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German Pages 408 [409] Year 2020
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Band 53
Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung Preußen und die Folgen des Tilsiter Friedens 1807–1810
Von Sven Prietzel
Duncker & Humblot · Berlin
SVEN PRIETZEL
Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Begründet von Johannes Kunisch, fortgeführt von Wolfgang Neugebauer Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Hans-Christof Kraus und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll
Band 53
Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung Preußen und die Folgen des Tilsiter Friedens 1807–1810
Von
Sven Prietzel
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT Die Philosophische Fakultät der Universität Passau hat diese Arbeit im Jahr 2018 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 978-3-428-15850-8 (Print) ISBN 978-3-428-55850-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Viktoria
Selig, die Frieden stiften; / denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Mt 5,9
Vorwort Dieses Werk wäre ohne die stete Unterstützung durch meinen akademischen Lehrer Prof. Dr. Hans-Christof Kraus nicht entstanden. Er machte mich in Vorlesungen, Seminaren und Gesprächen mit der Höhe und der Tiefe vergangenen Lebens vertraut. Größten Dank schulde ich ihm für seine Förderung und seinen Zuspruch insbesondere in Momenten des Zweifelns. Bedanken möchte ich mich auch bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die meine Arbeit mit den Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung förderte. Wichtige Hinweise und Anregungen für meine Arbeit erhielt ich von Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer. Ihm und den Teilnehmern seines Kolloquiums bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. PD Dr. Marc von Knorring unterstützte mich fortwährend mit Rat und Tat. Aus den Gesprächen mit ihm wie auch mit Dr. Arthur Kuhle, Dr. Adam Storring und anderen Freunden wie Kollegen erhielt ich wichtige geistige Impulse. Der zentrale Ort meiner Forschung war das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Dessen Mitarbeiter waren mir eine wertvolle Hilfe, um sich im Dickicht der Überlieferung zurechtzufinden. Eine Stütze in den Jahren der Promotion war mir meine Familie, allen voran mein Vater, der mich auf meinem Weg bestärkte. Besonders danken möchte ich auch meiner Schwester Rebecca, die mir bei der Durchsicht des Manuskripts half. Aufrichtiger Dank gilt Viktoria – für ihre Hilfe, ihren Rat und ihren Langmut. Berlin, am 3. Advent 2019
Sven Prietzel
Inhaltsverzeichnis A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege . . . . . . . . . . . . . . . .
13
I. Perspektiven auf die preußische Geschichte nach 1807: Zum Forschungsstand
13
II. Multiperspektivität und Souveränität: Zu Theorie und Methode . . . . . . . . . . . . .
20
III. Quellenbestand und Formalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
I. Preußen als Objekt der europäischen Politik 1795 – 1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
II. Der Krieg und die Optionen des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
IV. Frieden im napoleonischen Zeitalter und die Krise des Jus Publicum Europaeum: Der Friedensvertrag, die Königsberger Konvention und die Kontributionen . . . .
70
V. Die internationale Konfliktlage und territoriale Neuordnung nach Tilsit . . . . . . .
81
VI. Die Lage Preußens nach Kriegsende: Zustand von Land und Regierung . . . . . . .
87
C. Die Wahrung der äußeren Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
I. Die Diplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
1. Pacta non sunt servanda: Die Verhandlungen über die Friedensvollziehung (1807 – 1808) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
2. Der Zwang zur Vertragserfüllung und das Scheitern des Ministeriums DohnaAltenstein (1809 – 1810) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 II. Der Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Die Idee des „Volkskriegs“ als Verfassungsproblem (1808) . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Für das Vaterland, gegen den König? Insubordination als Gefahr für die königliche Souveränität (1809) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Die Besatzungsverwaltung: Administration und Ressourcenextraktion . . . . . . . . 168 II. Die Auflösung der Währungs- und Zollhoheit – Liberalisierungsdruck . . . . . . . . 191 III. Die Stände als Ordnungsfaktor: Requisitionspraxis und Kontributionsaufbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 IV. Die Okkupationserfahrung: Ordnungsverlust und Ordnungssuche . . . . . . . . . . . . 217
10
Inhaltsverzeichnis
E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Die Bürokratie als neuer Souverän? Die Reform des Regierungssystems . . . . 234 2. Die Versuche der Etatisierung und Rationalisierung von Verwaltung und Justiz 244 3. Souveränität und Ökonomie – Staatseinkommen und Volkswirtschaft . . . . . . 259 a) Staatsfinanzierung: Zwischen Sparpolitik und Reform . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Staatswohl als Volksverarmung? Zum Legitimitätsproblem . . . . . . . . . . . . 277 c) Das Konsensdiktat und der Repräsentationsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 II. Kommunikation und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1. Die politisch-soziale Ordnung im zeitgenössischen Diskurs: Facetten einer Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 2. Die Konzeption autonomer Entscheidungsgewalt und die Abschirmung des politischen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 F. Monarchische Souveränität und Verfassungswirklichkeit: Internationale und innerpreußische Konfliktlinien von 1807 bis 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 G. Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 I. Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 II. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 III. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
Abkürzungen abgeg. ALR Anm. Art. Ausf. Ausg. Bd., Bde. BLHA d. Ders. Dies. Diss. Ebd., ebd. exped. f., ff. FBPG Fn. gez. GStA PK GWU HA Hrsg./hrsg. HZ IPO Kap. Kgl. Lfm. MdA Mio. mund. NCC Ndr. N. F. Nr. o. D. Phil. qkm Rep. s. l. Sep.art.
abgegangen Allgemeines Landrecht (für die Preußischen Staaten) Anmerkung, Anmerkungen Artikel Ausfertigung Ausgabe Band, Bände Brandenburgisches Landeshauptarchiv der/die/das Derselbe Dieselbe Dissertation Ebenda expediert folgende Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Fußnote gezeichnet Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Hauptabteilung Herausgeber/herausgegeben Historische Zeitschrift Instrumentum Pacis Osnabrugensis Kapitel Königlich Laufende Meter Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten Millionen mundiert Novum Corpus Constitutionum Neudruck Neue Folge Nummer ohne Datum Philosophische Fakultät Quadratkilometer Repositur sine loco Separatartikel
12 Tit. u. a. O. Unbek. v. Zit. n.
Abkürzungen Titel und anderen Ortes Unbekannt verso/von Zitiert nach
A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege I. Perspektiven auf die preußische Geschichte nach 1807: Zum Forschungsstand Preußische Geschichte zwischen dem Tilsiter Frieden und dem Wiener Kongress – „causa finita“ ließe sich möglicherweise urteilen. Zu kaum einem Abschnitt preußisch-deutscher Geschichte vor 1914 wurde so viel geschrieben und gesagt wie zu diesem. Der Frieden, die Reformen und schließlich die Befreiungskriege waren Gegenstand unterschiedlichster historiographischer Darstellungen und lange Zeit feste Bestandteile des historischen Bewusstseins. Der Frieden von Tilsit entwickelte sich zum regelrechten Topos, der für die unterschiedlichsten Zwecke und zu den verschiedensten Anlässen aktualisiert wurde. Während beispielsweise Otto v. Bismarck mit dem Hinweis auf die latenten preußisch-französischen Spannungen nach 1807 die Notwendigkeit der relativen Milde des Frankfurter Friedens begründete,1 sah Ernest Renan im Preußen nach dem Tilsiter Frieden „un modèle excellent de la manière dont une nation peut se relever des derniers désastres“.2 Bis in die Kunst drangen solche Analogien zwischen den Ereignissen von 1807 und 1871.3 Nach dem Ersten Weltkrieg bescherte der Vergleich mit dem „Diktatfrieden“ von Versailles der Rezeption der preußischen Geschichte nach 1807 eine wahre Konjunktur. Max Weber zog in diesen Jahren ebenso die Parallele zwischen „Tilsit“ und „Versailles“ wie Gustav Stresemann oder einige deutsche Schulbücher. Selbst in Russland rekurrierte man auf den Friedensvertrag vom 9. Juli 1807, der als das Musterbeispiel eines harten Friedensschlusses galt. So meinte Lenin, dass angesichts des späteren preußischen Siegs über Napoleon der desaströse Frieden von BrestLitowsk für das russische Volk kein Grund zum Verzweifeln sei – Russland könne es Preußen mindestens gleichtun.4 1 Septennatsrede Otto v. Bismarck, Berlin, 11. 1. 1887. Horst Kohl (Bearb.), Die politischen Reden des Fürsten Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 14 Bde., Aalen 1970 (Ndr. d. Ausg. v. 1892 – 1905), hier Bd. 12, S. 194. 2 Ernest Renan, La réforme intellectuelle et morale. Textes présentés par Henri Mazel, Brüssel 1990, S. 58 – 61, hier das Zitat S. 60. 3 Siehe Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, S. 141. 4 Zu Weber siehe Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, 3. Aufl., Tübingen 1984, S. 648. Zur Schulbuchliteratur siehe Birte Förster, Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte des „Idealbilds deutscher Weiblichkeit“ (Formen der Erinnerung, 46), Göttingen 2011,
14
A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
Noch bis in die Nachkriegszeit dominierten in der deutschen Geschichtsschreibung ähnliche politisch motivierte Deutungen der preußischen historischen Entwicklung zwischen 1807 und 1810/15.5 Für den Themenkomplex dieser Studie sind diese Werke oftmals nur von nachgeordnetem Interesse ebenso wie die zahlreichen Handbücher und Überblicksdarstellungen, die diesen Zeitraum eher kursorisch behandeln. Größere Aufmerksamkeit verdienen hingegen jene Darstellungen, in denen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals der Versuch unternommen wurde, die komplexen außenpolitischen Zusammenhänge des Tilsiter Friedens wissenschaftlich zu ergründen. Eine der frühesten und zugleich kenntnisreichsten Arbeiten dieser Art ist „Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staats“, in der Leopold v. Ranke den Friedensschluss und die weiteren Verhandlungen über den Abzug der französischen Armee aus Preußen im gesamteuropäischen Kontext deutete. Auf einer ähnlichen inhaltlichen Grundausrichtung beruhte auch Paul Hassels „Geschichte der Preußischen Politik“.6 Aus der Perspektive einer klassischen Diplomatiegeschichte wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts speziell die Tilsiter Friedensverhandlungen eingehend untersucht. Die Voraussetzungen dazu hatten erst die Aktenpublikationen von Serge Tatistcheff, Paul Bailleu, Nicolas Romanoff und die schon älteren „Denkwürdigkeiten“ Hardenbergs sowie die Edition der Korrespondenz Napoleons geschaffen.7 Ausgehend von diesem Quellenmaterial versuchten Hans Delbrück, Max Lenz und S. 322 f. Zu Gustav Stresemann siehe Rochus Freiherr v. Rheinbaben (Hrsg.), Gustav Stresemann. Reden und Schriften. Politik – Geschichte – Literatur 1897 – 1926, 2 Bde., Dresden 1926, hier Bd. 1, S. 292 f., Bd. 2, S. 174, 295 – 297, 342 – 345. Lenin bezog sich 1918 gleich mehrfach auf den Tilsiter Frieden. Siehe Wladimir I. Lenin, Ein unglücklicher Frieden („Prawda“, Nr. 34, 24. 2. 1918), Seltsames und Ungeheuerliches („Prawda“, Nr. 38, 1. 3. 1918), Die Hauptaufgabe unserer Tage („Istwestija des ZEK“, Nr. 46, 12. 3. 1918), Rede über die Ratifizierung des Friedensvertrags gehalten auf dem IV. Außerordentlichen Allrussischen Sowjetkongress, 14. 3. 1918. Marx, Engels, Lenin, Stalin zur deutschen Geschichte. Aus Werken, Schriften, Briefen, besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim ZK der SED, 3 Bde., Berlin 1954, hier Bd. 2/1, S. 17 – 20. 5 Siehe hierzu Sven Prietzel, Der Tilsiter Frieden in der deutschen Geschichtsschreibung. Eine historiographiegeschichtliche Analyse, in: FBPG N. F. 25 (2005), S. 29 – 51, hier passim. 6 Leopold v. Ranke, Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staates von 1793 – 1813, 3 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1879 – 1881. Paul Hassel, Geschichte der Preußischen Politik 1807 bis 1815 (Publikationen aus den Kgl. Preussischen Staatsarchiven, 6), Osnabrück 1966 (Ndr. d. Ausg. v. 1881). 7 Serge Tatistcheff (Hrsg.), Alexandre Ier et Napoléon. D’après leur correspondance inédite 1801 – 1812, Paris 1891. Paul Bailleu (Hrsg.), Preußen und Frankreich von 1795 bis 1807. Diplomatische Correspondenz (Publikationen aus den Kgl. Preussischen Staatsarchiven, 29), Osnabrück 1965 (Ndr. d. Ausg. v. 1887). Ders. (Hrsg.), Der Briefwechsel Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise mit Kaiser Alexander I. Nebst ergänzenden fürstlichen Korrespondenzen (Publikationen aus den Kgl. Preussischen Staatsarchiven, 75), Leipzig 1900. Nicolaus Mikhailowitsch Romanoff, Les relations diplomatiques de la Russie et de la France d’après les rapports des ambassadeurs d’Alexandre et de Napoléon, 6 Bde., St. Petersburg 1905 – 1908. Leopold von Ranke (Hrsg.), Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg, 5 Bde., Leipzig 1877. Napoléon Bonaparte, Correspondance publiée par l’ordre de l’Empereur Napoléon III., 32 Bde., Paris 1858 – 1866.
I. Zum Forschungsstand
15
Max Lehmann vorwiegend die Frage zu beantworten, welche Ziele Zar Alexander und Napoleon in Tilsit jeweils verfolgten. Einige Jahre später leuchtete der englische Historiker Herbert Butterfield mit seiner aufschlussreichen Studie über die Konzeption der napoleonischen Außenpolitik dieses Problem weiter aus. Schon zuvor hatte Ferdinand Tempel die Verhandlungen monographisch zu erfassen gesucht, allerdings gelang es ihm genauso wenig wie später Ilja Mieck alle Irrtümer auszuräumen, die zum Teil noch bis heute bestehen.8 Nach dem Tilsiter Friedensschluss wurde in Berlin, Elbing, Paris und St. Petersburg wegen der weiteren Ausgestaltung des Friedens konferiert. Eine erste Detailstudie, die sich schwerpunktmäßig mit diesen Verhandlungen befasste, die aber noch deutlich von den zeitgeschichtlichen Umständen ihrer Entstehung geprägt war, lieferte Charles Lesage in den 1920er Jahren. Oberflächlich betrachtet war die rund zehn Jahre später erschienene Monographie Hans Haußherrs eine Replik auf Lesage, tatsächlich handelt es sich jedoch um ein aufschlussreiches Werk, das gestützt auf eine breite Quellenbasis die „Friedensvollziehungsverhandlungen“ vom Juli 1807 bis Ende 1808 darstellt.9 Neben den diplomatie-, interessierten Haußherr vorwiegend die wirtschaftsgeschichtlichen Folgen des Friedensschlusses, allen voran die Probleme der Kontributionsaufbringung. Dass er hierfür vorwiegend die zentralstaatliche Überlieferung heranzog, dabei die Akten des Finanzministeriums aber übersah und ständegeschichtliche Bezüge fast vollständig ausklammerte,10 macht Haußherrs „Erfüllung und Befreiung“ zu einer ohne Zweifel wichtigen, jedoch nicht hinreichenden Studie zur preußischen Geschichte nach dem Tilsiter Frieden. Haußherr war sich solcher Unzulänglichkeiten, die den Umständen seiner Forschung geschuldet
8
Hans Delbrück, Die Frage der polnischen Krone und der Vernichtung Preußens in Tilsit, in: Studien und Versuche zur neueren Geschichte, Max Lenz gewidmet von Freunden und Schülern, Berlin 1910, S. 313 – 336. Max Lenz, Neues zum Tilsiter Frieden, in: Daheim 47 (1911), Heft 7, S. 15 – 17, Heft 8, S. 14 f. Ders., Tilsit. Erster Artikel, in: FBPG 6 (1893), S. 181 – 237. Ein weiterer Teil wurde nicht mehr publiziert. Max Lehmann, Der Frieden von Tilsit, in: Ders., Historische Aufsätze und Reden, Leipzig 1911, S. 185 – 199. Ferdinand Tempel, Die Verhandlungen in Tilsit vom 24. Juni bis 9. Juli 1807, Straßburg 1916. Herbert Butterfield, The Peace Tactics of Napoleon 1806 – 1808, New York 1972 (Ndr. d. Ausg. v. 1929). Ilja Mieck, Die Rettung Preußens? Napoleon und Alexander I. in Tilsit 1807, in: Ders./ Pierre Guillen (Hrsg.), Deutschland – Frankreich – Rußland. Begegnungen und Konfrontationen/La France et l’Allemagne face à la Russie, München 2000, S. 15 – 35. Mieck bietet auch einen Überblick über den Forschungsstand zu den Friedensverhandlungen. Siehe ebd., S. 15 – 17. 9 Charles Lesage, Napoléon Ier. Créancier de la Prusse, Paris 1924. Hans Haußherr, Erfüllung und Befreiung. Der Kampf um die Durchführung des Tilsiter Friedens 1807 bis 1808, Hamburg 1935. 10 Siehe auch die Kritik in Wolfgang Neugebauer, Finanzprobleme und landständische Politik nach dem preußischen Zusammenbruch von 1806/7, in: Ders./Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Krise, Reformen – und Finanzen. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806 (FBPG N. F., Beiheft 9), Berlin 2008, S. 121 – 146, hier S. 124.
16
A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
waren, durchaus bewusst und betonte selbst im Nachwort, dass sein Buch nach einer Fortsetzung verlange.11 Die Erkenntnisse Haußherrs wurden bislang jedoch nur vereinzelt ergänzt und erweitert. Einige zentrale Bereiche der Geschichte Preußens nach 1807 blieben von der Forschung weitgehend unbeachtet. Obwohl beispielsweise die französische Besatzungszeit für Fragestellungen, die politik-, sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte miteinander verknüpfen, prädestiniert wäre, stammt die letzte umfassendere Studie zu dieser Thematik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Magnus von Bassewitz’ „Die Kurmark Brandenburg im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaates“ ist ohne Frage ein bis heute maßgebliches Werk zur Geschichte der Kurmark und der preußischen Monarchie während der Jahre der Okkupation.12 Bassewitz, der als Beamter die Besetzung in führender Position miterlebte, beschrieb vor allem die administrativen und wirtschaftlichen Entwicklungen akribisch und quellennah, wenn auch ohne jeden interpretatorischen Anspruch. Gleiches gilt für Oskar Eggert, der sich in den 1950er Jahren der Besatzungszeit in Pommern zuwandte.13 Ansonsten fand das Thema der Okkupation sowohl in der deutsch-, als auch in der französisch- und englischsprachigen Forschung kaum weitere Beachtung, wenn man von kleineren Aufsätzen, oder dem Büchlein „Les Français en Prusse“, das 1872 vor dem Hintergrund der deutschen Besetzung Frankreichs erschien, absieht.14 In einer weiteren Veröffentlichung setzte sich Eggert mit dem pommerschen Ständewesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auseinander,15 das wie andernorts durch die Okkupation und die Kontributionszahlungen einen bedeutenden Aufschwung erfahren hatte. In mehreren Publikationen untersuchte schließlich Wolfgang Neugebauer auch für die anderen Landesteile diese ständegeschichtlichen Zusammenhänge eingehend,16 wobei er die Vielschichtigkeit und Komplexität ständischer 11
Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 253. Magnus Friedrich v. Bassewitz, Die Kurmark Brandenburg im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaats Preußen während der Zeit vom 22. Oktober 1806 bis zu Ende des Jahres 1808, 2 Bde., Leipzig 1851 – 1852. 13 Oskar Eggert, Besatzungszeit in Pommern 1806 – 1808, Hamburg 1954. 14 Alfred-Auguste Ernouf, Les Français en Prusse. D’après les documents contemporains recueillis en Allemagne, Paris 1872. Max Duncker, Preußen während der französischen Okkupation, in: Ders., Aus der Zeit Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelms III., Leipzig 1876, S. 265 – 501. Karl Obermann, La situation de la Prusse sous l’occupation française 1807 – 1813, in: (Ohne Hrsg.), Occupants, occupés 1792 – 1815. Colloque de Bruxelles, 29 et 30 janvier 1968, Brüssel 1969, S. 257 – 286. 15 Oskar Eggert, Stände und Staat in Pommern im Anfang des 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern. Reihe V, 8), Köln/Graz 1964. 16 Siehe v. a. Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreussen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 36), Stuttgart 1992. Ders., Staatskrise und Ständefunktion. Die Landstände der mittleren Provinzen Preußens in der Zeit nach 1806, besonders in der Neumark Brandenburg, in: Roland Gehrke (Hrsg.), Aufbrüche in die Moderne. Frühparlamentarismus zwi12
I. Zum Forschungsstand
17
Politik in den Jahren nach dem Tilsiter Frieden und deren langfristige Folgen darstellte. Manches gängige Deutungsmuster einer zu stark bürokratie- und staatsorientierten Forschung konnte auf diese Weise korrigiert werden; seitdem muss die politische, allem voran verfassungspolitische Entwicklung Preußens stärker als mehrdimensionaler Prozess begriffen werden, in dem die Stände als selbstständiger Akteur agierten. Die Dominanz der preußischen Reformzeit als Untersuchungsgegenstand in der Forschung hat Fragestellungen, wie sie Eggert und Neugebauer verfolgten, lange Zeit in den Hintergrund gedrängt. Hier ist nicht der Raum, um detailliert auf die besonders reiche Literatur zu den Reformen einzugehen,17 deshalb seien an dieser Stelle nur die grundlegendsten Werke angesprochen, anhand derer sich der theoretische und methodische Wandel in der deutschen Geschichtsschreibung reflektieren lässt. Die Grundzüge der ersten Reformphase bis Ende 1808 skizzierten die frühen Biographen des Freiherrn vom Stein, Heinrich Pertz und Max Lehmann, wobei letzterer eine nur schwerlich übertroffene Faktenfülle und Klarheit der Darstellung erreichte. Gerhard Ritter knüpfte mit seiner Biographie an diese ältere Stein-Forschung an und führte sie fort. Einzelaspekten der frühen Reformen, insbesondere der Städteordnung oder der Agrarreform, und deren längerfristigen Folgen nahm sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts allen voran Johannes Ziekursch an.18 Ruth Flad, Ludger Herrmann und Andrea Hofmeister-Hunger versuchten schließlich,19 die Reformzeit vom Blickwinkel der „öffentlichen Meinung“ beziehungsweise der Publizistik aus zu erschließen. Gelungen war daneben das Unterfangen Matthew Levingers, die ideengeschichtlichen Hintergründe der Reformen
schen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus 1750 – 1815. Schlesien – Deutschland – Mitteleuropa (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte, 12), Weimar 2005, S. 241 – 268. Ders. Finanzprobleme. 17 Siehe hierzu die Übersicht über den Forschungsstand in Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress (Oldenburg Grundriss Geschichte, 12), 5. Aufl., München 2008, S. 235 – 248. Walter Demel, Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Absolutismus (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 23), 2. Aufl., München 2010, S. 112 – 122. 18 Georg Heinrich Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein, 6 Bde., Berlin 1850 – 1855. Max Lehmann, Freiherr vom Stein, 3 Bde., Leipzig 1902 – 1905. Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 3. Aufl., Stuttgart 1958. Johannes Ziekursch, Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und die Städteordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt, Jena 1908. Ders., Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung, 2. Aufl., Breslau 1927. 19 Ruth Flad, Der Begriff der öffentlichen Meinung bei Stein, Arndt und Humboldt, Berlin/ Leipzig 1929. Ludger Herrmann, Die Herausforderung Preußens. Reformpublizistik und politische Öffentlichkeit in Napoleonischer Zeit (1789 – 1815) (Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 781), Frankfurt a. M. 1998. Andrea Hofmeister-Hunger, Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg (1792 – 1822) (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 107), Göttingen 1994.
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A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
und ihre Folgen für die politische Kultur Preußens darzustellen.20 Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch die 1987 erschienene Untersuchung Bernd von Münchow-Pohls, der sich vornahm, die „Bewußtseinslage“ der preußischen Bevölkerung zu ergründen und zu prüfen, inwieweit das viele Reformgesetze verbindende Ziel, ein engeres emotionales Band zwischen Bevölkerung und politischer Führung zu knüpfen, tatsächlich erreicht wurde. Zwar beschränkt sich die Untersuchung laut Titel auf den Zeitraum von 1809 bis 1812, doch geht Münchow-Pohl zur Untermauerung seiner These von der dreifachen Krise des „Vertrauens“, der „Identität“ und des „monarchischen Systems“ bis in die Okkupationszeit zurück. Das methodische Programm, das er seiner Interpretation zugrunde legte, vermochte Münchow-Pohl jedoch nicht vollständig umzusetzen, denn das „Bewußtsein als Ganzheit der Erfahrungen“ zu erfassen, gelang ihm kaum. Besondere Beachtung verdient „Zwischen Reform und Krieg“ aber zweifelsohne für das Quellenmaterial, das der Autor erstmals für die Forschung fruchtbar machte – und dies trotz der erschwerten Forschungsbedingungen während der deutschen Teilung.21 Die oben genannten Autoren unterscheiden sich mit ihrer Orientierung an den Primärquellen entschieden von zahlreichen Protagonisten der Historischen Sozialwissenschaft,22 die bis Mitte der 1980er Jahre für sich eine geschichtswissenschaftliche Avantgarderolle reklamierte. Der nahezu ausnahmslosen Verwendung der Quelleneditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war es geschuldet, dass die Interpretationen der Preußenforscher, die zum engeren oder weiteren Kreis der Historischen Sozialwissenschaft zählten, oftmals einseitig und überspitzt ausfielen.23 Narrative wie das von der Herrschaftsusurpation einer preußischen Bürokratenklasse waren die logische Folge des einseitigen Rückgriffs auf diese vorwiegend zentralstaatliche Überlieferung. Mindestens ebenso erkenntnisleitend wirkte der gesell20 Matthew Levinger, Enlightened Nationalism. The Transformation of Prussian Political Culture 1806 – 1848, Oxford 2000. 21 Bernd v. Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809 – 1812 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 87), Göttingen 1987, hier das Zitat S. 25. 22 Zur Historischen Sozialwissenschaft siehe u. a. Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1973. 23 Siehe v. a. Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 33), Göttingen 1978. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987 – 2008, hier Bd. 1. Ders./Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.), Preußen im Rückblick (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6), Göttingen 1980. Barbara Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg 1810 – 1820 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 57), Göttingen 1983. Dies. (Hrsg.), Preussische Reformen (Neue Wissenschaftliche Bibliothek Geschichte, 96), Königstein i. Ts. 1980. Vogel distanzierte sich zwar von einem allzu einseitigen Geschichtsverständnis im Sinne der Historischen Sozialwissenschaft, im Grundsatz blieb sie aber deren Paradigmen verhaftet. In gewisser Hinsicht gilt dasselbe für Alexander v. Witzleben, Staatsfinanznot und sozialer Wandel. Eine finanzsoziologische Analyse der preußischen Reformzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Studien zur modernen Geschichte, 32), Stuttgart 1985.
I. Zum Forschungsstand
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schaftsgeschichtliche Ansatz, mit dem man in den „soziale[n] Gruppen und Schichten“24 die Akteure eines historischen Prozesses zu erkennen glaubte, der vor allem von den sozioökonomischen Strukturen her bestimmt sei. Trotz mancher Einflüsse der amerikanischen Sozialwissenschaft wirkte hier wohl eher eine materialistische Geschichtsauffassung prägend, die schon Eckart Kehr und Hans Rosenberg zu ganz ähnlichen Ergebnissen hatte gelangen lassen.25 Abgesehen von der Quellenauswahl und der gesellschaftsgeschichtlichen Grundausrichtung determinierte schließlich auch ein modernisierungstheoretisches Telos den Verstehensprozess der Historischen Sozialwissenschaft wie überhaupt der sie umgebenden zeitgenössischen Forschung. Kritik an der Modernisierungstheorie, die in ihrer klassischen Form gegenläufige, retardierende Tendenzen ebenso wenig zu erfassen vermochte, wie das Fortbestehen oder die Umfunktionierung traditionaler Institutionen, wurde von verschiedenster Seite geübt und braucht nicht wiederholt zu werden;26 es genügt, darauf hinzuweisen, dass die ihr zugrundeliegenden geschichtsphilosophischen Prämissen den Blick auf die Vielgestaltigkeit der historischen Entwicklung verstellten. Eine der chronologisch letzten Studien, welche die preußischen Reformen unter diesem modernisierungstheoretischen Ansatz zu deuten versuchte, war Paul Noltes „Staatsbildung als Gesellschaftsreform“.27 Allein mit dem Hinweis auf die theore24
Schissler, Agrargesellschaft, S. 27. Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660 – 1815, London 1958. Für Kehr siehe etwa Eckart Kehr, Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats. Ein Beitrag zum Diktaturproblem, in: Ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim FriedrichMeinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 19), hrsg. und eingeleitet v. Hans-Ulrich Wehler, 2. Aufl., Berlin 1970, S. 31 – 52, hier passim. Ders., Die Diktatur der Bürokratie, in: Ders., Primat, S. 244 – 253, hier passim. 26 Siehe etwa Thomas Mergel, Geht es weiterhin voraus? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: Ders./Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 203 – 232, hier v. a. 203 – 229. Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: Dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung (Historische Politikforschung, 1), Frankfurt a. M. 2005, S. 7 – 26, hier S. 8 – 10. Auch Wolfgang Neugebauer, Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert? (Lectiones Inaugurales, 2), Berlin 2012, S. 52 f. und Georg Eckert, Zeitgeist auf Ordnungssuche. Die Begründung des Königreiches Württemberg 1797 – 1819 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 96), Göttingen 2016, S. 22. Siehe schließlich auch Bernd Ristaus Rezension von Schisslers „Agrargesellschaft“: Bernd Ristau, Studien zur Agrarwirtschaft und Agrargesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 20 (1980), S. 515 – 525, hier passim. 27 Paul Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800 – 1820 (Historische Studien, 2), Frankfurt a. M. 1990. Später distanzierte sich Nolte immer klarer von einem primär gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz, dem er freilich schon in seiner Studie von 1990 nicht mehr eindeutig gefolgt war. Siehe hierzu Paul Nolte, Gesellschaftsgeschichte – von der Theorie zur Geschichtsschreibung, in: Ders./ 25
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tische Grundannahme ist noch wenig über die Qualität von Noltes Arbeit gesagt, die wie auch manches Produkt der Historischen Sozialwissenschaft bis heute lesenswert ist; die Schwächen einer einseitigen Betrachtungsweise gilt es allerdings zu benennen, da nur auf diese Weise die Lücken der Forschung ausgemacht werden können. Der Versuch, diese Lücke zu füllen, soll hier unternommen werden, ohne die Augen vor den Zusammenhängen von Gesellschaft, Politik und Ökonomie für die preußische Geschichte zu verschließen. Erste neuere Forschungsansätze wurden bereits während einer Konferenzserie sichtbar, die 2006 von der Preußischen Historischen Kommission initiiert wurde, und deren Ergebnisse in drei Sammelbänden vorliegen.28
II. Multiperspektivität und Souveränität: Zu Theorie und Methode Mit derselben Entschiedenheit, mit der einst die Historische Sozialwissenschaft ihre Sichtweise auf die Geschichte als die einzig mögliche und richtige betrachtete, wurde und wird bis heute zuweilen ein theoretischer und methodischer Holismus verfochten, welcher der Komplexität vergangenen Lebens nicht gerecht zu werden vermag. Ohne sich damit bescheiden zu wollen, Ausschnitte historischer Wirklichkeit wiederzugeben, wird das Teil für das Ganze genommen und eine Geschichtsauffassung verfochten, die sich wissenschaftlicher Ratio entzieht.29 Anstatt unterschiedlichste Teilperspektiven in scharfe Opposition zueinander zu stellen, oder für einzelne Erklärungsansätze allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen, lohnt sich zumeist deren Verschränkung zum Zweck gegenseitiger Ergänzung. Auf diese Weise lässt sich, das ist zumindest die Hoffnung, ein Bild der Vergangenheit zeichnen, das zwar in seiner Aussagekraft nach wie vor begrenzt bleibt, das aber unter günstigen Umständen eine neue Interpretation für einen Zeitabschnitt liefern kann, der, wie die preußische Geschichte zwischen 1807 und 1810, schon eingehend erforscht wurde. Eine reiche Forschungsliteratur ist für einen solchen multiperspektivischen Ansatz kein Nachteil, sondern eine Chance, wenn der Forscher zumindest teilweise von der Sichtung und Interpretation umfangreicher Quellenbestände entlastet wird, so dass eine Konzentration auf bisher vernachlässigtes Material stattfinden kann. Im Ide-
Manfred Hettling et al. (Hrsg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 1 – 4, hier passim. 28 Neugebauer/Kloosterhuis, Finanzen. Dies./Sönke Neitzel (Hrsg.), Krise, Reformen – und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806 (FBPG, Beiheft 10), Berlin 2009. Bärbel Holtz (Hrsg.), Krise, Reformen – und Kultur. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806 (FBPG, Beiheft 11), Berlin 2010. 29 Siehe hierzu auch Otto Brunner, Probleme einer europäischen Sozialgeschichte, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 80 – 102, hier S. 81.
II. Multiperspektivität und Souveränität: Zu Theorie und Methode
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alfall entsteht auf diese Weise eine Darstellung, die Bekanntes aufnimmt und ergänzt, um am Ende etwas Neues abzubilden. Die grundlegende Voraussetzung, die für eine multiperspektivische Betrachtungsweise erfüllt sein muss, ist das Vorhandensein eines Untersuchungsgegenstands, unter dem sich unterschiedlichste Problemlagen subsumieren und auf den hin sich die verschiedenen Perspektiven bündeln lassen – hier sei dies: die Souveränität. Es handelt sich dabei um einen schillernden und zugleich auch problematischen Begriff, welcher der Klärung bedarf. Im westeuropäischen Raum wurde dieser Begriff seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert in adjektivischer wie substantivischer Form zur Bezeichnung verschiedenster Herrschaftsbeziehungen verwendet. Als „souverän“ konnte gelten, wer in einem begrenzten Bereich höchste, unbeschränkte Herrschaftskompetenz besaß, sei es ein Herzog in seinen Landen oder etwa der französische König, dem schon Philippe de Rémy das Prädikat „souverän“ verlieh, um dessen Stellung als höchste juristische Instanz zu bestimmen. Bis in das 15. Jahrhundert hinein war der König aber nur Souverän unter Souveränen und das Königtum zusammen mit dem Merkmal der Souveränität noch ganz in die mittelalterliche Feudalordnung eingebunden.30 Den staatstheoretischen Wandel von diesem mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen Herrschaftsverständnis markierte das epochemachende Werk „Les six livres de la République“,31 mit dem der französische Jurist Jean Bodin 1576 den Begriff der „souveraineté“ oder „suverenitas“ zuspitzte und weiter präzisierte, um schließlich mit dessen Hilfe ein völlig neues Modell politischer Herrschaft zu entwerfen.32 Für Bodin bedeutete das Souveränsein nicht mehr einfach nur das Innehaben einer isolierten Einzelkompetenz, sondern der Entscheidungsbefugnis innerhalb eines politischen Verbands überhaupt. „[L]a premiere (!) marque du Prince souverain,
30 Siehe hierzu Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 38), Berlin 1986, S. 13 – 38. Ders., Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt a. M. 1970, S. 249 – 251, 507 – 509. Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. Gerhard Oestreich, Bde. 1 und 2, 3. Aufl., Göttingen 1970/ 1982, Bd. 3, 2. Aufl., Göttingen 1967, hier Bd. 1, S. 52 – 83, hier S. 62 – 65. Ders., Wesen und Wandlung des modernen Staats, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, S. 470 – 496, hier S. 477 f. 31 Im Folgenden wird sich auf die weithin verwendete Ausgabe von 1783 bezogen: Jean Bodin, Les six livres de la République. Ensemble une apologie de René Herpin, Paris 1783. 32 Siehe zur Souveränitätskonzeption Bodins, die im Folgenden näher erläutert wird v. a. Quaritsch, Staat, S. 243 – 394, 509 – 512. Ders., Souveränität, S. 39 – 48, 54 – 60. Auch Thomas Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 20), Berlin 1973, S. 76 – 80. Werner Conze/Reinhart Koselleck/Jörg Haverkate/Diethelm Klippel/Hans Boldt, Staat und Souveränität, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972 – 1997, hier Bd. 6, S. 1 – 154, hier S. 107 – 110. Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin 2009, passim.
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c’est la puissance de donner loy à tous en general (!), & à chacun en particulier“33, lautete die vielzitierte Passage im 10. Kapitel des ersten Buches, mit der Bodin den Souverän die absolute („absolue“), das heißt höchste, unableitbare, sowie die dauernde („perpetuelle“) Gesetzgebungs- und Befehlskompetenz zuwies.34 Auf diese Weise wurde politisches Handeln nicht mehr wie nach älterer Vorstellung durch den Konsens zwischen Ständen und Monarchen legitimiert; auch gegen den Willen der Adressaten ließen sich nach der Souveränitätskonzeption Bodins Recht setzten und Weisungen erteilen. Bodin skizzierte die Grundzüge des modernen Gesetzgebungsstaats, der seinem Gestaltungsanspruch zumindest theoretisch alle Bereiche des sozialen Lebens unterwirft.35 Damit stehen seine Ausführungen im scharfen Kontrast zur mittelalterlichen Regalienlehre, die dem König nur die Summe von Einzelbefugnissen zuwies und diese nicht wie Bodin aus der Generalbefugnis der Souveränität ableitete. Dass Bodin bestimmte Prärogativen des Souveräns, wie die Entscheidung über Krieg und Frieden oder die Bestimmung des Münzfußes, einzeln aufführte, diente allein dem Zweck, die absolute Entscheidungskompetenz noch einmal zu betonen;36 verschiedentlich wurde diese Absicht Bodins und mithin das Neue seines Souveränitätsbegriffs verkannt.37 Die rechtlich durch einen Dritten nicht beschränkte herrschaftliche Dezisionsfreiheit ist das entscheidende Kennzeichen der Souveränität. Zwar bedeutete dies zwangsläufig das Ende jener rechtlich autochthonen Herrschaft über Land und Leute, die der Adel zu Lebzeiten Bodins genauso wie andernorts häufig noch ausübte, aber nicht das der Stände und Korporationen überhaupt. Bodin erkannte ihnen sogar eine zentrale Rolle bei der Erfüllung lokaler Selbstverwaltungsaufgaben zu, deren Ausübung aber nicht mehr auf eigenem Recht, sondern auf der ausdrücklichen Anweisung durch den Souverän beruhen sollte. So wie jeder Beamte werden korporativen Instanzen auf diese Weise zu Trägern von „puissance publique“, öffentlicher Gewalt, und zu Institutionen des „gouvernement“.38 Als alleiniger Inhaber der Herrschaftsgewalt kann der Souverän nach Bodin die einmal so delegierten gouvermentalen Befugnisse auch jederzeit widerrufen oder ihren Trägern neue Aufgaben zuweisen; indem Bodin die öffentliche Gewalt so an die Souveränität knüpfte und sie in der Hand des Souveräns konzentrierte, begründete er theoretisch das Institut monopoler Staatsgewalt.39 33
Bodin, Six livres, I.10, S. 221. Beide Zitate ebd., I.8, S. 122: „La Souveraineté est la puissance absoluë & perpetuelle d’une Republique (!)“. 35 Siehe hierzu besonders Quaritsch, Staat, S. 340 – 342. 36 Siehe Quaritsch, Souveränität, S. 255 – 264. 37 Siehe etwa die Fehlinterpretation von Nicolas Henshall, The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early Modern European Monarchy, London/New York 1992, S. 126 f. Bodin leitete eigentlich in I.10, S. 223 alle Befugnisse des Souveräns unmissverständlich aus der Generalbefugnis, Gesetze zu erlassen, ab. 38 Die Zitate Bodin, Six livres, II.2, S. 273, III.5, S. 430. 39 Speziell hierzu siehe Quaritsch, Staat, S. 260, 266 – 270, 471. 34
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In Bodins Konzept der Souveränität könnte man eine Blaupause für eine schrankenlose, monarchische Herrschaft erblicken, doch würde dies die Tatsache ignorieren, dass der französische Jurist auch die Aristokratie und die Demokratie mit seinem Souveränitätsbegriff erfasste. Der Entscheidungsfreiheit des Souveräns setzte er überdies Grenzen in Form der „loix qui concernet l’estat (!) du Royaume“40 beziehungsweise der „leges imperii“41 sowie des göttlichen und Naturgesetzes („la loy de Dieu & de nature“42).43 Sollten die Fundamentalgesetze des Reiches vorwiegend eine geordnete Herrscherfolge gewährleisten, beweist die ethische Begrenzung der souveränen Herrschaft, wieweit Bodin in der Tradition antiker Vorstellungen von einer legitimen Herrschaft stand. Weltliche Instanzen durften den Souverän allerdings in der Ausübung seiner Kompetenz nicht beschränken, wollte er die Eigenschaft, souveräner Herrscher zu sein, nicht verlieren. Bodin machte dies noch einmal deutlich, als er betonte, dass es um Souverän zu sein, nicht genüge, jedem Gesetze auferlegen zu können: „[M]ais ce n’est pas assez, car il faut adiouster, sans le consentement de plus grand, ni de pareil, ni de moindre que soy: car si le Prince est obligé de ne faire loy sans le consentement d’un plus grand que soy, il est vray subiect: si d’un pareil, il aura compagnon: si des subiects, soit du Senat, ou du peuple, il n’est pas souverain.“44
Dieses Zuhöchstsein der Souveränität im Innern hatte die logische Folge, dass der Souverän auch keinem landesfremden Herrschaftsträger gegenüber weisungsgebunden sein durfte: „Die Einheit der Wirkung nach außen war unabdingbar verknüpft mit der im inneren Handlungsbereich des Souveräns hergestellten Einheit der Entscheidung“. Innere und äußere Unabhängigkeit, innere und äußere Souveränität, verhalten sich eben komplementär zueinander. Über diese Vorstellung des souveränen Herrschaftsverbands als einer „Wirkungseinheit“ nach außen legte Bodin in einem Zug auch den ideengeschichtlichen Grundstein für das moderne Völkerrecht, dessen Subjekt der souveräne Staat ist.45 Es ist nicht zu viel gesagt, wenn Bodin als der theoretische Begründer des modernen, das heißt souveränen, Staats gilt.46 Wer dies verkennt, hat Bodins Souve-
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Bodin, Six livres, I.8, S. 137. Zit. n. Quaritsch, Souveränität, S. 51. 42 Bodin, Six livres, I.8, S. 129. 43 Speziell hierzu siehe Quaritsch, Staat, S. 347 – 368, hier das Zitat aus der lateinischen Fassung der „Six Livres“ S. 347. 44 Bodin, Six Livres, I.10, S. 221. 45 Zum Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Souveränität siehe besonders Quaritsch, Souveränität, S. 62 – 65. Ders., Staat, S. 251 – 255, die Zitate S. 254. Das Konzept eines modernen Völkerrechts ist freilich bei Bodin noch nicht voll entwickelt. Siehe ebd., S. 369 – 383. Zur Rolle der Souveränität im heutigen Völkerrecht siehe Torsten Stein/Christian von Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl., München 2012, S. 180 – 182, 191 f. 46 So etwa Quaritsch, Staat, S. 39 und Fn. 89. Zum „modernen Staat“ siehe ebd., S. 32 – 36. 41
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ränitätskonzeption missverstanden,47 denn mit der Souveränität ist ein wesentliches Merkmal dieses Staats bezeichnet, das ihn von anderen Herrschaftssystemen unterscheidet.48 Die Vereinheitlichung der Entscheidungskompetenz, die Konzentrierung der legitimen Gewalt in der Hand des Souveräns und die Koppelung dieser öffentlichen Gewalt allein an den staatlichen Herrschaftsapparat („gouvernement“) – alles bedingt die Souveränität – stellen die Säulen dar, auf denen der moderne Staat ruhte. Bodin lieferte mit der Souveränität ein „Stichwort für eine bestimmte Verfassung der politischen Herrschaft.“49 Sein Souveränitätskonzept war zwar zunächst nur eine staatstheoretische Antwort auf die Probleme seiner Gegenwart, allen voran auf das des französischen Bürgerkriegs, der unter anderem durch die Auflösung der konsensstiftenden Glaubenseinheit ausgelöst wurde;50 sie erwies sich aber als universell und zukunftsfähig wie die erstaunliche Rezeptionsgeschichte des souveränen Herrschaftsmodells beweist. Die „Six livres de la République“ stießen von Beginn ihres Erscheinens an auf große Resonanz. Offenbar traf Bodin mit seinen Ausführungen den Nerv der Zeit. Die französische Version seines Werks erfuhr bis zum Ende des 16. Jahrhunderts 18 Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Während Bodins Souveränitätsbegriff früh den politischen Diskurs in England beeinflusste, fand seine Idee in Deutschland zunächst nur geringen Widerhall; zu verschieden war die staatspolitische Realität des Reiches vom Konzept souveräner Herrschaft. 1609 trat der Begriff „Souveränität“ erstmals in einer deutschsprachigen Schriftquelle auf, doch allein um den außenpolitischen Zustand der Generalstaaten zu beschreiben. Die Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück zwangen schließlich auch die kaiserlichen Hofräte zur Auseinandersetzung mit der Souveränität, die Frankreich den Reichsterritorien im westfälischen Friedenswerk zusichern wollte. Die kaiserliche Seite erkannte die Gefahr, die von diesem Ansinnen ausging, das die politische Integrität des Reiches bedrohte, und verhinderte am Ende die Aufnahme in den Vertragstext. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts setzte sich der Begriff der Souveränität, wie er von Bodin begründet worden war, auch in der staatstheoretischen Literatur 47
So etwa Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt, Einleitung. Die Geburt des „Absolutismus“ im 17. Jahrhundert: Epochenwandel der europäischen Geschichte oder optische Täuschung?, in: Dies. (Hrsg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550 – 1700) (Münstersche Historische Forschungen, 9), Köln/ Weimar/Wien 1996, S. 3 – 24, hier S. 7. 48 Siehe hierzu Quaritsch, Staat, S. 36 f. Alexandre Passerin d’Entrèves, The Notion of the State. An Introduction to Political Theory, Oxford 1967, S. 99 – 102. Siehe von einem zunächst begriffsgeschichtlichen Standpunkt ausgehend auch Conze et al., Staat, S. 1: „,Staat‘ und ,Souveränität‘ sind zwei Begriffe, die in ihrer geschichtlichen Entstehung und ihrer rechtlichen Zuordnung aufeinander verweisen.“ Schon Bodin charakterisierte den Staat („République“) mit Hilfe der Souveränität. Siehe Bodin, Six livres, I.2, S. 12. 49 Quaritsch, Souveränität, S. 62. 50 Zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen von Bodins Souveränitätskonzeption siehe Quaritsch, Souveränität, S. 48 f.
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Deutschlands vollends durch. Lexikoneinträge von 1695 und 1743 charakterisieren die Souveränität als „unbeschrenkte Gewalt und Herrschaft / so von niemanden abhanget“ beziehungsweise als „die freye, höchste und unbeschränckte Gewalt, die vollkommenste Herrschafft und Regierung“ und lassen erkennen, inwieweit Bodins Definition paradigmatischen Charakter auch im deutschsprachigen Raum gewann. Die Souveränität wurde auch hier zum Bewertungsmaßstab jeder politischen Verfassung. Es wundert daher auch nicht, dass sich die Territorialfürsten bemühten, ihre „Souveränität“ theoretisch und praktisch zu begründen. Die Versuche einer „Souveränitätsmacherzunft“51 (Johann Jacob Moser) mussten aber angesichts der Verfassungswirklichkeit des Reiches letztendlich fehlgehen.52 Ungeachtet der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs der Souveränität in verschiedensten Kontexten und trotz der Fortentwicklung des Souveränitätskonzepts durch die Staatsphilosophie während der folgenden Jahrhunderte blieb der von Bodin bestimmte „Begriffskern“ mindestens bis in das 19. Jahrhundert hinein unverändert erhalten, weshalb die Bodinsche Begriffsschöpfung auch für die historische Untersuchungskategorie „Souveränität“ maßgeblich sein muss.53 Bodin hatte mit der Souveränität ein „rechtlich wie faktisch gleichermaßen bedeutsames Bauprinzip“54 des modernen Staats umrissen, auf dessen Entstehung die europäische Verfassungsgeschichte langfristig hinauslief.55 Dieser Prozess der 51 Zit. n. Wolfgang Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik in Bayern. Von der Mitte des 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 15), Berlin 1971, S. 34. 52 Zur Rezeptionsgeschichte von Bodins Souveränitätsbegriff siehe Quaritsch, Souveränität, S. 67 – 85, 88 – 91, 96 – 102, hier die Zitate zit. n. S. 96. Ders., Staat, S. 400 – 408. Grimm, Souveränität, S. 28 – 31. 53 Siehe Quaritsch, Souveränität, S. 38 f., 92, 104 – 107, hier das Zitat S. 92. Hobbes wendete das Souveränitätskonzept Bodins schließlich ins Extreme, aber selbst seine Gegner (Locke) gaben bei ihrer Kritik an der absoluten Herrschaft den Souveränitätsbegriff nicht preis. Siehe hierzu Grimm, Souveränität, S. 31 – 35. Zu den Veränderungen des Souveränitätsbegriffs ab der Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Quaritsch, Souveränität, S. 122 – 128. Der Wandel des 19. Jahrhunderts hing vor allem in Deutschland mit dem Bemühen zusammen, die staatsrechtliche Realität des Deutschen Bundes und später des bundestaatlich organisierten Kaiserreichs einzufangen. Hier wie auch in England ging es dabei vor allem um das Problem der Teilbarkeit der Souveränität, die Bodin verneinte. An der Bedeutung der Souveränität als Eigenschaft des modernen Staats änderte diese Begriffsfortentwicklung (und mitunter -verwirrung) jedoch nichts, so dass die Souveränitätsdefinition von Bodin in ihren Grundzügen bis heute maßgeblich ist. Siehe hierzu Albrecht Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13 Bde., 3. Aufl., Heidelberg 2003, hier Bd. 2, S. 149 – 162, hier v. a. S. 153. Siehe auch die Kritik Quaritschs an Georg Jellinek in Quaritsch, Staat, S. 408 – 424, 471 f. 54 Quaritsch wies dies in seiner Studie „Staat und Souveränität“ eindrucksvoll nach. Das Zitat Quaritsch, Staat, S. 506. 55 Siehe hierzu Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 2002, passim. Michael Hochedlinger, Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit. Vorbemerkungen zur Begriffs- und Aufgabenbestimmung, in: Ders./Thomas
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Staatsbildung war weder zielgerichtet, noch gleichförmig,56 sondern vielmehr von Brüchen und retardierenden Momenten geprägt, doch die Herrschaftsverdichtung, die über kurz oder lang die Zurückdrängung ständischer Mitspracherechte und die Beseitigung intermediärer Gewalten mit sich brachte, entsprach, von einigen Ausnahmen abgesehen, geradezu einer Grundtendenz. Entscheidendes Movens dieser Entwicklung war offensichtlich das Bedürfnis nach einer Ordnungsmacht, die den sozialen und vor allem auch konfessionellen Gegensätzen der neuzeitlichen Gesellschaft übergeordnet war. Bodin hatte dies erkannt und ein staatstheoretisches Programm entworfen, das jeden Untertan in dasselbe direkte Verhältnis zum Souverän setzte und daher potenziell egalisierend und ausgleichend wirken konnte.57 Zudem erwiesen sich jene Staaten, die dem Bodinschen Idealtypus souveräner Herrschaft am ehesten entsprachen, während der europäischen Kriege der Neuzeit aufgrund ihrer Fähigkeit zur effizienten Ressourcenmobilisierung gegenüber feudalständischen Gemeinwesen in der Regel als überlegen.58 Da Staatsbildung und Souveränitätsausbau aufeinander bezogene Entwicklungsprozesse sind,59 bedeuteten die neuzeitlichen „kriegsinduzierte[n] Staatsbildungsschübe“60 auch Schübe für die Ausweitung der souveränen Staatsgewalt. Natürlich wurde das System souveräner Herrschaft nirgends vollständig realisiert. Die kritische Forschung zum „Absolutismus“ und zur Geschichte der Stände wies mit aller Deutlichkeit nach, dass es mit der Souveränität der Fürsten oft nicht so weit her war wie die zentralstaatlichen Quellen auf den ersten Blick vermuten lassen.61 Winkelbauer (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verwaltungsund Behördengeschichte der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 57), Wien/München 2010, S. 21 – 85, hier S. 32, 62 – 68. Quaritsch, Staat, S. 395 – 400. 56 Siehe hierzu besonders Asch/Duchhardt, Einleitung, v. a. S. 20 – 23. Auch Neugebauer, Geschichte, S. 32. 57 Siehe Quaritsch, Souveränität, S. 50 f. 58 Siehe Quaritsch, Staat, S. 397 f. 59 Staatsbildung wird hier verstanden als die Entmachtung sowie Einstaatung autonomer Herrschaftsträger, der Aufbau einer umfassenden Verwaltungsordnung, die Konzentration der Herrschaft und die Durchsetzung des Entscheidungsanspruchs der Staatsführung. Siehe die ähnlich lautende Definition in Hochedlinger, Behördengeschichte, S. 63. 60 Siehe zur These vom Zusammenhang zwischen Krieg und Staatsbildung Wolfgang Neugebauer, Staat – Krieg – Korporation. Zur Genese politischer Strukturen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), S. 197 – 238, hier passim, hier das Zitat S. 215 (hier auch Hinweise auf die weitere Forschungsliteratur). Auch ders., Zur Staatsbildung Brandenburg-Preußens. Thesen zu einem historischen Typus, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 49 (1998), S. 183 – 194, hier S. 187. Überdies Johannes Burckhardt, Der Dreißigjährige Krieg als frühmoderner Staatsbildungskrieg, in: GWU 45 (1994), S. 487 – 499, hier passim und Hochedlinger, Behördengeschichte, S. 48 – 56. 61 Eine Übersicht über die Forschungsdebatte bieten Markus Meumann/Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: Dies. (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 2), Münster 2004, S. 11 – 49, hier S. 23 – 36. Siehe
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Die Souveränität blieb ein „Zukunfts- und Zielbegriff“62 – selbst in Preußen, jenem deutschen Staatsgebilde also, das einer vollständigen Realisierung dieses Ideals schon nach dem Urteil der Zeitgenossen recht nahe kam.63 Die Hohenzollernmonarchie konnte sich zumindest in ihren östlichen Provinzen außerhalb des Verfassungskorsetts des Reiches entwickeln, weshalb es kaum überrascht, dass sich hier der Souveränitätsbegriff, vermutlich vermittelt über die Niederlande, frühzeitig in Vertragstexten und in der Sprache der Herrscher durchsetzte. Im Vertrag von Labiau, der 1656 das Herzogtum Preußen als Lehen von der polnischen Krone löste, wurde Kurfürst Friedrich Wilhelm als „princips summus & Suverenus“ anerkannt. Der „Große Kurfürst“ selbst hatte ein klares (noch vorrangig außenpolitisches) Konzept, das er an die Vorstellung von einer Souveränität knüpfte. Während der Verhandlungen zu Wehlau instruierte er so auch die preußischen Gesandten, auf die „Maintenierung und Behauptung der Souverainität in Preußen und was davon dependiret“ zu achten.64 Auch in seinem Testament betrachtete er die Souveränität noch vorrangig als eine Eigenschaft des preußischen Staats, erst sein Enkel Friedrich Wilhelm I. sah darin ein Herrschaftskonzept, das auch auf die innenpolitischen Verhältnisse Anwendung finden konnte. Habe der Große Kurfürst die Privilegien des Adels beseitigt und „durch die Suwerenitet unterBrochen“65, so stabilisierte er, hieß es in einer vielzitierten Order, „die suverenitet und setz[t]e die krohne fest wie ein Rocher von Bronse“66. Das Recht, das beispielsweise den kurmärkischen Ständen 1653 per Landtagsrezess zugebilligt wurde, in wichtigen Dingen des Landes gehört zu werden, räumte Friedrich Wilhelm I. mit dem Hinweis auf die „extrema necessitas“ beiseite – eine Formulierung, die sehr an das „si urgent“ erinnert, mit dem Bodin die Steuererhebung des Souveräns auch ohne die Zustimmung der Betroffenen rechtfertigte.67 Friedrich II. verwendete den Souveränitätsbegriff schließlich mit großer Selbstverständlichkeit, ohne sich mit näheren Erläuterungen über dessen Inhalt aufzuauch Kurt von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: HZ 183 (1957), S. 55 – 96, hier S. 77 – 79. Fritz Hartung, L’Etat c’est moi, in: Ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 93 – 112, hier passim. Heinz Duchhardt, Absolutismus – Abschied von einem Epochenbegriff, in: HZ 258 (1994), S. 113 – 122, hier passim. Ders./Asch, Einleitung, passim. Quaritsch, Staat, S. 395 – 397, 511 f. Quint, Souveränitätsbegriff, S. 28 – 36. Grimm, Souveränität, S. 27 f. Siehe auch – freilich in der Darstellung sehr überspritzt: Henshall, Absolutism, passim. 62 Conze et al., Staat, S. 3. 63 So das Urteil Johann Jacob Mosers. Siehe Quint, Souveränitätsbegriff, S. 34. 64 Siehe Quaritsch, Souveränität, S. 85 – 88, hier die Zitate zit. n. S. 86 f. 65 „Instruction König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger“, s. l., 22.1. bis 17. 2. 1722. Georg Küntzel/Martin Hass (Hrsg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern nebst ergänzenden Aktenstücken, 2 Bde., Leipzig/Berlin 1911, hier Bd. 1, S. 77. 66 Ordre Friedrich Wilhelms I., s. l., (1716). Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 42 Bde., Berlin 1892 – 1982, hier Reihe 1, Bd. 2, Nr. 175, S. 352. 67 Zu Bodin siehe Quaritsch, Staat, S. 264 f.
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A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
halten.68 Diese im wahrsten Sinne des Wortes souveräne Sichtweise auf die eigene Herrschaft darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass, wie bereits angedeutet, auch im alten Preußen die monarchische Souveränität begrenzt und die Staatlichkeit nur unwesentlich über ein Anfangsstadium hinaus entwickelt war. Die unter der Krone der Hohenzollern vereinten Provinzen bildeten noch keinen geschlossenen Staat; noch durchgängig war das heterogene Herrschaftsgebilde „Preußen“ vom Regionalismus geprägt und keineswegs war die Herrschaftsgewalt, welche die Städte und der Landadel ausübten, in allen Teilen eine direkt und ausdrücklich vom monarchischen Souverän delegierte Kompetenz; allerorten gab es „staatsfreie“ Räume. Das Gesetzgebungs- und Besteuerungsrecht wurde zwar von den preußischen Königen reklamiert, aber in der Realität war nicht jedes legislative oder fiskalische Vorhaben ohne weiteres und gegen den Willen der Adressaten durchzusetzen. Insgesamt war die preußische Staatsbildung eben noch „selektiv, konzentriert auf bestimmte Segmente und Felder öffentlicher Tätigkeit, noch nicht potentiell universell, wie im 19. und 20. Jahrhundert“.69 Jede historische Auseinandersetzung mit „Souveränität“ und „Staatlichkeit“, wie sie auch hier unternommen werden soll, sieht sich kritischen Einwendungen ausgesetzt. Der Begriff des „Staats“ wurde und wird nicht zu Unrecht problematisiert; es wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit er sich angesichts der geringen Staatlichkeit Preußens und anderer Reiche wie Fürstentümer überhaupt zur Beschreibung politischer Herrschaftsgebilde für die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts eigne;70 eine Problematik, die nur vermeintlich aktuell ist, wenn man an die Debatte über den „Staat“ des Mittelalters denkt. Tatsächlich konzentriert sich die so lautende Kritik auf das Problem, das der Begriff des Staats „kein schulgerechter logischer Artbegriff“ und kaum mehr als eine „anschauliche Abstraktion“ ist.71 Um den epistemischen Mängeln, die sich aus dieser definitorischen Unklarheit ergeben, zu entgehen, findet hier die Beschränkung auf eben nur ein Merkmal des Staats statt, nämlich auf das der Souveränität, die sich als Untersuchungsgegenstand ausgehend von der Bodinschen
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Zur Verwendung des Souveränitätsbegriffs in den Testamenten der Hohenzollern siehe Quaritsch, Souveränität, S. 92 – 95. 69 Siehe Hintze, Wesen, S. 478. Raumer, Absoluter Staat, S. 77 – 79. Neugebauer, Staatsbildung, passim. Ders., Zwischen Preußen und Rußland. Rußland, Ostpreußen und die Stände im Siebenjährigen Krieg, in: Eckhart Hellmuth/Immo Meenken/Michael Trauth (Hrsg.), Zeitenwende? Preußen um 1800. Festgabe für Günther Birtsch zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1999, S. 43 – 76, hier S. 44. Ders., Das alte Preußen. Aspekte der neuesten Forschung, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 463 – 482, hier passim, v. a. S. 478 – 482, hier das Zitat S. 481. John Breuilly, Nationalismus und moderner Staat. Deutschland und Europa (Kölner Beiträge zur Nationsforschung, 6), übersetzt und hrsg. v. Johannes Müller, Köln 1999, S. 161 – 163. Auch Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777 – 1837. Biographie eines Preußen, Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, S. 238 f. Siehe auch Kap. E. I. 2. 70 Siehe exemplarisch Meumann/Pröve, Faszination, S. 11 – 23. 71 So Hintze, Wesen, S. 470 – 474, hier die Zitate S. 470.
II. Multiperspektivität und Souveränität: Zu Theorie und Methode
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Begriffsprägung relativ eindeutig bestimmen lässt.72 Mit Hilfe des Souveränitätsbegriffs kann danach gefragt werden, wie Herrschaft in der politischen Verbandsform „Staat“ entsteht, aufrechterhalten und verhandelt wird. Indem die Souveränität auf diese Weise in den Fokus rückt, erscheint der Staat nunmehr als administrativ-organisatorischer Rahmen, der zur Durchsetzung der öffentlichen Gewalt und der politischen Entscheidungen des Souveräns existiert. Die Fragen, wie diese Entscheidungen zustande kommen, welche äußeren und inneren Faktoren die souveräne Entscheidungs- und Handlungsfreiheit einschränken, oder wie diese konkret durchgesetzt werden sollen, werden so zu Fragen nach der Staatlichkeit als solcher, ohne dass der Staat als ein „historische[s] Subjekt“ oder „Machtsubjekt[]“ gefasst werden muss, wie es die neuere Kulturgeschichte an der „Staatengeschichte“ kritisierte.73 Um mit Hilfe der Souveränität Herrschaftsverhältnisse multiperspektivisch erfassen zu können, muss der Begriff aus der im strengen Sinne rechtstheoretischen Sphäre herausgelöst und umfassender verstanden werden. Der Jurist Bodin bestimmte mit der Souveränität zwar zunächst eine formale Herrschaftsstruktur auf rechtlichem Wege; Souveränität bezeichnet demnach rechtlich nicht beschränkte Herrschaft. Doch bedarf ein spezifischer Herrschaftsanspruch, wie er mit der Souveränität verbunden ist, immer der konkreten Bewährung, um zu einer Tatsache der Verfassungswirklichkeit zu werden – und nur diese Verfassungswirklichkeit kann das Interesse des Historikers wecken.74 Es ist nun einmal so, „[d]aß das Problem der Souveränität mit dem Rechtsbegriff nicht voll erfasst ist, da es auf der Grenze zwischen Recht und Wirklichkeit steht“.75 Die Souveränität verlangt schließlich nach ihrer permanenten Bestätigung, sie ist „ein mit bestimmten rechtlichen Merkmalen umschriebenes Verfassungsprinzip, das nur in ständiger Verwirklichung des Tatbestandes einer ,puissance absolue et perpetuelle‘ existiert: Souveränität ist als uner72
Reinhard unternahm hingegen den Versuch, das historische Problem „Staat“ durch die Konzentration auf die Entwicklung der Staatsgewalt zu erfassen. Siehe Reinhard, Geschichte, passim. 73 Siehe Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71 – 118, hier S. 71 – 94, hier das erste Zitat S. 80. Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574 – 606, hier S. 575 – 578, hier das zweite Zitat S. 576. Siehe auch die Kritik von Barbara Stollberg-Rillinger, die in hyperbolischen Wendungen und mit mancher logischen Schwäche die Auseinandersetzung mit dem Staat prinzipiell verneinte. Siehe Barbara Stollberg-Rillinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung, 35), S. 9 – 24, hier v. a. S. 12 f. Siehe auch das freilich nicht kulturgeschichtlich determinierte Plädoyer für eine weniger staatszentrierte preußische Geschichte in Neugebauer, Geschichte, S. 45. Zur Kritik an der vollständigen Negierung des Staats als historischen Untersuchungsgegenstand siehe etwa Georg Zenkert, Die Konstitution der Macht. Kompetenz, Ordnung und Integration in der politischen Verfassung (Philosophische Untersuchungen, 12), Tübingen 2004, S. 1 – 7. 74 So auch Hochedlinger, Behördengeschichte, S. 61 f. 75 Randelzhofer, Staatsgewalt, S. 156.
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füllter Anspruch nicht denkbar“76, wie es Helmut Quaritsch ausdrückte, der sich wohl so gründlich wie keiner mehr nach ihm in Deutschland mit dem historischen Problem der Souveränität auseinandersetzte;77 manche jüngere Publikation ist demgegenüber gänzlich vernachlässigbar.78 Quaritsch wurde zwar nicht müde, zu betonen, dass „Omnikompetenz“ nicht mit Omnipotenz gleichzusetzen sei und hob hervor, dass die Einseitigkeit, mit der der Souverän handelt, Autonomie und nicht Autarkie bedeute; immerhin erkannte auch Bodin den Ständen und ihren Vertretern das Recht zu, ihre Interessen gegenüber dem (in diesem Fall) monarchischen Souverän zu artikulieren, doch durften sie in einem souveränen Staatswesen ihre politischen Ziele nicht auf rechtlich legalem Weg durchsetzen.79 Tatsächlich sind aber in der Empirie die Grenzen zwischen einem formalrechtlichen Partizipationsverbot und wirklicher Mitentscheidung, zwischen Sollen und Sein, oftmals fließend.80 Souveränität zeichnet sich durch ihre Fluidität aus, die sie erst zu einer historischen Untersuchungskategorie werden lässt, mit deren Hilfe sich Veränderungs- und Wandlungsprozesse politisch-staatlicher Herrschaft erfassen lassen. Souveräne Herrschaftsausübung ist ein dynamischer Prozess und lässt sich als „soziale Praxis“ begreifen.81 Da es das zentrale Erkenntnisinteresse der folgenden Analyse ist, zu bestimmen, wie es sich um die Souveränität in der Verfassungswirklichkeit Preußens unter dem Eindruck des Tilsiter Friedens verhielt und wie diese sich in der Folge wandelte, gilt 76
Quaritsch, Staat, S. 277. Erwähnung verdient noch die Studie „Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik in Bayern“ von Wolfgang Quint, der das Problem der Souveränität für den bayerischen Fall untersuchte. 78 Die meisten Beiträge eines jüngeren Sammelbands etwa, der sich aus historischer Perspektive mit der Souveränität auseinandersetzte, zeichnen sich durch Quellenarmut, die vollständige Unkenntnis der Sekundärliteratur und ein zumindest kritisierbares Vorverständnis von dem, was Souveränität ausmacht, aus. Siehe Samuel Salzborn/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Souveränität. Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen (Staatsdiskurse, 10), Stuttgart 2010. 79 Siehe Quaritsch, Souveränität, S. 54 – 58. Ders., Staat, S. 270 f., 442 f., 471, hier das Zitat S. 443. 80 Siehe zur Vorstellung von der Verbindung rechtlicher und tatsächlicher Macht als Kriterium auch faktischer Souveränität Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 5. Aufl., Berlin 1990, S. 26 f. Siehe hierzu auch Quaritsch, Staat, S. 277. Diese Bedeutung wirklicher politischer Macht für die Souveränität gab Quaritsch mit gewisser Inkonsequenz zum vorher Gesagten selbst zu. Siehe Quaritsch, Staat, S. 345 f. 81 Zum Verständnis von Herrschaft als „soziale Praxis“ siehe Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 91), Göttingen 1991, S. 9 – 63, hier passim. Auch die Ausführungen in Hubertus Büschel, Untertanenliebe. Der Kult um deutsche Monarchen 1770 – 1830 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, 220), Göttingen 2006, S. 347 f. Zum Verständnis von Politik als Aushandlungsprozess und den theoretischen Konsequenzen einer kommunikationsorientierten Geschichtsschreibung siehe Mergel, Überlegungen, passim. Frevert, Politikgeschichte, S. 7 – 26, hier v. a. S. 11 – 17, 23 – 26. 77
II. Multiperspektivität und Souveränität: Zu Theorie und Methode
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es unter anderem festzustellen: Wie autonom gestaltete sich die politische Entscheidungsfindung wirklich? Wurde sämtliche, innerhalb eines Herrschaftsverbandes ausgeübte politische Gewalt realiter von der Staatsgewalt abgeleitet? Und schließlich: inwieweit akzeptierten die Adressaten die Entscheidungen des Souveräns? Für die Geschichte Preußens nach 1807, als die Herrschaftsordnung neu verhandelt wurde, bedeutet dies, auch zu zeigen, wie die Bevölkerung die Herrschaft des monarchischen Souveräns „von unten“ wahrnahm, erfuhr und hinnahm oder eben ablehnte und wie man „von oben“ reagierte.82 „Oben“ und „unten“, Herrscher und Beherrschte, werden so in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis erfasst. Natürlich erschöpft sich Politik nicht im „ewigen Gespräch“83, es gibt Grenzen der Kommunikation und Momente der Entscheidung, die auch im Folgenden immer wieder anzutreffen und einzuordnen sind. Herrschaft ist überdies auch von anderen, nicht im engeren Sinne kommunikativen Faktoren her bestimmt, allen voran von denen der Ökonomie und der Außenpolitik.84 Dass vom staatswirtschaftlich-fiskalischen Potenzial zu einem ganz erheblichen Teil die Chancen zur Durchsetzung der souveränen Entscheidung abhängen, bedarf wohl kaum der näheren Erläuterung; Beamte müssen bezahlt, die Armee finanziert werden.85 Gleichzeitig bestimmt sich die Legitimität einer staatlich-politischen Ordnung, wenn auch nicht ausschließlich, daher, ob sie die wirtschaftliche Prosperität verschiedener Bevölkerungsgruppen garantieren kann. Es wird noch zu zeigen sein, inwiefern die ökonomische Situation des preußischen Staats und die seiner Einwohner zu einer wesentlichen politischen Determinante wurde. Am Ende waren die wirtschaftlichen, sozialen und allgemeinen innenpolitischen Verhältnisse nach 1807 in erster Linie derivate Erscheinungen der alles prägenden 82
Für einen ähnlichen Ansatz treten ein Neugebauer, Das alte Preußen, S. 465. Ders., Zur Geschichte des preußischen Untertanen – besonders im 18. Jahrhundert, in: FBPG N. F. 13 (2003), S. 141 – 161, hier S. 142 – 144. 83 Schmitt, Theologie, S. 69. 84 Siehe zu den Möglichkeiten, aber auch den Grenzen eines kommunikationshistorischen Ansatzes im Bereich der Außenpolitik Frank Bösch/Peter Hoeres, Im Bann der Öffentlichkeit? Der Wandel der Außenpolitik im Medienzeitalter, in: Dies. (Hrsg.), Außenpolitik im Medienzeitalter. Vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Geschichte der Gegenwart, 8), Göttingen 2013, S. 7 – 35, hier v. a. S. 7 – 15. Peter Hoeres, Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-deutschen Beziehungen von Erhard bis Brandt (Studien zur Internationalen Geschichte, 32), München 2013, S. 33 – 35. Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 70), München 2011, S. 14 – 16. Siehe als Anwendungsbeispiel auch Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen 1896 – 1912 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 64), München 2007, S. 29 – 48 und passim. 85 Eindringlich nachgewiesen etwa von Jean Bérenger, Finances et Absolutisme austriechien dans la seconde moitié du XVIIe siècle, 2 Bde., Lille/Paris 1975, hier Bd. 2, S. 527 f. Siehe auch Asch/Duchhardt, Einleitung, S. 11 f. und hier besonders die Literaturangaben in Fn. 33 und 34.
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A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
außenpolitischen Situation. Die Außenpolitik „was the central preoccupation in Prussian politics throughout the Revolutionary and Napoleonic period“86. Da kein anderer Politikbereich die politische Entwicklung Preußens in dieser Zeit so nachhaltig prägte und bestimmte, besitzt die Außenpolitik eine primäre Bedeutung für diese Untersuchung. Eine solche, zunächst vom Standpunkt der außenpolitischen Verhältnisse ausgehende Betrachtung der staatlichen Entwicklung Preußens hat ihre Vorläufer: Leopold von Ranke, Wilhelm Dilthey und Otto Hintze sahen in der außenpolitischen wie geographischen Lage den entscheidenden Faktor der geschichtlichen Entwicklung des Staats, speziell auch des preußischen.87 Mindestens genauso alt wie dieses Interpretament ist auch die Kritik daran, die zunächst von einer materialistisch orientierten Geschichtsschreibung und dann von Seiten der Historischen Sozialwissenschaft ausging, die ihrerseits einen Primat der Innenpolitik postulierte. Im Gegensatz zu solchen Ansätzen, die mit einem gewissen Anspruch auf Ausschließlichkeit vertreten wurden und meist von politischen wie normativen Standpunkten motiviert waren, soll hier in Anknüpfung vor allem an Brendan Simms die Außenpolitik zumindest für die Zeit der Revolutionskriege als wesentlicher, wenn auch nicht allein maßgeblicher Faktor der politischen Geschichte Preußens verstanden werden.88 Die außenpolitische Sphäre wird also nicht isoliert von der Innenpolitik behandelt; beide Politikbereiche durchdringen und bedingen einander und diese Studie versucht, dieses Wechselverhältnis einzufangen. Bodins Souveränitätskonzeption verlangt dies geradezu, schließlich ist darin die doppelte Gebundenheit der Herrschaft an äußere und innere Faktoren über die Konstruktion einer inneren und äußeren Souveränität gedanklich erfasst. Die Außenpolitik kann Imperative vorgeben, welche die Entscheidungsfreiheit des Souveräns einschränken, wenn nicht vollständig aufheben – im preußischen Fall war dies der Imperativ „Napoleon“. Der französische Konsul und schließlich Kaiser 86 Brendan Simms, The Impact of Napoleon. Prussian high Politics, foreign Policy and the Crisis of the Executive 1797 – 1806, Cambridge 1997, S. 16. 87 Siehe Leopold v. Ranke, Politisches Gespräch, in: Ders., Die großen Mächte – Politisches Gespräch, mit einem Nachwort von Theodor Schieder, Göttingen 1955, S. 44 – 73, hier v. a. S. 60 und 65. Wilhelm Dilthey, Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung, in: Ders., Studien zur Geschichte des deutschen Geistes (Gesammelte Schriften, 3), 2. Aufl., Stuttgart 1959, S. 83 – 205, hier v. a. S. 177 – 190. Für Hintze siehe u. a. Otto Hintze, Staatenbildung und Verfassungsentwicklung. Eine historisch-politische Studie, in: Ders, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, S. 34 – 51, hier v. a. S. 35 – 38, wobei Hintze ausdrücklich den außenpolitischen Faktor nicht als den alleinentscheidenden ansah. Sowie Ders., Staatsverfassung, v. a. S. 53. Ders., Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 1916, S. VI f. Ders., Wesen, S. 474. Siehe repräsentativ für die jüngere Forschung Neugebauer, Staatsbildung, S. 186 f. 88 Siehe Simms, Impact, S. 2 – 18, hier das Zitat S. 16, hier auch zur Kritik am Primat der Außenpolitik von Karl Lamprecht, über Eckart Kehr bis Hans-Ulrich Wehler (S. 6 – 8). Zum (erneuten) Bedeutungsgewinn der Außenpolitik bzw. der Internationalen Beziehungen in der Geschichtswissenschaft siehe Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten (Studien zur Internationalen Geschichte, 10), München 2000.
II. Multiperspektivität und Souveränität: Zu Theorie und Methode
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verfolgte eine hegemoniale Politik, die auf die Zertrümmerung der bestehenden europäischen Staaten- und Völkerrechtsordnung hinauslief. Der Frieden, den Frankreich mit Preußen am 9. Juli 1807 zu Tilsit schloss, war Ausdruck dieser imperialen Machtaspirationen. Im Verlaufe dieser Untersuchung wird unter Einbeziehung völkerrechtsgeschichtlicher Fragen verschiedentlich nachzuweisen sein, inwieweit dieser Friedensschluss geradezu charakteristisch für den europäischen Norm- und Ordnungsbruch ist, den die Revolution und in ihrem Gefolge Napoleon begingen. Für Preußen bedeutete der Friedensvertrag eine tiefe Zäsur und ein Momentum, das die Entwicklung der Hohenzollernmonarchie nachhaltig beeinflusste. Während nach der Niederlage von Jena und Auerstedt, die häufig als Wendepunkt der preußischen Geschichte angesehen wird, der Krieg noch mehrere Monate andauerte und das Kriegsglück in dieser Zeit noch öfter wechselte, gab erst der Frieden von Tilsit die Rahmenbedingungen der preußischen Politik für die kommenden Jahre vor. Das offensichtlichste Ergebnis des Friedens, die territoriale Verkleinerung des preußischen Staats, wog verglichen mit anderen mittel- bis langfristigen Auswirkungen des Vertrags und der weiteren Folgeabkommen nicht einmal sonderlich schwer. In der Königsberger Konvention, die am 12. Juli 1807 geschlossen wurde, machte die französische Seite die Bezahlung rückständiger Kriegskontributionen zur Bedingung des Abzugs der Grande Armée aus Preußen. Auf diese Weise sicherte sich Napoleon über den Krieg hinaus die Verfügungsgewalt über weite Teile des preußischen Staats und besaß ein beständiges Druckmittel, um die Führung Preußens zu weiteren Zugeständnissen zu zwingen. Im Sommer 1808 sah sich deshalb König Friedrich Wilhelm III., dessen Persönlichkeit und Herrschaftsverständnis nicht ohne Belang für das Problem monarchischer Souveränität waren, gezwungen, in den Vertrag von Paris einzuwilligen, der endlich die Kontributionssumme fixierte und den Abzug der französischen Truppen einleitete. Dass aber zugleich strategisch wertvolle Festungen entlang der Oder in der Hand der französischen Armee verblieben, bedeutete zusammen mit den hohen Zahlungsverbindlichkeiten und dem machtpolitischen Übergewicht Frankreichs, dass die äußere Souveränität Preußens auch weiterhin eingeschränkt blieb.89 Nach einer Darstellung der außenpolitischen Konstellationen, die zum Tilsiter Frieden führten und diesen bedingten, sowie der Friedensverhandlungen, die nach einer historiographischen Neubetrachtung verlangten, die nicht nur nach den Zielen 89
Eine zumindest eingeschränkte preußische Souveränität attestierten u. a. auch Kurt A. Jeserich, Preußen und Frankreich 1807 – 1812. Zur Frage der preußischen Kontributionen, in: Wilfried Feldenkirchen/Günther Schulz (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 120a/b), 2 Bde., Stuttgart 1995, hier Bd. 1, S. 150 – 165, hier S. 163. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., Stuttgart 1957 – 1991, hier Bd. 1, S. 114 f. Hanna Schissler, Einleitung: Preußische Finanzpolitik 1806 – 1820, in: Eckart Kehr (Bearb.), Preußische Finanzpolitik 1806 – 1810. Quellen zur Verwaltung der Ministerien Stein und Altenstein, hrsg. v. Hanna Schissler/Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1984, S. 13 – 64, hier S. 38.
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A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
der Verhandlungspartner fragt, sondern auch performative Gesichtspunkte berücksichtigt,90 werden in Kapitel C. die Reaktionen von König und Regierung auf diesen äußeren Souveränitätsverlust rekonstruiert. Im Fokus stehen dabei zunächst die sogenannten Friedensvollziehungsverhandlungen, die zwischen dem französischen Generalintendanten Daru und einer preußischen „Friedensvollziehungskommission“ geführt wurden und in denen es vorrangig um die Festlegung der endgültigen Grenzziehung und die Fixierung der Kontributionssumme ging. Die Verhandlungen erschließen sich allerdings erst vor dem Hintergrund der gesamteuropäischen Konfliktlagen vollständig; insbesondere der alles überwölbende russisch-französische Gegensatz, der sich von Finnland, über Polen bis in den südosteuropäischen Raum erstreckte, wirkte konstitutiv. Solche geopolitisch-räumlichen Gesichtspunkte, die allmählich in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Internationalen Beziehungen wiedererkannt werden,91 stellen geradezu den Schlüssel zum Verständnis der außenpolitischen Lage Preußens nach 1807 dar. Die Friedensvollziehungsverhandlungen, mit denen sich schon frühere Historikergenerationen auseinandersetzten, werden nicht mehr bloß rekonstruiert, sondern auf die jeweiligen Argumentationsstrategien hin untersucht, anhand derer sich nicht zuletzt der normative Bezugsrahmen der Parteien bestimmen lässt. Schließlich blieb Preußen gerade dadurch, dass die französische Seite konsequent den völkerrechtlichen Minimalkonsens negierte, ein wirklicher Friedenszustand verwehrt; zumindest, wenn man von einem Friedensbegriff ausgeht, der sich nicht allein negativ aus der Abwesenheit des Kriegs definiert, sondern die Existenz einer Stabilität und Sicherheit gewährleistenden Ordnung bedingt.92 Die im Titel dieser Studie ange90 Zur Performativität des Politischen siehe Erika Fischer-Lichte, Performativität und Ereignis, in: Dies./Christian Horn/Sandra Ulmathum/Matthias Warstat (Hrsg.), Performativität und Ereignis (Theatralität, 4), Tübingen/Basel 2003, S. 11 – 37, hier v. a. S. 28. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: Dies. (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur, 19), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1 – 31, hier passim. 91 Siehe Jürgen Osterhammel, Raumbeziehungen. Internationale Geschichte, Geopolitik und historische Geographie, in: Ders./Loth, Internationale Geschichte, S. 287 – 308, hier passim. 92 Siehe hierzu u. a. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, 6 Bde., Darmstadt 1956 – 1964, hier Bd. 6, S. 193 – 251, hier S. 196 und passim. Siehe zum Verständnis von Frieden als Ordnung Andreas Zimmer, Friedensverträge im Völkerrecht, Koblenz 1989, S. 116. Speziell zum ordo-Denken der Antike und bei Augustinus siehe Wilhelm Geerlings, Augustinus und der antike Friedensgedanke, in: Klaus Garber/Jutta Heldt/Friedhelm Jürgensmeier/Ute Szèll (Hrsg.), Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur, München 2001, S. 63 – 81, hier S. 74 – 78. Siehe zum Vergleich auch das juristische Friedensverständnis in Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formenelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979, passim. Fisch betonte, die Notwendigkeit der Anerkennung des „pacta sunt servanda“ als minimaler Anspruch an eine Rechtsordnung, in der sich ein Frieden entwickeln könne und erkannte „Übergangsformen“ in der Empirie an. Siehe ebd. S. 7, 12, hier das Zitat S. 12. Zu den
II. Multiperspektivität und Souveränität: Zu Theorie und Methode
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sprochene „Friedensvollziehung“ bezeichnet deshalb auch im doppelten Sinne neben den diplomatischen Verhandlungen den nicht zu einem Ende gelangten Prozess der Friedensverwirklichung.93 Die Ergebnislosigkeit der Verhandlungen veranlasste Teile der Staatsführung und einzelne preußische Intellektuelle dazu, zum Zweck der Souveränitätswahrung den Krieg im Stile eines „Volkskriegs“ zu propagieren. Für diese Untersuchung sind vorwiegend die Implikationen, die diese Art der Kriegsführung für das Verfassungskonzept einer monarchischen Souveränität mit sich brachte, von Interesse. So erwuchs aus der Weigerung Friedrich Wilhelms III., dem Drängen der Kriegsbefürworter nachzugeben, eine ernstzunehmende Gefahr für die Autorität des Monarchen, wie die Desertion des Majors Ferdinand v. Schill zeigte. Diese Spannungen zwischen dem König und Teilen der militärischen wie zivilen Führung weisen schon auf die Bedeutung der äußeren Souveränitätsbeschränkung für die innere Entwicklung Preußens hin, die Gegenstand von Kapitel D. ist. Die Bedrohung der äußeren Souveränität verursachte eine Souveränitätskrise im Innern. Nach 1807 begann ein Abschnitt preußischer Geschichte, der gerade auch auf politischem Gebiet vom Übergang und von der Veränderung geprägt war; der Begriff der „Krise“ bezeichnet deshalb hier in seiner ursprünglichsten Bedeutung eine „liminale Phase“ der historischen Entwicklung. Die politischen Kräfteverhältnisse verschoben sich, in der Krise wurde die Herrschaftsordnung diskutabel, verhandelund vor allem kritisierbar.94 Ausgelöst wurde diese Entwicklung nicht zuletzt von der Schwierigkeiten der Definition des Friedens siehe u. a. Dolf Sternberger, Über die verschiedenen Begriffe des Friedens (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, XXI, 1), Stuttgart 1984, v. a. S. 8 – 11. Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 15 f., 19 f. Reinhard Meyers, Begriff und Probleme des Friedens, Opladen 1994, S. 24 f., 151. 93 Siehe hierzu auch das Verständnis vom Frieden als diplomatischen Prozess bei Heinz Duchhardt, Der frühneuzeitliche Friedensprozess, in: Hans-Martin Kaulbach (Hrsg.), Friedensbilder in Europa 1450 – 1815. Kunst der Diplomatie – Diplomatie der Kunst, Berlin/ München 2013, S. 9 – 19, hier S. 12, 18. 94 Siehe zum Krisenbegriff Rudolf Vierhaus, Politische und historische Krisen – Auf dem Weg zu einer historischen Krisenforschung, in: Max-Planck-Gesellschaft Jahrbuch 1979, Göttingen 1979, S. 72 – 85, hier passim. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt 1997, S. 105. Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignung in Deutschland 1918 – 1933 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 24), München 2008, S. 361 f. Thomas Mergel, Krisen als Wahrnehmungsphänomene, in: Ders. (Hrsg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Vergleich, 21), Frankfurt a. M./New York 2012, S. 9 – 22, hier S. 13 – 17, hier das Zitat S. 15. Mergel betont hier die Zusammenhänge zwischen Krise und Kritik und spricht von der „Kritik [als] die Mutter der Krise“. Siehe ebd., das Zitat S. 17. Verschiedentlich wurde schon der Zustand Preußens (vor und nach 1806) als krisenhaft beschrieben, allerdings ohne, dass größere theoretische Konsequenzen daraus gezogen wurden. Siehe u. a. Kurt von Raumer, Deutschland um 1800. Krise und Neugestaltung. Von 1789 bis 1815, in: Otto Brandt/ Arnold O. Meyer/Leo Just (Hrsg.), Handbuch der deutschen Geschichte, 6 Bde., Konstanz/
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A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
Besatzungssituation, in deren Beschreibung sich Mentalitäts-, Sozial-, Wirtschafts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte begegnen.95 Eine der bedeutsamsten Folgen der Okkupation war, dass die Besatzungsmacht die preußische Staatsgewalt aus dem Raum zwischen Elbe und Passarge (später zwischen Elbe und Weichsel) verdrängte. Während dieser „Abwesenheit“ des Staats (und räumlich gesehen auch des nach Memel geflüchteten Monarchen) übernahmen die Stände zentrale, vorwiegend finanzadministrative Aufgaben und erfuhren einen politischen Bedeutungsgewinn, den sie nach dem Abzug der französischen Armee in Positionsgewinne gegenüber der preußischen Staatsführung umzumünzen suchten. Ob es den Ständen gelang, nachhaltig an der souveränen Entscheidungsfindung zu partizipieren oder zumindest Einzelentscheidung nach der eigenen Interessenlage zu beeinflussen, ist eine Frage von zentraler Relevanz für das Problem der Souveränität zwischen 1807 und 1810. Die Bestrebungen der Stände liefen den Plänen des reformorientierten Teils des preußischen Beamtentums geradewegs entgegen, der ein reformpolitisches Programm verfolgte, das – vergleichbar der Reformtendenzen in anderen Staaten – vornehmlich auf die Weiterführung des Staatsbildungsprozesses und mithin den Ausbau der inneren Souveränität hinauslief.96 Die Staatsgewalt sollte weiter intensiviert, partikulare sowie die Reste feudaler Gewalten beseitigt und der Untertan in ein direktes, also staatsunmittelbares Verhältnis zum Souverän gerückt werden. Die Hauptintention, die so unterschiedlichen Reformkonzeptionen wie die des Freiherrn vom Stein oder von Karl August v. Hardenberg zugrunde lag, war, die Voraussetzungen für eine umfassende Mobilisierung der materiellen wie ideellen Ressourcen von Staat und Bevölkerung zu schaffen; der letztendliche Zweck war nach Auffassung der Protagonisten die Aufrechterhaltung der Frieden und Sicherheit (und den Menschheitsfortschritt) garantierenden staatlichen Ordnung. Die Außenpolitik, der „Zwang der allgemeinen politischen Lage“97, war daher der entscheidende Anstoß Wiesbaden 1957 – 1985, hier Bd. 3/Ia, S. 3 – 430, hier S. 182 f., 355 f. Hanna Schissler, Preußische Finanzpolitik nach 1807. Die Bedeutung der Staatsverschuldung als Faktor der Modernisierung des preußischen Finanzsystems, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), S. 367 – 385, hier S. 367. Münchow-Pohl, Reform, S. 385 – 443. 95 Siehe zur Erforschung von Besatzungssituationen Horst Carl, Französische Besatzungsherrschaft im Alten Reich. Völkerrechtliche, verwaltungs- und erfahrungsgeschichtliche Kontinuitätslinien französischer Okkupationen am Niederrhein im 17. und 18. Jahrhundert, in: Francia 23/2 (1996), S. 33 – 64, hier S. 33 – 35. Siehe auch die Anwendungsbeispiele in Günther Kronenbitter/Markus Pöhlmann/Walter Dieter (Hrsg.), Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (Krieg in der Geschichte, 28), Paderborn/München/Wien/Zürich 2006. 96 Ein ähnliches Verständnis von den Reformen als Staats- und Souveränitätsausbau haben auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, 3 Bde., München 1983 – 1992, hier Bd. 1, 5. Aufl., München 1991, S. 32 und Nolte, Staatsbildung, S. 32 – 34, 43 – 47. 97 Hintze, Hohenzollern, S. 402. Siehe auch Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 3. Aufl., Stuttgart 1981, S. 167.
III. Quellenbestand und Formalia
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für die Reformen und wirkte auf diese präfigurierend. Die intendierte Rationalisierung der Administration stellte am Ende aber auch die Position des Monarchen als Alleinherrscher in Frage und wurde somit zu einem Faktor des Souveränitätswandels. Diesem Wandel als Folge der Reformen wird in Kapitel E. I. ebenso nachgegangen wie den Repräsentationsplänen der Ministerien Stein und Altenstein-Dohna, die in dem Bewusstsein entstanden, dass politische Herrschaft im Zeitalter der Revolution und einer revolutionierten Kriegsführung neue Legitimationsmuster verlangte. Die unmittelbare Berührung der Bevölkerung mit dem Politischen als Folge des Kriegs, der Okkupation und der materiellen Inanspruchnahme durch den preußischen Staat blieb in sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht nicht ohne Folgen. Der Politisierungsschub, den Stadt- und Landbevölkerung in den Jahren nach 1807 erfuhren, mündete in einer lebhaften, kritischen Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik wie dem Phänomen „Politik“ überhaupt; diese Kritik hatte partizipative Tendenzen und wurde zum Reizmittel eines innerpreußischen politischen Diskurses. Die Reaktionen von staatlicher Seite auf das in diesem Ausmaß bisher ungekannte kritisch-kommunikative Potenzial und die schon über Bodin hinausweisende Staatskonzeption der führenden Reformbeamten wird den Schlusspunkt von Kapitel E. II. bilden. Die vielfältigen politischen Konfliktherde, die sich nach 1807 in Preußen auftaten, waren zu Beginn der Staatskanzlerschaft Hardenbergs noch lange nicht beseitigt. Im Gegenteil: Der von Hardenberg mit noch größerer Konsequenz betriebene innere Souveränitätsausbau spitzte beispielsweise die Auseinandersetzung mit den Ständen noch einmal deutlich zu. Auch blieben die außenpolitischen Problemfelder für Preußen in der Zeit nach dem Scheitern des Ministeriums Dohna-Altenstein vorerst dieselben, denn eine der größten politischen Herausforderungen war auch für Hardenberg die preußische Abhängigkeit von Frankreich und das Problem der Kontributionen. Bald sah sich die preußische Staatsführung aber mit Problemen ganz neuer Art und Qualität konfrontiert, allen voran mit den Kriegen gegen das französische Hegemonialsystem. Aufgrund der Veränderung des außenpolitischen und letztendlich auch innenpolitischen Rahmens in den Jahren nach 1810 wird die Staatskanzlerschaft Hardenbergs nicht mehr schwerpunktmäßig behandelt werden; doch werden die längerfristigen Auswirkungen des Tilsiter Friedens für die historische Entwicklung Preußens und die europäischen Reaktionen auf den revolutionären Ordnungsbruch eine abschließende Würdigung erfahren.
III. Quellenbestand und Formalia Der Quellenbestand, der für diese Untersuchung herangezogen wurde, ist entsprechend des multiperspektivischen Ansatzes vergleichsweise heterogen. Zur Rekonstruktion der Friedensvollziehungsverhandlungen war neben den einschlägigen
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A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
Quellensammlungen von Paul Bailleu, Serge Tatistcheff und den Editionen des Briefwechsels Napoleons insbesondere die Überlieferung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz maßgeblich;98 allen voran die Akten der preußischen Gesandtschaft Paris99, des Außenministeriums100 und der Friedensvollziehungskommission101 wurden einer kritischen Prüfung unterzogen, so dass sich die diplomatiegeschichtlichen Prozesse rund um den Tilsiter Frieden weitgehend erschließen ließen. Komplexer stellt sich der Quellenkorpus dar, der Aufschluss über die inneren Verhältnisse gab, wobei auch in diesem Fall die Bestände des Geheimen Staatsarchivs von besonderer Relevanz waren. So gaben die dort lagernden Akten des Generaldirektoriums102 einen tieferen Einblick in die Organisation der französischen Besatzungsverwaltung; ergänzend traten die Immediatberichte der Friedensvollziehungskommission hinzu, in denen auch über die Lage der Bevölkerung berichtet wurde. Unter dem gedruckten Material muss in diesem Zusammenhang besonders die Edition von Hermann Granier „Berichte aus der Berliner Franzosenzeit 1807 – 1809“103 erwähnt werden, die auch die Überlieferung des Pariser Kriegsarchivs berücksichtigt. Die Reaktionen der Einwohner Berlins auf die Okkupation ließen sich auch mit Hilfe der von der Forschung offensichtlich bislang nicht beachteten Polizeiberichte der französischen Sicherheitsbehörden rekonstruieren, die als Abschriften in den Akten des Großen Generalstabs (Kriegsgeschichtliche Abteilung)104 entdeckt wurden. Vom Standpunkt der Quellenkritik betrachtet, ist dieser Fund nicht unerheblich, da die preußischen Quellen, insbesondere die Immediat- und Zeitungsberichte der Friedensvollziehungskommission, der Generalzivilkommissare und der Kammern, stets die Möglichkeit in sich bargen, dass abhängig von den Intentionen der Verfasser die Lage entweder dramatisiert oder verharmlost wurde. Durch das vergleichende Heranziehen ergänzender Quellenbestände konnte den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die Interpretation aber nur teilweise begegnet werden, denn bedauerlicherweise ist mit Ausnahme von Breslau und Berlin die Überlieferung, die Auskunft über das Verhalten der städtischen und ländlichen Bevölkerung während der Besetzung gibt, ausgesprochen lückenhaft. Auch für die anderen Untersuchungsfelder ist die Quellenlage nicht vollständig befriedigend. So sind nur die Akten des Generalzivilkommissariats für Pommern und 98 Bailleu, Preußen und Frankreich. Ders., Briefwechsel. Tatistcheff, Alexandre. Napoleon, Correspondance. Napoleon Bonaparte, Correspondance générale, 13 Bde., Paris 2004 – 2016. 99 GStA PK, I. HA Rep. 81. 100 Ebd., III. HA, Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten (im Folgenden abgekürzt: MdA) 101 Ebd., I. HA, Rep. 72. 102 Ebd., II. HA, v. a. Abt. 24 Generalakzise- und Zolldepartement. 103 Hermann Granier (Hrsg.), Berichte aus der Berliner Franzosenzeit 1807 – 1809. Nach den Akten des Geheimen Staatsarchivs und des Pariser Kriegsarchivs (Publikationen aus den Kgl. Preussischen Staatsarchiven, 88), Osnabrück 1969 (Ndr. d. Ausg. v. 1913). 104 GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 29 – 33.
III. Quellenbestand und Formalia
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die Neumark105 annähernd vollständig erhalten, weshalb sich die konkreten Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche der Kommissare nurmehr in Grundzügen nachvollziehen ließen. Noch problematischer war jeder Versuch, die Stimmung der Bevölkerung während der Jahre zwischen 1807 und 1810 tiefergehend zu ergründen – eine Schwierigkeit, die schon andere Forscher beschäftigte.106 Münchow-Pohl gelang es, unter Verwendung eines recht breiten Quellenkorpus ein einigermaßen überzeugendes Stimmungsbild zu zeichnen;107 diese Forschungsergebnisse konnten beispielsweise durch den Nachweis verschiedenster Formen von Widerständigkeit erweitert, ergänzt und in manchen Punkten korrigiert werden. Neue Erkenntnisse lieferten in diesem Zusammenhang vorrangig die Quellen des Innen-108 und Justizministeriums109, die Münchow-Pohl nicht erschöpfend berücksichtigte. Aufschlussreich war zudem das im Brandenburgischen Landeshauptarchiv aufbewahrte Schriftgut der Regierungen, Kammern und aus den Kreisen110 sowie die im Geheimen Staatsarchiv vorhandenen Akten des Geheimen Zivilkabinetts111. Aufgrund der Bedeutung des Zivilkabinetts als Mittelpunkt der Regierungsverwaltung erfuhr dessen Aktenniederschlag überhaupt besondere Berücksichtigung; die dort und im Finanzministerium112 eingegangenen Eingaben aus der Bevölkerung gaben etwa auch über die gesellschaftliche Breite des Reformdiskurses in Preußen Auskunft. Ein entscheidender Auslöser für das sich in Preußen allgemein regende politische Interesse und die Vitalität des ständischen Lebens jener Jahre war die ökonomische Situation und der Zustand der Staatsfinanzen. Eckart Kehr wollte mit seiner in der Zwischenkriegszeit konzipierten Quellensammlung zur preußischen Finanzpolitik der Jahre von 1806 bis 1810,113 die erst 1984 von Hanna Schissler und Hans-Ulrich Wehler herausgegeben wurde, einen Einblick in diese komplexen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge geben. Die Auswahl Kehrs ist aufgrund seiner theoretischen wie politischen Orientierung am Historischen Materialismus und am Sozialismus höchst selektiv. Nichtsdestotrotz waren die Dokumente, die er zusammentrug, eine nützliche Ergänzung zu den Akten des Geheimen Zivilkabinetts, des Finanzministeriums und zur regionalen Überlieferung.
105
Ebd., I. HA, Rep. 146. Siehe etwa die Versuche zur Bestimmung des Verhältnisses von Untertanen und Monarchen von Monika Wienfort in dies., Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, 4), Göttingen 1993. Siehe auch Büschel, Untertanenliebe, passim. 107 Siehe dessen Hinweise zur problematischen Quellenlage: Münchow-Pohl, Reform, S. 26 – 29. 108 GStA PK, I. HA, Rep. 77. 109 Ebd., Rep. 84a. 110 BLHA, Rep. 2 A, Rep. 3B, Rep. 6 A. 111 GStA PK, I. HA. Rep. 89. 112 Ebd., Rep. 151 I A. 113 Kehr, Finanzpolitik. 106
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A. Preußische Souveränität im Zeitalter der Revolutionskriege
Deutlich umfangreicher ist das gedruckte Quellenmaterial zur Reformgesetzgebung und zu den innerbürokratischen Entscheidungsprozessen. Die Quellensammlungen und -editionen von Georg Winter, Rudolf Vaupel, Heinrich Scheel und Doris Schmidt, Manfred Botzenhart und Walther Hubatsch, Johannes Kunisch und anderen sind für die Zeit der Ministerien Stein und Altenstein-Dohna recht ergiebig und bedurften, da der Schwerpunkt dieser Untersuchung nicht auf den Reformen liegt, nur in Einzelfällen der archivalischen Ergänzung.114 Abschließend sind noch zur genaueren Erläuterung einige wenige Anmerkungen zu Schreibweisen und Bezeichnungen im folgenden Text zu machen: Der Wortlaut entspricht bei Quellenzitaten der Originalüberlieferung, nur bei Wortverbindungen wurde statt des gelegentlich anzutreffenden „=“ der heute gebräuchliche Bindestrich („-“) verwendet. Außerdem wurde, außer es handelte sich um ein direktes Zitat, bei Behördenbezeichnungen „k“ statt „c“ geschrieben und die Orthographie an die moderne Schreibweise angepasst; so heißt es etwa „Direktorium“ und nicht „Directorium“, oder „Generalakzise- und Zolldepartement“ anstelle von „GeneralAccise- und Zoll-Departement“. Französische Personennamen sind wiederum in der im Deutschen üblichen Form zu finden, zumindest sofern es sich um Personen handelt, die allgemein bekannt sind (also „Napoleon“ statt „Napoléon“ und „Jerome Bonaparte“ statt „Jérôme Bonaparte“). Ansonsten wurde sich hinsichtlich der Schreibweise am „Dictionnaire Napoléon“ orientiert.115 Schließlich wurden Mengenangaben in aller Regel auf- beziehungsweise abgerundet. Nicht unerheblich ist zudem der Hinweis, dass, sollte es sich um Personen im zivilen Staatsdienst handeln, „Beamter“ oder „Offiziant“ geschrieben steht; zur Unterscheidung von der zeitgenössischen Verwendung des Wortes „Beamter“ für die Verwalter preußischer Domänen werden diese „Domänenbeamte“ genannt. Des Weiteren ist mit „Regierung“ in aller Regel die Zentralregierung in Memel beziehungsweise Königsberg gemeint, während die Kammern, die ab 1808 ebenfalls 114 Georg Winter (Bearb.), Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg. Erster Teil: Allgemeine Verwaltungs- und Behördenreform (Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven, 93), Leipzig 1931. Rudolf Vaupel (Bearb.), Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg. Zweiter Teil: Das Preussische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1807 – 1814 (Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven, 94), Osnabrück 1968 (Ndr. d. Ausg. v. 1938). Heinrich Scheel (Hrsg.), Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08 (Schriften des Instituts für Geschichte, Reihe I: Allgemeine und Deutsche Geschichte, Band 31/ A–C), bearb. v. Doris Schmidt, 3 Bde., Berlin 1966 – 1968. Ders. (Hrsg.), Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsministerium Altenstein/Dohna, bearb. v. Doris Schmidt (Schriften des Zentralinstituts für Geschichte, 54), Berlin 1986. Walther Hubatsch (Hrsg.), Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearbeitet von Erich Botzenhart, neu bearbeitet von Peter G. Thielen, 10 Bde., Stuttgart 1957 – 1974, hier v. a. Bde. 2.1 und 2.2. Johannes Kunisch (Hrsg.), Gerhard von Scharnhorst. Private und dienstliche Schriften (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz, 52,1 – 52,8), in Verbindung mit Michael Sikora, bearbeitet von Tilman Stieve, 8 Bde., Köln/Weimar/Wien 2002 – 2014, hier v. a. Bde. 4 und 5. 115 Jean Tulard (Hrsg.), Dictionnaire Napoléon, 2 Bde., 2. Aufl., Paris 1999.
III. Quellenbestand und Formalia
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„Regierungen“ hießen, im Text als „Provinzialregierungen“ bezeichnet werden; sollte sich aber das Wort „Regierung“ auf die bis 1808 so betitelten Justizkollegien beziehen, so ergibt sich die Bedeutung eindeutig aus dem Kontext.
B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung I. Preußen als Objekt der europäischen Politik 1795 – 1806 „Les conditions du concours de la Prusse sont impérieusement dictées par sa position géographique“.1
Das Schicksal des preußischen Staats, seine innere wie äußere Lage, war zu jeder Zeit wesentlich von dessen geographischer Lage sowie der ihn umgebenden allgemeinen politischen Kräfteordnung bedingt.2 Die externen Faktoren des Raumes und der Ordnung müssen notwendigerweise auch den Beginn dieser Untersuchung bilden, deren Ausgangspunkt mit dem Tilsiter Friedensschluss ein außenpolitisches Ereignis ist. Die Geschichte des preußischen Königreiches zwischen 1807 und 1810 hing entscheidend von der Verortung Preußens inmitten des größeren, weltpolitischen Gegensatzes zwischen den beiden kontinentalen Flügelmächten Russland und Frankreich ab.3 Vom Mittelmeer, über den Balkan bis nach Mittel- und Nordosteuropa erstreckte sich ein Interessengegensatz, der den Handlungsspielraum der preußischen Politik entscheidend begrenzte. Der Handschlag zwischen Napoleon und Alexander I. auf der Memel am 25. Juni 1807, dem Friedrich Wilhelm III. vom Ufer aus zusah, war sinnfälliger Ausdruck dieser äußeren Abhängigkeit Preußens. Die außenpolitischen Konfliktlagen, die zu diesem Ereignis führten, blieben auch über den Frieden von Tilsit hinaus Determinanten preußischer Politik. Zu Beginn der Koalitionskriege war ein Konflikt zwischen Frankreich und Russland noch kaum absehbar. Die Zarin Katharina II., deren machtpolitische Ambitionen sich vorwiegend gegen das Osmanische Reich richteten, hatte kein 1 Aus dem Memorandum Lombards vom 24. Oktober 1804, zit. n. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 312. 2 Siehe hierzu Kap. A., Fn. 87. Zudem Philip G. Dwyer, The Rise of Prussia, in: Ders. (Hrsg.), The Rise of Prussia 1700 – 1830, London/New York 2000, S. 1 – 26, hier S. 22. 3 So schon erkannt von Leopold v. Ranke, Hardenberg und die Geschichte des preußischen Staates von 1793 – 1813, 3 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1879 – 1881, hier Bd. 3, S. 36. Ähnlich auch Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, S. 163, 180. Philip G. Dwyer, The Two Faces of Prussian Foreign Policy: Karl August von Hardenberg as Foreign Minister 1805 – 1815, in: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“. Eine Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001, S. 75 – 91, hier S. 77 – 79, 83 f.
I. Preußen als Objekt der europäischen Politik 1795 – 1806
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entschiedenes Interesse an einem Krieg mit der neuen Französischen Republik;4 und vordringlichstes Ziel französischer Außenpolitik musste es zunächst sein, die österreich-preußische Invasion zurückzuschlagen, mit der 1792 der Erste Koalitionskrieg begonnen hatte. 1795 gelang es immerhin mit Preußen den Frieden von Basel zu schließen.5 Die darin festgelegte Neutralität Norddeutschlands bedeutete nicht nur das Ende der erfolglosen Interventionspolitik Friedrich Wilhelms II., Preußen schied auch als gestaltende Macht in Europa weitestgehend aus, während die siegreiche Republik die überlieferte europäische Ordnung weiter untergrub.6 Auch der preußische Thronwechsel von 1797 bewirkte keine Abkehr vom Neutralitätskurs. Friedrich Wilhelm III. führte die ererbte außenpolitische Agenda konsequent fort. Häufig wurde eine Verbindung zwischen dieser Außenpolitik und dem Charakter des neuen Königs hergestellt. Seine Schwung- und seine angebliche Entschlusslosigkeit gelten als entscheidende Ursachen für die preußische Passivität.7 Tatsächlich war der neue König kein Herrscher, der zu kühnen Entscheidungen neigte. Aus der Überzeugung heraus, dass „[d]as größte Glück eines Landes in einem fortdauernden Frieden [besteht]“, handelte er oft mit übertrieben erscheinender Umsicht;8 sein ethisch fundiertes Herrschaftsverständnis, mit dem er in der Tradition der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts stand,9 ließ ihn gelegentlich seltsam 4 Zur Außenpolitik Katharinas siehe Hugh Ragsdale, Russian Foreign Policy, 1725 – 1815, in: Ronald Grigor Suny/Dominic Lieven/Maureen Perrie (Hrsg.), The Cambridge History of Russia, 3 Bde., Cambridge 2006, hier Bd. 2, S. 504 – 529, hier S. 507 – 515. Katharina beschränkte sich zunächst darauf, die Revolution mit diplomatischen Mitteln zu bekämpfen. Siehe hierzu Willy Andreas, Das Zeitalter Napoleons und die Erhebung der Völker, Heidelberg 1955, S. 113. 5 Siehe hierzu ebd., S. 151 f. 6 Zur preußischen Neutralitätspolitik und der sich aus ihr ergebenden Probleme siehe Stamm-Kuhlmann, König, S. 181 – 192. Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, 4. Aufl., München 2008, S. 343 – 346, 349 f. Speziell unter Einbeziehung der geopolitischen Zusammenhänge siehe Simms, Impact, S. 159 – 285. Der Begriff „Ordnung“ wird hier in Übereinstimmung mit David Armstrongs aus der Soziologie entlehnten Definition wie folgt verstanden: „Order denotes stability and regularity in the pattern of assumptions, rules, and practices that are accepted as legitimate among the members of a given society and that concern the mechanisms of and limits to the process of change within society.“ David Armstrong, Revolution and World Order. The Revolutionary State in International Society, Oxford 1993, S. 6. Hier auch zur Theoriedebatte um die Bedeutung von „Ordnung“ in den internationalen Beziehungen (S. 4 – 7). 7 Siehe exemplarisch Hintze, Hohenzollern, S. 423. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 5 Bde., Königstein (Ts.)/Düsseldorf 1981 (Ndr. d. Ausg. v. 1912/13), hier Bd. 1, S. 146 – 150. Stamm-Kuhlmann, König, passim. 8 Geradezu programmatisch für das Herrschaftsverständnis des Königs: Friedrich Wilhelm III., Gedanken über die Regierungskunst zu Papier gebracht im Jahre (17)96 – 97. Küntzel, Testamente, Bd. 2, S. 99 – 119, hier S. 99 f., das Zitat S. 99. 9 Siehe hierzu Michael Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts (Monographien zur philosophischen Forschung, 86), Meisenheim a. G. 1972, S. 42 – 72. Stolleis wies hier den Einfluss Christian Garves auf Carl Gottlieb Svarez nach, der als Erzieher einen nicht unerheblichen Einfluss auf das politische Selbstverständnis Friedrich Wilhelms hatte.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
deplatziert in der Welt des Politischen erscheinen. Dafür ist Friedrich Wilhelm vielfach kritisiert worden, doch war seine Politik der Kriegsvermeidung und sein Schwanken zwischen einer Beschwichtigungspolitik gegenüber Frankreich und einer Annäherung an Russland in den Jahren zwischen 1805 und 1813 eine vernunftorientierte Reaktion auf die politischen Gegebenheiten. Preußens geographische Lage zwischen den beiden Kaiserreichen verlangte geradezu nach dem „Finassieren“, bedeutete doch die Allianz mit einem der beiden potenziellen Partner ein immenses Risiko und das Herabsinken der preußischen Monarchie auf den Status eines Juniorpartners. Schon früher hatten Hohenzollernfürsten wie der Große Kurfürst eine ähnliche „Schaukelpolitik“ betrieben, um Preußens Existenz in der Mitte Europas zu garantieren.10 Die Außenpolitik Preußens in den Jahren der Koalitionskriege ist daher mit dem Hinweis auf die vermeintlichen psychologischen Dispositionen des Königs nicht hinreichend erklärt, sondern erschließt sich erst vollumfänglich vor dem Hintergrund ihrer realpolitischen Voraussetzungen. Zunächst brachte die Neutralitätspolitik auch bedeutende Erfolge ein: Das preußische Territorium wurde mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 noch einmal beträchtlich erweitert, ohne dass auch nur ein Schuss hätte abgegeben werden müssen.11 Aber diese Gewinne bildeten bereits den Keim für künftige Konflikte. Mit den neu erworbenen Abteien Essen, Eltern und Werden grenzte Preußen nun unmittelbar an die französische Rheingrenze an. Es war fraglich, ob Preußen noch in der Lage sein würde, das eigene Territorium, das nun eine erhebliche West-Ost-Ausdehnung erreichte und dessen politische und kulturelle Heterogenität noch einmal zugenommen hatte, effektiv herrschaftlich zu durchdringen, geschweige denn zu verteidigen. Die preußischen politischen und militärischen Kräfte waren überdehnt,12 und es ergaben sich neue geopolitische Imperative. Nun gewann das welfische Hannover als Landbrücke zwischen den westlichen und östlichen Territorien essentielle strategische Bedeutung, wodurch das Konfliktpotenzial mit England zwangsläufig vermehrt wurde.13 Russland hatte die eigenen Interessen bei den Verhandlungen um den Reichsdeputationshauptschluss entschlossen verfochten;14 ansonsten verfolgte Alexander I. jedoch eine ausgesprochene Détentepolitik, die am 8. Oktober 1801 in einen Frieden
10
Siehe hierzu Clark, Preußen, S. 76 – 78, 349 f., hier das Zitat S. 77. Allgemein zum Reichsdeputationshauptschluss siehe Andreas, Zeitalter, S. 289 – 291, 295 f. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 42 – 61. 12 Siehe hierzu auch die auf Imperien bezogene These Kennedys in Paul Kennedy, The Rise and Fall of Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987, S. 515. 13 Im Folgenden heißt es, entsprechend der zeitgenössischen deutschen und französischen Verwendung, „England“, um das „Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland“ zu bezeichnen. 14 Siehe Uta Krüger-Löwenstein, Russland, Frankreich und das Reich 1801 – 1803. Zur Vorgeschichte der 3. Koalition, Wiesbaden 1972, S. 102 – 113. 11
I. Preußen als Objekt der europäischen Politik 1795 – 1806
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mit Frankreich mündete.15 Die kurze gesamteuropäische Friedensphase, die auf den französisch-englischen Friedensvertrag vom Amiens folgte, war aber nur von kurzer Dauer.16 Alexander sah allmählich ein, dass das Konzept von einer friedlichen Neubalancierung des europäischen Mächtesystems angesichts der Expansionspolitik Napoleons zum Scheitern verurteilt war.17 So betrachtete man in St. Petersburg das französische Vorgehen auf der italienischen Halbinsel mit größter Beunruhigung.18 Der adriatisch-ionische Raum, der das Einfallstor zum Balkan darstellte und in dem sich Russland seit der Besetzung der Ionischen Inseln festgesetzt hatte,19 entwickelte sich zunehmend zu einem zentralen Konfliktfeld. Der Macht, so das beiderseitige Kalkül, die sich hier festzusetzen vermochte, schien der Weg in Richtung Konstantinopel offenzustehen. Die Stadt am Bosporus galt als der entscheidende geopolitische Angelpunkt zur Beherrschung Vorderasiens; hier kollidierte die Absicht Napoleons, eine beherrschende Stellung im östlichen Mittelmeer einzunehmen mit dem „Griechischen Projekt“, das man in Russland auch nach dem Tod Katharinas nicht aus den Augen verloren hatte.20 Diese Auseinandersetzung um das Schicksal des Osmanischen Reiches, welche die europäische Politik während des gesamten langen 19. Jahrhunderts in Atem halten sollte, entwickelte sich zur Nagelprobe auf das Verhältnis zwischen Russland und Frankreich. Angesichts des Scheiterns der russischen Friedenspolitik entschlossen sich der Zar und Adam Jerzey Czartoryski, der zur Schlüsselfigur der russischen Außenpo15
Siehe Hugh Seton-Watson, The Russian Empire 1801 – 1917 (Oxford History of Modern Europe), Oxford 1967, S. 83 f. Ragsdale, Russian Foreign Policy, S. 520 f. 16 Siehe hierzu Andreas, Zeitalter, S. 268 – 272. 17 Zur außenpolitischen Konzeption Alexanders und seines Außenministers Alexander Vorontsov siehe Patricia Kennedy Grimsted, The Foreign Ministers of Alexander I. Political Attitudes and the Conduct of Russian Diplomacy 1801 – 1825, Berkeley/Los Angeles 1969, S. 94 f., 104 f. 18 Zu den Konfliktfeldern zwischen Frankreich und Russland siehe Ragsdale, Russian Foreign Policy, S. 522. M. S. Anderson, The Eastern Question 1774 – 1923. A Study in International Relations, London 1983, S. 34 f. Adalbert Wahl, Geschichte des Europäischen Staatensystems im Zeitalter der Französischen Revolution und der Freiheitskriege (1789 – 1815) (Handbuch der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte, Abteilung II: Politische Geschichte), München/Berlin 1912, S. 149 f. August Fournier, Napoleon I. Eine Biographie in drei Teilbänden, hrsg. v. Theophile Sauvageot, Essen 1996, hier Bd. 2, S. 63 – 65. Andreas, Zeitalter, S. 324 f. 19 Siehe Anderson, Eastern Question, S. 29 f. 20 Siehe hierzu Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, 2 Bde., Göttingen 1972/1982, hier Bd. 1, S. S. 314 – 316. Speziell zur Rolle des Osmanischen Reiches in Napoleons außenpolitischen Plänen und den sich daraus ergebenden Spannungen zu Russland siehe Albert Vandal, Napoléon et Alexandre Ier. L’Alliance Russe sous le Premier Empire, 3 Bde., Nendeln 1976 (Ndr. d. Ausg. v. 1890 – 1896), hier Bd. 1, S. 3 – 17, 26 f. Édouard Driault, Napoléon et l’Europe, 4 Bde., Paris 1910 – 1924, hier Bd. 3, S. 17 – 24. Speziell zur Griechenlandpolitik Russlands siehe Piers Mackesy, The War in the Mediterranean 1803 – 1810, London/New York/Toronto 1957, S. 45 – 51. Zur russischen Balkan- und Orientpolitik unter Katharina siehe Hamish M. Scott, The Birth of a Great Power System 1740 – 1815, London 2006, S. 187 – 191.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
litik aufgestiegen war, vollständig in das Lager der Napoleongegner überzugehen. Russland, nicht England, wurde daraufhin zum Zentrum der neuen, dritten Koalition.21 Die eigenständige Rolle, die das Zarenreich in den Kriegen gegen Napoleon spielte, darf nicht unterschätzt werden. Dass sich England unter dem Strich länger im Krieg mit Frankreich befand als jede andere europäische Macht hat lange der von Napoleon in die Welt gesetzten Erzählung Vorschub geleistet, wonach die Koalitionskriege vor allem aus dem britisch-französischen Gegensatz herrührten22 – eine grobe Unterschätzung der Bedeutung des Zarenreichs für die europäische und Weltpolitik.23 Der Schwerpunkt der kommenden Kämpfe zwischen Frankreich und der dritten Koalition war wie schon im vorherigen Krieg in Süddeutschland zu erwarten. Damit stellte sich die Frage nach der Stellung Preußens in dem künftigen Konflikt; denn nicht nur, dass die preußische Armee für jede der beiden Parteien eine erhebliche Verstärkung gewesen wäre, dem preußischen Territorium kam eine besondere Bedeutung als strategisch wichtiges Aufmarschgebiet zu. Dementsprechend bemühte sich Frankreich angestrengt um Berlin. Im Sommer 1805 traf der französische Diplomat General Géraud Christophe Michel Duroc in der preußischen Hauptstadt ein, um dem König ein enges Bündnis anzubieten, das Preußen den Besitz von Hannover sichern sollte. Die Mehrheit der Berater Friedrich Wilhelms III., darunter auch der nunmehrige Kabinettsminister Karl August von Hardenberg, sprach sich für die Annahme des Angebots aus. Der König lehnte jedoch mit Blick auf die militärische Stärke Russlands ab.24 Formell bestand seit den Tagen Pauls I. ein Bündnis zwischen Preußen und Russland. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt versuchte Alexander I., hierauf aufbauend die Verbindungen nach Berlin zu intensivieren. Der Zar empfand offenbar auch echte Sympathie für Friedrich Wilhelm III., der diese auch erwiderte. Auf Alexanders Wunsch hin fand im Juni 1802 das erste Treffen zwischen den beiden 21 Zu Czartoryski siehe Grimsted, Foreign Ministers, S. 106. Zum Zustandekommen der Koalition siehe Seton-Watson, Russian Empire, S. 86 – 88. Krüger-Löwenstein, Russland, S. 122 – 126. Bernhard Friedmann/Hans-Jobst Krautheim, Reformen und europäische Politik unter Alexander I., in: Klaus Zernack (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, 6 Bde., Stuttgart 1981 – 2004, hier Bd. 2/2, S. 951 – 993, hier S. 985 f. 22 Siehe Friedrich Wencker-Wildberg/Friedrich M. Kircheisen (Hrsg.), Napoleon. Die Memoiren seines Lebens, 14 Bde., Wien/Hamburg/Zürich (1930 – 1931), hier Bd. 9, S. 34 – 37. Robert B. Holtman, Napoleonic Propaganda, Baton Rouge 1950, S. 3 – 11. So auch die Interpretation von Karl Griewank, Der Wiener Kongress und die europäische Ordnung, 2. völlig neu bearbeitete Aufl., Leipzig 1954, S. 13 – 24 und Albert Sorel, L’Europe et la Révolution Française, 8 Bde., 7. Aufl., Paris 1907 – 1908, hier Bd. 7, S. 187. 23 Siehe hierzu auch Wahl, Geschichte, S. 142. Paul W. Schroeder, Napoleon’s foreign policy. A criminal enterprise, in: The Journal of Military History 54 (1990), S. 147 – 161, hier S. 156. 24 Zu den Bündnisverhandlungen siehe Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 84. Stamm-Kuhlmann, König, S. 193 f. Schon im Jahr 1803 hatte Frankreich ein Bündnis in Aussicht gestellt. Siehe ebd., S. 181 – 190.
I. Preußen als Objekt der europäischen Politik 1795 – 1806
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Herrschern in Memel statt, über das Königin Luise einen ausführlichen Bericht hinterließ.25 In der Kleinstadt nahe der Grenze beider Reiche verbrachten der Zar und das Königspaar in ungezwungener Atmosphäre rund eine Woche miteinander, während der die Grundlage für jene „special relationship“26 zwischen beiden Höfen gelegt wurde, die trotz bestehender Gegensätze eine Basis für die Zukunft sein konnte. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen dem preußischen und dem russischen Herrscher, das sich in einem regen Briefkontakt dokumentierte, wirkte vorerst jedoch nicht unmittelbar auf das politische Feld hinüber. Die russischen Angebote zu einem engeren Zusammengehen wies Friedrich Wilhelm genauso zurück wie die französischen Avancen; nur auf ein sehr vorsichtig formuliertes russisch-preußisches Defensivbündnis zur Sicherung Norddeutschlands ließ er sich am 24. Mai 1804 ein.27 Indem er sich nicht eindeutig für eine der beiden Seiten erklärte, hoffte der König weiterhin, dem preußischen Staat den Frieden zu bewahren, obwohl die preußische Neutralität, wie die französische Besetzung von Hannover ein Jahr zuvor gezeigt hatte,28 kaum mehr ernsthaft respektiert wurde. Es dauerte bis zur Verletzung der Neutralität Ansbachs durch französische Truppen bis Friedrich Wilhelm sich dazu entschloss, auf die Seite Russlands und Österreichs zu wechseln. Während einer erneuten Begegnung mit Alexander kam am 3. November ein russisch-preußisches Bündnis zustande, dem später auch Österreich beitrat. Preußen sollte danach die bewaffnete Mediation zwischen den Kriegsparteien übernehmen. Nur wenn kein für die Koalition akzeptabler Kompromiss erreicht werden konnte, sollte Preußen in den Krieg eingreifen.29 Auf die anschließenden Vorgänge, die zum Sieg Napoleons und zu dem Pressburger Frieden führten, braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Die Ungeduld des Zaren war jedenfalls dafür verantwortlich, dass der französische Kaiser in Austerlitz triumphierte und Preußen, das sich nicht mehr aktiv an den Kämpfen beteiligte, den Schönbrunner Vertrag akzeptieren musste, dessen noch einmal verschärfte Version am 15. Februar 1806 in Paris unterzeichnet wurde.30 Die Hohen25 Siehe hierzu ebd., S. 178 – 180. Der Bericht von Luise in Bailleu, Briefwechsel, Nr. 517, S. 531 – 537. 26 Siehe Seton-Watson, Russian Empire, S. 84 27 Siehe Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 215. Krüger-Löwenstein, Russland, S. 125 f. Die „Déclaration de Berlin, relativement à la Guerre contre la France“ in F. de Martens, Recueil des traités et conventions, conclus par la Russie avec les puissances étrangère, 12 Bde., St. Petersburg 1874 – 1898, hier Bd. 6, Nr. 243, S. 341 – 345. 28 Siehe Andreas, Zeitalter, S. 322. 29 Siehe hierzu Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763 – 1848 (Oxford History of Modern Europe), Oxford 1994, S. 279 f. Stamm-Kuhlmann, König, S. 200. Die Konvention in Martens, Recueil (Russie), Bd. 2, Nr. 58, S. 480 – 490. 30 Siehe hierzu Rudolfine von Oer, Der Friede von Pressburg (Neue Münsterische Beiträge zur Geschichtsforschung, 8), Münster 1965, passim. Wahl, Geschichte, S. 163 f. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 66.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
zollernmonarchie wurde zwangsweise in das napoleonische System eingefügt – mit gravierenden Folgen für das Verhältnis zu den Kriegsgegnern des französischen Kaiserreichs. Als Reaktion auf die Annektierung Hannovers durch preußische Truppen und die Schließung der norddeutschen Häfen erklärte Großbritannien Preußen den Krieg; Schweden tat kurz darauf denselben Schritt.31 Bedrohlicher aber war, dass Preußen aufgrund der Garantie, die man für die Integrität des Osmanischen Reiches ausgesprochen hatte, in einen Krieg mit Russland verwickelt zu werden drohte. Hardenberg konnte den König überzeugen, trotz des Bündnisses mit Frankreich eine heimliche Annäherung an den Zarenhof zu betreiben, um im Notfall auch die Fronten wechseln zu können. Die zwischen Ost und West finassierende Doppeldiplomatie, die Preußen ein Höchstmaß an Bewegungsfreiheit sichern sollte, ging damit weiter. Auch Russland hatte ein fundamentales Interesse daran, sich seines westlichen Nachbarn zu versichern, denn nach den Verträgen von Pressburg und Schönbrunn sowie angesichts des frankreichfreundlicheren Kurses unter dem englischen Außenminister Charles James Fox drohte die vollständige Isolierung.32 Die Friedensverhandlungen, die der russische Geschäftsträger Oubril in Paris führte, waren angesichts der zunehmenden Spannungen im adriatischen Raum, wo im Sommer ein regelrechter Kleinkrieg ausgebrochen war,33 wenig aussichtsreich. Napoleons Bemühungen um eine antirussische Allianz mit dem Osmanischen Reich und Persien zeigen,34 wie vergiftet das Verhältnis zwischen beiden Ländern tatsächlich war. Das aggressive Vorgehen des französischen Kaisers in Deutschland – allen voran die Gründung des Rheinbundes35 – beschleunigte die Annäherung zwischen Berlin und St. Petersburg. Bereits am 1./12. Juli kam eine Übereinkunft zustande, in der man preußischerseits versicherte, sich an einem Krieg gegen Russland nicht beteiligen zu wollen, auch wenn dies die Bestimmungen des Pariser Vertrages forderten. Im Gegenzug erklärte sich der Zar dazu bereit, die Unabhängigkeit und Integrität Preußens zu garantieren.36 Es stellt sich die Frage, warum sich Preußen schließlich trotz dieser noch recht vagen Zusicherungen aus St. Petersburg Hals über Kopf in den Krieg mit Frankreich stürzte? Dass dafür hauptsächlich das „Kabinettsystem“ verantwortlich gewesen sei, 31
Siehe Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 133 f. Siehe Ranke, Geschichte, Bd. 2, S. 179 f. Wahl, Geschichte, S. 165. 33 Siehe hierzu Seton-Watson, Russian Empire, S. 91. Schroeder, Transformation, S. 298 – 302. Ausführlich zum Gegensatz der russischen und französischen Interessen siehe Norman E. Saul, Russia and the Mediterranean 1797 – 1807, Chicago/London 1970, S. 194 – 207. 34 Siehe Anderson, Eastern Question, S. 36 f. 35 Zu den französischen Aggressionen im Jahr 1806 siehe Schroeder, Transformation, S. 302 – 305. Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 139 – 140. Andreas, Zeitalter, S. 351. Auch Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 69 – 71. 36 Die Erklärungen beider Herrscher in Martens, Recueil (Russie), Bd. 6, Nr. 246, S. 380 – 384 und Nr. 247, S. 384 – 389. Siehe hierzu Seton-Watson, Russian Empire, S. 92. Schroeder, Transformation, S. 304. 32
I. Preußen als Objekt der europäischen Politik 1795 – 1806
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wie die liberale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts meinte,37 erscheint aus heutiger Sicht wenig plausibel.38 Die preußische Außenpolitik in den Jahren 1805/6 agierte zwar nicht immer geschickt, aber dies hing kaum mit einem strukturellen Defizit auf höchster Ebene, sondern mit den sich stetig verschlechternden außenpolitischen Rahmenbedingungen zusammen, die den Handlungsspielraum der preußischen Regierung erheblich einschränkten. Angesichts der Situation wäre zielgerichtetes Handeln notwendig gewesen, aber der sonst so besonnene König versagte plötzlich an diesem Punkt. Anstatt die Lage nüchtern zu analysieren, ließ er sich ab Mitte des Jahres 1806 in den Sog der Stimmen hineinziehen, die einen „guerre d’existance“39 für unausweichlich hielten.40 Anfang August trafen Nachrichten aus Paris ein, die weiter Wasser auf die Mühlen der Kriegsbefürworter gaben. So berichtete der preußische Gesandte Girolamo Marquis v. Lucchesini nicht nur, Napoleon beabsichtige, für einen Frieden mit England Hannover an den englischen König zurückzugeben, sondern dass außerdem Pommern und die polnischen Provinzen die Verhandlungsmasse für die russischfranzösischen Friedensverhandlungen darstellen würden. Eine Verständigung der Großmächte auf Kosten Preußens wäre demnach möglich gewesen;41 das Schachern mit preußischem Territorium machte die Souveränität der Hohenzollernmonarchie vollends zur Makulatur. Die Zeit schien zu drängen, erst recht nachdem schon im Juli in Berichten auf die Möglichkeit einer französischen Aggression hingewiesen worden war.42 Das Gefühl, in die Enge getrieben zu sein, agieren zu müssen, bevor es 37 Zu dieser Kritik am Kabinettsystem siehe unter anderem Ludwig Häusser, Deutsche Geschichte. Vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des deutschen Bundes, 4 Bde., 2. Aufl., Berlin 1858 – 1860, hier Bd. 2, S. 120 f. Johann Gustav Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege, 2 Bde., Kiel 1846, hier Bd. 2, S. 279 f., 404. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 152. Auch von späteren Forschern wurde diese Sichtweise übernommen, so etwa in Peter Baumgart, Epochen der preußischen Monarchie im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 6 (1979), S. 287 – 316, hier S. 315 oder Otto Hintze, Das preußische Staatsministerium im 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, S. 530 – 619, hier S. 534 f. 38 Schlüssig dargelegt von Stamm-Kuhlmann, König, S. 207 – 214. Allgemein zum Kabinettsystem siehe Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Aufl., Stuttgart 1969, S. 126, der darin kein grundsätzliches verwaltungsstrukturelles Problem sah. 39 Denkschrift des Fürsten Radziwill vom August 1806 (s. l., genaues Datum unbek.). Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 5, S. 392. Siehe auch Denkschrift Haugwitz, Berlin, 10. 7. 1806. Ebd., S. 349 – 356. 40 Spätestens Anfang Juli sei man zum Krieg bereit gewesen, so meinten: Stamm-Kuhlmann, König, S. 219. Simms, Impact, S. 295 f. Anderer Ansicht ist Birgitt Aschmann in Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußischfranzösischen Kriege des 19. Jahrhunderts (Beiträge zur Militärgeschichte, 72), München 2013, S. 104 (Fn. 68). 41 Siehe Simms, Impact, S. 296 – 298. 42 Siehe etwa Lucchesini an Haugwitz, Paris, 22. 7. 1806. Bericht des Grafen Goertz, Regensburg, 25. 7. 1806. Bericht Blüchers, Münster, 25. 7. 1806. Bericht Schladens, München, 29. 7. 1806. Bailleu, Preußen und Frankreich, Bd. 2, Nr. 372, 373, 374, 380, S. 488 – 490, 496 f.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
zu spät war, bemächtigte sich der preußischen Führung. Diese Lageeinschätzung und gewiss auch Motive, die sich einem rein rationalen Zugriff nicht erschließen,43 führten am 6. August zur preußischen Mobilmachung. Den endgültigen Entschluss zum Krieg bedeutete dies aber noch nicht; zunächst wollte Friedrich Wilhelm die weitere Entwicklung abwarten.44 Doch die Falken im Umfeld des Königs gewannen schließlich endgültig die Meinungshoheit. Friedrich Wilhelm müsse sich endlich gegen Frankreich erklären, war die weitverbreitete Meinung.45 „[D]éjà l’observateur impartial reconnaît que le moment actuel est beaucoup plus favorable pour agir que ne l’était la fin de l’année précédente“46, mahnte etwa Haugwitz Mitte September. In einer Denkschrift, die den König am zweiten desselben Monats erreichte, drängten schließlich auch der Minister Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom Stein, die Brüder des Königs sowie hochrangige Militärs zum Krieg.47 Auf diese Eingabe, welche die monarchische außenpolitische Prärogative in Frage stellte und die deshalb vom Kabinettsrat Johann Wilhelm Lombard als eine „véritable insurrection“48 bezeichnet wurde, reagierte Friedrich Wilhelm äußerst scharf.49 Trotzdem blieb dieser Aktion der Erfolg am Ende nicht versagt, denn als auch Hardenberg sich für den Krieg aussprach,50 und sich im Offizierskorps eine antifranzösische Stimmung breit machte,51 fühlte sich der König ungeachtet der Beruhigungsversuche aus Paris zum Krieg gezwungen.52 „Dès lors je n’ai plus de choix que la guerre“53, schrieb er am 6. September an Zar Alexander. 43 Birgitt Aschmann hat die Debatte um die preußischen Motive, die zum Krieg führten, durch den Hinweis auf die Bedeutung der „Ehre“ bereichert. Siehe Aschmann, Preußens Ruhm, S. 103 – 124. 44 Siehe Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 141 f. 45 Zur Opposition gegen den Neutralitätskurs siehe Aschmann, Preußens Ruhm, S. 94 – 102. 46 Denkschrift Haugwitz, Berlin, 16. 9. 1806. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 5, S. 365. 47 Siehe Pertz, Stein, Bd. 1, S. 347 – 351. 48 Friedrich Gentz, Mémoires et letters inédits, publiés par G. Schlesier, Stuttgart 1841, S. 271 49 Siehe hierzu Stamm-Kuhlmann, König, S. 229 f. 50 Siehe ebd., S. 225. 51 Darauf weist das Säbelwetzten von Offizieren vor dem Haus des französischen Vertreters und das wiederholte Einschmeißen der Fensterscheiben des Palais’ von Haugwitz mit Karabinerkugeln hin, der als Vertreter eines Beschwichtungskurses gesehen wurde. Siehe hierzu Pierre-Paul Sagave, Napoleon und das geschlagene Preußen im Urteil der Berliner, in: Ders., Berlin und Frankreich 1685 – 1871. Französische Einflüsse und Gegenströmungen in Brandenburg-Preussens Hauptstadt von der Hugenotteneinwanderung bis zum deutsch-französischen Krieg, Berlin 1980, S. 125 – 145, hier S. 128 – 130. Stamm-Kuhlmann, König, S. 214. 52 Siehe das am 12. September 1806 in Saint-Cloud verfasste Schreiben Napoleons an Friedrich Wilhelm, in dem er zumindest den Abzug der französischen Truppen aus Westphalen in Aussicht stellte. Napoleon, Correspondance, Bd. 13, Nr. 10764, S. 170 f. 53 Friedrich Wilhelm an Alexander, Charlottenburg, 6. 9. 1806. Bailleu, Briefwechsel, Nr. 115, S. 121.
II. Der Krieg und die Optionen des Friedens
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Napoleon glaubte zunächst überhaupt nicht an die Ernsthaftigkeit der preußischen Drohungen. Tatsächlich beabsichtigte er noch im August, die französischen Truppen aus Deutschland abzuziehen.54 Erst im darauffolgenden Monat, nach der preußischen Mobilisierung, traf er konkrete Kriegsvorbereitungen.55 Mehr noch als auf das preußische Säbelrasseln reagierte er damit auf das Verhalten Russlands. Zum Krieg von 1806/07 wäre es wohl überhaupt nicht gekommen, wenn sich der russischfranzösische Gegensatz im Verlaufe des Sommers nicht noch weiter verschärft hätte. Die Ungewissheit über den Ausgang der Friedensverhandlungen mit St. Petersburg und der Verbleib der russischen Truppen in Kattaro waren entscheidende Gründe, weshalb Napoleon die Grande Armée in Süddeutschland beließ.56 Wären die Truppen, wie ursprünglich geplant, abgerückt, so wäre für Preußen ein wesentlicher Grund für die Mobilmachung und das bald erfolgte Ultimatum entfallen. Nun vermutete Napoleon aber, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der schließlich verweigerten Ratifikation des von Oubril ausgehandelten Friedensvertrags, den ebenfalls gescheiterten Friedensverhandlungen mit England und der preußischen Rüstung.57 Statt die Hohenzollernmonarchie zumindest vorläufig zu beschwichtigen, um einen Krieg zu ungelegener Zeit zu verhindern, bereitete sich Napoleon nun auf einen Präventivschlag vor.58 Preußen wurde so zum Schlachtfeld des latenten Konfliktes zwischen dem östlichen und westlichen Kaiserreich, der nahezu ganz Europa umfasste.
II. Der Krieg und die Optionen des Friedens Zumindest für das 19. Jahrhundert gilt, dass am Anfang der Betrachtung eines Friedens der den Friedenszustand statuierende Friedensvertrag stehen muss. Zunächst ist dieser Vertrag ein Produkt jener Interessenkonkurrenz, die zuvor mit kriegerischen Mitteln ausgefochten wurde. Auch der Krieg ist deshalb, neben den eigentlichen Verhandlungen, relevanter Bestandteil der Vertragsgenese; in seinem Verlauf werden abhängig von den jeweiligen politischen Intentionen Kriegsziele formuliert, die später im je unterschiedlichen Grad ihren Niederschlag in den
54 Siehe etwa Napoleon an Berthier, Rambouillet, 17. 8. 1806. Napoleon, Correspondance, Bd. 13, Nr. 10660, S. 80. 55 Siehe Napoleon an Berthier, Saint-Cloud, 10. 9. 1806: „Ils (les Prussiens; S.P.) veulent recevoir une leçon“. Napoleon, Correspondance, Bd. 13, Nr. 10757, S. 162. 56 Ähnlich auch Fournier, Napoleon, S. 130. 57 Ranke wies nachdrücklich auf die Bedeutung der ausgebliebenen Ratifikation für die Entstehung des Kriegs von 1806 hin und legte damit die globalpolitische Bedeutung dieses Konflikts frühzeitig offen. Siehe Ranke, Geschichte, Bd. 2, S. 212 – 214, 233, Bd. 3, S. 32. 58 Siehe Stamm-Kuhlmann, König, S. 254.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
Friedensbestimmungen finden.59 Der Friedensvertrag überführt schlechterdings den vorherrschenden Gegensatz in eine rechtliche Beziehung, die entweder einen Interessenausgleich begründet oder, abhängig von den militärischen und politischen Kräfteverhältnissen, die Durchsetzung der Interessen einer der Parteien mehr oder minder festschreibt. Wie gestaltete sich nun der preußisch-französische Antagonismus nach Beginn der Feindseligkeiten und welche Kriegsziele verfolgten beide Seiten? Das preußische Hauptinteresse lag in der Behauptung der eigenen nach außen unabhängigen Stellung als europäische Macht ersten Ranges. Der militärische Zusammenbruch führte diese Zielsetzung allerdings rasch ad absurdum,60 so dass bald nur noch die Wahrung der schlichten staatlichen Existenz zu möglichst vorteilhaften Bedingungen im Vordergrund stehen konnte. Für Napoleon hingegen ergaben sich aus der preußischen Niederlage ganz neue politische Kombinationen und Optionen, die weit über die Niederringung des Gegners hinausreichten. Von Anfang an betrachtete er diesen Krieg in einer weit größeren Dimension und so wurde der Ausbau der imperialen Stellung Frankreichs gegenüber seinen mächtigsten Konkurrenten, Großbritannien und Russland, schnell ein bestimmendes Ziel. Schon unmittelbar nach der Schlacht von Jena und Auerstedt hatte Friedrich Wilhelm ein Waffenstillstandsgesuch an Napoleon abgehen lassen, das dieser jedoch rundweg ablehnte. Der französische Kaiser erkannte wohl, dass das Angebot vor allem ein Vorwand war, Zeit bis zum Eintreffen der russischen Truppen zu gewinnen.61 In seiner Antwortnote begründete er seine Zurückhaltung damit, dass die französischen Absichten dahingingen, eine vollständige Wiederherstellung der „ancienne confiance“ zu erreichen,62 womit, etwas verklausuliert, nur die Rückkehr Preußens in das alte Abhängigkeitsverhältnis gemeint sein konnte. Der preußischen Führung blieb angesichts der militärischen Lage kaum mehr eine andere Wahl, als diese Offerte zumindest zu sondieren. Lucchesini wurde deshalb am 59 Ähnlich Jost Dülffer, Frieden zwischen Politik, Völkerrecht und Mentalität, in: Ders., Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Marc Frey/ Ulrich S. Soénius/Guido Thiemeyer, Köln/Weimar/Bonn 2008, S. 1 – 12, hier S. 7. 60 Der Kriegsverlauf am ausführlichsten dargestellt in Oscar von Lettow-Vorbeck, Der Krieg von 1806 und 1807, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1899, Bde. 2 – 3, Berlin 1892 – 1896. Siehe außerdem Francis Loraine Petre, Napoleon’s Conquest of Prussia 1806 – 1807, with an Introduction by Field Marshal Earl Roberts, London 1993 (Ndr. d. Ausg. v. 1907). Ders., Napoleon’s Campaigne in Poland 1806 – 1807, London 1989 (Nrd. d. Ausg. v. 1907). Zur Geschichtsschreibung über die Schlacht von Jena und Auerstedt siehe Gerd Krumeich, Jena und Auerstedt in der Geschichtsschreibung, in: Andreas Klinger/Hans-Werner Hahn/Georg Schmidt (Hrsg.), Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, Köln/ Weimar/Wien 2008, S. 249 – 261, hier passim. 61 Butterfield, Peace Tactics, S. 5. Butterfield stellte ausführlich die Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen während des Krieges dar. Dabei folgt er über weite Strecken der älteren Darstellung von Driault. Siehe Driault, Napoléon, Bd. 3, S. 37 ff. 62 Napoleon an Friedrich Wilhelm, Halle, 19. 10. 1806. Napoleon, Correspondance, Bd. 13, Nr. 11031, S. 372 f., hier das Zitat S. 373.
II. Der Krieg und die Optionen des Friedens
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18. Oktober befohlen, sich in das französische Hauptquartier zu begeben, um in direkte Friedensverhandlungen mit Frankreich zu treten.63 Schon kurz darauf präsentierte ihm Duroc in Wittenberg die französischen Friedensbedingungen,64 die bereits erste Hinweise auf die weiterreichenden politischen Ambitionen Napoleons gaben: Preußen sollte, wie schon im Pariser Vertrag, den Besitzstand des Osmanischen Reichs garantieren und nötigenfalls, insofern Russland die umstrittenen Donaufürstentümer besetzen würde, auch Truppen zu diesem Zweck abstellen. Dies war eine Verpflichtung, deren Erfüllung durchaus wahrscheinlich war, seit Sultan Selim III. ermutigt durch Napoleon und entgegen der Abmachungen mit Russland eigenmächtig die Hospodare der Fürstentümer Moldau und Walachei abgesetzt und Mitte August 1806 durch eigene Kandidaten ersetzt hatte. Nach der einige Monate zuvor erfolgten Sperrung des Bosporus für die russische Kriegsschifffahrt war dies nun die zweite türkische Provokation binnen kurzer Zeit. Für Zar Alexander war das unüberlegte Vorgehen des Sultans eine willkommene Gelegenheit, um die eigenen Absichten zur Ausweitung der russischen Einflusssphäre bis an die Donau zu legitimieren; ungeachtet der Tatsache, dass die Pforte die früheren Hospodare schließlich wiedereinsetzte, marschierte Mitte Oktober eine russische Armee in die Fürstentümer ein, um diese dauerhaft unter russische Kontrolle zu bringen.65 Neben dem Schutz des Osmanischen Reiches vor einer weiteren russischen Expansion in Richtung Süden war die weitere Konsolidierung der französischen Vorherrschaft in Mitteleuropa eine wesentliche Konstante in den geostrategischen Überlegungen Napoleons; Preußen sollte deshalb als realer Machtfaktor in Deutschland ausgeschaltet werden. Der Vertragsentwurf vom 23. Oktober sah dementsprechend die Elbe als künftige preußische Grenze vor. Die zusätzlich geforderte Kontributionssumme von 100 Mio. Francs würde die Monarchie, so das Kalkül, zudem massiv finanziell schwächen. Wirtschaftlichen Schaden sollte obendrein die erneute Schließung der preußischen Häfen für die englische Schifffahrt anrichten. Vor allem aber wollte Napoleon mit dieser Maßnahme den Wirtschaftskrieg mit Großbritannien weiter intensivieren. Das am 21. November 1807 erlassene Berliner Dekret, das den Handel mit dem englischen Königreich verbot,66 war bereits ein erster Schritt in diese Richtung. In Graudenz, wohin sich der König mit seinem Stab geflüchtet hatte, entschied man sich, diesen Forderungen, nach denen zumindest alle Territorien östlich der Elbe 63 Die Verhandlungen in Butterfield, Peace Tactics, S. 6 – 13. Driault, Napoléon, Bd. 3, S. 37 – 41. Ranke, Geschichte, Bd. 2, S. 251 – 262. Hermann Hüffer, Die Kabinetsregierung in Preußen und Johann Wilhelm Lombard. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen Staates vornehmlich in den Jahren 1797 bis 1810, Leipzig 1891, S. 290. 64 Der Entwurf in Bailleu, Preußen, Bd. 2, S. 577 f. 65 Siehe Saul, Russia, S. 211 – 220. Schroeder, Transformation, S. 307. Seton-Watson, Russian Empire, S. 94. Grimstead, Foreign Ministers, S. 156 – 158. Anderson, Eastern Question, S. 37 f. 66 Siehe hierzu Hans Saring, Die Wirkung der Kontinentalsperre auf Preußen (Teildruck). Phil. Diss., Berlin 1930, S. 17 – 20. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 488.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
bei Preußen verblieben, zuzustimmen. Der für seine frankreichfreundliche Haltung bekannte General Friedrich Wilhelm Christian von Zastrow sollte Lucchesini bei dem Versuch unterstützen, noch etwas mildere Bedingungen zu erreichen. Die am 28. Oktober in Charlottenburg wiederaufgenommenen Verhandlungen blieben allerdings erwartungsgemäß erfolglos. Der zwei Tage später unterzeichnete Friedensvertrag enthielt am Ende sogar noch einmal verschärfte Bestimmungen.67 Die Absichten des französischen Kaisers hatten sich jedoch angesichts der weiteren militärischen Entwicklungen schon wieder geändert. Am 28. Oktober, einen Tag nach Napoleons triumphalen Einzug in Berlin, ergaben sich rund 10 000 preußische Soldaten unter dem Kommando von Friedrich Ludwig Fürst zu Hohenlohe-Ingelfingen ohne größeren Widerstand bei Prenzlau. Es war der Beginn einer ganzen Reihe von Kapitulationen, die, mehr noch als die Niederlage von Jena und Auerstedt, das Bild eines unrühmlichen Niedergangs der preußischen Armee prägten.68 Nun schien sich für Napoleon die Gelegenheit zu einem noch größeren Erfolg als den von den preußischen Unterhändlern unterzeichneten Friedensvertrag zu eröffnen; von da an reichten seine politischen Ziele in diesem Krieg weit über die Elbe hinaus.69 Napoleon entschloss sich, den Frieden nicht zu ratifizieren, die früheren Verhandlungen für nichtig zu erklären und den preußischen Unterhändlern einen Waffenstillstand anzubieten, dessen Annahme die völlige Selbstpreisgabe Preußens bedeutet hätte.70 Nicht nur, dass darin die Weichsel als Demarkationslinie zwischen den beiden Heeren benannt wurde, wodurch auch Schlesien und ganz Südostpreußen kampflos an die französische Armee gefallen wären, Preußen sollte außerdem die bisher noch von den eigenen Truppen gehaltenen Festungen westlich dieser Linie an Frankreich übergeben. Neuostpreußen sollte hingegen zur truppenfreien Zone erklärt werden. Deutlich verschob sich damit das Interesse Napoleons in Richtung Polen, das einmal, in welcher Form auch immer, den Ausgangspunkt einer weiteren Expansion in Richtung Osten darstellen konnte.71 Schließlich wurde in Artikel 3 der vollständige Rückzug der russischen Truppen, die am 23. Oktober die preußisch-russische Grenze überschritten hatten, gefordert, wodurch der König seines einzigen verbliebenen Verbündeten beraubt worden wäre. Preußen wäre somit bei den anschließenden Friedensverhandlungen – gestützt auf nur ein paar zehntausend Mann eigener Truppen in Ostpreußen und einem kleinen Teil Westpreußens – vollständig dem Willen des Gegners ausgeliefert gewesen.
67
Siehe hierzu Butterfield, Peace Tactics, S. 13 – 15. In den folgenden Tagen kapitulierten die preußischen Festungen Hameln, Stettin und Magdeburg. Siehe Lettow-Vorbeck, Krieg, Bd. 2, S. 270 – 278, 288 – 291, 392 f. 69 Angedeutet auch bei Driault, Napoléon, Bd. 3, S. 41. 70 Zu den Friedensverhandlungen in Charlottenburg siehe Butterfield, Peace Tactics, S. 17 – 24. Ranke, Geschichte, Bd. 2, S. 254 – 259. Der Vertrag in Michel Kerautret (Hrsg.), Documents diplomatiques du Consulat et de l’Empire, 3 Bde., Paris 2002 – 2004, hier Bd. 2, Nr. 43, S. 255 – 257. 71 Siehe hierzu auch Butterfield, Peace Tactics, S. 15 f. 68
II. Der Krieg und die Optionen des Friedens
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Napoleon hatte aber gar nicht vor, mit Preußen zu einer bilateralen Verständigung zu gelangen. Wie später in Tilsit war die Hohenzollernmonarchie für ihn eine quantité négligeable, reine Verhandlungsmasse für ein weitaus bedeutenderes Arrangement. In einer von Talleyrand verfassten Zusatznote zum Waffenstillstandsvertrag, den Lucchesini schließlich eigenmächtig am 16. November in Charlottenburg unterzeichnete, wurden die eigentlichen französischen Ziele deutlich. Es sei recht und billig, war darin zu lesen, dass die Gebiete, über die Frankreich nach dem Eroberungsrecht verfüge, Kompensationsobjekte für die Kolonien bildeten, die Spanien, Holland und Frankreich im Verlaufe der letzten Jahre an England verloren hatten; das preußische Gebiet könne erst dann geräumt werden, wenn dieser überseeische Besitz restituiert sei und Russland sich aus den Donaufürstentümern zurückziehe.72 Anstelle eines Friedens allein mit Preußen beabsichtigte Napoleon offenbar eine allgemeine Pazifikation zu Frankreichs Gunsten. Durch die Kontrolle über die Länder des preußischen Königs sollte nicht nur England zur Zurückgabe der Kolonien gezwungen, sondern auch Russland zur Räumung der Donaufürstentümer bewegt werden. Im Rahmen dieser außenpolitischen Strategie musste Preußen vorerst unter der Kontrolle des Eroberers bleiben, denn nur so konnte es als diplomatisches Faustpfand dienen. Friedrich Wilhelm lehnte es aber schließlich ab, den bereits paraphierten Vertrag zu ratifizieren. Mit dem Mut der Verzweiflung entschloss er sich in Osterode, den Krieg an der Seite Alexanders fortzusetzen.73 Die Gesprächsfäden zwischen Preußen und Frankreich rissen aber auch dann nie vollständig ab; zu groß war das beiderseitige Interesse an einer diplomatischen Lösung des Konflikts. Napoleon hoffte weiterhin, mit der Eroberung Preußens die anderen Großmächte zwingen zu können, die französische imperiale Außenpolitik zu akzeptieren, während ein rascher Frieden für Preußen die sicherere Gewähr für den Erhalt der Monarchie zu bieten schien als ein langwieriger Krieg, den die Reste der preußischen Armee gemeinsam mit den russischen Truppen kaum gewinnen konnten; erst recht da weder Österreich, noch England Anstalten machten, entschlossen Partei für die russisch-preußische Allianz zu ergreifen. Es zeigte sich schließlich, dass sich Napoleon auf diplomatischem Gebiet genauso geschickt und flexibel wie in der Kriegsführung verhalten konnte. Abhängig von der militärischen Lage bot er Preußen mal eine Erneuerung der Allianz von 1805 an, mal schlug er einen großen europäischen Friedenskongress unter Beteiligung von England und Russland vor. Jedes Angebot, das in Richtung eines Separatfriedens lief, lehnte Friedrich Wilhelm konsequent ab, doch sondierte er mehrfach – letztendlich aber erfolglos – die Bereitschaft seines russischen Verbündeten für eine Verständi72
Siehe ebd., S. 24 – 28. Driault, Naploléon, Bd. 3, S. 43 – 45. Siehe auch die Note Napoleons an Sultan Selim III. (verfasst am 11. November 1806 in Berlin), in der er versicherte, keinen Frieden schließen zu wollen, bis die Fürstentümer Moldau und Walachei geräumt sein würden. Napoleon, Correspondance, Bd. 13, Nr. 11232, S. 519 f. Das nahezu gleichlautende 30. Bulletin vom 10. November 1806 in ebd., Nr. 11230, S. 635 f. 73 Ranke, Geschichte, Bd. 2, S 267 f. Butterfield, Peace Tactics, S. 28.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
gung mit Frankreich.74 Mit der am 26. April 1807 geschlossenen Konvention von Bartenstein wurden Pläne von einem europäischen Friedenskongress vollständig obsolet. Russland und Preußen entwarfen darin in groben Zügen eine nachnapoleonische Ordnung für Europa und versicherten sich gegenseitig, die Waffen nur im gemeinsamen Einverständnis niederlegen zu wollen.75 Als Napoleon am 14. Juni bei Friedland einen umfassenden Sieg über die russische Armee errang, war plötzlich diese Idee von einer Neuordnung Kontinentaleuropas unter preußisch-russischer Führung dahin. Das russische Heer begann sich aufzulösen und die Stimmung in der russischen Führung kippte. Großfürst Konstantin, der Bruder des Zaren, stellte sich an die Spitze derer, die ein Ende des Krieges forderten, den man nach eigenem Verständnis allein für preußische Interessen führe. Er soll Alexander unverhohlen auf das Schicksal des eigenen, ermordeten Vaters hingewiesen haben, um ihn von der Notwendigkeit eines Friedens mit Frankreich zu überzeugen.76 Da zudem die Gefahr einer von Frankreich unterstützten Erhebung im russischen Teil Polens drohte,77 befahl Alexander zwei Tage nach Friedland seinem wenig erfolgreichen General Levin August von Bennigsen zunächst in dessen eigenem Namen über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Falls dabei von französischer Seite der Wunsch nach einem Frieden geäußert werden sollte, hieß es in der Instruktion an den russischen Unterhändler Lobanof, dann sei darauf unverzüglich einzugehen. Ein dahingehendes Interesse äußerte der französische General Duroc noch am Abend desselben Tages im russischen Hauptquartier, so dass man bald in Verhandlungen eintrat.78 Alexander hatte mit diesem Alleingang die Bartensteiner Konvention verletzt, doch war dies angesichts der militärischen Lage und der
74 Siehe Friedrich Wilhelm an Alexander, Königsberg, 22. 12. 1806 und Memel, 6. 3. 1807 sowie die beiden Noten des Zaren an den König (St. Petersburg, 20.2. und 6. 3. 1807). Bailleu, Briefwechsel, Nr. 131, 137, 138, 139, S. 141 – 143, 148 – 154. Auch Butterfield, Peace Tactics, S. 53 ff. 75 Siehe „Convention d’alliance entre la Russie et la Prusse“, Bartenstein, 26. 4. 1807. Martens, Recueil (Russie), Bd. 6, Nr. 249, S. 409 – 418. 76 Siehe hierzu die Berichte Schladens an Hardenberg, Baubeln, 21. 6. 1807 und Boenigkeiten, 23. 6. 1807. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 5, S. 522 – 527. Auch Friedrich Heinrich Leopold von Schladen, Preußen in den Jahren 1806 und 1807. Ein Tagebuch. Nebst einem Anhang verschiedener 1807 bis 1809 verfaßter politischer Denkschriften, Mainz 1845, S. 233. Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), Karl August von Hardenberg 1750 – 1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 59), München 2000, S. 516. Friedrich v. Ompteda (Hrsg.), Politischer Nachlaß des hannoverschen Staats- und Cabinets-Ministers Ludwig von Ompteda aus den Jahren 1804 bis 1813, 3 Bde., Jena 1869, hier Bd. 1, S. 371. 77 Siehe hierzu George Jackson, The Diaries and Letters of Sir George Jackson. From the Peace of Amiens to the Battle of Talavera, edited by Lady Jackson, 2 Bde., London 1872, hier Bd. 1, S. 161 f. 78 Siehe Driault, Napoléon, Bd. 3, S. 159 f. Butterfield, Peace Tactics, S. 240 – 249.
