sanskritgrammatik eine vergleichende Grammatik zu schreiben, erschien die epochemachende Erstlingsschrift Bopps: „Über das Konjugationssystem der Sanskritsprache"; es war der Anfang zur Schöpfung der vergleichenden Sprachwissenschaft, „der Grundstein eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes". 1 ) Die Genialität der Schrift lag in der Methode. Als gereifter Mann von gründlichem Wissen und Können kam Bopp nach München,2) wo er bei Schlichtegroll, Schelling undThiersch die freundlichste Aufnahme fand; auf ihren Rat suchte er nach in die Akademie als Adjunkt aufgenommen zu werden; doch, da der König zuerst eine Prüfung der bisherigen Fortschritte verlangte, sahen sich Thiersch und Scherer, die Mitglieder der philologisch-historischen Klasse, vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Sie lösten sie sehr geschickt dadurch, daß sie dem schon als Forscher berühmten Mann Gelegenheit boten seine grundlegenden Ansichten über Sprachverwandtschaft im Griechischen, Arabischen und Sanskrit, den bisherigen Gang seiner allgemeinen und orientalischen Sprachstudien, die obersten Grundsätze und Kautelen, die er für Etymologie und Sprachvergleichung annehme, sowie seine Stellung gegenüber Friedrich Schlegels Einteilung aller Sprachen in flektierte und zusammengesetzte, und die Vorteile des Sanskritstudiums zu entwickeln. Thiersch rühmte in seinem Gutachten Bopps vorzügliche Befähigung. „Sein ausgezeichnetes Talent, die Besonnenheit und Sicherheit seiner Ansichten rechtfertigten die größten Hoffnungen, die seine früheren Studien bereits erregt haben." Trotz der entschiedenen Bemühungen der Akademie dem jungen Gelehrten die Fortsetzung seiner Arbeiten zu erleichtern dauerte es längere Zeit, bis der König eine außerordentliche Unterstützung von jährlich iooo fl. auf zwei Jahre mit dem beschränkenden Zusatz bewilligte, daß die Akademie die Überwachung der Studien übernehme. Ein uns erhaltener Bericht 3 ) Bopps (vom 17. Oktober 1820) gibt wichtige Aufschlüsse über seine Arbeitsweise und wissenschaftlichen Absichten, die mit Thierschs Ideen mannigfache Berührung zeigen. Gerade die Beschäftigung mit dem Sanskrit eröffnete ihm bedeutende Einsichten in die Sprachbildung und erweckte in ihm die Begierde „die Sprache als Naturerzeugnis, d. h. ohne Beziehung auf die Literatur, die Werke der Menschen als einen Gegenstand philosophischer Wissenschaft zu betreiben. — Denn wenn es von Wichtigkeit ist Pflanzen und andere Naturx

) ) Bopps 3 ) 2

L e f m a n n , Bopp. S. 5 3 . Ebenda. S. 58 ff. Die Darstellung Lefmanns beruht auf dem Personalakt in der Akademie. Teile gedruckt im Anhang. S. 1 1 5 f f . Gedruckt bei L e f m a n n , a. a. O. S. 1 1 7 / 1 1 8 .

— 360 — gegenstände zu durchforschen, ihr eigentümliches Wesen zu ergründen und sie zu klassifizieren, so ist es gewiß von nicht geringerem Belang die zahlreichen Sprachen unseres Erdballs kennen zu lernen, ihren Charakter aufzufassen und ihre Bildung bis zu ihren einfachsten Elementen zu verfolgen, sie unter sich zu vergleichen und so viel als möglich nach Stämmen zu ordnen, ein Studium, welches dem Geschichtsforscher wie dem Philosophen gleich erheblichen Aufschluß zu geben vermag. E s wird demnach die Sprache, die von vielen nur als Werkzeug der Erkenntnis angesehen, zu wirklichem Gegenstand der Erkenntnis erhoben". Aufmerksam verfolgten die Münchner Freunde Bopps Arbeiten in London, namentlich die Herausgabe eines Originalfragmentes des Mahabaratha, die Erzählung von Nal und Damajanti im Urtext mit Übersetzung. Gleichzeitig bemühten sie sich dem hervorragenden Forscher eine Professur für morgenländische Sprache an einer bayrischen Universität zu verschaffen. 1 ) Auch die Minister Zentner und Thürheim wurden für diesen Plan gewonnen, offenbar nachdem Alexander v. Humboldt zugleich im Namen seines Bruders beim Kronprinzen lebhaft für ihn eingetreten war. Zentner dachte an eine Anstellung an der Akademie, sprach auch schon von einer Verlegung der Universität nach München. Bis eine passende Verwendung gefunden war, — die philosophische Fakultät der Universität Würzburg lehnte das Gesuch ab — setzte Bopp seine Studien in Göttingen fort, nachdem er in Erlangen Kanne, „den Mann von Genie", und Schelling, der dort Vorlesungen hielt, besucht hatte. An der Georgia Augusta fand er die besondere Unterstützung Heerens und des Archäologen Karl Otfried Müller; die Fakultät ernannte ihn zum Ehrendoktor. In Berlin sollte sich dann sein Schicksal entscheiden, denn Wilhelm v. Humboldt schätzte Bopps Sprachstudien sehr hoch. Begeistert teilte 2 ) dieser Schlichtegroll eine briefliche Äußerung des großen Humanisten mit: „Ich studiere bis jetzt wenigstens das Sanskrit bloß der Sprache, nicht der Literatur wegen; aber ich bin vollkommen überzeugt, daß es für jeden, der Sprachstudien treibt, ein unerläßliches Bedürfnis ist, es so tief als immer es die Umstände erlauben, zu kennen." Humboldt war es auch, der ihn bei Altenstein, Süvern und Nicolovius einführte und erwirkte, daß das Ministerium ihm eine außerordentliche Professur an der von ihm begründeten Hochschule anbot (9. September 1821). Die bayrische Regierung machte zwar noch einen schwachen Versuch den berühmten x ) Schlichtegroll an Bopp, 7. April 1820, bei L e f m a n n , a. a. O. S. 1 ig ff. „ I c h weiß, daß Schelling ganz mit mir, Herrn Thiersch und Weiller darin übereinstimmt, eine baldige Professur sei das beste Mittel, Ihre Wünsche zu befriedigen und Sie auf dem schön betretenen Wege fortzuleiten." 2 ) Personalakt. Nr. 4 1 .

— 361 — Bayern zu halten, indem sie ihm eine „entsprechende Verwendung bei der ersten sich dazu bietenden Gelegenheit" versprach. In einem Brief an Schlichtegroll 1 ) hob jedoch Bopp klar die Gründe hervor, die ihn bestimmen mußten lieber in preußische Dienste zu treten, vor allem die ehrenvollen Bedingungen und das Versprechen einer ordentlichen Professur sowie die in Aussicht stehende Aufnahme in die Akademie, „während mich das bayrische Ministerium noch beinahe wie einen Schüler behandelt, dem man zu seiner Ausbildung Universitäten zu beziehen gestattet". E r wollte natürlich lieber einem Staate dienen, der ihn zweckmäßig verwenden könnte, als seinem teuern Bayern, wo seine Dienste überflüssig schienen. Auf Universitäten, wo den Studenten ihre Kollegia vorgeschrieben, sei auch für ein Fach, das nicht zu den sogenannten Brotstudien gehöre, wenig Teilnahme zu erwarten. Bopp sah sich also einem Widerstreit von „engherzigem Sonderwesen und dem freien unabhängigen Geiste seiner Wissenschaft gegenüber". In ihm fand er als Bundesgenossen die preußische Regierung und seine Freunde an der Akademie; die philologischphilosophische Klasse befürwortete (3. November 1821) selbst beim König Bopps Gesuch. Max Joseph ließ sich umstimmen und Bopp nahm den Berliner Ruf an. Thiersch vertrat in diesem Falle Grundsätze, die er wenige Jahre später so überzeugend entwickelte; 1826, bei der Verlegung der Universität nach München, war es ihm vergönnt auch der Ludovica Maximiiiana die Lernfreiheit zu verschaffen. Umfassende Arbeiten im Dienste des Neuhumanismus brachten die Jahre 1823—24. Durch königliche Verfügung vom 14. Dezember 1823 wurde nämlich das philologische Institut nach Einvernehmen der Akademie in nächste Verbindung mit derselben gebracht. Das gab Thiersch Veranlassung in einem eingehenden Vortrag der philologisch-historischen Klasse alle einschlägigen Fragen zu erörtern. E r begrüßte die Umgestaltung der Verfassung, wodurch der Anschluß bestehender wissenschaftlicher Anstalten an die erste wissenschaftliche Anstalt des Königreiches erst ermöglicht wurde, insbesondere aber die Bestimmungen über die wesentlich erhöhten Aufgaben des philologischen Instituts. Daß die Vorschläge dazu von ihm selbst sind, kann nicht bezweifelt werden, und so dürfen wir in ihnen das Programm sehen, das er für die weitere Pflege des Neuhumanismus aufgestellt hatte. Die Ausführungen in der Klasse sind die beste Erläuterung zu den kurzen Bestimmungen des kgl. Dekretes. 2 ) Als erste wichtige Aufgabe des Institutes fordert dasselbe „Gründung und Beförderung des philologischen Studiums im h ö h e r e n Sinn." Das philologische Studium um-

2

Personalakt Bopps, 23. Oktober 1 8 2 1 . ) Das gesamte Quellenmaterial: Tbierschiana

104.

— 362



faßt aber — so hören wir — nicht nur die Sprache und Literatur des klassischen Altertums, sondern auch die ganze alte Gelehrsamkeit als das durchaus notwendige Werkzeug zum Verständnis der alten Sprachen sowohl als der Werke der Literatur, also außer Grammatik und Kritik und den beiden ergänzenden Disziplinen der Metrik, Rhythmik und Musik, Geschichte der alten Völker mit Rücksicht auf Chronologie, Geographie und mit tiefen Einblicken in die Einrichtungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse, der Verfassungen und Verwaltungen ihrer Staaten, Studium ihrer religiösen Ansichten und Anstalten, Geschichte der Wissenschaften und Künste in ihrem ganzen Umfang. Seit der Wiederherstellung der Literatur unter allen wissenschaftlichen Völkern sind die klassischen Studien nicht nur die Grundlage der wissenschaftlichen Erziehung, sondern auch die Grundlagen der höheren Bildung gewesen als die Quellen eines durch die Muster des Altertums geläuterten Geschmackes und gebildeten Urteils und als die Basis, auf der die Studien der Philosophie, der Geschichte, Politik und Beredsamkeit, ja selbst die Urkunden der christlichen Religion gegründet sind. Diese Studien im höheren Sinne gründen, kann daher nach Thierschs Überzeugung bloß heißen, „sie zur Wissenschaft erheben, und da hier von Erziehung für dieselbe die Rede ist, die Zöglinge desselben durch Lehre, Übung und Beispiel über den gemeinen Betrieb und den Hausbedarf genügsamer Halbheit hinaus auf den wissenschaftlichen Weg ihrer Behandlung zu leiten." Als erste Aufgabe erwächst daher den Lehrern am Institut die Anleitung der Zöglinge zu grammatisch-historischer Behandlung der schriftlichen Denkmäler des Altertums durch Lehre und Übung; was die anderen Disziplinen betrifft, so müssen die Lehrvorträge den Umfang, die Hilfsmittel und das Wesentliche derselben umfassen; zugleich ist Anleitung zu geben, wie die durch Übungen gewonnene gründliche Behandlung der Schriftsteller aüf wissenschaftliche Gegenstände im Gebiet der Geschichte, der Mythologie, der Antiquitäten, der Archäologie und der übrigen philologischen Wissenschaften zu übertragen sei. Der so erteilte Unterricht bereitet zugleich die Lösung der zweiten Aufgabe vor, die dem Institut geworden ist, „die Bildung künftiger Professoren zu vollenden". Thiersch deutet den königlichen Auftrag dahin, daß diese Männer nicht nur eine umfassende Kenntnis des Altertums besitzen, sondern auch in den Stand gesetzt werden sollen durch gute Methode des Unterrichts und einen freien gebildeten Vortrag ihrem wichtigen Beruf auf eine volle Weise zu genügen. Die näheren Bestimmungen hierüber will er in einer Lehrordnung niederlegen und erbittet sich die Vorschläge der Kollegen. Ausführliche Erörterung erfordert die Bestimmung des kgl. Dekretes, daß das Institut dem Staatsministerium unterstellt (§ 2) und seine übrigen Beziehungen und Verhältnisse nach acht Paragraphen der akademischen Statuten und der allgemeinen Geschäftsordnung geregelt werden (§ 3). Das philologische Institut wird damit zu einer mit der Akademie verbundenen Zentralanstalt des Staates erhoben; gemäß der allgemeinen Ermächtigung der Klassen, zu besonderen Zwecken auch Unterabteilungen (Sektionen) zu bilden, gestattete ein nachträgliches Reskript (12. Januar 1824) die Errichtung einer philologischen Sektion zur Förderung der wissenschaftlichen Aufgaben der Akademie. Da die Vorstände der mit der Akademie in Verbindung zu setzenden Anstalten in den bleibenden Personalstand gehören sollen, rückten Thiersch und K o p p in diese Stellung ein. Die Berücksichtigung der akademischen Statuten und der Geschäftsordnung ergab die Notwendigkeit das Verhältnis des philologischen Instituts zur philologischen Sektion, zur philologisch-historischen Klasse und zum beständigen Sekretär zu regeln. Als vordringlichste Aufgaben waren daher zu lösen, für das philologische Institut eine Lehr- und eine Geschäftsordnung aufzustellen. In Ansehung der Fonds blieb es bei der bisherigen Ordnung.

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Schwere Sorge machte Thiersch die finanzielle Seite der Frage des philologischen Nachwuchses. Mit der ihm eigenen Offenheit entwickelte er in der philologischhistorischen Klasse die Gründe, welche dem Eintritt begabter Talente begüterter Klassen in den Lehrstand entgegenstehen: der Mangel an Auszeichnung und hinreichendem Gehalt; Bayern dürfe hierin nicht gegenüber anderen deutschen Staaten zurückstehen; jetzt treibe hauptsächlich die Armut zu diesen Studien, einen großen Teil ihrer Zeit müssen die Anwärter dem Erwerb ihrer Subsistenzmittel zuwenden; zudem kommen sie nur notdürftig vorbereitet zu den Studien (1824 mußten von 27 20 zurückgewiesen werden). Wie der Staat für die künftigen Volkslehrer Seminare errichte, wo er sie nicht nur unterrichte, sondern auch verpflege, so müsse er auch für die künftigen Studienlehrer die notwendigen Mittel bereitstellen. Sonst könne das philologische Institut seine Aufgabe nicht erfüllen. Gegenüber drei Einwendungen war die Verbindung des Institutes mit der Akademie zu verteidigen; einmal, warum wurde das bestehende Verhältnis mit dem Lyzeum aufgelöst? E i n äußerer und innerer Grund waren maßgebend: nach der Aufhebung der Studiendirektorate wurden das Lyzeum und das Gymnasium unter die Kreisregierung gestellt; daher mußte das Institut als eine auf den Staatsdienst unmittelbar vorbereitende Anstalt einem Ministerium anheimfallen, das es in dem ihm gebührenden Rang erhalten konnte. Beim Lyzeum gelassen, zumal nach der untergeordneten Stellung desselben, war sein Dasein an einzelne Persönlichkeiten und zufällige Rücksichten geknüpft; es haftete ihm noch die Art seines Ursprungs aus einer Privatunternehmung an, und eine Änderung im Personal — wie leicht und über Nacht kann sie eintreten! — die Ungunst einzelner Individuen konnte sein Erlöschen herbeiführen. Durch das kgl. Dekret wurden alle diese Gefahren beseitigt; denn in der Akademie, dem Verein wissenschaftlicher Männer, wird nach Thierschs Überzeugung ,der Geist nicht erlöschen, der jedem Gebiete der Forschung Ehre und Pflege gewährt und eben dadurch ein wissenschaftlicher ist, daß er erhaben über Zunft und Innung die Wissenschaft als ein Ganzes anerkennt, dessen Würde von der Wirkung aller seiner Mitglieder abhängt. In diesem akademischen Geist, zugleich in den akademischen Statuten liegt für die philologische Anstalt Gewähr für Gegenwart und Zukunft". Die Regierung werde zu Vorstehern nur Männer machen, die zugleich würdig sind Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu sein, Unterricht und Methode werden stets wissenschaftlich sein; denn die philologische Sektion als Beraterin und Leiterin ihm vorgestellt, werde gegen Halbwisserei und Einseitigkeit die Forderungen der Wissenschaft geltend machen; die Akademie ist das Asyl der klassischen und philologischen Studien, falls es gilt Angriffe der Barbarei abzuwehren. Der zweite Einwand betraf die Frage: Widerspricht nicht das Wesen der Akademie, die wissenschaftlich unabhängig ist und um ihres Namens würdig zu sein einen höheren Standpunkt einnehmen muß, einer Verbindung mit dem philologischen Institut ? Da es sich hier nicht um eine in der Idee zu entwerfende, sondern um eine nach Umfang und Gliederung ihrer Bestandteil gegebene Anstalt handelt, der eine ganz bestimmte Richtung ihrer Wirksamkeit vorgeschrieben ist, so kann nach Thierschs Meinung die Frage nur so gestellt werden, ob die Verbindung mit einer derartigen Anstalt zweckmäßig sei. Unwillkürlich denkt man an die Erörterungen, die aus Anlaß der Gründung der Berliner Universität stattfanden, als Schleiermacher an das Bestehende anknüpfte, während Fichte eine Hochschule forderte, die der ihm vorschwebenden Idee entsprach. Thiersch braucht also nur zu zeigen, daß die Münchner Akademie gemäß § 4 ihrer Statuten auch die klassischen Sprachen und ihre Literatur als gegebenen Bestandteil umfaßt, in ihrem Gebiet durch Lehre praktisch wirken muß und deshalb mit anderen wissenschaftlichen Instituten in Verbindung

— 364 — gebracht werden soll um jenen Einwand zu widerlegen. „Indem die Akademie dazu beiträgt und darüber wacht, daß dem Vaterland und seinen wissenschaftlichen Anstalten junge Männer erzogen werden, die imstande sind den edelsten Teil seiner Jugend zur klassischen Bildung zu führen und die gehobenen und entwickelten K r ä f t e derselben der Pflege der Wissenschaften und den Anforderungen des Vaterlandes zu übergeben, wird sie vor ihrem eigenen Bewußtsein wie vor den Augen der Mitbürger als in einer heilsamen, ihr selbst zu Ehren und dem Vaterland zum Nutzen gereichenden Tätigkeit begriffen erscheinen." Der dritte Einwand betraf die Verbindung des philologischen Institutes mit der Universität. Thiersch war überzeugt, daß das Gedeihen desselben in der Gemeinschaft der übrigen wissenschaftlichen Studien am vollkommensten gesichert sei; aber im Augenblick handelte es sich um Verhältnisse, die nicht geändert werden konnten. Erlangen besaß ein philologisches Seminar mit zwei erfahrenen Vorstehern, doch war es ursprünglich zunächst für die Theologie berechnet und bestimmt ihr eine philologische Grundlage zu geben; auch jetzt werde es fast ausnahmslos nur von ärmeren Theologen besucht; seine Vorsteher selbst klagen, daß diese Mitglieder, beengt von dem Kollegienzwang, von dem leider! unsere bayrischen Universitäten noch fortdauernd niedergedrückt werden, nicht imstande seien den philologischen Studien die nötige Zeit zu widmen, so daß das Studienlehramt fast keinen Gewinn aus dieser Anstalt ziehe. Würzburg und Landshut hatten niemals philologische Seminare und entbehrten noch fortdauernd nicht nur eines umfassenden philologischen Studiums und seiner Hilfsmittel, sondern auch der Vorbedingungen, unter denen allein es eingeleitet und begründet werden kann. Wenn sich diese Verhältnisse ändern sollten und an den drei Landesuniversitäten, unter Ast in Landshut, unter Döderlein in Erlangen, Seminare entstünden, in denen die Philologie als Kunde des klassischen Altertums in dem von Thiersch geforderten Geist und Umfang betrieben werde, dann wolle er als erster das Münchner Institut für überflüssig erklären. A m 10. November 1824 hatte Thiersch den Entwurf einer „Einrichtung und Lehrordnung des philologischen Instituts bei der Akademie der Wissenschaften" beendet. Die Aufgaben desselben sind der Bestimmung des kgl. Dekretes entsprechend formuliert. Als ordentliche Mitglieder können nur die aufgenommen werden, die ein Gymnasium absolviert und wenigstens ein J a h r an einem Lyzeum oder der Universität philosophische Studien betrieben haben. Um aber die Pflege der Altertumswissenschaft auch einem größeren Kreis der Gebildeten zu erschließen, werden auch außerordentliche Mitglieder aufgenommen. Die §§ 4—6 regeln die Arbeit der Vorstände: der erste (damals Thiersch) trägt jedesmal in Zeit von zwei Jahren in drei bis vierwöchentlichen Lehrstunden die Geschichte der griechischen und römischen Literatur sowie die Mythologie und Archäologie vor; desgleichen hält er ebensoviele Stunden Vorlesungen über einen griechischen und in ebensovielen über einen lateinischen Schriftsteller; der zweite Vorstand (damals Kopp) trägt in demselben Zeitraum von zwei Jahren alte Geschichte mit steter Rücksicht auf Chronologie und Geographie, desgleichen über die Antiquitäten und die Geschichte der alten Philosophie und Beredsamkeit vor. Umfassend geordnet sind die Übungen in der exegetischen und kritischen B e handlung alter Schriftsteller (§ 7). Jede Woche bestimmt der erste Vorstand an zwei Tagen eine Zeit von einer bis zwei Stunden, in welcher sich sämtliche Mitglieder versammeln um eine von zwei aus ihrer Mitte unter der Leitung des Vorstandes in lateinischer Sprache zu haltende Disputation über schwierige Stellen einmal eines griechischen und abwechselnd eines lateinischen Schriftstellers anzuhören. Eine besondere Beilage (A) gibt eine genaue Anleitung für die Abhaltung solcher Dis-



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putationen; verwertet wurden die Erfahrungen in Göttingen, Halle und Leipzig. Mit diesen Disputationen, deren Hauptzweck es ist das Verständnis der alten Klassiker durch gründliche Erörterungen der Schwierigkeiten und durch die Ausgleichung widerstreitender Ansichten herbeizuführen, wird der Vorstand Vorträge über die Hauptpunkte der höheren Grammatik, der Kritik und Metrik verbinden. An diese Arbeiten werden praktische Übungen im Unterricht und im freien mündlichen Vortrag angeschlossen (§§ 8 — n ) . Erstere bestehen darin, daß in Gegenwart der Zöglinge des Instituts einer aus ihrer Mitte von einer Anzahl dazu gewählter Schüler der Studienanstalt einen griechischen oder lateinischen Schriftsteller übersetzen läßt und erläutert, wobei der Vorsteher des Instituts ihn auf die Erfordernisse der Methode hinweisen und seine Versuche des Unterrichtes ergänzen und berichtigen wird. Letztere werden über Gegenstände der Geschichte, der Literatur und der Erziehung in den verschiedenen Arten der Bearbeitung, der Ermahnung, der Untersuchung, der Anklage und der Verteidigung in der Art angestellt, daß über den aufgegebenen Gegenstand entweder zusammenhängende Rede gehalten oder freie Erörterungen angestellt werden. Die Übungen im Lehrvortrag erfolgen einmal wöchentlich im Sommer, die im freien mündlichen Vortrag im Winter. Die Gegenstände für den freien mündlichen Vortrag werden bei Beginn jedes Semesters bekannt gemacht. Der zweite Vorstand stellt in zwei wöchentlichen Versammlungen ähnliche Übungen in Erklärung alter Schriftsteller an und leitet zugleich in denselben die Übungen der Zöglinge im griechischen, lateinischen und deutschen Stil (§ 13). Auch die Privatstudien der Mitglieder des Instituts werden von den Vorstehern geleitet (§§ 1 4 — 1 6 ) ; diese machen die Zöglinge mit den vorzüglichsten Werken der großen Philologen vertraut, leiten sie zum Gebrauch der griechischen und lateinischen Handschriften der Staatsbibliothek an und überwachen ihre grammatischen und lexikalischen Sammlungen. Die gelungensten Arbeiten werden in den Acta philol. Mon. veröffentlicht. Als Attribute des philologischen Instituts und der philologisch-historischen Klasse werden erklärt: das Antiquarium, als dessen Konservator in Zukunft jedesmal der erste Vorstand des philologischen Institutes zu bestimmen wäre, das Kabinett ägyptischer Altertümer und die philologische Bibliothek des Instituts; den ordentlichen Mitgliedern soll auch die Benutzung der Staatsbibliothek freistehen. Die §§ 18—-27 regeln die Aufnahme neuer Mitglieder, die Prüfung der Lehramtskandidaten, für die eine besondere Prüfungsordnung (Beilage B) entworfen wurde, die Stipendien (Beilage C) sowie die Stellung des Instituts zur Sektion, Klasse und zum ständigen Sekretär. Aus der Prüfungsordnung interessieren vor allem die Anforderungen, die gestellt wurden; die schriftliche und mündliche Prüfung erfolgte aus den alten Sprachen, der deutschen Sprache, den Hilfswissenschaften des philologischen Studiums, der Geschichte, Philosophie und Mathematik: jeder Kandidat muß prosaische Stücke aus dem Griechischen in das Lateinische und aus dem Lateinischen ins Griechische, sowie eine schriftliche Arbeit aus dem Deutschen ins Lateinische übersetzen; mündlich werden Stellen aus Dichtern vorgelegt. Zur besonderen Empfehlung gereicht die Geschicklichkeit in der Fertigung lateinischer Verse. Die Prüfung aus den philologischen Hilfswissenschaften soll sich erstrecken auf Geschichte der griechischen und lateinischen Literatur und ihres Studiums unter den neueren Völkern, auf Mythologie, Antiquitäten und Archäologie. Die näheren Ausführungen zeigen, wie der Verfasser bemüht ist zu hohe Gedächtnisanforderungen zu vermeiden und selbständiges wissenschaftliches Arbeiten zu fördern. So wird Wert gelegt auf den Gang der Entwicklung der einzelnen Zweige der Literatur, auf die Epochen der bildenden Künste, die vorzüglichsten Hilfsmittel der einzelnen Disziplinen. Die Ge-

— 366 — schichtsprüfung umfaßt im wesentlichen alte Geschichte mit Einschluß von Chronologie und Geographie, ohne die mittlere und neuere ganz auszuschließen. In der Philosophie wird der Hauptnachdruck auf eine genaue Kenntnis der wichtigsten Lehren des Piaton und Aristoteles gelegt sowie auf das Beherrschen der Logik. In der Mathematik soll die Prüfung aus der Arithmetik die Lehre von den Gleichungen bis zum dritten Grad und die Geometrie umfassen und bei dieser besonders die Elemente des Euklid zugrunde legen. „ I m Ganzen wird besonders auf positive Kenntnisse und auf Gründlichkeit und Genauigkeit des Wissens gesehen, bei dessen Darlegung die Kandidaten sich der allgemeinen oder fälschlich sogenannten höheren, auch philosophischen Einsichten, Erwägungen und Betrachtungen um so mehr zu enthalten haben, da solche nur dann Wert haben, wenn sie dem gründlichen Forscher aus eigenen langen und sorgfältig fortgesetzten Studien erwachsen, aber, von andern angenommen und erlernt, durch den Schein höheren Wissens täuschen und das Urteil mehr trüben als aufklären." Am Schluß der mündlichen Prüfung hat jeder Kandidat noch eine Probe seiner Methode und Fertigkeit im mündlichen Vortrag zu geben; er wird deshalb entweder über einen wissenschaftlichen Gegenstand im Zusammenhang sprechen oder eine schwierige Stelle eines Grammatikers grammatisch und exegetisch behandeln. Eine besondere Beilage (D) enthält die wichtigen Vorschläge zur Erhöhung des Fonds des philologischen Instituts; er soll jährlich mindestens 6000 fl. betragen; es wird die Erwartung ausgesprochen, daß bei richtiger Begründung des Antrages von Seiten der Kammern kein Widerspruch zu erwarten sei, zumal sie für die Schullehrerseminare bereits größere Summen bewilligt haben. Sollte das nicht geschehen, so ließe sich vorläufig ein Teil der benötigten Summe auf folgende Weise aus dem bisherigen Dotationsbeitrag zum philologischen Institut und dem E t a t der Akademie errechnen: Aufmunterungs- und Unterstützungsstipendien . . 600 fl. Reisestipendium 600 ,, Besoldung des ersten Vorstandes 450 ,, ,, ,, zweiten ,, 100 ,, Aus dem gleichen Fonds als Beitrag der Schuldotation 250 ,, Die dem Baron von Aretin aus dem akademischen Fond bewilligten 500 ,, Der akademische Gehalt Schellings 1500 ,, ; kämen dazu nach § 6/7 der akademischen Satzungen 1000 ,, , so wäre vorläufig eine Summe von 5000 fl. erreicht. Da durch die Lehrordnung die Arbeit der Vorstände sich mehr als verdoppeln würde, so würde von diesen vermehrten Mitteln die Besoldung des ersten Vorstandes auf 900 fl., die des zweiten auf 600 fl. zu erhöhen sein. Dazu kämen für 6 Stipendien zu 10 fl. (§ 19 D. L . O.) . . . 780 fl. ,,6 ,, zu 1 5 fl 1080 ,, ,, 2 Reisestipendien 1200 ,, ,, Vermehrung der philologischen Bibliothek . . 100 ,, Sa. 5000 fl. Bei Erhöhung der Summe auf 8000 fl. würde die Übernahme der Besoldung des ersten Vorstandes von seiner Professur am Lyzeum, um seine Tätigkeit ganz für das Institut in Anspruch zu nehmen, die Gründung neuer Stipendien und Freitische und die Vermehrung des philologischen Apparates zu erzielen sein.



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Eine weitere wichtige Aufgabe zur Förderung des Neuhumanismus war die Veranstaltung guter Klassikerausgaben. 1 ) Thiersch ging mit Feuereifer ans Werk. Er entwarf, nachdem der König seine Einwilligung gegeben hatte (13. August 1823), daß der Zentralbücherverlag dieselbe in Druck nehme, einen Plan; die Ausgabe sollte in einer glücklichen Mitte stehen zwischen den dürftigen Ausgaben der Leipziger Buchhändler, die nur einige alte Scholien und wenige Noten enthielten, und den überladenen, zu London, Paris, Turin, Mailand und Stuttgart erschienenen, die die älteren Kommentare, notas variorum, und die neuesten, oft oberflächlichen und weitschweifenden Bearbeitungen brachten. Der Hauptzweck der billigen und gefällig gedruckten Ausgabe sollte sein den großen Bedarf der bayrischen Studienanstalten an Musterschriften der Antike zu decken und überhaupt dazu beitragen „die klassischen Studien in Bayern durch Vervielfältigung ihrer Hilfsmittel zu nähren und zu vertrauterer Bekanntschaft mit den Werken der größten Geister durch Erleichterung derselben weit über die Schulen hinaus einzuladen". Im allgemeinen sollten gute ältere Texte zugrunde gelegt werden, für neue Rezensionen behielt sich die Akademie die Genehmigung vor. Die Anmerkungen zerfallen in kritische und exegetische; jene bringen nur die wichtigeren Abweichungen der Handschriften voneinander und vom Text mit kurzer Würdigung, diese beschränken sich auf das zur Erklärung Notwendige, und zwar sind grammatische, ästhetische und historische zu unterscheiden; die grammatischen erklären Worte, Fügungen und Sprachgebrauch, die ästhetischen Gedanken und ihre Formen, die historischen Angaben, die einer Erläuterung aus der Geschichte, Mythologie und Archäologie bedürfen; letztere sollen besonders Wichtiges von dem Übergangenen beifügen. Die Ausgabe wird nur von bayrischen Verfassern hergestellt. Da die gangbaren griechischen Typen fast ohne Ausnahme durch vielerlei UnVerhältnismäßigkeit das Auge beleidigen, hält die Klasse es für rätlich neue Typen für das Unternehmen nach dem Muster der besten alten Drucke mit Vermeidung der Abbreviaturen und Verschlingungen und mit besonderer Rücksicht auf die schönen Formen der besten Handschriften aus dem 10. bis 12. Jahrhundert gießen zu lassen. Die lateinischen Typen werden erst dann zu bestimmen sein, wenn die griechischen ausgewählt sein werden, damit beide in Größe und Schärfe übereinstimmen. Der Ladenpreis des Bogens sollte 3 kr. nicht überschreiten. Etwaige Überschüsse werden zur Beförderung der klassischen Studien an den Anstalten verwendet. Gleichzeitig mit dem Plan ging ein Einladungsschreiben mit genaueren Weisungen für den Fall der Annahme hinaus. Eine Fülle von Arbeit brachte die von Thiersch geleitete Beantwortung der zahlreich eintreffenden Vorschläge sowie die Verteilung der Klassiker an die einzelnen Gelehrten. Unter ihnen begegnen die bekanntesten und angesehensten Namen. Gemäß eines Beschlusses der Akademie sollten übernehmen: Homer und Hesiod, Thiersch; Sophokles, Döderlein, Rektor in Erlangen; Piaton, Ast, Professor in Landshut; Cyropädie, Schwarz, Professor am Erziehungsinstitut; Memorabilien und kleinere philosophische Schriften des Xenophon, Rektor Gabler in Bayreuth; auserlesene Reden des Demosthenes, Rappel; Aristoteles Auswahl, Kopp, Professor am Lyzeum in München; Ciceros Briefe, Elsperger, Professor am Gymnasium in Erlangen; rhetorische Schriften und Reden, Saalfranc, Konrektor in Regensburg; de natura deorum, de fato, de divinatione, Wirth, Lyzealprofessor in Regensburg; Vergil, Held, Professor in Bayreuth; auch an die Beiziehung hervorragender junger Philologen, wie Spengel, Högner, Butters und Kleske war gedacht worden. Hofrat und Professor Wagner in Augsburg sollte aufgefordert ') Hauptquelle: Thierschiana.

105.

— 368 — werden Cicero de officiis zu bearbeiten; Rektor Roth (Nürnberg) erklärte sich bereit Isocrates zu übernehmen, die Professoren Fikenscher und Fabri (ebenfalls Nürnberg) Cornelius Nepos bzw. Sallust. Mitten in diese weitläufigen Verhandlungen fiel störend die Beschwerde der Buchhändler, die sich durch das geplante Unternehmen bedroht fühlten. 1 ) Sie griffen nicht die eine oder andere Bestimmung an, sondern bezeichneten das Ganze als gesetzwidrig und den Schulen wie ihrem Gewerbe gleich nachteilig. Während sie den Schutz des Königs anriefen, ließen sie gleichzeitig eine Schmähschrift, worin die Unternehmer der Herausgabe gewinnsüchtiger Absichten und der Unfähigkeit sie zu leiten, die Teilnehmer aber der Unwissenheit angeklagt werden und eine Menge offenbarer Unwahrheit, Verdrehung und Verdächtigung anderer Art enthalten ist, lithographieren und auf der Leipziger Ostermesse an alle deutschen Buchhandlungen verteilen. Infolge dieses Vorgehens lehnte Thiersch im Namen der Sektion die Aufforderung eines kgl. Reskriptes vom 27. Juli Vergleichsvorschläge zu machen wiederholt ab, forderte eine nachdrückliche Rüge sowohl des ungebührlichen Inhaltes jener Schrift als auch ihrer Verbreitung und ersuchte von neuem um den nachdrücklichsten Schutz des Unternehmens durch den König, „im Fall dessen Ausführung fortdauernd in den Absichten S. M. des Königs liegt, indem ich wenigstens nicht einsehe, wie die Unternehmer und Teilnehmer daran, im Fall man sie ungestraft auf solche Weise angreifen und bloßstellen darf, bewogen werden können einem so mühsamen und langwierigen Geschäft, welches alsdann freilich für schutzlos erklärt würde, ihre literarische Tätigkeit zu widmen". Die Akademie könne sich, ohne jene ganz und gar grundlose Schmähschrift als zulässig anzuerkennen und sich dadurch als überwiesen darzustellen, auf Vergleichsvorschläge nicht einlassen; sie beantrage daher, daß „das Unternehmen in der begonnenen Weise allergnädigst aufrecht erhalten und durchgeführt werde, zumal die Nötigung immer wieder auf den Anfang und die Grundsätze desselben zurückzukommen, welche nun schon zum dritten Male denen, die es leiten, angesonnen wird, nicht anders als ihre Bereitwilligkeit für dasselbe paralysieren und das ganze Geschäft am Ende in Stockung bringen kann". Thierschs Empörung, die aus diesem Schreiben spricht, ist wohl verständlich. Seine Befürchtungen sollten leider noch übertroffen werden. Das mit so viel Idealismus und Mühen ins Werk geleitete Unternehmen scheiterte infolge der Verzögerungen, die der Einspruch der Buchhändler hervorrief. Ein späterer Versuch der Cottaischen Buchhandlung (4. November 1827) unter gewissen Modifikationen den Plan der Akademie zu verwirklichen, indem sie vorschlug Textausgaben neben den mit Anmerkungen versehenen erscheinen zu lassen, aus umfangreicheren Klassikern nur eine Auswahl zu drucken, ausgezeichnete Gelehrte aus allen Teilen Deutschlands zu beteiligen und die Leitung des Ganzen an Thiersch, als den erfahrenen Schulmann und Philologen, der das Vertrauen des Ministeriums und Cottas genieße, zu übertragen, kam auch nicht zur Ausführung, da die Mehrzahl der Gutachter, wie Roth, Niethammer, Wißmaier, Docen und Ast zahlreiche Bedenken erhoben. 2 ) W ä h r e n d Thiersch als Sekretär der philologischen Klasse, als Vorstand des Instituts und als Professor am L y z e u m für den Neuhumanismus unermüdlich tätig war, zeigte sich die Notwendigkeit die immer fühlbarer werdenden Schäden des 1 8 1 6 revidierten Normativs zu beseitigen. Deshalb 1

) T h i e r s c h s Schreiben vom 6. August 1924 (Thiersch. 105).

2

) A. d. W. X X X V , 418, 16.

— 369 — wurde am 10. Oktober 1824 eine neue Schulordnung herausgegeben. 1 ) Wieder hatte sich das Ministerium an Niethammer gewandt und ihn zur eiligen Abfassung einer Studienordnung veranlaßt. Mit welchen Gefühlen mag er diesen Auftrag übernommen haben ? Nur zu bald mußte er auch erleben, wie seine Vorschläge durch eine Gegenströmung gehemmt wurden. Das Ergebnis der Verhandlungen, bei denen die Gutachten sämtlicher Studienrektorate verwertet wurden, war in den Hauptzügen folgendes: Während die beiden Vorbereitungsklassen Lokalanstalten blieben, die, parallel zu den oberen Abteilungen der Volksschule eingerichtet, nur so weit bestehen sollten, als die Lokalmittel zu ihrer Erhaltung ausreichten, wurden die zwei Progymnasialklassen mit den vier Gymnasialklassen zu einer fünfklassigen Anstalt vereinigt; an den meisten Gymnasien, auch an den protestantischen, wurde eine Lyzealklasse eingerichtet. Für die Aufnahme in die Universität war künftig die Absolvierung eines zweijährigen Lyzealkurses nötig. Zu welchen Mißständen und Verwirrungen diese Anordnung führte, hat Thiersch 2 ) in seinem Werke über gelehrte Schulen drastisch geschildert. Von den einzelnen Bestimmungen des Lehrplans sollen nur die hervorgehoben werden, welche für die Gesamtentwicklung des Schulkampfes von Bedeutung sind. Charakteristisch ist zunächst die starke Betonung des altklassischen Unterrichts und die kleine Zahl der Lehrgegenstände. Im Gymnasium wird an erster Stelle verlangt: grammatisches und humanistisches Studium der alten Sprachen und der klassischen Schriftsteller; damit in Verbindung regelrechte Übung in der deutschen Sprache, sodann Geographie, Geschichte, mit ihren an das klassische Studium sich anschließenden Hilfswissenschaften, Mathematik und Religion; in dem Betrieb der alten Sprachen erscheint als Neuerung die Benutzung vollständiger Klassikerausgaben und die Verbindung von Worterklärung mit eingehender Sacherklärung, damit nicht das klassische Studium entweder ganz gegen seine Natur und Bestimmung in bloße trockene Wörterkenntnis, oder, was noch verbildender ist, in das bloße vermeintliche Auffassen des sogenannten Geistes der klassischen Schriftsteller ausarte. Auffallend ist die Bevorzugung des Lateinischen gegenüber dem Griechischen unter Hervorhebung der Universalität seiner Anwendung und seiner Unentbehrlichkeit in allen Ämtern und Geschäften. Das Griechische beginnt erst im Gymnasium. Genoß das Deutsche noch in der Revision von 1816 eine bevorzugte Stellung, so erscheint es jetzt in Verbindung mit dem altklassischen Studium. „ A l s die vorzüglichste Übung in der deutschen Sprache überhaupt soll das Übersetzen aus den alten Sprachen in das Deutsche betrieben werden, in der Steigerung von dem bloß wörtlichen Übersetzen bis zu den Versuchen die alten Schriftsteller nach den höheren Forderungen der Übersetzungskunst in ihrer eigentümlichen Darstellungsweise wiederzugeben. Versuche eigener Ausarbeitungen in der Muttersprache sollen erst dann begonnen werden, wenn die Schüler in jener Kunst des Übersetzens bereits einen höheren Grad erreicht haben." Bei der Verteilung des Lehrstoffes auf die einzelnen Klassen kehrt dieser Gedanke immer wieder. Von einer Lektüre der deutschen Klassiker ist keine Rede. Der Unterricht in der Mathematik bezweckt vor allem Übung im streng systematischen Denken. Eingehend sind die Anweisungen über den Religionsunterricht. In der Geschichte x)

L o e w e , Schulkampf. S. 87ff. T h i e r s c h , Gelehrte Schulen 1. S. 4o8ff. R o t h K . L., Das Gymnasialschulwesen in Bayern zwischen den Jahren 1824 und 1843. Stuttgart 1845. S. 4off. 2)

L o e w e , Friedr. Thiersch.

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wird ein reiches Maß einzelner geschichtlicher Kenntnisse verlangt, die mit Zahlen und Namen aufs sorgfältigste eingeprägt und wiederholt werden. Für Mathematik und Religion werden wiederum Fachlehrer bestimmt. Endlich betont die neue Schulordnung mit aller Schärfe: „Der Zweck aller Gymnasialstudien ist nicht sowohl ein Wissen als vielmehr ein Können, nämlich in allen Lehrgegenständen, die Erlangung einer möglichst vollkommenen Fertigkeit und Sicherheit, die nicht bloß im Wissen der Regeln, sondern im Eingeübtsein derselben besteht." In seinem W e r k e über gelehrte Schulen hat Thiersch seine Stellung zu dieser Lehrordnung klar ausgesprochen. Verurteilte er die Organisation im ganzen, das Verhältnis der Vorbereitungsschulen zum G y m n a s i u m und dessen Stellung z u m L y z e u m aufs entschiedenste, so begrüßte er die Vervielfältigung der klassischen und andrer wissenschaftlicher Studien sowie die Wiedereinführung der Fachlehrer für Mathematik und Religion. Der Versuch die beiden Hauptgebrechen des damaligen Schulwesens, die Uberfüllung der Klassen und die geringe Besoldung der Lehrer, zu beseitigen schien ihm vortrefflich. Die Zahl der Schüler wurde nämlich auf 40 für die Klasse festgesetzt. Die Gehälter sollten von 700 fl. bis 1500 fl. steigen. Indessen war die durch die organisatorischen Mängel des Lehrplanes angerichtete Verwirrung so groß, daß kurz nach dem Tode des K ö n i g s Max, am 17. Dezember 1825, von Allerhöchster Stelle die Abfassung eines neuen Schulplanes angeordnet wurde. Der Philhellene hatte den Thron bestiegen. Friedrich Thiersch wurde zur Neugestaltung des Mittelschulwesens berufen. VIII. Kapitel. F r i e d r i c h Thierschs R e i s e n n a c h Paris, L o n d o n , D r e s d e n u n d W i e n ; seine archäologischen A r b e i t e n . Von unschätzbarem Werte für seine ganze geistige E n t w i c k l u n g war es, daß Thiersch, im kräftigsten Mannesalter stehend, aufnahmefähig und selbst schon durch unermüdliches Studium in seinem Urteil gereift, die Mittelpunkte der europäischen Kulturwelt aus eigener Anschauung kennen lernte. In den entscheidungsvollen Jahren von 1813-—15 weilte er längere Zeit in Paris, London, Dresden und Wien, 1822/23 i n Italien. Auf Grund zahlreicher Briefe und des Tagebuchs über die italienische Fahrt soll versucht werden die Bedeutung dieser Reisen für Thierschs Entwicklung in scharfen Umrissen klarzulegen. Den nächsten A n l a ß zum ersten Besuch in Frankreichs Hauptstadt bot Thiersch eine deutlich empfundene L ü c k e in seiner Ausbildung. Seit Jacobs W e g z u g aus München hatte er die Verpflichtung als Lehrer am L y z e u m Vorlesungen über Archäologie zu halten, zu denen er sich durch Studien

— 371 — von Winckelmann und Visconti vorbereitete, ohne daß es ihm seit seinem Aufenthalt in Dresden gelungen war von den Antiken andere Kunde als durch Kupfer und Abgüsse zu erhalten. 1 ) Schon dachte er an eine Untersuchung über die älteste Kunstepoche in Griechenland, in der er manche neue Ansichten zu vertreten hoffte; auch für ihre weitere Ausgestaltung war ein Aufenthalt in Paris von Wichtigkeit; 2 ) zudem plante er die Herausgabe des Hesiod und der Odyssee und wünschte die reichen Handschriftenschätze der kaiserlichen Bibliothek zu benützen. Nicht leichten Herzens freilich verließ er München; denn bange Sorge ergriff ihn bei dem Gedanken, welche Gefahr hier bei dem ausbrechenden Kriege drohte. „Distrahiturque animus variaque cupidine nutat", •— so bekennt er seinem treuen Freund in Gotha — ,,o wäre doch ein Ziel, ein Weg zur Ausgleichung aller Ansprüche auch nur einigermaßen denkbar! Aber wie das, bei dieser Reizung, Überspannung, bei dieser gigantischen Anstrengung aller Gemüter und Kräfte! Oft kommt es mir vor, als müßte ich in dieser ungeheuren Zeit wie ein Hauch vergehen oder überhaupt nichts tun, weil ich das rechte nicht tun kann." 3 ) Nach einer ermüdenden Reise kam er in Paris an; den ersten Eindruck der Kaiserstadt, „der auf wenige Meilen zusammengedrängten Welt und Weltgeschichte", wo die schönsten Werke der Kunst und Literatur der Welt und der Geschichte vereinigt waren, schilderte er seinem Lehrer in Pforta, Lange; 4 ) acht Tage lagen hinter ihm. Wie ein Träumender war er unter den Schätzen herumgewandert, „unter den alten ehrwürdigen Kolossen von Porphyr und Granit der Ägypter, unter den ewigen Wunderwerken der griechischen Plastik, in den Sammlungen der geschnittenen Steine, der Vasen, der Gemälde, der neuesten Kunst des Canova". Überwältigt von „diesem Überschwenglichen und Unaussprechlichen", das er allein und in fremder Umgebung genießen muß, sehnt er sich nach teilnehmenden Freunden. Wenn ihn das Drängen und Treiben der Hauptstadt auch nur als ein unterhaltendes Schauspiel anzog, bei dem man sich nach anstrengendem Studium gern und leicht zerstreuen kann, so verfolgte er es doch unermüdlich mit einem durch Vergleichen geschärften Blick, und zwar versuchte er ein möglichst klares Bild von dem Charakter des Volkes, seinen politischen Gesinnungen, seinen geistigen Beschäftigungen zu gewinnen. Der dreimalige Aufenthalt in Paris im August und September 1 8 1 3 , von Oktober bis Februar 1814 und im Oktober 1 8 1 5 bot die Möglichkeit die Franzosen in ]

) ) 3 ) *) 2

Von T h i e r s c h verfaßtes Curric. vitae in A . d. W . Abt. I X . 20 (35/208 4 1 c ) . T h i e r s c h an Jacobs, 4. August 1 8 1 3 in Biographie I. S. 105/106. Ebenda. S. 105. T h i e r s c h an Lange, 23. August 1 8 1 3 .