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen
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Möglichkeit eines vorteilhaften Arrangements mit Napoleon eine Entscheidung im Sinne der russischen Staatsräson.79
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen „Il m’est cruel de perdre jusqu’à l’espoir de vous être utile autant que mon cœur l’avait désiré.“ Mit diesen Worten deutete Zar Alexander am 16. Juni gegenüber Friedrich Wilhelm an, dass aus seiner Sicht die hochgesteckten Ziele der Allianz nicht mehr erreicht werden konnten. Gleichzeitig informierte er den König, dass er die Möglichkeiten eines Waffenstillstands sondieren ließ und bat um ein gemeinsames Treffen auf dem Gut des Fürsten Souboff bei Sczawl, um das weitere Vorgehen abzusprechen.80 Bis zum Eintreffen dieser Nachricht hatte man im preußischen Hauptquartier noch die Hoffnung hegen können, der Krieg würde trotz der jüngsten Niederlage notfalls auch von russischem Territorium aus fortgeführt werden. Als der König und Hardenberg dann in der Nacht auf den 21. Juni in Sczawl eintrafen, erfuhren sie, dass die Waffenstillstandsverhandlungen sogar schon kurz vor dem Abschluss standen.81 Einer Einigung zwischen Russland und Frankreich stand nur noch die französische Forderung nach der Übergabe der Festungen Graudenz, Pillau und Kolberg, die immer noch von preußischen Truppen gehalten wurden, entgegen. Alexander konnte und wollte dem nicht im Namen seines Verbündeten zustimmen, woraufhin Napoleon noch am Abend des 21. in diesem Punkt nachgab. Lobanof unterzeichnete daraufhin das russisch-französische Abkommen, obwohl in Unterredungen mit Preußen noch Stunden zuvor ein gemeinsames Vorgehen der Verbündeten in den Verhandlungen verabredet worden war.82 Der Waffenstillstand zwischen Frankreich und Russland beließ Preußen eine Frist von vier bis fünf Tagen, um ebenfalls eine Kampfpause auszuhandeln. Als preußischer Bevollmächtigter sollte Friedrich Adolf Graf von Kalckreuth die Verhandlungen führen. Der siebzig Jahre alte Generalfeldmarschall war ein erfahrener und zuverlässiger Militär, dies hatte er während der Verteidigung von Danzig bewiesen.83 79 Ähnlich nüchtern urteilte Hans Delbrück in Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, 2 Bde., 4. Aufl., Berlin 1920, hier Bd. 1, S. 142 f. 80 Siehe Bailleu, Briefwechsel, Nr. 144, S. 157 f., hier das Zitat. Auch Tatistcheff, Alexandre, S. 120 – 123. 81 Siehe Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 456. 82 Siehe Friedrich Wilhelm an Luise, Sczawl, 21. 6. 1807. Paul Bailleu, Die Verhandlungen in Tilsit 1807. Briefwechsel König Friedrich Wilhelm’s III. und der Königin Luise, in: Deutsche Rundschau 110 (1902), S. 29 – 45 und 199 – 221, hier S. 32 f. Butterfield, Peace Tactics, S. 242, 249 f. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 467. Tempel, Verhandlungen, S. 5 – 7. Der Vertrag in Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 47, S. 274 – 276. 83 Siehe Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 462. Tempel, Verhandlungen, S. 9 f.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
Dass aber sowohl Friedrich Wilhelm als auch Alexander ihm vertrauten, mag angesichts der zeitgenössischen und späteren Urteile über Kalckreuth überraschen.84 Selbst Hardenberg stimmte zunächst der Berufung seines entfernten Verwandten zu;85 vermutlich glaubte er, mit ihm ein willfähriges Instrument seiner Politik gefunden zu haben. Für Kalckreuth sprachen jedoch auch ganz pragmatische Gründe. So war der altgediente Generalfeldmarschall die einzige verfügbare Person, die von ihrem Rang her geeignet war, das Waffenstillstandsgeschäft zu leiten. Außerdem war zu hoffen, dass er wegen seiner weithin bekannten frankreichfreundlichen Gesinnung von Napoleon entgegenkommend behandelt werden würde.86 Er selbst war jedenfalls voller Optimismus für seine Mission. Mit der Nonchalance eines Kavaliers des alten Europas glaubte er, „von General zum General“ mit Napoleon verhandeln und den Kaiser „wenn er über die Schranken tritt, (…) mit Mäßigung zurecht (…) weisen“ zu können.87 Am 24. Juni brach Kalckreuth von Tauroggen in das französische Hauptquartier auf, das sich in der kleinen, am linken Memelufer gelegenen Stadt Tilsit befand.88 Dort präsentierte Napoleon ihm im Verlauf einer einstündigen Audienz seine Bedingungen für einen Waffenstillstand, zu denen unter anderem die Übergabe der drei bereits geforderten Festungen zählte. Als Voraussetzung für einen künftigen Frieden wurde wiederum, neben der „acceptation“ des Rheinbundes und der Unterstützung im Krieg gegen England, die Wiederherstellung Polens gefordert.89 Am nächsten Tag kam es auf beiderseitigen Wunsch hin zu jener Zusammenkunft zwischen Napoleon und Zar Alexander,90 die wohl so häufig beschrieben wurde wie
84 Siehe hierzu Altenstein an Schön, Sczawl, 22. 6. 1807. Altenstein an Schön, Piktupöhnen, 28.6. und 1. 7. 1807. Theodor von Schön, Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön, 6 Bde., Halle/Berlin 1875 – 1881, hier Bd. 2, S. 4, 16. Siehe auch das Urteil Schladens in Preußen, S. 245. Oder das Urteil Jacksons in Diaries, Bd. 2, S. 157. 85 Siehe Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 453, 482. Tempel, Verhandlungen, S. 15. 86 Richtig erkannt von Tempel, Verhandlungen, S. 15. 87 Die Zitate Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 453 f. 88 Das französische Armeelager um Tilsit muss enorme Ausmaße gehabt haben; um das nötige Baumaterial zu beschaffen, sollen die Häuser der umliegenden Dörfer abgedeckt worden sein. Siehe Carl Brinkmann, Eine neue Quelle zur Preußischen Geschichte nach dem Tilsiter Frieden, in: FBPG 24 (1911), S. 49 – 123, hier S. 63. 89 Siehe Immediatbericht Kalckreuth, Tilsit, 24. 6. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 30 – 31v. Tempel, Verhandlungen, S. 16 – 19. 90 Talleyrand berichtete zwar, die Idee zu einem Treffen sei von Alexander ausgegangen (siehe Emmanuel de Waresquiel (Bearb.), Mémoires du Prince de Talleyrand suivis de 135 lettres inédites du Prince de Talleyrand à la Duchesse de Bauffremont (1808 – 1838), Paris 2007, S. 256), doch die Einladung ging tatsächlich von Napoleon aus, wie Friedrich Wilhelm am 25. Juni an Luise berichtete. Bailleu, Verhandlungen, Nr. 6, S. 38.
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen
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nur wenige Zusammenkünfte zweier Personen in der neueren Geschichte.91 Als Ort des Treffens wurde der Fluss Memel, der die Demarkationslinie zwischen beiden Heeren bildete, gewählt. Französische Sappeure hatten zwei miteinander vertäute Flöße inmitten des Stroms errichtet, auf denen sich jeweils ein mit Segeltuch bespanntes Holzhaus – ein größeres für die beiden Herrscher, ein kleineres für deren Entourage – befand.92 Es war eine Anordnung, mit der neutraler Boden geschaffen wurde.93 Mit dieser Art des Arrangements knüpfte man zwar an seit der Antike überlieferte Vorbilder an,94 in der Frühen Neuzeit war es allerdings wegen der damit einhergehenden, zunehmend komplizierteren Fragen der Präzedenz nicht mehr zu derartigen Herrscherbegegnungen größeren Stils gekommen.95 Napoleon, der sich zwar in Fragen des Zeremoniells am Ancien Régime orientierte, dessen Rezeption vorrevolutionärer Formen aber stets funktionell und daher meist „brüchige Zitation“ blieb,96 setzte sich bewusst über tradierte Gepflogenheiten hinweg und nutzte dabei gezielt die mediale Wirkung des Treffens.97 Indem er auch symbolisch vor aller Welt die Gleichrangigkeit seines legitimitätslosen Kaisertums mit dem auf eine 200jährige Tradition zurückblickenden Zarentum demonstrierte,98 erfuhr er einen für alle Welt sichtbaren Prestigegewinn. Darauf, dass es ihm gleichzeitig darum ging, 91 In Tilsit (Sowjetsk) erinnert ein zu Beginn der 1990er Jahre errichtetes Momument an das Treffen. Siehe hierzu B. de Gaissart, L’inauguration du Monument de la Paix et du Musée d’Histoire de Tilsit/Sovietsk, in: Études Napoléoniennes 4 (1994), S. 57 – 66, hier passim. 92 Zum Arrangement und dem Ablauf der Begegnung siehe u. a. Emil Knaake, Die Monarchenzusammenkünfte zu Tilsit im Juni und Juli 1807, in: Altpreußische Forschungen 6 (1929), S. 256 – 278, hier S. 261 f. Jean Thiry, Eylau – Friedland – Tilsit, Paris 1964, S. 190 – 194. Vandal, Napoléon, Bd. 1, S. 56 f., 79. Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 187. Driault, Napoléon, Bd. 3, S. 171 – 173. 93 So auch Clark, Preußen, S. 360. 94 Verwiesen sei etwa auf das Treffen zwischen Kaiser Valens und Athanarich inmitten der Donau. Auch hier erfuhr die stärkere Seite (Athanarich) einen enormen Statusgewinn durch das Treffen mit dem römischen Kaiser. Siehe hierzu Peter J. Heather, Goths and Romans 332 – 489, Oxford 1991, S. 119 f. Hinzuweisen ist ferner auf die Friedensverhandlungen auf der Île aux Bœufs bei Orleans, die am 19. März 1563 im Friedensedikt von Amboise mündeten. Siehe hierzu Kay Peter Jankrift, Den Frieden verhandeln, in: Kaulbach, Friedensbilder, S. 21 – 24, hier 23 f. So waren bevorzugte Verhandlungsorte nach Jankrift „Brücken, Boote in Flussmitte oder Inseln (…) im Grenzgebiet, die Neutralität symbolisieren sollten“ (ebd. S. 24). 95 Siehe hierzu Paulmann, Monarchenbegegnungen, S. 46 (Fn. 51). 96 Siehe hierzu Horst Carl, Erinnerungsbruch als Bedingung der Moderne? Tradition und bewusste Neuorientierung bei Hof und Zeremoniell nach 1800, in: Klinger et al., Das Jahr 1806, S. 169 – 184, hier S. 169 f., 174 – 176, das Zitat S. 170. Gleiches ist im Bereich der Kunst zu beobachten. Siehe Hans Ulrich Thamer, Napoleon – ein Medienkaiser. Zur Repräsentation charismatischer Herrschaft, in: Christine Vogel/Herbert Schneider/Horst Carl (Hrsg.), Medienereignisse im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge einer interdisziplinären Tagung aus Anlass des 65. Geburtstages von Rolf Reichardt (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, 38), München 2009, S. 93 – 112, hier S. 106. 97 Auf die Bedeutung der von Napoleon inszenierten Herrschertreffen wies Horst Carl zu Recht mit Nachdruck hin. Siehe Carl, Erinnerungsbruch, S. 182 – 184. 98 Zur Bedeutung des „Symbolischen“ für das Verständnis politischen Handelns siehe anstelle vieler Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 10 f.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
eine engere Beziehung zu Russland öffentlich zu dokumentieren, weist die explizite Erwähnung der Umarmung beider Herrscher im 86. Armeebulletin hin.99 Das Treffen von Tilsit wurde schließlich zum festen Bestandteil der napoleonischen Propaganda; ob als Relief am Arc de Triomphe du Carousel, auf Gemälden oder auf dem kaiserlichen Service,100 immer wieder wurde das Ereignis visualisiert und zu einem Höhepunkt der napoleonischen Herrschaft stilisiert. Während des Schauspiels, welches das Treffen bot, regnete es in Strömen. Die Tristesse des Wetters dürfte der Stimmung Friedrich Wilhelms entsprochen haben, der umgeben von fremden Soldaten und in einen russischen Militärmantel gehüllt die Entscheidungen der großen Zwei abwarten musste.101 In eben dem Maße wie sich Napoleon um die Zurschaustellung der Ebenbürtigkeit mit dem Zaren bemühte, kommunizierte die Symbolsprache des Treffens in einer Weise die Niederrangigkeit und Ohnmacht des Repräsentanten der Hohenzollernmonarchie wie es vor der Revolution kaum denkbar gewesen wäre. Konsequent wurde auch während der anschließenden Verhandlungstage dem preußischen Souverän und dem von ihm personifizierten souveränen preußischen Staate jede Dignität abgesprochen.102 Schon während des Kriegs hatte die französische Propaganda in ähnlicher Art Friedrich Wilhelm und die preußische Monarchie herabgewürdigt.103 Noch am Ufer der Memel stehend erreichte den König der jüngste Bericht Kalckreuths über den Stand der Verhandlungen mit Frankreich. Der Wunsch des Zaren und des Königs, die gemeinsamen Friedensunterhandlungen von Hardenberg führen zu lassen, sei auf den entschiedenen Widerstand Napoleons gestoßen, hieß es darin. Der Kaiser habe gar die Absetzung von Hardenberg und des Generals Ernst von Rüchel verlangt, die er für die Spitzen einer antifranzösischen Partei halte.104 99
Siehe „86e Bulletin de la Grande Armée“, Tilsit, 25. 6. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12827, S. 372 f. 100 Für den Hinweis auf die Abbildung der Tilsiter Zusammenkunft auf einem Teller des für die Hochzeit mit Marie-Louise v. Habsburg angefertigten Service danke ich Nastasja Peters (Brüssel). 101 Siehe Friedrich Wilhelm an Luise, Piktupöhnen, 25. 6. 1807. Bailleu, Verhandlungen, S. 37 – 39. Luise von Preußen, Fürstin Anton Radziwill, Fünfundvierzig Jahre aus meinem Leben (1770 – 1815), hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Fürstin Radziwill geb. v. Castellane, aus dem Französischen von E. v. Kraatz, Braunschweig 1912, S. 213. Brinkmann, Quelle, S. 64. 102 Siehe hierzu Aschmann, Preußens Ruhm, S. 92, wo auf die „gängige Ineinssetzung von Fürst und Territorium“ und den sich daraus ergebenden Fragen des Status hingewiesen wird. 103 Eindringlich herausgearbeitet in Thomas Biskup, Das Schwert Friedrichs des Großen. Universalhistorische „Größe“ und monarchische Genealogie in der napoleonischen Symbolpolitik nach Iéna, in: Klinger et al., Das Jahr 1806, S. 185 – 203, hier S. 194 – 196. 104 Siehe Immediatbericht Kalckreuth, Tilsit, 25. 6. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 38 – 39v. Auch Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 476 f. Hardenberg bezeichnete fälschlicherweise diesen als den zweiten Bericht Kalckreuths an diesem Tag. Auch die Foliierung des Aktenbandes gibt eine falsche Chronologie wieder. Aus dem Schreiben des Königs an Luise desselben Tages wird jedoch eindeutig klar, dass es sich hier um den ersten Bericht handeln muss. Siehe Bailleu, Verhandlungen, Nr. 6, S. 37 – 39.
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen
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Immerhin erfuhr der König kurz nach Ende des Treffens zwischen Napoleon und Alexander, dass die Übergabe der Festungen für Napoleon keine Bedingung mehr für einen Waffenstillstand darstelle. Kalckreuth konnte deshalb noch am selben Abend das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnen.105 Von nun an verlagerten sich die preußischen Versuche zur Wahrung der staatlichen Integrität vollends auf das diplomatische Feld. Für den folgenden Tag waren weitere Gespräche der Herrscher anberaumt, an denen diesmal auch Friedrich Wilhelm teilnehmen sollte. Dabei zeigte sich recht bald, dass die preußischen Machtmittel nur noch gering waren; als unterlegener Staat, angewiesen auf die Protektion Russlands, war die Durchsetzung eigener Interessen ein nahezu unmögliches Unterfangen. Dass Preußen vollends zu einem Objekt der Politik der Flügelmächte geworden war, wurde dem König auch sogleich vor Augen geführt: Auf dem Floß, das die drei Herrscher am 26. Juni bestiegen, prangten große, mit Girlanden verzierte Initialen Napoleons und des Zaren, der Schriftzug „FW“ fehlte indes,106 wie Friedrich Wilhelm, der für die Formen des Zeremoniells und der Etikette sensibel war, entrüstet registrierte.107 Die Begegnung zwischen dem preußischen König und Napoleon fand, wie nicht anders zu erwarten war, in unterkühlter Atmosphäre statt und auch während der weiteren Verhandlungstage blieb das Verhältnis beider zueinander distanziert.108 Der Grund für diese Spannungen waren aber nicht allein die offensichtlichen politischen Gegensätze, Friedrich Wilhelm empfand auch eine ganz persönliche Abneigung gegenüber dem französischen Kaiser, der für ihn der Inbegriff der Unmoral und geradezu die Verkörperung des Bösen war.109 Ganz anders gestaltete sich das Verhältnis Napoleons zu Alexander. Wie schon während ihrer ersten Begegnung bezeugten beide einander auch im weiteren Verlauf der Verhandlungen unverhohlene Sympathie.110 Der Kaiser war geradezu betört vom jungen Zaren: „[C]’est un fort 105 Siehe Immediatbericht Kalckreuth, Tilsit, 25. 6. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 32 – 34. Der Vertrag ebd. Bl. 33 – 34. Auch in M. de Clercq (Hrsg.), Recueil des traités de la France, publié sous les auspices de M. C. Freycinet, 23 Bde., Paris 1880 – 1917, hier Bd. 2, S. 206 f. Da Kalckreuth entgegen seiner Instruktion gehandelt hatte und wesentliche Bedingungen nicht in den Vertrag aufgenommen waren, musste er sich am 26. Juni eine ergänzende Zusatznote von Berthier aushändigen lassen. Siehe Article Additionnel, Piktupöhnen, 27.6.07. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 36. Hierzu Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 463 f., 474 – 476, 481 f. 106 Siehe Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 480. 107 Siehe Friedrich Wilhelm an Luise, Piktupöhnen, 26.6.07. Bailleu, Verhandlungen, Nr. 7, S. 40. Hier auch die Beschreibung des gesamten Treffens (S. 40 – 42). Auch Schladen, Preußen, S. 245. Stamm-Kuhlmann, König, S. 254. 108 Siehe Immediatbericht Kalckreuth, Tilsit, 30. 6. 1807. Bailleu, Preußen und Frankreich, Bd. 2, Nr. 445, S. 590. 109 „Ce monstre vomi par l’enfer, formé par Belzébuth pour être le fléau de la terre.“ Friedrich Wilhelm an Luise, Piktupöhnen, 26.6.07. Bailleu, Verhandlungen, Nr. 7, S. 40. 110 Statt vieler siehe Oskar Marschall von Bieberstein (Übers.), Napoleon I. nach den Memoiren seines Kammerdieners Constant, 3 Bde., Leipzig 1904, hier Bd. 2, S. 88.
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beau, bon et jeune empereur; il a de l’esprit plus que l’on ne pense communément.“111 Nachdem Tilsit für neutral erklärt worden war, bezogen die zwei Herrscher dort ihr Quartier und, wenn der preußische König abends die Stadt verließ, um in Piktupöhnen die Nacht zu verbringen, besprachen sie hier neben allerlei Trivialitäten auch die Zukunft Europas.112 Obwohl Napoleon mit Friedrich Wilhelm bald standesgemäßer verfuhr, ihn etwa von einer französischen Ehreneskorte abholen ließ und das Vorstellungszeremoniell endlich nachholte,113 machte er ihm immer wieder deutlich, dass er im preußischen König keinen gleichrangigen Verhandlungspartner erkannte.114 Der Verhandlungsmodus in Tilsit war insofern eine Besonderheit, als dass sich seit dem frühen 17. Jahrhundert in Europa die Praxis eingeübt hatte, Bevollmächtigte mit Friedensgesprächen zu betrauen.115 Napoleon soll demungeachtet dem Zaren vorgeschlagen haben: „Je serai votre secrétaire. Sire, et vous serez le mien.“116 Der Zar ließ sich, nachdem die Ernennung Hardenbergs zum gemeinsamen Unterhändler der Verbündeten gescheitert war, auf eine persönliche Verhandlungsführung ein. Zwar wurden offiziell Lobanof und Kurakin zusammen mit Kalckreuth und August Friedrich von der Goltz, der das Portefeuille des Auswärtigen von Hardenberg übernommen hatte, dazu bestimmt, den Frieden mit Talleyrand auszuhandeln, doch zu ernsthaften Gesprächen ist es zwischen ihnen nie gekommen. Unter Ausschluss der Preußen besprachen die russischen Unterhändler mit Talleyrand allein die Details des Friedens, auf dessen zentrale Elemente sich Alexander und Napoleon zuvor geeinigt hatten.117 Diese Form der Verhandlungen stellt, dies sei hier kurz angemerkt, 111 Napoleon an Joséphine, Tilsit, 25. 6. 1807. Napoléon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12825, S. 372. 112 Zum Alltag der Verhandlungen siehe Napoleon an Joséphine, Tilsit, 3.7.07. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12842, S. 380. Vandal, Napoléon, S. 80 – 85. Friedrich M. Kircheisen, Gespräche Napoleons des Ersten in drei Bänden, 3 Bde., 2. Aufl., Stuttgart 1911 – 1913, hier Bd. 3, S. 48. Thiry, Eylau, S. 195 – 203. Knaake, Monarchenzusammenkünfte, S. 270 – 273. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 481, 490. 113 Siehe Mieck, Rettung, S. 27. Auch Friedrich Wilhelm empfand Napoleon von nun an als etwas zuvorkommender. Siehe Friedrich Wilhelm an Luise, Piktupöhnen, 29. 6. 1807. Bailleu, Verhandlungen, Nr. 13, S. 204. 114 Siehe Napoleons Äußerung gegenüber Friedrich Wilhelm: „V.M. oublie qu’elle n’est pas dans le cas de traiter avec moi et que ce n’est qu’avec l’Empereur de Russie que je negocie“. Zit. n. Paul Bailleu, Königin Luise in Tilsit, in: Hohenzollern-Jahrbuch 3 (1899), S. 221 – 240, hier S. 240. Siehe auch Kircheisen, Gespräche, Bd. 3, S. 252. 115 Siehe Heinz Duchhardt, Peace Treaties from Westphalia to the Revolutionary Era, in: Ders., Frieden im Europa der Vormoderne. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. und eingeleitet von Martin Espenhorst, Paderborn 2012, S. 87 – 100, hier S. 92 – 94, 98 – 100. Franz Bosbach, Friedensverhandlungen, in: Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde., Stuttgart/Weimar 2005 – 2012, hier Bd. 4, S. 34 – 41, hier S. 35 – 39. 116 Zit. n. Hardenberg, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 490. 117 Siehe Friedrich Wilhelm an Luise, Piktupöhnen, 3. 7. 1807. Bailleu, Verhandlungen, S. 214 f. Waresquiel, Mémoires, S. 256 f. Tagebucheintrag Hardenbergs vom 1. 7. 1807. Stamm-Kuhlmann, Tagebücher, S. 526. Jackson, Diaries, Bd. 2, S. 169. Auch Vandal, Napo-
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen
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auch jeden Versuch einer genauen Rekonstruktion der Vorgänge in Tilsit vor große Schwierigkeiten. Da weder Protokolle noch zuverlässige Aufzeichnungen der beiden Herrscher über die Gespräche existieren, lässt sich nur auf einige wenige Notenwechsel, die Briefe Friedrich Wilhelms an Luise und einzelne Aussagen aus dem näheren Umfeld der Verhandlungspartner zurückgreifen. Schon im Vorfeld der Verhandlungen hatte man sich im alliierten Lager Gedanken über den kommenden Frieden gemacht. So hatte Hardenberg am 21. und 22. Juni in mehreren Konferenzen mit dem russischen Außenminister v. Budberg, dem Zaren und Friedrich Wilhelm einen umfassenden Plan für die Neuordnung Europas entworfen,118 der auf dem Gedanken einer Erweiterung der Stellung Preußens zur norddeutschen Großmacht basierte. Hardenberg glaubte, am grünen Tisch jene außenpolitischen Ziele realisieren zu können, die er seit langem als vitale Interessen Preußens betrachtete.119 Es sollten die Gebiete östlich der Weser und nördlich des Mains entweder direkt an Preußen fallen oder in Form einer Föderation mit der preußischen Krone verbunden werden. Zu den Ländern, die Hardenberg für Preußen gewinnen wollte, zählte auch Sachsen, dessen Herrscher mit der Königskrone eines wiederhergestellten Polens zu entschädigen war. Schließlich sah der Entwurf die Aufteilung der osmanischen Besitzungen in Europa zwischen Österreich, Russland und Frankreich vor. Als Krönung dieser Friedensordnung entwarf Hardenberg den Plan einer preußisch-russisch-französischen Allianz, deren Zweck es sein sollte, England zum Frieden zu zwingen. Obwohl diese „plans gigantesques“120 einer realistischen Einschätzung der politischen Lage Europas völlig entbehrten, wurden sie von Friedrich Wilhelm und Alexander gebilligt. Auf diese Weise ist auch die Idee von der Aufteilung der Türkei Teil der Instruktion an Kalckreuth geworden;121 in allen seinen Bestandteilen wurde der „Hardenberg-Plan“ aber offensichtlich niemals Gegenstand der Friedensgespräche, obzwar sich einige Überlegungen später im russisch-französischen Allianzvertrag wiederfanden. Im russischen Lager hatte man sich schon kurz nach den Konsultationen von Sczawl eine eigene Verhandlungsstrategie überlegt, die beweist, dass der Zar zu jedem Zeitpunkt eine klar formulierte Agenda verfolgte, die er ungeachtet aller oberflächlichen Freundschaftsbekundungen gegenüber Napoleon nie aus den Augen verlor. Zwischen Unterzeichnung des russisch-französischen Waffenstillstands und dem 27. Juni entstand etwa der von Alexander autorisierte „Entwurf von Instrukléon, Bd. 1, S. 81 – 85, 93. Sorel, Révolution, S. 180. Grimsted, Foreign Ministers, S. 162. Tatistcheff, Alexandre, S. 160 f. 118 Siehe hierzu GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 46 – 47v. Der Plan auch in Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 458 – 462. Hierzu Butterfield, Peace Tactics, S. 219 – 221. Vandal, Napoléon, S. 70 f. 119 Siehe Dwyer, Two Faces, S. 85 f. 120 Friedrich Wilhelm an Luise, Sczawl, 22. 6. 1807. Bailleu, Verhandlungen, Nr. 4, S. 35 (im Original gesperrt). 121 Instruktion an Kalckreuth, Tauroggen, 23. 6. 1806, Konzept, abgeg. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 25 – 26. Auch in Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 463 f.
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tionen für die Bevollmächtigten für die Verhandlungsführung über einen Frieden mit Frankreich“, der vermutlich für den russischen Unterhändler Kurakin bestimmt war und heute in gedruckter Form nur in russischer Sprache verfügbar ist.122 Nach einer gründlichen Abwägung der voraussichtlichen französischen Forderungen in den anstehenden Friedensverhandlungen wurden darin die russischen Interessen formuliert: In Kontinuität zur russischen Außenpolitik des vergangenen Jahrhunderts wurde der Bosporus zur exklusiven Einflusssphäre Russlands erklärt; um jeden Preis sollte Frankreich von einer Einmischung in diesem Raum und in die russisch-osmanischen Beziehungen abgehalten werden. Unter Umständen sei allerdings ein Frieden mit dem Osmanischen Reich, eventuell auch unter französischer Vermittlung, ebenso wie ein vorläufiger Rückzug aus den Donaufürstentümern möglich, hieß es weiter, doch erwartete der Zar von Frankreich den weitestgehend ungeschmälerten territorialen Fortbestand Preußens; allenfalls im Tausch für Lübeck, Hamburg und sächsisches Territorium sei die Abtretung preußischer Gebiete westlich der Elbe denkbar. Die Gründe für die, wenn es um das preußische Herrschaftsgebiet geht, starre russische Haltung wurden eindeutig benannt. Die Hohenzollernmonarchie sollte nämlich als Pufferstaat, als „solide Barriere“123, ein Vordringen Frankreichs in den ostmitteleuropäischen Raum verhindern. Damit sollten nicht nur etwaige Konflikte mit dem Kaiserreich verhindert, sondern auch die französische Unterstützung für polnische Unabhängigkeitsbestrebungen im Russischen Reich unterbunden werden. Vorrangig aus diesen geopolitischen Überlegungen heraus, und nicht etwa aus Sentimentalität, war der Zar dazu bereit, um den Erhalt einer respektablen preußischen Macht willen auf die Erweiterung seines Reiches in Richtung Süden zu verzichten. Die aus russischer Sicht enge Verknüpfung zwischen der polnisch-ostmitteleuropäischen und der orientalischen Frage,124 die später wesentlich die Lage Preußens nach dem Tilsiter Frieden bestimmte, war also schon in den ersten Verhandlungstagen ein bestimmender politischer Faktor. Die entscheidende Frage, die immer wieder hinsichtlich der Tilsiter Friedensverhandlungen gestellt wurde, ist die nach den Zielen Napoleons. Hatte er tatsächlich die Vernichtung Preußens im Sinn, wie bis heute oftmals zu lesen ist? Immerhin lässt dies Artikel 4 des russisch-französischen Friedensvertrags vermuten, wo es heißt, „par égard pour S. M. l’Empereur de toutes les Russies“125 werde der König von 122 Vnesˇnaja politika Rossii XIX nacˇ ala XX veka. Dokumenty Rossijskogo ministerstva inostranny del. Ser. 1: 1801 – 1815, Bd. 3, Moskau 1963, S. 754 – 757. Siehe hierzu Claus Scharf, Rußlands Politik im Bündnis von Tilsit und das Erfurter Gipfeltreffen, in: Rudolf Benl (Hrsg.), Der Erfurter Fürstenkongreß 1808. Hintergründe, Ablauf, Wirkung, Erfurt 2008, S. 167 – 221, hier v. a. S. 192 – 194. Das Konzept des Entwurfs wurde bereits früher von der Forschung beachtet. Siehe etwa Martens, Recueil (Russie), Bd. 6, S. 420 – 422. Gustav Roloff, Die Errichtung des Großherzogtums Warschau, in: FBPG 23 (1910), S. 181 – 189, hier S. 183. Butterfield, Peace Tactics, S. 367 – 371. 123 Vnesˇnaja politika Rossii Ser. 1, Bd. 3, S. 754. 124 Hierzu Scharf, Rußlands Politik, S. 194 f. 125 Traité de paix entre la France et la Russie, Tilsit, 7. 7. 1807. Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 48, S. 279.
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen
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Preußen in seinen Ländern restituiert. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich in Deutschland,126 aber teilweise auch in der ausländischen Geschichtsschreibung,127 die von dieser Formulierung beeinflusste Sichtweise durchgesetzt, wonach Napoleon allein aufgrund des Widerspruchs des Zaren davon abging, Preußen zu vernichten. Dieser Darstellung leisteten allen voran die Aufsätze von Hans Delbrück, Max Lenz und Max Lehmann aus den Jahren 1910 und 1911 Vorschub.128 Man folgte mithin einem Narrativ, das Alexander retrospektiv zu einem Verfechter der Legitimität stilisierte.129 Im Gegensatz dazu konnte Ilja Mieck in Anlehnung an die ältere, von der Forschung kaum beachtete Dissertationsschrift von Ferdinand Tempel nachweisen,130 dass die Auflösung der Hohenzollernmonarchie zu keinem Zeitpunkt in Tilsit diskutiert wurde. Auch wenn die Ausführungen Miecks und Tempels in einigen Punkten korrekturbedürftig sind, lagen sie damit doch im Kern richtig. Die These von dem Beinahe-Untergang Preußens stützt sich neben dem vierten Artikel des Friedensvertrags maßgeblich auf die Präambel (!) eines Ediktentwurfs, der, im November 1806 verfasst, die Absetzung der Hohenzollern proklamierte; darin wurde der Beweis dafür gesehen, dass Napoleon unmittelbar seit Kriegsausbruch das Ziel gehabt habe, die Hohenzollernmonarchie aufzulösen.131 Doch deutet schon das Zustandekommen dieses Dokuments auf dessen geringe Bedeutung für die französischen Planungen hin;132 und selbst wenn Napoleon unter dem Eindruck der Ereignisse (Preußen hatte gerade ein Waffenstillstandsangebot abgelehnt) tatsächlich die Entthronung Friedrich Wilhelms in Erwägung gezogen haben sollte, so beweist schon sein weiteres diplomatisches Vorgehen während des Kriegs, dass dieses Vorhaben schnell zu Gunsten anderer Überlegungen – nämlich dem Gedanken der Durchsetzung der französischen Interessen mithilfe des preußischen „Faustpfands“ – aufgegeben worden sein muss. Auch die von Napoleon initiierten Ver126 Dies gilt auch für Darstellungen der jüngsten Vergangenheit. Siehe etwa Ilja Mieck, Preußen von 1807 bis 1850. Reformen, Restauration und Revolution, in: Wolfgang Neugebauer/Otto Büsch (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, 3 Bde., Berlin/New York 1992 – 2009, hier Bd. 2, S. 3 – 292, hier S. 31. Fehrenbach, Ancien Régime, S. 52. Eine Übersicht über den Forschungsstand zur Jahrtausendwende bietet Mieck, Rettung, S. 15 – 17. Zur älteren Forschung siehe Tempel, Verhandlungen, S. 1 – 3. 127 Siehe etwa Clark, Preußen, S. 362. 128 Siehe Delbrück, Frage, passim. Lenz, Neues, S. 15 – 17, S. 14 f. Schon zuvor hatte Lenz sich dem Thema angenähert in ders., Tilsit, passim. Überdies Lehmann, Frieden, passim. Siehe auch Kap. A., Fn. 8. 129 Siehe Scharf, Rußlands Politik, S. 196. 130 Siehe Mieck, Rettung, S. 23. 131 So etwa Delbrück, Frage, S. 323. 132 Die Präambel basierte auf einer Denkschrift des Comte d’Hauterive, in der die Möglichkeit einer Vernichtung der Hohenzollernmonarchie geschildert wurde. Ursprünglich hatte er von Napoleon den Auftrag bekommen, sich nur über die künftige Gestalt Norddeutschlands angesichts eines stark verkleinerten Preußens zu äußern. Der Präambelentwurf selbst stammt von Jean-Baptiste de Gouey La Besnardière. Siehe hierzu Bailleu, Preußen und Frankreich, S. 581 – 583. Auch Mieck, Rettung, S. 33.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
waltungsmaßregeln in den besetzten Gebieten, auf die noch ausführlich einzugehen sein wird, begründen keine andere Sichtweise.133 Der künftige territoriale Bestand Preußens war bereits vor den offiziellen Friedensverhandlungen Gegenstand von Gesprächen zwischen Russland und Frankreich. Napoleon hatte schon am Abend der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags gegenüber dem russischen Unterhändler Lobanof die Weichsel als künftige Westgrenze des Russischen Reichs ins Gespräch gebracht.134 Aus dem „Entwurf einer Ergänzung zu den Instruktionen“, der zwischen dem 27. und 30. Juni im Umfeld des Zaren entstanden sein muss, ergibt sich, dass dieser Grenzverlauf während der ersten Hälfte der Friedensverhandlungen weiter diskutiert wurde;135 nach diesem Dokument wurde Russland allerdings nur die Annexion der ehemals polnischen Territorien östlich der Weichsel, die unter preußische Herrschaft standen, angeboten, wohingegen aus den westlich gelegenen Teilen des vormaligen Polens und aus Schlesien ein neuer Staat für Jerome Bonaparte entstehen sollte.136 Nichts weist darauf hin, dass das Angebot Napoleons unmittelbar auf die gänzliche Auflösung Preußens abzielte;137 an keiner Stelle des russischen Textes ist etwa explizit von einem Erwerb Ostpreußens durch Russland die Rede. Zwar hieß es, dass die Annahme der Weichselgrenze in Frage kommen könne, wenn Preußen links der Elbe adäquat entschädigt werde, doch verstand man dies wahrscheinlich als eine Kompensation für eine russische Annexion Neuostpreußens. In Anbetracht der Ausführlichkeit der Instruktion erscheint es zumindest wenig plausibel, dass eine so 133
In der Vereidigung der Beamten und der Einteilung Preußens in Besatzungsverwaltungsdepartements wurden vielfach Hinweise auf das Vorhaben zur Vernichtung Preußens gesehen. Siehe etwa Lenz, Neues, S. 16 oder Stamm-Kuhlmann, König, S. 256 f. Bassewitz erkannte darin ebenso wie in französischen Münzen, auf denen die Vernichtung Preußens verherrlicht wurde, reine Propagandamaßnahmen. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 311, 315. Die administrativen Maßnahmen Napoleons standen tatsächlich in völliger Tradition zum Verhalten von Besatzungsmächten vorangegangener Jahrhunderte. Siehe hierzu Kap. D. I. 134 Siehe Marcel Handelsman, Napoléon et la Pologne. D’Après les documents des Archives Nationales et les Archives du Ministère des Affaires Étrangères, Paris 1909, S. 125. Tatistcheff, Alexandre, S. 135 f., 140. 135 Siehe den Text in Vnesˇnaja politika Rossii Ser. 1, Bd. 3, S. 757 – 759. In Auszügen in Martens, Recueil (Russie), Bd. 6, S. 420. Ausführlich hierzu auch Scharf, Rußlands Politik, S. 195 f. Mieck lag falsch, als er mutmaßte, Napoleon habe schon während des ersten Zusammentreffens mit dem Zaren, die Memel als Westgrenze Russlands angeboten; die Weichsel sei, wenn überhaupt nur kurz Gegenstand des Gesprächs gewesen. Indem er die Angaben Lettow-Vorbecks missverstand, und den Briefwechsel zwischen Alexander und Napoleon falsch datierte, kam dieser Irrtum zustande. Siehe Mieck, Rettung, S. 24. 136 Tempel muss in diesem Punkt falsch gelegen haben. Er behauptete, gestützt auf einen Bericht des schwedischen Botschafters vom 2. Juli, schon während des ersten Treffens habe die Übergabe der polnischen Gebiete an Sachsen und der Verlust der westlich der Elbe gelegenen Territorien mit Sicherheit festgestanden. Siehe Tempel, Verhandlungen, S. 33. Dem widerspricht schon der Tagebucheintrag Hardenbergs vom 30. Juni, worin er die Abtretung Schlesiens an Jerome Bonaparte und die Übertragung von Polen an Russland zu den festen Absichten Napoleons zählte. Siehe Stamm-Kuhlmann, Tagebücher, S. 525. 137 So noch Delbrück, Frage, S. 326.
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gravierende Gebietsveränderung wie der preußische Verlust von Ostpreußen unerwähnt geblieben wäre. Neben der Weichselgrenze brachte Napoleon später wohl auch die Vereinigung aller polnischen Gebiete unter einer Krone, die Alexander tragen sollte, ins Gespräch. Im Gegenzug forderte er für Jerome Schlesien und stellte für Preußen eine Entschädigung von 600 000 „Seelen“ westlich der Elbe in Aussicht.138 Die Ablehnung Alexanders, der sich weder auf Kosten seines Verbündeten derart bereichern wollte, noch ein Interesse an einer gemeinsamen Grenze mit dem Reich eines Napoleoniden hatte, verhinderte auch die Umsetzung dieses Gedankenspiels. Für Russland war es von vitaler Bedeutung, dass gerade Schlesien, die reichste Provinz Preußens und Angelpunkt zur Kontrolle Ostmitteleuropas, nicht unter die Kontrolle Napoleons fiel; auch in den folgenden Jahren, als erneut der Gewinn Schlesiens für Napoleon im Raum stand, weigerte sich Russland beharrlich dem zuzustimmen. Noch im Verlauf des 30. Juni muss Napoleon denn auch offiziell diese Vorschläge – die Hardenberg noch am selben Tag in seinem Tagebuch erwähnte139 – fallen gelassen haben. Zumindest schrieb Friedrich Wilhelm an diesem Tag an die Königin, dass Schlesien für Preußen gerettet sei, „mais il (Napoleon; S.P.) demande la Prusse méridionale et la nouvelle [Prusse] orientale pour la Saxe en sus.“140 Südpreußen und Neuostpreußen also an Sachsen – dies war der neue Plan des Kaisers, der vielleicht die Grundlage einer Einigung mit Russland bieten mochte. Unklar war aber noch, in welcher Form die ehemaligen Teile Polens mit Sachsen verbunden werden sollten. Da Napoleon nach wie vor Jerome als Sachwalter seiner Interessen im äußersten Osten sehen wollte, schlug er zunächst vor, diesen zum Herrscher über ein Herzogtum von Warschau zu machen und ihn zugleich mit einer sächsischen Prinzessin zu verheiraten, so dass der Grundstein für ein sächsisch-polnisches Reich gelegt worden wäre.141 Aufgrund des russischen Widerstandes musste Napoleon auch von dieser Idee schließlich ablassen. Eine enge Allianz zwischen Russland und Frankreich hänge entscheidend von den „relations géographiques“ ab, schrieb Napoleon dem Zaren am 4. Juli. Grenzstreitigkeiten, wie sie durch die Berufung Jeromes auf den Thron von Warschau entstehen könnten, würden den Keim für künftige Kriege legen, hieß es weiter. Daher verzichtete Napoleon auf die angedachte Heirat und versicherte, seinen unmittelbaren Einfluss nicht über die Elbe hinaus ausdehnen zu wollen, so dass das Gebiet von diesem Fluss bis zur Memel eine Barriere zwischen beiden Reichen 138
Siehe Tagebucheintrag Hardenbergs v. 30. 6. 1807. Stamm-Kuhlmann, Tagebücher, S. 525. Hierzu Roloff, Errichtung, S. 185. Delbrück, Frage, S. 318 – 320. 139 Siehe Tagebucheintrag Hardenbergs v. 30. 6. 1807. Stamm-Kuhlmann, Tagebücher, S. 525. 140 Friedrich Wilhelm an Luise, Piktupöhnen, 30. 6. 1807. Bailleu, Verhandlungen, Nr. 15, S. 206 f. 141 Siehe Roloff, Errichtung, S. 186 f. Keinerlei Belege gibt es für die Behauptung, Sachsen sowie die polnischen Provinzen und Schlesien hätten direkt an Jerome fallen sollen. So etwa in Scharf, Rußlands Politik, S. 195 und Duncker, Preußen, S. 277 f.
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bilden könne. Weil permanente Konflikte mit den Rheinbundfürsten abzusehen seien, sei jedoch eine Entschädigung Preußens auf dem linken Elbeufer unzweckmäßig. Stattdessen, fuhr Napoleon fort, sollten die Länder, die Königsberg von Berlin trennen – also das ehemals polnische Westpreußen, das bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht zu Disposition stand – mit rund 300 000 Seelen an den preußischen König fallen; allein Danzig sollte als freie Stadt einen autonomen Status genießen. Dass Russland nicht völlig leer ausgehen durfte, darüber war sich Napoleon im Klaren. Schon im Konzept des russischen Instruktionsentwurfs galt etwa das preußische Territorium zwischen Kurischem Haff und russischer Grenze als wünschenswerter Zugewinn für das Russische Reich. Nun bot Napoleon Alexander den Erwerb des preußischen Territoriums bis zur Memel an, wofür Preußen im Gegenzug mit sächsischem Gebiet adäquat entschädigt werden konnte.142 Am folgenden Tag wurden diese Vorschläge zwischen der russischen und französischen Seite diskutiert. Eine Einigung schien früh in Sicht. Nur über die Grenze Russlands zum künftigen Herzogtum von Warschau war man sich noch nicht einig. Außerdem bestand Alexander nach wie vor auf eine territoriale Entschädigung Preußens auf dem linken Elbeufer mit mindestens 200 000 Einwohnern.143 Am 6. Juli schlug Napoleon deshalb ein sogenanntes „mezzo-termine“ vor, das die wesentlichen Streitpunkte ausräumte; es sah vor: 1. Nur für den Fall, dass Hannover nach einem späteren Frieden mit England bei Westphalen verbleiben sollte, würde Preußen mit 300 000 bis 400 000 Menschen westlich der Elbe entschädigt werden. 2. Russlands Westgrenze sollte sich nicht wie von russischer Seite gefordert auf Neuostpreußen bis unmittelbar vor Warschau erstrecken, sondern den Flüssen Narew, Nurzek und Bug folgen. 3. Der Großteil Westpreußens sollte bei Preußen verbleiben. Mit diesem Vorschlag war der Weg für den russisch-französischen Friedensvertrag frei, der am nächsten Tag unterzeichnet wurde.144 Preußen wurde am Ende in Tilsit nicht direkt von Alexander gerettet – eine Vernichtung stand erst gar nicht zur Debatte, weil Napoleon an der schieren Existenz des Machtfaktors Russland, an den überpersonalen machtpolitischen Strukturen, die ihre eigenen Gesetzlichkeiten entwickelten, nicht vorbeikalkulieren konnte. Ihm war klar, dass eine Annäherung an Russland, dessen Freundschaft er für den Krieg gegen England brauchte, nur auf der Basis eines do ut des möglich war und das Bestehen Preußens war nun einmal aus russischer Sicht eine unhintergehbare Prämisse zur Sicherung Ostmitteleuropas gegen das weitere Vordringen Frankreichs.145 Aber auch 142
Siehe Napoleon an Alexander, Tilsit, 4. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12849, S. 382 – 385, hier das Zitat S. 383. Die Entschädigung mit 600 000 „Seelen“ ließ Napoleon mit der Begründung wieder fallen, dies sei nur im Falle einer Abtretung Schlesiens in Frage gekommen. Siehe Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 498. 143 Siehe Alexander an Napoleon, Tilsit, 6. 7. 1807. Tatistcheff, Alexandre, S. 466 f. 144 Siehe Napoleon an Alexander, Tilsit, 6. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12862, S. 389 – 391. 145 Zur Bedeutung der russischen Interessen für die preußische Existenz siehe Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung 1795 – 1815, 2. Aufl., Bielefeld/Leipzig 1913,
III. Alexander und Napoleon: Die Friedensverhandlungen
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Napoleon selbst durfte kein Interesse an einer direkten Grenze zu Russland gehabt haben, weshalb er seit dem ersten Verhandlungstag nach alternativen Optionen suchte, um seine Einflusssphäre Richtung Osten auszudehnen; durch die Verbindung eines Herzogtums Warschau mit dem Rheinbundstaat Sachsen ist ihm dies schließlich auch gelungen. Während sich die Übereinkunft zwischen Russland und Frankreich anbahnte, blieb die preußische Seite keineswegs tatenlos. Hardenberg war am 29. Juni noch einmal an den König mit einem Friedensplan für Europa herangetreten, der als Grundlage einer Instruktion an Goltz diente. In etwa zur gleichen Zeit legte er gegenüber dem Zaren ausführlich die Notwendigkeit eines, unter Umständen sogar um Böhmen erweiterten, starken Preußens als „état intermediaire“ dar.146 Entsprach dies noch einem vergleichsweise überlegten Vorgehen, so war der Versuch, durch eine Begegnung zwischen der preußischen Königin Luise und Napoleon vorteilhafte Friedensbedingungen für Preußen zu erreichen, kaum mehr als ein reiner Verzweiflungsakt.147 Der „Bittgang“ Luises hat viel zur ihrer Popularität beigetragen, und ist sicherlich Zeugnis ihrer Courage; eine Chance, einen Haltungswandel bei Napoleon zu erreichen, hatte die Königin allerdings nicht. Goltz hatte schon früh darauf gedrängt, dass Preußen versuchen sollte, die Verhandlungen in die eigenen Hände zu bekommen, um nicht allein auf den Zaren vertrauen zu müssen.148 Aber erst am 7. Juli gewährte ihm Napoleon endlich eine Audienz. In arger Erregung über den hartnäckigen preußischen Kabinettsminister schleuderte Napoleon ihm die Behauptung entgegen, er habe Jerome zum König über die Länder der Hohenzollern machen wollen; ohne den Einspruch Alexanders würde die Monarchie überhaupt nicht mehr bestehen.149 Auch dies galt vielfach als Beleg für die nur knappe Rettung Preußens durch den Zaren.150 Mit dieser offensichtlichen Übertreibung dürfte es Napoleon aber wohl eher um die Absicht bestellt gewesen sein, dem lästigen Preußen deutlich zu machen, dass bessere Konditionen einfach nicht zu haben waren. S. 110. Den späteren Behauptungen Napoleons, Alexander hätte, wenn er darauf bestanden haben würde, der Entthronung der Hohenzollern zugestimmt, ist kein Glaube zu schenken. So behauptet in Wencker-Wildberg/Kircheisen, Memoiren, Bd. 9, S. 457. 146 Siehe Hardenberg an Friedrich Wilhelm, Piktupöhnen, 28. 6. 1807 und Hardenberg an Alexander, Piktupöhnen, 6. 7. 1807. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 493 f., 502 – 507, hier das Zitat S. 504. 147 Siehe hierzu unter anderem Sophie Marie Gräfin von Voß, Neunundsechzig Jahre am Preußischen Hofe, 6. Aufl., Leipzig 1894, S. 307. Bailleu, Luise, S. 224 – 238. Kircheisen, Gespräche, Bd. 3, S. 273 – 286. 148 Siehe Goltz an Hardenberg, Tilsit, 2. 7. 1807. Bailleu, Preußen und Frankreich, Nr. 446, S. 590 f. 149 Zur Audienz siehe Radziwill, Fünfundvierzig Jahre, S. 231. Schladen, Preußen, S. 260 f. Bailleu, Königin, S. 238. 150 So ging etwa W. H. Zawadzki noch davon aus, ganz Preußen hätte an Jerome fallen sollen. Siehe W. H. Zawadzki, Russia and the Re-Opening of the Polish Question, in: The International History Review 7 (1985), S. 19 – 44, hier S. 33.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
In Anbetracht dieser Reaktion blieb auch das Treffen zwischen Napoleon und Friedrich Wilhelm am nächsten Tag, kaum überraschend, ohne positives Ergebnis. Da der Verlauf als hitzig beschrieben wurde,151 muss der König wohl jetzt, angesichts der offensichtlichen Notlage der Monarchie, erstmals wirklich energisch aufgetreten sein; es war eine wichtige Wegmarke in der persönlichen Entwicklung des Königs zu einem zunehmend entschlossenen Herrscher, die sich, seitdem er sich von seinem Umfeld zum desaströsen Krieg gegen Frankreich hatte bewegen lassen, beobachten lässt. Aber die einmal begangenen Fehler ließen sich jetzt nicht mehr ausmerzen, das war auch Goltz klar, der erkannte, dass man zum Abschluss des Friedens letztendlich gezwungen war.152 Am 9. Juli unterzeichneten schließlich die preußischen Bevollmächtigten den Friedensvertrag.153 Die noch am selben Tag angebotene Vermittlung Österreichs,154 das bei den weitreichenden Entscheidungen von Tilsit nicht abseitsstehen wollte, kam zu spät, um dies noch verhindern zu können. Drei Tage später ratifizierte Napoleon den Friedensvertrag in Königsberg. Seine Unterschrift verläuft geradezu senkrecht über das Dokument.155 Diese wie hingeworfen wirkende Form der Unterzeichnung war mehr als nur eine Unbedachtsamkeit; es war eine gezielte Provokation und ein Zeichen der Missachtung gegenüber Preußen und dessen König. Dieser erneute Bruch mit den Gepflogenheiten und formellen Standards des zwischenstaatlichen Verkehrs – das Datum der Ausstellung fehlt überdies – markiert den Schlusspunkt der von Napoleon mit Beginn der Verhandlungen verfolgten Absicht, einer öffentlichen Degradierung des unterlegenen Souveräns.
IV. Frieden im napoleonischen Zeitalter und die Krise des Jus Publicum Europaeum: Der Friedensvertrag, die Königsberger Konvention und die Kontributionen „Napoleon’s Haß und Grimm sah in dem Feinde niemals einen Edeln, (…) sondern stets nur den gemeinen Gegner, dessen man sich möglichst rasch und kurz entledigt“.156
151
Siehe Jackson, Diaries, Bd. 2, S. 164. Radziwill, Fünfundvierzig Jahre, S. 205 – 207. Siehe Immediatbericht Goltz, Tilsit, 8. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/ 1, Bl. 103 – 103v. 153 Das Original des Friedensvertrags trägt die Unterschrift von Goltz, Kalckreuth und Talleyrand. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 331 s. 154 Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 411. Lettow-Vorbeck, Krieg, Bd. 4, S. 430 – 432. 155 Die Urkunde ist zu finden in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 331/1. 156 Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, in: Karl Feilchenfeldt (Hrsg.), Karl August Varnhagen von Ense. Werke in fünf Bänden, 5 Bde., Frankfurt a. M. 1987, hier Bd. 1, S. 463. 152
IV. Frieden im napoleonischen Zeitalter und die Krise des Jus Publicum Europaeum 71
Bereits am 7. Juli wurde der russisch-französische Friedensvertrag geschlossen.157 In den Artikeln 4, 5 und 9 einigten sich Russland und Frankreich auf den künftigen territorialen Bestand Preußens: Im Westen sollte fortan die Elbe die preußische Grenze bilden; sämtliche Gebiete links des Flusses gingen also verloren, einschließlich der Altmark und des linkselbischen Teils des Magdeburger Bistums. An Sachsen sollte der Cottbusser Kreis fallen, welchen Napoleon schon in Artikel 6 des Friedens von Posen dem sächsischen König versprochen hatte.158 Außerdem wurde beschlossen, aus jenen preußischen Gebieten, die noch nach 1772 zum Königreich Polen gehört hatten, das Herzogtum Warschau zu bilden und dieses in Personalunion vom sächsischen König regieren zu lassen; ausdrücklich ausgenommen waren indes Neuschlesien sowie der Großteil Westpreußens nördlich der Linie Driesen-Schneidmühle-Waldau-Weichsel – nahezu der gesamte Netzedistrikt ging demnach verloren. Bei Preußen verblieben die östliche Hälfte des Kulmer Landes und die Festung Graudenz. Danzig wurde, wie von Napoleon gefordert, zur unabhängigen Stadt erklärt und zumindest formell unter den gemeinsamen Schutz Preußens und Sachsens gestellt. Die russischen Gebietsaspirationen wurden befriedigt, indem entsprechend der Übereinkunft vom 6. Juli ein Gebietsstreifen in Neuostpreußen, der sich östlich der Flüsse Bug, Nurzek, Narew und Bober befand – der sogenannte „Bialystoker Kreis“ –, dem Russischen Reich zugesprochen wurde. Die preußischen territorialen Verluste betrugen somit verglichen mit dem Besitzstand zu Kriegsbeginn rund 50 %. Die Tatsache, dass der Friedensschluss vom 7. Juli die wesentlichen Bestimmungen des preußischen Friedensvertrags vorwegnahm,159 unterstrich erneut die schwache Stellung Preußens in der europäischen Mächtehierarchie. Russland und Frankreich wurden faktisch zu Garantiemächten der Hohenzollernmonarchie;160 immerhin hatte dies zur Folge, dass Preußen bei französischen Verstößen gegen die Bestimmungen der Verträge auf die Unterstützung des Zaren hoffen konnte. Doch Frankreich ist es gelungen, Russland seiner Einflussmöglichkeiten weitestgehend zu berauben. Nach Artikel 28 des preußischen Vertrags war eine Konvention zwischen der Hohenzollernmonarchie und dem französischen Kaiserreich zu schließen, in der sowohl der Abzug der französischen Truppen aus Preußen, als auch die Details hinsichtlich der zivilen wie militärischen Verwaltung in den besetzten Gebiete geregelt werden sollten. Um zu einer entsprechenden Einigung zu gelangen, reisten 157 Traité de Paix entre la France et la Russie, Tilsit, 7. 7. 1807. Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 48, S. 278 – 285. 158 Frieden von Posen, Posen, 11. 12. 1806. Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 45, S. 267. 159 Traité de Paix conclu entre la France et la Prusse, Tilsit, 9. 7. 1807. Ebd., Nr. 49, S. 291 – 300. Hier wurde der territoriale Bestand Preußens in den Artikeln 2, 12, 13, 14, 18 und 19 geregelt. Dass ausdrücklich die Gebiete genannt wurden, die bei Preußen verblieben und nicht, wie sonst üblich, nur die abgetretenen Territorien, ist als ein weiterer von vielen Versuchen Napoleons zu werten, der fragilen Stellung des Königreichs auch formellen Ausdruck zu verleihen. 160 Siehe Vandal, Napoléon, Bd. 1, S. 100 f.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
Kalckreuth und Goltz zu Napoleon, der sich in Königsberg aufhielt. Goltz war sich bewusst, dass hier über vitale Interessen Preußens verhandelt werden sollte. Gegenüber Kalckreuth machte er unmissverständlich deutlich, dass vor allem erreicht werden müsse, dass alle offenen Kontributionsforderungen, die Frankreich gegenüber Preußen erhob, für erledigt erklärt werden.161 Von den Verhandlungen wurde Goltz jedoch systematisch ausgeschlossen.162 Den ersten Konventionsentwurf, den er vorgelegt bekam, lehnte Kalckreuth gerade auch aufgrund „différentes observations“ hinsichtlich der Kontributionen ab. Nachdem sich Napoleon aber einer Revision des Vertrags verweigert hatte, sah sich Kalckreuth allem Protest zum Trotz zur Unterschrift gezwungen.163 Von den Zeitgenossen und der Geschichtsschreibung ist er dafür vielfach kritisiert worden;164 letztendlich war ihm aber keine andere Wahl geblieben. „Wie EW. K. M. wissen, läßt sich nichts opponiren“165, hatte er an den König geschrieben und damit seine, wie überhaupt die Lage Preußens, recht treffend beschrieben. Nichtsdestotrotz betrachtete Kalckreuth seine Mission zunächst als einen Erfolg. Immerhin konnte er einen früheren Abzug der Truppen als im ursprünglichen Konventionsentwurf vorgesehen erreichen; bis zum 1. Oktober 1807 sollte der etappenweise Abzug abgeschlossen sein. Diese Zusage wurde aber nur bedingungsweise gemacht, denn in Artikel 4 der Konvention hieß es: „Les dispositions ci-dessus auront lieu aux époques determinées, dans le cas où les contributions frappées sur le pays seraient acquittées, bien entendu que les contributions seront censées acquitées quand des sûretés suffisantes seront reconnues valables par l’IntendantGénéral de l’armée (…).“166
Der Rückzug würde also nur dann erfolgen, wenn sämtliche Kontributionen, die Frankreich während des Krieges ausgeschrieben hatte, bezahlt oder ausreichende Sicherheiten für diese gegeben sein würden. Bis dahin, so der Vertragstext, würden auch die Revenuen des Landes weiter in französische Kassen fließen (Art. 5). Bedenken musste es vor allem erregen, dass im Gegensatz etwa zum Friedensvertrag 161 Siehe Goltz an Kalckreuth, Tilsit, 10. 7. 1807. Bailleu, Preußen und Frankreich, Bd. 2, Nr. 452, S. 596. 162 Siehe Immediatbericht Goltz, Königsberg, 12. 7. 1807, Auf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 118 – 119v. 163 Siehe Berthier an Kalckreuth, Königsberg, 12. 7. 1807. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 519 f., hier das Zitat S. 519. 164 So Roux an Hardenberg, Königsberg, 14. 7. 1807. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 521 f. Auch ebd., S. 520. Anders urteilte schon Friedrich Buchholz, der auf die grundsätzliche Machtlosigkeit Kalckreuths verwies. Siehe Friedrich Buchholz, Gallerie Preussischer Charaktere, s. l. 1808, S. 196 f. 165 Immediatbericht Kalckreuth, Königsberg, 12. 7. 1807. Bailleu, Preußen und Frankreich, Bd. 2, Nr. 453, S. 596. 166 Convention entre la France et la Prusse pour l’exécution de l’art. 28 du traité de Tilsit, relatif à l’évacuation et à la remise des États Prussiens. Königsberg, 12. 7. 1807. Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 50, S. 301 – 303.
IV. Frieden im napoleonischen Zeitalter und die Krise des Jus Publicum Europaeum 73
von Pressburg, der zwei Jahre zuvor zwischen Frankreich und Österreich geschlossen worden war, die Höhe der noch rückständigen Summe nicht genannt wurde.167 Es drohten umfangreiche Forderungen auf Preußen zuzukommen. Bis zu deren Erfüllung war es Napoleon möglich, die Besetzung fortdauern zu lassen und somit Preußen nicht nur wirtschaftlich auszubeuten, sondern auch als machtpolitischen Faktor dauerhaft auszuschalten.168 Darüber hinaus erlaubte der Verbleib der französischen Armee in Preußen es Napoleon, gegenüber Russland und Österreich ein Drohpotenzial aufrechtzuerhalten,169 das der Durchsetzung weiterreichender Ziele dienen konnte. Die Intention, die schon der Zusatznote zum Charlottenburger Waffenstillstand zugrunde lag, nämlich das preußische „Faustpfand“ zu verwenden, um die anderen europäischen Mächte zu Zugeständnissen zu zwingen, bestimmte also auch das französische Vorgehen in Königsberg. Die Konvention war demnach Bestandteil der außenpolitischen Strategie Frankreichs, die schon im Verlauf der ersten Kriegsmonate formuliert worden war. Damit ist Frankreich in Königsberg ein Coup gelungen. Zwar hatte Russland in Tilsit ohne große Mühe erreicht, dass Preußen als „état intérmediaire“ erhalten blieb, aber das damit eigentlich verfolgte Ziel, die französische Armee von der russischen Grenze fernzuhalten, war jetzt gefährdet. Da der Zar kein Vertragspartner der Konvention war, waren noch dazu die Möglichkeiten der diplomatischen Einflussnahme äußerst beschränkt.170 Ob dieser Erfolg der französischen Diplomatie allein Napoleon zuzuschreiben ist, bleibt ungewiss. Manches spricht dafür, dass sein wichtigster außenpolitischer Berater, Talleyrand, der Kopf hinter diesem Kunstgriff war, immerhin stammt von seiner Hand die erwähnte Charlottenburger Zusatznote. Außerdem sind die Stellen in Talleyrands Memoiren, wo die Verhandlungen beschrieben werden, auffällig knappgehalten,171 obwohl in Aussagen der Beteiligten stets auf die zentrale Rolle des Mannes „hinter dem Vorhange“ hingewiesen wurde.172
167
Siehe den Separatartikel des Pressburger Friedens. Ebd., Nr. 24, S. 140. Auf die Gefahr, die von einem wiedererstarkten Preußen ausgehen könnte, hatte Napoleon während der Verhandlungen in Tilsit mehrfach hingewiesen. Siehe Bailleu, Königin, S. 238. Jackson, Diaries, Bd. 2, S. 166. Sorel, Révolution, S. 190. 169 Siehe hierzu Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 228. Barthold Georg Niebuhr glaubte schon vor Bekanntwerden der Friedensbestimmungen nicht daran, dass Preußen bald geräumt werden würde. Siehe Niebuhr an Hardenberg, s. l., (7. 7. 1807). Dietrich Gerhard/William Norvin (Hrsg.), Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs (Das Literatur-Archiv, 1), 2 Bde., Berlin 1926/29, hier Bd. 1, S. 398 f. 170 Siehe hierzu Haußherr, Erfüllung, S. 23: „Der Tilsiter Frieden war ein Zugeständnis an Rußland, die Militärkonvention war der uneingeschränkte Sieg über den Friedensvertrag hinaus“. Auch Georges Lefebvre, Napoleon, autorisierte Übersetzung aus dem Französischen, bearb. v. Peter Schrötter, Stuttgart 1989, S. 255. 171 Siehe Talleyrand, Mémoires, S. 256 – 260. 172 Siehe Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 490, hier das Zitat. Jackson, Diaries, Bd. 2, S. 169. Lacour-Gayet sowie Orieux sahen dagegen in Talleyrand nur den Exekutor der Befehle Napoleons. Siehe Jean Orieux, Talleyrand. Die unverstandene Sphinx, Frankfurt a. M. 1972, 168
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
Da zwischenstaatliche Verträge Zeugnisse der Ordnungsvorstellungen einer Epoche sind,173 gibt auch der Tilsiter Frieden Aufschluss über die völkerrechtlichen und politischen Grundtendenzen im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons. Der Charakter des Friedens, seine spezifischen Eigenschaften sind zugleich Spiegel und Produkt des Strebens nach einer fundamentalen Umwandelung der alten europäischen Ordnung. Oftmals wird unterschätzt, dass nicht nur die Kriege, sondern auch die Friedensschlüsse Elemente dieser grundsätzlich revolutionären Agenda waren. Zwischen 1797 und 1809 schloss Napoleon immerhin zwölf Friedensschlüsse mit Mittel- und Großstaaten ab, woraus schon ersichtlich wird, dass die Verträge wichtige Instrumente seiner Politik waren; umso erstaunlicher ist es, dass sie kaum systematisch untersucht wurden.174 Die napoleonischen Friedensverträge lassen sich idealtypisch in zwei Phasen einteilen:175 Die Verträge von Campo Formio (1797), Lunéville (1801) und Amiens (1802) basierten, trotz zum Teil erheblicher Gebietsgewinne für Frankreich, auf einem, wenn auch schwachen, Ausgleichsgedanken. Verschiedentlich wurde, nicht ganz zu Unrecht, behauptet, 1802 habe gar eine reelle Chance zu einer Neubalancierung des europäischen Gleichgewichts bestanden.176 Für die relative Milde dieser Verträge dürfte nicht Napoleons Interesse an einer friedlichen Konsolidierung Europas ausschlaggebend gewesen sein, sondern es fehlten eher die machtpolitischen Voraussetzungen, die zur Durchsetzung umfassenderer Forderungen notwendig gewesen wären. Napoleon mag zu Beginn seines Konsulats zudem auch ein Interesse daran gehabt haben, durch den Frieden mit dem Reich und England die eigene Herrschaft zu festigen und sich selbst als Friedensbringer zu inszenieren – erst recht, wenn sich große Territorien am Verhandlungstisch gewinnen ließen. Seit dem Dritten Koalitionskrieg besaßen die Friedensverträge einen wesentlich anderen Charakter S. 396. Georges Lacour-Gayet, Talleyrand (1754 – 1838), 3 Bde., Paris 1946/1947, hier Bd. 2, S. 212 f. 173 Siehe hierzu Ulrich Scheuner, Die großen Friedensschlüsse als Grundlage der europäischen Staatenordnung zwischen 1648 und 1815, in: Ders., Schriften zum Völkerrecht, hrsg. von Christian Tomuschat, Berlin 1984, S. 349 – 378, hier S. 350: „Sie (zwischenstaatliche Verträge; S.P.) bilden damit ein Material, aus dem sich grundlegende Ordnungselemente jenes Zeitalters entnehmen lassen.“ 174 Vergleichende Betrachtungen beschränkten sich bislang auf die formellen Elemente der Verträge. So zum Beispiel Oer, Pressburg, S. 184 – 186. Wenn man von den Friedensverträgen mit den italienischen Staaten, den deutschen Kleinstaaten und afrikanischen Potentaten absieht, zählen zu den genannten Verträge jene von Campo-Formio (1797), Paris (Frieden mit den USA, 1800), Badajoz und Madrid (1801), Lunéville (1801), Paris (Frieden mit Russland, 1801), Amiens (1802), Paris (Frieden mit dem Osmanischen Reich, 1802), Pressburg (1805), Tilsit (1807), Schönbrunn (1809), Paris (Frieden mit Schweden, 1810). 175 Hier Karl Griewank folgend. Siehe Karl Griewank, Der Wiener Kongress und die europäische Restauration, 2. Aufl., Leipzig 1954, S. 25. Die genannten Verträge in Clercq, Recueil, Bd. 1, S. 335 – 343, 424 – 429, 484 – 491. 176 So etwa Michael Erbe, Revolutionäre Erschütterung und erneutes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785 – 1830 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, 5), Paderborn 2004, S. 18 f. Schroeder, Transformation, S. 213 – 215, 227 – 230.
IV. Frieden im napoleonischen Zeitalter und die Krise des Jus Publicum Europaeum 75
und eine neue Qualität. Nun waren sie immer eindeutiger Ausdruck eines imperialen Projekts. Geradezu typisch für die Friedensverträge der zweiten Phase sind umfassende französische Gebietsgewinne, denen kaum noch Zugewinne für den anderen Vertragspartner gegenüberstanden. Die europäische Staatenlandschaft wurde in der Folge von Napoleon nach 1802 noch radikaler umgestaltet als in den Jahren zuvor; 1809 reichte der Einfluss Napoleons von der Elbemündung bis nach Illyrien. Oftmals noch drückender als die Länderverluste musste es empfunden worden sein, dass die Friedensschlüsse Bedingungen enthielten, welche die äußere Unabhängigkeit der Verlierer massiv einschränkten. Der 2. Artikel des Posener Friedens bestimmte beispielsweise die Zugehörigkeit Sachsens zum Rheinbund,177 wodurch es faktisch zum französischen Satellitenstaat wurde. Österreich wiederum willigte 1809 in die Reduktion der eigenen Armee ein und verpflichtete sich, sowohl der Handelsblockade gegen England beizutreten wie auch die diplomatischen Beziehungen zu London abzubrechen.178 Die preußische Situation, auf die später einzugehen sein wird, gestaltete sich sogar noch schlechter. Ein weiteres Charakteristikum der Verträge nach 1802 sind die Kontributionen. Seit dem Frieden von Pressburg schreckte Napoleon nicht mehr davor zurück, auch von (bis dato) Großmächten enorm hohe Summen zu verlangen.179 So hatte Österreich 1805 immerhin 40 Mio., nach dem Schönbrunner Vertrag ganze 85 Mio. Francs an Frankreich zu zahlen.180 Preußen wurden noch weitaus höheren Summen auferlegt. Schon am Tag nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt forderte Napoleon von den Marken, dem Herzogtum Magdeburg rechts der Elbe, Pommern und der Stadt Berlin 100 Mio. Francs.181 Anschließend wurden Stettin 10 Mio., Schlesien 30 Mio. und kurz vor Kriegsende Königsberg 12 Mio. Francs auferlegt, so dass für
177
Siehe Frieden von Posen, Posen, 11. 12. 1806. Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 45, S. 266. 178 Siehe Art. 16 und Sep.art. 2 des Friedens von Schönbrunn. Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 75, S. 453 f. Zum „völkerrechtswidrige[n] Friedensschluss“ von Schönbrunn siehe Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär – Eine Biografie, München 2016, S. 310 – 313, hier das Zitat S. 310. 179 Gegenüber kleineren Staaten erhob Napoleon schon seit dem Feldzug in Italien größere Geldsummen wie beispielsweise Art. 5 des Friedens mit Parma vom 5. November 1796 zeigt. Clercq, Recueil, Bd. 1, S. 308. Häufig wurden auch ohne nähere Begründung größere Geldsummen gefordert – so etwa im Vertrag von Tolentino mit dem Heiligen Stuhl. Siehe Clercq, Recueil, Bd. 1, S. 313 – 316. 180 Siehe Sep.art. des Friedens von Pressburg und Sep.art. 5 des Friedens von Schönbrunn. Kerautret, Documents, Bd 2, Nr. 24, 75, S. 140, 454. 181 Siehe das Dekret vom 15. Oktober 1806 in Napoleon, Correspondance, Bd. 13, Nr. 11010, S. 358 – 360.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
alle preußischen Provinzen und Städte zusammengenommen die Kontributionsforderung 152 Mio. Francs betrug.182 Aufgrund der besonderen Bedeutung, die sie nicht zuletzt für Preußen gewannen, und der unpräzisen Verwendung in der Literatur scheint es notwendig, zu klären, was „Kontributionen“ eigentlich meint.183 Zunächst ist der Begriff von „Reparationen“ zu unterscheiden, womit die Forderungen gegenüber den Mittelmächten nach Ende des Ersten Weltkriegs bezeichnet werden, die auf einer völlig anderen rechtlichen Grundlage basierten.184 Auch besteht ein Unterschied zu „Tributen“, also zu Zahlungen, die seit der Antike zur Aufrechterhaltung des bestehenden Friedenszustands geleistet wurden.185 Im Gegensatz dazu tritt das Phänomen „Kontribution“ erst in der Frühen Neuzeit auf und hängt eng mit der Entwicklung des Heeres- und Staatswesens in Europa zusammen,186 denn die Verwendung stehender Heere und die Rationalisierung der Kriegsführung brachten auch neue Formen der wirtschaftlichen Ausbeutung feindlichen Gebiets mit sich. So setzte sich seit dem 16. Jahrhundert die Praxis durch, anstelle einer Plünderung von einzelnen Städten oder Provinzen Geldsummen zu fordern. Allerdings erst mit der Ausbildung eines modernen Verwaltungsstaats und eines verfeinerten Finanzsystems bestanden die Voraussetzungen, damit diese Kontributionserhebung zu einem grundlegenden Element der europäischen Kriegsführung werden konnte. Wahlloses Plündern wurde zunehmend selten, schließlich bedrohte es auch die Disziplin der Truppen und stellte eine vergleichsweise ineffiziente Form der Ressourcenmobilsierung auf fremdem Territorium dar. Ihre rechtliche Legitimation fanden die Kontributionen im Beuterecht. Die Völkerrechtsdenker seit dem 17. Jahrhundert erkannten denn auch in der Forderung von Kontributionen ein rechtmäßiges, oder sogar humanes Verfahren.187 Im 18. Jahrhundert wurde allerdings nachdrücklich für eine Beschränkung der finanziellen Ausbeutung auf ein Mindestmaß plädiert.188 In der Realität schränkten aber schon administrative und organisationale Hürden das Ausmaß der Erhebungen ein.189 182
Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 51. Max Duncker, Eine Milliarde Kriegsentschädigung welche Preußen Frankreich gezahlt hat, in: Ders, Aus der Zeit, S. 503 – 547, hier S. 506. Lesage, Napoléon, S. 4. 183 Zu Unterscheiden von der ebenfalls „Kontribution“ genannten Grundsteuer, wie sie etwa in Preußen und Frankreich bekannt war. 184 Siehe hierzu Zimmer, Friedensverträge, S. 65. 185 Siehe hierzu Daniel Damler, Tribut, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13, S. 750 – 753, hier passim. 186 Siehe hierzu Fritz Redlich, De praeda militari. Looting and Booty 1500 – 1815 (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 39), Wiesbaden 1956, S. 58 – 63. Ignaz Seidl-Hohenveldern, Kontributionen, in: Wörterbuch des Völkerrechts, 3 Bde., 2. Aufl., Berlin 1960 – 1962, hier Bd. 2, S. 297 – 300, hier passim. Horst Carl, Kontribution, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, S. 1161 – 1164, hier passim. 187 Zur rechtlichen Entwicklung siehe Redlich, De praeda, S. 44 – 48, 64 – 68. 188 Siehe etwa Emer de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle. Appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains (Die Klassiker des Völkerrechts in modernen deutschen Übersetzungen, 3), deutsche Übersetzung von Wilhelm Euler, Einleitung
IV. Frieden im napoleonischen Zeitalter und die Krise des Jus Publicum Europaeum 77
Was die erobernden Armeen bis Kriegsende nicht eintreiben konnten, blieb in aller Regel ihrem Zugriff entzogen. In den Friedensverträgen insbesondere des 18. Jahrhunderts wurde auf die Rückzahlung noch ausstehender Summen meist verzichtet, oder die Forderungen fielen vergleichsweise gering aus.190 Die Gründe dafür waren vielfältig. Zunächst verhinderte bereits die limitierte Form der Kriegsführung die Durchsetzung allzu harter Friedensbedingungen. Totale Siege waren im Jahrhundert der Kabinettskriege unwahrscheinlich; es gab sie am Ende genauso wenig wie eine totale Politik. Kein europäischer Staat versuchte im Zeitalter des europäischen Gleichgewichts, eine grundstürzende Revision der bestehenden Ordnung herbeizuführen. Selbst Ludwig XIV., dessen Politik durchaus hegemoniale Züge trug, verfolgte auf dem Kontinent durchaus begrenzte Ziele. Neben diesen politischen und militärisch-taktischen Ursachen, verhinderten auch völkerrechtliche Schranken, dass Kontributionen zur Friedensbedingung gemacht wurden, denn regelrechte Straftribute ließen sich kaum begründen. Der Krieg wurde seit dem 16. Jahrhundert aus der Sphäre der Moral gelöst und galt unter der vollen Ausgestaltung des Jus Publicum Europaeum während des 18. Jahrhunderts als legitimes Mittel der Konfliktaustragung.191 Entfielen aber die „gerechten“ Gründe zum Krieg, welche die juristische Figur des bellum iustum noch kannte, dann entbehrte auch die regelrechte Bestrafung des Gegners jeder Legalität.192 von Paul Guggenheim, Tübingen 1959, §165, S. 451 f. Christian Wolff, Grundsätze des Naturund Völkerrechts worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, Halle 1769, §1200, S. 866. Auch [François] Q[uesnay], Contribution, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisoné des sciences, des arts et des métiers, 17 Bde., Paris 1751 – 1765, hier Bd. 4, S. 144 f., hier S. 145. Demgegenüber räumte noch Pufendorf (1632 – 1694) dem Eroberer umfassende Möglichkeiten zur Plünderung und Ausbeutung ein. Siehe Samuel von Pufendorf, Acht Bücher vom Natur- und Völkerrechte, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1711, hier Bd. 2, 8.VI, §20, S. 947 f. 189 Am Beispiel des Siebenjährigen Krieges nachgewiesen von Horst Carl, Okkupation und Regionalismus. Die preussischen Westprovinzen im Siebenjährigen Krieg (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte, 150), Mainz 1993, S. 195 – 201. Carl lieferte Beispiele für die Kontributionspraxis während des Siebenjährigen Kriegs. Siehe ebd., S. 5 – 8, 171 – 201. Auch ders., Unter fremder Herrschaft. Invasion und Okkupation im Siebenjährigen Krieg, in: Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, S. 331 – 348, hier S. 334 – 339, 343 f. 190 Georg Friedrich Martens zählte noch 1796 das Erlöschen der noch rückständigen Kontributionen zu den allgemeinen Bestandteilen eines Friedensvertrags. Siehe Oer, Pressburg, S. 184. Dass es sich noch im 17. Jahrhundert mitunter anders verhielt, zeigt der Frieden von St. Germain (1679). Siehe hierzu Carl, Besatzungsherrschaft, S. 38. Eine Ausnahme des 18. Jahrhunderts stellt der Dresdner Frieden von 1745 dar. Die Bestimmungen in Friedrich August Wilhelm Wenck, Codex iuris gentium recentissimi, 3 Bde., Leipzig 1781 – 1795, hier Bd. 2, S. 209. 191 Siehe hierzu Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europeaum, 5. Aufl., Berlin 2011, S. 123 – 140. 192 Siehe hierzu Fritz Dickmann, Krieg und Frieden im Völkerrecht der Frühen Neuzeit, in: Ders., Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der Geschichte,
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
Bis zum Ausbruch der französischen Revolution beruhte die europäische Völkerrechtsordnung des Ancien Régime auf dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung gleichberechtigter (idealerweise monarchischer) Souveräne;193 dies war adäquater Ausdruck des gemeinsamen Interesses der Staaten an der Aufrechterhaltung der eigenen Existenz und Unabhängigkeit und damit letztendlich auch an der Verhinderung einer universellen Hegemonie.194 Das auf dieser gemeinsamen Interessenbasis gründende Ordnungsprinzip des europäischen Gleichgewichts garantierte zwar nicht immer den Frieden, gewährleistete aber zumindest in den ersten beiden Dritteln des 18. Jahrhunderts die grundsätzliche Stabilität des Staatensystems.195 Diese normative Grundordnung, oder, wenn man so möchte, politische Kultur,196 wurde durch die französische Revolution fundamental in Frage gestellt. Die Revolutionäre setzten dem droit publique de l’Europe der Fürsten das droit des gens, das Recht der Völker, entgegen, an dem die alten Monarchien – in eigenartiger Inkonsequenz zudem die wenigen europäischen Republiken – keinen Anteil haben sollten.197 Mit der Herrschaft des Konvents begann zudem die „Kriminalisierung des Göttingen 1971, S. 116 – 139, hier S. 130 f. Winfried Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund (Erträge der Forschung, 25), Darmstadt 1974, S. 119 f. 193 Siehe hierzu Scheuner, Friedensschlüsse, S. 349 – 369. Zur Bedeutung der Souveränität als völkerrechtliches Prinzip seit der Frühen Neuzeit siehe Quaritsch, Staat, S. 253 f. 194 Siehe hierzu auch Marc Belissa, Repenser l’ordre européen (1795 – 1802). De la Société des Rois aux Droits des Nations, Paris 2006, S. 14 f. 195 Zum Gleichgewichtssystem siehe u. a. Erbe, Erschütterung, S. 17 f. Scott, Birth, S. 137 – 142. Auf die Krisensymptome des Systems vor Ausbruch der Revolution wiesen hin Jeremy Black, European International Relations 1648 – 1815, New York/Basingstoke 2002, S. 200 f. Wolfram Pyta, Hegemonie und Gleichgewicht, in: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.), Dimensionen internationaler Geschichte (Studien zur Internationalen Geschichte, 30), München 2012, S. 373 – 388, hier S. 379 f. 196 Siehe hierzu Mlada Bukovansky, Legitimacy and Power Politics. The American and French Revolutions in International Political Culture (Princeton Studies in International History and Politics), Princeton 2002, S. 1 – 14, 165 – 210. Bukovansky beschreibt den Wandel in der politischen Kultur Europas, wie er sich aufgrund des revolutionären Legitimationsprinzips der Volkssouveränität vollzog. Auch wenn die Studie nicht mehr die Zeit der Herrschaft Napoleons umfasst und der Blick daher etwas verkürzt ist, wurden doch die Herausforderung, welche die Revolution für die Ordnung des Ancien Régime darstellte, und die sich daraus ergebenden, nicht mehr hintergehbaren Veränderungen deutlich herausgearbeitet. 197 Zum Verhältnis der Revolution zur Ordnung des Ancien Régime siehe Armstrong, Revolution, S. 84 – 91. Heinhard Steiger, Die Wiener Congressakte – Diskontinuität und Kontinuität des Europäischen Völkerrechts 1789 – 1818, in: Archiv des Völkerrechts 53 (2015), 167 – 219, hier 168 – 173. Ders., Das Völkerrecht und der Wandel der Internationalen Beziehungen um 1800, in: Klinger et al., Das Jahr 1806, S. 23 – 52, hier S. 23 – 29, 37 – 41. Ders., Das natürliche Recht der Souveränität der Völker. Die Debatten der Französischen Revolution 1789 – 1793, in: Ders., Universalität und Partikularität des Völkerrechts in geschichtlicher Perspektive. Aufsätze zur Völkerrechtsgeschichte 2008 – 2015 (Studien zur Geschichte des Völkerrechts, 33), Baden-Baden 2015, S. 135 – 171, hier S. 144 – 150. Belissa, Repenser, S. 418 – 420 und passim. Wolfrum, Krieg, S. 53. Erbe, Erschütterung, S. 19 f., 294 f. Peter Klassen, Nationalbewußtsein und Weltfriedensidee in der Französischen Revolution, in: Die Welt als Geschichte 2 (1936), S 33 – 67, hier S. 53.
IV. Frieden im napoleonischen Zeitalter und die Krise des Jus Publicum Europaeum 79
Gegners“ und der Krieg wurde wieder zur gerechten Sache erklärt, da er der Realisierung einer neuen, vermeintlich freieren Ordnung diente.198 Dass Frankreich die Grundsätze der bisherigen Ordnung in Frage stellte und eine, zunächst moralisch begründete, Hegemonie anstrebte, machte es auch auf außenpolitischem Gebiet zu einer „revolutionären“199 Macht. Die Aufhebung der Souveränität fremder Staaten wie auch deren wirtschaftliche Ausplünderung durch den Frieden wurden jetzt zu Optionen außenpolitischen Handelns. Ein drastisches Beispiel für diesen Wandel ist der Frieden, den Frankreich 1795 den Vereinigten Provinzen aufoktroyierte.200 Napoleon mag im Innern die Revolution beendet haben, in den Außenbeziehungen radikalisierte er sie – wenn auch unter anderen Vorzeichen. Nicht die Ideen eines Kosmopolitismus oder der Volkssouveränität, wie sie die frühe, idealistische Phase der Revolution kannte, leiteten die Außenpolitik Napoleons; wohl wirkte aber der grundsätzliche Gedanke der Revolution prägend, wonach die bestehende normative Ordnung aus den Fugen gehoben werden konnte und durfte. Erst unter der Herrschaft Napoleons wurde die politische Landkarte Europas wirklich vollständig umgestaltet; spätestens als 1806 das Reich unterging und der Rheinbund entstand, war die alte politisch-staatliche Ordnung untergegangen. An dieser Entwicklung partizipierten zwar auch die anderen Mächte; die Auflösung Polens 1793/95201 bezeugte ebenso wie die Beschlüsse des Reichsdeputationshauptschlusses die allgemeine Anarchie in der europäischen Staatenwelt; doch hatte erst die Revolution den Startschuss zu dieser Neuverteilung der Machtverhältnisse gegeben. Die von Napoleon angestrebte europäische Ordnung entbehrte von Anbeginn an einer normativen Grundlage. Das Empire glich immer mehr einer europäischen Großraumordnung, deren „krypto-föderative“ Struktur die Aufhebung bzw. Einschränkung der Souveränität anderer Staaten bedingte. Die Etablierung eines neuen Völkerrechts, das seinen Namen auch verdient hätte, war unter diesen Vorausset-
198 Siehe hierzu Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 495 – 498, hier das Zitat S. 495. Nach 1918 wurden die völkerrechtlichen Vorstellungen der Revolution unter expliziten Rekurs auf ihre Theoretiker wieder aufgegriffen, wie Grewe hier zeigte. Siehe auch Christoph Kampmann, Frieden, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, S. 1 – 21, hier S. 15 f. 199 Hier Henry Kissinger folgend, der jede, die Legitimität der bestehenden Ordnung fundamental in Frage stellende Macht als „revolutionär“ begriff. Siehe Henry A. Kissinger, Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812 – 1822, mit einem Nachwort von Fred Luchsinger, Zürich 1986, S. 8 – 13, 329 f. Ähnlich Armstrong, Revolution, S. 1. 200 Traité de paix conclu entre la République Française et la République des ProvincesUnies, Den Haag, 16. 5. 1795. Clercq, Recueil, Bd. 1, S. 236 – 239. Zur Kontributionspraxis der Revolutionsarmee siehe Jacques Godechot, Les variations de la politique française à l’égard des pays occupés, in: Occupants, S. 15 – 33, hier S. 28 – 31. Siehe auch am Beispiel des Rheinlands Timothy C. W. Blanning, The French Revolution in Germany. Occupation and Resistance in the Rhineland 1792 – 1802, Oxford 1983, S. 98 – 105. 201 Siehe hierzu Scott, Birth, S. 201 – 213.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
zungen unmöglich.202 Die Hoffnungen, die mancher zu Beginn in Napoleon als „Völkerbeglückenden (!) Friedensfürsten“ gesetzt hatte,203 wurden weithin enttäuscht. Schon um das napoleonische Herrschaftsgebilde zu stabilisieren, waren immer weitere Kriege notwendig; Europa wurde so ein, bestenfalls prekäres, Friedensregime aufgezwungen – Napoleons „Frieden war verstummendes Elend“204. Die Friedensschlüsse, die Napoleon schloss, waren kaum mehr als Instrumente zur Durchsetzung dieser hegemonialen Politik und „militärische Abkommen, manche[s] vorteilhafter als andere“205. Schließlich war Napoleon auch zur Sicherung der eigenen Herrschaft in Frankreich geradezu gezwungen, in den Friedensverträgen bedeutende Kontributionszahlungen zu verlangen. Diese Gelder wurden vorwiegend für die Dotationen verdienter Offiziere verwendet, oder dienten der Finanzierung von Gemälden, öffentlichen Bauten und anderen Projekten, die Teil der kaiserlichen Propaganda waren. Während also die Millionen, die im Zuge eines Feldzugs oder der Besetzung eingenommen wurden, vorwiegend in den Unterhalt der Armee flossen, benutzte Napoleon die „Friedenskontributionen“, um sich der Loyalität seiner Soldaten und der Franzosen zu versichern.206 Dabei geschah es nicht ohne Grund, dass Napoleon sich, anders als etwa noch im Frieden mit Portugal vom 29. September 1801207, gegenüber Preußen und Österreich auf die Argumentation stützte, lediglich rückständige Kontributionen zu fordern. Napoleon konnte auf diese Weise zumindest den Schein der Rechtmäßigkeit wahren. 202 Zur Entwicklung der europäischen Völkerrechts- und Staatenordnung im Zeitalter Napoleons siehe Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 485 – 487, hier das Zitat S. 485. Steiger, Wandel, S. 44 – 46. Ders., Congressakte, S. 173 – 179. Ders., Friede in der Rechtsgeschichte, in: Wolfgang Augustyn (Hrsg.), PAX. Beiträge zu Idee und Darstellung des Friedens, München 2003, S. 11 – 62, hier S. 41. Zu den expliziten Völkerrechtsbrüchen, die von Napoleon begangen wurden, siehe Schroeder, Napoleon’s Foreign Policy, S. 148 – 154. Die allgemeine Rechtlosigkeit bis 1815 wurde auch von den Zeitgenossen registriert. Anstelle vieler siehe Jacob Christian Friedrich Saalfeld, Nemesis, s. l. 1814, S. 11 – 32. 203 So zum Beispiel Wieland. Siehe Christian Martin Wieland an Caroline von Wolzogen, s. l., Sommer 1806. Wielands Briefwechsel, hrsg. v. der Deutschen (seit 1993: Berliner-Brandenburgischen) Akademie der Wissenschaften, 20 Bde., Berlin 1963 – 2007, hier Bd. 17.1, Nr. 235, S. 243 f., hier das Zitat S. 244. 204 Paul Anselm Feuerbach, Die Weltherrschaft das Grab der Menschheit, s. l. 1814, S. 11. 205 So Talleyrand zit. n. Scott, Birth, S. 281. 206 Siehe hierzu Pierre Branda, Le prix de la gloire. Napoléon et l’argent, Paris 2007, S. 314 – 329. Bis zum Ende der Herrschaft Napoleons flossen 266 Mio. Francs an Kontributionen in die caisse d’amortissement (ab 1810 in die caisse du domaine extraordinaire). Siehe auch Jean Tulard, Der „Domaine extraordinaire“ als Finanzierungsinstrument napoleonischer Expansion, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 490 – 499, hier besonders S. 495 – 499. Henri de Grimoüard, Les origines du domaine extraordinaire. Le receveur general des contributions de la Grande Armée. Ses attributions, ses comptes 1805 – 1810, in: Revues des questions historiques 43 (1908), S. 160 – 192, hier S. 174 – 192. 207 Als „indemnité“ musste Portugal 20 Mio. Livres zahlen. Siehe Kerautret, Documents, Bd. 1, Nr. 27, S. 204.
V. Die internationale Konfliktlage und territoriale Neuordnung nach Tilsit
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Besondere Bedeutung hatte dies im preußischen Fall, wo Rücksicht auf die Befindlichkeiten Russlands genommen werden musste.208 Darüber hinaus wurde Preußen zu mühseligen Verhandlungen über die Abrechnung der ausstehenden Gelder genötigt, welche bei einer unbegründeten, klar fixierten Forderung entfallen wären.
V. Die internationale Konfliktlage und territoriale Neuordnung nach Tilsit „Toutefois je suis d’opinion qu’une alliance avec la Russie serait très-avantageuse“, ließ Napoleon bereits am 13. März 1807 Talleyrand wissen. Die Frühjahrsoffensive der französischen Armee stand zu diesem Zeitpunkt bevor und der Kaiser war voller Zuversicht, den Feldzug bald siegreich beenden zu können. Dass sich Russland allerdings von einer Allianz überzeugen lassen würde, hielt er für wenig wahrscheinlich.209 Nach Auswechslung der Waffenstillstandsurkunden und während der Friedensverhandlungen wurde dann jedoch schnell klar, dass der Zar durchaus an einer engeren Verbindung mit Frankreich interessiert war. In der Folge näherten sich er und Napoleon, wie erwähnt, in Tilsit einander an und stellten mit gemeinsamen Manövern die sich anbahnenden, neuen Beziehungen zwischen beiden Höfen zur Schau.210 Am Ende der Verhandlungen stand dann das schon erwartete Bündnis der vormaligen Feinde. Grundlage dieses „renversement de coalition“211 war zunächst der Friedensvertrag, der zumindest die offensichtlichsten Spannungspunkte im Verhältnis beider Staaten beseitigte. So erkannte der Zar den von Napoleon in Europa geschaffenen Status quo an, inklusive der jüngsten napoleonischen Staatenschöpfungen, wie dem Königreich Westphalen, das vorwiegend aus ehemals preußischen Gebietsmassen gebildet wurde, und dem Rheinbund.212 Napoleon war durch die russische Anerkennung dem Ziel, seinem Herrschaftsgebilde Legitimität zu verleihen, deutlich näher gekommen. Der Zar trat sogar die 1797 erworbene Herrschaft Jever an den holländischen König ab, um künftigen Konflikten vorzubeugen, wie es hieß,213 und erklärte sich überdies bereit, die russischen Truppen aus Cattaro und von den Ionischen Inseln abzuziehen.214 Die Auseinandersetzung um die Kontrolle der östlichen Adria war damit endgültig zu Gunsten Frankreichs entschieden. 208
Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 117 f. Siehe Napoleon an Talleyrand, Osterode, 14. 3. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 14, Nr. 12028, S. 440 f., hier das Zitat S. 440. 210 Siehe Bieberstein, Napoleon, Bd. 2, S. 89 f. 211 Driault, Napoléon, S. 196. 212 Siehe Art. 14, 15, 18 – 20 russisch-französischer Friedensvertrag. 213 Art. 16 Friedensvertrag. 214 Sep.art. 1, 2 Friedensvertrag. 209
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
Der Allianzvertrag,215 der ebenfalls am 7. Juli unterzeichnet wurde, gestaltete die Abmachungen des Friedens weiter aus. Napoleon und der Zar vereinbarten danach ein gemeinsames Vorgehen – „soit par terre, soit par mer“216 – in jedem Krieg, den man gezwungen sei, gegen eine europäische Macht zu führen; im gleichen Atemzug erklärte man England zum größten Störer des Friedens. Frankreich verpflichtete sich zwar bereits im Friedensvertrag dazu, unter russischer Vermittlung in Friedensverhandlungen mit St. James zu treten;217 doch verlangte die Allianz danach, dass, sollten diese Gespräche bis zum 1. Dezember zu keinem aus französischer Sicht günstigem Ergebnis führen, Russland die diplomatischen Beziehungen mit England abzubrechen habe und gemeinsame Sache – „cause commune“ – mit Napoleon machen müsse.218 Zu einer Kriegserklärung an England hatte sich Russland demnach nicht explizit verpflichtet, allerdings war diese dann am Ende kaum mehr zu vermeiden. Gerade der gegen England gerichtete Teil des Bündnisses machte es in Russland nicht sonderlich populär. Viele sahen die Gefahren, die von einem Krieg mit England für den russischen Handel ausgehen würden und fürchteten weitere militärische Engagements außerhalb der russischen Grenzen.219 Angesichts dieser Kritik ernannte Alexander mit Nikolai Petrowitsch Rumjanzew einen der wenigen Unterstützer des neuen außenpolitischen Kurses zum Außenminister. Ihm oblag es von nun an, für die Allianz zu werben.220 Es gab durchaus gute Gründe, die aus Sicht des Zaren für den Frontwechsel sprachen. Immerhin waren die russisch-englischen Beziehungen schon vor dem Tilsiter Frieden an einem Tiefpunkt angelangt,221 wofür die äußerst zurückhaltende englische Unterstützung während des Kriegs mit Frankreich nur ein Grund war. Seit geraumer Zeit gab es handelspolitische Spannungen zwischen den beiden Flügelmächten; nicht umsonst hatte sich schon Paul I. zu einem feindseligen Kurs gegenüber dem Inselreich entschlossen.222 Ausschlaggebend dürfte schließlich jedoch ein anderer Faktor gewesen sein: England unterstützte die russische Offensive gegen das Osmanische Reich bestenfalls halbherzig. Dies war auch nicht verwunderlich, 215 Traité d’alliance offensive et defensive, Tilsit, 7. 7. 1807. Heinrich Wolfenberger (Bearb.), Napoleonische Friedensverträge (Quellen zur Neueren Geschichte, 5), Bern 1946, S. 49 – 51. 216 Art. 1 Allianzvertrag. 217 Art. 13 Friedensvertrag. 218 Art. 4 Allianzvertrag. 219 Siehe hierzu Scharf, Rußlands Politik, S. 184 – 189. Auch Dominic Lieven, Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa, aus dem Englischen übertragen von Helmut Ettinger, München 2011, S. 78 – 90. Sorel, Révolution, S. 196 – 200. Lefebvre, Napoleon, S. 278. 220 Siehe Grimsted, Foreign Ministers, S. 166 f. 221 Siehe hierzu Seton-Watson, Russian Empire, S. 95. Ragsdale, Russian Foreign Policy, S. 525. Schroeder, Transformation, S. 313, 316 f. 222 Zu Pauls Außenpolitik siehe Andreas, Zeitalter, S. 258 – 260. Schroeder, Transformation, S 217 – 220.
V. Die internationale Konfliktlage und territoriale Neuordnung nach Tilsit
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denn tatsächlich wollte London eine Dominanz Russlands im östlichen Mittelmeer unbedingt verhindern. Während also von einem Bündnis mit England keine bedeutenden Vorteile mehr zu erwarten waren,223 versprach Napoleon zumindest zeitweilig ein geeigneter Partner für eine expansive Politik in Richtung Orient zu sein. Auf das Angebot zu Friedensverhandlungen, das entsprechend des Tilsiter Vertrags ergangen war, reagierte die englische Regierung zurückhaltend. Vor der Erfüllung einiger grundsätzlicher Forderungen war der englische Außenminister George Canning überhaupt nicht bereit, in Gespräche einzutreten. Allen voran bestand er darauf, über den Inhalt der geheimen Artikel des Tilsiter Friedens informiert zu werden, ohne dass dem jedoch entsprochen worden wäre. Die von beiden Seiten nur halbherzig betriebenen Sondierungen befanden sich somit von vornherein in einer Sackgasse. Als dann die britische Marine Kopenhagen bombardierte und die Reste der dänischen Flotte kaperte, war endgültig klar, dass die englische Seite nicht mehr an einen Erfolg der Friedensverhandlungen glaubte. Der Zar reagierte in der Folge entsprechend der Verpflichtungen des Allianzvertrags und brach noch vor Ablauf der darin festgesetzten Frist Anfang November die Beziehungen zu London ab.224 Kurz darauf folgte ein – allerdings nur zögerlich umgesetztes – russisches Embargo auf englische Schiffe und Erzeugnisse. Erst in den Folgejahren wurden die Bestimmungen gegen den englischen Handel, nicht zuletzt aufgrund des Drängens Napoleons, schrittweise verschärft.225 Russland wurde Teil der Kontinentalsperre. Um Europa gänzlich für den britischen Handel abzuriegeln, hatten sich die neuen Alliierten in Tilsit darauf geeinigt, auch die Höfe von Lissabon, Stockholm, Kopenhagen und Wien dazu zu bewegen, ihre Häfen für die englische Schifffahrt zu sperren.226 Österreich sollte England sogar direkt den Krieg erklären, was am Ende auch geschah; Dänemark ging nach dem englischen Angriff schon mangels Alternativen auf die Forderung ein und schloss ein Bündnis mit Frankreich; um Portugal in sein System zu zwingen, griff Napoleon Anfang 1807 die Braganzamonarchie an.227 Nur der schwedische König Gustav IV., ein verbissener Feind des Kaisers, führte trotz der völligen Isolierung seines Landes den Krieg gegen Frankreich fort. Ein russischer Angriff auf sein Königreich Anfang Februar 1808 war die Folge. Dieser Krieg war von langer Hand geplant. Bereits im Sommer 1801 hatte der damalige russische Außenminister und Vertraute des Zaren Viktor Pawlowitsch Kotschubei in einem Memorandum Schweden als einen der 223
Siehe hierzu Schroeder, Transformation, S. 320 f. Siehe Butterfield, Peace Tactics, S. 283 – 305. Schroeder, Transformation, S. 334 – 336. Andreas, Zeitalter, S. 479. Sorel, Révolution, S. 193, 200 – 202. Lefebvre Napoleon, S. 259 f. 225 Siehe Scharf, Rußlands Politik, S. 200 f. 226 Art. 5, 6 Allianzvertrag. 227 Siehe Butterfield, Peace Tactics, S. 328 – 339, 356. Andreas, Zeitalter, S. 457 – 460. Zum Portugalfeldzug siehe Charles Oman, A History of the Peninsular War, 7 Bde., London/ Pennsylvania 1902 – 1930, hier Bd. 1, S. 26 – 32. 224
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
beiden natürlichen Feinde Russlands bezeichnet.228 Dieser Krieg, der nun mit Duldung von Paris geführt wurde, verlief jedoch deutlich verlustreicher als erwartet und endete erst am 17. September 1809 mit dem Frieden von Friedrichshamm, in welchem Russland die Herrschaft über Finnland gewann. Auch Schweden musste nun der Handelssperre beitreten.229 Der zweite Feind, den Kotschubei in seiner Denkschrift ausgemacht hatte, war die Hohe Pforte. In Tilsit hatten Alexander und Napoleon eine mögliche Aufteilung des Osmanischen Reichs besprochen,230 ohne jedoch zu konkreten Absprachen gelangt zu sein. Zu groß waren die Begehrlichkeiten beider Herrscher, als dass eine für beide Seiten befriedigende Lösung denkbar gewesen wäre.231 Zumindest den Buchstaben des Friedensvertrags nach hatte Napoleon sein vorrangiges Ziel erreicht, nämlich Russland von einem weiteren Vordringen entlang der westlichen Schwarzmeerküste abzuhalten. Der Friedensvertrag bestimmte schließlich, dass der Zar seine Truppen aus den Donaufürstentümern abziehen müsse und diese so lange nicht wiederbesetzen dürfe, bis unter französischer Vermittlung ein endgültiger Frieden mit dem Osmanischen Reich geschlossen sein würde.232 Die Klärung der Frage, wann der Abzug geschehen sollte, blieb allerdings einer weiteren Konvention vorbehalten. Genauso unklar blieb, was im Falle eines Scheiterns der Friedensverhandlungen konkret geschehen würde; man hatte sich im Allianzvertrag lediglich darauf verständigt, sich nach Ablauf einer dreimonatigen Frist über eine Aufteilung des europäischen Teils der Türkei, ohne Rumelien und Konstantinopel, beraten zu wollen.233 Ebenso unaufrichtig wie die russischen Vermittlungen in den englisch-französischen Friedensverhandlungen war die französische Mediation bei der Suche nach einem Ausgleich zwischen Russland und dem Osmanischen Reich. An einem für den Zaren günstigen Vertrag konnte Napoleon nicht interessiert sein. Er musste dem russischen Verbündeten zumindest suggerieren, sich um dessen Interessen zu sorgen, ohne dass die territoriale Integrität des Osmanischen Reichs ernsthaft gefährdet wurde. „Je reste encore ami de la Porte; mais je suis redevenu ami de la Russie“234, umschrieb er gegenüber Talleyrand seine schwierige Lage. Es mag daher wenig überraschen, dass der Waffenstillstand, der zwischen Russen und Osmanen Ende 228
Siehe Ragsdale, Russian Foreign Policy, S. 521. Zum russisch-schwedischen Krieg siehe Andreas, Zeitalter, S. 460 – 466. Schroeder, Transformation, S. 334. Scharf, Rußlands Politik, S. 202 f. 230 Siehe Alexander an Friedrich Wilhelm, Tilsit, 27. 6. 1807. Bailleu, Briefwechsel, Nr. 145, S. 158. Vandal, Napoléon, S. 73 – 77. 231 Siehe hierzu Anderson, Eastern Question, S. 40 – 43. 232 Art. 22, 23 Friedensvertrag. 233 Art. 8 Allianzvertrag. 234 Napoleon an Talleyrand, Tilsit, 9. 7. 1807. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 7, Nr. 15997, S. 948. Trotz der Freundschaftsbekundungen Napoleons konnte er nicht verhindern, dass sich das Osmanische Reich England annäherte. Siehe Anderson, Eastern Question, S. 44. 229
V. Die internationale Konfliktlage und territoriale Neuordnung nach Tilsit
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August 1807 in Slobosia doch zustande kam, so ungünstige Bedingungen enthielt, dass der Zar von einer Ratifikation absah.235 Nicht nur wegen der osmanischen Angelegenheiten waren Spannungen zwischen den Verbündeten von vornherein zu erwarten gewesen; auch die Situation in Ostmitteleuropa musste zu Verwerfungen führen. Das neugegründete Herzogtum Warschau bedrohte schließlich als französischer Satellit das Russische Reich und diente der nationalpolnischen Bewegung, die auch im russischen Teil Polens erstarkte, als Rückhalt. Betrachtet man demnach die internationale Lage am Ende des Jahres 1807, so hat Napoleon in Tilsit wohl bedeutendere Vorteile errungen als der Zar;236 „überlistet“237 wurde Alexander aber sicherlich nicht. Angesichts der Tatsache, dass er als Verlierer des Krieges von vornherein eine schlechtere Verhandlungsposition hatte, war die Einigung, die er erzielte, sogar vergleichsweise vorteilhaft. Weder er, noch Napoleon hegten zu irgendeinem Zeitpunkt Illusionen über den Charakter der neuen Allianz. Beide betrachteten das Bündnis als ein Arrangement auf Zeit, das lediglich dazu dienen sollte, begrenzte Ziele zu erreichen – nie waren Alexander und Napoleon „genuine allies“238, wie Paul W. Schroeder meinte. Damit war das Bündnis geradezu typisch für die Zeit zwischen 1789 und 1814/15, während der in den Verträgen formell an die älteren Bündnisschlüsse erinnert wurde, die Partner aber meist Absichten verfolgten, die mittel- bis langfristig den Interessen des jeweils anderen zuwiderliefen.239 Der größte Vorteil, den Alexander aus der Allianz zog, war der Zeitgewinn bis zum womöglich unvermeidlichen nächsten Krieg.240 Letztlich waren die Bestimmungen der Verträge auch derart vage und interpretationsbedürftig, dass ihm, genauso wie Napoleon, weiterhin ein großer außenpolitischer Handlungsspielraum blieb. So war weder die Kriegserklärung Russlands an England expressis verbis gefordert, noch wurde geklärt, wie der Beitritt zur Kontinentalsperre genau auszusehen hatte, geschweige denn wann die russischen Truppen aus den Donaufürstentümern abziehen würden.241 Genauso wenig hatte sich Napoleon ausdrücklich zu einer Aufteilung der Türkei bereiterklärt oder sich abschließend zum Schicksal der Hohenzollernmonarchie geäußert.
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Siehe Anderson, Eastern Question, S. 44 f. Hassel, Preußische Politik, S. 51. Scharf, Rußlands Politik, S. 204 – 206. 236 Siehe Scharf, Rußlands Politik, S. 196. Lefebvre, Napoleon, S. 256. Driault, Napoléon, S. 479. Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 195 f. 237 So Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 119. 238 Schroeder, Transformation, S. 331. 239 Siehe hierzu Katja Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714 – 1914 (Studien zur Internationalen Geschichte, 25), München 2010, 232 – 237. 240 So begründete Alexander in einem Brief aus dem September 1808 gegenüber der Zarinmutter seine Allianz mit Napoleon. Siehe Grimsted, Foreign Ministers, S. 166 f. Auch Sorel, Révolution, S. 310. 241 Siehe hierzu Scharf, Rußlands Politik, S. 197 f. Vandal, Napoléon, S. 70.
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B. Der Friedensschluss und die internationale Ordnung
Preußen musste sich zunächst in die gegen England gerichtete Allianz einreihen und entsprechend des Tilsiter Friedens an der Handelsblockade teilnehmen. Doch nur zögerlich setzte die preußische Führung letztere Verpflichtung auch um. Am 1. September wurde die Schließung der Häfen zwar verkündet, ohne dass aber eine strenge Kontrolle des Handels stattfand.242 Sogar nach dem Friedensschluss wurde der neue englische Gesandte Benjamin Garlike am preußischen Hof in Memel empfangen und ihm erlaubt, sich, wenn auch offiziell nur als Privatmann, dort niederzulassen.243 Die preußische Führung war offensichtlich bemüht, den Kontakt nach London auch weiterhin nicht abreißen zu lassen.244 Bei dem Versuch, für ein entspannteres Verhältnis zwischen beiden Staaten zu sorgen, setzte der preußische Gesandte Jacobi-Kloest dem Briten Canning die missliche Lage Preußens auseinander.245 Er machte deutlich, dass Preußen nur widerwillig eine feindselige Haltung gegenüber England eingenommen habe und dass der König keine Belastung der beiderseitigen Beziehungen wünsche. Es bedurfte auch hier des französischen Drucks, damit der König die Rückkehr von Jakobi-Kloest anordnete und Garlike aufgefordert wurde, Preußen zu verlassen.246 Da Napoleon von Friedrich Wilhelm auch den Bruch mit dem schwedischen König verlangte, gestaltete sich auch das Verhältnis zu Schweden nach dem Friedensschluss schwierig. Gefährlich wurde die Lage besonders deshalb, weil gegen Ende des Krieges ein preußisches Hilfskorps unter dem Kommando des Generalmajors Gebhard Leberecht von Blücher nach Rügen gesandt worden war, um die dort stehenden Schweden im Kampf gegen die französische Armee zu unterstützen.247 Zwar hatte auch das schwedische Königreich einen Waffenstillstand mit Frankreich geschlossen, doch war es den Friedensverhandlungen nicht beigetreten248 und hatte daher am 13. Juli den Kampf wiederaufgenommen. Nun bestand die Gefahr, dass das 242
Siehe Saring, Kontinentalsperre, S. 23 f. Haußherr, Erfüllung, S. 49. Siehe Brinkmann, Quelle, S. 94. 244 Siehe hierzu Goltz’ für die Kombinierte Immediatkommission bestimmtes Memorandum „Die allgemeinen politischen Verhältnisse Preußens mit anderen Staaten nach dem Friedensschluss von Tilsit“, Memel, 8. 9. 1807, Konzept, ohne Abgangsvermerk. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 377. 245 Siehe Kabinettsorder an Jacobi-Kloest, Memel, 12. 11. 1807. Hassel, Geschichte, S. 352 f. Haußherr, Erfüllung, S. 136, 142. 246 Siehe Kabinettsorder an Jacobi-Kloest, Memel, 29. 11. 1807. Hassel, Geschichte, S. 41 – 48, 353 f. Auch Hans Saring, Die Rolle des Geheimen Staatsrats v. Heydebreck bei der Durchführung der Kontinentalsperre in Preußen, in: FBPG 44 (1932), S. 84 – 129, hier S. 91. Siehe auch die „Erklärung“ vom 1. 12. 1807 (Memel), in welcher die Sperrung der Häfen und der Abbruch der diplomatischen Beziehungen verkündet und begründet wurde in Scheel, Reformministerium Bd. 1, Nr. 55, S. 189 f. Hierzu auch ebd., S. 361 f. Der englische Geschäftsträger am preußischen Hof, George Jackson, verließ bereits am 28. 9. 1807 Memel. Siehe Jackson, Diaries, Bd. 2, S. 210. 247 Siehe Lettow-Vorbeck, Krieg, Bd. 4, S. 227. 248 Ein Appell Friedrich Wilhelms an Gustav IV. blieb ungehört. Siehe Friedrich Wilhelm an Gustav, Piktupöhnen, 30. 6. 1807, Konzept, abgeg. 1.7. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 58 – 58v. 243
VI. Die Lage Preußens nach Kriegsende: Zustand von Land und Regierung
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preußische Korps in Unkenntnis der politischen Lage in die Kämpfe verwickelt werden würde;249 doch es gelang Blücher, sich mit seinen Truppen unbehelligt nach Hinterpommern abzusetzen. Die letzten offiziellen diplomatischen Kontakte nach Stockholm wurden erst deutlich später, im Frühjahr 1808, als Reaktion auf ein Schreiben des französischen Generalkonsuls in Königsberg Louis de Clérembault gekappt und erst am 11. Juni desselben Jahres folgte die Sperrung der preußischen Häfen für die schwedische Schifffahrt.250 Preußen war somit von den beiden letzten europäischen Mächten, die den Krieg gegen Frankreich fortsetzten, England und Schweden, isoliert.
VI. Die Lage Preußens nach Kriegsende: Zustand von Land und Regierung Der Krieg hatte in ganz Preußen große Schäden hinterlassen, vor allem aber die Gegenden Ostpreußens zwischen Passarge, Alle und Pregel hatten schwer unter den Kampfhandlungen gelitten. Dort fanden in der Schlussphase des Krieges, die für beide Seiten den verlustreichsten Abschnitt des Feldzugs markierte, die Schlachten von Heilsberg, Preußisch Eylau und Friedland statt. 350 000 Mann standen sich hier über sieben Monate lang gegenüber.251 Die Bevölkerung dieser Region litt nicht nur unter den direkten Kriegshandlungen, bedrohlicher waren oftmals die Gefahren durch Plünderungen, Brandschatzungen und Requisitionen, wobei neben den Franzosen auch die verbündete russische Armee mit besonderer Rücksichtslosigkeit verfuhr.252 Schenkt man den Berichten Glauben, so sind die Verbündeten sogar noch 249
Siehe Haußherr, Befreiung, S. 21 f. Siehe Duncker, Eine Milliarde, S. 535. Clérambault an Goltz, Königsberg, 4. 4. 1808. Franz Rühl (Hrsg.), Briefe und Aktenstücke zur Geschichte Preussens unter Friedrich Wilhelm III. vorzugsweise aus dem Nachlass von F. A. Stägemann, 4 Bde., Leipzig 1899 – 1904, hier Bd. 1, Nr. 37, S. 68 f. Am 6. April antwortete Goltz, dass Brinkmann und der englische Konsul in Königsberg, Drussina, das Land verlassen werden. Siehe ebd. Nr. 42, S. 74. 251 Siehe Rudolf Ibbeken, Preußen 1807 – 1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz, 5), Berlin/Köln 1970, S. 91. Zum Zustand Ostpreußens unmittelbar nach Ende des Krieges siehe auch Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 5. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 347. Friedrich August von Holstein-Beck an Elisabeth Staegemann, Königsberg, 30. 6. 1807. Rühl, Briefe, Bd. 4, Nr. 23 S. 26 – 28. Karl Mamroth, Geschichte der Preußischen Staats-Besteuerung 1806 – 1816, Leipzig 1890, S. 20 f. Hermann von Boyen, Erinnerungen aus dem Leben des General-Feldmarschalls Hermann von Boyen, aus seinem Nachlaß im Auftrag der Familie herausgegeben von Friedrich Nippold, 3 Bde., Leipzig 1899 – 1900, hier Bd. 2, S. 280. Adalbert Bezzenberger, Ostpreußen in der Franzosenzeit. Seine Verluste und Opfer an Gut und Blut, Königsberg 1913, S. 123. 252 Siehe hierzu Fournier, Napoleon, S. 171. Lettow-Vorbeck, Krieg, Bd. 2, S. 174 f. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 473 f. Auch Schladen an Hardenberg, Baubeln, 21. 6. 1807. Ebd., Bd. 5, S. 526. Stamm-Kuhlmann, Tagebücher, S. 521. Schladen, Preußen, S. 238 f. Altenstein 250
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brutaler vorgegangen als der Feind. „Die Kosaken verheerten alles“253, hieß es etwa in der Leuenburger „Kirchen-Matrikel-Chronik“. Obwohl die Zahlen über die Verluste und Kriegsschäden in Ostpreußen sicherlich nicht über allen Zweifel erhaben sind und auch mancher Bericht die Lage in besonders drastischen Worten schilderte, kann man doch anhand dieser Angaben eine gewisse Vorstellung von der Größenordnung der Verheerungen gewinnen. Nach einem Bericht aus dem Februar 1809 wurden 13 Städte und 58 Dörfer während des Krieges zerstört, während die Zahl der Einwohner auf 7/8, der Viehbestand auf 1/12 des Vorkriegsniveaus sank.254 Ein sehr drastisches Beispiel für die Folgen des Krieges lieferte der Gutsbesitzer Joseph Schimmelpfennig v. Oye, dessen Güter Zechern und Sperwatten um Heilsberg lagen. Er berichtete später, das Gut Zechern „wurde im Jahr 1807 durch den Krieg ganz der Erde gleichgemacht, so daß von besagten sämmtlichen Gebäuden nichts als die Windmühle, das Brandhaus und das (…) herrschaftliche alte Wohnhaus stehen bliebe (!).“ Ähnlich beschrieb auch der Generalmajor v. Sutterheim den Zustand seiner Güter.255 Noch in seinem Jahresbericht für 1809 bemerkte der Oberpräsident für Westpreußen, Litauen und Ostpreußen Hans Jakob v. Auerswald das Land habe sich immer noch nicht vom Krieg und dessen Folgen erholt. Katastrophal sei nach wie vor die Situation in Ostpreußen, „welches unstrittig auch durch den Krieg am mehrsten mitgenommen wurde“256. Die beiden anderen Provinzen seines Oberpräsidialbezirks waren zwar weniger stark zerstört, doch hielt der Kammerpräsident von Gumbinnen beispielsweise die Verluste an Vieh und Pferden für, so wörtlich, „schlimm“257. Die offensichtlichste politische Folge des verlorenen Krieges war die territoriale Verkleinerung der Monarchie; statt vormals 314 448 hatte der preußische Staat nurmehr eine Ausdehnung von 158 008 qkm. Die Anzahl der Kammerbezirke reduzierte sich von 23 auf acht. Zumindest in fiskalischer Hinsicht wichtiger als die reine flächenmäßige Verkleinerung des Staats war der Bevölkerungsverlust. Vor 1806 zählten die preußischen Provinzen noch knapp 10 Mio. Einwohner, 1808 (auch bedingt durch den Krieg) lediglich noch rund 4,6 Mio.; wobei auch diese Zahlen nur
an Schön, Piktupöhnen, 29. 6. 1807. Schön, Aus den Papieren, Bd. 2, S. 12 f. Altenstein an Staegemann, Piktupöhnen, 27. 6. 1807. Rühl, Briefe, Bd. 4, Nr. 21, S. 25. 253 Emil Hollack (Bearb.), Nachrichten über die Grafen zu Eulenburg als Fortsetzung und Ergänzung des Urkundenbuches in zwanglosen Heften, Heft 1, 2. vermehrte Aufl., Königsberg 1911, S. 63. 254 Siehe Dohna/Altenstein an Sack, Königsberg, 20. und 22. 2. 1809. Zit. n. Otto Schönbeck, Der kurmärkische Landtag vom Frühjahr 1809, in: FBPG 20 (1907), S. 1 – 103, hier S. 64. 255 Wiedergegeben in Bezzenberger, Ostpreußen, S. 3 – 7, das Zitat S. 4. 256 Jahresbericht Auerswald, Königsberg, 22. 1. 1810, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 190, Nr. 3, Bl. 19 – 30v, hier das Zitat Bl. 19. 257 Kammer Gumbinnen an Provinzialminister Schroetter, Gumbinnen, 7. 10. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 348.
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als Annäherungswerte zu verstehen sind.258 Mit den Worten „Das Schicksal gebietet, der Vater scheidet von seinen Kindern“259 entband der König die Untertanen, die er mit den abgetretenen Provinzen verlor, von ihrer Untertanenpflicht. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Friedensschlusses war Preußen nahezu vollständig von französischen und Rheinbundtruppen besetzt. Zu den Gebieten, die noch von der preußischen Armee kontrolliert wurden, zählten neben einem schmalen Landstreifen nördlich der Memel die westpreußischen und schlesischen Festungen Graudenz, Silberberg sowie Kosel. In Schlesien hatten zudem Reste des preußischen Heeres das Umland einschließlich der Festung von Glatz bis zum Friedensschluss gehalten. In einem Demarkationsbezirk entlang der Ostsee, zwischen der bis zum Friedensschluss gehaltenen Festung Kolberg und dem Ort Dievenow, stand überdies das schon erwähnte 13 000 Mann starke Blüchersche Korps, das in Absprache mit den Franzosen Schwedisch-Pommern geräumt hatte.260 Aus der Gegend um Tilsit trat die französische Armee am 12. Juli den Rückzug an. Nach langwierigen Verhandlungen erfolgte anschließend, am 25. Juli, auch die Räumung von Königsberg und bis zum 2. August die des gesamten Raums östlich der Passarge.261 Abgesehen von den einzelnen Festungen und kleineren Landstrichen, die von preußischen Truppen außerhalb Ostpreußens und Litauens gehalten wurden, umfasste das Gebiet, das zu diesem Zeitpunkt unter der direkten Hoheit des Königs stand rund 617 qkm mit nur 728 000 Einwohnern.262 Der Hof hatte sich während des Krieges in den östlichsten Winkel der Monarchie nach Memel geflüchtet, wohin dem König auch einige vermögende Familien aus Berlin gefolgt waren.263 Der zeitgenössische Historiker Ludwig Baczko beschrieb 258
Diese Werte nach Mieck, Preußen, S. 16 f., der auf die Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der zeitgenössischen Statistik hinwies. Miecks Angaben zum Bevölkerungsstand nach dem Friedensschluss stimmen mit denen von Bassewitz und Dieterici überein, weichen jedoch hinsichtlich des Vorkriegsstandes von ersterem ab. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 580 f. C. F. W. Dieterici, Der Volkswohlstand im Preussischen Staate. In Vergleichung aus den Jahren vor 1806 und von 1828 bis 1832, so wie aus der neuesten Zeit, nach statistischen Ermittlungen und dem Gange der Gesetzgebung aus amtlichen Quellen dargestellt (Studien zur Politikwissenschaft, 19), Münster 1986 (Ndr. d. Ausg. v. 1846), S. 43. Nach einer Aufstellung des Außenministeriums habe die Bevölkerungszahl vor dem Krieg hingegen 9 435 993 Menschen betragen und sei durch den Frieden auf 5 819 157 gefallen. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 329/1, Bl. 66. 259 Proklamation des Königs, Memel, 24. 7. 1807. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 418. 260 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 436 f. Hassel, Geschichte, S. 200. Vaupel, Reorganisation, S. 2 f. Immediatbericht Blücher, Treptow a. R., 28. 7. 1807. ebd., S. 17 f. 261 Siehe Immediatbericht Kalckreuth, Königsberg, 2. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 324, Bl. 54v. Haußherr, Erfüllung, S. 26. 262 Siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 111. 263 Siehe hierzu Gustav Karpowsky (Hrsg.), Chronik von Pyritz. Enthalten die Geschichte und Beschreibung dieser Stadt nebst einem Anhange und mehreren Nachträgen, Pyritz 1855, S. 161. Hermann Granier, Die Franzosen in Berlin 1806 – 1808, in: Hohenzollern-Jahrbuch 9 (1905), S. 1 – 43, hier S. 4. Radziwill, Fünfundvierzig Jahre, S. 179.
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Memel vor dem Krieg als eine wohlhabende, kleine Handelsstadt mit rund 6000 Bewohnern;264 mit der Ankunft des Königspaares Anfang 1807, der Regierungsspitzen sowie von Kranken, Verwundeten und Flüchtlingen stieg die Einwohnerzahl vorübergehend ganz beträchtlich. Obwohl das Leben in der überfüllten, und noch dazu von der Ruhr geplagten Stadt den Komfort der Hauptstadt vermissen ließ,265 schätzte der König die Abgeschiedenheit Memels und die sich hier ergebenden Möglichkeiten des ungezwungenen Umgangs fern des Zeremoniells. Mit regelmäßigen Ausflügen, insbesondere ins nahe gelegene Tauerlaken,266 vertrieb er sich die bedrückenden Gedanken an eine Abdankung, die er damals unter dem überwältigenden Eindruck der jüngsten Ereignisse flüchtig äußerte.267 Der Verwaltungsapparat, der dem König zur Verfügung stand, war klein und improvisiert. Das Schlagwort, unter dem sich der Zustand der Verwaltung subsumieren lässt, ist „interimistisch“ – es ist im Verwaltungsbereich eines der am häufigsten gebrauchten Wörter dieser Zeit und quasi das Signum der preußischen Verwaltungsgeschichte von 1807 bis zum Organisationsedikt Ende 1808. Nach der Niederlage von Jena und Auerstedt hatten sich nur vereinzelt Beamte und einige Abteilungen des Generaldirektoriums mit dem Hof auf die Flucht Richtung Osten begeben. Eine straffere Form erhielt die Regierungsspitze im April 1807, als weitreichende Kompetenzen in der Hand Hardenbergs gebündelt wurden, die ihn faktisch zu einem die Außen- und Innenpolitik leitenden Premierminister machten.268 Als dann Napoleon in Tilsit Hardenberg zum Rücktritt und zur Flucht nach Riga zwang, ging mit ihm auch gleich das Zentrum der neuen Verwaltungsordnung verloren. An seiner Stelle übernahm der Kabinettsrat Carl Friedrich Beyme den Vortrag für alle Zivilangelegenheiten beim König. Beyme war keine Führungsfigur, aber ein beflissener Beamter,269 der das Vertrauen Friedrich Wilhelms besaß. Mit seiner Ernennung hatte das von Hardenberg und Stein so hartnäckig bekämpfte Kabinett wieder eine zentrale Bedeutung gewonnen, aber anders als zuvor existierte mit Beyme nur noch ein Kabinettsrat, so dass eine gewisse Einheitlichkeit des Geschäftsgangs gewährleistet war. 264 Siehe Ludwig Baczko, Reise durch einen Theil Preussens. Erstes Bändchen, Hamburg/ Altona 1800, S. 100 – 145. 265 Siehe Scharnhorst an Julie v. Scharnhorst, Memel. 3. 9. 1807. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 4, Nr. 349, S. 642 f. 266 Siehe hierzu und zum Alltag des Hofs in Memel Voß, Neunundsechzig Jahre, S. 314 – 329. Radziwill, Fünfundvierzig Jahre, S. 198. Brinkmann, Quelle, S. 108, 114, 118 – 123. Walther Hubatsch, Stein in Memel 1807/1808, in: Ders., Stein-Studien. Die preußischen Reformen des Reichsfreiherrn Karl vom Stein zwischen Revolution und Restauration, Köln/Berlin 1975, S. 86 – 95, hier S. 88 f. Stamm-Kuhlmann, König, S. 266, 285 – 286. 267 Luise an Georg von Mecklenburg, Memel, 15. 8. 1807. Malve Rothkirch (Hrsg.), Königin Luise von Preussen. Briefe und Aufzeichnungen 1786 – 1810, mit einer Einleitung von Hartmut Boockmann, München 2010, Nr. 285, S. 383. 268 Ranke, Geschichte, Bd. 3, S. 51 – 53. 269 Eine knappe Charakterisierung in Hans Haußherr, Hardenberg. Eine politische Biographie. Bd. 1, Köln/Graz 1963, Bd. 3, 2. Aufl., Köln/Graz 1965, hier Bd. 3, S. 19 f.
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Den Vortrag für die auswärtigen Sachen führte fortan Goltz, der auf Vorschlag Hardenbergs am 6. Juli das Kabinettsministerium (Außenministerium) übernommen hatte und dieses, trotz der ihm nachgesagten Schwächen, bis 1810 nicht ohne Geschick führte.270 Über die militärischen Belange trug der königliche Generaladjutant Oberst von Kleist vor, bis er am 18. August 1807 von Karl Friedrich Heinrich von Lottum in dieser Stellung abgelöst wurde. Diese Geschäftsverteilung zwischen Beyme, Goltz und Lottum wurde schließlich bis zur Ankunft Steins in Memel Ende September 1807 beibehalten. Trotz der schroffen Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem König, die zu seiner Entlassung geführt hatten, wurde Stein zum Leiter der Innen- und Finanzpolitik berufen. In dieser Stellung übernahm er fortan die Leitung des Kabinetts und führte anstelle Beymes, der in eine rein ausführende Position verdrängt wurde, den Vortrag in allen Zivilangelegenheiten. Steins Kompetenzen reichten jedoch weiter. So übernahm er den Vorsitz in den Konferenzen des Auswärtigen Departements. In die militärischen Angelegenheiten mischte er sich zwar nicht direkt ein, wahrte sich aber durch das Recht zur Teilnahme an den Sitzungen der Militärreorganisationskommission einen gewissen Einfluss auf die Heeresreform.271 Noch vor seinem Ausscheiden hatte Hardenberg die Bildung eines provisorischen Finanzministeriums in die Wege geleitet, das seit Juli 1807 unter dem Titel einer „Kombinierten Immediatkommission für sämtliche Geldoperationen des Staates und die Armeeverpflegungsangelegenheiten“ firmierte und unter dem Vorsitz von Klewitz aus Altenstein, Schön, Staegemann und Niebuhr bestand; ergänzend trat noch der Generalintendant Quast hinzu, der für das Armeeverpflegungswesen zuständig war.272 Im Verlauf ihrer Existenz übernahm die Kombinierte Immediatkommission schließlich zunehmend weitere Aufgaben der inneren Verwaltung und entwickelte sich zu einem Impulsgeber der Reform. Die eigentliche Funktion eines Innenministeriums übernahm das preußische Provinzialdepartement unter der Leitung des Staatsministers Friedrich Leopold von
270 Siehe Kabinettsorder an Goltz, Piktupöhnen, 6. 7. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 147, S. 211. Die negative Charakterisierung, die etwa Haußherr bot, lehnte sich stark an die (zweifellos überzeichneten) zeitgenössischen Urteile an. Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 14 f. Jackson, Diaries, Bd. 2, S. 184: „In fact, nothing can be weaker than he is.“ Auch Adolf Ernst (Hrsg.), Denkwürdigkeiten von Heinrich und Amalie von Beguelin aus den Jahren 1807 – 1813, nebst Briefen von Gneisenau und Hardenberg, Berlin 1892, S. 134. 271 Siehe Kabinettsorder an Stein, Memel, 4. 10. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 1, S. 1 f. Auch Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 454 – 459. Ritter, Stein, S. 204 – 210. 272 Siehe Kabinettsorder an Altenstein, Niebuhr, Schön und Staegemann, Memel, 14. 7. 1807. Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 118. Winter, Reorganisation, Nr. 158, S. 220 – 222. Altenstein begleitete zunächst Hardenberg nach Riga. Er stieß erst später zur Immediatkommission. Auch Niebuhr hielt sich zum Zeitpunkt des Friedensschlusses in Riga auf. Nach der Ablehnung seines Rücktrittsgesuchs ging er von dort ebenfalls nach Memel. Siehe Kabinettsorder an Niebuhr, Memel, 27. 7. 1807. Ebd., Nr. 174, S. 238.
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Schroetter, das schon am 16. Oktober in Königsberg wieder in voller Tätigkeit war.273 Schroetters Bruder, der Kanzler Karl Wilhelm von Schroetter, führte zeitgleich ein interimistisches Justizministerium für die nicht besetzten Gebiete, unter dessen Dach die Angelegenheiten der verschiedenen Justizdepartements bearbeitet wurden, wozu auch die geistlichen Sachen und das Lehenswesen zählten.274 Neben diesen Zentralbehörden nahmen das Postdepartement unter Seegebarth, das Zoll- und Akzisedepartement unter Beyer und weitere Finanzbehörden und -institute wie die Bank, die Seehandlung oder die Oberrechenkammer ihre Verwaltungstätigkeit bald wieder auf.275 Alles in allem war es eine Regierung en miniature, die in Memel und Königsberg entstand. Der gesamte Beamtenapparat umfasste auch nach dem Umzug des Hofes nach Königsberg nur rund 50 Personen, inklusive der Subalternbeamten. Es waren darunter vorwiegend junge Beamte zwischen 30 und 50 Jahren.276 Der Altersdurchschnitt konnte ein Vorteil sein, wenn es darum ging, dem Verwaltungsaufbau des Staats eine neue Form zu geben; es ließ sich auch erwarten, dass die jungen Beamten die Geschwindigkeit und Effizienz der Verwaltung erhöhen würden, so wie auch die räumliche Nähe aller Behörden und Entscheidungsträger eine rasche Beschlussfassung begünstigten.277 Doch diese Vorzüge wurden durch die bisweilen chaotische und improvisierte Geschäftsverteilung278 und ein ausgeprägtes Konkurrenz- und Lagerdenken unter den geflüchteten Beamten wieder zunichte gemacht.279 273
Siehe Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 16. 10. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 12, S. 28. 274 Siehe Adolf Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten, neu hrsg. u. mit einer Einleitung versehen v. Jürgen Regge, 2 Bde., Vaduz 1989 (Ndr. d. Ausg. v. 1888), S. 382 f., 386 f. 275 Zur Zusammensetzung der Zentralbehörden nach Hardenbergs Ausscheiden siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 438 – 443. Ranke, Geschichte, Bd. 3, S. 54 f. Ders., Hardenberg, Bd. 5, S. 510. Stölzel, Rechtsverwaltung, S. 377 – 381, 384. Haußherr, Erfüllung, S. 28. 276 Vogel gab 52 Beamte an, während Pietschmann, der mit den Akten gut vertraut war, auf 45 kam. Bei beiden finden sich auch Angaben zum Altersdurchschnitt. Siehe Vogel, Gewerbefreiheit, S. 74. Dietrich Pietschmann, Das preußische Finanzministerium unter Stein und Hardenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Entstehung der modernen Fachministerien in Preußen, 2 Bde., Phil. Diss., Berlin 1960, hier Bd. 1, S. 80 f. 277 Ein Einblick in diese Alltagswelt gewährt Vincke in seinem Tagebucheintrag vom 11. 12. 1807. Hans-Joachim Behr (Bearb.), Die Tagebücher des Ludwig Freiherrn Vincke 1789 – 1844 (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster, 5 und Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalen, XIX, Westfälische Briefwechsel und Denkwürdigkeiten, 12,5 sowie Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, 24), 9 Bde., Münster 2009 – 2015, hier Bd. 5, S. 234 – 236. 278 Der immer pessimistisch gestimmte Niebuhr beklagte von Riga aus in einem Schreiben an Stein (28. 7. 1807) die „übel organisierte[], vielköpfige[] Administration, wie die jetzige Immediat-Kommission“. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, S. 422. Siehe auch Pietschmann, Finanzministerium, Bd. 1, S. 98. Das sich die Lage auch in Königsberg nicht wesentlich besserte, geht aus mehreren Schreiben von Wilhelm v. Humboldt hervor. Siehe W. v. Humboldt an Caroline v. Humboldt, Berlin, 11. 3. 1809 und Königsberg, 18. 4. 1809. Anna v. Sydow (Hrsg.), Wilhelm
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Die Stadt Memel brachte weitere Probleme mit sich. So war sie eigentlich zu klein, um die Behörden im Umfeld des Hofs beherbergen zu können und sie verfügte als unbedeutende Provinzstadt nicht über die geeigneten administrativen Strukturen für die provisorische Regierungsverwaltung. Die Lage Memels im äußersten Osten verlängerte überdies die Kommunikationswege ganz erheblich, so dass wichtige Entscheidungen die Befehlsempfänger vor Ort erst mit großer Verzögerung erreichten und die Kosten für die Korrespondenz deutlich stiegen – obwohl doch eigentlich aufgrund der finanziellen Lage des Staats größte Sparsamkeit geboten war.280 Angesichts dieser Umstände hatte die Kombinierte Immediatkommission wiederholt darauf angetragen, den Hof nach Königsberg zu verlegen und auf die Vorteile hingewiesen, die sich daraus ergeben würden.281 Königsberg lag immerhin rund 50 Kilometer weiter westlich, war Sitz der ostpreußischen Kriegs- und Domänenkammer und bot mit dem Schloss eine geeignete Unterkunft für Hof und Regierung. Ausdrücklich wies man auch auf die „günstige Sensation“ hin, welche die Ankunft des Königs in der alten Residenz- und Krönungsstadt bei den Untertanen hervorrufen würde. Doch der König ließ sich zunächst nicht überzeugen. Er ziehe „unter den jetzigen drückenden Zeitumständen einen kleinen entlegenen Provinzialort bei weitem einer großen geräuschvollen Stadt vor[]“282, antwortete er noch im Dezember auf Steins Drängen zum Umzug. Erst im Januar 1808 fand dieser endlich statt. Bei allen Vorteilen, die sich daraus ergaben, trug doch auch in Königsberg alles weiterhin den Charakter des Improvisierten; selbst die Möblierung für die Räumlichkeiten der königlichen Familie musste von Bürgern geliehen werden.283
und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, 7 Bde., Berlin 1906 – 1916, hier Bd. 3, S. 109, 136 f. 279 Siehe anstelle vieler Schön an Altenstein, Memel, 18. 7. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 164, S. 229. 280 Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 131. 281 Siehe Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Memel, 29. 9. 1807. GStA PK, Rep. 89, Nr. 24790, Bl. 46, hier auch das folgende Zitat. 282 Friedrich Wilhelm an Stein, Memel, 7. 12. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 477, S. 560. 283 Zum Alltag des Hofes in Königsberg siehe Voß, Neunundsechzig Jahre, S. 329 – 364. Stamm-Kuhlmann, König, S. 297. Wulf Wagner/Heinrich Lange, Das Königsberger Schloss. Eine Bau- und Kulturgeschichte, 2 Bde., Regensburg 2008/2011, hier Bd. 2, S. 148 – 158.
C. Die Wahrung der äußeren Souveränität I. Die Diplomatie 1. Pacta non sunt servanda: Die Verhandlungen über die Friedensvollziehung (1807 – 1808) Aufgrund der Vagheit der Friedensbestimmungen herrschte Mitte Juli 1807 große Ungewissheit über die Zukunft der preußischen Monarchie. Vordringlichstes Ziel der preußischen Führung musste es sein, eine Einigung mit Frankreich über die noch ausstehenden Kontributionen zu erreichen, um so die baldige Räumung des Landes zu erwirken. Solange fremde Truppen Preußen besetzt hielten und bis die Bestimmungen der Königsberger Konvention nicht exekutiert waren, blieb die außen- wie innenpolitische Handlungsfreiheit der preußischen Regierung derart begrenzt, dass die Souveränität des Reststaats ausgesprochen eingeschränkt war; weder konnte die staatliche Gewalt in den besetzten Gebieten effektiv ausgeübt werden, noch waren außenpolitische Entscheidungen ohne außerordentliche Rücksichten auf Frankreich ausführbar. Die Außenpolitik gewann unter diesen Umständen eine herausgehobene, primäre Bedeutung für das preußische Kabinett, die sich sogleich in den Überlegungen für die künftigen Grundlinien preußischer Politik niederschlug. „Unstreitig steht die Leitung der auswärtigen Verhältnisse unter allen Zweigen der Staatsgeschäfte am höchsten“1, schrieb etwa Altenstein in einer Denkschrift, die er in Riga für Hardenberg entwarf; auch das Politikverständnis des entlassenen Premiers vollzog unter dem Eindruck des Tilsiter Friedens einen fundamentalen Wandel.2 In seiner Denkschrift, in der er ein Programm zur Rettung des Staats formulierte, sah er nicht mehr wie früher in der Innenpolitik, sondern in den Außenbeziehungen das maßgebliche politische Aktionsfeld. Klar umriss er die Problemlage Preußens: „Selbstständigkeit und Independenz sind jetzt leere Namen“; die entscheidende Frage müsse nun lauten, wie man gänzliche Abhängigkeit vermeide. Auch Hardenberg sah im Abzug der französischen Truppen das zentrale Ziel; da man den Betrag der zu zahlenden Kontributionen aber nicht kannte, deren Bezahlung aber die
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Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 262, S. 373. Siehe hierzu Thomas Stamm-Kuhlmann, Hardenberg, Mann des achtzehnten Jahrhunderts und Diplomat. Das Bild seiner Persönlichkeit in den Tagebüchern, in: Ders., „Freier Gebrauch“, S. 231 – 253, hier S. 241 f. 2
I. Die Diplomatie
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Voraussetzung für die Räumung des Landes war, schätzte er die Chancen dieses auch zu erreichen, gering ein.3 Da es Preußen offensichtlich an den Voraussetzungen mangelte, um die Bestimmungen der Verträge gegebenenfalls militärisch zu revidieren, verblieb als einziger Weg zur Verbesserung des politischen Status allein die Diplomatie. Immerhin konnte Napoleon aus Rücksicht auf Russland nicht nach Belieben über die Hohenzollernmonarchie verfügen, sondern war dazu gezwungen, sich mit der preußischen Regierung auseinanderzusetzen und seine Ansprüche in den kommenden Friedensvollziehungsverhandlungen auch zu begründen. Noch in Königsberg, unmittelbar nachdem Napoleon und Berthier am 13. Juli die Stadt verlassen hatten, begannen die Unterhandlungen über den französischen Abzug.4 Der französische Oberbefehlshaber der Truppen östlich der Elbe Marschall Soult war zu entsprechenden Abmachungen mit Preußen und zu deren Vollziehung bevollmächtigt. Als Spezialist für die relevanten Finanzfragen war jedoch der Generalintendant der französischen Armee Pierre Daru der wichtigste Verhandlungspartner der preußischen Seite.5 Er erhielt noch am 22. Juli von Napoleon die Vollmacht zum Abschluss sämtlicher Konventionen in Betreff auf die Friedensvollziehung.6 Daru war einer der wichtigsten Männer im napoleonischen Herrschaftsapparat. Seine Kenntnisse als Verwaltungsfachmann, die ihn in der Heeresverwaltung schnell hatten aufsteigen lassen, nutzte Napoleon für seine Zwecke, indem er ihn zum conseiller d’etat und zum Intendanten des kaiserlichen Hauses ernannte. Napoleon vertraute ihm nicht nur in zivilen Angelegenheiten, auch auf militärischem Gebiet verließ er sich auf Daru. Bereits während des Feldzugs 1805 stand er als Generalintendant der Grande Armée an der Spitze der Verwaltung des Feldheeres. In dieser Funktion war er zunächst für die Unterbringung und Versorgung der Armee zuständig, daneben aber auch mit der Besatzungsverwaltung, dem Requisitions- und Kontributionswesen betraut. Besonders für die Feldzüge gegen die beiden deutschen Monarchien Österreich und Preußen war Daru aufgrund seiner Deutschkenntnisse, die er am Collège de Tournon erworben hatte, besonders geeignet. Nicht zuletzt seinem Organisationstalent war es zu verdanken, dass nach dem Winterfeldzug 1806/7 die Neuaufstellung des nahezu aufgelösten französischen Heeres rasch gelang und damit die Voraussetzungen für den späteren Sieg geschaffen wurden.7 3 Siehe Denkschrift Hardenberg, Riga, 12. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 261, S. 306 – 313, 351, hier das Zitat S. 306. 4 Zu den Verhandlungen siehe Haußherr, Erfüllung, S. 25 f. 5 Siehe Berthier an Kalckreuth, Königsberg, 16. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 324, Bl. 26. 6 Siehe Pleinpouvoir pour Daru, Dresden, 22. 7. 1807, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 52 – 52v. 7 Über das militärische und politische Leben Darus existieren keine Monographien, die einem wissenschaftlichen Anspruch genügen. Zu seinem Werdegang bis zu seiner Mission in Berlin siehe unter anderem Bernard Bergerot, Daru. Intendant général de la Grande Armée, Paris 1991, S. 12 – 38, 49 f., 75 – 77, 86 – 107. Ders., Daru, Pierre-Antoine-Noël-Bruno, in:
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In Königsberg drang Daru auf eine schnelle Regulierung der ostpreußischen Kontributionsschuld, damit der Abzug aus der Stadt konventionsgemäß am 25. Juli erfolgen konnte.8 Trotz der Bedeutung dieser Angelegenheiten blieb aufgrund der allgemeinen Unordnung innerhalb der preußischen Führung vorerst unklar, wer preußischerseits die Verhandlungen führen würde.9 Goltz hatte Königsberg kurz nach Unterzeichnung der Konvention vom 12. Juli schon wieder verlassen und den Geheimen Legationsrat Nagler mit dem Auftrag zurückgelassen, eine Einigung auszuhandeln. Aber auch Nagler entzog sich der schwierigen Aufgabe und brach bald in Richtung Memel auf – „pour chercher l’instruction nécesaire (!)“, wie es hieß. Daru wandte sich daraufhin an Kalckreuth, den letzten vor Ort greifbaren Preußen von Rang. Ohne klare Verhaltensmaßregeln seitens des königlichen Kabinetts konnte Kalckreuth aber nur ausweichend auf die Anfragen des Generalintendanten reagieren.10 Aufgrund der offensichtlichen Handlungsunfähigkeit der Zentralregierung verhandelten schließlich der Magistrat und die Bürgerschaft von Königsberg selbstständig mit Daru und erreichten bald eine Einigung über die noch offenen französischen Forderungen gegenüber der Provinz und der Stadt in Höhe von 9,5 Mio. Francs. Die Grande Armée zog sich daraufhin zum vertraglich festgesetzten Termin bis zur Passarge zurück.11 Offen war aber nach wie vor die Frage nach der Höhe der Gesamtforderung gegenüber Preußen. Gegenüber Goltz hatte Daru noch in Königsberg eine Summe von 100 Mio. Francs erwähnt. Dies war eine enorme Summe, wenn man bedenkt, dass die Bruttoeinnahmen des Staats im Etatjahr 1805/6, also während des Friedens und zum Zeitpunkt der flächenmäßig größten Ausdehnung Preußens, bei rund 30 Mio. Taler beziehungsweise circa 97,2 Mio. Francs lagen.12 Der König hatte auf Dictionnaire Napoléon, Paris 1989, S. 569 f. Bernadette Morand, Pierre Daru 1767 – 1829, Villargoix 1993, S. 4 – 13. Hugues de La Barre de Nanteuil, Le Comte Daru ou l‘Administration Militaire sous la Révolution et l‘Empire, Préface de Fleuriot de Langle, Paris 1966, S. 1 ff. Lesage, Napoléon, S. 13 – 15. 8 Siehe Daru an Kalckreuth, Königsberg, 20. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 325, Bl. 1. 9 Hierüber beklagte sich Daru wiederholt. Siehe Daru an Kalckreuth, Königsberg, 20. 7. 1807, Abschrift. Ebd., I. HA, Gesandtschaft Paris IV, Nr. 23. Daru an Goltz, Königsberg, 25. 7. 1807. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 325, Bl. 3 – 3v. 10 Siehe Kalckreuth an Daru, Königsberg, 20. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 325, Bl. 2 – 2v, hier das Zitat Bl. 2. 11 Über den Abzug berichtete Auerswald in einem Immediatbericht, Königsberg, 28. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 347. Zu den Verhandlungen siehe Kap. D. III. 12 Die in der Literatur zu findenden Angaben weichen stark voneinander ab. Riedel und Behre gaben das Einkommen mit 27 Mio. Talern an und errechneten nach Abzug der Militärund anderer Kosten einen Überschuss von 7 Mio. Talern zur Deckung der Hof- und Zivilausgaben. Der reine Überschuss, der in den Staatsschatz floss, betrug demnach 1,1 Mio. Taler. Duncker und Mamroth übernahmen die Zahlen von Riedel offensichtlich nicht korrekt und weisen einen (unrealistisch hohen) Überschuss von 20 Mio. Talern aus. Dieterici und Hintze bezifferten wiederum das Einkommen auf 31 bis 31,5 Mio. Taler. Siehe Adolph Friedrich Riedel, Der Brandenburgisch-Preussische Staatshaushalt in den letzten beiden Jahrhunderten,
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die Forderung Darus umgehend reagiert und am 16. Juli den Generalmajor v. Knobelsdorff mit einem Handschreiben zu Napoleon geschickt, um eine Ermäßigung auf maximal 30 Mio. Francs oder zumindest möglichst lange Zahlungsfristen zu erreichen. Erst in Dresden holte Knobelsdorff den kaiserlichen Hof ein, ohne dass ihm aber eine Audienz gewährt wurde. Er folgte daraufhin dem Kaiser weiter bis nach Paris, das er Anfang August erreichte.13 Nach Artikel 6 der Königsberger Konvention waren die Details der Friedensvollziehung jedoch nicht in der französischen Hauptstadt, sondern zwischen beiderseits zu ernennenden Kommissionen auszuhandeln, die am 25. Juli in Berlin erstmals zusammentreten sollten. Seit dem 18. Jahrhundert war es durchaus üblich, auf diese Weise noch ungeklärte Details eines Friedensvertrags, wie etwa den exakten Verlauf neuer Grenzen, zu regeln. Meist handelte es sich dabei um ein reines Routinegeschäft, das nur in den seltensten Fällen Anlass zu größeren Kontroversen gab.14 Schon am 14. Juli wurde Goltz die Bildung einer entsprechenden Kommission bestehend aus dem in Verwaltungsdingen erfahrenen ehemaligen Gouverneur von Berlin Friedrich Wilhelm von der Schulenburg-Kehnert sowie dem Oberst von Lützow und dem Geheimen Oberfinanzrat Johann August Sack aufgetragen.15 Man erwartete, dass die Kommission vorwiegend militärische Streitfragen zu klären haben und ihr Auftrag daher zügig erledigt sein würde. In mehreren Konferenzen, die zwischen dem 18. und 20. Juli in Memel stattfanden, wurde neben dieser Kommission zudem die Etablierung mehrerer Grenzziehungskommissionen und einer Hauptübergabekommission beschlossen. Es war geplant, dass letztere in Berlin in enger Abstimmung mit der Schulenburgschen Kommission die Fragen, die im Zusammenhang mit der Abtretung der verlorenen Provinzen entständen, klären würde; besonders auf die Versorgung der ehemaligen preußischen Beamten und auf die Realisierung noch offener Geldforderungen des preußischen Staats sollte sie dabei Rücksicht nehmen. Für die Regelung der reinen Kontributionsangelegenheiten sollte wiederum Nagler zuständig sein. Von Königsberg aus sollte er Daru bis nach Berlin folgen und Berlin 1866, S. 234 f. Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, S. 107. Duncker, Eine Milliarde, S. 505. Mamroth, Geschichte, S. 23. Dieterici, Volkswohlstand, S. 58 f. Hintze, Hohenzollern, S. 425. Siehe auch Gustav Schmoller, Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S. 180 f. 13 Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 28 f. Hassel, Geschichte, S. 2 f. Lesage, Napoléon, S. 60 f. Schladen, Preußen, S. 273. Voß, Neunundsechzig Jahre, S. 313. Das Handschreiben vollständig in Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 484 f. Auch die Instruktion an Kobelsdorff für seine Mission in Paris, s. l., 31. 7. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 85 – 86v. 14 Siehe hierzu Duchhardt, Friedensprozess, S. 18. Ders., Peace Treaties, S. 49. 15 Siehe Kabinettsorder an Goltz, Memel, 14. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 14.
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mit ihm Übereinkünfte über die noch zu zahlenden Kontributionen der einzelnen Provinzen treffen. Doch wie schon erwähnt stand Nagler nicht der Sinn danach, diesem Auftrag nachzukommen und so erreichte er am 22. Juli auf einer weiteren Konferenz der militärischen und zivilen Spitzen in Memel eine Änderung der bisherigen Beschlüsse. Die beiden Berliner Kommissionen wurden jetzt zur Königlichen zur Vollziehung des mit Frankreich geschlossenen Friedens angeordnete Immediatkommission vereint; diese hatte nun für die gesamte Monarchie, nicht mehr für die einzelnen Provinzen, eine Einigung in Sachen der Kontributionen zu erzielen.16 Als Präsident dieser „Friedensvollziehungskommission“ war Schulenburg vorgesehen, der jedoch den Auftrag ablehnte.17 Nicht zuletzt Drohungen von Seiten Napoleons mögen Schulenburg zu dieser Entscheidung bewogen haben.18 Als Alternative brachte Stein zunächst Friedrich Wilhelm von Reden ins Gespräch,19 letztendlich erhielt jedoch Johann August Sack am 16. August den Auftrag, die Leitung der Kommission zu übernehmen.20 Für Sack sprach nicht nur, dass Stein ihn während der gemeinsamen Arbeit in Kleve als Verwaltungsexperten kennengelernt hatte; er kannte außerdem das diplomatische Geschäft, seit er 1797 mit dem französischen General Hoche über die Abtretung der linksrheinischen Gebiete der preußischen Krone verhandelt hatte.21 Die langwierige Beschlussfassung in Memel und die unerwartete Ablehnung Schulenburgs führten dazu, dass der in der Königsberger Konvention vorgesehene Termin für den Beginn der Friedensvollziehungsverhandlungen nicht eingehalten werden konnte. Daru selbst erreichte erst am 3. August Berlin. Wie schon in Königsberg wollte er auch in der preußischen Hauptstadt eine schnelle Einigung erreichen und beklagte daher umso mehr, dass bislang keine preußische Kommission 16
Siehe hierzu Haußherr, Erfüllung, S. 30 – 37. Auch Resumé der Konferenzen vom 18., 19., 20. Juli, Memel, 22. 7. 1807, Ausf. Protokoll der Konferenz vom 22. 7. 1807, Memel, 22. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 19 – 29. In Auszügen auch in Winter, Reorganisation, Nr. 168, S. 232 – 234. Auch Nagler an Altenstein, Memel, 23. 7. 1807. Ebd., Nr. 172, S. 237 f. 17 Siehe Pleinpouvoir für Schulenburg, Lützow, Sack, Memel, 16. 7. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 2. Schulenburg an Kalckreuth, s. l., 29. 7. 1807. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 34 – 35. 18 Napoleon instruierte am 4. August Clarke unter Verweis auf Schulenburg, dass niemand, der links der Elbe begütert sei, weiterhin seinen Dienst für den preußischen König nachgehen könne. Drei Tage später schrieb er erneut an Clarke und ließ ihn wissen, dass er glücklich sei, dass Schulenburg den Auftrag abgelehnt habe. Siehe Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12986, 13005, S. 472, 480. 19 Siehe Immediatbericht Stein, (Nassau, 9. oder 10. 8. 1807). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 371, S. 429. 20 Siehe Reskript an Sack, Memel, 8. 8. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 129 – 129v. 21 Siehe Granier, Franzosenzeit, S. VIf. Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preussens, Berlin/New York 1984, S. 270. Auf das Verhandlungsgeschäft mit Hoche verwies Sack auch im Immediatbericht, Berlin, 30. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 104.
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konstituiert wurde, die mit einer ausreichenden Vollmacht für die Verhandlungen ausgestattet war.22 Bis dies geschah, bemühte sich Sack, sich ein erstes Bild von den französischen Forderungen zu machen und die Verbindung zu den einzelnen Kriegsund Domänenkammern herzustellen, um Informationen über den Zustand der Provinzen und die bereits gezahlten Kontributionen zu gewinnen.23 Die Friedensvollziehungskommission trat schließlich erst am 16. August zum ersten Mal zusammen; neben Sack und Lützow gehörten ihr auch, als Finanzexperten, die Geheimen Oberfinanzräte Jean Baptiste Labaye und Winterfeldt sowie der Bankdirektor Hundt an. Die juristische Expertise war durch die Teilnahme des Geheimen Oberjustizrats und Legationsrats Carl Georg von Raumer24 und des Geheimen Oberjustizrats Johann Dietrich Focke gegeben. Je nach Bedarf war die Friedensvollziehungskommission befugt, weiteres Personal zu rekrutieren und ortskundige Beamte aus allen Landesteilen hinzuzuziehen. Organisiert war die Kommission als kollegialische Behörde, in der jedes Mitglied im Plenum stimmberechtigt war; bei Stimmengleichheit entschied der Präsident. Als Ort ihrer Tätigkeit wurde das Berliner Stadtschloss gewählt. Die Friedensvollziehungskommission unterstand dem Kabinettsministerium, so dass ihre Berichte „immediat“ nach Memel gingen. Laut Instruktion umfasste die rein diplomatische Seite ihres Auftrags die „Liquidation, Ausmittelung und Regulirung der Contributionen, Requisitionen, Beschädigungen nach dem Frieden“. Zudem waren neben den Details der Räumung auch die Rückkehr der Kriegsgefangenen, der Verlauf einer sächsischen Militärstraße durch Schlesien, die Grenzregulierung sowie die Übergabe der abgetretenen Provinzen und die damit zusammenhängenden Fragen zu klären. Zur Unterstützung waren der Kommission „interimistische Gouverneurs und Generalcommissarien“ in den Provinzen untergeordnet. Während die Militärgouverneure für die militärisch relevanten Fragen der Räumung zuständig waren, hatten die „Generalzivilkommissare“, wie sie genannt wurden, unter anderem die Bereitstellung der Requisitionen für die französische Armee und die Aufbringung der Kontributionen an Ort und Stelle zu koordinieren.25 22 Siehe Immediatbericht Lützow/Sack, Berlin, 4. 8. 1807, Ausf. Daru an Goltz, Berlin, 14. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 325, Bl. 8 – 9v, 123. Daru ging fälschlicherweise von der Existenz dreier Kommissionen aus. Lesage übernahm diesen Fehler. Siehe Lesage, Napoléon, S. 16 f., 22, 27. 23 Siehe Immediatbericht Sack, Berlin, 30. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 100 – 104v. 24 Zur Doppelstellung Raumers siehe Rolf Straubel, Biographisches Handbuch der preussischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740 – 1806/15 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 85), 2 Bde., München 2009, hier Bd. 2, S. 774. 25 Siehe Pleinpouvoir für die Friedensvollziehungskommission, Memel, 31. 7. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 4. „Instruktion für die zur Vollziehung des mit Frankreich geschlossenen Friedens angeordnete Generalkommission zu Berlin“, Memel, 31. 7. 1807, Ausf. Ebd., Bl. 59 – 73, die Zitate Bl. 61v., 63 (Unterstreichungen im Original). In Auszügen auch in Winter, Reorganisation, Nr. 185, S. 245 – 249. Auch Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 17. 8. 1807, Ausf. Hier angefügt das „Constitutions-Protocoll“. GStA PK,
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Sie waren der verlängerte Arm und wichtige Informationsquelle der Friedensvollziehungskommission wie auch der Zentralregierung.26 Zu Generalzivilkommissaren wurden ernannt: August Heinrich Borgstede für Pommern und die Neumark, Ewald Georg von Massow für Schlesien, der Minister Otto Carl von Voß für die Kurmark und die bei Preußen verbliebenen Teile der Altmark und Magdeburgs sowie der Provinzialminister Schroetter für Litauen, West- und Ostpreußen. Letzterer deligierte das Kommissariat für Westpreußen an den Präsidenten der Kammer von Marienwerder und späteren Innenminister Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu Dohna-Schlobitten. Für Voß übernahm – offiziell aus gesundheitlichen Gründen – der Kammerpräsident der Kurmark Carl Friedrich Leopold v. Gerlach.27 Schon vor Beginn der Verhandlungen in Berlin war die französische Seite mit ersten Forderungen an die preußische Regierung herangetreten. Berthier hatte Kalckreuth am 25. Juli die Bedingungen für den Rückzug der französischen Armee bis zur Oder präsentiert.28 So wurden die noch fälligen Kontributionen der östlich der Oder gelegenen Teile der Neumark und Pommerns verlangt. Außerdem stand dem sächsischen König nach Artikel 16 des Tilsiter Friedens die Einrichtung einer „route militaire“ zu, um Sachsen mit dem Herzogtum Warschau zu verbinden. Berthier forderte nun, deren Ausweitung zu einer Handelsstraße, die offen für den Verkehr mit landwirtschaftlichen und Manufakturgütern sein müsse, und dass die Streckenführung über die größeren Städte Schlesiens verlaufen solle. Zu allem Überfluss dürfe, so Berthier, der Transitzoll nicht über den in Sachsen üblichen Tarif liegen. Schließlich waren vor dem Abzug noch die Archivalien, die die abgetretenen Gebiete betrafen, an das Herzogtum Warschau auszuhändigen – obwohl der Tilsiter Frieden hierzu eigentlich eine Frist von drei Monaten vorsah – und „fonds, capitaux et valeurs“ an Privatpersonen oder öffentliche Institutionen zu restituieren, die in den abgetretenen Gebieten beheimatet waren. Für die Räumung des restlichen okkupierten Gebiets zwischen Elbe und Oder galten ganz ähnliche Bedingungen; auch die III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 165 – 170, 173 – 174v. Winterfeldt befand sich noch auf einer Reise und trat erst später der Kommission bei. Als „Hülfsarbeiter“ kamen hinzu Kriegs- und Domänenrat v. Balthasar, Kriegs- und Domänenrat Nagel sowie Kriegsrat Jordan. Ebd., Bl. 173. Zur Etablierung der Kommission siehe auch Haußherr, Erfüllung, S. 77 – 79. 26 Die Generalzivilkommissare waren dazu aufgefordert, regelmäßig nach Memel beziehungsweise Königsberg über die Standorte und Truppenstärke der französischen Armee und den Zustand der Provinzen zu berichten. Siehe Reskript an die Generalzivilkommissare, Memel, 12. 10. 1807, Konzept, abgeg. 12.10. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 88 – 89. Siehe exemplarisch die Immediatberichte Dohnas in ebd., Nr. 345. 27 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 443 f. Immediatbericht Voß, Dom Havelberg, 14. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 208, S. 264 f. Kabinettsorder an Gerlach, Memel, 26. 8. 1807. Ebd., Nr. 226, S. 273 f. Kabinettsorder (an Dohna), Memel, 17. 8. 1807, Konzept, abgeg. 17.8. GStA PK, I. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 139. 28 Siehe Berthier an Kalckreuth, Berlin, 25. 7. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 326, Bl. 5 – 6v. Hierzu auch Haußherr, Erfüllung, S. 41 f. Zu Gerlachs Wirken als Generalzivilkommissar siehe Jürgen von Gerlach, Leopold von Gerlach 1757 – 1813. Leben und Gestalt des ersten Oberbürgermeisters von Berlin und vormaligen kurmärkischen Kammerpräsidenten, Berlin 1987, S. 66 – 78.
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hier gelegenen Landesteile hatten die auf ihnen lastenden Kontributionen zu bedienen, Akten zu übergeben und Kapitalforderungen zu begleichen. Zusätzlich forderte Berthier aber die Abtretung Neuschlesiens an das Herzogtum Warschau, obschon dieses Gebiet in Artikel 2 des Friedensvertrags ausdrücklich Preußen zugesprochen worden war.29 Daru präzisierte und erweiterte diesen Forderungskatalog Berthiers. Gegenüber Sack bezifferte er die Gesamtsumme der rückständigen Kontributionen, wie schon in Königsberg, vorläufig auf rund 100 Mio. Francs. Entsprechend einer Vorgabe Napoleons unterschied er zwischen „contributions ordinaires et extraordinaires“30. Dabei wurden als „außerordentliche“ Kontributionen jene Forderungen bezeichnet, die während des Feldzuges den Provinzen auferlegt worden waren – also die Kontributionen im eigentlichen Sinne. In den besetzten Gebieten zog die französische Armee aber auch fortwährend die Staatseinnahmen ein. Um den Betrag der gesamten Kontributionssumme in die Höhe zu treiben, forderte Napoleon die Differenz aus den etatmäßig, zu Friedenszeiten fälligen Revenuen und der während der Okkupation von Frankreich tatsächlich eingenommenen, und in der Regel deutlich geringeren, Gelder.31 Diese „ordentlichen“ Kontributionen waren eine Erfindung Napoleons und ohne Vorbild in der vorrevolutionären Friedenspraxis. Daru erklärte nun den preußischen Unterhändlern, bis zur vollständigen Abtragung dieser gesamten Kontributionsforderung würde nicht nur die Armee im Land verbleiben, sondern er „müsste (…) die völlige Regierung und Administration des Landes behalten“. Eine Einflussnahme der preußischen Zentralregierung auf die Verwaltung in den besetzten Teilen des Landes wurde also nicht geduldet; selbst die Kommunikation mit den Beamten in den besetzten Gebieten untersagte Daru strikt. In den Augen der Friedensvollziehungskommission mache er demnach deutlich, dass er „überhaupt den Frieden in keiner Art in Kraft treten lassen wolle[]“.32 Wie in Bezug auf die Kontributionssumme blieb Daru auch vage, was den Gesamtwert der Kapitalien Warschauer Herkunft anbetraf. Der Hinweis jedoch, dass allein die während des Kriegs von der preußischen Regierung aus dem Bromberger Kreis fortgebrachten Kassen 352 813 Taler beinhaltet haben sollen und die Einlagen öffentlicher Einrichtungen bei Bank und Seehandlung aus diesem Kreis einen Wert von 43 185 Taler erreichen würden, ließ bedeutende Summen erwarten.
29 „La Haute, la Basse et la Nouvelle Silésie, avec le Comté de Glatz“, hieß es dort. Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 49, S. 292. 30 Napoleon an Clarke, Dresden, 18. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12922, S. 428. 31 Siehe hierzu Lesage, Napoléon, S. 4 f. 32 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 30. 7. 1807. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 100 – 104v. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 4. 8. 1807. Ebd., Bl. 123 – 126, hier das erste Zitat Bl. 124. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 12. 8. 1807. Ebd., Bl. 149 – 152v, hier das letzte Zitat Bl. 150v.
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Parallel zu Daru in Berlin verhandelte Soult nach der Räumung von Königsberg in Elbing über die Modalitäten eines französischen Abzugs bis zur Oder und damit auch über den exakten Grenzverlauf im Osten. Daru hatte bereits gegenüber Sack eine Einigung über die Grenzziehung zu Danzig zur Bedingung der Räumung gemacht.33 Im Tilsiter Frieden war ein Radius von „deux lieux“ um die Stadtmauer („enceite“) als die neue Danziger Grenze bestimmt worden. Ohne das Eintreffen der preußischen Kommissare abzuwarten, traf Soult nun ein Abkommen mit dem Danziger Magistrat und bemaß die Entfernung zwischen Stadt und Außengrenze statt mit den festgeschriebenen zwei französischen „lieux“ mit zwei deutschen, erheblich längeren, Meilen, wogegen Goltz unverzüglich und vehement protestierte.34 Die schrittweise Erhöhung der Bedingungen war keine Eigenmächtigkeit von Soult oder Daru, sondern geschah auf ausdrücklichen Befehl Napoleons hin. Kontinuierlich stiegen auch die Kontributionsforderungen, die der französische Kaiser gegenüber Preußen erhob. Am Tag nach der Unterzeichnung der Königsberger Konvention hatte er den ausstehenden Betrag an außerordentlichen Kontributionen noch auf 63 Mio. Francs beziffert;35 schon kurz darauf befahl er Daru, insgesamt 80 und am 29. Juli schließlich 150 Mio. Francs einzutreiben.36 Eine nähere Begründung für diese Zahl lieferte Napoleon indes nicht. Es blieb Daru überlassen, am 25. August den preußischen Unterhändlern eine Aufstellung der Forderungen vorzulegen und zu versuchen, den entsprechenden Nachweis zu führen. Die außerordentlichen Kontributionen betrugen laut Daru 130,5 Mio., die ordentlichen Kontributionen 61,5 Mio. Francs; hinzukämen, rechnete Daru vor, rückständige Lieferungen im Wert von 5,5 Mio. Francs und weitere 1,5 Mio. Francs verschiedenster Forderungen („creances“). Vom Gesamtbetrag zog er schließlich 44 Mio. Francs für schon geleistete Zahlungen ab. Die französische Restforderung zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Königsberger Konvention betrug demnach 154 505 479 Francs. Über die nach dem 12. Juli gemachten Zahlungen könne man sich aber noch verständigen, versicherte Daru.37
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Siehe Daru an Goltz, Berlin, 14. 8. 1807. Ebd., Nr. 325, Bl. 10 – 12. Siehe hierzu den Briefwechsel zwischen Soult, Goltz und Kalckreuth in Betreff auf die Räumungsfragen. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 316 und ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 323, Bl. 1 – 67. Die entsprechenden Instruktionen an Soult ergingen am 29. 7. 1807 und 7. 8. 1807 von SaintCloud aus. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12953, 13006, S. 451 – 453, 481. Siehe hierzu auch Haußherr, Erfüllung, S. 43. Hassel, Geschichte, S. 81. 35 Siehe Napoleon an Clarke, Königsberg, 13. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12909, S. 423. 36 Siehe Napoleon an Clarke, Dresden, 18. 7. 1807. Ebd., Nr. 12922, S. 428 f. Napoleon an Daru, Saint-Cloud, 29. 7. 1807. Ebd., Nr. 12954, S. 453 f. 37 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 29. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 358, Bl. 1 – 5v. Im Anhang zu diesem Bericht findet sich in Abschrift auch eine „Sommes dues au 12. Juillet 1807“ bezeichnete Aufstellung Darus, die auf den 25. 8. 1807 datiert. Ebd. Bl. 6 – 8v. Siehe hierzu Haußherr, Erfüllung, S. 81 f. Lesage, Napoléon, S. 28 f. 34
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Da die preußischen Unterhändler keine Anstalten machten, auf die französischen Ansprüche einzugehen, erhöhte Napoleon Ende September 1807 den Druck. Auf seinen Befehl stellte Daru der Friedensvollziehungskommission ein scharf gefasstes Ultimatum: Entweder man würde eine Vereinbarung über die Kontributionen bis zum 1. Oktober abschließen, hieß es darin, oder Artikel 5 der Königsberger Konvention, wonach die Staatseinnahmen wieder in die königlichen Kassen und auf Rechnung des Königs eingezogen werden sollten, werde außer Kraft gesetzt; zudem sollten die seit dem 12. Juli geleisteten Zahlungen nicht mehr auf die Kontributionsschuld angerechnet werden. Die Proteste der Friedensvollziehungskommission verhallten ohne Wirkung.38 Bis zu diesem Zeitpunkt zielte die preußische Verhandlungsstrategie darauf ab, unter Verweis auf die Gewohnheiten des Völkerrechts und dem Wortlaut der Verträge die französischen Forderungen zu bestreiten. Insbesondere wurde die Rechtmäßigkeit der Erhebung der sogenannten „contributions ordinaires“ angezweifelt. Zur Bekräftigung ihrer Argumente erteilte die Friedensvollziehungskommission der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften den Auftrag, den Sinngehalt des Begriffs „contribution“ zu überprüfen, um festzustellen, ob darunter überhaupt laufende Staatseinnahmen begriffen werden könnten. Ein sechsköpfiger Ausschuss unter Leitung des Grafen von Castillon kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass im französischem Sprachgebrauch mit „contribution“ stets eine außerordentliche Abgabe oder Sondersteuer bezeichnet werde, ein Anspruch auf die regelmäßigen Einnahmen ließe sich von daher nicht ohne Weiteres mit dem Verweis auf schuldige Kontributionen begründen.39 Die Friedensvollziehungskommission argumentierte darüber hinaus, dass schon der Wortlaut der Königsberger Konvention nicht eindeutig sei. In Artikel 5 heiße es schließlich, die Revenuen fließen dann wieder in die Kassen des Königs, wenn die seit dem 1. November und bis zur Auswechselung der Ratifikationsurkunde schuldigen Kontributionen abgetragen seien. Deutlich wurde also zwischen „revenues“ und „contributions“ unterschieden; eine „contribution ordinaire“ wurde dagegen überhaupt nicht erwähnt. Und wenn Napoleon die Staatseinnahmen entsprechend des Friedensetats fordere, so dürfe nicht vom Bruttoetat ausgegangen werden, sondern die Summe sei um die laufenden Verwaltungskosten zu bereinigen. Nach dem Urteil der Friedensvollziehungskommission und der Regierung in Memel habe Frankreich aber auch ganz unabhängig von den Verträgen, rein nach der völkerrechtlichen Praxis, keinen weiteren Anspruch auf die Landeseinkünfte. Nur während des Krieges verfüge die Besatzungsmacht über das Recht zur Einziehung dieser Gelder; dieses Recht erlösche aber mit Eintritt des Friedenszustands ganz von selbst. Ansonsten würde der Kriegs- auf den Friedenszustand ausgedehnt, so das 38
Siehe Friedensvollziehungskommission an Daru, Berlin, 23. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 365, Bl. 112 – 114v. 39 Siehe „Etymologie einiger französischer Wörter“, s. l., (August bis September 1807). GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 294. Siehe hierzu auch Lesage, Napoléon, S. 40 – 42.
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preußische Argument. Die Ansprüche Darus würden mithin jeder rechtlichen Grundlage entbehren.40 Mit einer ähnlichen Begründung forderte man auch die Kontrolle über die zivile Verwaltung zurück, „denn durch den Frieden wird die durch den Feind nicht aufgehobene sondern suspendirte CivilGewalt des Landesherrn restituirt.“ Dieser Grundsatz gelte nur dann nicht, wenn im Friedensvertrag ausdrücklich etwas anderes festgelegt worden sei.41 Indem sie immer wieder auf den Friedenszustand verwies, mit dem das französische Vorgehen nicht zu vereinbaren sei, versuchte die Friedensvollziehungskommission, Daru zur Übergabe der Zivilverwaltung zu bewegen;42 dieser argumentierte jedoch genau entgegengesetzt: Eben weil im Tilsiter Frieden und der Königsberger Konvention diese Frage nicht ausdrücklich geregelt sei, stehe es Frankreich zu, nach eigenem Gutdünken zu verfahren.43 Nach seiner Auffassung sei der Frieden ohnehin nur bedingungsweise geschlossen worden.44 Naturgemäß hielt die preußische Seite auch die von Daru geforderten außerordentlichen Kontributionen für viel zu hoch. In Memel hatte man sich frühzeitig zu einer abwartenden Haltung entschlossen. Vorerst wurde angeordnet, dass die Friedensvollziehungskommission eine Einigung zu vermeiden hatte und die Provinzen sich mit ihren Zahlungen nicht allzu sehr beeilen sollten; den Eindruck der Zahlungsfähigkeit wollte man auf jeden Fall vermeiden.45 Zudem sollte zunächst Zeit für die direkten Verhandlungen gewonnen werden, die Knobelsdorff in Paris führte und von denen man sich am ehesten eine Verminderung der Kontributionsforderung versprach. Schließlich hoffte man auch auf eine diplomatische Intervention des Zaren.46 Mut machte das österreichische Beispiel, denn der Habsburger Monarchie war es 1805 gelungen, eine Herabsetzung der im Schönbrunner Frieden festgelegten Kontribution von 100 Mio. auf 40 Mio. Francs zu erreichen.47
40 Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 15. 8. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 144 – 145v. „Zur Instruktion für die Friedensvollziehungskommission“, Memel, 15. 8. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 127 – 130v. 41 Siehe Instruktion für die Friedensvollziehungskommission, Memel, 31. 7. 1807, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 64v–65, hier das Zitat Bl. 65. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 25. 8. 1807. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 189v. 42 Siehe exemplarisch Friedensvollziehungskommission an Daru, Berlin, 18. 8. 1807, Konzept, exped. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 36, Bl. 7 – 8. 43 Daru an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 21. 8. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 36, Bl. 10 – 12. 44 Die Friedensvollziehungskommission berichtete hierüber an Borgstede, Berlin, 19. 10. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 19, S. 39. 45 Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 29, 45. 46 Hierzu riet auch die Friedensvollziehungskommission in ihrem Immediatbericht, Berlin, 25. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 190 – 190v. Siehe auch Goltz an Soult, Memel, 29. 8. 1807. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 316. 47 Hierauf verwies Goltz ausdrücklich in einem Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 28. 8. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 276, Bl. 4.
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In Folge des Ultimatums wurde diese Hinhaltetaktik allerdings schnell obsolet. Eine Entscheidung musste offenbar bald fallen; umso offensichtlicher wurden die Probleme, die sich aus der weiten Entfernung zwischen Paris, Berlin und Memel ergaben, denn die langen Kommunikationswege zwischen dem Entscheidungszentrum und den beiden Verhandlungsorten erschwerten eine rasche Beschlussfassung erheblich. In Berlin versuchte die Friedensvollziehungskommission derweil weiterhin, Daru zu einem Entgegenkommen zu bewegen. Die Kommissionsmitglieder hatten schon vor dem Ultimatum damit begonnen, anhand der Informationen, die sie von den Kammern erhielten, eine Übersicht über die bereits geleisteten Zahlungen zusammenzustellen. So konnte die Kommission am 13. September Daru ihre Gegenrechnung vorlegen. Detailliert wurden die geforderten Kontributionen – und zwar nur die außerordentlichen – aufgeführt, die jeder Provinz auferlegt worden waren; davon zog die Kommission die bereits geleisteten Zahlungen ab. Außerdem verwies man darauf, dass seinerzeit die Steuerkraft der Provinzen den Maßstab für die Höhe der jeweiligen Kontributionen gebildet habe – so wie es auch der Praxis im Ancien Régime entsprach; durch den Krieg und in Folge der Länderabtretungen hatte sich das finanzielle Potenzial der einzelnen Landesteile aber stark verringert.48 Unter Einbeziehung dieser Faktoren errechnete die Friedensvollziehungskommission schließlich eine offene Schuld von nur 19 Mio. Francs. Um schneller zu einer Einigung zu gelangen, bot Sack eine Pauschalzahlung von 30 Mio. Francs an.49 Die Diskrepanz zu Darus Berechnung war dennoch erheblich. Zwar stellte Daru in Aussicht, dass später die seit dem 12. Juli geleisteten Lieferungen und eingegangenen Staatseinkünfte abgezogen werden könnten, aber diese Abzüge wollte er nicht zum Gegenstand der Übereinkunft machen; das Angebot der Friedensvollziehungskommission war insgesamt für ihn nicht akzeptabel. Napoleon hatte schließlich von ihm verlangt, die volle Summe durchzusetzen. Der Hinweis der Kommission, dass der Kaiser während des Kriegs per Dekret versichert habe, die von der Kurmark gelieferten Requisitionen würden auf die Kontributionssumme angerechnet werden, musste daher ebenso ohne Erfolg bleiben, wie jeder andere Versuch, die Summe herabzusetzen.50 So ging seit längerem in der preußischen Führung der Plan um, das im nunmehrigen Herzogtum Warschau angelegte Kapital der Bank, der Seehandlung, der Witwenkasse und verschiedener anderer unter staatlicher Verwaltung stehender Religions-, Zivil- und Militärinstitute als Ersatz für einen Teil der
48 Die französischen Forderungen waren ohnehin viel zu hoch gegriffen. Angern wies in einem Schreiben an Daru nach, dass die Ende 1806 geforderten 100 Mio. Francs das Grundsteueraufkommen Preußens um das 15-fache überstiegen. Siehe Angern an Daru, Berlin, 5. 11. 1806, Konzept, mund. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 2, Bl. 7. 49 Siehe Friedensvollziehungskommission an Daru, Berlin, 13. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 358, Bl. 104 – 126. Eine genaue Auflistung geordnet nach Kammerbezirken: Bl. 127 – 223. Siehe hierzu Haußherr, Erfüllung, S. 83 f. 50 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 17. 9. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 358, Bl. 92 – 96.
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französischen Forderungen anzubieten.51 Die Kommission bezifferte den Gesamtwert dieser Anlagen auf rund 16 Mio. Francs – und damit sicherlich zu hoch. Zwar waren diese Gelder kein Eigentum des Königs und hätten nach Artikel 25 des Friedensvertrags im Falle eines Ausgleichs der finanziellen Forderungen, welche seitens der abgetretenen Provinzen und seitens Preußens erhoben wurden, an die Gläubiger zurückerstattet werden müssen; nach Sacks Dafürhalten hätten diese aber „lieber Eur. Kgl. Majestät als jene südpreußischen Gutsbesitzer zum Schuldner“.52 Daru reagierte sogleich mit einer Gegenforderung. Es standen schließlich noch jene Forderungen Warschauer Gläubiger im Raum, deren Begleichung bereits Berthier zur Bedingung des Abzugs gemacht hatte. Auf 98 Mio. Francs veranschlagte nun Daru diese noch offenen Schulden.53 Jedes Mal, wenn die Friedensvollziehungskommission im weiteren Verlauf der Verhandlungen auf die „südpreußischen Hypotheken“ zu sprechen kam, steigerte Daru diesen Betrag. Er konnte sich dabei auch auf das Herzogtum Warschau berufen, das die unterschiedlichsten Ansprüche reklamierte; selbst die seit der Annexion der polnischen Provinzen von Preußen erhobenen Steuern sollten zurückgezahlt werden. Ende des Jahres war die Gesamtforderung auf ganze 126 Mio. Francs gestiegen.54 Diese Summe war zwar in erster Linie ein willkommenes Druckmittel, aber auf einen gewissen, wenn auch deutlich geringeren Betrag hatte das Herzogtum durchaus einen begründeten Anspruch. Gerade in den östlichen Provinzen wurden die öffentlichen Kassen und die dort verwahrten Depositen von Privatpersonen und Korporationen sowie weitere Kapitalien vor dem Eintreffen der Franzosen fortgeschafft.55 In Paris wusste man aber allzu genau, dass die Zahlen Darus übertrieben waren und auch die preußische Seite bedeutende Ansprüche anmelden konnte. Nach einer Schätzung des französischen Finanzministers Gaudin beliefen sich allein die in den polnischen Provinzen vergebenen Kredite der Bank auf 22,7 Mio., die der Seehandlung und anderer öffentlicher Institute auf weitere 15,8 Mio. Francs.56 Napoleon hatte nach möglichst genauen Zahlen verlangt, da er von vornherein plante, frei über diese Fonds zu disponieren. Noch während des Feldzuges, im Winter 1806, hatte er Barbegnère mit dem Auftrag nach Polen geschickt, nach Hypothekenbüchern suchen zu lassen, um Kenntnis vom Umfang der preußischen Anlagen zu
51 Siehe hierzu Lehmann, Stein, S. 170 f, der jedoch mit seinen Zahlenangaben sicherlich zu niedrig griff; und Ritter, Stein, S. 323. 52 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 9. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 144 – 147v, hier das Zitat Bl. 146v. 53 Daru an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 5. 10. 1807, Abschrift. Ebd., Nr. 359, Bl. 133 – 134v. Siehe hierzu Haußherr, Erfüllung, S. 116. 54 Siehe Hassel, Geschichte, S. 113 – 116. 55 Siehe ebd., S. 3 f. 56 Siehe Napoleon an Daru („Annexe Rapport de Gaudin“), Paris, 15. 1. 1808. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 8, Nr. 17018, S. 60 f.
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erhalten.57 In einer Konvention, die er am 22. Juli 1807 mit dem König von Sachsen geschlossen hatte,58 ließ sich Napoleon die Verfügungsgewalt über sämtliche Forderungen, die der preußische König gegenüber dem Herzogtum Warschau erheben konnte, zusichern. Dies wäre noch im Einklang mit den Regularien des Tilsiter Friedens zu bringen gewesen, der allein das Privateigentum vor dem Zugriff durch den neuen Landesherrn schützte. Napoleon reklamierte aber auch die Kapitalforderungen der Bank und der Seehandlung für sich, die zwar staatliche Institutionen waren, aber auch privates Kapital verwalteten. Gemäß Napoleons Wünschen und entsprechend der eigenen Interessen enteignete die Warschauer Regierung in der Folge konsequent die preußischen Gläubiger. Im Januar 1808 stellte sie zunächst sämtliche Hypotheken preußischer Besitzer unter Sequester.59 Jeder Einwohner wurde darüber hinaus ermahnt, an keinen preußischen Bürger und an keine preußische Institution weiter Zinsen zu zahlen oder gar Kredite zu tilgen. Diese Maßnahme hatte mitunter bedeutende Konsequenzen für die Fürsorgeeinrichtungen in Preußen. So war beispielsweise die Offiziers- und Witwenkasse wegen der fehlenden Zinseinnahmen nicht mehr in der Lage, die monatlichen Pensionen und Hilfszahlungen auszuzahlen.60 Um noch weiter Druck auf Preußen auszuüben, wurde am Ende auch ausdrücklich das Privateigentum preußischer Bürger im Herzogtum mit Beschlag belegt.61 Schließlich trat Napoleon in einer weiteren Konvention, die am 10. Mai 1808 in Bayonne geschlossen wurde,62 sämtliche preußischen Geldforderungen gegen die Zahlung von 20 Mio. Francs an den sächsischen König ab. Erst im September 1810 gelang es dem preußischen Ministerium, wenigstens die Freigabe des privaten Eigentums im Wert von 7,3 Mio. Talern zu erwirken; später wurden auch Kapitalien 57
So berichtete die Friedensvollziehungskommission in ihrem Zeitungsbericht, Berlin, 20. 3. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 65, S. 172. 58 Convention entre la France et la Saxe, Dresden, 22. 7. 1807. Clercq, Recueil, Bd. 2, S. 226 (Art. 4). 59 Siehe Hassel, Geschichte, S. 130 f. 60 Siehe Generaldirektorium der Königlichen Allgemeinen und Offiziers-Witwen-Kasse an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 29. 8. 1807. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 64. Über die Folgen der Beschlagnahmungen beklagte sich auch Wilhelm von Humboldt in einem Schreiben an seine Frau, Berlin, 11. 2. 1809. Sydow, Wilhelm und Caroline, Bd. 3, S. 90. Durch den Verlust der Altmark gingen preußischen Einrichtungen zunächst auch dort Gelder verloren. So wurden die im Königreich Westphalen gelegenen Güter des Joachimtalschen Gymnasiums und der Universität Frankfurt a. O. beschlagnahmt, im Oktober 1807 aber wieder freigegeben. Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 1. 11. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 339. 61 Siehe Sack an Stein, Berlin, 21. 2. 1809. Wilhelm Steffens (Hrsg.), Briefwechsel Sacks mit Stein und Gneisenau (1807/17) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, 5), Stettin 1931, Nr. 10, S. 26. Zahlreiche Fälle von Beschlagnahmungen und Anträge auf Entschädigungen in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 382. 62 Siehe Convention entre la France et le Roi de Saxe, Duc de Varsovie, pour la liquidation et le payement de créances mutuelles. Clercq, Recueil, Bd. 2, S. 251 (Art. 4). Die Summe der Geldforderung, inklusive Zinsen, wurde hier auf 47 466 220 Francs beziffert.
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kleinerer Institute, wie die der Witwenkasse, freigegeben.63 Allein die effektiven Verluste des preußischen Staats im Herzogtum Warschau bezifferte Duncker trotz allem auf 17 Mio. Taler oder 63,8 Mio. Francs.64 Da die Bemühungen der Friedensvollziehungskommission um einen Kompromiss mit Daru erfolglos verliefen, entschieden sich die Kommissionsmitglieder für die Annahme der geforderten Summe, wenn auch unter dem Vorbehalt einer späteren Zustimmung des Königs. In dem Schreiben vom 25. September, in dem Daru dies mitgeteilt wurde, setzte man jedoch von vornherein den Betrag geringer an als gefordert und zog noch einmal 50 Mio. Francs für bereits geleistete Zahlungen und Lieferungen ab. Obendrein reichte man sogleich Vorschläge ein, wie die Restsumme beglichen werden könne.65 Der Generalintendant wies das preußische Anerbieten allerdings rundweg ab. Er forderte erneut die bedingungslose und vorbehaltlose Anerkennung der 154,5 Mio. Francs-Forderung. Die Folge war, dass die Friedensvollziehungskommission eine Einigung für aussichtslos erklärte und zum 1. Oktober die von Daru angedrohten Sanktionsmaßnahmen tatsächlich in Kraft traten.66 Die unmittelbaren Folgen blieben vorerst überschaubar.67 Als der französische Auditeur Houdetot den Mitgliedern des Generalakzise- und Zolldepartements mitteilte, dass die Revenuen fortan wieder auf französische Rechnung erhoben würden, bemerkten diese nur, dass sich daraus keine Veränderungen ergäben, da schon zuvor die Überschüsse an die französischen Kassen abzuliefern waren.68 In der Neumark hatte man ohnehin nie einen Unterschied zwischen Kriegs- und Friedenszustand gemacht. Der dort zuständige französische Intendant Sabatier hatte der Kammer schon kurz nach dem Friedensschluss ausdrücklich erklärt, dass die Einnahmen solange nicht für den König erhoben würden, bis sämtliche ordentlichen Kontributionen beglichen seien.69 Eine ganz entscheidende Konsequenz, die sich tatsächlich aus den französischen Maßnahmen ergab, war, dass die Staatseinnahmen definitiv nicht auf die Kontributionssumme angerechnet werden sollten. Als die Nachricht vom Inkrafttreten des Ultimatums Memel erreichte, entschied sich Stein Anfang Oktober für einen Kurswechsel. Seine diplomatischen Bemühungen gründeten nun auf eine taktische und zumindest partielle Erfüllungsbereit63
Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 572 – 577. Siehe Duncker, Eine Milliarde, S. 526 f. Bassewitz bezifferte den Verlust auf 15 Mio. Taler. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 576. 65 Siehe Friedensvollziehungskommission an Daru, Berlin, 25. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 365, Bl. 115 – 119. 66 Siehe hierzu Haußherr, Erfüllung, S. 86 – 93. 67 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 4. 10. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 98 – 100v. Siehe hierzu auch Haußherr, Erfüllung, S. 114. 68 Siehe Protokoll der Konferenz des Generalakzise- und Zolldepartements mit Houdelot, Berlin, 5. 10. 1807. GStA PK, II. HA, Abt. 24, A Tit. 28, Sect. 1, Nr. 47, Bl. 115 – 116v. 69 Siehe Sabatier an die Neumärkische Kammer, Küstrin, 17. 7. 1807, Ausf. BLHA, Rep. 3, Nr. 18270. 64
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schaft gegenüber Frankreich. Die Schwebe, in der sich Preußen aufgrund der offenen Fragen in Bezug auf die Räumung befand, wollte er beenden und endlich zu einem vertraglich gesicherten Zustand gelangen; damit hätte der preußische Staat zumindest einen Teil seiner Handlungsfreiheit zurückerlangt. Ganz ähnlich wie es die Friedensvollziehungskommission geplant hatte, beabsichtigte auch er, in einem umfassenden Abkommen alle relevanten Punkte der Friedensvollziehung zu regeln. Die von Daru geforderte Kontributionssumme wollte er zwar annehmen, gleichzeitig aber vorteilhafte Zahlungsmodalitäten erreichen.70 Diese würden schließlich darüber entscheiden, ob die Forderung überhaupt abgetragen werden konnte. Stein war sogar bereit dazu, in die Abtretung Neuschlesiens einzuwilligen. Überhaupt beabsichtigte er hinsichtlich der Grenzziehung zu Danzig und dem Herzogtum Warschau nachzugeben, wenn im Gegenzug die französischen Truppen definitiv das Land verlassen würden.71 Obwohl die preußischen Unterhändler mittlerweile ernannt wurden, waren die Verhandlungen in Elbing keinen Schritt vorangekommen. Soult hatte zwischenzeitlich seine Forderung noch weiter erhöht. Für das Herzogtum Warschau reklamierte er neben Neuschlesien jetzt auch den östlich des Kulmer Landes gelegenen Michelauer Kreis und das von Napoleon geschaffene „Departement“ von Bromberg, das einen größeren Umfang als der preußische Bromberger Kreis hatte.72 Auch diese Gebietsansprüche waren durch den Wortlaut des Friedensvertrags nicht gedeckt, wo in Artikel 13 eindeutig vom „cercle de Bromberg“ die Rede war und der Michelauer Kreis nicht erwähnt wurde. Generalmajor v. Yorck und der Regierungspräsident Danckelmann, die beiden preußischen Bevollmächtigten für die Grenzziehungsangelegenheiten, blieb keine andere Option, als der vollständigen Abtretung aller geforderten Gebiete zuzustimmen. Am 10. November unterzeichneten sie „[s]ous la médiation de Son Excellence Monsieur le Maréchal-Empire Soult“, wie es hieß, mit den Warschauer Vertretern Jablonowski und Twarowski eine von drei Elbinger Konventionen.73 Die Grenze verlief danach wie folgt: Von der Memel entlang der „altpreußischen“ Grenze und nördlich des Kulmer und des Michelauer Kreises, die vom Kammerbezirk Marienwerder abge70
Siehe Stein an Hardenberg, Memel, 14. 10. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 405, S. 464 f. Haußherr, Erfüllung, S. 108 f. Schon auf der Durchreise nach Memel hatte Stein Daru in Berlin getroffen und ihm mitgeteilt, die Verhandlungen über die Schuldsumme beenden zu wollen, insofern Preußen günstige Zahlungsmodalitäten eingeräumt würden. Siehe Ritter, Stein, S. 310 f. 71 Siehe hierzu unter anderem die Kabinettsorder an die preußischen Unterhändler Yorck und Dönhoff, Memel, 21. 10. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 323, Bl. 83 – 83v. Auch der Grenzverlauf zu Magdeburg blieb umstritten. Siehe hierzu Hermann Granier, Die preußische Grenzregulierung bei Magdeburg gegen das Königreich Westfalen in den Jahren 1807 bis 1809. Nach Berliner und Pariser Akten, in: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 47 (1912), S. 210 – 223, hier passim. 72 Zu den Verhandlungen siehe den Schriftwechsel zwischen Soult und Goltz im August und September 1807 in GStA PK, I. HA, Rep. 81 Gesandtschaft Paris IV, Nr. 21. Auch Haußherr, Erfüllung, S. 44 f. 73 Der Vertrag als Druck in französischer und deutscher Sprache in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 335, Bl. 11 – 12v.
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trennt wurden, bis zur Weichsel, entlang dieses Flusses unter Aussparung der östlich davon gelegenen Vorwerke und Dörfer von Graudenz bis zum „cercle de Bromberg“ (gemeint war aber das „Departement“). Entlang dieses Kreises lief die Grenze Richtung Westen in der bereits weiter oben geschilderten Weise.74 Endlich wurde auch das Territorium von Danzig nach den Wünschen Soults festgelegt. Der Kammerpräsident von Marienwerder Graf zu Dohna-Schlobitten unterzeichnete am 6. Dezember 1807 mit der freien Stadt einen entsprechenden Vertrag, in dem auch der Handelsverkehr, Fischereirechte und anderes geregelt wurde.75 Eine erhebliche Bedeutung für die preußische Souveränität hatte die Konvention, die schon am 13. Oktober 1807 von Yorck und Dönhoff mit Soult geschlossen worden war.76 Die in Artikel 16 des Tilsiter Friedens vorgesehene sächsische Militärstraße durch Schlesien führte danach von Guben in Sachsen über die schlesischen Orte Krossen und Züllichau nach Karga und Köpnitz im Herzogtum Warschau. Es stand dem sächsischen König frei, auf dieser Straße Truppen in Kolonnen zu 4000 Mann marschieren zu lassen. Weil die Strecke für einen Tagesmarsch zu lang war, wurden Krossen und Züllichau zu Etappenorten erklärt, deren Einwohner den rastenden Soldaten Quartier, Licht und Heizung zu stellen hatten. Dieselben Rechte, welche die sächsischen bzw. Warschauer Truppen auf ihrem Durchmarsch durch Schlesien genossen, galten übrigens auch für die Verbündeten des sächsischen Königs, also auch für Frankreich und die Rheinbundstaaten. Offenbar spielten bei dieser Konvention die Interessen Napoleons die ausschlaggebende Rolle, weshalb er die Verhandlungen Soult und keinem sächsischen Unterhändler anvertraut hatte. Die territoriale Integrität des preußischen Staats wurde durch die Regelungen der Oktober-Konvention aber noch weiter eingeschränkt. Sachsen wurde nämlich gestattet, in den beiden Etappenorten eigene, quasi extraterritoriale Postämter unter sächsischem Wappen zu errichten. Goltz hatte im Vorfeld energisch versucht, ein solches Zugeständnis zu verhindern.77 Es war schließlich nicht nur eine Frage des Prestiges, dass einer fremden Macht dergleichen nicht zugestanden werden durfte; selbst das Durchsuchen der durchgehenden Post war verboten, wodurch Spionage und Schmuggel kaum zu verhindern waren.
74 Zum Grenzverlauf siehe auch Max Bär, Die Behördenverfassung in Westpreußen seit der Ordenszeit (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 62), Hamburg 1989 (Ndr. d. Ausg. v. 1912), S. 157. Der neue Grenzverlauf gab immer wieder Anlass zu Streitigkeiten, wie Bär an gleicher Stelle verdeutlichte. 75 Der Vertrag als Druck in französischer und deutscher Sprache in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 335, Bl. 15 – 16v. Siehe hierzu Bär, Behördenverfassung, S. 137. 76 Zum Verlauf der Verhandlungen siehe die umfangreiche Überlieferung in GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 739. Der Vertragstext in Kerautret, Documents, Bd. 2, Nr. 53, S. 312 – 319. 77 Siehe unter andere Goltz an Soult, Memel, 1.9. und 9. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, I. HA, Rep. 81 Gesandtschaft Paris IV, Nr. 21.
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Nach Artikel 13 und 18 durften schließlich landwirtschaftliche und Handelserzeugnisse gegen einen nur mäßigen Transitzoll von Sachsen in das Herzogtum Warschau und umgekehrt auf den wichtigsten schlesischen Handelsstraßen befördert werden, so dass der preußischen Regierung auch die Wirtschaftshoheit in der ökonomisch bedeutsamsten Provinz der Monarchie zu entgleiten drohte. Es wurde zwar beschlossen, dass die Güter nur verplombt transportiert werden sollten, da es den preußischen Zollbeamten jedoch nicht erlaubt war, die durchziehenden Händler zu kontrollieren, war Schmuggel leicht möglich.78 Ähnliche Bestimmungen galten im Übrigen auch für die Schifffahrt auf Netze, Warthe und Oder. Um Preußen vollends handelspolitisch zu schaden, wurden französischen Waren dieselben Vorzüge eingeräumt wie sie für Sachsen und Warschau galten. Durch weitere Maßnahmen, auf die noch einzugehen sein wird, wurde diese imperiale Handelspolitik später konsequent fortgesetzt. Noch vor Unterzeichnung der November- und Dezember-Konventionen hatte Napoleon den Befehl zur Vorbereitung des Rückzugs der französischen Truppen hinter die Weichsel gegeben. Einige zwingende Gründe sprachen für diese vorzeitige Maßnahme. Nicht nur, dass eine entlang der Passarge grassierende Typhusepidemie die dort dislozierten Verbände bedrohte,79 auch die Versorgung aus dem vom Krieg völlig verwüsteten Land war kaum noch zu bewerkstelligen. Zunächst zogen sich nur vereinzelte Abteilungen zurück; erst Mitte Dezember war das Gebiet östlich der Weichsel von der Grande Armée nahezu vollständig geräumt. Nur die Nogatinsel und Marienburg bildeten französische Brückenköpfe auf dem rechten Weichselufer.80 Andere Gegenden wie die Provinz Schlesien, welche die auferlegten Kontributionen vollständig beglichen hatte, blieben weiterhin besetzt.81 Nach wie vor war auch noch kein allgemeines Übereinkommen über die Kontributionen in Aussicht. Auch die Bemühungen Knobelsdorffs in Paris blieben ohne Erfolg. Erst am 20. August gewährte Napoleon ihm eine erste Audienz, in deren Verlauf der französische Kaiser jedes Gespräch über die Kontributionsforderungen grundsätzlich ablehnte. Alle diesbezüglichen Fragen seien in Berlin zu klären, ließ er Knobelsdorff wissen. Er könne überhaupt keinen Nachlass gewähren, erklärte Napoleon weiter, da die Kontributionen nicht ihm, sondern der Armee zustünden.82 Oberflächlich gesehen hatte er damit nicht Unrecht. Die Kontributionen waren, wie gezeigt, Kriegsschatzungen, die von der Armee erhoben wurden, und stellten, rein formal, keine Straf- oder Tributzahlungen dar, deren Höhe eine politische Angelegenheit hätte sein können. Der Kaiser konnte daher – in einer freilich recht 78 Siehe Saring, Kontinentalsperre, S. 32. Allgemein zum Problem des Schmuggels speziell in Schlesien siehe Ziekursch, Städteverwaltung, S. 139 f. 79 Siehe „Décision“ Napoleons, Rambouillet, 15. 9. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 16, Nr. 13159, S. 33. 80 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 517. 81 Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 73 – 75. 82 Zur Mission Knobelsdorffs siehe ebd., S. 46 – 48. Lesage, Napoléon, S. 61 – 63. Hassel, Geschichte, S. 9.
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schwachen – Argumentation behaupten, nicht zuständig zu sein. Das österreichische Beispiel hatte allerdings gezeigt, dass Nachlässe sehr wohl gegeben werden konnten und auch wurden. Der zunehmend resignierte und wenig erfolgreiche Knobelsdorff wurde schließlich durch Karl Christian Friedrich v. Brockhausen ersetzt.83 Brockhausen sollte fortan als ordentlicher Gesandter die preußischen Belange in Paris vertreten, wo er am 20. Oktober ankam. Eine Audienz bei Napoleon wurde ihm zunächst nicht gewährt. Stattdessen konferierte er in Fontainebleau mit Jean-Baptiste Nompère de Champagny, der nach dem Tilsiter Frieden Talleyrand als französischen Außenminister abgelöst hatte. Auf Anweisung Napoleons verhielt sich auch Champagny ausweichend und verwies auf die laufenden Verhandlungen in Berlin.84 Brockhausen begann angesichts dieser Umstände an den Erfolgsaussichten seiner Mission zu zweifeln. Da er die Möglichkeiten Preußens, eine vorteilhafte Einigung zu erreichen, für äußerst gering hielt und auf die Einwirkungen des Zaren hoffte, riet er zu einer harten Linie gegenüber Frankreich;85 bestärkt wurde er darin vom russischen Sondergesandten Peter Graf Tolstoi, der kurz nach Unterzeichnung des Friedensvertrags den Auftrag erhalten hatte, der preußischen Diplomatie zu sekundieren.86 Er war ein energischer Fürsprecher Preußens und bekannter Kritiker der russisch-französischen Allianz.87 Aber auch seine eng mit Brockhausen abgestimmten Bemühungen blieben einstweilen ergebnislos. Ungeachtet der trüben Aussichten setzte die Friedensvollziehungskommission große Erwartungen in die Pariser Verhandlungen. Sacks Renitenz gegenüber Daru hatte nachträglich die volle Billigung durch Stein erhalten, der die Kommission anwies, die Summe nur in Verbindung mit akzeptablen Zahlungsmodalitäten aner83
Die Mission von Kobelsdorff war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Napoleon hatte frühzeitig deutlich gemacht, dass nichts bei ihm zu erreichen sei. Siehe Napoleon an Talleyrand, Saint-Cloud, 9. 8. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 13012, S. 484. Napoleon an Daru, Saint-Cloud, 30. 8. 1807. Napoleon, Correspondance General, Bd. 7, Nr. 16251, S. 1072 f. 84 Siehe Napoleon an Champagny, Fontainebleau, 31. 10. 1807. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 7, Nr. 16667, S. 1154. 85 Man solle nicht „à tout prix“ abschließen, ließ er Sack wissen. Siehe Brockhausen an Sack, Paris, 22. 12. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 360, Bl. 79 – 79v., hier das Zitat Bl. 79. 86 Zur Mission Brockhausens siehe Lesage, Napoléon, S. 105 f. Haußherr, Erfüllung, S. 48. Hans-Joachim von Brockhusen (!), Carl Christian Friedrich von Brockhausen. Ein preußischer Staatsmann um die Wende des XVIII. Jahrhunderts. Ein Lebens- und Kulturbild dargestellt auf Grund der Gesandtschaftsberichte des Preußischen Geheimen Staatsarchivs, Greifswald 1927, S. 109 – 120. 87 Siehe Sergej Nikolaevicˇ Iskjul‘, Deutsch-russische Beziehungen und das französischrussische Bündnis (1807 – 1808), in: Jahrbuch für die Geschichte Osteuropas, 40 (1992), S. 178 – 196, hier S. 179 f. Lesage, Napoléon, S. 108 – 115. Haußherr, Erfüllung, S. 115 f., 144. Siehe auch Alexander an Friedrich Wilhelm, St. Petersburg, 22. 9. 1807. Bailleu, Briefwechsel, Nr. 155, S. 166 f.
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kennen zu dürfen.88 In einer Note an Daru unterstrich die Friedenskommission daraufhin noch einmal den Wunsch nach einer umfassenden Übereinkunft. Neben den Kontributionsangelegenheiten sei darin, so erklärte die Kommission gegenüber Daru und mit Blick auf die Warschauer Forderungen, der Verzicht aller Souveräne auf die gegenseitig erhobenen finanziellen Ansprüche zu beschließen. „Le libre exercice de tous les droits de souvérainéte (!) et la prompte restitution de toutes les branches de l’administration civile“ sollten zudem zusammen mit dem unverzüglichen Räumungsbeginn ermöglicht werden.89 Ende Oktober kam Daru dem preußischen Verlangen nach und legte der Friedensvollziehungskommission einen Konventionsentwurf vor, mit dem er die gesamte Kontributionsfrage zu klären gedachte.90 Daru war bereit, sich gegen Napoleon zu stellen, der noch immer darauf bestand, die vollständige Summe von 150 Mio. Francs Preußen abzuverlangen, wobei die bislang gezahlten Beträge nicht in Abrechnung gebracht werden durften. Napoleon war überzeugt, oder gab zumindest vor es zu sein, dass Preußen zahlungsfähig sei, schließlich verfüge die Monarchie über einen enormen Staatsschatz, der vor der französischen Armee gerettet worden sei.91 Demgegenüber wies Daru, wie schon zuvor der französische Kommandant von Berlin, auf die Unerfüllbarkeit der französischen Forderungen hin.92 In seinem Entwurf verringerte er dementsprechend die Summe und veranschlagte den Restbetrag auf 112 Mio. Francs. Von dieser Summe sollte Preußen 12 Mio. unverzüglich in bar bezahlen, für die Hälfte der restlichen 100 Mio. verlangte er die Übereignung von Domänen an den französischen Kaiser. Schon am 20. Oktober hatte Daru die Abtretung von Domänengütern an der Grenze zu Westphalen ins Gespräch gebracht und damit auf preußischer Seite für helles Entsetzen gesorgt.93 Eine einfache Übertragung, wie sie sich der Generalintendant vorstellte, musste bedeutende politische Implikationen mit sich bringen. Die Mitglieder der Friedensvollziehungskommission hielten die Abtretung gar für „contraire à la constitution fondamentale 88 Siehe Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 6. 10. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 386, S. 451. 89 Siehe Friedensvollziehungskommission an Daru, Berlin, 18. 10. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 365, Bl. 131 – 133, hier das Zitat Bl. 132. In seiner Antwort lehnte Daru einen Tag später vor allem eine Regelung über die Warschauer Forderungen ab. Ebd. Bl. 137 – 138v. 90 Siehe Lesage, Napoléon, S. 86 – 88. Hier wurde der Entwurf vollständig abgedruckt (S. 329 – 336). Hierzu auch Haußherr, Erfüllung, S. 118 f. Auch Votum Steins zum Immediatbericht Friedensvollziehungskommission vom 24. 10. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 424, S. 483 f. 91 Siehe Lesage, Napoléon, S. 91. So Daru auch später noch gegenüber der Friedensvollziehungskommission. Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 15. 11. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 360, Bl. 1 – 5. 92 Siehe Lesage, Napoléon, S. 92. 93 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 20. 10. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 213 – 217v. Siehe hierzu und zum Verlauf der Verhandlungen im Oktober Hassel, Geschichte, S. 29 – 35. Haußherr, Erfüllung, S. 117 – 123.
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de l’état Prussien“; immerhin sei die Veräußerung der Domänen nach dem Fundamentalgesetzen von 1710 und 1713 mehr oder weniger strikt untersagt.94 In Memel trug man aber nicht nur verfassungsrechtliche Bedenken; Stein erkannte die Rückwirkungen, die sich aus der Übereignung von Domänenbesitz in diesem Umfang an einen auswärtigen Souverän für die Legislative in Preußen ergeben würden. Eine Veränderung der bäuerlichen Verhältnisse oder die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, wie sie Stein und der reformorientierte Teil der Beamten vorsahen, wären massiv erschwert worden. „Der Artikel 6 jenes Entwurfs würde Uns, der vorbehaltenen Souveränität ungeachtet, das Gesetzgebungsrecht in Beziehung auf die fraglichen Domänen nehmen und einen Staat im Staate begründen“, drückte Stein seine Sorge in einer Order nach Berlin aus. Die Domänen waren direkter Besitz der Krone; hier konnte der König von seinem Gesetzgebungsrecht ungehindert Gebrauch machen, ohne besondere Rücksichten auf ständische Gerechtsamen nehmen zu müssen. Stein wollte auf diesen Vorteil bei der Durchsetzung des Reformwerks nicht verzichten und fürchtete die weiteren Folgen, die sich aus der Übertragung der an den Bodenbesitz gebundenen Polizei- und Gerichtsgewalt an Napoleon ergeben würden.95 Schon länger existierten allerdings Pläne, wie die Domänen für die Abtragung der Kontributionen mobilisiert werden könnten. Die Domänen sollten danach nicht einfach an Napoleon überschrieben werden, sondern man plante, sie hypothekarisch zu belasten.96 Die dazu geschaffenen Domänenpfandbriefe könnten Daru ausgehändigt und durch den allmählichen Verkauf der Domänen binnen zwei Jahren abgelöst werden. Daru hatte durchscheinen lassen, dass die Domänen als Dotation für verdiente Generale gedacht waren; dies und die Tatsache, dass Napoleon Preußen ein Rückkaufrecht innerhalb einer Frist von fünf bis sechs Jahren einzuräumen bereit war und eine Verzinsung von 6 % des Kapitalwerts der Domänen forderte, nährte die Vermutung, er sei vornehmlich an der finanziellen Entlohnung seiner Militärs interessiert. Mit dem nun vorgeschlagenen Verfahren, so Stein, könne Napoleon we-
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Siehe Memoire der Friedensvollziehungskommission, Berlin, 22. 10. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 365, Bl. 139 – 140v, hier das Zitat Bl. 139. 95 Siehe die „Bemerkungen Stein‘s zu vorstehendem Immediatbericht (20. 10. 1807)“, Memel, 30. 10. 1807. Hassel, Geschichte, Nr. 6, S. 311 f. Kabinettsorder an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 4. 11. 1807. Hassel, Geschichte, Nr. 10, S. 317 f., hier das Zitat S. 318. Anweisung Steins zur Kabinettsorder an Massow, (Memel, 25. 11. 1807). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 454, S. 546 f. Siehe hierzu besonders Udo Dräger, Theodor von Schön und der Kampf um die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, in: Bernd Sösemann (Hrsg.), Theodor von Schön. Untersuchungen zu Biographie und Historiographie (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz, 42), Köln/Weimar/Wien 1996, S. 93 – 103, hier S. 95 f. Auch Haußherr, Erfüllung, S. 120. 96 Soweit rekonstruierbar wurde dies erstmals in einem Gutachten Staegemanns vom 5. 10. 1807 angedacht. Hassel, Geschichte, Nr. 1, S. 306. Niebuhr entwickelte in einem Gutachten desselben Tages die Idee, Obligationen unter solidarischer Haftung der Provinzialstände auszugeben. Ebd., Nr. 2, S. 306. Beide Vorschläge wurden später miteinander kombiniert.
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sentlich schneller und leichter zu flüssigem Kapital kommen. Er würde also auch im eigenen Interesse handeln, wenn er sich auf den preußischen Vorschlag einließe. Die von Daru vorgelegte Konvention sah aber noch eine größere Gefährdung der preußischen Souveränität vor als die Übereignung der Domänen. Napoleon forderte nämlich als Sicherheit für die tatsächliche Realisierung der französischen Ansprüche die drei Oderfestungen Stettin, Küstrin und Glogau. Bis zur vollständigen Bezahlungen der Kontributionen sollten dort französische oder verbündete Truppen mit einer Stärke von je 6000 Soldaten auf preußische Kosten unterhalten werden. Die Versorgung von 18 000 Soldaten hätte eine ungemeine Belastung für den preußischen Finanzhaushalt dargestellt;97 vor allem aber brächte die Stationierung fremder Truppen auch eine massive Einschränkung der souveränen Handlungsfreiheit der preußischen Politik mit sich; erst recht, wenn es sich, wie in diesem Fall, um Festungen von besonders hohem strategischem Wert handelte, die das Land geradezu durchschnitten und mit denen sich die Übergänge über die Oder beherrschen ließen. Bei Ausbruch eines Krieges konnte Frankreich somit Brandenburg im Handumdrehen besetzen und rasch Richtung Osten vorstoßen. Daru ging sogar über das von Napoleon Verlangte hinaus und forderte zusätzlich zu den drei Oderfestungen auch die Übergabe von Graudenz und Kolberg. Die Garnisonen aller fünf Festungen hätten sich auf 30 000 Mann belaufen. Nach Steins Urteil würde die Darusche Konvention nichts anderes als die „vollkommene permanente Subjektion“ bedeuten. Für ihn kam daher eine Annahme genauso wenig in Frage wie für die Friedensvollziehungskommission.98 Während Stein den alternativen Plan von der Domänenverpfändung in Berlin vorschlagen ließ,99 verfolgte er eine neue Initiative in Paris. Schon zu Beginn des Monats hatte sich Stein für die Mission eines Prinzen aus dem Haus Hohenzollern an den kaiserlichen Hof ausgesprochen.100 Nun, angesichts der jüngsten Entwicklungen, wurde dieser Plan eilig in die Tat umgesetzt und der Bruder des Königs, Prinz Wilhelm, mit dieser Aufgabe betraut. Wilhelm gehörte zu den Unterzeichnern jener Denkschrift aus dem September 1806, in der sich hochrangige Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Königs für einen Krieg gegen Frankreich ausgesprochen hatten.101 Stein wusste also, dass er einen Gegner Napoleons in die französische Hauptstadt schicken würde, 97
Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 121 f. Haußherr berechnete die jährlichen Kosten für den Unterhalt der Festungstruppen auf 40 Mio. Francs, ging dabei aber zusätzlich von einem 10 000 Mann starken Kavalleriekontingent aus. 98 Friedensvollziehungskommission an Daru, Berlin, 24. 10. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 365, Bl. 141 – 142. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 24. 10. 1807. Ebd., Nr. 359, Bl. 225 – 229v. 99 Siehe Votum Steins zum Immediatbericht der Friedensvollziehungskommission v. 24. 10. 1807, (Memel, 3. oder 4. 11. 1807). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 424, S. 483 f., hier auch das Zitat S. 483. 100 Siehe Votum Steins zum Bericht der Friedensvollziehungskommission vom 4. 10. 1807, (Memel, 11. 10. 1807). Ebd., Nr. 402, S. 463. 101 Siehe Kap. B., Fn. 47.
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von dem keine übereifrige Erfüllungsbereitschaft zu erwarten war. Eine Unterwerfungsgeste war das Erscheinen des Prinzen aber allemal, schließlich reihte sich ein Hohenzoller unter die Vertreter der rheinbündischen Satelliten, die Napoleon umgaben. Dieser Effekt war wohl kalkuliert; die Instruktion für den Prinzen sah nämlich vor, als Gegenleistung für eine deutliche Verminderung der Kontributionen und möglichst günstige Zahlungsmodalitäten Napoleon ein formelles Offensiv- und Defensivbündnis anzubieten. Preußen würde sich im Bündnisfall dazu bereit erklären, hieß es, ein Hilfskorps von 30 000 oder 40 000 Mann zu stellen. Möglicherweise, so die Hoffnung, würde sich der Kaiser unter diesen Umständen sogar dazu bewegen lassen, Preußen für den Verlust Neuschlesiens, des Michelauer Kreises und anderer Gebiete zu entschädigen, die nach dem Wortlaut des Friedensvertrags preußisch hätten bleiben sollen. In einer Ergänzung zu dieser Instruktion wurde der Prinz aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Bündnisfall eindeutig benannt und der Einsatz preußischer Truppen auf einen Krieg in Europa beschränkt sein müsse. Erst später wollte Stein auch so weit gehen, dem Einsatz eines preußischen Korps gegen das Osmanische Reich zuzustimmen.102 Würde dieses umfangreiche Bündnisangebot schließlich auf keine positive Resonanz stoßen, so war Wilhelm – in letzter Verzweiflung – sogar dazu befugt, den Eintritt der Hohenzollernmonarchie in den Rheinbund anzubieten.103 Um die Räumung des Landes zu erreichen und zumindest im Landesinneren wieder die Herrschaft der königlichen Regierung zu befestigen, war Stein demnach bereit, Preußen vollkommen in das napoleonische Herrschaftssystem einzugliedern und die äußere Souveränität mehr oder weniger preiszugeben. Obwohl die Lage eigentlich zur Eile drängte, vergingen bis zum Eintreffen des Prinzen in Paris Wochen. Erst am 8. Januar konnte Napoleon das preußische Angebot vorgelegt werden, das dieser jedoch mit Desinteresse quittierte.104 Selbst als Wilhelm sich als Geisel anbot, war Napoleon zu keinen Zugeständnissen bereit und auch in den nächsten Monaten verhielt sich der französische Kaiser ausweichend.105 Die preußischen Bemühungen, ob von Wilhelm oder von Brockhausen unternommen, durch direkte Gespräche mit dem Kaiser günstigere Bedingungen zu erhalten, waren damit letztendlich gescheitert.
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Siehe Stein an Wilhelm, Memel, 26. 12. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 515, S. 587 f. Hassel, Geschichte, S. 81. Haußherr, Erfüllung, S. 145. 103 Siehe den Entwurf der „Instruction für den Prinzen Wilhelm“, Memel, 5. 11. 1807. Hassel, Geschichte, Nr. 117, S. 423 – 429. Ebd., S. 39 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 146 – 148. Haußherr, Erfüllung, S. 124 – 126. 104 Siehe Immediatbericht Wilhelm, Paris, 9. 1. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 126, S. 436 – 438. 105 Siehe hierzu Wilhelm an Stein, Paris, 14. 3. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 635, S. 684 f. Zur Mission Wilhelms siehe Immediatbericht Wilhelm, Paris, 26. 2. 1808 (Bericht über die 2. Audienz). Hassel, Geschichte, Nr. 142, S. 450 – 452. Lesage, Napoléon, S. 121 – 127, 138 f. Duncker, Eine Milliarde, S. 518.
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Immerhin kam zwischenzeitlich etwas Bewegung in die Berliner Verhandlungen. Noch im November reduzierte Daru seine Forderung von ursprünglich fünf auf drei Festungen.106 In Frankreich war man über sein anfängliches Vorpreschen in dieser Frage keineswegs begeistert gewesen, so dass Berthier ihn in einer Note ermahnt hatte, sich strikt an die Anweisungen Napoleons zu halten und nur die Oderfestungen zu fordern.107 Alles andere musste schließlich die Spannungen mit dem Zarenhof verschärfen, wo man das französische Ansinnen, preußische Festungen als Pfand für die Kontributionszahlungen zu nehmen, als eine imminente Bedrohung der eigenen Interessen empfand.108 Die russische Position war durchaus nachvollziehbar, denn wenn die Hohenzollernmonarchie weiterhin von Frankreich militärisch kontrolliert würde, konnte Preußen nicht die in Tilsit vereinbarte und vom Zaren vehement geforderte Funktion eines Pufferstaats zwischen der französischen und der russischen Einflusszone erfüllen. Zunehmend drängte sich aber die Frage auf, warum Napoleon überhaupt auf die Festungen bestand, wenn ihm an einem guten Verhältnis zu Russland gelegen war? Die preußischen Unterhändler in Paris und Berlin sowie das Kabinett in Memel mussten mehr und mehr erkennen, dass es in der Kontributionsfrage nicht um das exakte Aufrechnen tatsächlich bestehender Ansprüche ging. Daru stellte dies auch unumwunden klar: „Er (Daru; S.P.) erklärte ehrlich, wenn man ihm errores calami, calculi und dupli und tripli nachweist, dass es darauf nicht ankäme; seine Rechnung wäre nicht eine Affaire des Calculs, sondern der Politik“.109 Ähnlich äußerte sich Napoleon gegenüber Prinz Wilhelm.110 Niemand schien allerdings genau gewusst zu haben, welche Faktoren konkret das Handeln Frankreichs bestimmten. Brockhausen, der einen engen Kontakt zu Tolstoi pflegte, deutete in einem Bericht nur an, dass wohl „unsere Belange als Gegenstand des Handelns zwischen England, Frankreich und Rußland betrachtet werden“111. Tatsächlich waren es genau solche Gegensätze weltpolitischen Ausmaßes, die auf Preußen zurückwirkten. Weiterhin hing das politische Schicksal Preußens von dem Verhältnis zwischen Russland und Frankreich 106
Eine Zusammenfassung der Verhandlungen bis Ende Dezember 1807 bietet das „Memoire über die zu Berlin geführten Unterhandlungen wegen der französischen Forderungen an den Preußischen Staat“ von Sack für Wilhelm, Berlin, 27. 12. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 79, S. 271 – 274. Außerdem GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 365, Bl. 143 – 164. Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 2. 12. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 465, S. 554 f. Darin wurde noch einmal ein preußisches Gegenangebot formuliert, das Daru allerdings schließlich nicht vorgelegt wurde. 107 Siehe Berthier an Daru, Fontainebleau, 8. 11. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 15, S. 30. 108 Siehe Immediatbericht Schöler, St. Petersburg, 14. 11. 1807. Hassel, Geschichte, Nr. 86b, S. 393. Schon während der ersten Audienz beschwichtigte Napoleon Tolstoi, nie fünf Festungen gefordert zu haben. Siehe Hassel, Geschichte, S. 61. 109 Siehe Staegemann an Scheffner, Memel, 23. 10. 1807. Rühl, Briefe, Bd. 4, Nr. 54, S. 62 f. Im Postskriptum zum Immediatbericht, Berlin, 17. 9. 1807, berichtete die Friedensvollziehungskommission über die Aussage Darus. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 358, Bl. 98. 110 Siehe Immediatbericht Wilhelm, Paris, 26. 2. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 142, S. 450. 111 So Brockhausen am 15. 1. 1808. Zit. n. Brockhusen, Brockhausen, S. 137.
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ab, das, wie die Episode um die Festungsforderung zeigte, auch in den Monaten nach dem Friedensschluss spannungsreich und von gegenseitigem Misstrauen geprägt war; vor allem die Konfliktfelder in Südosteuropa wurden weder durch den Friedens-, noch durch den Allianzvertrag beseitigt. So hielten russische Truppen auch Monate nach Unterzeichnung beider Übereinkommen die Donaufürstentümer besetzt – ein Zustand, der in jeder Beziehung den Interessen französischer Außenpolitik in dieser Region zuwiderlief. Napoleon drängte deshalb den Zaren wiederholt zur Einhaltung der Bestimmungen des Friedens, der den Abzug der russischen Armee eigentlich festschrieb. Ganz so wie es in der außenpolitischen Strategie Frankreichs seit den ersten Monaten des Krieges von 1806/7 angelegt war, sollte die Besetzung Preußens als das nötige Druckmittel dienen, um die französischen Interessen durchzusetzen. Seine Armee würde erst dann Preußen verlassen, machte Napoleon gegenüber Tolstoi deutlich, wenn Russland sich zum selben Schritt in den Donaufürstentümern bereit erklärte. Ansonsten müsse das Kaiserreich für die de facto Eroberungen Russlands entschädigt werden. Schlesien sei ein geeignetes Kompensationsobjekt, fügte Napoleon hinzu.112 Bereits während der Verhandlungen in Tilsit war zu beobachten gewesen, dass Napoleon die ernsthafte Absicht hatte, Schlesien für ein Mitglied des Kaiserhauses oder einen französischen Satellitenstaat zu erwerben. Ihm war klar, dass die preußische Provinz von herausragender geopolitischer Bedeutung war. Das Militärstraßenabkommen, das im Oktober in Elbing abgeschlossen worden war, ermöglichte Frankreich schon eine weitreichende militärische Kontrolle dieser neuralgischen Region. Französischen oder verbündeten Truppen stand es von nun an frei, quer durch den „Flaschenhals“, der die Provinz mit der Neumark verband, zu ziehen. Preußen konnte auf diese Weise selbst im Falle eines französischen Abzugs militärisch in Schach gehalten werden. Wenn die Spannungen zu Russland weiter zunehmen würden, was angesichts der Umstände zu erwarten war, erlaubte die Kontrolle der schlesischen Straßen überdies die rasche Verlegung von Truppen in das Herzogtum Warschau zur Vorbereitung eines Feldzugs gegen das Zarenreich. Doch selbst diese Vorteile genügten Napoleon noch nicht. Im November 1807 bekam Daru den Befehl, auch den freien Truppendurchmarsch auf anderen wichtigen Straßen in ganz Preußen zu fordern, um die Verbindung zwischen den französischen Armeeverbänden in Westphalen, Schwedisch-Pommern, Danzig und dem Herzogtum Warschau herzustellen.113 Im Wissen um die imminente Bedeutung Schlesiens wies Alexander, wie schon in Tilsit, das französische Ansinnen nach einem Tausch der Provinz gegen die Donaufürstentümer zurück. Weiterhin bestand der Zar auf der sofortigen Räumung Preußens. Um Frankreich aller Argumente zu berauben, die gegen einen Abzug 112
Napoleon berichtete hierüber an Savary (Fontainebleau, 7. 11. 1807). Napoleon, Correspondance Général, Bd. 7, Nr. 16733, S. 1284 – 1286. Siehe hierzu Tatistcheff, Alexandre, S. 276. Duncker, Preußen, S. 283. Hassel, Politik, S. 86 f. Iskjul‘, Beziehungen, S. 181 – 183. 113 Siehe Hassel, Geschichte, S. 65 f.
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vorgebracht werden könnten, riet er dem preußischen König zur bedingungslosen Erfüllung sämtlicher französischer Forderungen.114 Doch diese Empfehlung musste ihre Wirkung verfehlen, denn Napoleon drängte es zunächst überhaupt nicht zu einer Einigung, wie Champagny dem französischen Gesandten am Zarenhof Caulaincourt verriet.115 Die jetzige Situation erlaubte es Frankreich schließlich, die eigene Armee auf preußische Kosten mobil zu halten, fortwährend Druck auf Russland auszuüben und eine günstigere Wendung der politischen Lage abzuwarten. In der Zwischenzeit versuchte Napoleon, sich gegenüber dem Zaren mit vagen Aussichten auf eine Aufteilung der Türkei und einen gemeinsamen Feldzug gegen Britisch-Indien als Erfüllungsgehilfe der russischen Orientpolitik zu gerieren.116 Die französische Begründung der Okkupation überzeugte nur auf den ersten Blick. Daru betonte stets von neuem, dass man nur die Erfüllung eines vertraglich fixierten Anspruchs durchsetzen wolle. Immerhin waren Besetzungen seit langem ein probates Mittel, um die Durchsetzung völkerrechtlicher Verträge zu garantieren. Eines der bekanntesten Beispiele aus der Frühen Neuzeit ist die schwedische Besetzung von Teilen Deutschlands nach Abschluss des Westfälischen Friedens, wodurch die Zahlung von Kriegsentschädigungen sichergestellt werden sollte.117 Normalerweise beruhte die Okkupation in solchen Fällen auf einigermaßen klar definierten Regelungen. Der Kriegszustand endete und das Eroberungsrecht war außer Kraft gesetzt.118 Die preußische Situation war jedoch anders gelagert. Bis in den September 1808 hinein waren weder die Rechte und Pflichten der Besatzungsmacht bestimmt, noch war bekanntlich die Höhe der geforderten Kontributionssumme – deren Rechtmäßigkeit grundsätzlich angezweifelt werden konnte – im Friedensvertrag oder in der Königsberger Konvention benannt worden. Die Summe, mit der Daru während der Friedensvollziehungsverhandlungen Preußen schließlich konfrontierte, beinhaltete nicht nur eindeutig illegitime Forderungen wie die nach
114 Siehe unter anderem Alexander an Friedrich Wilhelm, St. Petersburg, 14. 11. 1807. Bailleu, Briefwechsel, Nr. 157, S. 169. Immediatbericht Schöler, St. Petersburg, 13. 10. 1807. Hassel, Geschichte, Nr. 82, S. 382. Hierzu auch ebd., S. 10, 12 – 15. 115 Siehe Hassel, Geschichte, S. 107. Haußherr, Erfüllung, S. 173. 116 Zu den französisch-russischen Verhandlungen siehe Tatistcheff, Alexandre, S. 232 – 378. Fournier, Napoleon, Bd. 2, S. 234 – 236. Anderson, Question, S. 40 – 43. Iskjul‘, Beziehungen, S. 185 – 189. Den nebulösen Plan von der Vernichtung der Türkei und einem Feldzug nach Indien entwickelte Napoleon in einem Schreiben an Alexander (Paris, 2. 2. 1808). Napoleon, Correspondance, Bd. 16, ohne Nr., S. 498 f. 117 Siehe Art. XVI §§ 12, 13 IPO. Siehe hierzu Antje Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649 – 1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 17), Münster 1991, S. 41 – 46, 76 – 94, 418 f. Auch nach 1648 bedurfte es langwieriger Nachverhandlungen, um zu einer tragbaren Regelung über den Abzug und die Entschädigungen zu gelangen. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war jedoch die Folge eines Kompromisses, kein oktroyiertes Recht. 118 Siehe hierzu Zimmer, Friedensverträge, S. 18 – 20.
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den „contributions ordinaires“, sondern war schlichtweg unaufbringbar,119 was, wie oben dargestellt, neben Daru auch hochrangige französische Militärs zugaben.120 Politische Gründe hatten für Napoleon absoluten Vorrang vor rechtlichen Überlegungen. Die nachträglichen territorialen Forderungen des Kaisers belegen, dass selbst der tradierte Rechtsgrundsatz des „pacta sunt servanda“,121 der den normativen Minimalkonsens der Staatenbeziehungen bildete, von ihm konsequent ignoriert wurde. Es sei „unmöglich Tractaten und Conventionen (!) abzuschließen, sobald ein contrahierender Theil die Macht und den Willen hat, soviel zu halten und zu erfüllen, wie ihm beliebt“122, beklagte Staegemann die Lage Preußens. Dass in jenen Jahren auch Staaten wie Russland vertragliche Abmachungen missachteten, war Zeichen der völligen Auflösung der europäischen Ordnung seit Ausbruch der Revolutionskriege. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die Lehren Machiavellis in Preußen nun intensiv rezipiert wurden. Es war nicht zuletzt eine Reaktion auf das Benehmen der Großmächte und die schwache politische Stellung Preußens, dass Fichte ganz nach dem Prinzip „Wo ein Staat für seine Existenz fürchtet, wird man nie Treue finden“123 in seinem Aufsatz „Über Macchiavelli als Schriftsteller und Stellen aus seinen Schriften“ (1807) für den Vorrang des Staatsinteresses vor allen vertraglichen oder moralischen Bindungen eintrat.124 In dieselbe Richtung wiesen die Gedanken des Militärtheoretikers und Machiavelli-Kenners Carl von Clausewitz, der die „humanen Sittenprediger“ verachtete, die dem Politischen normative Grenzen setzen wollten.125 Die preußischen Sehnsüchte nach einer eigenständigen und unabhängigen Politik waren reines Wunschdenken, denn noch diktierte Frankreich als die stärkere Macht der Hohenzollernmonarchie und großen Teilen des restlichen Europas konsequent 119
Die Summe lag bei weitem über dem, was noch im 18. Jahrhundert von einer Okkupationarmee erhoben wurde. Siehe hierzu exemplarisch Xaver v. Hasenkamp, Ostpreußen unter dem Doppeladler. Historische Skizze der russischen Invasion in den Tagen des siebenjährigen Krieges, Königsberg 1866, S. 310 – 321. 120 Siehe Clarke an Napoleon, Berlin, 24. 7. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 3, S. 6 – 8. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 21. 12. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 360, Bl. 117 – 118v. 121 Siehe hierzu Heinhard Steiger, Friedensvertrag, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, S. 41 – 48, hier S. 47. 122 Staegemann an K. G. v. Brinkmann, Berlin, 13. 3. 1808. Rühl, Briefe, Bd. 1, Nr. 18, S. 30. 123 Niccolo Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt und eingeleitet v. Rudolf Zorn, 2. Aufl., Stuttgart 1977, I. Buch, Kap. 59, S. 154. 124 Siehe hierzu Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (Friedrich Meinecke Werke, 1), hrsg. und eingeleitet von Walther Hofer, 2. Aufl., München 1960, S. 434 – 441. Ders., Weltbürgertum und Nationalstaat (Friedrich Meinecke Werke, 5), hrsg. v. Hans Herzfeld, München 1962, S. 92, 96 f. 125 Siehe Hans Rothfels (Hrsg.), Carl von Clausewitz. Politische Schriften und Briefe, München 1922, S. XV, S. 63 f., hier das Zitat S. 64. Siehe hierzu Azar Gat, A History of Military Thought from the Enlightement to the Cold War, New York 2001, S. 203 f., 241 f.
I. Die Diplomatie
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das Recht. Das machtpolitische Übergewicht des Kaiserreichs hatte ein solches Ausmaß erreicht, dass tendenziell gegenüber den unterlegenen und abhängigen Staaten nur noch ein gradueller Unterschied von zwischenstaatlichem zu französisch-innerstaatlichem Recht bestand. Die logische Konsequenz daraus war die Einschränkung, wenn nicht der Verlust, der äußeren Souveränität des preußischen Staats. In einer solchen Lage ist es geradezu typisch, dass sich die schwächere Macht zur Wahrung ihrer Staatlichkeit auf das Völkerrecht beruft,126 so wie es die Friedensvollziehungskommission und Goltz taten, der sich mit den drastischen Worten an Soult wandte: „J’ai la préténtion (!) de croire après cela M. le Marechal de L’empire que notre conduite est justifiée aux yeux de tout juge impartial – que le traité de Tilsit à la main, nous pourrions sans risque en appeller au jugement de l’Europe.“127 Zwar konnte sich Frankreich nicht vollkommen dem völkerrechtlichem Diskurs entziehen; das beweisen die Argumentationsversuche Darus während der Friedensvollziehungsverhandlungen. Aber jede Reverenz auf das Recht diente allein propagandistischen Zwecken oder der Legitimation der eigenen Machtpolitik gegenüber dem russischen Bündnispartner. Ein Recht, das seinen Namen auch verdient, konnte das Empire nicht kennen. Vieles deutet darauf hin, dass Napoleon sich zumindest in den Wochen nach Abschluss des Tilsiter Friedens im Unklaren darüber gewesen war, ob er Preußen nur zur Annahme einer hohen Kontributionsforderung und weiterer territorialer wie politischer Zugeständnisse zwingen sollte, um das Land dann aber bald wieder zu räumen. Die Befehle an seine Generale deuten darauf hin,128 dass er der anderen, stets erwogenen Option, nämlich die Ausdehnung der Besetzung zu dem Zweck, Druck auf den russischen Verbündeten auszuüben, erst spät den endgültigen Vorzug gab. Auf dem Gebiet der Diplomatie war Napoleon, ähnlich wie auf dem Schlachtfeld, durchaus in der Lage dazu, vorausschauend zu handeln und sich an Veränderungen rasch anzupassen. Diese Eigenschaft wurde jedoch von seiner Machtgier verdunkelt, die ihn daran hinderte, nicht nur ein ausgezeichneter Befehlshaber, sondern auch ein genialer Diplomat zu sein.
126 Allgemein zu dieser Problematik siehe Jörg Fisch, Völkerrecht, in: Dülffer/Loth, Dimensionen, S. 151 – 168, hier S. 157 f. 127 Goltz an Soult, Memel, 7. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, I. HA, Rep. 81 Gesandtschaft Paris IV, Nr. 21. 128 Siehe „Note pour le traité d‘évacuation“, Königsberg, 12. 7. 1807. „Dispositions générales pour l’armée“, Königsberg, 12. 7. 1807. „Note pour le Major Général“, Königsberg, 12. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12897, 12897, 12906, S. 409 – 411, S. 411 – 415, 420 – 422. Noch am 15. September 1807 forderte Napoleon von Rambouillet aus Berthier dazu auf, einen aktuellen Plan für die Räumung Preußens auszuarbeiten. Siehe ebd., Bd. 16, Nr. 13152, S. 30. Auch Napoleon an Berthier, Rambouillet, 16. 7. 1807. Napoleon, Correspondance Général, Bd. 7, Nr. 16383, S. 1126. Stets betonte Napoleon jedoch, dass die Bezahlung der Kontributionen die Voraussetzung der Räumung sei. Siehe u. a. Napoleon an Clarke, Königsberg, 13. 7. 1807 und Dresden, 18. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12909, 12922, S. 423, 428 f.
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C. Die Wahrung der äußeren Souveränität
Die unmissverständlichen Aussagen Darus und Napoleons machten der preußischen Führung in Memel zwar deutlich, dass politische Faktoren das Verhalten Frankreichs bestimmten; doch glaubten einige, darunter auch Stein und die Friedensvollziehungskommission, nicht an einen Zusammenhang zwischen den preußisch-französischen Verhandlungen und der russischen Besetzung der Donaufürstentümer.129 Stein verließ sich ganz auf die Versicherung des Zaren, dass in Südosteuropa keine Differenzen mit Frankreich bestehen würden.130 So vertraute man noch zu Beginn des Jahres 1808 auf den Erfolg der Verhandlungen in Paris. Erst als offensichtlich wurde, dass weder Brockhausen, noch Wilhelm einen Sinneswandel bei Napoleon zu bewirken vermochten, erhielt die Friedensvollziehungskommission den Befehl, die Gespräche mit Daru in Berlin wiederaufzunehmen.131 Da auch diese ohne konkrete Ergebnisse verliefen,132 bat Sack darum, dass Stein nach Berlin reisen sollte, um dort persönlich mit Daru zu verhandeln. Sack erwartete, dass in direkten Gesprächen zwischen dem mächtigen Minister und dem Generalintendanten schneller eine Einigung zu erreichen war. Stein teilte diese Sichtweise im Grundsatz. Ihm ging es aber auch darum, der Bevölkerung durch sein Erscheinen zu beweisen, dass sich die königliche Regierung nach wie vor um sie sorgt.133 Nebenbei sollten auch seine Kritiker durch einen persönlichen Erfolg mundtot gemacht werden. Stein erreichte die preußische Hauptstadt in der Nacht auf den 5. März. Am 7. fand bereits die erste Konferenz mit Daru statt.134 Als Grundlage der Verhandlungen diente der Konventionsentwurf vom 24. Oktober, der von der Friedensvollziehungskommission abgelehnt worden war. Stein ging nun von einer Restsumme von rund 100 Mio. Francs aus und zog damit trotz der Sanktionen in Folge des Ulti129
Siehe Staegemann an seine Frau, Memel, 26. 8. 1807. Rühl, Briefe, Bd. 4, Nr. 25, S. 29 f. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 6. 3. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 361, Bl. 122 – 123v. Auch Hassel, Geschichte, S. 126. 130 Siehe Immediatbericht Schöler, St. Petersburg, 12. 1. 1808 und Schöler an Goltz, St. Petersburg, 14. 1. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 92, 93, S. 397 f. Ebd., S. 128. 131 Siehe Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Königsberg, 10. 2. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 587, S. 646 f. 132 Die Friedensvollziehungskommission resignierte frühzeitig. Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 21. und 28. 2. 1808. GStA PK, MdA, I, Nr. 361, Bl. 82 – 84v, 112 – 114v. 133 Siehe Promemoria Stein, (Königsberg), 18. 2. 1808. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 361, Bl. 70 – 71v. Hassel, Geschichte, S. 125 – 127. Haußherr, Erfüllung, S. 178. Stein hatte schon im Dezember 1807 vorgeschlagen, persönlich zu unterhandeln. Siehe Immediatbericht Stein, Memel, 28. 12. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 521, S. 599. 134 Zu den Verhandlungen zwischen Stein und Daru siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 6. und 13. 3. 1808. GStA PK, III. HA, I, Nr. 361, Bl. 122 – 123v, 134 – 136v. Hier auch der Konventionsentwurf in Abschrift (Bl. 138 – 140v). Siehe auch die Note Stein an Daru (Berlin, 9. 3. 1808) sowie „Plan einer Konvention zur Befriedigung der französischen Forderungen“, (Berlin, 9. 3. 1808). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 624, 625, S. 677 f. Sowie Hassel, Geschichte, S. 127 – 132. Lesage, Napoléon, S. 156 – 160, 163 f. Haußherr, Erfüllung, S. 180 – 183. Ritter, Stein, S. 320 f.
I. Die Diplomatie
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matums die seit dem 12. Juli 1807 geleisteten Zahlungen von den ursprünglich geforderten 154 Mio. Francs ab. Als Sicherheit für den verbliebenen Betrag bot er kaufmännische Wechsel im Wert von 50 Mio. Francs und weitere 50 Mio. in Domänenpfandbriefen an. Die Forderung nach den drei Oderfestungen akzeptierte er grundsätzlich, doch wollte er deren Besatzung auf 9000 Mann beschränken. Der Ausgleich zwischen Preußen und den ehemaligen Provinzen wegen der Liquidation gegenseitiger Schulden sollte von der Konvention ausgenommen und bilateralen Einigungen vorbehalten bleiben. Da auch Daru einen raschen Abschluss wünschte, ging er auf die preußischen Vorschläge ein. Sogleich wurde der von beiden Seiten gebilligte Konventionsentwurf nach Paris geschickt, um dort die Genehmigung Napoleons zu erhalten. Bis zum Eintreffen einer Antwort bemühten sich Stein und sein Begleiter Staegemann, die erforderlichen Wechsel aufzubringen. Es gelang ihnen, die vier bedeutendsten Berliner Bankiers zur Zeichnung von 15 Mio. Francs zu bewegen; den Rest brachten die Kaufmannschaften von Stettin, Breslau, Elbing, Memel und Königsberg auf. Zur Bezahlung der ersten Wechselraten plante Stein, auf die königlichen Juwelen, das königliche Service, staatliche Fonds und die laufenden Staatseinnahmen zurückgreifen zu können.135 Doch in den folgenden Wochen wartete Stein vergeblich auf eine Entscheidung aus Paris.136 Im Mai war sein Verbleib in der Hauptstadt schließlich gänzlich unmöglich geworden, als ihn die drängende Finanznot des Staats und Kabalen am Hof zur Rückreise nach Königsberg zwangen.137 Auch er musste letztendlich einsehen, dass es außerhalb der Möglichkeiten Preußens lag, zu einem schnellen und halbwegs akzeptablen Abschluss in den Friedensvollziehungsverhandlungen zu gelangen. Erst Geschehnisse am anderen Ende Europas brachten wieder Bewegung in die Verhandlungen. In Spanien war eine Erhebung gegen die französische Armee ausgebrochen. Ende Juli 1808 kapitulierte sogar ein französisches Korps bei Bailén vor den spanischen Aufständischen138 – es war die erste größere Niederlage der französischen Armee seit dem Herrschaftsantritt Napoleons. Plötzlich wurden die in Preußen stehenden Truppen dringend auf der Iberischen Halbinsel benötigt, so dass Napoleon schon am 21. Juli Caulaincourt informierte, zeitnah eine Konvention mit 135 Siehe Immediatbericht Stein, Berlin, 26. 4. 1808. Stein an Altenstein, Berlin, 29. 4. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 680, 685, S. 713, 721 f. Pertz, Stein, Bd. 2, S. 107. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 234 – 240. Haußherr, Erfüllung, S. 184 – 188. Die Wechsel wurden wie folgt verteilt: Breslau 15 Mio., Königsberg 12 Mio., Memel und Elbing jeweils 3 Mio., Stettin 3 Mio. Francs. Im Ganzen kamen also etwas mehr, nämlich 53 Mio. Francs, zusammen. 136 Napoleon hatte nur zentrale Bestimmungen des Vertrags abgelehnt, aber keine endgültige Absage erteilt. Siehe Napoleon an Daru, St. Cloud, 27. 3. 1808. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 8, Nr. 17505, S. 315. Daru an Stein, Berlin, 5. 4. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 658, S. 695 f. Auch Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 240. 137 Siehe hierzu Friedrich Wilhelm an Stein, Königsberg, 15. 5. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 699, S. 734. 138 Siehe hierzu Wahl, Geschichte, S. 181. Andreas, Zeitalter, S. 379 – 385, 388 f. Schroeder, Transformation, S. 337 – 346.
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C. Die Wahrung der äußeren Souveränität
Preußen abschließen zu wollen.139 Die Zeit drängte auch deshalb, weil Napoleon den Zaren auf der bevorstehenden Begegnung beider Herrscher in Erfurt vor vollendete Tatsachen zu stellen gedachte.140 Als die Nachricht von der französischen Niederlage die preußische Führung erreichte, veranlasste dies Stein, umgehend vom bislang verfolgten vorsichtigen Erfüllungskurs abzurücken. Unverzüglich erging eine Kabinettsorder an Prinz Wilhelm, worin er aufgefordert wurde, dem taumelnden französischen Riesen erneut eine Allianz anzubieten. Das Bündnis sollte zu möglichst vorteilhaften Bedingungen geschlossen und im Gegenzug die Kontributionssumme idealerweise vollständig gestrichen werden.141 Insgeheim hatte Stein allerdings nicht vor, sich an die Abmachungen zu halten. Seit Anfang des Sommers 1808 kursierten im Umfeld des Königs Pläne für einen Krieg gegen Frankreich, die Stein zu Beginn lebhaft unterstützte. Die nötigen Vorbereitungen wollte er durch das Bündnis verschleiern.142 Bevor Napoleon aber bereit war, überhaupt über das preußische Bündnisangebot zu verhandeln, verlangte er, dass Preußen einen neuen Konventionsentwurf annahm, den Champagny am 19. August vorlegte. Die bereits geleisteten Kontributionszahlungen der Provinzen und die eingezogenen Revenuen wurden darin nicht in Anrechnung gebracht. Außerdem wurde der Umfang der Festungsbesatzungen höher taxiert als in der älteren Abmachung zwischen Stein und Daru. Schwer musste es aus preußischer Sicht zudem wiegen, dass Napoleon die militärische Kontrolle über Preußen noch weiter ausbauen wollte. So sollten die Festungen nach den Plänen des Kaisers mit den angrenzenden Rheinbundstaaten durch ein Netz von Militärstraßen verbunden werden. Dass auch noch die preußische Armee auf 42 000 Mann reduziert werden musste, machte den französischen Vertragsentwurf vollends unannehmbar. Wilhelm und seine Berater wiesen das französische Angebot dementsprechend brüsk zurück. Sie glaubten ebenso wie Stein, dass Frankreich zu einer Einigung gezwungen sei und bessere Bedingungen daher leicht erreicht werden konnten. Ausdrücklich forderte Stein vom Prinzen, dass Frankreich in eine massive Reduzierung der Kontributionen willigen müsse, während an eine Allianz überhaupt nicht mehr zu denken sei.143 Da Napoleon aber keine Anstalten machte nachzugeben, befanden sich die Verhandlungen bald wieder in einer Sackgasse.144 139 Siehe Napoleon an Caulaincourt, Bayonne, 21. 7. 1808. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 8, Nr. 18628, S. 913. Bald erging auch der Befehl zum Rückzug an die französischen Armeekorps in Preußen. Siehe hierzu Tatistcheff, Alexandre, S. 427 – 430. 140 Siehe Ritter, Stein, S. 347. 141 Siehe Kabinettsorder an Wilhelm, Königsberg, 12. 8. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 170, S. 470 – 473. 142 Siehe Denkschrift Stein, Königsberg, 11. 8. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 776, S. 808 – 812. Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 329 – 337. Die Aufstandspläne werden in Kap. C. II. ausführlich dargestellt. 143 Siehe Kabinettsorder an Wilhelm, Königsberg, 25. 8. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 176, S. 478. 144 Siehe Immediatbericht Wilhelm, Paris, 2. 9. 1808. Ebd., Nr. 177, S. 478 – 484.
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Eine Veränderung brachte erst ein Brief Steins, der in die Hände der Franzosen gefallen war. Stein hatte darin dem Fürsten zu Sayn-Wittgenstein detailliert über seine Aufstandspläne berichtet.145 Die preußische Politik war nun kompromittiert, denn dies war der Beleg dafür, dass die Vertrauensbeweise an die Adresse Napoleons nicht ehrlich waren. Hätte Napoleon unter diesen Umständen erneut den Krieg gegen Preußen eröffnet, so hätte der Zar angesichts der offensichtlichen Vertragsbrüchigkeit der Preußen nur schwer die Möglichkeit gehabt, dagegen zu intervenieren.146 Wilhelm und Brockhausen gaben vor diesem Hintergrund ihren Widerstand auf und unterzeichneten ohne vorherige Rücksprache mit Stein und dem König am 8. September einen Vertrag, der vollständig den Wünschen Napoleons entsprach.147 Preußen verpflichtet sich zur Zahlungen von 140 Mio. Francs.148 Die Hälfte der Summe sollte entweder in barem Geld oder in akzeptierten Wechseln bezahlt werden, die mit monatlich sechs Mio. Francs zu tilgen waren. Weitere 70 Mio. Francs mussten in Domänenpfandbriefen zur Verfügung gestellt werden, die zwölf bis 18 Monate nach der Ratifikation fällig wurden. Nach den Bestimmungen des Vertrags behielt Frankreich bis zur vollständig Tilgung der Kontributionen die Kontrolle über die drei Oderfestungen Küstrin, Stettin und Glogau, wobei letztere geräumt werden sollte, wenn die Hälfte der Summe gezahlt war. Die Zahl der Besatzungstruppen wurde auf insgesamt 10 000 Mann beschränkt; für deren Verpflegung hatte die preußische Regierung ebenso aufzukommen wie für den Großteil des Belagerungsproviants für sechs Monate. Des Weiteren erhielt Frankreich nun auch das Recht, auf mehreren Verbindungsstraßen, die zwischen den Festungen und von dort nach Stralsund, Magdeburg, Danzig und Kalisch verliefen, Truppen zu bewegen. Dafür, dass Preußen diese harten Bedingungen annahm, flossen immerhin die Einkünfte in den besetzten Gebieten ab dem Tag der Unterzeichnung wieder in die Kassen des Königs. Die Räumung sollte zwar 30 bis 40 Tage nach der Ratifikation des Vertrags erfolgen, doch blieb der preußische Staat auch danach von Frankreich weitestgehend abhängig.149 Die Unerfüllbarkeit der Kontributionsforderung bot Napoleon einen geeigneten Vorwand, um bei einer Veränderung der politischen Lage jederzeit das 145 Der Brief im französischen Original und in deutscher Übersetzung abgedruckt in Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 779 und 780, S. 813 – 818. 146 Siehe hierzu Immediatbericht Brockhausen, Paris, 9. und 16. 9. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 204, 205, S. 508 – 511. 147 Zu den Verhandlungen in Paris im August und September 1808 sowie zu deren Hintergründen siehe Brockhusen, Brockhausen, S. 148 – 157. Hassel, Geschichte, S. 237 – 247. Lesage, Napoléon, S. 175 – 187. Haußherr, Erfüllung, S. 212 – 217. Ritter, Stein, S. 342 – 347. Zur Briefaffäre siehe auch Richard C. Raack, The Fall of Stein, Cambridge 1965, S. 47 – 67. Voß, Neunundsechzig Jahre, S. 338. Raumer betonte zu Recht, dass der Brief allein nicht ausschlaggebend für das Zustandekommen des Pariser Vertrags war. Siehe Raumer, Deutschland, S. 419. Zur Reaktion Napoleons siehe Napoleon an Soult, Saint-Cloud, 4. 9. 1808. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 8, Nr. 18826, S. 1032. 148 Der Vertrag in Clercq, Recueil, Bd. 2, S. 270 – 273. 149 Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 217 f.
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Königsreich entweder rasch wieder zu besetzen, oder aber zu neuen Zugeständnissen zu zwingen.150 Die fortwährende Kontrolle über die Festungen sicherte Frankreich jene militärische Vormachtstellung, die Napoleon unbedingt verlangt hatte. Dabei war das preußische militärische Potenzial durch den Vertrag ohnehin auf ein Minimum herabgesunken, schließlich erzwangen die Kontributionszahlungen eine Sparpolitik, die auch vor dem Heeresetat nicht Halt machen konnte. Außerdem bestimmten die Separatartikel, dass die preußische Armee in den nächsten zehn Jahren den Umfang von 42 000 Soldaten nicht überschreiten durfte; detailliert wurde selbst der Umfang der einzelnen Truppenteile bestimmt.151 Um zugleich eine Mobilisierung der Massen zu verhindern, wurde es dem preußischen König untersagt, eine Miliz oder Bürgergarde zu formieren. Zu guter Letzt wurde die so arg beschränkte preußische Armee direkt in die militärischen Absichten Napoleons eingebunden: Im Falle eines Kriegs zwischen Frankreich und Österreich hatte Preußen im Jahr 1809 ein Hilfskorps von 12 000, in den darauffolgenden neun Jahren eines von 16 000 Mann zu stellen. Die festgeschriebene Reduktion der Armee stellte genauso einen schwerwiegenden Eingriff in die preußische Souveränität dar wie der vierte Separatartikel des Pariser Vertrags,152 wonach es dem König nicht gestattet war, Personen in seinen Dienst zu nehmen, die in den abgetretenen Gebieten begütert waren. Auch wenn diese Bestimmung ihre Wirkung verfehlte, da Stein nicht, wie von Napoleon vermutet, zu diesem Personenkreis zählte, war dies doch eine nicht unerhebliche Beschränkung der souveränen Herrschaft des Königs. Schon Bodin hatte die freie Entscheidung über die Ein- und Absetzung der höchsten Beamten zu einem zentralen Souveränitätsrecht erklärt.153 Als kleiner Erfolg der preußischen Seite konnte es hingegen gewertet werden, dass eine Regelung der finanziellen Ansprüche, welche die abgetretenen Provinzen gegenüber Preußen erhoben, einer gesonderten Vereinbarung vorbehalten blieb. 150 Scharnhorst sprach von Napoleons „anscheinend legalen Anspruch auf die preussischen Länder“. Scharnhorst an Decken, Königsberg, 26. 9. 1808. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 159, S. 249. Knesebeck beurteilte später den Pariser Vertrag in einem Memoire (s. l., 23. 3. 1809) an den König ganz ähnlich. Siehe Alfred Stern, Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit 1807 – 1815, Leipzig 1885, S. 52. Haußherr bezifferte den finanziellen Gesamtverlust, der Preußen durch die Bestimmungen des Septembervertrags entstand, auf 310 Mio. Francs. Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 219 f. 151 Später mutmaßte Boyen, der überproportionale Anteil der Artillerie, welcher der preußischen Armee vorgeschrieben wurde, habe Napoleon schon in Hinsicht auf die Bedürfnisse seiner Armee im Russlandfeldzug gefordert. Siehe Boyen, Erinnerungen, S. 326. Zu den Folgen der Heeresreduktion siehe auch Olaf Jessen, „Preußens Napoleon“? Ernst von Rüchel 1754 – 1823. Krieg im Zeitalter der Vernunft, Paderborn 2007, S. 320. 152 Auch Hubatsch erkannte in der erzwungenen Abrüstung einen schwerwiegenden Eingriff in die Souveränität Preußens. Siehe Walther Hubatsch, Abrüstung und Heeresreform in Preußen von 1807 – 1861, in: Heinrich Bodensieck (Hrsg.), Preußen, Deutschland und der Westen. Auseinandersetzungen und Beziehungen seit 1789. Zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Oswald Hauser, Göttingen/Zürich 1980, S. 39 – 61, hier S. 39 f. 153 Siehe Quaritsch, Staat, S. 256.
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Allerdings musste Friedrich Wilhelm auf die Forderungen, die im königlichen Namen an Privatpersonen im Herzogtum Warschau gestellt wurden (also die „Südpreußische Hypotheken“), verzichten. Zu einem umfassenderen Ausgleich ist es bis zum Ausbruch der Befreiungskriege allerdings nicht mehr gekommen. Nach der Unterzeichnung verblieb Friedrich Wilhelm eine Frist von 30 bis 40 Tagen, um den Vertrag zu ratifizieren. Trotz der politisch und militärisch aussichtslosen Lage lehnte Stein dies entschieden ab und forderte stattdessen zusammen mit einigen gleichgesinnten Beamten und Militärs die Kriegserklärung an Frankreich.154 Doch nach den Erfahrungen des letzten Kriegs, zu dem er sich von seinem Umfeld hatte drängen lassen, war der König für solche Gedanken nicht zu haben. Ohne Rücksprache mit Stein beauftragte er deshalb Goltz, nach Erfurt zu reisen, um nach einem erneuten Versuch, mildere Bedingungen zu erhalten, die Ratifikationsurkunden auszutauschen.155 Noch bevor dies geschah, hatte sich Stein wieder von der Idee eines sofortigen Aufstands distanziert. Sollte die Ratifikation erfolgen, so sein Kalkül, dann würde der Ausbruch des bald zu erwartenden Kriegs zwischen Frankreich und Österreich eine günstigere Gelegenheit bieten, um sich auf kriegerischem Weg von den Bedingungen des Vertrags loszusagen.156 Das schon seit dem Frühjahr geplante Treffen zwischen Napoleon und dem Zaren in Erfurt sollte die bestehenden Differenzen ausräumen und die Allianz von Tilsit vertiefen.157 In dem kaiserlichen „domaine réservé“, wo sich die Rheinbundfürsten sowie die Vertreter Österreichs und Preußens einfanden, sollte vor allem aber auch Napoleons Macht demonstriert werden. Jeden Eindruck der Schwäche, der durch die spanischen Ereignisse entstanden sein mochte, wollte Napoleon beseitigen. Der Zar wusste allerdings sehr genau, in welcher bedrängten Lage sich der Kaiser befand. Er erwartete daher von dem Aufeinandertreffen, die eigenen Interessen gegenüber dem geschwächten Alliierten durchsetzen zu können – was auch geschah. Um Ruhe im Osten herzustellen, musste Napoleon Entgegenkommen gegenüber Alexander zeigen und sich mit dem Erwerb der Donaufürstentümer durch das Zarenreich einverstanden erklären. Russland sollte aber von einem noch weiteren Vorstoß in Richtung Konstantinopel abgelenkt werden. Deshalb bot Napoleon dem Zaren überdies die Annexion Finnlands an, die er sogar militärisch zu unterstützen versprach. In einem neuen Allianzvertrag gab Alexander am 12. Oktober sein Einverständnis zu diesen Plänen.158 Im Gegenzug garantierte der Zar die Integrität des Osmanischen Reiches, akzeptierte den Status quo in Spanien sowie Italien und sicherte bei Ausbruch eines Kriegs zwischen Frankreich und Österreich Unterstützung 154
Siehe hierzu Haußherr, Erfüllung, S. 223. Siehe Kabinettsorder an Goltz, Königsberg, 29. 9. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 410. 156 Siehe Denkschrift Stein (Königsberg, 18.9.08). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 821, S. 861 – 863. 157 Siehe Scharf, Rußlands Politik, S. 181 f. 158 Der Vertrag in Clercq, Recueil, Bd. 2, S. 284 – 286. 155
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zu. Des Weiteren einigte man sich darauf, einen Frieden mit England nur auf der Basis des uti possidetis schließen zu wollen. Dass sich Napoleon auch dazu bereit erklärte, die eigenen Truppen aus Deutschland und dem Herzogtum Warschau abzuziehen, mag ihn als Verlierer des Treffens von Erfurt erscheinen lassen. Die umfassende Verfügungsgewalt über Preußen, die im Pariser Vertrag fixiert worden war, akzeptierte der Zar jedoch nahezu vorbehaltlos. Alexander erreichte nur eine geringe Reduktion der Kontributionssumme um 20 Mio. Francs auf 120 Mio. Francs und eine Verlängerung der Zahlungsfristen von 18 Monaten auf drei Jahre. Dafür verzichtete er allerdings auf die Umsetzung eines Zusatzartikels des Tilsiter Friedensvertrags, der Preußen eine Entschädigung links der Elbe versprach, sollte Hannover zu einem dauerhaften Bestandteil des Westphälischen Königreichs werden.159 Napoleon erreichte unter den gegebenen Umständen also recht viel und wahrte sich ein Höchstmaß an politischer Bewegungsfreiheit, während die russischen Erfolge nur einem Sieg auf Zeit glichen. Selbst die Donaufürstentümer entglitten der russischen Herrschaft wieder. Im definitiven Frieden mit dem Osmanischen Reich, der 1812 in Bukarest geschlossen wurde, musste sich Russland allein mit dem Gewinn von Bessarabien zufriedengeben.160 Wie in Tilsit wurden die preußischen Angelegenheiten auch in Erfurt zwischen dem französischen Kaiser und dem russischen Zaren geregelt. Die Versuche von Goltz, deutliche Modifikationen des Pariser Vertrags zu erreichen, hatten daher keine Aussicht auf Erfolg.161 Alexander drängte Goltz zur bedingungslosen Annahme des Pariser Vertrags, damit die auch aus russischer Sicht störende Besetzung Preußens ein Ende haben würde.162 Am 8. Oktober tauschte Goltz die Ratifikationsurkunden aus.163 Die Versicherung Napoleons, dass er beabsichtige, nun eine echte Freundschaft mit Preußen anzustreben, war nur ein schwacher Trost.164 Die Allianz mit Frankreich, zu deren getreulichen Erfüllung der Zar riet,165 war kaum mehr als eine Zwangsehe mit einem ungeliebten Partner. 159 Siehe hierzu Alexander an Friedrich Wilhelm, Weimar, 14. 10. 1808. Bailleu, Briefwechsel, Nr. 167, S. 180 f. Alexander an Napoleon, Erfurt, 14. 10. 1808. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 8, Nr. 19058, S. 1134. 160 Siehe Scharf, Rußlands Politik, S. 216. 161 Siehe unter anderem Immediatbericht Goltz, Erfurt, 7. 10. 1808. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 410. 162 Siehe Hassel, Geschichte, S. 275 f. 163 Zu den Verhandlungen im Vorfeld und auf dem „Fürstentag“ selbst siehe die Memoranda und Schreiben der preußischen Delegation in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 409. Auch Sorel, Révolution, S. 312 – 322. Haußherr, Erfüllung, S. 220 – 228. Scharf, Rußlands Politik, S. 211 – 221. 164 Siehe Immediatbericht Goltz, Erfurt, 9. 10. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 410. Ähnlich äußerte sich Napoleon gegenüber Wilhelm und Brockhausen. Immediatbericht Wilhelm, Paris, 15. 9. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 179, S. 489 – 492. Brockhusen, Brockhausen, S. 159. 165 Siehe Pertz, Stein, S. 261 f.
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Die Beziehungen zwischen Russland und Frankreich blieben aber auch nach der „Entrevue“ von Erfurt spannungsreich. Für einen echten Ausgleich hätten beide Seiten die Erfolge des anderen akzeptieren müssen, doch dazu war weder Alexander noch Napoleon bereit. Der Kaiser unterließ es, aktiv den russischen Feldzug gegen Schweden, der 1808 eröffnet wurde, zu unterstützen. Gleichzeitig forderte er die Hohe Pforte zur Entschlossenheit gegenüber Russland auf.166 Wie groß das Misstrauen zwischen den beiden Mächten tatsächlich war, beweist auch die Weigerung Alexanders, einer Hochzeit seiner Schwester Katharina mit Napoleon zuzustimmen.167 Preußen verschafften die Entscheidungen von Erfurt immerhin Klarheit in den Friedensvollziehungsangelegenheiten. Noch in Erfurt begannen Goltz und Daru, über die noch offenen Fragen der Kontributionszahlungen zu verhandeln. Daru signalisierte sogleich sein Entgegenkommen.168 Es dauerte aber bis zum 5. November, bis man sich in Berlin endgültig auf die Details verständigte.169 Die Ermäßigung um 20 Mio. Francs, die der Zar durchgesetzt hatte, wurde nicht auf die monatlich zu zahlenden Raten umgelegt, so wie von Daru in Aussicht gestellt und von preußischer Seite gewünscht, sondern es wurde die Zahlungsphase entsprechend auf 30 Monate verkürzt. Preußen hatte folglich jeden Monat vier Mio. Francs in bar an Frankreich zu überweisen. Eine Erleichterung war es immerhin, dass der Vertrag Preußen die Möglichkeit einräumte, die Summe je zur Hälfte in Francs, die in Paris einzuwechseln waren, und in Kurantgeld in Magdeburg zu begleichen; so wurden der Kursverlust und die Wechselkosten gemindert. Doch dieser Vorteil wurde sogleich wieder zunichte gemacht, denn die Konvention sah auch vor, dass die noch nicht eingelösten Domänenpfandbriefe zu 4 % verzinst werden sollten. Als Sicherheit für diese noch auszustellenden Pfandbriefe hatte Goltz noch am Morgen der Unterzeichnung ständische Obligation über 70 Mio. Francs zusammen mit den geforderten Wechseln im Wert von 50 Mio. Francs an Daru ausgehändigt.170 Die Übergabe der Zivilverwaltung und der Kassen sollte zum 18. November, die vollständige Räumung des preußischen Königsreichs bis zum 5. Dezember 1808 erfolgen. Es war einer der letzten Aufgaben des neuen Präsidenten der Friedens166
Siehe Hassel, Geschichte, S. 279. Siehe hierzu Andreas, Zeitalter, S. 387 f. 168 Siehe Immediatbericht Goltz, Erfurt, 25. 10. 1808, Konzept, abgeg. 16.10. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 410. Haußherr, Erfüllung, S. 231 f. 169 Der Vertrag als Druck in Französisch und in deutscher Übersetzung in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 335, Bl. 25 – 27. 170 Zu den Verhandlungen in Berlin siehe den Schriftwechsel in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 409, Bl. 70 – 166. Außerdem Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 554 – 556. Lesage, Napoléon, S. 205 – 208. Haußherr, Erfüllung, S. 233 – 234, 236. Treue, Technikgeschichte, S. 230 f. Letzterer mit den Details der Aufbringung der Wechsel. Es wurden von vier Berliner Bankhäusern 12 Mio., von den schlesischen Kaufmannschaften 15 Mio., von der Königsberger Kaufmannshaft 12 Mio., von der Elbinger 3 Mio., von der Memeler 3 Mio., von der Stettiner 2 Mio. und von der Frankfurter (O.) 3 Mio. Francs aufgebracht. Speziell zu den schlesischen Wechseln siehe Linke, Merckel, S. 41 – 68. 167
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vollziehungskommission Otto Carl Friedrich v. Voß, eine Einigung über die Höhe der zwischen dem 8. September, dem Tag der Unterzeichnung des Pariser Vertrags, und dem 18. November von Frankreich eingezogenen Einkünfte zu erreichen, die auf die erste Kontributionsrate angerechnet werden konnten.171 Mit Ende dieses Auftrags wurde am 16. Dezember 1808 auch die Auflösung der Friedensvollziehungskommission befohlen.172 Bis zum Februar 1809 wurden weitere Konventionen zwischen Frankreich und Preußen zu den Ausführungsmodalitäten des Pariser Vertrags geschlossen.173 Neben der Versorgung französischer Lazarette und der Verpflegung der Festungen regelten diese vorwiegend Einzelheiten in Bezug auf die französischen Verbindungsstraßen. Der Pariser Vertrag berechtigte Frankreich, in regelmäßigen Abständen Korrespondenzposten auf diesen Straßen zu unterhalten, deren Personal von Preußen verpflegt und untergebracht werden musste.174 In einer am 29. November 1808 unterzeichneten Übereinkunft wurden diese französischen Posten ausdrücklich der Gerichtsbarkeit und „Policey“ der Landesbehörden entzogen, wodurch ihnen ein ähnlicher extraterritorialer Status wie den sächsischen Poststationen zukam.175
2. Der Zwang zur Vertragserfüllung und das Scheitern des Ministeriums Dohna-Altenstein (1809 – 1810) Es dauerte bis Mitte Dezember 1808, bis die französischen Truppen Preußen vollständig geräumt hatten. Im Vorfeld drängten die französischen Besatzungsbehörden ein letztes Mal zur Erhebung der geforderten Verpflegungssätze, ohne dass es aber zu bedeutenden Zwischenfällen gekommen wäre.176 Schließlich konnten am 10. Dezember die ersten preußischen Soldaten feierlich in Berlin einziehen. Die Truppen wurden, wie in anderen preußischen Städten auch,177 mit großem Jubel
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Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 563 – 565. Siehe Kabinettsorder an die Friedensvollziehungskommission, Königsberg, 16. 12. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 276, Bl. 66. 173 Insgesamt waren es sechs. Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 567 f. Die Verträge als Druck in Französisch und in deutscher Übersetzung in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 335, Bl. 31 – 54v. 174 Zu den Konventionen vom 12. 11. 1808 und 22. 2. 1809, die die Etappenstraßen betrafen, siehe Duncker, Eine Milliarde, S. 533. 175 Nach Art. 4. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 335, Bl. 43v. 176 Siehe Immediatbericht Voß, Berlin, 20. 11. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 321, S. 1063. Über den Abzug aus Westpreußen berichtete Dohna in GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 345. 177 Über den Einzug in Breslau berichtete Franz Wiedemann (Hrsg.), Breslau in der Franzosenzeit 1806 – 1808. Aufzeichnungen von Dr. med. Friedrich Gotthilf Friese (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau, 8), Breslau 1906, S. 254 f. 172
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empfangen.178 Trotz der finanziellen Notlage der Stadt wurde ihnen zu Ehren ein Gastmahl veranstaltet. In Berlin bereitete man sich auch auf die baldige Rückkehr des Königs vor.179 Friedrich Wilhelm war noch im Januar zu einer Reise nach St. Petersburg aufgebrochen, deren politische Hintergründe, sofern es überhaupt welche gab, bis heute unbekannt sind.180 Womöglich hatte der Zar das Königspaar eingeladen, um den königlichen Hof angesichts der jüngsten Entwicklungen, die sehr zu Ungunsten Preußens ausgefallen waren, zu beruhigen. In jedem Fall vertiefte dieser Besuch wieder das persönliche Band zwischen beiden Höfen. Nach seiner Rückreise aus Russland machte der König jedoch keine Anstalten, wieder in die preußische Hauptstadt zurückzukehren. Keineswegs waren es nur persönliche Motive, die dafür den Ausschlag gaben, denn es sprachen gute Gründe für den weiteren Verbleib des Hofs und der Zentralbehörden in Königsberg.181 In Berlin wäre es für Napoleon ein Leichtes gewesen, sich bei einer Wiederbesetzung des Landes oder gar bei Ausbruch eines erneuten Kriegs der Person des Königs zu bemächtigen; erst Recht, da wegen der Besetzung Küstrins eine erneute Flucht des Hofs in Richtung Osten nur schwer möglich war. Der König hätte in Berlin buchstäblich in der Falle gesessen, worunter die politische Handlungsfreiheit des gesamten Staats gelitten hätte.182 Das Schicksal des spanischen Königs, der von Napoleon in Bayonne festgesetzt worden war, war ein mahnendes Beispiel dafür, welche Folgen es im 19. Jahrhundert für ein Staatswesen haben konnte, wenn der Monarch in die Hand einer fremden Macht geriet. Nicht umsonst sollte 1813 die Verlegung des Hofes von Berlin in das sichere Breslau der Kriegserklärung an Frankreich vorangehen. 178
Beguelin an Gneisenau, Berlin, 10. 12. 1808. Albert Pick (Hrsg.), Aus der Zeit der Noth 1806 bis 1815. Schilderungen zur Preußischen Geschichte aus dem brieflichen Nachlass des Feldmarschalls Neidhardt von Gneisenau, Berlin 1900, S. 129. „Extrait d‘un rapport particulier de Berlin en date du 14 décembre 1808“, Berlin, 14. 12. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 140, S. 320. Graf Friedrich Waldersee an Leopold v. Gerlach, Berlin, 15. 12. 1808. Hans Joachim Schoeps (Hrsg.), Aus den Jahren preussischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805 – 1820, Berlin 1963, Nr. 52, S. 366 f. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 726 – 730. Voß, Neunundsechzig Jahre, S. 341. 179 Siehe Granier, Franzosenzeit, S. 319. Auch Staegemann erwartete seine baldige Rückkehr nach Berlin. Siehe Staegemann an seine Frau, Königsberg, 31. 1. 1809. Rühl, Briefe, Bd. 4, Nr. 98, S. 114. 180 Über die Reise berichtete die Königin in einem Tagebuch abgedruckt in Rothkirch, Königin, S. 453 – 473. Siehe hierzu Stamm-Kuhlmann, König, S. 298. Auch Voß, Neunundsechzig Jahre, S. 341 – 353. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 339 f. Tatistcheff, Alexandre, S. 462 f. Stein war ein entschiedener Gegner dieser Reise. Siehe Denkschrift Stein, (Königsberg), 22. 11. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 903, S. 979 – 981. 181 So die Vermutungen im Umfeld des Königs, die Stamm-Kuhlmann, König, S. 297 aufgriff. 182 Der König selbst wies auf die Gefahren hin, die sich aus einem Aufenthalt in Berlin ergeben würden. Siehe Stamm-Kuhlmann, König, S. 298.
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Stein hatte an der Entscheidung zum Verbleib in Königsberg keinen wesentlichen Anteil mehr. Nach mehreren Demissionsgesuchen entließ ihn der König am 24. November.183 Seit der Unterzeichnung des Pariser Vertrags war seine Stellung zusehends schwächer geworden. Angesichts der außenpolitischen Misere war die Gruppe derjenigen, die auf eine Absetzung Steins drängten, gewachsen. Seinen Gegnern diente besonders die Tatsache als Argument, dass Stein seit der Veröffentlichung des Briefs an Wittgenstein als Feind Napoleons desavouiert war.184 Befürworter des engen Anschlusses an Frankreich nutzten ihre Kontakte, um Stein überdies bei den französischen Besatzungsbehörden weiter zu diskreditieren.185 Dabei hatte Napoleon sein Urteil über Stein auch ohne die Intrigen in Berlin längst gefällt. Schon im September äußerte er gegenüber Soult die Absicht, die Güter Steins beschlagnahmen zu wollen. Der König solle seinen Minister davonjagen, forderte er.186 Am 16. Dezember entschloss er sich zu einer weitaus härteren Maßnahme, die ohne Beispiel in den Jahrzehnten vor der Revolution war. Er erklärte „le nommé Stein“ faktisch für vogelfrei. Stein sei ein Gegner Frankreichs und des Rheinbundes, hieß es in dem Ächtungsdekret, das Napoleon von Madrid aus erließ. Deshalb sei er gefangen zu nehmen, sobald er in die Hände der französischen Armee oder ihrer Verbündeten falle.187 Der Stein-Biograph Gerhard Ritter nannte das Dekret, eine „förmliche Kriegserklärung gegen ein einzelnes Individuum“ und ein „höchst auffallender, den Gewohnheiten der damaligen Diplomatie durchaus zuwiderlaufender Schritt“.188 Ernst Rudolf Huber erkannte die noch größere, staatsrechtliche Dimension der Ächtung. Da das Dekret den Staatsbürger eines fremden Landes traf und auf keinem Rechtstitel basierte, stelle es nichts anderes als einen „politische[n] Übergriff in einen fremden Herrschaftsbereich“ dar.189 Ähnlich wie die Erschießung des Grafen Enghien und des Buchhändlers Palm lag auch die Ächtung Steins in der Logik einer hegemonialen Machtausdehnung, die keinen Halt vor der Integrität fremder Herrschaftssphären machte.
183 Siehe Kabinettsorder an Stein, Königsberg, 24. 11. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 909, S. 988 – 992. 184 Siehe beispielsweise Immediatbericht Voß, Berlin, 14./15. 11. 1808. Ebd., Nr. 898, S. 939 – 944. Zu den Hintergründen des Sturzes von Stein und zu seiner Flucht nach Böhmen siehe u. a. Ritter, Stein, S. 346 – 365. Raack, Fall, S. 26 – 45, 78 – 142 und passim. Peter G. Thielen, Karl August von Hardenberg 1750 – 1822. Eine Biographie, Köln/Berlin 1967, S. 228 – 230. Stamm-Kuhlmann, König, S. 291 – 295. 185 Siehe Staegemann an Stein, Berlin, 7. 11. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 886, S. 923. Auch Sack an Stein, Berlin, 23.11. und 26. 11. 1808. Ebd., Nr. 906, 913, S. 985, 994 – 996. 186 Siehe Napoleon an Soult, Saint-Cloud, 10. 9. 1808. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 8, Nr. 18884, S. 1062. 187 Siehe Napoleon an Champagny samt dem Anhang „L‘ordre de l‘armée“, Madrid, 16. 12. 1808. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 8, Nr. 19541, S. 1338. 188 Ritter, Stein, S. 362. 189 Siehe Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 118, das Zitat ebd.
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Hilfe erhielt Stein ausgerechnet vom neuen französischen Minister in Berlin, Antoine Graf de Saint Marsan (eigentlich Antonio Asinari Marchese di San Marzano), der über die Einhaltung der jüngst geschlossenen Verträge durch Preußen zu wachen hatte.190 Erst Saint Marsan ermöglichte mit seiner Warnung Stein die Flucht nach Böhmen. Die Berufung Saint Marsans nach Berlin war aus preußischer Sicht nicht nur deshalb ein Glücksfall. In der preußischen Hauptstadt wirkte er das ein oder andere Mal zum Vorteil Preußens, etwa wenn er gegenüber Champagny die Unerfüllbarkeit der Kontributionsforderungen beklagte oder sich als umgänglicher Verhandlungspartner erwies.191 Bis zur Annexion des Piemont durch Frankreich war der Turiner Berater und Kriegsminister des Königs von Sardinien. Erst nach langem Werben gelang es Napoleon 1805, Saint Marsan davon zu überzeugen, in seine Dienste zu treten. Der Marchese behielt jedoch eine gewisse Aversion gegenüber seinem alten Gegner und neuen Herrn.192 Die Flucht Steins brachte eine umfassende Neuorganisation der Verwaltungsspitze mit sich, auf die an anderer Stelle genauer einzugehen zu sein wird. Hier sei nur erwähnt, dass das „Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung“193 vom 16. Dezember 1808 die Einrichtung eines Finanz- und eines Innenministeriums anordnete. Danach existierten mit den Ministerien für Äußeres, Inneres, Finanzen und Justiz sowie dem Kriegsdepartement, das die Funktion eines Kriegsministeriums übernahm, faktisch fünf Fachministerien. Zusammengefasst als „Staats“- oder „Gesamtministerium“ bildeten diese den Ersatz für das aufgelöste Generaldirektorium. Eine bevorzugte Stellung hatten der neue Innenminister Friedrich zu Dohna-Schlobitten und Altenstein, der das Finanzministerium übernahm. Besonders Altenstein, der Intimus von Hardenberg, stand als Inhaber des Finanzressorts vor gewaltigen Herausforderungen.194 In einer akuten Krisenzeit erwies sich das Ministerium Dohna-Altenstein als zu schwach. „Es giebt (!) eigentlich gar keine Regierung, keine Kraft, keine Conse-
190 Siehe Napoleon an Champagny, Paris, 24. 1. 1809. Napoleon, Correspondance, Bd. 18, Nr. 14732, S. 237. Napoleon an Champagny, Paris, 1. 3. 1809. Ebd., Bd. 9, Nr. 20164, S. 125. 191 Siehe Lesage, Napoléon, S. 217. Thielen, Hardenberg, S. 251. 192 Zu Saint Marsan siehe Stern, Abhandlungen, S. 265 – 268. Lesage, Napoléon, S. 215. Haußherr, Hardenberg, S. 7 f. 193 Vollständig abgedruckt in Scheel, Interimsministerium, Nr. 25, S. 25 f. 194 Siehe hierzu Ernst von Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg, 2. Aufl., hrsg. v. Friedrich Thimme, München/Leipzig 1912, S. 165 f. Haußherr, Hardenberg, S. 14 – 28. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 151 f. Nur selten traten die Minister und die Departementchefs wirklich als „Staatsministerium“ zusammen. Siehe Hüffer, Kabinetsregierung, S. 429 f. Hömig sprach daher nicht zu Unrecht nur von „einer Art Gesamtministerium“. Siehe Herbert Hömig, Altenstein. Der preußische Kultusminister. Eine Biographie, Münster 2015, S. 88. Hier auch allgemein zur Funktionsweise des Ministeriums und zu Altensteins Person (S. 85 – 90).
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quenz, keine Einheit“195, beschrieb Wilhelm v. Humboldt in drastischen Worten die legislative und exekutive Schwäche der neuen Führung. Einer raschen Beschlussfassung und einer energischen Politik standen nicht nur die Persönlichkeiten der beiden führenden Minister entgegen; auch die strukturellen Defizite der neuen Verwaltungsordnung wirkten lähmend. So machte sich das Fehlen eines Premiers oder aber eines Staatsrats als Zentralorgane der politischen Entscheidungsfindung schnell bemerkbar. Zusätzlich schwächte die Machtverschiebung im Land zugunsten ständischer Institutionen die Zentralregierung, deren reformpolitische Agenda auf zunehmenden Widerstand stieß.196 Letztendlich wurde der Erfolg des neuen Ministeriums daran gemessen, ob es gelingen würde, die von Frankreich geforderten Kontributionsraten aufzubringen. Mit dem Pariser Vertrag ging die Verantwortung hierfür auch offiziell von den Provinzialständen unmittelbar auf den Staat über. Noch vor seiner Flucht nach Prag hatte Stein einen Plan für die Bezahlung der ersten Tranche aufgestellt, der jedoch einem Vergleich mit der Wirklichkeit nicht lange standhielt. Labaye, der in Berlin für die Aufbringung der Gelder zu sorgen hatte,197 gelang es allen Widrigkeiten zum Trotz, bis zum April 1809 die monatlichen Raten zusammenzutragen. Hierzu verwendete er zunächst kurzfristig verfügbares Kapital. So wurde beispielsweise das königliche Service in Hamburg für umgerechnet nur 1 Mio. Francs verkauft. Zwar griff man auch auf die Steuerkraft des von der Okkupation befreiten Landes zurück, aber zu keinem Zeitpunkt war man in der Lage, die monatlich fälligen vier Millionen Francs allein aus den laufenden Einnahmen zu bestreiten.198 Eine umfassende Finanzreform, die dies unter Umständen möglich gemacht hätte, unterblieb.199 Stattdessen begnügte sich Altenstein mit fiskalischen Einzelmaßregeln, deren erste eine Inlandanleihe war, die Altenstein am 27. Dezember 1807 in Höhe von einer Millionen Talern ausschrieb und mit einem Prämienzins versah. Die Anleihe fand in dem wirtschaftlich zerrütteten Land nur geringe Resonanz, so dass gerade einmal rund 3/4
195 W. v. Humboldt an Vincke, Königsberg, 30. 5. 1809. Wilhelm Richter (Hrsg.), Wilhelm von Humboldts politische Briefe (Gesammelte Schriften, 16), Berlin/Leipzig 1935/1936, 2 Bde., hier Bd. 1, Nr. 127, S. 126. Ähnlich W. v. Humboldt an Caroline v. Humboldt, Freienwalde, 11. 12. 1809. Sydow, Wilhelm und Caroline, Bd. 3, Nr. 142, S. 293. 196 Siehe hierzu Hüffer, Kabinetsregierung, S. 428 – 434. Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreform in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln/Berlin 1970, S. 90 f. Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800 – 1848, Frankfurt a. M. 2005, S. 71 – 75. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 157. 197 Siehe Kabinettsorder an die Friedensvollziehungskommission, Königsberg, 16. 12. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 276, Bl. 66. 198 Siehe Magnus Friedrich von Bassewitz, Die Kurmark im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaats Preußen während der Jahre 1809 und 1810, Aus dem Nachlasse des Wirklichen Geheimraths Magnus Friedrich v. Bassewitz hrsg. v. Karl v. Reinhard, Leipzig 1860, S. 350. Mamroth, Geschichte, S. 33 f. Haußherr, Erfüllung, S. 236 – 242. 199 Siehe hierzu Mamroth, Geschichte, S. 134.
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des projektierten Wertes einkamen.200 Einen zumindest anfänglich ebenso geringen Erfolg hatte die „Verordnung wegen Ankaufs des Gold- und Silbergeräts durch die Münzämter und wegen Besteuerung desselben und der Juwelen“ vom 12. Februar 1809.201 Das sogenannte „Silberedikt“ sah den staatlichen Ankauf und die Besteuerung des Gold-, Silber- und Juwelenbesitzes der Bevölkerung vor. Auf Gold und Silber war danach eine Steuer über 1/3 des Wertes, auf Juwelen über 1/6 des Wertes fällig. Der Steuer ließ sich nur entgehen, wenn die Preziosen in den staatlichen Münzämtern der größeren Städte zu einem festen Kurs verkauft wurden. Ziel war es, auf diese Weise das tote Kapital des Landes zu mobilisieren und dem Staat verfügbar zu machen. Als Gegenleistung erhielten die Verkäufer Münzscheine, die zum Kauf von Domänen und geistlichen Gütern, oder zur Bezahlung rückständiger Abgaben und der Silbersteuer selbst verwendet werden konnten. Der reale Wert dieser Papiere war aber vergleichsweise gering. Bis zum 14. April sollte der Verkauf beziehungsweise die Besteuerung im ganzen Land abgeschlossen sein. Edelmetall, das zur Weiterverarbeitung vorgesehen war, wurde auch über diesen Zeitpunkt hinaus mit einer 25-prozentigen Steuer belegt. Zwar blieb der Ertrag des Silberedikts hinter den Erwartungen zurück,202 doch darf dies nicht über dessen steuergeschichtliche Bedeutung hinwegtäuschen. Es war immerhin eine preußenweit nach einheitlichen Grundsätzen erhobene direkte Steuer, die zumindest in der Theorie alle Bevölkerungsschichten unabhängig ihres Standes treffen sollte. Das Silberedikt und die Inlandanleihe waren von vornherein nicht dazu gedacht, die pünktliche Bezahlung der Kontributionen dauerhaft zu gewährleisten. Altenstein setzte stattdessen große Hoffnungen auf eine Anleihe, die in Holland aufgenommen werden sollte. Seit dem ersten Bekanntwerden der französischen Forderungen im Sommer 1807 sahen viele in der preußischen Führung in einer solchen ausländischen Anleihe den einzigen Ausweg aus der preußischen Finanzmisere. Niebuhr hatte in einer Denkschrift schon früh betont, dass nur ein externer Geldzufluss es dem preußischen Staat ermöglichen könne, die Kontributionen aufzubringen und dies nicht nur, weil Preußen die finanziellen Mittel prinzipiell fehlten; Niebuhr befürchtete auch, und wie sich zeigen sollte zu Recht, dass das in der Monarchie kursierende Edelmetall über kurz oder lang nicht ausreichen würde, um die fran200 Siehe Eugen Richter, Das Preussische Staatsschuldenwesen und die Preussischen Staatspapiere, Breslau 1869, S. 20. Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 351 – 353. 201 NCC, Bd. 12/2, Nr. 67, S. 769 – 783. Ausführlich hierzu Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 354 – 364. Auch Mamroth, Geschichte, S. 34 f., 528 – 531. 202 Bis 1812 kamen rund 1,5 Mio. Taler an Edelmetallen ein, und nur 932 000 Taler an Steuern (davon nur ein geringer Teil in Kurant). Siehe Richter, Staatsschuldenwesen, S. 20. Bassewitz, Kurmark, 1809 – 1810, S. 359 – 364. Siehe hierzu auch die Klagen Sacks in seinem offiziellen Tagebuch, wo er auf den geringen Barertrag aus der Edelmetall- und Juwelenbesteuerung hinwies. Siehe Tagebuch Sack, (Berlin), 20. 6. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 19, Bl. 71. Auch Besteuerungsdeputation an Sack, Berlin, 9. 4. 1809. Ebd., Rep. 83, Nr. 1044.
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zösischen Forderungen in Kurantgeld zu bedienen.203 Es war deshalb schon aus währungswirtschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, dass eine Anleihe zustande kam. Die Anleiheverhandlungen, die Wittgenstein mit dem vermögenden Kurfürsten von Hessen führte, verliefen erfolglos.204 Genauso wenig konnten die Bankhäuser von Hamburg, Frankfurt a. M. und Paris überzeugt werden. In Amsterdam glaubte man allerdings,205 größere Erfolgsaussichten zu haben, weshalb sich Niebuhr dort selbst um eine Anleihe bemühte. Doch die Verhandlungen erwiesen sich auch hier als mühselig.206 Ein Grund dafür war die außenpolitische Bedrohungslage, die das Vertrauen in die Solvenz, wenn nicht gar dauernde Existenz des preußischen Staats sinken ließ.207 Um die Kreditwürdigkeit des Staats war es dementsprechend schlecht bestellt, während es den Ständen nach wie vor noch gelang, zum Teil beträchtliche Summen zu leihen. Niebuhr stimmte diese Situation hoffnungslos.208 Nicht nur finanzielle Probleme veranlassten Preußen, ab April 1809 die Raten an Frankreich nurmehr teilweise zu begleichen.209 Bei Ausbruch des Kriegs zwischen Österreich und Frankreich empfahl Altenstein, die Zahlungen auf ein Minimum zu reduzieren und die freiwerdenden Gelder zur Bildung eines Militärfonds zu verwenden.210 Tatsächlich gingen im Mai nur 180 000 und im Juni 650 000 Taler an Frankreich; im Juli zahlte Preußen schon überhaupt nichts mehr.211 Ob Altenstein allein die Gunst der Stunde nutzte, um sein eigenes Versagen bei der Kontributionsaufbringung zu verschleiern, oder ob er sich aus innerer Überzeugung zu einem 203
Siehe Denkschrift Niebuhr, Memel, 5. 10. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 6, S. 72 – 74. Siehe Stein an Wittgenstein, Memel, 18. 12. 1807 und Wittgenstein an Stein, Hamburg, 22. 11. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 498, 905, S. 577 f., 981 – 984. 205 Siehe Stein an Niebuhr, Memel, 7. 1. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 538, S. 614. 206 Zu den Anleiheverhandlungen siehe Lesage, Napoléon, S. 231 – 247. Haußherr, Erfüllung, S. 68 f., 134 f., 160 f., 189. Auch Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 172. Zudem die Schriftstücke in Kehr, Finanzpolitik, S. 505 – 539. 207 Siehe u. a. Provinzialminister Schroetter an Altenstein, Berlin, 10. 3. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 64, S. 173. Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Memel, 29. 9. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24790, Bl. 46v. 208 Siehe u. a. Niebuhr an Dore Hensler, Amsterdam, 1. 7. 1808. Niebuhr an Altenstein, Amsterdam, 5. 11. 1808. Gerhard/Norvin, Briefe, Bd. 1, Nr. 258, 269, S. 470, 507 f. 209 Labaye betonte gegenüber Goltz die Unmöglichkeit, die Zahlungsverpflichtungen erfüllen zu können. Siehe Labaye an Goltz, Berlin, 1.6. und 9. 6. 1809. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 392. 210 „Stellungnahme des Ministers Freiherr von Altenstein“, Königsberg, 30. 4. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 97, S. 244 – 249. Altenstein an Labaye, Königsberg, 20. 6. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 18, S. 101 f. 211 Eine detaillierte Auflistung der geleisteten Zahlungen bis August 1809 bot Labaye in einem Schreiben an Goltz (Berlin, 30. 10. 1809, Ausf). GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 393. Sowie Labaye an Le Coq, Berlin, 18. 8. 1809, Ausf. Ebd., Nr. 392. Die Angaben Lesages, die ohne Nachweis aufgeführt wurden, weichen hiervon mitunter erheblich ab. Siehe Lesage, Napoléon, S. 258 f. 204
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Konfrontationskurs entschloss, ist nur schwierig zu sagen – ein Zeugnis der Verzweiflung war sein Verhalten wie das der gesamten preußischen Führung allemal. Die Niederlage Österreichs im Sommer des Jahres erhöhte noch einmal merklich den Druck auf Preußen. Napoleon, der sich bisher zurückhaltend verhalten hatte, drohte nun mit der Wiederbesetzung Preußens, wenn nicht bald die Bezahlung der rückständigen Summen und der anstehenden Raten geschehen würde.212 Es ist auch als ein Versuch zur Rettung des ramponierten Vertrauens zu werten, wenn der König in dieser Situation den Entschluss fasste, nach Berlin zurückzukehren.213 Auch die Stimmung der Bevölkerung und Rücksichten auf das diplomatische Corps hatten diesen Schritt verlangt.214 Nach über zwei Jahren der Abwesenheit zog das Königspaar am 23. Dezember schließlich unter dem Jubel der Bevölkerung in der Hauptstadt ein.215 Altenstein hatte noch Anfang November 1809 eine Strategie zum Umgang mit den französischen Forderungen formuliert.216 Alles war auf einen diplomatischen Erfolg berechnet: Krusemark, der Brockhausen als preußischen Minister in Paris ablöste,217 sollte Napoleon unter Hinweis auf die Unerfüllbarkeit der vertraglichen Verpflichtungen zu einer Verringerung der Kontributionsforderungen und zu weiteren Zugeständnissen bewegen.218 Es zeugt von der Hilflosigkeit Altensteins, dass er darüber hinaus erneut auf die Anrechnung der „Südpreußischen Hypotheken“ in Höhe von 17,5 Mio. Francs antragen lassen wollte. Höchste Priorität räumte Al212
Siehe u. a. St. Marsan an Goltz, Berlin, 22. 12. 1809, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 393. Napoleon an Champagny, Paris, 13. 12. 1809. Napoleon, Correspondance, Bd. 20, Nr. 16046, S. 60. 213 Napoleon drängte auch auf die Rückkehr des Königs. Siehe Duncker, Preußen, S. 311. Im Zuge des frankreichfreundlichen außenpolitischen Kurses wurde der preußische Gesandte in Wien, Finkenstein, abberufen und Scharnhorst zumindest offiziell als Leiter des Kriegsdepartements entlassen. Siehe ebd., S. 314 f. 214 Siehe W. v. Humboldt an Caroline v. Humboldt, Berlin, 18. 3. 1809. Sydow, Wilhelm und Caroline, Bd. 3, Nr. 55, S. 119. 215 Siehe hierzu Stamm-Kuhlmann, König, S. 310 f. Es gibt allerdings auch Belege, die von der Gleichgültigkeit der Bevölkerung zeugen. Siehe etwa Tagebuch Vincke, Eintrag v. 23. 12. 1809. Behr, Tagebücher, Bd. 5, S. 404. 216 Siehe Promemoria Altenstein, Königsberg, 6. 11. 1809, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 393. Auch das „Memoire des Ministers Freiherr von Altenstein für den Gesandten Brockhausen“, (Königsberg), 8. 11. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 24, S. 119 f. Ähnlich bereits in einem Schreiben an Labaye, Königsberg, 18.10.(1809). Scheel, Interimsministerium, Nr. 160, S. 457 f. 217 Zur Mission Krusemarks siehe Ranke, Geschichte, Bd. 3, S. 141 – 143. Auch Georg Heinrich Pertz, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, 3 Bde., Berlin 1864 – 1869, hier Bd. 1, S. 555. 218 So wurde der Auftrag bereits in einem Schreiben Altensteins an Goltz (Königsberg, 19. 10. 1809) formuliert. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 22, S. 116 – 118. Friedrich Wilhelm richtete parallel dazu ein Schreiben an Napoleon, in dem er das preußische Verhalten rechtfertigte und um Milderung bat. Siehe Friedrich Wilhelm an Napoleon, Königsberg, 6. 11. 1809. Napoleon, Correspondance, Bd. 20, Nr. 15999, S. 30 f.
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tenstein aber der holländischen Anleihe ein. Seit der Unterzeichnung des Pariser Vertrags war immerhin wieder Bewegung in Niebuhrs Amsterdamer Verhandlungen gekommen, da Napoleon das preußische Anleiheprojekt jetzt aktiv unterstützte.219 Niebuhr gelang es so bis Anfang 1810, zusammen mit dem Bankier Johan Valckenaer eine Anleihe über 32 Mio. Florin (umgerechnet rund 67 Mio. Francs) mit einer Laufzeit von 50 Jahren auf dem Markt zu platzieren. Erwartungsgemäß erfreuten sich die Wertpapiere aber nur einer geringen Beliebtheit, so dass Napoleon selbst als Hauptzeichner auftreten musste. An barem Geld flossen unter dem Strich lediglich zwischen ein bis zwei Mio. Taler nach Berlin.220 Um die Forderungen Napoleons zu befriedigen zog Altenstein sogar erneut und ungeachtet aller früheren Bedenken die direkte Übereignung mehrerer brandenburgischer Domänen in Betracht. Von der Notwendigkeit einer umfassenden Reform der Steuerverfassung sprach der Finanzminister in seinem Papier hingegen nicht. Das aus der Amtszeit Steins herrührende Vorhaben, provinzweise eine Einkommensteuer einzuführen, die zumindest zur Tilgung der Provinzialschulden dienen konnte, wurde bis zum Ausscheiden Altensteins nicht umgesetzt. Ebenso stockte der Verkauf der Domänen.221 Zwar gelang im Jahr 1809 die Ausgabe der Pfandbriefe und die nahezu vollständige Auslösung der zuvor ersatzweise an Frankreich übergebenen ständischen Garantien,222 die preußische Regierung war aber weit davon entfernt, zum 8. November 1809 mit der Tilgung der Pfandbriefe beginnen zu können. Geradezu erwartungsgemäß scheiterten in dieser Zeit die erneuten preußischen Bemühungen, auf diplomatischem Weg eine Verbesserung der außenpolitischen Situation zu erreichen.223 Napoleon bestand weiterhin auf die vollständige Erfüllung
219 Siehe „Extrait de la Dépêche du Knobelsdorff“, Amsterdam, 9. 5. 1809. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 392. 220 Die Angaben über den tatsächlichen Erfolg schwanken leicht. Siehe Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 381 – 389. Richter, Staatsschuldenwesen, S. 21. Lesage, Napoléon, S. 262 – 282. Treue, Technikgeschichte, S. 233. Kehr, Finanzpolitik, S. 47 f. Hömig, Altenstein, S. 98. 221 Genaue Daten über die Verkäufe im Jahr 1809 sind nicht zu finden, vieles deutet aber daraufhin, dass der Ertrag äußerst gering ausgefallen sein muss. In der Kurmark wurden beispielsweise bis zum 1. 11. 1811 lediglich Güter im Wert von 522 200 Taler veräußert. Siehe Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 365 – 380. Siehe auch Labaye an Altenstein, Berlin, 10. 10. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 199, S. 485. Auch Theodor Nicolovius an Schön, Gumbinnen, 19. 4. 1809. Schön, Aus den Papieren, Bd. 1, S. 107 f. Zu den Problemen der Schätzung der Güter und des Verkaufs siehe speziell Rolf Engels, Die preussische Verwaltung von Kammer und Regierung Gumbinnen (1724 – 1870) (Studien zur Geschichte Preussens, 20), Köln/Berlin 1971, S. 82 – 84. Bis 1820 wurden überhaupt nur 20 bis 25 % der zu veräußernden Domänengüter tatsächlich verkauft. Siehe Treue, Technikgeschichte, S. 235. Leopold Krug, Geschichte der Preussischen Staatsschulden. Im Auftrag eines Erben herausgegeben von Carl Julius Bergius (Leopold Krug‘s nachgelassene Schriften, statistischen und volkswirtschaftlichen Inhalts, 1), Breslau 1861, S. 134 – 138. 222 Siehe Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 348 f. 223 Siehe hierzu Saint Marsan an Goltz, Berlin, 22. 12. 1809. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 393.
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der preußischen Verpflichtungen.224 Die Wechsel einfach zu Protest gehen zu lassen,225 war für Frankreich, nebenbei bemerkt, wenig lohnend, da die Kaufleute eine derart hohe Summe niemals aufzubringen vermocht hätten.226 Preußen war schlichtweg außerstande,227 den Kontributionsforderungen zu entsprechen und blieb daher auch nach dem österreichisch-französischen Krieg die fälligen Raten schuldig. In dieser Lage griff Altenstein erneut zu einer Behelfsmaßnahme. Am 12. Februar 1810 ließ er eine Anleihe über 1,5 Mio. Taler in der Monarchie ausschreiben, die, falls notwendig, auch zwangsweise auf die Einwohner umgelegt werden sollte. Vor dieser Drohkulisse gelang die Emission von Papieren im Wert von immerhin rund 1,4 Mio. Talern.228 Für die finanziellen Leistungen, die Preußen erwartungsgemäß nicht leisten konnte, verlangte Napoleon Kompensationen. Es überrascht angesichts der geostrategischen Überlegungen des Kaisers kaum, dass Saint Marsan im März 1810 ausgerechnet die Abtretung Schlesiens als Ersatzleistung ins Gespräch brachte. Altenstein, der keinen anderen Ausweg wusste,229 um der Monarchie eine erneute Besetzung zu ersparen, war bereit nachzugeben; anders als der König, der nach den erheblichen Länderverlusten von 1807 nicht auch noch auf die reichste Provinz seines Reiches verzichten wollte. Der Sturz des in Ungnade gefallenen Finanzministers war nur noch eine Frage der Zeit. Schon brachten sich seine Gegner in Stellung. So versuchte sich Wittgenstein, als Nachfolger zu empfehlen, indem er dem König einen, wenig konzisen, Plan zur Aufbringung der Kontributionen vorlegte. Am Ende waren es aber Hardenbergs Intrigen, die Altenstein endgültig zu Fall brachten.230 Im Mai 1810 legte er einen eigenen Finanzplan vor, der Friedrich Wilhelm zu der Überzeugung gelangen ließ, den geflohenen, einstigen Premier wieder in seine 224
Siehe Napoleon an Champagny, Paris, 13. 12. 1809. Napoleon, Correspondance Générale, Bd. 9, Nr. 22603, S. 1473. 225 „Zu Protest gehen lassen“ bedeutet im Sinne des Wechselrechts, dass der Wechselinhaber förmlich feststellen lässt, dass die fällige Zahlung nicht geleistet wurde. Damit wird die Voraussetzung für Rückgriffsansprüche geschaffen. Siehe Protest, in: Karl-Dieter Grüske/Horst Claus Recktenwald, Wörterbuch der Wirtschaft, 12. Aufl., Suttgart 1995, S. 506. 226 So auch Altenstein an Goltz, Königsberg, 26. 5. 1809, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 392. 227 Siehe hierzu die Zeitungsberichte der Provinzialregierungen, worin auf die Unmöglichkeit, die etatmäßigen Abgaben einzunehmen, hingewiesen wurde. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 15739 sowie Nr. 15741. 228 Siehe Richter, Staatsschuldenwesen, S. 20. Günther Meinhardt, Aus Westpreußens napoleonischer Zeit von 1807 – 1815, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 1 (1967), S. 93 – 134, hier S. 102 – 104. 229 Altenstein hoffte weiterhin auf einen diplomatischen Erfolg und auf einzelne finanzielle Zwangsmaßnahmen. Siehe Altenstein an Goltz, Berlin, 2. 1. 1810. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 26, S. 122 – 130. Siehe auch Immediatbericht Altenstein, Königsberg, 24. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 20, S. 38 – 46. 230 Das beiderseitige Verhältnis war seit dem Amtsantritt Altensteins getrübt. Siehe Thielen, Hardenberg, S. 232 f.
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Dienste nehmen und ihn zum Kanzler mit umfassenden Vollmachten machen zu müssen.231 Hardenberg stand vor enormen Schwierigkeiten. Bis Mitte 1810 waren nur rund 41 Mio. Francs an Frankreich gezahlt worden, so dass Preußen mit 79 Mio. Francs zuzüglich der Zinsen für die Domänenpfandbriefe im Rückstand war. Hardenberg ging zu Beginn mit der finanziellen Misere des Staats nur wenig erfolgreicher um als sein Vorgänger. Bis Ende des Jahres 1810 wurden nur 17 Mio. Francs überwiesen.232 Am Ende waren es vor allem glückliche Wendungen in der Außenpolitik und die Einnahmen aus dem illegalen Handel mit Konterbanden, die es Hardenberg ermöglichten,233 Preußen vor einer Wiederbesetzung oder weiteren Länderabtretungen zu bewahren. Nichtsdestotrotz blieb die Kontributionsforderung weiterhin ein Mittel Napoleons, um die preußische Führung gefügig zu halten. Als 1812 der Feldzug der Grande Armée gegen Russland bevorstand, erzwang Napoleon als Ersatz für die immer noch offenen 48 Mio. Francs den freien Durchmarsch durch die Hohenzollernmonarchie, die obendrein die Kosten der Versorgung eines Teils der Truppen übernehmen musste.234
II. Der Krieg 1. Die Idee des „Volkskriegs“ als Verfassungsproblem (1808) „So und deswegen will ich eine Insurrektion, eine allgemeine und gewaltige Insurrektion der Völker als das einzige Rettungsmittel und die höchste Notwendigkeit der Zeit, ich will eine Gewalt, die treibe, stoße, zwinge und zertrümmere, ich will sie, selbst, wenn ich nicht weiß, wohin sie fährt“235, beschwor Ernst Moritz Arndt mit der für ihn typischen Emphase im „Nordischen Kontrolleur“ eine Erhebung der Völker der schwedischen Krone gegen die vordringende russische Armee. Sein Appell richtete sich zugleich an alle europäischen Völker, die sich gegen jede Form der Hegemonie, auch und gerade gegen die französische, auflehnen sollten.236 Arndt schwebte ein Krieg vor, an dem sich jeder Bürger aus eigenem Interesse und Antrieb beteiligen würde; der übermächtige Feind sollte von der zahlenmäßig und moralisch überlegenen Bevölkerung niedergerungen werden. Dieses Konzept eines „Volkskriegs“ war die Reaktion auf eine politische und militärische Ohnmacht und zugleich 231 Zu den Vorgängen um den Sturz Altensteins siehe Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 401 – 410. Haußherr, Hardenberg, S. 65 – 133. Thielen, Hardenberg, S. 235 – 241. Hömig, Altenstein, S. 91 – 125. 232 Siehe Kehr, Finanzpolitik, S. 46. Auch Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 416 ff. Schissler, Finanzpolitik, S. 367 – 385, 377. 233 Siehe Treue, Technikgeschichte, S. 236. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 116. 234 Siehe Branda, Le prix, S. 334 f. 235 „Der Nordische Kontrolleur“, 2 Bde., s. l. 1808 – 1809, hier Bd. 2, S. 635. 236 Siehe Ernst von Müsebeck, Ernst Moritz Arndt. Ein Lebensbild, Gotha 1914, S. 231.