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— 372 — einer der entscheidendsten Epochen ihrer Geschichte zu beobachten. Als Thiersch das erste Mal an der Seine weilte, dauerte der Siegeszug Napoleons noch an; am 26. und 27. August schlug er die böhmische Armee bei Dresden, während seine Unterbefehlshaber vor Berlin, in Schlesien und dem Erzgebirge schwere Schlappen erlitten. Es erfolgte eben die Aushebung eines neuen Jahrganges zarter Jünglinge und Knaben. Thiersch sah das Nachtleben in den Gängen des Palais Royal, der Tuilerien und auf den Boulevards, „das Gedränge der Hunderttausende, die hier frische Luft schöpfen, sich sehen und sehen lassen, sich in die Kaffeehäuser und aus den Theatern ergießen". Es entging ihm nicht die Leichtigkeit und Zierlichkeit, mit der alles, was zum Reiz des äußeren Lebens gehört, dort geboten und empfangen wurde; aber sie täuschten ihn nicht darüber, daß das gewöhnliche Trachten sich auf den Kreis des Tages beschränkte. „Die höheren Interessen sind abgestorben, das für Wissenschaften nur bei Wenigen und beschränkt, das für Kunst erkaltet und jeder Enthusiasmus nicht nur, sondern jede regsamere Neigung lächerlich und getadelt, weil sie in dem Kreise stört, in dem sich jeder leicht und ohne Anstoß bewegen will. Niemand würde es auch in der fernsten Spur dieser Stadt ansehen, daß sie in unserem Zeitalter der Sitz einer solchen Revolution gewesen ist, wie die französische, und das ist auch recht gut; denn was dabei herauskommt, wissen wir." Aufmerksam verfolgte 1 ) er den Stimmungsumschwung der Franzosen gegenüber den Deutschen infolge des Wechsels des Feldzuges. Noch während des Waffenstillstandes, da sie Deutschland in sicherem Besitz zu haben glaubten, betrachteten sie die Deutschen als Sklaven oder doch als demütige Schützlinge, die es sich zu besonderem Glück rechnen müßten, daß die französischen Adler sie unter ihre Flügel genommen hätten. Die Siege der Preußen flößten ihnen Achtung ein. Als das Glück der Schlachten schwankte, schwankte auch das Urteil über die Deutschen. Thiersch erlebte, wie die Kunde von den Niederlagen Vandammes und Neys und der Abfall Bayerns die Hoffnungen auf Erfolg zerstörte; am Tage der Leipziger Katastrophe abreisend, fand er unterwegs, „daß der Schrecken des deutschen Namens und unserer Waffen über ganz Frankreich ausgegangen war". Beim Betreten des heimatlichen Bodens war es ihm, als ob sich eine Last von ihm abwälzte, „als er das Land des Unheils, des Unglücks und der grausamsten und tödlichsten Tyrannei hinter sich hatte und mit voller Brust den freien heimischen Fluren seinen Gruß zurufen konnte". Wie Wilhelm v. Humboldt war auch Thiersch sich im fremden Land der Eigenart und des Vorzuges seines Volkes recht bewußt geworden. „Napoleons Gewaltherrschaft, seine teuflische Vernichtungskunst alles Edlen und Erhebenden in der *) T h i e r s c h an Jacobs, 8. Januar 1814.

— 373 — menschlichen Natur an einer großen und nicht unwürdigen Nation hatte in zehn Jahren ihr höllisches Werk vollendet und Frankreich war ausgestorben, während sein letztes Heer noch die getäuschte Welt in Schrecken hielt." Bei Thierschs zweitem Aufenthalt 1814 war die politische Lage völlig verändert, Napoleon nach Elba verbannt, der 1. Pariser Frieden geschlossen, die Bourbonen wieder eingesetzt; schon in einem Münchner Brief (Mai 1814) hatte er den Wunsch ausgesprochen, die deutschen Fürsten und Helden möchten sobald wie möglich jene verpestete Stadt und das heillose Land verlassen; denn „jene Umgebungen, jene Flachheit, Falschheit und Gleißnerei verdienen nicht die Gegenwart so vieler heldenmütiger und reiner Herzen". „Wie in dem Palais Royal die Bäume schon im Frühling wieder gelb werden, als ob der Pesthauch jener moralischen Kloake sie anweht, so, scheint es mir, müssen auch die frischen Kränze des Lorbeers um die erhabenen Stirnen der Unsrigen von ihrem Glänze verlieren, wenn sie lange dort der Vergiftung aller Art ausgesetzt bleiben." Jetzt fand 1 ) er alles wie früher, „dieselben Gesichter, Habitués, Gewohnheiten, keine Spur von Veränderung, außer wo Insignien und Uniformen der alten Regierung abgetan wurden. Das Volk hat alles vergessen und freut sich wie gewöhnlich des Tages". Sehr ungünstig waren die Eindrücke in den Sitzungen der Akademie und in der Kammer der Deputierten. Jene waren sämtlich zum Einschlafen und für einen an deutsche Gründlichkeit Gewöhnten fast spaßhaft. Thiersch schienen sie „Vehikel, um allerlei oft flache und gewöhnliche Einfälle der Mitglieder, der Eitelkeit, die sich gerne mitteilen will und kein Publikum hat, zu Liebe zur Kenntnis mehrerer zu bringen." In drei Sitzungen hörte er nichts, was sich über den Gehalt einer nur etwas bedeutenden Note oder eines Artikels aus einem Reallexikon oder einer gewöhnlichen Doktordisputation erhob. Nur „Männer wie Humboldt, Cuvier, Barbier de Bocage u. a. bringen hier höchst selten Bedeutendes auf die Bahn". Besonders fiel dem Deutschen auf, wie erstaunlich viel geschwätzt, geschlafen und umhergegangen wird; so kommt er zu dem Urteil: „Die Franzosen wissen durchaus nicht, ernste Sachen mit Ernst und Sammlung zu treiben." Dieselben Eindrücke gewann er in der Kammer der Deputierten. Dort wurden die Reden unter unachtsamen und schläfrigen Hörern abgelesen. Mit besonderem Interesse studierte 2 ) Thiersch das französische Bildungswesen; die alte Literatur, namentlich die griechische, wurde eifrig gepflegt; eine nach Buttmann und Hermann von Burnouff bearbeitete Brief an Lange, 20. Oktober 1814. Biographie I. S. 123. *) Brief an Lange, 2. Januar 1815. Biographie. Bd. I. S. 126.



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griechische Grammatik wurde schon nach neun Monaten neu aufgelegt. Thuriot, der die deutsche Philosophie und die Geschichte der Philosophie aus deutschen Werken kannte, erhielt einen neu errichteten Lehrstuhl für griechische Philosophie, mehrere Professoren förderten das Studium der deutschen Sprache. Viel Kraft, Mühe und Zeit kostete Thiersch der Auftrag des Ministeriums das Reklamationsgeschäft 1 ) zu besorgen, nachdem an den bayrischen Gesandten schon seit 1801 wiederholt Weisungen in diesem Sinne, freilich ohne Erfolg, ergangen waren. Vor allem galt es die von den Franzosen im Jahre 1800 unter der Leitung des Citoyen Neveu von München weggenommenen kostbaren Manuskripte, Bücher und Gemälde zurückzuverlangen oder Ersatz zu fordern; außerdem sollten auch die aus Nürnberg, Salzburg, sowie den Klöstern Rottenbuch, Tegernsee und Polling entführten Gegenstände zurückverlangt werden. In Paris fand Thiersch, der sich mitten aus wissenschaftlichen Arbeiten in Wien herausgerissen sah, große Schwierigkeiten. Bei den Friedensverhandlungen hatten Österreich und Preußen zwar auf die Herausgabe der entführten Schätze der Kunst und Literatur gedrungen, doch der König von Frankreich stark betont, die Entblößung der Stadt von den Denkmälern früherer Siege erniedrige ihn in der öffentlichen Meinung und gefährde die ohnehin schon höchst unsichere Lage seines Hauses noch mehr. Mündlich versprach er den beiden Herrschern alles zurückzugeben, was nicht in die Augen falle, von den Kunstwerken z. B., was nicht öffentlich aufgestellt sei. Der Artikel X V I I I des Friedensschlusses erkannte die nach Paris geführten Werke der Literatur und Kunst als Eigentum Frankreichs an; im Corps legislativ erklärte der König bei der Übergabe der Verfassungsurkunde, die Nation werde im Besitz jener Schätze als der Früchte ihrer Siege verbleiben. Die beiden Kammern erhielten Kataloge der Museen, für deren Bewahrung die Minister verantwortlich sein sollten. Da Österreich-Preußen trotzdem infolge des mündlichen Versprechens des Königs einen Teil ihrer Forderungen erfüllt sahen, kam es zu unangenehmen Anfragen in der Pairskammer. Infolgedessen wurde man gegen alle weiteren Reklamationen sehr mißtrauisch und wollte nur über solche Gegenstände verhandeln, die in Kataloge noch nicht eingetragen oder in Museen nicht aufgestellt waren. Trotz dieser bedenklichen Lage begann Thiersch seine Mission auszuführen. 1 ) Hauptquelle: T h i e r s c h s Berichte an Montgelas. Die ausführliche Instruktion vom 10. April 1 8 1 4 und die Briefe Schlichtegrolls an Thiersch (Thierschiana 60).

— 375 — Nachforschungen im Archiv der bayrischen Gesandtschaft brachten alle Originaldokumente über Neveus Münchner Verhandlungen in Thierschs Hände, so daß er über den Hergang aufs genaueste unterrichtet war; besonders wichtig erschien ihm die Tatsache, daß jene gewaltsame Entführung während des Waffenstillstandes vom 15. Juli und gegen den 8. Artikel, der die unverletzte Bewahrung des öffentlichen Eigentums sicherte, geschehen war. Damit bekamen die Erklärungen Neveus, es handle sich nur um Tausch, und seine offiziellen Versprechungen eines vollständigen Ersatzes ihre weitere Begründung. Erst jetzt ließen sich die Forderungen der bayrischen Regierung wahrhaft begründen. Thiersch verlangte die Bücher und Handschriften zurück; für die Gemälde trug er auch deshalb nur auf Entschädigung an, weil nach dem Urteil des Direktors Manlich für die königlichen Galerien nicht die Wiedererwerbung des Verlorenen, wohl aber größere Bilder der französischen Meister, an denen diese sehr Mangel hatten, als wahrer Gewinn könne angesehen werden. Zeitraubende Arbeiten folgten, umfangreiche Eingaben mußten gemacht, einflußreiche Persönlichkeiten, wie die Minister Graf Blacas und Montesquieu gewonnen werden; vor allem suchte Thiersch dessen Generalsekretär Guizot für die Sache zu interessieren, da er seine rechtliche Gesinnung und seine Hochschätzung der deutschen Literatur kannte. Durch den Verleger Schöll bei ihm eingeführt, unterhielt er sich eingehend über sein kurz vorher erschienenes Werk : „Vies des poètes français du siècle de Louis X I V " , dessen Hauptwert in der Einleitung und dem Leben Pierre Corneilles beruhte; ,,es ist der ganze Entwicklungsgang jener merkwürdigen Zeit mit großer Kunst und Klarheit dargelegt und über das Wesen der Dichtkunst, namentlich der dramatischen, sind umfassende Ansichten aufgestellt, denen die französischen Theorien bisher den Eingang in Frankreich verschlossen hatten". Thiersch teilte ihm mit, er habe das Werk an die Münchner Akademie geschickt, die gerne mit ihm in ein näheres Verhältnis treten werde, „eine Andeutung, die er mit sichtbarem Interesse aufnahm". Dann leitete er das Gespräch auf die Reklamation der literarischen Werke und fand weitgehende Bereitwilligkeit. Indessen waren noch schwere Hindernisse zu beseitigen. Mit Beginn des Jahres 1 8 1 5 schienen die Verhandlungen einen etwas günstigeren und rascheren Verlauf zu nehmen; denn unter dem Einfluß der Wiener Kongreß tagung erwog man in Paris den Gedanken durch Zurückgabe aller Schätze der Literatur und Kunst mit Bayern künftige Verhältnisse „einzuleiten". Da drohte die Wiederkehr Napoleons alles Erreichte zu zerstören. Thiersch wurde Zeuge des Stimmungsumschwunges in Frankreich. 1 ) Bei seiner ausgesprochenen Neigung für politische Vorgänge verfolgte er l

) T h i e r s c h an Lange, 4. Juni 1815.

Biographie.

Bd. I.

S. 128/129.

— 376 — die Ereignisse mit gespanntester Aufmerksamkeit. E r fand in Paris selbst eine an Enthusiasmus grenzende Liebe für den König, über dessen edlen und festen Charakter er ein allzu günstiges Urteil fällt; das hängt wohl mit seiner den liberal-konstitutionellen Ideen günstigen Grundanschauung zusammen. Denn in den wahnwitzigen Maßregeln der spanischen Regierung sah er ein Werkzeug der Vorsehung „ u m Amerika unwiderbringlich aus ihren H ä n d e n zu reißen und dort eine glänzende Reihe unabhängiger Staaten zu bilden, die mit großen Bestimmungen f ü r die Z u k u n f t schwanger gehen". Die elf Monate der bourbonischen Regierung erschienen ihm seit dem Anfang der Revolution die ersten der furchtlosen Freiheit. Den Gründen des plötzlichen Sturzes des Königtums nachgehend, findet er eine der Hauptursachen eben in jener Freiheit. Zwei Verschwörungen bildeten sich, die eine unter Cambacer4s „bei dem größeren von Grund aus verdorbenen Teil dieses gottverlassenen Volkes, die e n t d e c k t " , a b e r — wie er bedauernd hinzufügt — „verziehen wurde", die zweite der Marschälle und höheren Offiziere, die durch Einsetzen einer kräftigen Regierung den erniedrigenden Pariser Frieden beseitigen wollten. Belgien u n d das linke Rheinufer war ihr Losungswort. Mit Staunen stellt Thiersch fest, wie ihre Stimmung elektrisch schnell bis zum gemeinsten Offizier u n d Soldaten durchdrang. I n d e m sich diese Verschwörung mit der der alten Republikaner verband, war das Schicksal der Bourbonen besiegelt. „Der Welt w a r " — zu diesem Schluß k o m m t Thiersch — „nach vielen J a h r h u n d e r t e n wieder das erste Beispiel gegeben, daß, wenn die Armee sprechen will und darf, die Nation u n t e r den Bajonetten s t e h t . " Angesichts der Erbitterung der Franzosen in den Landesteilen, die Schauplatz des letzten Feldzuges gewesen waren, erwartete er einen sehr hartnäckigen Verlauf des bevorstehenden Krieges. Als einzig erfolgversprechende Art der Kriegsführung erschien ihm die der Alten, vorrückend die Städte u n d Dörfer abzubrechen oder auszuräumen und zu befestigen, die Bevölkerung fortzuschaffen, Militärkolonien des Landsturmes hineinzulegen, die Vorräte f ü r das Heer zu decken, die Straße zu verteidigen, Paris auseinanderzuziehen (dioiz-^aic) und Frankreich als erobertes Land zu behandeln. Vier Tage vor Bonapartes A n k u n f t abziehend, fand Thiersch die Straßen m i t Wagen gefüllt und mit Truppen, die gegen Napoleon geführt wurden u n d ihn hochleben ließen. „Der Bürger indifferent, die Canaille wie das Militär, allgemeine Erhitzung gegen die F r e m d e n . " I n München angekommen, h a t t e er eine mehrstündige Unterredung mit Montgelas über die politische Lage u n d das Reklamationsgeschäft, das natürlich, bevor die E n t scheidung auf dem Schlachtfelde von Waterloo gefallen war, nicht fortgesetzt werden konnte. In der Zwischenzeit erhielt Thiersch von der Aka-

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demie den Auftrag auf dem Walserfeld bei Salzburg die Ausgrabung eines dort aufgefundenen Mosaikbodens zu leiten, der das Labyrinth, den Minotaurus in der Mitte, Ariadne und Theseus in den Ecken, darstellte. Einen Monat später beendete er endlich, wieder im Dienste der Regierung, in Anwesenheit des Kronprinzen Ludwig in Paris die Reklamation. Dank der vorausgegangenen mühevollen Arbeiten, der zahlreichen Besuche, Eingaben und archivalischen Nachforschungen gelang es jetzt den größeren Teil der einst von den Napoleonischen Agenten entführten Bilder 1 ), sowie Handschriften, Inkunabeln und Bücher zurückzuführen. Z u den Beobachtungen über den Volkscharakter, das Leben und die Zivilisation Frankreichs, durch die Thiersch eine Fülle wertvollster neuer Eindrücke gewann, kamen noch die starken Anregungen, die ihm der Umgang mit hervorragenden, mitten im künstlerischen Leben stehenden Persönlichkeiten, namentlich mit Visconti brachten. Ennio Quirino Visconti 2 ) war damals unbestritten einer der größten Archäologen seiner Zeit, der „chef des archéologues de notre siècle". Von Jugend auf einem inneren Drange folgend, vertiefte er sich in die Schriften der Alten und besonders der Scholiasten um sich ein möglichst klares Bild über das gesamte geistige, sittliche und religiöse Leben jener Völker zu verschaffen. Da er zu diesem Studium gerade jene Eigenschaften mitbrachte, die David mit der den Franzosen eigentümlichen Feinheit in der psychologischen Charakterisierung an ihm rühmt, eine lebendige Phantasie, die stets durch den Verstand gemäßigt war, eine gesunde Logik, eine ebenso richtige wie ingenieuse Kritik, einen Scharfsinn, der das zu ahnen schien, was die geschicktesten Menschen nur mit Anstrengung entdeckten, ,,un doute lumineux qui était le garant d'une décision toujours sage", so gelang es ihm durch geistvolle Verbindung der Tatsachen Entwicklungen und Fortschritte des menschlichen Geistes festzustellen, die man bisher nicht gekannt hatte. Die Altertumswissenschaft schlug gerade in jenen Jahren neue Wege ein ; Graf Caylus versuchte eine Ordnung der Bronzen und Marmorbilder nach Zeit, Ort und Gegenstand, Winckelmann hatte seine „Kunstgeschichte" veröffentlicht, ,,einen Tempel," wie Miliin 1808 schrieb, 3 ) „dessen Fundamente und Hauptteile so gut konstruiert sind, daß er für die Ewigkeit da zu sein scheint und bei allen Verbesserungen und Zusätzen im einzelnen die Genauigkeit und Schönheit des Planes unanfechtbar bleibt"; Herkulanum und Pompeji wurden entdeckt, Sizilien, Griechenland ') O l d e n b o u r g , Malerei. S. 54. 2) Enrico D a v i d , Discours prononcé aux funérailles de M. Ennius Quirinus Visconti, Moniteur, 11. Februar 1818. Notice Biographique de E. Q. Visconti par Jean L a b u s (Musée Pio. Clementino. Tom. I. Milano 1818. S. i g f f . 3) J u s t i , Winckelmann. Bd. III. S. 269.

— 378 — und Ägypten durchforscht. Marini beschäftigte sich mit der Aufgabe Papyri und Inschriften zu bestimmen, Morelli ordnete sie, Eckhel studierte die antiken Münzen, Lanzi untersuchte die Sprache der alten Völker Italiens, Zoëga die Hieroglyphen. Keiner hatte bisher gewagt aus allen diesen Zweigen eine Wissenschaft zu bilden. Visconti verband mit der genauesten Kenntnis der Marmordenkmäler die der alten Schriftsteller, so daß er sie wechselseitig zur Erklärung benutzen konnte : mit Hilfe der Münzen stellte er Statuen wieder her oder erklärte Medaillen durch Marmorwerke. Der für Künste und Wissenschaften begeisterte Papst Clemens X I V . machte Viscontis Vater zum Direktor der Altertümer; der Sohn erhielt den Auftrag das von ihm begründete und von Papst Pius VI. ausgebaute Museum zu beschreiben. Die in rascher Folge erscheinenden Bände erregten die höchste Bewunderung für den jungen Archäologen. 1799 siedelte Visconti für fast 20 Jahre nach Paris über, wo sich die Kunstschätze der berühmtesten Museen der Welt häuften, seitdem Napoleon Ägypten erschlossen und seine Familie die Ausgrabungen Pompejis angeregt hatten und das Musée Napoléon das letzte großartige Beispiel eines römischen Museums bot. Namentlich die römische Kunst war dank der geraubten Schätze in vortrefflichen Originalwerken vertreten, der Torso, der Laokoon, der Apollo von Belvedere, der sterbende Fechter, der sogenannte Gladiator, der Antinous vom Kapitol, die Venus von Medici, der Nil, die Diana von Versailles. 1 ) So war die Möglichkeit zu vergleichenden Studien gegeben. Mit Visconti „durchkroch" Thiersch 2 ) auch die noch unausgebauten Säle des Louvre, die unter Staub und oft in feuchter Luft unermeßliche Schätze alten ägyptischen und griechischen Bildwerks enthielten. „Welche Fülle von Basreliefs, Büsten, ganzen Statuen liegt hier in dieser Vernachlässigung ausgegossen!" „Neben dem berühmten Basrelief, dem Sturz des Phaethon, das Winckelmann indenMonumenti inediti beschrieben, steht eine Schachtel mit Fingern, Nasen und anderen Extremitäten, die den Figuren bei der Versetzung aus Italien abgebrochen worden sind. Ein schöner Amor hing noch halb in seinem Kasten außer einem Schenkel, der herausgefallen war und auf der Erde lag." Das außerordentlich reiche Vergleichsmaterial der namentlich aus Rom zusammengebrachten Originalwerke lenkte die Aufmerksankeit der um Visconti sich sammelnden Gelehrten auf das Problem, ob die Plastik unter den Römern verfallen sei. 3 ) Die Parthenonskulpturen in London ermöglichten ein Studium der griechischen Plastik auf ihrem Höhepunkt. Thiersch traf im Burlingtonhaus mit Canova „bei diesen echtesten Urkunden vollendeter griechischer Plastik" zusammen. T h i e r s c h , Epochen. Einleitung. ) Brief an Lange, 29. Januar 1814. 3 ) Epochen. S. 382 ff. 2

S. X . Biographie.

Bd. I.

S. 1 1 1 .

— 379 — Die gewonnenen Erfahrungen wurden bei Visconti, der dieselben eben untersucht hatte, ausgetauscht und die schon von Lessing in seinem Laokoon angeregte Frage erörtert, ob auch in der Kaiserzeit die griechische Kunst in ihrer Originalität fortbestanden habe. Wie hoch die Werke des Phidias gestellt wurden, so wies man doch einstimmig den besten Werken der römischen Zeit, wie dem Nil und dem barberinischen Faun, ihren Ehrenplatz neben dem Ilyssus, Neptun u. a. Das Buch Quatremeres de Quincy über den olympischen Juppiter dehnte die Untersuchung der griechischen Kunst bis in die homerische Zeit aus mit dem überraschenden Ergebnis, daß eine feste und sehr alte Kunstform schon lange Zeit in Griechenland wie in Ägypten bestanden haben müsse, bevor eine Umgestaltung zu dem Schönen und Naturgemäßen erfolgte. Bald sollten die Funde von Ägina und Phigalia ein ungeahntes Licht auf die sich entwickelnde griechische Kunst werfen. So waren alle Anregungen gegeben, aus denen Thierschs erste archäologische Schrift entstand. Die rasche Erledigung seines Auftrages bei dem dritten Aufenthalt in Paris (1815) ermöglichte es Thiersch, wenn auch nur auf kurze Zeit, England, vor allem London, zu besuchen. Bei schönem hellen Sonnenschein erblickte er „von der Anhöhe von Boulogne zum ersten Mal die blaue Fläche des heiligen Meeres, gegenüber die weißen Linien der Kalk-und Kreideküste von Albion; es war auf derselben Stelle, von der Bonapartes Scharen ausgespäht hatten, gegenüber den Rauch von der Feuerstätte, die sie verwüsten wollten, aufsteigen zu sehen. Doch wer mochte jetzt an alte Ungebühr denken ? Vor mir lag die Unermeßlichkeit der Schöpfung, vor mir entsank wie ein schwer Gewicht, was das Herz bewegt hatte, und die Lüfte, welche von den sanft rauschenden Wogen herüberatmeten, schienen mich wie mit Fittichen zu umfangen und emporzutragen an das unsichtbare, allgegenwärtige Herz der Natur. Gegen den fernsten Horizont nach Wresten hin dehnte sich die Flut wie in blauen Bergen empor und von Osten her kamen den Schwänen gleich im leichten Zuge die Schiffe durch den Kanal, der beide Welten trennt, die Hölle von dem Eiland der Seligen." 1 ) Am Abend desselben Tages betrachtete 2 ) er von der Blackfriarsbrücke aus voll Ergriffenheit im Glänze der Nachtbeleuchtung den gewaltigen Strom, die Wälder von Segeln und in weitem Bogen die ungeheure Stadt, die ihre Massen und Türme zahllos in das seltsame Licht emporhob. Bald fühlte er sich wie in eine andere Welt versetzt. Frankreich mit seiner übertriebenen Zentralisation erschien ihm jetzt wie ein Kerker. Hier dagegen ,,ruhte er in dem Lande der Freiheit, der Ordnung und des Glückes aus". Bei der 1

) 5. März 1816 an Jacobs. Biographie. Bd. I. S. 134. ) Brief an Lange, 21. Oktober 1815 in Biographie. Bd. I.

2

S. I39ff.

— 380 Betrachtung der Schätze des Britischen Museums, besonders vor den großen und erhabenen Marmorbildern des Phidias und den Friesen aus Phigalia, „einem erstaunlichen Werk an Feuer der Ausführung und an Leben der Erfindung", gewannen seine Ideen über die Epochen der griechischen Kunst immer mehr Gestalt. Für die Erweiterung und Vertiefung seiner Anschauungen über Erziehung und Unterricht war der Besuch in Eton von besonderer Bedeutung. Anschaulich charakterisiert er die Anstalt: „Reizende Umgebungen, eine Wiese für die Spiele der 5—600 Etonboys, daneben ein schöner Gang unter herrlichen Ulmenbäumen, neben rauschendem Wasser, der Poetengang genannt, klösterliche Gebäude, abgeschlossene Höfe umgebend, die Lehrzimmer abscheulich, gleich schlechten Pferdeställen ohne Öfen und ohne eine Spur von Glas in den gefängnisähnlichen Fenstern; etwas besser die Schlaf- und Arbeitszimmer." Erinnerungen an seine eigene Pförtnerzeit erwachten. Die Schüler Etons, die Blüte der englischen Jugend, gefielen ihm durch ihr gesundes Aussehen, durch ihre „recht feinen und meist geistvollen und schönen Gesichter", durch die Sorgfalt und Sauberkeit der Kleidung. Am Lehrplan interessierte ihn vor allem die Beschränkung auf Latein und Griechisch, der verhältnismäßig späte Beginn der zweiten Fremdsprache, die Bevorzugung der klassischen Dichtkunst, „des eigentümlichsten Elementes, in dem der jugendliche Geist sich gedeihlich entwickeln und bewegen kann", wie in Rom und Athen, die Lektüre ganzer Werke in den oberen Klassen, wie der Tragödien des Sophokles und Euripides. Tadelnswert dagegen findet Thiersch die Vernachlässigung des prosaischen Ausdruckes, die dazu führt, daß „ g u t lateinisch Schreiben in England eine höchst seltene Fertigkeit ist; als Einseitigkeit erkennt er das Zurücktreten der das Altertum erläuternden Diziplinen. Mathematik ist kein Prüfungsgegenstand; Geographie und dergleichen zu lehren wird nicht der Mühe und Zeit wert gehalten. 1 )

Eingehend unterrichtete sich Thiersch über das eigentümliche Wesen der englischen Zucht mit dem weitgehenden Züchtigungsrecht des Headmasters, der durch den unerbittlichen Ernst seines Richteramtes die zu großer Wildheit neigende Jugend in Scheu und Ordnung hält, der die ausübende Gewalt durch das Birkenreis mit solchem Nachdruck übt, daß ein englischer Dichter in einem Lied an die Birköft sagt: „Sie haben, da er Etonknabe gewesen, wohl manchmal sein Blut getrunken." Burke, von der in der französischen Erziehungsgeschichte berühmten Frau Genlis nach dem Prinzip der englischen Erziehung gefragt, zeigte ihr im Hydepark junge Birken: „Hier wächst das Prinzip unserer Erziehung." Eindrucksvoll hebt Thiersch die Vorzüge Etons, wie er sie sieht, hervor: Die mehr selbständige und geschonte K r a f t der Jugend, die durch ihr gemeinsames Leben und Treiben bedingte Bildung des Charakters und männlicher Stärke, die Erziehung zu Mut, Vertrauen, Offenheit und Festigkeit. ') T h i e r s c h , Gelehrte Schulen.

Bd. I.

S. 4 3 i f f .



381



„Die Hauptsache wird gewonnen: ein gründliches Studium des Altertums wird vorbereitet, der Geist geweckt und gestärkt und durch Studium ebenso wie durch Zucht und Gewöhnung erhöht und veredelt. Mit Recht nennen die Engländer diese Erziehungsweise und jene auf den Universitäten, die jene Schulen mit wenigen Abänderungen fortsetzen, die Grundlage ihres Gemeinwesens und das Studium des Altertums das Palladium ihrer Freiheit." 1 ) Von Eton begab sich Thiersch einige Tage nach Oxford2) und Cambridge um die Anstalten und die bedeutendsten Vertreter der Philologie kennenzulernen. In Cambridge wurde die Erinnerung an die großen Philologen Porson und Bentley lebendig; von Dobree, einem der bedeutendsten Schüler Porsons im Trinity College eingeführt, fand er dort eine außerordentlich freundliche Aufnahme. Mit Staunen bemerkt er, daß die Form ihres Lebens und ihrer Studien sich seit 800 Jahren wenig geändert hatte. Als aus Anlaß eines festlichen Mahles wie bei den Alten jeder der Reihe nach etwas singen oder sprechen mußte, gab der sangesfreudige Deutsche, nachdem schottische, irische und englische Nationalmelodien gesungen worden waren, das „Bibit abbas cum priore" zum besten und erntete stürmischen Beifall. In Deptford bewunderte er Dr. Burneys Sammlung alter philologischer Drucke und 500 Handschriften, darunter den Codex Towleyanus der Ilias; in Oxford erhielt er von Gaisford, dem Dekan von Christchurch, einem der ersten Hellenisten Englands, die verlockende Einladung sich ganz hier niederzulassen; doch leistete er nicht Folge; denn zu fest war er in seiner deutschen Heimat verwurzelt. Außer Paris und London besuchte Thiersch in jenen entscheidungsvollen Jahren auch Wien.3) Aus den Hauptstädten überfeinerter romanischer Zivilisation und zentralisierter Verwaltung in Frankreich und mächtig aufblühender germanischer Wirtschaftskraft und Selbstverwaltung in England kam er in die durch Kunst und Geschichte ehrwürdige Hauptstadt des Habsburgerstaates, in die Hochburg des Katholizismus und der politischen Bevormundung nach Metternichs System. Schon lange hatten die handschriftlichen Schätze der kaiserlichen Bibliothek und die unvergleichlichen archäologischen Sammlungen in geschnittenen Steinen, Vasen und Münzen sein Interesse erregt. Wohl war unter dem Druck der bayrischen Verhältnisse auch manchmal der Gedanke aufgetaucht sich dort einen neuen Wirkungskreis zu schaffen. Indessen mußte er bedauernd feststellen, daß die griechische Literatur in Österreich x

) Brief an Lange, Biographie. Bd. I. S. 1 3 1 . ) Brief an Gottfried Hermann. Biographie. Bd. I. S. 1 3 1 ff. 3 ) T h i e r s c h an Lange. Biographie. Bd. I. S. 1 ig ff. 2

— 382 — eine provincia deserta geworden ist. „Die Schulen schlummern wie die ganze Nation"; „ d i e Trompete der Auferweckung" . . . „ist nicht in jene Gräber des menschlichen Geistes erschollen." Sein Unwille wurde n i c h t durch Fanatismus oder den da und dort stark hervortretenden Haß gegen die Aufklärung erregt, sondern durch das Unterbleiben des Guten und durch „die Mittelmäßigkeit, welche in alle Verhältnisse des Staates, des Heeres, der Erziehung und Gesellschaft ganz methodisch hineinorganisiert ist und sich in den alten Formen der germanisch-spanischen Verfassung so festgesetzt hat, daß nur nach deren Zertrümmerung etwas anderes — noch nicht erzeugt, sondern nur erst möglich wird". Abschreckend wirkte die Schwerfälligkeit des Behördenorganismus, die zur Folge hatte, daß selbst die trefflichsten Anordnungen „ z u einem Mondkalb verunstaltet" ans Tageslicht kamen. Das Schulwesen fand Thiersch durch das vom Kaiser begünstigte Eindringen der Mönche ins Lehramt, namentlich der Piaristen, der ungebildetsten und ärmsten, schwer gehemmt. „Sie besetzen die wichtigsten Institute und namentlich die Lehrstühle der Philosophie, auf denen sie in der Sprache des Duns Scotus eine unverstandene und unfruchtbare Kasuistik und Dialektik vortragen. In den niederen Schulen wird das Lateinische nach Chrestomathien getrieben, von dem Griechischen so gut wie nichts und die Methode hat sich über ein geistloses Anfüllen des Gedächtnisses nicht erhoben." Auf solchem Boden müssen die schönsten Talente untergehen. Viel Stoff zu einer A r t von halbliterarischen Gesellschaft, wie das Museum in Leipzig oder einer Akademie der Wissenschaft wäre vorhanden; aber die Regierung war bisher kleinlich genug jede Verbindung literarischer Kräfte als über das Maß hinausgehend und gefährlich zu fürchten. Die Erwartung hier einen weitumfassenderen Wirkungskreis als in Bayern zu finden, hatte sich als falsch erwiesen. Dagegen trat Thiersch in Fühlung mit hervorragenden Griechen; Verbindungen wurden damit angeknüpft, die in anderem Zusammenhang noch verfolgt werden müssen. Zweimal war an Thiersch die Versuchung herangetreten in fremdem Lande sich niederzulassen, doch er selbst empfand, daß seine K r a f t der deutschen Heimat gehörte. Z u tief war er mit ihrer Natur und Kultur verwachsen. Das zeigt sein Bericht über Heidelberg. 1 ) U n t e r d e m frischen E i n d r u c k des E r l e b t e n stehend, berichtete er L a n g e :

„Ich

h a b e Schöneres nie gesehen als dieses festlich g e s c h m ü c k t e T a l des Neckar, an'dessen Ö f f n u n g in die R h e i n e b e n e es l i e g t ; " . . . „ D i e s e einzig malerische große R u i n e des größten u n d berühmtesten der deutschen Schlösser, des alten und reichen Sitzes der kurpfälzischen

Herrlichkeit,

*) Brief an L a n g e ,

das W u n d e r

12. O k t o b e r

1814.

deutscher

Baukunst,

Biographie.

B d . I.

ehrwürdig S. 121.

noch

in



383 —

seinen einzelnen W ä n d e n , Zimmern und Saalbruchstücken, der Franzosen v o r mehr als 100 Jahren e n t g i n g e n ; "

die der

Zerstörungswut

und vor allem „ d e n

wunder-

schönen T e p p i c h voll zahmer Wälder, Wein-, O b s t g ä r t e n , Felder, Häuser,

Herden,

der sich an dem Berge h i n a b und drüben wieder hinaufzieht, alles m i t d e m Schleier, dem mildesten, klarsten, heimlichen R e i z e umhüllt, dazwischen den N e c k a r , S c h i f f e tragend, vorüber an den Häusern der S t a d t , die sich a n seinen U f e r n hindehnt,

in

dieser späten Zeit noch umstrahlt v o m klarsten H i m m e l , umflossen v o n der sanftesten L u f t .

V o n Heilbronn bis hierher ist w a h r h a f t ein G a r t e n Gottes, aber auf den

Berghöhen v o n Heidelberg und d a hinab, d a w o h n t er m i t seinen lieben den Musensöhnen. Natur,

die

Enkeln,

D a sitzen die Zeichner, die Dichter, wandeln die Freunde

Jünglinge

v o l l warmen

Blutes

fürs V a t e r l a n d

und W i s s e n s c h a f t ,

saugen und trinken W o n n e und Begeisterung m i t durstigen L i p p e n . deutschen G e d i c h t e v o n F r e i m u n d R e i m e r noch z u l e t z t

der und

Hier wurden die

gesungen."

Unter den persönlichen Bekanntschaften, die er dort machte, war eine der anregendsten die mit dem alten Voß, der ihn mit den Worten begrüßte: „Sie sind der Thiersch aus München? Sein Sie mir herzlich gegrüßt" und umarmte. Bald wanderten sie in den sonnigen Gängen des Gartens auf und ab in lebhaftem Gespräch über die Griechen. Da die politischen Verhältnisse die schon lange geplante Reise nach I talien noch immer unmöglich machten, mußte sich Thiersch mit einem Besuch in der Hauptstadt Sachsens begnügen, wo er einst als Student in der berühmten Antikensammlung die ersten nachhaltigen Kunsteindrücke empfangen hatte. Jetzt lernte er dort Thorwaldsen, „einen großen, stattlichen Mann mit schon ergrauendem Haar, aber jugendlich frisch und von echt klassischem Gepräge in Mienen wie im Ausdruck seiner Gedanken" 1 ) kennen. Mit ihm und Böttiger, dem geistvollen Archäologen, studierte er die Gipsabgüsse. „Wenn die Epochen ihren Einzug hielten," bemerkte Bötticher, auf zwei von Thiersch bereits erschienene Abhandlungen anspielend, „würden die Tore der Antiken weit aufgetan." Das Zusammensein mit Thorwaldsen im Antikenkabinett betrachtete Thiersch als wertvolle Bereicherung, „weil dieser mit besonderer Klarheit und Bestimmtheit das Schöne beurteilte und das falsch Ergänzte oder durch Überarbeitung Verdorbene hervorhob, auch mehreres falsch Gedeutete richtig zu bestimmen wußte." Die Reisen nach Paris, London, Wien und Dresden, die lebendige Berührung mit den antiken Originalen hatten eine Fülle von Ideen geweckt, die jetzt nach Gestaltung drängten. Im anregendsten persönlichen oder schriftlichen Meinungsaustausch mit deutschen Künstlern, mit Visconti und führenden französischen Archäologen wie Quatremere, Miliin, Denon, Mongez, Letronne, Emmeric David, Petit Rodel, Raoul-La-Rochette, Dumersan, Mionnet und deutschen Dresden S. 184 ff.

1820,

12. September.

Thiersch an seine F r a u .

Biographie.

Bd. I .

— 384 — Künstlern gestalteten und reiften Thierschs archäologische Gedanken, die dann in dem folgenden Jahrzehnt, verbunden mit dem gründlichsten Studien der alten Schriftsteller, ihren Niederschlag in drei Abhandlungen der Münchner Akademie fanden: „Über die Epochen der bildenden Kunst unter den Griechen". Ihr Erscheinen rief in den Kreisen der deutschen Archäologen eine lebhafte Kritik hervor und veranlaßte Männer wie Alois H i r t und K. Otfried M ü l l e r zu ausführlichen Darlegungen ihres entgegengesetzten Standpunktes, während der dem Romantikerkreis nahestehende Symboliker Creuzer in Heidelberg Thierschs Hauptthesen aufs wärmste verteidigte. Goethes Freund, Heinrich Meyer, verfocht, ohne sich in eine Polemik einzulassen, in seiner „Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen" (Dresden) mit Wärme die Lehre Winckelmanns. Selbst angenommen, daß die fortschreitende Forschung den Anhängern der Winckelmannschen Lehre Recht gegeben hätte, was in dieser allgemeinen Fassung gar nicht zutreffend ist, so würden die mit Geist und Gelehrsamkeit entwickelten Ideen von Thiersch ihre Bedeutung doch nicht verlieren, da sie den Anstoß zu den interessantesten Erörterungen gaben. Die Auseinandersetzung mit K. O. Müller führte nämlich zur Aufwerfung so wichtiger Probleme wie des Verhältnisses von Kunst und Handwerk, zur Untersuchung des Begriffes „organische Entwicklung" und „Nachahmung", zur Würdigung der Bedeutung des Geistes der Religion; die Einwendungen Creuzers in einer Besprechung der Thiersch'sehen Untersuchungen bestimmten diesen zu einer sorgfältigen Klarlegung des Verhältnisses von Idealismus und Realismus in der Kunst und boten zugleich Veranlassung sich mit den Anschauungen des geistvollen Kunstschriftstellers Rumohr näher zu beschäftigen. Thierschs leitender Gedanke 1 ) bei den drei Abhandlungen ist der: die Archäologie auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Der Boden, auf dem er die Untersuchung führt, ist Geschichtsforschung, Mythenforschung, Exegese und Kritik. Die Kunst betrachtet er in innigster Wechselbeziehung zu dem gesamten geistigen Leben der Griechen in allen seinen Äußerungen; mit der genauesten Prüfung der Kunstwerke nach ihren Stileigentümlichkeiten in den einzelnen Hauptperioden verbindet er die peinlichste philologische Prüfung der literarischen Denkmäler der Antike. Das letzte Ziel der Studien bleibt die verständnisvolle Erfassung des Geistes der Antike. „So nötig es auch sein mag auf Stil und Bearbeitung zu achten, die feinen Unterschiede, gleichsam den stillen Gang der Kunst in ihnen zu belauschen, so muß doch eine jede Kunstgeschichte, welche sich nicht begnügt das geschichtlich Sichere Nachtrag zur i. Abhandlung.

S. 69.



385



durch Beiziehung der Kunstwerke zu erläutern, sondern den Stil derselben zum Ordner des Geschichtlichen erhebt und darnach über die Zeiten und Schulen der einzelnen Kunstwerke entscheidet, notwendig in der Anlage verfehlt sein und des Grundes ermangeln." 1 ) Wären diese Ausführungen von Thiersch mehr von denen beachtet worden, die der mühevollen Arbeit mit alten Schrifttexten und Ausgaben, Handschriften, verschiedenen Lesarten, Vergleichungen und Sichtungen der Nachrichten überdrüssig, den Philologen seiner Wege schickten und an die Marmorbilder selbst herantraten um aus ihnen über Meister und Zeiten das zu entnehmen, was uns die Uberlieferung nur spärlich gegönnt oder ganz versagt hat, dann wäre viel Irrtum und der Wissenschaft schädlicher Streit vermieden worden. In Thierschs Grundauffassung beobachten wir den Durchbruch einer allgemeinen Zeitströmung, des vertieften Verständnisses für das historische Werden. Schon aus diesem Grunde mußte er in einem Gegensatz zu dem noch stark in den Ideen der Aufklärung wurzelnden Winckelmann geraten. Die erste Abhandlung 2 ) von Thiersch, bereits in München begonnen, umfaßt die sog. Epoche des heiligen Stils, von der ältesten uns bekannten Zeit bis in das sechste Jahrhundert reichend; sowohl aus einheimischen Anfängen als auch durch fremden Einfluß sich gestaltend gelangt die griechische Kunst bereits vor der Homerischen Zeit durch die ältesten Dädaliden zu einer festen, durch Gebrauch und Kultus geheiligten Form, welche sich bis in die ersten Zeiten der Perserkriege ohne bedeutende Veränderung des Wesentlichen als ein symbolisch-heiliger Typus überlieferter und meist religiöser Gestalten fortgepflanzt und über fünfhundert Jahre erhalten hat. Die Einwirkung von außen erfolgte durch die Ägypter, freilich nicht in dem Sinne, als ob nun eine ägyptische Kunst in Griechenland eingeführt worden wäre, vielmehr soll nur ein „überwiegender Einfluß der ägyptischen auf die älteste Bildung der griechischen behauptet werden"; wie in Ägypten fehlte auch in Griechenland während dieser ersten Periode niemals ganz das Bestreben die überlieferten Formen zu verlassen. Mit dieser Auffassung über die Anfänge der griechischen Kunst unter den Einflüssen des Fremden, besonders desÄgyptischen, setzte sich Thiersch in entschiedenen Gegensatz zu Winckelmann und den ihm folgenden Gelehrten. In seiner epochemachenden Geschichte der Kunst des Altertums hatte dieser 3 ) den Satz aufgestellt und durch sein überragendes Ansehen befestigt: „Die Kunst hat bei den Griechen, obgleich viel später als in den x)

i . Nachtrag zur 3. Abhandlung.