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eine Konsequenz aus einer seit 1792 zu beobachtenden Revolutionierung der Kriegsführung. Die französischen Revolutionsarmeen hatten offenbart, welche Kräftepotenziale die militärische und ideologische Mobilisierung weiter Bevölkerungsschichten freizusetzen vermochte.237 Auch der 1808 begonnene Aufstand der Spanier schien dies zu beweisen. In der Folge gerieten alle europäischen Monarchien unter den Druck, diesen Beispielen nachzueifern, um ihre Existenz zu retten. Die politischen Konsequenzen der neuen Kriegsführung waren kaum abzusehen. Arndt deutete diese Ungewissheit am Ende des eingangs wiedergegebenen Zitats dunkel an. Die bisher gekannte Verfassungsordnung konnte ins Wanken geraten, schließlich war der „Volkskrieg“ schon dem Namen nach nicht mehr allein Sache des Monarchen. Die Arkanhaltung des Fürsten auf dem Feld des Politischen musste durch die Vulgarisierung und Nationalisierung des Kriegs geradezu zwangsläufig in Frage gestellt werden und dies bedrohte in letzter Konsequenz auch den Anspruch auf Alleinherrschaft. Diesen Gefahren und Unwägbarkeiten zum Trotz waren einige hohe preußische Militärs und Beamte zum „Griff in das Zeughaus der Revolution“238 bereit. Erst die desaströse Lage des Staats verhalf im Sommer 1808 der Idee von einem „Volkskrieg“ zum Durchbruch in Preußen. Die Friedensvollziehungsverhandlungen mit Frankreich befanden sich zu diesem Zeitpunkt in einer Sackgasse, während die Besetzung des Landes fortdauerte. Ein diplomatischer Erfolg galt spätestens mit dem Scheitern der von Stein in Berlin geführten Verhandlungen als wenig wahrscheinlich. Die Siege der Spanier, von denen man zur Mitte des Jahres in Königsberg erfahren hatte, wiesen in dieser Situation auf eine scheinbare Alternative zur „Erfüllungspolitik“ der vergangenen Monate hin. Begeistert rezipierte mancher die spanische Propaganda, die das Bild eines Kreuzzugs zeichnete, der von einer opferbereiten Bevölkerung für „Gott, König und Vaterland“ getragen werde.239 Die spanische Realität sah freilich anders aus. Die gefeierten Guerilleros waren, dies wies Charles Esdaile in einer umfangreichen Studie nach, weder die selbstlosen Freiheitskämpfer, als die sie dargestellt wurden, noch waren ihre Überfälle auf die französischen Nachschublinien von entscheidender militärischer Bedeutung; und keineswegs strömte das Volk freiwillig in die „partidas“ genannten Partisanengruppen, geschweige denn in die regulären Armeeverbände. Der Krieg und besonders dessen brutale Guerillaform bedeuteten vielmehr eine nur widerwillig getragene Last für die Bevölkerung.240
237
Siehe hierzu Bukovansky, Legitimacy, S. 165 f. Gneisenau an Friedrich Wilhelm, Juni 1810. Karl Griewank (Hrsg.), Gneisenau. Ein Leben in Briefen, 2. Aufl., Leipzig 1939, S. 150. 239 Siehe hierzu Rainer Wohlfeil, Spanien und die deutsche Erhebung 1808 – 1814, Wiesbaden 1965, S. 203 – 212. 240 Siehe Charles J. Esdaile, Fighting Napoleon. Guerrillas, Bandits and Adventurers in Spain, New Haven/London 2004, S. 61 – 159, 193 – 204 und passim. 238
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Ob aus Unkenntnis der Tatsachen oder aus romantischer Schwärmerei – Stein gehörte zu jenen, die in Spanien das Vorbild zur Befreiung von der französischen Besetzung sahen.241 Schon im Juli 1808 hatte er den König gedrängt, die Möglichkeiten eines gemeinsam mit Österreich geführten Feldzugs gegen Napoleon auszuloten.242 Mit dieser Sichtweise stand er in Königsberg nicht alleine da. Es formierte sich eine regelrechte „Kriegspartei“, zu der neben Scharnhorst243 und Clausewitz zahlreiche weitere Militärs und höhere Beamte zählten.244 Ihr energischster Vertreter war aber mit Sicherheit Gneisenau. Anfang August reichte er die erste von mehreren Denkschriften ein, in denen er sich entschieden für den Krieg aussprach.245 Diesen Ausführungen des hitzköpfigen Offiziers schloss sich am 14. desselben Monats Stein in einem Immediatbericht ausdrücklich an.246 In einer gemeinschaftlichen Konferenz versuchten Scharnhorst, Stein und Gneisenau, den Widerstand des Königs gegen ihre Kriegspläne zu überwinden.247 Friedrich Wilhelm beharrte jedoch darauf, ohne die Unterstützung Russlands keine militärische Aktion gegen Frankreich wagen zu wollen. In den grellsten Farben malte daraufhin Scharnhorst die Konsequenzen dieser Politik der Zurückhaltung aus. Napoleons Absichten würden auf die Entthronung der Hohenzollern abzielen, schrieb er in einer Denkschrift; man müsse also handeln bevor es zu spät sei. Es ist dieselbe Jetzt-oder-Nie-Haltung, die im Vorfeld des Kriegs von 1806 in Berlin um sich gegriffen und zum Untergang des alten Preußens geführt hatte. Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung bewahrte Friedrich Wilhelm diesmal die Ruhe und gestattete nur die vorsichtige Kontaktaufnahme in Richtung Österreich. Die außenpolitische Stellung Wiens hatte sich seit dem Pressburger Frieden zunehmend verschlechtert. Die Ergebnisse des Tilsiter Friedens trugen erheblich dazu bei. An der vormals vergleichsweise sicheren Nordgrenze war mit dem Herzogtum Warschau ein neues Gefahrenpotenzial erwachsen;248 überdies kontrollierte Frankreich weite Teile Schlesiens, das seit jeher eine neuralgische Region für die 241 Auch im abgefangenen Schreiben an Wittgenstein dienten Stein die Vorgänge in Spanien als Vorbild für die geplante Erhebung. Siehe Stein an Wittgenstein, Königsberg, 15. 8. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 779, S. 815. 242 Siehe Immediatbericht Stein, Königsberg, 27. 7. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 760, S. 797. Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 330 – 334. Auch später blieb Stein auf diesem Kurs. Siehe u. a. Denkschrift Stein, Königsberg, 30. 8. 1808. Ebd., Nr. 804, S. 844 – 846. 243 Siehe Denkschrift Scharnhorst, (Königsberg, 21. 8. 1808) und (Königsberg), 1. 9. 1808. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 148, 281, S. 237 – 239, 439 – 441. Sowie Scharnhorst an Stein, Königsberg, 23. 8. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 785, 788, S. 821 – 825. 244 Siehe Ibbeken, Preußen, S. 116 – 133. 245 Siehe Friedrich Thimme, Zu den Erhebungsplänen der preußischen Patrioten im Sommer 1808. Ungedruckte Denkschriften Gneisenau‘s und Scharnhorst‘s, in: HZ 50 (1901), S. 78 – 110, hier S. 80 – 87. 246 Siehe hierzu Immediatbericht Stein, Königsberg, 14. 8. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 777, S. 812 f. 247 Siehe hierzu Thimme, Erhebungspläne, S. 86. Stamm-Kuhlmann, König, S. 291 f. 248 Siehe hierzu Scott, Birth, S. 327.
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äußere Sicherheit Österreichs war. In dieser verfahrenen Lage wurden parallel zu den Entwicklungen in Königsberg auch in der österreichischen Hauptstadt die Stimmen lauter, die einen erneuten Waffengang gegen Napoleon forderten. Am 23. Juli wurde mit Götzen ein Mitglied der Militärreorganisationskommission unter dem Vorwand eines Kuraufenthalts nach Schlesien beordert, um dort in der Grafschaft Glatz die Aufrüstung der regulären preußischen Armeekontingente voranzutreiben. Daneben erhielt er von Stein allerdings noch einen weiteren Auftrag, von dem nicht klar ist, ob er mit dem Einverständnis Friedrich Wilhelms erteilt wurde:249 Im Verborgenen sollte Götzen erste Vorbereitungen für einen Volksaufstand treffen. Götzen fungierte auch als Verbindungsmann nach Österreich, wo man den preußischen Kriegsabsichten mit äußerster Skepsis begegnete.250 Spätestens seit dem Jahr 1805, als Preußen Österreich und Russland die militärische Unterstützung verweigert hatte, war es um das Vertrauen auf die preußische Zuverlässigkeit nicht zum Besten bestellt. Unumwunden äußerte auch der österreichische General Graf Bubna nach einer Unterredung mit Götzen große Zweifel an den preußischen Kriegsabsichten. Der „Geist der Factionen“ haben in Preußen einen Grad erreicht, erklärte er, dass kaum abzusehen sei, ob Preußen tatsächlich zu seinen Versprechungen stehen werde.251 Die österreichische Zurückhaltung musste die Zweifel des Königs an einem Krieg nur vermehren; ein Übriges tat die Haltung des Zaren. Auf eine Note Friedrich Wilhelms vom 28. August, in der er sich nach Russlands Verhalten im Falle eines Kriegs zwischen Österreich und Frankreich erkundigte,252 antwortete Alexander nüchtern, dass ein solcher Schritt den Untergang der Habsburgermonarchie nach sich ziehen müsse.253 Über eine etwaige Unterstützung für Österreich verlor der Zar kein Wort. Russland war demnach offenbar nicht gewillt, vom Bündnis mit Frankreich abzurücken. Als Ende September der Inhalt des Pariser Vertrags in Königsberg bekannt wurde, erhöhte sich noch einmal merklich der Druck auf den König. Es war die allgemeine Überzeugung von Gneisenau, Scharnhorst, Stein und anderen, dass dieser Vertrag 249 Siehe Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 426, 430 – 432. In der Kabinettsorder an Götzen war von solchen „Volkskriegsplänen“ nicht die Rede. Siehe Kabinettsorder an Götzen, Königsberg, 23. 7. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 243, S. 542 f. Wohl aber in mehreren Schreiben Steins an Götzen (Königsberg, 23.9. und 4. oder 5. 10. 1808). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 826, 846, S. 867 – 869, 885 f. 250 Zu den Verhandlungen Götzens siehe Hassel, Geschichte, S. 199 – 204. 251 Siehe Bubna an Erzherzog Carl, Gitschinowes, 11. 10. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 252a, S. 555 f., hier das Zitat S. 556. Siehe hierzu Ibbeken, Preußen, S. 134 f. 252 Siehe Friedrich Wilhelm an Alexander, Königsberg, 28. 8. 1808. Hassel. Geschichte, Nr. 74, S. 371 – 373. 253 Siehe Alexander an Friedrich Wilhelm, Petersburg, 12. 9. 1808. Ebd., Nr. 75, S. 374. Auf seiner Durchreise nach Erfurt hielt Alexander in Königsberg noch einmal die preußische Führung zum Stillhalten an. Siehe Pertz, Stein, Bd. 2, S. 227 – 229.
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unmöglich erfüllt werden könne und Preußen nun endgültig zum Krieg gezwungen sei. In mehreren Eingaben wurde dem König von der Ratifikation der Vertragsurkunde abgeraten. Nicht zufällig entstanden zeitgleich Pläne, in denen eine grundlegende Veränderung der politischen Verfassung Preußens entwickelt wurde. So reichte Boyen ein Memorandum ein, in dem er die Berufung von „achtenswerthen Männern aus allen Ständen“ forderte. Dieser „Landtag[]“ sollte darüber entscheiden, ob der Vertrag angenommen und erfüllt würde, oder ob man „mit Muth und Eintracht entgegen zu gehen bereit wäre“. Dieser Vertrauensbeweis des Königs in die politische Einsicht des Volks würde das Ansehen des Monarchen nur steigern und einen „allgemeinen Enthusiasmus“ hervorbringen, glaubte Boyen.254 Mit derselben Überzeugung riet auch Gneisenau zu einer Versammlung von Vertretern aller Stände. Gneisenau war schon in seiner ersten Denkschrift mit konstitutionellen Forderungen in Erscheinung getreten. Darin war aber noch nur recht vage von einer „freie[n] Verfassung“ und einer „nach altdeutscher Art gemodelte[n] Municipalverfassung“ die Rede. Eine liberalere Konstitution Preußens sollte vorderhand die anderen deutschen Staaten zur Beteiligung an einem Krieg unter preußischer Führung motivieren, begründete Gneisenau seine Gedanken.255 In einer neuen Denkschrift wurde Gneisenau deutlich konkreter. Von der einzuberufenden Repräsentation versprach auch er sich, „daß Gemeinsinn, Teilnahme an öffentlicher Wohlfahrt und Liebe zu dem Regenten (…) mächtig steigen werde (!)“. Durch die Beratungen über die Frage der Ratifikation des Pariser Vertrags würde man zunächst Zeit gewinnen, um eine Wendung der politischen Lage zu Gunsten Preußens abwarten zu können. Mit dem Vorschlag, der Ständeversammlung den Staatshaushalt zur Beratung vorzulegen, ging er schließlich deutlich über die Forderungen Boyens hinaus. Nach Gneisenaus Dafürhalten würden die Ständevertreter in Kenntnis über die tatsächliche finanzielle Situation des Staats die Notwendigkeit weiterer steuerlicher Auflagen erkennen. „[W]arum man überhaupt in neuerer Zeit nicht das Mittel wählt, die Staatsausgaben durch Abgeordnete der Nation aufbringen zu lassen und somit von dem Regenten das Gehässige neuer Auflagen zu entfernen (!)“, fragte Gneisenau, der offensichtlich dazu entschlossen war, einer Repräsentationsinstitution die Aufsicht über die Finanzen des Staats einzuräumen und somit die Macht des Königs empfindlich zu beschneiden.256 Von einer wirklichen Zustimmung zum Pariser Vertrag, der den König zu einem „Werkzeug französischer Minister und ihrer Gehülfen“ mache, ging Gneisenau genauso wenig aus wie Boyen. Wichtig erschien ihnen nicht die Entscheidung selbst, sondern der moralische Effekt, der von ihr ausgehen sollte. „Hier, in einer solchen Versammlung, ist es auch“, wie 254 Die Denkschrift abgedruckt in Boyen, Erinnerungen, Bd. 1, S. 489 f., hier die Zitate S. 489. Siehe hierzu auch Alfred Stern, Zur Geschichte der preußischen Verfassungsfrage 1807 – 1815, in: HZ 48 (1882), S. 236 – 304, hier S. 245. 255 Die Denkschrift abgedruckt in Thimme, Erhebungspläne, S. 89 – 103, hier die Zitate S. 90 f. Siehe hierzu ebd., S. 80 – 82. Auch Delbrück, Gneisenau, Bd. 1, S. 146 f. 256 Die Denkschrift abgedruckt in Thimme, Erhebungspläne, S. 104 – 109, hier die Zitate S. 108.
II. Der Krieg
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Gneisenau erklärte, „wo man den guten Willen der Nation, sich dem drohenden Joche zu entziehen, prüfen und beleben kann“.257 Nicht nur Boyen und Gneisenau sorgten dafür, dass zwischen Mitte September und Mitte Oktober 1808 die Einberufung einer preußenweiten Repräsentationskörperschaft so intensiv diskutiert wurde wie erst wieder nach dem Regierungsantritt Hardenbergs. Stein verfolgte aus verschiedenen Gründen schon seit längerem Pläne, die auf die Einrichtung von „Reichsständen“ hinausliefen.258 Ursprünglich plante er die Umsetzung dieser Überlegungen für die fernere Zukunft, doch angesichts der außenpolitischen Krise des Sommers drängte auch er auf eine schnellstmögliche Realisierung. Ende September hieß es sogar in einem offiziösen Zeitungsartikel, die Einrichtung eines „repräsentativen System[s]“ sei das erklärte Ziel der preußischen Regierung.259 Wenige Zeit später schloss er sich ausdrücklich der Sichtweise Boyens und Gneisenaus an und empfahl dem König, die „Nation mit der Lage der Verhältnisse gegen Frankreich bekannt zu machen“260. Doch auf eine zwei Tage später von Süvern an ihn gerichtete Petition, die auch von Scharnhorst, Gneisenau, Schön, Grolman, Nicolovius und Röckner unterzeichnet war, reagiert er nicht mehr; wohl, weil er zwischenzeitlich von der Ratifikation erfahren hatte. Die Petenten hatten den Minister um seine Unterstützung für die gemeinsam vorgetragene Forderung nach einem Krieg gegen Frankreich und die Einrichtung einer Nationalrepräsentation gebeten.261 Zwar folgte der König solchen Empfehlungen nicht und entschied eigenmächtig über die Annahme des Pariser Vertrags, trotzdem verdienen die Denkschriften der Kriegsbefürworter besondere Aufmerksamkeit. Sie belegen, wieweit der innenpolitische Diskurs in Preußen von der äußeren Bedrohungslage geprägt wurde. Die äußere Souveränitätsbedrohung machte offenbar den plötzlichen Souveränitätswandel im Innern denkbar. Was die Gruppe um Stein vorschlug, lief immerhin auf die Auflösung der ständischen Gesellschaft und letztendlich auch der „absoluten“ Monarchie hinaus, denn hätte eine weite Bevölkerungsgruppen repräsentierende Versammlung über eine zentrale königliche Prärogative, wie die Entscheidung über Krieg und Frieden, befunden, so hätte „ein solcher Präzedenzfall (…) leicht der Anfang der Parlamentarisierung der Exekutivgewalt werden können“.262
257
Die Zitate Thimme, Erhebungspläne, S. 105, 108. Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 275 – 289, hier das Zitat S. 275. 259 Siehe „Offiziöser Zeitungsartikel“, Königsberg, 26. 9. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 833, S. 876 – 878, hier das Zitat S. 877. 260 Denkschrift Stein, Königsberg, 12. 10. 1808. Ebd., Nr. 851, S. 889 – 891, hier das Zitat S. 890. 261 Siehe „Eingabe“, Königsberg, 14. 10. 1808. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 168, S. 258 – 262. 262 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 294. Ähnlich Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 562. 258
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C. Die Wahrung der äußeren Souveränität
Es lässt sich – vielleicht mit Ausnahme des Radikalen Gneisenau263 – bezweifeln, ob sich diejenigen, die 1808 eine Repräsentation forderten, in Gänze über die verfassungspolitischen Konsequenzen eines solchen Schritts im Klaren waren. Die Ambivalenz war geradezu integraler Bestandteil des politischen Denkens der Reformer und so mangelte es den meisten von ihnen an einer genauen Vorstellung davon, wie das angestrebte neue Verhältnis zwischen Volk und Souverän in der politischen Realität aussehen sollte.264 Solche Überlegungen gerieten angesichts des vordringlichsten Ziels, das Stein, Scharnhorst, oder Boyen 1808 mit einer „Volksvertretung“ erreichen wollten, in den Hintergrund. Ihnen ging es vorrangig darum, über ein Instrument zu verfügen, das geeignet schien, die Voraussetzungen zur Umsetzung der eigenen außenpolitischen Agenda zu schaffen. So sollten die „Reichsstände“ das Interesse der Bevölkerung am Schicksal des Staats wecken und damit eine ähnliche Opferbereitschaft hervorrufen, wie sie 1792 in Frankreich oder 1808 in Spanien (zumindest scheinbar) zu beobachten war;265 der Effekt, der von ihnen ausgehen sollte, war also ein vorwiegend propagandistisch-moralischer. In der Ablehnung des Pariser Vertrags sollte sich der vermeintliche Volkswille artikulieren und auf diese Weise jener Furor in der Bevölkerung erzeugt werden, den die Mehrheit der Kriegsbefürworter für eine entscheidende Voraussetzung des „Volkskriegs“ erachtete.266 Widerspruch hielt man für ausgeschlossen, da erwartet wurde, dass sich die eigene Kriegspolitik mit den Wünschen des Volks decken müsse.267 Die öffentliche Meinung galt manchem Anhänger der Reform als geradezu sittliche Instanz,268 mit deren Zustimmung zur gerechten Sache des Kriegs gerechnet wurde. Um die aus ihrer Sicht richtigen Maßnahmen zur Wahrung der Staatsintegrität durchzusetzen, waren Stein, Scharnhorst und Gneisenau sogar bereit, die königliche Entscheidungsgewalt zumindest zeitweilig einzuschränken. Die „Reichsstände“ sollten nämlich nicht nur auf die Bevölkerung, sondern auch auf den König einwirken. Der erwartete breite Konsens sollte auch die dem König von den Kriegsbefürwortern permanent vorgeworfene Entschlusslosigkeit überwinden und eine Entscheidung zu Gunsten eines Kriegseintritts erzwingen helfen.
263
Stamm-Kuhlmann sprach zu Recht vom „zweifellos (…) revolutionären Charakter“ von Gneisenaus Erhebungs- und Repräsentationsplänen. Ders., König, S. 290. 264 Siehe hierzu Levinger, Nationalism, S. 67 f. 265 Siehe hierzu Matthew Levinger, The Prussian Reform Movement and the Rise of Enlightened Nationalism, in: Dwyer, Rise, S. 259 – 277, hier S. 260 f., 265. 266 Siehe hierzu Sven Prietzel, Niederlage und Verfassungswandel. Die Idee einer Nationalvertretung in Preußen 1807 – 15, in: Parliaments, Estates and Representation 35 (2015), S. 221 – 236, hier S. 230. 267 Siehe hierzu Levinger, Nationalism, S. 66. 268 Siehe hierzu Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848 (Politica, 24), Neuwied/Berlin 1966, S. 180.
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„Diese Ansichten (gemeint ist die abwartende Haltung des Königs; S.P.) führen zu halben Maßregeln, wie die im Jahre 1805“269, kritisierte Scharnhorst die angebliche Unentschlossenheit Friedrich Wilhelms unter Anspielung auf die Rolle Preußens während des Dritten Koalitionskriegs. Dass die Orientierung Friedrich Wilhelms an Russland in der Krise von 1808 ein Gebot der Staatsräson war, ließen die Kritiker des Königs nicht als Argument gelten. Dabei hatte das Tilsiter Bündnis zu diesem Zeitpunkt nach wie vor Bestand und niemand konnte sagen, ob der Zar seinem französischen Verbündeten nicht tatsächlich auch gegen Preußen zur Seite springen würde. Die außenpolitischen Falken im Umfeld des Königs deuteten dessen Umsicht als Ängstlichkeit, weil sie den eigenen politischen Idealen widersprach. Der Verweis auf die vermeintlichen charakterlichen Schwächen des Königs half überdies, mögliche Loyalitätskonflikte aufzulösen. Weil der König wegen seiner Zögerlichkeit unfähig sei, eine Entscheidung zu treffen, die zum Vorteil Preußens, ja selbst zum Wohle seiner eigenen Dynastie gereichen würde, bestand ein Handlungsnotstand – so der Versuch einer Selbstrechtfertigung. Die Forschung ist diesem Bild eines entscheidungsschwachen Königs vielfach gefolgt,270 obwohl es sich dabei in weiten Teilen um eine Erfindung der „Kriegspartei“ handelt. So groß die legitimierende Kraft der Krone für jede staatlich-politische Entscheidung auch war, nach 1807 traten verstärkt politische Akteure auf, die danach trachteten, die eigene Agenda auch gegen den ausdrücklichen Willen des Königs durchzusetzen. Einem Teil der führenden Militärs und Beamten ging es nicht mehr nur um einen Platz im Vorzimmer, sie wollten unmittelbar in den Raum der Macht eindringen.271 Ihr Ziel war nicht das Ende der Monarchie, wohl aber die politische Partizipation. Auf dem Feld der Außenpolitik hatte sich dieses Streben nach Teilhabe an der Entscheidungsgewalt des monarchischen Souveräns frühzeitig und am deutlichsten bemerkbar gemacht. Während sich die „Kriegspartei“ 1806 aber noch auf althergebrachte Formen höfischer Einflussnahme beschränkte – etwa auf Eingaben und persönliche Kontakte –, wurden in der Krise 1808 neue Arten der Beeinflussung, wenn nicht Beschränkung, der königlichen Entscheidungsfreiheit erwogen, zu denen die Revolution das ideengeschichtliche Rüstzeug geliefert hatte. Wie weit das Streben nach Autonomie von der souveränen Entscheidungsgewalt des Königs in den Krisenjahren nach 1807 gehen konnte, ließ das Verhalten Steins nach Bekanntwerden der Ratifikation erkennen. Ungeachtet des Erfüllungskurses, den der König in der Außenpolitik eingeschlagen hatte, ermahnte Stein am 27. Oktober Götzen, in Schlesien die Vorbereitungen zum Krieg unbedingt fortzusetzen.272 Es lohnt sich an dieser Stelle, die möglichen Konsequenzen der Volks269 Scharnhorst an Stein, Königsberg, 23. 8. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 788, S. 825. 270 Siehe exemplarisch Stamm-Kuhlmann, König, S. 289 und passim. 271 Siehe hierzu Carl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart 2008, S. 17 – 27. 272 Siehe Stein an Götzen, Königsberg, 27. 10. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 869, S. 907 f. Hierzu Ritter, Stein, S. 350 – 352.
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C. Die Wahrung der äußeren Souveränität
kriegsidee, die Stein beseelte, abseits der Überlegungen zur Einrichtung einer Repräsentation für den politischen Status quo in den Blick zu nehmen. Der „Volkskrieg“, wie ihn auch Gneisenau und Scharnhorst planten, sollte nicht nur von Linientruppen geführt werden, sondern, im Stile eines Partisanen- oder Parteigängerkriegs, auch von autonom operierenden Detachements. „Wie dies (der Sieg über Frankreich; S.P.) glücke zeigt Spanien“, erklärten die Unterzeichner der Denkschrift vom 14. Oktober. Ihnen galt in Anbetracht des politischen und militärischen Übergewichts Frankreichs die „spanische“ Kampfweise, die auf Hinterhalte und Überraschungsangriffe einer milizartig organisierten Bevölkerung beruhte, als entscheidendes Element jedes erfolgreichen Kriegs gegen die Besatzungsmacht. Schon vor 1789 hatte es in der preußischen militärtheoretischen Literatur einen breiten Diskurs um das Konzept des „kleinen Kriegs“ gegeben, wie er spätestens seit dem Siebenjährigen Krieg von allen europäischen Armeen geführt wurde. Es bedurfte aber der Erfahrungen der Revolution und der französischen Hegemonie, dass sich aus diesen Gedanken die Idee von einer neuen Art der Kriegsführung mit eigener politisch-sozialer Sprengkraft entwickelte. Vordenker und Theoretiker dieses neuen Kriegs war Carl von Clausewitz. Zwar bekannte er sich erst 1812 ausdrücklich schriftlich zu dieser Kriegsform mit „politisch-revolutionären Impulsen“,273 doch waren die Grundgedanken weit früher sowohl innerhalb des preußischen Militärs, als auch unter Zivilisten und Politikern verbreitet.274 In seiner ersten Augustdenkschrift und besonders in der Eingabe „Auszug aus der Konstitution für die allgemeine Waffenerhebung des nördlichen Deutschlands gegen Frankreich“ kam Gneisenau den Vorstellungen von Clausewitz bereits sehr nahe.275 Auf diese Ausführungen Gneisenaus bezog sich schließlich Stein explizit, als er dem König die Vorbereitung der „Insurrektion“ empfahl.276 Selbst der gemäßigtere Scharnhorst verlangte zusammen mit der Eröffnung des Kriegs den „allgemeine[n] Aufstand“.277 „Der kleine Krieg und die damit in Verbindung stehende Verwendung der leichten Truppen ist praktisch die spezifische Kriegs- und Kampfesform des Revolutionären, da er ihrer Mentalität im Wesen gleich- oder entgegenkommt“278, konstatierte Werner Hahlweg und beschrieb damit treffend den Zusammenhang zwischen der Art der 273 Zu Clausewitz siehe Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen, 6. Aufl., Berlin 2006, S. 15. Werner Hahlweg, Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg (Wehrwissenschaftliche Rundschau, Beiheft 18), Frankfurt a. M. 1962, S. 34 – 39, hier das Zitat S. 35 (Kursivsetzung im Original). 274 Siehe Hahlweg, Reformzeit, S. 40 – 44. 275 Siehe Denkschrift Gneisenau, s. l., (August 1808) und Gneisenau „Auszug aus der Konstitution für die allgemeine Waffenerhebung des nördlichen Deutschlands gegen Frankreich“, s. l., (August 1808). Thimme, Erhebungspläne, S. 92 – 97. 276 Siehe Denkschrift Stein, Königsberg, 11. 8. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 776, S. 808 – 812, das Zitat hier S. 810. 277 Siehe Denkschrift Scharnhorst, (Königsberg, 21. 8. 1808). Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 281., S. 439 – 441, hier das Zitat S. 440. 278 Siehe Hahlweg, Reformzeit, S. 48 f. (Kursivsetzung im Original).
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Kriegsführung und den dahinterstehenden politischen Ordnungsvorstellungen.279 Auch dem „Volkskrieg“, der wesentlich auf dem kleinen und Partisanenkrieg beruhen sollte, wohnte eine revolutionäre Dimension inne. Der Ordnungsbruch entsprach der Logik eines Kriegs, der sich den militärischen, politischen und sozialen Konventionen des Ancien Régime entzog. Schon die Negierung der Besatzungsordnung durch einen staatlich beförderten Aufstand stellte etwas unerhört Neues dar, wie Hahlweg feststellte.280 Die Ideologie des Befreiungskampfs konnte schließlich eine ernste Bedrohung für die staatlich-politische Ordnung Preußens werden. Es war gut möglich, dass die Bewaffnung der Massen, die nicht mehr nur für den König, sondern auch für die Nation und das Vaterland kämpften, und deren Verwendung außerhalb der engeren militärischen Befehlshierarchie geplant war,281 eine Eigendynamik freisetzte, die das Fundament der monarchischen Souveränität erschüttern konnte. Seine Befürworter nahmen diese acherontische Kraft des „Volkskriegs“ jedoch in Kauf, war doch den meisten von ihnen der Gedanke einer politischen und gesellschaftlichen Neuordnung nicht fremd. „Europa ist durch sich selbst im Revolutionszustande erklärt. Hier muß das Feuer auflodern und dort und eine Flamme die andre entzünden, bis der allgemeine Brand den Feind des Friedens verzehrt hat“282. Diese Worte wurden nicht im französischen Nationalkonvent gesprochen, sondern sind der mehrfach erwähnten Petition vom 14. Oktober 1808 entnommen. In dieselbe Richtung wiesen die Ausführungen von Clausewitz, der 1809 davon sprach, Europa könne „[e]iner großen und allgemeinen Revolution (…) nicht entgehen“, für die „die Insurrection der deutschen Völker nur ein Vorläufer“ sei. Nur ein König werde sich in dieser Epoche der Geschichte behaupten können, meinte Clausewitz, der es verstünde, sich an die Spitze dieser Revolution zu stellen.283 Diese nebulösen Formulierungen deuten an, dass sich Clausewitz und die anderen Anhänger der Volkskriegsidee der Risiken ihrer Politik bewusst waren – ja diese ungeachtet der Folgen für die Stellung des Monarchen billigend in Kauf nahmen –, wenn auch längst
279 Siehe ebd., besonders S. 53 – 57. Auch Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 252: „Die nationaldemokratischen Idee des ,Volks in Waffen‘ erreichte in diesen Plänen der preußischen Patrioten ihre äußerste Steigerung.“ 280 Siehe Hahlweg, Reformzeit, S. 55. 281 Gneisenau schlug beispielsweise die Wahl der Unteroffiziere und Offiziere durch die „zusammen gebrachten Bataillone“ vor. Letztere sollten vom König nur bestätigt werden. Siehe Gneisenau „Auszug aus der Konstitution für die allgemeine Waffenerhebung des nördlichen Deutschlands gegen Frankreich“, s. l., (August 1808). Thimme, Erhebungspläne, S. 95, hier auch das Zitat. 282 „Eingabe“, Königsberg, 14. 10. 1808. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 168, S. 259. 283 Siehe Carl v. Clausewitz an Marie v. Clausewitz, K(önigsberg), 21. 5. 1809. Karl Schwartz, Leben des Generals Carl v. Clausewitz und der Frau Marie v. Clausewitz geb. Gräfin von Brühl. Mit Briefen, Aufsätzen, Tagebüchern und anderen Schriftstücken, 2 Bde., Berlin 1878, hier Bd. 1, S. 352 – 355, hier die Zitate S. 353.
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nicht alle die sozialrevolutionären Veränderungen anstrebten wie Gneisenau mit seiner Konzeption einer Nationalarmee.284 Spanien, das leuchtende Vorbild für Stein, oder Gneisenau, ist das beste Beispiel dafür, wie wenig die Prinzipien des „Volkskriegs“ mit der monarchischen Souveränität oder überhaupt mit einem modernen staatlichen Anspruch auf das Gewaltmonopol zu vereinbaren waren. Die spanische Regierung, die zunächst den Aufbau der partidas gefördert hatte, musste bald erkennen, dass sich diese bewaffneten Banden ihrer Kontrolle entzogen. Als sich der Sieg über Napoleon abzuzeichnen begann, brach schließlich der Konflikt zwischen der Staatsgewalt und den Guerilleros offen aus. Es bedurfte am Ende eines regelrechten Kriegs, um die Staatlichkeit und Souveränität im Innern Spaniens wiederherzustellen.285 Selbst außerhalb der zivilen und militärischen Führung hatten sich die Volkskriegsidee nach 1807 verbreitet. Friedrich von Cölln bekannte sich etwa in seinen „Vertrauten Briefen“ zum „Aufstand in Masse“.286 Eine literarische Ausgestaltung fand der „Volkskrieg“ schließlich in Kleists „Hermannsschlacht“, die während der französischen Besetzung im Sommer 1808 verfasst wurde. Das Stück ist vor allem deshalb erwähnenswert, weil darin die Logik des organisierten Partisanenkriegs, so wie ihn Gneisenau und andere planten, in letzter Konsequenz vollzogen wurde. Dabei vermag nicht in erster Linie die politische, wohl aber die moralische Entgrenzung, die Kleist darstellte, den Leser zu schockieren. Kleist schuf ein Szenario, in dem die Regeln des Kriegsrechts außer Kraft gesetzt sind und eine Totalität des Kriegs zu betrachten ist, die in den Jahrzehnten vor der Revolution und der französischen Hegemonie kaum denkbar war. Nicht einmal vor der Verheerung des eigenen Landes schrecken die Aufständischen des Dramas „im Namen des absoluten Feinds“ zurück;287 ähnlich forderte es Gneisenau im August 1808. Diese Entgrenzungssehnsucht, die Kleist mit einigen Politikern und Offizieren teilte, wurde Jahre später im Landsturmedikt von 1813 kurzzeitige Realität.288 Natürlich gab es im Umfeld des Königs auch Personen wie den Generalmajor v. Yorck, die vor den Risiken dieser moralischen und politischen Entgrenzung warnten.289 Yorck, der spätere Unterzeichner der Konvention von Tauroggen, sah in Preußen die Voraussetzungen für einen Krieg im Stile der Vendée oder Spaniens 284 Siehe hierzu Heinz Stübig, Armee und Nation. Die pädagogisch-politischen Motive der preußischen Heeresreform 1807 – 1814 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XI Pädagogik, 5), Frankfurt a. M. 1971, S. 204 – 207. 285 Siehe Esdaile, Napoleon, S. 160 – 192. 286 Siehe (Friedrich von Cölln), Vertraute Briefe über die inneren Verhältnisse am Preußischen Hofe seit dem Tode Friedrich II., 6 Bde., Amsterdam-Cölln (Leipzig) 1807 – 1808, hier Bd. 6, S. 69. 287 Zu Kleist siehe Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege (Heilbronner Kleist-Studien, 5), 2. Aufl., Heilbronn 2011, S. 226 – 255, hier das Zitat S. 235. Auch Schmitt, Theorie, S. 15. 288 Zur Bedeutung des Landsturmedikts siehe Schmitt, Theorie, S. 47 – 50. 289 Siehe hierzu Ibbeken, Preußen, S. 138. Delbrück, Gneisenau, Bd. 1, S. 163.
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überhaupt nicht gegeben und warnte eindringlich vor den gesellschaftspolitischen Folgen.290 Andere rieten vor allem wegen außenpolitischer Bedenken von einer Kriegspolitik ab. Viele dieser Persönlichkeiten, unter ihnen der Fürst von Hatzfeld oder der ehemalige Minister Zastrow, waren pro-französisch gesonnen und sprachen sich aus deshalb für eine möglichst enge Kooperation mit Frankreich aus.291 Die jeweiligen Motive sind aber nur selten eindeutig zu benennen; eine Verurteilung als „Franzosenfreunde“292 oder „französelnde[] Partei“293 verdeckt die Argumente, die durchaus für eine solche Außenpolitik, die man pragmatisch nennen könnte, sprachen. Sogar Parteigänger Gneisenaus befürworteten schließlich notgedrungen eine Annäherung an das französische Kaiserreich.294 Aber in einer „idealistischen Überschätzung“295, so drückte es Friedrich Meinecke aus, sahen die Befürworter des „Volkskriegs“ über solcherlei Bedenken hinweg.
2. Für das Vaterland, gegen den König? Insubordination als Gefahr für die königliche Souveränität (1809) Nicht nur in Königsberg, auch in Wien gab es Personen, die zum Krieg gegen Napoleon drängten. Wie ihre preußischen Gesinnungsgenossen glaubten auch die Kriegsbefürworter in Österreich, nur ein Präventivkrieg könne den Staat vor dem sicheren Untergang bewahren. Die Lage schien jetzt, angesichts der militärischen Bedrängnis Frankreichs in Spanien, günstig; davon konnte auch der österreichische Kaiser überzeugt werden. Noch bevor die Kriegsvorbereitungen vollständig abgeschlossen waren, eröffnete Österreich Anfang April 1809 den Krieg.296 Dieser Schritt war diplomatisch nur unzureichend abgesichert. Österreich wiederholte den Fehler, den Preußen drei Jahre zuvor gemacht hatte, und riskierte ohne nennenswerte militärische Unterstützung den Waffengang gegen die französische Supermacht. Zwar landeten in etwa zeitgleich mit der Eröffnung des Kriegs englische Truppen auf der Insel Walcheren in den südlichen Niederlanden, aber dieses Unternehmen endete in einem Fiasko.297 Mit Russland verweigerte schließlich die einzige andere bedeutende europäische Macht, die neben England noch nicht von Napoleon unterworfen worden war, von vornherein jede Hilfe. Alexander kam al290
Siehe Yorck an Unbekannt, s. l., (nach dem 21. 9. 1808). Vaupel, Reorganisation, Nr. 269, S. 586 f. Hierzu Ibbeken, Preußen, S. 137 f. 291 Siehe Ibbeken, Preußen, S. 97. Haußherr, Erfüllung, S. 147 f. Roell an Gneisenau, s. l., 7. 3. 1809. Pick, Noth, S. 135. 292 Haußherr, Erfüllung, S. 10. 293 Ibbeken, Preußen, S. 97. 294 Siehe Roell an Gneisenau, s. l., 7. 3. 1809. Pick, Noth, S. 135. 295 Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, 2 Bde., Stuttgart 1896/1899, hier Bd. 1, S. 173. 296 Siehe hierzu Schroeder, Transformation, S. 351 – 366. 297 Siehe Ranke, Geschichte, Bd. 3, S. 127.
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lerdings auch nicht den Bestimmungen des Erfurter Allianzvertrags nach, der ihn eigentlich dazu verpflichtete, Frankreich bei einem österreichischen Angriff beizustehen. Erst die Beschwerden Caulaincourts am Petersburger Hof veranlassten Ende Juli den Einmarsch russischer Truppen in Galizien; das russische Engagement blieb aber insgesamt äußerst bescheiden.298 An Preußen hatte sich die österreichische Diplomatie schon vor Kriegsausbruch erfolglos mit einer Bündnisofferte gewandt.299 Zu Beginn des Feldzugs verstärkte die Hofburg noch einmal ihr Werben um den nördlichen Nachbarn, ohne aber die grundsätzlichen Vorbehalte zu überwinden, mit denen Friedrich Wilhelm den Unterhandlungen gegenüberstand, die parallel in Berlin, Königsberg, Schlesien und Wien geführt wurden. Da ihm klar war, dass das militärische Potenzial des Empire gepaart mit der Gefahr eines Zweifrontenkriegs die Unterstützung oder zumindest die Neutralität des Zaren zu einer unabdingbaren Voraussetzung eines erfolgreichen Kriegs machten,300 versuchte der preußische König, vorsichtig die Stellung Russlands auszuloten. In einem Schreiben an den Zaren erbat er die russische Garantie für die Integrität Preußens, falls es wegen nicht bezahlter Kontributionen zum Bruch mit Napoleon kommen würde. Alexander hielt jedoch unbeirrt an seinem außenpolitischen Kurs des Vorjahres fest und ermahnte die preußische Seite zum unbedingten Einhalten der vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Frankreich; der Krieg Österreichs sei ohnehin zum Scheitern verurteilt.301 Obwohl die Rückendeckung aus St. Petersburg ausblieb, befahl Friedrich Wilhelm Anfang Mai, die Gespräche mit Österreich weiter zu intensivieren und zugleich die eigenen Rüstungsanstrengungen zu steigern. Russland hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht aktiv in den Krieg eingegriffen, so dass zumindest eine unausgesprochene russische Neutralität erwartet werden konnte. Der preußische König war allerdings nur dann bereit, sich ohne das Zarenreich gegen Napoleon zu wenden, wenn die österreichische Armee einen entscheidenden Sieg erringen würde; das Risiko einer erneuten preußischen Niederlage wollte er unbedingt auf ein Minimum reduzieren. Es waren aber nicht allein solche militärischen Bedenken, die Preußen von einem Bündnis mit Österreich abhielten. Der Wille zur Kooperation wurde auch wegen Meinungsverschiedenheiten über die Gestalt einer Nachkriegsordnung für Deutschland entschieden geschwächt. Der seit dem 18. Jahrhundert bestehende 298
Siehe Tatistcheff, Alexandre, S. 487, 489. Seton-Watson, Russian Empire, S. 119. Zawadzki, Russia, S. 34. 299 Siehe Ibbeken, Preußen, S. 148. 300 Stamm-Kuhlmann irrte, wenn er in Friedrich Wilhelms Beharren auf eine russische Unterstützung einen Versuch des Königs sah, die Verantwortung für die Entscheidung zum Krieg auf Alexander abzuwälzen. Siehe Stamm-Kuhlmann, König, S. 298. 301 Siehe Friedrich Wilhelm an Alexander, Königsberg, 24. 3. 1809. Alexander an Friedrich Wilhelm, St. Petersburg, 7. 5. 1809. Bailleu, Briefwechsel, Nr 174, 177, S. 184 f., 190 f. Am 12.5., 15.7. und 24. 7. 1809 wiederholte der König erfolglos die Bitte um die Unterstützung, oder zumindest Neutralität Russlands im Fall, dass Preußen in den Krieg eintreten würde. Siehe ebd., Nr. 176, 179, 180, S. 186 – 189, 192 – 196.
II. Der Krieg
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politische Gegensatz der zwei Staaten konnte selbst in dieser für beide Seiten höchst brenzligen Lage nicht überwunden werden.302 Während Friedrich Wilhelm schließlich seine Monarchie aus einem erneuten Krieg heraushielt – und damit vor einer Katastrophe bewahrte –, musste Österreich nach der Schlacht von Wagram den Frieden von Schönbrunn akzeptieren. Napoleon war es erneut gelungen, die französische Hegemonie in Europa zu festigen. Dieser Erfolg belastete jedoch das Verhältnis zu Russland schwer. Der im Schönbrunner Vertrag festgelegte Erwerb Westgaliziens durch das Herzogtum Warschau (Art. 4), zu dessen Territorium nun auch die alte polnische Königsstadt Krakau gehörte, wurde in St. Petersburg als Affront aufgefasst. Russland musste in dieser Erweiterung des französischen Satelliten eine militärische und politische Bedrohung erblicken. Anfang 1810 trotzte der Zar zwar Napoleon eine Erklärung ab, in welcher letzterer ausdrücklich auf die Wiederherstellung des polnischen Königreichs verzichtete, das Misstrauen des russischen Verbündeten in die Absichten des Kaisers war dadurch aber keineswegs beseitigt.303 Während des gesamten Kriegs, von der Eröffnung der Feindseligkeiten bis zum Abschluss des Schönbrunner Friedensvertrags, lastete ein mit dem Vorjahr vergleichbarer innenpolitischer Druck auf Friedrich Wilhelm. Eine in ihren politischen Zielen disparate Gruppe von Gesinnungsgenossen bestürmte den König,304 die Gunst der Stunde zu nutzen und sich endlich Österreich anzuschließen, um die äußere Unabhängigkeit Preußens wiederherzustellen.305 Altenstein, der im Vorjahr zurückhaltend geblieben war, war 1809 einer der energischsten Unterstützer dieses Drängens zum Krieg. Er stand wegen der Unmöglichkeit, die fälligen Kontributionsraten aufzubringen, mit dem Rücken zur Wand und empfahl deshalb Ende April, die noch vorhandenen finanziellen Mittel in die Aufrüstung zu investieren.306 Unterstützung erhielt er vom gesamten Staatsministerium, das den König in zwei gemeinschaftlich unterzeichneten Immediatberichten dazu aufrief, sich zu einer der
302 Zu den österreichisch-preußischen Verhandlungen siehe Ranke, Geschichte, Bd. 3, S. 116 – 119, 121 – 132. Ders., Denkwürdigkeiten, Bd. 4, S. 185 – 189, 194 – 196. Ibbeken, Preußen, S. 161 f. 303 Siehe Zawadzki, Russia, S. 34. 304 Siehe hierzu Ibbeken, Preußen, S. 154. 305 Siehe „Stellungnahme des Großkanzlers Beyme zur politischen Lage“, Königsberg, 30. 4. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 99, S. 251 f. Zur innerpreußischen Debatte siehe Udo Gaede, Preussens Stellung zur Kriegsfrage im Jahre 1809. Ein Beitrag zur Geschichte der preussischen Politik, Hannover/Leipzig 1897, S. 74 ff. Sowie Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 474 – 475. Schon vor Kriegsausbruch drängte man den König zur Kooperation mit Österreich. Siehe Denkschrift Knesebeck, s. l., 23. 3. 1809. Stern, Abhandlungen, S. 51 – 59. Denkschrift Scharnhorst, (Königsberg), 20.2.–(29.3.)1809. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 338, S. 503 – 507. Lehmann, Scharnhorst, Bd. 2, S. 248 – 255. 306 Siehe Kap. C., Fn. 209.
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beiden Kriegsparteien zu bekennen;307 selbstredend favorisierten Altenstein, Goltz, Dohna und Scharnhorst die Allianz mit Österreich. Nicht nur in Königsberg, auch im fernen Berlin gab es zahlreiche Kriegsbefürworter, die sich vornehmlich um Prinz August versammelten. Zu ihnen zählten neben den hochrangigen Militärs Anton Wilhelm L’Estocq, Bogislav Tauentzien, Friedrich Wilhelm Graf Bülow und Blücher, auch der kurmärkische Regierungspräsident Ludwig v. Vincke, der preußische Außenminister Goltz, der Oberpräsident von Brandenburg Sack sowie der Berliner Polizeipräsident Gruner. Auf gemeinsamen Treffen, wie Gruner berichtete, habe sich die Gruppe getroffen, um darüber zu beraten, wie der König zu einer Kriegserklärung an Frankreich bewegt werden könne. Das zu diesem Zweck schließlich aufgesetzte Schreiben sandte man dem Monarchen am Ende aber nicht zu.308 Auch 1809 sollte den Kriegsbefürwortern die öffentliche Meinung zur Rechtfertigung ihrer außenpolitischen Ziele dienen; nur, dass sie diesmal auf das Instrument einer Volksvertretung verzichten wollten. Stattdessen verwies man in Berichten nach Königsberg direkt auf eine angeblich weitverbreitete Kriegsbegeisterung.309 Altenstein mahnte mit Hinweis auf die Stimmung in der Bevölkerung, „daß wir uns nicht verhehlen dürfen, daß das Wichtigste, die Liebe des Volks für den König und dessen Anhänglichkeit an den Staat und die Verfassung, auf dem Spiele steht.“310 Goltz, Generallieutnant Graf von Tauentzien und der Gouverneur von Berlin L’Estocq stießen in dasselbe Horn und warnten, dass das Band zwischen Regierung und Volk, das seit 1806 ohnehin schon gelockert sei, nun vollends zu zerreißen drohe. Anarchie werde ausbrechen, sollte der König nicht bald nach Berlin zurückkehren und sich zum Krieg entschließen. Goltz schrieb schließlich an die Königin: „Wenn der König länger zaudert, einen der öffentlichen Meinung, die sich laut für den Krieg gegen Frankreich erklärt, entsprechenden Entschluss zu fassen, so wird unfehlbar eine Revolution ausbrechen.“311 Es ist schwierig, sich anhand der überlieferten Berichte ein Bild von der tatsächlichen Stimmungslage in Berlin oder im ganzen Land zu machen. In der Hauptstadt herrschte offensichtlich eine starke Aversion gegenüber allem Franzö-
307
Siehe Immediatbericht Staatsministerium, Königsberg, 15.7. und 21. 7. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 130, 132, S. 350 – 365, 367 f. 308 Siehe Gruner an Dohna, Berlin, 13. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 205, S. 444 f. Bodelschwingh berichtete von zwei Treffen dieser Gruppe. Siehe Bodelschwingh, Vincke, S. 431. Hierzu auch Lehmann, Scharnhorst, Bd. 2, S. 264 f. 309 Siehe Veit Veltzke, Zwischen König und Vaterland. Schill und seine Truppe im Netzwerk der Konspiration, in: Ders. (Hrsg.), Für die Freiheit gegen Napoleon. Ferdinand von Schill, Preußen und die deutsche Nation, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 107 – 154, hier S. 139 f. Hierzu auch Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 4, S. 180 – 184. 310 So in einer Denkschrift (Königsberg, 19. 7. 1809), in der Altenstein zum Krieg riet. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 19, S. 108 – 114, hier das Zitat S. 109. 311 Zit. n. Lehmann, Scharnhorst, Bd. 2, S. 263.
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sischen.312 Im Mai berichtete beispielsweise Staatsrat Heinrich v. Beguelin, dass drei durchziehende französische Soldaten in Berlin beinahe gelyncht worden seien und die Einwohner den Wagen des französischen Gesandten Serre mit Unrat beworfen hätten.313 Von diesen antifranzösischen Reflexen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die überwiegende Mehrheit der vom letzten Krieg und der Besatzungszeit schwer getroffenen Bevölkerung unbedingt einen neuen Konflikt herbeigesehnt hätte.314 Wenn man die Berichte von Repräsentanten der Verwaltung vor Ort liest, ergibt sich ein wesentlich differenzierterer Eindruck. Über den preußischen Kriegseintritt hätten „[d]ie Verschiedenheit der Ansichten, die mannigfach sich durchkreuzenden Interessen (…) verschiedene Urtheile hervorgebracht“, schrieb etwa Sack. Er kam zwar zu dem Schluss, dass die Mehrheit die Neutralität wohl nicht begrüßen würde, von einer expliziten Kriegsbegeisterung sprach er allerdings nicht.315 In die gleiche Richtung wiesen die Äußerungen des Berliner Polizeipräsidenten Gruner.316 Beide hielten vor allem das plötzlich überall aufkommende öffentliche Interesse an den allgemeinen außenpolitischen Geschehnissen für bemerkenswert. Sie registrierten in ihren Berichten mit Unbehagen diese Unruhe, diese neue, bisher ungekannte Teilnahme der Bevölkerung an den internationalen Geschehnissen. Dieses politische Interesse wurde von einem Teil der Kriegsbefürworter zu einer Kriegsbegeisterung hochstilisiert, die es so wohl nicht gab, oder die auf jeden Fall nicht alle Schichten gleichermaßen erfasste. Berichte von einer zum Bersten gespannten Kriegserwartung gab es auch nicht aus anderen Städten der Monarchie.317 Von einem landesweiten Phänomen kann mithin kaum die Rede sein. Selbst die Neugierde der Berliner an den Kriegsereignissen scheint sich recht schnell wieder gelegt zu haben. In der
312 Siehe Sack an Dohna, Berlin, 13. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 204, S. 442. In seinem Zeitungsbericht vom 6. Mai 1809 meinte Sack, der Hass sei „überall, aber mehr zurückgehalten und versteckt“. Ebd., Nr. 197, S. 433. 313 Siehe Beguelin an Gneisenau, Berlin, 11. 5. 1809. Pick, Noth, S. 139 f. Tagebuch Sack, Berlin, 9. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 202, S. 439. 314 Lehmann meinte dagegen, die Bevölkerung sei einmütig fest zum Krieg entschlossen gewesen. Siehe Lehmann, Scharnhorst, Bd. 2, S. 263. Gaede, Ibbeken und Münchow-Pohl rieten demgegenüber zu einer wesentlich differenzierteren Sichtweise auf die Stimmung innerhalb der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Siehe Gaede, Kriegsfrage, S. 89. Ibbeken, Preußen, S. 150 f. Münchow-Pohl, Reform, S. 146. 315 Siehe Sack an Stein, (Berlin), 4. 5. 1809. Steffens, Briefwechsel, Nr. 11, S. 30. Tagebuch Sack, (Berlin), 5. 6. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 19, Bl. 32, hier das Zitat. 316 So unter anderem im Polizeirapport vom 29.4.–2. 5. 1809, Berlin, 2. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 192, S. 425 – 427. 317 Nur Otto Linke und später Willi Erler gingen von einer begeisterten Kriegsstimmung auch in den unteren Schichten Schlesiens aus. Siehe Willi Erler, Schlesien und seine Volksstimmung in den Jahren der inneren Wiedergeburt Preussens 1807 – 1813. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte, Leipzig 1910, S. 93 – 112. Otto Linke, Friedrich Theodor von Merckel im Dienst fürs Vaterland (Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte, 5), Breslau 1907, S. 126.
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zweiten Junihälfte bezeichnete Gruner die Einwohner bereits wieder als „sehr fröhlich“318. Ende April und Anfang Mai wurde die Aufmerksamkeit der Bevölkerung in Berlin und der näheren Umgebung vor allem vom Auszug eines Regiments der Berliner Garnison unter dem Kommando des Majors Ferdinand v. Schill gefesselt.319 Schill war mit seinen Truppen ohne Befehl des Königs nach Westfalen gezogen, um dort auf eigene Faust einen „kleinen Krieg“ zu führen und die dortigen ehemaligen Untertanen des preußischen Königs zum Kampf gegen die Franzosen anzustacheln. Doch die militärischen Erfolge und der erwartete Zulauf blieben aus. Die Bevölkerung verhielt sich meist passiv und war kaum für Schills Insurrektionspläne zu begeistern.320 Auf Unterstützung aus Preußen konnte Schill wiederum kaum hoffen, denn sein eigenmächtiges Vorgehen musste – spätestens nachdem er den ausdrücklichen Befehl zur Rückkehr missachtet hatte – als Hochverrat gelten. Angesichts einer gegnerischen Übermacht zog sich Schill nach Stralsund zurück, wo er das Leben verlor und seine Truppen aufgerieben wurden. Was waren die Motive Schills, die ihn dazu bewogen, sich der Autorität des Königs zu widersetzen? Wie war eine solche Eigenmächtigkeit überhaupt möglich? Dies sind Fragen, die es zu beantworten gilt, wenn die Bedeutung der Aktion Schills für den Zustand der königlichen Souveränität richtig bewerten werden soll. Veit Veltzke trat mit der prononcierten These hervor, Schill habe nicht auf eigene Faust gehandelt, sondern sei Mitglied einer Verschwörergruppe bestehend aus hochrangigen Militärs und Beamten gewesen, die das Ziel gehabt hätten, den König zum Krieg zu zwingen. Schill sei nach Veltzke in diesem Plan die Rolle zugefallen, einen Volksaufstand in Norddeutschland zu entfachen und damit Preußen soweit gegenüber Napoleon zu kompromittieren, dass der Krieg unumgänglich gewesen wäre.321 Ähnlich lautende Spekulationen gab es bereits im 19. Jahrhundert.322 Obzwar 318 Polizeibericht an Dohna, (Berlin), 20. 6. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Tit. 516, Nr. 1, Bl. 157. Für ähnlich ruhig hielt auch Sack die Stimmung, wobei er auch auf die Niedergeschlagenheit in Folge der österreichischen Niederlage und des Fernbleibens des Königs hinwies. Siehe Tagebuch Sack, Berlin, 1.7. und 15. 8. 1809. Zeitungsbericht Kurmärkische Regierung, Potsdam, 9. 8. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 227, 245, 247, S. 480, 503, 504 f. 319 Zu Schills Person und seiner Desertion siehe unter anderem Hermann Klaje, Ferdinand Schill 1776 – 1809, in: Gotthard Bloth et al. (Hrsg.), Pommersche Lebensbilder, 5 Bde., Stettin/ Köln 1934 – 1979, hier Bd. 4, S. 241 – 266, hier passim. 320 Siehe Henrich Steffens, Was ich erlebte. Aus den Erinnerungen niedergeschrieben, 9 Bde., Breslau 1840 – 1844, hier Bd. 6, S. 191 – 196. Siehe den Bericht Neigebauers, eines Untergebenen Schills, in Eckhart Kleßmann (Hrsg.), Deutschland unter Napoleon in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1965, S. 363. 321 Siehe Veltzke, König, S. 137 f. und passim. 322 Schon Pertz wies auf die gegen Scharnhorst, Blücher, Gneisenau und Chasôt erhobenen Vorwürfe hin, einen Putsch beabsichtigt und sich dazu Schills als Werkzeug bedient zu haben, hin. Pertz lehnte diese Deutung der Dinge allerdings ab. Siehe Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 497 f. Gerüchte über eine solche Verschwörung kursierten bereits kurz nach dem Auszug Schills. Siehe Marsan an Napoleon, Berlin, 15. 5. 1809. Stern, Abhandlungen, S. 282. Blücher trat den Anschuldigungen in einem Schreiben an Gneisenau entgegen. Siehe Blücher an Gneisenau,
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Veltzke der Verdienst zukommt, ein borussisch-nationales Narrativ zu hinterfragen und damit eine fällige Diskussion anzustoßen, drängen sich doch auch Zweifel an seiner Argumentation auf. Der 1809 ausgebrochene Aufstand der Tiroler bestätigte Schill wie auch andere Anhänger der Volkskriegsidee in dem Eindruck, den sie bereits aus Spanien gewonnen hatten: Ein begeistertes, zum Krieg entschlossenes Volk sei fähig, zur Rettung der Monarchie, Befreiung der eigenen Nation und Bewahrung des Staats erfolgreich gegen eine Besatzungsmacht zu kämpfen.323 Wie im spanischen Fall schenkte man in Preußen auch der österreichischen Propaganda zu leicht Glauben. Auch in Tirol waren die Motive der Aufständischen vielfältig. Für den Kampf gegen die bayerischen Besatzer war eher die Verteidigung alter regionaler Freiheiten ausschlaggebend als die Anhänglichkeit an die Habsburger Krone, wie Martin Schennach in seiner umfangreichen Studie zum Krieg in Tirol nachweisen konnte; selbst die militärische Bedeutung des Aufstands sei laut Schennach nur gering zu veranschlagen.324 Für Schill ergab sich der Eindruck, dass im nördlichen Deutschland eine Eruption ähnlich der in Tirol kurz bevorstünde. Nachrichten von Erhebungsversuchen des westfälischen Obersts v. Dörnberg und des preußischen Offiziers v. Katte,325 die Schill erreichten, mögen das Vertrauen in die eigenen Pläne zur Insurrektion bestärkt haben.326 Schill konnte sich als Teil einer allgemeinen Bewegung zur Befreiung Deutschlands von der französischen Herrschaft begreifen.327 Dass Katte und Dörnberg kaum Unterstützung aus der Bevölkerung erfuhren und von Kriegsbegeisterung weder westlich, noch östlich der Elbe die Rede sein konnte, wusste er entweder nicht, oder er ignorierte es. Die Berliner verfolgten den von Schill geführten Kampf in Westfalen zwar mit regem Interesse, doch ohne diesen durchweg zu begrüßen.328 Um einem größeren Ansehensverlust der Krone vorzubeugen, war Gruner der Meinung, die Einwohner sollten in dem weit verbreiteten Glauben belassen werden, Schill habe auf geheimen Befehl des Königs gehandelt. Am Ende war seine Befürchtung, dass der Gedanke der Stargard, 16. 6. 1809. Gebhard Leberecht von Blücher, Blüchers Briefe, ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Leipzig 1915, S. 27 f. 323 Neigebauer, einer der Teilnehmer des Schillschen Unternehmens, berichtete, Schill habe, um seine Soldaten zu motivieren, auf die Ereignisse in Spanien und Tirol verwiesen. Siehe Kleßmann, Deutschland, S. 363. 324 Siehe Martin Schennach, Revolte in der Region. Zur Tiroler Erhebung von 1809, Innsbruck 2009, S. 111 – 142, 236 – 329 und passim. 325 Siehe Ibbeken, Preußen, S. 151 f. 326 Siehe Tagebuch Ompteda, Eintrag v. 9. 4. 1808. Ompteda, Nachlaß, Bd. 1, S. 412. Schill erzählte Ompteda von seiner Absicht, mit einem kleinen Korps in Norddeutschland einen Volksaufstand entfachen zu wollen. 327 Siehe zu Katte, Dörnberg und anderen, kleineren Aufstandsversuchen im Jahr 1809 Ibbeken, Preußen, S. 158 f. 328 Siehe Zeitungsbericht Sack, Berlin, 6. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 197, S. 433.
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Insubordination, der sich unter der Garnison von Berlin ausgebreitet hatte, auf die Einwohner der Stadt übergreifen würde, jedoch unbegründet.329 Eine wirkliche Gefahr für die königliche Souveränität ging im Frühsommer 1809 von der Armee und nicht der Bevölkerung aus. „Für die Bürger kann man stehen, für das Militär nicht“, meldete Gruner in den Wochen nach Schills Desertion. Wegen der Unzuverlässigkeit der Armee drohe „Anarchie und Elend“, hieß es weiter.330 Die einzige Möglichkeit, der Lage wieder Herr zu werden, sah auch Gruner in einer Erhebung, oder zumindest in der sofortigen Rückkehr des Königs nach Berlin. Nur, indem sich der König an die Spitze der Kriegsbefürworter stelle, glaubte er, ließe sich der Gehorsam wiederherstellen.331 In der Armee hatte schon im Februar 1809 ein französischer Beobachter ein bedrohliches Unruhepotenzial ausgemacht. „Nous sommes ici dans une véritable interrègne“, wurde der französische Marschall Louis-Nicolas Davout gewarnt; es herrsche eine „anarchie complette“.332 Unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse drohte die Stimmung in der Armee vollends zu kippen. Die von Gruner ausgestoßene Warnung „die Armee wankt!“333 war keineswegs übertrieben. Noch nach dem Auszug von Schills Regiment desertierten zwei weitere Kompanien der Berliner Garnison, um sich dem Kampf in Westfalen anzuschließen. Es wären noch mehr Soldaten diesem Beispiel gefolgt, wenn Tauentzien nicht energisch eingegriffen hätte.334 Auch die zahlreichen inaktiven Offiziere, die nach dem Tilsiter Frieden auf halben Sold gesetzt worden waren und deren wirtschaftliche Lage entsprechend schlecht war,335 drängte es, gemeinsam mit vielen ihrer noch aktiven Kameraden, die Scharte des letzten Kriegs auszuwetzen, um nicht zuletzt auch das eigene soziale Prestige wiederherzustellen.336 Die erfolgreichen Werbungsversuche des Herzogs v. Braunschweig-Oels in Südschlesien zur Aufstellung eines Freikorps dokumentieren dieses Streben vieler Offiziere nach Ehre und Sold.337 329
Siehe Gruner an Dohna, Berlin, 29. 4. 1809. Polizeirapport vom 29.4.-2. 5. 1809, Berlin, 2. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 185, 192, S. 414, 425 f. 330 Siehe Gruner an Dohna, Berlin, 13. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 205, S. 444 f., hier die Zitate S. 445. Im Schreiben Gruners an Dohna (Berlin, 3. 5. 1809) hieß es, „[b]is jezt (!) ist der Geist unter der Bürgerschaft gut und ruhig“. Ebd., Nr. 195, S. 430. 331 Siehe Polizeirapport vom 25.-29. 4. 1809, Berlin, 29. 4. 1809. Gruner an Dohna, Berlin, 2. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 186, 191, S. 415, 424 f. 332 Siehe Agentenbericht (an Marschall Davout), Berlin, 10. 2. 1809. Ebd., Nr. 157, S. 357. 333 Gruner an Dohna, Berlin, 2. 5. 1809. Ebd., Nr. 191, S. 424 (Kursivsetzung im Original). 334 Gruner an Dohna, Berlin, 3. 5. 1809. Ebd., Nr. 195, S. 430. 335 Siehe zu den Entlassungen und der Lage der Offiziere: Clarke an Napoleon, Berlin, 27.4. und 1. 5. 1807. Ebd., Nr. 1, S. 3. Es wurde auf private Initiative eigens eine Kasse zur Unterstützung der Offiziere eingerichtet. Siehe Rundschreiben des Majors von Valentini, Treptow a. R., 29. 10. 1807. Vaupel, Reorganisation, Nr. 60, S. 140 – 142. Pick, Noth, S. 91. Delbrück, Gneisenau, Bd. 1, S, 124 f. 336 Siehe hierzu auch Münchow-Pohl, Reform, S. 138. 337 Siehe hierzu Gaede, Preussens Stellung, S. 67.
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Die Grundhaltung des Offizierskorps war, wenig überraschend, vorwiegend antifranzösisch.338 Diesen Eindruck vermitteln auch die Polizeiberichte der französischen Besatzungsbehörden, die während der Okkupation in Berlin entstanden, und worin gezielte Provokationen von Seiten der entlassenen preußischen Offiziere geschildert wurden.339 Besonders auffällig war ein Kreis frankreichfeindlicher Offiziere in Berlin, dessen Mittelpunkt ein Major v. Möllendorff war. Im Oktober 1807 seien die Mitglieder dieses Zirkels durch die Hauptstadt gezogen, so wurde berichtet, um französische Soldaten zu beleidigen und zu verhöhnen.340 In den besetzten Städten kam es neben solchen verbalen Attacken auch wiederholt zu Duellen und Handgreiflichkeiten zwischen entlassenen preußischen Soldaten und französischen oder polnischen Militärangehörigen.341 Auch für den preußisch kontrollierten Teil der Monarchie lässt sich eine klar antifranzösische Grundstimmung im Offizierskorps ausmachen. Als beispielsweise während einer Aufführung im Königsberger Theaterhaus ein Schauspieler in französischer Uniform auftrat, löste dies einen regelrechten Tumult unter den anwesenden preußischen Offizieren aus. Als Napoleon davon erfuhr, verlangte er unter Missachtung des „unveräußerliche[n] Majestätsrecht[s] auf Rechtspflege“342 die Erschießung der Beteiligten.343 So unbedeutend ein solches Einzelgeschehnis auch sein mag – die Sache verlief schließlich im Sand –, zeugt es doch von verbreiteter Frustration und angestauter Wut. Stellte sich der König 338 Dies konstatierten auch L‘Estocq, Tauentzien und Goltz in ihrer Eingabe. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 4, S. 184. Siehe auch Agenten-Bericht aus Berlin (an den Generalintendanten Daru), s. l., (29. 4. 1809). Granier, Franzosenzeit, Nr. 188, S. 420 f. 339 Siehe Polizeirapport, Berlin, 14. 3. 1808. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 32, Bl. 64v. Polizeirapport, Berlin, 22.6. und 22. 11. 1808. Ebd., Nr. 33, Bl. 5, 254. Die entlassenen preußischen Offiziere standen unter zum Teil strenger Überwachung. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 205. 340 Siehe Polizeirapport, Berlin, 4.10. und 7. 10. 1807. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 31, Bl. 12 – 12v, 14. In der Folge wurden preußische Offiziere von der Besatzungsmacht verhaftet. Siehe etwa „Rapport du 21 au 26 janvier 1808“ von Victor, Berlin, 26. 1. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 39, S. 97. 341 Siehe unter anderem Polizeirapport, Berlin, 11. 10. 1807. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 31, Bl. 16v. Sowie Hermann Granier, Schlesische Kriegstagebücher, Breslau 1904, S. 42 – 44. Voß an Prinz Wilhelm, Berlin, 14. 7. 1808. Ders., Franzosenzeit, Nr. 108, S. 276. Varnhagen, Denkwürdigkeiten, Bd. 1, S. 542 f. In Schlesien wurde Grawert angesichts der Häufigkeit solcher Zwischenfälle dazu angehalten, künftig verstärkt auf deren Vermeidung zu achten. Siehe Kabinettsorder an Grawert, Memel, 1. 10. 1807. Vaupel, Reorganisation, Nr. 53, S. 125 f. Oberst von Kleist wurde 1808 eigens nach Berlin gesandt, um die dort lebenden Offiziere zu beobachten. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 384. 342 Schön, Aus den Papieren, Bd. 4, S. 562. Schön gab abweichend von anderen Quellen an, der Tumult habe sich ereignet, weil ein Schauspieler während einer Theateraufführung mit dem Abzeichen der Ehrenlegion aufgetreten sei. Siehe ebd., S. 561. 343 Siehe zum Gesamtvorgang die Akte GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 466. Auch Stägemann an seine Frau, Memel, 1. 10. 1807. Rühl, Briefe, Bd. 4, Nr. 40, S. 45. Schön, Aus den Papieren, Bd. 1, S. 44 f. Ompteda, Politischer Nachlaß, S. 319 f. Napoleon an Champagny, Rambouillet, 7. 9. 1807. Napoleon, Correspondance Général, Bd. 7, Nr. 16313, S. 1096. Von weiteren Vorfällen dieser Art in Königsberg berichtete Lesage, Napoléon, S. 51 – 57.
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den Sehnsüchten der Offiziere entgegen und kooperierte gar mit dem französischen Feind, war ein Ansehens- und Autoritätsverlust kaum zu verhindern. Organisatorischen Rückhalt fanden die Offiziere und einzelne Beamte und Bürger, die den Krieg gegen Frankreich forderten, in den verschiedenen konspirativen Zirkeln, wie dem Möllendorffs, und Netzwerken, die während der Besatzungszeit entstanden waren und die trotz des erneuerten Verbots von geheimen Verbindungen über das Jahr 1808 hinaus fortbestanden.344 Allein in Schlesien, das eines der Zentren dieser Widerstandsgruppen war, zählte Götzen sechs geheime Verbindungen, die sich in Zusammen- und Zielsetzung zum Teil erheblich voneinander unterschieden und gelegentlich auch in Konkurrenz zueinander standen. Ihre Ziele reichten von der Umsetzung rein pädagogischer Maßnahmen bis hin zu einer Erhebung, die „mehr Massacre als militairische Operation“ gewesen wäre. Während seiner Anwesenheit in Schlesien war Götzen bemüht, diese Verbindungen unter seiner Aufsicht zusammenzuführen, um aus ihnen brauchbare Zellen für den „Volkskrieg“ zu formen. Gruppen, die er wegen ihrer politischen oder militärischen Absichten für zu gefährlich hielt, löste er kurzerhand auf.345 Genauso wie Götzen versuchte auch Bülow, in Pommern solche Gruppierungen, die ohne staatliche Legitimation existierten, unter seine Kontrolle zu bringen. Bülow und Götzen handelten in Übereinstimmung mit den Plänen des Kriegsdepartements. Während des Höhepunkts der Sommerkrise 1808 hatte Scharnhorst in einer Denkschrift, die im Original den Titel „Organisationsplan für die geheime Vorbereitung von Aufständen“ trug, den Aufbau eines konspirativen Netzwerks in ganz Preußen angeregt.346 Scharnhorst wollte in jeder Provinz sogenannte „Direktionen“ etablieren, welche die Keimzellen eines Volksaufstands bilden sollten. „Der Zweck der Organisation der Insurrection“ sei es, „im Innern thätig aufzutreten, sobald man des Königs Majestät in der Provinz Preußen angriffe oder ein glücklicher Umstand sich von Außen ereigne, ein Krieg mit Oesterreich oder Rußland, und sehr wenige französische Truppen im Lande blieben (!)“. Am Ende der Eingabe folgt ein 344 Siehe hierzu Helmut Bock, Konservatives Rebellentum im antinapoleonischen Unabhängigkeitskampf. Zur Beurteilung des Freischarzuges unter Ferdinand von Schill, in: Jahrbuch für Geschichte 6 (1972), S. 107 – 145, hier S. 126 f. Bocks Studie basiert zwar auf einem materialistischen Geschichtsverständnis, beinhaltet aber auch Gedanken, die bis heute nichts von ihrer Richtigkeit eingebüßt haben. Siehe auch das „Publikandum gegen geheime Gesellschaften und Verbindungen“, Königsberg, 16. 12. 1808. NCC, Bd. 12/2, Nr. 58, S. 527. 345 Siehe Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 432 – 434, hier das Zitat S. 433. Hugo von Wiese, Die patriotische Tätigkeit des Grafen Götzen in Schlesien in den Jahren 1808 und 1809, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens 27 (1893), S. 38 – 52, hier S. 39 f. Erler, Schlesien, S. 66 – 71. 346 Denkschrift Scharnhorst, (Königsberg?, August 1808?). Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 279, S. 434 – 437. Der Plan ist besser unter der von Stein hinzugefügten Überschrift „Organisation einer Anstalt, umd (!) das Volk zur Insurrektion vorzubereiten und im eintretenden Fall zu bestimmen“ bekannt. Stein unterstützte das von Scharnhorst vorgeschlagene Vorgehen. Siehe hierzu auch Stein an Gentz, Troppau, 29. 7. 1809. Hans-Bernd Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806 – 1814/15 (Quellen zum Politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, 2), Darmstadt 1981, S. 152 – 154. Veltzke, König, S. 111 f.
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Verzeichnis der Mitglieder der verschiedenen Provinzialdirektionen, zu denen neben Bülow, Blücher, Götzen und Schill auch der Berliner Stadtkommandant Ludwig August Graf v. Chasôt zählte. Inwieweit es gelungen war, ein solches Netz von Aufständischen unter der Führung Königsbergs aufzubauen, kann nicht eindeutig gesagt werden. Wahrscheinlich gab es entsprechende Direktionen in Berlin (hier unter Leitung Chasôts) und sechs weiteren Provinzialstädten. Deren Verbindung untereinander und zu anderen Zirkeln, wie dem Tugendbund, der besonders in Schlesien militärisch und national ausgerichtet war, dürfte jedoch eher lose gewesen sein.347 Permanent bestand die Gefahr, dass eine dieser Zellen selbstständig, das heißt ohne ausdrücklichen Befehl des Königs, in Aktion treten würde.348 Doch nahmen die Militärreformer dieses Risiko in Kauf, wollten sie doch den Direktionen wie überhaupt den militärischen Entscheidungsträgern auf mittlerer Ebene auch grundsätzlich ein hohes Maß an Autonomie einräumen. Die Militärreorganisationskommission strebte die Verwirklichung eines neuen Offizierstyps an, der nicht mehr nur schlichter Befehlsempfänger sein sollte, sondern befähigt war, anhand der eigenen Lageeinschätzung selbstständig Entscheidungen zu treffen – notfalls auch gegen den Willen seiner Vorgesetzten. Dies war auch eine Konsequenz aus den Kapitulationen zahlreicher preußischer Festungen zu Beginn des Kriegs 1806. Künftig sollten die Offiziere eher einen Kommandanten seines Postens entheben, als der leichtfertigen Preisgabe einer Festung zuzusehen.349 Ohne ein solches Maß an Selbstständigkeit war auch der „Volkskrieg“ kaum durchführbar, denn im Kriegsfall mussten die Insurgenten eigenständig hinter der Front operieren können. Angesichts der damaligen Kommunikationssituation wäre es schließlich nicht möglich gewesen, jede Aktion von der Führung in Königsberg sanktionieren zu lassen. Schill hatte während der Verteidigung von Kolberg bereits bewiesen, was ein entschlossener und selbstständiger Befehlshaber erreichen konnte.350 Scharnhorst wusste um die Risiken, welche die Insurrektion für das Subordinationsgefüge mit sich bringen würde. In seiner oben erwähnten Denkschrift fügte er denn auch sogleich ermahnend hinzu: „Bis zum obigen Zeitpunkt verhalten sich die Directionen und alle organisirte Insurrections-Parteien ruhig und suchen jeden 347 Siehe Johannes Ziekursch, Friedrich von Cölln und der Tugendbund, in: Historische Vierteljahrschrift 12 (1909), S. 38 – 76, hier S. 60 – 67. Olaf Briese, Der sittlich wissenschaftliche Verein (Tugendbund), in: Uta Motschmann (Hrsg.), Handbuch der Berliner Vereine 1786 – 1815, Berlin/München/Boston 2015, S. 586 – 609, hier S. 605. Briese wies mit Recht darauf hin, dass die Bezeichnung „Comité“ eine Erfindung Henrich Steffens sei, der hinter der Berliner Direktion das Zentrum eines geheimen Netzwerks zur Vorbereitung der Erhebung vermutete. Die Berliner Direktion unter Chasôt war nicht „illegal“, wie Bock und andere behaupteten. Siehe Bock, Rebellentum, S. 128. Auch Münchow-Pohl, Reform, S. 145. 348 Siehe auch Ibbeken, Preußen, S. 106. 349 Siehe hierzu Stübig, Armee, S. 134 f., 196. 350 Siehe hierzu Martin Rink, Patriot und Partisan. Ferdinand von Schill als Freikorpskämpfer neuen Typs, in: Veltzke, Freiheit, S. 65 – 106, hier S. 67, 94 – 101.
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Ausbruch der Insurrection (…) zu hindern oder (…) zu leiten.“ Doch alleine mit Worten waren Eigenmächtigkeiten noch lange nicht ausgeschlossen; sie konnten auch das Produkt der um sich greifenden antifranzösischen Stimmung werden.351 Über die Gefahren der Aufstandsvorbereitungen und über die wachsende Unzufriedenheit im Offizierskorps war der König einigermaßen informiert.352 Am Vorabend des österreichisch-französischen Kriegs hielt er Götzen ausdrücklich dazu an, eine vorzeitige „Aufwallung“ unbedingt zu verhindern, denn „[h]ierüber geziemt es keinem als mir allein zu entscheiden“. Götzen sei ihm dafür mit seinem „Kopf verantwortlich“, fügte er drohend hinzu. Wenige Tage später wiederholte Friedrich Wilhelm, der kurz darauf vor der Möglichkeit einer eigenmächtigen Aktion Berliner Militärs gewarnt wurde, diese Anweisung.353 Am 25. April befahl er schließlich den beiden Verdächtigen Schill und Chasôt, nach Königsberg zu reisen, um dort die gegen sie erhobenen Aufstandsvorwürfe prüfen zu lassen;354 Gleichzeitig wurde die Einrichtung eines Krisenstabs in Berlin bestehend aus den zivilen und militärischen Spitzen der Stadt angeordnet. Sack, Goltz, Tauentzien und L’Estocq sollten sich an bestimmten Tagen in der Woche zusammenfinden, um sich über mögliche Gefahren für die öffentliche Ruhe zu beraten und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten.355 Aber noch bevor diese Befehle die Hauptstadt erreichten, hatte Schill mit seinem Regiment die Stadt verlassen; womöglich war er im Vorfeld gewarnt worden. 1808 und 1809 herrschte unter dem Eindruck der Besetzung und der auch danach bestehenden Schwäche der königlichen Zentralgewalt im Militär ein Klima, das einen Loyalitätsbruch gegenüber dem König, wie Schill ihn schließlich beging, begünstigte. Durch ihre Tätigkeit zur Vorbereitung des „Volkskriegs“ wurden zahlreiche Offiziere verschiedenster Dienstgrade regelrecht an eine „Art Halblegalität“356 gewöhnt. Besonders bedrohlich konnte es sich für die königliche Souveränität erweisen, dass die politischen Absichten einiger Offiziere, Beamter und Bürger nicht allein auf die Wiederherstellung einer unabhängigen Stellung Preußens beschränkt war, sondern auf die Befreiung ganz Deutschlands von der französischen Vorherrschaft abzielte. So deutete Schill und so deuteten auch die anderen Auf-
351 Ein Bild der Stimmung in den konspirativen Zirkeln bietet Steffens, Was ich erlebte, S. 177 – 183. 352 Siehe unter anderem Immediatbericht Tauentzien, Berlin, 19. 4. 1809, Ausf. GStA PK, VI. HA, Nl Preußen, Friedrich Wilhelm III. v., B VI, Nr. 25. Siehe auch Hünerbein an L‘Estocq, s. l., (vor dem 25. 4. 1809). Zit. n. Veltzke, König, S. 132. Lehmann, Scharnhorst, Bd. 2, S. 267. 353 Siehe Kabinettsorder an Götzen, Königsberg, 29. 3. 1809. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 335, S. 501 f. Hierzu Ibbeken, Preußen, S. 148 f. 354 Siehe Bock, Rebellentum, S. 135 f. 355 Siehe Kabinettsorder an Sack, Goltz, Tauentzien, L‘Estocq, Königsberg, 25. 4. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 516, Nr. 22, Bl. 1. L‘Estocq wurde zudem befohlen ein ganzes Bündel an Maßnahmen einzuleiten, um eigenmächtige Erhebungsabsichten einzelner Personen oder Gruppen zu unterbinden. Siehe Bassewitz, Kurmark 1809 und 1810, S. 460 f. 356 Veltzke, König, S. 111.
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ständischen des Jahres 1809 ihr Tun in diesen nationalen Zusammenhängen.357 Die Nation wurde für diese Personengruppe zu einer mit der Krone konkurrierenden Legitimationsinstanz des eigenen Handelns,358 wenn auch noch nicht zum „Letztwert“359. Mit seinem Zug nach Westfalen bestritt Schill die souveräne Herrschaftsgewalt des Königs.360 Daran änderte es auch nichts, dass er dies in der Überzeugung tat, damit auch am Ende Friedrich Wilhelm einen Dienst zu erweisen.361 Schill dürfte zu jenen gehört haben, die den eigenen Ungehorsam unter Hinweis auf die vermeintliche Entscheidungsunfähigkeit des Königs zu rechtfertigen suchten.362 Die innere Widersprüchlichkeit dieser Denkhaltung kleidete Götzen in die Worte: „Gern will ich alle Folgen des Ungehorsams tragen, desavouirt werden, und als Rebell erscheinen, wenn ich Ueberzeugung habe (!), daß ich dadurch für das Beste meines Königs und Vaterlandes handle!“363 Die persönliche Legitimationssphäre Schills und anderer oszillierte zwischen alten Ehrvorstellungen, eigenem Ruhmstreben, frühem Nationalismus, aber eben auch der nicht gänzlich aufgegebenen Treuepflicht gegenüber dem König.364 Diese Ambivalenz, diese Konkurrenz verschiedener Loyalitäten, bezeugt die ideelle Krise vieler in einer revolutionären Umbruchszeit. In der eigenartigen Polarität, sich einerseits dem König verpflichtet zu fühlen, gleichzeitig aber die Befreiung des „Vaterlands“ um jeden Preis erreichen zu wollen, war die Provokation der souveränen Herrschaftsgewalt des Königs stets angelegt. Diesem Hader, den eine ganze Generation mit sich austrug, gab später Theodor Fontane in seinem Roman „Vor dem Sturm“ mit der Auseinandersetzung zwischen dem Gutsherrn Vitzewitz und dem Schulzen Kniehase eine literarische Form.365 Zum offenen Verrat am König wollte indes kaum ein Anhänger des nationalen Befreiungskampfs schreiten und dies nicht nur aufgrund tradierter Treuevorstellungen. Die meisten mögen mit Scharnhorst erkannt haben, dass die Zustimmung des Monarchen eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Mobilisierung der 357 Siehe hierzu den „Aufruf“ Schills in Stübig, Armee, S. 219 f. Siehe auch den „Aufruf“ des Herzogs von Braunschweig-Oels in BLHA, Rep. 37, Nr. 982. 358 Zu dieser Problematik siehe Bock, Rebellentum, S. 128 f. Veltzke, König, S. 148 – 150. Rink, Patriot, S. 66 – 68. Münchow-Pohl, Reform, S. 149. 359 Von einem modernen Nationalismus lässt sich daher bei Schill und anderen noch nicht sprechen. Siehe hierzu Dieter Langewiesche, „Nation“, „Nationalismus“, „Nationalstaat“ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: Ders./Georg Schmidt (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 9 – 30, hier S. 10 – 12, hier das Zitat S. 11. 360 Siehe Rink, Patriot, S. 93. 361 Siehe auch Bock, Rebellentum, S. 139. 362 Etwa am Beispiel Marwitz‘ nachgewiesen in Frie, Marwitz, S. 195 f. 363 Zit. n. Wiese, Götzen, S. 42. 364 Ein Beispiel hierfür ist auch Clausewitz. Siehe Aron, Clausewitz, S. 57. 365 Siehe Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, mit einem Nachwort von Hugo Aust, Frankfurt a. M. 1982, S. 228 – 234.
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Gesamtbevölkerung war;366 zu groß war die grundsätzliche Bindung der Preußen an die traditionale Herrschaftsform der Monarchie.367 Gerade deshalb wünschte etwa Tauentzien im April und Mai die Rückkehr des Königs nach Berlin. Friedrich Wilhelm musste sich an die Spitze der „Kriegspartei“ stellen und den „Volkskrieg“ durch seine Anwesenheit in der Hauptstadt öffentlich gutheißen, wenn die Pläne zur Erhebung ein Erfolg werden sollten. Gerade aber für diejenigen, die wie Altenstein und Goltz aus rein politischem Kalkül in das Lager der „Kriegspartei“ gewechselt waren, gab es überhaupt nur den legalen, das heißt den vom König gebilligten Weg in den Krieg. Der König wurde stark unter Druck gesetzt, aber für die Existenz eines bis in die höchsten Ränge der Verwaltung und des Militärs reichenden Netzwerks von Verschwörern fehlen eindeutige, quellenmäßige Beweise. Eine unmittelbare Beteiligung von Scharnhorst und Gneisenau an Schills Zug nach Westfalen ist nicht nachweisbar.368 Schill lebte und agierte in einem Milieu, das den geeigneten Resonanzboden für den Gedanken zur Insubordination bot. Mancher Militär inner- und außerhalb von Berlin hat zwar gebilligt, was Schill tat;369 Chasôt könnte sogar direkt in die Vorgänge eingeweiht gewesen sein;370 doch aktive Hilfe erhielt er kaum. Scharnhorst hatte sogar noch Ende 1808 Götzen eindringlich ermahnt, dass nichts geschehen dürfe, „das den König oder den Staat unter den gegenwärtigen Umständen kompromittieren könnte.“371 In gleicher Weise wurde Schill von Gneisenau zum Stillhalten ermahnt.372 Obwohl es stimmt, dass diese Mahnungen nach Ausbruch des österreichisch-französischen Kriegs nicht wiederholt wurden, ist dies noch kein Beweis für die weitreichende These, Schill habe auf Geheiß der militärischen Führung gehandelt. Im Dezember 1808 warnte Scharnhorst noch selbst den König
366 Insbesondere Scharnhorst stand für eine „gouvermentale“ Variante des Volkskriegs. Siehe Ibbeken, Preußen, S. 124. 367 Siehe ebd., S. 172 f. 368 Dies deutete Veltzke, König, S. 128 – 131 an. 369 So beispielsweise Clausewitz. Siehe Aron, Clausewitz, S. 55. Auch Stübig, Armee, S. 217. 370 Chasôt äußerte in einem Schreiben an Erzherzog Karl offen seine Enttäuschung über die Politik des Königs und stellte die Aufstellung eines preußischen Freikorps in Aussicht; für dieses sei der personelle Stamm schon vorhanden, erklärte er. Siehe Chasôt an Karl, Berlin, 25. 4. 1809. Stern, Abhandlungen, S. 60 – 62. Schon den Zeitgenossen fiel es schwer, die Verantwortlichen (sofern es neben Schill welche gab) ausfindig zu machen. Sack etwa, der als Regierungspräsident unmittelbar vor Ort war, hielt, den wohl unschuldigen, Tauentzien für verantwortlich und sprach Chasôt und L‘Estocq von jeder Mitwisserschaft frei. Siehe Tagebuch Sack, Berlin, 29. 4. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 184, S. 413 f. 371 Scharnhorst an Götzen, Königsberg, 29. 11. 1808. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 187, S. 276. 372 Siehe Gneisenau an Schill, Königsberg, 29. 11. 1808. Griewank, Gneisenau, S. 101. Später wiederholte Gneisenau seine Mahnung zur Behutsamkeit. Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 462.
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vor Schill als möglichen Unruhestifter.373 Eine Mitwisserschaft Scharnhorsts, des de facto Kriegsministers, scheint angesichts solcher Äußerungen und seines Verhaltens wenig plausibel. Die im Mai 1809 zirkulierenden Gerüchte über die angeblichen Putschabsichten Scharnhorsts, bezeichneten schon die Zeitgenossen als völlig haltlos.374 „Mein System kennen Sie, (…) ich würde dies für eine Untreue gegen meinen König, mein Vaterland und mich selbst ansehen“375, hatte Scharnhorst Götzen in einem Brief wissen lassen, in dem er die Vorwürfe, an heimlichen Aufstandsvorbereitungen beteiligt zu sein, scharf zurückwies. Einzig die Rolle des Hitzkopfs Gneisenau während der Ereignisse des Jahres 1809 kann aus guten Gründen bis heute als zweideutig gelten.376 Der Verrat von Schill, der von einigen Angehörigen der Armee, des Beamtentums und Teilen der Bevölkerung gebilligt wurde, illustriert auch ohne die Existenz einer vielköpfigen Verschwörergruppe die tiefe Krise, in der sich die königliche Souveränität 1809 befand. „Die Äußere Souverainität des preußischen Staates (…) war sichtbar verlohren gegangen. Ob bey einem solchen unglücklichen Wechsel die Innere Souveränität nicht einen Theil ihrer früheren Rechte einbüßt, wollen wir hier nicht weiter Staats-Rechtlich untersuchen und es nur andeuten, daß (…) in allen solchen Fällen der Gehorsam unbestritten leidet“377,
beschrieb Boyen in der Rückschau die Folgen der bedrohten äußeren Souveränität für das innere Gefüge des preußischen Staats zwei Jahre nach dem Tilsiter Frieden. Die Niederlage sowie die Bestimmungen des Friedensvertrags und die vielfältigen Rückwirkungen, die daraus hervorgingen, hatten die Monarchie in ihren Grundfesten berührt. Die politische Ordnung geriet angesichts der permanent bedrohten äußeren Sicherheit des Staats in eine Legitimitätskrise, die sich zu einer monarchischen Autoritätskrise ausweitete. Das politische Partizipationsstreben in Militär- und Beamtenkreisen, wie es spätestens seit 1808 sichtbar wurde, war genauso ein Symptom dieser Krise wie die Insubordinationstendenzen innerhalb der Armee. Auf die Gehorsamsverweigerung von Teilen des Heeres reagierte Friedrich Wilhelm mit der festen Entschlossenheit, seine Stellung als alleiniger Träger der Souveränität zu verteidigen.378 Die mitunter panischen Berichte aus Berlin beantwortete er mit erstaunlicher Ruhe.379 An seinem Grundsatz „Eine politische Existenz,
373
Siehe Scharnhorst an Friedrich Wilhelm, 13. 12. 1808. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 196, S. 292. 374 Siehe Stamm-Kuhlmann, König, S. 305 f. Lehmann, Scharnhorst, Bd. 2, S. 277. 375 Scharnhorst an Götzen, Königsberg, 18. 3. 1809. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 314, S. 481. 376 Hierfür brachte Veltzke plausible Argumente vor. Veltzke, König, S. 128 – 130. 377 Boyen, Erinnerungen, Bd. 1, S. 364. 378 Daneben ermahnte er auch Prinz Wilhelm an seine Gehorsamspflicht. Siehe StammKuhlmann, König, S. 307. 379 Siehe ebd., S. 309.
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sie sei noch so klein, ist immer besser, als keine“380 hielt er auch 1809 konsequent fest und entschied sich gegen ein außenpolitisches Vabanquespiel. Die Tat Schills verurteilte er zugleich scharf. In einem auf den 8. Mai datierten Parolebefehl wurde dem einstigen Helden von Kolberg und dessen Gefolgsleuten eine strenge Bestrafung angedroht.381 Am darauffolgenden Tag wurden wegen der „beispielose[n] Insubordinationen des Major von Schill“ zugleich die militärischen Verantwortlichen in Berlin, L’Estocq, Chasôt und Tauentzien, per Kabinettsorder vom Dienst suspendiert und General Sutterheim beauftragt, die Vorgänge, die in Berlin stattgefunden hatten, zu untersuchen.382 Dass die jüngsten Ereignisse aber nicht spurlos an ihm vorübergingen, zeigt ein Dokument, das der König im Mai für den persönlichen Gebrauch verfasste. Offenbar empfand Friedrich Wilhelm die politische Krise auch als eine ganz persönliche. Gewiss dürfen die Reflexionen, die er seinerzeit niederschrieb, nicht überbewertet werden; hier verschaffte sich jemand im Zwiegespräch mit sich selbst Luft in einer Lage, in der ihm wieder einmal seine Verantwortung für die Monarchie vor Augen gehalten wurde. Sein Klagen über die Untreue seines Volks und die Kritik, die ihm von allen Seiten entgegenschlug, weisen allerdings darauf hin, dass er den politischen Meinungspluralismus nicht mehr recht einzuordnen verstand. Er sah sich mit Widersprüchen konfrontiert, welche die Zeit an ihn herantrug und die ihn zwischen Pflichterfüllung und dem Wunsch, „den Thron einem Würdigeren und Klügeren als ich bin, freiwillig abzutreten“, schwanken ließen.383 Die öffentliche Begeisterung für Schill blieb im Übrigen auch über dessen Tod hinaus ungebrochen. Die Verehrung eines Offiziers, der sich der offenen Befehlsverweigerung schuldig gemacht hatte, wurde als derart bedrohlich für das staatlichgesellschaftliche Ordnungsgefüge empfunden, dass Gruner in Berlin die Beschlagnahmung von Porträts des Volkshelden, die von fliegenden Händlern zum Verkauf angeboten wurden, verfügte. Selbst die zur Herstellung nötigen Druckplatten ließ er konfiszieren.384 Die Sympathie der preußischen Öffentlichkeit schloss auch Schills Offiziere ein, von denen einigen wenigen die Flucht nach Preußen gelungen war. Der in seiner Autorität geschwächte Monarch konnte nicht ohne weiteres über die öffentliche Meinung hinwegsehen und so fielen die später in seinem
380
Zit. n. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 4, S. 189. Zur Haltung Friedrich Wilhelms in der Krise 1809 siehe auch Stamm-Kuhlmann, König, S. 298 – 303. 381 Siehe ebd., S. 308. 382 Siehe Kabinettsorder an unbek., (Königsberg), 9. 5. 1809. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 4, S. 185, hier auch das Zitat. Lehmann, Scharnhorst, Bd. 2, S. 269 f. 383 „Denkschrift Friedrich Wilhelms III.“, (Königsberg), April 1809 (nach der Abschrift des Originals). GStA PK, BPH, Rep. 49, Nr. 93, hier das Zitat Bl. 4. Siehe hierzu Stamm-Kuhlmann, König, S. 306 f. 384 Siehe BLHA, Rep. 30 Polizeidirektion Berlin A, Nr. 465. Gruner an Dohna, Berlin, 20. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 212, S. 455. Auch Rink, Patriot, S. 91.
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Namen verhängten Urteile über die Deserteure entsprechend milde aus;385 für keinen der Beteiligten bedeutete das Unternehmen Schills das Karriereende. Auch die Verantwortlichen Befehlshaber in Berlin gingen, ohne Schaden an ihrer Reputation zu nehmen, aus der Mai-Krise hervor. So wurden die unter Verdacht der Mitverschwörung geratenen L’Estocq und Tauentzien von allen Anschuldigungen freigesprochen und in ihren Ämtern restituiert.386 Nur Chasôt kehrte nicht mehr auf den Posten des Stadtkommandanten von Berlin zurück. Im Innern beruhigte sich die Lage nach dem Scheitern der Insurrektion in Westphalen bald wieder. Die Öffentlichkeit hatte mit der Niederlage Österreichs vorerst auch das unmittelbare Interesse am außenpolitischen Geschehen verloren; nun machte sich Enttäuschung breit.387 Für die Kriegsbefürworter bedeutete der Frieden von Schönbrunn das Ende der seit dem Tilsiter Frieden gehegten Hoffnung auf einen gemeinsam gegen Frankreich geführten Krieg der beiden deutschen Ostmächte. Einige der namhaftesten preußischen Militärs, wie Gneisenau, Clausewitz, Grolmann oder Boyen, zogen aus der außenpolitischen Passivität, an welcher der König unbedingt festzuhalten gedachte, die Konsequenz und ersuchten in den kommenden Jahren um ihre Entlassung, um andernorts der Verwirklichung ihres Ideals vom Krieg gegen Napoleon und der Befreiung Deutschlands näher zu kommen.388 Die außenpolitischen Folgen des Falls „Schill“ hielten sich überraschenderweise in Grenzen. Scheinbar glaubte Napoleon den Berichten seines Gesandten in Berlin, der versicherte, Schill habe ohne Wissen des Königs gehandelt. Seinem Bruder auf dem westphälischen Königsthron teilte er mit, dass zwar Unordnung in Preußen herrsche, „mais la Prusse est liée avec moi par des traités“389, weshalb er von Vergeltungsaktionen absehen werde.
385 Siehe Veltzke, König, S. 143 – 146. Borstell warnte den König unmittelbar nach Bekanntwerden des Auszugs Schills vor einem „beunruhigende[n] Auftritt“, sollte dieser zu hart bestraft werden. Siehe Immediatbericht Borstell, Berlin, 30. 4. 1809. GStA PK, VI. HA, Nachlass Friedrich Wilhelm, B VI, Nr. 25. 386 Siehe Scharnhorst an das Staatsministerium, Königsberg, 21. 7. 1809. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 494, S. 748. 387 Siehe hierzu Sack an Stein, Berlin, 7. 10. 1809. Steffens, Briefwechsel, Nr. 13, S. 34. 388 Siehe hierzu Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 343. Ibbeken, Preußen, S. 346 ff. 389 Napoleon an Jerome, Weimar, 14. 7. 1809. Napoleon, Correspondence, Bd. 19, Nr. 15525, S. 244.
D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität I. Die Besatzungsverwaltung: Administration und Ressourcenextraktion „Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung“1. Im Sinne dieses Diktums Max Webers versuchte auch die französische Besatzungsarmee, den eigenen Herrschaftsanspruch durch die Etablierung effektiver Verwaltungsstrukturen durchzusetzen. Von der Effektivität und Intensität der Besatzungsverwaltung hing es letztendlich auch ab, ob und inwiefern die Okkupation zu einem Problem preußischer Souveränität werden konnte, denn, wenn es Frankreich gelang, eine autochthone Herrschaft im besetzten Raum administrativ zu begründen, mussten auch der Alleingeltungsanspruch der preußischen Staatsgewalt und das königliche Souveränitätspostulat fraglich werden. Während der Okkupation befanden sich durchschnittlich rund 150 000 französische und verbündete Soldaten sowie 40 000 Pferde auf preußischem Gebiet.2 Im Februar 1808 lagen alleine in Schlesien 54 900 und in der Kurmark zur Mitte desselben Jahres circa 46 000 Soldaten im Quartier.3 Nach Unterzeichnung des Friedens hatte Napoleon seine Truppen verteilt auf vier Armeekorps unter dem Oberbefehl der Generale Brune (Pommern), Soult (Gebiet östlich der Oder), Mortier (Schlesien) und Victor (Gebiet zwischen Elbe und Oder) in Preußen disloziert.4 In Folge des schrittweisen Abzugs der französischen Truppen verschob sich der Befehlsbereich Soults im äußersten Osten sukzessive in Richtung Westen, bis er zuletzt im August 1808 das Kommando in dem zuvor von Victor befehligten Besatzungsabschnitt
1
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972, 2. Teil, Kap. IX.1, §2, S. 544. 2 Die Angaben schwanken um diese Mittelwerte. Siehe Pertz, Stein, Bd. 2, S. 43. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 28. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 57, S. 151. Übernimmt man die Zahlen von Bassewitz, so ergibt sich für den September 1807 ein Verhältnis von einem Soldaten zu 12,5 Einwohnern. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 489. 3 Siehe Immediatbericht Massow, Breslau, 2. 2. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 353, Bl. 75 – 76. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 498 f. 4 Siehe „Dispositions Générales pour l’Armée“, Königsberg, 12. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12897, S. 411 – 414.
I. Die Besatzungsverwaltung: Administration und Ressourcenextraktion
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übernahm.5 In den letzten Wochen der Okkupation führte schließlich Davout das Kommando über die zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Tausend Mann zählende Besatzungsarmee.6 Bereits am 3. November 1806 wurde per kaiserlicher Verfügung im rückwärtigen Raum der französischen Armee eine Besatzungsverwaltung etabliert,7 deren Ordnung bis Ende 1808 im Wesentlichen unverändert bestehen blieb. Das zu diesem Zeitpunkt besetzte Territorium wurde zunächst in die „Departements“ Berlin, Küstrin, Stettin und Magdeburg eingeteilt. Das Departement von Berlin umfasste die Kurmark und war wiederum in vier „Provinzen“ untergliedert, deren Grenzen denen der Landesteile Prignitz, Uckermark, Mittelmark und Altmark entsprachen. Auch die weitere Verwaltungsgliederung orientierte sich an bereits bestehenden historischen und administrativen Grenzverläufen. So umfassten die Departements Küstrin und Stettin die Neumark beziehungsweise Pommern. Das Magdeburger Departement erstreckte sich hauptsächlich auf Territorien, die Preußen mit dem Friedensschluss abtrat und spielte deshalb für die weitere innerpreußische Entwicklung keine Rolle. Der Administration jedes Departements stand ein kaiserlicher Kommissar vor, der die unmittelbare Kontrolle über die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in seinem Verwaltungsbezirk ausübte. Ihm waren die Intendanten untergeordnet, die in den „Provinzen“ mit der Aufsicht über die lokale Verwaltung betraut waren, deren spezielles Aufgabengebiet sich aber auf die Finanzverwaltung konzentrierte. In dieser Funktion hatten sie für die Ausschreibung außerordentlicher Steuern zu sorgen und die regulären Gefälle einzuziehen. Um die Gefahr von Unterschlagung und Korruption zu verringern, wurden sie zur Rechnungslegung gegenüber Einnehmern, sogenannte receveurs, verpflichtet. In jenen Departements, die nicht nach Provinzen untergliedert waren, also nach der kaiserlichen Verfügung vom 3. November zunächst nur das von Küstrin und Stettin, wurde das Amt des Intendanten in Personalunion von den Kommissaren ausgeübt. Mit dem weiteren Vordringen der französischen Armee Richtung Osten wurde auch die Besatzungsverwaltung in Schlesien und Westpreußen nach diesem Muster organisiert.8 Zum Zeitpunkt seiner
5
Siehe Napoleon an Berthier, Fontainebleau, 11. 11. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 16, Nr. 13345, S. 153. Hassel. Geschichte, S. 219. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 319 f. 6 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 319 f. 7 Siehe „Kaiserliche Verordnung“, Berlin, 3. 11. 1806 (Druck). GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 175 – 176. Siehe auch Bergerot, Intendant, S. 93 f. 8 Oberschlesien mit dem Kammersitz Breslau stand unter der Aufsicht des Intendanten Anglès, Niederschlesien mit der Kammer in Glogau zunächst unter der des Intendanten Chaillous und schließlich unter Mouniers. Die Kontrolle der Zivilverwaltung der westpreußischen Kammer wurde von Intendant Strassard ausgeübt; dessen Verwaltungsbezirk dürfte sich auch auf die zeitweilig besetzten Teile Ostpreußens erstreckt haben, da sich die Einsetzung eines eigens für diese zuständigen Intendanten bzw. Kommissars nicht aus den Quellen ergibt.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
größten Ausdehnung in den ersten Monaten nach Abschluss des Friedens umfasste der gesamte französische Verwaltungsapparat mehrere tausend Personen.9 An der Spitze der gesamten Besatzungsverwaltung stand der Generalintendant der französischen Armee Daru der zugleich die Verhandlungen mit der Friedensvollziehungskommission in Berlin führte.10 Unmittelbar untergeordnet waren Daru der Generaladministrator der Finanzen und Domänen (Administrateur Général des Finances et des Domaines) Martin-Roch-Xavier Estève, der im August 1807 durch den Kommissar für die Mittelmark und Berlin Louis-Pierre-Édouard Bignon ersetzt wurde,11 und der zusammen mit dem Generaleinnehmer (Receveur Général) François La Bouillerie die oberste Leitung der französischen Finanzverwaltung im okkupierten Preußen innehatte. Die Einnahmen aus den extraordinären Kontributionen und den Requisitionen wurden gesondert vom Generaldirektor der Kontributionen (Directeur Général des Contributions) Jacques-Pierre Comte de Villemanzy verwaltet.12 Daru war nur gegenüber Napoleon und dem Kriegsministerium rechenschaftspflichtig und damit, wie auch die gesamte Besatzungsverwaltung einschließlich der Intendanten und Kommissare, der Befehlsgewalt der militärischen Führung vor Ort entzogen. Der Generalgouverneur der besetzten Gebiete und Kommandant der Mittelmark, Clarke,13 und die ihm untergeordneten Provinzialkommandanten waren nur für die im engeren Sinne militärischen Angelegenheiten und die öffentliche Sicherheit zuständig.14 Die herausgehobene Stellung, welche die Militärverwaltungsbeamten mithin innerhalb der Grande Armée besaßen, entsprach der traditionellen Organisation französischer Armeen seit dem Ancien Régime, als die Krone eine möglichst effektive Kontrolle über das vom Adel dominierte Feldheer ausüben wollte.15
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Alleine in Berlin hielten sich im Dezember 1807 rund 1350 Angehörige der französischen Militärverwaltung auf, die z. T. von ihren Frauen und ihrem Gesinde begleitet wurden. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 488. 10 Für die gesamte Militärverwaltung der französischen Armee rechts des Rheins war der Ordonnateur en Chef Mathieu Favier direkt gegenüber Daru verantwortlich. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 316. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 14. 11. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 24, S. 54 f. 11 Siehe auch Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 318 f. Im Mai 1808 löste Strassard als Intendanten der Mittelmark Bignon ab. Bignon blieb jedoch Generaladministrator. Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 7. 5. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 87, S. 235. 12 Siehe Grimoüard, Origines, S. 168. 13 Clarke hatte diese Doppelfunktion inne, wie der Verordnung vom 3. November eindeutig zu entnehmen ist. 14 Siehe „Kaiserliche Verordnung“, Berlin, 3. 11. 1806 (Druck). GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 175 – 176. 15 Siehe hierzu Carl, Okkupation, S. 151.
I. Die Besatzungsverwaltung: Administration und Ressourcenextraktion
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Als Mittelpunkt der preußischen Verwaltung bildete Berlin auch das organisatorische Zentrum der französischen Besatzungsmacht.16 Auf Grund ihrer herausgehobenen Bedeutung löste Napoleon die preußische Hauptstadt administrativ aus den Verwaltungszusammenhängen der Besatzungsprovinz Kurmark heraus und organisierte sie als eigenständigen Verwaltungsbezirk.17 Offensichtlich erwies sich diese Maßnahme als sinnvoll, denn die preußische Regierung beließ es auch nach Abzug der Franzosen bei dieser Neugliederung.18 Die oberste Verwaltungsbehörde Preußens, das im Stadtschloss untergebrachte Generaldirektorium, hatte sich zwar vor dem Einmarsch der Franzosen selbstständig aufgelöst,19 der französischen Besatzungsmacht gelang es jedoch vergleichsweise schnell, die preußische Zentralverwaltung unter eigener Leitung wieder in Gang zu setzen. Das Hauptinteresse lag dabei auf den für die Finanzadministration zuständigen Verwaltungszweigen,20 deren Einnahmen Napoleon auch nach dem Friedensschluss als contributions ordinaires für Frankreich reklamierte.21 Von Beginn an war die Herrschaft über den besetzten Raum kein Selbstzweck, sondern von dem Ziel einer möglichst intensiven Ausbeutung der lokalen materiellen Ressourcen geleitet. Frankreich bediente sich hierzu gängiger Methoden, die sich seit der Frühen Neuzeit in den europäischen Armeen bewährt hatten, als der Übergang von einer Ressourcenextraktion durch extensive Plünderungen hin zu einer rationalisierten Besatzungsadministration vollzogen wurde.22 Nur in den ersten beiden Jahren der Revolutionskriege hatte Frankreich eine andere Okkupationspraxis verfolgt, als die Bevölkerung links des Rheins noch für einen Regimewechsel gewonnen werden 16 Zur administrativen Bedeutung Berlins im Allgemeinen siehe Wolfgang Neugebauer, Potsdam – Berlin. Zur Behördentopographie des preußischen Absolutismus, in: Bernhard R. Kroener (Hrsg.), Potsdam. Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte, unter Mitarbeit von Heiger Ostertag, Frankfurt a. M. 1993, S. 273 – 296, hier passim. 17 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 178. 18 Siehe Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution (1806 – 1847), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins (Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin, 2), 3. Aufl., 2 Bde., Berlin 2002, hier Bd. 1, S. 407 – 602, hier S. 443. 19 Zunächst wurde die Bildung eines Staatsrats befohlen, der aus den Departementmitgliedern des Generaldirektoriums bestehen und während der Abwesenheit des Königs als „Vereinigungspunkt aller obersten Landesbehörden“ dienen sollte. Siehe „Instruktion für das gesamte Etatministerium wegen der Geschäftsführung während der Abwesenheit S.M. des Königs während dem gegenwärtigen Kriege“, Charlottenburg, 17. 9. 1806. Winter, Reorganisation, Nr. 29, S. 56 – 61. Eine praktische Bedeutung hat der Staatsrat jedoch nicht gewonnen. Von der Auflösung des Generaldirektoriums berichtete der Kriegsrat des Forstdepartements Brandhorst, s. l., o. D. Winter, Reorganisation, Nr. 33, S. 56 (Fn. 2). Siehe auch Stölzel, Rechtsverwaltung, Bd. 2, S. 371. 20 Eine Auflistung der einzelnen französischen Verfügungen zur Organisation und zum Geschäftsgang der einzelnen Behörden in Winter, Reorganisation, S. 70 f. (Fn. 2). 21 Siehe Kap. C. I. 1. sowie exemplarisch Commissaire Imperial du Departement de Custrin/ Intendant de la nouvelle Marche Sabatier an die Neumärkische Kammer, Küstrin, 17. 7. 1807, Ausf. BLHA, Rep. 3, Nr. 18270. 22 Siehe hierzu Carl, Okkupation, S. 5 – 8 und Kap. B. IV. dieser Arbeit.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
sollte. Diese politische Zielsetzung beeinflusste den Charakter der Okkupationen dahingehend, dass es ein ernsthaftes Bemühen gab, das Land zu schonen. So wurde beispielsweise der Bedarf der Armee eingekauft und nicht einfach requiriert. Mit zunehmender Dauer des Kriegs und angesichts der innenpolitischen Veränderungen in Frankreich wurde dieses Verfahren jedoch bald wieder aufgegeben, so dass während der Herrschaft des Konvents wieder zu den Praktiken des Ancien Régime zurückgekehrt wurde. Spätestens ab 1796 prägten die systematische Ausbeutung und wirtschaftliche Benachteiligung der besetzten Länder vollends die französische Okkupationspraxis.23 Für das Rheinland kann diese Entwicklung geradezu paradigmatisch nachvollzogen werden.24 Schon am 13. November wurden die Partien des Generaldirektoriums, die mit der Verwaltung staatlicher Einkünfte betraut waren, unter dem Dach einer „Generaladministration“ zusammengefasst und der Aufsicht von Administratoren (administrateurs) unterstellt. Die bisherige Binnengliederung des Generaldirektoriums wurde dabei zum Teil umstrukturiert, so dass fortan folgende Sektionen unter unmittelbarer französischer Kontrolle existierten:25 das Salz-, Bergwerks- und Hüttendepartement (Auditeur Delport), das Akzise- und Zolldepartement (d’Houdetot), das Münz-, Stempel- und Kartenwesen (Perrégeaux), das Post- (Campan), das Lotterie- (Lason) und das Grundsteuerwesen (Taboureau). Außerdem wurde eine eigene Zentraladministration der Domänen von Auditeur Pepin de Bellisle geführt.26 Im Mai 1807 organisierte Estève schließlich auch die Forstadministration neu und übertrug deren Leitung einem „Comité“ von Geheimen Finanzräten.27
23
Siehe hierzu Godechot, Les variations, passim. Siehe hierzu Blanning, French Revolution, S. 83 – 134. Hansgeorg Molitor, Vom Untertanen zum Administré. Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Revolutionskriegen bis zum Ende der Napoleonischen Zeit (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, 99), Wiesbaden 1980, S. 171. 25 Siehe „Auszug aus der Urschrift der Staats-Canzley“, Berlin, 13. 11. 1806 (Druck). GStA PK, II. HA, Generaldirektorium, Abt. 24, A Tit. 1, Sect. 3, Nr. 6, Bl. 28 – 28v. Auch Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 29. 8. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 49 – 50. So wurde die zuvor in einem Departement vereinigten Akzise- und Zollsachen sowie die Fabriken- und Handelssachen wieder getrennt. Siehe Mamroth, Geschichte, S. 299. Im Verlauf der Besetzung kam es wiederholt zu personellen Wechseln, die hier nicht eigens aufgeführt werden. 26 Siehe „Mémoire über die Geschäftsführung Angerns in Berlin während der französischen Besetzung“, Berlin, 4. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 362, Bl. 17 – 17v. Dass diese Behörde tatsächlich aktiv war, belegt ihr Schriftwechsel mit anderen Verwaltungsinstanzen. 27 Siehe „Arrêté de l’Administrateur général des finances sur les Forêts“, Berlin, 27. 1. 1807 (Druck). Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 6, Bl. 56 – 59. „Entscheidung des Esteve während der Sitzung der Forstadministration: Eigenschaften und Aufgaben“, Berlin, 15. 5. 1807, Abschrift. Ebd., Bl. 75 – 76. „Mémoire über die Geschäftsführung Angerns in Berlin während der französischen Besetzung“, Berlin, 4. 8. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 362, Bl. 17 – 17v. 24
I. Die Besatzungsverwaltung: Administration und Ressourcenextraktion
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Aufgrund der großen Bedeutung, welche die Auditeurs für die Ressourcenextraktion besaßen, wurden ihnen weitreichende Kompetenzen eingeräumt. So standen etwa sämtliche Beamte in Berlin und in den Provinzen, die zu ihrem Verwaltungsbereich zählten, unmittelbar unter ihrem Befehl. Den Intendanten, die vor Ort die Arbeit der Kammern beaufsichtigten, war es dabei streng untersagt, die von Berlin aus erlassenen Verfügungen zu verhindern oder auch nur abzuändern. Rechenschaftspflichtig waren die Auditeurs mit dem Generaladministrator letztendlich dem höchstrangigen Finanzbeamten der französischen Besatzungsverwaltung.28 Zu Beginn der Okkupation wurden ausschließlich Staatsauditeurs des französischen Staatsrats auf den Posten eines Auditeurs berufen. Als Verwaltungsjuristen waren diese in der Regel jungen Männer zwar administrativ geschult, die Probleme und Erfordernisse täglicher Verwaltungsarbeit waren ihnen jedoch weitestgehend fremd.29 Vor allem aber aufgrund ihrer zu großen Nachgiebigkeit und Milde, die ihnen selbst von preußischer Seite attestiert wurden,30 ersetzte Daru sie im November 1807 durch Beamte aus den unteren Rängen der Militärverwaltung, die sich sogleich durch besondere Härte auszuzeichnen versuchten. „[J]eder Aufseher wetteifert mit andern darum, in seinem Departement das größtmöglichste Quantum der Einnahmen zusammen zu treiben“, beschrieb die Friedensvollziehungskommission den neuen Geist, der mit dem Personalwechsel in der französischen Verwaltung Einzug hielt.31 Die Beschaffung möglichst detaillierter Informationen über die Organisation der bestehenden Verwaltungsstrukturen und des wirtschaftlichen Potenzials des okkupierten Gebiets ist entscheidende Voraussetzung für die effiziente Ressourcenextraktion durch eine Besatzungsmacht. Deshalb war es bereits im Ancien Régime allgemeine Praxis, dass sich eine Armee kurz nach dem Einmarsch in feindliches Territorium bemühte, in den Besitz der Etats der verschiedenen Finanzverwaltungsbehörden zu gelangen.32 Auch Estève wies in den ersten Wochen nach seiner Ernennung zum Generaladministrator sowohl die preußischen Kammern als auch die Zentralverwaltungsbehörden an, ihm Aufstellungen über die vorhandenen und die 28 Zur Geschäftsverteilung zwischen Administratoren und Intendanten siehe „Zirkular“ (gez. Estève/Houdetot), Berlin, 13. 11. 1806 (Druck). GStA PK, II. HA, Generaldirektorium, Abt. 24, A Tit. 1, Sect. 3, Nr. 6, Bl. 29 – 30v. 29 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 317. Bergerot, Daru, S. 92. 30 Zeitungsbericht der Friedensvollziehungskommission, Berlin, 1.11. und 7. 11. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 20 f., S. 38, 44 f. 31 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 21. 11. 1807, 14.12. und 4. 1. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 26, 32, 40, S. 58, 79, 98. Die einzelnen Finanzpartien standen unter folgender Leitung: Sekretär Houdetot (Akzise- und Zolldepartement), Sekretär Teulon (Lotterie), Sekretär Mieges (Salz-, Bergwerks- und Hüttenwesen), Kontrolleur Deswismes (Stempel- und Münzwesen), Sekretär Rikot (Grundsteuerwesen), Doktor Barbiguiers (Postwesen), Sekretär d’Aubignose (Domänen- und Forstwesen). Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 317. Bassewitz irrte, wenn er die Zuständigkeit des neuen Personals allein auf die Kurmark beschränkt glaubte. Tatsächlich übernahmen die Beamten die zentrale Finanzverwaltung für das gesamte okkupierte Gebiet. 32 Siehe hierzu Carl, Okkupation, S. 106.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
noch ausstehenden regulären Einnahmen zu übersenden.33 Die Generalkontrolle sollte außerdem die Budgets für die Jahre 1805/6 und 1807/8 vorlegen, die als Grundlage zur Ausarbeitung eines neuen Etats für die besetzten Gebiete dienen konnten.34 Eine der wichtigsten Informationsquellen für die französische Besatzungsmacht war aber der Minister Ferdinand Ludolph Friedrich von Angern, der nach der Schlacht von Jena und Auerstedt vom preußischen König mit der Leitung der zivilen Angelegenheiten der Stadt Berlin beauftragt worden war. Auf französische Aufforderung hin überreichte Angern detaillierte Übersichten über die Einnahmen der Kurmark, der Post, der Bergwerke, der Stempel- und Kartenkammer, der Salzwerke, Porzellanfabriken, Lotterie, Bank sowie des Akzise- und Zolldepartements und weiterer Bereiche der Finanzverwaltung.35 Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfüllungsbereitschaft waren die französische Besatzer relativ gut über die ökonomische Leistungsfähigkeit und die Organisation der Finanzverwaltung Preußens informiert.36 Später rechtfertigte Angern sein Verhalten gegenüber Friedrich Wilhelm damit, dass er durch die Kooperation mit Estève eine Unordnung in der Verwaltung haben verhindern wollen.37 Die Besatzungsmacht versicherte sich nicht nur des Wissens, sondern auch der Arbeitskraft der preußischen Beamten. Die Kooperation mit der bestehenden preußischen Verwaltung war für die französische Armee ein wesentlicher Faktor für eine effektive Besatzungsadministration und ökonomische Ausbeutung. Schon unmittelbar nach dem Einrücken der Grande Armée wurde den Beamten der preußischen Finanzverwaltung in Berlin befohlen, sich „ihren Dienstgeschäften wiederum zu unterziehen, und die ihnen übertragenen Geschäfte nach wie vor zu bearbeiten“ sowie die fälligen Abgaben in gewohnter Weise einzuziehen.38 Angern ermahnte noch persönlich die preußischen Beamten dazu, diesen Anweisungen Folge zu 33 Siehe „Circular der Central-Administration der Domänen“ (an die Kammern), Berlin, 30. 7. 1807, Abschrift. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 36, Bl. 21 – 24. Exemplarisch auch Estève an das Akzise- und Zolldepartement, Berlin, 12. 11. 1806, Ausf. Ebd., II. HA, Generaldirektorium, Abt. 24, A Tit. 1, Sect. 3, Nr. 6, Bl. 23. Zentraladministration der Domänen an die Neumärkische Kammer, Berlin, 31. 7. 1807, Ausf. BLHA, Rep. 3, Nr. 18270. 34 Siehe Estève an die Generalkontrolle, Berlin, 22. 2. 1807, Abschrift. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 6, Bl. 68. 35 Siehe Paul Clauswitz, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin, Heidelberg/ NewYork/Tokyo 1986 (Ndr. d. Ausg. v. 1908), S. 39. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 104 f. 36 Siehe verschiedene Berichte Estèves an Napoleon mit detaillierten Angaben zur Funktionsweise und Leistungsfähigkeit der preußischen Finanzverwaltung, die in den im GStA PK lagernden Rapporten der französischen Besatzungstruppen enthalten sind: GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 77. Auch den Aktenfaszikel „15 Tabellen über die Einnahmen und Ausgaben 1800 – 1808“. Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 429. 37 Siehe „Mémoire über die Geschäftsführung Angerns in Berlin während der französischen Besetzung“, Berlin, 4. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 362, Bl. 1v–5. 38 Die Verfügung im vollständigen Wortlaut in Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 106 f. (Fn. *), hier das Zitat. Siehe auch „Arrêté de l’Administrateur général des finances sur les Accises et Péages“, Berlin, 13. 1. 1807 (Druck). Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 6, Bl. 49 – 52v.
I. Die Besatzungsverwaltung: Administration und Ressourcenextraktion
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leisten.39 In einem nächsten Schritt wurde mit der kaiserlichen Verordnung vom 3. November 1806 die Vereidigung der Staatsdiener sämtlicher Verwaltungszweige in Berlin und den Provinzen angeordnet. Durch diese Maßnahme sollten die preußischen Staatsdiener auch moralisch auf die Besatzungsherrschaft verpflichtet werden. Die französische Okkupationspraxis knüpfte auch an dieser Stelle an das 18. Jahrhundert an, als beispielsweise während des Siebenjährigen Kriegs die französische und die russische Besatzungsmacht in den West- und Ostprovinzen ähnlich vorgegangen waren.40 Am 9. November versammelten sich schließlich im Stadtschloss die in Berlin gebliebenen vier Justizminister Heinrich Julius v. Goldbeck, Julius Eberhard Wilhelm v. Massow, Friedrich Wilhelm Freiherr v. Thulemeier und Eberhard Friedrich Christoph Freiherr v. d. Reck, außerdem der Staatsminister und Leiter des Bergwerks- und Hüttendepartements Friedrich Wilhelm v. Reden sowie der Präsident der kurmärkischen Kammer Leopold v. Gerlach und weitere Beamte verschiedenen Ranges zur feierlichen Eidablegung. Laut der Eidesformel, die von Bignon verlesen wurde, verpflichteten sich die preußischen Beamten dazu, die Gewalt, die ihnen vom französischen Kaiser übertragen wurde („l’autorité qui m’est confiée par Sa Majesté L’Empereur des Français Roi d’Italie“), loyal auszuüben und die Anordnungen, die für den Dienst an der französischen Armee erlassen wurden („pour le service de L’Armée française“), gewissenhaft auszuführen. Darüber hinaus mussten sie versichern, keine Kommunikation mit den Feinden Frankreichs, also auch nicht mit der geflohenen königlich-preußischen Regierung, zu unterhalten.41 Später wurden auch die Berliner Geistlichkeit, die Mitglieder beider Akademien, weitere Amtsträger in Berlin und die Beamten in den Provinzen (dort unter der Aufsicht der örtlichen Intendanten beziehungsweise Kommissare) für Frankreich in die Pflicht genommen.42 Nur wenige preußische Staatsdiener verweigerten die Eidesleistung. Als renitent erwiesen sich vor allem die schlesischen Kammern in Glogau und Breslau, deren Mitglieder erst auf massiven französischen Druck hin mehrheitlich vereidigt werden konnten.43 Einzelne höhere Beamte, wie der schlesische Generalzivilkommissar 39
Siehe Eggert, Besatzungszeit, S. 7. Siehe hierzu Hasenkamp, Ostpreußen, S. 270 – 273. Walther Hubatsch, Friedrich der Große und die preussische Verwaltung (Studien zur Geschichte Preussens, 18), Köln/Berlin 1973, S. 115. Carl, Okkupation, S. 255. Neugebauer, Preußen und Rußland, S. 50 f. 41 Siehe zur Eidesleistung in Berlin Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 110 – 115, hier auch die Eidesformel in deutscher Übersetzung (S. 110). Stölzel, Rechtsverwaltung, S. 374 – 376. Mieck, Reformzeit, S. 426. Die Eidesformel in französischer Sprache in Winter, Reorganisation, S. 69 (Fn. 1). 42 Siehe hierzu den Aktenfaszikel GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 246. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 115 f. Wiedemann, Breslau, S. 111. 43 Siehe „Geschichtliche Darstellung der von dem Comité Général des Departements von Breslau und Oberschlesien geführten Geschäfte d. d. Breslau, am 15ten Januar 1810“, mitgeteilt von Richard Roepel, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 2, Heft 1 (1858), S. 91 – 166, hier S. 91. Wiedemann, Breslau, S. 122 f. Zu den schlesischen 40
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
v. Massow oder der westpreußische Kammerpräsident v. Dohna, ließen sich nicht einschüchtern und verdienten sich damit das Lob des Königs;44 alle anderen, die nicht dieselbe Standhaftigkeit an den Tag legten, bezichtigte Friedrich Wilhelm der Treulosigkeit. Besonders die Berliner Minister, die als ranghöchste Repräsentanten Preußens als erste auf dem Stadtschloss den Eid abgelegt hatten, mussten sich rechtfertigen. Zu ihrer Verteidigung verwiesen sie auf den Zwang, der unter anderem von den bajonettierten Wachen auf sie ausgeübt worden sei.45 Das Staatsministerium sprang schließlich den Ministern bei und verteidigte ihr Verhalten wie das der anderen preußischen Beamten in Berlin und andernorts, indem es sich Argumenten bediente, die an die Rechtfertigungen Angerns erinnern. Alles in allem bedeute die Eidesleistung keine Verletzung der Treuepflicht, hieß es.46 Friedrich Wilhelm blieb davon unbeeindruckt und bestand in Ortelsburg, wo er Ende 1806 auch ein harsches Urteil über viele seiner Offiziere fällte, auf seinen souveränen Herrschaftsanspruch und verlangte die unbedingte Loyalität seiner Untergebenen. Auch und gerade im Krieg bestehe die Pflicht zum Gehorsam, war der Wortlaut eines Reskripts, ungeachtet der Möglichkeit, dass aus der Verweigerung der Kooperation mit dem Feind „manches Ungemach für einzelne und Ungleichheit in Ertragung der Kriegsschäden entstehen“.47 Die Eidesleistung wurde aufgrund der sich daraus ergebenden moralischen Verpflichtung, zu der niemand gezwungen werden könne, verurteilt: „S. K. M. von Preußen pp. eröffnen dem Staatsministerium wiederholentlich, daß Allerhöchstdieselben jede dem Feinde zu leistende Eidespflicht mit der Dienst- und Untertanenpflicht unverträglich finden. Die Gewalt des Feindes kann die Ausübung derselben auf eine Zeitlang hemmen, aber diese Gewalt durch Übernahme einer moralischen Verpflichtung zu verstärken, ist gegen alle Grundsätze der Moral und des Völkerrechts.“48
Friedrich Wilhelm forderte die harte Bestrafung derjenigen, die den Eid geleistet hatten und deshalb schlicht „ehr- und rechtlos“ seien.49 Ende 1808 legte er sogar Kammern am Beginn der Okkupation siehe Linke, Merckel, S. 11 – 13, 17, 20 – 23. Erler, Schlesien, S. 35. In West- und Ostpreußen scheint der Eid auf Drängen der Beamten abgeändert worden zu sein, zumindest verwies der König gegenüber einer Delegation der kurmärkischen Stände darauf. Siehe Brinkmann, Quelle, S. 79. 44 Siehe Schön, Aus den Papieren, Bd. 4, S. 564. Immediatbericht Massow, Breslau, 30. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 243, S. 283 f. 45 Siehe „Protokoll über die durch das französische Gouvernement von den Justizbedienten geforderte Eidesleistung“, Berlin, 10. 11. 1806, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 177 – 178. Immediatbericht Reck, Goldbeck, Thulemeier, Massow, Berlin, 7. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 196, S. 258 f. 46 Siehe Immediatbericht des Staatsministeriums, Königsberg, 25.11. und 14. 12. 1806. Winter, Reorganisation, Nr. 38, 54, S. 74 f., 96. 47 Siehe Reskript (fälschlicherweise als Kabinettsorder ausgewiesen) an das Staatsministerium, Ortelsburg, 28. 11. 1806. Winter, Reorganisation, Nr. 41, S. 77 f., hier das Zitat S. 77. 48 Siehe Reskript (fälschlicherweise als Kabinettsorder ausgewiesen) an das Staatsministerium, Königsberg, 17. 12. 1806. Ebd., Nr. 57, S. 97. 49 Kabinettsorder an das Staatsministerium, Ortelsburg, 2. 12. 1806. Ebd., Nr. 45, S. 79 f, hier das Zitat S. 80.
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Richtlinien für ein neues Beamtengesetz vor, das es künftig möglich machen sollte, politisch unzuverlässige Beamte, vor allem solche, die einen Eid auf den Feind geschworen hatten, bestrafen oder gegebenenfalls entlassen zu können.50 Es zeigte sich aber recht schnell, dass die vom König angestrebte strenge Behandlung der „Kollaborateure“51 kaum durchzuführen war. Als sich die Friedensvollziehungskommission in Berlin konstituierte, stand man nämlich bald vor dem Problem, dass es unmöglich war, ausreichend geeignete Offizianten zu rekrutieren, die nicht den Eid abgelegt hatten. Angesichts dieser Zwangslage versuchte auch die Kommission, beispielsweise mit Hinweis auf formelle Ungenauigkeiten bei der Eidablegung, das Berliner Beamtentum zu rehabilitieren. Der Generalzivilkommissar von Schlesien, der die Probleme, die sich aus der Ächtung unzähliger Beamter ergaben, erkannt haben muss, wies schließlich darauf hin, dass die Auflösung der Verwaltung durch Frankreich, die wahrscheinlich aus einer allgemeinen Weigerung resultiert wäre, eine gleichmäßige Verteilung der materiellen Lasten der Okkupation durch die preußischen Behörden unmöglich gemacht hätte. Er wie auch die Friedensvollziehungskommission attestierten den Beamten, die unter französischer Leitung ihren Dienst versahen, die besten Absichten und eine grundsätzlich königstreue Gesinnung.52 Der König gab am Ende nach, bestand aber auf eine erneute Vereidigung der Beamten und,53 gegen den erklärten Willen Steins,54 auf die Entlassung der Berliner Staatsminister Massow, Thulemeier, Reck, Goldbeck und Reden. Offiziell wurde dieser Schritt zwar, wohl aufgrund der Regelungen des Allgemeinen Landrechts,55 mit der finanziellen Notlage des Staats begründet,56 Goldbeck fühlte sich trotzdem geradezu „entehrt“57. 50
Siehe Kabinettsorder an Provinzialminister Schroetter, Kanzler Schroetter und Stein, Königsberg, 13. 11. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 897, S. 937 – 939, hier besonders S. 938 f. Zu einer Aufhebung der Bestimmungen des ALR zur Entlassung von Beamten ist es nicht gekommen. Siehe Fritz Hartung, Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, in: Ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 178 – 344, hier S. 234. Erst ab den 1820er Jahren wurden dem Staatsministerium weitreichende Möglichkeiten zur Entfernung von Beamten aus politischen Gründen eingeräumt. Siehe Koselleck, Preußen, S. 404 – 414. 51 Kollaboration wird verstanden als „über Verwaltungsroutine hinausgehende intentionale Kooperation von Funktionsträgern mit den Besatzungsmächten“. Carl, Okkupation, S. 254 (Fn. 47). 52 Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 17. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 167 – 170. Immediatbericht Massow, Breslau, 30. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 243, S. 283 f. 53 Siehe Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 28. 8. 1807. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 276, Bl. 1 – 5v. 54 Siehe Stein an Frau vom Stein, (Berlin und) Kunersdorf, 21.9.(1807). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 378, S. 434. 55 Siehe hierzu Hartung, Studien, S. 234. 56 Siehe Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 30. 8. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 39, Bl. 1. Hinsichtlich der Subalternbeamten der Friedensvollziehungskommission ließ man es bei einer neuen Vereidigung per Handschlag bewenden. Im-
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Insgesamt ist es schwierig, das Verhalten des preußischen Beamtenkorps angemessen zu beurteilen. Auf die Vorteile, die eine geregelte Verwaltung für die Bevölkerung mit sich bringe, hatten schon die preußischen Beamten verwiesen, die sich während des Siebenjährigen Kriegs in einer ganz ähnlichen Lage befanden.58 Tatsächlich bot die Besetzung der Kurmark während dieses letzten großen Kriegs geradezu einen Präzedenzfall für eine auch unter einer Besatzungsherrschaft weiterlaufenden Verwaltungsmaschine, auf den sich der ein oder andere auch nach 1806 bezog.59 Die Beamten, die sich der Besatzungsherrschaft unterwarfen, konnten sich überdies zu Gute halten, dass es die königliche Regierung im allgemeinen Chaos nach der Schlacht von Jena und Auerstedt versäumt hatte, konkrete Verhaltensmaßregeln für den Fall einer Besetzung auszugeben. Ohne entsprechende Anordnungen von höherer Stelle war es von einem preußischen Staatsdiener viel verlangt, entschlossenen Widerstand zu leisten. Es entsprach dem Denken des Ancien Régime, das sich in der vielzitierten Bekanntmachung des Berliner Stadtkommandanten Schulenburg „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“60 manifestierte, dass die Verteidigung des Staats nicht Angelegenheit des Zivil-, sondern des Militärstandes sei.61 Tatsächlich war die Verwirrung, die mangels eindeutiger Instruktionen entstand, groß. Wiederholt wandten sich beispielsweise die Landräte verschiedener pommerscher Kreise ratsuchend an die Kammer in Stettin, um zu erfahren, wie sie auf die Aufforderung zur Eidablegung reagieren sollten. Der Landrat v. Arnim riet von vornherein einfach jedem Offizianten, wegen des Fehlens anderslautender Verfügungen auf seinem Posten zu verbleiben.62 Zum Schluss mögen es vor allem ökonomische Gründe gewesen sein, die den einzelnen Beamten zum Gehorsam gegenüber der Besatzungsmacht nötigten, immerhin war die wirtschaftliche Lage eines Großteils der Bevölkerung während der Besetzung desaströs. Für die Beamten, die in jenen Verwaltungszweigen tätig waren, die von den Franzosen geleitet wurden, war daher die von Napoleon versprochene Fortzahlung des regulären Solds ein großer Anreiz, den Dienst weiter zu versehen – selbst wenn die französische Besatzungsmacht dieser Zusage nur zögerlich nachkam.63 Zahllose andere Beamte, die von der Okkupationsverwaltung nicht gebraucht mediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 23. 9. 1807, Konzept, abgeg. 24.9. Ebd., Bl. 65. Siehe auch Brinkmann, Quelle, S. 96. 57 Goldbeck an Beyme, Berlin, 16. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 254, S. 291. 58 Siehe hierzu Carl, Okkupation, S. 254. Hubatsch, Friedrich, S. 115 f. 59 Siehe Schoeps, Not, S. 71. 60 Zit. n. Stölzel, Rechtsverwaltung, S. 370. 61 Siehe hierzu wie überhaupt zum Verhalten der Beamten Ibbeken, Preußen, S. 95 f. 62 Siehe Landrat v. Arnim an die Pommersche Kammer, Prenzlow, 24. 10. 1806, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 146, Nr. 918, Bl. 1 – 2. Hier auch weitere ähnlich lautende Schreiben von Landräten an die Kammer. 63 Siehe u. a. Sack an Stein, Berlin, 26. 5. 1807. Steffens, Briefwechsel, Nr. 1, S. 3. „Mémoire über die Geschäftsführung Angerns in Berlin während der französischen Besetzung“, Berlin, 4. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 362, Bl. 16v–17.
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wurden, wie etwa die der Provinzialdepartements des Generaldirektoriums, hatten dieses Glück nicht und waren von einem Tag auf den anderen ohne Einkommen. Zusammengenommen verhielt sich das Beamtenkorps während der Okkupation weder besonders „patriotisch“, noch leistete es den Besatzern übertriebene Hilfestellung; und nur wenige scheinen ihre Stellung zur eigenen Bereicherung ausgenutzt zu haben.64 Der grundsätzliche Gehorsam, den das Gros der Beamten bewies, erleichterte es aber in jedem Fall der französischen Armee, die Besatzungsherrschaft vergleichsweise effektiv auszuüben. Nur selten nutzten Beamte die Möglichkeit, die Unerfahrenheit der oft jungen Vertreter der Besatzungsverwaltung auszunutzen, um „Revenuen und Abgaben aus den Augen und in den Hintergrund zu bringen.“65 Von Seiten der preußischen Zentralregierung war diese Obstruktion nicht mal unbedingt gewünscht. Stein wollte im Rahmen seiner „Erfüllungspolitik“ die französischen Forderungen eigentlich befriedigt sehen, so dass er zum Beispiel die Breslauer Kammer anwies, die von Frankreich nach dem 1. Oktober 1807 rückwirkend geforderten Revenuen zwar zu verweigern, die laufenden Einnahmen solle man jedoch ohne Wenn und Aber an Frankreich übergeben.66 Ob die Besatzungsmacht bei der Ressourcenextraktion in den Provinzen besonders rigoros vorging, oder nicht, hing maßgeblich vom jeweiligen Intendanten beziehungsweise Kommissar ab. L’Aigle, der Intendant von Pommern, galt etwa als verhältnismäßig milde, während Strassard, der die Besatzungsverwaltung in Westpreußen und später in der Mittelmark leitete, wegen seines harten Vorgehens berüchtigt war.67 Napoleon hatte stets ein waches Auge auf die finanziellen Aspekte der Okkupation und mahnte seine Vertreter wiederholt zum energischen Eintreiben der Gefälle und Kriegskontributionen.68 Da Napoleon die Einnahmen aus der Besetzung Preußens zu gering erschienen, war Estève schließlich dazu gezwungen, sich zu rechtfertigen. Er tat dies, indem er auf die Folgen des Kriegs verwies, die eine regelmäßige Einnahmeverwaltung wie zu Friedenszeiten unmöglich machen würden. Um die mögliche Obstruktion preußischer Beamter der Berliner Zentralverwaltung zu unterbinden, erklärte er, habe er im Januar 1807 eigens die Einsetzung von Kontrolleuren angeordnet, die rund um die Uhr deren Arbeit überwachten. Um auch 64
So Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 756. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 14. 7. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 24, S. 51. Siehe auch Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 12. 12. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 360, Bl. 105 – 106v. Immediatbericht Massow, Breslau, 18. 12. 1808, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 89, Nr. 24942, Bl. 84, 85. Beyer an Altenstein, Berlin, 21. 2. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 84, S. 258 f. 66 Siehe Immediatbericht Stein, Berlin, 26. 3. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 646, S. 691. 67 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 30.3. und 7. 5. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 386, Bl. 129 – 129v und Nr. 387, Bl. 88v–88v. Brockhusen, Brockhausen, S. 120. 68 Siehe unter anderem Napoleon an Berthier, Königsberg, 13. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12904, S. 418. 65
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die Einnahmeverwaltung auf dem Land zu kontrollieren, würden fortan zudem spezielle Aufseher (controlleurs ambulances) von Ort zu Ort reisen.69 Trotz solcher Maßnahmen blieben die abgelieferten Gelder und Requisitionen oftmals hinter dem geforderten Quantum zurück. Die Besatzungsmacht griff in solchen Fällen zum äußersten Mittel der Gehorsamserzwingung und belegte die leitenden Beamten der jeweiligen Behörden mit Exekutionskommandos;70 angesichts der verheerenden ökonomischen Lage des Landes, die der Ressourcenextraktion schlichtweg Grenzen setzte, erwiesen sich diese Maßnahmen allerdings meist als relativ wirkungslos.71 Da der Fokus der Okkupation auf der wirtschaftlichen Ausbeutung des unterworfenen Territoriums lag, nahm die Besatzungsverwaltung keinen unmittelbaren Einfluss auf die Administration der geistlichen und Schulsachen.72 Gleiches galt für die zivile Justizpflege, die weiterhin ohne Einschränkungen von preußischen Richtern wahrgenommen wurde, die nach Maßgabe der bestehenden Gesetzeslage Recht sprachen.73 Die Besatzungsmacht beschränkte sich darauf, zuweilen Hilfestellung bei der Vollziehung der Urteile zu leisten. Als Sicherheitspolizei dienten eine auf französisches Betreiben hin errichtete Gendarmerietruppe und eine Berliner Bürgergarde.74 Letztere setzte sich aus vermögenden Bürgern der Stadt zusammen, die sich selbst equipierten und in eigener Uniform auftraten; die Garde war somit eine echte „Bürgerpolizei“ wie es sie bislang in Preußen nicht gegeben hatte. Nominell war die rund 1900 Mann starke Garde dem französischen Stadtkommandanten unterstellt, doch übte der Berliner Stadtdirektor und Präsident des Polizeidepartements Büsching die eigentliche Leitung aus; selbst nach dessen Rücktritt und der Ernennung des Auditeurs Teulon zum Polizeidirektor blieb die Berliner Sicherheitspolizei faktisch unter der Kontrolle preußischer Beamten.75 Dieses Verfahren wirkte sich nicht zum Nachteil auf die Interessen der Besatzungsmacht aus, der zur Beobachtung der entlassenen preußischen Offiziere und anderer potenzieller Unruhestifter ein ausgeklügeltes Spitzelsystem zur Verfügung stand, das Ernst Moritz Arndt in seinen Erinnerungen eindrucksvoll beschrieb.76 Zwar entlasteten die Gardisten auch die 69 Siehe Estève an Napoleon, Berlin, 12. 5. 1807, Ausf. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 78, Bl. 33. 70 Zum Begriff „Exekution“ als Mittel militärischer Zwangsvollstreckung siehe Kap. E., Fn. 207. 71 Zu sehen am Beispiel Breslaus in Wiedemann, Breslau, S. 216 f., 239. 72 Siehe Immediatbericht Reck, Thulemeier, Massow, Goldbeck, Berlin, 7. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 196, S. 258. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 177 f. Ähnlich verhielten sich auch die Okkupationsmächte im Siebenjährigen Krieg. Siehe Hasenkamp, Ostpreußen, S. 267. 73 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 30. 4. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 82, S. 227. Stölzel, Rechtsverwaltung, S. 376. 74 Zur Landgendarmerie siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 388. 75 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 20. 5. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 93, S. 256. 76 Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 309 – 312, Bd. 2, S. 382 – 384. Siehe den Briefwechsel zwischen dem Polizeikommandanten Lauer und Berthier in Granier, Franzo-
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französische Armee, die keine Soldaten mehr für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung abstellen musste, sie bewahrten aber zugleich die Bevölkerung vor Übergriffen und Plünderungen,77 wofür sie nach dem Ende der Besetzung vom König ausdrücklich gelobt wurden.78 Innenminister Dohna empfahl 1809 sogar, die Garde ebenso wie die sonstigen polizeilichen Anordnungen der Besatzungsmacht beizubehalten, „welche der Regel nach wirkliche Verbesserungen sind“.79 Unmittelbar nach dem Tilsiter Friedensschluss war nicht abzusehen, dass die französische Armee noch für fast eineinhalb Jahre Preußen besetzt halten und während dieser Zeit die Verwaltung kontrollieren würde. In der Erwartung eines baldigen Abzugs traf die preußische Regierung Vorbereitungen für die Zeit unmittelbar nach der Wiederinbesitznahme des Landes. So wurde den Generalzivilkommissariaten, die zusammen mit der Friedensvollziehungskommission entstanden, neben ihren Aufgaben hinsichtlich der Friedensvollziehung eine wichtige Rolle bei der Reorganisation der preußischen Verwaltung zugedacht, die man in Folge des Kriegs und der Besetzung in völliger Unordnung erwartete. Die Kommissare sollten dafür sorgen, dass „nach der Evacuation der Provinz alle Zweige der Staatsgewalt und Staatsverwaltung wieder belebt und in raschen Gang gesezt werden“ sowie, wie es weiter in ihrer Instruktion hieß, „auf Geltendmachung aller Hoheitsrechte sehen, und alles hierunter repariren, was im Kriege gestöhrt oder verdunkelt worden seyn möchte“. Um ihrer Aufgabe, die Autorität der königlichen Regierung wieder zu befestigen und die avisierten Reformen entschlossen durchzuführen, erfüllen zu können, wurden die Kommissare mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und waren etwa befugt, an „alle Civilbehörden in der Provinz ohne Ausnahme zu verfügen, und an die Landes Collegien zu rescribiren.“ Von einer unmittelbaren Teilnahme an der Verwaltungsarbeit hatten die Kommissare jedoch soweit wie möglich abzusehen und sich nur auf Maßnahmen zu beschränken, die für die Wiederingangbringung der Administration, vor allem aber für die Abgabenerhebung, notwendig waren. Solange das Generaldirektorium außer Aktivität war – und dies sollte auch nach der Räumung erst einmal so bleiben – hatten nach der Instruktion an die Generalzivilkommissare die Provinzialregierungen eigenverantwortlich, ohne die Leitung der Provinzialdepartements, ihre Geschäfte zu führen und sich nur in strittigen Fragen an die Generalzivilkommissariate zu wenden. Diese Regelung war allerdings insoweit unklar, als dass die Kommissare Gerlach und Dohna als Kammerpräsidenten in Berlin beziehungsweise Marienwerder ebenso wie Massow als Vizepräsident der Glogauer Kammer qua Amt durchaus mit der Leitung der Prosenzeit, S. 259 – 261. Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, hrsg. v. Friedrich M. Kircheisen, Leipzig 1913, S. 101 – 110. 77 Siehe hierzu Clauswitz, Städteordnung, S. 45 f., hier das Zitat S. 45. Mieck, Reformzeit, S. 426 f. 78 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 722. 79 Siehe Dohna an Sack, Königsberg, 2. 1. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 25, S. 82. Auch Troschel an Provinzialminister Schroetter, Berlin, 3. 1. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 84, S. 285 f.
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vinzialverwaltung betraut waren.80 Gerlach, Massow und Borgstede wurden überdies ausdrücklich mit den Aufgaben eines Provinzialministers betraut und galten deshalb folgerichtig auch als „interimistische[] Chefs der Ziviladministration“.81 Die ungenaue Geschäftsverteilung führte relativ schnell zu Konflikten zwischen den Generalzivilkommissaren und der Friedensvollziehungskommission, der sie formell unterstanden. Auch der Aufgabenkreis der Berliner Kommission erstreckte sich auf Felder der Administration und ging über die Friedensvollziehung hinaus. Sack und den anderen Kommissionsmitgliedern war aufgegeben, „überhaupt alles, was zur Wiederbelebung der Administration und Zivilgewalt gehört, als Oberbehörde in Unserm Namen zu verfügen.“82 Sack unterstanden zu diesem Zweck rund drei Dutzend Beamte und Hilfskräfte und damit ein weitaus größeres Personal als für eine rein diplomatische Mission erforderlich gewesen wäre.83 Offensichtlich wurde aber bis zum Ende der Okkupation nie vollständig geklärt, welche Aufgaben die „Oberaufsichtspflichten“ der Friedensvollziehungskommission konkret umfassten.84 Deshalb weigerte sich auch Gerlach, in seiner Funktion als Kammerpräsident die Friedensvollziehungskommission als oberste Verwaltungsinstanz anzuerkennen – eine Stellung, die diese aus guten Gründen für sich reklamierte.85 Unstrittig war eigentlich nur ihre Weisungskompetenz in Bezug auf alle Bereiche der Friedensvollziehung wie das Kontributions- und Requisitionswesen.
80 Zum Aufgabenkreis der Generalzivilkommissariate siehe „Instruktion für die in den Provinzen behufs der Friedensvollziehungsgeschäfte angeordneten Generalzivilkommissare“, Memel, 31. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 73 – 75, hier die Zitate Bl. 75. Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 8. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 197, S. 259 f. Auch Haußherr, Erfüllung, S. 38. 81 Siehe hierzu Kabinettsorder an Massow, Memel, 30. 7. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 183, S. 243 f. Kabinettsorder an Borgstede, Memel, 26. 8. 1807. Ebd., Nr. 227, S. 274. Immediatbericht Gerlach, Berlin, 5. 11. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 3641, Bl. 23. Das Zitat nach einem Bericht der Friedensvollziehungskommission, Berlin, 29. 2. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 128, S. 415. 82 Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 8. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 197, S. 260, hier auch das Zitat. Siehe auch Haußherr, Erfüllung, S. 37. 83 Siehe hierzu die „gesehen“-Vermerke auf dem „Umlauf an die bei der königlichen preußischen Kommission arbeitenden Offizianten“, Berlin, 2. 9. 1807, Konzept. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 193 – 194. Siehe auch den Aktenfaszikel ebd., I. HA, Rep. 72 Friedensvollziehungskommission, Nr. 277. 84 Im Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 30. 8. 1807, hieß es nur: „[Wir] haben keineswegs die Absicht, Euch die Last aller Details einer Oberadministration zuzuweisen, obgleich Ihr die dort (im Reskript vom 8. 8. 1807; S.P) bezeichneten Oberaufsichtspflichten habt.“ Winter, Reorganisation, Nr. 242, S. 279. 85 Siehe „Aus dem Bericht der Immediat-Friedensvollziehungskommission“, (Berlin), 29. 2. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 128, S. 415 f. Auch Borgstede war sich über sein genaues Verhältnis zur Friedensvollziehungskommission im Unklaren. Siehe Borgstede an die Friedensvollziehungskommission, Stettin, 10.2. und 12. 3. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 39, Bl. 132 – 133, 142 – 142v.
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Der Friedensvollziehungskommission und den Generalzivilkommissaren war es mit Ausnahme von Schroetter, der für das nicht okkupierte Ostpreußen zuständig war, allerdings kaum möglich, die ihnen zugedachte administrative Funktion vollständig zu erfüllen. Die französische Besatzungsverwaltung verteidigte ihren Herrschaftsanspruch entschlossen und unterband jede Einmischung in die Verwaltung der besetzen Landesteile. Vor diesem Hintergrund warnte das Akzise- und Zolldepartement in Berlin mit Nachdruck davor, die von Memel aus geplante provisorische Verwaltungsordnung offiziell bekanntzugeben. Die öffentliche Mitteilung der Auflösung des Generaldirektoriums sowie der Einsetzung der Generalzivilkommissariate als übergeordnete Instanzen der Provinzialverwaltung würde unstreitig auch das Departement selbst in „allergrößte Verlegenheit“ bringen und womöglich zu dessen Auflösung führen, meinten die Departementmitglieder.86 Sollte als Reaktion eine rein französische Ersatzbehörde installiert werden, wäre dies „mit dem größten Schaden für die Provinzen“ verbunden. Aufgrund dieser und ähnlich lautender Bedenken beispielsweise des Salzdepartements entschied sich die Friedensvollziehungskommission letztendlich dafür,87 die preußischen Behörden in den besetzten Provinzen nur auf Umwegen über den ihr und den Generalzivilkommissariaten zugedachten Wirkungskreis zu informieren.88 Den Generalzivilkommissaren empfahl die Kommission, nur Einfluss auf die Landesverwaltung zu nehmen, „soweit es, ohne sich zu kompromittieren oder mit den französischen Behörden zusammenzustoßen, irgend geschehen kann.“89 Im Geheimen instruierte die Friedensvollziehungskommission schließlich die Zentralverwaltung in Berlin wie auch die Provinzialbehörden, sich wenn nötig ratsuchend an sie oder die Generalzivilkommissare vor Ort zu wenden. Dies geschah auch, wie die überlieferten Korrespondenzen beweisen.90 Obwohl die Versuche der Friedensvollziehungskommission, die Kontrolle über die wichtigsten Verwaltungsbereiche zu erlangen, insgesamt scheiterten,91 gelang es doch, „nur heimlich und wo unserm (!) Endzwecke von den betreffenden Behörden aus innerm (!) An86
Siehe Generalakzise- und Zolldepartement an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 8. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 358, Bl. 38 – 39, hier das Zitat Bl. 38. 87 Siehe Generalsalzdepartement an Beyer, Berlin, 7. 9. 1807, Abschrift. Ebd., Bl. 72 – 72v. 88 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 12. 8. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 357, Bl. 150v–151. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 8. 9. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 358, Bl. 34 – 37v. Exemplarisch für den Bereich der Akzise- und Zollverwaltung siehe Beyer an Goltz, Königsberg, 18. 9. 1807, Ausf. Ebd., Bl. 67 – 68. Auch Borgestede instruierte die neumärkische Kammer entsprechend. Siehe Borgstede an die neumärkische Kammer, 19. 9. 1807, Ausf. BLHA, Rep. 3, Nr. 18270. 89 Friedensvollziehungskommission an Massow, Berlin, 14. 1. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 36, S. 78 f. hier das Zitat S. 79. 90 Siehe beispielsweise den Schriftwechsel zwischen dem Generalakzise- und Zolldepartement in Berlin und der Friedensvollziehungskommission in GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 27. 91 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 8. 9. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 358, Bl. 34 – 37v.
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triebe begegnet wird“, der Besatzungsverwaltung vereinzelt entgegenzuarbeiten.92 Mitte 1808 zeigte sich aber, welches gefährliche Spiel die Kommission damit trieb. Aufgrund zunehmender Versorgungsengpässe hatte Napoleon Ende März die Zusammenfassung der im Land verstreuten Truppen in Militärlagern befohlen,93 die in der Kurmark bei Charlottenburg, Neuruppin und Havelberg entstehen sollten. Aufgrund der enormen finanziellen Lasten, die den Landständen für den Bau und den Unterhalt der Lager erwachsen mussten, wies Sack das ständische Comité an, sich der französischen Anordnung unter Hinweis auf deren Unerfüllbarkeit zu widersetzen. Dabei beging er jedoch einen schwerwiegenden Fehler, indem er offensichtlich den Brief mit dieser Anweisung über den gewöhnlichen Postweg verschickte, der von der Besatzungsmacht überwacht wurde, anstatt auf das Kuriernetz zurückzugreifen, das die Friedensvollziehungskommission für ihre Kommunikation mit der königlichen Regierung und den lokalen Behörden etabliert hatte.94 Wie beinahe zu erwarten war, wurde das Schreiben von der französischen Postkontrolle abgefangen. Daru sah darin eine unerlaubte Einmischung in die französische Besatzungsverwaltung und erzwang die Absetzung Sacks als Präsidenten der Friedensvollziehungskommission. Zu Sacks Nachfolger wurde der Staatsminister v. Voß ernannt, von dem man hoffte, er würde aufgrund seines hohen Rangs und Adels eine bessere Figur vor Daru machen als sein bürgerlicher Vorgänger. Die Berufung von Voß markierte aufgrund von dessen frankreichfreundlicher Gesinnung auch einen gewissen Stilwechsel in der Verhandlungsführung.95 Diese Nähe zu Frankreich erwies sich jedoch nach Ende der Okkupation als einen Nachteil für Voß, denn sie mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Stein noch vor seinem Ausscheiden nicht ihm, sondern Sack das Oberpräsidentenamt für Brandenburg übertrug.
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Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 7. 5. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 87, S. 235, hier auch das Zitat. Siehe auch Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 31. 10. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 267 – 268. Auf den Einfluss der Friedensvollziehungskommission wird auch knapp hingewiesen in Jeserich, Preußen und Frankreich, S. 154. 93 Siehe Napoleon an Berthier, Saint-Cloud, 24. 3. 1808. Napoleon, Correspondance générale, Bd. 8, Nr. 17463, S. 297. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 529 f. 94 Zur Postkontrolle siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 29. 11. 1807, 7.1., 10.4. und 17. 4. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 27, 40, 72, 76, S. 64, 101, 195 f., 204. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 4. 10. 1807. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 100. Friedensvollziehungskommission an Schroetter, Berlin, 12. 10. 1807, Abschrift. Ebd., Bl. 269 – 270. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 367. Hermann Granier, Aus der Berliner Franzosenzeit. 1. Die Kurierverbindungen zwischen Berlin und Memel während der Franzosenzeit 1807, 2. Ein „Exzeß“ zu Brandenburg a. H. gegen französische Truppen im Jahr 1809, in: FBPG 26 (1913), S. 240 – 244, hier S. 240 – 245. 95 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 8. 3. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 361, Bl. 166 – 169v. Kabinettsorder an Voß und Stein, Königsberg, 16. 5. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 700, S. 734 f. Sack an Stein, Berlin, 23. 11. 1808. Ebd., Nr. 906, S. 985. Voß an Prinz Wilhelm, Berlin, 1. 7. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 106, S. 273. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 493 – 515. Lesage, Napoléon, S. 165 – 170. Haußherr, Erfüllung, S. 192 f. Ritter, Stein, S. 325. Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 154.
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Die einzige administrative Aufgabe, welche die Friedensvollziehungskommission tatsächlich vollständig erfüllen konnte, war die einer interimistischen obersten Justizbehörde. Mit der fortwährenden Dauer der Okkupation hatte sich die Frage aufgedrängt, welche Stelle die Funktionen der entlassenen Justizminister übernehmen würde. Obwohl die Besatzungsverwaltung nicht in die Verwaltungsbereiche der ehemaligen Minister eingriff, erschwerte sie die Arbeit der Justizadministration, indem sie die Korrespondenz zwischen den preußischen Behörden in den besetzten Provinzen und Kanzler Schroetter unterdrückte, unter dessen Aufsicht ein provisorisches Justizministerium in Memel und später in Königsberg die Haus-, Hoheits-, Justiz- und geistlichen Angelegenheiten bearbeitete.96 Ende August 1807 wurde daraufhin der Friedensvollziehungskommission die Leitung der Justizangelegenheiten für die okkupierten Territorien übertragen, „[d]amit es (…) an einer verfassungsmäßigen Instanz für die Beschwerden in Justizsachen nicht fehle“. Ohne Wissen der Besatzungsmacht bearbeiteten Sack, Raumer und Focke fortan gemeinsam mit den vortragenden Räten und Subalternbeamten der ehemaligen Justizminister die eingehenden Sachen.97 In ihrer Eigenschaft als Justizbehörde firmierte die Kommission als „Königlich Preußische Immediatkommission“, bis im Mai 1808 dazu übergegangen wurde, mit „Königlich Preußisches Justiz-Departement“ zu unterzeichnen.98 Mitte 1808 war es der Kommission auch endlich gelungen, sämtliche Aufgabenfelder der Justizminister, einschließlich der geistlichen Angelegenheiten, an sich zu ziehen. Obwohl es der Friedensvollziehungskommission gelang, die Funktion eines Justizministeriums auszuüben, stellte dies letztendlich keine ernsthafte Einschränkung der französischen Besatzungsherrschaft dar; die Gebiete der öffentlichen Verwaltung, welche die Kommission damit leitete, waren von Beginn an nicht von Interesse für die Besatzungsmacht. In die wirklich sensiblen Bereiche der Herrschaft, vor allem in die Finanzverwaltung, konnte die Friedensvollziehungskommission als verlängerter Arm der königlichen Regierung kaum eindringen. Der sich daraus ergebende Entzug der souveränen Herrschaftsrechte des preußischen Königs in den besetzten Teilen der Monarchie zeigte sich auch daran, dass die königliche Legislativgewalt dort nicht, oder nur auf Umwegen entfaltet werden konnte. Daru wachte 96 Siehe Kabinettsorder an Kanzler Schroetter, Graudenz, 14. 11. 1806 und Memel, 27. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 34, 235 S. 72, 276. Stölzel, Rechtsverwaltung, S. 377. Zur Reform des Justizwesens Preußens siehe ebd. und Koselleck, Preußen, S. 155 – 158. 97 Siehe Friedensvollziehungskommission an Scheve, Berlin, 14. 9. 1807, Konzept, abgeg. 15.9. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 39, Bl. 34 – 36v. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 23. 9. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 28 – 29v. 98 Siehe Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 30. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 242, S. 280 f., hier das Zitat S. 280. „Dienstreglement für die allerhöchst angeordnete Immediatkommission zur interimistischen Verwaltung der oberen Leitung der Hoheits-, Justiz- und geistlichen Staatsangelegenheiten“, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 30 – 32. In Auszügen auch in Winter, Reorganisation, Nr. 253, S. 290 f. Siehe auch Stölzel, Rechtsverwaltung, S. 388, 394 – 396. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 20. 5. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 361, Bl. 178 – 178v.