S. 381.

2)

T h i e r s c h , Epochen 2 . S. 1 — 6 , 65, 109; 3. A b t . S. 270. 3) Johann Joachim W i n c k e l m a n n , Geschichte der Kunst des Altertums. Herausgegeben und eingeleitet von Victor Fleischer. Berlin 1913. S. 25. L o e w e , Friedr. Thiersch.

25

— 386 — Morgenländern, mit einer Einfalt ihren A n f a n g genommen, daß sie aus dem, was sie selbst berichten, von keinem anderen Volk den ersten Samen zu ihrer K u n s t geholt, sondern die ersten Erfinder scheinen können."

Von

fremdem E i n f l u ß also unabhängig, aus einheimischem Grund entsprossen, gelangte sie v o m ersten Ursprung in fortschreitender E n t w i c k l u n g zu ihrer höchsten Blüte.

A u s rohen Steinen wurden im Kampf gegen mechanische

Schwierigkeiten allmählich menschliche

Gestalten.

Bei dieser Lösung der wichtigsten und schwierigsten A u f g a b e n der Kunstgeschichte vermag sich Thiersch nicht zu beruhigen.

Denn er findet

so keine Möglichkeit das frühe Bestehen der griechischen K u n s t und ihren späteren Fortgang nach dem Bessern zu erklären, die mythische und die historische Zeit der Kunstgeschichte in Zusammenhang und Übereinstimmung zu bringen.

Die unmittelbare Folge einer solchen Anschauung war

die Notwendigkeit

das klare Zeugnis der Homerischen Gesänge zu über-

hören und den Ursprung der K u n s t in Griechenland möglichst weit herabzurücken. A m A n f a n g der griechischen Archäologie steht nach Thierschs Uberzeugung 1 ) als schwerstes Rätsel der frühe Bestand der K u n s t und ihr langes Beharren in überlieferteij Formen.

E s in seinem ganzen U m f a n g und in

seiner ganzen Rätselhaftigkeit als erster nachgewiesen und, soweit dies überhaupt möglich ist, eine Lösung gegeben zu haben nimmt er für sich in Anspruch. So geht er in seiner Untersuchung von der Tatsache aus, daß in dem ältesten Denkmal des griechischen Volkes, im epischen Gesang, die K u n s t in sich abgeschlossen und in ihrer angenommenen A r t vollendet erscheint, das Verfahren bei der Arbeit, die Stoffe, die Werkzeuge auf das deutlichste beschrieben sind. Auch die frühere S a g e kennt Werke bildender Kunst, vornehmlich Götterbilder, die noch Pausanias als Denkmäler des fernsten Altertums der öffentlichen Verehrung ausgestellt gesehen hat. Bis zu den staatlichen Anfängen lassen sich Nachrichten über Gestalten der Plastik verfolgen, die mit den Gründern in Verbindung stehen. Fremde Pflanzer brachten mit den Opfern und der Göttersage auch die Bilder der Unsterblichen, zugleich mit der Einsicht und Fertigkeit sie von neuem zu bilden und zu vervielfältigen. Die Pelasger, die Ahnherrn der griechischen Nation, besaßen überlieferungsgemäß noch keine Götterbilder; sie waren also ohne die Werke, aus welchen und durch welche die K u n s t sich zunächst zu entwickeln strebt. Mannigfache Gründe sprechen dafür, daß Ägypten die älteste und wirksamste Pflegerin der altgriechischen K u n s t war, so das auch durch Herodot bezeugte Eindringen ägyptischer Götterdienste und Vorstellungen in Griechenland, wie z. B . des Dienstes der Neitha Athene, die attischen Münzen, die das Isisbild tragen, das Sphinxbild auf dem Helm und zu Füßen der Pallas des Phidias, die von Creuzer nachgewiesene Übereinstimmung der eleusinischen und ägyptischen Mysterien, die Gemeinsamkeit der faltenlosen, eng anschließenden bunten Frauengewänder auf altgriechischen Vasenbildern ältesten Stiles mit den ägyptischen Streifen vorn herab, das gerade Ausschreiten der x)

Nachtrag zur i . A b t .

S. 73.

— 387



Füße und das Herabstrecken der Arme, das Zurückschieben und Geradehalten des Kopfes und das Anziehen der Schultern, die Tatsache, daß die ältesten griechischen und etrurischen Steine auf dem Rücken die Form der von den Ägyptern heilig gehaltenen Käfer, in der vorderen Fläche die Bilder haben und gleich den ägyptischen zum Tragen durchbohrt sind. Selbstverständlich haben die ältesten griechischen Figuren auch ihre bestimmten nationalen Eigentümlichkeiten; einzelne Fälle ausgenommen, wie die Tetradrachmen von Attika, liegt ihnen das menschliche Antlitz hellenischen Geschlechts eben so zugrunde, wie der ägyptischen das äthiopische; aber sie stimmen überein in Zeichnung der Augen, die auch im Profil so angelegt sind, als sähe man sie von vorne, wie auch in der Ausdehnung nach der Länge. Athen, in der Urzeit am meisten mit Ägypten zusammenhängend, bleibt der Hauptsitz der bildenden Kunst, und der altattisch-ägyptische Stil, durch die Dädaliden verbreitet, gelangte zur Herrschaft, wobei die ursprünglich strenge Form und Geschlossenheit, in Ägypten durch heilige Satzungen festgehalten, in Griechenland sich milderte, wohl lange vor der historischen Zeit; nach der Sage verlieh Dädalus den Werken der ägyptischen Art Bewegung. Hier erhebt sich die Frage: Widerspricht nicht das lange Festhalten des ägyptischattischen Gepräges in der Plastik allen gewöhnlichen Vorstellungen von griechischem Kunstschaffen ? Zu ihrer Beantwortung verweist Thiersch auf die merkwürdige Tatsache, daß Künstler aus den verschiedensten Zeitaltern bis auf Endöus, Dipönus und Scyllis, die mit Sicherheit in den Anfang des 6. Jahrhunderts gesetzt werden, Schüler des Dädalus, Zöglinge der attischen Schule genannt und die Werke dieser letzteren von Pausanias ihrem Stil nach den ältesten gleichgestellt werden. Er deutet sie so, daß die Bildwerke von der Urzeit bis in das 6. Jahrhundert von gleichem Gepräge, wie in Geist und Art eines einzigen Meisters gefertigt waren, daß „die Kunst, obwohl reicher geworden an Mitteln und gelenker durch Fertigkeit, dennoch im wesentlichen dieselbe, d. h. ihrem ägyptisch-attischen oder dädalischen Stil und Typus treu geblieben sei." Zur Unterstützung dieser Ansicht verweist Thiersch auf den Guß der Bildsäule des pythischen Apollo durch Telekles und Theodorus, die Söhne des Erfinders des Metallgusses, Rhöcus, über die Diodor berichtet; die Gestalt des Gottes zeigte die Füße wie zum Fortschreiten getrennt, die Arme an den Seiten herabgestreckt; ferner auf den Sieg des Faustkämpfers um 560, Arrachion, dem die Einwohner von Phigalia eine Bildsäule in Marmor errichten ließen; „nicht viel" — schreibt Pausanias — „stehen die Füße auseinander und die Hände sind an der Seite anschließend herabgestreckt". In jener Zeit lebten die letzten jener alten Meister, die Schüler des Dädalus genannt wurden. •Das, was durch literarische Zeugnisse und Kunstdenkmale so als Tatsache erwiesen wird, verwandelt sich sofort in ein geschichtliches Problem: wie war es bei der ausgesprochenen Anlage des griechischen Volkes möglich, daß dort die Kunst so lange an dem ursprünglichen Typus festhielt, während der ganze Kreis von Vorstellungen, Verfassung, Wissen und Sitte neue Gestalt und Art gewonnen hatte ? Scharf weist Thiersch zunächst jenes Zerrbild griechischen Wesens zurück, wie es Horaz in seinen Episteln gezeichnet hat, das selbst Wieland als ein Gemälde des Genius und Geschmackes der Griechen zu den schönsten Stellen im ganzen Dichter zahlte; denn der Römer des Augusteischen Zeitalters habe die aus Übersättigung entsprungene Flatterhaftigkeit seiner feinen Zeitgenossen nur mit etwas mehr Unschuld auf das Volk der Griechen in seiner geistigen Blüte übertragen. Ein aufmerksamer Beobachter findet vielmehr, je mehr er sich dem Ursprung der freien Verfassungen 25*

— 388 — nähert, ein um so stärkeres Festhalten an dem Alten. In der langen monarchischen Zeit ist das Schauspiel ein ganz anderes. Ordnungen und Sitten steigen unveränderlich wie Gebete und Sagen seiner Priester von Geschlecht zu Geschlecht in den Jahrhunderten herab. Die Kunstentwicklung findet ein Gegenstück in der Entfaltung der epischen Poesie mit ihrem allen Gesängen Homers und Hesiods und den Bruchstücken von mehr als hundert Epopöen gemeinsamen Gepräge in Rhythmen, Fügung, Bildern und Art der Darstellung. Auch die Tonkunst bewahrte in gleichem Range die Art und Weise der überlieferten Harmonie und ihre Normen. Es ist das gemeinsame Wesen der epischen, musikalischen und bildenden Kunst. Dieses Beharren ist die Grundeigenschaft des früheren griechischen Altertums. Die Übereinstimmung der Kunstepoche von gleichmäßigem Gepräge mit dem Charakter und den Bestrebungen des Volkes enthüllt indes noch nicht den inneren Grund dieser Erscheinung. Der Versuch die Frage zu beantworten, ob Gesetz oder Gewohnheit, Mangel an Regsamkeit des Geistes oder Scheu vor Veränderung, beschränkte Einsicht oder beschränkter Wille dem festen Bestehen zugrunde lag, führt „in das Innere der Tempel um in ihnen die Geburtsstätte der Kunst zu betrachten". „Als innerer Lebensgrund in jenen Heiligtümern begegnet uns der Geist des höchsten Altertums, der in Priestern und Propheten lebendig war." „ I n ihnen, in dem verschlossenen Bezirk ehrwürdiger Symbole und Satzungen war die Kunst geboren und e r z o g e n . . . . " ,,Im Dienst der Tempel war sie in Griechenland eingezogen, in ihm beharrte sie in unwandelbarer Treue." Wie die Kunst mit dem Kultus entstand und in seinem Dienst gedieh, so wurde sie vernichtet durch den allgemeinen Sieg, den ein neuer Glaube, höhere Offenbarungen enthüllend' über die alten Heiligtümer, ihre Sagen und Gebräuche davontrug. „ I n dieser Untrennbarkeit der Kunst von dem Kultus und seinen Heiligtümern, in der Verschmelzung ihres Wirkens mit dem des Glaubens ist auch der Grund ihrer ursprünglichen Beharrlichkeit bei allen Formen dargelegt." Da man die Götterbilder nicht nur als Symbole der Unsterblichen, sondern als von ihrem Wesen erfüllt anbetete, so erschien Änderung des Typus als Frevel. „Die Götter selbst wollten nicht, daß die alte Gestalt verändert werde."j

In der Auseinandersetzung mit Otfried Müller1) tritt als erster charakteristischer Unterschied zwischen beiden Gelehrten eine völlig verschiedene Auffassung des Begriffes „organische Entwicklung" hervor. Müller bezeichnet Thierschs orientalische Ableitung als „aller geschichtlichen Erfahrung schnurstracks widersprechend"; seine Erklärung wäre nur richtig, wenn die Völker unorganische Massen wären, die man nur zu zerkleinern und zu vermischen brauchte um dem Ganzen die Eigenschaften der einzelnen in einem gewissen Grade mitzuteilen. Ein reiches mannigfaltiges Geistesleben, eine vielseitig sich entwickelnde Nationalität bilde sich auf diese Weise nicht. Als Beispiel für seine Auffassung führt Müller Indien, die geistige Vielseitigkeit desjenigen germanischen Volksstammes an, der sich unvermischt erhalten hat, sowie das Faktum der Sprachgeschichte, daß Vermischung mehrerer Sprachen Verarmung der neuen bedeute. „So sehr Otfried M ü l l e r , S. 315«-

Kleine deutsche Schriften.

Herausgegeben von Müller.

— 389 — widerspricht eine organische Ansicht einer mechanischen, die eine große Bildungsfabrik an die Stelle natürlicher Entwicklung setzt." Thiersch 1 ), das Problem weit tiefer und richtiger erfassend, betont gegenüber Müller, der den engen und vielverschlungenen Verkehr der Völker auflöse um jedes einzuhegen und für sich großzuziehen, diese Ansicht sieht „einer Schöpfung aus nichts gleich, die das Vorliegende, überall Gebotene, Natürliche übersieht um selbst erzeugten Luftgebilden nachzugehen." Vielmehr lehrt die geschichtliche Forschung, daß kein zur Bildung gelangtes Volk allein, von anderen unabhängig und durch sich selbst geworden ist noch kann dies der Fall sein. Denn zwischen den Nationen erfolgt ein nie ruhender Verkehr und Austausch der Ideen, Vorstellungen, Erfindungen und Einrichtungen, und zwar um so lebhafter, je mehr das Land den Fremdlingen offensteht und je mehr das Volk Erregbarkeit, Lebhaftigkeit und den Trieb anzunehmen und sich anzueignen besitzt. Als schlagendes Beispiel erwähnt Thiersch das deutsche Volk, das zwar Religion und Gesetzgebung aus Italien empfing, ferner die Einwirkung südlicher Länder auf seine frühe poetische Bildung in den mittleren Jahrhunderten die der antiken und neueren Literatur später erfuhr, die Anfänge seiner Kunst aus Byzanz nahm; trotzdem bewahrte es seinen Geist und seine Sprache, sein inneres Leben und seine eigene Natur und entwickelte die altdeutsche Kunst unter Einfluß der Byzantiner zu festem Gepräge, wie zu Anfang die griechische es durch Einfluß der ägyptischen machte. Die ersten nieder- und oberdeutschen Maler gaben wohl ihren Bildern analog den byzantinischen Meistern, denen sie folgten, einen bestimmten und gleichsam heiligen Typus in Auffassung und Behandlung heiliger Gegenstände; trotzdem tritt ihre Eigenart deutlich genug hervor. Die deutschen Baumeister, die ältesten Krypten und Dome nach Art der Byazntiner bauend, ließen sich nicht abhalten „dem eigenen Genius zu folgen, die Säulen und Fenster auszudehnen, die Gewölbe zu spitzen und jene großen Bauwerke herzustellen, denen die ganze Majestät des echt deutschen Geistes aufgedrückt ist." Ganz im Sinne Goethes nimmt Thiersch an, daß der wie den einzelnen Naturen so den einzelnen Völkern eingelegte Trieb des eigenen Lebens und Gestaltens stark genug ist um die mannigfaltigsten Einwirkungen und fremde Stoffe zu bewältigen und in sein Eigentum und gleichsam in sein Saft und K r a f t zu verwandeln. „Selbst der gewaltigste, dem eigenen Trieb eines Volkes am meisten feindselige Stoff, die fremde Sprache, über seinen Stämmen ausgebreitet, muß sich den hier wirksamen Kräften unterwerfen und nach ihrer Wirkung umbilden; das beweist das Beispiel Frankreichs, Englands und Spaniens. Mit vollem Recht nimmt Thiersch für sich in Anspruch auf dem Boden

T h i e r s c h , Epochen.

S. 75/76.



390



„echter Forschung, natürlicher Entwicklung und organischer Schöpfung" zu stehen. Im Gegensatz zu Alois Hirt, der zwei Hypothesen aufgestellt hatte, daß nämlich unter den Griechen bis zur Zeit des ägyptischen Königs Psametich nichts von Bedeutung gebildet wurde und daß erst die Öffnung des Nillandes durch diesen Herrscher ein reges griechisches Kunstleben hervorrief, stimmt Müller mit Thiersch in der Anerkennung der hohen Kunstblüte des heroischen Zeitalters überein und ergänzt dessen Ausführungen über Homer durch Behandlung der eben entdeckten Ornamente an dem Schatzhaus des Atreus in Mykenä. Die Widersprüche der zweiten Hirtschen Hypothese werden von Thiersch aufgehellt durch den Hinweis auf die gerade damals in Griechenland einsetzende, von Ägypten gänzlich verschiedene Kunstentwicklung zu freiem Schaffen sowie auf die gleichzeitigen grundlegenden Veränderungen der Staatsordnung, Gesetzgebung, Philosophie, Tonkunst und Lyrik. In der Frage eines heiligen Typus der ältesten griechischen Kunst weichen Thiersch und Müller nicht so stark voneinander ab, als es zunächst scheinen möchte. Müller verwirft zwar Thierschs Erklärung, weil etwas Auffallendes durch etwas noch Rätselhafteres gedeutet wird und die griechischen Volksstämme ein hierarchisches System in diesem Sinne nicht kennen; er will den Begriff des Typus nur in sehr engen Grenzen gelten lassen und glaubt einen viel einfacheren Erklärungsgrund gefunden zu haben; er legt nämlich einen besonderen Nachdruck auf den Unterschied zwischen Kunst und Handwerk. Handwerksmäßig war das Verfahren der griechischen Bildner und Bildschnitzer so lange, als sie nur das Bedürfnis des Kultus zu befriedigen suchten; der höchste und reinste Kunstgeschmack konnte entwickelt sein, bevor der verwegene Gedanke entstand, daß es möglich sei das dem Herzen innewohnende Gefühl von Größe und Gewalt der Gottheit durch menschliche Gebärde und Haltung auszudrücken. Gymnastik und Chorik, die den menschlichen Leib zum Darstellungsmittel hatten, wurden wohl natürlicherweise v o r der Plastik ausgebildet, und zwar geschah dies in den ersten 50—60 Olympiaden. Der Bildschnitzer oder Tonbildner hielt sich ganz an den herkömmlichen Handwerksbrauch. So kommt Müller zu dem Schluß, daß jahrhundertelang in Griechenland ein für die Bedürfnisse des äußeren Lebens und des Gottesdienstes sorgendes Handwerk im einfachen Sinn der Väter gepflegt wurde. Plötzlich entzündete sich dann zwischen der 50. u. 60. Olympiade der Funke schöpferischer Kraft. Das war der natürliche Entwicklungsgang des griechischen Geistes. Diese Ausführungen geben Thiersch 1 ) Veranlassung sich über den wichtigen Begriff „ T y p u s " noch umfassender zu äußern. Er kennt sehr Epochen.

S. 88 ff.

— 391 — wohl die innere Verschiedenheit in den Werken der ägyptischen Kunst nach Zeit, Ort und Geschicklichkeit der Urheber von den rohesten nubischen Idolen an bis herauf zu den mit fast idealer Schönheit und Anmut ausgestatteten feinsten ägyptischen Bildwerken — eine nicht geringere Mannigfaltigkeit als unter den Werken des älteren griechischen Stils. Aber wie Piaton betrachtet er sie als die Werke einer Zeit und eines Geistes, weil trotz aller Mannigfaltigkeit überall dasselbe Gepräge und die feste Satzung für Stellung, Anordnung, Ausschmückung und Gestaltung sichtbar ist. Das ägyptische Gesetz oder die priesterliche Herrschaft kam freilich nicht in leibhaftiger Gestalt nach Griechenland. Jenes Gesetz selbst war Ausdruck und Form des Geistes der alten Religion; dieser Geist der Religion steht in Verbindung mit der Scheu vor jeder alten und ehrenwerten Überlieferung, ja, es ist nur „die stärkste und entschiedenste Form dieser Scheu, welche da alle Verhältnisse des Lebens durchdringt, wo die Völker noch in ursprünglicher Schlichtheit und Befangenheit beharren." Auch Müller muß diese Ehrfurcht vor der Sitte und Weihe der Väter als einen besonders hervorstechenden Charakterzug der hellenischen Stämme anerkennen. Unter dem Schirm der Heiligtümer stand alle religiöse Überlieferung, es galt das Gebot und wurde in Ehren gehalten das zum Dienst des Gottes Gehörige nach vaterländischer Sitte zu verrichten. Der Geist der alten Religionen und der christlichen in ihren festesten Formen ist hier einer und derselbe. Diese Einheit, schon in dem religiösen Gefühl der Menschen gegeben, wird durch das gemeinsame Band, das den alten Kultus der verschiedenen Länder umschlang, noch mehr gefestigt. „Die Einwirkung bestand, nicht als eine ausländische, sondern als eine notwendige, nachdem in dem Lauf der Jahrhunderte die Erinnerung an den gemeinsamen Ursprung oder den ursprünglichen Zusammenhang der verschiedenen Götterdienste nur noch schwach und in einzelnen Zügen bewahrt wurde." Müllers Trennung von Handwerk und Kunst weist Thiersch durch geschickt gewählte Beispiele aus Homer, Plutarch und Lucian aufs entschiedenste zurück; vielmehr sieht er gerade in der Würdigung und Gleichachtung solcher gemeinnütziger Tätigkeit den Grund ihres Gedeihens, und diese Wertachtung wurde offenbar dadurch bedingt, daß das Handwerk zur Bildung des Schönen und Zweckmäßigen, zum Schmuck des Lebens das Seinige beitrug. Aus der verbundenen Tätigkeit der bürgerlichen Werkgeschicklichkeit ging das Ruhmreichste der alten Kunst hervor. In Plutarchs Perikles, an einer bisher viel zu wenig beachteten Stelle, wird die edle Innung der Gewerbe lebendig geschildert. Lucians Traum zeigt die untrennbare Verbindung von Handwerk und Kunst. In Griechenland bestand das Bestreben in den Werkstätten fein, wohlgefällig und bedeutsam zu arbeiten, seit den ältesten Zeiten, so daß das Handwerk als Kunst

— 392 — sich veredelte.

„ I n dieser Richtung der Fertigkeit allerlei Stoffe mit den

Händen zu bearbeiten, auf das Bedeutsame und Schöne, in jener von der Urzeit her bedingten Mischung von beiden ist das Wesentliche aller hellenischen Werkfertigkeit zu suchen, die eben deshalb zuletzt sich zur A u s bildung des mannigfaltigsten Stoffes zu jener Welt idealer Gestalten entfalten kann, welche wir als den Inbegriff hellenischer K u n s t mit R e c h t bewundern." Die von Thiersch der i. Abhandlung beigefügten Anmerkungen enthalten endlich eine Fülle interessanter Bemerkungen und Urteile über die gleichzeitige archäologische Literatur, zahlreiche Belegstellen aus den literarischen Quellen, namentlich dem Zweck dienend den Zusammenhang der griechischen Kunst mit Ägypten nachzuweisen, und eine mühevolle Untersuchung über Dädalus und die als seine Schüler bezeichneten Künstler. Die zweite Abhandlung 1 ) von Thiersch umfaßt die E n t w i c k l u n g der K u n s t aus ihren alten Formen in einer Folge von Fortschritten zu dem Gepräge reiner Schönheit und Erhabenheit von der 50.-—72. Olympiade, v o m heiligen zum erhabenen Stil. Literarische Nachrichten und Sagen verwertend, schildert er die einzelnen Schulen in Attika (Athen), Kreta, im Peloponnes (Sikyon und Argos, Korinth und Lakedämon), in Samos, Chios und Ägina; eingehend behandelt er Polyklet, Myron und Pythagoras. Nach einer Darstellung der Stoffe, deren sich die Künstler bedienten, sowie der Technik der Bearbeitung verbindet Thiersch die Schilderung der Vermehrung der Gegenstände mit der Entwicklung der wichtigen Frage, welche Ursachen den Übergang der Kunst aus dem symbolisch-heiligen Stil zu größerer Freiheit ermöglichten. Von großer Bedeutung war die wachsende Zahl der Bildsäulen mit neuen Attributen und Beinamen der Götter, als sie nicht bloß zum Dienst, sondern auch zum Schmuck der Tempel aufgestellt wurden und die Ehre derselben zuletzt von den Göttern auf die Menschen überging, die Ersetzung der bisher gewohnten Weihgeschenke, wie der Becken, Dreifüße und anderer Geräte durch Bildsäulen, die Darstellung von Versammlungen der Götter und Helden, die Verherrlichung der olympischen Sieger, bald auch anderer verdienter Männer und die Aufstellung der aus Erz gegossenen Siegeswa gen. Die Kunst hatte damit eine ihrem Wesen und ihrer Würde entsprechende Bestimmung erhalten, die Grundbedingung alles künstlerischen Gedeihens war gegeben. Sie genügte einem tiefen, unabweisbaren Bedürfnis des Volkes, der Frömmigkeit gegen die Götter und der Dankbarkeit gegen die Menschen, und trat so in innigste Verbindung mit allem, was das Leben Großes und Ehrwürdiges bot. Sie wurde gehoben durch den Ruhm, den ihre Werke auf Künstler und Staaten zurückstrahlten, und begünstigt durch das wachsende Gedeihen und die höhere Richtung, in welche durch die Perserkriege alle Gesinnungen und Handlungen des Volkes hineingezogen wurden. Gerade die Bildung eines Jünglings oder Mannes in voller Blüte jugendlicher K r a f t und Schönheit bot einen der früheren Kunst unbekannten Gegenstand dar, der zu seiner Darstellung andere Mittel in Anspruch nahm und andere Kräfte hervorT h i e r s c h , Epochen. 2. Abt. Die Epoche der Kunstentwicklung. 1819. S. 108 bis 255.

— 393 — rief. „Hier gerade wurde die Katastrophe des altheiligen Gepräges, durch die Gunst der Umstände schon früh vorbereitet, am Ende herbeigeführt und die Kunst von der Nachahmung überlieferter Gebilde zur Nachahmung der Natur herübergeleitet." 1 ) Die sichtbaren Ursachen der Geburt der höheren Kunst in Griechenland sind damit gekennzeichnet. An diesem Punkt der Untersuchung kündet sich „eine große Begebenheit von höchster Wichtigkeit" an. Im Gegensatz zu Ägypten und vielleicht zu allen vorgriechischen Ländern wandelt in Griechenland die Darstellung der Menschen die Darstellung der Götter um; zum ersten Male in der Entwicklung der Menschheit erscheint der menschliche Geist auf dem Gebiet der bildenden Kunst nach dem Bruch alter Schranken bereit von der Bahn des Gehorsams auf die der freien Forschung überzugehen. Der Erfolg dieses unerhörten Versuches ist überraschend: nach einem einzigen Jahrhundert die Erschaffung einer neuen, in sich vollendeten, das Höchste in heiterer Schönheit und ruhiger Majestät umfassenden Welt der bildenden Kunst. Die Erklärung dieses Wunders versucht Thiersch dadurch zu ermöglichen, daß er die Erscheinung im Zusammenhang des gesamten Lebens jener Zeit betrachtet. Die Zerspaltung des Landes in eine Vielzahl selbständiger Staaten, die Entfaltung seines inneren Lebens, der Übergang zu den verschiedensten Formen freier Gemeinden, der Reichtum und die Mannigfaltigkeit seiner religiösen Anstalten und Sagen leiteten die Masse der edlen Bürger zur Selbstbesinnung und zum Bewußtsein der höchsten Bedürfnisse des Lebens wie des Geistes. So war der Weg gebahnt das Denken von den Fesseln des Herkommens zu lösen und in der freien Forschung eine neue verjüngende, das Gute zum Bessern führende Macht unter den Völkern aufzurichten. Dieser Geist entwickelte sich zuerst an besserer Begründung und Anordnung der sozialen Verhältnisse im Staat. Um die Ol. 50 schuf Solon seine Gesetzgebung, dann suchte seit Thaies die jonische und eleatische Philosophie die letzten Gründe der Erscheinungen, das Wesen der Dinge, zu entdecken; bald blühten Kunst und Philosophie nebeneinander, die lyrische Poesie und die Musik folgten ihnen. Am stärksten ist die Übereinstimmung in der Entwicklung der Tonkunst und der bildenden Kunst. „ D e r letzte und innerste Grund der Erscheinungen, das, was den Griechen zum Griechen m a c h t , . . . ist die Selbständigkeit im Denken und Handeln." 2 ) Dieser Geist ist natürlich nicht zu einer bestimmten Zeit in die Künstler übergegangen, noch warf er, einmal erwacht, die alten Schranken sogleich um, noch war er in allen Schulen und Meistern gleich wirksam, noch wurde jeder Fortschritt zum Besseren sogleich für die gesamte Kunstausübung benutzt. Das Problem stellt sich vielmehr so dar: Wie in der ägyptischen Kunst, beobachten wir in der griechischen in der Zeit der Dädaliden während f a s t tausend Jahren eine gewisse Befangenheit, allmähliche Ausbildung des einzelnen, Verschwinden des Abschreckenden der ältesten Gebilde, Erweiterung der Mittel, der Stoffe, der Werkfertigkeit, trotzdem die Werke am Schluß dieses Zeitraumes den ältesten gleichgeachtet, also die Neigung zu bessern durch die Entschiedenheit zu bewahren gehemmt. Als aus den oben geschilderten Gründen die allgemeine Veränderung des gesamten geistigen Lebens auch in der Kunst sich bemerkbar machte, hörte die Hemmung nicht plötzlich auf, wurden die alten Schranken nicht sogleich gänzlich niedergeworfen, wohl aber wuchs das Streben zu bessern. ,,In diesem anfangs leisen, dann offenen Ringen der besseren Einsicht mit der Gewalt heiliger Satzung und den Erfolgen desselben ist offenbar die Eigentümlichkeit der griechischen Kunstentwicklung ') a. a. O.

S. 230.

2

S. 235.

) a. a. O.

— 394 — ausgesprochen." 1 )

Damit setzt sich Thiersch in Gegensatz zu denen, die das Wesen der Kunstentwicklung im ungehemmten Fortschritt nach dem Wahren und Schönen sehen. Das Studium der auf Ägina gefundenen Giebelgruppen eröffnete Thiersch einen Einblick in dieses Problem. Die Regeln und Gesetze über Symmetrie und Rhythmus der Gestalten, die innere Kunde des Verfahrens und der Werkfähigkeit blieb, in dem alten, erst von Pythagoras geänderten Kanon wurde von Schönheit, Naturgemäßheit und lebendigem Wesen übertragen, was in ihm Raum fand, ohne sein Innerstes aufzuheben. In dieser Auffassung stimmte Thiersch überein mit C. R. C o c k e r e l l 2 ) und Johann Martin W a g n e r 3 ) , wobei er den bei letzterem gebrauchten Ausdruck „konventionell" als zu unbestimmt ablehnt. Er sieht in dem Fortwirken des Alten nicht Konvention oder Mode, sondern gemäß der antiken Anschauung t>6[ioe, H e r k o m m e n , gestützt auf alte Ansichten vom Heiligen, Sittlichen und Schicklichen. Aus den Andeutungen der alten Schriftsteller schließt er, daß die größere Annäherung an Wahrheit und Schönheit nicht sogleich überall nachgeahmt wurde; so kann man verstehen, wie Plinius Kritias und Hegias mit ihren altertümlich steifen Bildsäulen als Nebenbuhler des Phidias nennt; es ist ein ähnlicher Vorgang, wie in der gleichen Stadt der Kampf der alten und neuen Tragödie des Äschylus und Sophokles. Die Beobachtung der Köpfe der Ägineten, die Behandlung der Haare und Kleider im Zusammenhalt mit Plinius Nachricht über Myron, der nur die Körper sorgfältig ausgebildet habe, während er im Gesicht das Gemüt nicht ausdrückte, bestärken Thiersch in seiner Grundauffassung der griechischen Kunstentwicklung; die Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinung sieht er darin, daß die neue Richtung sich an den Teilen versuchte, die durch ihre Veränderung den Eindruck des Ganzen am wenigsten aufhoben; am längsten widerstand das Angesicht der Gottheit der Neuerung. Zuletzt siegte auch hier die Wahrheit über die Satzung, besonders seit in Attika auf der Bühne die Götter durch Menschen in freier Bewegung und in einer den Erfordernissen der Schönheit gemäßen Bekleidung und Ausstattung auftraten. Im Schluß der zweiten Abhandlung weist er endlich auf die Bedeutung der griechischen Gymnastik für die Kunst hin. „Denn dem zur Bildung menschlicher Gestalten berufenen Künstler bot sich in den Gymnasien und auf den Schauplätzen der öffentlichen Festkämpfe die menschliche Gestalt in ihrer höchsten und vollsten Ausbildung", da die Erziehung den ganzen Menschen, Leib wie Geist, gleichmäßig umfaßte. „Hier wurde, wie im ganzen Volk, so in dem Künstler, der Sinn für das Lebendige in seinen edelsten Formen, jene alles erfüllende Begeisterung für das Schöne geweckt und nach Vernichtung der alten Schranken die Wahrheit und Schönheit der Gestalt, umgeben von Anmut, Besonnenheit und Sitte, als Spiegel eines in sich wohlgeordneten, beruhigten und klaren Gemütes zum Kampfziel für die Bestrebungen der Künstler aufgestellt." 4 ) „ E r z und Marmor sollten Leben haben, atmen, verlangte die allgemeine Stimme, und nichts die Harmonie der sinnlichen und sittlichen Schönheit aufheben und gefährden. Die Kunst, durch diese Forderung in ihrer Richtung erhalten, ward eine zweite Schöpfung menschlicher Gestalt als des irdischen Abbildes der Schönheit und Sittlichkeit." Dem begeisterten Künstler offenbarte sich das Schöne in verklärter Reinheit; es in dieser Gestalt darzustellen wurde die höchste Aufgabe, *) Epochen. S. 238. On the Aegina Marbles, in Journal of Science and the Arts. Nr. X I I . S. 327ff. London 1819. a) Bericht über die Äginetischen Bildwerke. 1817. S. 8g ff. 4) Epochen. S. 252/253. 2)

— 395 — als auch die Götterbilder ihre alten Formen abgelegt hatten. Die homerischen Gesänge erleichterten diesen Aufschwung der Kunst zum Idealen. I m Nachtrag 1 ) zur zweiten Abhandlung setzt sich Thiersch in überlegener, aber sehr scharfer Kritik mit Hirts Rezension auseinander; K . O. Müllers Satz: Das Handwerk im einfachen Sinn der Väter wurde fortgeübt, „bis auch hierin die in den organischen Gesetzen des hellenischen Lebens bestimmte Zeit um war und der lebendige Funke schöpferischer K r a f t sich entzündete", und seine Behauptung, man könne den Grund, warum es gerade jetzt geschah, ebensowenig in äußeren Umständen nachweisen, als davon, warum die Hellenen so kunstsinnig waren, geben Thiersch Veranlassung darauf hinzuweisen, daß der Kunstsinn der Griechen durch Himmel und Meer und Erde von Griechenland, wie durch Leben und Sitten des Volkes bedingt war: „Hellas in seiner überschwänglichen Herrlichkeit, Anmut, Fülle und Eigentümlichkeit hat die Hellenen erzogen"; zugleich betont er nachdrücklich, daß ein „natürlicher Entwicklungsgang" sich nur aus der Anlage des Volkes und seinen Schicksalen, aus der Art und dem Grund seiner früheren Bildung, aus Einwirkungen von Staat, Gesetzen, Sitten, Erziehung, Kultus und seinen Feiern und Festen, aus gegenseitiger Wirkung und Belebung der einzelnen Künste, nicht nur der Plastik, Malerei, Architektur, sondern auch der Musik, Poesie, Orchestik erklären lasse.

Sechs Jahre nach der 2. Abhandlung folgte 1825 die abschließende letzte, 2 ) die Epoche des vollendeten Kunststiles enthaltend. Sie rief den stärksten Widerspruch hervor und war den größten Mißverständnissen ausgesetzt. Ihr hauptsächlicher Zweck ist nachzuweisen, daß diese Epoche in „ i h r e n b e s t e n W e r k e n " von Phidias bis auf Hadrian und M. Aurelius bestand; zugleich will sie die äußeren und inneren Gründe der langen Dauer klarlegen. Phidias und seine großen Zeitgenossen vollendeten die Kunst; ihre Schüler füllen hauptsächlich den ersten Zeitraum bis zum Ende des peloponnesischen Krieges. Den unerschütterten Bestand der bildenden Kunst, die Gewinnung neuer Formen und die Erweiterung des Kreises der Darstellung während des Kampfes zwischen Athen und Sparta, der Thebischen und makedonischen Vorherrschaft beweisen vor allem die Namen des Praxiteles, Euphrenor, Skopas, B r y a x i s und Lysipp. In dem Zeitalter des Ptolemäus Lagi, des Pyrrhus und Agathokles, des ätolischen und achäischen Bundes hörte zwar nach Plinius Meldung die Kunst auf um in der 155. Olympiade zu neuem Leben zu erwachen; doch kann diese Stelle nur so gedeutet werden, daß in jenem Zeitraum kein Meister im Erzguß sich besonders auszeichnete. „ D a ß die bildende Kunst im ganzen dem Geist des großen Zeitalters und seines Stiles auch während jener Epoche treu blieb", zeigen die durch Feinheit und hohen idealen Stil ausgezeichneten, geschnittenen Steine, z. B . die großen Kameen mit den Bildnissen des zweiten Ptolemäus und seiner Gemahlinnen, ferner die Münzen der Ptolemäer, des Agathokles, des Pyrrhus, der syrischen und makedonischen Könige, endlich von größeren Werken die „medizeische Venus" des Kleomenes, des Sohnes des Apollodorus, seine Thespiaden, die schon Mummius aus Thespiä entführt, die Porträtstatue eines Römers, angeblich Germanikus darstellend. Mit großer Sorgfalt geht Thiersch dem Wirken griechischer Künstler in R o m nach, des Pasiteles, der unter Marius und Sulla lebte, des Arkesilaos und vieler anderer, sowie der berühmten Toreuten aus dem Zeitalter des Pompeius. Die kolossale Statue 2

Epochen. S. 256/269. ) Epochen. S. 270 ff.

— 396 — des Pompeius im Palazzo Spada zu Rom untersuchte er wiederholt aufs genaueste an Ort und Stelle. In der beginnenden Kaiserzeit weist er auf die von Plinius erwähnten Künstler hin, die die Kaiserpaläste schmückten, auf die ausgezeichneten geschnittenen Steine des Dioskorides, oder ungenannter Meister, wie die sogenannte Apotheose des Augustus, oder Augustus und Roma als zusammen thronende Gottheiten. In dieselbe Zeit dürfte die kolossale Gruppe des Nil gehören; Thiersch bewundert in ,,der Anlage einen Reichtum und eine schöpferische Fülle der Erfindung, zugleich eine Sicherheit symbolischer Bezeichnung des Inhaltes, wie kein anderes uns gebliebenes Werk der alten K u n s t " ; die Ausführung des Ganzen, die Großheit und Reinheit aller Formen der mächtigen Gestalt, die Leben atmende Wahrheit, durch welche das Ideale wieder zur Natur wird, vergleicht er mit den Giebelfeldgruppen des Parthenon. Unter Nero war nach dem Zeugnis der alten Schriftsteller Zenodorus besonders als Künstler geschätzt. Als ein interessantes Beispiel, wie bewährte Kenner manche der uns erhaltenen Statuen wegen ihrer vortrefflichen Ausführung in das Zeitalter des Phidias und Praxiteles hinaufrückten, während andere sie in die römische Zeit herabsetzten, erwähnt Thiersch die Gruppe des Castor und Pollux im Quirinal in Rom. Canova, Thorwaldsen und Heinrich Meyer halten sie für ein Originalwerk aus der Blütezeit griechischer Kunst; Thiersch folgt Visconti und Martin Wagner, die es als ein Werk aus der Regierung Neros ansehen. Die gleiche Ansicht h a t er hinsichtlich des Apollo von Belvedere: er weist auf die Marmorart hin, die in solcher Feinheit erst kurz vor Plinius in Carrara gefunden wurde, auf die Auffassung des Gottes, die als der letzte Aufschwung zu betrachten ist, den die Kunst zur Darstellung des Apollo genommen hat, auf die Belebtheit und Stärke des Ausdruckes innerer Stimmung, die den großen Werken des höheren Altertums fremd war, und auf den Auffindungsort in Antium, wo Nero besonders gern weilte. Für die Regierung des Titus liefert die Laokoongruppe den Beweis des unerschütterten Bestandes der bildenden K u n s t ; sie wurde zum Schmuck seines Palastes auf dem Esquilin gefertigt; mit ihr bringt Thiersch „den Borghesischen Centaur" und den „Torso des Herkules von Belvedere", ein Werk des Apollonius, des Nestors Sohn, aus Athen, in Verbindung; für die späte Ansetzung dieses Werkes spricht nach seiner Meinung die raffinierte Behandlung der Muskulatur, die kursiven Zeichen der Inschrift, die weitgehende Übereinstimmung mit der Laokoongruppe. Für die Zeit des Trajan und Hadrian verweist endlich Thiersch auf die Reliefs des Triumphbogens, die Büsten des Kaisers und die Antinousstatuen. Apollodorus schließt würdig die Künstlerreihe seit Phidias. Mit Hilfe der Zeugnisse des Altertums und einer Reihe sie bestätigender Denkmäler der bildenden Kunst kommt also Thiersch zur These von dem langen Bestand der griechischen Kunst. Er ist sich der Schwierigkeit dieses Problems wohl bewußt: warum sollte die Kunst allein nach Umgestaltung aller bürgerlichen Ordnungen, der Sitten, der Ansichten in ihren edelsten Erzeugnissen sich so lange erhalten haben ? Mächtige äußere und innere Ursachen und Triebkräfte müssen zur Erklärung herangezogen werden: Während der ganzen Periode von Phidias bis Hadrian vervielfältigte sich die Gunst der äußeren Umstände, den Künstlern eröffnete sich ein immer größeres Feld der Tätigkeit, ein reicherer Stoff der Behandlung. In Griechenland dauerte die Sitte kunstreiche Werke aus Marmor und Erz in den Tempeln zu stiften, die Hallen, Märkte und Prytaneen zu schmücken, die olympischen und pythischen Sieger zu feiern bis in die römische Zeit fort; ja nach Pausanias Bericht wurden noch unter den Kaisern neue Kunstwerke in Griechenland aufgestellt; noch aus dem verarmten Land ging ein Meister, wie Apollonius, Nestors Sohn, hervor. Alexanders Eroberungen eröffneten der griechischen Kunst die Reiche und Schätze Asiens; die Diadochen-

— 397



dynastien schmückten die neuen Hauptstädte Antiochia, Seleucia, Alexandria, Pergamon mit Gebäuden und Bildsäulen. Die berühmten Schulen von Rhodus, Athen, Sikyon befriedigten den fast unermeßlichen Bedarf. Die Römer brachten nicht nur Schätze der Plastik und Malerei nach Rom, sondern zogen griechische Künstler nach Italien die Städte mit ihren Werken zu zieren. Was die Republik begonnen hatte, setzten die Kaiser fort. Die äußere Begünstigung und die Gelegenheit zu großen Arbeiten allein konnten indessen den Bestand der Kunst nicht gewährleisten; sie kann im Überfluß altern, in Manier und Geschmacklosigkeit versinken, zumal wenn die schöpferische Kraft des Geistes, aus der die ältere Bildung hervorging, brach, die alte Sitte und Gesinnung schwand. Um die verborgene Kraft zu finden, die die bildende Kunst in ihren besten Werken fünf Jahrhunderte lang vor Verfall bewahrte, betrachtet Thiersch wegen der nahen Verwandtschaft die Werke der redenden Kunst, und zwar die besten der Poesie, Geschichtsschreibung und Philosophie. Die neue Komödie blühte von der makedonischen Zeit bis zur Ankunft der Römer, Theokrit leistete Vollendetes in der Idylle, Catull und Properz bildeten sich an den großen Mustern der Elegie aus der alexandrinischen Zeit; jahrhundertelang zeugte das Epigramm von der Unzerstörbarkeit des griechischen Geistes. Die Prosa trieb Blüten und Früchte, des früheren Altertums nicht unwürdig, von Demosthenes bis zu Polybius, dem Freund des jungen Scipio. Plutarch hielt unter Vespasian und Hadrian den Ruhm griechischer Literatur und Bildung durch Weisheit und Fülle seiner Darstellungen aufrecht, Arrians 'Ayaßaan hält einen Vergleich mit Xenophon aus.

Die Frage nach den Ursachen dieses der bildenden Kunst analogen, wenn auch nicht gleichen Bestandes der redenden Kunst führt Thiersch auf eines der interessantesten Probleme1) der griechischen Geschichte überhaupt, auf das der „Nachahmung", dessen Lösung einen Einblick in das Wesen des griechischen Altertums eröffnen soll. Friedrich Creuzer2) nennt diese Ausführungen „im ganzen höchst gelungen, ja unvergleichlich", wohl geeignet eine klare und lebendige Erkenntnis vom Geist des Altertums zu gewinnen. Thiersch gibt als Grund jener merkwürdigen Erscheinung „die Ehrfurcht vor den ältesten und größten Mustern jeder Gattung", „die Einsicht in den Grund ihrer Vorzüge" und „das Bestreben sie nachzuahmen". In scharfem Gegensatz zu der Neuerungssucht der modernen Literatur rühmt er im Altertum das fast völlige Fehlen des Strebens einzelner, durch Versuche ganz neuer Bahnen und Arten originell zu erscheinen; man glaubte, um zu eigener Trefflichkeit zu gelangen, müsse man damit anfangen sie in reinen Mustern zu erkennen und mit Einsicht zu bewundern. So wird ihre ganze Literatur eine durch alle Zeiten sich fortsetzende Nachahmung ; aber diese Nachahmung hemmt nicht die Kraft der einzelnen noch schließt sie eigenes Verdienst aus. Gerade durch das Ringen wird die kräftige Fülle des eigenen Geistes gestärkt und zur Freiheit, die ein Sieg über die *) Epochen. S. 35off. Deutsche Schriften.

2)

2. Abt.

1846.

S. 56.

— 398 — Schwierigkeiten ist, und zur Sicherheit des eigenen Schaffens erhoben. Wenn sich in dem neuen Werk auch der Geist der Alten zeigt, so kann es durch das hinzugekommene Eigene das Muster noch übertreffen. In diesem Begriff der Originalität der Alten liegt das Geheimnis, warum ihre besten Werke trotz aller Mannigfaltigkeit an Gestalt und Farbe wie aus einem Geist und Keim gewachsen erscheinen. Eine solche Nachahmung ist keine Wiederholung. Sie zu lehren war der Zweck der Rhetorenschulen. In diesem Sinn faßte sie Quintilian; auf seiner Bahn erscheint in Tacitus noch einmal der Geist römischer Größe in dem vollendeten Gepräge einer kunstreichen und des Altertums würdigen Darstellung. Die vergleichenden Beobachtungen an den Werken der redenden Kunst führen Thiersch zur Lösung des Problemes, warum die griechische bildende Kunst so langen Bestand hatte. „Noch strenger und entschiedener als die redende ist die ganze bildende Kunst der Alten eine Nachahmung überlieferter Formen, ruhend in der Ehrfurcht vor den alten und großen Mustern und geschirmt von der Einsicht in ihre Vortrefflichkeit, zugleich aber auch ein Bestreben, sie aus der Fülle der Natur zu veredeln und zu vervielfältigen, oder eine Nachahmung der Natur." Thiersch verfolgt beide Arten der Nachahmung in der griechischen Kunst, erwähnt ihre wundersame Vermischung in den Äginetengruppen; in Phidias' Zeit gelang es durch weise Vermittlung des Alten und der Forderungen besserer Einsicht in die Natur und die Bestimmung der Kunst „eine nach festen Gesetzen auf Wahrheit des Gedankens und Wahrheit der Form gebaute Welt der Gestalten zu gründen, gleichsam den ganzen Olymp auf die Erde zu verpflanzen und die menschliche Bildung nach ihnen zu veredeln." „Es war gelungen, die ideale Götterbildung als höhere, veredelte Natur darzustellen." Jeder Gott hatte das seiner Idee gemäße Gepräge seiner Gliedmaßen, seines Hauptes, die seinem Amt und Eigenschaften entsprechende Haltung und Handlung. Nach den gleichen Grundsätzen erhielten die Bildsäulen der Menschen das ihnen gebührende Gepräge. Weil dabei alles aus der Einsicht in das Wesen und die Bedeutung des Gottes oder des Menschen floß, so schloß die neue Kunstwelt zugleich die Notwendigkeit der Nachahmung in sich als eine Grundbedingung ihres Wesens. Jeder neu hinzukommende Künstler, in dieser Welt schöner Gestalten aufwachsend, mußte sich mit ihr auseinandersetzen und versuchen zu veredeln, Naturwahrheit und Schönheit zu steigern. Der Geist der Nachahmung in dieser Periode zeigt also eine Verwandtschaft mit dem, welcher in der Periode des symbolisch-heiligen Stiles waltete, sofern beiden die Ehrfurcht vor der Überlieferung zugrunde lag; er unterscheidet sich von ihm, als jener durch den Glauben und die Scheu vor dem Heiligen, dieser durch die Einsicht und Achtung vor dem Vollkommnen genährt wurde.

— 399 — Die Wirkungen der alten Meisterwerke wurden noch verstärkt, weil hervorragende Künstler ihre Anschauungen über die Vollkommenheit der Proportionen in Schriften niederlegten wie Polyklet oder in der Malerei Apelles. Das Ansehen der Vorgänger, die Macht des Beispieles, die Weisheit der Lehren, die eigene Bildung erhielten also den Jüngling in den reinen Grundsätzen der K u n s t ; dazu kam die allgemeine Bildung und das auf sie gegründete Urteil der Zeitgenossen. Trotz des Wechsels der Zeiten und Meinungen blieb „die Einsicht in das Schöne, die sichere Würdigung aller Formen, in denen es hervortrat, und die freie Huldigung, mit der es begrüßt wurde, der, wenn auch oft geschwächte, doch nie verloren gegangene Besitz des ganzen griechischen Altertums". Thiersch erkennt also das Wesen der griechischen Kunst in Nachahmung und Veredelung ihrer selbst; ihrer innersten Natur entsprach das in sich Übereinstimmende, Feste und Gleichmäßige. So tritt sie ihm in den erhaltenen Werken entgegen; trotz aller Mannigfaltigkeit und verschiedenen Würdigkeit leuchtet immer wieder der Gedanke der Einheit durch. Alles, was sich erhalten hat, ist „gleich den Werken der Natur, wie nach unveränderlichen Gesetzen als ein aus einem Gedanken entsprungenes, in sich abgeschlossenes Ganzes der Schönheit und Erhabenheit dargestellt". Damit löst sich für ihn das Problem des langen Bestandes der Plastik: ihre durch fünf Jahrhunderte fortdauernde Blüte ist „die notwendige Folge jenes in sich klaren, sich gleichen und in neuen Werken nur immer sich selbst wieder gebärenden und verjüngenden Geistes dieser K u n s t " . Die Zeit des Perikles und Phidias war nötig sie auf jene Höhe idealer Bildung und Vollendung zu heben. Thiersch verschließt sich selbstverständlich nicht der Einsicht, daß neben dem Vortrefflichen auch das Mittelmäßige selbst in der Zeit der höchsten Blüte hervortrat, daß in der römischen Zeit die Entartung immer weitere Gebiete der Kunst ergriff; aber in den besten Werken bildender Kunst jedes Zeitalter erhielt sich der echte Geist von Phidias bis Hadrian. Mit aller Entschiedenheit tritt Thiersch dem Mißverständnis entgegen, als ob die spätere Kunst eine gleichmäßige Wiederholung der alten sei, wodurch jeder Unterschied der Zeiten und Schulen aufgehoben würde. „Eine solche Gleichmäßigkeit wäre Knechtschaft und unverträglich mit jedem Walten des eigenen Genius." Nicht als Wiederholung muß die bildende Kunst der Griechen betrachtet werden sondern als zweifache Nachahmung des Überlieferten und der Natur; diese schließt den Wechsel so wenig aus, daß die besten Werke nach Zeit und Schulen verschieden sind. Zum Schluß 1 ) der dritten Abhandlung gibt Thiersch noch einen Überblick über die wesentlichen Unterschiede der früheren und späteren Kunstwerke, soweit sie Epochen.

S. 361-—376.

— 400 — in Handlung, Stil und Ausdruck in Erscheinung treten. Mit Hilfe dieser drei Kriterien versucht er ihre Scheidung nach verschiedenen Epochen ; an Götterbildern der Athene, der Diana und des Apollo verfolgt er den allmählichen Übergang von bewegungsloser Steifheit bis zur gesteigerten Hast; einen ähnlichen Wechsel stellt er im Stil, der Art der Ausführung, fest. Hier befindet er sich in Übereinstimmung mit Eméric David 1 ), dessen preisgekrönte Untersuchungen über den Stil der griechischen Skulptur er für das beste hält, was auf diesem Gebiet geschrieben wurde. Der Bildhauer Giraud hatte dem Verfasser die Grundansichten geliefert. Das Wesentliche des klassischen Stiles in der bildenden Kunst sieht er in der Behandlung der großen Flächen der menschlichen Gestalt und in dem Verhältnis der kleinen Pläne zu den größeren; die Hauptsorge der alten Meister ist es die Hauptflächen vor allem zu beachten, ihnen die möglichste Ausdehnung und Ausbildung zu geben, und sie durch die gebogenen Linien an den Stellen ihrer Zusammenfügungen deutlich zu trennen. Die großen Pläne sind aber aus einer Menge kleinerer zusammengesetzt, welche durch den Eindruck der einzelnen Gelenke, Knochen und Muskeln auf die Oberfläche der über sie verbreiteten Haut gebildet werden und in leichten Biegungen und Schwingungen sich auseinander erzeugen und ineinander übergehen. Die Behandlung dieser untergeordneten Flächen und ihres Verhältnisses zu den Hauptplänen ermöglicht eine Charakterisierung der griechischen Kunst in den verschiedenen Zeiten und Schulen und eine Unterscheidung von der plastischen Kunst anderer Völker; so versäumten z. B. die ägyptischen Künstler durch Vernachlässigung der Nebenflächen ihre Werke der Natur nahe zu bringen; die moderne Plastik von Bernini bis zur Wiederbelebung des klassischen Stiles unterließ es die Hauptflächen zu beachten; daher sind gerade Berninis beste Werke wie die der älteren französischen Schule bei aller Naturwahrheit und Wärme der Behandlung verworren, überladen und klein. Die griechische Plastik in ihrem klassischen Stil dagegen bewegt sich in der Mitte zwischen beiden Extremen ; daher sind ihre Werke zugleich einfach und groß, ideal und naturgemäß; sie offenbaren denselben Geist wie eine Tragödie des Sophokles oder eine Rede des Demosthenes. Das allgemeine Kennzeichen des klassischen Stils in der bildenden Kunst ist also das weise Maß in der Behandlung des einzelnen zur Schonung der Hauptflächen; die Verschiedenheiten dieser Behandlung unter den griechischen Künstlern selbst bilden die einzelnen Arten und Gestaltungen dieses Stils, verschieden nach den einzelnen Jahrhunderten. Thiersch verfolgt die Entwicklung von den Ägineten bis zu den anatomisches Studium verratenden, mit fast raffiniertem Eingehen auf Einzelheiten und gesuchteste Ausbildung gefertigten Werken des Laokoon, des borghesischen Zentaurs und des Torso des Herkules. Die Venus von Melos stellt er den Parthenonskulpturen zunächst wegen der Großartigkeit der Form und der einfachen Wahrheit ihrer Behandlung. In dem Jalysus der Glyptothek verehrt Thiersch die „Krone aller Marmorbilder" des Altertums, „jene erhabene Großheit zur mildern Schönheit herabstimmend, und diese Wahrheit zur Wärme und bis zur Unmittelbarkeit des Lebens selbst steigernd", „Leben atmend und beseelt". 2 ). Das dritte Kriterium zur Bestimmung der Kunstwerke bildet der Ausdruck, die äußerliche Darstellung der inneren Bewegung des Gemütes in den Mienen. Bei der Betrachtung der Kunstwerke der Ägineten, des Zeitalters des Phidias und Praxiteles, des Frieses von Phigalia kommt Thiersch zu der Feststellung, daß Heiterkeit und Freude, Betrübnis und Schrecken überall gemildert erscheinen; er vermutet hier 1 ) Eméric D a v i d , Recherches sur l'art] statuaire considérée chez les anciens et chez les modernes. l ) Epochen. S. 366.

— 401 — eine Übereinstimmung mit den Beobachtungen der Künstler an ihren Zeitgenossen. „ D i e bildende Kunst war hier so gut und so vollständig Ausdruck einer durch alte Sitte, Frömmigkeit und inneren Frieden glücklichen Zeit wie die Malerei der deutschen und altitalienischen Schule bis Albrecht Dürer und R a f a e l . " 1 ) J e weiter die Kunst fortschreitet, um so stärker, bewegter und mannigfaltiger wird der Ausdruck des Gemütes auf dem Angesicht idealer Gestalten; was sie an Adel und Größe verlieren, gewinnen sie an Anmut und gefälligem Wesen. I m Laokoon ist der Ausdruck des Schmerzes mit einer Gewalt ausgeführt, welcher von der Ermäßigung eines heroischen Gemütes kaum noch die leiseste Spur übrig läßt; er zeigt zu sehr ein im ärgsten Kampf unterliegendes Gemüt, schon nah, schon hingegeben dem Schrecknis der Verzweiflung. „Doch hört das Werk deshalb nicht auf, eines der größten Wunder der Kunst und der menschlichen Schöpferkraft zu sein."

So gliedert 2 ) sich denn Thiersch die griechische bildende Kunst in drei Epochen, in die 500jährige des symbolisch-heiligen Stiles, in die 100jährige der Entwicklung voll hoher Eigentümlichkeit, und in die 500jährige des vollendet idealen; „in diesen dreien ein großes, in sich abgeschlossenes Ganzes, dem an Umfang und Mannigfaltigkeit, an Sicherheit der Grundsätze und Weisheit der Ansichten, an Schönheit und Erhabenheit im Gebiet des menschlichen Geistes kaum eine andere Tat oder Erscheinung kann verglichen werden". „Die früheste Zeit hat den Stamm der späteren Kunst erzogen und gekräftigt, seine Äste ausgebreitet und seine Knospen angesetzt, sie verhüllt das ganze Getriebe verborgener Kräfte und Bestrebungen, aus denen schnell dann hervorgebrochen, was schon bei seiner Erscheinung in Staunen gesetzt und durch alle Zeiten herab sich als Gegenstand der höchsten Bewunderung erhalten hat." Die Auseinandersetzung mit den entgegenstehenden Ansichten von Winckelmann, K . O. Müller, Meyer und Hirt bringt Thiersch in einem ersten Nachtrag zur dritten Abteilung. 3 ) Winckelmann weist er nach, daß er die bildende Kunst allzusehr dem Gang der politischen Begebenheiten, besonders von Athen, unterwerfe, willkürlich mit Praxiteles den zweiten und schönen Stil der griechischen Kunst ansetze, obwohl die Alten eine solche Unterscheidung gar nicht kannten und uns das Vergleichungsmaterial in den Werken des Polyclet und Praxiteles fehlt; zudem schließe größere Weichheit in den Formen des einen Künstlers den Fortgang größerer Stärke in den Werken anderer nicht aus. „ I n solchen Dingen Stil und Epochen unterscheiden zu wollen, ist ein eitles Bestreben und jedes in dieser Weise neu Hinzugekommene kann nur als eine Bereicherung der Kunst im einzelnen betrachtet werden, neben der alle früheren Formen fortbestehen." 4 ) Da Winckelmann einen Kreislauf des Aufblühens, kurzen Bestehens und Senkens annehme, sowie eine Umbildung aus einem Stil in den andern, nämlich aus dem gewaltigen in den hohen, aus dem hohen in den schönen, aus dem schönen in den reizenden usf., so falle nunmehr dem Künstler die Aufgabe zu, zu bestimmen, welchem Stil jedes erhaltene Werk angehöre und wie es zeitlich einzureihen sei. Zweifelnd fragt Thiersch: wird damit an Stelle einer sorgEpochen. S. 372. ) Epochen. S. 376. 3 ) Epochen, S. 377—403. 4 ) Epochen. S. 379. 2

L o e w e , Friedr. Thiersch.

26

— 402 — fältig kritisch sichtenden Kunstgeschichte bald eine ganz neue und frische, aus den Kunstwerken selbst gezogene treten ? Heinrich Meyer schrieb als Künstler eine solche; doch auch Otfried Müller vermag ihm bei aller Anerkennung feiner Beobachtung und tiefer Liebe zur hellenischen Kunst den Vorwurf der Geringschätzung philologischer und historischer Forschung und unrichtiger Auffassung der geschichtlichen Entwicklung nicht zu ersparen. Thiersch geht dem Problem noch tiefer nach und weist in dem Verfahren derer, die aus den plastischen Kunstwerken der Alten allein die Zeit des Ursprunges glauben bestimmen zu können, einen doppelten Fehler nach: es mangelt sowohl ein innerer Grund für eine solche Annahme, weil ein hochbegabter Meister der späteren Zeit sehr wohl im Geist der früheren sein Werk schaffen kann, als auch ein äußerer; denn zwei historisch wohl beglaubigte Werke ersten Ranges wie die Bildwerke des Ilyssus und des Nil zeigen in ihrer Ausführung solche Übereinstimmung des Stiles, daß jeder Kenner des Plastischen ohne Kunde des Historischen sie für gleichzeitig halten möchte. Völlig unhaltbar wird das Verfahren, wenn spätere Meister in der einfachen, großartigen Weise der Vorfahren arbeiteten; das erkannte Thiersch an dem Streit, der von den hervorragendsten Kunstkennern seiner Zeit über die Herkunft des Kolosses vom Monte cavallo geführt wurde, indem die einen das Werk in die Zeit des Phidias, die anderen in die Kaiserzeit setzten. Meyers Behauptung, daß unsere Zeit für die bildende Kunst „dürr und entgeistert sei", hält Thiersch die Bemerkung entgegen, die Schulen Canovas und Thorwaldsens beweisen das Gegenteil; wenn letztere, in den Bahnen des klassischen Altertums fortschreitend, sich mehr und mehr läutere, dann erhofft er Werke, die neben den besten des bildenden Altertums genannt werden können. Schwerwiegende Einwände gegen Thierschs These vom langen Bestand der griechischen Kunst machte Otfried Müller: 1 ) In keinem Reiche geistigen Lebens läßt sich eine derartige Erscheinung nachweisen noch ist sie überhaupt denkbar. Denn die bildende Kunst ist so enge mit der übrigen Sinnesart der Menschen, ihren Gedanken und Stimmungen verknüpft, daß die hochgemuten Marathonkämpfer, die weichlichen und feingebildeten Athener des Menander, die um ihre Selbständigkeit ruhmlos ringenden Achäer, die schlauen Graeculi oder die Hadrian als ihren Wohltäter feiernden Bewohner des verödeten Griechenlands nicht Kunstwerke ,,in gleichem Geist" hervorbringen konnten. Eine von dem Geist der Zeit und der Nation, und von der inneren Verfassung der menschlichen Seele in solchem Grad unabhängige Kunst müßte etwas ganz in äußeren Techniken und Regeln Bestehendes sein. Müller behauptet also von Seiten Thierschs nichts Geringeres als ein Verkennen des Wesens der griechischen Kunst, wie der Kunst überhaupt. Ein zweiter Gegensatz der Auffassung der beiden Gelehrten zeigt sich in der Frage des Problemes der Nachahmung. Müller betont bei den späteren Meistern das hohe technische Können, glaubt aber von Ausnahmen, wie die Antinousstatuen, abgesehen, daß die Beseelung fehlt. Zwar räumt er Thiersch hinsichtlich der Nachahmung gerne ein: ,,In der Tat bildet diese Achtung vor dem Bestehenden, diese stetige Fortsetzung des von den Vorfahren Begonnenen, dieses tiefe Eindringen in die Gedanken und Gefühle der früheren Meister, so daß sie mit den eigenen unzertrennlich verwachsen, einen charakteristischen Hauptzug der alten Kunst und Literatur und gewiß auch eine Hauptstufe zu ihrer Größe." Aber er befürchtet, daß durch den zweideutigen Namen „Nachahmung" sehr verschiedene Geistestätigkeiten zum Nachteil der geschichtlichen Forschung vermischt werden. Während dem Lysipp aus Polyklets Werk verwandter Geist entgegenstrahlte, geht die Nachahmung der Späteren nicht hervor aus dem Vorhandensein x

) Rezension.

S. 386ff.

— 403 — menschlichen Geistes, sondern aus dem Bewußtsein des Mangels an schöpferischer Kraft und dem Streben diesen Mangel zu ersetzen durch Studium des Vorhandenen. Wie Apollonius und Kallimachus sich im Gefühle keine neuere Formen schaffen zu können, Homers Sprache und Bilder durch Lektüre und selbst gelehrte Forschung aneigneten, brachten es die späteren Plastiker zu virtuoser täuschender Nachahmung der alten Werke, wie die Nachbildung der Becher des Kaiamis durch Zenodorus lehrt, ohne wohl ihrer Nation und Zeit eine neue Welt durch die allgemein verständliche Sprache einer lebendigen und innigen Auffassung der Natur mitzuteilen und ohne ,,in den Zeitgenossen eine der die Seele des Künstlers erfüllenden Begeisterung entsprechende und entgegentretende Gefühlsstimmung zu erwecken". Der Zweck des letzten Teiles von Müllers Rezension ist nicht eine Widerlegung der neuen Ansicht von Thiersch, deren meiste Stützen der Referent als sicher und fest anerkennt, sondern der Versuch sie näher zu bestimmen und mögliche Irrtümer abzuwehren. Die Zurückweisung1) der Einwürfe Müllers ermöglicht Thiersch eine noch schärfere Herausarbeitung seiner Ansicht. Er ist sich wohl bewußt, daß der lange Bestand der bildenden Kunst auf gleicher Höhe und in gleicher Art in den besten Werken auf dem ganzen Gebiet der geistigen Tätigkeit einzig ist. Er denkt gar nicht daran zu behaupten, daß die fiaqa &) N o a c k , Deutsches Leben. S. I43ff. A . D . B . 2 ) N o a c k , ebenda. S. I58ff.

Bd. 40.

S. .515 ff.

— 461 — denn in ihnen fanden sie die Muster einer naiven, beseelten Kunst. Bald erweiterte sich der Kreis dieser Männer in überraschender Weise durch Johann Veit, den zum Katholizismus übergetretenen Stiefsohn Friedrich Schlegels, durch Peter Cornelius und seinen Freund Keller, und die Berliner Maler Frz. Catel und Wilhelm Schadow. Overbeck und Cornelius wurden die anerkannten Führer der neuen Richtung, zwei scharf ausgeprägte Persönlichkeiten, jener stark mystisch religiös gerichtet, dieser kirchlich tolerant, durch und durch deutscher Patriot, mit Faust- und Nibelungenillustrationen beschäftigt. Die „neudeutsche" Richtung geriet in scharfe Kampfstellung zu den Klassizisten, zumal immer zahlreichere Uebertritte zum Katholizismus erfolgten, so daß sogar Cornelius einmal äußert: „Wenn ihr nicht endlich aufhört überzutreten, so werde ich noch Protestant"; von Thorwaldsen, Rauch, Wagner und Reinhart mußten sie sich harten Spott gefallen lassen, und wohl aus ihren Reihen stammt der Spitzname „Nazarener". Im Café Greco platzten die Geister oft aufeinander. Nur mit Mühe entging Schopenhauer, der den Bildhauer Eberhard durch die Bemerkung gereizt hatte, er möge sich mit seinen zwölf Philistern nach Jerusalem scheren — Eberhard wies nämlich, als Schopenhauer die olympische Götterwelt als künstlerischen Vorwurf gelobt hatte, auf die zwölf Apostel als ebenbürtige Schar von Motiven hin — der Gefahr hinausgeworfen zu werden. Infolge des Entgegenkommens des Generalkonsuls Bartholdy sollte die neudeutsche Richtung Gelegenheit bekommen durch einige monumentale Freskengemälde ihren Ruhm zu begründen. In dem von ihm bewohnten Palazzo Zuccari malten Veit, Cornelius, Overbeck und Schadow die Geschichte Josephs. Bis 1818 war alles vollendet ; ein entscheidender Sieg über die Malerei der Zopfzeit war errungen. Die führenden italienischen Künstler Canova, Camuccini und Landi äußerten sich aufs anerkennendste. Der Márchese Carlo Massimi bat Cornelius und Overbeck, das Gartenhaus seiner Villa beim Lateran mit Darstellungen aus den Dichtungen Dantes und Tassos zu schmücken. Der Plan kam nur zum Teil zur Ausführung; denn Cornelius wurde schon 1819 nach München berufen, worauf Veit die Decke mit Bildern aus dem Paradies schmückte, während Koch die Wände mit solchen aus dem Fegfeuer und der Hölle zierte. Jos. Führich vollendete Overbecks Arbeit; den dritten Raum malte Julius Schnorr nach Ariosts Rasendem Roland aus. So enthält die Villa Massimi „das umfassendste und bedeutendste Denkmal deutscher Kunsttätigkeit, das sich in Rom findet".

— 462 — Fast zu sämtlichen Männern beider Kunstrichtungen trat Thiersch in persönliche Berührung, besonders zu Wagner 1 ) und Thorwaldsen. Schon kurz nach seinem Eintreffen in Rom besuchte er das Atelier des Würzburger Landsmannes und betrachtete und besprach die Bildsäulen aus Aegina im einzelnen und ganzen. „Es ist daraus viel zu lernen und dann noch vieles zu erklären, zumal viele Figuren fehlen, von denen sich nur Hände und Beine erhalten haben und dadurch die Bedeutung der Gruppen schwankend bleibt. Die nackten Teile stehen jedoch, die Gesichter ausgenommen, der späteren Form, besonders den Bildern in den Metopen des Parthenon, näher als ich mir gedacht hatte. Ich werde noch öfters zu diesen Kunstwerken, die man nicht genug betrachten und nicht genau genug kennen lernen kann, zurückkehren müssen." Für seine archäologischen Arbeiten über die Epochen griechischer Kunst hatte er eine bedeutsame Anregung empfangen. In Wagners Atelier sah er ferner die Zeichnungen zu den großen Reliefs aus der deutschen Geschichte, die dieser Künstler für die Walhalla auszuführen hatte, ein drittes sollte das öffentliche Leben der Germanen darstellen. Sie besprachen die einzelnen Gruppen sowie die Schlachten gegen die Römer, welche als Gegenstand der drei folgenden bestimmt waren. Unter Wagners kundiger Führung besuchte Thiersch die Stätten des alten Rom. Der Besuch der verschiedenen Werkstätten Thorwaldsens, 3 ) dessen Bekanntschaft Thiersch schon in Dresden gemacht hatte, bot ihm willkommene Gelegenheit seine Kunst näher kennen zu lernen. Er sah teils in Ausführung, teils in Gips, teils in Modellen seinen Kopernikus, den Merkur, den Hirtenknaben, den Jason, die drei Grazien, den Adonis, die Hebe, die Tänzerin, Amor und Psyche, den kolossalen Christus, mehrere Figuren der Gruppe, welche den Prediger in der Wüste darstellen wird, und das große Relief, Alexanders Einzug in Babylon. Der Eindruck war nicht restlos befriedigend. „Am meisten zeigt wohl der Einzug Alexanders den im großen Geist des Altertums arbeitenden Künstler; die einzelnen Figuren, die er als Bildsäulen ausgeführt, sind zwar auf verschiedene Weise schön oder nur geringen Ausstellungen unterworfen, doch aber suche ich in ihnen vergeblich nach einem festen und bestimmten Charakter, wie ihn z. B. die Aegineten, die Figuren vom Parthenon, die besten der Niobiden 3) a)

Tagebuch. S. 425 ff. Tagebuch S. 421 ff.

— 463

-

und unter den Neueren besonders die von Michelangelo zeigen. Wahrscheinlich würde ich ihn gefunden haben, wenn mehrere von ihm vollendete Werke zur Vergleichung gestanden hätten." . . . „Ein Schwanken auf verschiedenen Seiten, besonders durch die verschiedene Art christlicher und mythologischer Werke, die ihm obliegt, hervorgebracht, dabei öfters jene mangelhafte Einsicht in der Wahl der Motive." Im ganzen aber fand Thiersch in diesen Werkstätten ein reges auf das Bedeutsame gerichtetes Bemühen und „eine Venus, welcher der Amor einen Splitter aus dem Fuße zieht", die Arbeit eines seiner Schüler, Teneroni, zeigt, daß der Geist einer reineren Auffassung der Antike von ihm auf andere übergeht und sich in seinen Schülern ausbreiten wird". Die neudeutsche Richtung 1 ) lernte Thiersch zuerst bei einem Besuch des Generalkonsuls Bartholdy kennen; zugleich war dort eine Ausstellung preußischer Künstler, da der König von Preußen erwartet wurde. „Es ist vieles Mittelgut", schreibt er in sein Tagebuch, „manche jungen Künstler haben sich auch in der frommen Manier festgefahren, die ihre Kraft hemmt und den Aufschwung unmöglich macht, so wie hier die Sache getrieben wird. Die Fresken zur Geschichte Josephs bezeichnet Thiersch als „das erste größere Werk der neuesten deutschen Kunst in diesem Fache von historischer Bedeutsamkeit, die beiden von Cornelius, die Traumauslegung und die Wiedererkennung der Brüder, lassen, besonders das erstere, den Maler der Glyptothek schon erkennen; die anderen sind geringer; auch hier geht ein gewisser Geist der Lähmung und Kraftlosigkeit hindurch, der sich am deutlichsten in dem Joseph, welcher dem Weibe Potiphars entflieht, von Overbeck ausspricht". Einer Einladung Schnorrs folgend besuchte2) Thiersch mit einer Schar Künstler die Villa Massimi; schon die Kartons, welche Thiersch bei Veit gesehen, hatten ihm eine große Vorstellung von dem Werke beigebracht ; „sie wurde durch die Malereien, soweit sie fertig waren, keineswegs herabgestimmt. Overbeck schien mir auch hier an Geist und Leben der Schwächere; viele Gestalten sind aus der Trockenheit der alten Schule nicht durchgedrungen und die Erfindung ist hie und da ebenso dürftig als durch kleine Motive bedingt. Doch fehlt es auch seinem großen Werke nicht an gelungenen Partien". „Die Gerusalemme liberata in der Mitte der Decke, der von Genien die Fesseln abgenommen werden, ist eine Gestalt von großem Adel und ausgezeichneter Harmonie. Der ') Tagebuch. 2) Tagebuch.

S. 430. S. 665ff.

— 464

-

Engel des Wandgemäldes, der über die Fluten des Meeres schwebt, es mit wundersamem Glanz erfüllt und den schlafenden Gottfried zur Vollendung des heiligen Kampfes mahnt, erscheint als ein Werk von großer Wirkung, wenn auch in der Färbung etwas schwach. Schnorrs Mittelbild, eine Vermählungsszene, versammelt die hervorragendsten Personen im Ariost um Kaiser Karl den Großen in sehr schönen Gruppen." „Veit hat seinen Gegenstand in großer Tiefe gefaßt und mit vieler Klarheit und Bedeutsamkeit darzustellen angefangen." „Es wurde mir schon jetzt klar, daß unsere Zeit auch hier der Auszeichnung in der Malerei nicht ermangelt und daß sie nur die Gelegenheit sich zu zeigen braucht um Werke, welche der früheren besseren Zeiten würdig sind, entstehen zu machen." Es kam Thiersch sehr zu statten, daß er vom Beginn seines Aufenthaltes Bekanntschaften mit Männern in einflußreicher Stellung anknüpfen konnte, wodurch ihm nicht nur der Zutritt zu sonst schweizugänglichen Kunst- und Bildungsstätten erleichtert wurde sondern er auch Gelegenheit erhielt in immer neue geistig und künstlerisch anregende Kreise zu kommen. So besuchte er gleich in den ersten Tagen den bayerischen Gesandten, Kardinal Häffelin, einen ehrwürdigen Greis, der ihn einfach und teilnehmend empfing. Niebuhr 1 ) nahm sich seiner voll Interesse an. Der preußische Gesandte war eben damals zusammen mit Bunsen und Ernst Zacharias Platner, dem Sohn des Leipziger Philosophen, der Thierschs Lehrer gewesen war, damit beschäftigt ein großes Werk der Beschreibung Roms herauszugeben. Der württembergische Gesandte, Herr v. Schmitz-Grollenberg, empfahl Thiersch an seinen holländischen Kollegen v. Reinhold; dieser lud den bayerischen Gelehrten ein für alle Mal zu seinen Freitag-Abenden ein. Bei dem dänischen Konsul Peter Oluf Bröndsted traf Thiersch eine Gesellschaft von Künstlern und Gelehrten. Der archäologische Studien treibende Diplomat legte ihnen seine Abhandlungen über Bronzen vor; Thiersch las Stellen aus Pindar, die besonders Thorwaldsen, der von ihm noch nichts kannte, mit Bewunderung für den Dichter erfüllten. Durch Bröndsted lernte Thiersch auch den Engländer Dodwell kennen, einen Nachkömmling des berühmten Gelehrten, den Verfasser einer weitläufigen Beschreibung von Griechenland. Seine Sammlung, in der mit Malereien bedeckte Mumienkästen, kleine ägyptische Figuren, griechische Geräte, namentlich bronzene Helme und mehrere Terrakotten waren, bot reiche Anregung. In Amati, dem einzigen bedeutenden Hellenisten Italiens, fand Thiersch einen redTagebuch.

S. 809, 743.

Noack.

S. 167, 190.

— 465 — seligen, jovialen und gefälligen Mann. Mit ihm und Julius David, dem Sohn des berühmten französischen Malers, der eine Griechin aus Chios geheiratet hatte, verhandelte er über griechische Grammatik, Prosodie und Literatur. Während eines Besuchs bei David überraschte ihn die harmonische Stimme seiner Frau; erst in ihrem Munde kam die schöne Sprache ihres Volkes zu wahrer musikalischer Vollendung, so daß ihm der Vers, in welchem Homer die Reden des Nestor bezeichnet, recht lebhaft einfiel. Im Café greco, dem beliebten Sammelpunkt der Künstler, machte Thiersch die Bekanntschaft mit Cornelius' Schwiegervater; an seiner zweiten Frau, der Tochter eines italienischen Wirtes, bewunderte er „jene Würde und den feierlichen Anstand, der sich bis auf die Bewegung des Hauptes, bis auf den Ton der Rede und das langsame Neigen und Fallen der Worte erstreckt ohne in Zwang oder Mode auszuarten und für ein treu überliefertes Erbteil der römischen Matronen gehalten wird". Ein Besuch bei Baron Stackelberg, 1 ) einem Freund des Göttinger Kreises, den Thiersch seit seiner Uebersiedlung nach München nicht mehr gesehen hatte, brachte ihm wertvolle künstlerische und archäologische Anregungen; denn dieser hatte auf einer wechselvollen und wichtigen Reise durch Griechenland Gegenstände der alten Kunst, die er dort zerstreut aufgefunden hatte, besonders gemalte griechische Vasen gezeichnet und war im Begriffe sie in einem großen Foliowerke, zu dem die Kupfer schon gestochen waren, herauszugeben; außerdem beschäftigte ihn eine umfangreiche Untersuchung über den Apollotempel in Phigalia. Die Betrachtung der Kupfer des Vasenwerkes überzeugte Thiersch von der Wichtigkeit und Neuheit der darin aufgeführten Kunstwerke; gemeinsam mit Stackelberg studierte er besonders das Verfahren beim Bemalen der Vasen. Ein Neapolitaner Secino hatte nach dreißigjährigen Untersuchungen herausgebracht, mit welcher Substanz der gebrannte Ton bestrichen wurde, daß die aufgetragenen Farben, die durch ein zweites Einbrennen erst befestigt wurden, beim Auftragen nicht in dem irdenen Stoff auseinanderflossen. Den Baron erfreute Thiersch durch Nachweisung einer Pindarstelle, in welcher der Dichter bemalte Vasen in Athen und ihren Gebrauch bei den Panathenäen für das den Siegern bestimmte Oel deutlich erwähnt. Thorwaldsen führte Thiersch bei der Signora Buti2) ein; diese Frau gehörte zu dem Kreise bedeutender und liebenswürdiger Damen, die im Künstlerviertel am Pincio deutschen und heimischen Künstlern !) Tagebuch. S. 557U.. 586ff. N o a c k , Deutsches Leben. S. 177.

2)

L o e w e , Friedr. Thiersch.

30

— 466 — Gelegenheit zu anregendem Verkehr boten.

Sie stand in freundschaft-

lichstem Verkehr zu Frau von Humboldt, Henriette Herz und Dorothea Schlegel-Veit. liche

In ihrem Hause verbrachte 1 ) Thiersch eine sehr fröh-

Silvesternacht;

eine

Menge

Künstler

und

Fremde

waren

zu-

sammengekommen. Als Thiersch etwas verspätet eintraf, war die Gesellschaft in lärmender Bewegung; nach dem Klang eines schlechten Klaviers oder abwechselnd nach Gitarre und Tamburin wurde getanzt. Im Nebenzimmer war für artistische und literarische Unterhaltung gesorgt, alles in großer Lustigkeit, auch Thorwaldsen so aufgeregt, daß er sich mit großen Sprüngen an den Tänzen beteiligte. „ E s war so ein Gemisch von Studenten- und Künstlerleben, ohne daß etwas geschah, was die Gegenwart der Frauen verletzen würde", ein Urteil, das gut mit einer Beobachtung von Henriette Herz 2 ) übereinstimmt, solche Feste seien zwar nach Berliner Begriffen etwas ausgelassen, doch führten bei den Italienerinnen trotz ihres bescheidenen Standes Grazie und natürlicher feiner Takt das Zepter, während in Deutschland eine Geselligkeit von so verschiedenartiger Mischung einfach unmöglich sei. Unter der Führung des maestro di ballo, eines ungemein lebhaften und redseligen italienischen Arztes, verkleideten sich die jungen Leute, stellten Charaktermasken, wie einen Schusterknecht, oder einen Betrunkenen, dar. Zum ersten Male sah Thiersch eine Saltarella: ,,Es ist ein beständiges Suchen und Meiden, Fliehen und Begehren der beiden Tänzer, außerordentlich lebhaft durch die Schnelligkeit der Bewegungen, gefällig durch ihren Wechsel und ihre Zierlichkeit, überraschend durch die oft kecken Wendungen, mit denen unter schallendem Auftritt des Fußes die Signora umwendet, wenn man die Vereinigung der beiden Wettstreitenden und den Sieg der Neigung schon entschieden glaubt, zugleich auch, was ihm bei mir nicht zur geringen Empfehlung diente, in allen Teilen und seiner ganzen Bedeutsamkeit, selbst sein Takt und die Grundmelodie nicht ausgenommen, antik." Bei Tisch kam Thiersch mit Bröndsted zwischen die drei Töchter des Hauses und erfreute sich an der lebendigen Geselligkeit. Das Zimmer erbrauste von dem Gewirr der Sprachen. „ A u f Begehren stimmte ich das Gaudeamus an und dieses Lied, auch hier in größtem Chorus und mit der gewöhnlichen Erbauung gesungen, gab das Signal zu einer Menge von deutschen, dänischen, lateinischen, italienischen Liedern, die sich nacheinander folgten: auch ein schwedisches und griechisches brachte Bröndsted auf." Der lebhafte gesellige Verkehr brachte Thiersch in nahe Berührung mit den modernen Kunstströmungen und ihren Vertretern. deutsamer jedoch wurde

für ihn

die gewaltige

Eindrücke, die Roms Vergangenheit bot.

Fülle

Be-

künstlerischer

Drei Momente

heben

sich

daraus besonders hervor: das Erleben der Antike, das immer tiefere Verständnis

der

Kunst

Michelangelos

und Rafaels

und

die

scharfe

Kritik an der Barockkultur. Der reine große Geist des Altertums trat ihm in dem Ganzen und in den Teilen des Pantncon 3 ) entgegen. ') Biographie. I. S. 237. N o a c k , Deutsches Leben. 3 ) Tagebuch. S. 413. 2)

S. 178.

— 467 — „Welche Schönheit der herrlichen Säulen, die seinen Portikus tragen, wie stark und doch wie schlank und wohlgeordnet in ihren Weiten und Stellungen tragen sie leicht und frei den Giebel, der, auch des Schmuckes seiner Bilder beraubt, schön und groß ist; alles so weise berechnet, wie groß gedacht und in der tiefbegründeten Zweckmäßigkeit und Absichtlichkeit ein Werk, was wie von selbst, wie ohne Mühe aus ewigen sicheren Gesetzen der Natur hervorgegangen." Unwillkürlich gedenkt man bei dieser Schilderung jener Erfahrung, die sich Goethe 1 ) in Rom beim Studium der griechischen Kunst immer wieder aufdrängte: „ I c h habe eine Vermutung, daß sie (die Künstler) nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin; nur ist noch etwas anderes dabei, das ich nicht auszusprechen wüßte". Noch erhebender fand Thiersch das Innere durch noch größere Verhältnisse bei gleichen Vorzügen der Erfindung und des Geschmackes. „Vorherrschend der Charakter der Rotonde, die Ecken der Nischen mit schwach erhobenen korinthischen Pilastern einfach geziert, die Nischen selbst je durch zwei Säulen von dem Rund des Ganzen getrennt, diesem aber an Ausbreitung so untergeordnet, daß dessen Einheit nicht verloren geht. Darüber nun steigt das Gewölbe der Kuppel in so schöner und voller Biegung des Gewölbes und so groß, so erhaben empor, daß es den Geist zu sich auszubreiten und zu erheben scheint, wie in ihr das Auge bis an das Ende der Wölbung emporsteigt und durch die große runde Öffnung die Bläue des Himmels erblickt, der mit Wohlgefallen in dieses große Werk des menschlichen Geistes hereinsieht und es mit einem vollen Tageslicht erfüllt." Thiersch denkt sich das Gewölbe mit dem Schmuck der bronzenen vergoldeten Rosetten, in den Nischen die Götterbilder, die Altäre und den sonstigen Zierat und ahnt die wunderbare Wirkung, die einst von diesem Bau ausging. Unermüdlich

erstieg er die

mit

Weingärten

bedeckten

sieben

Hügel und durchforschte die Trümmerfelder des Forum Romanum, des campo vaccino, wo jetzt „die Rinder weideten und in der Mitte Stroh und Dünger wie im Hofe einer großen Meierei lag". Goethes Wanderer", —

„Das Gebet aus

so schreibt er in einem Brief —

„ist auch das

meine: „ O leite meinen Gang, Natur! Den Fremdlings-Reisetritt, Den über Gräber Heiliger Vergangenheit Ich wandle." Unter der sachkundigen

Leitung Wagners

studierte

er aufs ge-

naueste die Ueberreste der Fora der Kaiserzeit, der alten Tempel und Gerichtshallen, die Bögen und die V i a sacra, die in christliche Kirchen umgewandelten Tempel und die alten Brücken.

Das „riesenhafte Ge-

mäuer des Colosseums und seine kühn aufgetürmten Bögen erweckten immer wieder ein geheimes Gefühl der Scheu und Ehrfurcht".

„Gegen

den Coelius hin ist alles weit mehr zerrüttet und zertrümmert. Die halb zerrissenen Bogen und

Zinken der Gewölbe und Mauern hängen in

abenteuerlichen Gestalten,

jedoch

sehr

malerisch

über-

und

durch-

>) Italienische Reise, 28. Januar 1787. 30*

— 468 — einander, indem ein immer grüner Rasen und die Gehänge des Efeus das ehrwürdige Gerippe des Riesenbaues mit einem sehr anmutigen Kleide umsponnen haben." Das einfache K r e u z in der Mitte der A r e n a und A l t ä r e erinnerten T h i e r s c h daran, daß durch die Märtyrer der ehrwürdige B a u in ein Heiligtum verwandelt und gleichsam mit Unverletzlichkeit umgeben wurde. Heimgekehrt trug er in sein T a g e buch die B e m e r k u n g : „Ich fand a u c h dieses Mal wieder eine größere Befriedigung nach dem lehrreichen Gang durch Rom, die Stadt der Trümmer, als durch Rom, die Stadt der Paläste. Unter dem starken Eindruck des Erlebten stehend berichtete 1 ) er an seine F r a u von seiner Abneigung gegen unanschauliche Topographien. „Ganz anders aber erscheint dieses Studium am Ort wichtiger Erinnerungen selbst, und obwohl ich die Römer nie geliebt habe, so weckt doch die Erinnerung an ihre großen Eigenschaften und Taten an dem Orte ihres Lebens und Wirkens, auf den Hügeln und in den Tälern, die sie betreten und bewohnt, unwillkürlich Gefühl und Betrachtung und umgibt jedes Gemäuer und jeden noch nachweisbaren Ort dieser Ruinenstadt mit wunderbarem Reize, ungerechnet, daß hier die wichtigsten Belehrungen, die man in der Ferne nicht oder mit Mühe erhält, einem hier auf offener Hand geboten werden, und der erweckten Phantasie das hier untergegangene Leben wie aus dem Grabe hervorsteigt. Nicht einmal habe ich hier wachend geträumt, ähnlich jenem Propheten, dem ein Feld voll menschlicher Gebeine sich zu beleben schien: und jene Säulen und Wölbungen, welche ihr verödetes Haupt trauernd, in die Lüfte erheben, bauten sich vor mir in langen Straßen und geräumigen Plätzen, die Paläste, die Tempel, die Hallen, die auf, überzogen sich mit gebildetem Schmuck edler Metalle und Marmors, füllten sich mit den Scharen von Bildsäulen, welche dem eroberten Griechenland entzogen wurden um auf diesem Forum, auf den in allen Richtungen aufragenden Hügeln zwischen dem lebendigen Volk ein Volk edler Toten zu bilden. Dann belebten sich die Räume. Scharen des Volkes erfüllten den Markt. Dort steigt der Redner auf die Bühne um die weltbeherrschende Versammlung durch die Gewalt seiner Rede zu lenken, oder feierliche Züge unter Begleitung von Hörnern und Posaunen wandern mit Chorgesang nach den geöffneten Tempeln oder der Priester steigt mit der schweigenden Jungfrau auf das Kapitol. Dort sitzt neben dem Aufgang in dem Tempel der Concordia der ernste Senat in Beratung und um die curia hostilis drängt sich der Haufe der Parteien zu dem Recht sprechenden Prätor, oder zieht durch die porta capena nach der heiligen Straße der Zug eines Triumphators, vor sich die gefangenen Könige treibend, heran um die schmähliche Unterjochung unglücklicher Völker in barbarischem Gepränge zu feiern. Doch es ist vielleicht der große Konsular, den das Volk auf seinen Schultern aus dem unverdienten Exilio hineinträgt. Andere Zeiten folgen. Aus goldenen Palästen beherrschen unumschränkt Kaiser mit eiserner Rute die gedemütigten Geschlechter der stolzen Konsularen und ein hungriges Volk drängt sich nach Brot und Spielen in die Amphitheater des Zirkus oder vor die Tribuna, bei welcher der Sack und der ölkrug gefüllt wird, von welchen Bildern der Träumer ohne große Sprünge zu den Kuhställen der Kaiserpaläste und den Heuställen der römischen Fora zurückgeführt wird." Tagebuch.

S. 513.

— 469

-

In den Thermen des Titus erschien ihm das Altertum, wenn auch nur auf Augenblicke, zum erstenmal in seiner Farbenpracht, während in dem schmalen Korridor die Führer mit Wachslichtern die Decke beleuchteten. Er fand seine Erwartungen weit übertroffen, die Farben hell, harmonisch und blühend, die Zeichnung fest, den Schmuck der Einfassung zierlich und sinnreich. Lebhaft fühlte sich Thiersch in der Grotte der Egeria 1 ) ins Altertum versetzt. Tiefe Stille lag über der reizvollen, durch Quellen reich bewässerten Niederung, nur unterbrochen von dem Rieseln des Wassers; in einer Nische war das Bild eines liegenden von drei kleineren Gestalten umgebenen Flußgottes. „Noch jetzt spinnt der Efeu sein immer grünes Netz um das ernste Gemäuer, und die heilsamen Nymphen gießen unablässig die klare Flut aus dem Schoß des Berges hervor. Sie dringt unter dem Flußgott aus drei Tragsteinen, von denen sein Bild gehalten wird, auch aus Seitennischen und nährt wie sonst die Lager des hellgrünen Mooses und die Pflanzen, welche den unteren Rand des Gemäuers mit einem ewig jungen Teppich bekleiden." Alte Sagen von Numa Pompilius steigen in der Erinnerung auf; Juvenals Schilderung eines Spazierganges mit seinem Freund Umbricius ermöglicht die Deutung des Ortes. „Ich fühlte mich der alten Zeit auf eine wunderbare Art nähergerückt, wie ich in dieser Unmittelbarkeit einen Zeugen seines Götterdienstes unverrückt an der Stelle, wo er die Opfergaben empfangen hat, und mich ihm gegenüber sah." „Ich trennte mich ungern von diesem Ort, über den ich den Geist des Altertums noch schweben und den Schlag seiner Fittige zu vernehmen glaubte."