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genauestens darüber, dass Gesetze und Verordnungen, die man in Memel beziehungsweise Königsberg erließ, in seinem Befehlsbereich nicht in Kraft traten.99 Als etwa Stein während seiner Anwesenheit in Berlin im Frühjahr 1808 entsprechend einer von Königsberg aus erlassenen Anordnung die Gerichtshöfe darüber informierte, dass Schuldner Tresorscheine künftig nicht mehr zum Nominal-, sondern nur noch zum weit geringeren Handelswert bei ihren Gläubigern in Anrechnung bringen lassen konnten,100 zwang Daru ihn, diese Anweisung unverzüglich zurückzunehmen. In den okkupierten Provinzen werde keine andere Autorität geduldet, erklärte Daru, „que celles qui émanent de S.M. l’Empereur et Roi“.101 Wie bereits angedeutet, waren die Generalzivilkommissariate ähnlich erfolglos mit ihren Versuchen, Einfluss auf die Provinzialverwaltung zu gewinnen. Daru wusste zwar von ihrer Existenz, wurde aber von der Friedensvollziehungskommission in dem Glauben belassen, dass die Kommissare nur für die Versorgung der heimkehrenden Kriegsgefangenen, die Unterstützung verarmter preußischer Untertanen oder die Einziehung rückständiger Abgaben für die französische Besatzungsverwaltung zuständig sein sollten.102 Zwar ist es schwierig, gesicherte Aussagen über die volle Dimension ihrer Tätigkeit zu treffen, da nur die Akten des Kommissariats für Pommern und die Neumark einigermaßen vollständig überliefert sind; dieser Bestand führt aber zu der begründeten Vermutung,103 dass die Generalzivilkommissare auch tatsächlich nur solche Bereiche der Verwaltung zu leiten vermochten, die ohne besondere Bedeutung für die französische Armee waren. So entschied Borgstede beispielsweise in Personal- und allerlei anderen Fragen der täglichen Administration. Gelegentlich kam es auch vor, dass einzelne Personen und Behörden sich an ihn wandten, um zu erfahren, wie man sich gegenüber den Besatzern zu verhalten habe. Borgstede war schließlich auch für die lokalen französischen Kommissare und Intendanten erster Ansprechpartner in Angelegenheiten der Besatzungsorganisation und der Friedensvollziehung, die etwa das Einquartierungsund Kontributionswesen betrafen. Wie weit die Besatzungsmacht aber die Wirkungsmöglichkeiten der Kommissare auch auf diesen Feldern zu begrenzen suchte, bewies der Intendant L’Aigle, der Borgstedes Bemühungen, die verschiedenen 99 Über das Verbot zur Veröffentlichung von Publikanda berichtete die Friedensvollziehungskommission in ihrem Immediatbericht, Berlin, 8. 9. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 358, Bl. 34v–35. Siehe hierzu auch die von Bignon verhinderte Publikation des Gesetzes über die Aufhebung des Mühlzwangs. Immediatbericht Stein, Berlin, 19. 4. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 670, S. 705 – 707. 100 Siehe Stein an den Kammergerichtspräsidenten Kircheisen, Berlin, 2. 4. 1808 und Stein an das Obertribunal zu Berlin, Berlin, 5. 4. 1808. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 158, 160, S. 384, 387 f. 101 Siehe Daru an Stein, Berlin, 11. 4. 1808. Kehr Finanzpolitik, Nr. 161, S. 388 – 390, hier das Zitat S. 390. 102 Dies geht aus dem Schreibe der Friedensvollziehungskommission an Borgstede hervor (Berlin, 19. 10. 1807). Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 19, S. 40 f. 103 Der Aktenbestand (GStA PK, I. HA, Rep. 146) umfasst 11 Lfm. Siehe auch die inhaltliche Charakterisierung des Bestands von Mathis Leibetseder im entsprechenden Findbuch.
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Aufbringungsverfahren der pommerschen Stände miteinander zu harmonisieren und auf eine neue Grundlage zu stellen, deutlich erschwerte.104 Ob es gelang, die französische Besatzungsmacht an der Ausübung ihrer Herrschaft zu hindern, hing schließlich auch davon ab, wie der jeweilige Generalzivilkommissar sein Amt interpretierte. Am energischsten trat wohl Massow in Schlesien auf, der unter anderem dafür sorgte, dass die Breslauer Kammer falsche Etats aufstellte, Gelder für die Finanzierung der preußischen Truppen in Glatz abzweigte oder Anfang Oktober 1807 die Übergabe der Kassen an die französische Armee verweigerte.105 Daneben versuchte Massow, die negativen wirtschaftlichen Folgen der Okkupation abzufedern. Um die überhandnehmenden Münzspekulationen und die Inflation einzudämmen, verbot er in Abstimmung mit dem französischen Intendanten die Einfuhr von Scheidemünze nach Schlesien und den Export von Kurantgeld aus der Provinz. Daru reagierte jedoch auf Massows Einflussnahme in die Wirtschaftspolitik wie er es in ähnlichen Fällen auch getan hatte: Er verbot jede „preußische Oberautorität“ in Schlesien und drohte dem Generalzivilkommissar mit der Verbringung nach Frankreich, sollte dieser nicht freiwillig und unverzüglich die Provinz verlassen. Mit seiner Flucht in die preußische Festung Glatz rettete sich Massow vor der drohenden Verhaftung. Mitte Mai wurde er auch offiziell von seinem Amt entbunden und seine Funktion einem Kammerausschuss unter dem Vorsitz des Geheimen Finanzrats v. Bismarck übertragen.106 Aufgrund der Effektivität, mit der die Besatzungsmacht umfassende Herrschaftsrechte ausübte, wurde die französische Armee und damit als ihr oberster Befehlshaber Napoleon faktisch zum Souverän in den okkupierten Teilen der preußischen Monarchie.107 Den Anspruch, die Souveränität der preußischen Krone 104
Siehe Eggert, Besatzungszeit, S. 44 – 46. Siehe Immediatbericht Massow, Breslau, 10. 12. 1807 und 18. 12. 1808. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 59, 79, S. 217 – 220, 255. Massow an die Friedensvollziehungskommission, Breslau, 27. 12. 1807. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 99. Wiedemann, Breslau, S. 178, 187 – 191. Auch Erler, Schlesien, S. 55. Haußherr, Hardenberg, S. 159 f. 106 Siehe Immediatbericht Massow, Glatz, 15. 3. 1808. Scheel. Reformministerium, Bd. 2, Nr. 133, S. 425 – 427, hier das Zitat S. 426. Stein an Bismarck, Königsberg, 4. 4. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 141, S. 473 – 475. Stein an Massow, Berlin, 19. 5. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 703, S. 737. Pertz, Stein, Bd. 2, S. 111. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 248 – 252. Erler, Schlesien, S. 53. 107 Hier den Ausführungen Carl Schmitts zum Souveränitätswechsel während einer Okkupation folgend. Siehe Schmitt, Nomos, S. 172 – 179, hier besonders S. 173, wo es heißt, „daß mit jeder effektiven, staatlich-militärischen Besetzung eines Gebietes ein unmittelbarer Wechsel der Souveränität über das besetzte Gebiet verbunden ist“. Siehe speziell zu Praxis und Völkerrecht im 18. Jahrhundert Markus Meumann/Jörg Rogge, Militärische Besetzung vor 1800 – Einführung und Perspektiven, in: Dies. (Hrsg.), Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 3), Berlin 2006, S. 11 – 25, hier S. 18. Unter Hinweis auf die komplizierten Lehensverhältnisse im Reich wies Horst Carl die These Carl Schmitts zurück, wonach jede Besetzung einen unmittelbaren Wechsel der Souveränität mit sich bringen würde. Carls Argumentation mag für den engeren 105
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
zu verdrängen, vertrat die Besatzungsmacht offensiv; davon zeugt nicht nur die Vereidigung der preußischen Beamten oder die Vielzahl an französischen Verordnungen und Verwaltungsmaßregeln, sondern vor allem die Bestimmtheit, mit der man jede herrschaftliche Einflussnahme der preußischen Regierung unterband. Die Aussage Darus, wonach „bis der Friede diesseits erfüllt sey“, die Mitglieder der Friedensvollziehungskommission „bloße Gesandte in einem fremden Staate“ seien,108 gibt den französischen Rechtsstandpunkt in nuce wieder. Das völkerrechtliche Denken der Zeit stand dem nicht entgegen, auch wenn man noch uneins darüber war, bei wem die Souveränität im Fall einer Okkupation zu verorten sei. Die Mehrheit der Völkerrechtsdenker des 18. Jahrhunderts ging davon aus, dass die souveräne Herrschaftsgewalt in aller Regel unmittelbar auf die Besatzungsmacht übergehe,109 mithin ein déplacement immédiat de souveraineté stattfinde.110 Eine verbindliche rechtliche Regelung, wie sie deutlich später die Haager Landkriegsordnung kannte, existierte noch nicht.111 Eine Besonderheit stellt der preußische Fall dahingehend dar, als dass der preußische König mit dem Friedensvertrag eigentlich als Herrscher in den ihm verbliebenen Territorien restituiert wurde, Napoleon ihm aber die Ausübung seiner Herrschaftsrechte dauerhaft verwehrte. Begründet wurde dies bekanntlich mit der Königsberger Konvention und dem Anspruch auf Rückzahlung der Kriegskontributionen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass nicht nur die Kontributionsforderung und deren Berechnung anfechtbar waren, sondern dass schon die Uneindeutigkeit der Konvention, die unter anderem die Höhe dieser Kontributionsschuld nicht bestimmte, als völkerrechtlich problematisch gelten musste. Die Okkupation Preußens entsprach daher nicht einer regulären „Vertragsbesetzung“112. rechtlichen Rahmen im Reich zutreffen, verfehlt aber größtenteils die konkrete historische Situation. Siehe Carl, Besatzungsherrschaft, S. 43. 108 Die Zitate in Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 8. 9. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 39, Bl. 35. 109 Siehe Gerhard von Glahn, The Occupation of Enemy Territory. A Commentary on the Law and Practice of Belligerent Occupation, Minneapolis 1957, S. 7 – 23. Heinhard Steiger, „Occupatio bellica“ in der Literatur des Völkerrechts der Christenheit (Spätmittelalter bis 18. Jahrhundert), in: Meumann/Rogge (Hrsg.), Res publica, S. 201 – 240, hier passim. Exemplarisch sei auf das Kapitel „Von der Staatsgewalt über die Besiegten“ bei Grotius verwiesen. Siehe Hugo Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens in welchem das Natur- und Völkerrecht und das Wichtigste aus dem öffentlichen Recht erklärt werden (Philosophische Bibliothek oder Sammlung der Hauptwerke der Philosophie, 15 – 17), übersetzt und kommentiert v. H. J. v. Kirchmann, 3 Bde., Berlin 1869, hier Bd. 2, S. 295 – 299. 110 Siehe hierzu den Hinweis auf Carl Schmitt in Kap. D., Fn. 107. 111 Siehe hierzu Heyland, Occupatio bellica, in: Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, 3 Bde., Berlin/Leipzig 1924 – 1929, hier Bd. 2, S. 154 – 171, hier S. 164. Zum modernen Völkerrecht siehe Knut Ipsen, Bewaffneter Konflikt und Neutralität, in: Ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., München 2004, S. 1195 – 1290, hier S. 1258 f. 112 Zur Vertragsbesetzung siehe Oscar Uhler, Besetzung, friedliche, in: Wörterbuch des Völkerrechts, begründet von Prof. Dr. Karl Strupp, 3 Bde., 2. Aufl., Berlin 1960 – 1962, hier Bd. 1, S. 193 – 195, hier S. 194.
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Letztendlich ermöglichte es die überlegene Macht des Siegers, die Besetzung solange auszudehnen, wie es den eigenen Interessen entsprach. Nach dem Friedensschluss usurpierte Napoleon demnach die Souveränität der preußischen Krone in den okkupierten Territorien, denn der preußische König konnte aus eigener Kraft den durchaus existierenden Rechtstitel zur Inbesitznahme des okkupierten Landes faktisch nie realisieren. Die Besatzungsmacht verstand die preußischen Beamten auch nach dem Tilsiter Frieden als „agents de l’administration française de qui vous avez reçu des pouvoirs“,113 wie sich der Auditeur Houdetot im August 1807 gegenüber den Mitgliedern des Zoll- und Akzisedepartements ausdrückte. Auf die erfolglosen Klagen der preußischen Unterhändler während der Friedensvollziehungsverhandlungen über die „Ausübung der höchsten Staatsgewalt“ durch Frankreich, diese „Anmaßung der Herrschaft“, wurde schon hingewiesen.114 Ihre Wortwahl belegt, dass Sack und die anderen Kommissionsmitglieder den Charakter der französischen Okkupation deutlich erkannten.115 Selbst Ende Dezember 1808, als wieder preußische Truppen in Berlin einmarschierten, erlangte Friedrich Wilhelm nicht die volle Herrschaftsgewalt über das gesamte preußische Territorium zurück, denn nach wie vor blieben die drei Oderfestungen Stettin, Küstrin und Glogau entsprechend des Pariser Vertrags „au pouvoir de l’armée Française“116. Die Festungen hatten, wie bereits erwähnt, eine herausragende strategische Bedeutung für Preußen;117 ihre Übergabe an die französische Armee bedeutete nichts anderes, als dass „der preußische Staat (…) selbst den Schein von Unabhängigkeit verliehrt“118, wie Stein während der Friedensvollziehungsverhandlungen treffend bemerkte. Die Besetzung der Oderfestungen gründete jedoch, verglichen mit der früheren Situation, auf einem vergleichsweise sicheren vertraglichen Fundament. Diesmal waren die Bedingungen der Räumung eindeutig geregelt: Nach Auslösung der an Frankreich übergebenen Wechselbriefe sollten Napoleons Truppen die Festungen verlassen. Die Einnahmeverwaltung sowie die Justiz verblieben ausdrücklich bei Preußen, nur die „Polizei“ fiel unter die Kontrolle der
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Zit. n. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 326 (Fn. **). Die Zitate in Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 13. 3. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 386, Bl. 100v. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 7. 5. 1808, Ausf. Ebd., Nr. 387, Bl. 87v. 115 „Herrschaft“ war bereits im 18. Jahrhundert ein relativ fest umrissener politischer Begriff. Siehe Karl-Heinz Itling, Herrschaft, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, S. 1 – 39, hier S. 14 – 17. 116 Art. 6 Pariser Vertrag. Clercq, Recueil, Bd. 2, S. 271. 117 Beschrieben von Carl v. Clausewitz in „Ueber die künftigen Kriegs-Operationen Preußens gegen Frankreich“, (zwischen November 1807 und März 1808). Werner Hahlweg (Hrsg.), Carl von Clausewitz. Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 45 und 49), 2 Bde., Göttingen 1966/1990, hier Bd. 1, Nr. 1, S. 73. 118 Votum Stein, Memel, (19.10.)1807. Hassel, Geschichte, Nr. 4, S. 307. 114
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französischen Festungskommandanten.119 In sechs weiteren Konventionen wurden sowohl die weiteren Details der Festungsokkupation als auch die Bedingungen, die für die Nutzung der Verbindungsstraßen durch die französische Armee galten, geregelt.120 Doch erneut erwies sich Frankreich als wenig zuverlässiger Vertragspartner und bewegte Truppen auch auf Straßen, die konventionsgemäß nicht dafür freigegeben waren.121 Dem Pariser Vertrag zum Trotz schien Frankreich auch in die Finanzadministration der Festungsstädte direkt oder indirekt eingegriffen zu haben, zumindest entschied die preußische Führung 1809, die Akzise- und Zolldeputationen aus den Festungsstädten Küstrin und Glogau zu verlegen.122 Um sie dem französischen Zugriff zu entziehen, hatte sich die Friedensvollziehungskommission schon frühzeitig auch für den Abzug der anderen in den Festungen gelegenen Administrationszweige ausgesprochen.123 Dieser Empfehlung wurde mit einer Kabinettsorder am 28. November 1808 entsprochen, welche die Verlegung der preußischen Kammerverwaltungen und der über Küstrin laufenden Postroute verfügte.124 Die pommersche Kammer zog daraufhin von Stettin nach Stargard, während zugleich die zuvor für Teile Hinterpommerns zuständige interimistische Kammer von Treptow an der Rega aufgelöst wurde. Die in Glogau und Küstrin gelegenen Kammern fanden ihren neuen Sitz in Liegnitz beziehungsweise in Königsberg in der Neumark. Später verließen wegen der Besetzung auch die Oberlandesgerichte und Ende 1808 auch die neumärkische Ritterschaftsdirektion ihre bisherigen Standorte.125
119 Siehe Art. 11 Pariser Vertrag. Clercq, Recueil, Bd. 2, S. 271 f., wo das französische Wort „police“ (ebd. S. 272) verwendet wurde. Siehe auch Duncker, Eine Milliarde, S. 533. 120 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 567 f. 121 Siehe hierzu Immediatbericht Dohna, Marienwerder, 28. 11. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 345, Bl. 141. Auch Friedensvollziehungskommission an Borgstede, Berlin, 18. 1. 1808, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 146, Nr. 163. 122 Siehe Massow an Dohna, Breslau, 18. 1. 1809, Ausf. Ebd., Rep. 77, Tit. 192, Bd. 1, Bl. 28 – 30. Berliner Intelligenz-Blatt, Nr. 74, 27. 3. 1810. Ebd., Rep. 72, Nr. 42, Bl. 217 – 217v. 123 Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 14. 11. 1808, Konzept, abgeg. 15.11. Ebd., Bl. 1 – 2. 124 Siehe Kabinettsorder an die Friedensvollziehungskommission, Königsberg, 28. 11. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 42, Bl. 5. Seegebarth an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 25. 12. 1808, Ausf. Ebd., Bl. 40. Kabinettsorder an Dohna und Altenstein, Königsberg, 13. 5. 1809, Abschrift. Ebd., Bl. 157. Auch Münchow-Pohl, Reform, S. 117 f. (Fn. 65). 125 Siehe Kabinettsorder an Dohna und Altenstein, Königsberg, 13. 5. 1809, Abschrift und Neumärkische Ritterschaftsdirektion an Sack, Küstrin, 4. 1. 1810, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 42, Bl. 157, 198 – 198v.
II. Die Auflösung der Währungs- und Zollhoheit – Liberalisierungsdruck
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II. Die Auflösung der Währungs- und Zollhoheit – Liberalisierungsdruck Zwei hoheitliche Gebiete, auf denen sich die Effektivität der französischen Okkupationsherrschaft mit aller Deutlichkeit offenbarte, waren das Münz- und das Zollwesen. Auch diese beiden ursprünglichsten königlichen Prärogativen reklamierte die Besatzungsverwaltung für sich – zum großen Nachteil für die preußische Wirtschaft. Frühzeitig brachte die Okkupationsmacht die königlichen Münzstätten unter ihre Kontrolle und ließ zwischen Dezember 1806 und November 1807 preußische Scheidemünzen im Wert von 2,8 Mio. Talern mit der Folge schlagen, dass die preußische Inflation weiter verschärft wurde.126 In den Jahren seit Kriegsausbruch wurde Preußen überdies geradezu von Falsch- und Scheidemünzen überschwemmt. Den Regeln des Greshamschen Gesetzes folgend, wonach das „schlechte“ das „gute“ Geld verdrängt, strömten aus den abgetretenen Gebieten unablässig geringwertige Münzen in preußisches Gebiet; ein Effekt, der durch Münzspekulationen weiter angeheizt wurde.127 Die rasante Geldentwertung traf nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern es musste „daraus für den Staat (…) ein Allgemeiner und Anhaltender (!) Schaden entstehen“128, schließlich litten unter dieser Entwicklung mittelfristig die Steuereinnahmen. Notwendige Maßnahmen, die von der preußischen Regierung zur Währungsstabilisierung ergriffen werden konnten, wurden von der Besatzungsmacht verhindert.129 Der Wertverlust der preußischen Scheidemünzen setzte sich somit ungebremst fort und erreichte zwischenzeitlich 40 bis 50 % des Nominalwerts.130 Daru verschärfte Anfang 1808 die Lage, als er die Annahme von Scheidemünzen bei den öffentlichen Kassen gänzlich verbot.131 Hinzukam die gleichzeitige Verknappung des Kurantgeldes, das zur Bezahlung der Kontributionen verwendet wurde.132
126 Siehe hierzu Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 6. 12. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 30, S. 75. Immediatbericht Stein, Königsberg, 12. 2. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 589, S. 649 f. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 351. 127 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 21. 2. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 55, S. 146. Wiedemann, Breslau, S. 199 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 244 f. Haußherr, Erfüllung, S. 161. 128 Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 18. 1. 1808, Konzept, abgeg. 18.1. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 78, Bl. 5. 129 Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 163. 130 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 353, 356 (Fn. **). Lesage, Napoléon, S. 161. 131 Siehe General-Zoll-und-Akzise-Departement an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 25. 2. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 78, Bl. 43 – 43v. Kurmärkische Kammer an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 26. 2. 1808, Ausf. Ebd., Bl. 52 – 52v. 132 Siehe hierzu „Bericht über die bei der Immediat-Friedensvollziehungskommission veranlaßten Verhandlungen“ des Comité administratif, Berlin, 29. 11. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 56, S. 214. Auch Haußherr, Erfüllung, S. 160.
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Um den Bestand an Scheidemünzen, die sich bereits in ihren Kassen befanden,133 zu verringern, beteiligte sich die Besatzungsmacht selbst an Münzspekulationen und leistete hin und wieder Zahlungen in dieser Geldsorte an öffentliche Einrichtungen und an die bei der Besatzungsverwaltung angestellten preußischen Beamten.134 Dass man auch den Sold der französische Soldaten in Scheidemünzen bezahlte, wurde jedoch bald zum Problem, denn wegen des stetig sinkenden Kurses stellte sich Anfang 1808 in der Armee zunehmende Unzufriedenheit ein.135 Da die Inflation sich nun zunehmend zu Ungunsten der Besatzungsmacht auswirkte – auch unter der Berliner Bevölkerung kam es zu Unruhen136 – gab Daru dem Drängen Steins nach und willigte in die Abwertung der Münzen. Im Auftrag des Generalintendanten gestatte daraufhin Bignon Ende April, dass Abgaben an die öffentlichen Kassen wieder zu 50 % in Scheidemünzen, deren Wert auf 2/3 des Nominalwerts herabgesetzt wurde, beglichen werden durften.137 Diese Maßnahme führte allerdings kaum zu einer Verbesserung der Lage,138 und war überdies teuer erkauft: Als Gegenleistung für den Verlust, der sich durch die Wertminderung für die französischen Kassen ergab, musste Preußen eine Entschädigung von 1 Mio. Francs zahlen.139 Der Verfügung Bignons ließ die Königsberger Regierung am 4. Mai ein Publikandum folgen, das die preußischen Drei-, Zwei- und Ein-Groschenstücke, die aus dem Herzogtum Warschau zurück nach Preußen importiert wurden, auf ihren Silberwert herabsetzte.140 Ab dem 6. Mai war es schließlich wieder möglich, die Hälfte der Abgaben mit den im Wert reduzierten Scheidemünzen zu bezahlen. Um auch den Münzspekulationen Einhalt zu gebieten, wurde wenig später der Handel mit Scheidemünzen mit strengen Strafen belegt.141 133 Scheidemünzen im Wert von 7,4 Mio. Francs befanden sich in französischem Besitz. Siehe Lesage, Napoléon, S. 161. 134 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 28. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 57, S. 153. 135 Siehe Victor an Berhier, Berlin, 2. 3. 1808. Ebd., Nr. 58, S. 155 f. 136 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 24. 4. 1808. Ebd., Nr. 80, S. 212. 137 Siehe Immediatbericht Gerlach, Berlin, 30. 4. 1808. Ebd., Nr. 83, S. 231. Victor an Berthier, Berlin, 30. 4. 1808. Ebd., Nr. 84, S. 232. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 354. Die Kaufmannschaft von Berlin hatte bereits im Februar auf die Herabsetzung der Münzen gedrängt. Siehe Kaufmannschaft zu Berlin an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 26. 2. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 78, Bl. 37 – 40. 138 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 7. 5. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 87, S. 237 f. 139 Siehe Immediatbericht Stein, Berlin, 26. 4. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 159, S. 523 f. 140 Siehe „Publikandum, die Herabsetzung der preußischen Drei-(Düttchen) Zwei- und EinGroschenstücke auf ihren Silberwerth betreffend“, Königsberg, 4. 5. 1808. NCC, Bd. 12/2, Nr. 33, S. 342 f. 141 Zu sämtlichen Maßnahmen der königlichen Regierung zur Währungsstabilisierung siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 611 – 613.
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Neben dem Kurantgeld und den Scheidemünzen befand sich mit den Tresorscheinen seit Februar 1806 ein weiteres Zahlungsmittel in Preußen im Umlauf.142 Auch deren Wert sank kontinuierlich, seitdem zu Beginn des Kriegs die amtlichen Kassen, welche die Scheine gegen Bargeld eintauschten, geschlossen worden waren.143 Ende November 1807 betrug der Verlust bereits 60 %.144 Wie im Fall des Metallgelds waren auch die Tresorscheine Objekte eines intensiven Spekulationshandels, der den Wertverlust weiter beschleunigte und dessen Konjunkturen von der politischen Gesamtlage abhängig waren. Die Hoffnung vieler Spekulanten ging dahin, die zu tiefstehenden Kursen gekauften Scheine nach Ende der Okkupation wieder zum Nominalwert eintauschen zu können. Mancher Bankier verkalkulierte sich allerdings und ging bankrott.145 Aber nicht nur wegen solcher waghalsigen Geschäfte und der fehlenden Eintauschmöglichkeiten fiel der Kurs immer weiter, sondern auch weil die Scheine nur eingeschränkt verwendbar waren, seit Estève eine Verfügung, wonach die Tresorscheine bei den öffentlichen Kassen angenommen werden sollten,146 im Herbst 1807 zeitweilig widerrufen hatte.147 Weiterhin galten die Tresorscheine jedoch als gesetzliches Zahlungsmittel, so dass Schuldner diese zum stetig sinkenden Kurswert ankaufen und bei ihren Gläubigern zum Nominalwert in Anrechnung bringen konnten.148 Angesichts der negativen Folgen, die sich daraus für den preußischen Kreditmarkt ergaben, beschloss die Kombinierte Immediatkommission am 1. Juni 1807, die Pflicht der Zahlungsempfänger zur Annahme der Tresorscheine aufzuheben. Doch auch die Umsetzung dieses Beschlusses wurde im okkupierten Teil des Landes von Daru verhindert. Gleiches galt für eine weitere Verordnung, mit der am 29. Oktober die Tresorscheine wieder vollständig für den Zahlungsverkehr freigeben wurden. Danach sollte deren Wert aber nicht mehr am Nennwert bemessen werden, sondern an einem einmal monatlich von der königlichen Regierung bekanntgegebenen offiziellen Festkurs,
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Siehe hierzu Krug, Geschichte, S. 46 f. Tresorscheine im Wert von 4 Mio. Taler befanden sich zu Beginn des Kriegs im Umlauf. 143 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 607. 144 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 29. 11. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 27, S. 67. Haußherr, Erfüllung, S. 162. Zur Kursentwicklung siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 361 f. (Fn. *). 145 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 24. 4. 1808. Sack an Dohna, Berlin, 26. 9. 1809 (hier zum Problem der Zeitverkäufe). Sack an Dohna, Berlin, 21. 11. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 80, 264, 281, S. 212, 525, 556 f. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 361 (Fn. *) Krug, Geschichte, S. 56 f. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 103. 146 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 607 f., Bd. 2, S. 359. Krug, Geschichte, S. 51. Lesage, Napoléon, S. 116 f. 147 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 360 f. Krug, Geschichte, S. 54 f. Siehe auch Zirkular „betreffend die Annahme der Tresor-Scheine bey den öffentlichen Cassen“, Stettin, 24. 6. 1807 (Druck). GStA PK, II. HA, Generaldirektorium, Abt. 24 Generalakzise- und Zolldepartement, B VI, Tit. 4, Nr. 14 (6. Teil), Bl. 8. 148 Siehe Pertz, Stein, Bd. 2, S. 44.
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der sich an der Marktentwicklung orientierte.149 Stein versprach sich von diesem Schritt eine Stabilisierung der Tresorscheine und die Eindämmung der Spekulationen. Die Wirkung fiel jedoch keineswegs so positiv aus, wie von ihm erhofft. Aufgrund der je unterschiedlichen Rechtslage im freien und okkupierten Teil des Landes, herrschte eine chaotische Situation,150 welche die Spekulationsgeschäfte eher noch befeuerte.151 Außerdem würden die Besitzer von Tresorscheinen, so klagte die Friedensvollziehungskommission, die bislang die Hoffnung hegen konnten, diese irgendwann einmal zum Nominalwert geltend machen zu können, jetzt endgültig das Vertrauen in die Papierwährung verlieren.152 In Daru fanden die Kritiker der Verordnung einen ungewollten Unterstützer. Der Generalintendant forderte von der preußischen Regierung, ihre Entscheidung zurückzunehmen oder aber eine Entschädigung für den Wertverlust, den die Tresorscheine, die sich noch in französischen Kassen befanden, notwendigerweise erleiden mussten. Aber selbst nachdem Steins Versuch, der neuen Bestimmung auch in den besetzten Provinzen Geltung zu verschaffen, gescheitert war,153 hielt er unbeirrt an seinem Kurs fest.154 Erst zwei Monate nach Abzug der französischen Armee, Mitte Februar 1809, wurde eine in der gesamten preußischen Monarchie einheitliche Regelung getroffen; danach hatten sämtliche öffentliche Kassen bei Abgaben, die in Kurant zu zahlen waren und die über 20 Talern lagen, 25 % des Betrags in Tresorscheinen zum Nennwert anzunehmen. Außerdem wurde die Verwendung der Scheine beim Kauf von Domänen und Forsten in Aussicht gestellt.155 Der Kurs der Tresorscheine ließ sich aber auch auf diesem Weg kaum stabilisieren. Erst in den letzten Tagen des Jahres 1809 wurde mit der Einführung der Talerscheine als Ersatz für die Tresorscheine, die öffentlichkeitswirksam verbrannt wurden, ein Versuch zur grundlegenden Sanierung der Papierwährung unternommen.156 149 Siehe „Verordnung über die Annahme der Tresorscheine in Zahlungen, bis zur Wiedereröffnung ihrer Realisation“, Memel, 29. 10. 1807. NCC, Bd. 12/2, Nr. 19, S. 257 – 260. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 608 f. Krug, Geschichte, S. 52 f. 150 Daru verweigerte das Inkrafttreten des Publikandums im okkupierten Teil der Monarchie. Siehe Daru an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 17. 11. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 363, Bl. 5 – 8. Hier auch der weitere Schriftwechsel. 151 Siehe Borgstede an Stein, Stargard, 10. 12. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 154, S. 378. 152 Siehe Friedensvollziehungskommission an Stein, Berlin, 14. 11. 1807. Ebd., Nr. 147, S. 366 – 371. Auch Friedensvollziehungskommission an Stein, Berlin, 12. 1. 1808. Ebd., Nr. 156, S. 380 – 383. Auch Beguelin kritisierte den Schritt Steins. Siehe Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 130. 153 Siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 244 f. 154 Siehe Friedensvollziehungskommission an Stein, Berlin, 19. 11. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 149, S. 372. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 12. 2. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 90, S. 305 f. Lesage, Napoléon, S. 117 – 120. 155 Siehe „Verordnung wegen Wiederherstellung der Tresorscheine“, Königsberg, 11. 2. 1809. NCC, Bd. 12/2, Nr. 66, S. 767. Krug, Geschichte, S. 57. 156 Siehe Bassewitz, Kurmark 1809 und 1810, S. 450 – 454. Haußherr, Hardenberg, S. 95 f. Münchow-Pohl, Reform, S. 176.
II. Die Auflösung der Währungs- und Zollhoheit – Liberalisierungsdruck
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Die Aufhebung der preußischen Souveränität wirkte sich auch auf das Zollwesen aus. Bis zum Kriegsausbruch war Preußen ein relativ strikt an den Ideen des Merkantilismus ausgerichtetes Staatswesen gewesen: Ein strenges, kleinteiliges Prohibitivsystem aus Zöllen und Einfuhrverboten schützte die heimische Industrie vor ausländischer (und mitunter auch inländischer) Konkurrenz.157 Dieses dirigistische System, welches das ökonomische Seitenstück zum Anspruch einer absoluten Fürstenherrschaft darstellte,158 wurde mit Beginn der Besetzung von der französischen Armee aufgelöst. Die Besatzungsmacht gliederte die okkupierten Provinzen in die hegemoniale Wirtschaftsordnung Frankreichs ein und öffnete zwangsweise den preußischen Markt für französische Erzeugnisse aller Art. Estève leitete diese Entwicklung Anfang 1807 mit einer Mitteilung an das Generalakzise- und Zolldepartement ein, worin es hieß, in Zukunft seien französische Produkte von Importverboten, die für ausländische Waren galten, ausgenommen. Legitimiert wurde auch dieser Schritt mit dem Eroberungsrecht. Die schlimmsten Folgen, die sich aus der Neuregelung für die preußische Wirtschaft ergaben, versuchte das Departement durch den Erlass möglichst hoher Schutzzölle abzuschwächen; Estève reduzierte jedoch umgehend die vorgeschlagenen Zollsätze für die französischen Produkte um 50 %.159 In Folge des Tilsiter Friedens und der Elbinger Konventionen wurde das preußische Wirtschaftsgefüge weiter unterminiert. So wurden mit Hilfe einer großzügigen und bisweilen bewusst falschen Auslegung des Friedensvertrags die preußischen Wasserstraßen für die sächsisch-polnische Schifffahrt geöffnet, woraus eine ernste Bedrohung für die preußische Binnenreederei entstand.160 Die Einrichtung der schlesischen Handelsstraßen im Oktober 1807, auf denen sächsische und Warschauer Produkte ungehindert transportiert werden durften, schwächte schließlich auch den preußischen Transithandel auf dem Landweg und sorgte für eine Zunahme des Schmuggels. Im Januar 1808 richtete sich die Kaufmannschaft von Berlin mit mehreren Eingaben an Stein, die wegen ihres Inhalts durchaus bemerkenswert sind.161 Grundsätzlich verlangten die Kaufleute Schritte, um die Benachteiligung gegenüber 157 Siehe hierzu statt vieler Mamroth, Geschichte, S. 7 – 11. Zum Wirrwarr verschiedener Zoll- und Akzisetarife siehe Schmoller, Umrisse, S. 195. 158 Siehe hierzu Ilja Mieck, Preussische Gewerbepolitik in Berlin 1806 – 1844 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 20), Berlin 1965, S. 1 f. 159 Siehe Mamroth, Geschichte, S. 299 – 305. Saring, Wirkung, S. 25 – 35. 160 Siehe Stein an Goltz, Memel, 14. 10. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 406, S. 465. „Eingabe der Deputierten der Kaufmannschaft zu Berlin“ an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 31. 1. 1808, Ausf. GStA PK, Rep. 72 Friedensvollziehungskommission, Nr. 27. Denkschrift der Deputierten der Kaufmannschaft zu Berlin für die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 14. 4. 1808, Ausf. Ebd. 161 „Denkschrift der Ältesten beider Gilden der Kaufmannschaft zu Berlin für den Minister Freiherr vom Stein“, Berlin, 25. 1. 1808. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 104, S. 293 – 298. „Eingabe der Deputierten der Kaufmannschaft zu Berlin“ an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 31.1. und 22. 2. 1808, Ausf. GStA PK, Rep. 72, Nr. 27.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
ausländischer Konkurrenz zu beseitigen. Den einzigen Ausweg sah man in einer Abkehr von der bestehenden strikten Zoll- und Importverbotspolitik; nur so könnten Fabriken und Kaufleute angesichts sowohl des Einströmens von „contrabanden Waaren und Fraudierung“, als auch der Nachteile im Transithandel überhaupt noch konkurrenzfähig bleiben. Allerdings sollten diese Maßnahmen bei genauer Betrachtung nicht nur dazu dienen, die unmittelbaren Probleme, die sich aus dem Tilsiter Frieden und den Folgeabkommen ergaben, abzustellen; ihnen lag vielmehr ein umfangreicheres Programm zur Liberalisierung des preußischen Wirtschaftslebens zu Grunde. So griff man auch das schon länger kritisierte Akzisesystem an, schließlich hindere es die heimische Industrie daran, sich im einmal geöffneten Markt zu behaupten: „[A]ber auch mehrere andere Fabriken werden dahin kommen können (mit dem Ausland zu konkurrieren; S.P.), wenn darauf bedacht genommen wird, deren Fabrikarbeiter eine wohlfeilere Subsistenz zu verstatten, und dieses wird geschehen, wenn die Acciseeinrichtung gestatten wird, daß Weber und dergleichen Arbeiter nicht mehr in Städten wohnen müssen. Noch vor 50 Jahren hat ein Stuhlarbeiter in Berlin, der jetzt 25 à 30 rthl Miethe geben muß, nur 5 rthl und für einen Haufen Holz den er jetzt (…) mit 18 rthl bezahlen muß, ebenfalls nur 5 rthl gegeben (!).“162
Auch wenn die Kaufmannschaft nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung in der Kurmark wiedergab,163 die wirtschaftliche Notlage und die Durchlöcherung des preußischen Prohibitivsystems begünstigten offensichtlich eine weitere Ausbreitung des marktwirtschaftlichen Denkens jenseits der Königsberger Universität, an welcher die Ideen Adam Smiths intensiv rezipiert wurden.164 Hier, im Osten der Monarchie, hob die königliche Regierung bereits seit Anfang 1807 schrittweise Zoll- und Handelsbeschränkungen auf. Dieser Schritt war schon angesichts des Mangels an Rohstoffen und Manufakturwaren, die nicht mehr wie bislang aus den westlichen Landesteilen eingeführt werden konnten, notwendig geworden. Am 9. Februar und am 8. März wurde so die Einfuhr von Zucker und Eisen, später auch von weiteren Produkten gestattet; wenig später folgte die Herabsenkung der Abgaben auf vormals hochverzollte Waren.165 162
Die Zitate in „Eingabe der Deputierten der Kaufmannschaft zu Berlin“ an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 31. 1. 1808, Ausf. Ebd. 163 Auf dem kurmärkischen Landtag Anfang 1809 lehnten die Vertreter der Städte die Freigabe des Handels mit Getreide, Wolle, Tabak und Holz ab, da sie um den Verlust dieser Rohstoffe für das städtische Gewerbe fürchteten. Siehe Vetter, Adel, S. 131. 164 Zum ostpreußischen „Liberalismus“ siehe Neugebauer, Wandel, S. 159 – 165. Zur Smith-Rezeption in Preußen siehe Wilhelm Treue, Adam Smith in Deutschland. Zum Problem des „Politischen Professors“ zwischen 1776 und 1810, in: Werner Conze (Hrsg.), Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Festschrift für Hans Rothfels, Düsseldorf 1951, S. 101 – 133, hier S. 110 – 119. Hans-Christof Kraus, Der „nervus rerum“ in Publizistik und Wissenschaft – Staatsfinanzen im kameralistischen und staatswissenschaftlichen Diskurs in Preußen um 1800, in: Neugebauer/Kloosterhuis, Finanzen, S. 25 – 58, hier S. 42 – 49. 165 Siehe Mamroth, Geschichte, S. 305 – 310. Saring, Wirkung, S. 35 f.
II. Die Auflösung der Währungs- und Zollhoheit – Liberalisierungsdruck
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Der Liberalisierungsdruck, dem Preußen in Folge des Tilsiter Friedens ausgesetzt war, förderte die Durchsetzung wirtschaftlicher Reformen. Im Juli 1807 gab der König seinen Entschluss bekannt, die in dem nicht okkupierten Teil des Landes erlassenen Handelserleichterungen nach dem Abzug der französischen Armee auch dem Rest der Monarchie zu gewähren. Stein, der ein Skeptiker des Smithianismus war, verschleppte jedoch ganz bewusst die Umsetzung dieses Beschlusses.166 Angesichts dieser Skepsis und der des Folgeministeriums war weder an die von den Berliner Kaufleuten geforderte Beschränkung der Akzise, noch an eine Aufhebung sämtlicher Binnenzölle zu denken, die 1805 immerhin in einigen Provinzen abgeschafft worden waren.167 Preußen blieb somit auch über das Jahr 1808 hinaus ein in handelspolitischer Hinsicht zweigeteiltes Land. Während diese grundsätzlichen Fragen preußischer Innenpolitik ungeklärt blieben, versuchte das Generalakzise- und Zolldepartement, trotz der Okkupation aus dem preußischen Rumpfstaat einen zumindest wieder einigermaßen geschlossenen Wirtschaftsraum zu formen. Kurz nach Unterzeichnung des Friedensvertrags befahl das Departement den Provinzialbehörden, die abgetretenen Provinzen links der Elbe mit Einschluss des Cottbusser Kreises in Zoll- und Akzisehinsicht als Ausland zu behandeln,168 worüber sich die Kaufleute aus dem Königreich Westfalen, zum Teil aber auch preußische Fabrikanten, unverzüglich bei der französischen Besatzungsverwaltung beklagten. Daru ordnete daraufhin Anfang September 1807 an, dass die ehemals preußischen Territorien weiterhin wie vor dem Frieden zu behandeln seien.169 Die Folge davon war, wie das Generalakzise- und Zolldepartement an die Friedensvollziehungskommission schrieb, dass „auch die diesseitigen Provinzen nun von Magdeburg aus, mit Waaren aller Art dergestalt (…) überschwemmt werden, daß die Landesherrlichen Cassen auf sehr lange Zeit nicht wenig oder gar keine Ein-
166 Siehe hierzu Mamroth, Geschichte, S. 310, 314 – 322. Pick, Noth, S. 115. Saring, Wirkung, S. 42 f. Mieck, Gewerbepolitik, S. 8 f. Vogel, Gewerbefreiheit, S. 36, 171 f. 167 Siehe hierzu und zum preußischen Zollsystem vor 1806 Dieterici, Volkswohlstand, S. 7 f. Max Lehmann, Der Ursprung der preußischen Einkommensteuer, in: Preußische Jahrbücher 103 (1901), S. 1 – 37, hier S. 2 f., 15. Stein war schon 1806 ein Kritiker der Binnenzölle, konnte eine Aufhebung aber wegen seiner Entlassung nicht mehr durchsetzen. Siehe ebd., S. 10 f. 168 Siehe hierzu Beyer an Borgstede, Königsberg, 17. 9. 1807, Ausf. (mit dem beigefügten Zirkular vom 11. 8. 1807, in dem die Behandlung der abgetretenen Gebiete als Ausland angeordnet wurde). GStA PK, I. HA, Rep. 146, Nr. 163. Hier auch weitere, in diesem Zusammenhang relevante Aktenstücke. Die Waren aus Danzig und dem Herzogtum Warschau sollten nur hinsichtlich der Akzise als ausländische Erzeugnisse behandelt werden; von der Landzollerhebung blieben sie ausgenommen. 169 Siehe „Zirkular an die Direktionen und Deputationen von Berlin, Brandenburg und Küstrin“, Berlin, 4. 9. 1807, Abschrift und Beyer an Goltz, Königsberg, 14. 10. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 189 – 189v. Daru an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 15. 9. 1807, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 27. Mamroth, Geschichte, S. 311. Saring, Wirkung, S. 38 – 42.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
nahmen rechnen können (!)“170. Die Versuche des Departements und Sacks, Daru zu einem Einlenken und der Revision seiner Entscheidung zu bewegen, verliefen ohne Erfolg.171 Selbst nach der Räumung der Provinzen wagte man es nicht, sofort zu einer neuen Zollpolitik überzugehen.172 Genauso erfolglos waren das Generalakzise- und Zolldepartment und die Friedensvollziehungskommission mit dem Bemühen, wenigstens an der Grenze der besetzten Gebiete zum Herzogtum Warschau die Zolltarife von 1793 einzuführen,173 so dass Preußen nicht nur vom Westen, sondern auch vom Süden dem ausländischen Handel offenstand. Die Situation führte nicht nur zum Verlust von Akzise- und Zolleinnahmen – die ohnehin während der Okkupation in die französischen Kassen flossen; bedrohlich war die Situation vor allem auch für die preußische Wirtschaft, die nun schlagartig der fremden Konkurrenz ausgesetzt war, während ihr im Gegenzug infolge einer rigiden Schutzzoll- und Importpolitik der Nachbarstaaten fremde Märkte verschlossen blieben.174 Schließlich wurden durch die zwangsweise Eingliederung Preußens in die Kontinentalsperre die handelspolitischen Folgen des Tilsiter Friedens noch einmal deutlich verschärft. Der Rückgang des Exports von Wolle, Getreide und Holz belastete besonders die Land- und Forstwirtschaft; der schlesischen Leinen- und Tuchindustrie fehlten wiederum wegen des Seekriegs wichtige Absatzmärkte in den spanischen Kolonien. Obwohl das Fehlen der englischen Konkurrenz zu einer kleinen Blüte einzelner Sektoren des preußischen Manufaktur- und Fabrikwesens führte, überwogen insgesamt doch die Nachteile der Blockade und des französischen Wirtschaftsprotektionismus. Die Einnahmen, die ab 170 Generalakzise- und Zolldepartement an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 4. 9. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 27. 171 Siehe hierzu das Reskript an die Friedensvollziehungskommission (Memel, 18. 11. 1807, Ausf.), das die Aufforderung enthielt, die Verhandlungen über diesen Gegenstand mit Daru fortzusetzen. Ebd. Den abschriftlichen Briefwechsel zwischen Daru und der Friedensvollziehungskommission in ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 191 – 193. 172 Das Generalakzise- und Zolldepartement empfahl der Friedensvollziehungskommission, sobald wie möglich zu einer provisorischen Zollerhebung überzugehen. Die Friedensvollziehungskommission wollte hiervon jedoch vorerst absehen. Siehe Generalakzise- und Zolldepartement an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 24. 11. 1808, Ausf. und die Antwort, Berlin, 28. 11. 1808, Konzept, abgeg. 29.11. Ebd., I. HA, Rep. 72 Friedensvollziehungskommission, Nr. 27. 173 Siehe hierzu ebd., Rep. 146, Nr. 163. Generalakzise- und Zolldepartement an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 16.9. und 25. 11. 1807, Ausf. Reskript an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 29. 12. 1807, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 27. An der Grenze zum nicht okkupierten Teil des Landes galten bereits wieder die älteren Tarife. Siehe Generalakzise- und Zolldepartement an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 14. 11. 1808, Ausf. Ebd. 174 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 664. Siehe zu den Zollbestimmungen Westphalens die Verordnung der westfälischen Akzise- und Zolladministration, Stendhal, 6. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 27. Auch „Décret royal“, (Westphalen), 30. 4. 1808. Ebd. Beyer an Stein, Königsberg, 19. 6. 1808, Ausf. Ebd., Rep. 89, Nr. 15738, Bl. 94. Die negative Handelsbilanz heizte überdies die Inflation noch weiter an. Siehe Denkschrift Labaye, Berlin, 25. 9. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 46, S. 185 f.
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1810 der staatlich sanktionierte Schmuggel abwarf, halfen zumindest die unmittelbarsten fiskalischen Einbußen auszugleichen.175
III. Die Stände als Ordnungsfaktor: Requisitionspraxis und Kontributionsaufbringung Die französische Ressourcenextraktion in Preußen beschränkte sich nicht allein auf die Beanspruchung der sogenannten contributions ordinaires, also der regulären Staatseinnahmen. Gleich nach ihrem Einmarsch begann die französische Armee, auch das gesamte staatliche und das heißt – weil eine klare Trennung seinerzeit noch nicht bestand – das königliche Eigentum zu beschlagnahmen und zu verkaufen. Im Laufe der Okkupation wurden auf diese Weise verschiedenste Kassen geplündert,176 sowie erbeutete Bestände an Eisen, Kupfer und anderen Erzeugnissen aus dem Bergbau und Hüttenwesen konfisziert und meistens noch vor Ort versteigert. Selbst das Porzellan der königlichen Manufaktur, das Salz aus den staatlichen Salinen oder das Holz der königlichen Forste wurden zu Geld gemacht.177 Daneben ordnete der Direktor des Musée Napoléon Dominique-Vivant Denon die Beschlagnahmung einer ganzen Reihe von Kunstgegenständen an, deren kulturelle und ideelle Bedeutung den rein materiellen Wert weit überstieg.178 Zwar nahm die französische Besatzungsmacht in aller Regel das Privateigentum von diesen elaborierteren Formen der Plünderung aus, doch konnten die Maßnahmen durchaus die Bevölkerung direkt treffen; etwa dann, wenn das in eine königliche Manufaktur investierte Kapital verloren ging oder aber Beschäftigte in der Metallverarbeitung wegen fehlender Rohstoffe ihre Arbeit verloren. Für die politische Geschichte des preußischen Staats waren letztendlich aber andere Verfahren zur Mobilisierung der materiellen Ressourcen des okkupierten Landes bedeutsam. Allen voran die Erhebung von Requisitionen, die der Versorgung 175
Siehe hierzu Pertz, Stein, Bd. 2, S. 91. Robert Hoeniger, Die Kontinentalsperre und ihre Einwirkungen auf Deutschland, in: Volkswirtschaftliche Zeitfragen 27/3 (1905), S. 1 – 32, hier S. 26 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 252 f. Saring, Wirkung, S. 87 f. Ders., Rolle, S. 92 f. und passim. Treue, Technikgeschichte, S. 241 – 244, 250 f. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 83. Michael North, Die Auswirkungen der Kontinentalsperre auf das nördliche Deutschland und den Ostseeraum, in: Klinger et al. (Hrsg.), Das Jahr 1806, S. 135 – 148, hier S. 139 – 142. Auch Postscriptum zum Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 21. 11. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 385, Bl. 32. 176 Siehe am Beispiel der kurmärkischen Kassen Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 330 – 337. 177 Siehe exemplarisch GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 48. Kgl. Preußische Porzellanmanufakturdirektion an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 20. 8. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 485. „Ankündigung des Verkaufs vieler Tonnen Salz“, Küstrin, 28. 8. 1807 (Druck). Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 358, Bl. 78. Siehe auch die Übersichten für Ostpreußen in ebd., Nr. 348. Sowie Töppen, Nachweisung, S. 51. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 338 – 344. Granier, Kriegstagebücher, S. 45 f. Wiedemann, Breslau, S. 132, 154, 159, 164. 178 Statt vieler siehe Mieck, Reformzeit, S. 427. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 153 – 161.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
der Armee dienten, und der contribution extraordinaire, der vielfach erwähnten Kriegskontributionen, die während des Feldzugs den besetzten Provinzen auferlegt worden waren. Mit beiden Forderungen richtete sich die Besatzungsmacht direkt an die Stände und nicht etwa an die örtlichen preußischen Verwaltungsbehörden.179 Dies geschah aus gutem Grund, denn das finanzielle Potenzial der Stände übertraf das des Staats bei weitem. Motiviert wurde das Handeln der Besatzer demnach auch an dieser Stelle vom Ziel einer maximalen wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Gebiete, wohingegen politische Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle spielten. So ist das Versprechen, eine Nationalrepräsentation einführen zu wollen,180 das Napoleon den kurmärkischen Ständen gegeben haben soll, als Versuch anzusehen, eine frankreichfreundliche Stimmung zu erzeugen; nichts deutet darauf hin, dass dahinter die ernsthafte Absicht stand, die Stände dauerhaft verfassungspolitisch aufzuwerten. Frankreich verfuhr damit nach einer seit der Frühen Neuzeit angewandten Methode. Schon im 17. und 18. Jahrhundert wandten sich Okkupationsmächte mit ihren materiellen Forderungen bevorzugt an die Stände des Landes. Dies konnte, wie das Beispiel des Siebenjährigen Kriegs zeigt, zu einer regelrechten „Revitalisierung der Stände“ führen, die nun auf dem Gebiet der Finanzen zentrale administrative Aufgaben wahrnehmen mussten. In Einzelfällen konnte daraus die Position der Stände über den Krieg hinaus gestärkt werden.181 Die Wirkung der Okkupationszeit in Preußen nach 1806 konnte jedoch über solche relativen Positionsgewinne hinausgehen. Die Wucht der Niederlage und die dramatischen Folgen des Friedens erschütterten schließlich fundamental den bis dahin bestehenden Herrschaftskompromiss zwischen den Ständen und der Krone. Dies war der Kulminationspunkt einer Entwicklung, die sich schon seit einigen Jahrzehnten abgezeichnet hatte. Für das Ende des 18. Jahrhunderts ist für nahezu ganz Europa eine sogenannte „ständische Renaissance“ zu beobachten, von der auch Preußen nicht ausgenommen war, das in der älteren Forschung noch als ein Musterstaat des Absolutismus galt.182 Die neugewonnene Bedeutung der Stände offen179
Für die Kurmark siehe Klaus Vetter, Kurmärkischer Adel und preussische Reform (Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, 15), Weimar 1979, S. 36. 180 Siehe Brinkmann, Quelle, S. 50. 181 Siehe hierzu Neugebauer, Preußen und Rußland, S. 50 f. und passim, hier das Zitat S. 50. Ders., Wozu preußische Geschichte, S. 26 f. Carl, Okkupation, v. a. S. 265 – 275, 377 – 385. Ders., Besatzungsherrschaft, S. 56. 182 Für die ältere Historiographie siehe u. a. Günter Birtsch, Der preußische Hochabsolutismus und die Stände, in: Peter Baumgart (Hrsg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preussen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 55), Berlin/New York 1983, S. 389 – 408, hier S. 389 – 392. Zur Entwicklung des preußischen Ständewesens gegen Ende des 18. Jahrhunderts siehe Neugebauer, Wandel, S. 65 – 88, hier das Zitat S. 87. Zur allgemeinen Entwicklung siehe ders., Staatsbildung, passim. Ders., Staatskrise, S. 243 (Fn. 8). Birtsch, Hochabsolutismus, S. 403 f. und passim. Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848 (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus, 10), Düsseldorf 1984, S. 26 f. Exemplarisch für Bayern siehe Hans-Peter Ullmann, Staatsschulden und Reformpolitik. Die Entstehung
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baren besonders eindringlich die ostpreußischen Huldigungslandtage von 1786 und 1798, auf denen die Stände eine permanente Vertretung und einen Ausbau ihrer Selbstverwaltung erbaten. Zwar drangen sie mit ihren Anliegen nicht vollständig durch,183 allein das Auftreten der Stände war jedoch Zeichen eines offensichtlich während des sogenannten „Hochabsolutismus“ nie ganz verschüttgegangenen Eigen- und Selbstbewusstseins beziehungsweise einer „Persistenz ständischen Partizipationswillens“184. Die Stände hatten sich während des 17. und 18. Jahrhunderts gewisse Herrschaftsrechte bewahren können. Sie waren zwar insgesamt die Verlierer der allgemeinen Herrschaftsverdichtung im Zuge des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses, doch blieben sie nichtsdestotrotz wichtige Partner der Krone.185 Obwohl sich ihre Stellung in den Provinzen des preußischen Königreichs je unterschiedlich darstellte, existierten doch überall ständische Organe und Institutionen, die es den Ständen erlaubten, als politisch mehr oder weniger relevante Akteure fortzubestehen. Die Kreisverfassung, die bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts in allen mittleren und östlichen Provinzen mit nur geringen Abweichungen nach kurmärkischem Beispiel eingeführt worden war,186 überließ den Rittergutsbesitzern eine nicht unerhebliche administrative Funktion auf lokaler Ebene. Regelmäßig einberufene Kreistage boten der Ritterschaft die Möglichkeit sich zu versammeln, über Angelegenheiten des Kreises zu beraten und gemeinsame Beschlüsse zu fassen. Der an der Spitze jedes Kreises stehende Landrat war zwar ein Beamter des Königs, doch konnte er sich mindestens ebenso als ein Anwalt seiner Mitstände fühlen, die ihn für das Amt vorschlugen. Diese Mischung aus ständischer und landesherrlicher Administration entwickelte sich geradezu zu einem Charakteristikum preußischer Verwaltung. Neben den Kreistagen und dem Landratsamt waren die ritterschaftlichen Pfandbriefinstitute – auch landschaftliche Kreditinstitute oder einfach „Landschaften“ genannt – eine wichtige ständische Einrichtung. Diese Kreditwerke, in moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 82), 2 Bde., Göttingen 1986, hier Bd. 1, u. a. S. 81 f. 183 Siehe Neugebauer, Wandel, S. 89 – 101. 184 Ebd., S. 73. 185 Zur Bedeutung der Stände für die Staatsbildung siehe Peter Baumgart, Zur Geschichte der kurmärkischen Stände im 17. und 18. Jahrhundert, in: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 27), Göttingen 1969, S. 131 – 161, wo es heißt, „daß die Stände dennoch ein wichtiges Fundament auch für den absoluten Staat bildeten“ (S. 160). Rudolf Vierhaus, Staaten und Stände. Vom Westfälischen bis zum Hubertusburger Frieden 1648 bis 1763, Frankfurt a. M./Berlin 1990, S. 109 – 117. Neugebauer, Das alte Preußen, S. 471. Hochedlinger, Behördengeschichte, S. 32. Für das späte Mittelalter siehe Werner Näf, Frühformen des „Modernen Staates“ im Spätmittelalter, in: HZ 171 (1951), S. 225 – 243, hier v. a. S. 227 – 230, 235. 186 Siehe Conrad Bornhak, Geschichte des Preußischen Verfassungsrechts, 3 Bde., Berlin 1884 – 1886, hier Bd. 3, S. 24 – 34, 156 – 168, 289 – 292. Birtsch, Hochabsolutismus, S. 402. Speziell für Ost- und Westpreußen siehe Neugebauer, Wandel, S. 98 f.
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denen sämtliche adlige und bürgerliche Rittergutsbesitzer zusammengefasst wurden, waren in den ersten Jahrzehnten nach dem Siebenjährigen Krieg in den mittleren und östlichen Provinzen der Monarchie entstanden. Die Landschaft ermöglichte es ihren Mitgliedern, die eigenen Güter mit bis zu 50 % des eingetragenen Wertes mit Pfandbriefen zu beleihen, für die die Gesamtheit der Ritterschaft bürgte und eine 5-prozentige Verzinsung garantierte. Aufgrund dieser Sicherheit avancierten die Pfandbriefe zu einem beliebten Wertpapier mit zahlungsmittelähnlichem Charakter. Den Gutsbesitzern stand damit ein erhebliches Kreditpotenzial zur Verfügung, das ihnen eine ökonomische Vorrangstellung gewährleistete.187 Verwaltet wurden diese Kreditwerke weitestgehend in Eigenregie der Ritterschaft. An der Spitze stand eine Hauptritterschaftsdirektion, die sich aus Vertretern der Gutsbesitzer zusammensetzte, und unter der Aufsicht eines Direktors stand, der von den Mitgliedern der Landschaft vorgeschlagen und vom König bestätigt wurde. Aufgrund dieser Organisation waren die Landschaften auch Plattformen ständischer Interessenpolitik, etwa dann, wenn von ihnen die allgemeinen Anliegen der Gesamtprovinz beraten wurden.188 Das Landratsamt, die Kreistage und die Landschaften existierten als Fundamente landständischer Selbstverwaltung in allen Landesteilen, die nach dem Tilsiter Frieden bei Preußen verblieben waren. Darüber hinaus nahmen die Stände einzelner Provinzen aber noch weitere, je unterschiedliche administrative Funktionen wie die Kassenverwaltung wahr. In der Kurmark wurden beispielsweise die Biergeld- und Schosskasse von den Ständen verwaltet und zusammen mit der zunehmend staatlich kontrollierten Städtekasse in einem eigenständigen Kreditwerk zusammengefasst, das „Landschaft“ genannt wurde, aber nicht mit der eben erwähnten namensgleichen Pfandbriefbank zu verwechseln ist. Die Einnahmen dieser kurmärkischen Ständekassen speisten sich aus Steuern, deren Erhebung den Ständen im 16. Jahrhundert zur Tilgung und Verzinsung der von ihnen übernommenen landesherrlichen Schulden eingeräumt wurde. Als oberste Kontrollinstanz der gesamten Kassenverwaltung tagte jährlich ein „Großer Ausschuss“, der aus Deputierten der Städte und des platten Landes bestand und sich zu einem zumindest landtagsähnlichem Gremium entwickelte.189 Wenn den Ständen auch nicht in allen Provinzen ein derart umfangreiches Betätigungsfeld wie in der Kurmark überlassen war, waren sie doch nirgendwo 187
Siehe hierzu Ziekursch, Agrargeschichte, S. 8 – 12. Siehe hierzu Neugebauer, Wandel, S. 102 – 108. Ders., Landstände im Heiligen Römischen Reich an der Schwelle der Moderne. Zum Problem von Kontinuität und Diskontinuität um 1800, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hrsg.), Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780 – 1815 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 46), Mainz 1998, S. 51 – 86, hier S. 76. 189 Zum ständischen Leben in der Kurmark siehe Schönbeck, Landtag, S. 12 – 21. Baumgart, Geschichte, S. 146 – 159. Vetter, Adel, S. 23 – 30. Manfred Botzenhart, Verfassungsproblematik und Ständepolitik in der preußischen Reformzeit, in: Baumgart (Hrsg.), Ständetum, S. 431 – 455, hier S. 433 – 434. Karsten Holste, In der Arena der preußischen Verfassungsdebatte. Adlige Gutsbesitzer der Mark und Provinz Brandenburg 1806 – 1847 (Elitenwandel in der Moderne, 14), Berlin 2013, S. 36 – 51. 188
III. Die Stände als Ordnungsfaktor
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gänzlich in die Bedeutungslosigkeit herabgesunken;190 überall bestanden Institutionen und Netzwerke, die es den Ständen bei einer Erschütterung der politischen Ordnung erlaubten, rasch als Ordnungsfaktor und Herrschaftsträger im Land aufzutreten. Eine solche Erschütterung war nach 1806 zweifellos eingetreten. Der Krieg und die Okkupation hatten die souveräne Staatsgewalt aus weiten Teilen der Monarchie verdrängt – „[f]ast 3 Jahre hatte alle wohlthätige Wirksamkeit der Staatsregierung geruht“191. In dieser Situation füllten die Stände ein Machtvakuum, das durch die Abwesenheit der staatlichen Herrschaft hinterlassen wurde. Schlagartig übernahmen die Stände belangvolle administrative Funktionen, die sich aus der Finanzierung und Organisation der Versorgungsgüter für die französischen Truppen ergaben. Um eine Vorstellung vom organisatorischen Umfang dieser Aufgabe zu bekommen, seien an dieser Stelle einige Zahlen genannt. Allein die aus 12 800 Mann bestehende 3. Division des französischen 4. Korps verlangte für den Monat Oktober 1808 an Versorgungsgütern: 1547 Scheffel Weizen, 3483 Scheffel Roggen, 332,5 Zentner Gemüse, 25,7 Tonnen Salz, 18 000 Liter Branntwein, 18 000 Liter Bier, 7000 Liter Weinessig, 2374,5 Zentner an Vieh, sowie einige Tonnen Holz und Fourage.192 Außerdem mussten die Tafelgelder für die Offiziere,193 Kleidungs- und Montierungsstücke und viele andere Gegenstände des alltäglichen und weniger alltäglichen Bedarfs der Truppe beschafft werden.194 Zusammengerechnet sollen sich die Kosten für den Unterhalt der gesamten französischen Armee bis Ende 1808 auf 216,9 Mio. Taler belaufen haben.195 Die Bezahlung der Kriegskontributionen war in den meisten Provinzen neben der Bereitstellung der Requisitionen eine zentrale Obliegenheit der Stände. In den ersten Tagen der Invasion wurden der Kurmark 30 797 652, der Stadt Berlin 10 Mio., der Neumark 10 309 683, dem später zum Großteil abgetretenen Herzogtum Magdeburg 190 Zur Lage der Stände in den anderen Provinzen siehe Vetter, Adel, S. 19 – 22. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 434 – 436. Speziell für Ost- und Westpreußen siehe Neugebauer, Wandel, S. 99 – 113. Bär, Behördenverfassung, S. 93, 211, 284 f. 191 So äußerte sich Vincke nach Bodelschwingh, Leben, S. 430. 192 Siehe Ordonnateur Le Noble an die Kammerkommission zu Mewe, Stettin, 8. 8. 1808, Abschrift. Immediatbericht Dohna, Marienwerder, 12. 8. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 345, Bl. 1 – 1v, 17 – 18. 193 Im Falle der 3. Division des 4. Korps waren dies 11 500 Francs monatlich. Siehe Chopin an die Kammer zu Marienwerder, Stargard, 14. 7. 1808. Ebd., Bl. 9 – 9v. 194 Von Forderungen einzelner Offiziere, die über die von vorgesetzter Stelle befohlenen Sätze hinausgingen, berichtete Dohna an die Friedensvollziehungskommission, Stargard, 27. 10. 1807, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 99. Hinzukamen Forderungen für die mitgereisten Familien der Offiziere sowie die Kosten für Bälle und Konzerte. Siehe u. a. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 18. 1. 1808, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 385, Bl. 173. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, 25. 1. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 44, S. 114. Auch Bestechungsgelder wurden gezahlt. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 562. 195 Siehe Mamroth, Staatsbesteuerung, S. 35.
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einschließlich des Saalekreises 28 361 737 sowie dem Herzogtum Pommern 20 530 928 Francs Kontributionen auferlegt. Im weiteren Kriegsverlauf wurden auch Stettin mit 10 Mio., die gesamte Provinz Schlesien mit 30 Mio. und Ostpreußen mit 8 Mio. Francs belastet.196 Zu dieser ohnehin schon beträchtlichen Summe von insgesamt 152 Mio. Francs, die, wenn man einen Umrechnungskurs von einem Taler zu 3,7 Francs zugrunde legt, rund 41 Mio. Taler ausmachte, kamen obendrein noch vermeintlich rückständige etatmäßige Gefälle (contributions ordinaires). So erhöhte sich die Forderung an die Kurmark, inklusive der Stadt Berlin und der rechts der Elbe gelegenen Teile von Magdeburg, von 46 168 387 auf 51 016 718 Francs oder 13 788 302 Taler; Schlesien musste gleich 10 Mio. Francs mehr bezahlen, während die Einnahmerückstände der Neumark mit 1 322 087 Francs vergleichsweise gering ausfielen.197 Um diese enormen Beträge aufbringen zu können, drangen die Stände in Felder der Finanzverwaltung ein, die zuvor dem Staat überlassen waren oder zumindest unter dessen Aufsicht gestanden hatten. Es entstanden besondere Organe ständischer Selbst- und Landesverwaltung, die sogenannten „Comités“, die Steuern ausschrieben, die eingenommenen Gelder verwalteten, mit in- und ausländischen Bankiers über Kredite verhandelten und gegenüber den Besatzern als Vertretung der Provinz auftraten.198 Dadurch, dass sie anders als die Kammern nicht in die Besatzungsverwaltung eingegliedert wurden, war ihr Handlungsspielraum nicht unerheblich. Die kurmärkische Kammer rief schon Ende November 1806 auf eigene Initiative Deputierte der Kreise und Immediatstädte in Berlin zusammen, um mit ihnen über einen für die gesamte Provinz verbindlichen Verteilungsmaßstab und ein einheitliches Verfahren für die Aufbringung der Kontributionen zu beraten. Die Besatzungsmacht billigte dieses Vorgehen, nachdem die eigenen Versuche, die Kontributionssätze selbst auf die Kreise und Immediatstädte zu repartieren, gescheitert waren. Am 28. November wählten die Ständevertreter ein erstes aus drei Repräsentanten der Städte und sechs Vertretern des Landes bestehendes Komitee, dem die Aufgabe zufiel, die dringend benötigten Gelder zu beschaffen.199 Noch bevor das Komitee in Aktion trat, hatte Estève von der Kurmark eine erste Abschlagszahlung von 4 Mio. Francs verlangt. Die Kammer verständigte sich daraufhin mit einigen Landräten, die in Berlin verfügbar waren, die geforderte Summe durch eine Kontributionsausschreibung aufbringen zu wollen. Die Gesamtsumme wurde dazu verhältnismäßig zur ländlichen Kontribution (gemeint ist in diesem Fall die preußische Grundsteuer) und städtischen Akzise auf die Kreise und Immediat196
S. 51. 197
Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 4. Duncker, Milliarde, S. 506. Haußherr, Erfüllung,
Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 4. 1. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 361, Bl. 4 – 7. 198 Siehe hierzu Neugebauer, Finanzprobleme, S. 124 f. und passim. 199 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 10 – 12, 21 – 27. Vetter, Adel, S. 36. Neugebauer, Staatskrise, S. 249 f. Holste, Arena, S. 52.
III. Die Stände als Ordnungsfaktor
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städte umgelegt, wobei auf dem platten Land auch der kontributionsfreie Stand im Verhältnis von 1:2 herangezogen wurde. Umgerechnet in Taler ergab sich so beispielsweise für die Mittelmark folgende Verteilung: Auf den kontributionsfreien Stand entfielen 109 900, auf den kontribuablen Stand 257 232 und auf die Immediatstädte 132 868 Taler.200 Wegen der unmittelbaren wirtschaftlichen Belastung, die dieses Aufbringungsverfahren für die gesamte Provinz mit sich brachte, beschloss das ständische Komitee kurz nach seiner Konstituierung, die fälligen Kontributionsraten künftig durch Kredite aufzubringen; selbst die bereits laufende Kontributionsausschreibung sollte in eine Inlandsanleihe umgewandelt werden. Bis diese Gelder zur Verfügung standen, wurden die kurzfristig fälligen Forderungen über Anleihen bei den Berliner Bankhäusern befriedigt, für deren Sicherheit ständische Obligationen garantierten, deren Nominalwert den Anleihewert um ein Vielfaches überstieg. Die hohen Zinsen, mit denen diese Kredite belastet waren, brachten den Bankiers, die auch Städten, Kreisen und anderen Provinzen Geld liehen, hohe Gewinne ein, die allerdings um den Preis eines erheblichen Ausfallrisikos teuer erkauft waren.201 Die kurze Laufzeit der Kredite und die zu geringen Einnahmen aus der Kontributionsausschreibung zwangen das Komitee schließlich zu einer immer höheren Verschuldung.202 Angesichts der finanziellen Misere traten die kurmärkischen Stände im Juli 1807 erneut zusammen. Auf Drängen des ersten Ständekomitees berief der Vizedirektor der Landschaft Goldbeck eine als „Landtag“ bezeichnete außerordentliche Ständeversammlung ein, die durch ihre Zusammensetzung breiter legitimiert war als die Deputiertenversammlung des Vorjahrs. Dies war ein entscheidender Punkt in der Geschichte des preußischen Ständewesens, immerhin hatte es eine vergleichbare Versammlung in der Kurmark zuletzt 1653 gegeben. Der Landtag wählte ein neues, zweites Komitee mit umfangreichen Vollmachten und beschloss eine zweite Kontributionsausschreibung über 1 Mio. Taler. Diesmal bildete die Zahl der Einwohner den Maßstab für die Verteilung der Gelder auf Stadt und Land, so dass der Anteil der Städte deutlich höher ausfiel. Als Maßstab der Verteilung auf die Kreise des platten Lands dienten wie schon während der ersten Ausschreibung die Aussaattabellen von 1797. Aufgrund des schuldenfinanzierten Kontributionsaufbringungsverfahrens, auf das sich das Komitee verständigt hatte, erhielten die Kontribuenten im Gegenzug für ihre Leistungen verzinsliche ständische Obligationen, wodurch auch die zweite
200 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 5 – 9. Exemplarisch für den Kreis Havelland siehe BLHA, Rep. 6 A, Nr. 779. 201 Nach Angaben der Friedensvollziehungskommission gaben allein die Bankhäuser Schickler, Benecke und Salomon Moses Levy an verschiedene Provinzen zusammen 14 Mio. Francs in Wechseln aus. Siehe Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 7. 12. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 92, S. 271. Zum Berliner Bankenwesen siehe Treue, Technikgeschichte, S. 238 – 241. Zum Aufstieg der Berliner Bankhäuser in den Jahren nach 1807 siehe Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 504. 202 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 13 – 21, 27 – 37, 54.
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Kontributionsausschreibung faktisch zu einer Zwangsanleihe wurde.203 Um ihre Verbindlichkeiten zu begleichen, behalfen sich die kurmärkischen Stände auch in den nächsten Monaten der Okkupation mit einem System aus Kontributionsausschreibungen und Bankanleihen.204 Die Folge daraus war, dass im Januar 1808 das Verschuldungsniveau der Provinz ein solches Ausmaß erreichte, dass eine Kapitalsteuer eingeführt werden musste.205 Aber auch diese Maßnahme stellte kein adäquates Verfahren zur Refinanzierung der Schulden des Komitees dar. Die Frage der Tilgung blieb auch über den Abzug der französischen Armee hinaus ein Politikum erster Ordnung. Der finanzielle Druck auf die Stände erhöhte sich, wie bereits angedeutet, durch die Requisitionsforderungen der französischen Armee noch einmal beträchtlich. Mit dem kurmärkischen Kammerpräsidenten Leopold v. Gerlach hatten sich die Stände darauf geeinigt, dass sich die Besatzungsmacht mit ihren Forderungen zwar an die Kammer wenden solle, die Maßnahmen zur Aufbringung der verlangten Güter aber in Abstimmung mit dem Komitee beschlossen werden müssten.206 Wenn möglich sollten die Requisitionen in natura auf die Provinz ausgeschrieben, oder Unternehmer mit deren Lieferung beauftragt werden. Die Lieferanten wurden mit Interimsscheinen des ständischen Komitees entschädigt, die mit 4,5 bis 5 % verzinst wurden.207 Für dieses kostspielige Verfahren entschied man sich in dem Glauben, die Requisitionslieferungen würden mit den Kriegskontributionen verrechnet werden; Äußerungen Napoleons und Estèves hatten dies erwarten lassen. Letztendlich gestattete Daru aber nur, einen Bruchteil der verausgabten Gelder und gelieferten Materialien in Anrechnung zu bringen.208 Berlin musste die Kontributionen und Requisitionen eigenständig, das heißt unabhängig von der Kurmark, organisieren. Die Stadt war während der Okkupation eine eigene administrative Entität, ohne die vormalige Anbindung zur benachbarten Provinz. Unmittelbar nach seinem Eintreffen am 27. Oktober 1806 hatte Napoleon die Auflösung des Magistrats und die Einberufung der 2000 wohlhabendsten Bürger der Stadt befohlen. Dieser Versammlung, die sich am 30. desselben Monats auf dem 203 Siehe hierzu ebd., Bd. 2, S. 42 – 53. Vetter, Adel, S. 37. Neugebauer, Finanzprobleme, S. 125. Ders., Staatskrise, S. 251. Holste, Arena, S. 52 f. Kurmärkische Kammer an den Landrat v. Bredow (Havelländischer Kreis), Berlin, 27. 7. 1807, Ausf. BLHA, Rep. 6 A, Nr. 780, Bl. 19 – 21. Hier hieß es, dass ebenso wie die erste Kontributionsausschreibung auch die zweite als „gezwungenes Anlehe (!)“ zu betrachten sei. Ebd. Bl. 19. 204 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 64 ff. Bergius, Geschichte, S. 47. 205 Siehe ebd., S. 45 f. 206 Zum Requisitionswesen der Kurmark siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 543 ff. Auch Frie, Marwitz, S. 248. 207 Siehe Bassewitz, Bd. 1, S. 221 ff., Bd. 2, S. 535 ff. Bergius, Geschichte, S. 45. Die Lieferanten konnten zu großem Wohlstand kommen. Siehe Paul Wallich, Gebr. Berend & Co. Berliner Heereslieferanten, Bankiers und Industrielle aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, in: FBPG 33 (1921), S. 369 – 407, hier S. 370 – 376 und passim. 208 Siehe Napoleon an Clarke, Dresden, 22. 7. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 12939, S. 439 f. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 122. Duncker, Eine Milliarde, S. 507.
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Rathaus einfand, wurde aufgetragen, aus ihrer Mitte 60 Männer zu wählen, die als „Großer Rat“ künftig die „General-Verwaltungs-Behörde“209 der Stadt bilden sollten. Von diesem Gremium wurde ein Ausschuss von sieben weiteren Personen berufen, die anstelle des Magistrats die eigentlichen Verwaltungsgeschäfte der Stadt zu leiten hatten. Dieses Comité administratif setzte sich aus dem Buchhändler de la Garde, dem Teppichfabrikanten Thomas-Heinrich Hotho, den Maurermeistern Karl Friedrich Zelter und Friedrich-Ludwig Meyer, sowie den Kaufleuten Nitze, Wibeau und Beringuier zusammen. Vier dieser Männer eigneten sich als Mitglieder der französischen Kirche wegen ihrer Sprachkenntnisse besonders für die Zusammenarbeit und die Verhandlungen mit der französischen Besatzungsmacht. Der tatsächliche Einfluss des Comité administratif auf die Stadtverwaltung war nur marginal. Die Komiteemitglieder verfügten über keine Erfahrung in der Verwaltungsarbeit und mussten sich daher auf den formalen Vorsitz über die einzelnen Magistratsabteilungen beschränken, die in ihrer Zusammensetzung unverändert blieben. Während das Comité administratif aber als Repräsentation der Stadt immerhin eine gewisse Rolle spielte, trat der Große Rat nicht mehr zusammen.210 Als oberste Kontrollinstanz war Bignon dem Comité administratif unmittelbar vorgesetzt.211 Da die Kammer ihren Einfluss auf die Stadtverwaltung verloren hatte, war damit auch in Berlin eine eigenständige Selbstverwaltungsbehörde entstanden, die – zumindest offiziell – in keiner Verbindung mit der höheren Staatsverwaltung in Memel beziehungsweise Königsberg stand. Im Hintergrund wirkte indes der Staatsminister Angern als Ratgeber des Komitees. Nach seiner Entlassung im August 1807 versuchte die Friedensvollziehungskommission, diese Funktion soweit wahrzunehmen, wie es die Umstände erlaubten. Gegenüber der Kommission wie auch der Zentralregierung trat das Comité administratif im Gegensatz zu den ständischen Komitees nie als Träger einer eigenständigen städtischen Politik in Erscheinung. Die Städteordnung machte eine solche Entwicklung in Teilen ohnehin überflüssig.212 Während seiner gesamten Existenz sah sich auch das Berliner Komitee mit der Herausforderung konfrontiert, den enormen Kontributions- und Requisitionsforderungen nachzukommen, zugleich aber die Belastung für die Stadt möglichst gering zu halten. Obwohl die Komiteemitglieder offenbar dieser Aufgabe, so gut es ging, nachkamen, mussten sie unter der Bevölkerung als Exponenten der Besatzungs-
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Granier, Franzosenzeit, S. 4 (Fn. 3). Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 97 – 101. Granier, Franzosen, S. 17. Clauswitz, Städteordnung, S. 39 f., 42 – 45. Mieck, Reformzeit, S. 425. Viviane Rosen-Prest, Les huguenots à Berlin face à l’occupation napoléonienne (1806 – 1808), in: Recherches germaniques 40 (2010), S. 151 – 176, hier S. 7 – 9. 211 Siehe Clauswitz, Städteordnung, S. 42. 212 Zur Entwicklung des Berliner Komitees nach dem Abzug der französischen Truppen siehe Clauswitz, Städteordnung, S. 52, 95 – 97. 210
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verwaltung gelten. Dementsprechend ambivalent fiel auch das Bild aus, das man sich von ihrer Tätigkeit machte.213 Die Forderungen der französischen Armee gegenüber der Stadt Berlin waren außerordentlich hoch. Die Hauptstadt war eine bevorzugte Durchmarschstation französischer Truppen und Hauptsitz der Besatzungsverwaltung.214 Dementsprechend groß waren die Mengen an Versorgungsgütern, die neben der Kontribution von 10 Mio. Francs aufgebracht werden mussten.215 Auch Berlin konnte sich in dieser Lage nur mit Steuererhöhungen und einer steigenden Verschuldung behelfen. Gleich zu Beginn der Okkupation wandte sich die Stadt mit dem Wunsch nach einer Anleihe an die ansässigen jüdischen Bankiers, ohne damit jedoch Erfolg zu haben. Das Stadtkomitee belegte daraufhin die jüdische Kaufmannschaft der Stadt mit einer Zwangsanleihe über 250 000 Taler, bis zu deren vollständigen Zeichnung die Bankiers Lippmann Meyer Wulf und Heimann Veitel gefangen gehalten wurden. Parallel dazu versuchte man – mit wenig Erfolg –, die Einwohner zu einer freiwilligen Anleihe gegen verzinsliche Stadtobligationen zu bewegen.216 Die Stadt musste die ersten Kontributionsraten schuldig bleiben. Estève rief daraufhin die 20 wohlhabendsten Bürger zusammen und verlangte von diesen die sofortige Zahlung von 1,2 Mio. Francs. Der Betrag überstieg jedoch bei weitem die Möglichkeiten der Versammelten, so dass ihre Zahl auf 58 Personen erhöht wurde; aber selbst dann war das geforderte Geld nicht aufzubringen. In seiner Verzweiflung verlangte das städtische Komitee schließlich von den 300 reichsten Bürgern, eine ausreichende Anleihe zu zeichnen; doch der Ertrag blieb weit unter dem Soll. Das Komitee hatte schließlich keine andere Wahl mehr, als eine ganze Reihe von Sonderabgaben zu beschließen. Im Laufe der Okkupation wurden den Korporationen und dem Handelsstand, den Mietern und Hauseigentümern, selbst den Dienstboten, Handlungsdienern, Knechten und den Apothekergehilfen besondere Steuern auferlegt. Das Steueraufkommen reichte allerdings ebenso wenig wie die Einnahmen aus einer Vermögensteuer dazu aus, um die exorbitanten finanziellen Verpflichtungen bedienen zu können.217
213 Siehe hierzu Rosen-Prest, Huguenots, S. 14 – 17, 22 f. Granier, Franzosenzeit, S. 6 (Anm.). Siehe auch Immediatbericht Sack, Berlin, 14. 12. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 3641, Bl. 100v. 214 Durchschnittlich hielten sich zwischen 8000 und 10 000 Soldaten in Berlin auf. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 257. Auch Mieck, Reformzeit, S. 428, wo etwas höhere Zahlen angegeben werden. 215 Zum Berliner Requisitionswesen siehe Clauswitz, Städteordnung, S. 41. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 285 – 293. „Nachweisung der Requisitionen an die Stadt Berlin“, (Berlin), 3. 11. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 99. 216 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 237 f. Clauswitz, Städteordnung, S. 48. 217 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 11. 12. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 31, S. 81. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 238 – 247, 257 – 272. Clauswitz, Städteordnung, S. 49, 51. Mieck, Reformzeit, S. 428 – 435.
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Um die Finanzkalamitäten zu überbrücken, versuchte auch das Berliner Komitee, Kredite bei Bankiers der Stadt und im Ausland aufzunehmen, allerdings war das Kreditpotenzial dieser von den Besatzern geschaffenen Behörde bedeutend geringer als das der kurmärkischen Stände.218 Immerhin gelange es, verschiedene Anleihen aufzunehmen, wenn auch zu harten Konditionen: Für ein Darlehen über 2,2 Mio. Taler in Wechseln haftete die Stadt bei einem Berliner Bankenkonsortium mit den gesamten Einnahmen der Kontributionskasse, dem vollständigen Vermögen der Einwohner und dem Kämmereivermögen.219 Das Komitee berechnete Mitte Mai 1808 die Gesamtkosten, die der Stadt seit dem Einmarsch der französischen Truppen entstanden waren, auf rund 39 Mio. Francs, woraus sich nach einem Bericht eine Belastung von 1811,5 Francs für jede der 21 500 Berliner Familien ergab.220 Diese Zahlen waren sicherlich etwas zu hoch gegriffen, schließlich sollten sie dazu dienen, die französischen Behörden von noch höheren Forderungen abzubringen. Realistischer erscheint schon eine spätere Berechnung, wonach Berlin circa 6,9 Mio. Taler (25,5 Mio. Francs) während der gesamten Okkupation für die Versorgung der französischen Armee und die Kontributionszahlungen aufwandte.221 Hinzuzurechnen wären jedoch noch weitere Kosten wie beispielsweise für Vorspanndienste,222 die nicht die städtische Kasse, wohl aber den einzelnen Bewohner trafen. In der Neumark wählten die Stände ein ähnliches Verfahren wie in der benachbarten Kurmark, um den Herausforderungen der Okkupation zu begegnen. Auch hier berief die Kammer in Küstrin Ende 1806 eine „Landschaftliche Versammlung“ ein, die aus „Repräsentanten“ – die Verwendung dieses Begriffs ist bemerkenswert – der Kreise und zwei Vertretern der Städte bestand. Dieses Gremium beriet das Problem der Kontributionen und beauftragte, ähnlich der Kurmärker, ein ständisches Komitee, die notwendigen Gelder und Naturallieferungen herbeizuschaffen; und genauso wie die kurmärkischen Stände griffen auch die der Neumark auf Anleihen im Ausund Inland zurück und versuchten, diese mit Hilfe von Kontributionsausschreibungen zumindest teilweise zu refinanzieren. Es ist bezeichnend für den Statusgewinn, den die Stände auch in der Neumark erfuhren, dass deren Vertreter im Sep-
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Siehe Clauswitz, Städteordnung, S. 48. Siehe ebd., S. 50. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 254 f. 220 Siehe Denkschrift des Comité administratif, Berlin, 11. 5. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 89, S. 244. 221 Siehe Clauswitz, Städteordnung, S. 47. Eine Übersicht der Lieferungen und Zahlungen Berlins bis Juli 1807 bietet das „Mémoire sur la Contribution imposée à la Ville de Berlin“, Berlin, 10. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 106 – 116v. 222 Ein Beispiel für den erheblichen Umfang der Vorspanndienste bietet die Kurmark. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 620 – 624. Ibbeken, Preußen, S. 92. 219
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tember 1807 und erneut im November 1808 explizit als „Landtag“ zusammenkamen.223 Das Verfahren in Pommern wich in mancherlei Hinsicht von dem kur- und dem neumärkischen Beispiel ab. Auf Bitten der Kammer gestattete die Besatzungsverwaltung im Dezember 1806 die Berufung einer Versammlung der Landräte aus den eroberten Kreisen. Aus diesen Beratungen ging ein Ausschuss hervor, der den Sitzungen der Kammer beiwohnte und gemeinschaftlich mit dieser die Beschaffung der Kontributionen und Requisitionen organisierte. Der ständische Einfluss war aber auch in Pommern so groß, dass die Kammer ohne die Zustimmung der Ausschussmitglieder letzten Endes keine Verfügungen erlassen konnte. Auf Befehl des französischen Intendanten von Pommern L’Aigle bildeten schließlich aber auch die Landräte Vorpommerns und des besetzten Teils Hinterpommerns zusammen mit Abgesandten der Städte einen förmlichen Landtag; dieser ernannte einen Ausschuss, der künftig losgelöst von der Kammer das Kontributionsund Requisitionswesen organisieren sollte. Die Pommern zeigten sich insgesamt deutlich renitenter gegenüber den französischen Forderungen als die Kur- und Neumärker. So verzichtete man auf eine Verschuldung der Provinz und bemühte sich, die verlangten Güter und Gelder direkt auf dem Land und in den Städten zu erheben. Den Besatzern sollte auf diese Weise die eigene Zahlungsunfähigkeit vor Augen geführt werden; für die Bevölkerung erwies sich dieses Verfahren, das von Beitreibungsaktionen durch die französische Armee begleitet wurde, aber als eine schwere Belastung. Die Gesamtprovinz blieb zwar von Schulden verschont und nur ein Bruchteil der Kriegskontributionen ging bei den französischen Kassen ein, doch konnte die Schuldenlast einzelner Städte umso größer ausfallen – ganz zu schweigen von den teilweise dramatischen Folgen für die Einwohner.224 Bei Einmarsch der französischen Truppen in Schlesien löste sich die Breslauer Kammer zum Teil auf, weshalb hier der französische General Lesperut unverzüglich die Bildung eines Generalkomitees der oberschlesischen Stände verlangte, wie aus einer wenig beachteten Quelle hervorgeht. Daraufhin beschloss im Februar eine ständische Versammlung, die auf Antrag der Generallandschaft Anfang 1807 in Breslau wegen der Kontributionsangelegenheiten der Provinz tagte, ein solches Gremium ins Leben zu rufen, welches das „MilitairVerpflegungs-Fach ausschließlich bearbeitet“. Das Comité Générale mit Sitz in Breslau bestand aus sieben „Repraesentanten“ des Landes und dreien der Städte; bei der Verteilung der Naturalforderungen kooperierte es mit den Städten und den Kreiskomitees,225 die schon 223 Zur Entwicklung der Neumark siehe Neugebauer, Finanzprobleme, S. 126 – 128, hier auch die Zitate S. 127, die aus den Akten des BLHA entnommen sind. Auch ders., Staatskrise, S. 254 – 258. 224 Zum Ständewesen, der Beschaffung der Kontributionen und Requisitionen siehe Eggert, Besatzungszeit, S. 8 – 44, 48 f., 60 – 83 und passim. Ders. Stände, S. 11 – 14. 225 Siehe hierzu „Geschichtliche Darstellung“, S. 92 – 94, hier die Zitate S. 94. Hier zur Arbeit des Komitees S. 94 ff. Auch Haupt-Zeitungs-Bericht der schlesischen Kammer, Breslau,
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früher auf Geheiß des Provinzialministers Hoym gebildet worden waren. Demnach entfalteten auch die Stände des südlichen Schlesiens, die aufgrund der Annexion der Provinz im 18. Jahrhundert nur über einen geringen Organisationsgrad verfügten, eine erstaunliche Selbstverwaltungstätigkeit. Das Kontributionswesen behielt aber die Breslauer Kammer unter der Leitung des umtriebigen Generalzivilkommissars Massow in ihren Händen. Auf Massows Betreiben hin wurde im Breslauer Kammerbezirk eine Vermögensteuer von 2 % ausgeschrieben, deren Bemessungsgrundsätze recht grob ausfielen, es aber ermöglichten, bereits bis zum 1. Oktober 1807 die Kontributionssumme von 18 Mio. Francs ohne bedeutende Verschuldung nahezu vollständig aufzubringen.226 Nur ein geringer Restwert von 850 000 Talern blieb übrig, der unter Verwendung noch vorhandener Geldbestände der Kammer und von 600 000 Talern in Wechseln der Breslauer Kaufmannschaft beglichen wurde. Im anderen schlesischen Kammerbezirk um das weiter nördlich gelegene Glogau gestaltete sich das Aufbringungsverfahren anders. Die Besatzungsmacht verteilte dort in Eigenregie die Kontributionen von 12 Mio. Francs auf Stadt und Land und erreichte es auf diese Weise,227 in drei Raten fast die gesamte Summe einzutreiben. Nur 400 000 Taler mussten durch eine Anleihe bei Berliner Bankhäusern zusammengebracht werden. Über das Requisitionswesen im Glogauer Kammerbezirk gibt es ebenso wie über die Rolle der Stände nur unvollständige Informationen. Stein empfahl im April 1808 auch „für Glogau ein aus zuverlässigen Gutsbesitzern bestehende (!) Comité zu bilden, da mancherlei Klagen gegen die Kammer entstanden sind“228 und auch französischerseits wünschte man die Einrichtung einer entsprechenden ständischen Behörde.229 Inwieweit diese Pläne bis zum Ende der Okkupation zur Ausführung gekommen sind, ist aber bislang noch unklar. Ebenso im Dunkeln liegen die Aktivitäten der westpreußischen Stände in den Jahren der Besatzungszeit. Auf Westpreußen, das nach dem Rückzug der französischen Armee bis zur Weichsel im Dezember 1807 wenigstens zum Teil geräumt war, (Juli 1807), Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 15738. Zur Finanzierung des Baus und des Unterhalts französischer Militärlager, die im Sommer 1808 entstanden, führte das Komitee eine Kapitalsteuer ein. Siehe „Geschichtliche Darstellung“, S. 120. 226 Zum schlesischen Schuldenstand siehe Bergius, Geschichte, S. 41. 227 Zum Kontributionswesen Schlesiens siehe Haußherr, Erfüllung, S. 73 – 75. Treue, Technikgeschichte, S. 245 – 248. Auch Immediatbericht Massow, Breslau, 21. 12. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 353, Bl. 42 – 56 (hier genaue Tabellen zu den gezahlten Summen). Immediatbericht Massow, 27. 12. 1807, Ausf. Ebd., Bl. 57 – 73. 228 Stein an Bismarck, Berlin, 19. 4. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 154, S. 512. 229 Siehe hierzu Kabinettsorder an Bismarck, Königsberg, 21. 7. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 748, S. 789 f. Siehe auch Bismarck an Stein, Breslau, 31. 5. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 176, S. 582 f. Bismarck berichtete, dass sich schon einige Stände aus dem Glogauer Bezirk mit der Bitte an ihn gewandt hatten, ein solches Komitee einrichten zu dürfen. Allem Anschein nach, schienen sich aber auch einige Stände dagegen erklärt zu haben. Siehe Immediateingabe des Medizinalrats und Kreiskommissarius Gebel, Jauer, 23. 7. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 211, S. 686 f.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
lastete keine Kriegskontribution. Der französische Intendant Strassard verlangte aber im Auftrag Napoleons die zwischen dem 12. Juli und dem 1. Oktober 1807 rückständigen Landeseinkünfte, die er auf 200 000 Taler bezifferte. Die Kammer in Marienwerder beglich 80 000 Taler in Raten aus verbliebenen Fonds und unternahm den Versuch, die noch fehlenden 120 000 Taler mit einer Einkommensteuer aufzubringen. Die Steuer wurde jedoch derart kompliziert gestaltet und fiel in der Folge so gering aus, dass eine Anleihe in Hamburg gezeichnet wurde.230 Ostpreußen, das zum Ende des Kriegs bis zur Memel besetzt war, wurde schon Anfang August 1807 wieder beinahe vollständig geräumt. Die Kammerbezirke von Ostpreußen und Litauen trugen zum Zeitpunkt des Friedens eine Kontributionsschuld von 8 Mio. Francs. Hinzukamen Requisitionsforderungen, die an die Stadt Königsberg gerichtet wurden, im Gegenwert von 4 Mio. Francs, von denen nach der Berechnung Darus im Juli noch 1,5 Mio. Francs ausstanden. Über diese Restsumme stellten die Kaufleute von Königsberg Wechsel aus, die zum 10. August fällig waren; als Sicherheit entnahm Daru Wertpapiere über 2 Mio. Francs aus den öffentlichen Kassen. Die Kaufmannschaft von Königsberg trat schließlich auch mit Wechseln über umgerechnet 2 Mio. Taler für die Kontributionen der Provinz ein; Deckungspflicht und Bürgschaft lagen allerdings bei Stadt und Kammer. Nur ein geringfügiger Restbetrag von rund 100 000 Talern wurde sofort in bar beglichen.231 Die Aufbringung der Wechselraten, die zwischen dem 15. Oktober 1807 und 15. Juni 1808 fällig waren, wurde in den Monaten nach Abzug der französischen Armee zu einer wirtschaftlich und politisch bedeutsamen Angelegenheit, worauf an späterer Stelle ausführlicher einzugehen ist. In Anbetracht des eigenmächtigen Handelns der Stände lässt sich fragen, wie sich die geflüchtete Regierung in Memel und die königlichen Behörden vor Ort hierzu verhielten? Keineswegs gelang es den Komitees, sich völlig von den lokalen Behörden zu emanzipieren. Die Friedensvollziehungskommission und die Generalzivilkommissare versuchten nach Möglichkeit und gemäß ihren Instruktionen, das Kontributionswesen in den Provinzen zu leiten und Einfluss auf die Komitees zu nehmen.232 So gelang es unter anderem Sack, die weitere Verschuldung der Kurmark und Berlins von seiner Zustimmung abhängig zu machen.233 Zwar war das gegen-
230
Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 159 f. Zu den Kontributionsverhandlungen siehe Immediatbericht Frey, Königsberg, 29. 7. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 347. Auch Haußherr, Erfüllung, S. 28 f., 55 – 57. Theodor Winkler, Johann Gottfried Frey und die Entstehung der preußischen Selbstverwaltung, Stuttgart 1957, S. 94 – 96. 232 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 24. 4. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 80, S. 215. 233 Siehe beispielsweise Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 9. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 145 – 145v. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 1. 10. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 359, Bl. 113 – 113v. 231
III. Die Stände als Ordnungsfaktor
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seitige Verhältnis überwiegend von Konsens geprägt,234 aber nicht jeder Kammerbeamte war dazu bereit, von einem Tag auf den anderen auf seine Kompetenzen zu verzichten, wie vor allem das schlesische Beispiel zeigt. Der später entlassene schlesische Provinzialminister Hoym hatte schon frühzeitig die unverzügliche Auflösung des vorwiegend aus Gutsbesitzern zusammengesetzten Generalkomitees gefordert, da ansonsten „die Reorganisation ganz unmöglich [ist], und der Faktionsgeist (…) alles in eine Verwirrung [bringt]“.235 Im April 1808 eskalierte schließlich der Konflikt zwischen Kammer und Komitee. Anfangs habe sich die Zusammenarbeit beider Behörden fruchtbar gestaltet, erklärte Kammerpräsident Bismarck gegenüber Stein. „Bald aber suchten die Herrn (!) einseitig zu handeln und eine eigene Instanz zu bilden, daher entstanden Misshelligkeiten“.236 Als Reaktion auf die unablässige Kritik der Kammer drohte das Komitee mit der Selbstauflösung, woraufhin Stein von Königsberg aus schlichtend eingreifen musste.237 Das Schreiben an Bismarck, in dem er einen Ausgleich mit dem Komitee forderte, ist aufschlussreich, denn es gibt Auskunft darüber, wie man sich in Königsberg die Arbeit der Komitees eigentlich vorstellte: „Die (!) dortige ständische Comité (…) kann immerhin noch bleiben und doch zum Vertreten bei Unterhandlungen mit den französischen Behörden nützlich gebraucht werden, nur muß dies unter genauer Aufsicht und Leitung des Ausschusses (gemeint ist der weiter oben erwähnte Kammerausschuss, der nach der Flucht Massows gebildet wurde; S.P.) geschehen, damit Eigenmächtigkeit niedergehalten und Unschädlichkeit bewirkt werde.“238
Am Ende war den Vertretern der königlichen Regierung klar, dass sie auf die Stände in der ein oder anderen Form, vor allem aber finanziell, angewiesen waren. Wohl auch aufgrund dieser Abhängigkeit begegnete der König einer Delegation der kur- und neumärkischen Landschaft, die im August 1807 nach Memel entsandt wurde, verhältnismäßig wohlwollend. Einer der wichtigsten Punkte, über den sich die Deputierten mit der königlichen Regierung verständigen wollten, war die Übernahme der Schulden ihrer Heimatprovinzen seitens der Krone und deren ge234 Siehe etwa das Bevollmächtigte Komitee des Dramburgischen Kreises an die neumärkische Kammer, Dramburg, 19. 7. 1807, Ausf. BLHA, Rep. 3, Nr. 18270. 235 Siehe Immediatbericht Hoym, Dyhernfurth, 22. 7. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 169, S. 233 f., hier das Zitat S. 234. 236 Siehe Bismarck an Stein, (Breslau), 12. 4. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, S. 511 (Fn. 3), hier auch das Zitat. Kritik am Komitee wird auch bei Wiedemann, Breslau, S. 127 – 129 laut. 237 Siehe Stein an Bismarck, Berlin, 23. 4. 1808. Stein an das Generalkomitee der schlesischen Stände in Breslau, Berlin, 23. 4. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 673, 674, S. 708 f. Gegen die Annahme, dass es tatsächlich zur Auflösung des Komitees gekommen ist, wie Neugebauer in ders., Staatskrise, S. 248 vermutete, spricht das Schreiben Bismarcks an Stein (Breslau, 31. 5. 1808). Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 176, S. 582 f. und „Geschichtliche Darstellung“, passim. 238 Stein an Bismarck, Berlin, 19. 4. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 154, S. 511. Ein weiteres Beispiel für den Konflikt zwischen Staat und ständischen Komitees bietet etwa Königsberg. Siehe Winkler, Frey, S. 100 f.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
meinschaftliche Tilgung durch alle Provinzen des Königreichs. Für die Kur- und die Neumärker, die im Vergleich zu anderen Provinzialständen während der Okkupation eine enorme Schuldenlast angehäuft hatten, wäre ein solches Arrangement ausgesprochen vorteilhaft gewesen. Beyme kritisierte sogleich gegenüber der Delegation heftig die Nachgiebigkeit, welche die Komitees beider Provinzen den Besatzern gegenüber an den Tag gelegt hatten. Man hätte besser den Eindruck der Zahlungsunfähigkeit erweckt, so Beyme, anstatt den Landadel zu schonen und zugleich das Land tief zu verschulden.239 Mit dieser Sichtweise stimmte Sack vollständig überein: „Diese Herren Junker setzen, aus bloßer Furcht, daß ihre hochwerten Personen sonst als Geißel (!) in Beschlag genommen werden möchten und gegen meinen täglichen Rat und gegen das entgegengesetzte Verfahren bei der Stadt (Berlin; S.P.) ihr schönes System fort, um überall Geld zu suchen und das Land noch für die Zukunft zu ruinieren“240. Auch Vincke, der spätere Regierungspräsident in Potsdam, echauffierte sich über die „tolle Komiteewirtschaft“241, die „Erbärmlichkeit des ständischen Comité’s und die Schlaffheit der Kammer“242. Dass Davout kurz vor dem Abzug der französischen Armee ausdrücklich die Stände für ihr Verhalten während der Besetzung lobte, trug nicht gerade dazu bei, die Vorwürfe zu entschärfen.243 Die Kritik darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl der König, die Kombinierte Immediatkommission als auch die Friedensvollziehungskommission, der Sack immerhin vorstand, im Zeichen der „Erfüllungspolitik“ Steins im Herbst 1807 die Stände zur schleunigen Bezahlung der Kontributionen drängten. In der Hoffnung, dadurch die Räumung des Landes schneller zu bewirken, sollte ausdrücklich der „allgemeine Landeskredit“ verwendet werden.244 In diesem Sinne wurde – ungeachtet der Ausführungen Beymes – schon den kur- und neumärkischen Deputierten in Memel befohlen, alles daran zu setzen, um die französischen Forderungen zu befriedigen. Der König versprach im Gegenzug, die Schulden beider Provinzen zu einem späteren Zeitpunkt zu übernehmen und mit Hilfe eines drastischen staatlichen Sparprogramms tilgen zu wollen.245 Gleiches stellte Friedrich Wilhelm einer ständischen Abordnung in Aussicht, die auf Anweisung der Breslauer Kammer nach Memel aufgebrochen war.246
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Siehe Brinkmann, Quelle, S. 49 – 63. Sack an Stein, Berlin, 4. 6. 1807. Steffens, Briefwechsel, Nr. 2, S. 6. Siehe auch Sack an Stein, Berlin, 26. 5. 1807. Ebd., Nr. 1, S. 2. 241 Tagebuch Vincke, März–Mai 1808. Behr, Tagebücher, Bd. 5, S. 250. 242 Vincke an Stein, Potsdam, 12. 11. 1809. Bodelschwingh, Leben, S. 436. Siehe auch ebd., S. 430. 243 Siehe hierzu Justizrat Fr. Schulz an Staegemann, (Berlin, 4. 12. 1808). Scheel, Interimsministerium, Nr. 6, S. 13 f. 244 Siehe Neugebauer, Finanzprobleme, S. 129 f., zit. n. S. 130 (Kursivsetzung im Original). 245 Siehe Kabinettsorder an die Landschaftlichen Deputierten der Kurmark Brandenburg, Memel, 29. 8. 1807. Abgedruckt in Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 62. 246 Siehe Erler, Schlesien, S. 37 f. 240
III. Die Stände als Ordnungsfaktor
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Aber schon Ende Oktober 1807 wurde in einer Kabinettsorder an Borgstede ein Richtungswechsel deutlich. Angesichts der desaströsen finanziellen Lage des Staats wurde den pommerschen Ständen zwar in Aussicht gestellt, die Garantie für die ständischen Obligationen zu übernehmen, der König wollte jedoch „noch nicht darin willigen (…), daß die Provinzialschulden in Staatsschulden verwandelt werden“.247 Es hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Schulden der Provinzen bei weitem die finanziellen Fähigkeiten des Staats überstiegen. Allein die kurmärkischen Verbindlichkeiten von rund 23 Mio. Talern zum Ende des Jahres 1808 überstiegen den preußischen Jahresetat um das 1,5-fache;248 nur durch Einsparungen, ohne eine grundlegende Reform des Steuersystems, waren solche Summen unmöglich aufzubringen. Die Mission der kur- und neumärkischen Delegation ging weit über eine Einigung zur Regulierung der Provinzialschulden hinaus. Während der Okkupation waren die Stände, wie gezeigt, in Reservate staatlicher Herrschaft eingedrungen und hatten anstelle des Staats die Rolle eines Ordnungsfaktors wahrgenommen. Schon die Tatsache, dass Steuern kraft eigener Autorität ausgeschrieben und verwaltet wurden, macht die erreichte relative Autonomie deutlich. Die neu erlangte Bewegungsfreiheit gedachten die Stände der Kur- und Neumark nicht so schnell wieder preiszugeben; sie strebten nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zur Staatsgewalt.249 In diesem Sinne baten die Deputierten in Memel den König „um die Aufrechterhaltung und Fortdauer der Ständischen Verfassung“. Diesen Worten wohnte eine besondere Dynamik inne, der Halbsatz war bewusst interpretationsbedürftig formuliert. Unklar musste bleiben, ob man die Beibehaltung des Status quo ante oder vielleicht sogar post bellum wünschte, oder ob man sich auf das 1653 verbriefte, aber schon im 18. Jahrhundert kaum respektierte Recht berief, in wichtigen Angelegenheiten des Landes hinzugezogen zu werden. Der König schien zunächst überrascht von der Bitte, die bereits das künftige Problem ständischer Repräsentation in sich trug, und beruhigte die Deputierten kurzum, „daß er nicht die Absicht habe sie (die Ständische Verfassung; S.P.) auf zu heben (!).“250 Das Problem war damit aber noch lange nicht aus der Welt geschafft.251 Der Landtag des Sommers 1807 hatte dem zweiten Komitee ausdrücklich den Auftrag erteilt, für die Bewahrung der „ständischen Ver-
247 Siehe Kabinettsorder an Borgstede, Memel. 20. 10. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 7, S. 76, hier auch das Zitat (Kursivsetzung im Original). Siehe auch Eggert, Besatzungszeit, S. 52. 248 Siehe Neugebauer, Finanzprobleme, S. 132 f. 249 Siehe Vetter, Adel, S. 38. 250 Die Zitate nach Brinkmann, Quelle, S. 111. Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 58 – 61. Wolfgang Neugebauer, Verfassungswandel und Verfassungsdiskussion in Preußen um 1800, in: Alois Schmid (Hrsg.), Die bayerische Konstitution von 1808. Entstehung – Zielsetzung – Europäisches Umfeld (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 35), München 2008, S. 147 – 177, hier S. 167. 251 Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 56 – 63.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
fassung“ zu sorgen.252 Von einer reinen Verwaltungsbehörde entwickelte sich das Komitee so zu einem Instrument politischer Interessenwahrung. Der eigentliche Konflikt zwischen ständischem Partizipationsstreben und dem Souveränitätsausbau der Krone stand noch bevor. Sogar auf dem Feld der Außenpolitik versuchten die Stände, ihre neugewonnene Stärke geltend zu machen. Verschiedene ständische Delegationen gerierten sich am Hof Napoleons als Gesandtschaften ihrer Provinz und baten um die Herabsetzung der Kontributionsforderungen.253 Waren dies noch zaghafte Versuche, das Land von einer drückenden finanziellen Last zu befreien, so kam das Plädoyer für einen möglichst engen Anschluss an Frankreich einer lange nicht mehr gekannten Einmischung der Stände in die außenpolitische Entscheidungsfreiheit des Königs gleich.254 Erfolg hatten die Delegierten mit derart weitreichenden Forderungen aber nicht. Mehrheitlich erstarkte die ständische Position in den meisten Provinzen während der Okkupation, doch gab es mitunter auch Spannungen zwischen den Ständen, die das Erreichte wieder zu unterminieren drohten. Die Stände waren alles andere als ein monolithischer Block. Besonders die Frage nach der Verteilung der finanziellen Lasten sorgte für Konflikte. In Pommern kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Landesteilen Vor- und Hinterpommern wie auch zwischen den Städten und dem Adel wegen des Verteilungsschlüssels des ständischen Ausschusses, in dem die städtischen Vertreter unterrepräsentiert waren.255 Dieser Konflikt zwischen Stadt und Land, zwischen Adel und Bürgertum, blieb nicht auf Pommern beschränkt.256 So fühlte man sich im Kreis Lebus, der sich wegen der Unfähigkeit des Landrats in chaotischen finanziellen Verhältnissen befand, vom Komitee übervorteilt und forderte deshalb die Beschränkung der Befugnisse des Komitees, in dem man nicht repräsentiert war.257 Innerständische Konflikte dieser Art setzten sich zum Teil bis in die Zeit nach der Okkupation fort und beeinflussten schließlich auch den gesamtpreußischen politischen Diskurs.
252 253 254 255
Nr. 64. 256
Siehe Vetter, Adel, S. 37, zit. n. ebd. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 55. „Geschichtliche Darstellung“, S. 99. Siehe Brinkmann, Quellen, S. 89. Siehe Eggert, Besatzungszeit, S. 14, 16, 57 – 60. Hierzu GStA PK, I. HA, Rep. 146,
Siehe exemplarisch die an Borgstede gerichtete Beschwerde des Magistrats von Züllichau (Züllichau, 9. 1. 1808, Ausf.). Ebd., Nr. 77. Hier auch weitere Aktenstücke, die voller Kritik an den Verteilungsgrundsätzen waren. Hierzu auch Haußherr, Erfüllung, S. 62. 257 Siehe hierzu Frie, Marwitz, S. 249 – 253.
IV. Die Okkupationserfahrung: Ordnungsverlust und Ordnungssuche
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IV. Die Okkupationserfahrung: Ordnungsverlust und Ordnungssuche Die Okkupation lässt sich in ihrer Wirkung für die politische Geschichte Preußens nicht hinreichend als ein verwaltungs-, wirtschafts- oder ständehistorisches Abstraktum beschreiben. Die Abwesenheit der tradierten staatlichen Herrschaftsordnung und die Etablierung einer Besatzungsherrschaft an ihrer Stelle, deren Präsenz für jeden einzelnen Einwohner des okkupierten Raums in vielfältiger Form spürbar war, prägten nachhaltig den „Erfahrungshaushalt“258 der preußischen Bevölkerung. Zentral waren dabei die Erfahrungen situativer Gewalt und ökonomischer Ausbeutung, die aus dem Zusammenbruch der alten politischen Ordnung resultierten. Hinzukam die Erfahrung eigener Widerständigkeit gegen die bestehenden Autoritäten,259 sei es gegen die Okkupationsmacht selbst, oder gegen die neukonstituierten ständischen Obrigkeiten, die auf die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes zurückgreifen mussten, um die französischen Forderungen befriedigen zu können. Die allgemeine Krisenerfahrung wurde von der Suche nach Institutionen begleitet, die ein ausreichendes Orientierungs- und Integrationspotenzial in einer Zeit des Ordnungsverlustes und der Desintegration zu bieten vermochten. Zwar war die französische Okkupation für die preußische Bevölkerung alles in allem eine enorme Belastung, allerdings versuchte die Besatzungsmacht, offene gewaltsame Ausbrüche möglichst zu verhindern. Die Disziplin seiner Truppen war Napoleon schon während der ersten italienischen Feldzüge wichtig, immerhin diente sie nicht nur der Aufrechterhaltung der Schlagkraft der Armee, sondern garantierte auch eine effizientere Ressourcenmobilisierung in den besetzten Territorien. Eine disziplinierte Armee war in gewisser Hinsicht die Grundvoraussetzung für die effektive und geordnete Form, welche die französische Besatzungsherrschaft charakterisierte. Frühzeitig ordnete und regulierte die französische Armee das Requisitionswesen: Die preußischen Landesbehörden wurden angewiesen, ausschließlich den Lieferungsforderungen autorisierter Vertreter der Besatzungsverwaltung nachzukom-
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Siehe hierzu Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2000, S. 27 – 77, hier v. a. S. 35 – 41, hier das Zitat S. 38. 259 Zum Begriff „Widerständigkeit“ als „Entgegensetzen von Widerstand im weitesten Sinne“ siehe Silke Göttsch, Widerständigkeit leibeigener Untertanen auf schleswig-holsteinischen Gütern im 18. Jahrhundert, in: Jan Peters (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (HZ, Beiheft N. F., 18), S. 367 – 383, hier S. 369. Siehe auch dies., „Alle für einen Mann…“. Leibeigene und Widerständigkeit in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, 24), Neumünster 1991, S. 26 – 33.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
men.260 Aufgrund dieser und ähnlicher Maßnahmen waren Fälle von Korruption größeren Ausmaßes soweit bekannt eher selten. Wahllose Plünderungen und „Excesse“, also gewalttätige Ausschreitungen gegen die Bevölkerung, kamen zwar vor allem in den umkämpften Gebieten vor,261 waren aber kein Massenphänomen. Wenn es zu Übergriffen kam, wofür besonders häufig die offensichtlich weniger disziplinierten württembergischen und bayerischen Truppenverbände verantwortlich waren, griff das französische Oberkommando in aller Regel entschlossen durch.262 Im täglichen Zusammenleben zwischen Besatzern und Bevölkerung konnte es trotz der überwiegenden Disziplin der Besatzungssoldaten immer wieder zu Auseinandersetzungen kommen; besonders die Einquartierung barg „als Schnittpunkt der Lebenswelt von Bürgern und Soldaten“263 großes Konfliktpotenzial. Das Vordringen der Besatzungsmacht in den privaten Raum von Bauern wie Bürgern musste trotz der Erfahrung, die zumindest die städtische Bevölkerung mit dem eigenen, preußischen Einquartierungswesen hatte, eine nicht geringe psychische Belastung darstellen. Schlimmer und konfliktträchtiger wirkte sich jedoch der ökonomische Druck aus, der sich mit den Einquartierungen einstellte. Nach einem Tagesbefehl der Großen Armee „sollten Einwohner den bey ihnen im Quartier stehenden MilitairPersonen Salz, Licht und Feuerung geben“. Die ebenfalls zu stellenden Lebensmittelrationen setzten sich aus Brot, Suppe, Fleisch, Gemüse oder Reis, Wein, Branntwein und Essig zusammen. Waren die „Wirte“, wie die Quartiergeber genannt wurden, außerstande, das Geforderte zu liefern, dann sollten, so hieß es weiter, „die Vorsteher der Communen (…) dafür (…) sorgen, daß dem etwaigen Mangel an diesen Gegenständen abgeholfen werde“.264 In den Städten, wo in der Regel alle Schichten von den Einquartierungen betroffen waren,265 wurden die Soldaten 260
Siehe „Militair-Verwaltung, Anordnung, Große Armee“, Berlin, 9. 10. 1806 (Druck). GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 6, Bl. 22 – 39. 261 Siehe hierzu u. a. Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 22. 10. 1807, Ausf. Immediatbericht Danckelmann, Elbing, 13. 11. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 348. Immediatbericht Auerswald, Königsberg, 28. 7. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 347. Siehe auch ebd., Nr. 382. Ibbeken, Preußen, S. 99 f. Bekanntheit erlangte die sogenannte „Exekution zu Kyritz“, für die sich Clarke später verantworten musste. Siehe hierzu Hermann Granier, General Clarke und die Exekution von Kyritz im April 1807, in: FBPG 19 (1906), S. 231 – 239, hier passim. 262 Siehe hierzu Clarke an Berthier, Berlin, 5. 8. 1807. Victor an Napoleon, Berlin, 15. 9. 1807. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 1. 11. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 5, 10, 20, S. 10 f., 19, 42. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 385 – 387, 531. Ibbeken, Preußen, S. 97. Besonders Beguelin lobte in Briefen an Gneisenau die Disziplin der Franzosen (Berlin, 11.8. und 29. 8. 1807 und ohne Datum). Pick, Noth, S. 112, 117. 263 Carl, Besatzungsherrschaft, S. 59. 264 Tagesbefehl der Großen Armee, Elbing, S. 24. 8. 1807 (Druck). GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 341, Bl. 68 – 69, hier die Zitate Bl. 68. Zu den Lebensmittelrationen siehe auch Immediatbericht Massow, Breslau, 11. 11. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 353, Bl. 28 – 29v. 265 Siehe für die Erfahrungen des Adels mit den Einquartierungen Wilhelm Ludwig Victor Graf Henckel von Donnersmarck, Erinnerungen aus meinem Leben, Zerbst 1846, S. 70. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 294. Friedrich Meusel (Hrsg.), Friedrich August von der Mar-
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meistens aus den örtlichen Magazinen mit Lebensmitteln versorgt, deren Verteilung eigens dazu eingerichtete Büros organisierten.266 Wie in Berlin so wurde auch in Breslau und womöglich auch in den meisten anderen preußischen Städten zur Finanzierung der Einquartierungskosten besondere Abgaben wie eine Vermögen- oder Eigentumsteuer erhoben.267 Um sich diesen Steuerforderungen wie überhaupt den Einquartierungslasten zu entziehen, verließen zahlreiche Einwohner ihre Heimatstädte und verschlimmerten dadurch die Lage der Zurückgebliebenen.268 Die Bauern dürfte es noch härter als die Stadtbevölkerung getroffen haben. „La classe qui souffre le plus aujourd’hui est celle des paysans, attendu que la majeure partie de l’armée est cantonnée dans les villages et nourrie par eux“269, war auch Victor Anfang Oktober 1807 in einem Schreiben an Napoleon überzeugt. Hier auf dem platten Land waren die meisten französischen Soldaten einquartiert.270 Zusätzlich erschwert wurde das Schicksal der Landbevölkerung durch die Requisitionsund Kontributionslieferungen sowie die mangelnde disziplinarische Aufsicht der militärischen Führung über die verteilt in den Dörfern liegenden Abteilungen. Die Zahl der gewaltsamen Zwischenfälle war im ländlichen Raum wohl dementsprechend hoch, doch lassen sich klare Aussagen aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht treffen. Für die Städte, allen voran für Berlin, existieren hingegen aussagekräftige Dokumente der französischen Sicherheitsbehörden, die Aufschluss über Auseinandersetzungen zwischen Einquartierten und Wirten geben. Insbesondere wegen Forderungen, die von den Quartiergebern nicht erfüllt werden konnten, kam es zu, mitunter auch gewaltsamen, Zwischenfällen. Opfer waren vor allem Frauen, die mit der Haushaltsführung betraut waren.271 Die Zusammenziehung einzelner Divisionen in Truppenlagern im Sommer 1808 bedeutete für große Teile der Bevölkerung eine Erleichterung von der Einquartierung.272 Ab 1809 waren nur die Einwohner der besetzten Oderfestungsstädte und witz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, 2 Bde., Berlin 1908/1913, hier Bd. 1, S. 457 f. Mieck, Reformzeit, S. 428. 266 Siehe beispielsweise für Breslau Wiedemann, Breslau, S. 155, 171. 267 Für Breslau siehe ebd., S. 140. 268 Siehe hierzu Service-Kommission Stettin an die Friedensvollziehungskommission, Stettin, 26. 3. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 680, Bl. 3 – 6. Auch Erler, Schlesien, S. 57. 269 Victor an Napoleon, Berlin, 2. 10. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 10, S. 20. Auch in den Zeitungsberichten der Friedensvollziehungskommission wurde wiederholt auf die besonders drückende Lage der Bauern hingewiesen. Siehe u. a. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 2. 2. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 385, Bl. 226. 270 Zur Verteilung der Einquartierungen zwischen Stadt und Land siehe die Beispiele für verschiedene Kreise in Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 450 – 474. 271 Siehe beispielsweise Polizeirapport, (Berlin), 20.9., 20.10., 6.11., 7. 11. 1807 und 13. 1. 1808, Abschrift. Ebd., IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 31, Bl. 3 – 3v, 21 – 21v, 33 – 34, 77v–78. Hier auch weitere Berichte solcher Art. Auch Polizeirapport, (Berlin), 6.11., 7.11. und 11. 11. 1806, Abschrift. Ebd., Nr. 29, S. 2 f., 12. 272 Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 493 – 500. Wiedemann, Breslau, S. 206.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
einiger Dörfer, die an den Verbindungsstraßen lagen, noch unmittelbar von Einquartierungen betroffen. Entlang dieser Straßen kam es jedoch in den nächsten Jahren wiederholt zu schweren Übergriffen.273 Eine völlige Befreiung von fremder Gewalt stellte sich mithin im gesamten Staatsgebiet zu keinem Zeitpunkt ein. Aber nicht nur Konflikte bestimmten das Verhältnis der Bevölkerung zu den Besatzern. Freundschaftliche Beziehungen bis hin zu Hochzeiten zwischen Franzosen und preußischen Frauen waren keine Seltenheit.274 In Berlin bestand vorwiegend zwischen Vertretern der Oberschicht und den französischen Offizieren ein intensiver gesellschaftlicher Austausch.275 Nicht nur vermeintliche oder tatsächliche „Franzosenfreunde“ wie der Fürst von Hatzfeld oder Zastrow, der seine Tochter mit einem Franzosen verheiratete,276 pflegten gute Kontakte zu den Besatzern. Selbst Friedrich de la Motte Fouqué, der später begeistert an den Befreiungskriegen teilnahm, erinnerte sich noch in seinen Memoiren an einen „fröhlichen Altfranzosen“, mit dem ihn noch zwanzig Jahre nach der Besetzung eine Brieffreundschaft verband.277 Es wurde bereits auf die desaströse Lage der östlichen Provinzen zu Ende des Krieges hingewiesen.278 Obwohl die weiter westlich gelegenen Teile der Monarchie weniger unter den direkten Kriegseinwirkungen gelitten hatten, war dort die ökonomische Situation in Folge der Okkupation und ihrer Begleiterscheinungen katastrophal; schwerwiegend wirkte sich auch hier die Inflation aus. Der Wertverlust der Scheidemünzen und der Tresorscheine vernichtete erspartes Kapital und führte zu einer Preissteigerung für Bedarfsgüter,279 woraus Verarmung und Hunger resultier273 Siehe hierzu Verpflegungskommission der Festung Stettin an L’Estocq, Stettin, 18. 3. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 168. Goltz an St. Marsan, Berlin, 31. 10. 1809, Konzept, abgeg. 31.10. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 484. Auch den Faszikel ebd., Nr. 482. Le Coq an St. Marsan, Berlin, 4. 10. 1809. Stern, Abhandlungen, S. 296 f. 274 Siehe hierzu Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 20. 3. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 65, S. 175. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 708 – 710. Ibbeken, Preußen, S. 97. Hochzeiten sind ein häufig anzutreffendes Phänomen in Besatzungssituationen. Siehe hierzu für den Siebenjährigen Krieg Carl, Herrschaft, S. 346. 275 Siehe hierzu Beguelin an Gneisenau, Berlin, 2. 6. 1808. Pick, Noth, S. 118. Friedrich v. Raumer, Lebenserinnerungen und Briefwechsel, 2 Bde., Leipzig 1861, hier Bd. 1, S. 90 f. Granier, Franzosen, S. 21. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 711 – 720. 276 Siehe Pick, Noth, S. 116. Ibbeken, Preußen, S. 103. 277 Siehe Friedrich de la Motte Fouqué, Lebensgeschichte des Baron Friedrich de la Motte Fouqué. Aufgezeichnet durch ihn selbst, Halle 1840, S. 283, hier auch das Zitat. Auch Agnes v. Gerlach an Marie v. Raumer, Berlin, 30. 10. 1806, wo es heißt, der einquartierte Soldat sei ein „homme aimable et poli“. Schoeps, Not, Nr. 33, S. 349. 278 Siehe Kap. B. VI. 279 Zur wirtschaftlichen Lage siehe auch Münchow-Pohl, Reform, S. 56 f. Selbst Clarke beklagte die Lage der Bevölkerung, die in Berlin immer häufiger zu Suiziden führe. Siehe Clarke an Napoleon, Berlin, 24. 7. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 3, S. 7 f. Über die Teuerung berichten u. a. Scharnhorst an Wilhelm von Scharnhorst, (Memel), 13. 10. 1807. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 4, Nr. 369, S. 694. Landrat von Weiher an Borgstede, Lauenburg (Pommern), 10. 10. 1807. „Aus dem schlesischen Hauptzeitungsbericht pro Oktober 1807“, Breslau, 17. 11.
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ten. Zum Leidwesen der Bevölkerung blieben die Getreidepreise aufgrund der allgemeinen Verteuerung im Durchschnitt hoch und dass trotz eines Mehrangebots auf den heimischen Märkten in Folge der Kontinentalsperre.280 Berichte über die gestiegenen Lebensmittelpreise finden sich für die gesamte Zeit der Okkupation. In Berlin kam es wegen der Brotpreise im April und Mai 1808 sogar zu größeren Unruhen vor Bäckerläden.281 Die Behauptung, dass niedrige Getreidepreise insgesamt zu einer Verbilligung von Lebensmitteln in Deutschland geführt hätten und daher für die Jahre der napoleonischen Kriege nicht von einer Krisenzeit gesprochen werden könne,282 hält einem Vergleich mit den Quellen zumindest für Preußen in den ersten Jahren nach 1806 nicht stand. Besonders dramatisch gestaltete sich die Situation der entlassenen Staatsdiener, die in Verwaltungszweigen angestellt gewesen waren, die der Okkupationsmacht nicht nutzten.283 Während diese Beamte von einem Tag auf den anderen vollkommen mittellos waren, erhielten Pensionäre, Invalide und Witwen wenigstens von Zeit zu Zeit geringe finanzielle Zuwendungen von den französisch kontrollierten Verwaltungsbehörden;284 auch die Armenkassen wurden von der Besatzungsmacht dürftig alimentiert. Die französischen Zahlungen (meist in fast wertlosen Tresorscheinen) reichten aber nicht annähernd aus, um die stetig steigende Zahl der Mittellosen zu versorgen.285 „[A]ch welche Erinnerungen, welche Gefühle beim Anblick so vieler Vernachlässigung, Verwilderung, Beraubung – die vielen Bettler in der Stadt, (…) 1/2 der Einwohner rangirt unter den Verarmten“286, beschrieb Vincke im knappen Tagebuchstil seine Eindrücke von Potsdam im Jahr 1808. Unter den fehlenden Absatzmöglichkeiten im Ausland und der schwachen Kaufkraft im Innern litt auch das Fabriken- und Manufakturwesen, das bereits durch das nahezu unkontrollierte Einströmen polnischer, sächsischer, westfälischer und französischer Produkte unter Druck stand.287 Deutlich werden die negativen Folgen der Okkupation und der handelspolitischen Auflagen an der Entwicklung der Ber1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 48, 54, S. 201 f., 211. Magnus von Eberhardt (Hrsg.), Aus Preussens schwerer Zeit. Briefe und Aufzeichnungen meines Urgroßvaters und Großvaters, Berlin 1907, S. 64. 280 Anstatt vieler siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 6. 3. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 60, S. 160. Münchow-Pohl, Reform, S. 111. 281 Siehe hierzu anstelle vieler Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 390 – 396. 282 So Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 492 f. 283 Siehe hierzu die Schilderungen im Polizeirapport, (Berlin), 28. 9. 1807, Abschrift. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 31, Bl. 8v. 284 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 692 – 701. Münchow-Pohl, Reform, S. 118 f. Auch Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 23. 6. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 387, Bl. 207. Kabinettsorder an Lützow, Memel, 8. 1. 1808. Vaupel, Reorganisation, Nr. 101, S. 241 f. Zur bedrohlichen Lage des Potsdamer Waisenhauses in jenen Jahren siehe Agnes v. Gerlach an Marie v. Raumer, Berlin, 28./29. 1. 1808. Schoeps, Not, Nr. 36, S. 351. 285 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 425 – 449. 286 Behr, Tagebücher, Bd. 5, S. 270 f. 287 Zur Lage der Fabriken und Manufakturen siehe auch Münchow-Pohl, Reform, S. 116 f.
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liner Woll-, Baumwoll- und Seidenherstellung. Zwischen 1803 und 1809 verringerte sich die Zahl der Webstühle in der Wollfabrikation von 1465 auf 858, in der Seidenindustrie von 1805 bis 1809 von 2123 auf 1095 und in den Baumwollmanufakturen im selben Zeitraum von 4421 auf 2501.288 Die einzelnen Gewerbe, die wie das Lieferantenwesen von der Okkupation profitierten,289 hellen dieses insgesamt düstere Bild einer wirtschaftlichen Krise kaum auf. Um die Landwirtschaft war es kaum besser bestellt als um die produzierenden Gewerbe. Die Requisitionsforderungen und die Fouragelieferungen an die französische Armee vernichteten ganze Ernten samt des Saatguts, so dass zahlreiche Felder unbestellt blieben.290 Viele kontributionspflichtige Bauern, die, wie erwähnt, die Hauptlast der Besetzung trugen, gaben auch deshalb ihre Höfe auf.291 Ein Beispiel für die desaströse Wirtschaftslage eines Gutsbetriebs bietet das Gut Friedersdorf, das Friedrich August von der Marwitz gehörte und noch vergleichsweise glimpflich den Krieg und die Okkupation überstand: Allein die Kriegs- und Kriegsfolgekosten machten in den Jahren von 1806 bis 1808 rund 7000 Taler aus; dies war deutlich mehr als der Ertrag des Gutes in einem ergiebigen Jahr.292 Solche Einzelfälle können das Gesamtbild nur illustrieren; Ausnahmen mag es immer gegeben haben. Während etwa das eine Gut von Truppendurchzügen verschont geblieben sein mochte und die Bewirtschaftung ihren regulären Gang nahm, konnten nur wenige Kilometer entfernt ganze Landstriche verheert und die ökonomische Basis von Gutsherrn wie Bauern vernichtet worden sein. „Die Menschen hatten in dem Zeitraum der Anwesenheit der Franzosen (…) körperlich und geistig vielfach gelitten“293, beschrieb Bassewitz in seiner umfassenden Darstellung der Geschichte der Kurmark die Folgen der Okkupation für das Leben der preußischen Bevölkerung. Während das Ausmaß des psychischen Leidens 288
Siehe Mamroth, Staatsbesteuerung, S. 18. Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 7. 11. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 21, S. 47. Schönbeck, Landtag, S. 34. 290 Zur Lage der Landwirtschaft siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 6. 12. 1807 und 4. 1. 1808. Immediatbericht Gerlach, Berlin, 20. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 29, 40, 54, S. 74 f., 100, 143. Siehe exemplarisch auch die Eingabe des Gutsbesitzers von der Reik an den Landrat des Havelländischen Kreises (Balin, 22. 7. 1808). BLHA, Rep. 6 A, Nr. 812, Bl. 13 – 14. Auch Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 659 – 664. Ibbeken, Preußen, S. 92. Über die fatalen Folgen der Fourage berichtete die Friedensvollziehungskommission u. a. in ihrem Zeitungsbericht, Berlin, 2. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 48, S. 123. 291 Siehe hierzu Landrat Diethard an Borgstede, Coelpin bei Rutz (Neumark), Ausf. Borgstede an Landrat Diethard, Küstrin, 6. 5. 1808, Konzept, abgeg. 8. 5. 1809. Kientz an Diethard, Glambeon, 16. 4. 1807, Abschrift. GStA PK, I. HA, Rep. 146, Nr. 544, Bl. 1, 2 – 2v, 3 – 4. Immediatbericht Massow, Breslau, 29. 9. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 353, Bl. 16 – 17v. Provinzialminister Schroetter an Goltz, Königsberg, 9. 9. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 347. 292 Siehe Frie, Marwitz, S. 137. Hier auch interessante Ausführungen zu den Reaktionen der Gutsbesitzer (S. 140 f.). 293 Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 403. 289
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heute kaum mehr messbar ist, lassen sich die physischen Auswirkungen von Krieg und Besetzung anhand von Zahlen festmachen: Die Sterblichkeit war in nahezu allen Teilen der Monarchie im Vergleich zu der Zeit vor 1806 deutlich gestiegen.294 Der Grund dafür waren nicht primär die Kriegshandlungen, sondern vorrangig Hunger und Krankheiten. So starben in Berlin zwischen 1807 und Ende 1808 6225 Menschen mehr als geboren wurden; weitere 3540 verließen die mit besonders zahlreichen Einquartierungen belastete Stadt.295 Im äußersten Osten, im Königsberger Regierungsdepartement, ging die Zahl der Einwohner um 91 492 Menschen zurück,296 wobei hierzu auch einige Personen zählten, die die Provinz etwa in Richtung des benachbarten Herzogtums Warschau verließen. Solche dem Krieg und dessen Folgen geschuldeten Migrationsbewegungen gab es sicherlich auch in Schlesien, dessen Bevölkerungsverlust Massow Ende 1808 auf 138 299 bezifferte.297 In den Akten des Königs fand sich auch eine statistische Übersicht über die Bevölkerungsentwicklung der gesamten Monarchie. Danach lebten vor dem Krieg 4 825 169 Menschen in den Provinzen, die 1807 bei Preußen verblieben waren, während es 1808 noch 4 559 306 waren. Der Verlust betrug demzufolge 265 863 Menschen.298 Natürlich sind die statistischen Angaben nicht zu hundert Prozent zuverlässig, dass aber die Bevölkerungszahl auch aufgrund einer gestiegenen Sterblichkeit deutlich zurückgegangen sein muss, belegen auch Berichte aus einzelnen Dörfern und Ortschaften.299 Es drängt sich die Frage auf, wie die Bevölkerung auf ihre verheerende Lage reagierte? In der Forschungsliteratur wird die Grundstimmung vorwiegend als „passiv-resignativ[]“ beschrieben.300 Die Quellen zeigen jedoch, dass die Bewohner 294 Allgemein zur gestiegenen Mortalität siehe Zeitungsbericht Königsberger Kammer, Königsberg, 1. 9. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 15738, Bl. 11. Immediateingabe der Gutsbesitzer des Oberlandes Westpreußens, s. l., 15. 8. 1807. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 341, Bl. 42 – 42v. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 403 f. Münchow-Pohl, Reform, S. 51. 295 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 314, 404 f. 296 Siehe hierzu „Summarische Nachweisung sämtlicher Einwohner des Königsbergischen Regierungsdepartements von 1809“, (Königsberg), (1809), Ausf. GStA PK, XX. HA, Rep. 2, I, Tit. 36, Nr. 6, Bl. 28v. Zum Bevölkerungsverlust durch Krankheit im Gumbinner Kammerdistrikt siehe Litauische Kammer an den Oberpräsidenten, Gumbinnen, 3. 2. 1809, Abschrift. Ebd., Nr. 7, Bl. 11 – 12v. Auch für Westpreußen lässt sich ein Rückgang der Bevölkerungsdichte in den Jahren von 1806 bis 1813 beobachten. Siehe Klaus von der Groeben, Provinz Westpreußen, in: Gerd Heinricht/Friedrich-Wilhelm Henning/Kurt Jeserich (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815 – 1945. Organisation – Aufgaben – Leistungen der Verwaltung, Stuttgart 1993, S. 261 – 348, hier S. 265. Auch Westpreußische Kammer an das Preußische Departement, Marienwerder, 28. 11. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 94, Nr. 11, Bd. 1, Bl. 7 – 8. 297 Siehe Massow an Voß, Breslau, 15. 12. 1808. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 78, S. 254. 298 Siehe „Übersicht über die Bevölkerung des Preußischen Staats für das Jahr 1809“, s. l., (1809), Ausf. GStA PK, VI. HA, NL Preußen, Friedrich Wilhelm III v., B VIIa, Nr. 9, Bl. 40. 299 Siehe hierzu die Schilderungen in den Kirchenchroniken von Leuenburg und Gallingen in Hollack, Nachrichten, S. 63, 68. Auch Staegemann an seine Frau, Memel, 22. 8. 1807. Rühl, Briefe, Bd. 4, Nr. 24, S. 28 f. Frie, Marwitz, S. 140. 300 Siehe Ibbeken, Preußen, S 99. Münchow-Pohl, Reform, S. 53 f., hier das Zitat S. 53.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
der besetzten Gebiete, weder in den Städten, noch auf dem Land, derart indulent waren. Dass es nicht zu regelrechten Aufständen gegen die Besatzer kam, wie beispielsweise in Ostfriesland während des Siebenjährigen Kriegs,301 verstellte den Blick für die vielfältigen Formen von Widerständigkeit, die sich nicht nur und nicht einmal vorwiegend gegen die Besatzer, sondern gerade auch gegen die lokalen preußischen Autoritäten richteten. Ein solches Verhalten war die direkte Folge der gestiegenen sozialen und ökonomischen Spannungen, die sich auch politisch zu entladen drohten. Auf die Konflikte, die sich aus der Einquartierungssituation ergaben, wurde bereits hingewiesen. In einigen Städten und Orten war das Ausmaß der Belastungen so groß, dass sich die Einwohner gegen die fremden Soldaten solidarisierten. Die französischen Berichte aus Berlin schildern wiederholt Aufläufe und Tumulte, deren Auslöser oftmals Übergriffe einzelner Besatzungssoldaten auf ihre Quartiergeber waren.302 Auch in Schlesien kam es wegen unerfüllbarer Forderungen der Einquartierten zu Zusammenstößen zwischen Besatzern und Bauern. Nachdem die Bauern für ihren Widerstand eine Haftstrafe erhielten, versammelten sich die Schulzen einiger Gemeinden verschiedener Kreise, um in einer gemeinsamen Petition den König um Hilfe zu bitten. Die Breslauer Kammer sah in diesem Aktionismus eine Gefahr für die fragile Ordnung und befahl den verantwortlichen Landräten, Versammlungen dieser Art künftig konsequent zu unterbinden.303 Mit Fortdauer der Besetzung schien sich die Stimmung unter der Bevölkerung, vor allem unter den untätigen Beamten und Militärs, zunehmend verschlechtert zu haben: „L’esprit public a beaucoup perdu depuis quelque temps et perd journellement. Il n’y a pas de doute qu’il n’y aît des meuneurs parmi le peuple, notamment les officiers prussiens, tant civils que militaires qui se trouvent ici oisifs (…) – Ils font courir de faux bruits en abondance tant à Berlin qu’en Silésie.“304
Anfang Dezember 1808 genügte schon die Ankündigung einer Einquartierung durch zwei französische Reiter, dass im kurmärkischen Strausberg „unter dem Pöbel ein Tumult [entstand], in welchen die beiden Courrire mit Steinen geworfen (!) und zur Stadt herausgebracht wurden“.305 Etwa zur selben Zeit versuchten französische Sanitätsoffiziere, im pommerschen Köslin Quartier zu beziehen. Nachdem es dort 301
Siehe hierzu Carl, Herrschaft, S. 341. Siehe Polizeirapport, (Berlin), 20.10., 1.11. und 1. 12. 1807, Abschrift. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 31, Bl. 21 – 21v, 30v, 50v–51. 303 Siehe Erler, Schlesien, S. 44. 304 Polizeikommandant Lauer an Berthier, Berlin, 23. 7. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 110, S. 278. 305 Siehe Kurmärkische Kammer an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 16. 12. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 168, Bl. 74 – 75, hier das Zitat Bl. 74. Ein ähnlicher Zwischenfall ereignete sich in Driesen. Siehe „Telegraph“, Nr. 318, 14. 11. 1808. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 411, Bl. 72. 302
IV. Die Okkupationserfahrung: Ordnungsverlust und Ordnungssuche
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zunächst zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und zufällig anwesenden Offizieren des untergegangenen Bataillons von Schill gekommen war, versammelte sich eine Menschenmenge und trieb die Soldaten aus der Stadt.306 Zu solchen Zusammenstößen, die sich auch in anderen Dörfern und Städten ereigneten,307 kam es offenbar nur, wenn wenige französische Soldaten vor Ort waren, denn nur dann konnte sich die angestaute Wut relativ gefahrlos entladen. Gegen die zahllosen Exekutionen französischer Kommandos wehrte sich die Bevölkerung hingegen kaum.308 Die Eintreibungsaktionen fanden oft mit Billigung der ständischen Komitees und der Kammern statt,309 die bestrebt waren, die französischen Forderungen zu erfüllen. Es waren denn auch diese Obrigkeiten, die den Unmut der Betroffen auf sich zogen. Der Kammerpräsident und Generalzivilkommissar Leopold v. Gerlach präsentierte im Februar 1808 der Friedensvollziehungskommission Berichte der Berliner Polizeibehörden, die vor den „Klagen und [der] Unzufriedenheit des hiesigen Publikums, besonders des ärmeren Theils“ warnten.310 „Eine allgemeine, laute Unzufriedenheit äussert sich jetzt über unsere Obrigkeit“311, hatte schon im Oktober 1807 der Professor Johann Gottfried Karl Christian Kiesewetter aus der Hauptstadt berichtet. Der wachsende Dissens zwischen Einwohnern und Stadtobrigkeit führte in Breslau gleich mehrfach zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Erhebung einer Abgabe für die Einquartierungskasse unter den Knechten, Gesellen und Fabrikarbeitern stieß 1808 auf energischen Widerstand. Arbeiter der Kattunfabriken, die gefordert hatten, dass ihre Vorgesetzten anstatt ihrer die Zahlungen leisten sollten, 306
Siehe Bericht des Bürgermeisters Braun, Köslin, 28. 11. 1808, Abschrift. Pommersche Kammer an Friedensvollziehungskommission, Stettin, 1. 12. 1808, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 72, Nr. 168, Bl. 49 – 52. 307 Siehe u. a. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 28. 11. 1808, Konzept, abgeg. 29.11. St. Hilaire an Friedensvollziehungskommission, Berlin, 30. 11. 1808, Ausf. St. Hilaire an Voß, s. l., o. D., Ausf. Ebd., Bl. 22 – 23, 24, 40. Hier auch die „Untersuchungs-Acten wider des Policey-Directorium und der Policey-Offizianten zu Brandenburg“ (Bl. 242 – 266). Auch den Faszikel „Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und preußischen Offizieren in Goddentau bei Lauenburg“ in ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 470. 308 Solche Exekutionen fanden in sehr großer Zahl statt. Siehe u. a. Immediatbericht Dohna, Marienwerder, 10. 10. 1808, Ausf. Ebd., Nr. 345, Bl. 80 – 80v. Haupt-Zeitungs-Bericht der schlesischen Kammer, Breslau, 18. 12. 1807, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 89, Nr. 15738, Bl. 40. Friedensvollziehungskommission an Daru, Berlin, 2. 9. 1807, Abschrift. Ebd., Nr. 370, Bl. 1 – 1v. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 16. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 51, S. 138. Zum Begriff der „Exekution“ siehe Kap. E., Fn. 206 und 207. 309 Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 74. Siehe daher auch die zahllosen Beschwerden über Exekutionen, die in Pommern und der Neumark auch gegen die Kammern gerichtet waren, in GStA PK, I. HA, Rep. 146, Nr. 65. 310 Siehe Königliches Polizeidirektorium an Gerlach, Berlin, 27. 2. 1808, Abschrift. Ebd., Rep. 72, Nr. 78, Bl. 47 – 47v, das Zitat Bl. 47. 311 Siehe Kiesewetter an Stägemann, Berlin, 26. 10. 1807. Rühl, Briefe, Bd. 1, Nr. 15, S. 21.
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D. Das Besatzungsregime: Dispensierte innere Souveränität
wurden gleich verhaftet. Gleiches widerfuhr einigen Gesellen, weil sie sich zu „Deliberationes“ versammelt hatten. Aus Protest gegen die neue Steuer verweigerten die Schuhknechte schließlich die Arbeit und verließen unter Protest die Stadt.312 Schon wenig später führte die Veröffentlichung der Schrift „Anleitung zu der ökonomischen Bereitung nahrhafter und gesunder Speisen bei herrschender Theurung“ durch die Kammer dazu, dass „eine Menge Volks aus dem niedern Pöbel, Preuß. Soldatesca mit ihren Weibern aus den Casernen, Handlanger, Taglöhner und ander Gesindel vor dem Rathhaus versamblet, umb die öffentliche Ruhe zu stören und Magistratum zu beleidigen, wobei die Köpf bald so erhizt worden, daß man mit Steinen und Koth in das Rathhaus geworfen, endlich gar den Geheimen Rath u. ersten Polizey Directorem (…) thätlich angefallen, mit Steinen u. Koth beworfen und leztlich gar geprügelt, so daß solcher einige leichte Blessuren erhalten (!).“
Dieser Aufruhr, berichtete ein Chronist, sei von entlassenen Soldaten weiter angeheizt worden. Grund für die allgemeine Entrüstung war das Gerücht, dass die Kammer mit der Publikation die Einwohner der Stadt zum Essen von Abfällen hätte anhalten wollen. Erst als französische Soldaten aufmarschierten, einige Personen in Gewahrsam genommen und Wachen vor dem Rathaus postiert wurden, kehrte wieder Ruhe in der Stadt ein.313 Die Kooperation mit den französischen Besatzern dürfte die städtischen Autoritäten allerdings nur noch weiter diskreditiert haben. Auch in anderen schlesischen Städten gab es erhebliche Spannungen zwischen den Einwohnern und dem Magistrat.314 Die Bewohner Oppelns waren etwa wegen der hohen Abgaben und vor allem aufgrund der „ungleiche[n] und willkürliche[n] Vertheilung dieser Lasten“ unzufrieden. Eine Delegation von Bürgern machte daraufhin Vorschläge, wie die erforderlichen Summen aufgebracht werden könnten. Außerdem forderten sie vom Magistrat, den sie verdächtigten, die eingezogenen Gelder zu veruntreuen, Einsicht in die Kassenführung nehmen zu dürfen. Schlussendlich mussten die Stadtoberen in die Wahl einer Kommission durch die Bürgerschaft einwilligen, die künftig die Verwaltung der Einquartierungsgelder übernehmen sollte. Offensichtlich war der Magistrat aber nicht ohne weiteres dazu bereit, das selbstbewusste Auftreten der Bürger und die Beschneidung der eigenen Kompetenzen hinzunehmen. Der Bürgerschaft wurde vorgeworfen, „wenig Patriotismus und wenig Zutrauen gegen die Obrigkeit bewiesen“ und auch nach der Einigung über die Kassenaufsicht geheime Zusammenkünfte abgehalten zu haben. Wegen des Misstrauens sei schließlich „bey imer (!) fortdauernden Kriegslasten endlich eine firmliche überdachte und vorsätzliche Revolution ausgebrochen.“ Um diese angebliche „Revolution“ zu verhindern, habe man die Rädelsführer auf die Festung Kosel verbracht, hieß es in einer Erklärung des Magistrats. Das Breslauer Krimi-
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Siehe hierzu Wiedemann, Breslau, S. 204 f, 207, 209 f., das Zitat S. 205. Siehe ebd., S. 218 – 220, hier das Zitat S. 218. Siehe hierzu Ziekursch, Städteverwaltung, S. 141 – 143. Erler, Schlesien, S. 43.
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nalkollegium bewertete die Geschehnisse jedoch anders und hob die Strafen nach einigen Monaten wieder auf.315 Im Konflikt mit dem Magistrat offenbarte sich ein Streben nach Selbstbestimmung der Bürgerschaft, das sich bereits im auslaufenden 18. Jahrhundert in verschiedenen Städten zu regen begann,316 das aber vor dem Hintergrund der ökonomischen Ausnahmesituation der Okkupationszeit einen deutlichen Schub erfuhr. Ein weiteres Zeugnis eines solchen ausgeprägten Eigenständigkeitssinns einer Bürgerschaft bietet das neumärkische Züllichau. Hier hatten die Bürger und der Magistrat in einer Zeit, als „die Königliche Kammer uns unserem Schicksal überließ“, gemeinsam die Aufbringung der Kontributionssätze der Stadt organisiert. Nun verlange aber die örtliche Zoll- und Akzisedeputation die Ausschreibung einer Gewerbesteuer, deren Erhebung bedeutende Verwaltungskosten mit sich bringen würde, beklagte die Bürgerschaft in einem Schreiben an den Generalzivilkommissar Borgstede. Sei man früher schon in der Lage gewesen, die Kontributionslasten selbstständig aufzubringen, hieß es weiter, „so darf man uns auch jetzt zutrauen, daß wir Localkenntniß, Uneigenützigkeit und guten Willen besitzen, um auch ohne Einmischung (…) die Abtragung der Zinscen und Successvie des Kapitals selbst zu dirigieren (!)“.317 Der Magistrat sprang den Bürgern bei und beklagte überdies die ungerechte Verteilung der Kontributionen, die auf dem letzten Landtag von der Mehrheit der Rittergutsbesitzer beschlossen worden sei und die Städte übermäßig belaste. Hinsichtlich der Steuer gab die neumärkische Kammer schließlich nach und gestattete auf provisorischer Basis die Erhebung einer eigenen Konsumtionssteuer in Züllichau. Die Kammer wagte aber nicht, sich gegen die Ritterschaft zu stellen und blieb bei den alten Kontributionssätzen für die Stadt. Züllichau sah sich nach einiger Zeit vollkommen außerstande, den hohen Kontributionsforderungen weiterhin nachzukommen. Auf die Beschwerde des Magistrats über die deshalb vom ständischen Komitee angedrohte Exekution antwortete Borgstede, der immerhin die staatliche Aufsichtsinstanz für die Stände war, lakonisch, es sei nicht an ihm, Züllichau von solchen
315 Siehe Kriminalgutachten gegen die Oppelnschen Bürger Joseph Heymann, Johann Wietzoreck, Carl Herrmann und Beissert des Breslauer Kriminalkollegiums, Breslau, 25. 6. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 55946, Bl. 39 – 60, hier die Zitate Bl. 39v–40, 43v. Immediateingabe Riemer Joseph Heymann, Seifensieder Johann Wietzoreck, Fleischer Carl Herrmann, Coffetier Beissert, Brieg, 4. 10. 1808, Ausf. Ebd., Bl. 31 – 37. 316 Siehe Lieselott Enders, „Flecken“ zwischen Dorf und Stadt. Das Selbstbehauptungspotential adliger Städte in der Frühneuzeit, untersucht am Beispiel der Prignitz, in: Thomas Rudert/Hartmut Zückert (Hrsg.), Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.–18. Jahrhundert) (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft, 1), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 241 – 289, hier passim. Auf S. 287 auch mit Hinweis auf die vergleichbare Entwicklung in den Immediatstädten. 317 Siehe Bürgerschaft von Züllichau an Borgstede, (Züllichau), 22. 2. 1808. GStA PK, I. HA, Rep. 146, Nr. 77, hier auch die Zitate.
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Abgaben zu befreien.318 Offenbar widersetzten sich daraufhin die Züllichauer Bürger der exekutorischen Einziehung fälliger Feuerkassengelder.319 Die mangelnde Verteilungsgerechtigkeit, allen voran die geringe Belastung des Rittergutsbesitzes, war häufig Gegenstand von Eingaben und Beschwerden, die an die Kammern und die Generalzivilkommissariate gerichtet waren. Besonders in Pommern, wo, um eine Verschuldung der Provinz zu vermeiden, die Kontributionsund Requisitionsforderungen konsequent eingezogen wurden, klagten neben einzelnen Städten, auch ländliche Gemeinden über die hohen Kontributionssätze. Die Dorfschaften von Groß und Klein Cuedden forderten gegenüber Borgstede aufgrund der Lasten rundheraus, dass „solche mit gleichen Schultern getragen werden“320. Die Gemeinde der Dorfschaft Brietzig, die zur Gutsherrschaft des Marienstifts nahe Stettin gehörte, hatte zwar die Kriegssteuern gezahlt, war aber mit der Pacht im Rückstand und wurde daher mehrfach mit Exekutionen belegt. Die Einwohner schrieben deshalb an den König, „daß eine Grundherrschaft berechtigt ist, die Hälfte der Kriegslasten mit tragen zu helfen, da wir nicht vermögend sind, ein mehreres zu thun, als wir bisher gethan haben“.321 Von Memel aus wurde Borgstede aufgefordert, in dieser Sache zu vermitteln.322 Die Regierung in Stettin warnte aber davor, mit den Brietzigern überhaupt zu verhandeln, da ein Nachgeben in dieser Sache „gegen die übrigen Gutsbesitzer ein erhebliches praejudicium abgeben, und in Ermangelung nachdrücklicher Zwangsmittel, leicht bedenkliche Unruhen veranlassen könnte.“ Es wurde daher nur ein vorläufiger Teilerlass der Pacht angeraten.323 Nicht nur die Obrigkeiten in Pommern erkannten die soziale und letztendlich auch politische Brisanz, die gerade den vom Bauernstand geäußerten Forderungen nach einer gerechten Aufteilung der Kriegslasten innewohnte. Auf die Verhaftung mehrerer schlesischer Schulzen wurde schon hingewiesen. Auch im Ohlauer Kreis inhaftierte man verschiedene Ortsvorsteher, nachdem sich 40 von ihnen versammelt und über die unverhältnismäßige Belastung ihrer Gemeinden beschwert hatten.324 Der Landrat v. Dietherdt verlangte die harte Bestrafung der neumärkischen Gemeinde Rohrbeck, die sich der Pfändung durch einen Landreiter mit der Erklärung widersetzt hatte, dass sie „[nichts] bezahlen, und auspfänden laßen sie sich auch 318 Siehe Neumärkische Kammer an Bürgerschaft von Züllichau, Küstrin, 12. 2. 1808, Abschrift. Magistrat von Züllichau an Borgstede, Züllichau, 5. 3. 1808. Borgstede an Magistrat von Züllichau, Stettin, 15. 3. 1808, Konzept, mund. 15.3. Ebd. 319 Siehe Reskript der Neumärkischen Kammer an den Hofrichter zu Züllichau, Küstrin, 29. 8. 1808, Konzept, exped. BLHA, Rep. 3, Nr. 9707. 320 Siehe Dorfschaften Groß und Klein Cuedden an Borgstede, Stargard, 23. 10. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 146, Nr. 64, Bd. 1. 321 Siehe Immediateingabe Dorfschaft Brietzig, Brietzig, 10. 11. 1807. GStA PK, I. HA, Rep. 146, Nr. 64, Bd. 1, hier auch das Zitat. 322 Siehe Kabinettsorder an Borgstede, Memel, 25. 11. 1807, Ausf. Ebd. 323 Siehe Pommersche Regierung an Borgstede, Stettin, 5. 2. 1808, Ausf. Ebd., hier auch das Zitat. 324 Siehe hierzu Erler, Schlesien, S. 51.