Reichste Anregung bot der Besuch der Antikensammlungen in dem Museo Pio Clementino und im Belvedere. 2 ) Schon in Paris hatte Thiersch die schönsten Stücke kennen gelernt; wie viel mehr aber konnte er sich hier der Betrachtung und dem Genuß hingeben, da die geschickte Aufstellung jede Zerstreuung und Störung hintanhielt. Er bewunderte die geschmack- und prachtvolle Architektur der Säle, den Reichtum ihrer Gemälde und Deckenverzierungen, die Schönheit ihrer mit den feinsten alten Mosaikgemälden ausgelegten Fußböden. Nur schwer konnte er sich trennen von dem „Torso des Herkules", „vielleicht dem ersten Monument des Altertums", von dem Sarkophag des L. Scipio, der unvergleichlichen Statue des Meleager, des Laokoon, des Antinous - Mercurius. Eine griechische Statue im ältesten Stil erinnerte ihn an eine ähnliche im Museo Chiaramonti; indem er diesem ersten Eindruck folgend beide eingehend verglich, entstand jene archäologische Untersuchung, die an anderer Stelle näher besprochen ist. Im Vatikan fand Thiersch mehrere Stücke von ausgezeichnetem

'

2)

Tagebuch. Tagebuch.

S. 706 ff. S. 676.

— 470 — Wert, besonders die Pallas aus dem Palast Guistiniani, „ein Werk, dem besten zu vergleichen, dessen Ankauf dem Kronprinzen durch Zögern entgangen ist", einen vortrefflichen Antinous Torso und den Nil. Als Wiederholungen berühmter Werke des Altertums erschienen ihm eine Amazone und ein ausruhender junger Faun merkwürdig; in einem jungen Faun, der sich anlehnend die Flöte bläst, vermutete er das Original zu mehreren Statuen dieser Art. In den Palästen und Gärten der vornehmen Adelsfamilien wie der Colonna zeichnete und beschrieb er die alten Bildsäulen und Reliefs. Eine besondere Anziehungskraft übte die Villa Albani, der Lieblingssitz Winckelmanns, eine der wichtigsten Sammelstätten für alle Skulpturen, welche zum Teil durch ihren Wert, zum Teil auch dadurch merkwürdig sind, daß sich Winckelmann in seiner Kunstgeschichte auf die meisten derselben bezieht und ihnen dadurch gleichsam ein neues klassisches Dasein erworben hat.1) Einige Karyatiden, ein griechisches Frauenbild und ein Aesop wurden von Thiersch als die vorzüglichsten ausgeschieden; besonders letzterer erregte seine Aufmerksamkeit. Der Künstler zeigt nämlich den Körper mit dem doppelten Buckel in seiner ganzen Mißgestalt. „Aber die Arbeit ist so vortrefflich, daß man bloß für sie Augen hat. Besonders das Gesicht ist bewunderungswürdig, eines der geistreichsten und feinsten, die man sehen kann, und zugleich den Ausdruck, welcher gewöhnlich die Mißgestalt in den Mienen ausprägt und der bei geistvollen Personen zwischen Ironie und Wehmut schwebt, auf eine wahrhaft bewunderungswürdige Art darstellend." In der Villa Ludovisi8), zu der Thiersch und Schorn nur durch den Grafen Schönborn Zutritt erlangten, da sie einem der reichsten römischen Magnaten, dem Principe de Piombino, gehörte, betrachteten, verglichen und bearbeiteten die beiden Gelehrten die wertvollen Antiken, wie die herrlichen Statuen des sitzenden Mars, mehrere Minervenbilder und „Büsten ersten Ranges", wie die beiden Junoköpfe. Im Palazzo Guistiniani3) fand Thiersch eine im größten Stil ausgeführte, in Trauer sitzende Frau, nur im unteren Teil durch den Mantel drapiert, wie sich eine ähnliche in Dresden befindet, die Böttiger für eine Niobe hielt. Da das von ihm 1815 in Salzburg ausgegrabene Mosaik Ariadne in derselben Weise von Theseus verlassen zeigt, so neigte Thiersch dazu beide Statuen dahin zu deuten. !) Brief vom 29. November 1822. Tagebuch. 2 ) Tagebuch. S. 776 {f. 3 ) Tagebuch. S. 583.

S. 558.

— 471



Die stärkste Anregung zu einem abschließenden Urteil über Rafael boten die Tapeten, die Stanzen und Loggienbilder, die Farnesina und die Sibyllen in Santa Maria della Pace. Thiersch möchte die Darstellung der Sage von Amor und Psyche nur den Fresken Benozzo Gozzolis im Palast Riccardi vergleichen. Von den Bildern des Mythos „scheint jedes mit allen anderen an Schönheit und Anmut zu wetteifern, den Vorzug mag die aus der Unterwelt zurückkehrende Psyche und Jupiter, der Amor küßt, behaupten. In einzelnen Lünetten tragen noch Gruppen scherzender Amorinen bei, die Festlichkeit, Anmut und Lieblichkeit dieser Werke, über welche ein ganzer Frühling von Lust und holdseligem Wesen ausgegossen ist, noch zu erhöhen, den Blick in diesen blauen Himmel voll heiterer und sinnreicher Gestalten zu fesseln". Als das schönste Freskobild 1 ), „ausgezeichnet durch die Kraft, die Hoheit und den Geist, mit dem hier der große Urbinate in den letzten Jahren seines Lebens, und offenbar getrieben und gehoben durch den Ruhm und die Erhabenheit der Sixtina sich über sich selbst zu schwingen scheint um ein Werk zu vollenden, das mehr als irgendeines der Stanzen verdient, der Größe seines Nebenbuhlers an die Seite gesetzt zu werden", bezeichnet Thiersch die Sibyllen in Santa Maria della Pace. Voll Ergriffenheit schildert er den Genius mit der Fackel — das weiche Haar des herrlichen Knaben und die Flamme scheint vom Winde bewegt zu sein —, die Engel mit den Tafeln, die Sibyllen. Abgesehen von allen anderen Vorzügen, die auch Rafaels andere Meisterwerke zeigen, rühmt er „die unbeschreibliche Harmonie, mit der die Idee des Ganzen aufgefaßt und bis in die Einzelheiten durchgeführt ist. Vom Genius mit der Fackel bis auf die davonfliegenden Engel ist hier alles Bedeutung, Zusammenstimmung des Gedankens, der Form, des Ausdrucks und ein großer Atemzug der zugleich feurigsten und gemäßigtsten Begeisterung scheint durch das Ganze zu gehen und die Verkündigung des nahenden Heiles in alle Welt wie aus einem heiligen Mittelpunkt hinauszuatmen. Auch haben die Knaben und Jünglinge eine Anmut, die Frauen eine Gewalt und Erhabenheit, welche sich nicht beschreiben läßt, und die Beleuchtung, aus einem nahen Fenster schräg über das Bild ausgegossen, wirkt auf die nach ihr berechneten Farben und Stellungen mit einer magischen Kraft, wie in keinem anderen Werk des Mannes."

In Florenz hatte Thiersch von Rafaels Kunst einen starken Eindruck empfangen, während er Michelangelos überragendes Genie in einzelnen Jugendwerken erst mehr ahnend empfand. Hier in Rom klärten und vertieften sich seine Anschauungen in vergleichendem Studium. Vor dem Moses des Julius-Grabmales setzte Bewunderung und Kritik ein. „ I n dem Angesicht, das von einem wiewohl durch innere Größe beherrschten Zorn über sein starrsinniges Volk erfüllt und belebt scheint, thront eine übermenschliche Kraft und Hoheit; der ganze unermeßliche Geist seines großen Urhebers scheint darin gefangen und daraus hervorzudrängen und zu leuchten." „Dieser übermäßige Bart geht ins Ungeheuerliche und der gigantischen Kraft des Gesichtes fehlt zwar nicht die Ruhe, aber der Adel eines großen Geistes: man glaubt einen kolossalen zum Ideal gesteigerten langbärtigen Satyr zu sehen." „Aber alles dies abgerechnet, ist das Werk von ausnehmender Wirkung und niemand, der einmal in dieses Gesicht gesehen hat, wird desselben leicht vergessen." 2 ) 2

Tagebuch. S. 818. ) Tagebuch. S. 457 ff., Biogr. Bd. I S. 227 ff.



472 —

In der Sixtina 1 ) zeigt ihm schon der erste Blick in die Höhe, in ihre schwebenden, sitzenden, in bedeutsamer Handlung verflochtenen Gestalten, daß hier ein größerer Geist als in den Loggien von Rafael walte, und dieses Gefühl wurde bei genauer Erwägung des einzelnen zu einem Urteil, das bei jeder neuen Betrachtung neue Stärke zu bekommen schien. „Das Jüngste Gericht ist eine der erstaunlichsten Konzeptionen, zu denen der menschliche Geist sich erhoben hat, und darin vielleicht am meisten zu bewundern, daß alles, wie auf einen Mittelpunkt, den Weltrichter, welcher zwischen den Gruppen schwebt, nicht nur in Stellung, Anordnung, sondern auch in Ausdruck und Handlung auf eine Weise zusammengeht, welche das aus einem A k t des großen Geistes entsprungene Werk als ein solches in seiner Einheit und Mannigfaltigkeit erscheinen läßt." Mit besonderer Ergriffenheit betrachtete Thiersch unter den Verdammten einen, „in dessen Geist jetzt offenbar die ganze Ewigkeit seiner Strafe aufdämmert, deren Anschauung sein Innerstes erfüllt, ohne es noch zur Verzweiflung zu bringen: eine Gestalt, groß und erhaben, wie ein tiefruhendes Ungewitter, und unvergleichbar mit jeder anderen". Zu Worten höchster Bewunderung begeisterte ihn die Betrachtung der „Erschaffung A d a m s " ; erfreute sich sein durch das Studium der Antiken geschultes A u g e an der immer steigenden Kunst in der Wiedergabe der Natur, besonders aber des Menschen, so scheint ihm offenbar ihr Höhepunkt da erreicht, wo vollendete Form und tiefster Inhalt sich vermählen; darum schreibt er: 2 ) „Nicht nur ist die Figur des Adam von einer Schönheit der Form und Vollendung der Zeichnung, wie ich keine andere neuere kenne, sondern auch der Ausdruck des Erwachens zum Bewußtsein und zum Leben, nicht ohne Beimischung von Wehmut in die junge Freude, über alle Beschreibung groß und poetisch. In diesem Bilde hat vielleicht die Malerei der Neueren ihren Triumph gefeiert. Kein anderes ist ihm zu vergleichen, noch wird es an Tiefe und Erhabenheit des Gedankens je übertroffen werden." In den göttlichen Gestalten der Propheten und Sibyllen strahlt „unerreicht, vielleicht unerreichbar" der Geist des großen Florentiners. „ E r führte diese Werke aus, hauptsächlich getrieben durch den wachsenden Ruhm Rafaels, ungeduldig der Zweite zu heißen, und um der in das Weichere und Gefälligere geneigten Kunst des Nebenbuhlers die Majestät derselben entgegenzustellen." Noch

unter

dem

überwältigenden

Eindruck

der

Bilder

Michel-

angelos stehend eilte Thiersch in die Stanzen um Rafaels Werke

auf

sich wirken zu lassen. „Man glaubt in eine mildere Atmosphäre zu treten; das Menschliche drängt sich in tausend schönen und idealen Formen und Offenbarungen aus seinen Bildern entgegen, die Anmut der Frauen, die Würde und Klarheit der Männer, der Verstand und oft der feine Sinn der Erfindungen, der freie Geist der Behandlung bemächtigen sich auch jetzo unserer Bewunderung und bei den besten Gruppen, z. B. der Frauen im Sturz des Heliodor, wird man versucht, den Vorzug, welchen Michelangelo ge-

2)

Biogr. Bd. I S. 239 ff. Rom, 9. Januar 1823. Biographie.

I.

S. 239ff.

— 473 — funden, aufzugeben und seine Bewunderung für ihn gleichsam zu verlassen; doch erhebt diese sich siegreich über die in einer zwar heiteren, aber doch weniger erhabenen Sphäre schwebende Kunst des Urbinaten. Er erscheint als der Zweite; doch so, daß seine Erscheinung nötig ist um in dem Höchsten der Kunst die dem Menschlichen zugewandte Seite zu bezeichnen, dem Äschylus den Sophokles beizugesellen." Die tiefen Eindrücke, die Thiersch von den Kunstwerken empfing, spiegeln sich in den Gesprächen 1 ) wieder, die er in geistig angeregter Gesellschaft, z. B. beim holländischen Gesandten, führte. Wagner hatte bei Tisch eine Parallele zwischen Michelangelo und Rafael als Maler gezogen. Daran schloß sich mit einem Dessauer Maler eine Unterhaltung über Nachahmung der Natur, da dieser behauptete, der Künstler könne die Natur nicht veredeln sondern ihre Schönheiten nur unvollkommen auffassen. Thiersch suchte ihm das Veredeln der Natur durch Berufung auf die Werke der Dichtkunst, z. B. des Sophokles, deutlich zu machen. „Der Maler und der Dichter müsse aus der Fülle seines Innern etwas Reicheres und Reineres schöpfen können als ihm in der Wirklichkeit erscheinen könne, wenn auch diese der erste und der reichste, der notwendige Quell sei, an dem er sich nähren müsse. In diesem Sinne hätten die alten Meister der Griechen gearbeitet und wie Zeuxis durch Vergleichung der schönsten Jungfrauen in sich das Bild der Helena geweckt, nicht es aus ihnen zusammengesetzt, so lehre auch Piaton im Symposion durch Vergleichung des einzelnen, was als schön erscheine, durch Bewunderung und Liebe desselben sich zu dem ursprünglichen und unbedingt Schönen zu erheben, eine Richtung, die nur dann verderblich werde, wenn sie mit der Beachtung und dem Studium der Natur den Boden verliere, auf dem alle Kunst wurzle." Rafael habe sich in bezug auf das Ideal seiner Madonnen ähnlich geäußert. „Beide Richtungen, die auf das Ideal und die auf die Natur getrennt, seien jede ohne die andere einseitig und die wahre Kunst nur da, wo durch die Vereinigung beider ein höheres Leben oder das Leben in einem höheren reicheren Sinne, als es die Wirklichkeit enthülle, dargestellt und dem Gefühl, der Anschauung des anderen nahe gebracht werde. Wolle er diese Vereinigung des einzelnen Schönen, insoferne jedes einzelne in der Natur wurzle, und dessen Durchdringung zu einem neuen ebenfalls Natur nennen, Natur in abstracto, so hätte ich auch nichts dagegen und unser Satz würde sich so stellen, daß der Künstler die Natur zwar in concreto (im einzelnen Falle), aber nicht in abstracto veredeln könne, womit der Dessauer sich am Ende zufrieden stellte." Das Zeitalter des Barock und Rokoko wurde abgelöst von dem des Klassizismus;

wie

auf

literarisch-philosophischem

Gebiete

die

Ver-

treter der Romantik der Aufklärung, die sie bekämpften, nicht objektiv gegenüberstanden, so vermochten auch die Anhänger der neuen Kunstrichtung die Werke der vorausgegangenen

Epoche nicht so zu wür-

digen, wie es einer späteren Generation möglich war. Thiersch, dessen Schönheitssinn

sich

an

den Werken

des Altertums

gebildet

hatte,

betrachtete die Schöpfungen des Barock, das er als die letzte Epoche der Renaissancekunst

ansah, mit einem

geschärften Blick

für seine

Fehler und Uebertreibungen und lehnte es daher ab. Doch eben diese für unser modernes Empfinden einseitige Auffassung ermöglichte ihm !) Rom, den 22. November 1823 in Biographie.

I.

S. 229ff.



474



auch wieder klar die Schwächen einer falschen Nachahmung der A n tike in seiner Zeit zu erkennen. Besonders lebhaft empfand er den Unterschied zwischen der Antike und der Renaissance vor dem Mausoleum Hadrians, „jenem auch in seiner Entkleidung

imponierenden

Torso", und

Berninis

Engeln

auf

der Brücke, die in „Kleidung, Stellung und Haltung bereits die ärgste Ueberladung und Uebertreibung" zeigen. Auf dem Platz von St. Peter wurde er in seiner Ueberzeugung

nur noch bestärkt.

Obwohl seine

Erwartungen nicht gespannt waren, hatte er doch einen anderen Eindruck vermutet.

Er fand keine rechte

Uebersicht in dem Heer von

Säulen, das in drei Reihen hintereinander zu beiden Seiten des Platzes beginnt und sich in weiteren Bogen gegen die Arkaden hinzieht, welche zur Kirche hinführen; teilweise gesehen verliert es an Größe, durch welche zu wirken es berechnet ist. Im Hintergrund, dem Eintretenden gegenüber,

erhebt

sich die Fassade

der Kirche, des

größten

und

gefeiertsten Werkes der Christenheit. Thierschs Begleiter, herabgestimmt, daß die Kolonnaden ihm so wenig gefielen, zeigten ihm die Fassade mit dem Rufe: „ J e t z t sehen Sie, jetzt bewundern Sie!" Obwohl bemüht ihren Enthusiasmus wenigstens aus Höflichkeit etwas zu teilen sah er in „jenem Äußersten der späteren italienischen Architektur nichts als eine wahre Anhäufung alles dessen, was man schlecht in ihr nennen kann: eine Menge Türen, ohne daß eine als Haupteingang durch Größe und überwiegende Behandlung Einheit in das Zerstreute brächte, dazwischen und drüber kleine und große Fenster, Säulen, die nichts tragen, was nicht ohne sie sich aufrecht halten würde, außer die vier mittleren als Träger des Giebels, darüber noch eine Quermauer wieder mit Fenstern, mit kleinen Pfeilern, Bildern und dergleichen; auch hier alles wie berechnet das Große der Anlage klein erscheinen zu lassen; die Barocke Arbeit ist aus der falschen Idee hervorgegangen, daß auch für solche Fassaden Säulen der rechte Schmuck seien, die, klein in der ungeheueren Fläche, dieselbe auch notwendig mit sich herabziehen. Hätte man wenigstens den Mut gehabt die Säulen gigantisch zu machen und durch sie den Giebel an die Spitze der Fassade hinauftragen zu lassen! Aber dann hätte man einen Teil der Kuppel dem Anblick von unten entzogen, dann hätte man die disparatesten Dinge, eine Kuppel und einen Giebel gleichsam in eine Linie gebracht." 1 ) Im Inneren störten Thiersch die verhältnismäßig kleinen

Säulen

zwischen ungeheuren korinthischen Wandpilastern, die kleinen Nischen, überladene

und ordnungslose

Bildwerke;

doch

überraschte ihn

die

Feinheit und der Geschmack, in welchen besonders nach Andeutungen und Mustern des Pantheon die einzelnen Bogen, die Wölbungen derselben, die Pilaster selbst mit geringen Vorsprüngen behandelt

sind,

ferner die große und doch nicht überladene Pracht des Ganzen. „Unter der Kuppel wird der Geist des Beschauers zugleich erhoben und in sich zusammengedrückt von der Weite und Höhe dieses riesenhaften Baues. Die beiden Tagebuch.

S. 415 ff.

— 475 — Bögen zu ihrer Seite, welche den Teil des Hauptschiffes unter ihr mit den entsprechenden Teilen des Nebenschiffes verbinden, öffnen in dieselbe eine Aussicht, wie in einem eigenen großen Dom, dessen einfaches, auf antike Art mit Farben und Gold verziertes Gewölbe ein Muster von Größe, Schönheit und Geschmack ist, und so glaubt man unter jedem neuen Bogen in eine ähnliche, wenn auch weniger große, doch immer noch beträchtliche Kirche zu sehen und in dem Ganzen eine Reihe von acht ausgezeichneten Kirchen zu entdecken, welche alle durch das Hauptschiff vereinigt und in einen Tempel verbunden sind, den anzufüllen selbst der Bevölkerung von Rom unmöglich." „ A m meisten tut dem Eindruck und der Größe des Gebäudes Abbruch, daß der geschmacklose Hauptaltar mit gewundenen Säulen über dem Grabe Petri unter der Kuppel steht und dadurch den hinteren Teil bis zum Fond des Gebäudes, welcher für sich allein einen beträchtlichen Dom bildet, abschneidet und für die Wirkung des Ganzen vernichtet."

In der Peterskirche war Thiersch zum Bewußtsein gekommen, welch' bedeutsame Anregung der Baumeister den Werken der Antike verdankte. Das konnte ihn nur noch in seinem Bestreben bestärken bei Beurteilung der zeitgenössischen Plastik auch diesem Problem nachzugehen. Canova 1 ) gehörte damals zu den angesehensten Bildhauern. In seinem Atelier, wo in Gipsen und Kupferstichen alle Werke des Künstlers vereinigt Avaren, fand Thiersch zwei Gruppen, die nach seiner Meinung den Gang seiner Entwicklung gut charakterisierten. Die eine, „Dädalus, welcher dem Ikarus die Flügel anbindet", „ganz nach der Natur modelliert, unedle Formen, gemeiner Ausdruck"; dann der „Theseus auf dem Minotaurus, den er erlegt hat, sitzend", „im Geist der Alten gedacht und ausgeführt, vielleicht sein bestes Werk; die folgenden neigen in das Weichliche, Charakterlose, in welchem er sich am Ende verlor." Merkwürdig erscheint Thiersch der Einfluß, den die in London gesehenen Parthenonskulpturen auf Canovas letzte Werke ausübten; er beobachtet ihn an dem ganz vollendeten „Endymion, welcher von seinem Hunde bewacht schläft"; es ist das auffallende Bestreben seine Glätte und bedeutungslose Rundheit mit dem warmen und inneren Leben der Natur zu vermählen; Thiersch hat den Eindruck, „Canova sei auf einem neuen Wendepunkt seiner Kunst und ohne sein Ziel erreicht zu haben dahingeschieden." Die schon in Bologna begonnenen Studien über die M a l e r e i d e r A k a d e m i e setzte Thiersch in Rom fort. An einem Werke Quercinos, des jüngsten unter den Meistern der akademischen Schule von Bologna, den Deckengemälden in einem Kasino der Villa Ludovisi, untersuchte er die Gründe der starken Wirkung, die von diesem Künstler ausging. 2 ) x)

4. Januar 1823.

2)

Tagebuch.

Tagebuch.

S. 592 ff.

S. 739 ff-

— 476 — „ E i n e außerordentliche Naturwahrheit in Verbindung mit einer eigenen Schwermut der sprechenden Gesichter, die selbst noch aus ihrer Heiterkeit durchdämmert, ist wohl das Geheimnis dieses Meisters, den ich erst hier schätzen gelernt habe, jener Schwermut nämlich, die sich einer besseren Natur bewußt und ihr doch nicht vollkommen teilhaftig ist." „ W i e wahr jener Knabe, der in der Höhle der Nacht schläft; er atmet wirklich und seine Seele liegt in seinen Zügen, wie die Süßigkeit des Schlafes in seinem übrigens hagern und unschönen nackten Körper."

Die Schulung an dem Schönheitsideal der Antike zeigt sich auch in Thierschs ablehnender Kritik1) über die zeitgenössische italienische Malerei, als deren Hauptvertreter Camuccini galt: „Große Fertigkeit im Zeichnen, Komponieren, Hinarbeiten auf Wirkung bei innerem Tod, der sich in kalter Nachahmung antiker und moderner Formen und Mangel an Wärme und dem eigentlich Lebendigen der Kunst zeigt, der Repräsentant des vornehmen Geschmackes, der es auch zum reichen und vornehmen Manne gebracht hat." Wo Thiersch in einem Kunstwerk Leben verkörpert sah, fühlte er sich aufs stärkste angeregt. So erwähnt er in seinem Tagebuch den „Tod des Germanicus" von Nikolaus Poussin, des eigentlichen Klassikers der französischen Malerei des 17. Jahrhunderts, wegen „der Vortrefflichkeit des Ausdruckes von Schmerz und Freude". Ueber zwei Bilder Claude Lorrains, „des Rafaels der Landschaftsmalerei", schreibt er: „eine sehr heitere und kräftig ausgeführte Landschaft", „sowie ein Seestück mit Hafen, über welches ein leichter Nebel wie ein durchsichtiger Schleier ausgegossen und vom Morgenschein wundersam beleuchtet ist." Wie in der bildenden Kunst, suchte Thiersch auch in der Musik nach historischen Zusammenhängen. Er besuchte den päpstlichen Kapellmeister Baini,2) der als ein großer Kenner berühmt war und sich eben mit einem Leben Palaestrinas beschäftigte, um ihn über mehrere Punkte zu befragen, die ihm selbst in der Musik der Griechen und Römer dunkel geblieben waren; er hoffte um so eher Aufschluß zu erhalten, da die christliche Kirche das musikalische System, soweit es ihrem Zweck entsprach, unverändert von jenen übernommen hatte. Thiersch fand die Forschungsergebnisse deutscher Musiker und Philologen bestätigt. Neu waren ihm die Mitteilungen über den Vortrag der ohne Angabe von Takt und Zeiteinteilung aufgestellten Tonreihen und über Verbindung des musikalischen und des metrischen Rhythmus. Sie flößten ihm um so größeres Ver-

2

Tagebuch. ) Tagebuch.

S. 788. S. 808, 850.

-

477 —

trauen ein, da die päpstliche Kapelle die ältesten Kirchengesänge noch nach alter Art vorträgt, also in gewisser Hinsicht noch jetzt die alte Musik dem Wesen nach unverändert ausübt. Auf dem Quirinal hatte er anläßlich des Festes der Lichtermesse Gelegenheit dieselbe zu hören und den Vortrag mit dem zu vergleichen, was Baini ihm über das Theoretische dabei gesagt hatte. „ I c h f a n d sie demselben g a n z g e m ä ß ohne gleichzeitigen T a k t , aber m i t einem desto m a n n i g f a c h e m und schönern r h y t h m i s c h wechselnden vorgetragen,

zugleich

in den G ä n g e n und V e r b i n d u n g e n so eigentümlich und dem, was wir v o n alter Musik noch h a b e n und wissen, so entsprechend, d a ß ich v o l l k o m m e n überzeugt bin,

die-

selbe h a b e sich in der nie unterbrochenen oder v e r w a n d e l t e n A u s ü b u n g dieser Kapelle, welche die ältesten Weisen in dieser äußerst schwierigen A r t immer in gleicher Ü b u n g beibehalten, so g u t wie unverändert bis auf unsere Zeit h e r a b g e f u n d e n . "

Eine schwere Enttäuschung war es für Thiersch, daß ihm trotz aller Bemühungen Niebuhrs und der bayerischen Gesandtschaft die Einreise nach Neapel versagt wurde, da er wegen seines Eintretens für die Griechen als verdächtige Persönlichkeit galt. Er unternahm daher zwei Ausflüge in die Umgebung Roms, vor allem in der Absicht Oertlichkeiten, die ihm durch die Lektüre der alten Klassiker vertraut waren, kennen zu lernen und so ein anschauliches Bild von ihnen zu gewinnen. Der erste1) führte zunächst zu Wagen auf der Pränestinerstraße nach dem Gabinersee über die Ponte none, die in sieben schönen mit Quadern festgefügten Bogen das Tal überspannt, ein Denkmal des großartigen Sinns der Römer. Nach Durchsuchung der Ruinen von Gabii verließ Thiersch in dem Verlangen die Villa Hadriani zu finden mit seinen Begleitern den Weg. Auf einer Höhe angekommen sahen sie voll Ueberraschung Tivoli selbst in der steilen Gebirgsschlucht des Anio mit seinen Villen, Ruinen und Türmen „terrassenmäßig am Berg liegen und so malerisch schön emporgelagert, daß es an Größe, Mannigfaltigkeit und Eigentümlichkeit als etwas ganz Neues und Bewunderungswürdiges erschien". Durch Gesträuch und Weingärten, Oelwälder und Pinien ging's mitten hinein in das Trümmerfeld der Villa Hadriani; es gelang die Anlage des Ganzen und die Verbindung seiner Teile zu erkennen, das Cenopeum, die Terrasse der Akademie, in deren Hof jetzt eine Vigne liegt, das griechische und römische Theater, die unterirdischen Anlagen, Thermen, Rotunden und Tempel. Durch die Waldung uralter Oelbäume und über die blumigen Rasen wurde die auf dem Berghang liegende altertümliche Stadt mit Tagebuch.

S. 8 7 5 f f .

— 478 — ihren engen, winkeligen Gassen und den kleinen, aus braunem Gestein aufgeführten Wohnungen und der Gasthof beim Sibyllentempel erreicht. „Neben uns in die Felsen hinab brauste der Anio oder lief in kleinen Bächen durch Obst- und Weingärten —

uda mobilibus pomaria rivis 1 '

rühmte schon Horatius in Tibur, bis wir endlich in unserer Locanda untergebracht einen Fall des gähen Flusses (praeceps Anio) unserem Fenster gegenüber und den schönen Sibyllentempel zur Seite hatten." A m nächsten Morgen wurde der Hain des Tiburnus und ein kleines Kloster

des

heiligen

Antonius

besucht,

wo

einst

der

Landsitz

des

Horaz lag. Thiersch 1 ) findet kaum Worte, „die herrlichen Szenen dieses begeisternden Tales" zu schildern; „noch fehlen zwar den Felshängen und Gebüschen die üppigen Blüten der Aloe, der Narzisse und Hyazinthe, aber der blaulichte Schmuck des blühenden Rosmarin und die über alle Beschreibung schöne Mandelblüte kündigen statt ihnen den Frühling; und statt der Nachtigall im Gebüsch, die noch nicht erwacht ist, klingt in der sonnigen Luft vielstimmig das Lied der Lerche, während hie und da vergnügte Menschen auf ihrem Gang, bei ihrem Geschäft auf Höhen, in der Tiefe die schönen Weisen des Ritornell anstimmen und in seinen langgezogenen sinnvollen Tönen mit den Botinnen des Frühlings wetteifern." Überall tönen ihm.die Verse des Horaz im Ohr, mit denen der römische Dichter die Anmut seines Alterssitzes preist: Me nec tam patiens Lacedaemon Nec tam Larisae percussit campus opimae, Quam domus Albuneae resonantis Et praeceps Anio ac Tiburni lucus et uda Mobilibus pomaria rivis. Über den Anio schreibt er: „ D a s bewegliche Leben der weißschäumenden hängenden Ströme über dem grünen dunklen Grund der mit Moos und Efeu ganz bewachsenen und gleichsam geschützten Felsen bildet mit dem tiefen Brausen der Gewässer und der Pracht dieser Natur eine tiefernste Harmonie, welche die Seele zugleich mit Bewunderung und Befriedigung erfüllt." Nachmittags war das Ziel der Reise die im oberen Teil Sabiner-Villa wandernd ionisches

des

traf

Horaz.

Thiersch

Gebälk, ein

licher Statuen.

Auf

der

überall

alten V i a Valeria

die

Medusenhaupt,

Spuren

gelegene

anioaufwärts

vergangener

Pracht:

Inschriften, Bruchstücke

weib-

Bald gesellten sich Einheimische zu ihnen, die Lein-

wand nach Tivoli gebracht hatten; der eine sang Ritornelle, ein anderer führte mit Thiersch theologische Gespräche über A n f a n g und Ende der Welt; dieser erfreute sich an dem klaren Verstand, der Wißbegierde und poetischen

Kunde der schlichten Sabiner

Bauern, die gar

glauben wollten, daß die Reisenden Tedeschi seien.

') Tagebuch.

S. 857.

nicht

— 479 — Im Kloster San Cosimato wurde übernachtet. Thiersch konnte kaum den Morgen erwarten um nach dem „geliebten" Tal des römischen Dichters zu kommen. Eifrig verglich er seine Schilderungen in den Episteln mit der Landschaft, durch die sie kamen, und fand volle Uebereinstimmung. Noch trägt der Bach, der in den tiefen Schluchten des Tales entspringt, den Namen, den ihm Horaz gibt, Digentia; das hochliegende Dorf Mandela, „das in Kälte erstarrend ihn trinkt", hat sich auf einer Inschrift in jener Gegend wiedergefunden; das bei Horaz (ep. 1, 14) genannte Varia ist identisch mit Vicovaro, wie auch die Tab. Peutingeriana zeigt, die Varia acht römische Meilen über Tibur an die Via Valeria verlegt, wo Vicavaro liegt. „Das alles hatten wir vorher genau erwogen, ehe wir uns den klassischen Gefühlen bei Eintritt in das von den römischen Musen geweihte Gebiet überließen." Durch Amati erfuhr Thiersch nach seiner Rückkehr noch, daß jene Gründe, bei Horaz Ustica genannt, deren „glattes Gestein die süße Hirtenflöte durchtönt", auch in alten Grund- und Kirchenbüchern als Val di Ostica bezeichnet werden. Frohen Mutes zogen die Wanderer aus den Feldern von Mandela der Digentia zu und ließen sich auch nicht durch die Eindrücke des vorderen Tales enttäuschen, durch die schmucklosen Matten und das Gestrüpp der Hänge, die Versumpfung und die schmalen Reißen, in denen der Wildbach seine grünlichen Wellen über Kiesmassen hinwälzte. Bald änderte sich die Landschaft; Weinpflanzungen, Saatfelder und Oelwaldungen, von starken Quellen bewässert, tauchten auf. Zunächst galt es die Stelle zu finden, wo der von Horaz erwähnte verfallene Tempel der Vacuna stand; nach Roccagiovane, einem alten Schloß, hinaufklimmend fand Thiersch eine Inschrift Vespasians, die man dort gefunden und am Eingang in die Burg eingemauert hatte, wonach dieser Kaiser als Zensor einen zerstörten Tempel der Victoria wieder herstellte; die Victoria hieß aber bei den Sabinern Vacuna; Horaz schrieb die Epistel des ersten Buches hinter dem verfallenen Heiligtum der Göttin. Mit einem Führer tiefer in das Gebirge vordringend kamen die Wanderer an einen Trümmerhaufen, zusammengebrochenes Gewölbe, Reste einer gemauerten Zisterne, hinter dem ein heller, reichlicher Quell entspringt; noch zeigten Reste von Mauerwerk, daß er einst gefaßt und wohl durch Sitze und den Schatten überhängender Bäume zu einem angenehmen Ruheort gestaltet war. Lebhaft malte sich Thiersch aus, die Stelle gefunden zu haben, wo der Dichter schrieb; man versicherte ihm, daß im Sommer die Gegend durch das grüne Gebüsch, den Duft würziger Kräuter und als Heimat vieler Nachtigallen allen höchst angenehm ist. „Jetzt blühten dort nur erst die Veilchen über der Quelle. Ich zog einige Wurzeln derselben

— 480 — aus, die ich dem Brief beilege, und wir bückten uns um von der silberhellen Flut zu trinken, welche auch den Dichter labte und ihn mit ihrem belebenden Atem umhauchte, als er jenen herrlichen Brief schrieb." 1 ) Das „klassische" Mittagessen wurde in einem Sabiner Bauernhaus an Ort und Stelle genossen; in reichlicher Menge floß der leichte, helle Sabinerwein, das vile Sabinum, zu dem Horaz einen Freund einlädt, Gemüse fehlte; Gesellschaft leistete, was die Hütte enthielt, der Wirt Antonio, die Schwestern Claudia und Faustina, Hund, Katze, Hühner und Tauben, alle in dem engen, schwarzen, fensterlosen Raum, der zugleich als Wohnstube, Schlafkammer, Küche und Rauchkammer diente. Beim Aufbruch sprang Thiersch seitwärts auf seinen Esel; da der Sattel aber nicht festlag, bekam er das Uebergewicht und fiel mit dem Kopf auf den steinigen Boden, ohne Schaden zu nehmen. Voll Humor beschloß er eine Abhandlung über eine dunkle Stelle des Aristophanes zu schreiben, die eine doppelte Leseart zuläßt: „Du faselst, als ob du vom Verstand" oder „als ob du vom Esel gefallen bist." Bei Licenza überraschte Thiersch 2 ) der Blick auf den großartigen Talabschluß, einen Gebirgszug, zu dessen beiden Seiten aus engen Schluchten Quellen hervorbrechen. Neben Rio vecchio hinein türmt sich das Hauptgebirge, aus dem ein dritter Bach, die Fons Blandusiae des Horaz entspringt, der jetzt fönte bello oder fönte Brandusi heißt. Diesem Quell opferte Horaz das Böcklein; denn er tränkte seine Herden, floß an seiner Flur vorbei; der Möns Lucretiiis des Horaz heißt jetzt Monte Gennaro, dessen hochbewaldetes Haupt nach des Dichters Lied besonders geeignet ist den Faunus aus Arkadien (Od. I, 17) zum Schirm seiner Herden herbeizulocken. Als der von dem Monte Gennaro gebildete terrassenförmige Absatz nahe Licenza, von dem aus sich ein Hang bis zu einer Wiese am Rio vecchio hinabzieht, untersucht wurde, wurden Bilder auf Bilder aus Horaz lebendig: die Bitte an den von Regengüssen angeschwollenen Quell die sonnige Wiese zu schonen, der Dichter, Schollen und Steine wegschleppend, der Verwalter mit acht Knechten die Wildnis urbar machend. Endlich aber waren alle seine Wünsche erfüllt: unten Wiese und Ackerbau, am Fuß des Berges Weinpflanzung und Garten bis zur Villa, daneben die lebendige Quelle und höher hinauf ein Teil der Waldung für die Herde übrig gelassen. „Hoc erat in votis, modus agri non ita magnus . . . (sat. 2, 6). !) Tagebuch. ) Tagebuch.

2

S. 873. S. 876.

— 481 — 1

„ W i r fühlten" — so schreibt ) Thiersch — „ u n s mit ihm ergriffen und beruhigt von dem Eindruck der zugleich großen und schönen Natur, der Gebirge gegenüber, mit den Ortschaften auf ihren Häuptern, der steilbewaldeten Rücken, der K l ü f t e voll riesenhafter Felsen, mit erbrausenden Bächen in den Gründen, und alles so eng und traulich beisammen, und doch wieder so ernst und großartig. Wie leicht wäre auch hier dem Kaltblütigen mit dem Dichter zu fühlen, wie er seine Herden durch die Gesträucher von T h y m i a n und Brombeeren im Schirm des Faunus schweifen sieht, wenn er die Gründe und das glatte Gestein von Ustica von der sanften Hirtenflöte erklingen hört und in der Waldung sorgenfrei umherschweift um die Freundin zu besingen oder zum Gesang und dem lesbischen Becher einzuladen, oder wenn er in dem geheimnisvollen Schatten der Wälder säumt um in den Schriften der Alten des Lebens Weisheit und R u h e zu schöpfen und dann am Abend am Herde mit dem S c h w ä r m fröhlicher Hausgenossen des genügsamen Mahles sich erfreut." (Od. i, 17, E p i s t . 1, 16, Sat. 2, 6.)

Auf felsenbesätem, beschwerlichem Pfad stieg Thiersch noch über einen Bergrücken bis zum Ursprung des Fons Blandusiae, dem eigentlichen Schauplatz der berühmten Ode. Bald war ein Tuffeis erreicht, dessen Inneres durch Klüfte gehöhlt, dessen Rücken feucht und bemoost, das Haupt voll Gebüsch und Bäume war; von dem überhängenden Gestein ergießt sich ein klares und reichliches Gewässer, „schimmernder als Kristall", wie Horaz singt (Od. 3, 13), und „des süßen Weines und der Kränze wert". Zwar war die Steineiche über ihr verschwunden, doch Nüsse und Kastanien waren an die Stelle getreten. Am Fuß des Felsen fanden sich Reste künstlicher Einfassung. Vergnügt „das wahre Heiligtum der Horatianischen Muße" erreicht zu haben kehrten die Wanderer heim. Der zweite Ausflug hatte das Latinerland, Tusculum, den Albanerberg und -See zum Ziel. Thiersch fuhr diesmal allein durch die mit zahlreichen Ueberresten alter Wasserleitungen bedeckte Ebene nach Frascati. Am folgenden Morgen genoß er von der Villa Aldobrandini aus eine unbeschreibliche Aussicht auf Rom, das im hellsten Lichte schimmerte, die Sabinerberge, die Schneewände der Abruzzen und das weite blaue Meer. Durch die Ruffiniallee gelangte er auf die Stelle, die nach uralter Ueberlieferung die Schule des Cicero heißt, wo er seine Tusculanischen Untersuchungen geschrieben haben soll. Nach Ciceros eigenen Mitteilungen über seinen Aufenthalt zu Tusculum, in den Briefen an Atticus, über den Umgang mit römischen Jünglingen, die bei ihm Rhetorik erlernten, über griechische Philosophen und Dichter, die ihn besuchten, vermutet Thiersch in dieser „Schule" den Schauplatz jener Unterhaltungen, einen runden Hof von Hallen und Gemächern umgeben. Wie oft hatte er sie mit seiner Phantasie gesucht! Tagebuch. S. 879. L o e w e , Friedr. Thiersch.

31

— 482 — In das Albanertal hinabsteigend lenkte Thiersch seine Schritte nach den Hängen des Albanerberges; der Aufstiegt) führte durch Waldungen von selten großen Nuß- und Kastanienbäumen, durch Gärten und Flachsfelder zu der malerischen Rocca di papa, „einem gigantischsteilen Felsen mit Häusern auf seinen Vorsprüngen". Dann ging es eine große Bergebene empor zu der sehr gut erhaltenen Via triumphalis. Auf der Spitze des Berges angekommen staunte Thiersch über die Aussicht, „die zu den größten und weitesten in Italien gehört". — Und „diese ganze an natürlicher Schönheit und Erinnerungen gleich große und erhebende Welt vom reinsten Himmel umspannt, im hellsten Schimmer von der mildesten Luft umflossen, deren sanften Hauch auch die Höhe des Gebirges nicht erkältet." Der Abstieg führte zu dem landschaftlich außerordentlich reizvoll in einem ehemaligen Krater gelegenen Albanersee und den Ueberresten Alba longas. Da Thiersch Livius' Schilderung wohl bekannt war, daß die Römer bei der Belagerung Vejis durch einen Stollen den See ableiteten, so besuchte er den unterhalb des Kastells Gandolfo gelegenen Emissar und die natürlichen und künstlichen Grotten in dem Felsen, auf dem die Festung erbaut ist. In den Ruinen der Villa des Domitian, „eine der schönsten, die er je gesehen hatte", fand er von der Galerie der mittleren Terrasse noch die Hälfte mit den Fenstern und dem Hauptausgang wohl erhalten. Ueber Arrezia und Velletri ritt Thiersch durch den ager Volocorum an den steilen mit Gestrüpp bedeckten volskischen Bergen entlang nach Cori, das auf einer schönen mit Oliven bedeckten Anhöhe liegt. Der Charakter des Gebirges mit dem milden Grün der Oelbäume und der Kakteen, den blühenden Anemonen und Krokus erinnerte an griechische Landschaften ebenso wie die zahlreichen zyklopischen Mauern. In Cori lernte Thiersch die verschiedenen Jahrhunderten angehörenden Ueberreste dieser merkwürdigen Bauwerke kennen. In den Substruktionen des Castor und Polluxtempels fand er die roheste Art in sehr großen, kalkhaltigen, übereinander gelegten Steinblöcken, deren Zwischenräume mit kleineren ausgefüllt waren. Auf die zweite Art stießen sie auf dem Weg zur Burg, vieleckige Werkstücke, Kante auf Kante gefügt, den Anblick eines Netzes gewährend, dessen ausgespannte Fäden in verschiedenen Richtungen auf- und niederlaufen, die äußeren Seiten unbehauen mit Ausnahme der Lagen, welche die Straße berührten. Höher hinauf zeigte das die Burg umgebende GeBiographie.

I.

S. 247/248.

— 483 — mäuer eine dritte Gattung des zyklopischen Mauerbaus, indem die Steine nach rechten Winkeln behauen und unter demselben Winkel übereinander gefügt sind. Ueber Praeneste und den See Regillus erfolgte die Rückkehr nach Rom. Neben dem Studium der alten und neuen Kunst verwandte Thiersch jede freie Stunde auf den Besuch der Bibliotheken im Palazzo Barberini und im Vatikan um die Handschriften des Homer, Hesiod und Tacitus zu vergleichen. Er las 1 ) Sueton, Livius, Horaz und bedauerte nur nicht die Zeit zu finden um alle lateinischen Schriftsteller zu studieren da, „wo alles, was sie erzählen, den Leser mit einer großen Unmittelbarkeit wie aus einer ganz nahen Vergangenheit berührt und ihm mit einer Anschaulichkeit entgegentritt, welche dem notwendig abgeht, der Rom und Italien nicht gesehen hat". Zugleich erregte dieses Gefühl der Befriedigung von neuem in ihm das Bedauern, daß ihm ähnliche Belehrung und Klarheit über die weit wichtigeren griechischen Dinge vorerst noch versagt blieb. Keine Gelegenheit versäumte er das Volk bei seiner Arbeit und seinen Festen kennen zu lernen. So verdanken wir seiner feinen Beobachtungsgabe eine Reihe anschaulicher Szenen2), wie den dogmatischen Wettstreit von Knaben in St. Peter, das Lämmerfest der heiligen Agnes oder das Fest des wundertätigen Christkindes in der Kirche Ära caeli, wo ein „allerliebster Urenkel" des Cicero, ein Knabe von etwa sieben Jahren, mit großer Geläufigkeit und Gestikulation, mit dem Pathos des italienischen Vortrages einen langen Sermon über die drei Könige und das Wunderkind vortrug, oder eine nächtliche Feier in St. Maria Maggiore. Hier hatte sich bis zum Beginn der Prozession eine große Menge einfachen Volkes gelagert in Schichten und Haufen voll originaler Gestalten und Gruppen, die junge Maler umdrängten „ u m dort in mehr als einem lebendigen Modell die Wächter am Grabe, die schlafenden Jünger am Ölberg und andere solche Vorstellungen, obgleich in meist schmutzigen und zerlumpten Gestalten, zu sehen. Auch mich unterhielt dieses neue und auffallende Schauspiel nicht wenig und ich kann mir denken, wie ein Künstler hier eine unerschöpfliche Fundgrube von Bewegungen und Stellungen der bezeichneten A r t findet. Besonders fiel mir eine Gruppe von zwei Männern auf von einer malerischen Schönheit, die wirklich überraschend war. Der ältere hatte sich zusammengekauert und der jüngere, in einem braunen Mantel drapiert, lag ausgestreckt und an seiner Brust, indem er aufmerksam einer Erzählung des Alten zuhörte."

Am Fest des heiligen Antonius del Bosco sah er die langen Züge der Ochsen, Esel, Pferde, Schweine und Schafe mit Blumen und Bän2

Tagebuch. S. 824. ) Biographie. Bd. I.

S. 238 ff.

S. 234 ff.

Tagebuch.

S. 8 1 1 .

31*

— 484 — dein geschmückt an der Kirche des Heiligen vorüberziehen, wo ein Priester Gebete über sie sprach und sie mit Weihwasser besprengte. Die Türe hatte eine Anzahl Bettelweiber besetzt, die sich Läuse absuchten oder spannen, schwätzten und von den Eintretenden und Weggehenden eine Art Zoll erhoben. Da Thiersch diesen garstigen Hexen nichts geben wollte, wäre es ihm fast wie dem Orpheus mit den thrakischen Weibern gegangen. „Seine Fabel fiel mir ein und ich mußte, um nicht wenigstens gefaßt und gezogen zu werden, den Weg mitten durch den Dreck vor der Kirche suchen, durch welchen nachzufolgen sie um so weniger Lust hatten, da keine einzige ihre gebrechlichen Schuhe aus diesem Morast herausgebracht hätte." Bei der Illumination der Peterskirche beobachtete Thiersch die Versammlung des römischen Volkes im Peterhof. Als Peter Heß zu ihm sagte: „Das sind die wahren Römer nicht; dort stehen einige von ihnen," trat er auf die bezeichnete Gruppe zu; es war eine Anzahl stämmiger Bauern aus dem nahen Gebirge in braunen Wamsen und grünen, spitz zugehenden Hüten. ,,Ich ließ mich mit ihnen in ein Gespräch ein. Ein Mann von mittleren Jahren, von einer ganz römischen Physiognomie mit gebogener Nase und äußerst kräftigen edlen Zügen, führte das Wort und in seinem Tone lag eine solche Stärke und langsame Feierlichkeit, zugleich verbunden mit so viel Wohlwollen, daß ich einen der alten Ehrenmänner der weltbeherrschenden Republik zu hören glaubte, der den Fremdling aus dem Norden nach seinem Vaterlande, nach der Absicht seiner Reise und nach den Dingen fragte, die ihm in der Ewigen Stadt besonders Wohlgefallen."

Mit lebhaften Farben schildert 1 ) Thiersch den römischen Karneval, das wundervolle Maskentreiben auf dem prachtvoll geschmückten Corso, das aufregende Schauspiel des Pferderennens, begünstigt vom heitersten Himmel und milder Wärme, die lange Straße beim Anbruch der Dämmerung im goldenen Feuermeer strahlend, „das die rotbehangenen Paläste, die gedrängt vollen Fenster, die dichten Reihen der Zuschauer zu beiden Seiten und das Gewühl in der Mitte heller und heller umfloß", das dann stärker und stärker einsetzende freudige Drängen, Rufen und Schlagen der Menge, die immer tiefer in die freundliche Tollheit hineinzugeraten schien. Die Spitze der Lustbarkeit wurde erreicht, als einer des anderen Moccolo wegzuwerfen oder auszulöschen suchte, zumal auch die Wagen in dieses Getümmel hineingezogen wurden. „Von einer solchen Verwirrung, die ungeachtet der allergrößten und mannigfaltigsten Erregtheit doch nicht in Ungebühr ausartete, habe ich mir auch keine entfernte Vorstellung machen können, ehe ich sie gesehen; man kann mit Recht sagen, daß die Römer ihren !) Tagebuch.

S. 829ff.

Fragment.

Rom 1823.

S. 855bff.

— 485 — Karneval abbrechen, nachdem sie ihn auf den höchsten Gipfel des Lebens, der Freude, des Glanzes getrieben haben." Ueberwältigend war die Fülle der Anregungen in Rom gewesen. Daher wurde Thiersch der Abschied außerordentlich schwer. Als der Morgen graute, fuhr der Vetturin durch das rege Gewühl des Corso nach der Porta del Popolo zur Ponte Molle „beim schönsten Morgen; der Himmel trat in dunkler Bläue allmählich aus-dem Morgenduft hervor, und der Morgenstern brannte wie eine lodernde Fackel mit der reinsten Flamme über dem Monte Mario". Am Wege kochten Scharen von Oesterreichern, die aus Neapel zurückgekehrt waren, wuschen, rauchten. Der breite Tiber, alles schien beim Abschied an Bedeutsamkeit zu gewinnen. Der Vetturin sang wohlgemut sein gleichförmiges Ritornell, die Mäuler trabten frisch ihres Weges. Welche Wochen voll überwältigender Eindrücke lagen hinter Thiersch! Die Gefühle und Gedanken, die ihn bewegten, spiegeln sich in einem Brief 1 ): „ W i r sind also endlich aus den Mauern jener Ewigen Stadt, welche hinter sich zu lassen so schwer ist, und schon 38 Miglien von ihr entfernt in den Vorgebirgen der Apenninen, den Grenzländern der Sabiner und Etrusker! Der Abschied hat in mir gemischte Empfindungen hervorgebracht und wie verschiedene von jenen, mit denen ich zum ersten Male das ewige Rom erblickte und durchzogt Zwar ist der Zauber der Neuheit und ein gewisser Duft der Begeisterung verschwunden, mit dem man zuerst in diese Heiligtümer eintrat; man hat sich gewöhnt durch die Räume jener alten Unsterblichen, unter den Trümmern ihrer versunkenen Herrlichkeit zu wandeln, wie man sich, wenn sie selbst noch unter den Lebendigen wären, an ihre Gesellschaft und ihre Eigentümlichkeiten gewöhnen, auf einem gewissen Fuß der Vertraulichkeit mit ihnen leben würde; doch an die Stelle jener neuen und frischen Gefühle ist das nicht geringere Bewußtsein einer inneren Befriedigung getreten, welche durch die neu erworbenen Kenntnisse so wichtiger örtlichkeiten, Eigentümlichkeiten und der reinsten aus dem Altertum übrigen Schönheiten entstanden ist, nicht ohne Beimischung von Wehmut, daß so viel Großes und Sehenswürdiges sich nun auf immer unserem Blicke entzieht und für das Auge, das jetzt noch über die immer tiefere Ferne schweift, sich ewig hinter dem Vorhang jener Anhöhen und Berge verhüllen, in das Gebiet der lebendigsten Vorstellungen zurücktreten wird, welche der Geist stets von neuem mit Liebe und Sehnsucht erzeugt und unterhält."

Der Weg nach Norden führte über die gewaltige, aus mehreren Bogen übereinander bestehende Brücke von Nepi, welche die Römer über eine tiefe Schlucht angelegt haben. An Gebirgshängen, voll grünen Gebüsches der wilden Eiche vorüber ging es jetzt in das Herz Etruriens gegen Otricoli an merkwürdigen Fundstätten vorüber, Resten alter Gräber oder Tempel. Ein am Wege stehender hölzerner Pflug gab Aufschluß über den römischen, der in diesen Gebirgen überall noch in Gebrauch war. Auch der von Hesiod beschriebene ist davon nicht verschieden. Auf der von Pius VI. erbauten Straße näherten *) Tagebuch.

S. 904. Civita Castellana, 13. März.

— 486 — sich die Reisenden Terni, dem alten Interamnae, der Vaterstadt des Tacitus. Ein kleiner Abstecher brachte Thiersch auf einer dem Felsen kühn abgerungenen Straße zu dem Wasserfall des Velino, dem die Römer ein tiefes und abschüssiges Bett in den Fels gehauen haben. „Durch dieses schießt er nun in das tiefere Tal hinab; bald fehlen die Felsen und die Fluten senken sich durch die freie L u f t locker und lockerer, und gleichsam aufgebläht durch die widerstrebende L u f t in die Tiefe hinab um von dem gewaltigen Sturz auf die Felsen aufgelöst, zum Teil als Schaum und Rauch, wieder bis fast an den Anfang des Falles heraufzusteigen.... Der Donner dieses stürzenden Gewässers hallt in dumpfen Schlägen weit umher, die Felsen scheinen davon zu zittern." Von einem Bergabsatz betrachtete Thiersch das überwältigende Naturschauspiel, das alles in den Schatten stellte, was er auf seiner Gasteiner Wanderung gesehen hatte. „ D i e Sonne war eben untergegangen und vor dem See hochschimmernden Goldes, in dem ihr Licht verglühte, lag in tiefster Ferne des Westens die dunkelblaue Masse eines runden Berges, um welchen hervor die Gelblichter sich wunderbar über die Matten und Gründe der näheren Gegend ausbreiteten und alles wie mit einem klaren, ätherischen Zauber zu erfüllen schienen. Ich sah die italienische Landschaft nie glühender, reiner und wundersamer als in diesem Augenblick." 1 )

Tiefe Natur- und Kunsteindrücke brachte der Besuch von Spoleto; der Blick von der aus rötlichem Marmor erbauten, auf hohen Pfeilern ruhenden Brücke, die eine tiefe Schlucht mit zehn spitz gewölbten Bogen nahe der Stadt überspannt und die Wasserleitung trägt, schweifte in die Klüfte und auf die Höhen des Gebirges. Den Dom fand Thiersch durch die Barbarei der letzten Zeiten innen und außen weiß angestrichen; zum Glück blieb das Mosaikgemälde über dem Eingang auf Goldgrund aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts und im Innern die Tribuna mit vortrefflichen Freskogemälden der alttoskanischen Schule verschont. Die Krönung der Jungfrau fiel ihm auf durch „die Schönheit der vor Gott knienden Himmelskönigin, den Ausdruck von Demut und Bangigkeit auf ihrem Angesicht, die Würde der heiligen Männer und Frauen, die Anmut der Engel". Er bedauerte den Namen des Künstlers nicht erfahren zu können. Es ist der Kamaldulenser Mönch Fra Filippo Lippi, der „den großen Sinn Masaccios mit gesteigertem Sonderleben der einzelnen Gestalten verband".2) Im Grund des schönen und fruchtbaren Tales aufwärts fahrend kam Thiersch an den Klitumnus, den schon die Alten als den Herdenreichen rühmten. „Er ist hell und sanft wie eine Quelle, und doch gegen 15 Fuß breit und gegen 6 Fuß tief, der schönste und lieblichste der Flüsse, durch dessen klaren Spiegel man das feinste Moos erkennt, was auf seinem Grunde wächst; er zieht in kaum sichtbarem Wellenschlage am 1 2

) Tagebuch. S. 919. ) W ö r m a n n , Bd. II.

S. 587.

— 487 — Fuß des Berges durch grüne Saaten und zwischen Oliven und Ulmen sanft dahin." 1 ) Auf dem Wege nach Perugia fiel Thiersch der vortreffliche Anbau der Gegend auf, der dadurch ermöglicht wurde, daß auf Vorschlag Toricellis eine großzügige Entsumpfung des Tales durchgeführt wurde; den Ort Bevagna, die Heimat des Properz (das alte Mevania), jenseits des Tales gelegen, wo der W e g hinführte, suchte er auf um einige Schwierigkeiten in den Liedern des Dichters durch die Ansicht der Lage von Mevania zu lösen, was ihm auch gelang. Bei einer Wendung des Gebirges lag Assisi, die Heimat des heiligen Franz, vor ihnen. Der Wagen wurde vorausgeschickt und die Reisenden stiegen den Weg schräg am Gebirge hinan, den herrlichen Blick auf die Terrassen von Oliven und Weinbergen genießend, die mit Saatfeldern wechseln. In der Stadt angelangt besuchten sie zuerst die Kirche des heiligen Philippus, einen früheren alten Tempel; die Vorhalle mit dem von sechs kannelierten Säulen getragenen Giebel fanden sie noch unversehrt erhalten. Die Klosterkirche machte einen eigentümlichen und höchst überraschenden Eindruck. „Man

g l a u b t in einer unterirdischen,

zu stehen."

weiten

G r o t t e voll geheimer

Bedeutung

„ D a s A u g e verliert sich in der U n e n d l i c h k e i t der G e s t a l t e n und

Dar-

stellungen und die A u f m e r k s a m k e i t , zugleich v o n allen Seiten in A n s p r u c h genommen, weiß sich a n f a n g s weder zu fassen noch das

einzelne

einzelnen

zu ordnen.

Darum

dieser herrlichen Gebilde näher zu betrachten,

der E i n d r u c k des größten

fehlte Zeit

und

Ruhe

v o n denen mir außer

und reichsten Ganzen, was die ältere

Malerei

hervorgebracht hat, unauslöschlich geblieben ist." 2 )

Den Tiber zum letztenmal grüßend wanderte Thiersch zu Fuß nach Perugia hinauf um sich des Anblickes der Gegend und der Stadt zu erfreuen. Im unteren Saal des Stadthauses il cambio und in einer daranstoßenden Kapelle interessierten ihn Bilder von Perugino;') „eigentümlich ganz und gar in allen übrigen, scheint er in den letzten Bildern der Kapelle, den Sibyllen und dazugehörigen Genien sich an der aufgehenden Sonne seines großen Zöglings erwärmt und über sich selbst erhoben zu haben; jene Bilder, ohne ganz aus seinem Kreis herauszutreten, können sich in Zeichnung, Ausführung und freiem Geist den besten des Rafael aus seiner mittleren Zeit zur Seite stellen." Am Trasimenersee 3 ) mit seinen bewaldeten Hügelrücken und fruchtbaren Flächen verbanden sich die landschaftlichen Reize mit den großen historischen Erinnerungen an die Niederlage, die Hannibal den Römern dort bereitete; an Hand der Berichte des Livius suchte sich Thiersch Tagebuch. 2)

S. 923.

Tagebuch.

S. 929 ff.

®) T a g e b u c h .

S. 948 ff.



488



an Ort und Stelle über den Verlauf der Schlacht klar zu werden; er bedauerte nur, daß ihm kein Polybius zur Hand war; mit Hilfe der Nachrichten des römischen Historikers, unter Heranziehung von Namen wie Fossa di Val Romana und Valle Romana, die noch jetzt an gewissen Stellen des Seeufers haften, und mit Berücksichtigung einer Reihe von fünf zum Hinterhalt besonders geeigneten Hügeln glaubte Thiersch das Schlachtfeld mit annähernder Sicherheit in einer fruchtbaren Ebene am See bestimmen zu können. Nach einem letzten Blick auf die liebliche Landschaft, über der „die Schauer der geschichtlichen Erinnerung mit breiten Flügeln düster und unvergänglich schweben", wurde die Fahrt ins Toscanische bis nach Cortona fortgesetzt. An der „Annunciata" Fra Angelicos da Fiesole wurde ihm noch einmal klar, was er auf seiner bisherigen Reise an Einsicht in das Wesen der älteren italienischen Kunst gewonnen hatte. „Auch diese Bilder zeigen die Gleichheit der Art und des Geistes der alten Schule," ,,das gemeinsame Eigentum des Ernstes und Verstandes in den männlichen, der einfachen Schönheit und Unschuld in den weiblichen Gestalten," und „eine innere Ruhe und Befriedigung, wie sie jener, der schlichten Frömmigkeit und Sitte treuen Zeit innewohnte, deren treuer Spiegel jene herrliche lautere Kunst geworden ist. Ich habe mich an das, was als dürftig, steif oder hart an den Gestalten noch erscheint (wer könnte es übersehen ?), so gewöhnt wie an das alte Geräte eines urväterlichen Hauses, in dessen tiefstem Frieden der ursprüngliche Geist des Wohlwollens, der Ordnung und der Besonnenheit atmet." 1 )

Das Innere des gotischen Domes in Arezzo 2 ) erregte Thierschs Entzücken „durch die Majestät eines altdeutschen Kirchenbaues von sehr großen und schönen Verhältnissen." „Ein deutscher Baumeister J a c o b . . . hat ihn gebaut und so groß und siegreich ist die Wirkung seiner Eigentümlichkeit, daß selbst Italiener gestehen, hier sei eine wahre Kirche." Die Weiterfahrt führte auf die Anhöhe, von der sich der Blick in das herrliche Arnotal öffnete, das in der Gegend von Val umbrile „dem großen Milton" Züge und Farben lieferte, mit denen er das Paradies geschildert hat. Bei Sonnenuntergang wurde Florenz erreicht. Der kurze Aufenthalt war vor allem wissenschaftlicher Arbeit gewidmet. Thiersch studierte in der Laurentiana die Handschriften des Hesiod, vergebens nach der editio princeps der „Werke und Tage" suchend, und ließ sich Isokrates-, Homer- und Tacitusmanuskripte geben. „Ich t r a t " — so lesen wir in seinem Tagebuch 3 ) — ,mit einem Gefühl der Ehrfurcht in dieses Heiligtum der griechischen Literatur, des ersten und ältesten, welches 1)

Tagebuch. Tagebuch. 3) Tagebuch. 2)

S. 962. S. 966. S. 975.

— 489 — ihr außer ihrer Heimat in den neueren Zeiten eröffnet worden, und fühlte mich wie in dem Mittelpunkt, von dem das Licht ausgegangen, welches die Welt erleuchtet und erwärmt. Die Geister der großen Mediceer, ihrer hochbegabten Freunde und Gefährten, des Ficinus, Politianus und so vieler anderer schienen noch unsichtbar hier zu weilen."

Ein kurzer Abstecher durch das blühende Arnotal mit seinen Frucht- und Weingärten, Oelwäldern, zerstreuten Wohnsitzen und schön gelagerten Ortschaften — „das Ganze hat wirklich etwas Paradiesisches in der Mischung des Großen und Schönen bei vorherrschendem Charakter des Anmutigen" — führte nach Pisa. In dem Dom findet er einen „merkwürdigen Beweis, wie die Italiener schon in jener frühen Zeit sich haben verleiten lassen die durch Deutsche zu ihrer Kenntnis gekommene Kenntnis der kirchlichen Baukunst zu verschmähen und die Antike auf eine Weise und für Gebäude anzuwenden, für die sie in den Formen, die man ihr gegeben hat, weder Sinn noch Verstand haben kann". Während er vom Baptisterium nur wenig berichtet, äußert er sich über den Campo Santo um so ausführlicher, da er in ihm ein Heiligtum der ältesten Kunst erkannte; besonders sorgfältig studierte er die Bilder des Kreuzganges; es drängte sich ihm ein Vergleich mit dem Sacro Convento in Assisi auf; wegen der Giotto-Fresken, des Triumphes des Todes von Andreas Orcagna und der zahlreichen Darstellungen des „unvergleichlichen" Benozzo Gozzoli gab er ihm den Vorzug vor jenem. Von Giotto hatte er bisher überall nur Madonnen, einzelne Gestalten der Heiligen u. dgl. in altertümlicher Ernsthaftigkeit und Gleichförmigkeit kennen gelernt; jetzt staunte er ihn in den Geschichten des Hiob, auf einem ganz anderen Felde frei, eigentümlich und bei aller Einfalt der Komposition reich an Ideen, wundervoll und in der durch ihn gleichsam erst geschaffenen Kunst schon als einen in seiner Art vollendeten Meister zu sehen. „Es haben die vollkommen recht, welche ihm in der Entwicklung des italienischen Geistes neben Dante, Petrarca und Boccacio einen gleich ehrenhaften Platz anweisen." In Orcagnas Triumph des Todes und in seinem jüngsten Gericht bewunderte Thiersch die sinnreiche Verbindung von Gruppen zur Darlegung zusammenhängender Ideen. Die Fahrt über Bologna, Modena, Reggio und Parma nach Mailand brachte noch zwei starke künstlerische Eindrücke: das vertiefte Studium Correggios, dessen Bilder im Kloster bei S. Paolo, „Diana mit ihren Amorinen" Thiersch mit den Genien der Farnesina vergleicht, und den Besuch des Mailänder Domes. Vor allem die Seitenfläche „in ihrer ganzen großen Absichtlichkeit mit dem ') Tagebuch.

S. i o i 2 f f .

— 490 — unermeßlichen Reichtum ihres Schmuckes an durchbrochener Arbeit, Bildwerken und Bildsäulen ist edel und erhaben ausgebildet". Thiersch vermutet, daß der große deutsche Baumeister, welcher den ersten Plan entwarf, wenn er wirklich den Turm über dem Mittelpunkt des Kreuzes erheben wollte, diesem eine ganz andere Unterlage und eine weit größere Höhe zugedacht hatte, so daß er aus den zahlreichen Türmlein gleich dem Eichbaum aus dem kleinen Gesträuch sich erhebe, sie beherrsche und verbinde. Auch die Fassade fand er der großen Idee des Hauptgebäudes nicht entsprechend. Doch von der Ferne stellte sich der große, reich und sinnvoll geschmückte Giebel vortrefflich dar. Im Innern bewunderte er die Reihen gewaltiger Pilaster, „welche die schön gegliederten Leiber lang emporstrecken um sich in einer Ferne, bei der das Auge schwindet, in gespitzte Kreuzbögen zu verbinden; das ernste Dunkel des altertümlichen Gebäudes wird durch das farbige Licht der gemalten Fenster wunderbar gemildert." Abends kehrte Thiersch noch einmal in diese ehrwürdigen Hallen zurück, „um durch ihre geheimnisvollen Schauer zu wandeln und des deutschen Geistes zu gedenken, der auch dieses Werk empfangen, welches auszuführen nun fast ein Jahrtausend noch nicht hingereicht hat." Ungünstige Nachrichten aus München bedingten einen raschen Abschluß der Reise. Sie brachte Thiersch eine Fülle bedeutsamer Eindrücke und Erlebnisse, zunächst eine Erhöhung des Lebensgefühles, wie sie mit jeder seelischen und geistigen Bereicherung verbunden ist; damit verknüpfte sich eine klare Einsicht in das Wesen der alten und neuen Kunst und ihrer Geschichte, eine Befestigung und Vertiefung der in unermüdlichem Ringen gewonnenen ästhetischen Grundsätze; anschaulich stand vor seinem geistigen Auge das Bild des Volkes und der Landschaften Italiens; die philologischen und archäologischen Kenntnisse waren in umfassendem Maße erweitert, wichtige persönliche Verbindungen angeknüpft. Die Sehnsucht auch Hellas kennen zu lernen war nur noch stärker geworden. Die Wanderlust trieb Thiersch nicht nur in ferne Länder; auch die Heimat suchte er unermüdlich kennen zu lernen. Zu einer Zeit, da das Reisen noch mit großen Schwierigkeiten verbunden war, durchstreifte er zu Fuß weite Gebiete der schwäbisch - bayerischen Hochebene und große Teile Tirols. Während das Verständnis für die Alpenwelt bei der noch unbedeutenden Entwicklung des Alpinismus sehr gering war, da eine Hochgebirgstur an die Leistungsfähigkeit des Turisten die größten Anforderungen stellte, weil Weg- und Hütten-

— 491 — anlagen noch unbekannte Dinge waren, bestieg Thiersch mit drei F ü h r e r n den Großglockner. Auf der Salmshöhe mußte in einer verfallenen Hütte die Nacht zugebracht werden. „Ich ging noch einmal hinaus, den flammenden Sternhimmel zu sehen, der schwarz wie Sammt über uns mit verkleinerten, aber sehr scharf blitzenden Sternen ausgespannt war. Die Schneesäule des Glockner stand silberhell in der Dunkelheit und die Hochwasser rauschten mit mannigfaltigem Gemurmel durch die Todesstille der Einöde und der Nacht. Die Luft war mäßig kalt und das Thermometer noch über dem Gefrierpunkt. Ich konnte mich lange nicht aus dem herrlichen Tempel der Gottheit und aus den aufblühenden Gefühlen und Erinnerungen meiner Brust herausfinden, um wieder in die Höhle hineinzukriechen. Die steigende Kälte trieb mich endlich in das Loch zurück." D e r Anstieg des nächsten T a g e s brachte besonders tiefe E r l e b n i s s e ; „nicht ohne G r a u e n " schritt Thiersch mit seinen drei F ü h r e r n über die „ungeheuren Spalten, welche sich bei 2 0 — 5 0 Klafter tief in dem Eise geöffnet hatten. D e r Schnee, von oben hereintauend, hatte Eiszapfen hinabwärts gebildet, die als Säulen in den krystallenen Hallen des Berggeistes aufgetürmt standen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen hinein und erfüllten die wundersamen Klüfte mit einem bunten F a r b e n glanz." Die immer mehr sich enthüllende majestätische Aussicht über die Alpenwelt und der „in einem so dunklen und lieblichen Blau über uns leuchtende Himmel, daß seine Schönheit durchaus mit keiner anderen kann verglichen w e r d e n " , begeisterten ihn. Ein begreifliches Gefühl der Unsicherheit bemächtigte sich seiner, wie er zum ersten Male, wenn auch am Seil, an der Schneewand schwebte, „da der Schnee kaum eine Hand hoch auf der Eisfläche des Gletschers angefroren lag und — w i c h er unter dem auftretenden F u ß , mich in den Abgrund hinabgerissen hätte". Indes die schwierigste Arbeit stand noch bevor, die Ueberschreitung der Scharte von Klein- zum Großglockner. „Der jüngste Führer band das eine Ende des Seiles an ein eisernes Kreuz, das der Fürst Salm zwischen den Felsen hatte befestigen lassen, und ließ sich an dem anderen an dem Steingewänd zu den Klippen hinab, welche aus unermeßlicher Tiefe heraufreichen und die Unterlage einer Brücke bilden, die der gefrorene Schnee zu dem anderen Gipfel gebaut hat. Diese Schneebrücke spitzt sich zu einer prismatischen Wand und in ihre Fläche wurden jetzt Stufen eingehauen, das Seil über den Abgrund ausgespannt und auf der anderen Seite an einem Felsenriff angebunden. So geht man, den schwankenden Leitfaden in den Händen, in einer Höhe, wo die Wolken so tief unter den Füßen wie auf der Erde über dem Kopfe sind, über den Rand einer Schneelage, die so dünn ist, daß ich ihre Kante mit meinem Stachelstabe durchstechen konnte, und gelangt an einer Felswand an, deren Blöcke sich in senkrechter Richtung noch etwa 30 Fuß erheben. Ich war durch die bestandenen Wagnisse so weit gestärkt, daß ich mich durch dieselben mit Behendigkeit hinaufwand, und jetzt oben auf den höchsten Gipfel dieser Alpenwelt auf einer Schneefläche, die nur wenige Personen faßte, wie in den freien Äther heraustrat." Vergessen waren alle Mühen des Ersteigens. Die Unbedeutendheit des einzeln gegenüber dem „großen Ganzen dieser

— 492 — Alpenwelt" kam ihm lebhaft zum Bewußtsein. — „Keine Spur von Leben, die Gebirgswände scheinen sich zu schließen, ehe die Täler sichtbar werden, die Vegetation und Waldung an ihren Wänden haben. — Man glaubt auf einen ausgebrannten Planeten versetzt zu sein, über dem in der Werkstatt der Natur nur noch Wolken erschaffen werden und Lüfte, um die Einöde zu bewohnen. Es gehören Momente dieser Art zu den wenigen lichten des menschlichen Lebens, die um keinen Preis zu hoch erkauft werden." E i n a n d e r e s Mal v e r s u c h t e T h i e r s c h von S c h l i e r s e e n a c h

Tegern-

s e e ü b e r den K r e u z b e r g z u w a n d e r n , obwohl man ihn g e w a r n t w e g l o s und ohne F ü h r e r z u gehen.

hatte

E i n e Sennhütte auf dem höchsten

Gipfel als Ziel ins A u g e fassend, folgte e r einem t r o c k e n e n W a s s e r b e t t , das zum F l ö ß e n diente. fahren d e r

Wasserrinnsal jenseits

N a c h w e n i g e n Stunden kam er, d e r die Ge-

Gebirgsschluchten

der

durch

nicht kannte, an

herabgestürzte

Zerstörung

mit

eine Stelle,

Baumblöcke

rauschendem

Wasser

angefüllt

Mühsam a r b e i t e t e er sich an dem R a n d desselben auf dem Balken w e i t e r , an Steilabstürzen

„wo

zertrümmert

das und

war".

äußersten

vorüber.

„Endlich hört es auf und ich sehe mich" — so berichtet er — „von den furchtbarsten Klüften rings umfaßt, überall steiler Absturz der Gebirge zu erklimmen und zahllose Baumstämme, die von Blitzen, Stürmen und vor Alter durcheinander gestürzt waren und hier nutzlos modernd jeden Augenblick den Weg versperrten, und tiefe Düsterheit in der wesenlosen verwachsenen Wildnis." D o c h F u r c h t w a r ihm fremd.

Mit z ä h e r A u s d a u e r g i n g ' s w e i t e r ,

bis endlich g e g e n Mittag die H ö h e e r r e i c h t w a r . B e i m A b s t i e g geriet e r auf einen völlig versumpften B e r g r ü c k e n ; wiederholt z o g e r die F ü ß e ohne Stiefel heraus. „Einmal fing ich an, mit dem ganzen Körper in den bodenlosen Morast einzusinken. Ohne die Hilfe eines Baumstammes, der über mir zur Vermoderung ausgebreitet war, wäre ich wahrscheinlich steckengeblieben und elendiglich in dieser unbetretenen Einöde gleich dem Stamme vermodert. An seinen Zweigen konnte ich mich zuerst von tieferem Versinken retten, dann mit Hilfe meines Regenschirmes, dessen stählernen Griff ich hineinklammerte, mich emporarbeiten. So schwang ich mich zuletzt auf seinen morschen Rücken und entfloh dem grausen Verderben. Meine Stiefel zog ich mit dem Haken des Regenschirmes aus dem Schlamm und kroch dann auf dem hilfreichen Baum an das Ende des Sumpfes, wo ich mich aus meinem Ranzen, so gut es ging, umkleidete, und dann nach einer Matte ging, die ich durch die Bäume schimmern sah, meine Stiefel an einem Flechtseil gebunden nachschleifend." A l s e r im w a r m e n Sonnenschein rastete und in d e r E r r e g u n g n a c h ü b e r s t a n d e n e r Gefahr keinen Schlaf fand, zog er, w i e einst nach mühevoller

Besteigung

des Mont V e n t o u x zu seinem

Petrarca Augustin

griff, den Sophokles h e r a u s und es g e l a n g ihm die U e b e r s e t z u n g z w e i t e n Strophe d e s C h o r g e s a n g s im Oedipus auf Kolonos rägde

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— 493



1

Im Voralpenland ) liebte Thiersch besonders den Chiemsee mit seinen Inseln, Halbinseln, Erdzungen, Klöstern und Kapellen. „Die anmutigsten Gruppen füllen die entzückende Szene und das blaue Gewässer schlingt sich bald als Bänder, bald als Spiegel hier durch das lichte Grün der Matten, dort durch das Dunkel der Waldung hin, umgrenzt von Alpengebirgen, deren Gipfel schon von frischgefallenem Schnee weiß sind." Auf Herrenchiemsee stand er nicht ohne Wehmut in dem verödeten Kloster, „dem ehemaligen Sitz eines Bischofs, jetzt einer Rinderherde"; die Gedanken des Humanisten weilten wohl in jenen Zeiten, da diese bayerischen Klöster Mittelpunkte eines blühenden wissenschaftlichen Lebens waren. Ein Kahn brachte ihn dann hinüber nach Frauenchiemsee; dort hörte er eine Erzählung, die ihm bewies, wie die Sage von Hero und Leander auch in diese Gegenden gedrungen war. Ein Mönch sei aus jenem Kloster zu nächtlichen Besuchen nach der Zelle einer Nonne herübergeschwommen und einst ertrunken, als das ihn führende Licht in dem Fenster der Geliebten vom Sturm ausgelöscht worden. Während der Glanz der Abendsonne die Gebirge vergoldete, saß Thiersch am Ufer und berichtete seinem Freund Lange in Schulpforta: „ A l s die Sonne sank und alles in Duft und Glanz schwamm und die Schneegipfel leuchteten — da wurde die Gegend wahrhaft zauberisch, von einem Reiz, den die kühnste Phantasie der Dichtung nicht erreichen, keine Erinnerung festhalten kann. Ich ging mit dem Gefühle: „ E i n m a l habe ich es besessen!" in mein Zimmer vom See zurück und nur allmählich erholen sich die überflogenen Gefühle zur Ruhe und Stetigkeit."

Oft suchte Thiersch in Gastein Erholung, das ihm mit seinen Bergriesen und einsamen Tälern immer vertrauter wurde. Neben dem hohen Genuß landschaftlicher Schönheiten bot es ihm auch die Möglichkeit Bekanntschaften mit bedeutenden Männern zu schließen. Hier trat ihm Schelling persönlich näher. „Aus vielen Schleiern dei Hypochondrie, übler Laune, Befangenheit und gefaßten Ansichten bricht und strahlt doch ein gewaltiger lebendiger Geist hervor, der je mehr anzieht und Leben mitteilt, je näher man ihn sieht, je weiter man ihm folgt." 2 ) Lebhaft interessierte sich der Philosoph für die Pindarübersetzung, an der Thiersch dort arbeitete. Auch Wilhelm von Humboldt und der greise Westenrieder, der Begründer des Neuhumanismus in Preußen und der unermüdliche Verteidiger altklassischer Studien in Bayern, kamen in den angeregten Kreis. x 2

) Hauptquelle: Reisebriefe an Lange, gedruckt in Biographie. Bd. I. S. 9 3 f f . ) Thiersch an Jacobs, 7. Dezember 1 8 1 7 . Biographie. Bd. I. S. 168.

— 494 — Eine willkommene Ergänzung erfuhr derselbe kurze Zeit später in München durch einen begeisterten Verehrer der Antike, als Arthur Schopenhauer1) von einer Italienreise zurückkehrend erkrankte und genötigt war ein ganzes Jahr dort zu bleiben. Im roten Haus nahmen sich seiner Thiersch und seine Frau freundschaftlich an. Die Bekanntschaft war vielleicht durch Boeckh oder Friedrich Jacobs, den alten Gothaer Lehrer des Philosophen, vermittelt worden. X . Kapitel.

Thierschs Philhellenismus.

Seine politischen Anschauungen.

Rückblick. Unter allen deutschen Universitäten steht die Münchener in der Pflege des Mittel- und Neugriechischen an der Spitze; an ihr wirkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Karl Krumbacher, der Begründer der Byzantinistik als eines selbständigen Wissenschaftszweiges, der Verfasser der epochemachenden byzantinischen Literaturgeschichte, der Schöpfer des mittel- und neugriechischen Seminars. Er übernahm eine Tradition, die bis in die Anfänge des Jahrhunderts zurückreichte, da Bayerns Hauptstadt der Ausgangspunkt des Philhellenismus wurde. Wohl einer der ersten, der die Aufmerksamkeit aller Gebildeten Europas auf das um seine Selbständigkeit ringende Volk der Balkanhalbinsel lenkte, war Friedrich Thiersch. Sein Philhellenismus2) war keine romantische Schwärmerei, die durch eine vorübergehende Mitleidsregung hervorgerufen, ebenso schnell verschwand, wie sie entstanden war, sondern ein reines klares Feuer, das mit derselben Stärke in der Brust des Jünglings wie des Greises brannte. Er läßt sich auf eine vierfache Wurzel zurückführen: auf seine Beschäftigung mit der Politik überhaupt, auf seine genaue Kenntnis der antiken Literatur, Kunst und Philosophie, auf das unermüdliche Studium des modernen Griechenland und auf seine Weltanschauung. „Es heißt" — schreibt er einmal bei einer Auseinandersetzung über das Wesen des Philhellenismus — „die Tiefe und Lauterkeit des deutschen Wesens ganz und gar verkennen, wenn man anderswo als in dem menschlich-christlichen Gefühl den letzten und tiefsten Grund der Sympathien, welche fortdauernd die Zustände der anatoHschen Christen erregen, findet oder finden will." Dr. Albert H a r t m a n n , Schopenhauer und Friedrich Thiersch in Bayerische Blätter für das Gymnasialschulwesen. Bd. 59. S. 20U. 2 ) L o e w e , Griechische Frage. S. 1.

— 495 — Die starken Jugendeindrücke verbunden mit einer großen Empfänglichkeit für nationale Fragen drängten Thiersch zur Beschäftigung mit der Politik. Dazu kamen die tiefgehenden Anregungen, die er in Göttingen durch Heerens Vorlesungen empfing. Während die eigenen Erlebnisse das Interesse des reichbegabten Jünglings an den deutschen Angelegenheiten weckten, bedeutende Gelehrte seine Aufmerksamkeit auf weltgeschichtliche Zusammenhänge lenkten, führten ihn seine Studien zu eingehender Beschäftigung mit Griechenland. Unter der Leitung Hermanns und Heynes, Wolfs und Schleiermachers erfüllte sich Thiersch mit reiner Begeisterung und tiefem Verständnis für den Wert des klassischen Altertums. J e tiefer er aber in die Schönheit der antiken Kunst und Literatur eindrang, um so schmerzlicher mußte er die Zustände der Gegenwart, die Unterdrückung des griechischen Volkes durch die Türken empfinden. Schon in Leipzig entwarf er die unvollendet gebliebene Geschichte eines jungen Griechen der jüngsten Vergangenheit, der in dem Versuch sein Vaterland zu befreien auf den Inseln unterging. In der Klage des Demetrius über sein Volk hören wir die ersten Klänge des Philhellenismus. „Ach! zum Tag des schönen Lebens Ruft uns kein Erlöser mehr, Unsre Klagen ziehn vergebens Rastlos über Land und Meer. Weh dem Volke, das in Ketten Seinen Wert entschwinden ließ; Keines Gottes Arme retten Den, der selber sich verstieß."

Die resignierte Stimmung, die sich in der letzten Strophe ausspricht, wich einer hoffnungsfreudigen. Denn Thiersch fühlte in seinem Innern einen gewaltigen Tatendrang, Kräfte, die nicht nur zum Sammeln, sondern auch zum Schaffen sich hinneigten. Den mit Unrecht Unterdrückten zu helfen, wurde sein glühendster Wunsch. Auch hier zeigt sich eine schöne Seite in seinem Charakter. Sein fein ausgebildeter Gerechtigkeitssinn trieb ihn immer wieder in Wort und Schrift für die Verfolgten einzutreten, unbekümmert um die Folgen, durch kein Hindernis abgeschreckt. „Nun habe ich eine seltsame, wenn Sie wollen, unglückliche Neigung" — schrieb er einmal an Lange, als die Universität in Tübingen durch Regierungsmaßregeln bedroht war — „den Armenadvokaten zu machen; erst waren es die verfolgten Turner, dann die armen Griechen, deren ich mich annahm, und nachdem diese so ziemlich unter Dach gebracht werden, sind es die armen Württemberger, die an die Reihe kommen."

— 496 — Der Wunsch zu helfen veranlaßte ihn die politischen Dinge überhaupt, die Lage Europas, den Charakter und die Richtung der einzelnen Mächte zu studieren. Denn er hoffte dadurch die griechische Sache vorzubereiten, zu läutern und nach Umständen zu verteidigen oder ihrem Ziele näher zu führen. In München fand er Gelegenheit nähere Kunde von dem Umschwung aller literarischen und gesellschaftlichen Ideen zu bekommen, in den dieses verkannte und vergessene Volk hineingeraten war und einem neuen Schicksal entgegengeführt wurde. Bereits in einer akademischen Vorlesung des Jahres 1812 wies er auf das Wiedererscheinen der Griechen hin und weissagte die Wiedergeburt von Hellas. Durch die Neuheit und das Unerwartete der Tatsachen erregte sie Ueberraschung und Verwunderung. „Sie war das erste Zeichen der Aufmerksamkeit, welches Europa einem Schauspiel gab, das bestimmt war seine Teilnahme in einem Maße wie kaum je eine Weltbegebenheit zu fesseln und festzuhalten." 1 ) Im Druck erschien sie 1813 in einer Zeitschrift, die Schelling damals herauszugeben begann unter dem Titel: „Allgemeine Zeitschrift von Deutschen für Deutsche", in der Absicht auf die Zeit zu wirken; die zwanglos erscheinenden Hefte sollten daher „Muster und Beispiele des besseren und höheren Geistes in allen Fächern" aufstellen und der „Zeit zum Urteil über das verhelfen, was verworren, ungewiß, vieldeutig war." 2 ) In buntester Mannigfaltigkeit ziehen die Themen am Leser vorüber, neben Gedichten Rezensionen und wissenschaftliche Abhandlungen, und geben einen Einblick in das, was die Gemüter der Gebildeten beschäftigte. Pfister wies in sorgfältiger Vergleichung der Ansichten Mannerts und Pallhausens den deutschen Ursprung der Bayern nach. Docen schilderte ausführlich die von Hagen und Büsching herausgegebenen deutschen Gedichte des Mittelalters; Schelling und Eschenmeier vertieften sich in das Problem der menschlichen Freiheit, Fr. Baader entwickelte Gedanken aus dem großen Zusammenhang des Lebens. Eingehend behandelt 3 ) Thiersch die „Neugriechen" auf Grund der ausführlichen Berichte des von dem Archimandriten Athimon Gazis herausgegebenen 'EQfitjg /.oyiog, der Nachrichten des Sammelwerkes: „Fundgrube des Orients" und gestützt auf eine sorgfältige Kenntnis der wichtigsten Erscheinungen der neugriechischen Literatur. Für eine Anstalt, die der Förderung der Wissenschaft gewidmet ist, kann wohl 1)

T h i e r s c h s curric. vitae, A. d. W. Vorwort von Schelling. s) Zeitschrift von Deutschen für Deutsche.

2)

S. 550ff.

— 497



nichts der Aufmerksamkeit würdiger sein „als das Erwachen eines ganzen Volkes zu wissenschaftlicher Tätigkeit, eines solchen zumal, dessen ehrwürdiger Name so große Erinnerungen erweckt." So kündet Thiersch in wenigen Worten die Aufgabe, die er sich gestellt hat, Vergangenheit und Gegenwart verknüpfend; wie in Vorahnung kommender Ereignisse will er schildern, was es bedeutet, wenn ein Volk seiner selbst bewußt wird. Mit tiefem Interesse verfolgt er, wie Griechenland von den Türken unterjocht wurde und die Bewohner Gefahr liefen Religion und Sprache zu verlieren und sich mit den Eroberern zu vermischen. Davor blieben sie jedoch durch die Geistesschätze ihrer Vorfahren bewahrt; das alte Gefühl für Nationalehre erlosch dadurch niemals ganz, die Kirche tröstete die Nation und bewahrte in Ritus und Urkunden die alte Sprache der Vorfahren; in ihr waren die Beschlüsse der Kirchenversammlungen und die Schriften der Kirchenväter abgefaßt, die auf die Schriften des Altertums als einer vorzüglichen Quelle des Unterrichtes und der Bildung immer zurückwiesen und so das Verlangen sie zu kennen wachhielten. Bewundernd sieht er, wie Gelehrte und Männer von Ansehen und Reichtum wetteiferten um die Bildung der Nation zu heben. Gebildete griechische Kaufleute opferten willig einen Teil ihres großen Besitzes für die Wiedergeburt ihres Volkes; an geeigneten Plätzen wie in Patmos, Chios, Smyrna, Konstantinopel entstanden Schulen, der Patriarch und die Bischöfe ließen eine große Anzahl Jünglinge auf ihre Kosten erziehen; viele junge Geistliche verließen die Heimat um sich in Europa zu unterrichten und dann unter Bedrückungen und Entbehrungen aller Art an der Bildung ihres Volkes zu arbeiten. Im Mittelpunkt dieses neu erwachenden Lebens aber stand Korais, der seinem Volk durch Ausbildung seiner Sprache die Basis einer Nationalliteratur gab und es unermüdlich an seine Vorzeit und die Völker des gebildeten Europa wies und Heranbildung eines tüchtigen Lehrerstandes und Gründung von Schulen verlangte, ein Kämpfer gegen die, welche alte Vorurteile vertraten. Während die Nation so rühmlich daran arbeitete aus sich selbst die wissenschaftliche Bildung zu erneuern, übte auch die politische Lage der griechischen Länder und die dadurch herbeigeführte Einmischung gebildeter Völker in die griechischen Angelegenheiten, die Besetzung der Donauländer und der Jonischen Inseln durch Rußland, Frankreich und England einen günstigen Einfluß auf die begonnene Erweckung aus. In Bukarest und Korfu blühten die griechischen Studien, gelehrte Gesellschaften und Zeitschriften zur Belebung des wissenschaftlichen Verkehrs der Griechen untereinander und mit Europa wurden gegrünL o e w e , Friedr.Thiersch.