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nicht, sie stünden einer für alle, und alle für einen, und diese Gelder müßte die Grundherrschaft bezahlen“.325 „Dergleichen Beyspiele, wenn sie unbestraft bleiben, verleiten mehrere Dörfer zum Ungehorsam“, warnte Dietherdt die neumärkische Kammer. Die Schulzen wurden daraufhin mit vier Tagen sowie drei Bauern mit 14 Tagen Gefängnis und dem „spanischen Mantel“ bestraft.326 Gerade in Schlesien war die Lage gespannt. Seit den 1790er Jahren war es in der Provinz immer wieder zu Bauernunruhen gekommen.327 Nun, mit dem Einmarsch der Franzosen, verweigerten die Bauern erneut in mehreren Kreisen die Dienste und Abgaben.328 Zusätzlich verschärften die anhaltend schlechte wirtschaftliche Lage und die schleppende sowie lückenhafte Bekanntgabe der Bestimmungen des Oktoberedikts den Konflikt zwischen dienstpflichtigen Hintersassen und Gutsherren. Die preußischen Behörden griffen auch in diesem Fall auf französisches Militär zurück, um den Widerstand zu brechen.329 Längst war aber das Phänomen der Dienst- und Abgabenverweigerungen nicht mehr nur auf Schlesien beschränkt oder nur eine Folge der falschen Interpretation des Oktoberedikts; auch in anderen Landesteilen häuften sich unter dem Eindruck der Besetzung die Berichte über die „Widerspenstigkeit der Unterthanen“.330 Als Grund für ihr Verhalten benannten die Bauern meist ihre wirtschaftliche Notlage, was in der Regel auch den Tatsachen entsprochen haben dürfte. Für einige Gemeinden war die Gelegenheit aber auch einfach günstig, um sich lästig empfundener Pflichten zu entledigen. Die Okkupation und der hohe ökonomische Druck, den sie mit sich brachte, schufen in Verbindung mit der Erfahrung des Zusammenbruchs der alten politischen Ordnung in den preußischen Provinzen einen Zustand latenter Unruhe. Die städtische und ländliche Bevölkerung war immer weniger dazu bereit, sich in ihr Schicksal zu fügen. Mit dem Versuch, die eigene Lage zu verbessern, wurden die grundlegenden sozialen und politischen Hierarchien sowie die tradierten Herrschaftsverhältnisse plötzlich kritisier- und verhandelbar. Die Frage, die man stellen könnte, warum es 325 Siehe das Untersuchungsprotokoll, s. l., 11. 1. 1808, Abschrift. BLHA, Rep. 3B, Abt. I Mil, Nr. 202, hier das Zitat. 326 Siehe Dietherdt an die Neumärkische Kammer, Colpin, 23. 11. 1808. Neumärkische Kammer an das Patrimonialgericht zu Rohrbeck, Küstrin, 22. 2. 1809, Konzept, exped. Ebd. 327 Siehe hierzu Ziekursch, Agrargeschichte, S. 244 – 250. Schissler, Agrargesellschaft, S. 54. 328 Siehe Ziekursch, Agrargeschichte, S. 277 – 280. 329 Siehe Kabinettsorder an Bismarck, Königsberg, 27. 8. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 247, S. 800. Kabinettsorder an Kanzler Schroetter, Königsberg, 7. 9. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 810, S. 849. Siehe auch den Faszikel „Prozeß gegen die Anführer der Bauernunruhen in Reußendorf, Schwarzwaldau, Conradswaldau und Gablau in Schlesien“. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 49595. Erler, Schlesien, S. 38 f. Ziekursch, Agrargeschichte, S. 277 – 280, 295 f. 330 Siehe hierzu u. a. BLHA, Rep. 2 A, III D, Nr. 1955. Das Zitat nach dem Schreiben des Domänenbeamten Baath an die Kurmärkische Kammer (Amt Alt-Landsberg, 24. 7. 1807). Ebd.
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jedoch nie zu einem offenen Aufstand kam, ist müßig zu beantworten, ist doch der gewaltsame großflächige Kampf gegen eine Besatzungsmacht eher die historische Ausnahme als der Regelfall; echte spontane Massenaufstände ohne Anleitung von staatlicher Seite (und wenn sie keine Propagandaerfindungen waren) fanden in keinem europäischen Land während der Herrschaft Napoleons statt.331 Die Nagelprobe auf das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Obrigkeit musste aber das Jahr 1809 liefern, als nach dem Abzug der französischen Armee die königliche Regierung wieder in weiten Teilen die volle Souveränität in der Monarchie für sich reklamierte. Bei allem Unmut über die lokalen Autoritäten ist es zugleich interessant zu beobachten, dass die Bindung der Masse der Bevölkerung zum König offenbar kaum litt, wenn nicht sogar noch gesteigert wurde. Anhand der Polizeiberichte der französischen Besatzungsmacht, die anders als die preußischen Quellen kaum unter dem Verdacht der Schönfärberei stehen, lässt sich dies mit einiger Berechtigung vermuten. So wurde nach der Darstellung der französischen Beobachter der Geburtstag des Königs am 3. August 1807 von den Berlinern offen gefeiert;332 und das obwohl ein Verbot der Besatzungsbehörden bestand, das die Illumination zahlreicher repräsentativer Bauten, der Häuser und Wohnungen von Handwerkern wie Adligen eigentlich nicht gestattete. Vor den erleuchteten Gebäuden, hieß es in einem der Berichte, hätten sich zahlreiche Menschen eingefunden, um lauthals den König zu preisen; auch eine Theatervorstellung Ifflands habe in energischen Vivatrufen geendet. Um dieses Treiben, das die französischen Stellen mit Argwohn beobachteten, zu unterdrücken, wurden gleich mehrere Personen unverzüglich in Gewahrsam genommen.333 Szenen, wie diese, die sich in Berlin zutrugen, ereigneten sich womöglich auch in anderen Städten, mit einiger Sicherheit überliefert sind sie jedoch nur noch aus Breslau.334 Am Königsgeburtstag des folgenden Jahres beachtete die Berliner Bevölkerung augenscheinlich die französischen Verbote gar nicht mehr: Feuerwerke wurde veranstaltet und Transparente an manchen Häusern angeschlagen. Der Geburtstag „occupe fortement l’esprit public“, bemerkten die Franzosen. Nach zwei Jahren der Okkupation verband sich mit den Feiern auch immer deutlicher eine offen anti-
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Für den Rhein-Mosel-Raum siehe Molitor, Untertan, S. 203, 205, 209. Molitor sprach auch von einem „Zustand labiler Ruhe“ um das Jahr 1800. Ebd., S. 176. 332 Die hier gezeigte Anhänglichkeit an den König widerspricht der Behauptung, wonach dessen Ansehen schwer gelitten habe, während das der Königin Luise gestiegen sei. So Wienfort, Monarchie, S. 171 – 175. 333 Siehe hierzu Polizeirapport, (Berlin), 4. 8. 1807, Abschrift. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 31, Bl. 59 – 63. Clarke an Napoleon, Berlin, 5. 8. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 6, S. 11. Siehe auch Stein, der an seine Frau schrieb: „[D]ie Anhänglichkeit der Nation an ihren Landesherren bleibt groß“. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 716, S. 746. Über stille Feiern zu Ehren der Königin berichtete Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 750 – 752. 334 Siehe Wiedemann, Breslau, S. 158. Erler, Schlesien, S. 38.
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französische Grundhaltung.335 So sei in einem Park eine große Menschenmenge aus allen Schichten zusammengekommen, ist im Polizeibericht des Folgetags zu lesen, die nicht nur „God Save the King“ gesungen, sondern „le nom français“ in großer Erregung beleidigt habe. Die französischen Soldaten, die ausgeschickt wurden, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, wurden angegriffen und verjagt. Erst am nächsten Tag stellte sich wieder Ruhe ein.336 Wie diese Ereignisse zeigen, führte die Erfahrung der Besatzungszeit zu einer Abgrenzungshaltung der Bevölkerung gegenüber den Besatzern und zumindest in den größeren Städten zur Entstehung einer preußischen Identität,337 die zumindest protonational genannt werden kann.338 Darauf weist auch ein Bericht des Berliner Polizeipräsidenten Büsching aus dem Spätsommer 1807 hin. Darin registrierte Büsching mit einigem Erstaunen, dass man in der Bevölkerung angefangen habe, eine schwarz-weiße „Preußische National Kokarde“ zu tragen. Büsching befahl seinen Kommissaren und Agenten unverzüglich, diese sofort wieder abzulegen; „um allen Unfug, welcher etwa dadurch verursacht werden könnte, vorzubeugen“, sollten andere Personen, die ein solches Abzeichen weiterhin trugen, vorsichtig darauf hingewiesen werden, sich genauso zu verhalten.339 Die Okkupation war Auslöser von „politischen Erfahrungsschüben“,340 die die gesamte preußische Gesellschaft nach 1806 erfassten341 und Elemente eines facettenreichen Politisierungsprozesses waren. Da es an einer allgemein akzeptierten Definition des Begriffs „Politisierung“ mangelt,342 wird an dieser Stelle eine eigene 335 Mieck machte die französische Besatzungspolitik verantwortlich für einen „tiefsitzenden Franzosenhaß“. Siehe Ilja Mieck, Große Themen der preußischen Geschichte, in: Neugebauer, Handbuch, Bd. 1, S. 411 – 851, hier S. 672. 336 Siehe Polizeirapport, (Berlin), 3.8., 4.8. und 8. 8. 1808, Abschrift. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 33, S. (!) 90 – 91, 93 – 97, 105 f., hier die Zitate S. 90, 95. Auch in Breslau fanden 1808 solche Feiern statt. Siehe Wiedemann, Breslau, S. 225 f. 337 Siehe zur Entstehung und Existenz von spezifisch nationalen Identitäten auf der Ebene der deutschen Einzelstaaten (allerdings mit dem Fokus auf die Jahre nach 1815) Abigail Green, Fatherlands. State-Building and Nationhood in Nineteenth-Century Germany, Cambridge 2001, S. 339 f. und passim. 338 Siehe Meumann/Rogge, Besetzung, S. 21: „Zu den langfristigen Folgen (einer Besatzungssituation; S.P.) gehörte die Stiftung von Identität durch Abgrenzung von den Besatzern“. Auch Blanning stellte für das Rheinland die Entstehung eines solchen frühnationalen Bewusstseins fest. Siehe Blanning, French Revolution, S. 249 – 251. 339 Siehe Büsching an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 22. 9. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 517, Bl. 1, hier auch die Zitate. 340 Siehe hierzu Koselleck, Erfahrungswandel, S. 35 f, hier das Zitat S. 35. 341 Siehe hierzu auch Neugebauer, Untertanen, S. 161. Neugebauer erkannte in den großen Kriegen zwischen 1806 und 1815 einen wichtigen Faktor für die Entstehung eines „Gemeinschaftsbewußtseins neuer Qualität“ (ebd.). 342 Dies gilt besonders für die Geschichtswissenschaft. Siehe exemplarisch die Definitionsversuche der Politikwissenschaft in Jörg Auf dem Hövel, Politisierung der öffentlichen Verwaltung. Eine empirische Untersuchung der Stadtverwaltung Hamburg, Wiesbaden 2003, S. 21 – 23. Michael Zürn/Matthias Ecker-Erhardt (Hrsg.), Die Politisierung der Weltpolitik.
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Begriffsbestimmung vorgenommen:343 In Anlehnung an den platonischen Politikbegriff bedeutet Politisierung das Entstehen eines Interesses des Einzelnen oder größerer Gruppen am Gemeinwesen; als ein solches Gemeinwesen ist aber nicht allein ein Dorf, eine Stadt, oder eine Provinz zu verstehen, sondern die den Einzelnen umgebende politisch-gesellschaftliche Gesamtordnung; nur, wenn der Bezugsrahmen des politischen Denkens und Handelns auf diese Weise erweitert wird, wird das Besondere der preußischen Entwicklung nach 1807 deutlich. Das genuin politische Interesse, das bisher so kaum existent war, drückte sich etwa in den bereits erwähnten öffentlichen Kundgebungen der Verbundenheit der Bevölkerung mit den Repräsentanten dieser Ordnung aus, zu denen nicht allein der Monarch zählte. Als etwa im August 1808 der Bruder des Königs Prinz Wilhelm auf der Durchreise in Berlin Halt machte, führte dies zu einem „zèle patriotique“ unter den Einwohnern der Stadt. Unter dem Fenster der Unterkunft des Prinzen bekundeten die Berliner mit lauten Vivatrufen ihre Freude über die Anwesenheit eines Mitglieds der Königsfamilie in der Hauptstadt.344 Vor diesem Hintergrund sind auch die aus Sicht der Besatzer bedenklichen privaten Feiern anlässlich des Geburtstags Friedrich II. zu bewerten,345 mit denen man den berühmtesten Hohenzoller ehrte. Die Sehnsucht der Bevölkerung nach der Rückkehr des Königs nach Berlin scheint angesichts solcher emotionalen Banden keineswegs eine Erfindung Sacks und anderer Beamter gewesen zu sein.346 Die Krone war gerade in der Okkupationszeit, die als Krise erfahren wurde, ein Symbol der Stabilität und Sicherheit.347 Von der Rückkehr des Königs erwartete man geradezu auch die Wiedererrichtung einer Umkämpfte internationale Institutionen, Berlin 2013. Hier etwa der Beitrag von Michael Zürn, Politisierung als Konzept der Internationalen Beziehungen, in: Zürn/Ecker-Erhardt, Politisierung, S. 7 – 35, hier v. a. S. 13 – 23. 343 In Anlehnung an Karin Oehlmann, Die Synoden als Foren der Politisierung, in: Klaus Fitschen et al. (Hrsg.), Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, 52), Göttingen 2011, S. 61 – 76, hier S. 61 f. 344 Siehe Polizeirapport, (Berlin), 18.10. und 20. 10. 1808, Abschrift. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 33, S. 209 – 213, hier das Zitat S. 213. Die Verehrung der Königin schlug sich zumindest für die untersuchte Zeit kaum in den Akten nieder. Zur Verehrung Luises siehe Wienfort, Monarchie, S. 172 f. 345 Siehe Polizeirapport, (Berlin), 25. 1. 1808, Abschrift. GStA PK, IV. HA, Rep. 15 A, Nr. 31, Bl. 85v–86. 346 Siehe u. a. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 6. 12. 1807. Granier, Franzosenzeit, Nr. 30, S. 72. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 16. 2. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 386, Bl. 3. Gemeinhin ist bei der Beschreibung der Stimmung in der Bevölkerung seitens von Beamten Vorsicht anzumelden. Siehe hierzu Büschel, Untertanenliebe, S. 247. 347 Zur Krone als Symbol siehe u. a. Fritz Hartung, Die Krone als Symbol monarchischer Herrschaft im ausgehenden Mittelalter, in: Ders., Staatsbildende Kräfte, S. 9 – 61, hier S. 9 f. Auch Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, aus dem Amerikanischen übersetzt von Walter Theimer, Stuttgart 1992, besonders S. 344 – 350, 368 f.
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legitimen staatlich-politischen Ordnung. Diese durchaus reflektierte Erwartungshaltung, die nichts mit naiver Untertänigkeit gemein haben muss, drückte sich auch in Suppliken aus, in denen einzelne Untertanen vom König eine Verbesserung ihrer Lage forderten.348
348 Siehe u. a. Immediatsupplik der Gemeinde Neuentempel, 26. 10. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89a, Nr. 25312, Bl. 138 – 138v. Hier auch zahlreiche weitere Suppliken dieser Art.
E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung 1. Die Bürokratie als neuer Souverän? Die Reform des Regierungssystems Nach 1807 entfaltete sich der zentrale politische Diskurs in Preußen entlang der Frage, welche Form die staatlich-politische und gesellschaftliche Ordnung künftig haben sollte, um im Zeitalter der Revolution bestehen zu können. Für die außenpolitische Abhängigkeit ebenso wie die innenpolitische Destabilität machten einige hohe Beamte das überkommene Regierungssystem verantwortlich.1 Bereits 1806 hatte Stein in der Selbstregierung des Monarchen einen zentralen Schwachpunkt der preußischen Staatsverfassung ausgemacht und das Kabinettsystem – die „Regierung aus dem Kabinett“2 – in scharfen Worten angegriffen. Seine politische Ideenwelt war inspiriert von Montesquieu und von dessen Lehre der Gewaltenteilung, womöglich aber auch von Kant.3 Stein war von der Schwäche des Individuums und somit von der Unzulänglichkeit alleiniger Herrschaft, wie sie die absolute Monarchie verkörperte, überzeugt. Die Subjektivität der Entscheidungen des Monarchen wie überhaupt die Abhängigkeit der objektiv „richtigen“ Politik von den Fähigkeiten des Königs wollte Stein möglichst beseitigen. Anstelle der Konzentration der Entscheidungskompetenz in einer Person sollte deren Diversifizierung die Objektivität des Regierungshandelns gewährleisten. „Ist es ratsam, die obere Leitung der Staatsverwaltung einem Ersten Minister oder einem Staatsrat anzuvertrauen?“, fragte Stein vielsagend. „Durch das erste wird mehr Kraft und Einheit erhalten, aber eine Folge der Beschränktheit menschlicher Kräfte ist, daß die Fehler des Individuums einen zu überwiegenden Einfluß auf die Geschäfte erhalten (…).“4 Hier wird der Inhalt der Kritik Steins an der Alleinherrschaft in nuce sichtbar. Der „geheime[] innere[] Staatsrat[]“ aus fünf 1 Siehe hierzu auch die Reformbemühungen vor 1807 erläutert in Knemeyer, Verwaltungsreform, S. 83 – 87. 2 Hintze, Staatsministerium, S. 530 (Kursivsetzung S.P.). 3 Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 103. Walther Hubatsch, Stein und Kant, in: Ders., SteinStudien. Die preußischen Reformen des Reichsfreiherrn Karl vom Stein zwischen Revolution und Restauration, Köln/Berlin 1975, S. 48 – 63, hier passim. Auch Matthew Levinger, Kant and the Origins of Prussian Constitutionalism, in: History of Political Thought 19 (1998), S. 241 – 263, hier passim. 4 „Promemoria Steins zur Denkschrift Altensteins“, Memel, 15. 10. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 408, S. 466.
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Fachministern, den Stein statt des Kabinetts etabliert sehen wollte, sollte den König auf einen Mehrheitsbeschluss verpflichten, wodurch die Einseitigkeit der königlichen Entscheidung aufgehoben worden wäre. Sogar die Konzepte der Kabinettsordern, die das „scharf geschliffene Instrument monarchischer Selbstregierung“5 darstellten, wären nach seinen Plänen von den Ministern mitzuunterzeichnen gewesen.6 Während des Kriegs wiederholte Stein in der Nassauer Denkschrift noch einmal weitestgehend dieses Reformprogramm, das am Ende auf die Beseitigung der monarchischen Souveränität hinauslief.7 Altenstein und Hardenberg entwarfen nach dem Tilsiter Frieden ebenfalls ein Konzept zur Neugestaltung Preußens und der preußischen Regierungsverfassung, das in manchem Punkt von Steins Entwurf abwich. Schon während des Kriegs war es Hardenberg gelungen, das Kabinett zurückzudrängen und weitreichende Kompetenzen in seiner Hand zu bündeln. In seiner Rigaer Denkschrift, die weitestgehend auf den umfangreicheren Ausführungen Altensteins basierte, schlug er vor dem Hintergrund dieser Erfahrung vor, auch künftig einer Person als Premierminister die unmittelbare Leitung aller Regierungsgeschäfte zu übertragen.8 Ganz im Gegensatz zu Stein wollte er die Effizienz und Stabilität der angestrebten neuen Staatsorganisation durch die Monopolisierung der Entscheidungskompetenz erreichen. Zu Recht wurde argumentiert, dass die Vorschläge Altensteins und Hardenbergs der monarchischen Souveränität insgesamt einen größeren Raum zur Entfaltung boten als die Regierungskonzeption Steins; immerhin war der Premier vom Vertrauen und der Zustimmung des Königs abhängig. Die Stoßrichtung blieb im Grunde genommen aber dieselbe, denn auch die Rigaer Denkschrift lief auf die Beschneidung der königlichen Alleinentscheidungsgewalt hinaus.9 Die Gründe, warum Altenstein und Hardenberg einen anderen Weg zu diesem Ziel vorschlugen, dürften nicht nur in den 5
Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1969 (Ndr. d. Ausgabe v. 1918), S. 151. 6 Siehe „Darstellung der fehlerhaften Organisation des Kabinetts und der Notwendigkeit der Bildung einer Ministerialkonferenz“, Berlin, 26./27. 4. 1806. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 194, S. 206 – 214, hier das Zitat S. 212. Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 1, S. 401 – 407. Hintze, Staatsministerium, S. 537. Ritter, Stein, S. 151 – 155. Christian Schmitz, Die Vorschläge zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806 – 1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg’schen Reformzeit (Beiträge zu Grundfragen des Rechts, 3), Göttingen 2010, S. 45 – 48. 7 Siehe Denkschrift Stein „Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“ („Nassauer Denkschrift“), Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 380 – 416. Siehe hierzu Meier, Reform, S. 156 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 66 f. Ritter, Stein, S. 182 f. 8 Siehe hierzu Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 262, S. 522 – 530. Allgemein hierzu Hömig, Altenstein, S. 69 – 71. Sowie Denkschrift Hardenberg, Riga, 12. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 261, S. 357 f. Siehe hierzu Thielen, Hardenberg, S. 213. 9 Ähnliche Tendenzen des Beamtentums, die Prärogativen des Königs zur Realisierung des eigenen Programms notfalls zu beschneiden, gab es auch in anderen Staaten. Siehe für Württemberg Eckert, Zeitgeist, S. 203.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
staatstheoretischen Auffassungen, die sich von denen Steins unterschieden, zu sehen sein; auch ein persönlich-taktisches Momentum hat wohl eine Rolle gespielt. Anders als Stein hielt sich Hardenberg nicht nur für befähigt, die Staatsgeschäfte in Eigenregie zu führen – er kannte auch die Zweifel, die Stein der Urteilsfähigkeit des Einzelnen entgegenbrachte, nicht. Vor allem aber konnte er hoffen, aufgrund des großen Vertrauens, das ihm Friedrich Wilhelm entgegenbrachte, seine politische Agenda als Premier relativ unberührt von Einflussnahmen des Königs durchsetzen zu können. Eine Art „Beamten-Parlament[]“10 wie es Stein vorschwebte und das es dem König schwer gemacht hätte, sich gegen den Mehrheitswillen seiner Minister durchzusetzen, war daher unnötig und im Zweifelsfall nur ein Hindernis. Schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Memel, schritt Stein daran, ungeachtet der Rigaer Denkschriften seine Reformvorstellung zu realisieren und beauftragte Altenstein sofort mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Organisationsplans, nach dessen Muster die obersten und die provinzialen Verwaltungsinstanzen gegliedert werden sollten. Vorerst, bis zum Ende der Staatsreform und solange die allgemeine administrative Unordnung nicht überwunden war, wollte Stein aber auf seine Staatsratspläne verzichten. „Einem Mann übertrage man die Umformung der Regierungsverfassung“, stellte er fest; wenn diese bewirkt sei, „so übertrage man die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten einem Staatsrat, der unter dem überwiegenden Einfluss eines Präsidenten steht.“11 Auf die genaue Entwicklungsgeschichte des Organisationsplans, den Stein am 23. November 1807 dem König vorlegte,12 braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Wichtig ist nur, dass dieser vorsah, die Leitung der gesamten Politik einem „Minister der Finanzen und des Innern“ zu übertragen. Durch das Recht zur Teilnahme an den Beratungen der Ressorts für die Justiz-, Militär- und auswärtigen Sachen, die von je eigenen Ministern beziehungsweise einem Großkanzler geleitet werden sollten, hätte der Innen- und Finanzminister faktisch eine alle Politikbereiche kontrollierende Stellung erhalten, die der eines Premiers, wie ihn etwa die englische Verfassung kannte, schon recht nahekam. Da Stein mit der Umsetzung dieser Reform bis zur vollständigen Räumung des Landes warten wollte, die französischen Truppen vorläufig aber nicht abzogen, blieb zunächst das Nebeneinander der verschiedenen geflüchteten und teilweise kaum funktionsfähigen Behörden bestehen. Nach den Verhandlungen, die er im Frühjahr 1808 in Berlin mit Daru geführt hatte, ist Stein klargeworden, dass die Okkupation auch in den nächsten Monaten 10
Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 431. Siehe auch Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 37. „Promemoria Steins zur Denkschrift Altensteins“, Memel, 15. 10. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 408, S. 466. 12 Siehe Immediatbericht Stein, Memel, 23. 11. 1807 und die Anlage „Plan zu einer neuen Organisation der Geschäftspflege im Preußischen Staat“. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 44, 45, S. 94 – 182, hier das Zitat S. 100. Siehe hierzu Meier, Reform, S. 158 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 371 – 373. Zu den Änderungswünschen des Königs siehe Ritter, Stein, S. 239 – 242. 11
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kaum beendet sein dürfte. Nach seiner Rückkehr nach Königsberg beschloss er deshalb eine interimistische Neuordnung der obersten Verwaltungsbehörden ins Werk zu setzen. Schon aus Kostengründen sollten die 13 Ober- und Unterbehörden, die sich in Königsberg befanden, aufgelöst oder zusammengefasst und das nicht mehr gebrauchte Personal entlassen werden.13 Der „Plan zu einer interimistischen verbesserten Einrichtung des Geschäftsganges“14, der am 25. Juli 1808 vollzogen wurde, war ein Kompromiss zwischen dem Organisationsplan von 1807 und der bislang bestehenden Verwaltungsordnung. Die Kombinierte Immediatkommission, dieses Provisorium, das noch aus der Amtszeit Hardenbergs stammte, wurde aufgelöst und ein General-Finanz- und Polizeidepartement geschaffen, das unter der unmittelbaren Aufsicht Steins stand. Die Kompetenzen dieser neuen Behörde umfassten „alles in sich, was auf die Verwaltung des Innern und der Finanzen im allgemeinen (!) Bezug hat“. Stein sicherte sich also auch weiterhin die Kontrolle über alle wesentlichen Bereiche der Innenpolitik; „namentlich jede neue Gesetzgebung und neue Einrichtung“ bedurfte seiner Zustimmung. Im Gegensatz zu den Grundsätzen des Organisationsplans aus dem November 1807, der die Auflösung aller Provinzialdepartements vorgesehen hatte, blieb das Preußische Departement weiter unter Minister Schroetter in Aktivität. Der Aufgabenkreis Schroetters wurden sogar auf die Geistlichen und Schulsachen ausgedehnt. Unverändert blieb auch die Leitung des provisorischen Justizdepartements in der Hand seines Bruders des Kanzlers Karl Wilhelm v. Schroetter. Außerdem blieben bestehen: Das Akzise-, Zoll-, Salz- und Stempeldepartement, das Generalpostdepartement, das Departement der Rechnungskomptabilität, die Bank, die Seehandlung sowie das Auswärtige Departement. Neuorganisiert wurde dagegen die Militär- und Versorgungsverwaltung. Den künftigen Vereinigungspunkt aller Departements sollte eine wöchentlich tagende Generalkonferenz darstellen, die eine Ersatzeinrichtung für den noch einzurichtenden Staatsrat war. Auf höchster Regierungsebene wurde damit eine nach dem Kollegialprinzip organisierte Institution geschaffen, in der jeder der daran teilnehmenden Chefs der verschiedenen Verwaltungszweige eine Stimme besaß, wobei sich Stein, der den Vorsitz führte, das „votum decisivum“ vorbehielt. Es war vorgesehen, dass die Beschlüsse der Generalkonferenz, die Anfang September erstmals zusammentrat, dem König, der selbst von deren Beratungen ausgeschlossen wurde, vorgetragen werden sollten.15
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Siehe Votum Steins zum Finanzplan der Kombinierten Immediatkommission vom 18. 5. 1808, Königsberg, 7. 6. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 718, S. 749 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 421. 14 Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 209, S. 675 – 682. Siehe hierzu Conrad Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, Berlin 1979 (Ndr. d. Ausg. v. 1903), S. 328. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 421 – 433. Ritter, Stein, S. 245 – 247. Pietschmann, Finanzministerium, Bd. 1, S. 41 – 44. Zum Geschäftsgang der Generalkonferenz siehe „Vorschrift für den Geschäftsgang bei den gemeinschaftlichen Arbeiten der obersten Staatsverwaltungsbehörden“, Königsberg, 25. 8. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 793, S. 828 – 844. 15 Siehe Ritter, Stein, S. 246 f.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
Schon kurze Zeit später stieß Stein die Ausarbeitung eines endgültigen Plans zur Organisation der preußischen Verwaltung an. Zwischenzeitlich war der Pariser Vertrag unterzeichnet worden, so dass die baldige Räumung des Landes wahrscheinlich war und die Verwaltungsreform in der gesamten Monarchie durchgeführt werden konnte. Außerdem war Steins Stellung als Leiter der preußischen Politik durch die Veröffentlichung des entlarvenden Briefs an Wittgenstein unhaltbar geworden; wenn er also selbst die Reform noch in Gang setzten wollte, so musste es schnell geschehen. Bereits am 24. November konnte er dem König die „Verordnung, die veränderte Verfassung der obersten Verwaltungsbehörden in der preußischen Monarchie betreffend“ zur Unterschrift vorlegen.16 Der Staatsrat nahm nun endlich die zentrale Rolle ein, die Stein ihm von Anfang an zuzubilligen gedachte. Als Mitglieder bestimmte der nunmehr dritte Organisationsplan die Minister der vier zu bildenden Ministerien des Innern, der Finanzen, der auswärtigen Beziehungen und der Justiz sowie den Chef des Kriegsdepartments und die volljährigen Prinzen des königlichen Hauses. Dieser recht überschaubare Personenkreis wurde noch um die Geheimen Staatsräte der verschiedenen Sektionen der Ministerien erweitert. Jede Entscheidungsfindung lief in diesem nun doch recht vielköpfigen Gremium Gefahr, in ein langwieriges Verfahren auszuarten. Stein mag sich für diese ohne Zweifel schwerfällige Organisationsform entschieden haben, weil sie es ihm erlaubte, als Staatsrat ohne Portefeuille auch nach seinem Ausscheiden als Minister seinen Einfluss auf die Staatsgeschäfte wahren zu können. Dieser Eindruck ergibt sich vor allem daraus, dass es in der Verordnung hieß, das Präsidium gehe bei Abwesenheit des Königs entweder auf einen aktiven oder einen ehemaligen Minister im Range eines Geheimen Staatsrats über. Auch in dem engeren Ministerkabinett, das aus dem König und seinen Ministern bestand, war die Teilnahme eines solchen Geheimen Staatsrats vorgesehen.17 Obwohl der gesamte Organisationsentwurf auf Stein zugeschnitten war, tut dies der Tatsache keinen Abbruch, dass dieser auch „den reinsten Niederschlag seiner (Steins; S.P.) verfassungspolitischen Überzeugungen“18 darstellte. Schließlich war das Konzept eines Rats, der sich vorwiegend aus Fachbeamten zusammensetzte und dessen Entscheidungen ein hohes autoritatives Gewicht besaßen, gegen die sich der König im Konfliktfall nur schwer hätte durchsetzen können, eine Grundkonstante in den Reformplänen Steins.19 16 Siehe „Verordnung, die veränderte Verfassung der obersten Verwaltungsbehörden betreffend“, Königsberg, 24. 11. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 328, S. 1088 – 1134, hier besonders S. 1090 – 1097. Siehe hierzu Hüffer, Kabinetsregierung, S. 420. Meier, Reform, S. 159 – 165. Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 336 – 338. Ritter, Stein, S. 248. Gray, Prussia, S. 80 f. 17 Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 247. 18 Ebd. 19 Es ging Stein stets um diese Beeinflussung und nicht um die vollständige Ausschaltung des Königs. Siehe hierzu auch Marion Gray, Prussia in Transition: Society and Politics under the Stein Reform Ministry of 1808, in: Transactions of the American Philosophical Society 78/1 (1986), S. 1 – 175, hier S. 80: „The king’s presiding role in the Council brought him into the bureaucratic decision-making process rather than pitting him against it.“
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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Zur Einsetzung des Staatsrats kam es bekanntlich nicht. Unmittelbar nach der Flucht Steins aus Königsberg erklärten die designierten Minister Altenstein und Dohna in einem gemeinsamen Bericht an den König, es erscheine ihnen notwendig, dass der Organisationsplan „über mehrere Punkte eine nähere Bestimmung erhalte, vervollständigt und abgeändert werde.“ Vor allem von der Berufung des Staatsrats, so waren beide Minister überzeugt, solle abgesehen werden.20 Zusammen mit dem alten Kabinett hatte Altenstein schon 1806 in einer Denkschrift ein solches Gremium, zumindest in der Form wie es Stein vorschwebte, für überflüssig erklärt. In dieser nur wenig beachteten Quelle hielt Altenstein es für ausreichend, wenn der Monarch nach eigenem Gutsdünken die einzelnen Minister zu sich beriefe, um sich von ihnen direkt vortragen zu lassen. Nur in Ausnahmefällen, wenn Dinge, die alle Ressorts betrafen, behandelt werden müssten, solle der König ad hoc einen „Staatsrat“ einberufen. Ausdrücklich riet Altenstein aber von der Konstituierung eines förmlichen „Konseils“ ab; der König könne sich möglicherwiese auf diesem „reposieren“ und müsse befürchten, „gegen mehrere vereinigte Stimmen nicht durchzukommen oder gegen Überzeugung handeln zu müssen.“ Altenstein war davon überzeugt, dass der Monarch die Regierungsgeschäfte in die eigenen Hände nehmen müsse, denn „[i]n einem monarchischen Staate ist es unstreitig das Beste, wenn der König selbst regiert.“ Friedrich Wilhelm, der „ganz fähig zu regieren“ sei, sollte deshalb durch die Beseitigung des Kabinetts und das Fehlen eines fest institutionalisierten Rats regelrecht zum Regieren gezwungen werden. Entsprechend seiner Konzeption einer monarchischen Herrschaft verlor Altenstein anders als in seiner Rigaer Denkschrift,21 die unter dem unmittelbaren Einfluss Hardenbergs entstanden war, auch kein Wort über einen Premierminister, der den Monarchen vom politischen Tagesgeschäfte abgeschnitten hätte.22 Vielleicht war es wirklich die „Ehrfurcht vor der Idee des Königtums und vor der Person des Königs“23, die Altenstein für ein Regierungssystem optieren ließ, das den Monarchen zu einem wirklichen Alleinherrscher machte. Die Ausschaltung des Staatsrats beraubte schließlich auch die Staatsräte der starken Stellung, die sie nach den Plänen Steins erlangen sollten. „[I]hre (der Staatsräte; S. P.) Existenz in ihrer Unabhängigkeit beruht sehr auf dem Staatsrat“, erkannte auch Humboldt, der sich als Leiter der Kultussektion im Innenministerium
20 Siehe Immediatbericht Altenstein und Dohna, Königsberg, 4. 12. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 332, S. 1144 – 1148, hier das Zitat S. 1144. 21 Siehe Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 262, S. 521 – 530. 22 Siehe „Des Geh. Oberfinanzrats Freiherr von Altenstein Entwurf einer Denkschrift (Hardenbergs) über die des Königs Majestät vorzuschlagende Veränderung in der Verfassung betreffend“, s. l., o. D. (Ende September bis Anfang Oktober 1806). Winter, Reorganisation, Nr. 30, S. 62 – 67, hier die Zitate S. 62 f, 65, 67. Siehe hierzu auch Pietschmann, Finanzministerium, Bd. 1, S. 31 f. 23 Zit. n. Hömig, Altenstein, S. 76.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
über die nun bestehende Abhängigkeit von den Ministern beklagte.24 Der neue Finanzminister Altenstein dürfte auch aufgrund dieses, die eigene Machtstellung bedrohenden Übergewichts der Staatsräte von der Umsetzung der Ursprungsverordnung abgesehen haben, wohingegen Dohnas Bedenken offensichtlich nur gering und nicht grundsätzlicher Art waren.25 Insgesamt ist es jedenfalls falsch zu behaupten, Dohna und Altenstein hätten aus einfacher Schwäche oder Unfähigkeit auf das Kernstück der Regierungsreform Steins verzichtet. Gute Gründe sprachen aus ihrer Sicht gegen die Einrichtung eines schwerfälligen Plenums, das die Autorität der Minister und des Königs untergraben hätte. Die am 16. Dezember vollzogene und dann auch publizierte revidierte Fassung der Novemberverordnung entsprach ganz den staatstheoretischen Anschauungen Altensteins. An der Ablösung des Generaldepartements mit seiner Vermischung von Provinzial- und Sachressorts durch fünf Fachministerien (wenn man das Kriegsdepartement hinzuzählt) wurde festgehalten. Die Minister bildeten eine Art Gesamtministerium, das jedoch keine institutionalisierte Form der gemeinsamen Beratung und gegenseitigen Abstimmung kannte;26 der einmal wöchentlich stattfindende gemeinsame Vortrag der Departementchefs beim König konnte keinen adäquaten Ersatz dafür bieten.27 Das Fehlen des Staatsrats und eines Premiers bedeutete, dass der Monarch, der die Zustimmung zu jeder ministeriellen Verfügung geben musste, jene starke Stellung erhielt, die Altenstein ihm schon 1806 zuerkennen wollte. Die monarchische Selbstregierung, die Altenstein noch einmal festigte, war nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, hing jedoch stark von der Fähigkeit des Monarchen ab, die tägliche Regierungsarbeit bewältigen und gleichzeitig in einer besonderen Krisensituation den einmal angestoßenen Reformprozess konsequent fortsetzen zu können. Friedrich Wilhelm, vielleicht fähig und willens zu Ersterem, war wohl nicht die geeignete Person für Letzteres. Woran viele gescheitert wären, stellte auch den umsichtigen und aus Umsicht vorsichtigen Monarchen vor kaum zu bewältigende Probleme; zumal Dohna und Altenstein aufgrund ihrer Persönlichkeit
24 W. v. Humboldt an Caroline v. Humboldt. Sydow, Wilhelm und Caroline, Bd. 3, Nr. 115, S. 240. Siehe auch W. v. Humboldt an Vincke, Königsberg, 18. 7. 1809. Richter, Humboldt, Bd. 1, Nr. 152, S. 175. 25 So beklagte sich Dohna noch 1810 über die negativen Folgen, die sich aus dem Fehlen des Staatsrats ergeben würden. Immediatbericht Dohna, Berlin, 6. 7. 1810. Bezzenberger, Aktenstücke, Nr. 1, S. 4. 26 Siehe „Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung“, Königsberg, 16. 12. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 333, S. 1149 – 1164. Siehe hierzu Stölzel, Rechtsverwaltung, S. 403. Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 338. Huber, Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, S. 151 f. Nach Pietschmann, Finanzministerium, S. 56 habe sich ab März 1809 ein regelmäßig tagender Ministerrat konstituiert. 27 Siehe hierzu Rudolf Lobethal, Verwaltung und Finanzpolitik in Preußen während der Jahre 1808 – 1810, Teil I: Die Verwaltungsorganisation, Kap. I und II, Phil. Diss., Breslau 1914, S. 53 f.
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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nur wenig dazu geeignet waren, ihn bei dieser Aufgabe zu unterstützen, oder gar selbst eine Führungsrolle einzunehmen. Angesichts von Altensteins Politik erstaunt es doch, wenn zahlreiche Darstellungen das Bild von einer geradezu geheimbündisch organisierten „Bürokratie“ zeichnen, der es gelungen sei, dem Monarchen die politische Entscheidungsgewalt zu entreißen. Eckart Kehr machte mit seiner Interpretation den Anfang;28 bei ihm findet man bereits die Grundthese angedacht, die später von anderen Autoren fortgeschrieben und weiterentwickelt wurde.29 Danach sei die Bürokratie ein Stand oder in der Diktion des Historischen Materialismus eine „Klasse“ gewesen, die zielstrebig die Macht im preußischen Staat errungen habe. Diese Vorstellung von einer „Diktatur der Bürokratie“30 entwickelte sich zum festen Bestandteil eines Standardnarrativs zur Deutung der preußischen Geschichte im frühen 19. Jahrhundert. Kehr deutete den Machtgewinn der Bürokratie in Orientierung an den Historischen Materialismus als lineareren Prozess. Die Historische Sozialwissenschaft hielt schon aus normativen Gründen an dem dahinterliegenden geschichtsphilosophischen Axiom fest und erweiterte dieses um modernisierungstheoretische Elemente,31 ohne dadurch aber zu grundsätzlich anderen Ergebnissen zu gelangen. Die vielfachen Brüche im Entwicklungsprozess zum modernen Staat des 20. Jahrhunderts, die retardierenden Momente und vormodernen Elemente, die darin stets eine Rolle spielten, gerieten ebenso aus dem Blick wie die nach wie vor bedeutsame Stellung 28
Siehe Kehr, Genesis, passim, besonders S. 32 – 37, 39 – 41. Ders., Diktatur, passim. Mit explizitem oder implizitem Bezug auf Kehr: Rosenberg, Bureaucracy, S. 175 ff. und passim. Ders., Die Überwindung der monarchischen Autokratie, in: Karl Ottmar Freiherr von Aretin (Hrsg.), Der Aufgeklärte Absolutismus (Neue Wissenschaftliche Bibliothek Geschichte, 67), Köln 1974, S. 182 – 204, hier passim. Rosenberg orientierte sich noch am stärksten an der Diktion Kehrs. Nach ihm habe die Bürokratie die „autokratische persönliche Herrschaft des Monarchen einzuengen und schließlich zu überwinden vermocht[].“ Ebd. S. 194. Auch Schissler, Agrargesellschaft, S. 130 – 135. Vogel, Reformen, S. 14, 16 f., wo die Rede von einem „revolutionären »Staatsstreich«“ (S. 17) ist. Auch dies., Gewerbefreiheit, S. 29, 48 – 58, 73. Vogel erkannte an manchen Stellten zwar mitunter die divergierenden Interessen innerhalb der Bürokratie (ebd., S. 76 f.), geriet damit aber automatisch in Widerspruch zu der eingangs aufgestellten These von der bürokratischen Herrschaftsusurpation. Die grundsätzliche „ständische“ Homogenität und die Vorherrschaft der Bürokratie wurde jedenfalls an keiner Stelle von ihr in Zweifel gezogen. Auch Mieck, Preußen, S. 21. Eine Übersicht über die ältere Forschung bietet Demel, Reformstaat, S. 112 – 115. 30 Kehr, Genesis, S. 37. Ders., Diktatur, S. 244. Der Begriff „Diktatur“ wurde explizit auch verwendet in Vogel, Gewerbefreiheit, S. 73 und Mieck, Preußen, S. 21. Der Begriff wurde dabei nicht in seinem ursprünglich sehr differenzierten Sinne verwendet; stattdessen implizierte das Wort „Diktatur“ hier meist Alleinherrschaft und sei es die Alleinherrschaft einer Junta. Hätte man sich des älteren Diktaturverständnisses von einer „kommissarischen Diktatur“ bedient, so wäre man nicht zu der paradigmatischen Schlussfolgerung von der Herrschaftsusurpation durch die Bürokratie gelangt. Stein und Hardenberg wären dann auch nicht als autokratische Herrschertypen erschienen, sondern eben nur als Träger delegierter Macht. Siehe hierzu Carl Schmitt, Die Diktatur, 7. Aufl., Berlin 2006, S. 25 – 29. Quaritsch, Souveränität, S. 310 – 313, hier die Zitate S. 311 f. 31 Siehe hierzu Kap. A. I. 29
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
des Königs im preußischen Regierungsgefüge. Auch Historiker, die sich nicht an der Historischen Sozialwissenschaft orientierten, glaubten oftmals aufgrund etwa einer zu selektiven Quellenauswahl, die Entstehung einer preußischen Bürokratenherrschaft zu erkennen, die „bürokratische[r] Absolutismus“32 oder „Beamtenabsolutismus“33 genannt werden könne. Wie Herbert Obenaus schon zu Beginn der 1970er Jahre in seiner Kritik an Reinhart Koselleck aufzeigte, bediente man sich dabei häufig auch Deutungsmustern, die der liberalen Polemik des Vormärz entlehnt waren.34 Freilich würde es den Tatsachen Gewalt antun, gelänge man zu dem Schluss, die monarchische Souveränität, und um deren Wesen geht es hier im Kern, sei von den Ereignissen nach 1807 unberührt geblieben. Kehr hat den notwendigen Bruch mit einer borussisch-monarchischen Geschichtsschreibung vollzogen, die eine Eintracht zwischen dem König und seiner Umgebung konzedierte, wo es keine gab. Er beschrieb richtigerweise die Absicht einiger Beamter, die Souveränität des Königs beschneiden zu wollen, zeichnete schließlich aber ein viel zu grelles und wenig nuancenreiches Bild der Zustände; denn das Ziel einzelner Protagonisten des reformorientierten Beamtentums (und nicht etwa einer homogenen Gruppe) war nicht das Allein- sondern das Mitregieren, Partizipation und nicht Usurpation. Der Wille des Monarchen sollte gelenkt und womöglich gebeugt, aber nicht gebrochen werden. Auch die Zweckallianz aus Beamten, Militärs und Publizisten, die Friedrich Wilhelm 1808 und 1809 zur Kriegserklärung bewegen wollte, wagte doch keinen regelrechten Putsch, wie an anderer Stelle gezeigt wurde. Die Gründe für diese relative Zurückhaltung mögen vielfältig gewesen sein, doch sicherlich trug das Wissen um die Bedeutung der Krone als Legitimationsinstanz jedes politischen Handelns und wichtigen politischen Ordnungsfaktor dazu bei. Aller „Entzauberung“ zum Trotz war es doch auch Ehrfurcht vor der tradierten Herrschaft, die vor einer gänzlichen Umgestaltung der staatlich-politischen Verhältnisse zurückschrecken ließ. Schließlich war der Kampf gegen die absolute Monarchie auch kein Selbstzweck, geschweige denn das Ergebnis eines Kasteninteresses; entscheidender Antrieb für Stein und andere war die Überzeugung, nur damit den Staat, der als Vehikel jedes menschheitlichen Fortschritts galt, vor dem Untergang bewahren zu können. Letztlich war Stein aber genauso mit der vollständigen Umsetzung des Organisationsedikts gescheitert wie sich die Befürworter des Kriegs 1808 und 1809 nicht durchzusetzen vermochten. Während der König in der Kriegsfrage seine Prärogative entschlossen behauptete, waren nicht zuletzt die außenpolitischen Konfliktlagen für 32
Hartung, Studien, S. 223. Karl Ottmar Freiherr von Aretin, Einleitung, in: Ders., Absolutismus, S. 11 – 51, hier S. 22. Ähnlich u. a. auch Gray, Prussia, S. 87 – 89. Koselleck, Preußen, S. 337 ff. Nolte, Staatsbildung, S. 44. 34 Siehe hierzu und zur Kritik an der Vorstellung einer „Beamtenherrschaft“ Herbert Obenaus, Rezension von „Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967“, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 222 (1970), S. 155 – 167, hier S. 164. 33
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Steins Misserfolg verantwortlich; schließlich musste er das Land verlassen, weil Napoleon ihn dazu zwang. Als dann Hardenberg das Amt des Staatskanzlers übernahm und damit eine zentrale Forderung seines Reformprogramms erfüllt war, markiert doch auch dies nicht den Beginn einer unumschränkten Herrschaft der Bürokratie. Hardenbergs Politik blieb weiterhin abhängig von der Zustimmung des Königs, der formell weiterhin die letzte Entscheidung in legislativen und exekutiven Dingen behielt. Selbst nach 1810 war der Monarch also keineswegs in die politische Bedeutungslosigkeit herabgesunken, vielmehr etablierte sich seit dem Tilsiter Frieden das, was Thomas Nipperdey „bürokratisch-monarchische Doppelführung“35 nannte – das Wortpaar „bürokratisch-monarchisch“ drückt das gegenseitige Angewiesensein des bürokratischen und monarchischen Prinzips korrekt aus. Die Minister und später der Kanzler bedurften für ihre Politik, wie gesagt, der Zustimmung des Königs und der Legitimität der Krone.36 Gleichzeitig hatten sie eine Stellung errungen, die es dem König kaum mehr möglich machte, ohne ihre Unterstützung positiv handeln zu können, denn schon aufgrund des immer komplexeren Staatswesens war der Monarch in seinen Entscheidungen auf die Expertise und das Urteil seiner Minister angewiesen.37 Die einflussreiche Stellung, die besonders der Kanzler innehatte, der die Kommunikation der Minister mit dem König kontrollierte – jeder Immediatbericht ging zuerst durch seine Hände, jeder Ministervortrag beim König fand in seinem Beisein statt –, erschwerte es dem Monarchen, eine autonome Entscheidung zu fällen, machte es aber auch nicht unmöglich.38 Die politische Entscheidungsfindung entwickelte sich stärker noch als in früheren Jahrhunderten zu einem Aushandlungsprozess,39 in dem das bürokratische Element einseitige souveräne Entscheidungen des Monarchen zunehmend unmöglich machte, ohne aber 35
Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 36. Zur Bedeutung des Monarchen für die Legitimation von Reformprozessen siehe Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert (Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 50), Heidelberg 2013, S. 26 – 27. 37 Siehe hierzu Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 332 f. In diesem Zusammenhang ist auch die Stellung der Gesetzeskommission zu beachten, die zwar vom König berufen wurde, deren Gutachten aber in vielfacher Hinsicht maßgeblich waren. Siehe hierzu „Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung“, Königsberg, 16. 12. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 333, S. 1156. 38 Siehe anstelle vieler zur Stellung des Staatskanzlers Hintze, Staatsministerium, S.553 f. Nach dem Tod Hardenbergs regelte ein Kabinettsminister die Kommunikation zwischen dem König und den Ministern. Siehe ebd., S. 569 – 571. 39 Die Problemlage angedeutet von Nipperdey, Geschichte, Bd. 1, S. 321: „[S]ie (die Beamten; S.P.) waren in den höheren Rängen paradoxerweise zugleich diejenigen, die Willen und Entscheidungen dieses Staates wesentlich (mit)bestimmten.“ Siehe auch ebd., S. 320. Auch Eberhard Weis, Absolute Monarchie und Reform im Deutschland des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, in: Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland (Nymphenburger Texte für die Wissenschaft, 24), München 1976, S. 192 – 219, hier S. 206 – 208, 211 f. 36
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dem König die eigene Politik diktieren zu können.40 Im Zweifelsfall blieb der Monarch schon aufgrund seiner Befugnis, einzelne Minister einstellen oder entlassen zu können, die ausschlaggebende Instanz.
2. Die Versuche der Etatisierung und Rationalisierung von Verwaltung und Justiz Als ein Ergebnis des Kriegs und des labilen Friedenszustands erhielt der preußische Staatsbildungsprozess nach 1807 einen neuen Schub. Die weitere Herrschaftsverdichtung und die stärkere Penetration ländlicher wie städtischer Räume durch die souveräne Staatsgewalt waren die erklärten Ziele reformorientierter Beamter. Als eine zentrale Voraussetzung der intendierten konsequenten Durchsetzung der Souveränität galt die Rationalisierung der Administration und, damit einhergehend, deren Effizienzsteigerung. Die Verwaltung sollte so gestaltet werden, dass sie ohne vermittelnde intermediäre Gewalten das Land beherrschen konnte. Die logische Ergänzung einer solchen Verwaltungsneuordnung musste die Umformung der ständisch-feudal gegliederten Gesellschaft in eine „Staatsbürgergesellschaft“ sein, die jeden Einwohner auch rechtlich in ein unmittelbares Verhältnis zur souveränen Staatsgewalt setzen würde.41 Der auf diese Weise mit dem Staat verbundene Bürger, der herausgelöst war aus partikularen Bindungen, würde, so die Überzeugung, die Übereinstimmung seines eigenen mit dem Staatsinteresse erkennen und deshalb bereit sein, sich für die Erhaltung des Staatswesens einzusetzen. Die gutsherrliche Jurisdiktions- und Polizeigewalt und überhaupt die ständische Selbstverwaltung mussten angesichts dieser Tendenzen unweigerlich ihre Daseinsberechtigung verlieren.42 Mit der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden“ – dem ersten und letztendlich auch einzigen großen Reformgesetz des Ministeriums Dohna und Altenstein – wurde am 26. Dezember 1808 ein entscheidender Schritt zur Neuordnung der provinzialen Verwaltungsverhältnisse unternommen.43 Altenstein hatte schon in Riga ein ganz ähnliches Programm zur Reform der Kammerverwaltung formuliert und wohl auch deshalb für eine schnelle 40 Zur nach wie vor nicht unbedeutenden Stellung des Königs siehe Otto Hintze, Die Entstehung der modernen Staatsministerien, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, S. 275 – 320, hier S. 315 f., wo es unter anderem heißt: „[U]nd auch die Größe seines (Bismarcks; S.P.) Einflusses vermag doch nicht darüber zu täuschen, daß der Mittelpunkt der Regierung grundsätzlich die Person des Königs blieb“. Ebd., S. 316. 41 Siehe hierzu Koselleck, Preußen, S. 153 – 156, hier das Zitat S. 154. Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 32. 42 Siehe hierzu Herbert Obenaus, Verwaltung und ständische Repräsentation in den Reformen des Freiherrn vom Stein, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 18 (1969), S. 130 – 179, hier, S. 160. 43 Siehe „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden“, Königsberg, 26. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 22, S. 48 – 75.
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Umsetzung der Verordnung gesorgt,44 mit der die völlige Reorganisation der Kammerverwaltung beschlossen wurde.45 Die Kriegs- und Domänenkammern wurden in Regierungen umbenannt, was bereits auf die erweiterten Kompetenzen dieser Behörden hinwies. Die Landesjustizkollegien, die bisherigen „Regierungen“, trugen fortan den Namen von „Oberlandesgerichten“46. Die zuvor mitunter auf mehrere Einzelbehörden verteilt gewesenen Administrationszweige, wie das Akzise- und Zoll-, oder das Medizinalwesen wurden nun unter dem Dach der Regierungen zusammengefasst, die im Vergleich zu den Kammern eine deutlich größere Entscheidungsfreiheit besaßen. In weiten Teilen konnten nun Angelegenheiten, die allein die lokalen Verhältnisse betrafen, ohne Rücksprache mit der Zentralregierung verfügt werden. So ging mit der Rationalisierung der Verwaltungsstrukturen auch eine Tendenz zur Dezentralisation einher. Die Provinzialregierungsbeschlüsse bedurften der Zustimmung eines Plenums, das sich aus Vertretern sämtlicher Verwaltungsdeputationen, die nun nach dem Sachprinzip organisiert waren, zusammensetzte und unter dem Vorsitz eines Regierungspräsidenten tagte. Diese kollegialische Organisation stellte gewissermaßen ein korrektives Element dar, das eine rationale und objektive Entscheidungsfindung auch ohne penible Kontrolle durch die Hauptstadt gewährleisten sollte. Auch an dieser Stelle begegnet man Steins Skepsis gegenüber der Urteilsfähigkeit des Individuums, die viele Reformbeamte teilten;47 ganz bewusst fiel die Entscheidung gegen ein Präfekturmodell nach französischem Vorbild.48 Der Verwaltungsbezirk der Regierungen war identisch mit jenem der vormaligen Kammern. Eine Ausnahme bildete die Kurmark. Die territorialen Veränderungen des Tilsiter Friedens hatte es dort notwendig gemacht, die drei rechts der Elbe gelegenen magdeburgischen Kreise in die kurmärkische Regierungsadministration einzugliedern.49 Während der Sitz der Regierungen ansonsten in derselben Stadt, in der sich die vorherige Kammer befunden hatte, verlieb, siedelte die kurmärkische Provinzialverwaltung von Berlin, das ab sofort einen eigenen Administrationsdistrikt bildete, nach Potsdam über. Die Regierungen von Stettin und Glogau wurden wegen der
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Siehe Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, S. 538 – 542. Allgemein hierzu Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 184 – 204. Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 338 – 341. Meier, Verwaltungsorganisation, S. 191 – 202. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 400 – 404. Bär, Behördenverfassung, S. 166 f. Koselleck, Preußen, S. 177 f. Gray, Prussia, S. 81 f. Zu den früheren Reformbemühungen siehe Otto Hintze, Preußische Reformbestrebungen vor 1806, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3, S. 504 – 529, hier S. 524 f. 46 Siehe hierzu Holste, Arena, S. 55. Eine Ausnahme stellte das Kurmärkische Kammergericht dar. 47 Siehe hierzu Koselleck, Preußen, S. 178 f. 48 Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 403. 49 Siehe Holste, Arena, S. 54 f. 45
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französischen Besetzung der Oderfestungen zumindest temporär an andere Orte verlegt.50 Die endgültige Aufhebung der Kammerjustiz, die per Verordnung am 26. Dezember beschlossen wurde, trug zu einer weiteren Professionalisierung des Verwaltungs- und Justizwesens bei:51 Die Bereiche der Justizpflege, die zuvor bei der Landes- und Finanzadministration lagen, wurden an ordentliche Gerichte überwiesen, so dass die Verwaltungsbehörden durch die klare Kompetenzverteilung entlastet wurden. Ein seit den 1790er Jahren anhaltender Reformprozess wurde damit zu Ende geführt.52 Den Schlussstein der Reform bildete die Beteiligung ständischer Repräsentanten an der Provinzialverwaltung.53 Diese Einbeziehung von Ständevertretern in die Administration war Kernbestandteil des Repräsentationsgedankens der Nassauer Denkschrift. Stein versprach sich von diesem Schritt neben einer Verringerung der Administrationskosten vor allem ein Ende des „Mietlingsgeist[es]“, des „Leben[s] in Formen und Dienst-Mechanismus“ und der „Unkunde“, die er in den Kammern zu erkennen glaubte. Eine größere Flexibilität der Provinzialadministration, besonders aber eine Rationalisierung und Objektivierung des Verwaltungshandelns, sollten sich durch die Expertise und Erfahrung der Repräsentanten einstellen;54 eine gleichzeitige Beschränkung der staatlichen Zugriffsgewalt war jedoch nicht beabsichtigt.55 Die Regierung rief die Stände gleichsam nur „zu Hilfe, weil der mangelhafte bureaukratische Apparat ohne ihre Unterstützung nicht genügend funktioniert.“56 Stein verband noch eine weitere Absicht mit der Einführung von Repräsentanten. Von der Reform erwartete er sich die „Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns“, wie es in einer vielzitierten Wendung der Nassauer Denkschrift hieß. Durch die Berührungen mit der staatlichen Verwaltung wollte Stein das ständische Partikularinteresse und das Korporationsdenken endlich beseitigen.57 Dabei verstand 50 Siehe Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 165 f. Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 342 f. Sowie Kap. D. I. 51 Siehe hierzu speziell Eduard Spranger, Altensteins Denkschrift von 1807 und ihre Beziehung zur Philosophie, in: FBPG 18 (1905), S. 107 – 153, hier S. 150. 52 Speziell zur Neuregelung der Justizpflege siehe Edgar Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen. Ein Beitrag zur Preußischen Rechts- und Verfassungsgeschichte (Abhandlungen und Aufsätze, 1), Halle a. S. 1914, S. 129 – 147. 53 Siehe §§ 17 – 22 der „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden“, Königsberg, 26. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 22, S. 52. Siehe hierzu Obenaus, Verwaltung, passim. 54 Siehe „Nassauer Denkschrift“, Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 389 – 391, hier die Zitate S. 389. Entsprechend wurden auch in §18 der Verordnung vom 26. 12. 1808 die Aufgaben der Repräsentanten definiert. Siehe Scheel, Interimsministerium, Nr. 22, S. 52. 55 Siehe Obenaus, Anfänge, S. 44. Koselleck, Preußen, S. 174 f. 56 Flad, Begriff, S. 260. 57 Ähnlich Obenaus, Verwaltung, S. 135 f.
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Stein „Bürgersinn“ nicht als Bedingung einer im modernen Sinne außerstaatlichen Zivilgesellschaft, sondern als die Hinwendung des Einzelnen zur Einheit von Volk und Staat als eine Voraussetzung des „Einklang[s] zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden“.58 In vielen Bereichen deckten sich die Reformkonzeptionen Altensteins und Hardenbergs mit denen Steins; auch sie geißelten den ständischen Egoismus: Anstelle des provinzialen Eigenlebens sei „dem Ganzen ein[] einzige[r] Nationalcharakter aufzuprägen“, wozu auch „die Amalgamierung der Repräsentanten mit den einzelnen Verwaltungsbehörden“ dienen sollte. Unterschiede bestanden aber in der Auffassung von der weiteren Ausgestaltung der Repräsentation. Stein sah die Eingliederung von Ständevertretern in die Verwaltung nur als Element und Vorstufe eines Repräsentationsmodells, das Ständeversammlungen von der Kreis- bis hinauf zur gesamtstaatlichen Ebene vorsah. Dagegen riet Hardenberg in der Rigaer Denkschrift ausdrücklich von einer förmlichen „Nationalversammlung“, die einen dauerhaften „konstitutiven Körper“ bilden würde, ab;59 für ihn bot die vorgeschlagene Teilnahme von Ständevertretern an der Administration ein ausreichendes Maß an Repräsentation.60 Der König schien ähnliche Bedenken gegenüber einer förmlichen preußischen Repräsentationskörperschaft gehabt zu haben. So begrüßte er den Organisationsentwurf für die Unterbehörden auch wegen der „auf besonders meisterhafte Art verwebte[n] ständische[n] Repräsentation“, welche die Möglichkeit eröffne, „die Nation einem bestimmten regeren Anteil an der Wohlfahrt des ganzen Staatskörpers nehmen zu lassen, ohne daß hieraus andere Inconvenienzen entstehen könnten“.61 Die Reform der Provinzialverwaltung zielte vor allem auf die konsequente Unterminierung der bestehenden ständischen Strukturen ab.62 Von den ständischen Repräsentanten erwartete man deshalb auch, dass sie sich nicht dem Einzel-, sondern dem Gemeininteresse verpflichtet fühlten.63 Sie sollten zu „öffentlich-rechtliche[n] Repräsentanten“64 werden, die dem staatlichen Handeln eine breitere Legitimationsbasis verschaffen konnten. Bereits der Gesetzestext legte diese Intention offen dar. Darin hieß es, dass sich die Repräsentanten eben nicht nur „von der Rechtlichkeit und Ordnung der öffentlichen Staatsverwaltung“ überzeugen sollten, sondern auch 58
Die Zitate „Nassauer Denkschrift“, Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 394. 59 Siehe Denkschrift Hardenberg, Riga, 12. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 261, S. 318 f., hier die Zitate ebd. Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Ebd., Nr. 262, besonders S. 541 f. 60 Siehe hierzu Obenaus, Verwaltung, S. 140 – 144, 159 f. Ders., Anfänge, S. 36. 61 Das Zitat in einer Kabinettsorder an Stein (Memel, 27. 12. 1807). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 520, S. 598. Siehe auch Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 405. Ritter, Stein, S. 244. 62 Siehe hierzu Obenaus, Verwaltung, S. 152 f. Auch Koselleck, Preußen, S. 177. 63 Zur Stellung der Repräsentanten siehe Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 341 f. Obenaus, Anfänge, S. 45. 64 Obenaus, Verwaltung, S. 136.
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„diese Ueberzeugung in der Nation gleichfalls zu erwecken, und zu befestigen“ hätten.65 In dieselbe Richtung wies die Nassauer Denkschrift, in der Stein von der Beseitigung des „Unwillen[s] gegen die Regierung“66 durch die Repräsentation sprach. „Der Zweck und die Bestimmungen der Repräsentanten würden doppelt sein“, schrieb schließlich auch Altenstein, weil sie die Administration mit ihren Kenntnissen bereichern und nötigenfalls gegen unzweckmäßige Bestimmungen die Stimme erheben, zugleich aber „die welche sie repräsentieren, von den Ideen der Administration (…) unterrichten, und die Gemüter (…) leiten, (…) und die Ausführung (…) begünstigen“ würden.67 In der Realität gestaltete sich das Verhältnis von Ständen und Staat ausgesprochen schwierig – so wie es mancher Kritiker erwartet hatte.68 Ein Hauptmangel des Gesetzes war, dass es nicht von der Ständereform begleitet wurde, die Stein ursprünglich angestrebt hatte und die er noch im Organisationsentwurf vom November 1807 und in einem Immediatbericht andeutete.69 Die Frage nach der Zusammensetzung der Wahlkorpora wurde im Gesetz von 1808 umgangen und nur vage von einer „Generalversammlung der Provinz“ gesprochen. Aufgrund des Mangels einer eindeutigen Regelung schufen die Stände Litauens und Ostpreußens schließlich durch die Verbindung eines ständischen Landtags mit einem landschaftlichen Generallandtag eine Versammlung, die ausreichend legitimiert erschien, um Anfang Mai die Repräsentanten für die Regierungen von Königsberg und Gumbinnen zu wählen. Im Gegensatz zu ihren ostpreußischen Mitständen, äußerten die litauischen Ständedeputierten allerdings schon kurz nach der Wahl den Wunsch, aufgrund der hohen Kosten, welche die Repräsentation mit sich bringen würde, vorerst von dieser befreit zu werden. Auch die westpreußischen Stände, die ebenfalls in Form eines erweiterten landschaftlichen Landtags am 18. und 19. Mai 1809 tagten, wollten wegen der finanziellen Lage der Provinz auf die Entsendung der Repräsentanten verzichten. Der ostpreußische Oberpräsident Auerswald, der den Landtagen als königlicher Kommissar vorstand, überließ dem König die Entscheidung über das Ansinnen der westpreußischen und litauischen Deputierten.70
65 Die Zitate nach §18 „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden“, Königsberg, 26. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 22, S. 52. 66 „Nassauer Denkschrift“, Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 390. 67 Die Zitate nach Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 262, S. 406. 68 Zur Kritik siehe u. a. Hundt an Staegemann, Berlin, 29. 11. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd, 1, Nr. 51, S. 183. 69 Siehe Immediatbericht Stein, Memel, 23. 11. 1807 und „Plan zu einer Organisation der Geschäftspflege im Preußischen Staat“, (Memel), 23. 11. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 44, 45, S. 97 f., 100. Obenaus, Verwaltung, S. 132 – 134. Ders., Anfänge, S. 45. 70 Zu den Landtagen siehe Obenaus, Verwaltung, S. 154 – 157, 165 – 167.
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Friedrich Wilhelm gab den Ersuchen nach, so dass am Ende nur die Königsberger Regierung Ständerepräsentanten aufnahm.71 Diese verstanden ihr Amt keineswegs in der Weise, wie es sich die Schöpfer des Gesetzes vom 26. Dezember gewünscht hatten. Danach sollten die Repräsentanten eigentlich „nichts eher in das Publikum kommen (…) lassen, als bis solches auf dem offiziellen Wege geschiehet.“ Demzufolge hätten sie ihre Tätigkeit sowohl im Regierungsplenum, als auch in den einzelnen Verwaltungszweigen ohne Rückbindung zu ihrer Wählerschaft ausüben müssen, wodurch ihre Stellung eher der (unbesoldeter) Beamter, aber nicht der von Repräsentanten geglichen haben würde.72 In Anbetracht der erstarkten Stellung, welche die ostpreußischen Stände durch die Bewältigung der Kriegs- und Friedenslasten gewonnen hatten, war es wenig wahrscheinlich, dass sich „ihre“ Repräsentanten mit einer derartigen Passivität bescheiden würden. Die Stände gedachten vielmehr, die Deputierten als ein Instrument zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen zu gebrauchen, weshalb sie zum Ärger des Staatsministeriums gezielt verwaltungs- und rechtskundige Personen zu Repräsentanten wählten. Auch der – rundweg abgelehnte – Antrag der Stände, die Deputierten mit präzisen Instruktionen versehen zu dürfen, bezeugte deutlich das eigene Verständnis von der Repräsentation als einer „Interventionsinstanz“.73 Letztendlich war es dem Ministerium nicht möglich, den Austausch zwischen den ständischen Repräsentanten und dem Komitee der ostpreußischen und litauischen Stände, dem wichtigsten Organ landständischer Politik, zu verhindern. Eine Aufhebung des Komitees, wie überhaupt ein offen konfrontativer Kurs gegenüber den Landständen, war schon angesichts von deren Bedeutung für das Kontributionswesen unmöglich.74 Im Endergebnis lief die Repräsentation den ursprünglichen Intentionen des Gesetzes zuwider. Statt das ständische Ausschusswesen zu schwächen, wurde dieses um eine weitere Möglichkeit der politischen Einflussnahme bereichert.75 So wandten sich die Repräsentanten im Februar 1810 direkt an den König und verlangten ungeachtet ihrer eigentlich auf die Verwaltungsarbeit beschränkten Zuständigkeit die Einberufung von Deputierten sämtlicher Provinzen, um „die Nation mit den eingegangenen Pflichten und mit dem Finanzzustand des Staats bekannt zu machen“. Der König wies diese Forderung, die auf eine Parlamentarisierung hätte hinauslaufen können, entschieden zurück.76 Da es den Ständen nicht gelang, den Anspruch auf eine echte Repräsentation und damit auf politische Partizipation durchzusetzen, erbaten das Komitee ebenso wie die 71
Siehe hierzu ebd., S. 162 f. Siehe ebd., S. 153. 73 Siehe ebd., S. 158 f., 168. Bereits Hardenberg hatte in seiner Reformdenkschrift ausdrücklich gefordert, dass die Repräsentanten nicht mit Instruktionen versehen werden sollten. Denkschrift Hardenberg, Riga, 12. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 261, S. 318. 74 Siehe hierzu Obenaus, Verwaltung, S. 169 f. 75 Siehe hierzu ebd., S. 176 – 178. Ders., Anfänge, S. 46. 76 Siehe hierzu Obenaus, Verwaltung, S. 171 – 173, hier das Zitat S. 172 (zit. n. den Akten). Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 176. 72
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kleineren ostpreußischen Städte die Entlassung der kostspieligen Repräsentanten. Auerswald unterstützte diesen Wunsch, denn auch aus Sicht der Königsberger Regierung brachte die Aufnahme der Repräsentanten mehr Nachteil als Nutzen mit sich. Im Juni 1812 wurde die Aufhebung der ständischen Repräsentation verfügt.77 Der Plan durch die Teilnahme von ständischen Vertretern, die Verwaltungsarbeit zu optimieren, ohne aber eine Repräsentation zu schaffen, die ihren Namen auch verdiente, war damit am politischen Gestaltungswillen der ostpreußischen Stände gescheitert. Es war eben nicht ohne weiteres möglich, die Vorteile zu haben, ohne die autonome bürokratisch-monarchische Entscheidungsfindung preiszugeben; dafür hatten sich das materielle und ideelle Kräfteparallelogramm nach 1807 zu deutlich zu Gunsten außergouvermentaler Akteure verschoben. In den weiter westlich und südlich gelegenen Provinzen der Monarchie, in Pommern, Schlesien, der Neu- und der Kurmark kam es erst gar nicht zu ordentlichen Wahlen von Repräsentanten. Die Folgen daraus, dass eine Reform der ständischen Verfassungen, wie sie sich Stein mit der Einführung neuer Kreis- und Landtage vorgestellte hatte,78 unterblieb, machte sich auch dort deutlich bemerkbar. In der Neumark wusste man überhaupt nicht, ob die Städte zur Wahl berechtigt seien. Die pommerschen Städte monierten wiederum ihre grundsätzlich schwache Vertretung, die ihnen die pommersche Ständeverfassung zumaß. Zwar ernannte ein pommerscher Landtag im September 1809 zwei Repräsentanten, die dann aber nicht in die Provinzialregierung entsandt wurden. Die kurmärkischen Stände wollte überhaupt keine ständischen Vertreter wählen und lehnten auch die damit verbundene Übertragung von Kompetenzen der ständischen Verwaltung auf die Provinzialregierung ab; die einmal eroberten Felder der Selbstverwaltung sollten nicht an den Staat fallen. Wie den westpreußischen und litauischen Ständen so gelang es auch ihnen, sich unter Hinweis auf die hohen Kosten der aufgenötigten Repräsentation zu entziehen. In Schlesien verfing sich das Reformgesetz von Beginn an in inneradministrativen Auseinandersetzungen und wurde nicht ausgeführt.79 Im Zuge der Provinzialverwaltungsreform wurde den Provinzialregierungen auch die Aufsicht über das Ständewesen ihres Verwaltungsbezirks übertragen. Was dies konkret bedeutete, blieb allerdings vorerst unklar. Eindeutiger war in dieser Hinsicht die Stellung der Oberpräsidenten definiert, deren Amt mit dem Organisationsedikt vom 16. Dezember 1808 geschaffen wurde. Sie hatten die „allgemeine Aufsicht auf die ständische Verfassung der Provinzen“ inne und führten „als Landesherrliche Kommissarien den Vorsitz bei den allgemeinen ständischen Versammlungen und die polizeiliche Aufsicht über die ständischen Geldinstitute“. Sie sollten gegenüber den Ständen den staatlichen Herrschaftsanspruch deutlicher demonstrieren als etwa die von den Gutsbesitzern gewählten und vom König nur bestätigten Landschaftsdi77
Siehe Obenaus, Verwaltung, S. 173 – 175. Siehe hierzu „Nassauer Denkschrift“, Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 392 f. 79 Siehe hierzu Obenaus, Verwaltung, S. 163 – 165. 78
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rektoren, deren Aufgaben sie zum Teil übernahmen.80 Als „perpetuierliche Kommissarien“81 waren sie „zur Durchsetzung einer neuen Staatsordnung (…) das wirksamste Instrument der Staatsgewalt“82. Selbst wenn das Oberpräsidentenamt wahrscheinlich nicht direkt aus den Generalzivilkommissariaten hervorging,83 war der Aufgabenkreis beider Institutionen recht ähnlich definiert.84 Auch die Oberpräsidenten beaufsichtigten mehrere Regierungsbezirke und wie die Generalzivilkommissare sollten auch sie zur „Belebung des Geschäftsganges“ in der Provinzialverwaltung beitragen, ohne sich aber unmittelbar in den alltäglichen Verwaltungsbetrieb der Regierungen einzumischen; nur in Ausnahmefällen durften sie direkt an diese verfügen. Den Oberpräsidenten oblag es, als Organe der Zentralregierung vor Ort die in ihrer Entscheidungsfreiheit vergleichsweise unabhängigen Provinzialverwaltungsbehörden zu kontrollieren, auf die „Treue und Dexterität der Beamten“ zu achten und diesen gegenüber als Ratgeber aufzutreten.85 Außerdem hatten sie auf Verwaltungsmängel sowie die Probleme des Landes zu achten und gegebenenfalls entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Angelegenheiten, die mehrere Regierungsbezirke betrafen, fielen ebenfalls in den Aufgabenbereich der Oberpräsidenten. An erster Stelle standen hier militärische Fragen, allen voran das Einquartierungs- und Verpflegungswesen. Altenstein hatte schon in der Rigaer Denkschrift auf die Notwendigkeit einer engen Kooperation zwischen „Zivilgouverneurs“ und den militärischen Stellen hingewiesen. Von ihm ging überhaupt der Anstoß zur Schaffung des Oberpräsidentenamtes maßgeblich aus. Die größere Selbstständigkeit, die den vormaligen Kammern eingeräumt wurde, bedingte aus seiner Sicht die Einrichtung einer Kontrollinstanz, die für eine 80 Zur Stellung der Oberpräsidenten siehe „Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung“, Königsberg, 16. 12. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 333, S. 1162 – 1164, hier die Zitat S. 1163. „Instruktion für die Oberpräsidenten in den Provinzen“, Königsberg, 23. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 18, S. 33 – 37. Siehe hierzu Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 343 f. Ders., Geschichte, S. 80 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 398 f. Hartung, Studien, S. 281 – 282. 81 „Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung“, Königsberg, 16. 12. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 333, S. 1163. 82 Otto Hintze, Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte, in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, S. 242 – 274, hier S. 273. 83 Dagegen spricht, dass Altenstein das Oberpräsidentenamt in Riga konzeptionierte, während die Generalzivilkommissariate ohne Altensteins Beteiligung Ende Juli 1807 instruiert wurden. Anders sah dies Hintze, Commissarius, S. 247. 84 Siehe hierzu Mamroth, Geschichte, S. 63. 85 Die Zitate nach „Publikandum, betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden der preußischen Monarchie in Beziehung auf die innere Landes- und Finanzverwaltung“, Königsberg, 16. 12. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 333, S. 1162 f. Zu Oberpräsidenten wurden ernannt: Sack für Pommern, die Kur- und Neumark, Massow für Schlesien und Auerswald für Litauen, Ost- und Westpreußen. Für Berlin wurde kein Oberpräsident eingesetzt. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 479 f.
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gleichförmige Politik zu sorgen vermochte. Obendrein würde das neu errichtete Innenministerium, das die vormaligen Provinzialdepartements des Generaldirektoriums ersetzte, es nach Altensteins Ansicht notwendig machen, Kommissare zu ernennen, welche die ihnen anvertrauten Provinzen bereisen und sich aus erster Hand einen Eindruck vom Zustand des Landes und der Verwaltung machen konnten.86 Kurz nach Einsetzung der Oberpräsidenten offenbarten sich die Probleme, die aus der unzureichenden Kompetenzabgrenzung zu den Regierungen resultierten.87 Es entstanden Konflikte ähnlich derer, die zwischen den Generalzivilkommissaren und der Kammerverwaltung bestanden hatten. Die Idee einer „ausführenden, kontrollierenden und konsultierenden Behörde“88, die aber keine Zwischeninstanz zwischen den Regierungen und dem Innenministerium bilden sollte und sich überhaupt aus dem allgemeinen Geschäftsbetrieb herauszuhalten hatte, erwies sich in der Praxis als unpraktikabel. Die Stellung der Oberpräsidenten war zu schwach, als dass sie wirklich gestalterisch hätten tätig werden können; sie waren eben alles andere als „bürokratische[] »Provinzkönige[]«“89. Es hing am Ende vom jeweiligen Oberpräsidenten ab, wie er seine Stellung definierte und wie sehr er als eigenständiger Akteur in Erscheinung trat. Massow setzte zum Beispiel die Linie fort, die er schon als Generalzivilkommissar verfolgt hatte und betrieb eine eigenständige und bisweilen selbstherrliche Politik – oft auf eigene Faust und gegen das Staatsministerium.90 Auch Sack trat bestimmend auf und geriet deshalb bald in Auseinandersetzungen sowohl mit den Ständen wie auch mit der Potsdamer Regierung. Aus Protest gegen die untergeordnete Stellung, die er gegenüber Sack einnehmen sollte, verlangte der Regierungspräsident Gerlach schließlich seinen Abschied.91 Aus allen denkbaren Richtung wurde das Oberpräsidentenamt kritisiert.92 „Sie (die Oberpräsidenten; S.P.) fingen an, eine Mittel-Instanz zwischen den Ministerien und Regierungen zu bilden, woraus (…) häufig Kollisionen und Spannungen hervorgingen“93, klagte im Juli 1810 Dohna gegenüber dem König. Sogar den Oberpräsidenten selbst schien ihr Amt entbehrlich. Als dann Hardenberg, der selbst zu einem Präfektursystem nach französischem Muster tendierte, 1810 zum Kanzler
86 Siehe Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 262, S. 535 – 538, hier das Zitat S. 535. Siehe hierzu Bär, Behördenverfassung, S. 169. Meier, Reform, S. 174 – 187. Ritter, Stein, S. 242 f. Hartung, Studien, S. 278. 87 Siehe Meier, Reform, S. 189 f. Hartung, Studien, S. 282 f. 88 „Instruktion für die Oberpräsidenten in den Provinzen“, Königsberg, 23. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 18, S. 34 (Hervorhebungen im Original). 89 Vogel, Gewerbefreiheit, S. 42. 90 Siehe hierzu Hartung, Studien, S. 283. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 107 f. 91 Siehe Schoeps, Not, S. 74. Obenaus, Verwaltung, S. 164. Holste, Arena, S. 56. 92 Siehe beispielsweise die Kritik im Schreiben von Leopold von Gerlach an Beyme (Berlin, 28. 1. 1809). Schoeps, Not, Nr. 59, S. 373 f. 93 Immediatbericht Dohna, Berlin, 6. 7. 1809. Bezzenberger, Aktenstücke, S. 4.
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ernannt wurde, bedeutete dies auch das Ende des Oberpräsidentenamts. Erst 1815 wurde es in veränderter Form wieder eingeführt.94 Ein weiteres Element der Bemühungen um eine Reform der provinzialen und kommunalen Verhältnisse war die Städteordnung, die am 19. November 1808 in Kraft trat. Stein hatte in seiner Nassauer Reformdenkschrift bereits auf die Notwendigkeit einer solchen Neuorganisation der städtischen Verwaltung hingewiesen;95 wichtige Anstöße gingen jedoch auch von einer Eingabe der Königsberger Bürgerschaft, die auf einem Reformplan des Kriminalrats Brandt fußte, und von Überlegungen des Königsberger Polizeidirektors Frey aus. Stein hatte schließlich dem Provinzialminister Schroetter die Ausarbeitung eines konkreten Gesetzentwurfs übertragen.96 Die Städteordnung führte in sämtlichen Städten mit einer Stadtverordnetenversammlung eine kommunale Repräsentationskörperschaft ein.97 Jeder mit dem Bürgerrecht ausgestattete Stadtbewohner besaß das passive und aktive Wahlrecht. Die Spitze der städtischen Verwaltung bildete weiterhin der Magistrat, dessen Mitglied aber nun von den Stadtverordneten gewählt und nicht mehr wie zuvor ausschließlich von der Kammer ernannt wurden;98 für den Posten des Oberbürgermeisters hatten die Stadtverordneten drei Kandidaten zu präsentieren. Nach den Bestimmungen der Städteordnung führten Magistrat, Stadtverordnete und Bürger selbstständig weite Zweige der Stadtverwaltung, zu denen auch das kommunale Steuer- und Finanzwesen zählte. In gewisser Hinsicht wurde damit eine Situation nachträglich sanktioniert, wie sie schon seit der Okkupation vorherrschte, als viele Städte angesichts der Kontributions-, Requisitions- und Einquartierungsforderungen zum Aufbau einer eigenständigen Finanzverwaltung gezwungen waren und die bestehenden sozialen und administrativen Strukturen der Städte insgesamt brüchig wurden. In Königsberg kamen etwa nicht zuletzt aufgrund der enormen Kriegslasten Ideen von einer sozialen Verbreiterung der Bürgerschaft und der Einführung eines modernen
94 Siehe Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 163 f. Haußherr, Hardenberg, S. 242. Hartung, Studien, S. 283 f. 95 Siehe „Nassauer Denkschrift“, Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 391 f. 96 Zur Entstehung der Städteordnung siehe Clauswitz, Städteordnung, S. 56 – 94. Ritter, Stein, S. 251 – 266. Winkler, Frey, S. 111 – 143. Hans-Jürgen Belke, Die preussische Regierung zu Königsberg (Studien zur Geschichte Preussens, 26), Köln/Berlin 1976, S. 93 – 98. Gray, Prussia, S. 87. Knemeyer, Verwaltungsreform, S. 106 – 107. 97 Siehe „Ordnung für sämtliche Städte der preußischen Monarchie“, Königsberg, 19. 11. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 319, S. 1038 – 1062. Obenaus sprach gar mit Hugo Preuß von den „Stadtvertretern“ als „die ersten Volksvertreter in Preußen“. Obenaus, Anfänge, S. 47. 98 Zur Verfassung der Städte vor 1808 siehe Ziekursch, Städteverwaltung, S. 81 – 89, 102 f, 110 f.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
Steuersystems auf; von hier gingen schließlich, wie bereits erwähnt, auch wesentliche Impulse für die Städteordnung aus.99 Die administrative Eigenständigkeit der Städte wurde jedoch in entscheidenden Punkten wieder eingeschränkt. Bei aller Bewegungsfreiheit, welche die Städte bei der Regelung ihrer inneren Angelegenheiten erhielten, ist die Städteordnung immer auch Teil des Bestrebens gewesen, die souveräne Staatsgewalt auszubauen.100 So wurde die Unterscheidung zwischen Mediat- und Immediatstädten, trotz weiterbestehender Verschiedenheiten, grundsätzlich aufgehoben.101 Gleich in §1 der Städteordnung hieß es schließlich, dass „[d]em Staat und den von solchem angeordneten Behörden (…) das oberste Aufsichtsrecht über die Städte, ihre Verfassung und ihr Vermögen“102 bleibe. Der Staat wahrte sich damit explizit ein Eingriffsrecht in die städtische Verwaltungssphäre. Im Justiz- und Polizeiwesen, in zentralen Bereiche hoheitlicher Gewalt also, wurden frühere städtische Sonderrechte aufgehoben und in staatliche Hand überführt, so dass beispielsweise ab November 1809 innerhalb der städtischen Grenzen Recht nur noch ausdrücklich im Namen des Königs gesprochen wurde.103 Die Ausübung der Polizeigewalt durch städtische Behörden sollte nach Steins Vorstellung nur noch „ex jure delegato“ erfolgen dürfen;104 die obrigkeitliche Gewalt der Städte war also eindeutig von der Staatsgewalt abzuleiten.105 Die Städteordnung betonte daher auch, dass die Polizei dem Magistrat nur übertragen sei, der „in dieser Hinsicht als Behörde[] des Staats betrachtet“ werde.106 In den größeren Städten, 1810 waren es 21, fiel die Polizeiaufsicht sogar unmittelbar in den Kompetenzbereich eines königlichen Polizeipräsidenten,107 der als verlängerter Arm der Zentralregierung die staatliche Kontrolle über die städtische Verwaltung ausübte. Keinesfalls sollten die Stadtverordnetenversammlung und der Magistrat sich zu 99 Siehe Clauswitz, Städteordnung, S. 55. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch für die Zeit der Okkupation in Berlin ausmachen. Ebd., S. 54. Zu den Tendenzen zu mehr Bürgerbeteiligung und einer Verringerung von Standesschranken in den ostpreußischen Städten siehe Neugebauer, Wandel, S. 129 – 149. 100 Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 260. Nolte, Staatsbildung, S. 58 – 60, 62. 101 Siehe Ziekursch, Städteverwaltung, S. 147. 102 §1 Städteordnung. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 319, S. 1039. 103 Siehe Bornhak, Geschichte, S. 20. Bär, Behördenverfassung, S. 193 f. 104 Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 260, hier das Zitat. Wichtig ist dabei die Bedeutung des Wortes „Polizei“, wonach im damaligen Sprachgebrauch „die ganze innere Verwaltung: Fürsorge für Handel und Gewerbe, Armen-, Schul-, Kirchen- und Gesundheitswesen, Lebensmittelversorgung, Markttaxen und Marktaufsicht, Reinigung, Pflasterung, Beleuchtung der Straßen, Aufsicht über den Fremdenverkehr, das Innungswesen und dergleichen mehr“ verstanden wurde. Ebd., S. 261. 105 Der Streit um die Vereidigung der Königsberger Stadtverordneten zeigte, wie viel Wert darauf gelegte wurde, dass die obrigkeitliche Gewalt der Städte von der Staatsgewalt abgeleitet wurde. Siehe hierzu Belke, Regierung, S. 94 – 96. 106 §166 Städteordnung. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 319, S. 1051 f., hier das Zitat S. 1052. 107 Siehe hierzu Bornhak, Geschichte, S. 21. Ziekursch, Städteverwaltung, S. 163 – 170. Ritter, Stein, S. 262.
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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Kristallisationskernen eines politischen Interessenbewusstseins entwickeln, das über die engeren Angelegenheiten der Stadt hinausreichte. Vergleichbar mit der Einrichtung der ständischen Repräsentanten in den Regierungen zielte auch die städtische Selbstverwaltung nicht auf die unmittelbare politische Partizipation der Einwohner ab. Selbstverwaltung sollte in keinem Fall Selbstherrschaft bedeuten. Das hohe Maß politischer Eigenverantwortung, das die Städte trotz allem besaßen, war also durchaus mit einem Programm staatlicher Herrschaftsintensivierung zu vereinbaren und stand in keinem Widerspruch zum Ziel einer möglichst voll ausgestalteten inneren Souveränität.108 Indem die Städte ihre Angelegenheiten selbstständig regelten, konnte die staatliche Administration immerhin personell verschlankt und effizienter werden. Stein war auch davon überzeugt, dass die Bevölkerung, in den Städten wie auf dem Land, aufgrund ihrer Erfahrung, ihrer Ortskenntnis und ihres Wissens um die lokalen Bedürfnisse besser dazu befähigt sei, in einem sachlich und räumlich eng definierten Bereich die Verwaltungsgeschäfte zu führen, als ein womöglich in seinem Gesichtskreis beschränkter und ortsfremder Beamter. Wichtig erschien nur, dass die Kompetenzen der selbstverwaltenden Institutionen eindeutig von der Krone delegiert wurden. Neben diesen im weitesten Sinne verwaltungstechnischen Überlegungen sprachen nicht zuletzt finanzielle Gründe für die Übertragung administrativer Aufgaben an die Städte. Einige Beamtenstellen, wie die der Steuerräte, mussten künftig nicht mehr besetzt werden und der von den Bürgern gewählte Magistrat war anders als das Vorgängerinstitut zum Großteil unbesoldet.109 Außerdem wurde die Staatskasse mit der Übertragung der Finanzierung zahlreicher Bereiche der öffentlichen Wohlfahrt und der städtischen Infrastruktur auf die Städte in einem nicht unerheblichen Umfang entlastet. Gerade in einer Zeit größter staatlicher Finanzkalamitäten kamen solchen Einsparpotenzialen eine wichtige Bedeutung zu. Ein weiteres Ziel, das Stein mit der Städteordnung verfolgte, nämlich ein gesteigertes bürgerliches Interesse an den allgemeinen Verhältnissen der Stadt und des Staats – einen „public spirit“ – hervorzurufen, konnte zumindest kurzfristig nicht erreicht werden.110 Dabei war es der Entstehung eines Gemeinschaftsbewusstseins auch nicht unbedingt dienlich, dass in den Städten nach wie vor die Unterscheidung zwischen Bürgern und Schutzverwandten bestand. Aufgrund der restriktiven Handhabung des Bürgerrechts fiel auch der Kreis der Wahlberechtigten zur Stadtverordnetenversammlung vergleichsweise klein aus. Hinzu kam, dass die Beratun-
108 Zumal schon Bodins Souveränitätskonzeption die Konstruktion des „gouvernement“ kannte. Siehe hierzu Kap. A. II. 109 Zum Magistrat siehe Tit. VII Städteordnung. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 319, S. 1051 f. 110 Siehe hierzu Münchow-Pohl, Reform, S. 128. Levinger, Enlightened Nationalism, S. 58, hier auch das Zitat.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
gen der Stadtverordneten nicht öffentlich waren; die breite Mehrheit der Bürger konnte deshalb nur schwerlich eine rege Teilnahme an der Stadtpolitik entwickeln.111 In der Bevölkerung rief die Städteordnung vor allem wegen der finanziellen Zusatzbelastungen, die sie für die Städte, die nach dem Krieg und der Besetzung zum Teil hochverschuldeten waren, mit sich brachte, zunächst ein negatives Echo hervor. Die neuen Ausgaben brachten so manche Stadt an den Rand des Bankrotts. Ein weiterer Grund für die anfängliche Ablehnung war die unklare Abgrenzung der Befugnisse des Polizeipräsidenten zu denen der städtischen Verwaltung, woraus wiederholt Spannungen resultierten. Ungeklärt blieb vorerst überhaupt, was in der Städteordnung mit „Polizei“ bezeichnet wurde.112 Viele solcher anfänglichen Mängel wurden erst mit der revidierten Städteordnung von 1831 beseitigt. Stein und andere reformorientierte Beamte planten, die unmittelbare staatliche Gewalt auch in den ländlichen Raum weiter vordringen zu lassen und die Herrschaftsrechte lokaler Obrigkeiten zu mediatisieren; der Weg dorthin war aber umstritten.113 Speziell die Teilautonomie der Gutsherrschaft kollidierte mit der angestrebten Ausweitung der souveränen Staatsgewalt. „Regierung kann nur von der höchsten Gewalt ausgehen. Sobald das Recht, die Handlungen eines Mituntertans zu bestimmen oder zu leiten, mit einem Grundstück ererbt oder erkauft werden kann, verliert die höchste Gewalt ihre Würde“114, hieß es in Steins „Politischen Testament“ mit klarer Wendung gegen die Stellung der Gutsbesitzer, die kraft ihres Besitztitels die Gerichtsbarkeit über die Einsassen besaßen.115 Neben Stein übte besonders Schön, der das Testament konzipiert hatte, scharfe Kritik an den administrativen Strukturen auf dem Land.116
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Siehe Obenaus, Anfänge, S. 50. Siehe hierzu Ziekursch, Städteverwaltung, S. 148 – 162, 190 f. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 120 f. Münchow-Pohl, Reform, S. 124 – 127. Ritter, Stein, S. 261 f. Nolte, Staatsbildung, S. 60 f. Neugebauer, Wandel, S. 149 – 151. Winkler, Frey, S. 143 – 148. Martin Winter, Ein märkischer Andreas Hofer? Die Auseinandersetzung um die „provisorische Verteilung“ der Kriegslasten der Stadt Berlin im Jahr 1809, in: Kloosterhuis/Neugebauer, Krise, S. 169 – 189, hier S. 170 – 173. 113 Zur inneradministrativen Debatte bis zum Ausscheiden Steins siehe Meier, Reform, S. 325 – 373. Gray, Prussia, S. 83 – 85. Monika Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770 – 1848/49 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 148), Göttingen 2001, S. 83 f. 114 Stein an die Mitglieder des Generaldepartements („Politisches Testament“), Königsberg, 24. 11. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 330, S. 1137. Weiter hieß es: „Derjenige, der Recht sprechen soll, hänge von der höchsten Gewalt ab.“ Ebd. 115 Siehe auch „Nassauer Denkschrift“, Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 398. Ähnlich auch „Promemoria des Geheimen Oberfinanzrats und Kammerpräsidenten von Auerswald“, Königsberg, 7. 8. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 230, S. 729 f. Zur Position Steins siehe Ritter, Stein, S. 187 f. Wienfort, Patrimonialgerichte, S. 80 f., 90. Zur Stellung der Gutsbesitzer siehe Ziekursch, Agrargeschichte, S. 121 – 131. 116 Siehe Schön, Aus den Papieren, Bd. 1, S. 49, Bd. 3, S. 107. 112
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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Schon seit den 1780er Jahren hatte es Bestrebungen zu einer Reform der Patrimonialgerichtsbarkeit gegeben. Der ökonomische Wandel hatte die tradierten patriarchalischen Bindungen zwischen Herrn und Untertanen bereits vielfach zur Makulatur werden lassen. Die Güter waren zu Spekulationsobjekten eines überhitzten Markts geworden, so dass mit gewisser Regelmäßigkeit mit dem Besitzer auch der Gerichtsherr wechseln konnte. Nach 1807 ließen dann auch außenpolitische Faktoren eine konsequente und schnelle Umsetzung dieses Reformgedankens angeraten erscheinen, denn während der Verhandlungen über die Friedensvollziehung hatte Napoleon die Übereignung von Domänen als Kompensation für die noch offene Kontributionsschuld gefordert. Am Dominialbesitz haftete aber genauso wie an den privaten Gütern die Patrimonialjustiz. Die Übertragung der Domänen an Napoleon hätte ihn also nicht nur zum wohl größten Grundbesitzer Preußens, sondern auch zum Gerichtsherrn über tausende preußische Untertanen gemacht. Nur durch die Aufhebung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit schienen die negativen Auswirkungen, die sich daraus für die preußische Souveränität ergeben mussten, abgewendet werden zu können.117 Die Abtretung der Domänen konnte am Ende umgegangen werden; es zeigte sich aber bald, dass die Patrimonialgerichtsbarkeit einer Reform der bäuerlichen Verhältnisse, wie sie mit dem Oktoberedikt angestrebt wurde, im Weg stand. So nutzten die Gutsbesitzer Schlesiens ihre Stellung als Gerichtsherren, um die Umsetzung des Edikts zu hintertreiben.118 Wenn lokale Herrschaftsträger die staatliche Legislativgewalt derart zu schwächen vermochten, dann widersprach dies entschieden dem Gesetzgebungsanspruch des Souveräns. „Der Hauptgrund“, warum die Gesetze keine vollständige Geltung erlangen würden, erklärte Friedrich Wilhelm gegenüber dem Kanzler Schroetter mit großer Klarsicht, „scheint aber in der bisherigen Verfassung mit den Patrimonialgerichten zu beruhen, die, in der eigenen Verwaltung oder in der großen Abhängigkeit des Justitiars von dem Gutsherrn, dergleichen Gesetze (…) nicht zur gehörigen Bekanntmachung und Anwendung kommen lassen.“119 Wollte die Zentralregierung nicht auf ihren politischen Gestaltungsanspruch verzichten, so erschien eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse unverzichtbar. Doch wuchs die Opposition, die sich gegen die Reform der Patrimonialgerichtsbarkeit formierte, beständig und dass, obwohl das Staatsministerium sich bemühte, auf publizistischem Weg die öffentliche Meinung für die eigenen Pläne zu gewinnen.120 Mit aller Deutlichkeit zeigte sich nun, dass sich die Landstände in Folge 117
Siehe hierzu die Gutachten von Klewitz und Schön, in denen beide vor diesem Hintergrund für eine Aufhebung der Patrimonialjustiz plädierten: „Gutachten des Geheimen Oberfinanzrats von Schön“, Memel, 30. 11. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 52, S. 183 f. „Gutachten des Geheimen Oberfinanzrats von Klewitz“, Memel, 30. 11. 1807. Ebd., Nr. 53, S. 184 – 190. Siehe hierzu Wienfort, Patrimonialgerichte, S. 82 f. 118 Siehe hierzu ebd., S. 82. 119 Zit. n. Ziekursch, Agrargeschichte, S. 124. Ähnlich Stein an Kanzler Schroetter, Königsberg, 6. 10. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 272, S. 895 f. 120 Siehe Wienfort, Patrimonialgerichte, S. 87 – 89.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
der Besetzung zu einem politischen Machtfaktor entwickelt hatten, der den Handlungsspielraum der Regierung in Königsberg einschränken konnte. Früh regte sich in der Kurmark der Widerstand gegen das Regierungsvorhaben.121 Am 25. Oktober 1808 wandte sich auch das ostpreußische ständische Komitee mit einer Eingabe an Stein und plädierte mit Hinweis auf die Erleichterungen, die sich daraus für die Untertanen ergeben würden, für die Beibehaltung des Status quo auf dem Land.122 Entschiedener Widerstand regte sich besonders im ostpreußischen Kreis Mohrungen, wo die Gutsbesitzer durch einen Repräsentanten in der Königsberger Regierung vorab über das Reformvorhaben informiert worden waren. Man halte die Patrimonialgerichtsbarkeit für „ein den adligen Gütern verliehenes und unablösbarlich auf denselben haftendes Recht“,123 schrieben sie an den König. Diese Argumentation entbehrte aus Sicht einiger Beamter nicht einer gewissen Berechtigung; auch Altenstein und die Brüder Schroetter hielten den Entzug der Patrimonialgerichtsbarkeit für einen problematischen Eingriff des Staats in die privaten Eigentumsverhältnisse.124 Die Lösung des Problems sah Altenstein im schrittweisen Ausbau der staatlichen Aufsicht über die Gutsjustiz, doch ließ sich auch diese Idee nicht mehr umsetzen.125 Mit dem Ausscheiden Steins ebbte der Reformimpuls entscheidend ab, wobei die Verstaatlichung der Justiz auf der Ebene der Gutsbezirke auch daran scheiterte, dass die vermehrten Kosten für den Staat, die durch die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit entstehen mussten, angesichts der Kontributionsschuld unbedingt zu vermeiden waren.126 Genauso misslangen die Anstrengungen, zu einer neuen Kreiseinteilung zu gelangen. Stein hatte beabsichtigt, die Kreise nach topographischen und nicht länger nach ständischen Gesichtspunkten zu gliedern.127 1809 griff Dohna diese Reformidee 121 Siehe unter anderem das Gutachten der kurmärkischen Landräte v. Bredow, v. Zieten, v. Pannewitz und v. Rochow, Dyrotz, 24. 9. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 152, S. 417 – 419. 122 Siehe Promemoria des Ostpreußischen Ständischen Komitees an Stein, Königsberg, 25. 10. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 954, S. 954 – 956. Auch Wienfort, Patrimonialgerichte, S. 84 f. 123 Siehe „Immediatbericht der Burggrafen zu Dohna auf Schlobitten und Schlodien und der übrigen adligen Einsassen des Mohrungenschen Kreises“, Mohrungen, 17. 11. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 315, S. 1030 – 1033, das Zitat S. 1031. Auch „Promemoria eines Vertreters des Adels“, s. l., o. D. Ebd., Nr. 316, S. 1033 – 1035. 124 Siehe Wienfort, Patrimonialgerichte, S. 89. 125 Siehe Hömig, Altenstein, S. 67. 126 Siehe hierzu besonders Wienfort, Patrimonialgerichte, S. 79 f., 89 – 92. Dabei war der Abbruch der Reform mit Sicherheit nicht einfach ein „Zugeständnis an den gutsbesitzenden Adel“ (Schissler, Agrargesellschaft, S. 52), sondern das Ergebnis der politischen Kräfteverteilung im Land und des inneradministrativen Dissenses. Siehe hierzu auch die richtigen Hinweise in Frie, Marwitz, S. 238 f. 127 Siehe „Nassauer Denkschrift“, Nassau, (Juni) 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/1, Nr. 354, S. 392. Zum Gesamtproblem siehe Berthold Schulze, Die Reform der Verwaltungsbezirke in Brandenburg und Pommern 1809 – 1818 (Einzelschriften der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt, 3), Berlin 1931, S. 15 – 20.
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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auf und bemühte sich redlich, am Ende jedoch erfolglos, um deren Umsetzung. Nicht zuletzt verhinderten inneradministrativer Dissens sowie der Widerstand der Stände einen Erfolg der Reform;128 aus Sicht der landsässigen Stände sprachen gegen diese gute Gründe, denn eine veränderte Kreiseinteilung hätte die seit Jahrhunderten gewachsenen territorialen Zusammenhänge mancher ständischen Institution beseitigt und dadurch eine Schwächung der Selbstverwaltung bewirkt. Außerdem wäre das an jeden Kreis geknüpfte Landratsamt in Gefahr geraten. Zwar war die Reform der staatlichen Provinzialverwaltung wenigstens in Teilen gelungen; auch die administrative Organisation der Städte wurde auf eine neue Grundlage gestellt. Auf ländlicher Ebene konnte der Souveränitäts- und Gestaltungsanspruch der Krone jedoch nicht vollständig durchgesetzt werden. Die Probleme um die Einführung der ständischen Repräsentanten zeigte, dass sich die Stände einiger Provinzen nicht zu Objekten staatlicher Politik herabdrücken lassen wollten. Sie reklamierten für sich einen dezidierten Anspruch auf Teilhabe an der politischen Entscheidungsfindung und waren dementsprechend bestrebt, den staatlichen Neuordnungsprozess in Einklang mit den eigenen Interessen zu bringen. Die Zentralregierung, die auch aufgrund innerer Auseinandersetzungen um den Reformkurs keine kontinuierlich in eine Richtung wirkende politische Kraft darstellte, war oftmals gezwungen, bei der Formulierung und Implementierung des eigenen politischen Programms diesem Anspruch der Stände Rechnung zu tragen. Ohne weiteres konnte die Bürokratie eben nicht über Land und Leute herrschen.
3. Souveränität und Ökonomie – Staatseinkommen und Volkswirtschaft a) Staatsfinanzierung: Zwischen Sparpolitik und Reform Starke finanzielle Kräfte waren und sind eine der entscheidenden Voraussetzungen zur Ausübung jeder politischen Herrschaft – auch von souveräner Herrschaft; nur mit ihrer Hilfe können moderne staatliche Strukturen geschaffen und die Staatsgewalt durchgesetzt werden. Problematisch musste es daher für die Souveränität sein, wenn der staatliche Finanzbedarf plötzlich außerordentlich anstieg, wie dies in den Jahren zwischen 1792 und 1815 in den meisten Staaten Europas der Fall war, als gewaltige Summen zur Finanzierung und Bewältigung der vielen Kriege aufgewandt wurden. Die bisherigen Instrumente der Staats- und Kriegsfinanzierung erwiesen sich in dieser Zeit des steten Unfriedens zumindest für die kontinentalen Mächte als untauglich, so dass neue fiskalische Maßnahmen erdacht wurden, deren Anwendung nicht ohne Folgen für das Wirtschaftsgefüge und die innere Verfassung zahlreicher Staaten blieb. 128 Siehe hierzu Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 345 f. Meier, Reform, S. 373 – 381. Schulze, Reform, S. 20 – 30. Knemeyer, Verwaltungsreform, S. 101 – 106. Nolte, Staatsbildung, S. 62 – 67.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
Im Sog der enormen ökonomischen Herausforderungen, die nach 1807 an Staat und Gesellschaft herangetragen wurden, geriet auch die preußische Wirtschaftsordnung in einen Transformationsprozess. Allen voran die Verhältnisse in der Landwirtschaft, die das Rückgrat der preußischen Volkswirtschaft bildete und erheblich zum Staatswohlstand beitrug,129 wurden in den ersten Monaten nach dem Tilsiter Frieden auf legislativem Weg neugestaltet. Die angestoßene Reform der Agrarverfassung konnte aber erst über einen längeren Zeitraum spürbare Effekte zeitigen; die erheblichen finanziellen Bedürfnisse des preußischen Staats waren allein durch sie nicht zu bewältigen. Die preußische Regierung sah sich schließlich nicht nur mit der Kontributionsschuld konfrontiert, sondern es musste zugleich das Kriegsschuldwesen der Provinzen saniert, der Haushalt ausgeglichen und das verheerte Land wiederaufgebaut werden; dabei waren die Staatseinnahmen drastisch gesunken und bedeutende Finanzreserven existierten nicht. Jahre zuvor, als Friedrich Wilhelm III. 1797 seine Regentschaft antrat, war bereits der sagenhafte 50 Mio. Taler Schatz, der von Friedrich II. angelegt worden war, nicht mehr vorhanden. Von seinem Vater und Vorgänger erbte der neue König vielmehr eine Staatsschuld von 40 Mio. Talern, die in den nächsten Jahren um immerhin einige Millionen reduziert werden konnte.130 Kurz vor Ausbruch des Kriegs, im Etatjahr 1805/6, verzeichnete der preußische Staat mit rund 30 Mio. Talern sogar die bis dahin höchsten Einnahmen seiner Geschichte.131 Diese insgesamt positive Entwicklung des preußischen Staatshaushalts unter Friedrich Wilhelm III. wurde durch den Wandel der außenpolitischen Verhältnisse schlagartig unterbrochen. Schon die mehrere Monate dauernde Mobilisierung, die 1805 während des Dritten Koalitionskriegs unternommen wurde, sorgte mit ihren hohen Kosten dafür, dass die Generalkasse und der königliche Tresor, der immerhin einmal 14 Mio. Taler umfasste, Mitte 1806 nahezu erschöpft waren.132 Während des Kriegs schwollen auch die Schulden des Staats wieder bedeutend an.133 Aufgrund der Verkleinerung der Monarchie, die der Frieden von Tilsit mit sich brachte, erwartete man zudem eine Verringerung der jährlichen Staatseinnahmen auf circa 15 Mio. Taler.134 Solange ein Großteil des 129
Siehe Mamroth, Geschichte, S. 3. Schissler, Agrargesellschaft, S. 75. Siehe Hintze, Hohenzollern, S. 425. 131 Siehe hierzu Kap. C., Fn. 12. Zur allgemeinen positiven wirtschaftlichen Entwicklung Preußens vor 1806 siehe Schmoller, Umrisse, S. 188 f. 132 Siehe Kombinierte Immediatkommission an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 15. 8. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 275, Bl. 146. 133 Zur Entwicklung der preußischen Staatsschuld siehe Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, s. l., 8. 12. 1807, Ausf. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 360, Bl. 97 – 99. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 598. Albert Naudé, Der preußische Staatsschatz unter König Friedrich Wilhelm II. und seine Erschöpfung, in: FBPG 5 (1892), S. 203 – 256, hier passim. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 132 f. Behre, Geschichte, S. 108. Haußherr, Befreiung, S. 166. Die Angaben weichen zwischen den Autoren im Detail ab, doch wurde überall dieselbe Grundtendenz festgestellt. 134 Siehe Klewitz (an Stein), Memel, 3. 11. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 26, S. 58. Haußherr, Befreiung, S. 53. 130
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Landes besetzt blieb, war diese von Klewitz im November 1807 angestellte Schätzung aber von der Realität weit entfernt. Die wirklichen laufenden Einnahmen des preußischen Staats nahmen sich in den Jahren nach 1807 noch weitaus bescheidener aus, während es auch um die Rücklagen schlecht bestellt war. Zwar konnten einzelne Kreis- und verschiedene andere öffentliche Kassen auf dem Land- und Seeweg vor der französischen Armee gerettet werden, doch im Juli 1807 war von diesen Mitteln kaum mehr etwas übrig.135 Auf die desaströse Haushaltslage reagierte die preußische Regierung zunächst mit einem rigiden Sparprogramm. Den größten Ausgabeposten stellte die Armee dar, die noch im Oktober 1807 aus 60 000 Mann bestand.136 Als eine erste Maßnahme wurden deshalb im Juli und August 1807 alle Soldaten, die aus Südost- und Neuostpreußen stammten, entlassen und die in Preußen wohnhaften Offiziere auf halben Sold gesetzt.137 Erst im Februar 1808 legte die Militärreorganisationskommission einen konzisen Sparplan vor, der auch vom König gebilligt wurde.138 Danach wurde die Armee drastisch auf nur noch circa 20 000 Mann verkleinert, wodurch die Kosten für den Unterhalt auf monatlich 200 000 Taler sanken.139 Die überzähligen Offiziere erhielten ein Wartegeld, das auch weiterhin nicht höher als die Hälfte des eigentlichen Soldes sein durfte. Zugleich wurden die Pensionsgelder herabgesetzt, auf die auch nur noch derjenige Anspruch haben sollte, der seine Vermögenslosigkeit nachweisen konnte. Diese für den Offizierstand eher entehrende Regelung hat wohl nicht unerheblich dazu beigetragen, dass die Zahl der Pensionsempfänger relativ gering ausfiel.140 Der noch aktive Teil der Truppe musste sich, von wenigen Ausnahmen wie den Gardesoldaten einmal abgesehen, mit einer gestaffelten Kürzung 135 Zur Verbringung der Kassen siehe „Nachweisung der auf den Schiffen Hanna und Sophia verladenen, sowie nach Riga abgesandten Gelder“, s. l., (1807), Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24942, Bl. 3. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 184 f., 361 – 364, 399 – 402. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 452, 517. Thielen, Hardenberg, S. 205. 136 Siehe „Die Preußische Armee im Oktober 1807“ (aus einer offenbar für den König nach amtlichen Unterlagen 1808 gefertigten Nachweisung), s. l., (1808). Vaupel, Reorganisation, Nr. 52, S. 120 – 125. 137 Siehe „Publikandum wegen Dienstentlassung der aus Süd- und Neu-Ostpreußen gebürtigen Offiziere und Junker in der Armee“, Memel, 24. 7. 1807. NCC, Bd. 12/2, Nr. 13, S. 247 f. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 3. 10. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 359, Bl. 169 – 170. Kabinettsorder an die Friedensvollziehungskommission, Memel, 12. 10. 1807, Abschrift. Ebd., Bl. 174v. Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 584 f. Auch Immediatbericht Scharnhorst/Lottum, Memel, 23. 7. 1807. Vaupel, Reorganisation, Nr. 5, S. 5. 138 Siehe Immediatbericht Militärreorganisationskommission, Königsberg, 24. 2. 1808. Vaupel, Reorganisation, Nr. 117, S. 275 – 283 und S. 284 f. (Anm.). Zu den Einsparungen bei der Armee siehe auch Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 139 – 141. Delbrück, Gneisenau, S. 123. 139 Siehe „Liste sämtlicher Königlich Preußischen (!) Truppen“, (Königsberg), Juni 1808. Vaupel, Reorganisation, Nr. 167, S. 442 – 449. Mamroth, Geschichte, S. 30. 140 Siehe „Liste der auf die General-Kriegs-Casse seit dem 9. Juli angewiesenen Pensionen“ (Anhang zum Immediatbericht Schlabrendorff, Memel, 28. 8. 1807). GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24790, Bl. 24.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
der Bezüge bis zu maximal 50 % abfinden. Diejenigen, die sich im besetzten Teil des Landes aufhielten, traf es noch schlimmer. Sie erhielten aufgrund der Okkupationssituation nicht einmal die verringerten Sätze. Viele Militärs versuchten angesichts dieser Situation, durch den Übertritt in fremde Dienste wieder ein Auskommen zu finden.141 Wegen des Sparzwangs gestalteten sich die Finanzverhältnisse vieler Zivilbeamten kaum besser als die der Soldaten. Die Friedensvollziehungskommission sollte zwar dafür sorgen, dass alle Offizianten in den abgetretenen Landesteilen, die am 29. August 1807 von ihren Dienstpflichten entbunden wurden,142 von den neuen Landesherren angestellt, oder zumindest mit einer Pension versorgt wurden, praktisch war dies jedoch kaum durchzusetzen.143 Vor allem in den ehemaligen polnischen Landesteilen konnten die preußischen Beamten nicht auf eine Wiederanstellung oder Weiterversorgung hoffen; rund 7000 von ihnen, zu denen auch der in Warschau angestellte E. T. A. Hoffmann gehörte,144 wurden spätestens mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags mittellos. Der geschrumpfte preußische Beamtenkörper musste schließlich noch weiter verschlankt und an die neue Größe des Staats angepasst werden. Neben den allgemeinen Verwaltungsreformen des Jahres 1808 wurde dies schrittweise durch die Pensionierung von Offizianten des Generaldirektoriums und anderer aufgelöster Verwaltungsbehörden erreicht. Wie den Offizieren wurde auch den Beamten, die in den besetzten Provinzen wohnten, ihre um die Hälfte gekürzten Pensionen selten bis gar nicht ausbezahlt.145 Neue Beamte wurden angesichts der unsicheren Haushaltslage allein in Ausnahmefällen und dann auch nur noch „interimistisch“ ange-
141 Siehe hierzu Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 343. Ibbeken, Preußen, S. 346 ff. 142 Siehe „Publikandum, die Pflicht-Entlassung der Königl. Preuß. Diener, in den abgetretenen Provinzen, betreffend“, Memel, 29. 8. 1807. NCC, Bd. 12/2, Nr. 14, S. 249 f. 143 Siehe u. a. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 14. 8. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 153 – 154. Napoleon mischte sich beispielsweise in Sachsen persönlich ein und empfahl dem sächsischen König, die ehemals preußischen Beamten nicht zu versorgen. Siehe Napoleon an Champagny, Saint-Cloud, 26. 8. 1807. Napoleon, Correspondance, Bd. 15, Nr. 13080, S. 554. 144 Siehe Günther de Bruyn, Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins, Frankfurt a. M. 2013, S. 57 – 60 (hier weitere Einzelfälle). 145 Grundlegend für diese Maßnahmen war die Kabinettsorder an die Kombinierte Immediatkommission, Memel, 31. 7. 1807, Abschrift. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 357, Bl. 117 – 118v. Zu den Einsparungen im Beamtenapparat und zur ökonomischen Lage der Beamten siehe u. a. Kabinettsorder an die Kombinierte Immediatkommission, Memel, 31.7. und 19. 8. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 188, 217, S. 251 – 253, 267 – 270. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 1. 11. 1807 und Zeitungsbericht Sack, Berlin, 17. 1. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 20, 152, S. 41, 344 f. „Generalübersicht der durch die Errichtung des Herzogtum Warschau brotlos gewordenen preußischen Offizianten“, s. l., o. D., Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 271. Auch Pertz, Stein, Bd. 2, S. 91. Haußherr, Erfüllung, S. 69 f.
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stellt. Ein ordentlicher Personaletat für die staatlichen Zentralbehörden wurde überhaupt erst wieder Ende 1809 aufgestellt.146 Die Beamten, die weiterhin ihren Dienst versahen, mussten dieselben Gehaltskürzungen hinnehmen wie das Militär. Von 4 % bei einer Besoldung von 300 Talern stiegen die Kürzungssätze progressiv bis auf maximal 50 %. Im Endeffekt war diese Sparmaßnahme, die erst im Sommer 1809 beendet wurde,147 kaum etwas anderes als eine berufsspezifische Einkommensteuer. Da trotz solcher Maßnahmen die Einsparungen zu gering ausfielen, wurden schließlich auch die Zahlungen an milde Stiftung, Arme und Bedürftige zusammen mit den Diäten, auf welche die Berliner Beamten wegen ihres Aufenthalts in Memel formell Anspruch hatten, gestrichen. Außerdem reduzierte man die Kosten der Hofstaaten des Königs und der Prinzen sowie das Personal der Oper, des Balletts und des Orchesters; die Gehälter der weiterhin angestellten Künstler wurden um 75 % gesenkt.148 Die deutliche Verringerung der Beamtengehälter bedeutete eine Gefahr für deren Disziplin und Loyalität. Nicht ohne Grund warnte die Kombinierte Immediatkommission im November 1807 Stein, dass die Generalverpflegungsintendantur aufgrund der finanziellen Einbußen der Beamten „theils Nachtheile für die Geschäfte, bei welchen es auf treue Verwaltung von Naturalien und Geld ankömt“149, befürchte. Im Mai 1808 trat Altenstein schließlich für eine prinzipielle Abkehr von der Sparpolitik ein, „um nicht bloß die Existenz kümmerlich durchzufristen, sondern das Ganze als Staat kräftig zu erhalten und zu einer besseren nahen Zukunft alles (…) vorzubereiten“.150 Altensteins Glaube an eine günstige Wendung musste jedoch angesichts der kaum verbesserten Lage der Staatsfinanzen und der unveränderten außenpolitischen Situation größerem Pragmatismus weichen. Wie schlecht sich der Finanzzustand des Staats in den Jahren nach 1807 tatsächlich gestaltete, lässt sich anhand der Finanzpläne nachvollziehen, die in regelmäßigen Abständen von der Kombinierten Immediatkommission und später vom Finanzministerium aufgestellt wurden. Diese Pläne, die sich jeweils über mehrere 146
Siehe Friedensvollziehungskommission an Borgstede, Berlin, 11. 3. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 131, S. 422 f, das Zitat S. 422. Pietschmann, Finanzministerium, Bd. 1, S. 85. 147 Siehe Immediatbericht Altenstein, Königsberg, 23. 9. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24791, Bl. 165. 148 Siehe Kabinettsorder an die Kombinierte Immediatkommission, Königsberg, 26. 2. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 613, S. 668 f. Friedrich Wilhelm an den Prinzen Wilhelm von Oranien und die Fürstin zu Solms-Braunfels, Königsberg, 29. 2. 1808, Konzept, abgeg. 1.3. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24791, Bl. 31. Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Königsberg, 23. 2. 1808, Ausf. Ebd., Bl. 18 – 20v. Auch Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 135 f., 141 f. 149 Kombinierte Immediatkommission an Stein, Memel, 4. 11. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24790, Bl. 82. 150 Siehe Immediatbericht Altenstein, Königsberg, 18. 5. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 173, S. 560 – 581, hier das Zitat S. 561.
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Monate erstreckten, stellten die ersten Versuche der preußischen Geschichte dar, einen vollständigen Staatshaushalt zu schaffen.151 Die Notlage erzwang diesen Schritt geradezu, war doch eine möglichst exakte Kalkulation der zu erwartenden Ein- und Ausgaben eine unerlässliche Voraussetzung, um gezielte Spar- und Reformmaßnahmen ins Werk zu setzen. Angesichts der Ungewissheit über die tatsächliche Einnahmenentwicklung und der politischen Unvorhersehbarkeiten war es allerdings nur schwer möglich, eine zuverlässige Prognose über die Zukunft der Staatsfinanzen abzugeben. Zum Zeitpunkt des Friedens verfügte die Regierung in Memel nur noch über bare Geldbestände von 1,5 bis 2 Mio. Talern, denen nach dem ersten Finanzplan, der in Erwartung eines raschen Abzugs noch für alle preußisch gebliebenen Provinzen angelegt wurde, zu erwartende Ausgaben von über 7,8 Mio. Talern bis zum Ende des Jahres gegenüberstanden. Aufgrund des enormen Rückgangs der laufenden Staatseinnahmen aus den Domänen, Forsten, der Grundsteuer, dem Bergwerks- und Hüttenwesen und dem Salzmonopol errechnete die Kombinierte Immediatkommission ein Defizit von 28 %. Im gesamten Zeitraum zwischen Juni und September 1807 kamen überhaupt nur circa 400 000 Taler aus Litauen und Ostpreußen ein. Durch das Sparprogramm gelang es zwar schnell die Ausgaben zu senken, wobei insbesondere die vollständige Demobilisierung der Armee im Oktober 1807 zu einer deutlichen Entlastung des Haushalts führte;152 trotzdem verschlechterte sich der Finanzzustand der Staatskassen weiter. In der ersten Augusthälfte betrugen die Ausgaben 325 425 zu lediglich 90 555 Taler an laufenden Einnahmen. Dass der Staat in den ersten Monaten nach Tilsit nicht vollständig zahlungsunfähig wurde, ist allein auf überraschend entdeckte Wertgegenstände, den Erlösen aus Wertpapieren und die Einziehung von offenen Forderungen der Staatskassen zurückzuführen.153 Angesichts des verzweifelten Zustands der Staatsfinanzen griff man schließlich auf das vor der französischen Armee gerettete Vermögen der Bank und der Seehandlung von 2,3 Mio. Talern zurück, das zum Großteil aus den Einlagen privater Anleger bestand. Beide Geldinstitute wurden auf diese Weise ihres Kapitals beraubt und mussten vorerst geschlossen bleiben, weshalb die Kombinierte Immediatkommission diesen Schritt auch für „höchst bedenklich“, aber „wohl unumgänglich“ hielt.154 Mindestens 151
Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 136 f. Siehe Vaupel, Reorganisation, S. 6 f. 153 Siehe zur Entwicklung der preußischen Staatsfinanzen im Jahr 1807 Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Memel, 20.7., 4.8., 20.8., 21.8., 7.9. und 1. 11. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24942, Bl. 7 – 21, 24 – 24v. Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Memel, 22. 11. 1807, Ausf. Ebd., Nr. 24790, Bl. 145 – 145v. Finanzplan für August bis Dezember 1807, Memel, 29. 9. 1807, Ausf. Ebd., I. HA, Rep. 151, I A, Nr. 307, Bl. 60 – 69. „Ausführungen der Kombinierten Immediatkommission“, Memel, 7. 12. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 60, S. 200 – 202. Mamroth, Geschichte, S. 25. Besonders Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 134 – 138, 142 f. Ritter, Stein, S. 314. 154 Siehe Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Memel, 29. 9. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24790, Bl. 46 – 47v, hier das Zitat Bl. 46v. Bassewitz, Kurmark 1809 bis 1810, S. 274 f. 152
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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ebenso heikel war die Entscheidung, Forderungen, die von Seiten der Landschaften und privater Gläubiger gegenüber dem Staat erhoben wurden, vorerst zurückzustellen. Die Regierung behielt auch eine größere Abschlagszahlung ein, die Russland um die Jahreswende 1807/1808 als Entschädigung für Lieferungen aus dem letzten Feldzug an Preußen geleistet hatte.155 Eigentlich stand dieses Geld den geschädigten Privatleuten zu, deren Ansprüche durch russische Lieferquittungen belegt waren. Erst wesentlich später wurden diese Forderungen zumindest teilweise und auch nur allmählich vom preußischen Staat beglichen.156 Die Zentralregierung war schlichtweg gezwungen, mit solcher Rücksichtslosigkeit über das Eigentum und Vermögen der Bevölkerung zu verfügen, sollten zumindest die rudimentärsten staatlichen Strukturen erhalten bleiben. Der Vertrauensverlust auf Seiten der Bevölkerung musste dafür in Kauf genommen werden. An diesem System der Aushilfen, des Sparens und täglichen Improvisierens änderte sich auch 1808 nur wenig. Weiterhin genügten die laufenden Einnahmen nicht, um den Haushalt auszugleichen. Statt der 1,25 Mio. Taler monatlicher Einnahmen, die Klewitz noch zum Friedensschluss für den gesamten Reststaat erwartet hatte, kamen beispielsweise zwischen April und Juni 1808 nur 235 000 Taler ein. Immerhin stieg von da an das Staatseinkommen kontinuierlich, so dass in den zweieinhalb Monaten zwischen Oktober und dem 18. Dezember 417 976 Taler verschiedenster Herkunft erwirtschaftet wurden. Zum Ende des Jahres schloss der Haushalt mit einem Überschuss von 265 884 Talern.157 Ab 1809 besaß die preußische Zentralregierung wieder die Gewalt über die okkupierten Provinzen mit der Folge, dass allein für den Monat März mit regulären 155 Siehe hierzu u. a. Friedrich Wilhelm an Alexander, Königsberg, 17. 5. 1808. Bailleu, Briefwechsel, Nr. 161, S. 173 f. Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Königsberg, 21. 4. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24791, Bl. 73 – 73v. Immediatbericht Schöler, Petersburg, 7. 5. 1808. Hassel, Geschichte, Nr. 103, S. 407 f. Die Verhandlungen über die Zahlungen gestalteten sich äußerst schwierig wie das Schreiben Boses an Stein (Memel, 7. 6. 1808) beweist. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 181, S. 598 f. Auch Immediatbericht Generalliquidationskommission, Memel, 1. 10. 1808. Ebd., Bd. 3, Nr. 269, S. 887 f. Und den Faszikel GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 274. Sowie Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 145 f. 156 Zu den privaten Forderungen siehe Generalliquidationskommission an Goltz, Memel, 14. 12. 1807, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 267, Bl. 21 – 29. Stein an Goltz, Königsberg, 25. 2. 1808, Ausf. (enthält die Instruktion der vom ostpreußischen Generallandtag gewählten Deputierten zur Antreibung der Bezahlung der Forderungen an Russland). Ebd., Nr. 267, Bl. 71(a)–71(c)v. Kabinettsorder (Adressat unbekannt), (Berlin), 28. 11. 1811, Abschrift. Ebd., Nr. 268, Bd. 1. Bassewitz, Kurmark 1809 bis 1810, S. 435 – 441. Bezzenberg, Ostpreußen, S. 10 f., 56 – 58. Mayer, Retablissement, S. 4. 157 Zur Entwicklung der preußischen Staatsfinanzen 1808 siehe den Etat für die Hauptstaatskasse pro April, Mai und Juni, Königsberg, 6. 3. 1808, Ausf. und Finanzplan für die Monate April, Mai, Juni 1808, Königsberg, 23. 2. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 151, I A, Nr. 309, Bl. 9 – 10, 36 – 37. Außerdem ebd., Nr. 310. Übersicht über den Zustand der Generalstaatskasse, (Königsberg), (Dezember 1808), Ausf. Ebd., Nr. 312, Bl. 32 – 33. Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, 21.4. und 18. 5. 1808, Ausf. Ebd., Rep. 89, Nr. 24791, Bl. 73 – 73v, 81 – 82v. Mamroth, Geschichte, S. 26 – 30. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 262 – 266. Obermann, La situation, S. 260.
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Einkünften von 337 879 Talern gerechnet werden durfte; inklusive „extraordinairer“ Einnahmen erwartete man sogar ein staatliches Gesamteinkommen von 627 859 Talern. Eine grundsätzliche Wende konnte sich aber nicht einstellen, solange die Kontributionsschuld gegenüber Frankreich bestand und die Provinzen sich nicht von den Folgen der Besetzung erholt hatten.158 Ein Faktor, der bei der überwiegend negativen Bewertung des Ministeriums Dohna-Altenstein vielfach übersehen wird, der aber eine Sanierung des Staatshaushalts noch zusätzlich erschwerte, waren die verworrenen administrativen Verhältnisse, die nach Abzug der französischen Armee vorherrschten. Die Folgen von über zwei Jahren der Teilung in eine französisch und eine königlich-preußisch kontrollierte Verwaltung waren unmöglich binnen weniger Monate zu beseitigen. So existierten seit den Tagen der Okkupation getrennte Kassenwesen in Berlin und Königsberg, die es zu vereinigen galt. Der Versuch, die mit der Verwaltungsreform vom 26. Dezember 1808 beschlossene Generalstaatskasse einzurichten, die das komplizierte preußische Kassenwesen ersetzten sollte, stellte Altenstein angesichts dieser doppelten Kassenverwaltung vor enorme Probleme. Ende Mai 1809 beklagte er nicht ohne Grund, die Unmöglichkeit „für den Monat Juni einen vollständigen neuen Finanzplan für eine einzige Generalstaatskasse, welche künftig nur existieren darf, und einen mit der Berliner interimistischen Cassenwesen Kombinierten Hofstaats- und Zivilausgabenetat jetzt schon vorzulegen“.159 Erst mit der Übersiedlung der Zentralregierung nach Berlin Ende Dezember 1809 stellte Altenstein die Vereinigung der dortigen mit den Königsberger Kassen und die Aufstellung eines vollständigen Etats für den Gesamtstaat zumindest in nahe Aussicht.160 Die Vereinheitlichung des Kassenwesens, wie sie um 1800 auch in anderen deutschen Staaten stattfand, wurde so in Preußen vergleichsweise spät und unter sehr erschwerten Bedingungen vollzogen. Die Okkupation schuf auch in den provinzialen Finanzverwaltungen eine chaotische Situation; der personelle Aderlass, den die Provinzialregierungen seit Ausbruch des Kriegs erfahren hatten, wirkte sich nach 1808 ebenso wie die Etablierung interimistischer Verwaltungsbehörden nachteilig auf eine geregelte Verwaltungstätigkeit aus. Die eingeleiteten Reformen verschärften zunächst die Situation zusätzlich. Auf zuverlässige Informationen über die Ein- und Ausgabenverhältnisse konnte das Finanzministerium unter diesen Umständen vorläufig kaum rechnen. 158
Zur Finanzlage 1809 siehe den Finanzplan für Januar 1809, (Königsberg), o. D., Konzept. GStA PK, I. HA, Rep. 151, I A, Nr. 312, Bl. 34v–35. Finanzplan für März 1809, (Königsberg), o. D., Konzept. Ebd., Nr. 313. Die geschätzten Jahreseinnahmen für 1809 in Mamroth, Geschichte, S. 241 – 278. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 104 f. 159 Siehe Immediatbericht Altenstein, Königsberg, 28. 5. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24846, hier auch das Zitat. Auch Immediatbericht Altenstein, Königsberg, 27.9. und 27. 11. 1809, Ausf. Ebd. Immediatbericht Generalstaatskasse, Königsberg, 20. 4. 1809, Ausf. Ebd. Auch Witzleben, Staatsfinanznot, S. 116 f. 160 Siehe Immediatbericht Altenstein, Königsberg, 30. 12. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 24846.
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Diese Unkenntnis über das genaue Steueraufkommen in den einzelnen Provinzen stellte das Bemühen um eine einigermaßen exakte staatliche Finanzplanung vor Probleme, die Altenstein nur schwer bewältigen konnte. Seit dem Friedensschluss wurden die verschiedenen Bemühungen um einen ausgeglichenen Staatshaushalt von Versuchen flankiert, das zerstörte Land wiederaufzurichten. Wie im 17. Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg und ein Jahrhundert später nach dem Siebenjährigen Krieg stellte das „Retablissement“ der Provinzen auch diesmal eine außerordentliche Herausforderung für den König und seine Regierung dar, wobei die Situation nach 1807 durch die anhaltende Okkupation und die fortlaufend hohen Verbindlichkeiten des Staats besonders komplex war. Eine Erholung etwa der Landwirtschaft, die sich durch die Kriegseinflüsse in einem verheerenden Zustand befand, war nur schwer ins Werk zu setzen. Speziell in Ostpreußen, auf das sich der preußische Herrschaftsbereich im Sommer 1807 größtenteils beschränkte, war die Lage vieler Gutswirtschaften desaströs;161 wollte man in absehbarer Zeit wieder einen volkswirtschaftlichen und steuerlichen Nutzen aus den Gütern ziehen, so musste deren Wiederaufbau oberste Priorität haben. Da die Staatskasse aber außerstande war, das hierzu nötige Kapital zur Verfügung zu stellen, beschränkte man sich staatlicherseits darauf, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine Steigerung der ökonomischen Leistungsfähigkeit und eine Hebung des darniederliegenden Kreditpotenzials der Güter zu erreichen. Ein Großteil der preußischen Güter, vor allem in den östlichen Provinzen, war schon vor Kriegsausbruch hoch verschuldet.162 Allein in Ostpreußen betrug die gesamte Hypothekenschuld 20,7 Mio. Taler bei einem taxierten Güterwert von 23 Mio. Talern; dies entsprach einer Verschuldungsquote von rund 90 %. In Schlesien gestalteten sich die Verhältnisse kaum besser; dort waren beispielsweise die Güter der Kreise im Bezirk der Oberamtsregierung Brieg im Schnitt mit 62,2 % ihres Werts hypothekarisch belastet. Möglich gemacht wurde die Verschuldung durch die landschaftlichen Kreditsysteme, die hohe, nichtkündbare Kredite vergaben, deren Zinssätze so gering waren, dass eine Verschuldung der Güter profitabel erschien. Mit dem geliehenen Geld ließ sich wieder neuer landwirtschaftlicher Besitz erwerben, der wiederum beliehen werden konnte. Am Vorabend des Kriegs hatte der Güterhandel groteske Züge angenommen.163 Die Spekulationsblase musste platzen, wenn die Güterpreise plötzlich sanken oder die Kredite und Zinsen nicht mehr getilgt wurden. Obwohl sich bereits erste Anzeichen einer solchen Entwicklung vor 1806 abgezeichnet hatten, bewirkte erst der Krieg, der zahlreiche Höfe verwüstete und viele Gutsbesitzer mittellos machte, den schon länger abzusehen gewesenen Zusammenbruch des Gütermarkts. Das Ergebnis war, dass allein die ostpreußische 161
Siehe Mamroth, Geschichte, S. 20 f. und Kap. B. VI. Auf diesen, das Retablissement erschwerenden Faktor wies auch Massow in einem Schreiben an Dohna ausführlich hin (Breslau, 7. 3. 1810). Kehr, Finanzpolitik, Nr. 202, S. 492 – 497. 163 Für Schlesien siehe Ziekursch, Agrargeschichte, S. 8 – 12. Für Westpreußen siehe Bär, Behördenverfassung, S. 278 f. Allgemein hierzu Schissler, Agrargesellschaft, S. 82 – 84. 162
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
Landschaft im Königsberger Departement bis Ende 1810 drei Viertel der bei ihr geführten Güter sequestrierte.164 Zwangsversteigerungen brachten mangels geeigneter Käufer aber oft kaum etwas ein. Das Sinken der landschaftlichen Pfandbriefe, das daraufhin einsetzte, zwang schließlich 1808 und 1811 den ohnehin schon fast bankrotten Staat, der wegen der zwischenzeitlichen Aufnahme der Domänen in die ständischen Kreditwerke ein eigenes Interesse an der Stabilität der Wertpapiere hatte, die Landschaften finanziell zu unterstützen.165 Die königliche Regierung versuchte zunächst, ähnlich wie man es 1765 getan hatte,166 mit Hilfe eines Zahlungsmoratoriums den Landbesitz zu schützen. Noch während des Kriegs hatte der König im Mai 1807 eine Verordnung unterzeichnet, die sämtliche Grundbesitzer von der Zahlung fälliger Grundschulden sowie der Tilgung laufender und rückständiger Zinsen zeitweilig befreite. Dieser „Generalindult“ setzte den Gläubigern enge Grenzen, um die Begleichung ihrer Forderungen durch den Schuldner zu erwirken. Aufgrund der Kriegssituation und der Okkupation konnte das Gesetz, das eigentlich für die gesamte Monarchie galt, nur in den Provinzen östlich der Weichsel in Kraft treten. Eine zeitliche Befristung dieser Maßnahme wurde überhaupt nicht festgesetzt, was erst durch eine wenige Monate später publizierte Verordnung nachgeholt wurde; danach waren ab dem 1. Januar 1808 wieder Zinszahlungen zu leisten und ab dem 1. Januar des Folgejahres sollten schließlich auch die Kreditraten wieder getilgt werden. Ende November 1807 verlängerte man mit der „Verordnung zur Konservation der Schuldner im Besitz- und Nahrungs-Stand“ in der gesamten Monarchie die Befreiung von der Kapitaltilgung noch einmal bis zum 24. Juni 1810.167 Von Beginn an war der Generalindult umstritten. Zwar wurde dadurch vorläufig der massenhaft Bankrott vor allem der Gutsbesitzer verhindert, allerdings um den Preis einer Verschlechterung des Investitionsklimas. Durch den Generalindult „wurde auf einmahl aller Kredit gelähmt“168, weil die Schlechterstellung der Gläubiger die Kreditvergabe wenig attraktiv machte, so dass es für die Landwirte kaum mehr möglich war, das für den Wiederaufbau nötige Geld zu einigermaßen guten Konditionen zu leihen.169 Zudem verschärfte die Bevorteilung des Grundbe164 Siehe Mayer, Retablissement, S. 2 f. 1807 wurden in Pommern 100 Güter zwangsversteigert. Siehe Münchow-Pohl, Reform, S. 55. 165 Siehe Mayer, Retablissement, S. 2 f. 166 Siehe hierzu Ziekursch, Agrargeschichte, S. 7. 167 Siehe „Verordnung wegen eines den Grundbesitzern zu bewilligen General-Indults und wegen des Verfahrens in Moratorien-Sachen und bei gerichtlichen Exekutionen“, Bartenstein, 19. 5. 1807. „Verordnung wegen Erlöschung des Generalindults in Ost- und West-Preußen“, Memel, 18. 9. 1807. „Verordnung zur Konservation der Schuldner im Besitz- und NahrungsStande, Memel, 24. 11. 1807. NCC, Bd. 12/2, Nr. 9, 15, 22, S. 220 – 226, 250 – 251, 264 – 271. 168 Boyen, Erinnerungen, S. 303. 169 Zum Generalindult und den Folgen siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 605 – 607. Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 129. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 292 – 295. Haußherr, Erfüllung, S. 59 f., 154.
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sitzes auf Kosten der vornehmlich bürgerlichen Kapitalgeber den Konflikt zwischen Stadt und Land, der durch die ungleichmäßige Verteilung der Kriegslasten ohnehin schon in den meisten Provinzen schwelte. In einem Bericht legten die Deputierten der Städte Ostpreußens und Litauens dem König dar, weshalb die getroffenen Maßnahmen zum Nachteil aller besitzenden Schichten gereichen würden, und warum diese „ein Ruin für alle Kapitalisten“ seien.170 Langfristig konnte die staatlich sanktionierte Benachteiligung einer einflussreichen Bevölkerungsschicht zu einer Erosion des Vertrauens in die Regierung führen, dessen Wiederbefestigung eigentlich das Ziel sein musste. „[A]ber wie kann er (der Gläubiger; S.P.) dies Vertrauen faßen,“ fragte der Staatsrat Hoffmann in einer scharfsinnigen Kritik am Generalindult, „wenn die Regierung ihm die Justiz gegen seine Schulden versagt, ihm, der im Vertrauen auf die Unwandelbarkeit dieser Justiz borgte?“171 Auf höchster Verwaltungsebene gab es neben Hoffmann noch weitere Kritiker an der von Stein energisch verteidigten Indultgesetzgebung. Als das Ministerium Dohna-Altenstein vor der Frage stand, ob der Indult verlängert werden sollte, so wie es etwa die ostpreußische Generallandschaftsdirektion aus für sie nachvollziehbaren Gründen forderte,172 gestand auch Dohna, dass er es „bedaure, daß das Generalindultgesetz vom 24. November 1807 überhaupt erschienen ist“; er plädierte daher zumindest für eine teilweise Aufhebung.173 Am Ende traf aber nicht mehr er oder Altenstein, sondern ihr Nachfolger Hardenberg eine Entscheidung. Eines der ersten Gesetze seiner Staatskanzlerschaft war eine Verordnung, mit der die bisherige Gesetzeslage bestätigt und der Indult um ein weiteres Jahr bis zum 24. Juni 1811 ausgedehnt wurde. Ob der Gutsbesitzer Hardenberg dabei aus Eigeninteresse, politischem Kalkül oder volkswirtschaftlichen Überlegungen handelte, muss offenbleiben; in jedem Falle ignorierte er die profunden Argumente, die gegen eine Verlängerung sprachen. Einer der größten Kritiker des Generalindults war Theodor v. Schön, der wie manch anderer reformorientierter Beamter als Student an der Königsberger Universität vermittelt durch Christian Jakob Kraus mit den wirtschaftsliberalen Lehren
170 Siehe Immediatbericht der Deputierten der Städte von Ostpreußen und Litauen, Königsberg, 4. 5. 1807. Scheel, Interimsministerium, Nr. 103, S. 257 – 260, hier das Zitat S. 259. Auch im Oberpräsidialbezirk Kur-, Neumark und Pommern klagten später die Städte. Siehe Städtische Deputierte an Sack, Berlin, 31. 1. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 83, Nr. 148, Bl. 36 – 38. 171 „Denkschrift des Staatsrats Hoffmann das Moratorium betreffend“, Königsberg, 3. 11. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 200, S. 487. Siehe auch Schissler, Einleitung, S. 42. 172 Siehe Ostpreußische Generallandschaftsdirektion an Auerswald, Königsberg, 22. 11. 1808. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 201, S. 490 – 492. Auch Auerswald befürwortete schließlich die Verlängerung. Siehe Jahresbericht Auerswald, Königsberg, 22. 1. 1810, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 190, Nr. 3, Bl. 19v. 173 Dohna an Altenstein und Beyme, Berlin, 27. 4. 1810. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 203, S. 502 – 504, hier das Zitat S. 502.
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Adam Smiths in Berührung gekommen war.174 Konsequent lehnte Schön Protektionismus und jede Form eines staatlichen Interventionismus ab. Er hielt deshalb den Generalindult ebenso für den falschen Weg, um das Land nach dem Krieg wiederaufzurichten, wie den vom Minister Schroetter vorgebrachten Vorschlag, mehrere tausend Stück Vieh in Kurland anzukaufen, um den Verlust der ostpreußischen Landwirte an Nutztieren zu kompensieren. Schön mokierte sich über diesen „KüheAntrag“. Zwar erachtete auch Schön die Erholung der Landwirtschaft als die entscheidende Voraussetzung für das Retablissement des Landes, doch wollte er dies nicht durch solche Einzelmaßnahmen, sondern auf dem Weg einer umfassenden Reform der Agrarverfassung erreichen.175 Im August 1807 entstand eine vom Provinzialminister Schroetter unterzeichnete Denkschrift, in der zunächst nur für Ostpreußen und Litauen ein Reformprogramm entworfen wurde, dessen Grundelement die Befreiung der Landwirtschaft von allen sozialen und merkantilen Beschränkungen war. Von der vorgeschlagenen Liberalisierung des Güterhandels, der jedem, auch Bürgerlichen, ohne Beschränkungen offenstehen sollte, versprach man sich einen dringend benötigten Kapitalzufluss, der die Gutsbesitzer in die Lage versetzen konnte, auch ohne staatliche Unterstützung ihre Gutswirtschaften wiederaufzurichten; „nur auf diesem Wege kann der gesunkene Credit des Landes wieder gehoben werden“, so die Überzeugung. Die außerdem geforderte endgültige Aufhebung der Erbuntertänigkeit und der Zwangsdienste sollte schließlich die Produktivität der Landwirtschaft insgesamt steigern.176 Die Denkschrift griff damit eine Grundtendenz im Denken der Zeit auf, das in der Erbuntertänigkeit ein Hemmnis der menschheitlichen Entwicklung wie auch der ökonomischen Prosperität sah. In grellsten Farben wurde das vermeintliche Joch, unter das sich die hörigen Bauern zu fügen hätten, schon von der Aufklärung gegeißelt; die Befreiung des Individuums aus korporativen und altständischen Schranken dominierte schließlich den Reformdiskurs zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts.177 Diese Ideen waren auch eine Reaktion auf die Erosion der altständischen Ordnung und entsprangen keineswegs reinem Philanthropismus. Das rasante Bevölkerungswachstum während des 18. Jahrhunderts hatte die bestehenden sozioökonomischen Verhältnisse erschüttert und zusammen mit dem Aufkommen neuer Produktions- und Anbaumethoden den Anstoß zu einem Transformations174 Zu den geistesgeschichtlichen Einflüssen auf die Reform siehe u. a. Ritter, Stein, S. 214 f. Treue, Adam Smith, S. 108 – 118. Gray, Prussia, S. 29 – 35. Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 48 f. Neugebauer, Wandel, S. 156 – 163. Kraus, Der „nervus rerum“, S. 45. 175 Einleitung Schöns zu Immediatbericht Kombinierte Immediatkommission, Memel, 17. 8. 1807. Schön, Aus den Papieren, Bd. 2, S. 101 – 129, hier das Zitat S. 103. Auch Mayer, Retablissement, S. 4 – 6. Barbara Vogel, Die wirtschaftspolitischen Reformvorstellungen Theodor von Schöns, in: Sösemann, Schön, S. 75 – 85, hier passim. 176 Siehe Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Memel, 17. 8. 1807, Abschrift. GStA PK, VI. HA, NL Schön, Theodor von (Dep. von Brünneck), I, Nr. 124, Bl. 175 – 187v, hier das Zitat Bl. 179v. Siehe hierzu auch Gray, Prussia, S. 124 f. 177 Siehe hierzu Raumer, Deutschland um 1800, S. 379 f.
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prozess in der Landwirtschaft gegeben, der die feudale Gutsverfassung zunehmend auch wirtschaftlich delegitimierte.178 Die Veränderungen der Marktstrukturen, die den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieb stärker denn je von der allgemeinen Marktentwicklung abhängig machten, erhöhten den Konkurrenzdruck und trugen entscheidend zur Kapitalisierung der Landwirtschaft bei. Als Teil dieser Entwicklung ist die Wandlung des preußischen Ritterguts von einem Herrschaftsverband auf ökonomischer Basis zu einem Handels- und Spekulationsobjekt zu sehen; bürgerliche Käufer von Gütern waren unter diesen Umständen, trotz der gesetzlichen Einschränkungen, schon lange vor 1807 keine Seltenheit.179 In Preußen gab es angesichts dieser Tendenzen in Wirtschaft, Gesellschaft und im Denken schon eine Reform vor der Reform, die im Bereich der Agrarverhältnisse allerdings auf die Domänengüter beschränkt blieb. Wie unvollständig die preußische Staatlichkeit im Ancien Régime tatsächlich entwickelt war und wie gering die politische Entscheidungsfreiheit des Königs mitunter sein konnte, wird an dieser freiwilligen Beschränkung der Vorreform auf die Krongüter überdeutlich. Nur hier, auf dem königlichen Besitz, war es auf gesetzlichem Weg möglich, einen grundlegenden Wandel der gutsherrschaftlichen Verhältnisse zu bewirken, ohne das Risiko eingehen zu müssen, sich womöglich einer Opposition der Gutsbesitzer ausgesetzt zu sehen. Mit der Reform wurde ab 1799 begonnen und schrittweise das Eigentum an die Domänenbauern übertragen sowie die Frondienste abgelöst. Außerdem wurde die persönliche Erbuntertänigkeit allmählich abgeschafft – dies war auch ein persönliches Anliegen des philanthropischen Königs. Mancher Gutsherr, der die Nachteile der tradierten Gutsverfassung erkannt hatte, tat es dem Staat gleich und ließ sich die Befreiungen von Diensten oder die persönliche Freiheit seiner Einsassen finanziell entgelten.180 In Anbetracht dieser Reformbemühungen verwundert es nicht, dass Schön und die anderen Mitglieder der Kombinierten Immediatkommission 1807 nicht die einzigen waren, die an eine grundlegende Veränderung der Agrarverhältnisse dachten. Ein wesentlicher Impuls für eine Reform ging etwa auch vom Referenten des Provinzialministers Schroetter, dem Geheimen Justizrat Morgenbesser, aus, der in der ersten Augusthälfte einen Immediatbericht verfasste, der im Zusammenhang mit dem Retablissement des Ostens in eine ähnliche Richtung wies wie die Denkschrift aus dem August. Nur wenig später erteilte der König dem Preußischen Provinzialdepartement den Befehl, ausgehend von beiden Plänen einen Gesetzentwurf zu erarbeiten; schon nach relativ kurzer Zeit lag dieser vor. Stein, der auch in der Nassauer Denkschrift die Befreiung der Bauern und die Eigentumsübertragung gefordert hatte,
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Siehe hierzu Gray, Prussia, S. 24 – 29. Siehe hierzu Neugebauer, Wandel, S. 166 – 178. 180 Siehe Hintze, Hohenzollern, S. 427 f. Ders., Reformbestrebungen, S. 508 – 512. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 286. Belke, Regierung, S. 136, 141. Vetter, Adel, S. 114 – 122. Schissler, Agrargesellschaft, S. 106 f. 179
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sorgte schließlich für die preußenweite Geltung des Edikts, das zunächst nur für die östlichen Provinzen gedacht war.181 Das sogenannte „Oktoberedikt“, das am 9. Oktober 1807 in Kraft trat,182 ist wohl in seiner sozialen, ökonomischen und politischen Dimension das bedeutsamste Reformgesetz jener Jahre. Der Erwerb von Rittergütern stand nun jedem Bürger frei; endlich sollte bürgerliches Kapital ungehindert in die Landwirtschaft fließen können und den Wiederaufbau des Landes beschleunigen helfen. Ohne Ausnahme konnte jeder Bürgerliche fortan landwirtschaftlich tätig werden und jeder Adlige einem bürgerlichen Beruf nachgehen. Außerdem erleichterte das Edikt durch die Lockerung der gesetzlichen Lehens- und Fideikomissbestimmungen die Beleihung von Gütern. Der eigentliche Paukenschlag erklang jedoch am Ende des Gesetzestextes; hier wurde die unverzügliche Aufhebung der Untertänigkeit aller erblichen Bauern verkündet. Die nicht-erblichen Laßbauern erhielten zum Martinitag 1810 die Freiheit, so dass es von da an „nur noch freie Leute [gibt], so wie solches auf den Domainen in allen Unseren Provinzen schon der Fall ist“183. Neben den schon erwähnten Effekten, die sich der Wirtschaftsliberalismus von einem solchen Schritt versprach, entledigte die Befreiung der Bauern auch die Gutsherren von ihrer Fürsorgepflicht,184 die sie zum Wiederaufbau der verwüsteten Höfe verpflichtete.185 Letztendlich waren es die ökonomischen Motive, die den Ausschlag für das Oktoberedikt gaben. Erst die verzweifelte finanzielle Lage des Staats verhalf dem Reformgedanken zum endgültigen Durchbruch und beseitigte die bisherigen Rücksichten und manche Vorsichtigkeit, die der grundlegenden Umgestaltung der Agrarverhältnisse im Weg gestanden hatten.186 Da die Landwirtschaft als die primäre Quelle des Volkswohlstands und des staatlichen Vermögens galt, sollte die Belebung der Landwirtschaft durch die Beseitigung von ständischen und protektionistischen Schranken auch zu einer Stärkung der Staatsgewalt führen, der es 1807 insbesondere an den fiskalischen Voraussetzungen mangelte, um den Herrschaftsanspruch der königlichen Regierung nach innen wie nach außen durchzusetzen. Physiokratisches
181 Zur Entstehung des Edikts siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 267 – 281. Georg Winter, Zur Entstehung des Oktoberedikts und der Verordnung vom 14. Februar 1808, in: FBPG 40 (1927), S. 1 – 33, hier S. 1 – 26. Haußherr, Erfüllung, S. 58 f. Gray, Prussia, S. 126 f. Ritter, Stein, S. 219 – 224. 182 Siehe „Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“, Memel, 9. 10. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 7, S. 11 – 16. 183 §12 Oktoberedikt. Ebd., Nr. 7, S. 15. 184 Siehe hierzu Dieterici, Volkswohlstand, S. 4. 185 Zum Inhalt des Edikts siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 281 – 287. Ritter, Stein, S. 226 – 229. 186 Ähnlich Schissler, Agrarreform, S. 114. Koselleck, Preußen, S. 167. Haas, Kultur, S. 59 – 63. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 86 f.
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und liberales Denken durchdrangen sich in diesem Punkt.187 Dabei war die Absicht, „die innere Stärke des Staats auf den Gipfel wieder empor zu heben“188, die Schön mit der Reform verfolgte, – es wurde schon angedeutet – kein reiner Selbstzweck; sie entsprang der Überzeugung, durch die Steigerung des staatlichen Machtpotenzials letztendlich auch das „gemeinsame Wohl“189 wieder zu befestigen. Das Oktoberedikt war aber mehr als eine reine Wirtschaftsreform. Wie die meisten anderen Reformgesetze hatte auch die Agrarreform eine gesellschaftspolitische Dimension. Mit der Aufhebung der persönlichen Unfreiheit der Bauern wie auch der de jure Beseitigung der Standesschranken beim Güterkauf wurden Grundpfeiler der altständischen Gesellschaftsordnung abgetragen.190 Erst ein befreites Individuum, das herausgelöst war aus partikularen, feudalen und korporativen Strukturen und nur noch die allgemeine Staatsgewalt über sich kannte, so die Überzeugung manches Beamten, würde fähig sein, sich für das Gemeinwohl zu interessieren und zu engagieren, ja dieses überhaupt erst zu erkennen. Es entsprach dem idealistischen Grundzug der Reformen, den freien Menschen stets in Bezug zum Gemeinwesen, und das heißt vor allem zum Staat, zu setzen; die neugewonnene Freiheit sollte eben keine vom, sondern eine „Freiheit zum Staat“ sein.191 Die unternehmerische wie soziale Befreiung hatte neben der wirtschaftlichen, insbesondere die politische Mobilisierung der Bevölkerung zum Ziel. Stein hatte schon in seinen frühen Denkschriften deutlich gemacht, dass für ihn die persönliche Freiheit des „Staatsbürgers“ die Voraussetzung für die Entstehung eines politisch aktiven Volks sei, das schließlich einmal dazu befähigt sein konnte, in einer Repräsentationsinstitution das eigene Wollen zu artikulieren. Ähnlich dachte auch Schön. Er war der Überzeugung, „daß zu erst durchaus selbstständige Menschen, welche nur den Souverain über sich erkennen, da sein müßten, bevor ein Repräsentant des Volkes selbstständig auf einem Landtag auftreten könnte.“192 Schließlich spielte auch für die Protagonisten der Militärreform die Wandlung des unfreien „Untertans“ in einen „Bürger“ eine wichtige Rolle. Es wurde erwartet, dass die intrinsische Motivation des einzelnen Soldaten schlachtentscheidende Wirkung haben würde und dass nur ein befreiter Mensch, der aus freien Stücken für den Erhalt von Staat und Nation ficht, diese Motivation entwickeln könne. Als Vorbild diente das französische Revolutionsheer der „citoyens“, deren Elan über die Kantonistenarmee gesiegt hatte. Die Bauernbefreiung und die Abschaffung von Standespri187 Siehe hierzu Vogel, Gewerbefreiheit, S. 43, 80. Hierzu auch Reinhard, Geschichte, S. 338 f. Aretin, Einleitung, S. 18, 26 f. 188 Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Memel, 17. 8. 1807, Abschrift. GStA PK, VI. HA, NL Schön, Theodor von (Dep. von Brünneck), I, Nr. 124, Bl. 176. 189 Präambel Oktoberedikt. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 7, S. 12. 190 Siehe Bornhak, Rechtsgeschichte, S. 329. Hierzu auch Koselleck, Preußen, S. 168. 191 Siehe Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 33 f., hier das Zitat S. 34. 192 Bernd Sösemann (Hrsg.), Theodor von Schön. Persönliche Schriften, Köln/Weimar/ Wien 2006, S. 573.