32

— 498 — det, in Paris wurde an der Ecole spéciale des langues orientales vivantes ein Lehrstuhl für Neugriechisch errichtet, der nach Villoisons Tod durch Khasis besetzt wurde. Freilich gibt es noch viel zu tun; aber Thiersch glaubt berechtigt zu sein seine Ausführungen mit den Worten zu schließen: „Ihre (der Griechen) Existenz als Nation ist gesichert, ihr Selbstvertrauen gestärkt und ihre Triebkraft aufgeweckt." „Ueberblickt man, was bisher gesagt wurde, so läßt sich die vollständige Wiedergeburt der Nation mit jener Gewißheit voraussagen, mit welcher man beim Anblick eines blühenden Saatfeldes annimmt, daß es von den gehofften Früchten tragen werde." Er sollte recht behalten. Die geistige Wiedergeburt der Griechen wirkte auf den Erfolg der Erhebung entscheidend. „Die rohe anarchische Widerspenstigkeit der Albanesen und Sulioten, die klephtischen Kräfte der Griechen selbst, der kecke Ehrgeiz der Phanarioten, die mit- und gegenwirkende Macht der Ali Pascha und Mehemed Ali, das alles sollte nichts für, nichts wider den Erfolg der Erhebung entscheiden, sondern nur das Geistesleben dieser Nation, das einst bei ihrem politischen Sturz die europäische Welt verjüngt hatte, das jetzt wieder erwachend die große Teilnahme der europäischen Welt an ihrer politischen Verjüngung erzwang." 1 ) Thiersch war fest entschlossen, was an ihm lag, zu tun um die Griechen bei der Wiedergeburt ihrer Nation zu unterstützen. Auf seinen Antrag beschloß die Akademie die hervorragendsten Gelehrten wie Korais, Kumas, Mustoxidy, Gazy, Ikonomos und andere als Mitglieder oder Korrespondenten aufzunehmen. Er selbst sollte einen regelmäßigen literarischen Verkehr einleiten. Den neu errichteten griechischen Lehranstalten in Bukarest, Konstantinopel, Smyrna und Chios wurden die Denkschriften der Akademie übersendet und ihnen die Freude und Teilnahme der Akademie an ihrem Bestreben um die Bildung des Volkes ausgedrückt. Diese Geschenke, verbunden mit Briefen, die Thiersch in altgriechischer Sprache an die Vorstände jener Anstalten sandte, den Patriarchen in Konstantinopel und die Erzbischöfe in Chios und Smyrna, erregten dort als die ersten Beweise einer tätigen Aufmerksamkeit und wohlwollenden Teilnahme aus Europa eine an Enthusiasmus grenzende Freude, während sie in feierlicher Weise den versammelten Lehrern und Schülern übergeben wurden. Später versicherten mehrere Griechen, unter ihnen Papadopulos, der Goethes Iphigenie ins Neugriechische übersetzte und sie dem Dichter zueignete, als sie Thiersch in München besuchten, in Konstantinopel sei bei jener Feierlichkeit, an der auch der Patriarch und der heilige Synod teil!) G e r v i n u s ,

Geschichte des 19. Jahrhunderts.

Bd. V.

S. 79.

— 499 — nahm, kein Auge trocken geblieben, und die Meinung, welche ihnen aus so großer Ferne entgegengetreten, daß sie „ein Volk" geworden, habe sie auf wunderbare Art getroffen und Gefühle und Hoffnungen erregt, die ihnen bis dahin fremd geblieben seien.1) Eine Bestärkung seines Glaubens an die Zukunft des griechischen Volkes fand Thiersch später in der Beobachtung, daß Hand in Hand mit dem geistigen Aufschwung ein wirtschaftlicher sich vollzog. Das entschiedene Eintreten für die Griechen brachte es mit sich, daß Thiersch mit den führenden Männern der Bewegung persönliche Bekanntschaft schloß. Im August 1813 lernte er bei seinem ersten Pariser Besuch Korais kennen, der in jener Zeit zwar schon leidend und alt, aber in lebhaften Momenten ein jugendlicher Greis war. Thiersch lebte damals der Hoffnung, die Entwicklung der Griechen werde sie auf friedlichem Wege einem gesicherten Zustand entgegenführen, und es schien ihm nicht unmöglich, daß die Pforte selbst durch die verjüngte Kraft ihrer Länder sich verjüngen und den Bedürfnissen der Gesellschaft gemäß umgestalten könne. Derselben Ansicht waren später die Stifter der Hetärie. Als er mit Korais diese Hoffnungen besprach, fuhr der Greis von Chios auf: „Sie irren aus Unkunde der Türken und der Griechen. Jenes Volk von Barbaren wird nach 500 Jahren noch vollkommen dasselbe sein, was es vor 500 Jahren gewesen ist; hier ist kein Wechsel oder höchstens eine Verschlimmerung zu erwarten, wenn nach dem Untergang einer gewissen physischen Energie und Tüchtigkeit allein der entartete und lasterhafte Teil ihres ¡Wesens übrig bleibt. Die Griechen ihrerseits, auch wenn sie wollen, können nicht stehen bleiben, wo sie sind, sobald sie sich ihrer Lage und ihrer Mittel bewußt werden. Das aber ist geschehen. Sie wissen wenig von dem, was geschieht, ahnen noch weniger; aber glauben Sie mir, eine Bewegung, ein Schwung hat sich des Volkes bemächtigt, der zum Ziele führt, den keine menschliche Macht mehr hemmen kann." ) Ein andermal versicherte er Thiersch mit glänzenden Augen und wie in poetischer Begeisterung: „So allgemein und rasch ist die Anregung, der Umschwung in Griechenland, daß keine menschliche Macht sie aufhalten kann."3) Damals stand Napoleon bei Dresden und der Name von Liberalen und Carbonari war noch nicht gehört worden. Als Thiersch im September 1814 Wien besuchte um sich dort einen neuen Wirkungskreis zu schaffen, benützte er die Gelegenheit mit seinen >) T h i e r s c h , cnrric. vitae, A. d. W. 2 ) L o e w e , Griechische Frage. S. 8/9. 3 ) T h i e r s c h , curric. vitae, A. d. W.

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— 500 — neuen griechischen Freunden über die Mittel zu beraten, durch die von Deutschland aus die Bildung ihres Volkes befördert werden könnte. Er fand die Gelehrten Athimos Gazys, Ducas, die Gebrüder Kapetannary, Thaoclytus und von den Führern des Volkes den Erzbischof Ignatius, sowie den Grafen Capo d'Istria und Maurogeny, den Geschäftsträger der Pforte am kaiserlichen Hof. Aus den Besprechungen mit ihnen gewann er den Eindruck, daß man die Griechen nicht in Unternehmungen verstricken wollte, deren Folgen sich nicht berechnen ließen und denen sie noch nicht gewachsen schienen; vielmehr sollte die Wiedergeburt ohne heftige Erschütterungen durch Vertiefung und Verbreitung der Bildung herbeigeführt werden, damit das griechische Volk in seinem Innern zu der Rolle vorbereitet werde, die ihm, wie der Erzbischof sagte, die Gunst der Vorsehung dann übertragen werde. Thiersch erklärte sich bereit in München ein Institut zur Bildung junger Griechen zu gründen, das sie zum Besuch deutscher Universitäten vorbereiten sollte. Die gründliche deutsche Bildung, die jene Männer selbst mehr oder weniger kannten, schien ihnen die beste Gabe, die Deutschland den Griechen leisten könne. So kam der Plan zu dem Athenäum zustande, das Thiersch aus eigenen Mitteln einrichtete und bis 1818 nach den Grundsätzen führte, die er im 2. Band1) der Acta Phil. Mon. veröffentlichte. Seine Heirat und die Geburt eines Kindes bestimmten ihn dann den engen Verband, der eine beträchtliche Anzahl junger Griechen in seiner eigenen Wohnung mit ihm verknüpfte, aufzulösen und jene zu veranlassen die Universitäten, für die sie vorbereitet waren, oder die Lehranstalten in München zu besuchen, ohne daß dadurch seine Teilnahme an ihren Studien aufgehoben wurde. Nach Thierschs eigenen Mitteilungen2) wurde während seines Wiener Aufenthaltes von den Griechen selbst, besonders unter dem Einfluß des Grafen Capo d'Istria und des Erzbischofs Ignatius eine Hetärie der Musenfreunde gegründet, deren Hauptzweck war durch Zusammenwirken der Griechenfreunde in Europa reichliche Mittel bereitzustellen, damit junge Griechen ihre Bildung in Deutschland vollenden könnten. Wer den festgesetzten Jahresbeitrag leistete, wurde aufgenommen. Da Capo d'Istria den Plan mit Eifer und Klugheit betrieb, traten fast alle fremden in Wien versammelten regierenden Häupter und ihre Staatsmänner, außerdem viele gebildete und einflußreiche Persönlichkeiten dem Bunde bei. Weil die österreichische Regierung Bedenken trug den Mittelpunkt der Gesellschaft in Wien bilden zu lassen, 1

) pag. 2—15 avaxriqviis tis tovs "EXXr]fccg. ) T h i e r s c h , curric. vitae, A. d. W.

2

— 501 — wandte sich Capo d'Istria später in dieser Sache an die bayerische Regierung. Thiersch überbrachte ihm vom Grafen Montgelas die Briefe, in denen die Verlegung der Kasse und der Geschäftsführung der Hetärie nach München genehmigt wurde. Hier wurden auch die Sitzungsberichte in griechischer und französischer Sprache gedruckt. Thiersch nahm an ihren Geschäften niemals teil. Diese erfuhren aus Gründen, die er in seinem Lebenslauf nicht erörtern will, bald eine Wendung, die den gehofften Erfolg nahezu vereitelte; als man zur Einsicht der falschen Maßregeln kam, konnte der Schaden nicht mehr gut gemacht werden. In Paris blieb es Thiersch nicht verborgen, daß die Verbindung für die Griechen unter ihnen selbst einen selbständigen, ja politischen Charakter annahm. Doch hüllte sich die neue griechische Hetärie für jeden Nichtgriechen in ein undurchdringliches Dunkel, „das sich erst nach dem Ausbruch des griechischen Aufstandes, der wenigstens zum Teil ihr Werk war, sich aufzuhellen anfing." Thiersch wußte zwar, von seinen Freunden gut unterrichtet, daß die griechische Erhebung sich seit langer Zeit vorbereitete, doch wurde er durch den Ausbruch des Aufstandes in der Walachai, der mit dem Einmarsch des Fürsten Alexander Ypsilanti in Jassy am 7. März 1821 begann, völlig überrascht. Mit Schrecken beobachtete er die Haltung der Großmächte; seit Januar tagte der Kongreß zu Laibach; sicherlich unter dem Eindruck der törichten Proklamation Ypsilantis stehend, der sich in nicht mißzuverstehender Weise auf den angeblich russischen Rückhalt berief und durch den Hinweis auf die Revolutionen in Spanien und Italien der griechischen Erhebung einen Charakter gab, der ihr tatsächlich nicht eigen war, verurteilte der Kongreß die Bewegung, und Rußland gab durch den Absagebrief des Zaren Alexander vom 26. März aus Angst vor den italienischen Verwirrungen die Aufständischen preis. Offenbar war in den Kabinetten Europas, namentlich zu Petersburg und Wien, die Meinung über die Natur, den Umfang und die Mittel des Unternehmens noch irrig und schwankend; auch die öffentliche Meinung wollte sich nicht gestalten und erheben. Dann erfolgten die Greuel in Konstantinopel, am 22. April die Ermordung des Patriarchen Gregor IV.; diesen Zeitpunkt hielt Thiersch für den geeignetsten mit seiner Ansicht hervorzutreten. Denn er war entschlossen dem unglücklichen Volk in dem furchtbaren Kampf auf Leben und Tod auf jede ihm nur mögliche Weise zu helfen. Er wählte eines der einflußreichsten süddeutschen Blätter, die Allgemeine Zeitung, die Johann Fr. Cotta seit 1798 erscheinen ließ „um der in Entstehung und in der Ausbildung begriffenen öffentlichen Meinung Deutschlands und des festländischen E u r o p a s . . . durch ein Blatt von selbständigem, freiem Wollen, größerem

— 502 — Gesichtskreis und freimütigem, aber gediegenem und reinem Inhalt die noch sehr mangelnde Führung und in gewisser Art eine Zusammenfassung zu geben". So erschien seit dem 2. Juni 1821 in der Beilage eine Artikelserie „Bemerkungen und Nachrichten über die neuesten Begebenheiten im eigentlichen Griechenland". Schon der erste Artikel legt in geschickter und eindringlicher Weise den Nachdruck auf das materielle Aufblühen und die geistige Wiedergeburt Griechenlands seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts und gibt zunächst ein in allen wichtigen Punkten durch die Forschung bestätigtes Bild von dem griechischen Handel, der die Randländer des Aegäischen Meeres erfaßte und sich bis Petersburg, London und die Häfen Nordamerikas ausdehnte; so wurde der Grund zu einer bedeutenden Seemacht gelegt, in deren Ausbreitung und Gedeihen das griechische Interesse seine naturgemäße und sichere Basis, die Europäische Politik aber ein mächtiges Werkzeug findet um die Freiheit des Mittelländischen Meeres zu behaupten. Dann berührt Thiersch den Einfluß der großen Bewegungen Europas auf Griechenland seit dem Ausbruch der französischen Revolution, von der Kolokotronis später einmal sagte, sie habe ihm erst die Augen geöffnet, sie sei die Welttrompete gewesen, die das Kommen des Freiheitstages verkündete, und entwirft ein durchaus zutreffendes Bild von dem geistigen und wissenschaftlichen Leben, in vielen Zügen seine Darstellung aus dem Jahre 1813 noch vertiefend. Der 2. Teil des ersten Artikels beschäftigt sich mit den Zusammenhängen, die zwischen der Freiheitsbewegung in Griechenland und Napoleon bestanden, und mit dem Heldentod des Rhigas. Indem Thiersch nicht scharf zwischen der 1812 in Athen gegründeten Hetärie der Philomusen, deren Hauptaufgabe die Erhaltung der Altertümer, die Anlage einer Bibliothek und eines Museums und die Gründung neuer Schulen in Griechenland war, und der ausschließlich politischen „Hetärie der Philiker", die Ende 1814 in der russischen Handelsstadt Odessa in der ausgesprochenen Absicht gebildet wurde eine gewaltsame Erhebung Griechenlands einzuleiten, unterscheidet, verfällt er einem Irrtum; denn die Führer der politischen Hetärie täuschten von Anfang an planmäßig ihre Mitglieder über das Verhältnis zu den Philomusen und Rußland. Die Folge ist, daß er in seinem Artikel über die Hetärie der Philomusen, über die Stellung Capodistrias u. a. manche unrichtige Angabe macht. Er schließt mit dem Hinweis auf die Greuel in Konstantinopel, die es jedem zur Pflicht machen für die Griechen einzutreten, erwähnt jedoch nicht, daß auch auf dieser Seite die entsetzlichsten Grausamkeiten verübt wurden. „Alles vereinte sich damals um diesem vulkanischen Ausbruch griechischer Volkswut den Charakter

— 503 — einer Wildheit und Grausamkeit zu verleihen, wie ihn unsere Zeitgenossen bis jetzt nur noch 1857 in Hindostan und 1877 in Bulgarien kennen gelernt haben."1) Da bereits der erste Artikel mit Entschiedenheit hervorhob, daß die griechische Erhebung mit den übrigen revolutionären Erschütterungen Europas nichts gemein habe, es sich vielmehr um die Befreiung von der zügellosen Herrschaft asiatischer Barbaren handle, so erregte er in Oesterreich großen Anstoß und Gentz veröffentlichte offenbar in Metternichs Sinn einen scharfen Gegenartikel.2) Unter direkter Bezugnahme auf die in der „Allgemeinen Zeitung" erschienenen Artikel über die griechischen Angelegenheiten bezeichnet der Verfasser die von den Hetäristen in Europa verbreiteten Gerüchte als unglaubwürdig und versucht ein Bild des wahren Standes der Dinge zu entwerfen. Er bekämpft die Anschauung, daß in den in der Europäischen Türkei ausgebrochenen Kämpfen sich nur Griechen und Türken gegenüberstehen; vielmehr teilen sich die zum griechischen Ritus bekennenden Bewohner in vielfach ganz getrennte Volksstämme und diese Trennung macht sich bei allen politischen Fragen geltend. Bei der Beurteilung der Bewegungen darf daher das Glaubensbekenntnis nicht der alleinige Maßstab sein. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Unternehmungen Thodors und Ypsilantis besprochen und besonderer Nachdruck gelegt auf die tiefgehenden Interessengegensätze zwischen den dazischen Völkern, den eigentlichen Abkömmlingen römischer Kolonien, den rein hellenischen und den serbischen. Der damalige Zustand der Dinge muß daher aus folgendem Gesichtspunkt betrachtet werden: „Das eigentlich griechische Unternehmen beschränkt sich in seinem Sinn auf den Peloponnes und die griechischen Inseln des Archipels. Der Ausbruch des Fürsten Ypsilanti scheint in dieser Beziehung zu früh gewesen zu sein. Die durch die geheime Sekte der Hetäristen in Griechenland vorbereitete Revolution hat die Wiederherstellung des alten Griechenland zum Zweck. Diese Sekte kann in ihrem Entstehen auf das Jahr 1814 zurückgeführt werden; ihre Verzweigungen sind weit ausgedehnt und mannigfaltig, und sie verbinden sich eng mit den Triebrädern, welche die letzten revolutionären Bewegungen in manchen Teilen des christlichen Europa bewirkten. Auch ist die Wahl des Augenblickes des Erscheinens des Fürsten Ypsilanti keineswegs zufällig gewesen, sondern es genügt einer oberflächlichen Ansicht, um dessen ZusammenH e r t z b e r g , Geschichte Griechenlands. ) österreichischer Beobachter, Nr. 159. Griechische Frage. S. 12 ff. a

Bd. IV. S. 48. Wien, 8. Juni

1821;

s. L o e w e ,

— 504 — hang mit dem geträumten Ganzen der Dinge in Italien und an manchen anderen Orten nicht zu mißkennen. Wenn es eines anderen Beweises bedürfte, so wäre derselbe leicht in der Art des Unternehmens selbst zu entdecken, welches,wie die übrigen revolutionären Unter nehmungen des verflossenen und des gegenwärtigen Jahres, einzig und allein auf den Grund politischen Truges gebaut war." Der Aufstand in der Walachei entsprach daher den Hetäristen in keiner Weise. Serbien verhält sich ruhig; der Ali Pascha von Janina in Epirus, dessen Bewohner größtenteils Slawen sind, wird von dem griechischen Kampf Vorteil haben. Welches die Entwicklung des großen Dramas sein wird, wagt der Verfasser noch nicht zu entscheiden; sicherlich aber wird es nicht die sein, welche „manche Anführer eines auf die Störung der politischen Ruhe des christlichen Europa eigens berechneten Unternehmens beabsichtigten"; denn die Großmächte haben dagegen entschieden. Entschlossen nahm Thiersch den Fehdehandschuh auf. Am 14. Juli erschien ein zweiter Artikel „Von der Isar" 1 ); denn von der richtigen Beurteilung des Aufstandes hing das Schicksal des ganzen Volkes ab. Vollständig erkennt er die Bedeutung der Türkei für Oesterreich an, die sich in den letzten dreißig Jahren als den treuesten Bundesgenossen der habsburgischen Monarchie erwiesen habe und in einem regen Handelsverkehr stehe, sowie die berechtigte Furcht vor einer gänzlichen Störung der politischen Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel, wenn die Türkei in ihren Grundfesten erschüttert würde; aber mit aller Schärfe hebt er hervor, daß die griechische Erhebung mit der Carbonaria in Italien nichts zu tun habe, und er fordert seinen Gegner auf, den Beweis für seine Behauptung anzutreten. Gerade der enge Bund Oesterreichs und Rußlands zur Bekämpfung der italienischen Revolutionsbewegung und die Hoffnungen Ypsilantis auf den Beistand des Zaren widersprächen dieser Annahme, die der Sache Griechenlands, wie Berichte aus Korfu zeigen, unberechenbaren Schaden zufüge. Dazu komme, daß der Entschluß zur Befreiung Griechenlands, in seiner trostlosen Lage begründet, viel weiter zurückreiche als die Bestrebungen jenes Geheimbundes. Griechenlands Aufstand gleiche genau der Abschüttelung des mongolischen Joches durch Iwan Wassileiwitsch. Von seiten Oesterreichs erfolgte auf diesen Artikel keine Erwiderung; daher konstatierte2) Thiersch in einem Brief an Lange mit GeL o e w e , Griechische Frage. S. 13/14. ) T h i e r s c h , Biographie. Bd. 1. S. 207/208.

2

— 505 — nugtuüng: „Der große Goliath der retrograden Politik, Herr von Gentz selbst, mußte sich dagegen im „Oesterreichischen Beobachter" erheben um den erträumten Zusammenhang zwischen Carbonaris und Hetäristen aufrecht zu erhalten, verstummte aber auf meinen zweiten Aufsatz, der ihn zur Beweisführung aufforderte." Der am 14. Juli in der „Allgemeinen Zeitung" erschienene dritte Artikel betont noch besonders die moralische Nötigung, in die sich die Mächte der Heiligen Allianz durch das Todesringen eines christlichen Volkes mit einer barbarischen Macht versetzt sehen müssen. Schauderhafte Berichte aus der Türkei über Hinrichtung und Martern griechischer Christen dienen dazu solcher Mahnung verstärkten Nachdruck zu verleihen. Anfang August folgte ein vierter 1 ) Artikel. Mit Freuden kann Thiersch darin feststellen, daß die Sache des Rechtes und der Christenheit in Deutschland immer weitere Anerkennung finde, und mit Worten lebhaftester Billigung äußert er sich über eine Abhandlung im „Staatsbürger", einer in Augsburg erscheinenden Zeitschrift, worin mit „siegenden Gründen" der Nachweis geführt war, daß nur durch Auflösung der in sich verfallenen, politisch untergeordneten und für ihre Völker greuelhaften türkischen Regierung und durch Wiederaufrichtung des byzantinischen Thrones der Südosten von Europa gestärkt und zu der Bedeutung gebracht werden könne, welche der über jene Länder gebietenden Macht nicht nur zum Wohle ihrer Völker, sondern auch zum Heil und zur Sicherung der europäischen Ordnung und Freiheit zu wünschen ist. Das neugriechische Reich, unter die anderen christlichen Reiche und in den heiligen Bund aufgenommen, träte mit Rücksicht auf seine Politik gegenüber den europäischen Höfen und mit Rücksicht auf die Pflicht seiner Selbsterhaltung notwendig in das Verhältnis des jetzt bestehenden türkischen; es würde, dem Gang der Entwicklung folgend, eine Hauptstütze der europäischen Freiheit und eine Beschirmerin der Christenheit des Orients werden, die in Kleinasien, Syrien und Palästina sich im Lauf der Zeiten wieder sammeln und zu neuem Wohlstand und Gedeihen entfalten würde. Thiersch wünscht, daß diese Ausführungen namentlich auch von leitenden Staatsmännern beherzigt werden. Es scheint ihm, als ob sich die Zeit durch die Gewalt der Verhältnisse der Erfüllung solcher Aussagen entgegenstürze. In dem furchtbaren Fanatismus und den Greueln des Islams, der die Ausrottung des christlichen Namens beschlossen hat, und in der Unfähigkeit der osmanischen Regierung eine 1

) L o e w e , Griechische Frage.

S. 14/15.

— 506 — gesetzliche Herrschaft zu führen sieht er die Auflösung der Türkei politisch und moralisch begründet. Erst dann werde es möglich sein die Türken gesetzlicher Ordnung zu unterwerfen, damit sie für europäische Bildung empfänglich werden. Der gemeine Türke, den Geschäften des bürgerlichen Lebens hingegeben, ist ein fleißiger Landbauer, geschickter Handwerker, ein zuverlässiger Kaufmann und ruhiger Untertan. Der Artikel schließt mit dem Wunsche, daß es dem Zaren, der das Panier des Kreuzes drohend erhebt, gelingen möge, das ungeheuer schwierige Unternehmen zu vollenden, „die Vertilgung des griechischen Namens zu hemmen, den osmanischen Greuel in Europa zu bannen und durch Wiederaufrichtung des ältesten griechischen Thrones die griechische Nation unter die durch Recht und gesetzliche Ordnung beglückten Völker zurückzuführen, der morgenländischen Kirche ihr Bollwerk zu bauen und der europäischen Menschheit eine der größten, vielleicht die größte Wohltat zu gewähren, welche sie aus der Hand feines gottgesegneten Sterblichen empfangen kann". Mit einem fünften Artikel (20. Sept. 1821) kommt die Serie zum Abschluß; er bringt noch eine Reihe brieflicher Mitteilungen über den Fortgang der Ereignisse in der Walachei. Besonders erwähnenswert ist, daß hier bereits der Plan auftaucht, unter der Führung fremder Offiziere eine Legion aus griechischen Soldaten als Pflanzschule und Muster für das zu formierende Heer zu bilden. Um dieselbe Zeit muß ein von Thiersch verfaßter „Vorschlag zur Errichtung einer deutschen Legion in Griechenland" im Druck erschienen sein. Mit steigendem Mißbehagen hatte man in Wien Thierschs Veröffentlichungen verfolgt. Metternich, den nicht einmal die Wucht der Tatsachen von seiner vorgefaßten Meinung abbringen konnte, daß der griechische Aufstand ein künstliches Werk einiger vornehmer und niedriger Demagogen sei, beschloß durch einen „gemeinsamen festen Schritt der beiden Großmächte" die Aufregung, die den bayerischen und württembergischen Hof ergriffen hatte, zu dämpfen. Am 20. September 1821 war Thierschs letzter Artikel erschienen; neun Tage später erließ Graf Bernstorff, von Metternich dazu bestimmt, eine Zirkulardepesche an die bayerische und württembergische Gesandtschaft, worin die Zulassung von Geldsammlungen für ausländische Zwecke und die Werbung inländischer Jünglinge zu auswärtigem Kampfe scharf mißbilligt und auf die Gefahren hingewiesen wird, die derartige Unternehmungen für die öffentliche Ruhe und Ordnung des betreffenden Staates wie ganz Deutschlands mit sich bringen könnten.

— 507 — „Unter den Aposteln der Freiheit hat, soweit uns hier bekannt ist, keiner soviel Frechheit und eine so grobe Verkennung seiner Pflichten und Verhältnisse an den Tag gelegt als der Professor Thiersch zu München, der, die gesetzlichen Schranken verhöhnend, so seine leidenschaftliche Wirksamkeit in den Blättern seines Landes gefunden, sich nicht entblödet hat, die ungebundene Rücksichtslosigkeit, welche bei der Redaktion und Zensur der württembergischen, selbst offiziellen Zeitungen obwaltet, zu mißbrauchen um die deutsche Jugend zur Bildung eines bewaffneten Vereins aufzufordern, dem er die Residenz seines eigenen Souveräns zum Sammelplatz anzuweisen kein Bedenken getragen hat." Die Gesandtschaften zu München und Stuttgart wurden angewiesen mit den Kaiserlichen vertrauliche Rücksprache zu nehmen und sich ihren Schritten und Vorschlägen anzuschließen. Eine schlimmere Verkennung und ungerechtere Beurteilung der selbstlosen Tätigkeit des Philhellenen Thiersch läßt sich kaum denken. Dem Staatskanzler lag der Gedanke, daß ein Mann aus reiner Begeisterung für eine große Sache wirke, völlig fern. In seiner Angst vor den revolutionären Ideen der Zeit glaubte er, Thiersch wolle „unter dem Deckmantel und dem Aushängeschild religiöser und rein menschlicher Gefühle in dem eigenen Schoß Deutschlands gewissermaßen einen Brennpunkt bilden zu einem Verein moralischer und physischer Kräfte, welcher, wenn er nicht in seinem ersten Entstehen unterdrückt wird, nur zu leicht würde einen Anwuchs, eine Kraft und eine Richtung gewinnen können, welche mit Erfolg zu bekämpfen es — und darauf ist allem Anschein nach das ganze Unternehmen berechnet — den Regierungen dann an hinlänglichen Mitteln gebrechen würde". Thierschs Briefe1) und der von ihm verfaßte Lebenslauf geben uns über seine wahren Absichten genauen Aufschluß. Mit unterrichteten Griechen, die zum Teil von den Häuptern der Hetärie ausgesandt waren, hatte er bereits in früheren Jahren in Wien und Triest über die Frage verhandelt, wie man ihrem Lande eine tätige Hilfe leisten könne; im zweiten Teil des Jahres 1821 schien der Zeitpunkt für ein solches Unternehmen gekommen, zumal die öffentliche Meinung in Deutschland mit einer den Deutschen „rühmlichen Ungeduld" für die Griechen eintrat und Oesterreichs Regierung, durch die Ermordung des Patriarchen erschreckt, in ihren Entschlüssen schwankend geworden war. Ein griechisch-deutsches Heer von 10 000 Mann sollte in Thessalien oder Euböa aufgestellt werden. Mittel und Wege waren *) L o e w e , Griechische Frage.

S. iöff.

— 508 — wohl berechnet. Eine Million Gulden, bestimmt die Offiziere und Unteroffiziere der Heerhaufen nebst Waffen und Rüstung aus Deutschland nach Volo zu schaffen, lagen in den Mitteln der über Deutschland auszubreitenden Vereine und in der Garantie griechischer Häuser der Hetärie bereit, Offiziere und Militärs jeden Grades meldeten sich überall in so großer Zahl, daß die Auswahl schwer gewesen wäre. Kontrakte für Waffenlieferungen waren vorbereitet. Aus den Vorräten in München sollte Geschütz und Armatur gegen bare Zahlung bezogen werden; ferner waren Verbindungen mit Holland, Frankreich, England und Spanien eingeleitet um für das neue Hilfsheer „Zungen" dieser Völker zu bilden und aus dem Schoß einer neuen Hansa, die in Amsterdam ihren Mittelpunkt erhalten und „Häuser" aller Nationen in ihren Bund aufnehmen sollte, dem Kreuzheer eine Flotte zur Verpflegung und Unterstützung seiner Bewegung zuzuführen. Im Frühjahr 1822 sollte das neue Heer den Feldzug mit der Belagerung von Thessalonich eröffnen. Jetzt kam es noch darauf an, die Zustimmung der bayerischen Regierung zu erlangen. Nach seiner genauen Kenntnis der Stimmung am Hof, dem Thiersch als Erzieher der Töchter des Königs und als Lehrer des für Hellas begeisterten Kronprinzen sehr nahe stand, durfte er auf Billigung seiner Schritte rechnen. Ein Vertrauter, der selbst Thiersch einen seiner Schützlinge zur Aufnahme in die Legion geschickt hatte, legte König Max, dessen Hof sich damals gerade in Tegernsee befand, den „Vorschlag zur Errichtung einer deutschen Legion in Griechenland" vor. Da wurde der Plan durch Thierschs Arglosigkeit vereitelt. Ueberzeugt für eine gute Sache zu kämpfen hatte er bei seinem Briefwechsel mit den Griechen und griechischen Häusern in Wien keine besonderen Vorsichtsmaßregeln angewandt. Ein Teil dieser Korrespondenz wurde von der Polizei beschlagnahmt. Unglückseligerweise fiel diese Entdeckung mit einer entschiedenen Abwendung Oesterreichs von der russischen Politik zusammen, während man doch bei Aufstellung der Legion mit einem bevorstehenden Krieg Rußlands und Oesterreichs gegen die Pforte gerechnet hatte. So wurden Thierschs griechische Freunde zu seinem großen Kummer aufs härteste bedroht, verfolgt und gefangen gesetzt. Gerade als sein Vorschlag gedruckt wurde, lief bei dem Ministerium in Bayern ein Antrag auf Untersuchung ein. Daher zögerten gerade die Männer, auf deren Hilfe Thiersch gerechnet hatte, und das Ministerium wollte sich erst nach einer Erklärung der Großmächte zu dem Vorschlag äußern. Das Gelingen des Unternehmens forderte aber eine schnelle und allgemeine Ausführung.

— 509 — Unbekümmert um die unangenehmen Folgen, die ein entschiedenes Hervortreten in dieser Sache haben mußte, nur der Erwägung Raum gebend, daß wenigstens ein Teil von dem, was er gewollt hatte, zur Ausführung gelangen müsse, nachdem der Gang der öffentlichen Verhältnisse seine Tätigkeit gänzlich lahmzulegen drohte, seine Verbindung mit den Griechen durchschnitten und seine Wirksamkeit im Innern des Bayernlandes gehemmt war, schleuderte Thiersch mutig seinen Plan unter das größere Publikum um die noch hin und her flutenden Meinungen über die den Griechen zu leistende Hilfe festzulegen und wenigstens außerhalb Bayerns für die Sache das noch jetzt Mögliche zu bewirken. Unterdessen wurde von Oesterreich jener obenerwähnte Antrag erneuert, und ein Manifest bezeichnete den verdienten Gelehrten ,,als falschen Werber in geschärftem Grad, als Verbrecher an Bayern und am deutschen Bund" und forderte die Regierung auf, ihrer Würde eingedenk zu sein. Obwohl kein bestehendes Gesetz verletzt war, verbot die bayerische Regierung, dem Druck der österreichischen nachgebend, „unter polizeilichen Verweisen und Androhungen krimineller Behandlung" die weitere Teilnahme auf das entschiedenste. Thiersch mußte eine Erklärung abgeben, deren näherer Inhalt nicht bekannt ist. Was er damals empfunden haben mag, läßt sich verstehen, wenn man bedenkt, daß er mit ganzem Herzen die Sache der Griechen unterstützte und sich jetzt plötzlich kalt gestellt sah. Seine tiefe Verstimmung zittert noch nach in einem Brief an Jacobs: „Sollte mir einmal einfallen die Geschichte dieser Tage und das unselbständige und charakterlose Verfahren der Machthabenden bei dieser Gelegenheit zu schreiben, so würde dabei niemand in günstigem Licht erscheinen können als ein oft verkannter und hochgestellter F. (Kronprinz Ludwig), der auch bei dieser Gelegenheit das Echte seines Wesens nicht verleugnet hat. Sie verstehen schon, wen ich meine. — Doch zu solchen Ausführungen fehlt mir Zeit und Lust, und was ich hier gewollt, mag mit anderen guten Absichten und gescheiterten Plänen in die Vergangenheit begraben sein." Vorläufig mußte er sich mit der Teilnahme treuer Freunde trösten wie mit der Tatsache, daß jene gewagte Publikation doch nicht nutzlos gewesen war. Denn deutsche Offiziere stellten sich in großer Zahl zur Verfügung um ein Korps auf europäische Art zu organisieren, und die philhellenischen Vereine in Darmstadt, Heidelberg, Stuttgart, Zürich, Bern und in anderen Städten verwerteten die Grundlagen des

— 510 — Vorschlages für ihre Wirksamkeit. Eine Wiederaufnahme seiner eigenen Tätigkeit konnte erst erfolgen, als König Ludwig den bayerischen Thron bestiegen hatte. Inzwischen brachte ihm die schon längst geplante Reise nach Italien tiefgehende Anregungen.

Schon in Thierschs Kampf für die Griechen begegnete wiederholt ein Hinweis auf die großen revolutionären Bewegungen in Spanien, Piemont und Neapel, der ein bedeutsames Licht auf seine politischen Anschauungen überhaupt wirft. Die Briefe,1) die er über jene gewaltigen Erschütterungen Südeuropas an seinen Schwager Günther schrieb, im Zusammenhalt mit anderen Mitteilungen an vertraute Freunde lassen uns seine Stellung zu dem die Zeit beherrschenden Problem: Absolutismus oder Konstitution klar erkennen. Thiersch war ein überzeugter Anhänger der Monarchie, die ihr Verhältnis zum Volk durch eine Verfassung regelt. Er sah hierin die vollberechtigte Erfüllung einer Forderung der Befreiungskriege, und er wußte sich in dieser Anschauung in Uebereinstimmung mit dem Kronprinzen Ludwig und leitenden Staatsmännern wie dem Generaldirektor Zentner.2) Gerade dieser Minister war einer der Wortführer einer neuen Staats- und Gemeindeverfassung. Noch in den letzten Jahren der Regierung Montgelas' vertrat er in seinem Entwurf einer neuen Gemeindeordnung Ideen, die uns in gleichzeitigen Briefen von Thiersch begegnen. Deutlich erkennt man die Einwirkung der Steinschen Städteordnung. Von der Teilnahme jedes einzelnen an den Arbeiten der Gemeinde erwartet Zentner eine Vertiefung des Gemeinsinns, eine Zurückdrängung des Egoismus. Indem Zentner sich mit dem Kronprinzen und dem Fürsten Wrede verband, wurde es nach Montgelas' Sturz möglich die gesamte Staatsverwaltung dem Zeitgeist entsprechend nach einem festen Plan umzugestalten. Mit größter Aufmerksamkeit verfolgte Thiersch die rasch aufeinander folgenden Ereignisse, die königliche Erklärung vom 2. Februar 1817, an demselben Tag publiziert, an dem Montgelas' Sturz erfolgte, die den Erlaß einer Verfassung unmittelbar in Aussicht stellte, sowie die sich anschließenden Beratungen, denen der Entwurf von 1814, die kgl. Entschließung vom 15. März 1815 und die Bemerkungen des Kronprinzen vom Frühjahr desselben Jahres zugrunde lagen. Am 26. Mai 1818, dem Geburtstage des Königs, verkündete der Reichsherold auf den öffentlichen Plätzen Münchens das !) Gedruckt in Biographie. Bd. I. S. i 8 6 f f . ) D o e b e r l , Bayern. Bd. II. S. 4 7 5 f f .

2



511



königliche Geschenk. Thiersch war Zeuge, als die Ständeversammlung in dem alten, hohen und tiefen Saal des ehemaligen Museums eröffnet wurde. „ E s w a r " , so schrieb 1 ) er an Jacobs, „ein höchst erhebender Anblick und Art. Der Saal glänzte in erneuter Pracht. Auf seiner von jonischen Säulen getragenen Gallerie ein Kranz von 300 Damen, im Hintergrund die Königin und was der Hof Glänzendes enthielt; der große Saal selbst erfüllt von den Reihen der Abgeordneten, hinter den Schranken von den höheren Behörden als Zuschauern; in der Mitte der Reichsrat, im Grunde, der Königin gegenüber, der Thron, auf dem der König, umgeben von den Prinzen und den Großwürdenträgern, umrauscht von dem Jubel der Versammlung, sich niederließ, und die Rede mit einer Unbefangenheit, Herzlichkeit und Deutlichkeit sprach, die ihre Wirkung noch erhöhen mußte. Auch der Schwur, den die Stände ablegten, hatte etwas Ergreifendes. Viele Augen waren hell von Tränen der Rührung und der Freude."

Die einleitenden Worte2) der Verfassungsurkunde erläuterten die Grundgedanken und Grundbestimmungen der Verfassung: „Freiheit des Gewissens und gewissenhafte Scheidung und Stützung dessen, was des Staates und der Kirche ist, Freiheit der Meinungen mit gesetzlichen Beschränkungen gegen den Mißbrauch, gleiches Recht der Eingeborenen zu allen Graden des Staatsdienstes und zu allen Bezeichnungen des Verdienstes, gleiche Berufung zur Pflicht und Ehre der Waffen, Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetze, Unparteilichkeit und Unaufhaltbarkeit der Rechtspflege, Gleichheit der Belegung und der Pflichtigkeit ihrer Leistung, Ordnung durch alle Teile des Staatshaushaltes, rechtlicher Schutz des Staatskredits und gesicherte Verwendung der dafür bestimmten Mittel, Wiederbelebung der Gemeindekörper durch Wiedergabe der Verwaltung der ihr Wohl zunächst berührenden Angelegenheiten, eine Standschaft, — hervorgehend aus allen Klassen der im Staat ansässigen Staatsbürger — mit den Rechten des Beirates, der Zustimmung, der Willigung, der Wünsche und der Beschwerdeführung wegen verletzter verfassungsmäßiger Rechte — berufen um in öffentlichen Versammlungen die Weisheit der Beratung zu verstärken ohne die Kraft der Regierung zu schwächen, endlich eine Gewähr der Verfassung, sichernd gegen willkürlichen Wechsel, aber nicht hindernd das Fortschreiten zum Bessern nach geprüften Erfahrungen. Baiern! — Dies sind die Grundzüge der aus unserem freyen Entschlüsse euch gegebenen Verfassung — sehet darin die Grundsätze eines Königs, welcher das Glück seines Herzens und den Ruhm seines *) Biographie. Bd. I. ) D o e b e r l , Bayern.

s

S. 170. Bd. II.

S. 485/486.

— 512 — Thrones nur von dem Glücke des Vaterlandes und von der Liebe seines Volkes empfangen will." Gleich der französischen Charte vertritt auch die bayerische Verfassung1) das monarchische Prinzip; „der Versuch, in ihr Elemente eines Vertrages entdecken zu wollen, muß als völlig verfehlt bezeichnet werden". Die ausschließliche Gesetzesinitiative der Krone, der Verfassungseid und die Ministerverantwortlichkeit sichern sie in ihrem Bestand. Wie die Charte „enthält die bayerische Verfassung das Zweikammersystem als konservativ beruhigendes und mäßigendes Gegengewicht gegen die politischen Kräfte, die im dritten Stand zum Ausleben drängten". Staatsrat von Zentner erklärte ausdrücklich, daß der Staat damit keineswegs „in einen monarchischaristokratisch-demokratischen Staat umgeändert", sondern „in seiner Form ein rein monarchischer Staat geblieben sei". Der Generaldirektor v. Krenner begründete seine Zustimmung zum Zweikammersystem ausdrücklich mit dem Hinweis auf das gefahrvolle Umsichgreifen der Idee der Volkssouveränität. Die bayerischen Staatsmänner erkannten gleich dem Freiherrn von Stein das Wesen einer guten Verfassung in einer „wohlabgewogenen Verbindung des monarchischen mit dem aristokratischen und dem demokratischen Element". Die Aufzählung der allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte in der bayerischen Verfassung entsprach der französischen Erklärung der Menschenrechte. Begeistert wurde die bayerische Verfassung von allen liberal gesinnten Männern Deutschlands begrüßt. Zu ihnen gehörte Thiersch. Die von Montgelas begründete Staatseinheit war gesichert. „Erst mit der Verfassung" — äußerte Anselm v. Feuerbach — „hat sich unser König Ansbach, Bayreuth, Würzburg und Bamberg usw. erobert." 2 ) Die Arbeiten des ersten Landtags waren gewiß nicht leicht; innere und äußere Feinde, namentlich Oesterreich, waren am Werke die verhaßte Neuerung zu beseitigen. Doch Thiersch, der sowohl mit dem Hofe gute Fühlung hatte als auch die Verhandlungen öfters besuchte, gewann schon im Juni den Eindruck, als ob „die große Angelegenheit" jetzt vollkommen gedeckt sei. „Der König hat den geheimen Noten und den nicht geheimen Alarmisten mannhaft standgehalten" so berichtet 3 ) er Jacobs. — „Der letzten Deputation der Stände hat er gesagt: ,Ich weiß, daß Sie es gut mit mir meinen. Seien Sie dasselbe von mir überzeugt. Sehen und hören Sie nicht auf das, was rechts und links gesagt wird, ich tue es auch nicht; sondern sagen Sie offen und gerade jedesmal, was Sie für gut und D o e b e r l , Verfassungsleben. S. 48ff. D o e b e r l , Verfassungsleben. S. 61. 3) Biographie. Bd. I. S. i 7 7 f f .

2)

— 513 — recht halten. Ich bin bereit, Ihnen alles zu gewähren, was Sie vernünftigerweise fordern können; denn ich wiederhole es: die Liebe meines Volkes ist mein Glück.' In der Reichsratskammer war die Gesinnung der tonangebenden Vertreter, namentlich der Prinzen, die beste. Über die zweite Kammer lautete Thierschs Urteil: , Ich glaube, die zweite Kammer hat gerade das Nötige an Talent, Einsicht und Beredsamkeit. Bedeutend mehr oder weniger würde schädlich sein, wenigstens vor der Hand. Im ganzen haben einige ausgezeichnete Mitglieder, vor allem Hecker, ihr den gehörigen Takt und gerade genug Selbständigkeit gegeben. Es ist eine Freude, wenn die Sitzung lebhaft wird, die schon sehr reichhaltigen Debatten und die Erwiderung der an Gewandtheit schon recht erstarkten Sprecher mit anzuhören. Ich halte die gute Sache auf jede Weise für geborgen. Ein harter Strauß ist freilich das Militär, wo Stände und Regierung um eine Million verschieden sind und beharrlich scheinen. Doch wird sich auch dieses ausgleichen." An Lange berichtete 1 ) er: „ I c h wünschte Ihnen einige Stunden auf der Galerie des Sitzungssaales unter dem Kranz der horchenden Menge, während unten in den ehrwürdigen Reihen der Volksvertreter eine Stimme nach der andern oft mit ergreifender Wahrheit und wirklicher Beredsamkeit sich über die großen Angelegenheiten des Vaterlandes vernehmen läßt. Selbst Männer, sonst der Rede und solcher Dinge ungewohnt, sprechen im Augenblick offen, verständig und im Zusammenhang. Es ist ein eigens ergreifender Anblick diese Rednerbühne zu sehen, die freieste Stelle auf der ganzen Erde, wo über alles, was gesprochen wird, nur Gott allein und diese Versammlung Richter ist."

Thierschs günstige Eindrücke in der zweiten Kammer fanden eine Bestätigung durch Montgelas, der bei seiner ausgesprochenen Abneigung gegen jede Konstitution ein gewiß unverdächtiger Zeuge ist, Sie zeige — so äußerte er — mehr Geist und Beredsamkeit als man ihr zugetraut, doch behandle sie die Dinge etwas oberflächlich. Thierschs politische Anschauungen, die ihn in München in den Ruf eines Konstitutionellen und Liberalen brachten, stimmten mit denen des Königs und eines großen Teiles der Regierungsvertreter überein. Obwohl die Hofmeisterin der älteren Prinzessinnen, Frau von Roggenbach, ziemlich aristokratisch und breisgauisch gesinnt war, bat sie Thiersch seinen Schülerinnen einige Vorlesungen über die spanische Konstitution zu halten. Es geschah, ohne daß er dieselbe „in den Abgrund der Hölle verdammte". Gemäß seiner Grundauffassung von Monarchie und Absolutismus nahm Thiersch zu den großen Ereignissen Stellung, die den Süden Europas damals erschütterten; sie bestimmte naturgemäß auch sein Urteil über die Habsburger und Preußen. Mit tiefem Kummer sieht er den Sieg der Österreicher über die Erhebung in Neapel; „der düstere Geist, welcher über Österreich waltet, wird seine breiten und lastenden Flügel auch über die letzten Fluren jenes schönen, aber unglücklichen Landes ausbreiten, und Jesuiten, nebst Aristokraten und Dienern der Despotie werden ') 3. Mai 1819. Biographie. Loewe, Friedr. Thiersch.

Bd. I.

S. 173. 33

— 514 — auch dort als die einzigen Stützen des Thrones erkannt werden". 1 ) Voll Schrecken beobachtet er, wie im ganzen Umfang des Habsburger Reiches die Wissenschaften und jede selbständige Regung aufs schmählichste niedergehalten und sogar die naturhistorischen und medizinischen Wissenschaften meist ganz unterdrückt oder an so feste Lehrformen und Lehrbücher gebunden werden, daß sich alles um geistloses Ablesen und Erlernen vorgeschriebener Formen dreht. „ D i e Ansicht, daß ein geistloses Erlernen großer Massen von gleichgültigen Dingen das beste Mittel sei die Gemüter der Jugend und mit ihnen die Nation abzustumpfen und zu ertöten, ist dort aufgefaßt und mit furchtbarer Konsequenz bis auf den ersten Unterricht durchgeführt. Der Himmel gebe, daß es bei dem einen Karlsbader Versuche bleibt diese Influenza auch in Deutschland einzuführen."

Ueber die Bewegung in Piemont und Oberitalien suchte sich Thiersch auf Grund der Berichte klar zu werden, die ihm sein Freund, der Bibliothekar Scherer, machte. Dieser bereiste nämlich im Sommer 1820 mit dem russischen Gesandten am Münchener Hof, dem Grafen Pahlen, jene Gebiete und lernte während eines mehrwöchentlichen Aufenthaltes in Turin den Geist der Parteien, ihre Absichten und Stärke kennen. Zudem weilte Karl Albert, Prinz von Carignan, der künftige Thronfolger, der von der Opposition gegen die bestehende Regierung freilich nur vorübergehend gewonnen worden war, längere Zeit in München, da er eine tiefe Neigung zu Elisabeth, der Tochter Max Josephs, gefaßt hatte. Thiersch kam zu der Auffassung, daß Karl Albert, liberal und national gesinnt, durch den Druck der Verhältnisse, die Erhebungen in Spanien, Portugal und Neapel zu Handlungen gedrängt wurde, an die er ursprünglich nicht dachte; in der unglaublichen Bewegung der letzten fünfzehn Monate habe er alle Mittelstufen, die zwischen „dem Mißvergnügen eines versäumten Thronerben und dem Entschluß sich durch die Gewalt der völkerbewegenden Ideen zum König von Italien aufzuschwingen liegen," rasch erstiegen, bis ihn die unerwarteten Katastrophen im Süden von Italien und die Drohungen des Laibacher Kongresses an sich selbst und seinem kühnen Unternehmen verzweifeln machten. Zu diesem Bilde stimmte der Bericht an den Herzog von Leuchtenberg gut: der Prinz habe dem König, als er zur Beruhigung der Truppen ausgesandt wurde, erklärt: „Sire, Sie sind verloren; nur die Unterschrift dieser Erklärungen kann Sie retten: verkündigen Sie die Einheit Italiens, die spanische Verfassung und den Krieg gegen Oesterreich." 2 ) Besonders interessierte Thiersch die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der auf politische und kirchliche Reform gerichteten Carbonaribewegung Italiens mit Frankreich nachgewiesen werden könne >) An Günther, 9. April 1 8 2 1 . Biographie. 2 ) S t e r n , Europa. Bd. 2. S. 7 3 f f . , i 6 3 f f .

Bd. I.

S. 186.

— 515 — und welches überhaupt die letzten Gründe jener vielleicht in tiefem inneren Zusammenhang stehenden Erhebungen in den einzelnen romanischen Ländern seien. Sein Urteil bildete er auf Grund „einer sehr zuverlässigen Quelle",1) über die er sich jedoch nicht näher ausspricht. Er stellt Frankreich in den Mittelpunkt der Betrachtung und zwar die Zeit bis zum Ausbruch der Revolution in Neapel (Sommer 1820); als besonders charakteristisch für die innere Lage des Bourbonenreiches erkennt er den Kampf zweier Parteien, der Royalisten und Liberalen, zwischen denen die Charte und die Regierung gleichsam in der Luft schwebt, ohne Wurzel in der Nation, beide fürchtend. Kurz und im wesentlichen mit den Ergebnissen der Forschung übereinstimmend schildert er die Tendenzen jener Faktionen; die Royalisten können die Revolution in ihren Folgen zwar nicht überwinden, wollen daher dieselben anerkennen, aber zugleich jedes weitere Fortschreiten hindern; die Liberalen dagegen wünschen, da sie den Triumph der Revolution nicht vollständig finden, dieselbe durch organische Gesetze und Einrichtungen in ihrer Reinheit darzustellen, wie in der Konstitution von 1791. Aufmerksam verfolgt er das wechselvolle Ringen beider Parteien, ihre gegenseitigen militärischen Rüstungen, die Militärvorlage des Kriegsministers Gouvion St. Cyr, der das rein royalistische Heer des Duc de Feltre auflöste und in ein größeres verschmolz, das die Blüte der napoleonischen Militärs in sich aufnahm, das Vordringen der Royalisten infolge des Wahlgesetzes der Regierung und der Ermordung des Herzogs von Berry, den Sturz des Ministeriums, namentlich des Ministers Decazes, der die Liberalen nur benützte um die Regierung unabhängig von beiden Parteien zu machen, sowie den Rücktritt Gouvions. So war die Lage, als die Revolution in Neapel ausbrach. Unter dem Druck der Carbonaria und des Volkes gab König Ferdinand seine Zustimmung zur Annahme der spanischen Verfassung. Ueber diese Vorgänge war Thiersch überraschend gut durch die Mitteilungen eines ausgezeichneten Diplomaten,2) der an den Verhandlungen in Troppau und Laibach teilgenommen hatte, sowie durch einen Brief aus Neapel unterrichtet, der nach dem Einzug der Oesterreicher daselbst von einem unbefangenen und auch in der Literatur und Politik nicht unbekannten Beobachter verfaßt war. Demgemäß sah er in der neapolitanischen Reform eine bürgerliche Bewegung, ganz im Sinne der Wünsche des dritten Standes. „Das Heer trug zur Revolution so viel bei, als der 2

Thiersch an Günther, 2 1 . April 1 8 2 1 , in Biographie. Bd. I. S. 190 ff. ) Thiersch an Günther, 12. Mai 1 8 2 1 . Biographie. Bd. I. S. 195 ff. 33*

— 516 — Geburtshelfer zur Geburt des Kindes, dessen Vater er nicht ist." „Es gilt nicht" — so meldete General Nunziante dem König — „ein paar planlos Zusammengelaufene zu bekämpfen. Das ganze Volk verlangt nach einer Verfassung." 1 ) Er kannte ferner das unwürdige Trugspiel des Königs in Laibach, die Haltung der Großmächte, das rasche Vorgehen Oesterreichs, den ruhmlosen Zusammenbruch der Bewegung durch die Schwäche des Parlamentes und des Volkes. Während die Revolution in Neapel nahezu niedergeworfen war, begann der Aufruhr in Piemont, ohne Aussicht auf größeren Erfolg. Auch hierüber hatte Thiersch, wie schon erwähnt, gute Informationen. Seine Auffassung, daß die Liberalen Frankreichs von jenen Bewegungen genau unterrichtet waren, daß sie ihre zerstreuten Kräfte sammelten und alle Vorbereitungen trafen um gleichzeitig losschlagen zu können, findet ihre Bestätigung in den Auftritten zu Grenoble und Lyon, sowie in einem Schreiben Metternichs an den Herzog von Modena,2) worin es heißt: „Frankreich steht an der Spitze aller revolutionären Bewegungen Europas, und es ist schwer zu sagen, wer ärgere Ränke schmiedet, die Regierung oder die Jakobiner." Auf dem Laibacher Kongreß nahm man an, das gefürchtete Pariser Comité Directeur, der Mittelpunkt der französischen Carbonaria, zu dem angesehene radikal gesinnte Politiker wie d'Argenson, Dupont, Mannel, Corcelles und viele andere gehörten, habe dabei die Hand im Spiel. Zieht man noch in Betracht, daß der leitende französische Minister Richelieu gegen ein kriegerisches Vorgehen Oesterreichs in Neapel war, daß die führenden französischen Liberalen 3 ) eine Umbildung der angenommenen spanischen Verfassung im Sinne der Charte wünschten, Pasquier 4 ) in einer Denkschrift ausführte, wie verlockend es für Frankreich wäre Oesterreich zuvorzukommen, sich in Italien an die Spitze der konstitutionellen Bewegung zu stellen und ein Heer dorthin zu senden, so versteht man, warum Thiersch von einem Plan spricht „Neapel, den Kirchenstaat, Florenz, die Lombardei, Venedig, Sardinien usf. den übrigen südlichen Staaten anzuschließen und durch den allgemeinen Umschwung der Macht die Liberalen in Frankreich an das Ruder, dadurch aber die Revolution zur Herrschaft und Frankreich an die Spitze der südlichen Nationen zu bringen." Durch die Vorgänge im unteren Italien sei dieser Plan in seinen Hauptteilen gestört und dadurch der S t e r n , Europa. Bd. II. S. 105. S t e r n , Europa. Bd. II. S. 171. 3) S t e r n , Europa. Bd. II. S. 137. 4) Ebenda. Bd. II. S. 124. 2)

— 517 — europäischen Politik eine andere Richtung gegeben worden. „Denn daß dieses ihre Absicht war und hier eines der größten Unternehmen, das die Geschichte kennt, gescheitert, wenigstens in einer der Gestalten, unter der es auftrat, gehemmt ist, unterliegt keinem Zweifel." Auf Grund persönlicher Erfahrungen während seines Pariser Aufenthaltes und schriftlicher Mitteilungen bestand endlich für Thiersch kein Zweifel, daß auch die Versuche, in Spanien die absolutistische Regierung zu stürzen, ihre letzten und geheimsten Triebfedern in Paris hatten, und so glaubt er denn in allen Aufstandsversuchen der romanischen Länder die Richtung der Völker nach einem Punkt iiin zu erkennen. Freilich irren die Kabinette von Troppau und Laibach, wenn sie die Liberalen in Paris als die letzten und ersten Urheber der Katastrophen ansehen und meinen, die Anzahl derselben sei nicht groß. „Die Urheberin jener Ansichten, welche sich zu dem ungeheueren Plane gestaltet haben, ist die Zeit mit ihrer Bildung und dem Gefühl ihrer Bedürfnisse. Seit dreißig Jahren hat sich ohne Ausnahme alles verwandelt, wir atmen eine andere Atmosphäre, andere Sonnen bescheinen die umgewendeten Fluren, andere Blüten und Früchte drängen hervor, und wer fragen wollte, wie ist das gekommen, müßte auch fragen, wie es zugegangen, daß jetzo Frühling ist, da doch vor kurzem Winter war. Es liegt eine so tiefe Notwendigkeit in der Zeit und ihren Begebenheiten, daß Charaktere und einzelne Ansichten, daß alle materiellen Mittel dagegen nichts vermögen, und in zehn Jahren wird die Lehre von der absoluten Monarchie das Ammenmärchen von Europa sein."

Die Wahrheit ist also, daß die liberale Partei die den ihrigen entsprechenden Ansichten anderer Länder wahrnahm und, durch ihre Lage und Stellung begünstigt, den zerstreuten und regellosen Kräften, in welchen die neue Zeit sich bewegte, Zusammenhang und Einheit zu geben suchte. Während aber die Royalisten und Liberalen sich zu einem Kampf auf Leben und Tod rüsteten, jene auf die Hilfe der absoluten Regierungen rechnend, diese auf die Meinung der Völker als Bundesgenossen bauend, sieht Thiersch mit Schrecken eine dritte Partei sich in Frankreich erheben, die gefährlichste von allen, die sogenannte „nationale"; an ihrer Spitze steht Talleyrand. Sie hat mit den Royalisten die Verteidigung der Legitimität und der monarchischen Grundsätze nach der Basis der Charte gemein, mit den Liberalen den Plan Frankreich an die Spitze aller konstitutionellen Staaten im südlichen Europa und in Deutschland zu stellen, dadurch aber ein politisches System zu gründen, das Spanien, Portugal, Italien zum Teil, dann Holland und das südliche Deutschland umfassend, die französische Macht zu überwiegendem Ansehen erheben und ihr durch die Gewalt der herrschenden Ideen jenen Einfluß auf die Dauer

— 518 — sichern solle, den Napoleon umsonst durch die Gewalt der Waffen an sein Reich zu knüpfen gesucht hatte. Eine solche Partei, für die Ruhe Frankreichs bedacht durch ihre Grundsätze in Rücksicht der inneren Angelegenheiten, und zugleich für dessen Ruhm und Größe durch ihre äußere Politik und die kühnen, der Nation schmeichelnden Hoffnungen und Aussichten, zu denen sie die keineswegs gebeugten Gemüter der Franzosen erweckt, muß notwendig mit jedem Tage an Umfang und Ansehen gewinnen." In diesem Augenblick siegten in Italien die absoluten Kabinette und glaubten, durch die Leichtigkeit des Erfolges getäuscht, in der Ueberzeugung, es mit wenigen zu tun zu haben, auch in Frankreich und Spanien die neuen Interessen niederwerfen zu können. Das ist die Exposition zu dem großen Drama. Voll Spannung sieht Thiersch seinem Ausgang entgegen. Die türkischen Greuel gegenüber den Griechen wurden nur möglich, weil die absolutistischen Regierungen durch ihre Laibacher Erklärung, Oesterreich und Rußland würden sich der griechischen Insurgenten weder annehmen noch auch irgend eine Maßregel hindern, welche die Hohe Pforte für geeignet halte die Ruhe in ihren Landen herzustellen, die Türken gerade zu solchen Schritten ermutigten. „Der Brand von Europa," — so schreibt er unter dem Eindruck dieser Ereignisse und der sinnlosen Politik der Kabinette — „welchen man durch naturwidrige Mittel im Süden zu löschen suchte, wird durch dieselben Mittel, die ihn dort besiegen sollten, im Osten angezündet; das Schwert, mit welchem man schlägt, hat zwei Schneiden, von denen die eine den Feind, die andere den verwundet, welcher es führt. Fest steht jetzo nirgendsmehr etwas, welches nicht auf die Bedürfnisse der Zeit gegründet ist, diese aber begehren unbedingte Herrschaft des Gesetzes statt der Willkür und um sie zu gewinnen, geben sich sogar das älteste und das neueste der Völker, Hellas und Brasilien, von den beiden äußersten Erdteilen her die H a n d . . . . "

Mit Entsetzen sieht er, wie im Sturm des Widerstreites beider Systeme die Erfahrensten über die Grenzen gehen und die Unwürdigsten sich hervordrängen. Ihn tröstet jedoch der Gedanke, daß das, was die Zeit will, größer und stärker ist als daß es gefährdet werden könne, und so schließt er seine Betrachtungen mit den Worten: „Nie waren die Interessen der Gesellschaft, welche in Frage gestellt wurden, größer und die Charaktere kleiner, welche sich für und gegen dieselben bemühten. Noch wird der erwartet, welcher sich der neuen Kräfte für die Zeit ebenso zu bedienen wüßte, wie der Gefangene auf St. Helena sie gegen dieselbe gebraucht hat. Er erst wird die Ruhe herstellen und die beglückten Zeitgenossen werden von ihm sagen: Deus nobis haec otia fecit."

Thiersch glaubte an die unzerstörbare Kraft des Volkes, an die unwiderstehliche Macht der Zeit und ihrer Bedürfnisse, an den Sieg des konstitutionellen Gedankens über den Absolutismus. Daher lautete

— 519 — auch sein Urteil über die Karlsbader Beschlüsse und die Prozesse der Mainzer Untersuchungskommission vernichtend. In dem Briefwechsel mit Jacobs, der seine Anschauungen teilte, spiegelt sich die Erregung wider, welche die törichte Reaktionspolitik auslöste. „Vieles betrübt", — so heißt 1 ) es am 20. Juli 1824 — „besonders die argen Dinge in Preußen, das fortdauernd in seinen Eingeweiden wütet, indem es seine besten Kräfte erstickt und die Wurzeln seines Lebens abhaut. Auch hier sind die Gefängnisse voll junger Leute, deren Unerfahrenheit der öffentlichen Not und dem tief gefühlten Bedürfnis deutscher Einheit auf ungesetzlichem Wege zu Hilfe kommen wollte, und die nun von einem tragischen Schicksal getroffen werden, wenn die Regierung nicht darauf ausginge, mehr ihnen ein Notabene zu geben als sie zu verderben. Dieses Ende fand das J a h r 1 8 1 3 . "

Unter jenen „Verschwörern" befand sich auch der Sohn Anselms von Feuerbach. Thiersch nahm den Jüngling, der in der Haft einen Selbstmordversuch verübt hatte, in sein Haus und pflegte ihn, bis die Geistesstörung vorüber war. Während Thiersch das Verfassungswerk der bayerischen Regierung als einen großen Fortschritt begrüßte, verurteilte er das 1817 abgeschlossene Konkordat8) aufs entschiedenste; denn er sah darin die Begründung eines dem bisherigen ganz entgegengesetzten Systemes, da der katholischen Kirche und der Geistlichkeit viel zu große Rechte eingeräumt wurden, das angeregte geistige Leben in Bayern schien bedroht. Unter den höheren Ständen war nur eine Stimme der Unzufriedenheit, und die Phantasie der Leute erhitzte sich an der Erinnerung der Karl Theodorischen religiös-politischen Unterdrückung. Verzweifelt war Weiller, der Jacobi gegenüber äußerte, er werde jetzt nur noch nachdrücklicher sprechen. Thiersch sah der Entwicklung mit Ruhe entgegen. Die Regierung wahrte ihre Rechte in einem Religionsedikt, das der Verfassung als zweite Beilage angefügt wurde. Thiersch hatte das vierzigste Jahr eben überschritten, als der Thronwechsel in Bayern eine Veränderung in seiner bisherigen Stellung herbeiführte, die es ihm ermöglichte noch nachdrücklicher als bisher seine Lebensaufgabe zu verfolgen: die feste Begründung der Erziehung zur Menschlichkeit mit Hilfe der Altertumsstudien und damit die Erhaltung jener höheren Bildung, auf der nach seiner Ansicht der ganze Bestand der Gesellschaft, ihre Bedingungen und Bestrebungen 1

) Brief an Jacobs. Biogr. Bd. I. S. 274. ) Brief an Jacobs. Biogr. Bd. I. S. 167.

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— 520 — beruhen, die Sicherung unseres geistigen und politischen Eigentums.1) Durch das Vertrauen des Königs Ludwig wurde er 1826 an die nach München verlegte Hochschule berufen. Jetzt reiften die Früchte, deren Samen in den vorausgegangenen Jahrzehnten ausgestreut und gepflegt worden waren. Thiersch stand im blühendsten Mannesalter. Mit dem empfänglichsten Sinn hatte er in sich aufgenommen, was die Zeit Großes und Neues bot. Vor allem erfüllte ihn eine tiefe Begeisterung für die Schönheit der hellenischen Welt in Kunst und Literatur. In London, Paris und Italien hatte er seine Sehnsucht befriedigen können Meisterwerke der Hauptepochen im Original kennen zu lernen. Hervorragende Archäologen wie Visconti förderten seine Arbeiten; mit bedeutenden französischen Forschern trat er in Verbindung. Mit zeitgenössischen Künstlern wie Canova und Thorwaldsen wurde er bekannt. Unter der Führung der besten Kenner des Altertums war es ihm vergönnt gewesen seine Studien in Leipzig, Halle und Göttingen zu betreiben; Hermann, Heyne, Wolf und Schleiermacher waren seine Lehrer. Mit Böckh und Jacobs verknüpften ihn freundschaftliche Bande, Wilhelm von Humboldt war ihm kein Fremder. Mit anderen bedeutenden Gelehrten wie Creuzer und Voß pflegte er brieflichen Verkehr. Was er in belebendem persönlichem und schriftlichem Gedankenaustausch oder in angestrengtem Selbststudium gewann, war eine eindringende Kenntnis des Altertums, die sich nicht etwa nur auf gründliches Sprachwissen beschränkte, sondern auch die Hilfswissenschaften, ja das gesamte Kulturleben der Antike umspannte. Er dachte groß von seiner Wissenschaft. Seinen weiten Blick charakterisieren die umfassende Deutung des Begriffes „Philologie" und der Plan eine für alle Sprachen grundlegende allgemeine Grammatik zu schreiben. Die griechische Altertumswissenschaft endigte für ihn nicht mit dem Untergang der griechischen Freiheit, sondern sie schloß noch die ganze Epoche bis zum Zusammenbruch des byzantinischen Reiches ein. Sein Ziel war, auf Grund streng kritischen Quellenstudiums ein möglichst anschauliches Bild des Lebens der Griechen und Römer in all seinen Aeußerungen zu gewinnen. Mit voller Klarheit erkannte er in der Antike das eine große Element unserer modernen Kultur. Eine Reihe von Eigenschaften befähigten ihn gerade zu diesem Studium: der klare und scharfe Verstand, ein hoher idealer Sinn, ein feines künstlerisches Empfinden und nicht zuletzt eine unstillbare Sehnsucht das Menschentum in seinen Höhen und Tiefen zu erforschen, sowie seine ausgesprochen humane Gesinnung. Da er an sich selbst den 1

) L o e w e , Weltanschauung und Erziehungsgedanken.

S. 109.

— 521 — Bildungswert der antiken Fächer erfahren hatte, so gewann er immer mehr die Ueberzeugung, daß sie die Grundlage jedes höheren Unterrichtes bilden müßten; denn nur dann sei die Gewähr für ein erfolgreiches wissenschaftliches Hochschulstudium gegeben. Diese Begeisterung für die Altertumswissenschaft machte ihn jedoch keineswegs für die Bedeutung seines deutschen Volkstums, seiner Sprache und Literatur blind; denn tief wirkten die Eindrücke des Napoleonischen Zeitalters, das die deutsche Kultur zu zerstören drohte, das Vorbild und die Mahnungen seiner Lehrer, die Kenntnis der deutschen Geschichte. Bei seinem wiederholten Aufenthalt in Frankreich war ihm nicht bloß die Eigenart des deutschen Bildimgswesens sondern auch seine Ueberlegenheit über das französische klar geworden. Thiersch war durch und durch Deutscher und war stolz auf die Leistungen deutscher Kunst, Literatur und Wissenschaft. Goethe war ihm ebenso vertraut wie Schiller oder Klopstock, Herder oder Lessing. Mit großem Interesse verfolgte er das Aufblühen der jungen germanistischen Wissenschaft unter der Führung der Brüder Grimm, er förderte Schmeller auf jede Weise und pflegte freundschaftliche Beziehungen zu den Vertretern der deutschen Philologie in München. Deutsch sein und antiker Bildung huldigen war eben für ihn kein Widerspruch. Denn gerade mit den Besten seines Volkes teilte er die Ueberzeugung, daß erst aus einer Verbindung deutschen und griechischen Wesens die höhere Bildung entstehe. Zu Altertumswissenschaft und Volkstum gesellte sich als drittes Element das Christentum. Thiersch war ein gläubiger Protestant, doch fern von allem dogmatischen Hochmut, tolerant gegen jeden Andersdenkenden. Voll Verehrung blickte er zu dem „unerreichbar großen" Genius Luthers auf. Er rühmte die freimütige und gehaltene Forschung der protestantischen Theologie, die mit dazu beitrug eine bessere Periode unserer Kultur, eine Zeit reiner Wissenschaftlichkeit einzuleiten. Seinem Bildungsdrang entsprach es, daß er sich auch mit den philosophischen Richtungen seiner Zeit auseinandersetzte. Kant, der ihm wohl zunächst in Hermanns Unterricht vertraut wurde, ist und bleibt ihm der Schöpfer der neuesten, seit Sokrates glänzendsten Periode der Philosophie; sein eigener scharfer Verstand, die unerbittliche Wahrheitsliebe, die Freude an logischen Beweisführungen, die strenge Auffassimg von Sittlichkeit und Pflicht ließen ihn verwandte Züge in den Schriften des Königsberger Philosophen erkennen. Besonders aber zog ihn Jacobi an, dem er in dem ersten Jahrzehnt seines Münchener

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522 —

Aufenthaltes persönlich so nahe trat. Hier fand sein Verstand und sein Gefühl gleichmäßig Befriedigung. Fichte nötigte ihm durch die Schärfe seines Denkens und die Tiefe seines Menschentums Bewunderung ab. Schellings Ideenwelt reizte ihn; doch lernte er sie erst im Lauf der Jahre genauer kennen. Verwandt waren sich beide Forscher in der Hochschätzung der Antike und der Kunst als Bildungsfaktor. Der künstlerische Sinn war überhaupt bei Thiersch stark ausgeprägt. Künstlerische Probleme, wie sie damals in den Kreisen aller Gebildeten zur Erörterung standen, beschäftigten ihn während seines ganzen Lebens, und er verfolgte sie durch die Geschichte aller Völker. Alter und neuer Kunst, der Plastik, Malerei und Musik, galt sein Interesse in gleicher Weise. Während er in Italien nicht müde wurde den antiken Statuen und Bauten das Geheimnis ihrer Schönheit abzulauschen, besuchte er auch die Arbeitsstätten Canovas und Thorwaldsens und suchte durch Vergleich antiker und moderner Schöpfungen sein Urteil zu schärfen. Was er in der Sixtina vor Michelangelos Schöpfungsbildern empfand, wie sein Wesen im Innersten erschüttert wurde, wenn die Idee des Lebens in einem Kunstwerk Gestalt gewann, das vermögen nur seine eigenen Worte wiederzugeben. Wo Form und Inhalt sich vermählten, da schien ihm der Höhepunkt der Kunst erreicht. Doch nicht nur die Schönheit der Werke von Menschenhand konnte einen Sturm der Gefühle in ihm auslösen; ebenso wirkte die Größe und Schönheit der Natur auf ihn. In seinen Jugendjahren überwog noch die Gefühlsseligkeit der Wertherzeit; sie machte später einem ruhigen, aber nicht weniger tiefen Empfinden Platz. In engem Zusammenhang mit dem feinen Sinne für Schönheit der Form steht Thierschs Freude am Wohlklang der Rede. Als echter Humanist forschte er unermüdlich nach den Gesetzen der Sprache und des Vortrages und trachtete sich darin immer mehr zu vervollkommnen. Eine natürliche Redegabe und eine eindrucksvolle äußere Erscheinung kamen ihm dabei sehr zu statten, so daß er seine Hörer in kurzer Zeit in seinen Bann zog. Sein reiches Wissen und sein Forschertrieb schützten ihn vor der Gefahr je die Form über den Inhalt zu stellen. Fragt man nach den tiefsten Gründen seiner ästhetischen Anschauung, so berührt man, wie noch in anderem Zusammenhang zu zeigen sein wird, den innersten Kern seiner Weltanschauung. „Thiersch faßt die unendliche Mannigfaltigkeit der gesamten Erscheinungswelt zusammen in der Einheit der Uridee, der höchsten, d. h. der göttlichen

— 523 — Wesenheit,, dem göttlichen Geist, der sich als Wahrheit, Schönheit und Güte offenbart."1) In dieser Weltanschauung erscheint eine eigenartige Verbindung und Weiterbildung griechischer und echt germanischer Gedanken. Von Piaton führt eine ununterbrochene Verbindungslinie über Plotin und die Stoa zu Shaftsbury und von da über Winckelmann zu Goethe und seinen großen Zeitgenossen, den Neuhumanisten, Romantikern und spekulativen Philosophen, namentlich zu Schelling.2) Thierschs starker Produktionsdrang bestimmte ihn das auf streng wissenschaftlichem Weg gewonnene Wissen sofort zu immer neuen Forschungen zu verwenden. Die schriftstellerische Tätigkeit erstreckte sich in erster Linie auf sprachliche und archäologische Gebiete. Ueberau suchte er die durch die führenden Männer aufgeworfenen Probleme in selbständiger Untersuchung zu fördern. Bei seinem ausgesprochen historischen Sinn reizten ihn namentlich auch geschichtliche Fragen; Winckelmanns allzu unhistorische Gesamtanschauung wollte er durch eine neue ersetzen. Wie sehr er hier einer starken Strömung seiner Zeit folgte, zeigen seine Auffassung von der Sprache als etwas organisch Wachsendem, seine Ansichten über Volk und Staat. Die tiefen Erfahrungen der napoleonischen Gewaltherrschaft lehrten ihn die Bedeutung des Volkstums und der konstitutionellen Monarchie richtig einschätzen. Auf seiner italienischen Reise beschäftigte ihn vor allem auch das Problem, wie sich in der Kunst des 14. und 1.5. Jahrhunderts der Geist der Zeit ausspricht, die einfache, schlichte Lebensauffassung und das tiefe religiöse Lebensgefühl. Wissenschaft und Leben waren für ihn nicht Gegensätze. Darum suchte er das wissenschaftlich Erarbeitete praktisch zu verwerten. Seinem aufmerksamen Blick entging auch nicht die Bedeutung der gerade in München aufblühenden Technik, die Erfindungen Fraunhofers und Senefelders. Mitten im Leben stehend wollte er auf das Leben wirken. Ein tief innerer Drang hatte die Wahl seines Berufes bestimmt. Thiersch war ein geborener Erzieher; denn gründliche Kenntnisse verbanden sich mit hingebender Liebe zu den Kindern, eine seltene Gabe der Einfühlung mit dem Geschick individueller Behandlung; der Klarheit und Schärfe seines Verstandes entsprach die Klarheit und Schärfe seiner Unterrichtsmethode. Hier finden seine großen Lehrerfolge ihre Erklärung. Bedeutsame pädagogische Forderungen der Zeit hatte er sich zu eigen gemacht: Selbsttätigkeit, Rücksicht auf die kindliche Natur und ihre Entwicklungsstadien, Pflege der Wissen2

L o e w e , Weltanschauung und Erziehungsgedanken. ) Ebenda. S. 82.

S. 96.

— 524 — schaft um ihrer selbst willen, Beschränkung auf eine geringe Zahl von Fächern. Er huldigte nicht der jetzt zum Kultus gewordenen Verweichlichung der Kinder; denn er war der Ueberzeugung, daß die Wurzel der Bildung bitter, ihre Früchte aber süß seien. Wenn er die naturwissenschaftlichen Fächer im Unterricht der Gymnasien ganz vernachlässigte, so trug sicherlich ein gut Teil der Schuld der trostlose Betrieb dieser Disziplinen, für die noch vorgebildete Lehrer und geeignete Methoden fehlten; zudem war Thiersch der Ansicht, daß erst das reife Alter der Hochschüler einen wirklich erfolgreichen Betrieb der Naturwissenschaften gewährleiste. An Gelegenheit sein Erziehertalent zu zeigen fehlte es ihm nicht; es traten die verschiedenartigsten Aufgaben an ihn heran; in dem Unterricht der königlichen Prinzessinnen war ihm völlig freie Hand gegeben. Im Gymnasium und am Lyzeum hatte er verschieden weit fortgeschrittene Zöglinge, die er nach feststehenden Schulordnungen oder in freien Lehrvorträgen unterweisen mußte. Das ihn umgebende Leben interessierte ihn aufs höchste. So wandte er auch allen politischen Fragen das regste Interesse zu und nahm zu den Zeitereignissen Stellung und zwar oft in sehr temperamentvoller Weise. Furchtlos trat er stets für seine Ueberzeugung ein; wo es die Wahrheit galt, kannte er keine Rücksicht. Wenn er auch zum königlichen Hof die nächste Verbindung hatte, so erlag er doch niemals den Versuchungen, die dieser Verkehr in sich barg. So tritt uns Thiersch, da er die Reife des Lebens erreichte, entgegen als ein Humanist im tiefsten Sinne des Wortes, als ein begeisterter Verehrer des Altertums, als echter Deutscher und als ein Diener der Wissenschaft um der Wissenschaft willen.

DIE BUECHER FRIEDRICH MEINECKES

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6. Aufl. 550 S. Gr.-8°. 1922. Halbleinen M. 12.— Ende 1907 erschien die erste, 1911 die zweite Auflage, dann in rascher Folge während des Krieges 1915 die dritte, 1917 die vierte, 1918 die fünfte Auflage und schließlich 1922 die sechste durchgesehene und erweiterte Auflage dieses Hauptwerkes des Forschers. Erstes Buch. Nation, Staat und Weltbürgertum in der Entwicklung des deutschen Nationalstaatsgedankens. 1 . K a p . Allgemeines über Nation, Nationalstaat und Weltbürgertum. 2. K a p . Nation und Nationalstaat seit dem Siebenjährigen Kriege. 3. K a p . Wilhelm v. Humboldt in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. 4. K a p . Novalis und Friedrich Schlegel in den Jahren der Frühromantik. 5. K a p . Friedrich Schlegel im Übergange zur politischen Romantik. 6. K a p . Fichte und die Idee des deutschen Nationalstaates in den Jahren 1806 1813 7. K a p . Adam Müller in den Jahren 1808—1813. 8. K a p . Stein, Gneisenau und Wilhelm v. Humboldt in den Jahren 1812—1815. 9. K a p . Übergang zur Restaurationszeit; Blick auf die öffentliche Meinung. 10. K a p . Haller und der Kreis Friedrich Wilhelms IV. 11. K a p . Hegel. 12. K a p . Ranke und Bismarck. Zweites Buch. Der preußische Nationalstaat und der deutsche Nationalstaat. 1. K a p . Anfänge des preußisch-deutschen Problems; von Moser zu Friedrich von Gagern. 2. K a p . Das preußisch-deutsche Problem vom März bis zum September 1848. 3. K a p . Heinrich von Gagerns Werbung um Preußen. 4. K a p . Die Oktroyierung der preußischen Verfassung vom 5. Dezember 1848. 5. K a p . Von der oktroyierten Verfassung bis zur Kaiserwahl. 6. K a p . Von Heinrich von Gagern zu Bismarck. 7. K a p . Fortentwicklung des preußisch-deutschen Problems. N a c h w o r t . — Das p r e u ß i s c h - d e u t s c h e P r o b l e m im J a h r e 1921. Personenregister. I N H A L T :

Professor Küntzel schreibt in d e r , , D e u t s c h e n Literaturzeituag": Nicht häufig sind auch Bücher erschienen, die wie dies eine so starke Harmonie zeigen zwischen den tiefsten Regungen der behandelten Epoche, der eigenen Geistesrichtung des Verfassers und starken geistigen Strömungen der Gegenwart. M. hat es in den Anfängen des 19. Jahrhunderts mit einer Zeit zu tun, in der die Philosophie politisch und die Politik philosophisch beeinflußt und durch die Wissenschaft jene Verbindung zwischen Theorie und Praxis vorhanden war, deren Schwinden schon 1831 Paul Pfizer bedauerte und heute M. wiederherstellen möchte. Das Bedürfnis, mit der Leuchte der Wissenschaft in das Getriebe des Tages wieder mehr Ewigkeitsgehalt und -gefühl hineinzubringen, verbindet das Zeitalter der Freiheitskriege mit M.s Natur und einer glücklichen Regung unserer Zeit. Geistesverwandt mit Fr. Naumann möchte M. die Historie über bloße „Kuriosität" zu lebenspendender und lebenweckender Macht erheben. fiMöctifrourg

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2. Aufl. 564 S. Gr.-8°. 1925. Brosch. M. 12.—, Leinen M. 14.50, Halbleder M. 16.50 Das wichtigste Problem aus „Weltbürgertum und Nationalstaat" hebt Meinecke in diesem neuesten Werke als selbständiges heraus und behandelt es im Rahmen der neueren Universalgeschichte, nämlich das Problem der Machtpolitik, des Machiavellismus, des Konfliktes zwischen Politik und Moral.

INHALT:

Einleitung. Erstes Buch. Das Zeitalter des werdenden Absolutismus. 1. K a p i t e l . Machiavelli. — 2. K a p i t e l . Die ersten Gegner des Machiavellismus in Frankreich: Gentillet und Bodin. — 3. K a p i t e l . Botero und Boccalini. — 4. K a p i t e l . Campanello. — 5. K a p i t e l . Die Verbreitung der Lehre von der Staatsräson in Italien und Deutschland. — 6. K a p i t e l . Die Lehre von den Interessen der Staaten im Frankreich Richelieus. 1. Die Anfänge und der Discours von 1624. 2. Herzog Heinrich von Rohan. — 7. K a p i t e l . Gabriel Naudö. Zweites Buch. Das Zeitalter des reifen Absolutismus. 1. K a p i t e l . Blick auf Grotius, Hobbes und Spinoza. — 2. K a p i t e l . Pufendorf. — 3. K a p i t e l . Courtilz de Sandras. — 4. K a p i t e l . Rousset. — 5. K a p i t e l . Friedrich der Große. Drittes Buch. Machiavellismus, Idealismus und Historismus im neueren Deutschland. 1. K a p i t e l . Hegel. — 2. K a p i t e l . Fichte. — 3. K a p i t e l . Ranke. — 4. K a p i t e l . Treitschke. — 5. K a p i t e l . Rückblick und Gegenwart. — Personenregister. — Nachträge.

Professor

Franz

Schnabel

schreibt in der „Zeitschritt

für

Politik":

Unwillkürlich fragt man sich diesem Buche gegenüber, warum nicht schon frühere Zeiten in diesem Stile Geschichte zu schreiben versucht haben. Und da das vorliegende Werk die ganze persönliche und geistige Entwicklung dieses Historikers und seine besondere Geschichtschreibung zur Voraussetzung hat und — trotz „Weltbürgertum und Nationalstaat" — ihre reifste Vollendung darstellt, so wird man ganz von selbst auf die Frage geführt, was denn das eigentliche Wesen dieser neuen Geschichtschreibung ausmache, von der man unmittelbar empfindet, daß sie keine Vorgänger besitzt und nicht eigentlich aus einer Schule der Vergangenheit erwachsen ist Da bedeutete es nun in der Tat eine wertvolle Verfeinerung der historischen Methode und eine unvergleichliche Vertiefung der geschichtlichen Erkenntnis, als Meinecke in seinen Büchern über die politischen Gedanken des deutschen Neuhumanismus und der deutschen Romantik seine besondere Form der Ideengeschichte entwickelte; und wie stark er auf diese Weise den allgemeinen Stand unserer deutschen Geschichtswissenschaft emporgeführt hat, zeigt eben jetzt dieses vorliegende Buch. Für ihn ist Ideengeschichte nicht eine Geschichte von Lehrmeinungen, sondern mit den Mitteln der modernen psychologischen Analyse sucht er hinter den Ideen und Theorien die ringenden und denkenden Menschen, Völker und Zeitalter.

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J a W u n ö e c t

^ i f t o t i f 4 e u n d p o K t i f ö c OTuffä^e 558 S. Gr.-8°. 1918. Brosch. M. 10.—, geb. M. 11.50 I N H A L T : Erste Gruppe. Zur Gesamtgeschichte Preußens und Deutschlands im 19. und 20. J a h r h u n d e r t : Preußen und Deutschland im 19. J a h r h u n d e r t — Deutsche Jahrhundertfeier und Kaiserfeier — Boyen und Roon — Landwehr und Landsturm seit 1814 — Germanischer und romanischer Geist im Wandel der deutschen Geschichtsauffassung. Zweite Gruppe. Aus der Zeit der Erhebung und der Restaur a t i o n : Stein und die Erhebung von 1 8 1 3 — F i c h t e als nationaler Prophet — Zur Geschichte des älteren deutschen Parteiwesens — Das Zeitalter der Restauration — Aus der Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalstaatsgedankens. Dritte Gruppe. Aus der Zeit Friedrich Wilhelms IV. und des jungen Bismarcks: Zur Kritik der Radowitzschen Fragmente — Friedrich Wilhelm IV. und Deutschland — Die Tagebücher des Generals v. Gerlach— Gerlach und Bismarck — Bismarcks Eintritt in den christlich-germanischen Kreis — Bismarcks Jugend. Vierte Gruppe. Zur deutschen Geschichtschreibung und -forschung: Zur Beurteilung Rankes — Heinrich v. Treitschke — Alfred Dove — Max Lehmann — Louis E r h a r d t — Theodor Ludwig — Die deutsche Geschichtswissenschaft und die modernen Bedürfnisse. Fünfte Gruppe. Aus der Zeit des Weltkriegs: Kultur, Machtpolitik und Militarismus — Bismarck und das neue Deutschland — Die deutsche Freiheit.

„Sonst bin ich durchaus nicht dafür, daß alles und jedes, was in einer periodischen Presse Aufnahme gefunden hatte, als Buch seine Auferstehung feiern müsse. Wenn es sich aber um den besten unter den lebenden Historikern Deutschlands handelt, so wird der Neudruck so manchem willkommen sein." (Helmold im „Literarischen Echo".)

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$tufrä$e 139 S. 8°. 1917. K a r t . M. 2.— I N H A L T : 1. Geschichte und öffentliches Leben. — 2. Politische Kultur und öffentliche Meinung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der englischen Kriegserklärung. — 3. Probleme des Weltkriegs. — 4. Staatskunst und Leidenschaften. — 5. Fürst Bülows deutsche Politik. — 6. Die Reform des preußischen Wahlrechts. — 7. Der R h y t h m u s des Weltkriegs.

„Meineckes Probleme des Weltkriegs, ursprünglich schriftstellerische Äußerungen eines auf hoher Warte stehenden Historikers, sind nunmehr geschichtliche Zeugnisse." (Mitteilungen aus der histor. Literatur.)

ttatfl öec Hcuolution «ßcfrfritfjtlidje $ e t t a t f r t u n 0 e n üfrec u n f e c e 147 S. 8°. 1919. Kart. M. 2.—

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I N H A L T : I. Am Vorabend der Revolution. — II. Die geschichtlichen Ursachen der deutschen Revolution. — III. Der nationale Gedanke im alten und neuen Deutschland.— IV. Weltgeschichtliche Parallelen unserer Lage. — V. Ein Gespräch aus dem Herbste 1919.

„ E s ist dankenswert, daß diese an verschiedenen Stellen erschienenen Studien so zu bequemer Lektüre gesammelt sind, um so mehr, da sie inhaltlich nicht disiecta membra sind, sondern ein Ganzes bilden." (Mitteilungen aus der histor. Literatur.)

© l ö e n & o u c g tf e r l o g , I H ü n r i j c n u n d J f c c l i t i

Ocutfdjcc iftoat und Öoiffdjc Parteien $ e t t t ä g c ^ u t öeutftftett JJactet* u n d ¿töeengcfrfpcfytc JHeitterfe j u m 60. (Beftuttetage flacge&cotftt In Gemeinschaft mit Hermann Bächtold, ¡Hans Frankel, ¡Siegfried jKähler, (Frances Magnus-Hausen, Alfred von Martin, Eduard Wilhelm Mayer (f), Wilhelm Mommsen, Peter Richard Rohden, Hans Rothfels, Dora Wegele, Otto Westphal herausgegeben von P A U L W E N T Z K E 388 S. Qr.-8°. 1922. Brosch. M. 7.—, geb. M. 8.50

INHALT

• Peter Rieh. Rohden: Die weltanschaulichen Grundlagen der politischen Theorien / Dora Wegele: Malwida von Meysenburg und Theodor Althaus / Paul Wentzke: Glaubensbekenntnisse einer politischen Jugend. Beiträge zum Lebensbild Ludwig Ägidis und Eduard Laskers / Hermann Bächtold: Jakob Burckhardt und das öffentliche Wesen seiner Zeit / Eduard Wilhelm Mayer: Aus der Geschichte der national-liberalen Partei in den Jahren 1868 bis 1871 / Otto Westphal: Der Staatsbegriff Heinrich von Treitschkes / Frances MagnusHausen: Ziel und Weg in der deutschen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts / Siegfried Kähler: Stöckers Versuch, eine christlich-soziale Arbeiterpartei in Berlin zu begründen (1878) / Wilhelm Mommsen: Bismarcks Sturz und die Parteien / Hans Fränkel: Deutsche und amerikanische Demokratie / Hans Rothfels: Marxismus und auswärtige Politik / Alfred von Martin: Weltanschauliche Motive im altkonservativen Denken. „Die vorliegende Festschrift, zu der sich ältere und j ü n g e r e Schüler Meineckes in s t a t t l i c h e r Zahl v e r e i n i g t h a b e n , darf als erfreulicher Beweis f ü r das u n g e b r o c h e n e Fortleben unserer W i s s e n s c h a f t im allgemeinen, f ü r gediegene u n d b e d e u t e n d e Leistungen auf ihrem m o d e r n s t e n Arbeitsgebiet im besonderen g e l t e n . So selbständig jede der A r b e i t e n f ü r sich d a s t e h t , so einheitlich und geschlossen ist doch der G e s a m t e i n d r u c k . Man k a n n , um ihn z u s a m m e n z u f a s s e n , ausgehen von d e m W o r t des Meisters, d a ß die d e u t s c h e Geschichtsforschung ,ohne auf die wertvollen Überlieferungen ihres m e t h o d i s c h e n Betriebs zu verzichten, sich m u t i g e r baden d ü r f e in Philosophie u n d Politik', u n d darf im Hinblick auf diese S a m m l u n g sagen, d a ß sie das W o r t als Losungswort der a u f s t r e b e n d e n J u g e n d voll a u f g e n o m m e n u n d f r u c h t b r i n g e n d erfüllt h a t . — So darf das Schlußurteil über die F e s t s c h r i f t l a u t e n : diese H u l d i g u n g ist des J u b i l a r s und gefeierten Lehrers w ü r d i g ; sie e h r t zugleich seine Schüler und M i t a r b e i t e r . " Historische

Zeitschrift.

(Seift unö ßtant ijtflioEtfdje p o c t c ä f ö öoti MJiUy Sfaflccac! 200 S. 8°. 1922. Brosch. M. 5.—, geb. M. 6.—

INHALT

• Vorrede / Baldassare Castiglione und die Renaissance / Bacon als Staatsmann / Pater Joseph / Maria Theresia / Marwitz und der Staat Friedrich des Großen / Der junge Engels / Nachweise. Der historisch-biographische Essay ist als K u n s t f o r m bei uns D e u t s c h e n , t r o t z zahlreicher U n t e r n e h m u n g e n der Art, wenig e n t w i c k e l t . U m so höher Ist das Buch von Prof. A n d r e a s zu bewerten, das in abgeschlossenen Zeit- und Menschenbildern die große Linie der neuzeitlichen E n t w i c k l u n g u n d W e r d e n des europäischen Menschen in stilistisch m e i s t e r h a f t e r F o r m gestaltet. Preußische Jahrbücher.

B . CMötnftoueg Üfeclag, Hlünrfjen u n d U e r l i n