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vilegien bildeten so eine untrennbare ideengeschichtliche Einheit mit der Militärreform wie mit der Gesamtreform.193 Wie bereits an anderer Stelle nachgewiesen,194 konnte das Ziel der Staatsunmittelbarkeit der Gutsuntertanen nicht vollständig erreicht werden. Der Gutsherr blieb Gerichtsherr über seine Untertanen, die zunächst auch noch materiell an ihn gebunden blieben – dafür hatte nicht zuletzt eine zersplitterte Gutsbesitzeropposition gesorgt. Das Oktoberedikt traf dagegen kaum auf grundsätzlichen Widerstand; nur in Schlesien versuchten die Gutsbesitzer – teilweise in Kooperation mit der örtlichen Verwaltung –, das Gesetz gänzlich zu unterminieren. Um politischen Druck auf die Zentralregierung auszuüben, griff man auch auf die ständischen Komitees zurück, die sich während der Besetzung auf Kreisebene gebildete hatten; später gingen aus mehreren solcher Kreiskomitees sogenannte „Kreiskränzchen“ hervor, die 1811 sogar eine einheitliche Satzung erhielten und sich von da an regelmäßig versammelten. Die Komitees beziehungsweise Kreiskränzchen bildeten zusammen mit einigen Ausschüssen, die 1808 entstanden waren, um Daten zu erheben, mit deren Hilfe man die Nachteile der Agrarreform nachzuweisen beabsichtigte, „eine Art politischer Organisation des schlesischen Adels“.195 Die Gutsbesitzer der anderen Provinzen richteten ihre Bemühungen darauf, die neue Gesetzeslage möglichst zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die Agrarreform eröffnete immerhin die Aussicht, den Bauernschutz auszuhöhlen und freie Verfügungsgewalt über das Bauernland zu bekommen. Gleichzeitig sollte dem drohenden Verlust an Arbeitskräften, den die Aufhebung des Gesindezwangs mit sich bringen konnte, ein Riegel vorgeschoben werden. In mehreren Eingaben aus den Marken, Pommern und Ostpreußen artikulierten die Gutsbesitzer dieses Kerninteresse gegenüber der königlichen Regierung. Als organisatorische Basis dienten auch ihnen jene ständischen Strukturen, die sich während der Okkupation ausgebildet hatten. In Ostpreußen fungierte vor allem das Komitee der litauischen und ostpreußischen Stände als ein wichtiges Instrument ständischer Politik. Der preußischen Staatsführung gelang es allerdings, in den östlichen Provinzen die Beratung der Stände von einem Verordnungsentwurf, mit dem das Verfahren bei der Einziehung von Bauernland geregelt werden sollte, zu verhindern. So konnte schon am 14. Februar die „Verordnung wegen Zusammenziehung bäuerlicher Grundstücke oder Verwandlung derselben in Vorwerksland“ für West- und Ostpreußen publiziert werden,196 womit der friderizianische Bauernschutz zwar aufgegeben wurde, ohne dass die Hofstellen 193
Siehe Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 219 f. Siehe Kap. E. I. 2. 195 Zur schlesischen Opposition siehe Ziekursch, Agrargeschichte, S. 103 f., 281 – 285, 291 – 294, hier das Zitat S. 193. Schissler, Agrargesellschaft, S. 125 f. 196 Siehe „Verordnung wegen Zusammenziehung bäuerlicher Grundstücke oder Verwandlung derselben in Vorwerksland (…). Für die Provinzen Ostpreußen, Litthauen und Westpreußen“, Königsberg, 14. 2. 1808. NCC, Bd. 12/2, Nr. 26, S. 279 – 285. Zur Entstehung der Verordnung siehe Winter, Entstehung, S. 26 – 33. 194
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aber vollkommen der freien Disposition der Gutsherren überlassen waren: Das Land der Bauern durfte zwar eingezogen werden, aber nur wenn es nicht erbzinslich und erst nach 1752 (Ostpreußen) beziehungsweise 1774 (Westpreußen) vergeben worden war; andernfalls bedurfte die Übertragung des Landes an den Gutsherrn einer gerichtlichen Verzichtserklärung. Das bäuerliche Grundstück konnte dann entweder zu einer größeren Hofstelle, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten durfte, zusammengelegt werden oder wurde Teil des Vorwerkslands. Im letzteren Fall war jedoch ebenso viel Land, wie zum Vorwerk geschlagen wurde, als neues Bauernland erbzins-, erbpachtweise oder als neues Eigentum auszugegeben. Der Gutsbesitzer konnte allerdings eigene Familienmitglieder auf die neugeschaffenen Stellen setzen und so die eigentliche Absicht des Gesetzes unterlaufen. Prekär blieb besonders die Situation des lassitischen Besitzes, der nach den Stichjahren vergeben worden war und über den der Gutsbesitzer demnach ohne Einschränkungen verfügen konnte. Auch die Verordnungen für Schlesien, die Kur-, die Neumark und Pommern enthielten keinen besseren Bauernschutz als ihn die Regelung für Ost- und Westpreußen vorsah.197 Trotzdem waren die kurmärkischen Stände, die im Frühjahr die Reform auf einem Landtag erörterten, mit dem Ergebnis unzufrieden – und das obwohl in den westlichen Provinzen die zum Vorwerksland geschlagenen bäuerlichen Grundstücke nicht mehr vollständig, sondern nurmehr zur Hälfte durch die Ausgabe neuer Hofstellen auszugleichen waren. Diese gesetzlich erzwungene Kompensation stellten den Hauptgegenstand der Kritik dar, wurde damit doch der Praxis des Bauernlegens gewisse Grenzen gesetzt.198 Ungeklärt blieb nach wie vor, ob und in welcher Art die verschiedenen Dienste, welche die Bauern dem Gutsherrn schuldig waren, abgelöst werden sollten. Der König vertrat in dieser Angelegenheit einen streng legalistischen Standpunkt, den er schon kurz nach seiner Thronbesteigung deutlich formuliert hatte. Da nach dem Rechtsverständnis des Allgemeinen Landrechts die Dienste an das Eigentum gebunden waren, der Gutsherr aber das Obereigentum am Land seiner Einsassen besaß, wäre die ersatzlose Aufhebung dieser Leistungen geradezu einer revolutionären Enteignung gleichgekommen; daher habe er „den Gedanken hieran fallen lassen“, erklärte Friedrich Wilhelm, „und statt dessen mich an die Aufhebung der Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und Gutspflichtigkeit (…) halten müssen.“199 Nur auf den Domänen konnte im Juli 1808 wirklich allen Bauern das Eigentum an ihren Hofstellen ohne Entschädigung, wenn auch unter Beibehaltung der bestehenden
197 Siehe „Verordnung wegen Zusammenziehung bäuerlicher Grundstücke oder Verwandlung derselben in Vorwerksland (…). Für das Herzogtum Schlesien und die Grafschaft Glatz“, Königsberg, 27. 3. 1809. „Verordnung wegen Zusammenziehung bäuerlicher Grundstücke oder Verwandlung derselben in Vorwerksland (…). Für die Provinzen Kur- und Neumark und Pommern, Berlin, 9. 1. 1810. NCC, Bd. 12/2, Nr. 75, 100, S. 809 – 813, 915 – 921. 198 Zur Opposition siehe Vetter, Adel, S. 122 – 132. Neugebauer, Wandel, S. 228 f. 199 Zit. n. Schissler, Agrargesellschaft, S. 50.
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Abgabenpflicht, überlassen werden.200 Dies erlaubte den Eigentümern die Beleihung ihrer Grundstücke und sorgte damit für einen Kapitalzufluss, der zur Wiederaufrichtung der im Krieg und im Frieden schwer gelittenen Höfe diente. Die Regelung kam aber auch der Staatskasse zu Gute, indem die Kammern von der Verpflichtung befreit wurden, die Domänenbauern in Notfällen zu unterstützen; gerade in den Jahren nach 1806, als viele Bauern unter der Last des Kriegs und der Besetzung zu leiden hatten, bedeutete dies eine nicht unerhebliche finanzielle Entlastung für die geschröpften Provinzialkassen. Weil die neuen Eigentümer auch das Inventar auf den gerade erworbenen Hofstellen erwerben mussten, war „das Ganze ein viel besseres Geschäft für die Kammer als für die Bauern“.201 Erst drei Jahre später wurde mit dem Regulierungsedikt auch den Bauern auf den privaten Gütern das Land, auf dem sie saßen, zum Eigentum überlassen; verbunden war dies allerdings mit dem Zwang, den Gutsbesitzer finanziell oder mit bis zu zwei Drittel ihres Landes zu entschädigen. Außerdem hatten die Bauern die Kosten für die Ablösung der Fron- und Naturaldienste zu tragen. Gerade den Kleinbauern war es kaum mehr möglich, sich auf ihrem Hof zu halten. Viele von ihnen wurden Teil eines wachsenden Landarbeiterproletariats.202 Obwohl das Regulierungsedikt den Gutsbesitzern also diese bedeutenden Vorteile einräumte, stieß es unter ihnen zum Teil auf scharfe Ablehnung.203 Eine abschließende Bilanz der Agrarreform zu ziehen, fällt schwer und hängt sehr vom Blickwinkel der Akteure ab. Diejenigen, die eine möglichst weitgehende Preisgabe des Bauernschutzes angestrebt hatten – zu ihnen zählten auch Mitglieder der Staatsführung204 –, konnten sich nicht durchsetzen. Am Ende stellten das Oktoberedikt und die nachfolgenden Gesetze einen Kompromiss zwischen der Konservierung alter Zustände und einer Liberalisierung der Agrarordnung, zwischen Beharrung und Veränderung, dar. Die ökonomischen wie staatswirtschaftlichen Auswirkungen, welche die Agrargesetzgebung zeitigte, sind kaum mehr zu evaluieren; in jedem Fall dürfte der kurzfristige Effekt gering gewesen sein.205 Eher vernachlässigbar waren wohl auch die Auswirkungen für den Wiederaufbau des Landes, der besonders in den östlichen Provinzen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen musste. Erste Erfolge wurden schon 1812 mit dem Durchmarsch der Grande Armée wieder zunichtegemacht.
200 Siehe „Verordnung wegen Verleihung des Eigenthums von den Grundstücken der Immediat-Einsaaßen in den Domainen von Ostpreußen, Litthauen und Westpreußen“, Königsberg, 27. 7. 1808. NCC, Bd. 12/2, Nr. 41, S. 360 – 368. 201 Siehe Ritter, Stein, S. 233 f, hier das Zitat S. 234. 202 Siehe Ziekursch, Agrargeschichte, S. 307 ff. Treue, Technikgeschichte, S. 254 f. 203 Zur Opposition gegen das Regulierungsedikt siehe Belke, Regierung, S. 142 f. Neugebauer, Wandel, S. 232 f. 204 Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 279 – 281. 205 Diese Vermutung wird bestätigt in Treue, Technikgeschichte, S. 256. Ritter, Stein, S. 237.
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b) Staatswohl als Volksverarmung? Zum Legitimitätsproblem Zum Zweck der Sicherung der Existenz von Staaten und der Aufrechterhaltung von Souveränität wurden zwischen 1792 und 1815 allerorten Bemühungen unternommen, die emotionalen, militärischen wie ökonomischen Potenziale der Bevölkerung zu mobilisieren. Die damit einhergehende intensive Berührung mit dem Staatlichen gehört zweifelsohne zu den Fundamentalerfahrungen des überwiegenden Teils der Menschen in Europa während dieser Zeitspanne – auch in Preußen. Dort erzwangen die französischen Kontributions- und anderweitigen Forderungen sowie die Staatsbedürfnisse eine deutlich stärkere fiskalische Inanspruchnahme des Einzelnen als bislang. Zwar wurden abgesehen vom Silberedikt bis 1810 keine neuen Steuern von zentralstaatlicher Seite erhoben, doch lasteten die außerordentlichen Abgaben auf Stadt und Land, die entweder von den Kammern (wie in Schlesien), vom Berliner Comité administratif oder von den ständischen Komitees bis weit über das Jahr 1808 hinaus ausgeschrieben und eingefordert wurden. Die preußische Staatsführung hatte die ständischen Steuern nicht nur gebilligt, sondern auch ein Interesse an deren konsequenten Eintreibung, schließlich sollten die französischen Forderungen wie auch die Schulden von Provinzen und Städten möglichst rasch bedient werden. Die Komitees waren für die Einziehung selbst verantwortlich, wollten oder konnten Einzelpersonen, Gemeinden oder ganze Städte aber nicht zahlen, so bedienten sie sich der staatlichen Exekutionsmittel. Die sogenannte „Zivilexekution“, die ein geregeltes gesetzliches Verfahren der Zwangsvollstreckung darstellte, wurde in solchen Fällen in der Regel gegen Privatpersonen oder Gemeinden verfügt und von einem Landreiter, einem königlichen Beamten also,206 vollstreckt. Da die Zivilexekution genauso von den ständischen Komitees zur Beitreibung der Sonderabgaben wie von den Kammern zur Einziehung der regulären Steuern gebraucht wurde, machte es für den einzelnen Restanten zunächst keinen Unterschied, wer Urheber der Abgabe war: Aus seiner Sicht war es immer ein Repräsentant der Staatsgewalt, der das eigene Hab und Gut beschlagnahmte. Alltägliche Lebenswelt und staatliche Gehorsamserzwingung berührten sich unmittelbar und nur selten konfliktfrei. Hatte sich der Schuldner der Zivilexekution sogar widersetzt oder wurde die geforderte Summe nicht erbracht, schritten ständische wie staatliche Behörden meist zur militärischen Exekution, die seit der Frühen Neuzeit „eines der wichtigsten Rechtsmittel zur Durchsetzung des (…) landesherrlichen Regiments“ darstellte.207 Die rückständigen Steuern wurden daraufhin entweder 206
Zum Amt des Landreiters und seiner Rolle bei der Zwangsvollstreckung siehe Johannes Schultze, Landreiter in der Uckermark, in: Ders., Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte. Ausgewählte Aufsätze (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, 13), mit einem Vorwort von Wilhelm Berges, Berlin 1964, S. 209 – 213, hier passim. 207 Zur „militärischen Exekution“ siehe Martin Meier, Vorpommern nördlich der Peene unter dänischer Verwaltung, München 2008, S. 146 – 148, hier das Zitat S. 146. Heinrich Kaak, Eigenwillige Bauern, ehrgeizige Amtmänner, distanzierte fürstliche Dorfherren. Vermittelte Herrschaft im brandenburgischen Alt-Quilitz im 17. und 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen
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gewaltsam gepfändet, oder die Bezahlung durch die Zwangseinquartierung von Soldaten in der Unterkunft des Schuldners erzwungen. Zu welchen Konflikten die Eintreibung der Abgaben zwischen Obrigkeit und Bevölkerung in den okkupierten Teilen des Landes führte, wurde an anderer Stelle gezeigt,208 wobei auch dort neben der militärischen, die Zivilexekution beachtet wurde. In den Gebieten unter unmittelbarer preußischer Herrschaft verfuhren die Behörden kaum weniger rigoros. Exekutionen, zivile wie militärische, waren hier ein alltägliches Phänomen. Allein im nicht besetzten Teil Westpreußens wurden bis Mitte 1808 wegen rückständiger Zinsen, Kontributions-, Mühlengefälle und Kriegssteuern gegen 73 Ortschaften die militärische Exekution verfügt. Der Erfolg fiel höchst unterschiedlich aus. Während in der Intendantur Marienwerder nahezu die gesamte Summe eingezogen werden konnte, waren es in der benachbarten Intendantur Stuhm, die 30 300 Taler schuldig war, lediglich 4485 Taler.209 In den beiden anderen von der französischen Armee geräumten Kammerdepartements, in Litauen und Ostpreußen, wurde ebenfalls versucht, mit militärischen Mitteln die rückständigen Abgaben einzuziehen.210 Die große Häufigkeit der Exekutionen führte dort zu zahlreichen Klagen über das strenge Verfahren der Kammern und der ständischen Gremien. Auf die Beschwerde des Kreises Mohrungen und dessen Bitte um „Sublevation“ in Sachen der Grundsteuern reagierte der Provinzialminister Schroetter mit dem schlichten Hinweis, „die allgemeinen Bedürfniße des Staats“ seien zu groß, als dass auf die Einziehung der Gefälle verzichtet werden könne. „Es kann daher der darauf gerichtete Antrag an Unsere Allerhöchste Person nicht gebracht werden“, hieß es weiter in einem Reskript an die ostpreußische Kammer; „es muß vielmehr da wo die Provinz von den französischen Truppen geräumt ist, und so wie sie von denselben ferner geräumt wird, das Aeußerste angewendet werden, um durch Einziehung der etatsmäßigen Auflagen, die Cassen in den Stand zu setzen, die etatsmäßigen Ausgaben zu betreiben“.211 Offensichtlich des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 58), Berlin 2010, S. 182 f. (hier besonders Fn. 794), 230 f. (Fn. 810). „Militärische Exekution findet nur bei hartnäckigem Ungehorsam, oder wirklicher Widersetzlichkeit, nach fruchtlos gebliebener Zivilkexekution und vorheriger Androhung statt“, hieß es bezogen auf die preußische Praxis in einem Handbuch aus dem frühen 19. Jahrhundert. Siehe Carl August Freiherr v. Malchus, Politik der inneren Staatsverwaltung oder Darstellung des Organismus der Behörden für dieselbe, 3 Bde., Heidelberg 1823, hier Bd. 3, S. 321. 208 Siehe Kap. D. IV. 209 Siehe Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 7. 6. 1808, Ausf. (hier „Nachweisung der Orthschaften des geräumten Theils des Westpreuß. Kammer Departements, welchen wegen rückständiger Gefälle militärische Exekutionen eingelegt worden“). GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 32283. 210 Siehe Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 17. 3. 1808, Ausf. Immediatbericht Oberamtmann Knabe, Amt Preußisch Marck, 19. 4. 1808, Ausf. Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 14. 6. 1808, Ausf. Ebd. 211 Siehe Bericht des Landesdirektors von Jasky, 21. 10. 1807. Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 12. 11. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 25312,
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waren aber die Einwohner kaum mehr in der Lage, die geforderten Abgaben zu entrichten;212 zu hoch war die Steuerlast und zu groß war das Ausmaß der Schäden durch den Krieg.213 Wegen der drastisch gestiegenen Zahl der militärischen Exekutionen, die immer häufiger erfolglos verliefen, und der Klagen, die ihn deshalb erreichten, schaltete sich im Frühjahr 1808 der König ein. Er ermahnte den Provinzialminister Schroetter, künftig die Zahlungsfähigkeit der Restanten genau prüfen zu lassen, bevor die Zwangsvollstreckung gegen sie verfügt werde.214 Die Kammern befanden sich allerdings in einem Dilemma; solange die Beträge, welche die Staatskasse von ihnen verlangte, nicht gesenkt würden, merkte Auerswald in einem Immediatbericht an, solange sei man auch gezwungen, zu harten Maßregeln zu greifen. Indes: „Die Quellen ihrer (der Kammern; S.P.) Einkünfte versiegen“. Außerdem stehe man unter dem Zwang, fuhr Auerswald fort, die nicht eingekommenen Kriegssteuern einzuziehen, die die ostpreußisch-litauische Landesdeputation erhebe,215 um die Promessen, die an Frankreich ausgegeben wurden, zu den fälligen Zahlungsterminen auslösen zu können. Von den 813 551 Talern, die als extraordinäre Kriegssteuern ausgeschriebenen wurden, betrug der Rückstand nach seiner Berechnung 416 073 Taler, also rund 50 %.216 In den Kreisen, wo die Landräte für die Einziehung der Gefälle verantwortlich waren, war man mit Exekutionen deutlich zurückhaltender als auf den staatlichen Domänen. Schroetter sah sich deshalb veranlasst, die Kammern ausdrücklich dazu anzuhalten, „ihre Aufmerksamkeit wegen Einziehung der Reste nicht bloß auf die Aemter zu richten, sondern auch in den Kreisen, welche besonders bedeutende Contributions-Rückstände haben, mehr in Detail dabei zu wirken, weil große Gutsbesitzer, welche wenigstens mit
Bl. 160, 162 – 163v. Das Zitat nach dem Reskript an die Ostpreußische Kammer zu Königsberg, Königsberg, 12. 11. 1807, Abschrift. Ebd., Bl. 164. Hier auch weitere Gesuche um Unterstützung. 212 Siehe etwa Zeitungsbericht Ostpreußische Kammer, Königsberg, 1. 12. 1807, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 15738, Bl. 14. 213 Nach verschiedenen Aufstellungen betrugen allein in West- und Ostpreußen sowie Litauen die Schäden, die durch den Krieg und die Besetzung entstanden waren, zwischen 99 449 556 und 112 788 779 Taler. Siehe Max Töppen, Nachweisung der Kriegslasten und Kriegsschäden Preussens von 1806 – 1813, in: Altpreußische Monatsschrift 8 (1871), S. 46 – 58, hier S. 46 – 53, 58. Hier auch genaue Angaben zu den verschiedenen Provinzen. Zu den Verlusten Litauens und Westpreußens auch Bezzenberger, Ostpreußen, S. 124 f. Meinhardt, Zeit, S. 93 f. Zur allgemeinen Lage siehe auch Bassewitz, Kurmark 1809 bis 1810, S. 322. 214 Siehe Kabinettsorder an Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 28. 4. 1808, Konzept, abgeg. 29.4. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 32283. Wiederholt in der Kabinettsorder an Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 12. 6. 1808, Konzept, abgeg. 15.6. Ebd. 215 Zur Landesdeputation siehe Neugebauer, Wandel, S. 200 f. 216 Siehe Immediatbericht Auerswald, Königsberg, 2. 5. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 32283.
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Credit sich helfen können, ihre verhältnismäßig geringen Steuern eher noch zu berichtigen im Stande sind, als ruinirte Einsaßen und verarmte Pächter die Domainen-Gefälle.“217
Als die französische Armee das Land Ende 1808 endlich räumte, wurden in den vormals besetzten Provinzen die Gefälle und Abgaben weiterhin mit aller Härte eingetrieben. Eigentlich hatte man sich vom französischen Abzug eine Verbesserung der persönlichen Lebensverhältnisse erhofft. So waren in Erwartung einer positiven politischen und wirtschaftlichen Entwicklung die Kurse staatlicher und ständischer Papiere zu Beginn des Jahres 1809 vorläufig deutlich gestiegen.218 Die Bevölkerung muss sich nach einer positiven Wendung gesehnt haben, denn die Lage der meisten war am Ende der Okkupation verheerend: Der französische Ordonnateur Lambert kam zu dem Ergebnis, dass die französische Armee allein aus Pommern, dem rechtselbischen Teil Magdeburgs, der Kur- und der Neumark umgerechnet rund 20 Mio. Taler durch Requisitionen und Kontributionen gezogen habe.219 Diese Summe, welche die preußische Seite noch für viel zu gering hielt,220 entsprach immerhin beinahe 2/3 des gesamten preußischen Staatsetats von 1805. Letztendlich sind solche Zahlen jedoch bloße Orientierungswerte; eine exakte Berechnung der Kosten, die der Krieg und die Okkupation verursachten, war kaum möglich und ist es heute noch viel weniger. In der Literatur werden die materiellen Verluste oftmals mit 604 Mio. Francs (162 Mio. Taler) beziffert;221 mit diesem Wert gab Daru in einem Bericht an Napoleon die Einnahmen der französischen Armee am Ende der Okkupation an. Dabei wird oft übersehen, dass sich Darus „Rapport général sur l’Administration de la Grande Armée et des pays conquis pendant les campagnes de Prusse et de Pologne“, wie der Name schon verrät, auf den gesamten Feldzug und alle in dessen Verlauf eroberten Gebiete, also auch auf die später zum Herzogtum Warschau geschlagenen Landesteile, bezog.222 Die Übersichten, die später von den Provinzialregierungen angefertigt wurden, geben ebenfalls nur ein unvollständiges Bild von den erlittenen Schäden. In der danach berechneten Gesamtsumme von 906,5 Mio. Francs (245 Mio. Taler) wurden weder die Verluste, die aus der Beschlagnahmung von Kassen, Grundstücken und anderen Werten entstanden, noch die Ernteausfälle beispielsweise in Folge des Fouragierens einbezogen.223 Duncker 217
Siehe Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 17. 3. 1808. Ebd. Siehe zur Kursentwicklung der ständischen und staatlichen Papiere Münchow-Pohl, Reform, S. 386. Die staatlichen Papiere befanden sich Mitte 1809 bald wieder auf einem Tiefpunkt. 219 Siehe „Compte general depius l’occupation du pays jusqu’à 8. Sept. 1808“, s. l., o. D. Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 37. 220 Sack an Goltz, Berlin, 16. 11. 1809. Ebd., III. HA, MdA, I, Nr. 393. 221 Siehe etwa Louis-Pierre-Edouard Bignon, Geschichte Frankreichs unter Napoleon. Zweite Periode: Vom Frieden zu Tilsit 1807 bis 1812, 5 Bde., Meißen 1838 – 1839, hier Bd. 2, S. 104. Jean Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters. Eine Biographie, Tübingen 1978, S. 221. Bergerot, Daru, S. 107. 222 Siehe hierzu Pertz, Stein, Bd. 2, S. 259. La Barre de Nantueil, Daru, S. 163. 223 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 647 – 652. Obermann, Situation, S. 267 f. 218
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versuchte, auch diese Faktoren zu berücksichtigen und nachzuweisen, dass die Aussage Napoleons, wonach er eine Milliarde Francs von Preußen erbeutet habe, tatsächlich oder zumindest ungefähr zutreffe.224 Ob es nun eine Milliarde Francs waren oder etwas weniger, am Ende waren die materiellen Folgen der Jahre zwischen 1806 und 1809 für einen Großteil der Bevölkerung – und nicht etwa nur für die Staatskasse – dramatisch. Mit dem Abzug gingen schließlich auch denjenigen, die als Lieferanten, Handwerker oder Gastwirte von der Präsenz der französischen Truppen profitiert hatten,225 wichtige Einnahmen verloren. Dies war nur einer von vielen Faktoren, weshalb sich für die Mehrheit der Preußen die wirtschaftlichen Umstände auch 1809 kaum verbesserten. Pensionen wurde auch jetzt gar nicht, oder nur sehr selten bezahlt; die Inflation herrschte wegen der Kontributionszahlungen weiterhin, wobei immerhin die Papierwährung mit Einführung der Talerscheine einigermaßen stabilisiert werden konnte.226 Die „bis zur Überspannung vermehrte[] Nachfrage nach Geld“ war laut der Kurmärkischen Regierung „[d]as eigentliche Hinderniß eines kräftigen Wiederauflebens der allgemeinen Betriebsamkeit“227. Aufgrund der guten Ernte und der Kontinentalsperre befanden sich die Getreidepreise nach der Sommerernte 1809 auf einem Tiefpunkt – sehr zum Nachteil für die Landwirte; auch die Ernährungslage der Bevölkerung verbesserte sich dadurch kaum. Die hohen Abgaben würden die Landbewohner dazu zwingen, schrieb die Kurmärkische Regierung in dem eben zitierten Bericht, „alles zu jedem Preis zu verkaufen“, wodurch „die Möglichkeit sehr gedenkbar [ist], daß ungeachtet der jetzigen treflichen Erndte und niedrigen Preise der Staat bis zur nächsten Erndte leicht in den Fall kommen könnte, dennoch zur Ernährung derselben wieder zutreten zu müssen“.228 Vertraut man den Berichten des ehemaligen kurmärkischen Kammerpräsidenten Leopold von Gerlach, dann stiegen in der Tat „Verarmung und Nahrungslosigkeit (…) immer höher“229. Die unverändert hohe Sterblichkeitsrate im
224 Siehe Duncker, Eine Milliarde, passim, besonders S. 504, 527 f. So auch Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 321. Hintze, Hohenzollern, S. 439. Ibbeken, Preußen, S. 92. 225 Siehe hierzu Karpowsky, Chronik, S. 162. Kleßmann, Deutschland, S. 274. 226 Siehe Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 165. Vogel, Reformen, S. 2. Münchow-Pohl, Reform, S. 94 – 99. Zur nachhaltig schlechten Lage des Manufakturwesens siehe Zeitungsbericht Sack, Berlin, 9. 2. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 156, S. 352 f. Sack an Dohna, (Berlin, 5. 8. 1809). Ebd., Nr. 242, S. 499. 227 Zeitungsbericht Kurmärkische Regierung, Potsdam, 4. 10. 1809. Ebd., Nr. 269, S. 532. 228 Siehe ebd., S. 532, 535, hier das Zitat S. 535. Zeitungsbericht Kurmärkische Regierung, Potsdam, 4.11. und 8. 11. 1809. Ebd., Nr. 273, 275, S. 543, 546. 229 Leopold v. Gerlach d. Ä. an Wilhelm und Leopold v. Gerlach, Berlin, 26. 8. 1809. Schoeps, Not, Nr. 86, S. 395.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
Berliner Umland und in der Stadt selbst scheinen jedenfalls Gerlachs Beobachtung zu bestätigen.230 Der Steuerdruck blieb ungeachtet der prekären wirtschaftlichen Lage, in der sich ein Großteil der Bevölkerung auch 1809 befand und die manchen zur Auswanderung zwang,231 ausgesprochen hoch,232 wie das Beispiel der in Ostpreußen gelegenen Schlobittenschen Güter zeigt. Die jährlichen Abgaben, die diese zu leisten hatten, stiegen von 1676 Talern unmittelbar vor dem Krieg auf 5332 Taler im Jahr 1809/ 10.233 In allen Provinzen wurde versucht, nach der Räumung des Landes die königlichen Gefälle sowie die ständischen Steuern und Zwangsanleihen konsequent einzutreiben; wie der Osten schon 1807, so waren aber auch die westlichen Teile der Monarchie nicht mehr in der Lage, den hohen fiskalischen Forderungen zu entsprechen. Laut einem Bericht Sacks wurden zwar die Gefälle und Abgaben in der Kurmark, der Neumark und Pommern „mit äußerster Strenge beygetrieben“, und regelmäßig auch militärische Exekutionen durchgeführt, der erhoffte Erfolg blieb jedoch meist aus.234 So bestand kaum Aussicht darauf, die drängenden Forderungen der Bankiers, welche zur Rückzahlung der verschiedensten Anleihen drängten, zu befriedigen. Auch die Festungsverpflegungssteuern, die ausgeschrieben wurden, um den Bedarf der in den Oderfestungen garnisonierten französischen und polnischen Soldaten zu decken, kamen nicht annähernd im erhofften Umfang ein.235 Oftmals waren die Provinzialregierungen genötigt, nach Königsberg zu berichten, dass die nach den Finanzplänen verlangten Überschüsse schlichtweg nicht aufzubringen waren.236 Die Rückstände waren mitunter erheblich. Die pommersche Regierung erklärte im Oktober 1809, dass die Domänen- und die Kriegskasse mit zusammengenommen 2 Mio. Talern in Verzug waren. Man hatte deshalb schon zu Beginn des Jahres um militärische Assistenz ersucht, um die „ordinairen und ex230 Siehe Zeitungsbericht Sack, Berlin, 21.3. und 4. 10. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 165, 269, S. 379, 534. Tagebuch Sack, Berlin, 15. 6. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 19, Bl. 58. Bassewitz, Kurmark 1809 bis 1810, S. 512. 231 Siehe Zeitungsbericht Sack, Berlin, 9.2. und 21. 2. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 156, 159, S. 352, 362. Auch Beguelin an Gneisenau, Berlin, 30. 3. 1809. Pick, Noth, S. 138: „Auspfändungen und Exekutionen sind an der Tagesordnung“. 232 Siehe hierzu unter anderem Jahresbericht Sack, Berlin, 17. 11. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 190, Nr. 3, Bl. 14v. 233 Siehe Bezzenberger, Ostpreußen, S. 38. 234 Siehe Zeitungsbericht Sack, Berlin, 29. 1. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 29, S. 347, hier auch das Zitat. Auch Erler, Schlesien, S. 103. 235 Siehe hierzu Immediatbericht Sack, Berlin, 14.2. und 3. 5. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 158, 193, S. 359, 427. Zeitungsbericht Sack, Berlin, 8.4. und 6. 5. 1809. Ebd., Nr. 172, 197, S. 395, 434 f. 236 Siehe Zeitungsbericht Litauische Regierung, Gumbinnen, 31. 5. 1809, Ausf. Immediatbericht Polizei- und Finanzdeputation der Ostpreußischen Regierung, Königsberg, 1. 6. 1809, Ausf. Zeitungsbericht Westpreußische Regierung, Marienwerder, 1. 6. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 15739, Bl. 1, 2, 3 (hier auch weitere, gleichlautende Berichte aus Pommern, Schlesien, Litauen, Ost- und Westpreußen). Auch Ebd., Nr. 15741.
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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traordinairen Abgaben“ einzutreiben.237 Wie weit die von der Zentralregierung erstellten Finanzpläne von der Realität entfernt waren, beweist auch ein Immediatbericht der westpreußischen Akzise- und Zolldirektion, worin darüber geklagt wurde, dass allein in Graudenz die Akziseeinnahmen um 50 % zurückgegangen seien.238 In Berlin, dass aus den Tagen der Okkupation ein eigenes Kriegssteuerwesen besaß und administrativ in keiner Verbindung mehr zur kurmärkischen Kammer stand, unterschied sich die Situation in keiner Weise vom Rest der Monarchie. Die Stadtkasse war leer und zur Deckung der Verbindlichkeiten aus der Besatzungszeit wurde auch 1809 die Stadtbevölkerung konsequent herangezogen.239 Dabei seien „keine festen und gerechten Grundsätze“ aufgestellt worden, beklagte der Kupferschmied Jean Isaac Ravené. Die erneute Kriegssteuer, welche die Stadtverwaltung ausgeschrieben hatte, habe er schlichtweg nicht aufbringen können, erklärte er in einem Begnadigungsgesuch an den König; doch trotzdem sei die Exekution gegen ihn verfügt worden. Um sich gegen die Pfändung der Summe zu wehren – es handelte sich um lediglich 5 Taler – entwand er dem Exekutionsbeamten gemeinsam mit seinem Sohn den Säbel, ohne den Diener des Königs aber verletzen zu wollen, wie er beteuerte. Für diese „Widersetzlichkeit“, wie jede Form von Widerstand gegen eine obrigkeitliche Maßnahme oder Forderung bezeichnet wurde, erhielt der Schmied eine zweimonatige Gefängnisstrafe.240 Solche Fälle von Widerständigkeit gegen Exekutionen sind vielfach nachweisbar.241 Der hohe fiskalische Druck führte dazu, dass sich widerständiges Verhalten keineswegs auf die Zeit der Okkupation beschränkte und auch in den geräumten Provinzen vorkam. Für das geräumte Ostpreußen gibt es mehrere Beispiele von Restanten, die sich gegen Pfändungen wehrten – vereinzelt auch mit Gewalt. Die Einwohner der Stadt Rastenburg beispielsweise, die mit 7400 Talern Kriegssteuern im Rückstand waren, hatten „sich nicht nur allein mit Worten widersezt (!), sondern sogar eine vom Commißarius-Loci (…) verfügte Civil-Execution durch Schläge 237 Siehe Zeitungsbericht Pommersche Regierung, Stargard, 19. 10. 1809, Ausf. Ebd., Nr. 15739, Bl. 133 – 136. Pommersche Kammer an Sack, Stettin, 15. 1. 1809, Ausf. Ebd., Rep. 83, Nr. 1772, Bl. 12 – 12v, hier das Zitat Bl. 12v. Und Pommersche Regierung an Sack, Stettin, 3. 3. 1809, Ausf. Ebd., Bl. 93. 238 Siehe Immediatbericht Westpreußische Akzise- und Zoll-Direktion, Marienwerder, 6. 1. 1809, Ausf. Ebd., Rep. 151, I A, Nr. 312, Bl. 110 – 113. 239 Siehe hierzu Zeitungsbericht Sack, Berlin, 8. 4. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 172, S. 395. Sack an Dohna, 5. 4. 1809. Ebd., Nr. 171, S. 391. Immediatbericht Altenstein/Dohna, Königsberg, 10.10. und 22. 11. 1809. Ebd., Nr. 271, 282, S. 540, 558 f. 240 Siehe Gnadengesuch des Isaac Ravené sen., Berlin, 20. 11. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 89a, Nr. 49577, Bd. 1, Bl. 90 – 91v, hier das Zitat Bl. 90. Resolution für den Bürger und Kupferschmidt (!) Meister Jean Isaac Ravené, Berlin, 29. 11. 1809, Konzept, abgeg. 2. 12. 1809. Ebd., Bl. 92. 241 Siehe u. a. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 49577, Bd. 1. Ebd., Nr. 49578, 55938, 55943, 55944, 55946. Auch Immediatbericht Auerswald, (Königsberg), 15. 12. 1807. Scheel, Reformministerium Bd. 1, Nr. 69, S. 232 f.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
zurückgewiesen“. Daraufhin forderte die litauische und ostpreußische Landesdeputation, die als ständische Behörde das Kontributionswesen organisierte, den befehlshabenden General Kalckreuth auf, „ein starkes militärisches Commando nach Rastenburg zu schiken (!), um die Widerspenstigen zu ihrer Pflicht anzuhalten“. Die Kammer hatte sich zwar aus Kostengründen gegen die Entsendung eines ganzen Eskadrons ausgesprochen, doch trug Kalckreuth beim König an, zumindest ein 40 Mann starkes Exekutionskommando ausschicken zu dürfen.242 Es ist nicht überliefert, welchen Erfolg dieses Unternehmen hatte, doch war dies nicht der einzige Vorgang dieser Art: Im Dorf Rosenberg, das zum Amt Balga gehörte, wehrte man sich zwar nicht gegen die erhobenen Abgaben, wohl aber gegen die Einquartierung eines preußischen Kommandos. Es kam dabei zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den mit Forken bewaffneten Einwohnern und den Soldaten. Per Kabinettsorder wurde der Kanzler Schroetter aufgefordert, schleunigst Maßnahmen zu ergreifen, „um dergleichen aufrührerische Gesinnung sogleich in der Geburt zu ersticken“. Offensichtlich auch wegen des Fehlverhaltens der Militärs verfuhr man am Ende allerdings recht milde mit den Rosenbergern und ließ es bei der Verhaftung einiger Dorfbewohner bewenden.243 In der Regel konnten allerdings diejenigen, die sich den Anordnungen des Staats und der Ortsobrigkeit verweigerten, keine Nachsicht erwarten, wie bereits das Beispiel Ravenés zeigte. Um noch ein Beispiel anzuführen: Als sich die Domänenbauern des Amts Leitzkau weigerten, die fällige Pacht zu leisten, wurde gegen sie eine Exekution eingeleitet, wobei eine Herde Jungvieh gepfändet werden sollte. „Allein mehrere Verurtheilte und deren Knechte, Weiber und Mägde haben gewaltsam die abgepfändete Herde auseinandergesprengt, und so sich der Vollziehung der obrigkeitlichen Befehle thädlich widersetzt“, hieß es im Bericht des Gerichts zu Alt-Leitzkau. Daraufhin wurde eine scharfe militärische Exekution verlangt, weil es „vorzüglich der jetzigen Zeiten nothwendig [ist], daß die Strafe der That auf dem Fuß nachfolge“. Das Kammergericht zu Berlin unterstützte den Antrag.244
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Siehe Immediatbericht Kalckreuth, Königsberg, 26. 4. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 32283. 243 Siehe Immediatbericht des Regierungsrats Goebel, Königsberg, 16. 3. 1808, Ausf. Reskript an den Kriminalsenat der Ostpreußischen Regierung, Königsberg, 24. 6. 1808, Konzept, abgeg. 2.7. Ebd., Rep. 84a, Nr. 49586, Bl. 17 – 22, 95 – 96. Kabinettsorder an Kanzler Schroetter und Kalckreuth, Königsberg, 25. 4. 1808, Abschrift. Ebd., Bl. 2 – 2v, hier das Zitat Bl. 2. Die Einquartierung preußischer Soldaten war häufig Anlass für Tumulte. Siehe etwa Sack an Dohna, (Berlin, 2. 9. 1809) und (Berlin, 19. 9. 1809). Granier, Franzosenzeit, Nr. 253, 259, S. 512, 519. Hierzu auch Münchow-Pohl, Reform, S. 103. 244 Siehe Immediatbericht Kammergericht zu Berlin, Berlin, 9. 6. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 49577, Bd. 1, Bl. 72 – 72v. Bericht des Freiherrlichen Münchhausenschen Gerichts zu Alt-Leitzkau, Burg, den 1. 6. 1809, Abschrift. Ebd., Bl. 73 – 74v, hier die Zitate Bl. 73v, 74v. Die meisten Domänenpächter waren nicht in der Lage, ihre Pacht zu zahlen, sowie viele Bauern zur Begleichung ihrer Grundzinsen außer Stande waren. Siehe hierzu Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 145.
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Ungehorsam gegenüber den staatlichen Autoritäten und den lokalen Obrigkeiten wurde zu einem weit verbreiteten Phänomen. Dass „die Einwohner eine beständige Opposition gegen die Anordnungen in Betreff der Abgaben [machten]“245, registrierte Sack mit Sorge; entschieden wies er darauf hin, dass „das Vertrauen auf die Regierung nicht erhöht wird“, wenn in der jetzigen Situation die staatlichen Geldinstitute den Forderungen ihrer Gläubiger nicht nachkämen, aber der „Staat die Erfüllung der gegen ihn eingegangenen Verbindlichkeiten von Privatleuten mit Strenge fordert“.246 Vor dem „Geist des Widerspruchs gegen obrigkeitliche Beschlüsse“, für dessen Entstehung auch die Erfahrung der Okkupation verantwortlich gemacht wurde, warnte auch die Glogauer Kammer; es bedürfe in Anbetracht der Stimmungslage „ernste[r] und feste[r] Massregeln (…) zum Schutz der Autorität von seiten des Staates“.247 Ähnlich äußerte sich das Mitglied der Breslauer Regierung Friedrich Theodor von Merckel im ebenfalls schlesischen Breslau, wo es schon während der Besetzung zu Konflikten wegen der Abgaben gekommen war. Nun habe sich aber der Magistrat mit den Stadtverordneten zusammengeschlossen, bemerkte Merckel, um sich gemeinsam gegen die finanziellen Anforderungen der Regierung zu wehren; überhaupt würden die „Unterautoritäten“ nicht mehr ernst genommen.248 Merckels Warnungen, die Teil einer recht unverhohlenen Kritik an der Städteordnung waren, offenbaren das Unbehagen eines Beamten, der sich mit einer Bürgerschaft konfrontiert sah, die bereit dazu war, ihre Interessen entschlossen zu vertreten, selbst wenn dies bedeutete, sich gegen die Anweisungen der königlichen Behörden zu stellen. Wie die oben genannten Beispiele erwarten ließen, war Schlesien eine der unruhigsten Provinzen der Monarchie. Missverständnisse bei der Interpretation des Oktoberedikts hatten besonders im Westen die Bauern dazu veranlasst, Abgaben und Dienste zu verweigern.249 Der Syndikus von Landeshut warnte in einem Bericht an Dohna, dass durch die außerordentlichen Kontributionszahlungen an Frankreich, die den Abgabendruck auf die Bevölkerung bedeutend erhöhten, „das Band zwischen dem Volk und dem Könige loser geworden [ist] und (…) nicht dieser Eifer, diese Willigkeit, die Regierung zu unterstützen, vorhanden [ist] als zu der Zeit, wo diese mächtiger war und äußeren Schutz zusichern konnte.“250 245 Tagebuch Sack, Berlin, 25. 3. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 18, Bl. 20v. Siehe auch Sack an Dohna, Berlin, 1. 4. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 170, S. 387. 246 Siehe Tagebuch Sack, Berlin, 27. 5. 1809. Ebd., Nr. 19, Bl. 9v, hier die Zitat Bl. 9v. Auch Tagebuch Sack, Berlin, 29. 5. 1809. Ebd., Bl. 11v. 247 Siehe Ziekursch, Städteverwaltung, S. 145, hier auch die Zitate. 248 Siehe Merckel an Dohna, Breslau, 3. 9. 1809. Linke, Merckel, S. 149 – 153. 249 Siehe GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 49596. Massow an beide schlesischen Regierungen, Breslau, 12. 4. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 90, S. 231 f. Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 486 – 489. Ziekursch, Städteverwaltung, S. 139. Ders., Agrargeschichte, S. 277 – 280. Erler, Schlesien, S. 82 – 84. Linke, Merckel, S. 107 f. Münchow-Pohl, Reform, S. 105. 250 Syndikus zu Landeshut Haekel an Dohna, (Landeshut), 29. 4. 1809. Zit. n. Linke, Merckel, S.93.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
In der kurmärkischen Prignitz waren es schließlich nicht mehr nur einzelne Personen, Gemeinden oder Städte, die sich gegen die Staatsgewalt und die durch sie eingetriebenen Steuern zu wehren versuchten. „In großer Anzahl“ versammelten sich dort, im Dorf Blüthen im Perlebergschen Kreis, die „Deputirten“ der Bauern aus rund 70 Orten, um über eine gerechte Verteilung der Kriegslasten zu beraten. Ähnliche Bauernversammlungen hatte es während der Okkupation bereits in Schlesien gegeben und wie dort so reagierte die Obrigkeit auch in diesem Fall resolut. Auf Anordnung des Landrats v. Petersdorff wurde die Versammlung von einem militärischen Kommando gesprengt. Wie angespannt die Lage mittlerweile war, beweist der Versuch einiger Bauern, die Vernehmung der dabei Gefangengenommenen im nahegelegenen Perleberg zu verhindern; dabei habe man „das militärische Kommando nicht respectirt und sich drohende Aeußerungen, mit der Absicht Gewalt zu gebrauchen, besonders gegen den Landrat v. Petersdorff erlaubt“. Nachdem auch die Rädelsführer dieses Tumults verhaftet worden waren, wurde die militärische Präsenz in der Prignitz unverzüglich verdoppelt.251 Bemerkenswert sind jedoch nicht allein diese eher seltenen, besonders aufsehenerregenden Vorkommnisse;252 diese bildeten nur den Kamm einer Welle von Unzufriedenheit, die sich vor allem nach 1808 unter der Bevölkerung ausbreitete und die auch zwischen den Ständen für Spannungen sorgte.253 Die für viele täglich erfahrbare materielle Inanspruchnahme durch den Staat führte dazu, dass die Zustimmung zum bestehenden herrschaftlichen System zunehmend einer kritischen, abwehrenden Haltung wich.254 Der politische und soziale (beides war eng mitein251
Siehe Sack an die Kurmärkische Regierung, Berlin, 22. 3. 1809, Konzept, abgeg. 24.3. Kurmärkische Regierung an Sack, Berlin, 25. 3. 1809, Ausf. Kammergericht zu Berlin an Sack, Berlin, 17. 4. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 83, Nr. 1181, Bl. 2 – 2v, 4, 16 – 17, hier die Zitat Bl. 2, 16. Tagebuch Sack, Berlin, 25. 3. 1809. Ebd., Rep. 77, Tit. 520, Nr. 18, Bl. 15 – 15v. Sack an Dohna, Berlin, 25. 3. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 168, S. 383 f. Siehe hierzu und zu ähnlichen Versammlungen im Ruppiner Land auch Münchow-Pohl, Reform, S. 107. 252 Es ist angesichts der zahlreichen kleineren Konflikte nur bedingt dem Befund zuzustimmen, wonach sich die allgemeine Stimmung „in eigentlich erstaunlich wenigen Fällen in Form offenen Widerstands gegen die Staatsgewalt ausdrückte.“ Münchow-Pohl, Reform, S. 114. 253 Siehe die Konflikte des Kreises Lebus mit dem ständischen Komitee und der Regierung dargestellt in Frie, Marwitz, S. 256 – 258. 254 Siehe u. a. die Stimmungsberichte in Tagebuch Sack, Berlin, 5. 4. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 18, Bl. 31v–32. Zeitungsbericht Kurmärkische Regierung, Berlin, 8. 6. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 218, S. 466. Scharnhorst an Altenstein, Königsberg, 31. 3. 1809. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 343, S. 513. Denkschrift Altenstein, Königsberg, 19. 7. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 19, S. 109. Ernst, Denkwürdigkeiten, S. 165. Pick, Noth, S. 81 f. Speziell zu Stimmungslage 1809 siehe auch Münchow-Pohl, Reform, S. 101 – 114, 129 – 131, 137. An mancher Stelle berichtete Sack hingegen von einer Stimmung, die „vortreflich (!)“ gewesen sei. Immediatbericht Sack, Berlin, 14. 2. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 158, S. 358. Diese Aussage deckt sich jedoch nicht mit seinen sonstigen Äußerungen und den Berichten aus anderen Provinzen; auch die Vorfälle rund um das Exekutionswesen sind damit kaum in Einklang zu bringen. Für die Aussage Sacks dürften eher taktische Motive ausschlaggebend gewesen sein. Siehe zur Problematik solcher Berichte auch Büschel, Untertanenliebe, S. 247.
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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ander verbunden) Status quo wurde hinterfragt. Darin lag der Unterschied zur Zeit vor 1807, als nicht in erster Linie der Herrschaftsdruck des Staats, sondern die Gutsherrschaft Anlass zu Kritik und Widerständigkeit gab. Die während des Ancien Régime zu beobachtende Widerständigkeit, die durchaus schon organisierte Formen annehmen konnte, richtete sich vorwiegend gegen Diensterhöhungen, Dienstzwang, das Einziehen von Land, oder einfach gegen Gewalt und Beleidigungen. Zum Schutz gegen den Gutsherrn konnte die Bauernschaft auf ihr Klagerecht an den Obergerichten oder das Appellationsrecht am Hof zurückgreifen, wohingegen gewaltsamer Widerstand wenig Aussicht auf Erfolg bot. König und Staat waren so Schutz- und Berufungsinstanzen; im günstigsten Fall verhalf die souveräne Staatsgewalt sogar zur Durchsetzung der eigenen Interessen gegen die lokale Obrigkeit.255 Der Boden für die Widerständigkeit, die sich nach dem Tilsiter Frieden nicht mehr nur gegen die Obrigkeit vor Ort, sondern auch gegen die Staatsgewalt richtete, war also schon früher bereitet worden. Die „Mehrung und Stärkung des Kommunalismus“ – eine Entwicklung, die auch für die Städte festgestellt werden kann –, diese Tendenz zur Selbstbestimmung, erhielt unter dem Druck der Okkupation und unter dem Gewicht der Abgabenlast einen neuen Schub. Und mehr als das: Hinter dem dezidierten Interessenbewusstsein der ländlichen und städtischen Bevölkerung verbarg sich ein kritisches Denken, das mit den Jahren in Folge unter anderem der Erfahrung der Ressourcenmobilisierung durch die Okkupationsmacht und den Staat immer schärfer zu Tage trat. Ein Indikator für diese kritische Haltung gegenüber den bestehenden Herrschaftsstrukturen waren vor allem in den Städten die Majestätsbeleidigungsprozesse, die sich nach 1808, als die anfänglichen Hoffnungen auf eine Rückkehr des Königs und eine Verbesserung der Lage enttäuscht wurden, auch in den vormals besetzten Provinzen auffällig häuften und deren Zahl 1810/11 einen Höchstwert erreichte. Selbst wenn diese Art der Herrschaftskritik nur in den seltensten Fällen Niederschlag in den Akten gefunden haben dürfte, spricht das vorhandene Material eine eindeutige Sprache: Im Bezirk des Kammergerichts zu Berlin wurden zwischen September 1807 und März 1811 rund zwei Dutzend solcher Beleidigungsprozesse gegen Beschuldigte angestrengt, die vornehmlich aus den mittleren Schichten stammten. Die Bestrafung orientierte sich an den Vorgaben des Allgemeinen Landrechts und fiel mit Auch in Württemberg war beispielsweise offener Aufruhr wegen der hohen Steuerlast eher eine Ausnahme. Siehe hierzu Eckert, Ordnungssuche, S. 197. 255 Siehe hierzu Lieselott Enders, Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzüge und Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 (1993), S. 195 – 256, hier besonders S. 226 – 228, 250 – 256. Dies., Individuum und Gesellschaft. Bäuerliche Aktionsräume in der frühneuzeitlichen Mark Brandenburg, in: Jan Peters (Hrsg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (HZ, Beiheft N. F., 18), München 1995, S. 155 – 178, hier besonders S. 156, 165 – 169, 172 – 177. Dies., Schulz und Gemeinde in der frühneuzeitlichen Mark Brandenburg, in: Thomas Rudert/Hartmut Zückert (Hrsg.), Gemeindeleben, passim, besonders S. 119 – 125, 139. Dies., „Flecken“, passim. Und weitere Beiträge im Sammelband von Rudert und Zückert.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
zwölf Monaten Zuchthaus meist hart aus.256 Begnadigt wurde kaum jemand, was in gewisser Hinsicht erstaunlich ist, denn eine solche Geste der Gnade galt als Beweis landesherrlichen Großmuts. Es zeugt von der Nervosität der staatlichen Behörden und des Königs, wenn die Fälle von Majestätsbeleidigung entschlossen geahndet und – was normalerweise nicht vorkam – selbst Verfahren gegen einfache Bürger angestrengt wurden, die ohne herausragende gesellschaftliche Stellung waren.257 Obwohl das Allgemeine Landrecht eigentlich klar zwischen Staats- und Regentenschutz unterschied,258 wurde doch beides in der Praxis offensichtlich oftmals vermengt. Ein Kaufmann aus Königsberg wurde etwa „wegen Verletzung der Ehrfurcht gegen den Staat, und die Allerhöchste Person des Königs“ angeklagt, während ein Major von Bequinolle beschuldigt wurde, „sich über Eur. Königliche Majestät Allerhöchste Person und die Staatsverfaßung (…) ungebührliche Aeußerungen“ erlaubt zu haben.259 Ein hochrangigeres Mitglied des Militärs wie Bequinolle konnte wenigstens auf eine mildere Strafe als sonst üblich hoffen; in seinem Fall waren es 50 Taler, oder ersatzweise 40 Tage Haft.260 Offenbar litt unter dem allgemeinen Legitimitätsverlust der staatlichen Ordnung zusehends auch das Ansehen des Königs als deren Zentrum und Ausgangspunkt. Die Stellung des Monarchen wurde fragil; seiner Souveränität mangelte es zeitweilig an der Anerkennung durch die Bevölkerung, wodurch die Realisierung von Entscheidungen der Staatsführung zunehmend erschwert wurde. Einen Höhepunkt stellte mit Sicherheit das Jahr 1809 dar, als sich die Lebensbedingungen für den Großteil der Bevölkerung kaum besser gestalteten als unter der Okkupation. Zu dieser Zeit war es auch möglich, dass in Berlin dem Gerücht Glauben geschenkt werden konnte, es habe in Königsberg einen Aufstand gegen Friedrich Wilhelm gegeben, der den König zur Flucht nach Memel gezwungen habe. Als Auslöser für den vermeintlichen Putsch
256 Siehe hierzu GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 50178. Weitere Verfahren aus anderen Gerichtsbezirken in ebd., Nr. 50192, 50196, 50197. Insgesamt ist die Überlieferungssituation auf zentralstaatlicher Ebene recht gut, da nach den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts jedes Straferkenntnis in Majestätsbeleidigungssachen dem König vorgelegt werden musste, der von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch machen konnte. 257 Siehe allgemein zur Majestätsbeleidigung Helga Schnabel-Schüle, Das Majestätsverbrechen als Herrschaftsschutz und Herrschaftskritik, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Staatsschutz (Aufklärung, 7/2), Hamburg 1994, S. 29 – 47, hier S. 37 – 41. Peter Collin, Majestätsbeleidigung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, S. 1121 – 1123, passim. 258 Zur Behandlung der Majestätsbeleidigung im ALR siehe Collin, Majestätsbeleidigung, S. 1122. Friedrich-Christian Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht. Eine systematische Darstellung, entwickelt aus Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung (Münchener Universitätsschriften, Reihe der Juristischen Fakultät, 9), München 1970, S. 36 – 47. 259 Siehe Kriminalsenat zu Königsberg an Kanzler Schroetter, Königsberg, 24. 1. 1807, Ausf. Kriminalsenat der Ostpreußischen Regierung an Kanzler Schroetter, Königsberg, 6. 9. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 50192. 260 Siehe Kabinettsorder an Kanzler Schroetter, Königsberg, 29. 10. 1808, Konzept, abgeg. 12.11. Ebd.
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galt das Silberedikt,261 das zu Anfang des Jahres bekanntgegeben worden war. Peinlich genau regelte das Edikt, welche Gegenstände der Steuer unterworfen waren, so etwa auch die goldenen und silbernen Tressen an der Kleidung von Bediensteten, und was nicht, wie Tee- und Salzlöffel. Die Strafen bei Betrug, der jedoch nur schwer festgestellt werden konnte, waren hart und sahen unter anderem die öffentliche Bekanntmachung des Namens des Schuldigen in den Zeitungen vor.262 Ungeachtet der patriotischen Appelle, die dem Gesetzestext vorausgingen, entzogen sich viele der Steuer, indem sie ihre Edelmetallvorräte schon vor der offiziellen Verkündung verkauften.263 Das Silberedikt brachte am Ende nicht nur wenig ein, es wurde auch gerade in den oberen Schichten der Gesellschaft als „linkisch genommen“. „Vielleicht noch keine Maßregel hat ein so allgemeines und schreckliches Mißfallen erregt“, beschrieb Wilhelm v. Humboldt die Stimmung.264 „Dieses neue Edikt macht es endlich den Menschen fühlbar“, meinte etwa Achim v. Arnim, „daß dieser jetzige Zustand gänzlich unerträglich ist, daß kein Krieg so verderblich wie dieser Friede, der bis zum Aermsten das Nothwendigste des Lebens aufzehrt.“265 Arnim wies auf einen entscheidenden Punkt hin: Frieden und Krieg waren zumindest in materieller Hinsicht für die Mehrheit der Bevölkerung kaum zu unterscheidende Zustände. „Alles stehet mehr in einer kriegerischen als friedlichen Verhältnißem (!)“, hieß es 1807 aus dem geräumten Ostpreußen;266 der „dermarlige Status pacis (…) [ist] fast drückender als der Status belli“, schrieb ein Chronist aus dem besetzten Breslau.267 „Der Frieden (…) gab uns seine Segnungen nicht, er schlug uns tiefere Wunden als selbst der Krieg“, war noch der Wortlaut des Aufrufs „An 261 Siehe hierzu Polizeibericht, Berlin, 18. 3. 1809. Ebd., I. HA, Rep. 77, Nr. 1, Bl. 2. Auch Münchow-Pohl, Reform, S. 122. 262 Siehe „Verordnung wegen Ankauf des Gold- und Silbergeräths durch die Münzämter und wegen Besteuerung desselben und der Juwelen“, Königsberg, 12. 2. 1809. NCC, Bd. 12/2, Nr. 67, S. 769 – 776. Hierzu auch Mamroth, Geschichte, S. 528 – 531. 263 Siehe Provinzialminister Schroetter an Altenstein, Berlin, 10. 3. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 64, S. 172 f. Beguelin an Gneisenau, Berlin, 30. 3. 1809. Pick, Noth, S. 138. 264 Die Zitate W. v. Humboldt an Caroline v. Humboldt, Berlin, 14. 3. 1809. Sydow, Wilhelm und Caroline, Bd. 3, S. 115. Zur negativen Beurteilung des Silberedikts siehe auch Humboldt an Caroline von Humboldt, Berlin, 11. 3. 1809. Theodor Kappstein (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden. Eine Auslese seiner Briefe, Berlin (1917), S. 229 f. Tagebuch Sack, Berlin, 11. 3. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 18, Bl. 2. Immediateingabe Theodor Schuchard, Landeshut, 20. 3. 1809. Immediateingabe Ferdinand Meister, Schwedt, April 1809. Ebd., Rep. 151, I A, Nr. 168. Zeitungsbericht Sack, Berlin, 21. 3. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 165, S. 378. Linke, Merckel, S. 85 f. Münchow-Pohl, Reform, S. 121, 123. 265 Achim v. Arnim an Bettina v. Arnim, s. l., 12. 3. 1809. Roswitha Burwick et. al. (Hrsg.), Ludwig Achim von Arnim. Werke und Briefwechsel, 32 Bde. (keine durchlaufende Zählung), Tübingen u. a. O. 2004 – 2011, hier Bd. 13, hrsg. v. Yvonne Pietsch, S. 715. 266 Bericht des Landesdirektors v. Jasky, Wattigwalde, 21. 10. 1807. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 25312, Bl. 162. 267 Wiedemann, Breslau, S. 166. Siehe u. a. auch Meinardus, Episode, S. 6.
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mein Volk“ von 1813. Dass es dem Staat nicht gelang, seit Ende des Kriegs eine grundsätzliche Verbesserung der Lage der Einwohner zu erreichen, musste irgendwann auch zum Problem für die Legitimität der souveränen Herrschaft des Königs werden. Erste Ursache der Situation des Landes war der Krieg von 1806/7. Aber erst die anschließende Abhängigkeit von Frankreich seit Unterzeichnung des Tilsiter Friedens erzwang eine zunehmende Ausdehnung des Staats und die erheblichen steuerlichen Mehrbelastungen, die nötig waren, um die Kontributionen zu bezahlen oder (später) einen Krieg zur Beseitigung der französischen Hegemonie vorzubereiten. An dieser Stelle wird erneut der enge Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Souveränität, zwischen äußerem Souveränitätsverlust und einem Legitimitätsdefizit im Innern deutlich. Dieses seit 1807 bestehende Legitimitätsdefizit der politischen Ordnung Preußens wurde von der politischen Führung mit Sorge registriert. Vermehrt wurde vor den Folgen des allzu rigiden Sparprogramms gewarnt, das eine repräsentative Hofhaltung unmöglich machte.268 Die unzureichende Performanz der königlichen Herrschaft empfand man besonders schwer in einer Zeit, in der die Stellung des Königs hinterfragt wurde und, angestachelt durch die Pracht- und Machtentfaltung Napoleons, geradezu ein zeremonielles Wettrüsten in Deutschland einsetzte.269 Das Staatsministerium riet 1810 aber vor allem vor dem Hintergrund der innerpreußischen Entwicklungen zu einem Umdenken, „damit das in einer Monarchie so außerordentlich nötige Ansehen des Thrones nicht leide. Es ist doppelt wichtig in einer Zeit, wo sich unter so manchen Begebenheiten im In- und Auslande alle Bande so sehr gelöst haben und wo manche unrichtigen Ansichten und Gefühle entbunden worden sind, die durch fortdauernden (…) Druck neue Nahrung erhalten. Die Wichtigkeit des Hofwesens wird unter diesem Gesichtspunkt gewöhnlich verkannt. Dem großen Haufen muss durchaus imponiert werden.“270
Noch im selben Jahr wurde mit dem aufwendig begangenen neuen Krönungs- und Ordensfest versucht, den empfundenen Mangel an Herrschaftsrepräsentation zu beseitigen. Dies mag keine Veranstaltung zur Gewinnung der Massen gewesen sein,271 wohl war damit aber eine stärkere Bindung der gesellschaftlichen Eliten an 268
Siehe hierzu Voß, Neunundsechzig Jahre, S. 335. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 135 f. Siehe hierzu Carl, Erinnerungsbruch, S. 173 – 180. 270 Immediatbericht Staatsministerium (gez. Goltz, Altenstein, Dohna, Scharnhorst, Beyme), Berlin, 4. 2. 1810. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 28, S. 139 f. Ähnliche Vorschläge für Feiern zu Ehren des Königs, der Königin und des Königshauses zum Zweck der Beeinflussung der Volksstimmung wurden auch von Sack vorgebracht. Siehe Büschel, Untertanenlieben, S. 269 – 273. 271 Zum Ordensfest siehe David E. Barclay, Ritual, Ceremonial, and the „Invention“ of a Monarchical Tradition in Nineteenth-Century Prussia, in: Heinz Duchhardt/Richard Jackson/ David Sturdy (Hrsg.), European Monarchy. Its Evolution and Practice from Roman Antiquity to Modern Times, Stuttgart 1992, S. 207 – 220, hier S. 208 – 213. Gut begründete Kritik an Barclay in Büschel, Untertanenlieben, S. 79 – 90. Siehe hierzu auch Carl, Erinnerungsbruch, S. 180 f. 269
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die Krone beabsichtigt; auch wenn mancher wie der Oberpräsident von Brandenburg Vincke diese Inszenierung monarchischer Herrschaft für wenig gelungen gehalten haben mag.272 Das Verhältnis zwischen König und Bevölkerung war insgesamt vielschichtiger und facettenreicher als das oben Gesagte womöglich vermuten ließ. Der außenpolitische Druck entfaltete auch eine gewisse Kohäsionskraft nach innen, wirkte politisch wie gesellschaftlich zugleich zentrifugal und -petal. Während der Okkupation hatte schon die Begegnung mit dem Fremden verkörpert durch die Soldaten der Grande Armée und spürbar in Form der Besatzungsherrschaft ein Bewusstsein für eine eigene, spezifisch preußisch-deutsche Identität gefördert. Allerdings ging jenseits einer intellektuellen Elite kaum von den schillernden und vieldeutigen Begriffen „Nation“ und „Volk“ eine Anziehungskraft aus, noch war und blieb die Krone repräsentiert durch das Haus Hohenzollern und die Person des Königs der zentrale Identifikationspunkt für weite Teile der Bevölkerung; das hatte schon das Verhalten vieler Preußen während der Besetzung bewiesen.273 Bei aller Kritik an der Staatsführung und am König darf dies nicht vergessen werden. Das Legitimitätsdefizit bedeutete eben keinen gänzlichen Legitimitätsverlust. Adressat der persönlichen wie politischen Sehnsüchte, Wünsche und Forderungen war mehrheitlich nach wie vor der König,274 der dadurch jedoch immer stärker unter den Zwang geriet, diesen mitunter höchst unterschiedlichen Anforderungen entsprechen zu müssen, wollte er seine Stellung als souveräner Herrscher behaupten. c) Das Konsensdiktat und der Repräsentationsgedanke Kaum etwas erschien angesichts der finanziellen Notlage des Staats notwendiger als eine grundsätzliche Revision der Steuer- und Finanzverfassung Preußens. Das Steuersystem glich 1807 noch einer „eigenthümliche[n] Mischung von absoluter Monarchie, provinzialem Partikularismus und ständischen Privilegien.“275 Die Steuerhoheit war nicht klar beim monarchischen Souverän verortet – ein weiteres Indiz für die noch unvollständige Staatlichkeit Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Indem er die Steuerkompetenz dem Monarchen überließ, ihre Realisierung 272
Siehe Bodelschwingh, Vincke, S. 462 f. Siehe Kap. D. IV. 274 Selbst angesichts der hohen Steuerlasten versprach man sich Hilfe vom Monarchen. Bände füllen die Suppliken und Beschwerden, die aus dem Geheimen Zivilkabinett überliefert sind, in denen Preußen unterschiedlichster Herkunft den König um Befreiung von Steuern und um Hilfe gegen die Exekutionen ersuchen. Siehe etwa GStA PK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 27, Nr. 246. Ebd., I. HA, Rep. 89, Nr. 25312. Linke, Merckel, S. 131. Diese Orientierung zur Krone, die sich in den Petitionen ausdrückt, musste nicht unbedingt auf „naiven monarchischpaternalistischen Vorstellungen“ (Münchow-Pohl, Reform, S. 107) beruhen, sondern konnte durchaus einer selbstbewusst-fordernden Haltung entsprungen sein. Siehe hierzu insbesondere Büschel, Untertanenliebe, S. 352. 275 Lehmann, Ursprung, S. 1. Zur Steuerverfassung der verschiedenen Provinzen siehe ebd., S. 1 – 3. Mamroth, Geschichte, S. 7 f., 241 – 278. 273
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aber von der Zustimmung der Stände abhängig machte, vertrat noch Bodin eine seltsam unklare Position zum Verhältnis von Souveränität und Besteuerung. Bodins Ausführungen reflektieren in diesem Punkt die Verhältnisse seiner Zeit, widersprachen aber eigentlich der Logik seines Souveränitätsbegriffs.276 Von der Verfügung über die Finanzquellen hing schließlich ganz entscheidend die Handlungsfähigkeit des Souveräns ab. Es ist daher durchaus sinnvoll, in der Steuerhoheit ein wesentliches Element der Souveränität und mithin ein Kennzeichen der Staatlichkeit auszumachen.277 In Preußen war das Steuersystem dual gegliedert und in eine staatliche und eine ständische Steuerverwaltung geschieden. Neben der kameralen Finanzadministration existierte in den meisten Provinzen – es wurde bereits darauf hingewiesen – ein eigenes Kassenwesen der Stände, das mit der Verwaltung rein ständischer Steuern betraut war. Wie eng das ständische und das staatliche Element noch miteinander verwoben waren, lässt die preußische Grundsteuer (Kontribution) erkennen, die an den Landesherrn ging, aber durch den Landrat eingetrieben wurde, dessen Amt bekanntlich einen zumindest halbständischen Charakter besaß.278 Aber nicht nur bei der Verwaltung bestehender Steuern, auch für die Ausschreibung neuer Steuern bedurften König und Staat der Stände. So hatten es die adligen Rittergutsbesitzer Pommerns, der Kur- und der Neumark erreicht, von der Kontribution befreit zu bleiben, so dass diese allein die bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten traf. Lediglich in Ostpreußen und zumindest in Ansätzen auch in Westpreußen wurden auch die Rittergutsbesitzer zur Grundsteuer herangezogen.279 Nur in den Städten war es gelungen, mit der Akzise eine von allen Untertanen gleichermaßen erhobene, rein landesherrliche Steuer durchzusetzen. Von Provinz zu Provinz bestanden große Unterschiede in Zahl, Höhe und Umfang verschiedener Steuern und Abgaben. Die Vielzahl unterschiedlichster Regelungen und Zuständigkeiten versetzten die preußische Steuerverfassung in einen geradezu chaotischen Zustand; kurz nach Ende des Kriegs kannte man etwa in Litauen nicht einmal die genaue Höhe der fälligen Grundsteuern.280 Die Reformbedürftigkeit des gesamten Systems war angesichts solcher Zustände für einige Beamte offensichtlich. Nicht zuletzt wegen des gestiegenen staatlichen Finanzbedarfs wurde die Notwendigkeit einer möglichst einheitlichen Besteuerung aller preußischen Einwohner unabhängig von Stand und Provinz gesehen.281 Stein war schon vor 1807 mit Forderungen nach der Beseitigung der adligen Steuerprivilegien und der zumindest 276
Siehe hierzu Quaritsch, Souveränität, S. 60 – 62. Siehe hierzu Reinhard, Geschichte, S. 309. 278 Siehe auch Witzleben, Staatsfinanznot, S. 32, 56 – 60. Ähnlich war die Lage in Bayern. Siehe Ullmann, Staatsschulden, Bd. 1, S. 38. 279 Siehe Dieterici, Volkswohlstand, S. 3. Belke, Regierung, S. 79 f. Vetter, Adel, S. 111. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 75. 280 Siehe Engels, Verwaltung, S. 81. 281 Siehe hierzu und zu den Steuerreformversuchen vor 1806 Rolf Grabower, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, Berlin 1932, S. 22, 118. 277
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temporären Erhebung einer Kriegssteuer auf das Einkommen in Erscheinung getreten.282 Eine Einkommensteuer, wie sie Stein vorschlug, war bereits in Frankreich und England eingeführt worden, um den in Folge der Revolutionskriege enorm erhöhten Finanzdruck aufzufangen.283 Unmittelbar nach dem Tilsiter Frieden war es nicht Stein, der den Anstoß gab, dem ausländischen Vorbild zu folgen, sondern die städtische und die Kammerverwaltung von Königsberg. In der ostpreußischen Hauptstadt sah man sich mit dem Problem konfrontiert, die Wechselschulden begleichen zu müssen, die aufgenommen worden waren, um sowohl die unmittelbaren französischen Forderungen gegenüber der Stadt, als auch den Anteil Königsbergs an der Provinzialkriegskontribution begleichen zu können. In etwa zur selben Zeit schlugen im September 1807 der Polizeidirektor Frey und der Kammerassessor Hoffmann vor, zur langfristigen Deckung dieser Verpflichtungen auf eine Einkommensteuer zurückzugreifen. Nach längeren Beratungen, an denen auch das städtische Komitee beteiligt war, wurden, ohne die königliche Genehmigung abzuwarten, am 20. Oktober 1807 die Einwohner in einer Bekanntmachung und einer näheren Anweisung der sogenannten Liquidations- und Tilgungskommission aufgefordert, ihre erste Steuererklärung abzugeben.284 Stein billigte nicht nur das Verfahren der Königsberger, er regte die Ausdehnung der Einkommensteuer auf ganz Ostpreußen sowie Litauen an und empfahl auch anderen Provinzen, ihr Kriegsschuldenwesen nach dem Abzug der französischen Armee nach dem Königsberger Vorbild zu organisieren.285 Ungeachtet der Kritik an Steins Plänen erhielt der Provinzialminister Schroetter sogleich den Auftrag,286 einen Einkommensteuerplan für die östlichen Provinzen zu entwerfen. Entstehung und Details des Schroetterschen Entwurfs sind hier nur von untergeordneter Bedeutung; wichtig wurde vor allem, dass Stein seine Vorstellung von einer Beteiligung von Repräsentanten an der Verwaltung auf die Steuerkommissionen übertrug, die sich aus gewählten Vertretern von Stadt und Land sowie königlichen Beamten zusammensetzen sollten. Der Entwurf, der später zum Gesetz wurde, sah überdies vor, dass die Steuersätze von Königsberg mit bis maximal 15 und 20 % deutlich höher ausfielen als in der Provinz, wo das Einkommen nur mit maximal 3 % besteuert werden 282
Siehe Lehmann, Ursprung, S. 13 f. Grabower, Steuern, S. 198 – 200. Ritter, Stein, S. 322. Siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 189. Ders., Ursprung, S. 5 – 9. 284 Zur Königsberger Einkommensteuer siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 189 – 191. Ders., Ursprung, S. 19 f. Grabower, Steuern, S. 200 – 212. Winkler, Frey, S. 101 – 110. 285 Siehe Kabinettsorder an Provinzialminister Schroetter, Memel, 16. 10. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 14, S. 31 f. Otto Schönbeck, Die Einkommensteuer unter den Nachfolgern Steins. Ein Beitrag zur Geschichte des Ministeriums Altenstein-Dohna, in: FBPG 25 (1913), S. 117 – 177, hier S. 118. 286 Zu den Kritikern zählte zu Beginn Schroetter selbst. Siehe Immediatbericht Provinzialminister Schroetter, Memel, 17. 8. 1807, Abschrift. GStA PK, VI. HA, Nl Schön, Theodor von (Dep. von Brünneck), I, Nr. 123, Bl. 181v–183v. Aber auch der Königsberger Professor Christian Jakob Kraus. Siehe Lehmann, Ursprung, S. 17 f. 283
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sollte.287 Trotz dieser vergleichsweise geringeren steuerlichen Belastung versuchte die ostpreußische Ritterschaft durchzusetzen, nur mit einer noch geringeren Hufensteuer herangezogen zu werden.288 Obschon die Staatsführung das Ansinnen der Ritterschaft entschieden zurückwies,289 erschien aus ihrer Sicht die Anhörung der Stände Anfang 1808 aus verschiedenen Gründen erforderlich. Noch war völlig unklar, wie die französischen Kontributionsforderungen aufgebracht werden sollten, war doch die Einkommensteuer nur zur Deckung der aufgelaufenen Provinzialschulden gedacht. Es war unabdingbar, kurzfristig bedeutende Kapitalsummen aufzubringen. Seit dem Sommer 1807 bemühte sich die Staatsführung erfolglos um bedeutende Kredite im Ausland. Zugleich fehlte dem preußischen Staat ein funktionierendes und tragfähiges Verschuldungsinstrumentarium, das es erlaubt hätte, eine größere Summe über die Ausgabe von Staatsanleihen einzunehmen.290 Besonders nach dem Tilsiter Frieden, als das Vertrauen in den Staat und die Glaubwürdigkeit von dessen Spitze tief gesunken waren, bestand kaum eine Chance, Staatspapiere mit Erfolg zu emittieren. Dass die Bank und die Seehandlung bis zur Rückkehr des Königs nach Berlin Ende 1809 geschlossen blieben,291 Zinsforderungen und laufende Verpflichtungen mithin vom Staat nicht befriedigt wurden, sorgte schließlich nicht nur für massive Unzufriedenheit unter der Bevölkerung, sondern beschleunigte auch noch die Baisse der bereits ausgegebenen staatlichen Papiere.292 Bei den inländischen Bankhäusern waren Kredite für den Staat kaum zu bekommen. In Königsberg und Memel, den einzigen größeren Städten im nicht besetzten Teil der Monarchie, erklärten die Kaufleute und Bankiers keine Wechselgeschäfte zu betreiben, geschweige denn über ein hierzu ausreichendes Kapital zu verfügen.293 Die Verhandlungen mit den Berliner Bankhäusern, die Stein schließlich
287 Zur Entstehung der Provinzialeinkommensteuer siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 191 – 195. Ders., Ursprung, S. 21 – 24. Haußherr, Erfüllung, S. 154 – 157. Kabinettsorder an Provinzialminister Schroetter, Memel, 23. 12. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 509, S. 583 f. 288 Siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 196 f. Ders., Ursprung, S. 25 f. 289 Siehe Reskript an die ostpreußische Ritterschaft, Königsberg, 21. 1. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 99, S. 332 f. 290 Siehe hierzu Witzleben, Staatsfinanznot, S. 37 f., 61, 69. 291 Siehe Münchow-Pohl, Reform, S. 176. Altenstein wies entschieden auf den finanzpolitischen Effekt hin, der von der Rückkehr des Königs und der gleichzeitigen Wiedereröffnung der Bank und der Seehandlung in Verbindung mit einer Bekanntmachung, dass die Staatsgläubiger bald bezahlt würden, ausgehen könnte. Siehe Immediatbericht Altenstein, 9. 12. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 151, I A, Nr. 2766. 292 Siehe Tagebuch Sack, Berlin, 21.7., 25.7. und 9. 9. 1809, Ausf. Ebd., Rep. 77, Tit. 520, Nr. 21, Bl. 45v–46, 55v, 72 – 72v. Pro Memoria L’Abaye, Berlin, 13. 12. 1808, Ausf. Ebd., Rep. 151, I A, Nr. 2764. Schissler, Agrargesellschaft, S. 381. 293 Siehe „Protokoll der Konferenz des Kommerzien- und Admiralitätskollegiums mit den Königsberger Bankiers“, Königsberg, 2. 12. 1807. „Protokoll der Konferenz des Schiffahrtsund Handlungsgerichts mit den Memeler Kaufleuten“, Memel, 5. 12. 1807. Kommerzienrat
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seit Anfang 1808 führte, um eine Wechselsumme über 15 Mio. Taler, die als Sicherheit für die Kontributionsforderung dienen konnte, aufzunehmen, waren hürdenreich. Zwar hatten die Berliner Banken schon den Ständen bedeutende Summen zur Verfügung gestellt, doch in diesem Fall legten sie große Zurückhaltung an den Tag und waren ohne erhebliche Sicherheiten nicht zum Abschluss bereit. Neben stabilen Wertpapieren, allen voran Pfandbriefen (über die Stein zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfügte), im doppelten Wert der Schuldsumme wurde eine Rückbürgschaft der Berliner Kaufmannschaft und anderer vermögender Personen verlangt, auf deren Solvenz man offensichtlich eher vertraute, als auf die der staatlichen Kassen. Der Konflikt zwischen den Bankiers und dem Staat, der sich im weiteren Verlauf entwickelte, mündete am Ende in einem leidlichen Kompromiss, indem sich die Banken dazu verpflichteten, bis zur Beendigung der Besetzung zumindest auf die gewünschte Rückbürgschaft zu verzichten. Die Vorsicht der Bankiers war nicht unbegründet. Auf absehbare Zeit war kein Ende der „öffentlichen Kalamitäten“, wie sie es nannten, zu erwarten.294 Die außenpolitische Abhängigkeit und eingeschränkte äußere Souveränität Preußens, welche die Gefahr einer Wiederbesetzung oder einer territorialen Verkleinerung, wenn nicht gar Auflösung der Monarchie möglich erscheinen ließ, gab nicht zu Unrecht Anlass für Zweifel an der künftigen Zahlungsfähigkeit des Staats. Angesichts dieser Umstände wurde in Memel frühzeitig nach alternativen Verschuldungsmöglichkeiten gesucht. Seit Ende des Kriegs kursierten Pläne von einem Verkauf der königlichen Domänen, dessen Erlös ausgereicht hätte, um die französische Kontributionsforderung in großen Teilen zu begleichen. Stein gehörte zu denjenigen, die diese Option gegen zahlreiche Bedenkenträger im hohen Beamtentum verteidigten, ohne aber die Probleme, die daran geknüpft waren, zu verkennen. So war die direkte Veräußerung des Domänenbesitzes in Anbetracht des Kapitalmangels im Inland wenig aussichtsreich und zudem drohte das plötzliche Überangebot die Preise für die Güter zu ruinieren. In Memel kam man deswegen auf einen Plan Niebuhrs zurück, wonach die Domänen zunächst in die ritterschaftlichen Kreditinstitute aufgenommen werden sollten. Diese Verbindung der Domänen mit dem privaten Grundbesitz würde es ermöglichen, so die Überlegungen, die Domänen mit Pfandbriefen zu belasten, für deren Sicherheit die Gesamtheit der Ritterschaft
Jacobi an Staegemann, Königsberg, 16. 12. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 98, 99, 101, S. 284 f., 288 – 291. 294 Siehe Bankier Liepmann Meyer Wulff an Salomon Moses Levy Erben, Berlin, 1. 3. 1808. Ebd., Nr. 105, S. 298 f., hier das Zitat S. 298. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 235. Haußherr, Erfüllung, S. 136 f., 185. Treue, Technikgeschichte, S. 239 f. Zu Konflikten zwischen Bankiers und Staatsführung siehe auch die Bankhäuser S.M. Levy Erben, Gebrüder Benecke und Gebrüder Schickler an Altenstein, Berlin, 1. 4. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 118, S. 312 – 314. Tagebuch Vincke, 15. 3. 1809. Behr, Tagebücher, Bd. 5, S. 346. Von einem „Klassenkampf der Bürokratie gegen das Leihkapitel“ während der Regierung Dohna/Altenstein zu sprechen, geht aber dennoch zu weit. So Hanna Schissler nach Eckart Kehr in Schissler, Einleitung, S. 51.
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genauso bürgen würde wie bisher bei der Beleihung von privaten Rittergütern.295 Die Bepfandbriefung der Domänen glich somit einer Verschuldung auf Umwegen. Durch den allmählichen Verkauf der Domänen sollten die Pfandbriefe in einem weiteren Schritt getilgt und die Hypothekenschuld allmählich abgelöst werden;296 solange verfügte der preußische Fiskus jedoch über vergleichsweise sichere Wertpapiere, die als Garantie für eine ausländische Anleihe verwendet werden konnten. Um dieses Vorhaben zu realisieren, waren indes im Vorfeld zwei zentrale Fragen zu klären: Zum einem mussten die Landschaften der Aufnahme der Domänen zustimmen und zum anderen war festzustellen, ob der Verkauf des Dominialbesitzes rechtlich überhaupt zulässig war. Am 21. Dezember 1807 informierte Stein zunächst die ostpreußische Landschaftsdirektion über den Wunsch des Königs, mit den Domänen in das ritterschaftliche Kreditinstitut einzutreten; gleichzeitig stellte er die Einberufung eines Generallandtags in Aussicht, der die Zustimmung hierzu geben sollte. Auch die Landschaften der anderen Provinzen wurden entsprechend instruiert, jedoch sollten dort bis zum Abzug der französischen Armee zunächst keine entsprechenden Versammlungen abgehalten werden.297 Was die Frage nach der Veräußerbarkeit anbelangte, so waren die staatsrechtlichen Bedenken nicht einfach auszuräumen. In den Dispositionen Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. aus den Jahren 1710 und 1713 wurden die Domänen eigentlich für unveräußerlich erklärt; nach dem Hausgesetz Friedrich Wilhelms I. galten sie als „ewige[r] Fideikomiss“, wodurch ihre Verpfändung, der Verkauf oder das Verschenken ausgeschlossen waren.298 Die fideikommissarische Eigenschaft der Domänengüter wurde allerdings gegen Ende des Jahrhunderts durch das Allgemeine Landrecht staatsrechtlich überformt; dort war nämlich nur noch von Grundstücken 295 Zu den Plänen des Domänenverkaufs siehe Niebuhr an Stein, Memel, 9. 11. 1807. „Gutachten Stein’s über die Veräußerung der Domänen“, s. l., (spätestens 9. 12. 1807). Hassel, Politik, Nr. 14, 19, S. 321 f., 324 f. Stein an Provinzialminister Schroetter, Memel, 28. 12. 1807. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 190, S. 465. Schönbeck, Landtag, S. 5. Haußherr, Erfüllung, S. 166 – 169. Bernhart Jähnig, Theodor von Schön und die preußische Domänenpolitik während der Reformzeit, in: Sösemann, Schön, S. 87 – 91, hier S. 89 f. Auch Stein an Gerlach, Königsberg, 3. 2. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 580, S. 642 f. 296 Vor allem ausländische Käufer, insbesondere der Kurfürst von Hessen, wurden ins Auge gefasst. Siehe „Aufzeichnungen Steins über die Veräußerung der Domänen“, (Memel, etwa 9. 12. 1807). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 487, S. 567 f. Auch Stein an Goltz, Memel, 2. 12. 1807. Hassel, Politik, Bd. 2, Nr. 18, S. 324. 297 Siehe Stein an die ostpreußische General-Landschaftsdirektion, Memel, 21. 12. 1807. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 506, S. 581 f. Auch Stein an Sack, Borgstede, Vincke und die Kombinierte Immediatkommission, Memel, 4. 12. 1807. Stein an Borgstede, Königsberg, 18. 1. 1808. Reskript an Gerlach, (Königsberg), 20. 1. 1808. Ebd., Nr. 473, 557, 558, S. 557 f., 624, 627. 298 Siehe „Edikt von der Inalienabilität deren alten und neuen Domänengütern“, Berlin, 13. 8. 1713. Hermann Schulze (Hrsg.), Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, 3 Bde., Jena 1862 – 1883, hier Bd. 3, Nr. 14, S. 737 – 739. Siehe auch die Erläuterungen S. 591 – 595.
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die Rede, „deren besonderes Eigenthum dem Staate, und die ausschließliche Benutzung dem Oberhaupt desselben zukommt“299. Die Domänen wurden also nicht mehr explizit als Eigentum der königlichen Familie, sondern des Staats angesprochen. Noch verworrener wurde der rechtliche Status der Domänen dadurch, dass das Allgemeine Landrecht die Veräußerung nicht prinzipiell untersagte, nur müsse „der Staat dagegen auf andere Art schadlos gehalten werden.“300 Strittig war nun, ob überhaupt und, falls ja, in welcher Form die Bestimmungen der Hausverträge aufzuheben waren.301 Stein hielt die Zustimmung der Prinzen des königlichen Hauses zwar für rechtlich nicht notwendig, aber aufgrund politischer Rücksichten für geboten, denn nur dadurch konnten mögliche Befürchtungen potentieller Käufer von einer späteren Zurückforderung bereits veräußerter Güter beseitigt werden.302 Steins Haltung in diesem Punkt war geprägt von einem Verständnis vom Staat als eigenes Rechtssubjekt. Außerdem ging er hier strikt vom Prinzip der monarchischen Souveränität aus, das eine Sanktionierung des Handelns des Souveräns durch Dritte ausschloss. Die Einwände gegen die Veräußerbarkeit basierten daher seiner Meinung nach auf „irrigen Rechtsbegriffen“. Nach dem Wortlaut der Dispositionen von 1710 und 1713 sei „die Eigenschaft eines Familienfideikommisses, (…) der Eigenschaft eines Staatseigentums untergeordnet“, so dass „es (…) keinem Bedenken unterworfen sein [kann], den Souverain zu solchen Dispositionen über die Domänen (…) zu berechtigen.“ Dezidiert verwies Stein in diesem Zusammenhang auf die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts. Seiner Ansicht nach war Friedrich Wilhelm III. aber nicht nur aufgrund seiner Eigenschaft als Souverän zur Aufhebung des Hausgesetztes berechtigt;303 er ging von einer naturrechtlichen Auffassung aus und stellte politische Überlegungen über einen statutarischen Rechtsstandpunkt.304 Es seien „höhere Staatsrücksichten“, so Stein, die „eine Abänderung der alterväterlichen (!) Maßregeln gebieten“.305 Nach Steins Auffas299 ALR, II, 14 §11. Zur rechtlichen Stellung der Domänen siehe auch Schulze, Hausgesetze, Bd. 3, S. 606 f. Günther Oelrichs, Die Domänen-Verwaltung des Preußischen Staates. Zum praktischen Gebrauch für Verwaltungsbeamte und Domänenpächter, Breslau 1913, S. 179 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 174 – 182. Karl Erich Born, Öffentliches Vermögen: I. Geschichte, in: Willi Albers (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, 9 Bde., Stuttgart u. a. O. 1972 – 1983, hier Bd. 5, S. 620 – 623, hier S. 622. 300 ALR, II, 14 § 16 (Hervorhebung S. P.). 301 Zur inneradministrativen Debatte hierüber siehe Schönbeck, Landtag, S. 5 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 174 – 183. Diese Frage erfasste selbst die Öffentlichkeit. Siehe Friedrich Buchholz, Gemählde des gesellschaftlichen Zustandes im Königreiche Preussen bis zum 14ten Oktober des Jahres 1806, 2 Bde., Berlin/Leipzig 1808, hier Bd. 2, S. 25 f. 302 Siehe Stein an Kanzler Schroetter, Berlin, 12. 5. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 696, S. 731 f. 303 Siehe Reskript an Sack, Königsberg, 20. 1. 1808. Ebd., Nr. 557, S. 624 – 627, hier die Zitat S. 625 f. 304 Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 182. 305 Die Zitate nach Stein an Kanzler Schroetter, Berlin, 12. 5. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 696, S. 732.
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sung, die Max Lehmann für „eine der merkwürdigsten Kundgebungen der Epoche“306 hielt, waren es vor allem die Zeitumstände, die es dem König erlauben würden, sich über die „Fundamentalgesetze“307 der Monarchie hinwegzusetzen: „Seit dem Frieden zu Tilsit hat sich das Verhältnis des Staats wesentlich geändert, und was auch immer gegen die Maßregel des Domänen-Verkaufs (…) angeführt werden könnte, so kann man nicht über die Forderung der Notwendigkeit, sich ihrer zum Wohl des Ganzen zu bedienen, hinauskommen.“308
Stein gelang es aber am Ende nicht, sich mit seiner von Staegemann inspirierten Sichtweise durchzusetzen. Nicht nur, dass die förmliche Aufhebung des Unveräußerlichkeitsprinzips durch ein neues Hausgesetz beschlossen wurde – was Stein immerhin selbst noch für sinnvoll gehalten hatte –, auch eine Befragung der Stände schien nötig. Die Landstände konnten sich schließlich auf mehrere Reverse aus dem 17. Jahrhundert berufen, in denen die Veräußerung der Domänen von ihrer Zustimmung abhängig gemacht wurde; nur so konnten die königlichen Güter als verlässliche Sicherheit für die Übernahme landesherrlicher Schulden durch die Stände dienen.309 Letztendlich hing es aber von der Persönlichkeit und der Machtstellung des jeweiligen Herrschers ab, ob er sich an solche Verpflichtungen gebunden fühlte. Was aus ständischer Sicht „eine Art Grundgesetz“ gewesen sein mochte, konnte abhängig von den politischen Konstellationen für den Monarchen zu einer bloßen Richtlinie seines Handelns verkommen, an die er sich halten konnte, oder eben nicht.310 Der Krieg, die Okkupation und die Kontributionen hatten nun das Machtverhältnis zwischen königlichem Souverän und den Ständen zu Gunsten letzterer verschoben. Die Verschuldung des Staats durch die Bepfandbriefung der Domänen, die nach 1807 dringend notwendig geworden war, bot den Ständen die Gelegenheit, ihre Stellung weiter zu festigen und auszubauen. Des Öfteren hatte es in der Vergangenheit ähnliche Situationen gegeben, in denen die Stände in Krisen- und Notzeiten die finanzielle Schwäche des Landesherrn zum eigenen Vorteil genutzt hatten. Seit dem Mittelalter verfügten vor allem sie über die wirtschaftlichen und strukturellen Voraussetzungen, um als Schuldbürgen des Fürsten in Erscheinung treten zu können. An dem sich daraus entwickelnden spannungsreichen, aber durchaus auch von Kooperation geprägten Verhältnis zwischen Ständen und Krone änderte sich auch in Preußen während des vermeintlichen Hochabsolutismus wenig. Ein Gutteil der sogenannten ständischen Renaissance des auslaufenden 18. Jahrhunderts resultierte
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irrig.
Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 181. Lehmann hielt den Rechtsstandpunkt Steins für völlig
307 So bezeichnet im „Edikt und Hausgesetz über die Veräußerlichkeit der Königlichen Güter“, Königsberg, 17. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 14, S. 27. 308 Reskript an Sack, Königsberg, 20. 1. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 557, S. 626. 309 Siehe Ritter, Stein, S. 276. 310 Siehe Baumgart, Geschichte, S. 131 – 137, hier das Zitat S. 136.
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aus dem steigenden staatlichen Finanzbedarf, der ohne die Unterstützung der Stände nicht gestillt werden konnte.311 Eine Möglichkeit, die eigenen Interessen zu artikulieren, bot sich für die ostpreußischen Stände Anfang 1808, als ein Generallandtag, wie die landschaftlichen Versammlungen in Ostpreußen hießen, einberufen wurde. Seit Ende des Krieges arbeitete der Provinzialminister Schroetter mit Vertretern der Stadt Königsberg und des Landes zusammen, um die Kontributionsaufbringung zu koordinieren. Aus dieser Zusammenarbeit gingen bereits erste Überlegungen zu einer Ständeversammlung hervor. Es war also keineswegs so, dass Stein der alleinige Impulsgeber zur Umsetzung des Repräsentationsgedankens auf ostpreußischer Provinzialebene war, wie gelegentlich zu lesen ist; der Gedanke lag „gleichsam in der Luft“.312 Den Ausschlag zur Berufung des Generallandtags gaben letztendlich die erwähnten finanzpolitischen Gesichtspunkte. Nicht nur, dass die ostpreußische Ritterschaft die Zustimmung zur Aufnahme der Domänen in die Landschaft geben musste; auch für die Erhebung der Einkommensteuer außerhalb der Königsberger Stadtgrenze benötigte die königliche Regierung die Billigung der Stände, die mangels geeigneter staatlicher Institutionen die Erhebung und Verwaltung der Steuer übernehmen sollten. Ein einfaches Steueroktroi war aber auch schon wegen der Abhängigkeit des Staats in Sachen der Bepfandbriefung kaum möglich. Stein war zwar nicht Urheber der Generallandtagspläne, doch fügten sich diese in sein Konzept von der stufenweisen Einführung repräsentativer Körperschaften. Von der Kreis- bis zur gesamtstaatlichen Ebene waren nach seiner Vorstellung allmählich Versammlungen der Stände zu bilden, wobei Provinzialstände die engeren Angelegenheiten der Provinz beraten sollten, zu denen Stein ausdrücklich auch Einzelsteuern zählte, die für einen begrenzten Zweck erhoben werden durften. So war es nur logisch, auch die Einkommensteuerfrage auf dem Generallandtag zu behandeln. Die Finanzreform und der Repräsentationsgedanke bildeten für Stein eine Einheit. Die Repräsentation sollte schließlich auch eine innere Verbundenheit des Einzelnen mit dem Staatszweck herstellen und möglichen Widerstand gegen eine stärkere wirtschaftliche Inanspruchnahme der Bevölkerung beseitigen helfen.313 Die Mitglieder der Versammlung, deren Repräsentationsfähigkeit am Besitz und nicht mehr alleine an die Standeszugehörigkeit gebunden war, sollten nicht mehr ein Standesinteresse wie auf den altständisch zusammengesetzten Landtagen, sondern die Anliegen der Gesamtprovinz vertreten. Folgerichtig wurde es auch den ostpreußischen Generallandtagsdeputierten untersagt, Instruktionen von ihren Mit311
Siehe hierzu Neugebauer, Staat, passim. Siehe hierzu Neugebauer, Wandel, S. 197 – 200, hier das Zitat S. 200. 313 Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 275 – 277. Obenaus, Verwaltung, S. 132 f. Frank-Lothar Kroll, Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit der Stein-Hardenbergschen Reformen, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung. Festschrift für Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 159 – 182, hier S. 161 f. Speziell zur Nassauer Denkschrift siehe Schmitz, Vorschläge, S. 51. 312
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ständen zu empfangen. Außerdem hatte die Abstimmung „viritim“, also nach Köpfen, und nicht nach Departements, wie es das Landschaftsreglement von 1788 vorsah, zu erfolgen. Mit diesen modern anmutenden Prinzipien der Repräsentation (freies Mandat und freie Stimme) konnte der einzelne Ständevertreter stärker in die moralische Verantwortung für das Ganze genommen werden, wodurch auch die Gefahr einer geschlossenen Opposition verringert wurde. Eine Entscheidungskompetenz wurde den Deputierten aber ausdrücklich nicht eingeräumt. Überhaupt war die Selbstständigkeit des Generallandtags sehr begrenzt; dafür sorgte auch ein königlicher Kommissar, der als Präsident den Vorsitz führte. Für den Fall, dass eine Zustimmung zu den Regierungsvorhaben nicht zustande kam, war er befugt, die Versammlung zu suspendieren. Gegen den erklärten Willen der Ritterschaft wurde Auerswald mit dieser Aufgabe betraut. Auch die Beschwerden der Landschaftsdirektion über die allgemeinen Verfahrensgrundsätze des Landtags blieben unbeachtet.314 Es herrschte jedoch nicht nur Dissens; in manchem Punkt überschnitten sich die Ziele der Regierung mit den Wünschen der Stände, wie etwa in der Entscheidung, die ostpreußischen freien Bauern, die Kölmer, in die Landschaft aufzunehmen. Schon auf dem Generallandtag von 1798, der anlässlich der Huldigung Friedrich Wilhelms III. zusammengetreten war, hatte die versammelte Ritterschaft für die Integration dieser nichtadligen Grundbesitzerschicht in das ritterschaftliche Kreditinstitut plädiert. Aus ökonomischer Sicht machte es für die Ritterschaft durchaus Sinn, den noch kaum verschuldeten kölmischen Grundbesitz neben sich zu dulden, erhöhte sich dadurch doch insgesamt das Kreditpotenzial der Landschaft. Bedenken wegen der Standesschranken spielten demgegenüber keine Rolle. Während 1798 aber die Aufnahme der Kölmer noch am Widerstand des Generallandschaftspräsidenten gescheitert war, hatte die königliche Regierung 1807/8 wegen des Eintritts der Domänen ein profundes Interesse daran, auf diese Weise die Garantiebasis der Landschaft auszuweiten. Politische Überlegungen, wie sie Stein damit verbunden haben mochte, waren jedenfalls nur ein weiterer, jedoch nicht der allein entscheidende Grund für diese Maßnahme.315 Auf dem Generallandtag, der zwischen dem 2. und 17. Februar in Königsberg tagte, waren die Kölmer bereits mit 12 Repräsentanten gegenüber 24 Deputierten der Ritterschaft und fünf Mitgliedern der Landschaftsdirektion vertreten. Während es keinen Widerstand gegen den Eintritt der Kölmer in die vormals rein ritterschaftliche Landschaft gab, formierte sich Widerstand gegen die Aufnahme der Domänen. Die Deputierten mussten neben dem finanziellen Risiko vor allem eine weitere Einmischung des Staats in die Angelegenheiten der Landschaft fürchten, die während der 314
Siehe Pertz, Stein, Bd. 2, S. 164 f. Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 204. Gray, Prussia, S. 91 – 93, 95. Marion Gray, Der ostpreussische Landtag des Jahres 1808 und das Reformministerium Stein, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 26 (1977), S. 129 – 145, hier S. 135, 138. Auch Kabinettsorder an Auerswald, Königsberg, 31. 1. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 110, S. 361 – 364. 315 Siehe hierzu Neugebauer, Wandel, S. 117 – 119, 205.
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letzten Jahrzehnte immerhin das Zentrum eines ständischen Eigenlebens gewesen war. Um diesen Raum ständischer Autonomie zu schützen, schlug die Versammlung vor, anstelle der Bepfandbriefung der königlichen Güter mit Hilfe des ritterschaftlichen Kreditwerks ein eigenes Kreditinstitut für den Domänenbesitz zu gründen. Damit wäre aber der Zweck, den die Regierung verfolgte, verfehlt worden; nur eine Bürgschaft der Ritterschaft reichte aus, um die Pfandbriefe in den Rang eines validen Wertpapiers zu heben. Auerswald versuchte deshalb, die Bedenken der Repräsentanten zu zerstreuen und zugleich den Druck auf die Versammlung zu erhöhen. Am Ende war der Widerstand des Generallandtags nur hinhaltend. Die Versammelten dürften erkannt haben, dass ihre eigene Existenz an die Fortexistenz des Staats geknüpft war und dass, nachdem die avisierte Maximalposition nicht realisierbar schien, die Zustimmung zur Aufnahme der Domänen unvermeidlich geschehen musste. Waren die Deputierten, wenn es um den Eintritt der Domänen in die Landschaft ging, nachgiebig, so bestanden sie aber darauf, dass das Hausgesetz von 1713 ausdrücklich nur mit ihrer Einwilligung abgeändert werden durfte. Außerdem setzten sie durch, dass auch die ostpreußischen Städte ihre Zustimmung geben mussten. Es war, wie Max Lehmann feststellte, ein nicht gering zu schätzendes Zeugnis des gestiegenen Selbstbewusstseins der Stände, dass sie ihre Zuständigkeit in dieser Frage nicht einfach nur reklamierten, sondern auch sogleich ausübten.316 Der Generallandtag gab auch seine Zustimmung zur Einkommensteuer. Den Deputierten gelang es lediglich, einzelne Änderungen am Steuerreglement durchzusetzen; die früher einmal geäußerten Wünsche der Landschaftsdirektion – Trennung des Kontributionswesens von Stadt und Land, Heranziehung des Landes nur durch eine Hufensteuer – wurden dagegen nicht einmal mehr verhandelt.317 Das Kriegssteuerreglement vom 23. Februar 1808,318 das endlich auch die Königsberger Einkommensteuer offiziell sanktionierte, gehört zusammen mit der Aufnahme der Kölmer und der Domänen in die Landschaft sowie der Zustimmung zur Abänderung des Hausgesetzes zu den wesentlichen Beschlüssen des ostpreußischen Generallandtags. Andere Gegenstände, die von den Deputierten verhandelt wurden, bezogen sich auf die inneren Verhältnisse der Provinz und waren nur insofern von größerer politischer Bedeutung, als dass durch deren Behandlung eine gewisse Selbstverwaltungskompetenz der Stände implizit anerkannt wurde.
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Siehe hierzu Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 212 f. Zu den Landtagsverhandlungen siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 207 – 222. Gray, Landtag, S. 135 – 145. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 437 – 439. Neugebauer, Wandel, S. 205 – 209. Auch Immediatbericht Auerswald, Königsberg, 18. 2. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 382, S. 382 – 396. Altenstein an Auerswald, Königsberg, 9. 1. 1809, Ausf. GStA PK, XX. HA, Rep. 2, I, Tit. 6, Nr. 10, Bd. 2, Bl. 3. 318 Siehe „Reglement, das Kriegsschuldenwesen der Provinz Ostpreußen und Litauen und der Stadt Königsberg insbesondere betreffend“, Königsberg, 23. 2. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 122, S. 397 – 407. 317
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Die ständische Position wurde zugleich auch institutionell gefestigt. Der oberflächliche Eindruck, dass die Zentralregierung auf dem Generallandtag den eigenen Entscheidungsanspruch ohne größere Abstriche durchsetzen konnte, trügt. So erkannte der König auf Antrag der Deputierten das schon an anderer Stelle erwähnte ostpreußische und litauische Ständekomitee an. Zwar existierte das Komitee schon seit dem Landtag von 1798, aber eine ausdrückliche Bestätigung durch den Souverän hatte bisher nicht stattgefunden. Bis 1808 bestanden dessen „Repraesentanten“ aus vier Vertretern der Ritterschaft, als durch die Entscheidungen des Generallandtags ein Stellvertreter der Kölmer hinzutrat. Eigentlich hatte Stein das ständische Ausschusswesen und damit auch das Komitee beseitigen und an deren Stelle eine staatlich kontrollierte Repräsentation in Form einer Provinzialversammlung einrichten wollen. Ein kleiner Schritt in diese Richtung war der Auftrag an Schroetter, eine neue landständische Verfassung für die Provinz Ostpreußen auszuarbeiten, deren wesentliches Element ein jährlich tagender Landtag sein sollte; realisiert wurden diese Pläne jedoch nie,319 so dass das Ständekomitee als „staatsunabhängige Vertretung ,der Provinz‘“ hingenommen wurde und in den nächsten Jahrzehnten zum „organisatorischen Zentrum der Stände und ihrer Politik“ avancieren konnte.320 Hätte die königliche Regierung dies nicht akzeptiert, wäre die prinzipiell unerlässliche Unterstützung der Stände für die Bewältigung der Kriegsfolgen nur schwerlich zu erreichen gewesen. Als Ergebnis der französischen Besetzung und der finanziellen Nöte des Staats war der politische Handlungsspielraum der ostpreußischen Stände beträchtlich gewachsen. Einen institutionellen Rückhalt fand die Gesamtheit der Stände auch in der ostpreußisch-litauischen Landesdeputation, in der auch Repräsentanten der Städte vertreten waren, und die seit Anfang 1808 das Kontributionswesen in enger Abstimmung mit der Stadt Königsberg organisierte.321 Diese ständische Einrichtung behielt ihre zentralen finanzadministrativen Funktionen, zu denen auch die Verwaltung der provinzialen Einkommensteuer gehörte, während der kommenden Jahre.322 In Königsberg übernahm die Erhebung der neuen Steuer, die hier auf gänzlich anderen Steuersätzen beruhte, hingegen ein besonderes Kollegium aus Mitgliedern des Magistrats und Deputierten der Stadt.323 An der Mischung von staatlicher und ständischer Steueradministration, die charakteristisch für die frühmoderne Staatlichkeit ist, wurde in Ostpreußen also konsequent festgehalten. 319
Siehe Ritter, Stein, S. 277 f. Neugebauer, Wandel, S. 209 f. „Plan zur Organisation eines jährlichen Generallandtages für Ostpreußen und Litauen, (Königsberg, 20. 5. 1808). Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 174, S. 572 – 580. 320 Zur Geschichte des Komitees siehe Neugebauer, Finanzprobleme, S. 133 f. Ders., Wandel, S. 123 f., 217 – 224, hier die Zitate S. 222, 217. 321 Siehe hierzu ebd., S. 145 f. 322 Zur Landesdeputation, die 1812 aufgelöst wurde, siehe ebd., S. 200 f. Ders., Finanzprobleme, S. 134 f. 323 Siehe zur Erhebung der Einkommensteuer Mamroth, Geschichte, S. 628. Grabower, Steuern, S. 215 – 242. Belke, Regierung, S. 76 f.
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Nach dem Abzug der französischen Armee sollten ähnliche Landtage wie in Ostpreußen auch in den anderen Provinzen abgehalten werden.324 Doch wurden 1808 im Umfeld Steins auch schon erste konkrete Gedanken über eine Repräsentation auf gesamtstaatlicher Ebene angestellt. Zunächst war die Umsetzung dieser Pläne aber noch ein Fernziel, das nach der Reform der Kreis- und Provinziallandtage erreicht werden sollte.325 Erst als Stein im Mai 1808 ein Memorandum des schlesischen Legationsrats Karl Nikolaus v. Rehdiger erreichte, worin die Gestalt einer künftigen Nationalrepräsentation umrissen wurde, nahmen die Planungen schärfere Konturen an. Da Stein nie selbst ein eigenes, konzises Verfassungskonzept vorlegte, können die Grundtendenzen seiner Anschauungen nur aus einzelnen Äußerungen und seiner Kritik am nicht überlieferten Entwurf Rehdigers abgeleitet werden.326 An Rehdigers Memorandum störte Stein zunächst, dass darin keine ständische Gliederung, die für ihn das Grundgerüst jeder politischen Ordnung darstellen musste, vorgesehen war. Auch das Fehlen von komplementären Provinzialversammlungen erregte Steins Widerwillen; in seiner Reformkonzeption kamen diesen nicht nur eine essentielle Bedeutung als Elemente einer provinzialen Selbstverwaltung zu, sondern auch als Körperschaften zur Wahl der Repräsentanten der Provinzialregierungen und der künftigen „Reichsstände“. Vielleicht entscheidender war aber die Frage nach dem Verhältnis der Versammlung zur Öffentlichkeit, schließlich hing davon die Wirkung ab, die von einer Nationalrepräsentation ausgehen konnte. Rehdiger gedachte eigentlich, den Repräsentanten das Recht einzuräumen, an die Öffentlichkeit zu appellieren – wobei unklar ist, was er genau darunter verstand –, während Stein einen solchen „sehr gefährlichen Appell[]“ keinesfalls zulassen wollte.327 Stein dürfte erkannt haben, dass die Regierung leicht unter den Druck der öffentlichen Meinung hätte geraten können, die nach 1807 immer deutlicher zu einem Faktor der politischen Entscheidungsfindung geworden war. Dabei lag ihm nichts ferner, als den politischen Handlungsspielraum der Staatsführung auf diese Weise beschränkt zu sehen. Seine Absicht und die der Mehrheit der Reformbeamten ging dahin, vermittels der Repräsentation die öffentliche Meinung mit der politischen Zielsetzung der Regierung zu harmonisieren.328 Wie die Repräsentanten in den Provinzialregierungen so sollten auch die Ständevertreter in den Reichsständen zu Sachwaltern der Politik der Staatsführung werden und nicht umgekehrt. Angesichts der Unzufriedenheit im Land erschien es dringend geboten, auf diese Weise die Zustimmung der Bevölkerung zum herrschaftlichen System und zur Politik der königlichen Regierung zu erreichen. 324
Siehe Haußherr, Erfüllung, S. 170. Siehe hierzu Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 291 f. 326 Zum ersten Entwurf Rehdigers siehe Ritter, Stein, S. 279 – 282. Gray, Prussia, S. 113 f. 327 Siehe Steins Beurteilung des Entwurfs abgedruckt in Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 398 – 404, hier die Zitate S. 403 f. Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 282 – 286. Obenaus, Anfänge, S. 38 f., 41. Schmitz, Vorschläge, S. 64 – 68. 328 Siehe hierzu Obenaus, Anfänge, S. 42 f. 325
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Eine echte Opposition im liberalen Sinne sollte es demnach nicht geben;329 dies zeigt auch die geplante Zusammensetzung der Reichsstände,330 in der nur die Eigentümer repräsentiert sein sollten, von denen Stein glaubte, dass ihr Interesse mit dem Staatsinteresse identisch sei. Diese Sichtweise stimmte mit den politischen Überzeugungen mancher seiner Mitarbeiter überein. „Eigenthum bestimmt den Willen am stärksten, und daher scheint es als Sicherheits-Maaßregel, aber nur als solche – wesentlich, und um so wesentlicher, je unbeweglicher es ist“331, erklärte beispielsweise Schön. Entsprechend der politischen Vorstellungen, welche die Aufklärung und der Frühliberalismus mit dem Eigentum verbanden, wurde im Vermögen ein hinreichendes Qualifikationsmerkmal eines dem Gemeinwohl verpflichteten Bürgers gesehen.332 Da auch die Regierung für sich reklamierte, im Sinne dieses Gemeinwohls zu handeln – immerhin galt dies seit alters her als ein Merkmal legitimer Macht333 –, wurde eine natürliche Interessenkongruenz geradezu erwartet.334 Den vermögenden Adel gedachte Stein, zusammen mit anderen besonders wohlhabenden und verdienten Persönlichkeiten in einem Oberhaus zusammenzufassen, das in der Nationalrepräsentation die tonangebende Kammer bilden sollte. Besonders den Adel hielt er aufgrund von dessen enger Bindung an die Monarchie für prädestiniert, Krone und Staat stützen zu können. „Reichthum vereinigt das eigene Wohl des Grundbesitzers mit dem allgemeinen“, legte Stein die Vorzüge des Adels dar, „und durch die Erinnerung der Thaten der Voreltern verbindet sich der Ruhm der Nation mit der Familien-Ehre“335. Den armen, „halbgebildeten“ Adel gedachte Stein allerdings von jeder bevorrechtigten politischen Stellung auszuschließen, da sich dieser nach seiner Überzeugung nur dem eigenen Stand verpflichtet fühlen könne, von dessen privilegierter Stellung seine ganze materielle Existenz abhing.336 Die Verpflichtung auf das „Gemeinwohl“ wollte Stein noch auf andere Weise garantieren. Wie viele der reformbereiten Beamten wurde auch er beeinflusst von den Lehren Johann Gottlieb Fichtes und des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzis, der die Erziehung des Individuums zu einem mündigen, aber in die Gemeinschaft eingebundenen Bürger propagierte.337 Im Zusammenhang mit der 329 Siehe hierzu Flad, Begriff, S. 256 f. Ritter, Stein, S. 195: „[I]mmer schwebte ihm (Stein; S.P.) das Bild einer patriarchalischen Eintracht von Regierung und Regierten, nicht des innenpolitischen Machtkampfes vor Augen.“ 330 Siehe auch Obenaus, Anfänge, S. 36 f. 331 Zit. n. Pertz, Gneisenau, S. 412. 332 Siehe Obenaus, Anfänge, S. 25. 333 Siehe hierzu Entrèves, Notion, S. 222 – 230. 334 Siehe Levinger, Nationalism, u. a. S. 48. 335 Siehe hierzu Pertz, Gneisenau, S. 400. 336 Später wurde Steins Haltung gegenüber dem Adel insgesamt kritischer. Siehe Lehmann, Stein, Bd. 2, S. 367. 337 Siehe Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 270. Levinger, Reform Movement, S. 264. Siehe allgemein zum Nationalerziehungsgedanken Ulrich Herrmann, Von der
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Reform der Provinzialverwaltung wurde schon deutlich, dass Stein diese volkspädagogische Konzeption übernommen hatte und überzeugt war, dass die preußische Bevölkerung nur schrittweise an die politische Mündigkeit herangeführt werden dürfe. Erst dann würde sie seiner Meinung nach fähig sein, sich ein vernünftiges, das heißt mit den Absichten der Regierung relativ übereinstimmendes, Urteil über die Angelegenheiten des Gesamtstaats zu bilden. „Le passage de l’ancien état des choses à un nouvel ordre ne doit point être trop brusque,“ drückte er seine Ansichten gegenüber Hardenberg einmal prononciert aus, „et il faut habituer les hommes à agir spontanément petit à petit avant que de les rassembler en grand nombre et leur confier des grands intérêts à discuter.“338 Die Kreis- und Provinzialstände sollten diese erzieherische Arbeit verrichten und waren daher, nicht nur aufgrund rein praktischer Überlegungen, für Stein eine entscheidende Voraussetzung funktionierender Reichsstände.339 Wenn auch diejenigen, die sich an der Verfassungsdebatte beteiligten, in mancher Hinsicht andere Vorstellungen als Stein von der Aufgabe und der Zusammensetzung einer künftigen gesamtpreußischen Repräsentation hatten und wie etwa Vincke und Schön eine ständische Gliederung oder die Bevorzugung des Adels ablehnten,340 herrschte bis Mitte 1808 doch über eines weitgehend Einigkeit: Der „Reichtstag“341 sollte wie schon der ostpreußische Generallandtag nur eine beratende, keine dezisive Kompetenz haben. Auch formell und nicht nur in Folge eines nationalpädagogischen Programms oder aufgrund ihrer Zusammensetzung sollte die Repräsentation daran gehindert werden, dem Regierungshandeln entgegenarbeiten zu können. Hauptaufgabe des Reichstags war es, im Sinne einer kontrollierten Partizipation den Entscheidungen der Regierung breitere Zustimmung zu verschaffen;342 Regierung und Repräsentanten sollten sich lediglich über die im Idealfall ohnehin zwischen ihnen bestehende Interessenhomogenität verständigen.343 Aufgrund dieser Wirkung, die Stein sich von der Repräsentation versprach, bestand er auch auf eine weitest-
„Staatserziehung“ zur „Nationalbildung“. Menschenbildung und Nationalbildung um 1800 am Beispiel von Preußen, in: Ders. (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 207 – 221, hier passim. 338 Stein an Hardenberg, Memel, 8. 12. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 63, S. 204. 339 Siehe hierzu auch Pertz, Stein, Bd. 2, S. 169. Obenaus, Anfänge, S. 34 f. 340 Siehe die Denkschrift Vinckes und das Gutachten Schöns (beide ohne Ort und Datum) in Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 404 – 406, 412 – 415. Hierzu Gray, Prussia, S. 115 – 117. Obenaus, Parlamentarismus, S. 37. Schmitz, Vorschläge, S. 68 – 76, 85 – 91. 341 Stein zit. n. Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 416. 342 Siehe hierzu Prietzel, Niederlage, S. 233. Auch Obenaus, Anfänge, S. 40, 45. hierzu Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 4, S. 124. Gray, Prussia, S. 102. Münchow-Pohl, Reform, S. 405. Levinger, Nationalism, S. 42, 48 – 57. Ders., Reform Movement, S. 260 – 261. 343 Nach Levinger sollte schon die Rationalisierung der politischen und gesellschaftlichen Institutionen geradezu automatisch die Zustimmung zum Regierungshandeln erhöhen. Siehe Levinger, Reform Movement, S. 261.
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gehend freie Debatte,344 ohne aber sein grundsätzliches Misstrauen in die Einsichtsfähigkeit und Rationalität der Repräsentanten aufzugeben. Dem König müsse unbedingt das Recht bleiben, merkte Stein zum zweiten, überarbeiteten Entwurf Rehdigers an,345 „zur Bändigung einer übelgesinnten und störrischen Versammlung“ den „ganzen Reichstag aufzulösen“. Sechs Monate nach einer Neuwahl, die dann hoffentlich zum Vorteil für die Regierung ausfallen würde, wollte Stein die Versammlung wieder einberufen lassen.346 Die zunächst eindeutige Haltung Steins zu den Kompetenzen der Nationalrepräsentation ging in den kommenden Monaten und Jahren zusehends verloren. Schon in der außenpolitischen Krise des Spätsommers 1808 unterstützte er den Vorschlag, eine Versammlung aller Stände über Krieg und Frieden entscheiden zu lassen. Mit manchen seiner Aussagen deutete er sogar an, den Repräsentanten neben einem Gesetzesinitiativrecht auch Mitsprache in der Finanzpolitik einräumen zu wollen; bei anderen Gelegenheiten schien er sich wiederum vollständig vom Repräsentationsgedanken entfernt zu haben.347 Stets blieb sein Urteil abhängig von den politischen Umständen und der politischen Reife, die er dem preußischen Volk attestierte. Immer wieder wurde deutlich, dass seine Reformkonzeption, wie auch die anderer „Reformer“ prinzipiell offen, aber deshalb auch zugleich voller innerer Widersprüche war. Ging das Vorhaben zur Einberufung einer gesamtpreußischen Repräsentation vorerst kaum über das Planungsstadium hinaus, so änderte sich dies schlagartig als die Ratifikation des Pariser Vertrags bevorstand. Da bereits an anderer Stelle ausführlich auf diese Zusammenhänge eingegangen wurde,348 genügt es hier nur auf die wesentlichen Absichten hinzuweisen, welche die „Kriegspartei“ dazu bewog, zu verlangen, die „Nation mit der Lage der Verhältnisse gegen Frankreich bekannt zu machen“349 : Zunächst war es die moralisch-mobilisierende Wirkung, die sich die Anhänger der Volkskriegsidee von einer Repräsentation versprachen. Außerdem hoffte man, mittels der erwarteten Einmütigkeit zwischen Regierung und Bevölkerung den widerstrebenden König zum Krieg bewegen zu können. Es ist natürlich 344
Siehe hierzu Obenaus, Anfänge, S. 43. Rehdigers zweiter Entwurf in Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 406 – 411. Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 286 – 288. Gray, Prussia, S. 118. Obenaus, Parlamentarismus, S. 39 f. Schmitz, Vorschläge, S. 77 – 84. 346 Steins Stellungnahme (Königsberg, 7. 11. 1808) in Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 416 – 419, hier die Zitate S. 417. 347 Siehe hierzu Flad, Begriff, S. 259 f., 262, 264 – 273. Levinger, Nationalism, S. 71 – 73. Kroll, Verfassungsidee, S. 163 f. Schon in seiner Replik auf den Entwurf Rehdigers bezeichnete Stein das Initiativrecht als notwendige Eigenschaft einer funktionierenden Nationalversammlung. Siehe Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 402. Zur Teilnahme an der Steuerbewilligung siehe ders., Stein, Bd. 2, S. 169. 348 Siehe Kap. C. II. 1. 349 Denkschrift Stein, Königsberg, 12. 10. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 851, S. 889 – 891, hier das Zitat S. 890. 345
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nicht eindeutig zu sagen, inwieweit diese Möglichkeit, mit Hilfe einer gouvermental kontrollierten und eingehegten Nationalrepräsentation den König politisch unter Druck zu setzen, von Anfang an ein Element des Repräsentationsgedankens im Kreis um Stein gewesen sein mag. Zumindest für Stein selbst schienen solche Überlegungen eine gewisse Bedeutung gehabt zu haben, immerhin hatte er frühzeitig die Alleinherrschaft des Königs kritisiert und in der Aprildenkschrift des Jahres 1806 in recht schwammigen Worten moniert, der preußische Staat habe keine Staatsverfassung, da „die oberste Gewalt (…) nicht zwischen dem Oberhaupt und Stellvertretern der Nation geteilt“350 sei. Überdies drang Stein auf die Einrichtung eines Staatsrats, um auf höchster Ebene die Entscheidungsgewalt des Monarchen zu begrenzen. Zweifel an der Fähigkeit Friedrich Wilhelms zum Herrschen waren zumindest auch in Steins näherem Umfeld weitverbreitet und mindestens ebenso groß war in diesem Milieu die Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Politik. Die Vermutung ist daher nicht allzu gewagt, dass das Kalkül, einen möglichen Dissens zwischen Ministerium und Monarchen mit Hilfe des erwarteten Konsenses zwischen Regierung und Repräsentanten zu überwinden, auch bei anderen Fürsprechern der Repräsentationsidee eine Rolle gespielt haben dürfte. Wenn dies mit guten Gründen angenommen wird, so kann der verschiedentlich zu findenden Aussage nicht zugestimmt werden, dass es Stein mit seinen Repräsentationsplänen um eine Stabilisierung und Festigung der monarchischen Souveränität – was nichts anders als die politische Entscheidungsfreiheit des Königs meint – gegangen sei.351 Womöglich meinten die Autoren, die dies vermuteten, „Legitimität“, wo sie „monarchische Souveränität“ schrieben. Erstere bezeichnet die Rechtmäßigkeit von Herrschaft, die sich durchaus mit Hilfe einer Repräsentation steigern ließ, während letzteres Begriffspaar eine bestimmte Herrschaftsform definiert, die nur schwer mit den weitreichenden Reformvorstellungen Steins zu vereinbaren war. Die Berufung von Reichsständen konnte bekanntlich 1808 nicht ins Werk gesetzt werden. Schön, der sich schon 1807 im Zusammenhang mit der Abtragung der Kontributionsschuld für die Berufung von „Repräsentanten des Volkes“ ausgesprochen hatte,352 verpflichtete als Urheber des sogenannten „Politischen Testaments“ Steins auch die künftige preußische Regierung auf dieses Ziel: Das „nächste[] Erfordernis“ sei eine „allgemeine Nationalrepräsentation“. Der sich an dieses Postulat anschließende Satz „Heilig war mir und bleibe uns das Recht und die unumschränkte Gewalt unseres Königs!“ war nach dem oben Gesagten natürlich im
350 Denkschrift „Darstellung der fehlerhaften Organisation des Kabinetts und der Notwendigkeit der Bildung einer Ministerialkonferenz“, Berlin, 26./27. 4. 1806. Ebd., Bd. 2/1, Nr. 194, S. 208. 351 So etwa Levinger, Reform Movement, S. 260 und Kroll, Verfassungsidee, S. 166, deren Ausführungen ansonsten zutreffend sind. 352 Gutachten Schöns, s. l., 29. 11. 1807. GStA PK, III. HA, I, Nr. 360, Bl. 41 – 2, das Zitat Bl. 41v. Hierzu Prietzel, Niederlage, S. 228.
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Grunde nicht vollkommen aufrichtig.353 Selbstredend fühlten sich Altenstein und Dohna durch das „Testament“ in keiner Weise gebunden, was ihr späteres politisches Handeln auch bewies. Noch im Oktober 1808, als sich die Debatte um die Repräsentation auf dem Gipfelpunkt befand, hatte die Generalkonferenz unter der Leitung Steins beschlossen, die Zustimmung des ostpreußischen Generallandtags für den Verkauf der Domänen auch von den Ständen der anderen Provinzen einholen zu wollen.354 Da Provinzialstände in den anderen Landesteilen aber noch nicht organisiert waren, wurde bestimmt, direkt eine gesamtpreußische Repräsentation zu befragen. Der ursprüngliche Gesetzentwurf vom 4. November, worin dieser Beschluss festgehalten war, wurde von Dohna und Altenstein noch am 13. Dezember 1808 abgeändert und die Formulierung „Reichsstände“ durch „die Stände in den Provinzen“ ersetzt. Begründet wurde dieser Schritt mit der Notwendigkeit zur raschen Publikation des „Edikts und Hausgesetzes über die Veräußerlichkeit der königlichen Domänen“, dem eine Berufung von Reichsständen wegen der damit verbundenen organisatorischen Hürden entgegenstünde.355 Im Grunde ging es jedoch um mehr, nämlich um eine prinzipielle Abkehr von den Repräsentationsplänen, wie Stein oder Schön sie verfolgt hatten. Dohna und Altenstein standen der Idee von einer preußischen Repräsentationskörperschaft skeptisch, wenn nicht völlig ablehnend gegenüber. In gewisser Hinsicht entsprach es Altensteins Vertrauen in das Prinzip der monarchischen Souveränität, dass er die Pläne Steins und anderer nicht mittrug. Nach den Ausführungen in seiner Rigaer Denkschrift wollte Altenstein unter einer Repräsentation ausschließlich die Aufnahme von Deputierten in die Verwaltung verstanden wissen. Bis hinauf auf Regierungsebene sollten diese als Berater der staatlichen Administration dienen, ohne allerdings ein eigenes Gremium zu bilden. Allein für den Zweck, die Zustimmung zu einer Anleihe über mehrere Millionen Taler zu geben, war Altenstein bereit, eine wirkliche „Nationalrepräsentation“ für kurze Zeit zu berufen.356 Er hatte offenbar den engeren Zusammenhang zwischen dem Staatskredit und der Verfassungsfrage erkannt, für den Stein, man möchte sagen in seltsamer Weise, völlig blind war. Nur die Wiederherstellung des Vertrauens der besitzenden Schichten in die Politik, vor allem in die Finanzpolitik, des Königs und der Regierung vermochte, den preußischen Staatskredit einigermaßen wiederherzustellen. Ob dieser Zweck mit der
353 „Politisches Testament“, Königsberg, 24. 11. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 330, S. 1136 – 1139, hier die Zitate S. 1138. 354 Beschluss der Generalkonferenz über das Edikt und Hausgesetz wegen Veräußerbarkeit der Domänen, Königsberg, 26. 10. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 288, S. 958 f. 355 Siehe „Konferenzprotokoll“, Königsberg, 13. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 11, S. 23 f. Siehe hierzu Ritter, Stein, S. 278 f. 356 Siehe Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 262, S. 404 – 406, 487, 526, 541, hier das Zitat S. 487.
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einmaligen Berufung von Repräsentanten zu erreichen war, darf jedoch bezweifelt werden.357 Diese primär finanzpolitischen Gesichtspunkte prägten später auch maßgeblich die Repräsentationspläne Hardenbergs. In Riga hatte er sich Altensteins Ausführungen vorbehaltlos angeschlossen, wobei er die finanzpolitische Bedeutung der Repräsentation noch deutlicher hervorstrich, wenn er einen Staatsetat für erforderlich hielt, den die Regierung „öffentlich den Repräsentanten der Nation (gemeint sind die Deputierten in der Verwaltung; S.P.) vorlegt“. Auf diese Weise, glaubte Hardenberg, würde man den „schon (…) jetzt so dringend nöthigen Kredit mehr sichern und sowohl diesen wichtigen Zweck, als den der leichteren und populäreren Aufbringung noch besser erfüllen“. Als er zum Staatskanzler berufen wurde, griff er diese Gedanken wieder auf und war schließlich auch bereit, vom Verdikt der Rigaer Denkschrift, dass eine Nationalversammlung keinen „konstitutiven Körper“ bilden dürfe,358 abzurücken.359 Stand Altenstein dem Konzept einer Nationalrepräsentation von Beginn an ablehnend gegenüber, so tat dies Dohna spätestens nach den Erfahrungen des Jahres 1809. Angesichts des entschlossenen Auftretens der Stände während der Landtagsverhandlungen dieses Jahres warnte Dohna den neuen Staatskanzler Hardenberg vehement davor, die Pläne aus der Amtszeit Steins in einer Zeit aufzugreifen, in der die Staatsgewalt geschwächt war: „Das absolute Hindernis gegen die Einführung von Reichsständen entsteht aus der unglücklichen Lage, in welcher sich unser Staat befindet. Welche Wirkung könnte es hervorbringen, wenn ein Haufe (!) Menschen, durchaus unfähig zu Reichsständen, durchaus unfähig, klar und richtig die Dinge des Staates, insbesondere auch der Finanzen zu durchschauen und zu beurtheilen, aber bewegt durch viele in der Nation noch sehr lebendige Absonderungsbegriffe und mancherlei Vorurtheile, aber leidenschaftlich gereizt durch das innere, jedem mehr oder weniger innewohnenden Gefühl des Drucks und bitteren Unglücks der Zeitumstände, unter dem Namen und mit der furchtbaren Macht, welche Reichsstände vorzüglich in unglücklichen und gedrückten Zeiten auf die Gemüther haben, bei uns zusammenträten?“360
In gewundenen Worten tritt hier erneut das grundsätzliche Unverständnis zu Tage, mit dem weite Teile des Beamtentums und der preußischen Staatsführung – inklusive des Königs – einer sich immer stärker politisierenden Gesellschaft begegneten; die Interessenpluralität der verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Großgruppen Preußens, von Land- und Stadtbevölkerung, von ländlicher und städtischer Obrigkeit, oder der Stände schien sie bisweilen regelrecht zu überfordern. Die 357
Siehe hierzu Obenaus, Anfänge, S. 44. Die Zitate Denkschrift Hardenberg, Riga, 12. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 261, S. 318, 341 359 Zu Altensteins und Hardenbergs Konzeption einer Repräsentation siehe Obenaus, Anfänge, S. 35 f. Spranger, Altensteins Denkschrift, S. 144 und Kap. E. I. 2. 360 Dohna an Hardenberg, s. l., 22. 8. 1810. Zit. n. Stern, Geschichte, S. 254. 358
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mannigfaltigen Interessen, die der staatlichen politischen Agenda mitunter entgegenliefen, waren nur noch in den Kategorien von „Vorurteil“, „Egoismus“ und mangelnder Einsichtsfähigkeit gedanklich fassbar, wenn der eigene Herrschaftsanspruch nicht verloren gehen sollte. Dohnas Warnung angesichts der Dissenserfahrung fiel eindeutig aus: „Die Formation der Reichsstände in einem Augenblick, in welchem man zu harten Maßregeln schreiten muß, in welchem die Umstände überhaupt höchst schwierig sind, hat stets zu revolutionären Bewegungen und zum Verderben der regierenden Familie geführt.“361 Die Abneigung Dohnas und Altensteins gegenüber Reichsständen bedeutete aber nicht, dass die Repräsentationsfrage aus dem Reformdiskurs ausschied; dafür war dieser Gedanke allenthalben zu präsent.362 So wandte sich Gneisenau 1809 mit einer Denkschrift direkt an den König, um ihn von der Einrichtung einer Ständeversammlung zu überzeugen.363 Auch erreichte Friedrich Wilhelm ein Entwurf des Präsidenten der ehemaligen Kammer von Halberstadt Wedell, der schon deshalb erwähnenswert ist, weil auch hierin die Einberufung einer „nützlichen NationalRepraesentation“ empfohlen wurde – unter „nützlich“ verstand Wedell, wie übrigens auch Gneisenau, eine Vertretung, die nur eine konsultative Funktion haben sollte, denn „[r]ückt ihre Befugnis weiter, so wird sie aus dem innigsten und vertrautesten Freunde der Regierung ihr Rival“.364 Alle Überlegungen, die Repräsentation, sei es auf Verwaltungs-, Provinzial- oder gesamtpreußischer Ebene, als ein Instrument staatlicher Politik zu gebrauchen, zerbrachen an der Realität; auch weil das politische Gewicht der Stände deutlich zugenommen hatte. Ausdruck dieses Bedeutungszuwachses war das schon erwähnte „Edikt und Hausgesetz über die Veräußerlichkeit der königlichen Domänen“, das am 17. Dezember 1808 verabschiedet wurde.365 In der Präambel hieß es zwar, dass der König „kraft der Uns zustehenden landesherrlichen und souveränen Gewalt“ befugt sei, die Unveräußerbarkeit einfach per Edikt aufzuheben, doch habe er sich bewogen gefunden, nicht nur die Zustimmung aller Prinzen des königlichen Hauses, sondern, so wie es im Oktober beschlossen worden war, auch die der Stände einzuholen. Nur selten war die Diskrepanz zwischen souveränem Machtanspruch und machtpolitischer Realität so unmittelbar greifbar wie an dieser Stelle. Ob er wollte oder nicht, der König hätte ohne die Entscheidung der Stände das (rechtlich fragwürdige) Veräußerungsverbot gar nicht einfach beseitigen können, sollte der Zweck, der daran 361
Ebd., S. 255. Siehe für das 18. Jahrhundert exemplarisch Horst Dippel (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1991. 363 Siehe Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 489 f. 364 Die Zitate Stern, Abhandlungen, S. 157 (Kursivsetzung S.P.). Zu beiden Denkschriften siehe auch Schmitz, Vorschläge, S. 102 f. 365 „Edikt und Hausgesetz über die Veräußerlichkeit der königlichen Domänen“, Königsberg, 17. 12. 1808. Scheel, Interimsministerium, Nr. 14, S. 27 – 30. Zu diesem Gesetz siehe Schulze, Hausgesetze, Bd. 3, S. 608. Oelrichs, Domänen-Verwaltung, S. 180 f. 362
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geknüpft war, erfüllt werden. Nicht nur, dass das von den ostpreußischen Ständen reklamierte und letztendlich akzeptierte Recht der Mitbestimmung den restlichen Provinzialständen kaum vorenthalten werden konnte; es war auch finanzpolitisch geboten, dass die Stände den Schritt der Regierung sanktionierten, da nur so der Eindruck der Willkür vermieden werden konnte.366 Andernfalls bestand die Gefahr, dass sich der Verkaufswert der Domänen deutlich verringern könnte. Deshalb schränkte auch das neue Gesetz die Verfügungsgewalt des Monarchen über die Staatsgüter gleich wieder ein; nur dann dürfe der Verkauf stattfinden, „wenn das wahre Bedürfnis des Staats eintritt und mit dem Kaufgelde oder dem erliehenen Kapital Schulden des Staats bezahlt werden müssen“.367 Erst wenn mit Hilfe solcher Klauseln und der Zustimmung der Stände eine gründliche Rechtssicherheit geschaffen und damit zugleich auch die Möglichkeit, dass die Domänen durch den König verschleudert würden, verhindert war, konnte die Bepfandbriefung sinnvollerweise durchgeführt werden. Als der Abzug der französischen Armee endlich erfolgte, schritt das Staatsministerium daran, auch von den Ständen der anderen Provinzen die Erlaubnis zum Verkauf der Domänen und zu deren Aufnahme in die Landschaften nachträglich einzuholen. Im Januar 1809 berief zu diesem Zweck der nunmehrige Oberpräsident von Pommern, der Kur- und der Neumark Sack Deputierte der kur- und neumärkischen Stände in Berlin zusammen. Damit die Veräußerung schnell vonstattengehen konnte, wurde vorerst auf die Konvokation eines förmlichen Landtags verzichtet. Die Kur- und Neumärker fühlten sich im Gegensatz zu den Delegierten des ostpreußischen Landtags jedoch überhaupt nicht befugt, sich zum neuen Edikt und Hausgesetz zu äußern, das vollzogen, aber wegen der noch fehlenden Zustimmung der Stände noch nicht publiziert worden war.368 Die Deputierten argumentierten, dass das Gesetz von 1713 immerhin ohne die Beteiligung der kur- und neumärkischen Stände entstanden sei. Die Motive, welche die Ständevertreter zu dieser Haltung bestimmten, sind unklar. Ob es wirklich staatsrechtliche Bedenken waren, oder ob sie nicht vielmehr die Verpflichtungen, die an eine Zustimmung geknüpft waren, scheuten, muss offenbleiben, aber angesichts des sonstigen Verhaltens der Stände scheint Letzteres deutlich plausibler. Nur widerstrebend unterzeichneten die Deputierten später das Gesetz.369 Eine weitere drängende Angelegenheit, die nach einer Lösung verlangte und während der Januarberatungen diskutiert wurde, war die Regulierung der kurmär366
Siehe hierzu auch Scheel, Reformministerium, Bd. 3, S. 958 (Fn. 2). Ausdrücklich wurde dieser Passus in einer Kabinettsorder gefordert. Siehe Kabinettsorder an Kanzler Schroetter, Königsberg, 9. 11. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 891, S. 933. 368 Die Publikation erfolgte erst Ende 1809. Siehe die publizierte Version des „Edikts und Hausgesetzes über die Veräußerlichkeit der königlichen Domänen“ (Königsberg, 6. 11. 1809) in NCC, Bd. 12/2, Nr. 93, S. 884 – 898 (hier finden sich auf die Namen der unterzeichnenden Ständedeputierten). 369 Siehe hierzu Schönbeck, Landtag, S. 8 f. 367
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
kischen Provinzialschulden. Das kurmärkische ständische Komitee hatte die Gelegenheit genutzt, um vor den Ständevertretern Rechenschaft über die eigene Arbeit während der letzten Monate abzulegen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Kurmärker im Gegensatz zu den Ständen manch anderer Provinzen während der Besetzung die Forderungen der französischen Armee mit Hilfe einer kostspieligen Verschuldung finanziert hatten. Der Finanzzustand des Komitees, der nun offengelegt wurde, war demzufolge verheerend; die Schuld wurde auf 8,7 bis 9,7 Mio. Taler geschätzt.370 Als Lösung der Finanzmisere schlug das kurmärkische Komitee die Einführung einer Steuer auf das Einkommen vor. Sack griff diese Idee bereitwillig auf und empfahl den Deputierten, das Kriegsschuldwesen nach dem ostpreußischen Vorbild zu organisieren.371 Die Einkommensteuer galt Anfang 1809 weithin als das einzige Mittel, um die finanziellen Anforderungen erfüllen zu können, die an die verschiedenen Provinzen gestellt wurden, wozu auch die Verpflegung der drei Oderfestungen zählte, die weiterhin unter französischer Kontrolle standen. Nach dem Septembervertrag sowie weiterer Abkommen war Preußen zur Versorgung der Garnisonen von zusammengenommen 10 000 Mann verpflichtet, woraus nach preußischen Schätzungen jährliche Kosten von rund 3 Mio. Talern erwachsen mussten. Hinzukam noch die Verpflichtung, die Festungen mit Verpflegungsgütern, die für eine einjährige Belagerung ausreichen sollten, auszustatten. Allein für Glogau waren dies: 40 770 Zentner Heu, 24 090 Zentner Stroh, 9015 Ster Holz, 421 Zentner trockenes Gemüse, 721 Zentner Salz, 290 Zentner Pökelfleisch und weitere zehntausende Zentner Hafer. Mit einer Kabinettsorder von 24. November 1808 wurde vorerst bestimmt, dass die Provinzen Kurmark, Neumark, Pommern und Schlesien die Kosten hierfür alleine zu tragen hatten; die Hinzuziehung West- und Ostpreußens werde jedoch erwogen, hieß es.372 Um zu einem provisorischen Verteilungsmaßstab für die Festungsverpflegungskosten zu gelangen, hatte Sack Ende Dezember Vertreter der Landschaften, der Kammern und Repräsentanten Berlins einberufen. Erwartungsgemäß bestanden die Versammelten auch auf einen Beitrag West- und Ostpreußens. Einstweilen beschloss man, die Lasten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu verteilen; sobald jedoch eine Einkommensteuer flächendeckend eingeführt war, sollte die Beitragsquote verhältnismäßig zum erwarteten Steueraufkommen berechnet werden. Schließlich wurde noch die Einrichtung eines gemeinsamen Verwaltungsausschusses beschlossen, der die Lieferungen organisierte.373
370
Siehe ebd., S. 9 f. Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 119 f. Siehe ebd., S. 121. Schönbeck, Landtag, S. 65 – 67. 372 Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, 1809 – 1810, S. 301 f., 307. Der tatsächliche Bedarf lag noch höher. Siehe ebd., S. 318. Der Bedarf für Glogau nachgewiesen in Roepell, Darstellung, S. 127 – 129. 373 Siehe Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 303 f., 308 – 313. Eggert, Stände, S. 34 – 40. 371
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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Am 22. Februar 1809 erging eine Kabinettsorder, in der zum Zweck der Versorgung der Festungen die Einführung einer Einkommensteuer nach ostpreußischem Muster in sämtlichen Provinzen angeordnet wurde. Überdies sollten nun auch Westund Ostpreußen, wenn auch zu ermäßigten Sätzen, zu den Festungslieferungen beitragen.374 Die Höhe der Steuer wie auch das Aufbringungsverfahren überließ man den Provinzialständen, so dass am fiskalischen Partikularismus und am Modell einer ständischen Steuerverwaltung unter nur formeller staatlicher Aufsicht festgehalten und die Gelegenheit zur Einführung einer einheitlichen preußischen „Staatssteuer“ versäumt wurde; und dass, obwohl eine gleichmäßige Besteuerung der gesamten Bevölkerung vollständig dem Konzept einer Staatsbürgergesellschaft entsprochen hätte. Es sollte sich jedoch zeigen, dass die Steuer nicht einmal in der angestrebten Form durchzusetzen war. Noch während der Beratungen, die im Januar zwischen Stein und den neu- sowie kurmärkischen Ständedeputierten stattfanden, kam der Plan zur Einberufung eines allgemeinen Landtags der kurmärkischen Landschaft (gemeint ist hier nicht das rein ritterschaftliche, sondern das ständische Kreditwerk) auf; dieser sollte ein neues Komitee wählen und zugleich das Problem der Schuldenregulierung behandeln. In etwa zur selben Zeit wurde auch in einer Kabinettsorder eine Versammlung der kurund neumärkischen Stände angeordnet, die über die Aufnahme der Domänen in die ritterschaftliche Landschaft zu befinden hatte. Sack versuchte unverzüglich, der Anordnung des Königs und dem Wunsch der Stände zu entsprechen und einen Landtag auszurufen, doch kam es sogleich zum Konflikt mit den kurmärkischen Ständen, die Sack das Recht zur Konvokation absprachen. Das Verhältnis zwischen dem Oberpräsidenten und den Ständen war schon während der letzten Monate von Spannungen geprägt gewesen. Sack verfolgte den Reformgedanken konsequent und drängte auf die endgültige Beseitigung der bisherigen landständischen Verfassung und auf ein Ende des ständischen Ausschusswesens. Schon im Januar hatte er deshalb den in Berlin versammelten Deputierten empfohlen, die Hypothekenregistratur der Landschaft künftig den Landesjustizbehörden anzuvertrauen sowie die Leitung des ständischen Schuldenwesens an die Ständerepräsentanten abzugeben, die demnächst in die Finanzdeputation der kurmärkischen Provinzialregierung eintreten sollten. Die Stände weigerten sich jedoch entschlossen, die verbliebenen Bereiche ihrer Selbstverwaltung preiszugeben.375 Ein Großteil der Stände strebte danach, die ständische Verfassung entweder in ihrer bisherigen Form zu bewahren, oder zu möglichst vorteilhaften Bedingungen neu auszugestalten.376 Es ging daher auch um Prinzipielles, wenn die Stände forderten, nicht Sack, sondern der Staatsminister Voß solle den Landtag einberufen. Voß, der für seine ständefreundliche Haltung bekannt 374 Die Kabinettsorder (Königsberg, 22. 2. 1809) in Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 305 f. Auch Schönbeck, Einkommensteuer, S. 120. 375 Siehe hierzu Schönbeck, Landtag, S. 10 – 13. 376 Siehe allgemein zur inhaltlichen Flexibilität der ständischen Politik Neugebauer, Verfassungswandel, S. 167 – 177. Zu den unterschiedlichen Positionen der kurmärkischen Stände siehe Frie, Marwitz, S. 255 f.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
war, kam als Landschaftsdirektor zwar nach alter Rechtslage die Aufgabe der Berufung zu, doch seit der Reform der Provinzialverwaltung Ende 1808 oblag eigentlich dem Oberpräsidenten sowohl die Aufsicht über die ständische Verfassung wie auch über die ständischen Geldinstitute. Außerdem verfügte das Gesetz vom 26. Dezember, dass er als königlicher Kommissar den Vorsitz auf allen ständischen Versammlungen führen musste. Die Funktion des Landschaftsdirektors war damit de facto größtenteils auf Sack übergegangen, auch wenn Voß offiziell nicht von seinem Amt entbunden worden war. Um eine weitere Eskalation wegen einer zunächst rein formalen Frage zu vermeiden, hatte Sack sein Einverständnis zur Berufung des Landtags durch Voß gegeben, der auch schon ohne diese Entscheidung abzuwarten, aktiv geworden war und die Berufungsschreiben versandt hatte. Erst das Ministerium in Königsberg erkannte die volle Dimension der Haltung der Stände in dieser Sache, die auf die Infragestellung der legislativen Kompetenz des Königs hinauslief, und protestierte entschieden gegen das Vorgehen von Voß.377 Ende Februar 1809 begann der Landtag in Berlin. Dessen Zusammensetzung ist in mancher Hinsicht interessant, denn anders als sonst üblich wurden statt einem, zwei Vertreter pro Kreis gewählt, die – wie schon die Deputierten des ostpreußischen Generallandtags – nicht an eine Instruktion gebunden waren und damit ein freies Mandat ausübten. Im Vorfeld des Landtags hatten die Städte in einer Denkschrift die bisherige ständische Organisation scharf kritisiert, nach der sie in den ständischen Körperschaften verglichen mit der Ritterschaft nur schwach vertreten waren. Sie drängten dementsprechend auf eine generelle Revision der bisherigen Verhältnisse und strebten neben einer besseren Vertretung für sich, auch die der Domänenpächter, der abhängigen wie freien Bauern, der Geistlichkeit und Mediatstädte an. Doch eine gänzliche Neuorganisation der Landschaft, welche die organisationale Plattform des Landtags darstellte, unterblieb.378 Obwohl unter Dohna an einer Reform der landständischen Verfassungen gearbeitet wurde,379 gingen die Planungen bis zur Kanzlerschaft Hardenbergs nicht über verschiedene Denkschriften hinaus. Auf dem Landtag von 1809 blieben die Repräsentanten der Städte demnach in der Unterzahl. Da auch die administrative Fusion der rechtselbischen Teile des Herzogtum Magdeburgs mit der Kurmark Gegenstand der Landtagsverhandlungen war,380 waren auch Repräsentanten der dort gelegenen Kreise und der Stadt Burg vertreten. Hinzukamen noch zwei Vertreter der neumärkischen Ritterschaft, die wegen der ständischen Kassenverwaltung und dem ritterschaftlichen Kreditwerk mit der kurmärkischen Ständeorganisation eng verbunden war. In den Akten findet sich daher auch
377
Siehe Schönbeck, Landtag, S. 14 f., 17. Siehe ebd., S. 16 – 20. 379 Die Neugestaltung der ständischen Verfassung wurde auch per Kabinettsorder zu Beginn des Jahres 1809 angeordnet. Siehe Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 331 f. 380 Siehe hierzu Schönbeck, Landtag, S. 36 – 40. 378
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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die Bezeichnung „Generallandtag der Kur- und Neumärkischen Landstände“ für den primär aus kurmärkischen Repräsentanten bestehenden Landtag.381 Die Liste der Dinge, über die der kurmärkische Landtag zu beraten hatte, war lang, weshalb die Arbeit der Repräsentanten in verschiedene Sektionen verlagert wurde. Zu den wichtigsten Tagesordnungspunkten zählte die Tilgung der Provinzialschulden.382 Die Stände gingen von einer Gesamtschuld von 9,2 Mio. Talern aus. Allein zur Bezahlung der laufenden Verbindlichkeiten mussten im Jahr 1809 2,25 Mio. Taler aufgebracht werden – zuzüglich der Kosten für den Zinsdienst.383 Die Stände versuchten zunächst erneut, den König zur Übernahme zumindest eines Großteils der Schulden zu bewegen und schlugen die Rückzahlung mit Hilfe einer eigens in allen Provinzen einzurichtenden Sondersteuer, beispielsweise einer Einkommensteuer, vor.384 Ihr Ersuchen gründete auf einer Kabinettsorder, mit der Friedrich Wilhelm kurz nach Ende des Kriegs die kurmärkischen Stände dazu angehalten hatte, die französischen Forderungen schleunigst zu befriedigen, und zugleich die Übernahme der daraus entstehenden Schulden in Aussicht stellte. 1809 ignorierten König und Regierung allerdings dieses Versprechen mit der Begründung, dass die Staatskasse schon die gesamte französische Kontributionsschuld von 120 Mio. Francs übernehme, ohne sie auf die einzelnen Provinzen zu repartieren.385 Als weitere Möglichkeit der Schuldentilgung wurde auch die Erhebung einer rein kurmärkischen Einkommensteuer erwogen. Basierend auf dem ostpreußischen Reglement hatten die Stände einen eigenen Entwurf für eine solche Steuer ausgearbeitet, der allerdings bei Sack auf große Vorbehalte stieß; zu deutlich wurden die Rittergutsbesitzer durch die vorgeschlagenen Besteuerungsgrundsätze bevorteilt und zu schwer sollten im Gegensatz dazu die Pächter und Bauern belastet werden. Der Einkommensteuerentwurf war kaum mehr als ein Versuch der Mehrheit der Ritterschaft, die eigene Steuerfreiheit trotz der finanziellen Misere der Provinz, für die immerhin die ritterschaftlich dominierte Komiteeverwaltung maßgeblich verantwortlich war, zu bewahren. Sack erkannte diese durchsichtigen Absichten und legte
381
So im Immediatbericht Sack, Berlin, 30. 4. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 96, S. 241. 382 Zur Zusammensetzung des Landtags und den wichtigsten Beratungsgegenständen siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 122 – 142. Schönbeck, Landtag, S. 21 – 23 und passim. Auch Immediatbericht Sack, Berlin, 30. 4. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 96, S. 241 – 244. 383 Siehe Schönbeck, Landtag, S. 33, 62. Bassewitz gab den Schuldenstand hingegen mit 12 Mio. Taler an. Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 124. 384 Hiergegen verwahrte sich Friedrich von der Marwitz. Siehe Meusel, Marwitz, S. 523 f. Zur Position von Marwitz auf dem Landtag, die ihn von der Mehrheit seiner Standesgenossen unterschied, siehe auch Frie, Marwitz, S. 255. 385 Siehe Kabinettsorder an Sack, Königsberg, 22. 2. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 83, Nr. 148, Bl. 40 – 40v.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
selbst einen Gegenentwurf vor, der eine gleichmäßige Verteilung der steuerlichen Last vorsah.386 Eine Einigung in der Einkommensteuerfrage wurde auf dem Landtag am Ende nicht erreicht. Beide Entwürfe, der ständische und der Sacks, gingen zur Entscheidung nach Königsberg, wo das Innen- und das Finanzministerium in mehreren Denkschriften und Voten Stellung bezogen. Man war sich mit Sack einig, dass gerechtere Verteilungsgrundsätze als im ständischen Plan vorgesehen, angenommen werden mussten. Große Kritik erregte auch die Zusammensetzung des ständischen Komitees, das zusammen mit der Leitung der Schulden- auch die der Einkommensteuerverwaltung übernommen hätte. Die Dominanz des Adels in diesem Gremium sollte beseitigt und für eine angemessene Vertretung der bäuerlichen Schichten sowie von Repräsentanten des Königs gesorgt werden.387 Schnell wurde das Problem der kurmärkischen Einkommensteuer so in den Rang einer verfassungspolitischen Vorentscheidung erhoben. Dohna hatte die Zusammenhänge erkannt und in Verbindung mit der Kritik an der Verfassung des Komitees das allgemeine Problem der Repräsentation knapp umrissen: „[B]isher werden nicht die Individuen als Menschen und Staatsbürger, nicht die Gemeinden usw., sondern die Stände der bürgerlichen Gesellschaft repräsentiert, und das geschieht nicht nach Wichtigkeit und Anzahl, sondern nach dem Grad des Einflusses und der Macht“.388 Dohna und Altenstein waren aber noch nicht bereit dazu, das Komitee in seiner bisherigen Form aufzuheben und damit auch einen Schritt in Richtung einer weiteren Entfaltung der inneren Souveränität zu gehen; ihr Ziel war es, erst mit der Einführung eines „neue[n] Repräsentationssystem[s]“ auch die „fehlerhafte[] Repräsentation“ des Komitees zu beseitigen.389 Wegen dieser Zögerlichkeit ist man zu keinem neuen Verfahren bei der Verteilung der finanziellen Lasten der Kurmark gelangt. Wenn auch widerstrebend musste Sack einer weiteren, wieder ungerechten Verteilungsgrundsätzen folgenden Kontributionsausschreibung zustimmen,390 die er allerdings als Vorauszahlung auf die bald einzuführende Einkommensteuer verstanden wissen wollte.391 Auch das neue, 386 Siehe Schönbeck, Einkommensteuer, S. 122 – 135. Ders., Landtag, S. 67 – 95 – hier besonders zu den Verhandlungen auf dem Landtag über den Steuerentwurf zwischen den Ständen, vor allem zwischen den Städten und dem platten Land. Die Belastung des Bauernstands blieb 1809 wie auch in den Jahren der Besetzung sehr hoch. Siehe Ebd., S. 62 f. 387 Der ständische Entwurf sah überhaupt keine solche Vertretung durch staatliche Beamte vor. Siehe Schönbeck, Landtag, S. 94. 388 Zu den inneradministrativen Verhandlungen um die kurmärkische Einkommensteuer siehe Schönbeck, Einkommensteuer, S. 125 – 140. Das Zitat nach Votum des Ministeriums des Innern, (Königsberg), 12. 9. 1809. Zit. n. ebd., S. 132. 389 Siehe Immediatbericht Altenstein und Dohna, Königsberg, 14. 9. 1809. Scheel, Interimsministerium, S. 393, hier auch die Zitate. 390 Siehe hierzu die Klagen der kurmärkischen Regierung gegenüber Sack (Potsdam, 21. 10. 1809, Ausf.). GStA PK, I. HA, Rep. 83, Nr. 1271. 391 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 147.
I. Herrschaftsintensivierung und Ressourcenmobilisierung
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nunmehr dritte ständische Komitee, das vom Landtag nach der Entlassung des Vorgängergremiums gewählt wurde, organisierte die Verteilung der Ausschreibungssätze auf die Kreise; dies bedeutete eine weitere Niederlage für Sack, der die ständische Schuldenverwaltung zu verstaatlichen beabsichtigt hatte.392 Während das Problem der Provinzialschulden nicht vollständig geklärt wurde, musste es wegen der Aufnahme der Domänen in die ritterschaftliche Landschaft zu einer Einigung kommen, wenn die Pfandbriefe fristgerecht an Frankreich übergeben werden sollten. Der Landtag, vor allem die ritterschaftlichen Deputierten, zeigten jedoch wenig Neigung, dem Wunsch der Regierung zu entsprechen. Es war vorgesehen, dass die kur- und die neumärkische Ritterschaft Pfandbriefe im Wert von 8 Mio. Talern ausstellen würde; dabei waren aber überhaupt nur 4 Mio. Taler an ritterschaftlichen Pfandbriefen zu diesem Zeitpunkt im Umlauf. Das Missverhältnis war offensichtlich. Das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Landschaft drohte angesichts der Verdreifachung der Verbindlichkeiten zu sinken; darunter konnte auch der Wert der ausgegebenen Pfandbriefe wie überhaupt das Kreditpotenzial der gesamten Landschaft leiden. Den Weg, den die ostpreußische Landschaft beschritten hatte, die Kreditbasis durch die Aufnahme der nichtadligen Grundbesitzer zu erweitern, wollten die kurmärkischen Stände jedoch nicht gehen. Standesrücksichten mögen dabei eine Rolle gespielt haben, doch fehlte auch ein freier Bauernstand, der mit den Kölmern Ostpreußens vergleichbar gewesen wäre. Ein weiteres Problem kam aus Sicht der Ritterschaft hinzu. Käme es zu einer Wiederbesetzung der Kur- und der Neumark, was angesichts der außenpolitischen Spannungen mit Frankreich keineswegs unwahrscheinlich war, so drohte den staatlichen Domänen die Konfiskation von französischer Seite. Die Landschaft wäre dann vollständig außer Stande gewesen, die enorme Pfandbriefschuld zu bedienen. Die Überlegungen der Stände gingen deshalb dahin, die Domänen in den Besitz der Stände zu überführen und sie so vor dem Zugriff Frankreichs zu schützen, das während der letzten Okkupation große Zurückhaltung bei der Beschlagnahmung ständischen oder privaten Eigentums gezeigt hatte. Die Ritterschaft schlug demnach vor, den Ständen Domänen im Wert von 12 Mio. Talern zu überlassen, auf die wiederum die Landschaft Pfandbriefe über 8 Mio. Taler ausgeben sollte. Allmählich, mit Auslösung der Pfandbriefe, sollten die Domänen schließlich wieder in den Besitz des Staats übergehen. Stein hatte im April des Vorjahres, als er bereits erste Verhandlungen wegen der Bepfandbriefung mit den Ständen geführt hatte, ein ähnliches Verfahren vorgeschlagen. Für die Ritterschaft hätte dieser Handel unter anderem bedeutet, dass die Einnahmen aus der Verwaltungskasse der Domänen direkt der Landschaft zu Gute gekommen wären. Neben aller Berechtigung der Bedenken der Stände erkannte Sack doch auch diese Vorteile, welche die Ritterschaft aus dem vorgeschlagenen Vorgehen erwachsen würden. So wie in der Einkommensteuerfrage war er auch in diesem Fall 392 Zum dritten kurmärkischen Komitee siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 142 ff. Neugebauer, Staatskrise, S. 251 f.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
nicht bereit, den ständischen Interessen einfach nachzugeben. Kurzerhand entwarf er ein eigenes, kompliziertes, aber tragfähiges Konzept zur Beleihung der Domänen, das die königlichen Güter unter der Verfügung des Staats beließ. Die Fronten waren schließlich derart verhärtet, dass sich während der Beratungen auf dem Landtag regelrechte Tumulte ereigneten. Beide Seiten waren aber am Ende aufeinander angewiesen, schließlich konnten auch die Stände kein Interesse an einer Wiederbesetzung wegen der fehlenden Pfandbriefe haben, und kamen zu einer Übereinkunft. Sack verzichtete zwar auf die Umsetzung seines Plans und willigte in die wiederkäufliche Überlassung von 60 Domänengütern im Wert von 12 Mio. Talern an die Stände, die Verwaltung blieb aber in der Hand staatlicher Beamter, denen lediglich drei ständische Deputierte (zwei der Ritterschaft, einer der Städte) beigeordnet wurden. Dieser Kompromiss, der mit Zustimmung der Generalversammlung der Ritterschaft am 24. März in einem förmlichen Rezess zwischen König und Ständen mündete, erwies sich als tragfähig. Die königliche Regierung erhielt wenig später die gewünschten Pfandbriefe über 8 Mio. Taler sowie weitere 4 Mio. Taler in landschaftlichen Schuldverschreibungen.393 Die neumärkische Ritterschaft war als Mitglied der Landschaft an dieser Entscheidung beteiligt. Anfang 1809 gab es zur Regelung der rein neumärkischen Angelegenheiten aber auch noch einen gesonderten Landtag, immerhin mussten auch die neumärkischen Stände einen vorläufigen Modus zur Bestreitung der Kosten der Festungsverpflegung und zur Tilgung der aufgelaufenen Schulden finden. Die Deputierten gaben wie die kurmärkischen Nachbarstände zu diesem Zweck ihr prinzipielles Einverständnis zu einer Einkommensteuer,394 wobei aber deren Details zunächst ungeklärt blieben. Sack strebte eine genauere Regelung auch gar nicht an, denn zuerst wollte er sich mit den kurmärkischen Ständen auf ein Verfahren einigen und dieses dann auf die beiden anderen Provinzen seines Oberpräsidialbezirks übertragen. Größere Unstimmigkeiten entstanden in der Neumark wegen eines anderen Punktes: Das Verhältnis zwischen der Kammer respektive der Provinzialregierung und dem neumärkischen Komitee war schon seit längerem konfliktreich. Anfang 1809 fragte etwa die Regierung nach der Legitimation des Komitees und verlangte die Mitgliedschaft von Regierungsvertretern in dieser rein ständischen Korporation. An diese Politik der Regierung knüpfte Sack nahtlos an; wie in der Kurmark, so bemühte er sich auch in der weiter östlich gelegenen Provinz um den weiteren Ausbau der Staatsgewalt und um die Beseitigung halbautonomer Verwaltungskörperschaften wie dem Komitee, deren Herrschaftsbefugnisse nicht ausdrücklich von 393
Siehe „Rezeß wegen wiederkäuflicher Ueberlassung von Kur- und Neumärkischen Domainen, zwölf Millionen Thaler an Werth, an die Kur- und Neumärkischen Landstände“, Berlin, 24. 3. 1809. NCC, Bd. 12/2, Nr. 73, S. 795 – 805. Siehe hierzu und zu den Verhandlungen über die Bepfandbriefung Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 174 f., 248. Hassel, Geschichte, S. 142. Schönbeck, Landtag, S. 23 – 32. Vetter, Adel, S. 41 f. 394 Siehe Schönbeck, Einkommensteuer, S. 152. Zum Schuldenstand siehe ebd., S. 153.
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der Staatsgewalt abgeleitet waren. Der jetzige Zustand gleiche dem eines „Staates im Staate“, charakterisierte Sack die Existenz eines nicht vom König sanktionierten Herrschaftsträgers. Die jetzige Ausübung administrativer Kompetenzen durch das Komitee erachtete er dementsprechend als eine „verfaßungswidrige Anmaßung“.395 Die neumärkischen Stände wehrten sich erfolgreich gegen Sacks Bestreben, die ständische Schuldenverwaltung zu beseitigen und in „unsere Fundamental Constitution“396 einzugreifen. Der Versuch des Oberpräsidenten, dem Komitee einen königlichen Kommissar überzuordnen, war ebenso ein Fehlschlag wie sein späterer Antrag auf Auflösung des Komitees. In Königsberg zeigte man große Zurückhaltung gegenüber Eingriffen in das Komitee, das sich grundsätzlich während der letzten Jahre bewährt hatte. Es stand schließlich zu befürchten, dass dessen Auflösung die finanzielle Lage der Provinz nur noch weiter verschärfen würde. Ohnehin wollte Dohna, wie schon die Reaktionen auf die Forderungen nach einer Neuorganisation des kurmärkischen Komitees gezeigt hatten, nicht in den Provinzen je einzeln eine veränderte ständische Organisation einführen, sondern gleich die gesamte Monarchie auf eine neue verfassungsmäßige Grundlage stellen.397 Die Repräsentationsfrage trieb 1809 schon längst nicht mehr nur die engeren Zirkel des hohen Beamtentums um, sondern drang auch in die Argumentation der Stände ein; sie wurde praktisch zum allgegenwärtigen Gegenstand des politischen Diskurses in Preußen. Für die Stände aller Provinzen ging es vor allem darum, die allseits erwartete neue preußische Verfassungsordnung nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Durchaus bestanden zwischen den Kreisen, Regionen oder Landständen unterschiedliche Auffassungen über die konkrete Zielsetzung, aber zumindest im Adelsstand der Westprovinzen herrschte weitgehende Einigkeit darüber, dass die eigene Präponderanz, die in der altständischen Verfassung verankert war, in die neue Ordnung hinübergerettet werden musste und ein Anrecht auf politische Teilhabe durchzusetzen sei. Die Bedrohung, die vom staatlichen Programm einer Beseitigung intermediärer Gewalten für die eigene politische Stellung ausging, wurde mit aller Deutlichkeit erkannt und die Verstaatlichung verschiedener, zuvor rein ständischer Verwaltungsfunktionen im Zuge der Provinzialverwaltungsreform Ende 1808 scharf kritisiert.398 So bezeichneten die neumärkischen Stände beispielsweise die Übertragung des Landarmenwesens an die Provinzialregierung als „vertragswidrige[s]“ Vorgehen. Die Säule, auf welcher der ständische Anspruch auf politische Partizipation ruhte, die von den Neumärkern angedeutete Heiligkeit der 395
Die Zitate n. Schönbeck, Einkommensteuer, S. 153. Siehe hierzu Neugebauer, Staatskrise, S. 260. 396 Zit. n. Neugebauer, Staatskrise, S. 259. 397 Siehe Immediatbericht Altenstein und Dohna, Königsberg, 14. 9. 1809. Scheel, Interimsministerium, S. 393. Zum Konflikt zwischen Sack und den Ständen siehe Schönbeck, Einkommensteuer, S. 153 f. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 443. Neugebauer, Staatskrise, S. 260 f. 398 Eine Übersicht der Veränderungen, die sich in Folge dieser Reform für das kurmärkische Ständewesen ergaben, in Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 257 – 260.
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Verträge und des Rechts,399 verlor jedoch an theoretischer wie auch praktischer Bedeutung angesichts einer Souveränitätskonzeption, welche die Stände der Möglichkeit berauben sollte, „weiterhin ihre Meinungen, Interessen und Ziele als verbindliche Bestandteile des Handlungsprogramms der Verbandsorganisation verfolgen und gegenüber der königlichen Verbandsspitze rechtsansprüchlich geltend machen zu können“.400 Auch in Pommern blieb die ständische Verfassung vorerst unverändert. Die Zusammensetzung des Landtags, der dort mit Unterbrechung zwischen Januar und März 1809 tagte, entsprach noch ganz dem Herkommen. Wie in der Kurmark so war auch dort das Drängen der Städte auf eine stärkere Vertretung in der ständischen Versammlung erfolglos gewesen.401 Die Vorgänge in Pommern glichen denen in der Nachbarprovinz aber noch in anderer Hinsicht, denn auch die pommersche Ritterschaft versuchte, die Aufnahme der Domänen in die Landschaft zu verhindern. In mehreren Denkschriften legten die Rittergutsbesitzer die nachteiligen Folgen des von der königlichen Regierung angestrebten Verfahrens dar. Als Alternative schlugen sie eine Bepfandbriefung ohne Zuhilfenahme der Landschaft vor; stattdessen sollten alle Stände, inklusive der Städte, eine gemeinsame Garantie für die Pfandbriefe abgeben. Statt „Landschaft“ solle man einfach auf die Wertpapiere das Wort „Landstände“ eintragen; den Unterschied würde Napoleon wohl überhaupt nicht bemerken, wurde argumentiert. Diesem Ansinnen widersetzten sich die Städte von Beginn an, da die Mithaftung für die Wertpapiere für sie ein kaum überschaubares finanzielles Risiko bedeutet hätte. Anfang Februar verhandelten Deputierte der pommerschen Stände mit Sack in Berlin über das Problem der Domänenpfandbriefe. Die Delegationsmitglieder vollzogen schließlich zwar das „Edikt und Hausgesetz über die Veräußerbarkeit der Domänen“, wollten aber die Bepfandbriefung den weiteren Beratungen des Landtags überlassen. Am Ende konnte sich die Ritterschaft durchsetzen und die Inkorporation der Domänen in die Landschaft verhindern. Die Haftung für die Pfandbriefe übernahm tatsächliche pro forma die Gesamtheit der pommerschen Stände, wobei offenblieb, inwieweit diese Garantie überhaupt Gültigkeit besaß. Diese Unklarheiten schienen aber offenbar angesichts des Werts der Pfandbriefe von lediglich 1,5 Mio. Talern hinnehmbar.402 Die Ritterschaft war auch erfolgreich in ihrem Bemühen, das Einkommensteuerprojekt Sacks zu hintertreiben. In Pommern war von Anfang an unklar, welchen 399
Siehe hierzu Schönbeck, Landtag, S. 11 f. und v. a. Neugebauer, Staatskrise, S. 261 – 263. Das Zitat n. ebd., S. 261. Auch später beriefen sich die Stände auf die älteren Verträge mit der Krone. Siehe Koselleck, Preußen, S. 189. 400 So formuliert von Quaritsch mit Bezug auf das allgemeine Verhältnis von Ständen zur monarchischen Souveränität. Siehe Quaritsch, Staat, S. 272. 401 Siehe Eggert, Stände, S. 41 f. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 440 f. 402 Zu den Verhandlungen über die Bepfandbriefung siehe Eggert, Stände, S. 32 – 34, 60 – 72, 88 – 96. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 441. Allgemein zum Landtag und den Ständen Pommerns siehe Neugebauer, Staatskrise, S. 246 f.
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Zweck die neue Steuer überhaupt haben sollte, erst Recht da es anders als etwa in der Kurmark während der Besetzung nicht zu einer systematischen Verschuldung der Stände gekommen war.403 Der möglichen Zusammenfassung der nicht unerheblichen Schulden einzelner Kreise und Städte zu einer gemeinsamen Provinzialschuld, die durch eine Einkommensteuer getilgt werden konnte, stand die Mehrheit des Adels wiederum kritisch gegenüber.404 Der Widerstand gegen die Einkommensteuer versteifte sich jedoch erst, als die Ritterschaft erfuhr, dass nicht das eigene Steuerprojekt, das den landwirtschaftlichen Grundbesitz enorm bevorteilt und der Ritterschaft eine dominierende Stellung im Steuerausschuss zugesichert hätte, eingeführt werden sollte, sondern das von Sack revidierte märkische Reglement. Auf einem weiteren Landtag, der im September 1809 tagte, wurde eine Deputation bestehend aus dem Landschaftsdirektor v. Krause und dem Kammerherrn v. Blanckensee ernannt, die beauftragt waren, den König von der gänzlichen Unzweckmäßigkeit der Einkommensteuer zu überzeugen. Der Auftrag der Deputierten reichte aber noch weiter: Sie sollten auch eine Verlängerung des Indults, die Verteidigung der Gerechtsamen des Adels sowie überhaupt den unveränderten Fortbestand der ständischen Verfassung erreichen. Dieser Versuch, die politische Entscheidungsfindung auf höchster Ebene zu beeinflussen, war gewiss „ein Höhepunkt in der Geschichte der pommerschen Stände“405. König und Königin empfingen die Abgesandten aus Pommern freundlich. In etwa zeitgleich mit der Ankunft der Deputation gelangte auch eine schriftliche Stellungnahme der hinterpommerschen Städte in Königsberg an. Darin wurde der Dissens zwischen den Ständen Pommerns, der sich schon während der Okkupation gezeigt hatte, noch einmal offensichtlich. Nicht nur, dass die Städte die Verlängerung des Indults ablehnten und die Einkommensteuer als eine gerechte Maßnahme zur Verteilung der Kriegs- und Kriegsfolgelasten bezeichneten; sie erklärten auch, dass alle Einwohner Pommerns nach einer Änderung der landständischen Verfassung und einer gleichen Repräsentation sämtlicher Klassen verlangen würden. Während die Mehrheit des hohen Beamtentums in Königsberg diesen Forderungen zustimmte, war der König zumindest offen für die Gegenargumente der Deputierten, die es als großen Erfolg werteten, dass „man die Verhandlungen von der Provinz auf die Staatsebene verschoben“ habe. Die Versicherung des Königs, die Anträge der pommerschen Stände dahingehend prüfen zu wollen, „wie weit allgemeine Verhältnisse“ deren Annahme gestatteten, war allerdings wenig konkret.406 Zur Erhebung einer Einkommensteuer ist es 1809 weder in Pommern noch in der Neu- oder der Kurmark gekommen. Demzufolge stieg besonders der kurmärkische 403
Siehe hierzu Bergius, Geschichte, S. 41. Siehe Schönbeck, Einkommensteuer, S. 155 f. Eggert, Stände, S. 22 – 24, 201 f. 405 Eggert, Stände, S. 184. 406 Zu den Verhandlungen um die pommersche Einkommensteuer siehe Schönbeck, Einkommensteuer, S. 154 – 158. Eggert, Stände, S. 96 f., 106 – 133, 150 – 159, 184 – 196, die Zitate S. 196. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 441. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 112 f. 404
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Schuldenstand weiter, ohne dass ein alternatives Konzept zur langfristigen Tilgung der Verbindlichkeiten gefunden worden wäre. Die verschiedenen Kontributionsausschreibungen, mit denen man sich behalf, brachten zu wenig ein, um der Lage Herr werden zu können.407 Ungelöst blieb auch das Problem der Festungsversorgung. Das bislang angewandte Verfahren, auf das sich die Provinzen zur Finanzierung der Lieferungen geeinigt hatten, war schließlich nur als Provisorium gedacht und die Einnahmen der Verpflegungskasse reichten bei weitem nicht aus.408 Angesichts dieser Situation sah sich Sack veranlasst, zum 19. Dezember einen Landtag nach Berlin einzuberufen, an dem ständische Deputierte aus allen drei Provinzen seines Oberpräsidialbezirks – aus Pommern, der Kur- und der Neumark – teilnehmen sollten. Mit Ausnahme Hinterpommerns waren auch die Städte, wenn auch gegenüber dem Adel in der Minderheit, vertreten.409 Die Ständeversammlung, die bis zum 10. Januar 1810 tagte, ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wieweit die Kooperation der Stände bereits über die engeren regionalen Grenzen hinauszureichen begann. Die Deputierten waren sich in vielen Punkten einig, oder versuchten zumindest, eine gemeinsame Front zu bilden. Die Stände politisierten sich zusehends; ihre „pragmatische Arbeit (…), wie sie sich aus der Kriegs- und Nachkriegssituation ergeben hatte, ging in eine programmatische Aktivität über“, wie es Wolfgang Neugebauer ausdrückte. Nicht mehr nur die engeren Angelegenheiten der Provinz oder das Problem der Kriegsfolgelasten beschäftigten sie, sondern auch Dinge, welche die gesamte politisch-soziale Ordnung Preußens betrafen.410 Hineingesogen in den Strudel des grundstürzenden Veränderungsprozesses, der durch die Niederlage und die Tilsiter Friedensordnung ausgelöst wurde, versuchten die Stände sich zu behaupten, ohne unbedingt stur altständischen politischen Vorstellungen zu folgen.411 Waren schon das Oktoberedikt, oder eine mögliche Kreisreform Beratungsgegenstände des Landtags, so konnte Sack es immerhin vermeiden, dass auch das neue Einkommensteuergesetz diskutiert wurde, das während der letzten Monate in Königsberg erarbeitet worden war. Für die kurmärkischen und die neumärkischen 407
Siehe hierzu Immediatbericht Sack, Berlin, 3. 5. 1809. Zeitungsbericht Sack, Berlin, 6.5. und 4. 10. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 193, 197, 269, S. 427, 434 f., 532. Holste, Arena, S. 54. 408 Meinhardt, Zeit, S. 101 f. Eggert, Stände, S. 207 f. Bassewitz, Kurmark 1809 – 1810, S. 311 f. (Fn. *), 321. West- und Ostpreußen erhoben laut Bassewitz die Festungsverpflegungsgelder durch die Einkommensteuer, die Neumark durch eine Klassensteuer, die Kurmark durch eine „Festungsverpflegungssteuer“ und Berlin durch eine Vielzahl verschiedener Steuern. 409 Zur Zusammensetzung des Landtags und den wichtigsten Beratungsgegenständen siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 148 – 156. Ders., Kurmark 1809 – 1810, S. 251 – 256. 410 Siehe hierzu Neugebauer, Staatskrise, S. 258 f., hier das Zitat S. 259 (Kursivsetzung im Original). Auch Vetter, Kurmark, S. 42 f. 411 Siehe hierzu Neugebauer, Staatskrise, v. a. S. 265 – 268 und passim. Neugebauer wies nach, dass von den Ständen der verschiedenen Provinzen durchaus modern anmutende Verfassungskonzeptionen vertreten wurden.
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Stände war die Steuer eigentlich nur dann hinnehmbar, wenn sie zur Tilgung der Provinzialschulden diente, die, so lautete die erneute Forderung, aber am besten vom Staat übernommen werden sollten.412 Erneut wurde diesem Wunsch nicht entsprochen und ohne weitere Stellungnahmen der Stände abzuwarten, am 11. März 1810 das „Reglement wegen Einführung der Einkommensteuer in der Kurmark und den Magdeburgischen Kreisen diesseits der Elbe“ vom König vollzogen. Das neue Gesetz begrenzte die Einkommensteuer, wie der Titel schon verriet, auf die Kurmark. Friedrich Wilhelm behielt sich aber vor, die Steuer gegebenenfalls auch auf andere Provinzen auszudehnen.413 Eine bedeutende fiskalpolitische Entscheidung war das Gesetz sicherlich nicht. Der Weg zum Steuerstaat wurde nicht konsequent gegangen; dazu wäre auch eine wirkliche Nationalrepräsentation von Vorteil gewesen, die eine gesamtpreußische Einkommensteuer hätten beschließen und ausreichend legitimieren können.414 Vor diesem Schritt schreckte die Staatsführung aber zurück, wie überhaupt der Gedanke an eine gesamtstaatliche Steuer offensichtlich in Königsberg kaum verbreitet war. In der Einkommensteuer wurde allein ein Instrument gesehen, um den finanziellen Kalamitäten einzelner Provinzen, aber nicht denen des Gesamtstaats abzuhelfen.415 Deshalb hatte es in der Kabinettsorder aus dem Februar 1809, in der die Einkommensteuer angekündigt worden war, auch geheißen, dass die Festsetzung der Höhe der Steuer und der Erhebungsmodalitäten den Einzelprovinzen zu überlassen sei. Doch Sack und andere Verfechter der neuen Steuer schienen zumindest einen Teilerfolg gegen den Widerstand eines Großteils der Stände errungen zu haben; zumindest oberflächlich machte es den Eindruck, als sei die legislative Entscheidungshoheit des Königs und seiner Regierung konsequent durchgesetzt worden. Es sollte sich allerdings zeigen, dass der souveränen Gesetzgebungskompetenz in Wirklichkeit enge Grenzen gesetzt waren. Die tatsächliche Einführung der Steuer scheiterte nämlich. Das Einkommensteuerreglement von 1810 basierte auf dem Prinzip einer administrativen Repräsentation aller steuerzahlenden Klassen. Nach einer kurzen Übergangsphase sollten selbst die einfachen Laßbauern in den Steuerverwaltungsbehörden vertreten sein. Die Ritterschaft einiger Kreise leistete dagegen jedoch massiven Widerstand, indem sie sich schlichtweg weigerte, die Verwaltungsbehörden überhaupt nur zu beschicken. Gleichzeitig sandten einige Kreise und Städte Eingaben nach Königsberg, in denen beispielsweise die hohen Verwaltungskosten, welche die Steuer verursache, beklagt wurden. Das Gesetz konnte unter diesen 412
Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 155. Siehe hierzu Schönbeck, Einkommensteuer, S. 140 – 146. Holste, Arena, S. 59. 414 Siehe hierzu Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 445. 415 Die Kombinierte Immediatkommission hatte zwar vorgeschlagen, eine Einkommen-, Gerwerbe- und Personensteuer zur Beseitigung der Kriegslasten- und schäden aller Provinzen einzuführen, doch wurde dieser Plan offensichtlich nicht weiterverfolgt. Siehe das „Gutachten der Kombinierten Immediatkommission über die Verteilung der Kriegslasten und -schäden“, Königsberg, 12. 4. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 152, S. 507 f. Hierzu auch Vogel, Staatsfinanzen, S. 51. 413
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Bedingungen, vor allem ohne die aktive Mitwirkung der Stände, nicht zur Wirkung gelangen.416 Das endgültige Ende der kurmärkischen Einkommensteuer markierte der Beginn der Kanzlerschaft Hardenbergs, der von einem modernen Staatsverständnis ausging und durch eine umfassende Finanz- und Verfassungsreform die finanzielle Schieflage von Provinzen und Staat beseitigen wollte. Die Einkommensteuer sei seiner Meinung nach einer „fortgesetzte[n] Inquisition gleichkommend und der öffentlichen Opinion so sehr zuwiderlaufend“. Er griff vorderhand die ständische Kritik auf, die in der Offenlegung des Einkommens eine Behandlung preußischer Untertanen erblickte, die aus moralischen Gründen zu werfen sei. Ein weitaus wichtigerer Grund für seinen Kurswechsel in der Steuerpolitik war aber die Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung, auf die Hardenberg schon im oben wiedergegebenen Zitat hinwies. Vielleicht mehr noch als seine Vorgänger hatte er einen wachen Blick für die Stimmung unter den Ständen, die sich immer heftiger gegen die Regierungspolitik wandten. Während seiner Amtszeit versuchte er, wenn auch mit mäßigem Erfolg, eine Trendwende herbeizuführen und etwa mit der Einrichtung repräsentativer Institutionen um Zustimmung für seine Politik zu werben. Das Projekt einer Einkommensteuer, die 1811 schließlich auch in Ostpreußen aufgehoben wurde, war jedenfalls erst einmal erledigt.417 Die in Pommern, der Kur- und der Neumark zu beobachtende Politisierung der Stände lässt sich auch eindringlich für Schlesien nachweisen. Auch in dieser Provinz verlangten sowohl die etwaige Einführung einer Einkommensteuer,418 als auch die Änderung des Hausgesetzes nach der Zustimmung der Stände. Das Problem der Bepfandbriefung der Domänen stellte sich zwar in Schlesien nicht, da dort der Domänenbesitz zu unbedeutend war,419 doch sollte eine ständische Garantie für eine holländische Anleihe über 8 Mio. Taler geben werden. Alles in allem erschien die Berufung eines Landtags unumgänglich. Der Oberpräsident Schlesiens Massow wurde auch entsprechend instruiert und veranlasste die Wahlen von Deputierten, zusammentreten ließ er diese aber nie. Das war gegen Ende des Jahres schließlich auch kaum mehr nötig, denn bis dahin hatte sich das Anleiheprojekt ebenso wie der 416 Siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 159 – 163. Schönbeck, Einkommensteuer, S. 147 f., 158 – 162. Grabower, Steuern, S. 250 f. 417 Siehe hierzu Bassewitz, Kurmark, Bd. 2, S. 165. Grabower, Steuern, S. 252. Lehmann, Ursprung, S. 34 – 37. Schönbeck, Einkommensteuer, S. 170 – 177. Das Zitat n. ebd., S. 171. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 443 – 445. Bernhard Großfeld, Die Einkommensteuer. Geschichtliche Grundlagen und rechtsvergleichender Ansatz (Recht und Staat, 504/505), Tübingen 1981, S. 30 – 34. 418 Schon Stein riet zur Einführung einer Einkommensteuer in ganz Schlesien, wo zumindest im Breslauer Kammerbezirk nur die recht grobmaschige Massowsche Steuer existierte. Siehe Randverfügung Steins zu Immediatbericht Bismarck, 7. 9. 1808, (Königsberg) und 1.10.(1808). Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 842, S. 882. 419 Eine Übersicht über die Verteilung des Domänenbesitzes in Schissler, Agrargesellschaft, S. 74 f. Siehe auch Schönbeck, Landtag, S. 7.
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von Massow abgelehnte Plan zu einer allgemeinen Einkommensteuer zerschlagen.420 Für den Zweck der Unterzeichnung des Edikts und Hausgesetzes begnügte sich Massow damit, kurzerhand Deputierte aus der Breslauer General- und der Fürstentumslandschaftsdirektion sowie den größeren Städten und Kreisen zu berufen, während er nach Beratungen mit Sack die Hinzuziehung des Bauernstandes ablehnte.421 Anfang März 1809 vollzogen diese Deputierten das Edikt „ohne allen Anstand“.422 Das politische Interessenbewusstsein der schlesischen Stände war aber bereits soweit ausgeprägt, dass sie schon aus eigenem Antrieb die Berufung eines Landtags forderten,423 der aus ihrer Sicht nur die Vorstufe zu einer dauerhaften Repräsentation darstellen sollte. Mit ihrem Wunsch nach einer „ständischen Versammlung“ konnten sich die schlesischen Stände auf zumindest halboffizielle Verlautbarungen der Regierung und auf die offiziellen Ankündigungen Massows berufen.424 Verglichen mit anderen Provinzen der Monarchie besaßen die Schlesier aber bei dem Versuch, sich gewisse partizipatorische Rechte zu sichern, schlechtere Ausgangsbedingungen: Seit der Annexion der Provinz existierte nach offizieller Lesart keine ständische Verfassung in Schlesien, was auch bedeutete, dass sich die Stände nicht auf geltende Verträge oder Rechte berufen konnten. Der Krieg und die Folgen des Tilsiter Friedens hatten die Stellung der Stände aber so weit gefestigt, dass sie nichtsdestotrotz entschlossen auf eine Revision der Verhältnisse drangen. Im Zuge dieses politischen Vorhabens lösten sie sich auch von altständischen Überzeugungen. So schlugen die Glogauer Ständen beispielsweise aus finanziellen Gründen eine Erweiterung der Repräsentation um „die Stände aller Classen“425 vor, die über steuerliche Auflagen entscheiden sollten. Nur so sei die Kreditfähigkeit im Ausland zu steigern, argumentierten die Glogauer und sprachen damit unmittelbar den Zusammenhang zwischen Kreditpotenzial und Repräsentation an. Das Interesse der schlesischen Stände ging deutlich über die engeren Angelegenheiten der Provinz hinaus. Zunächst ging es ihnen zwar um die feste Verankerung einer Vertretung der Landstände beziehungsweise um eine „Magna Charta unserer Privilegien“426, wie es in einer aussagekräftigen Wendung hieß, doch erkannten sie, 420 Massow betrieb eine systematische Verschleppungstaktik. Siehe Grabower, Steuern, S. 243 – 246. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 443 f. 421 Siehe Massow an Sack, Breslau, 5. 1. 1809, Ausf. Sack an Massow, Berlin, 12. 1. 1809, Konzept, abgeg. 17.1. Massow an Sack, Breslau, 21. 1. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 83, Nr. 148, Bl. 6 – 6v, 8 – 8v, 15 – 15v. 422 Siehe Massow an Sack, Breslau, 3. 3. 1809, Ausf. Ebd., Bl. 85, hier auch das Zitat. 423 Der Kammerherr Troschke erwähnte im Zusammenhang mit dem Aufschub der Versammlung die entstandene Beunruhigung unter den Ständen. Siehe Immediatbericht Troschke, Obstrowe bei Herrnstadt, 14. 2. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 49, S. 143 f. 424 Siehe etwa „Offiziöser Zeitungsartikel“, Königsberg, 26. 9. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 833, S. 876 f. 425 Zit. n. Neugebauer, Finanzprobleme, S. 144. 426 Zit. n. ebd., S. 143.
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wie eng die landständische mit der gesamtstaatlichen Verfassungsfrage verknüpft war. Der König wurde daher ersucht, „uns alle durch eine neue, den jetzigen Umständen angemessene, vor der ganzen Nation geprüfte und freudig angenommene Constitution, u: durch Einführung eines Repräsentationssystems zu beglücken“427 – offenkundig wurde „[d]er Ton (…) auch in Schlesien um 1810 (…) politischer“.428 In den beiden östlichsten Provinzen des preußischen Königreiches, in West- und Ostpreußen, wurden 1809 ebenfalls Landtage abgehalten. Wie in Schlesien war auch in Westpreußen der Organisationsgrad der Stände am Vorabend des preußischfranzösischen Kriegs relativ gering gewesen. Da eine preußische Verfassungsreform unterblieb, diente auch hier die Landschaft als Kern einer ständischen Repräsentation. Im Frühjahr tagte zunächst ein landschaftlicher Landtag, der über die Bepfandbriefung der Domänen und – wie in Ostpreußen – über die Aufnahme nichtadliger Grundbesitzer in die Landschaft entschied;429 das Einverständnis zur Einführung der Einkommensteuer nach ostpreußischem Vorbild und zur Aufhebung des Domänenverkaufsverbots war schon früher gegeben worden.430 Wegen der Versorgung der Festungen und der Wahl von Repräsentanten in die Provinzialregierung kam gleichzeitig ein ständischer Landtag in Marienwerder zusammen. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang das dort geäußerte Verlangen der Stände, sich künftig zu allen Gesetzen, welche die Provinz betreffen würden, gutachtlich äußern zu dürfen – auch dies ein Zeichen des Selbstbewusstseins der Stände, das nach 1807 selbst in Westpreußen deutlich an Kontur gewann. Der König antwortete, erst mit Einführung einer neuen Verfassung über die Anliegen der westpreußischen Stände entscheiden zu wollen. Den ständischen Aktivitäten der nächsten Jahrzehnte tat diese Absage jedoch keinen Abbruch.431 Der ostpreußische Generallandtag des Jahres 1808 hatte der Bepfandbriefung der Domänen schon zugestimmt, doch war man zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgegangen, dass die Pfandbriefe nur als Sicherheit für eine ausländische Anleihe dienen und nicht in Umlauf gebracht würden. Die Verpflichtungen des Pariser Vertrags machten eine Inkurssetzung aber zwingend notwendig, denn nur, wenn die 427
Zit. n. Schön, Aus den Papieren, Bd. 2, S. 68. Siehe auch Stern, Aktenstücke, S. 156. Siehe zum Gesagten Neugebauer, Finanzprobleme, S. 140 – 146, das Zitat S. 143. Ders., Verfassungswandel, 171 – 176. Auch Schönbeck, Einkommensteuer, S. 148 – 152. Witzleben, Staatsfinanznot, S. 107 f. 429 Auch in Westpreußen gab es unter den Ständen schon zu Ende des 18. Jahrhunderts Stimmen, die für die Aufnahme der nichtadligen Gutsbesitzer plädierten. Siehe Meinhardt, Zeit, S. 95 f. Anders als Schönbeck vermutete (ders., Landtag, S. 7), ist es auch in Westpeußen zur Bepfandbriefung von Domänen gekommen. Siehe Jahresbericht Auerswald, Königsberg, 22. 1. 1810, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 190, Nr. 3, Bl. 28v. 430 Siehe Stein an Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 21. 2. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 603, S. 662. Auerswald an Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 26. 1. 1809. GStA PK, XX. HA, Rep. 2, I, Tit. 6, Nr. 10, Bd. 2, Bl. 19 – 19v. Meinhardt, Zeit, S. 98. 431 Siehe Kabinettsorder an Auerswald, Königsberg, 2.4. und 3. 4. 1809, Ausf. GStA PK, XX. HA, Rep. 2, I, Tit. 23, Nr. 2, Bl. 1. Zu den westpreußischen Landtagen siehe Neugebauer, Wandel, S. 224 – 227. Meinhardt, Zeit, S. 99 f. 428
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Domänenpfandbriefe ein genauso frei handelbares Wertpapier waren wie die gewöhnlichen landschaftlichen Pfandbriefe, konnten sie als Sicherheit für die französische Kontributionsforderung dienen.432 Der landschaftliche Landtag, der vor diesem Hintergrund im Frühjahr 1809 zusammentrat, verweigerte aber die Zustimmung zu diesem Schritt. Das Risiko beträchtlicher Zahlungsforderungen wäre im Fall, dass die Domänenpfandbriefe nicht zu den vorgegebenen Terminen durch den preußischen Staat ausgelöst würden, bedeutend gestiegen und die ostpreußische Kreditgenossenschaft war nicht in der Lage, diese Verbindlichkeiten binnen kurzer Zeit zu befriedigen. Selbst wenn es bedeutete, dass der preußische Staat in außenpolitische Turbulenzen geriet, war der Landtag zu keinem Einlenken bereit und zwingen konnte man die Deputierten nicht. Altensteins Feststellung, dass der König die Bevölkerung zur Zahlung der Kontributionssumme auch verpflichten könne, entbehrte jeder machtpolitischen Grundlage. In Königsberg war man konsterniert und regelrecht erbost wegen der Sturheit der ostpreußischen Stände.433 Staegemann klagte über den Widerstand, der „in eine Renitenz gegen den Königlichen Befehl ausgeartet“ sei sowie den „Faktionsgeist“ und plädierte dafür, die widerspenstigen Deputierten künftig von allen ständischen Funktionen auszuschließen. Außerdem sollte der König fortan einen stärkeren Einfluss auf die Besetzung der Landschaftsdirektorenposten ausüben, um unliebsame Kandidaten verhindern zu können.434 Letzteres wurde den Landschaftsdeputierten auch angedroht, aber an eine Umsetzung dieses Schritts war schon aus finanzpolitischen Gründen nicht zu denken. Der Enge Ausschuss des Kreditwerks konnte in einem Immediatbericht darauf verweisen, dass der Kredit der Landschaft zu einem ganz erheblichen Teil von einer grundsätzlichen Rechtssicherheit abhänge: „Kreditsysteme erhalten ihren Kredit und durch diesen ihr Dasein nur durch die unwandelbare Überzeugung des Publikums und der garantierten Gutsbesitzer, daß sie nach Vorschrift der bestehenden Gesetze verwaltet werden und das geschlossene Verträge heilig sind“; und das Wahlrecht der Stände sei noch im Dezember 1808 ausdrücklich bestätigt worden, hieß es ergänzend.435 Die königliche Regierung ließ angesichts dieser Argumente von ihren Drohungen ab, bewerkstelligte aber trotzdem auf Umwegen die Inkurssetzung.436 Mit nahezu identischer Zusammensetzung tagte in Ostpreußen parallel zum Landtag der Landschaft auch eine Versammlung der Stände, die sich unter anderem 432
Siehe Altenstein an Auerswald, Königsberg, 14. 4. 1809, Ausf. GStA PK, XX. HA, Rep. 2, I, Tit. 23, Nr. 2, Bl. 41 – 44. 433 Siehe Reskript an Auerswald, Königsberg, 6. 5. 1809, Ausf. Ebd., Bl. 57 – 58. Immediatbericht Dohna, Königsberg, 16. 6. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 121, S. 319 f. 434 Siehe Votum Staegemann „den Generallandtag des ostpreußischen Kreditsystems betreffend“, Königsberg, 17. 5. 1809. Ebd., Nr. 111, S. 300. 435 Siehe Immediatbericht des Engern Ausschusses des ostpreußischen Kreditsystems, Königsberg, 27. 9. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 153, S. 419 – 422, hier das Zitat S. 420. 436 Zum landschaftlichen Landtag siehe Neugebauer, Wandel, S. 211 f.
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mit der Festungsversorgung und der Wahl der provinzialen Regierungsrepräsentanten befassten.437 Im Vorfeld kam es zum Konflikt zwischen den Ständen und der Staatsführung, in dessen Verlauf der König beispielsweise die Forderungen nach einer altständischen Trennung der Deputierten in eine Landboten- und eine Herrenstube und nach einer Aufhebung des Instruktionsverbots zurückwies. Allerdings stimmte Friedrich Wilhelm zu, dass bis zur Inkraftsetzung einer gänzlich neuen Verfassung die Städte ein Drittel der Abgeordneten stellen durften und eine Abstimmung nach dem Prinzip der Itio in partes zulässig sei.438 Wie die ostpreußischen Landtagsverhandlungen bewiesen auch die in den anderen Provinzen, dass die preußische Staatsführung angesichts der drückenden finanziellen Lasten der Monarchie ohne die Unterstützung der Stände kaum mehr handlungsfähig war. Dem politischen Gestaltungsanspruch der Regierung und der legislativen Entscheidungskompetenz des Königs waren tatsächlich sehr enge Grenzen gesetzt. Der Versuch, durch die Einführung der Einkommensteuer zumindest den drückendsten Finanzlasten der Provinzen zu begegnen, scheiterte, vom west- und ostpreußischen Beispiel einmal abgesehen, während die Bepfandbriefung der Domänen in Pommern, der Neu- und der Kurmark nur mit Konzessionen an die Stände durchzusetzen war. Selbst wenn die Könige Preußens zu allen Zeiten, besonders aber in Zeiten des Kriegs, immer auf einen gewissen Konsens mit den Ständen angewiesen waren und die Stände oftmals als Partner der Krone auftreten mussten,439 markiert das Jahr 1807 doch dahingehend einen Wendepunkt, als dass eine Partizipationsforderung artikuliert wurde, die über bisherige Formen lokaler Mit- und Selbstverwaltung hinausreichte. Die Forderungen nach einer „Repräsentation“ und einer „Verfassung“ gründeten in einer Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse nach 1807. Schon im Ancien Régime verfügten nur die Stände über das finanzielle und organisatorische Vermögen, das für eine intensive Ressourcenmobilisierung nötig war. Im Zuge der Revolutionskriege und der revolutionierten Friedensschlüsse erreichte der Ressourcenbedarf schließlich Höhen, die es den Ständen aufgrund ihrer Potenziale mehr noch als zuvor erlaubten, politische Programme zu formulieren, die über vereinzelte Positionsgewinne und eine defensive Interessenwahrung hinausreichten; „die Finanzfrage [erlangte] erneut eine Hebelfunktion für den gesamten Verfassungsbereich“, formulierte es Herbert Obenaus nicht nur mit Blick auf Preußen.440 Wollte die 437 Siehe Altenstein an die Generallandschaftsdirektion, Königsberg, 10. 4. 1809, Ausf. GStA PK, XX. HA, Rep. 2, I, Tit. 23, Nr. 2, Bl. 15 – 16. 438 Siehe Altenstein und Dohna an Dohna-Wundlacken, Königsberg, 10. 4. 1809, Abschrift. Ebd., Bl. 19 – 19v. Landtagsprotokoll, Königsberg, 1.-7. 5. 1809, Druck. GStA PK, XX. HA, Rep. 2, I, Tit. 23, Nr. 3, Bl. 54 – 70v. Zum ständischen Landtag siehe Neugebauer, Wandel, S. 212 – 217. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 439 f. 439 Siehe hierzu Neugebauer, Staat, passim. 440 Siehe hierzu Herbert Obenaus, Finanzkrise und Verfassungsgebung. Zu den sozialen Bedingungen des frühen deutschen Konstitutionalismus, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland
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königliche Regierung die Handlungsfähigkeit und Souveränität gegenüber Frankreich wahren, so war sie zumindest einstweilen zu Kompromissen genötigt.441 Deshalb war das Ziel reformorientierter Beamter von einem Ausbau der Staatsgewalt und einer konsequenten Durchsetzung der staatlichen Herrschaft nur mit bedeutenden Abstrichen durchzusetzen. Die politische Entscheidungsfindung war ein Aushandlungsprozess, der zunehmend mehrdimensional wurde, denn Stände und Regierung waren längst nicht mehr die einzigen politisch relevanten Akteure in Preußen.
II. Kommunikation und Partizipation 1. Die politisch-soziale Ordnung im zeitgenössischen Diskurs: Facetten einer Politisierung „Denn wie in jeder großen Stadt wo die öffentliche Meynung am liebsten die dem Tagesinteresse nahe liegendsten Gegenstände begreift, seit ein ganzes Decenium (!), und im Grunde genommen, seit der französischen Revolution, die Schritte und Maasregeln der Regierung Gegenstand des Raisonnements ausschließlich beinahe geworden sind, so haben insonderheit die seitherigen Begebenheiten nicht wenig dazu beygetragen, diese Tendenz, im Werk der neueren unerhörten Weltbegebenheiten, noch um ein beträchtliches zu vermehren. Das Publicum unterwirft alles seiner Beurtheilung (…).“442
Mit diesem auf den 7. Juni 1809 datierten Tagebucheintrag beschrieb der Oberpräsident von Pommern, der Kur- und Neumark Sack etwas in dieser Dimension bisher Ungekanntes: Die Teilnahme breiter Teile der Bevölkerung, namentlich in den Städten, an der politischen Entwicklung im Allgemeinen und der des preußischen Staats im Speziellen. Diese Teilnahme, das bürgerliche „Raisonnement“, war grundsätzlich nichts Neues; sie kann schon in Ansätzen im 30jährigen Krieg, der bereits ein Propagandakrieg war,443 und erst recht im 18. Jahrhundert, als sich im Zeichen der Aufklärung ein reger intellektueller Diskurs gerade auch in Preußen entfaltete, beobachtet werden.444 Die Französische Revolution und in ihrem Gefolge die Erschütterung des Ancien Régime wirkten allerdings katalytisch auf ältere Entwicklungstrends. Die Öffentlichkeit, die Ansichten, Meinungen und Interessen (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien), Düsseldorf 1974, S. 57 – 75, hier passim, das Zitat S. 67. 441 Siehe zu diesem Problem auch Koselleck, Preußen, S. 181 – 185. 442 Tagebuch Sack, (Berlin), 7. 6. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 19, Bl. 37 – 37v. 443 Siehe hierzu Schneider, Pressefreiheit, S. 67 – 69. 444 Siehe hierzu Ulrike Schömig, Politik und Öffentlichkeit in Preussen. Entwicklung der Zensur- und Pressepolitik zwischen 1740 und 1819, Phil. Diss., Würzburg 1988, S. 14 – 21. Zum deutschen Reformdiskurs des 18. und frühen 19. Jahrhundert siehe Hans-Christof Kraus, Kontinuität und Reform. Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik, in: Jahrbuch Politisches Denken 2014, S. 183 – 203, hier passim.
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wurden schon jetzt und nicht erst im auslaufenden 19. Jahrhundert zu einem wesentlichen Faktor der Politik,445 wie das Unbehagen verrät, das in Sacks Diagnose mitschwang. Das Begriffspaar „öffentliche Meinung“ – eine Übersetzung der Rousseauschen Wortprägung „opinion publique“ – erlebte nicht umsonst um 1800 in Deutschland eine Konjunktur, vermochte es doch das Phänomen eines gesteigerten Interesses des „Publikums“ am Politischen auch jenseits der gebildeten Schichten zu bezeichnen.446 „Politik ist nun einmal jetzt Gegenstand des allgemeinen Interesses“447, konstatierte Sack einmal prägnant. In Folge der Revolution begann die Politik nahezu jeden Menschen zu berühren und in die Alltagswelt einzudringen – sei es in Form des Kriegs, der schon „totale“ Züge annehmen konnte und deshalb den Einzelnen, ob als Soldat oder als Zivilist, erfasste;448 sei es durch Besetzungen, die ganze Staaten einer ausgeklügelten Okkupationsverwaltung unterwarfen und zur Einquartierung riesiger Armeen führten; oder sei es durch Friedensschlüsse, die Unsicherheit schufen, anstatt sie zu beseitigen. Alle diese Erfahrungen beförderten die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit. Napoleon wird der Ausspruch zugeschrieben, er fürchte drei Zeitungen mehr als hunderttausend Bajonette.449 Tatsächlich hatte er die öffentliche Meinung frühzeitig als einen bedeutenden Faktor seiner Herrschaft erkannt. Seit seinen ersten Feldzügen in Italien verstand er es geradezu meisterhaft, die Öffentlichkeit durch eine gezielte Propagandapolitik für sich einzunehmen. Als Konsul und dann als Kaiser etablierte er ein weitreichendes Propaganda- und engmaschiges Zensursystem,450 dessen langer Arm über die Grenzen Frankreichs hinaus- und nach 1806 selbst bis nach 445 Für das Zeitalter der Massenpresse im späten 19. und im 20. Jahrhundert siehe Rose, Empire, S. 15 f. und passim. Geppert, Pressekriege, S. 32 f. und passim. Hoeres, Außenpolitik, passim. 446 Zum Begriff der öffentlichen Meinung und dessen Geschichte siehe Lothar Bucher, Über politische Kunstausdrücke, in: Deutsche Revue 12 (1887), S. 67 – 80, hier passim. Herrmann, Herausforderung, S. 47 – 49. Schömig, Politik, S. 6 f. Hoeres, Außenpolitik, S. 17 – 20. Im Zusammenhang mit dem Begriffspaar „öffentlicher Meinung“ verwendeten die Zeitgenossen auch die Derivate „Zeitgeist“, „öffentlicher Geist“, „Publikum“, „public spirit“. Siehe hierzu Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 198. 447 Tagebuch Sack, (Berlin), 26./27. 6. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 19, Bl. 94. Siehe auch Beguelin an Gneisenau, Berlin, 11. 5. 1809. Pick, Noth, S. 140: „Raisonniren thun sie Alle“. 448 Siehe hierzu David A. Bell, The First Total War. Napoleon’s Europe and the Birth of Modern Warfare, London/New York/Berlin 2007, passim. Besonders die Kriege brachten die Menschen mit der Welt der Politik in Berührung. Siehe hierzu Neugebauer, Untertanen, S. 145 f., 160 f. 449 Nach Andreas, Zeitalter, S. 275. 450 Siehe hierzu Paul Czygan, Zur Geschichte der Tagesliteratur während der Freiheitskriege (Publikation des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreussen), 2 Bde., Leipzig 1909/1911, hier Bd. 1, S. 6 f. Andrea Hofmeister, Propaganda und Herrschaft in Preußen zur Zeit der napoleonischen Kriege, in: Ralf Pröve/Norbert Winnige (Hrsg.), Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600 – 1850 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens e.V., 2), Berlin 2001, S. 177 – 190, hier S. 178 – 180. Dies., Pressepolitik, S. 185 f.
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Preußen hineinreichte. Schon kurz nach dem Einmarsch der französischen Armee in Berlin, dem Zentrum der preußischen Publizistik,451 wurden Zeitungen, die wie die Vossische und die Haude- und Spenersche Zeitung zu den einflussreichsten der Monarchie gehörten, für die französischen Interessen in den Dienst genommen. Das Pressewesen der besetzten Territorien wurde unmittelbar unter die Aufsicht Bignons gestellt, der dafür sorgte, dass nur die offizielle Sichtweise des Kaiserreichs Eingang in die Blätter fand. Teil dieser „immer angestrengter [werdenden] (…) Bemühungen der Franzosen, die öffentliche Meinung für sich und ihren Zweck zu gewinnen“452, war die gezielte Förderung des „Telegraphen“, der sich unter der Leitung des Verlegers Lange zu einem französischen Presseorgan im Stile des „Moniteurs“ entwickelte. Andere Zeitungen und Zeitschriften wie etwa der „Preußische Hausfreund“ oder „Der Freimüthige“ wurden vollkommen oder zumindest zeitweilig supprimiert oder, wie im Fall des letzteren, deren Herausgeber inhaftiert.453 Wenn man dem Urteil Sacks, der als Leiter der Friedensvollziehungskommission immerhin aus erster Hand über die Vorgänge im okkupierten Teil des Landes berichtete, Glauben schenkt, blieben diese Bemühungen der Meinungsmache allerdings weitestgehend fruchtlos.454 Die Kontrolle der Öffentlichkeit führte zwar nur selten zu Verhaftungen wie der des Dramaturgen August Wilhelm Iffland, des Herausgebers Heinsius oder des Gelehrten Theodor Anton Schmalz,455 doch wurde neben dem Zeitungswesen gerade die politische Publizistik einer relativ scharfen Beobachtung unterzogen. Die Zensur dieser Schriften oblag dem Berliner Stadtkommandanten Hulin, der zu diesem Zweck anfänglich auf die behördlichen Strukturen des Berliner Polizeidepartements 451
Siehe hierzu Münchow-Pohl, Reform, S. 160. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, (Berlin), 28. 2. 1808. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 386, Bl. 49. 453 Zur französischen Pressezensur und zur Zeitungslandschaft während der Okkupation siehe Bassewitz, Kurmark, Bd. 1, S. 124 f. Tschirch, Öffentliche Meinung, Bd. 2, S. 440 f. Erich Widdecke, Geschichte der Haude- und Spenerschen Zeitung 1734 – 1874, Berlin 1925, S. 138 – 143. Karl Bömer, Die Geschichte der Berliner politischen Presse in drei Jahrhunderten (1617 – 1928), Liegnitz 1928, S. 17 – 19. Sagave, Napoleon, S. 138. Hofmeister, Propaganda, S. 177 f. Dies., Pressepolitik, S. 184 f., 187. Herrmann, Herausforderungen, S. 63. Paul Czygan, Über die französische Zensur während der Okkupation von Berlin und ihren Leiter, den Prediger Hauchecorne, in den Jahren 1806 bis 1808, in: FPBG 21 (1908), S. 99 – 137, hier S. 100 – 104, 111. Vollkommen neu war das Vorgehen der französische Armee nicht wie das Beispiel der russischen Zensur in Ostpreußen während des Siebenjährigen Kriegs beweist. Siehe hierzu Hasenkamp, Ostpreußen, S. 291 – 297. 454 Siehe beispielsweise Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, (Berlin), 13. 3. 1808, Ausf. GStA PK, III. HA, MdA, I, Nr. 386, Bl. 101v–102v. Hofmeister-Hunger zog diese Darstellung Sacks in Zweifel. Siehe Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 185. 455 Siehe hierzu Victor an Berthier, Berlin, 6. 3. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 61, S. 163 f. Ibbeken, Preußen, S. 102. Hans-Christof Kraus, Theodor Anton Schmalz (1760 – 1831). Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 124), Frankfurt a. M. 1999, S. 133 – 139. 452
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zurückgriff. Die Berliner Brotunruhen Mitte des Jahres 1808 und die aufgeheizte Stimmung in der Hauptstadt veranlassten die Besatzungsverwaltung schließlich zur Einrichtung eines speziellen Zensurbüros in der Berliner Mohrenstraße.456 Zum Leiter des Büros wurde der Prediger der französisch-reformierten Kirche in der Friedrichstadt Frédéric-Guillaume Hauchecorne ernannt, der mit Bignon seit dessen Zeit als Geschäftsträger am Berliner Hof bekannt war. Hauchecorne erwies sich als ein beflissener Beamter, der seine Hauptaufgabe als Zensor in der Aufrechterhaltung der Moral und der öffentlichen Ruhe sah; ein Erfüllungsgehilfe französischer Politik war er nicht, weshalb auch ein Verfahren, das später gegen ihn wegen seines Verhaltens während der Okkupation eingeleitet wurde, ergebnislos verlief. Er verhinderte nicht nur den Druck eindeutig antifranzösischer und patriotischer Schriften, was teilweise auch im Interesse der Memeler Regierung lag, die zumindest bis Sommer 1807 eine Politik der Détente gegenüber Frankreich betrieb;457 Hauchecorne versuchte auch, die Veröffentlichung solcher Druckerzeugnisse zu verhindern, in denen offen Kritik an der preußischen Regierung, der Armee, den gesellschaftlichen Zuständen oder etwa der Kirche geübt wurde458 – solche Schriften überschwemmten Preußen nach 1806 geradezu.459 Die Besetzung begünstige mit ihrer vergleichsweise nachsichtigen Zensur von systemkritischen Publikationen einen innerpreußischen Reformdiskurs,460 dessen unmittelbarer Auslöser der Zusammenbruch der alten Ordnung war; es entlud sich (wie noch zu zeigen sein wird auch fern des gedruckten Worts) ein offenbar lange vorhandenes kritisches Potenzial, das die Politisierung der preußischen Gesellschaft nach 1807 kennzeichnet.461 Das besondere Interesse am Gemeinwesen, das oben als 456 Siehe Bignon an den Polizeipräsidenten von Berlin, Berlin, 25. 5. 1808, in Czygan, Zensur, S. 131. 457 Der Druck der frühnationalen „Vesta“ in Königsberg wurde beispielsweise verboten. Siehe hierzu Czygan, Zensur, S. 106. Flad, Begriff, S. 34. 458 Zur Zensur der politischen Literatur und der Tätigkeit Hauchecornes siehe Herrmann, Herausforderungen, S. 64. Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 188. Czygan, Zensur, S. 104 – 113 (hier auch auf den Seiten 132 bis 135 eine nicht vollständige Liste der von Hauchecorne zensierten Schriften). Ludwig Dupuis, Ein Hugenottennachfahre im französisch besetzen Preußen, in: Hugenotten 62/2 (1998), S. 43 – 62, hier passim. 459 Siehe allgemein hierzu Thielen, Hardenberg, S. 221. Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 189. Ludger Herrmann, Charakteristika einer Reformpublizistik in Preußen, in: Bernd Sösemann (Hrsg.), Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 12), Wiesbaden 2002, S. 255 – 280, hier S. 255, 261, 266 – 274. Ders., Herausforderung, u. a. S. 71 – 74. Schon nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms III. gab es erste Publikationen dieser Art. Siehe Tschirch, Geschichte, Bd. 1, S. 280 – 283. 460 Ein Beispiel stellte die Erteilung der Imprimatur für Buchholz’ „Über den Geburtsadel“ dar. Siehe hierzu Schulz an Staegemann, Berlin, 18. 10. 1807. Scheel, Reformministerium, Bd. 1, Nr. 17, S. 36 f. 461 Zum Reflexionsdruck nach der Niederlage siehe Koselleck, Erfahrungswandel, S. 68 f., 75, 77. Beispielhaft für die Alte Geschichte siehe Jerry Toner, Roman Disasters, Cambridge 2013, S. 57. Münchow-Pohl sieht in den Jahren 1806/7 eine wichtige Zäsur für die Entstehung
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Charakteristikum einer Politisierung bezeichnet wurde, schließt den Wunsch nach Verbesserung und Veränderung der bestehenden politisch-sozialen Ordnung ein. Die Kritik ist ein wesentliches Movens politischen Denkens und Handelns. In Preußen reichte diese Kritik nie bis zu Forderungen nach einer gänzlich neuen Ordnung, vielmehr sollte die bestehende gefestigt und optimiert werden. Es ging angesichts kontingenter Erfahrungen wie Krieg, Besetzung und Unfriede um Ordnungs- und Sicherheitswahrung, um Kontinuität, und nicht um revolutionäre Zertrümmerung.462 Zu den Protagonisten unter den kritischen Schriftstellern zählten Friedrich von Cölln und Friedrich Buchholz. Cölln war Verwaltungsbeamter und zuletzt als Steuerrat bei der Glogauer Kammer angestellt gewesen. Bereits 1805 war er mit der Schrift „Reflexionen über den preußischen Staat“ in Erscheinung getreten, in der er sich unter anderem mit den Mängeln der preußischen Verwaltung auseinandersetzte. Der Durchbruch als Publizist gelang ihm aber erst 1807 mit seiner Reihe „Vertraute Briefe über die inneren Verhältnisse am preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II.“, die bis 1809 in sechs Bänden erschien und in der Cölln scharfe Kritik am politischen System und den gesellschaftlichen Verhältnissen übte. Der publizistische Erfolg war so groß, dass Cölln die „Neuen Feuerbrände“ in 13 Bänden folgen ließ, zu denen auch andere Autoren Beiträge lieferten und die zunehmend seinem Einfluss entglitten. Druckort der „Vertrauten Briefe“ war Leipzig im Königreich Sachsen, wohin die preußische Regierung eine Demarche abgehen ließ, um die weitere Vervielfältigung von Cöllns Schriften zu verhindern. Der Verleger entzog sich jedoch möglichen Sanktionen, indem er sich kurzerhand der französischen Zensur unterstellte. Nach dem Ende der Okkupation wurde Cölln vorgeworfen, vor allem in den Passagen der „Vertrauten Briefe“, die vom preußischen Finanzwesen handelten,463 Staatsgeheimnisse verraten zu haben.464 Vor der Verhaftung konnte er sich nur durch die Flucht in das benachbarte Ausland retten, wo er später rehabilitiert wurde, um dann in den Dienst Hardenbergs zu treten.465 einer politischen Öffentlichkeit in Preußen. Siehe Münchow-Pohl, Reform, S. 397. Dabei war dieses Phänomen nicht allein auf Preußen beschränkt, wie das bayerische Beispiel zeigt. Siehe hierzu Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08 – 1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte, 76), München 1983, S. 147. 462 Siehe hierzu Kraus, Kontinuität, S. 186. 463 Siehe beispielsweise Cölln, Vertraute Briefe, Bd. 3, S. 19 – 171. 464 Zu Cölln siehe Hüffer, Kabinetsregierung, S. 346 – 351. Ziekursch, Cölln, passim. Tschirch, Öffentliche Meinung, Bd. 2, S. 441 – 447. Ders., Friedrich Buchholz, Friedrich von Coelln und Julius von Voß, drei preußische Publizisten in der Zeit der Fremdherrschaft 1806 – 1812. Ein Nachtrag zur Geschichte der öffentlichen Meinung in Preußen 1795 – 1806, in: FBPG 48 (1936), S. 163 – 181, hier S. 173 – 177. Herrmann, Charakteristika, S. 263 f. Ders., Herausforderung, S. 110 – 144. Juristische Handhabe gegen Cölln bot u. a. ALR, II, Tit. 20, §151. Dort hieß es, „[w]er durch frechen unehrerbietigen Tadel, oder Verspottung der Landesgesetze und Anordnungen im Staate, Mißvergnügen und Unzufriedenheit der Bürger gegen die Regierung veranlaßt“ könne mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden. 465 Siehe Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 224 – 228.
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Das Vorbild für Cölln war der unter den gebildeten Berlinern weithin bekannte Friedrich Buchholz, der einem „neuen Typus des politischen Journalisten“466 entsprach. In den Abhandlungen „Untersuchungen über den Geburtsadel“, „Gallerie Preussischer Charaktere“ und „Gemählde des gesellschaftlichen Zustandes im Königreiche Preussen“ verurteilte er die ständische Gesellschaft und besonders die privilegierte Stellung des Adels, den er für die Katastrophe Preußens verantwortlich machte. Mit dieser Sichtweise war er keineswegs alleine; sie wurde auch von Cölln, dessen politische Ansichten aber grundsätzlich ambivalent blieben, und anderen Schriftstellern geteilt, denen wie Buchholz eine vom Leistungsprinzip bestimmte Gesellschaftsordnung gleicher Staatsbürger vorschwebte. Das Vorbild vieler kritischer Köpfe war das siegreiche französische Kaiserreich, wo die „idées libérales“467 verwirklicht zu sein schienen, wobei gegenläufige Tendenzen in Frankreich – wie etwa die Wiedereinführung des Erbadels – geflissentlich übersehen wurden. Gerade für Buchholz war das napoleonische Staatsmodell eine Blaupause politischer Herrschaft. In seinem 1805 erschienenen Werk „Der neue Leviathan“, mit dessen Titel er nicht zufällig an Thomas Hobbes erinnerte, und im zwei Jahre später veröffentlichten Buch „Rom und London oder über die Beschaffenheit der nächsten Universal-Monarchie“ erhob Buchholz das Prinzip unumschränkter Alleinherrschaft zur Verfassungsmaxime. Im „Gemählde“ forderte er, in Preußen müsse die „Polyarchie“,468 die bisher geherrscht habe, beseitigt werden, um zur wahren Monarchie zu gelangen; erst dann könne auch Friedrich Wilhelm ein wirklich starker Herrscher werden, wozu Buchholz ihn durchaus für fähig hielt. Dieses Bild eines verhinderten Monarchen, wenn nicht Autokraten, das sehr an Altensteins Argumentation gegen den Staatsrat erinnert, zeichneten auch andere Schriftsteller. Auch sie verlangten die Beseitigung von als störend empfundenen Zwischengewalten, wie den Ständen, und die konsequente Entfaltung der monarchischen Souveränität. Das politisch gestärkte Königtum galt besonders den bürgerlich-liberalen Autoren als Garant der schwer beeinträchtigten äußeren Unabhängigkeit Preußens und des gesellschaftlichen Fortschritts. Der Souverän sollte ungehindert das Programm gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Liberalisierung gegen die beharrenden politischen und sozialen Kräfte durchsetzen.469 Selbst die Mehrheit derjenigen, die im
466 Iwan-Michelangelo D’Aprile, Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz, Berlin 2013, S. 27. 467 Zu den „idées ibérales“ im revolutionären Frankreich siehe Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 127 – 139. 468 Siehe Buchholz, Gemählde, Bd. 1, S. 43 f., 54 – 75, hier das Zitat S. 61. 469 Zu Buchholz und der gleichlautenden Kritik anderer Autoren am gesellschaftlichen und Regierungssystem siehe Tschirch, Öffentliche Meinung, Bd. 2, S. 79 – 89. Ders., Buchholz, S. 163 – 173. Kurt Bahrs, Friedrich Buchholz. Ein preussischer Publizist 1768 – 1843 (Historische Studien, 57), Berlin 1907, v. a. S. 35 – 43, 48 – 78. Hofmeister-Hunger, Pressepolitik,
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vielfältigen Meinungsspektrum jener Jahre explizit für die Einsetzung einer Repräsentationskörperschaft eintraten, sahen in dieser nur eine beratende, den König eher stärkende Instanz. Konkrete Forderungen nach einer „Constitution[]“ und Warnungen vor einer „unumschränkte[n] Monarchie“ kamen zwar durchaus vor, waren jedoch vor 1810 noch recht selten.470 Sogar solche Schriftsteller, die sich gegen die ätzende Kritik eines Buchholz und Cölln stellten,471 erkannten vielfach die Notwendigkeit von Reformen. Selbst jenseits der Publizistik wurden derlei Reformforderungen artikuliert – ein Faktum von einigem Gewicht für die Forschung zur politischen Geschichte Preußens und zum „bürgerlichen“ 19. Jahrhundert. In den Akten des Finanzministeriums und des Geheimen Zivilkabinetts (später auch des Staatskanzleramts) finden sich bändeweise Eingaben mit Reformvorschlägen, die seit 1807 und bis weit in die Staatskanzlerschaft Hardenbergs hinein die königliche Regierung erreichten.472 Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte die öffentliche Debatte um das Allgemeine Landrecht ein ausgeprägtes Bedürfnis nach politischer Mitsprache verraten, allerdings erst die politische und gesellschaftliche Krise nach 1807 legte die volle soziale Breite und intellektuelle Tiefe des politisch-deliberativen Potenzials weiter Teile der preußischen Bevölkerung offen. Seltener von Adligen, häufig aber von Kleinbürgern, Pfarrern, Ärzten, Kaufleuten, Bankiers und Militärs wurden Eingaben verfasst, wobei die Autoren auffallend oft aus der Beamtenschaft der Provinzial- und Lokalverwaltung stammten, wo das gebildete Bürgertum Preußens oftmals sein Auskommen fand. Unmittelbarer Anlass der meisten Reformvorschläge waren die Kriegsniederlage und die unsichere Friedensordnung. So wurden in zahlreichen Eingaben Mittel und Wege dargeboten, um der desaströsen staatlichen Finanzlage abzuhelfen; in dieser erkannte man offensichtlich ein Problem, das nicht mehr nur die Staatsführung, sondern die gesamte Bevölkerung anging, die unter der gestiegenen fiskalischen S. 190 – 194. Sagave, Napoleon, S. 135 – 137. Herrmann, Charakteristika, S. 277 – 280. Ders., Herausforderung, S. 85 – 110, 207 – 211, 217 – 231, 246 – 249, 255 – 267, 382 – 420, 426 – 440. 470 So etwa in dem anonymen Aufsatz „Über das Wohl der Völker in monarchischen Staaten und über Constitutionen“, in den strikt profranzösischen „Friedenspräliminarien. Ein Journal in zwanglosen Heften“, Heft 2, Leipzig 1809, S. 51 – 77, hier die Zitate S. 51, 56. Siehe auch den Beitrag „Ueber Repräsentation“ im „Vaterlandsfreund“, Nr. 43, 31. 5. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 69, Nr. 15739, Bl. 33 – 34. 471 Siehe hierzu Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 11.1. und 21. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 41, 55, S. 105, 144 f. Exemplarisch auch Heinrich Bardeleben, Preußens Zukunft. An das Vaterland, Frankfurt/O. 1807, S. 11 und passim. Hierzu auch Hüffer, Kabinetsregierung, S. 353. Tschirch, Öffentliche Meinung, Bd. 2, S. 463 – 468. Herrmann, Charakteristika, S. 264 f. Ders., Herausforderung, S. 161 – 170. 472 Siehe GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 32284, 3630 – 3632 (bis 1809). Ebd., Rep. 151, I A, Nr. 167 – 172 (bis 1826). Ebd. Rep. 74, H VII, Nr 1, 8 Bde. (bis 1823) und Nr. 13, 2 Bde. (bis 1812). Auf die Aktenbestände des Finanzministeriums und des Staatskanzleramts wies bereits Wolfgang Neugebauer hin. Siehe Neugebauer, Verfassungswandel, S. 162. Hier (S. 162 – 166) auch eine erste Auswertung dieser Quellen hinsichtlich der Relevanz für den Verfassungsdiskurs.
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Belastung litt und die Fragilität der außenpolitischen Lage fürchtete. Viele bezeichneten es gerade in dieser Notzeit als ihre „staatsbürgerliche Pflicht“, ihre Sichtweise zum Wohl des Ganzen zu äußern.473 Die rechtlichen Voraussetzungen hierfür schuf das Allgemeine Landrecht, das ausdrücklich jedem Einwohner gestattete, „seine Zweifel, Einwendungen und Bedenklichkeiten gegen Gesetze und andere Anordnungen im Staate“ wie überhaupt „Bemerkungen und Vorschläge über Mängel und Verbesserungen“ dem König oder den Spitzen der Verwaltung mitzuteilen.474 Das Spektrum der Vorschläge war ausgesprochen groß: Die in den Eingaben formulierten Reformprogramme reichten vielfach weit über Einzelmaßnahmen zur Verbesserung der Staatsfinanzen, wie der Säkularisation von Kirchengütern, hinaus.475 In auffälliger Überschneidung mit der Reformpublizistik sowie den immer wieder geäußerten Forderungen der Städte und der Bauernschaft wird auf die Einführung eines „gleichen und neuen Steuersystems“476, auf die „gleichmäßige Verteilung“477 der finanziellen Lasten, angetragen. Eine Einkommen- oder Vermögensteuer sollte eingeführt und die steuerliche Vorzugstellung des Adels vollständig beseitigt werden. „Man mache wieder gleich, was die Zeit ungleich machte, man besteure alle Ritter und Freigüter gleich den Bauerngütern“, hieß es beispielsweise in der Denkschrift eines namentlich nicht genannten ehemaligen Regimentsquartiermeisters.478 Die zunächst nur rein steuerlichen Fragen waren, dies hatten schon die Reformüberlegungen der Administrative bewiesen, eng mit der Reform der gesamten Gesellschaftsordnung verknüpft. „Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich, alle Vorrechte hören auf“ oder „keine Klasse von Menschen (…) darf ausdrücklich, oder auch nur stillschweigend, privilegirt werden“479, lauteten die prägnanten Forderungen nach einer gesellschaftlichen Egalisierung. Die ständische Gesellschaft hatte offenbar schon in Teilen der Bevölkerung deutlich an Akzeptanz 473 Siehe exemplarisch Immediateingabe Bading („geheimer expedierender Sekretär im ostpreußischen Departement“), (Königsberg), (1807). GStA PK, I. HA, Rep. 151, I A, Nr. 167. 474 ALR, II, Tit. 20, §156. 475 Siehe etwa Immediateingabe Niepel („Senator und Militärfouragerendant“), Münsterberg, 21. 2. 1809. Immediateingabe Sulikowski, Breslau, 6. 12. 1808. GStA PK, I. HA, Rep. 151, I A, Nr. 168. 476 Immediateingabe Werner („ehem. Domänenamt-Actuarius“), Prenzlow, 8. 11. 1807. Ebd., Rep. 89, Nr. 3630, Bl. 98v. Siehe auch Immediateingabe Carl Gottfried Müller, Berlin, 31. 10. 1807. Ebd., Bl. 41 – 42v. 477 Immediateingabe L. W. Sachs („der Heilkunde Befließener“), Berlin, 4. 3. 1809. Ebd., Rep. 151, I A, Nr 168. 478 Immediateingabe eines ehem. Regimentsquartiermeisters des Usedomschen Husarenregiments, Dresden, 8. 8. 1807. Ebd., Nr. 167, hier auch das Zitat. Siehe u. a. auch Immediateingabe Wolber, Brandenburg, 16. 7. 1808. Ebd., Nr. 168. Immediateingabe Andr. Jeromin („Litteratus“), Loetzen, 24. 11. 1809. Ebd., Nr. 169. Immediateingabe Fischer („Kreisjustizrat und Stadtdirektor“), Loewenberg, o. D. Immediateingabe Fischer („Kaufmann“), Soldin, 14. 10. 1809. Ebd., Rep. 89, Nr. 3631, Bl. 54 – 54v, 226 – 229v. 479 Immediateingabe Fischer („Kreisjustizrat und Stadtdirektor“), Loewenberg, o. D. Ebd., Bl. 31.
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verloren, bevor sie auf gesetzlichem Weg „von oben“ her aufgelöst wurde. Weitere Wünsche nach einer Aufhebung des Zunftzwangs und der Einführung einer liberalen Wirtschaftsordnung waren die weitere logische Konsequenz. Das Egalitätsprinzip wurde mitunter auch auf den Bereich des Militärs ausgedehnt, dessen ständische Gliederung durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht beseitigt werden sollte.480 Vorschläge wurden daneben sowohl zur Verbesserung der jurisdiktionellen481 und der Bildungsverhältnisse, als auch für den künftigen außenpolitischen Kurs der Monarchie gemacht.482 Die Außenpolitik erregte überhaupt in den Jahren der Revolutionskriege die besondere Aufmerksamkeit des „Publikums“; deutlich wurde dies etwa während des Dritten Koalitionskriegs. Bemerkenswert bleibt aber das Interesse für die innenpolitischen Entwicklungen. In seinem „Vorläufigen Entwurf der organischen Grundsätze zur Reorganisation des preußischen Staats und besonders der Gerechtigkeitspflege oder Justiz Verwaltung“ betitelten Memorandum des Hofgerichtspräsidenten v. Heller aus Insterburg wurde beispielsweise ein detaillierter Plan zur Neuordnung der administrativen Verhältnisse des Staats, von der Provinzialverwaltung bis zur Gestalt von Ministerien und eines Staatsrats, entworfen.483 Andere Eingaben wie die des Justizrats und Stadtdirektors Fischer, die immerhin 75 Blätter umfasst, gehen auf alle nur erdenklichen öffentlichen Bereiche, vom Steuer- über das Schulwesen bis zur Spurbreite der Straßen, ein.484 Tatsächlich wurden diese Ratschläge auch zur Kenntnis genommen, worauf neben mancher Marginalie auch das Antwortschreiben Steins an Fischer hindeutet.485 Besondere Aufmerksamkeit verdienen aber Äußerungen über die künftige Verfassung Preußens. Die „Teilnahme der Staatsbürger bei wichtigen Angelegenheiten“486 wurde oftmals gefordert. Daneben gab es die Empfehlung, die Bürger selbst über die steuerlichen Lasten entscheiden zu lassen.487 Einzigartig in Umfang und Inhalt ist die Eingabe des Gutsbesitzers und ehemaligen Ackerbürgers Gebel aus 480 Immediateingabe Werner („ehem. Domänenamt-Actuarius“), s. l., 1. 9. 1807. Ebd., Rep. 151, I A, Nr. 167. Immediateingabe Sulikowski, Breslau, 6. 12. 1808. Ebd., Nr. 168. 481 Vor allem die Patrimonialjustiz wurde kritisiert. Siehe Immediateingabe Krüger („Prediger“), Steinhöfel bei N. Angermünde, 2. 10. 1807. Ebd., Rep. 89, Nr. 3630, Bl. 22v. 482 Immediateingabe Kratz, Hammersche Glasfabrik bei Landsberg, 18. 8. 1809. Ebd., Rep. 151, I A, Nr. 169. 483 Siehe Immediateingabe v. Heller („Hofgerichtspräsident“), Insterburg, 13. 4. 1808. Ebd., Nr. 167. 484 Siehe Immediateingabe Fischer („Kreisjustizrat und Stadtdirektor“), Loewenberg, o. D. Ebd., Rep. 89, Nr. 3631, Bl. 14 – 89. 485 Siehe Stein an Fischer, Königsberg, 10. 8. 1808, Konzept, abgeg. 15.8. Ebd., Bl. 85. Gelegentlich wurde den Absendern für ihre Vorschläge ausdrücklich gedankt. Siehe etwa Kabinettsorder an Kammerherrn von Prittwitz, Königsberg, 25. 3. 1809, Konzept, abgeg. 27.3. Ebd., Rep. 151, I A, Nr. 168. 486 Immediateingabe von Unbekannt, Tilsit, (9. 7. 1807). Ebd., Nr. 167. Siehe auch Immediateingabe Freese, Aurich, 13. 3. 1808. Ebd. 487 Siehe W. Ephraim an Altenstein, Berlin, 14. 3. 1809. Ebd., Nr. 168.
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Peterwitz in Schlesien, der mit seinen „Ideen zur Reorganisation Preussens“ einen vollständigen Plan für eine gesamtpreußische Verfassung vorlegte. „Da er (der Regierte; S.P.) die Abgaben entrichtet, so hat er auch das Recht über ihre Anwendung Rechenschaft zu verlangen. Er muß eine Garantie besizen (!), daß seine unveräußerlichen Rechte geachtet, und die Monarchie nicht in Dispotie (!) übergehe, d. h. er muß eine Constitution haben“, begründete Gebel den Wunsch nach einer Verfassung, die es einer Repräsentativkörperschaft erlauben solle, über Gesetzesinitiativen der Regierung zu entscheiden. Ein Nebeneffekt einer so ausgestalteten Repräsentation wäre, dass „durch sie die verschiedenen Unterthanen in eine Nation am ersten umgeschaffen werden können“.488 Auch wenn ein derartig fortschrittliches politisches Programm eine Seltenheit unter den Reformeingaben darstellt, wird doch ganz unabhängig von deren konkreten Inhalt deutlich, dass es einen fließenden Übergang von der interessierten Teilnahme am politischen Geschehen zum Verlangen nach politischer Teilhabe gab. Die bloße Existenz der Eingaben belegt den Wunsch des Gehörtwerdenwollens, der an sich schon eine partizipatorische Dimension hat, schließlich sollten die Entscheidungen von König und Regierung auf zentralen Feldern der Innen- wie Außenpolitik im Sinne der eigenen politischen Zielvorstellungen beeinflusst werden – ansonsten hätten die Petenten ihre Vorschläge kaum gemacht. Die Eingaben, die häufig direkt an Friedrich Wilhelm gerichtet waren, beweisen zugleich, dass der König auch fern der Publizistik der Fix- und Orientierungspunkt jedes politischen Programms blieb. Ein Grund dafür war sicherlich nach wie vor die traditionale Bindung an die Monarchie,489 die, wie schon gezeigt, in der Zeit der Bedrohung durch Frankreich noch einmal zugenommen hatte und bei weitem nicht auf die bäuerlichen Schichten beschränkt war;490 allerdings verriet schon die Widerständigkeit, dass diese Verbundenheit nicht einfach mit blindem Gehorsam gleichzusetzen ist.491 Vielmehr begann 1807 verstärkt ein Prozess kommunikativer Aneignung des Königtums durch verschiedene Bevölkerungsgruppen und Personen mit ihren je unterschiedlichen politischen Intentionen. Das Festhalten am Prinzip monarchischer Herrschaft, das sich auch in der Reformpublizistik niederschlug, war mit einer klaren Reformerwartung verbunden: „Das ganze Land ist gegenwärtig auf
488 Siehe Immediateingabe D. Gebel, Peterwitz bei Jauer, o. D. Ebd., Nr. 167, hier auch die Zitate. Siehe hierzu auch Neugebauer, Verfassungswandel, S. 164 – 166. 489 Siehe hierzu Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. vermehrte Aufl., Göttingen 1968, S. 160 – 186, hier S. 183. 490 So behauptet von Münchow-Pohl, Reform, S. 48. 491 Siehe hierzu Büschel, Untertanenliebe, S. 350, der darauf hinwies, dass die Anhänglichkeit an den Herrscher oftmals an konkrete Forderungen und Erwartungen geknüpft war: „Durch Bekundung der Liebe und Unterwürfigkeit setzten sich Untertanen in das Recht, Ansprüche zu erheben und Kritik zu äußern“. Ähnlich Wienfort, Monarchie, S. 181 f.
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große innere Veränderungen nicht nur gefaßt, sondern es darf diese von der huldreichen Gesinnungen Ew. Königl. Maiestät hoffen und erwarten.“492 Die Entwicklung des Königtums hin zu einer Projektionsfläche unterschiedlichster politischer Sehnsüchte und Erwartungen, welche die Monarchie des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas durchlief, nahm in Preußen nach 1807 im Zeichen der vielgestaltigen Konfrontation mit Frankreich und der ständeübergreifenden Politisierung der preußischen Gesellschaft ihren Anfang. Der König war nationale Integrationsfigur, wie beispielsweise die Feiern zum Königsgeburtstag zeigten – der übrigens auch 1809 enthusiastisch begangen wurde:493 zugleich galt er mal als Verteidiger ständischer Interessen gegenüber der Reformpolitik und mal als Wegbereiter einer liberalen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Verfassungsordnung.494 Eine Folge daraus war, dass die Entscheidungsfreiheit des Monarchen zunehmend schrumpfte. Daraus konnte sich ergeben (auch dies ein nicht auf Preußen beschränktes Phänomen), dass der König zwar an Bedeutung im politischen System verlor, das Königtum aber neue Legitimationsformen annahm und sich auf diese Weise weiter als integrierender Faktor in einer sich politisch wie sozial differenzierenden Gesellschaft eignete.495 Die Idee eines über den Parteien stehenden Monarchen, die etwa Benjamin Constant entwickelt hatte,496 aber auf wesentlich ältere Vorstellungen vom König als von Gott eingesetzten Richter zurückging, drängte nach ihrer Realisierung in der Verfassungswirklichkeit. Eingaben, Bücher und Flugschriften belegen, wie sich die öffentliche Meinung in Preußen zu einem „mitgestaltenden Faktor der politischen Willensbildung“497 entwickelte. Zirkulare, etwa das des Kriegsrats v. Dohna-Wundlack des Jahres 1808,498 und Massenpetitionen, die nach 1810 zu einem politischen Instrument wurden, bedeuteten die nächsten Entwicklungsschritte zu einer dezidiert politischen Öffentlichkeit, die von der Zentralregierung argwöhnisch beobachtet wurde. Die
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Werner („ehem. Domänenamt-Actuarius“), Prenzlow, 8. 11. 1807. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr. 3630, Bl. 77 (Kursivsetzung S.P.). 493 Siehe Polizeibericht, Berlin, 5.8., 16.8. und 26. 8. 1809. Ausf. Ebd., Rep. 77, Tit. 516, Nr. 2, Bl. 15 – 15v, 31 – 33, 49. 494 Eine Tendenz, die sich im 19. Jahrhundert fortsetzte. Siehe hierzu Wienfort, Monarchie, S. 169, 205 f. 495 Siehe hierzu und für das weitere 19. Jahrhundert Wienfort, Monarchie, u. a. S. 12 f. Frank-Lothar Kroll, Monarchische Modernisierung. Überlegungen zum Verhältnis von Königsherrschaft und Elitenanpassung im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Ders./ Martin Munke (Hrsg.), Hannover – Coburg-Gotha – Windsor. Probleme und Perspektiven einer vergleichenden deutsch-britischen Dynastiengeschichte vom 18. bis in das 20. Jahrhundert (Prinz-Albert-Studien, 32), Berlin 2015, S. 201 – 242, hier passim. 496 Siehe hierzu Kroll, Modernisierung, S. 219 f. 497 Raumer, Deutschland um 1800, S. 183. Raumer erkannte einen solchen Bedeutungszuwachs der öffentlichen Meinung im Preußen sogar in Teilen schon vor 1807. 498 Unbekannt, „Eingabe an den König“, s. l., (November 1808). Rühl, Briefe, Bd. 1, Nr. 63, S. 107 f.
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preußische Führung erkannte den Wandel der politischen Kultur in Preußen und war gezwungen, darauf zu reagieren.
2. Die Konzeption autonomer Entscheidungsgewalt und die Abschirmung des politischen Raums Das „Volk“ und mithin die Öffentlichkeit waren für die Spitzen des preußischen Beamtentums mehrheitlich Objekt und nicht Subjekt der Politik. Im Zusammenhang mit der Repräsentationsfrage wurde bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass weder Stein noch die Mehrheit der Administration oder später Hardenberg eine irgendwie parlamentarische Debatte des Für und Wider anstrebten. Die Repräsentation sollte die grundsätzliche Kritik nicht institutionalisieren, sondern vielmehr eine Interessenkongruenz zwischen Bevölkerung und Regierung herstellen und vertiefen. Die Politisierung, die aller Orten zu beobachten war, musste daher in Teilen der politischen Führung auf Befremden und Ablehnung stoßen; keinesfalls erkannte Stein darin das von ihm eingeforderte Interesse für die Angelegenheiten des Staats. Die öffentliche Meinung war für ihn nicht das Ergebnis freier, gouvermental ungebundener Urteilsbildung oder etwa – im Rousseauschen Sinne – Ausdruck des allgemeinen Willens, der als Richtschnur des Regierungshandelns dienen mochte; sie bedurfte vielmehr der Kontrolle und Lenkung, zumindest solange, bis die Bevölkerung zu wirklicher politischer Mündigkeit gereift sein würde. So erwartete Stein auch von einer Repräsentation, dass sich durch sie „eine öffentliche richtige Meynung über National-Angelegenheiten“ bilden würde.499 Dies schloss freilich nicht aus, den „Input“ aus der Bevölkerung zur Kenntnis zu nehmen, wenn er wie im Fall der Reformeingaben, manchen Buchs oder einiger Flugschriften in dieselbe Richtung wie die eigene politische Zielsetzung wies; wirkliche oppositionelle Meinungen, zumal öffentlich geäußerte, wurden aber als Bedrohung des politischen Entscheidungsmonopols der Administrative und des Königs wahrgenommen. Retardierende oder widerstrebende politische Kräfte und Meinungen galten dem vordringlichsten Ziel der reformpolitischen Bemühungen, der möglichst effektiven Mobilisierung der „Nation“ für den Staat, als abträglich. Die Homogenität der politischen Anschauungen, das Ausschalten politischer und sozialer Reibungsverluste, wurde in den Jahren nach 1807 geradezu als ein Gebot der Staatsräson verstanden. Um des Staates Willen ging es darum, „daß die Nation mit der Regierung aufs Innigste vereinigt werde“500, wie Scharnhorst es nannte, oder eben, in der Diktion
499 Das Zitat in Steins Beurteilung des Entwurfs Rehdigers, (Königsberg), 8. 9. 1808. Pertz, Gneisenau, Bd. 1, S. 400 (Kursivsetzung S.P.). Zu Steins Verständnis von der und seinem Verhältnis zur öffentlichen Meinung siehe Flad, Begriff, S. 27 – 36, 151. 500 Reglement, (Königsberg, nicht nach 15. 3. 1808). Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 34, S. 47.
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Steins, den „Gemeingeist“ zu wecken.501 Der Staat galt als das Medium der Sittlichkeit. Diese Apologie des Staats, der mehr als eine reine Sicherheitsanstalt sein sollte, verlangte danach, alle materiellen und eben auch geistigen Kräfte zu dessen Erhaltung aufzuwenden. „Es muß alles weggeschafft werden, was die höchste Kraftäußerung des Staates lähmen und der Menschheit die Erringung des höchsten Ziels erschweren kann“, erklärte Altenstein.502 Vor dem Hintergrund der mangelnden äußeren Souveränität Preußens im Zeichen des verlorenen Kriegs und des Tilsiter Friedens erlangte insbesondere die außenpolitische Behauptung Preußens primäre Bedeutung. In der Rigaer Denkschrift Hardenbergs bildete das Kapitel über die „Auswärtigen Verhältnisse“ nicht umsonst nach den „Allgemeinen Gesichtspunkten“ den Anfang. Hardenberg machte klar, dass „Selbstständigkeit und Independenz“ die vordringlichsten Gesichtspunkte des politischen Handelns sein müssten. Alles sollte der vollen Machtentfaltung des Staats nach außen dienen, denn „ohne Macht“, betonte Hardenberg einleitend, sei äußere Unabhängigkeit nicht zu erreichen.503 Die Nation galt führenden Reformkräften als eine von ständischen und regionalen Sonderinteressen bereinigte soziale Organisationsform; sie wurde verstanden als „ideally harmonious political community possessing a unitary intereset and a unitary will“, wie Matthew Levinger in seiner Studie zur preußischen politischen Kultur jener Jahre feststellte. Levinger bezeichnete den Gedanken von einer Harmonisierung des Willens der Nation mit dem des Monarchen zum Zweck der Mobilisierung der Bevölkerung als „Enlightened Nationalism“.504 Auf die Einzelheiten seiner grundsätzlich zutreffenden, wenn auch im Detail – wie Levinger selbst zugibt – korrekturbedürftigen These braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden;505 nach dem bereits Gesagten ist aber zu bemerken, dass keineswegs alle „Reformer“ explizit die Stärkung der monarchischen Souveränität anstrebten. Was noch für Altenstein gilt, trifft mit Sicherheit nicht für Stein zu, der, wie gezeigt, den König ausdrücklich keine eigenständige Willens- und Entscheidungsbildung zuerkennen wollte. In Erweiterung von Levingers These ließe sich daher behaupten, dass sogar die Mehrheit 501 Siehe Flad, Begriff, S. 12: „Man sieht, daß sich sein (Steins; S.P.) Denken um eine Frage dreht: wie veredelt sich der Staat durch das Aufsaugen aller nationalen, materiellen und geistigen Kräfte?“ Siehe zu Steins Staatskonzeption auch ebd., S. 12 – 15. Siehe auch das in dieselbe Richtung weisende Schreiben Raumers an Schön (Königswusterhausen, 19. 3. 1809). Schön, Aus den Papieren, Bd. 1, S. 89 f. 502 Zu Altensteins Staatsauffassung siehe Spranger, Altensteins Denkschrift, S. 121, 128 f., 136 – 153. Das Zitat Denkschrift Altenstein, Riga, 11. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 262, S. 396. Siehe auch Hömig, Altenstein, S. 48. Ähnlich dachte auch Clausewitz. Siehe Gat, History, S. 247 – 249. 503 Siehe Denkschrift Hardenberg, Riga, 12. 9. 1807. Winter, Reorganisation, Nr. 261, S. 306 f., die Zitate ebd. 504 Siehe hierzu Levinger, Nationalism, u. a. S. 5 f., 42 – 68, 227 – 230 und passim, hier das Zitat S. 48. 505 Levinger betonte ausdrücklich den idealtypischen Zugang seiner Studie, worin er von den durchaus unterschiedlichen Einzelmeinungen abstrahierte. Siehe etwa Levinger, Nationalism, S. 75.
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der Reformbeamten die Homogenität des Willens der Nation mit der politischen Agenda der Regierung – verstanden als Kompositum von Ministerialbeamtentum und König – und nicht allein mit der des Königs herbeizuführen beabsichtigte. Es lohnt sich zu fragen, zu welchem Regierungshandeln diese Konzeption eines „Enlightened Nationalism“ abseits der reinen Reformpolitik führte und wie auf das Faktum einer politisierten Gesellschaft und ihre Interessenheterogenität reagiert wurde? Der König schien jedenfalls im Krisenjahr 1809 zunehmend zu resignieren. Vom Juristen Carl Gottlieb Svarez war dem noch jungen Kronprinzen ein hohes Pflichtethos mitgegeben worden, das den König als natürlichen Anwalt seines Volkes verstand. Handelte der Monarch getreu seiner politischen wie ethischen Pflicht, dann war nicht zu erwarten, dass zwischen ihm und seinen Untertanen ein Interessengegensatz entstehen könnte.506 Die Flut an Eingaben und Publikationen, die Politik der Stände und die Lagerbildung innerhalb des Beamtentums und des Militärs bewiesen allerdings, dass trotz der hehren Absichten Friedrich Wilhelms die Kritik allerorten lauerte: „Das Vertrauen zu mir und zu einer wohlmeinenden Regierung, die wahrlich nur das Beste beabsichtigte, wurde immer schwächer, meinen guten Absichten wurde misstraut, meine Massregeln bitter ja öffentlich schonungslos getadelt“, schrieb der König in seiner bereits erwähnten selbstreflektierenden Denkschrift. „Auf diese Weise wuchs der Geist der Unzufriedenheit immer mehr und mehr.“ Friedrich Wilhelm stand offensichtlich dem Politisierungsphänomen ziemlich ratlos gegenüber, das der Erwartung an eine konsensstiftende rationale Politik widersprach. „[D]ass jeder sich selbst genügt, dass jeder seinen eigenen unumstösslich richtigen Plan hat, wie den ferneren Unfällen der Nation vorzubeugen (…) und was die Regierung sonst noch zu tun oder zu lassen hat“, diesen Dissens und „Faktionsgeist“ einer sich sozial und politisch ausdifferenzierenden Gesellschaft, interpretierte er als grundsätzliche Infragestellung seiner Herrschaft und erwog bekanntlich – in Unkenntnis der tieferliegenden Ursache der Meinungsvielfalt und wohl nicht ganz ernst gemeint –, sein Amt einem vermeintlich fähigeren Nachfolger zu überlassen.507 Während Friedrich Wilhelm zeitweilig konsterniert war, versuchten Stein und seine Mitarbeiter mit Hilfe der Zensur und gezielten publizistischen Maßnahmen, die Bevölkerung auf den eigenen politischen Kurs einzuschwören. Indem es ein aktives Bemühen um das Vertrauen der Öffentlichkeit gab, wurde die Arkanhaltung, die das Verhältnis der Staatsführung zur Bevölkerung während des Ancien Régime noch oftmals gekennzeichnet hatte,508 zumindest teilweise aufgegeben. Ein einfaches Vorbeiregieren an der öffentlichen Meinung war offenbar kaum mehr möglich, weshalb Gesetze und Verordnungen nun auch einer mehr oder weniger ausführlichen 506
Siehe zu Svarez Levinger, Nationalism, S. 36 f. Demel, Staatsabsolutismus, S. 332. Siehe „Denkschrift Friedrich Wilhelms III.“, (Königsberg), April 1809 (nach der Abschrift des Originals). GStA PK, BPH, Rep. 49 König Friedrich Wilhelm III., Nr. 93, Bl. 1 – 4, hier die Zitate Bl. 2, 3. 508 Siehe hierzu Schneider, Pressefreiheit, S. 56, 64 – 66. Schömig, Politik, S. 56 f. 507
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Begründung und Erläuterung bedurften, vor allem wenn diese neue steuerliche Auflagen zum Inhalt hatten.509 Der politische Raum des Entscheidens und Erwägens sollte aber auch weiterhin von der reflektierenden, kritischen Öffentlichkeit möglichst abgeschirmt und die Autonomie der Regierung gewahrt bleiben. Bis 1806 versuchte die preußische Führung, den Informationsfluss, der die Bevölkerung erreichte, vorwiegend durch die Vergabe von Privilegien und mit Hilfe der Zensur zu kontrollieren. Unter den verschiedenen Zensuredikten des 18. Jahrhunderts verdient besonders das Wöllnersche von 1788 Erwähnung, da es den staatlichen Stellen weitreichende Handhabe zur Überwachung der Presse bot und die Publikation aufklärerischer Schriften erschwerte. Wenige Jahre später wurden diese Bestimmungen unter dem Eindruck der Französischen Revolution noch einmal deutlich verschärft, womit Preußen keineswegs alleine dastand. Auch in anderen deutschen Staaten führten die Ereignisse um das Jahr 1789 zu zahlreichen Pressegesetzen; allerorten war die Nervosität der Staatsführungen mit den Händen zu greifen. Die Zensur entwickelte sich zunehmend zu einem Teil eines umfassenden Staatsschutzes und zu einer Obliegenheit polizeilicher Organe.510 Angesichts der Welle der Politisierung, die Preußen nach 1807 erfasste, wurde das bekannte Instrument der Zensur um Ansätze einer modernen Pressepolitik und Öffentlichkeitsarbeit ergänzt, um die rege politische Meinungsbildung innerhalb der Bevölkerung zu steuern.511 Einer der Wegbereiter dieser Entwicklung war der Präsident der Friedensvollziehungskommission und spätere Oberpräsident von Pommern, der Kur- und der Neumark Sack. In seinen Berichten hatte er unter der öffentlichen Meinung bereits nicht mehr nur die Stimmungen und Urteile des „gebildeten Publikums“, sondern sämtlicher Bevölkerungsgruppen verstanden. Analog zu dieser semantischen Erweiterung sollten künftig auch möglichst alle Untertanen des Königs von der staatlichen Meinungslenkung erfasst werden.512 Sack bemühte sich in einem ersten Schritt, die großen Zeitungen Berlins, die unter der scharfen Beobachtung der französischen Zensur standen, zu einer unabhängigeren Berichterstattung zu bewegen. Daneben unternahm er verschiedene An509 Siehe hierzu auch Münchow-Pohl, Reform, S. 420 f. Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 214. Auch die ständische Politik hatte einen gesteigerten Legitimationsbedarf. Siehe beispielsweise die „Bekanntmachung der ostpreußischen und litauischen Landesdeputation“, Königsberg, 25. 6. 1808. Scheel, Reformministerium, Bd. 2, Nr. 193, S. 626 – 628. 510 Zur preußischen Zensur vor 1806 siehe Czygan, Geschichte, Bd. 1, S. 3 – 6. Herrmann, Herausforderung, S. 56. Heribert Gisch, „Preßfreiheit“ – „Preßfrechheit“. Zum Problem der Presseaufsicht in napoleonischer Zeit in Deutschland (1806 – 1818), in: Heinz Dietrich Fischer (Hrsg.), Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts (Publizistik – Historische Beiträge, 5), München/New York/London/Paris 1982, S. 56 – 74, hier S. 57 – 61. Schömig, Politik, S. 81 – 89. Andreas Fijal/Ekkehard Jost, Staatsschutzgesetzgebung in Preußen unter der Regentschaft Friedrichs des Großen (1740 – 1786), in: Willoweit, Staatsschutz, S. 49 – 83, hier S. 53. 511 Siehe allgemein hierzu Schneider, Pressefreiheit, S. 179 f. 512 Siehe Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 195 – 197. Auch Herrmann, Herausforderung, S. 50.
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strengungen, um „[d]ie Zügellosigkeit der Schriftsteller über (!) den preußischen Staat“ zu unterbinden; dazu zählte auch die schon angesprochene Intervention bei der sächsischen Regierung, mit welcher der Druck der Bücher Cöllns und Buchholz’ in Leipzig verhindert werden sollte. Tatsächlich versprachen die sächsischen Behörden, Untersuchungen gegen die in Frage kommenden Verlage einzuleiten und die Werke der beiden Autoren zu konfiszieren, doch bekanntlich liefen diese Bemühungen weitestgehend ins Leere. Um die weitere Verbreitung solcher Schriften einzudämmen, befahl Sack dem Polizeipräsidenten Berlins, Maßnahmen gegen deren heimlichen Verkauf zu ergreifen.513 Stein flankierte von Königsberg aus solche Bemühungen zur Unterdrückung allzu regierungskritischer Publikationen. „[W]eil dergleichen Schriften die öffentliche Meinung irreführen und der Nation das Vertrauen zu der Regierung mutwilligerweise und mit desto mehrerem Erfolge entziehen können, da noch so wenig dawider jetzt geschrieben werden darf“, befahl er dem Provinzialminister Schroetter, auch in den nicht okkupierten Provinzen die Polizeibehörden zu instruieren, vor allem den Verkauf der Schriften Cöllns und Buchholz’ zu unterbinden;514 schon kurz darauf ergingen entsprechende Verfügungen. Gegen Ende seiner Amtszeit hegte Stein überdies den Plan, den bekanntesten kritischen Publizisten den Prozess zu machen, doch blieb dieses Ansinnen – einmal abgesehen von Cölln – folgenlos.515 Es gab in den Monaten und Jahren nach dem Tilsiter Frieden auch Anstrengungen zur aktiven Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Verschiedene Autoren wurden gezielt in den Dienst der Reformpolitik genommen. Bekanntes Beispiel ist der schon erwähnte Gelehrte Theodor Schmalz, den die Besatzungsmacht wegen seiner „Adresse an die Deutschen“ kurzzeitig in Haft nahm.516 Zugleich wurden regierungsfreundliche Aufsätze und Artikel in verschiedenen Publikationsorganen veröffentlicht,517 ohne dass sich daraus aber je, wie behauptet wurde,518 eine koordinierte
513 Siehe Promemoria Sack, Berlin, 6. 2. 1808. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 341, Bl. 1 – 2, hier Bl. 1. Immediatbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 7. 2. 1808, Konzept, abgeg. 9.2. Friedensvollziehungskommission an die kgl. Sächsischen wirklichen Geheimen Räte zu Dresden, Berlin, 7. 2. 1808, Konzept, abgeg. 8.2. Büsching an die Friedensvollziehungskommission, Berlin, 29. 2. 1808, Ausf. Sack an Büsching, Berlin, 3. 3. 1808, Ausf. Kgl. Sächsisches Kirchen-Rats und Ober-Consistorium an die Friedensvollziehungskommission, Dresden, 18. 5. 1808, Ausf. Ebd., Bl. 7 – 9, 11, 24, 29 – 30, 53 – 54. Tagebuch Sack, (Berlin), 7. 4. 1809. Ebd., Rep. 77, Tit. 520, Nr. 18, Bl. 41 – 46v. Siehe zu Sacks Maßnahmen auch Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 196 f. 514 Siehe Stein an Provinzialminister Schroetter, Königsberg, 7. 10. 1809. Scheel, Reformministerium, Bd. 3, Nr. 273, S. 897 f., hier das Zitat S. 897. 515 Siehe zu Steins Umgang mit der öffentlichen Meinung Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 199 f. Schömig, Politik, S. 204 – 207. Münchow-Pohl, Reform, S. 401 – 403. 516 Siehe hierzu Kraus, Schmalz, S. 130 – 135. 517 Siehe beispielsweise „Offiziöser Zeitungsartikel“, Königsberg, 26. 9. 1808, Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 833, S. 876 – 878.
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publizistische Kampagne entwickelt hätte. Eine wirkliche Pressepolitik war zunächst nur in Ansätzen während des Krieges zu erkennen gewesen, als Hardenberg die in Königsberg ansässige Hartungsche Zeitung als Sprachrohr der preußischen Regierung zu gebrauchen versuchte.519 Hardenberg hatte klare Ziele verfolgt: „Mehr Aufregung von patriotischem Enthusiasmus (…); die öffentliche Meinung mehr ehren und bearbeiten, durch zweckmäßige Publicität, Nachrichten, Lob und Tadel“520. Unter Dohna und Altenstein änderte sich nur wenig an der meinungspolitischen Strategie der preußischen Regierung. Scharnhorsts Klagen gegenüber dem König, dass ein Mann fehle, „welcher die polizeiliche Aufsicht über alle Zeitungen und andern Schriften hat und zugleich die Bearbeitung der öffentlichen Meinung besorgt“521, blieb unbeachtet, doch geriet die öffentliche Meinung deshalb zu keiner Zeit aus dem Fokus der Regierungspolitik. So wurden alle Provinzialregierungen per Verordnung vom 7. August 1809 dazu angehalten, in ihren Berichten fortan die Rubrik „Öffentliche Stimmung im Inland“ aufzuführen; vorbildhaft dürfte hier Sack gewirkt haben, der in seinen „Zeitungsberichten“ und „Tagebüchern“ ausführliche Stimmungsbilder aus den besetzten Teilen des Landes und später aus seinem Oberpräsidialbezirk lieferte. Aufgrund der außenpolitischen Unruhen 1809 legte der neue Innenminister Dohna besonderen Wert auf die Unterdrückung von Schriften mit deutlich frankreichkritischen Akzenten,522 die Preußen gegenüber dem Kaiserreich kompromittieren konnten. Hinsichtlich der Publikationen, in denen Kritik an der politischen und sozialen Ordnung geübt wurde, scheinen hingegen keine neuen Maßnahmen eingeleitet worden zu sein.523 Wilhelm von Humboldt, der Anfang 1809 als oberster Zensor für literarische und politische Schriften eingesetzt wurde und der „vorzüglich streng gegen die sich in unendliche (!) vervielfältigenden Schmäh- und Schandschriften“ vorgehen sollte, handhabte das neue Amt vergleichsweise nachlässig. Scheinbar hatte er die neue Aufgabe nur ungern übernommen; gegenüber Sack versicherte er jedenfalls, die Zensur nicht selbst auszuüben, sondern nur die oberste
518 So behauptet in Otto Johnston, The Myth of a Nation. Literature and Politics in Prussia under Napoleon (Studies in German Literature, Linguistics and Culture, 32), Columbia 1989, passim. Siehe auch die Kritik an Johnston in Fehrenbach, Ancien Régime, S. 248. 519 Siehe Czygan, Geschichte, Bd. 1, S. 7 f. Das Zitat zit. n. ebd. S. 9. 520 „Denkschrift Hardenbergs an König Friedrich Wilhelm III.“, Memel, 3. 3. 1807. Ranke, Denkwürdigkeiten, Bd. 5, S. 454. 521 Scharnhorst an Friedrich Wilhelm III., Königsberg, 6. 4. 1809. Kunisch, Scharnhorst, Bd. 5, Nr. 355, S. 525. 522 Siehe u. a. Dohna an Sack, Königsberg, 12. 12. 1808, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 341, Bl. 93. 523 Zum Umgang der Regierung mit der öffentlichen Meinung während des Ministeriums Dohna-Altenstein siehe Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 202 – 209.
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Leitung innezuhaben und bat zugleich darum, anderslautende Verfügungen unverzüglich zurückzunehmen.524 Eine elaborierte Pressepolitik wurde erst gegen Ende des Jahres 1809 ins Auge gefasst. Im Sommer hatte sich der Publizist und politische Theoretiker Adam Müller mit Vorschlägen für ein offizielles Regierungs- (und Oppositions-)blatt direkt an den König und Staegemann gewandt. „Ein Staat wie der reorganisirte Preussische muss auch sprechen“, erklärte er, „die Gesichtspunkte sowohl für die Beurtheilung der neuen Organisation, als für die ausserordentlichen Maasregeln (…) müssen populär ausgedrückt, die Opposition (…) nicht niedergeschlagen, aber geleitet, noch besser vorweggenommen werden“.525 In seinem Memoire an den König gestand Müller, dass die Öffentlichkeit zu einem bedeutenden Element der politischen Entscheidungsfindung geworden sei und allmählich faktisch die Autonomie des monarchischen Souveräns einschränke. Zwar sei es „unter der Würde der Souverainität, ihre Befehle und Beschlüsse zu motivieren“, meinte Müller, „nichtsdestoweniger verlangt der Zeitgeist und eine immer weiter sich verbreitende politische Geschwätzigkeit der Nationen (…), die Motive der Regierung zu wissen: jeder einzelne Untertan möchte über die Maßregeln der Regierungen befragt werden; jeder glaubt, der Regierung mit seinen individuellen Ansichten und Erfahrungen dienen zu können“ – prägnanter ließ sich das Wechselverhältnis von Politisierung und Partizipationsverlangen kaum beschreiben.526 Friedrich Wilhelm nahm die Anregungen Müllers, die sich mit früheren Überlegungen Sacks deckten,527 sogleich auf und informierte Dohna im Oktober, dass er ein Blatt zur Veröffentlichung von Gesetzen und zur Information der Bevölkerung über die Absichten der Regierung wünsche. Ausgehend von den Ausführungen Müllers sollte sich Dohna mit der Gesetzgebungskommission sowie mit Beyme, Altenstein und Goltz über die Form eines solchen Presseorgans beraten.528 Offenbar verliefen diese Beratungen aber, wenn sie denn überhaupt stattgefunden haben, ohne greifbare Ergebnisse, denn vorerst musste die Regierung ohne ein entsprechendes Leitmedium auskommen. Erst ab 1810 gab Hardenberg die „Gesetzessammlung für die Königlich Preußischen Staaten“ heraus, die zwar noch keine Staatszeitung war, 524 Siehe Humboldt an Sack, Berlin, 6.3. und 10. 3. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 72, Nr. 341, Bl. 112, 115 – 115v, hier das Zitat Bl. 112. Gisch, „Preßfreiheit“, S. 62. 525 Siehe Müller an Staegemann, Berlin, 29. 8. 1809. Rühl, Briefe, Bd. 1, Nr. 70, S. 116 – 119, hier das Zitat S. 118. 526 Siehe „An den König eingereichtes Memoire der Souveränität von Hofrat Adam Müller“, s. l., (22. 9. 1809). Scheel, Interimsministerium, Nr. 150, S. 409 – 415, hier das Zitat S. 409 f. Zu Müller und den Staatszeitungsplänen siehe auch Carl Schmitt, Politische Romantik, 6. Aufl., Berlin 1998, S. 51 f. 527 Siehe Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 9. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 50, S. 133. 528 Siehe Kabinettsorder an Dohna, Königsberg, 25. 10. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 164, S. 463 f. Auch Dohna an Goltz, Altenstein, Beyme, Berlin, 1. 1. 1810. Ebd., Nr. 184, S. 504 – 506.
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aber immerhin die öffentlichkeitswirksame Publikation von Gesetzen ermöglichte.529 Unter Hardenberg wurden die Pressepolitik und die staatliche Öffentlichkeitsarbeit weiter ausgebaut und nahmen institutionalisierte Formen an wie sie in anderen deutschen Staaten schon länger bestanden. Während schon unter der Regierung Dohna-Altenstein die Zensur im Innen- und im Außenministerium zentralisiert wurde, sorgte Hardenberg schließlich für eine besonders aufmerksame Kontrolle der Presse, was angesichts der außenpolitischen Abhängigkeit und der sich verstärkenden Opposition auch geraten scheinen musste.530 Diese Entwicklungen setzten auch Heinrich von Kleist unter Druck, in dessen „Berliner Abendblättern“ reformkritische Beiträge Adam Müllers erschienen waren. Zwar hatte Kleist sich schließlich dazu bereit erklärt, fortan ganz auf den reformpolitischen Kurs Hardenbergs einzuschwenken, doch verhinderte dies nicht das baldige Ende seines Blattes.531 Wie Kleist hatten sich auch andere Autoren, Gelehrte und Schriftsteller freiwillig und nicht selten aus karrieristischen Motiven den Positionen der Regierung angenähert. So auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der sich schon 1806 Hardenberg angedient und in Königsberg kurzzeitig die Zensur der Hartungschen Zeitung übernommen hatte. In seinen „Reden an die deutsche Nation“, die er im besetzten Berlin hielt, geißelte er den Egoismus und verlangte die Verschmelzung des Individuums mit dem Kollektiv der Nation – Standpunkte für die einige Reformbeamte, darunter Stein, Sack und Altenstein, sehr empfänglich waren.532 Ein weiterer Vertreter der Schriftsteller und Gelehrten, die der Regierung nahestanden, war der Theologe Friedrich Schleiermacher. In seinen Predigten beschwor er die Treue zur Dynastie der Hohenzollern und geißelte ständische Sonderinteressen. Während der Vorbereitungen zum „Volkskrieg“ unterhielt er überdies Kontakte zu konspirativen Gruppen und diente ihnen als Verbindungsmann nach Königsberg.533 529 Siehe hierzu und zur weiteren inneradministrativen Debatte Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 215 – 219. 530 Siehe ebd., S. 220 – 229, 245 – 248, 251 – 265, 372 ff. Schömig, Öffentlichkeit, S. 90, 98. Siehe zur Pressepolitik in Bayern Demel, Staatsabsolutismus, S. 147. 531 Siehe hierzu Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 233 – 245. 532 Zu Fichte und dessen Wirkung siehe u. a. Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 9. 2. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 50, S. 132. Eugene N. Anderson, Die Wirkung der Reden Fichtes, in: FBPG 48 (1936), S. 395 – 398, hier passim. Ibbeken, Preußen, S. 174 – 211. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 273. Kurt v. Raumer (Bearb.), Die Autobiographie des Freiherrn vom Stein, 3. Aufl., Köln 1960, S. 37. 533 Siehe hierzu Julius Smend, Die politische Predigt Schleiermachers von 1806 bis 1808. Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelm-Universität Strassburg, Straßburg 1906, passim. Siehe exemplarisch die noch in Halle am 24. 8. 1806 gehaltene Predigt Schleiermachers in Spies, Erhebung, S. 18 f. Auch Schleiermacher an Brinkmann, Berlin, 24. 5. 1808. Wilhelm Dilthey (Hrsg.), Aus Schleiermacher’s Leben in Briefen, 4 Bde., Berlin 1858 – 1863, hier Bd. 4, S. 157. Dort hieß es etwa: „Leider kann ich nichts thun für die Regeneration als predigen.“ Gleiches tat der Geistliche Rulemann Friedrich Eylert. Siehe Rulemann Friedrich Eylert, Die
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Um Meinungen, welche die politische Ordnung und das Entscheidungsprimat der Staatsführung grundsätzlich in Frage stellten, zu beobachten und potentiell auch unterdrücken zu können und um die Autorität der souveränen Staatsgewalt zu schützen, griff man in Preußen nicht allein auf die Zensur und Publizistik zurück. Nicht zufällig wurde 1809 damit begonnen, eine staatliche Geheimpolizei aufzubauen, die zwar zunächst vorrangig der Spionageabwehr dienen sollte, sich aber nach und nach zu einem politischen Überwachungsinstrument entwickelte. Dohna nahm sich in seinem „Entwurf einer Organisation der geheimen Polizei“ ausdrücklich die französische Staatspolizei zum Vorbild, die unter der Leitung Joseph Fouchés über die Grenzen Frankreichs hinaus gefürchtet war; allerdings wollte Dohna im Vergleich zum französischen Pendant den Wirkungsradius deutlich enger gezogen sehen. Doch sollte auch die preußische „geheime Polizei“ zugleich „politisch und polizeilich“ sein. Als Aufgabenkreis der neuen Polizeibehörde wurde die Aufrechterhaltung der äußeren wie inneren Sicherheit bestimmt, wozu eine Sektion des „öffentlichen Sicherheitsbüros“ neben auswärtigen Gesandten und „Fremde[n] geringer Klasse“ auch „hiesige Einwohner welche einer Kontrolle bedürfen“ zu überwachen hatte. Außerdem sah der Plan vor, Informationen über die „Stimmung und Handlung des unteren Publikums einzuziehen“ sowie gegebenenfalls „auch in Rücksicht der unteren Stände politisch [zu] wirken“. Um an Informationen zu gelangen, müsse man sich „patriotischer Männer aller Schichten“, also Spitzeln, und aller notwendigen Mittel bedienen, und „im äußersten Fall darf der geheimen Policei selbst eine künstlich angelegte Beraubung nicht versagt werden“, betonte der Innenminister.534 Dohna entwarf damit Mitte 1809 zunächst als Reaktion auf das weitverzweigte französische Spionagenetzwerk ein Konzept zum Aufbau einer modernen Geheimpolizei in Preußen.535 Eine vergleichbare Einrichtung hatte offenbar auch schon früher unter der Führung des Kabinettsministeriums („Außenministeriums“) bestanden, darauf deuten zumindest die Ausführungen Dohnas hin, doch schien deren Arbeit noch wenig koordiniert gewesen zu sein. Nach 1807 lösten sich offenbar im Denken der Zeitgenossen zunehmend die Grenzen zwischen äußerem Schutz und weise Benutzung des Unglücks. Predigten, gehalten im Jahre 1809 und 1810 in der Hof- und Garnisons-Kirche zu Potsdam, Berlin 1810, S. 47 – 62 und passim. Über die Wirkung der Predigten Schleiermachers und anderer wurde berichtet im Zeitungsbericht Friedensvollziehungskommission, Berlin, 25. 1. 1808. Granier, Franzosenzeit, Nr. 44, S. 114. 534 Siehe Entwurf einer Organisation der geheimen Polizei (Dohna), (Königsberg), 10. 5. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 29, Bl. 2 – 9, hier die Zitate Bl. 4, 7, 8. Seltsamerweise distanzierte sich Dohna später wieder in dem Sinne vom französischen Vorbild, als dass nicht die Überwachung unbescholtener Bürger, wohl aber von „unruhige[n] Volksredner[n], zweideutige[n] Schrifsteller[n], Spieler[n] und ähnlichen Menschen“ durchgeführt werden sollte. Siehe auch Walter Obenaus, Die Entwicklung der preussischen Sicherheitspolizei bis zum Ende der Reaktionszeit, Berlin 1940, S. 92 f., hier das Zitat. 535 Zu den Grundzügen der Entstehung einer Geheimpolizei in Preußen siehe auch Wolfram Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung“. Die Anfänge der politischen Polizei 1806 – 1866 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 14), Tübingen 1985, S. 61 – 65. Obenaus, Entwicklung, S. 92 – 94.
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innerer Sicherheit auf. Als Folge der französischen Revolution rückten überdies verstärkt die nicht gebildeten Bevölkerungsgruppen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es darf als deutliche Reaktion auf die soziale Verbreiterung des politischen Interesses gewertet werden, dass Dohna explizit auch diese „unteren Schichten“ beobachten lassen wollte. Die Aktenüberlieferung lässt darauf schließen, dass schon einen Monat vor Dohnas Entwurf erste Maßnahmen zum Aufbau der neuen Polizei eingeleitet wurden, jedenfalls berichtete der Polizeipräsident von Berlin Justus Gruner am 2. April 1809, die ersten 3000 Taler für diesen Zweck erhalten zu haben;536 auch in Breslau wurden in etwa zeitgleich entsprechende polizeiliche Strukturen aufgebaut.537 Als ein Hauptgegenstand der Tätigkeit der Geheimpolizei galt von Anfang an auch die Beobachtung solcher Personen, die sich während der Okkupation „mehr als zweideutig benommen haben“, wie es in einer Stellungnahme des Innenministeriums hieß, die auf den 30. April datiert. Es wurde angefragt, ob diese Einwohner nicht im Falle eines erneuten Krieges unverzüglich festzunehmen und auf die Festung Kolberg zu verbringen seien, selbst wenn von ihnen keine unmittelbare Gefahr ausgehe.538 Dohna war aber nicht bereit dazu, gewisse rechtsstaatliche Standards preiszugeben. Bereits sein Mai-Entwurf sah vor, verdächtige Personen nach einem ersten Verhör einem Richter vorzuführen – allerdings nur einem solchen, der die „höchsten politischen und polizeilichen Zwecke des Staates mit diesen (der Anwendung der Gesetze; S.P.) zu vereinigen weiß“539. Im September 1809 entfaltete sich eine rege Auseinandersetzung zwischen ihm und Justus Gruner über die Kompetenzen der neuen Polizeibehörde. Gruner, der bekannte, er „hasse jede Spur von Desorganisation und Nichtachtung der geheiligten Gewalt des Thrones“, wurde zusammen mit dem Polizeipräsidium von Berlin auch die oberste Leitung der Geheimpolizei übertragen. In dieser Funktion unterstand er unmittelbar dem Innenminister, dem er nun vorschlug, seine Behörde möglichst unabhängig von der Justiz zu machen; immerhin, so sein Argument, werde eine gute geheime Polizei keine Schritte unternehmen, wenn sie von der Richtigkeit ihres Vorgehens nicht überzeugt sei. Es bedürfe mithin nicht der Billigung ihres Handelns durch die Justiz. „Die geheime Polizei ist ein Übel, aber ein nothwendiges. Sie wacht über das Ganze und straft
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Siehe Gruner an Dohna, Berlin, 2. 4. 1809, Ausf. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 516, Nr. 1, Bl. 9v–10. 537 Siehe Merkel an Dohna, s. l., 23. 4. 1809. Linke, Merckel, S. 107. Auch Erler, Schlesien, S. 88 f. 538 Siehe „Stellungnahme des Ministeriums des Innern zur politischen Lage“, Königsberg, 30. 4. 1809. Scheel, Interimsministerium, Nr. 98, S. 249 – 251, hier das Zitat S. 250. Auch Dohna an Merckel, Königsberg, 2.7. und 5. 7. 1809. Linke, Merckel, S. 122, 132. 539 Entwurf einer Organisation der geheimen Polizei (Dohna), (Königsberg), 10. 5. 1809. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 29, Bl. 9.
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Einzelne um des Ganzen willen. Deshalb ist sie eben nicht ungerecht“, erklärte Gruner. „Auch der allbarmherzige Gott straft Einzelne zum Heil Aller“.540 Diese Worte, die an die Totalitätsansprüche eines allgegenwärtigen Überwachungsstaats späterer Zeiten erinnern, stießen bei Dohna allerdings auf Ablehnung. „[D]as Schicksal schreiben und dem Allmächtigen und Allwissenden nachäffen wollen bei aller menschlichen Leidenschaft und Beschränktheit“, könne nach Dohnas Überzeugung nie zu etwas Gutem führen; echte Ehrfurcht im Volk würden stattdessen nur Religiosität, eine weise Staatsverwaltung und eine unparteiische Rechtsprechung bewirken.541 Gruner habe sich vor allem darauf zu beschränken, fremde Gesandte zu beobachten und nur in den seltensten Fällen das „Publikum“ zu überwachen. Dohna betonte erneut, dass das rechtstaatliche Verfahren nur in Ausnahmefällen auszusetzen sei und in der Regel die Untersuchungen der Geheimpolizei von Richtern, über „deren Unbefangenheit (…) und patriotischen Eifer durchaus kein Zweifel obwaltet“, genehmigt werden müsse.542 Eine Tendenz zur Überwachung der eigenen Bevölkerung war der geheimen Polizei, wie Dohnas eigener Entwurf belegte, aber von Anfang an beigegeben. In Berlin wurden nach dem Abzug der französischen Armee gleich mehrere Personen inhaftiert, die zu eng mit den Besatzern kooperiert hatten.543 Voller Entsetzen berichtete der Professor Johann Kiesewetter im Juni 1809, dass er auf Befehl Gruners wegen angeblicher negativer Äußerungen über die Regierung, den König und die Dynastie observiert werde.544 Die Haltlosigkeit dieser Vorwürfe belegt die Nervosität der preußischen Führung, aber auch die Entschlossenheit Gruners, der in seinen Polizeirapporten ausführlich über die öffentliche Stimmung sowie Gerüchte und deren Urheber berichtete.545 1810 warnte sogar das Gesamtministerium den König, dass man, je schwankender die politische Lage sei, desto mehr auf die höchste Wirksamkeit der Polizei zu achten habe, „da sich bei einem solchen System leicht hier und da ein Geist bildet, der mit
540 Siehe Gruner an Dohna, Berlin, 19. 9. 1809, Ausf. Ebd., Tit. 516, Nr. 2, Bl. 62 – 65v, hier das Zitat Bl. 66. 541 Siehe Votum Dohnas zum Schreiben Gruners vom 19. 9. 1809. Ebd., Bl. 62 – 65v, hier das Zitat Bl. 66. 542 Siehe Dohna an Gruner, Königsberg, 26. 9. 1809, Abschrift. Ebd., Bl. 68 – 69v, hier die Zitate Bl. 68v, 69. 543 Siehe hierzu „Schreiben aus Berlin“ (Autor unbek.), Berlin, 8.4.(1809). Ebd., Nr. 1, Bl. 20. Sack an Dohna, Berlin, 8. 4. 1809. Granier, Franzosenzeit, Nr. 173, S. 396. Zu den Inhaftierten zählte auch der ehem. Kriegsrat im Generalpostamt Amelang; dessen Verhaftung führte zu Debatten über die Rechtmäßigkeit von Gruners Vorgehen. Am Ende wurde Amelang begnadigt. Siehe hierzu GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 55953. 544 Siehe Kiesewetter an Staegemann, Berlin, 27. 6. 1809. Rühl, Briefe, Bd. 1, Nr. 69, S. 114 – 116. 545 Siehe u. a. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 516, Nr. 2.
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der wahren Absicht der Regierung im Widerspruch steht“.546 Noch im selben Jahr nahm Dohna seinen Abschied; dies und der Beginn der Staatskanzlerschaft Hardenbergs markierten eine neue Stufe in der Geschichte der geheimen Polizei Preußens hin zu einer Einrichtung der inneren staatlich-politischen Sicherheit.547 Die gesamte geheime Polizei unterstand fortan unmittelbar Hardenberg, der deutlich machte, dass zur „Höheren Polizei“, wie die geheime Polizei fortan auch genannt wurde, alles gehöre, „was unmittelbar die äußere und innere Sicherheit des Staats und der Krone Sr. Majestät des Königs, so wie Höchstdero Hauses betrifft“.548 Alle relevanten Berichte, deren Hauptaugenmerk auf die „öffentliche Stimmung, Gerüchte, Vorfallenheiten, verdächtige Anzeigen und Handlungen in- und ausländischer Individuen“ gelegt werden sollte, gingen nun unmittelbar an den Staatskanzler.549 Hardenberg war zudem befugt, direkt die Beschlagnahmung verdächtiger Gegenstände und die Verhaftung von Personen anzuordnen und sich hierzu jeder Militärund Zivilbehörde zu bedienen. Gruner wurde von Hardenberg in seiner Position bestätigt und zum Chef der höheren Polizei ernannt. Nun, da Hardenberg und nicht mehr Dohna sein unmittelbarer Vorgesetzter war, konnte er seine Behörde nach den eigenen Plänen organisieren. Die Mittel, die ihm dazu zur Verfügung standen, blieben jedoch gering. So sehr Hardenberg und Gruner auch am Aufbau der Geheimpolizei arbeiteten, war diese doch weit davon entfernt, eine allmächtige Behörde nach französischem Muster zu sein. Die Einrichtung der Polizei ist nichtsdestotrotz ein eindrucksvoller Beleg für den Wandel des politischen Klimas in Preußen und ein Zeichen dafür, inwieweit die Politisierung der Bevölkerung zunehmend als Gefahr für den Herrschaftsanspruch von König und Regierung gesehen wurde. Die Ansätze einer systematischen Überwachung aller Bevölkerungsgruppen war in dieser Form immerhin ein neues Phänomen in der preußischen Geschichte. Die höhere Polizei beziehungsweise ihr Leiter wurden bald selbst zu einem Problem, denn Gruner begann zunehmend seine Stellung für seine politischen und persönlichen Zwecke zu instrumentalisieren. Nach seinem Rücktritt 1812 versuchte er, sein Wissen und seine Kontakte zu nationalgesonnenen Gruppierungen und Personen zu nutzen, um von Prag aus ein Spionage- und Widerstandsnetzwerk in Deutschland aufzubauen. Diese Entwicklung konnte zu einer Bedrohung für Preußen werden, das zu diesem Zeitpunkt noch durch ein erzwungenes Bündnis mit Frankreich verbunden war. Hardenberg veranlasste daher die Verhaftung Gruners durch österreichische Behörden. Die Leitung der höheren Polizei hatte zwischenzeitlich Fürst Wilhelm Ludwig zu Sayn-Wittgenstein beziehungsweise dessen Stellvertreter, 546 „Immediatbericht des Ministeriums“, Berlin, 4. 2. 1809. Kehr, Finanzpolitik, Nr. 28, S. 146, hier auch das Zitat. 547 Siehe zu den Grundtendenzen in der Entwicklung der Geheimpolizei nach 1810 Obenaus, Entwicklung, S. 94 – 99. Siemann, Deutschlands Ruhe, S. 65 – 67. 548 Hardenberg an v. Schlechtendahl, Berlin, 20. 4. 1811, Abschrift. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 520, Nr. 29, die Zitate Bl. 49. 549 Siehe Kabinettsorder an Sack, Berlin, 28. 1. 1811, Ausf. Ebd., Bl. 14 – 14v, hier das Zitat Bl. 14.
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der Staatsrat Friedrich v. Bülow, übernommen, der den patriotischen Bünden, denen Gruner nahestand, entgegenarbeitete.550 Als eine Frühform und einen Vorläufer solcher patriotisch-nationaler Organisationen, wie sie von Gruner unterstützt wurden, kann die „Gesellschaft zur Uebung öffentlicher Tugend oder der sittlich-wissenschaftliche Verein“ gelten, der im April 1808 in Königsberg gegründet wurde und auch als „Tugendbund“ bekannt geworden ist. Die Ziel- und Zusammensetzung des Vereins waren zutiefst heterogen. Aus dem Königsberger Freimaurertum kommend, standen im Zentrum von dessen Aktivitäten die Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne eines nationalpädagogischen Programms. Angestrebt wurde die Förderung von Patriotismus, der Anhänglichkeit an die Krone und des Humanismus, wozu sich der „Tugendverein (…) durch rechtliche Mittel Einfluß auf die Behörden des Geschmacks, der Erziehung, der öffentlichen Belustigung“551 verschaffen wollte, wie es in den Statuten hieß. Der Bund wurde in mehrere Sektionen untergliedert, von denen eine für „Polizei und Ausbreitung“ zuständig war und die Staatsgewalt bei Untersuchungen gegen Verbrecher unterstützen und verdächtige Personen überwachen sollte. Um ein Verbrechen zu verhindern, sah die Satzung vor, dass der Bund von der Pflicht zur Anzeige bei der Obrigkeit absehen könne. Zwar verzichtete der Tugendbund ausdrücklich auf die unmittelbare Einwirkung in die Bereiche der Politik und der staatlichen Verfassung, doch stellte die eigenmächtige oder zumindest konkurrierende Ausübung der Polizeigewalt ebenso wie die Einmischung in die Verwaltung und die erziehungspolitischen Absichten das Monopol der Staatsgewalt geradezu zwangsläufig in Frage. Der Tugendbund war jedenfalls alles andere als unpolitisch – im Gegenteil er war ein „eminent politischer Bund“.552 Die Entstehung des Tugendbundes und anderer Verbindungen, Zirkel und Geheimbünde war eine weitere Erscheinung der vielschichtigen Politisierung der preußischen Gesellschaft.553 Solche Vereinigungen waren oftmals Begegnungsstätten zwischen Adel und Bürgertum; ihre kohäsive Kraft wurde über ein gemeinsames politisches Ziel, sei es die sittliche Besserung der Bevölkerung oder die Befreiung 550 Siehe hierzu Obenaus, Entwicklung, S. 106 ff. Siemann, Deutschlands Ruhe, S. 67 – 71. Hofmeister-Hunger, Pressepolitik, S. 248 – 250. 551 August Lehmann, Der Tugendbund. Aus den hinterlassenen Papieren des Mitstifters Professor Dr. Hans Friedrich Gottlieb Lehmann, Berlin 1867, S. 51. 552 Zur Geschichte des Tugendbundes siehe u. a. Kraus, Schmalz, S. 129 f. Hier auch eine Auflistung der vorhandenen Literatur (hier Fn. 102). Briese, Tugendbund, passim. August Fournier, Zur Geschichte des Tugendbundes, in: Ders., Historische Studien und Skizzen, Prag/ Leipzig 1885, S. 301 – 330, hier passim, hier das Zitat S. 308. Lehmann, Tugendbund, passim. Eine umfassende und zuverlässige wissenschaftliche Monographie zum Tugendbund existiert bislang nicht. 553 Siehe hierzu Otto Dann, Geheime Organisierung und politisches Engagement im deutschen Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts. Der Tugendbund-Streit in Preußen, in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg 1979, S. 399 – 428, hier S. 403, wo von einer „Welle von geheimer Vereinsbildung mit unverkennbar politischen Motiven“ die Rede ist.
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Deutschlands von der französischen Suprematie, erreicht. Auch wenn die Mitglieder vorwiegend dem Adel, dem Bürger- und Beamtentum entstammten, waren die Bemühungen des Tugendbunds doch anders als noch die Aktivitäten der Bünde und Orden des 18. Jahrhunderts explizit an die gesamte Gesellschaft adressiert.554 Eine solche inhaltliche Ausrichtung durchbrach soziale Schranken ebenso wie den politischen Alleinentscheidungs- und -gestaltungsanspruch des Souveräns und seiner Regierung.555 Die Bünde und Vereine, die sich nach dem Tilsiter Frieden in Preußen plötzlich ausbreiteten, waren selbst dann oftmals Teil des allgemeinen politischen Partizipationsstrebens,556 wenn sie wie der Tugendbund ausdrücklich auf eine unmittelbare Beeinflussung der Regierungspolitik verzichteten; ihre Zielsetzung war politisch und damit per se partizipativ. Dem ungeachtet genehmigte der König im Juni 1808 den Tugendbund, wenn auch unter der Prämisse, dass sich die Mitglieder einer Einmischung in die Politik zu enthalten und die bestehenden Gesetze zu achten hatten.557 Stein betrachtete die offizielle Anerkennung des Bundes mit großer Skepsis; seine strenge Orientierung am Primat des Staats und der Souveränität ließ die Existenz eines solchen außerstaatlichen Machtfaktors eigentlich nicht zu. Folgerichtig erklärte er, dass er die Absicht des Bundes, Anstalten für sportliche Übungen der Bürger einrichten zu wollen, für eine „anmaßende Einmischung in die Staatsverwaltung“ halte. Genauso scharf verurteilte Stein die implizite Billigung von Privatjustiz durch den Tugendbund. Stein zufolge hätten die Grundartikel der Satzung geändert werden müssen, wenn die Forderung des Königs, dass sich der Bund aller politischen Aktivitäten zu enthalten habe, ernst genommen worden wäre. Eine solche Abänderung der Statuten forderte Stein jetzt, Ende September 1808, unverzüglich.558 In seiner derzeitigen Form würde der Bund „früher oder später statum in statu (…) bilden“, fügte der Assessor Koppe den Ausführungen Steins hinzu.559 Er wiederholte damit nahezu wortgleich die Kritik Sacks an der ständischen Komiteeverwaltung, mit der dieser den Anspruch des Staats, alleiniger politischer Herrschaftsträger im Innern zu sein, 554
Siehe hierzu Otto Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt (Industrielle Welt, Sonderband), Stuttgart 1976, S. 197 – 232, hier S. 217 – 219. Ders., Organisierung, S. 402. 555 Siehe hierzu auch Briese, Tugendbund, S. 591 f. Speziell zum Konflikt mit dem Erziehungsanspruch des Staats Münchow-Pohl, Reform, S. 404. Allgemein zur Bedrohung der fürstlichen Souveränität durch Geheimbünde siehe Koselleck, Kritik, S. 106 – 108. 556 Siehe auch Dann, Organisierung, S. 400. 557 Siehe Kabinettsdekret an Professor Lehmann, Major v. Both, Kriegsrat Velhagen, Rektor Chifflard, Assessor Bardeleben, Königsberg, 30. 6. 1808. Hubatsch, Briefe, Bd. 2/2, Nr. 733, S. 771. 558 Siehe Stein an Grolmann, Mosqua, Both, Belhagen, Deez, Krug, Königsberg, 28. 9. 1808. Lehmann, Tugendbund, S. 105 f. Siehe zu Steins Stellung zum Tugendbund Pertz, Stein, Bd. 2, S. 193 – 195. 559 Siehe Bemerkungen des Assessors Koppe zu Steins Erlass vom 28. 9. 1808. Lehmann, Tugendbund, S. 106 – 122, hier das Zitat S. 106.
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begründet hatte. Anscheinend hatte auch Koppe eine klare Vorstellung vom „Zuhöchstsein“ der Souveränität der Krone; jedenfalls empfand er die Ausübung polizeilicher Rechte durch den Bund und dessen Absicht, Einfluss auf die Geistlichkeit gewinnen zu wollen, ausdrücklich als eine Anmaßung von Hoheitsrechten. Wiederholt wurde dem Tugendbund vorgeworfen, ein konspiratives Netzwerk zur Vorbereitung einer Erhebung gegen Frankreich zu sein. Bis heute ist nicht vollkommen klar, inwieweit dies den Tatsachen entsprach. Das Hauptbetätigungsfeld des Bundes lag sicherlich auf sozialem und pädagogischem Gebiet. Allerdings existierte von Beginn an auch eine Sektion, die sich mit militärischen Angelegenheiten befasste, und deren Direktor Hermann v. Boyen war, den Scharnhorst wohl bewusst zur Überwachung des Bundes zu einer Mitgliedschaft angeregt hatte.560 Es gab durchaus Sektions- und Bundesmitglieder (insbesondere in Schlesien), die insurrektionelle Absichten hegten, aber bis heute – und den Zeitgenossen dürfte es ganz ähnlich gegangen sein – ist zweifelhaft, welche militärisch-subversiven Zirkel wirklich eindeutig dem Tugendbund zuzurechnen sind. Manche konspirative „Zelle“ galt wohl zu Unrecht als Teil des Bundes, was dazu führte, dass dessen militärische Aktivitäten deutlich überschätzt wurden.561 So ist etwa auch unklar, ob Gerlach in einer Denkschrift aus dem Dezember 1808 wirklich den Tugendbund meinte, als er davor warnte, dass es eine Verbindung gebe, die überall zu dem Zweck, einen Volksaufstand entfesseln zu wollen, um Mitglieder werbe und Preußen „durch den Umsturz aller bürgerlichen Ordnung in die Übel stürzen [wird], in die Frankreich durch die Revolution geraten ist“.562 Der bloße Verdacht aber, der durch französische Warnungen weiter genährt wurde,563 dass es sich bei dem Tugendbund um eine Art paramilitärische Verbindung handelte, genügte um ihn spätestens nach dem Ausscheiden Steins bei der staatlichen Führung Preußens weiter zu diskreditieren. Wohl auch vor diesem Hintergrund wurde am 16. Dezember 1808 das „Publikandum gegen Geheime Gesellschaften und Verbindungen“ erlassen, mit dem unmittelbar nach dem Abzug der Franzosen ein ähnlich lautendes Edikt aus dem Jahr 1798 erneuert wurde, das ausgenommen der drei Mutterlogen der Freimaurer und deren Filiationen sämtliche Geheimverbindung verboten hatte.564 In der Praxis war das Gesetz aber keineswegs mit aller Strenge befolgt worden. Das neuerliche Publikandum erinnerte deshalb noch einmal daran, dass es die „unerläßliche Pflicht eines jeden Staatsbürgers [ist], im Vertrauen auf die stets rege Fürsorge seines Landesherrn, geruhig und treu seinen Beruf zu üben und 560
Siehe Meinecke, Boyen, S. 200 – 204. Siehe hierzu Briese, Tugendbund, S. 589 – 591. 562 Siehe Denkschrift Gerlach, Berlin, 6. 12. 1808. Schoeps, Not, S. 363 f., hier das Zitat S. 364. Der Herausgeber vermutete in Fn. 71, Gerlach habe sich auf den Tugendbund bezogen. 563 Frankreich beobachtete den Bund sehr genau. Siehe u. a. Clérémbault an Napoleon, Königsberg, 30. 5. 1809. St. Marsan an Champagny, Berlin, 6. 6. 1809. Stern, Abhandlungen, S. 285, 290 f. 564 Zur Gesetzgebung hinsichtlich geheimer Gesellschaften in Preußen vor 1806 siehe Dann, Organisierung, S. 403. 561
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sich nicht weiter in die öffentlichen Angelegenheiten und Verhältnisse zu mischen, als Verfassung und Landesgesetze ihm solches gestatten“.565 Noch bevor das Publikandum jeder Verbindung vorschrieb, die eigenen Statuten zu melden, hatte der Tugendbund seine Satzungen den Behörden zur Kenntnis gegeben. Von Anfang an waren seine Mitglieder mehrheitlich bemüht, in Übereinstimmung mit der Regierung zu handeln und demnach nie dezidiert oppositionell, selbst wenn die Frage des „Volkskriegs“ ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial bot. Im Januar 1809 war der Bund auch der Forderung Steins nach einer Neuformulierung seiner Satzung nachgekommen, ohne dass aber, trotz der mehrfachen Bitten, eine Genehmigung durch das Innenministerium erfolgt wäre. Der Tugendbund bestand zu diesem Zeitpunkt aus rund 700 Mitgliedern, die sich, in 25 Kammern organisiert, über die Monarchie verteilten. Die Mitgliederzahl weckte zunehmend Bedenken bei Dohna und Beyme, die eine besondere Gefahr in der sozialegalitären Grundausrichtung des Vereins erkannten, der sich nicht „blos auf die gebildeten Staatsbürger [beschränkt], sondern auch die Ungebildeten nicht [verschmäht]“. Innenminister und Großkanzler waren überdies überzeugt: „Die censorische und richterliche Gewalt des Vereins über seine Mitglieder muß in der höchstmöglichsten Ausdehnung des Vereins alle andere Staatsgewalt paralysieren.“ Die Kritik gipfelte in der Aufforderung an den König, endlich die Auflösung des Tugendbundes zu verfügen.566 Obwohl Friedrich Wilhelm auf dieses Ansinnen zunächst nicht weiter einging, wurde die Lage des Bundes zunehmend schwieriger. Das Jahr 1809 und allen voran die Desertion des Bataillons Schills hatten deutlich gemacht, dass sich die außerstaatlichen Strukturen und Verbindungen zwischen Offizieren, Beamten und Zivilisten zu einer ernstzunehmenden Bedrohung für die souveräne Entscheidungshoheit des Königs und den Alleingeltungsanspruch der Staatsgewalt entwickeln konnten. Aus offener Ablehnung des Vorgehens Schills oder aus Sorge zu dessen Unterstützern gezählt zu werden, distanzierten sich immer mehr Mitglieder vom Tugendbund. Der Auflösung des Bundes, die Friedrich Wilhelm Ende 1809 dann doch anordnete, widersetzte sich schließlich niemand mehr. Das Ende des Tugendbundes bedeutete keineswegs das Ende des Geheimbundund Vereinswesens, das nach 1807 in Preußen einen deutlichen Schub erfuhr. Noch um 1808 hatten sich beispielsweise um den Verleger Georg Andreas Reimer und den Berliner Stadtkommandanten Ludwig v. Chasôt verschiedene politische Kreise und Zirkel gebildet, über deren Zweck und Zusammensetzung nur wenig bekannt ist. Auch zu diesen Verbindungen zählten wohl Personen, die eigenmächtige militärische Aktionen gegen die französische Armee erwogen hatten, ohne diese Überle565 Siehe „Publikandum gegen geheime Gesellschaften und Verbindungen“, 16. 12. 1808. NCC, Bd. 12/2, Nr. 58, S. 527 f., hier das Zitat S. 528. 566 Zum Tugendbund speziell während des Ministeriums Dohna-Altenstein siehe Fournier, Geschichte, S. 318 – 326, hier die Zitate S. 320, 322. Lehmann, Tugendbund, S. 37 – 39. Auch „Dohna an die Vorsteher des Tugendvereins“, Königsberg, 4. 1. 1809. Ebd., S. 115 f.
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E. Souveränität und Staatlichkeit im Wandel
gungen aber zur Ausführung gebracht zu haben. Ihnen fehlte ein wirklicher institutioneller Rahmen, was später auch die Untersuchungen während der „Demagogenverfolgung“ ergaben.567 Eine unmittelbar (para-)militärische Ausrichtung hatte nachweislich die sogenannte Fechtbodengesellschaft, die zwischen 1808 und 1812 existierte und 1817 kurzzeitig noch einmal in Erscheinung trat. Beeinflusst von den nationalpädagogischen Überzeugungen Fichtes setzte sich ihr Initiator Friedrich Friesen die körperliche Ertüchtigung aller wehrfähigen Männer für den künftigen Kampf gegen Frankreich zum Ziel. Obschon die Gesellschaft durchaus einen gewissen geheimbündischen Charakter besaß, wurde doch regelmäßig über die Mitglieder an die Polizeibehörden berichtet. Die Fechtbodengesellschaft ist hier vor allem erwähnenswert, weil sie eine Art Prototyp späterer, dezidiert nationalorientierter Vereine und Bünde darstellt, die wie der Deutsche Bund den bestehenden staatlich-politischen Ordnungsrahmen hinterfragten. Die Tendenz zum Oppositionellen, die diese Verbindungen hatten, verdeutlicht gerade der Deutsche Bund, zu dessen Gründern neben Friesen auch Friedrich Jahn zählte. Der Deutsche Bund war von vornherein als wirklicher Geheimbund organisiert, dessen Aktivitäten sich nicht mehr nur auf die preußische, sondern die gesamte deutsche Gesellschaft richten sollten; er wurde schließlich zur Keimzelle der deutschen Turnbewegung, die bekanntlich wegen ihrer nationaldeutschen Bestrebungen unterdrückt wurde.568 Die ersten Ansätze eines außerstaatlichen und oft auch ausdrücklich politischen Vereinswesens, die sich nach der Niederlage gegen Frankreich in Preußen ausbildeten, deuten bereits spätere Entwicklungen an. Die Vereine, und später auch die politischen Parteien, waren Produkte des politischen Bewusstseins, dessen Ursprünge mindestens bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen, das sich aber erst durch die allgegenwärtige Erfahrung des Politischen unter dem maßgeblichen Eindruck der Verhältnisse in Folge des Tilsiter Friedens in voller Breite zu entfalten begann. Für die preußische Staatsführung und ihren exklusiven Anspruch auf die politische Entscheidungsfreiheit und meinungspolitische Deutungshoheit stellten die so organisierten politischen Interessen eine Herausforderung dar, auf die zunehmend repressiv reagiert wurde. Angesicht der nach 1807 erdachten und geschaffenen staatlichen Sicherheitsinstrumente – erinnert sei an die Geheimpolizei und die neuorganisierte Zensur –, die sich später auch gegen die nationalen und bürgerlichliberalen Bestrebungen richteten, erscheint der Bruch zwischen Reform und Restauration 1815/22 weit weniger scharf. Bei allen Unterschieden in den politischen Anschauungen gab es in der preußischen Staatsführung doch Denktraditionen und Entwicklungslinien, die vom Beginn der Reform bis in die Zeit nach Hardenberg führten. Die in Folge des äußeren wie inneren Souveränitätsverlusts eingeleiteten 567 Siehe hierzu Olaf Briese, Reimersche und Chasôtsche Kreise, in: Motschmann, Handbuch, S. 509 – 618, hier passim. 568 Siehe hierzu Josef Ulfkotte, Fechtbodengesellschaft, in: Motschmann, Handbuch, S. 618 – 626, hier passim. Olaf Briese, Der deutsche Bund, in: ebd., S. 626 – 643, hier passim. Zum Deutschen Bund auch Dann, Organisierung, S. 404 f.
II. Kommunikation und Partizipation
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Versuche zur Befestigung der Autonomie der Regierung unter dem Diktum eines nationalen Konsenszwangs gegenüber partizipativen Tendenzen der Bevölkerung waren bereits Vorboten der innenpolitischen Konflikte Preußens während des 19. Jahrhunderts.
F. Monarchische Souveränität und Verfassungswirklichkeit: Internationale und innerpreußische Konfliktlinien von 1807 bis 1848 Die Französische Revolution hatte den völkerrechtlichen Rahmen der europäischen Staatenwelt gesprengt. An Stelle der alten Ordnung etablierte Napoleon ein hegemoniales System des Unrechts, in dessen Logik die Aufhebung der Souveränität fremder Staaten lag. Diesem Versuch des französischen Kaisers einer gewaltsamen Integration Europas wollte die Allianz aus Russland, Preußen, England und Österreich eine Ordnung entgegenstellen, deren Stabilität auf dem Prinzip des Konsenses und des Gleichgewichts beruhte; nur auf diese Weise, so die Überzeugung, die sich schließlich unter den Alliierten durchsetzte, könne ein stabiler Frieden für den Kontinent geschaffen werden. Damit die avisierte neue Ordnung von Dauer sein würde, bedurfte es aber auch ihrer Anerkennung durch das unterlegene Frankreich, das als eine der bedeutendsten Festlandmächte des Kontinents von der Neugestaltung Europas kaum ausgeschlossen werden durfte. Es sollte der notwendigen Integration des wiedererrichteten französischen Königreichs dienen, dass der erste Frieden von Paris, der am 30. Mai 1814 geschlossen wurde, vergleichsweise milde ausfiel.1 Frankreich verblieb in den Grenzen von 1792, die nur um kleinere Gebietsgewinne an den Rändern im Norden und Westen erweitert wurden. Vom Bemühen der Alliierten, dem Völkerrecht wieder Geltung zu verschaffen, zeugt unter anderem die im Frieden mit Frankreich ausdrücklich festgehaltene Aufhebung der Friedensschlüsse von Schönbrunn, Pressburg und Tilsit.2 Weite Teile der preußischen Führung hatten nach den Erfahrungen des Tilsiter Friedens und der nochmaligen Besetzung des Landes im Vorfeld des Russlandfeldzugs eigentlich eine härtere Behandlung des einstigen Gegners erwartet, waren aber beispielsweise mit der Forderung nach Entschädigungszahlungen für die in der Vergangenheit erlittenen Verluste nicht durchgedrungen. Erst nach dem Intermezzo der Cent-Jours-Herrschaft waren auch die anderen Koalitionsmächte dazu bereit, für den erneuten Krieg, der in Waterloo siegreich geendet hatte, von Frankreich eine Summe von 700 Mio. Francs zu verlangen. Anders als die contributions der napoleonischen Friedensverträge wurde diese Forderung ausdrücklich als „indemnité“ 1 Zum Ersten Pariser Frieden siehe Steiger, Congressakte, S. 188 – 193. Frehland-Wildeboer, Treue Freunde, S. 239. Der Vertragstext in Kerautret, Documents, Bd. 3, Nr. 20, S. 145 – 165. 2 Siehe die mit Österreich und Preußen geschlossenen Zusatzartikel in Kerautret, Documents, Bd. 3, Nr. 20, S. 158, 164.
F. Monarchische Souveränität und Verfassungswirklichkeit
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bezeichnet und war damit auch dem Begriff nach eine tatsächliche Entschädigung mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.3 Zur Sicherung der noch fragilen Herrschaft Ludwigs XVIII. und zur Verhütung erneuter revolutionärer Ausbrüche bestimmte der nunmehr Zweite Pariser Frieden die Errichtung eines alliierten Besatzungsregimes in Nordfrankreich. Während der Zeitpunkt des Abzugs und die Frage der Souveränität bei der Besetzung Preußens 1807 bewusst nicht geregelt wurden, fand man 1815 genaue Bestimmungen.4 Ein rechtlich unklarer Zustand wie jener, in dem sich die Hohenzollernmonarchie bis zum Sommer 1808 befunden hatte, wurde damit vermieden. Auf dem Wiener Kongress einigte man sich auf die Grundstruktur der künftigen europäischen Staatenordnung und deren normative Standards. Die wechselseitige Anerkennung der Souveränität wurde zum Grundprinzip der zwischenstaatlichen Beziehungen erhoben. Es war eine Reaktion auf die Erfahrungen der Revolutionskriege, dass sich die europäischen Mächte, allen voran die fünf bedeutendsten unter ihnen, darauf verpflichteten, gemeinsam gegen die willkürliche Verletzung der Integrität eines Staats einzuschreiten. Vordringlichstes Mittel zur Beilegung von Konflikten sollte nicht der Krieg, sondern die Diplomatie sein.5 Selbst wenn diese Grundsätze die Rivalität der europäischen Mächte nicht beseitigten und der Krieg ein Instrument der Politik blieb,6 waren die Regelungen von Wien und die weitere Ausgestaltung des europäischen „Konzerts“ in den folgenden Jahren Elemente eines Verrechtlichungsprozesses der Internationalen Beziehungen, der trotz mancher Rückschläge wie jene in den Jahren zwischen 1792 und 1814/15 in Grundzügen seit 1648 zu beobachten ist.7 Das Ergebnis, zu dem die europäischen Staaten in Wien gelangten, war allerdings nicht frei von Widersprüchen. Der durch die Revolution verursachte Ordnungsbruch wurde oberflächlich beseitigt, doch dessen ideengeschichtliche Nachwirkungen waren nachhaltig und nicht ohne weiteres aus der Welt zu schaffen. Im Wissen um die 3 Siehe Art. 4 des Zweiten Friedens von Paris vom 20. November 1815. Ebd., Nr. 28, S. 273 f., hier das Zitat S. 273. Siehe hierzu Kissinger, Gleichgewicht, S. 352 f. 4 Im Friedensvertrag hieß es: „[C]ette occupation ne portera aucun préjudice à la souverainité de S. M. T. C.“ Art. 5 des Zweiten Friedens von Paris vom 20. November 1815. Kerautret, Documents, Bd. 3, Nr. 28, S. 274. Siehe auch die Zusatzkonvention desselben Tages. Ebd., Nr. 29, 282 – 291. 5 Zur Wiener Ordnung siehe Heinrich von Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde., München 1925, hier Bd. 1, S. 317 ff. Kissinger, Gleichgewicht, S. 354 ff. Schroeder, Transformation, S. 583 – 636. Erbe, Erschütterung, S. 361 – 371. Volker Sellin, Gleichgewicht oder Konzert? Der Zusammenbruch Preußens und die Suche nach der Wiedergewinnung der äußeren Sicherheit, in: Klinger et al., Das Jahr 1806, S. 53 – 70, hier S. 53 – 59. Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014, S. 193 – 212, 210. Steiger, Wiener Congressakte, S. 196 – 204. 6 Verschiedentlich wurde die Bedeutung des „Wiener Systems“ deshalb reduziert. Siehe etwa Frehland-Wildeboer, Treue Freunde, S. 243. 7 Siehe hierzu Heinz Duchhardt, Friedenswahrung im 18. Jahrhundert, in: Ders., Frieden, S. 37 – 52, hier passim.
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Gefahren des neuen politischen Denkens für die Wiener Ordnung einigten sich die fünf Großmächte 1820 in Troppau darauf, auf revolutionäre Erschütterungen notfalls auch militärisch zu reagieren und das monarchische Prinzip wieder zu befestigen, selbst wenn dadurch das Gebot der Unantastbarkeit der äußeren Souveränität ausgehöhlt wurde.8 Die Grundüberlegung der in Wien versammelten Mächte, die Stabilität Europas an die monarchische Legitimität als verfassungspolitisches Ordnungsprinzip zu knüpfen,9 mag gewiss auf rationalen Annahmen beruht haben, doch dem „Geist der ewigen Revision“10, den Jacob Burckhardt mit der Revolution identifizierte, war mit dem Rückgriff auf die Tradition nicht beizukommen. Die monarchische Alleinherrschaft stand ungeachtet der Beschlüsse von 1815 unter einem Rechtfertigungsdruck, dem sich kaum ein Fürst entziehen konnte.11 Die 1815 in der Bundesakte eingegangene Verpflichtung der Mitglieder des Deutschen Bundes, eine sogenannte „Landständische Verfassung“ einzuführen,12 war bereits das Symptom eines schleichenden Verfassungs- und Souveränitätswandels – ein Prozess, der auch dadurch nicht verhindert werden konnte, dass in der Wiener Schlussakte das monarchische Prinzip ausdrücklich auch als Grundlage der Verfassungsstruktur der Bundesmitglieder (mit Ausnahme der freien Städte) bestimmt wurde. Dass „die gesammte (!) Staats-Gewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt“ sein sollte, war kaum mehr als eine papierene Erklärung und bedeutete nicht die tatsächliche Etablierung einer uneingeschränkten monarchischen Souveränität. Allein der Zusatz, dass der Monarch in der Ausübung bestimmter Rechte an die Zustimmung der Stände gebunden werden könne, belegt, wie zweifelhaft die Souveränität des Monarchen geworden war; schließlich bedeutete dies in letzter Konsequenz eine rechtliche wie auch faktische Beschränkung der herrschaftlichen Autonomie des Fürsten.13 Ein Zurück zu vorrevolutionären Verfassungszuständen war unmöglich geworden, das beweist auch das Vorbild der künftigen Verfassungen vieler deutscher Flächenstaaten, die französische „Charte constitutionell“ von 1814. Obwohl die französische Verfassung von Ludwig XVIII. oktroyiert und dadurch der in der 8 Siehe hierzu Samuel J. Barkin/Bruce Conin, The State and the Nation: Changing Norms and the Rules of Souvereignity in international Relations, in: International Organization 48 (1994), S. 107 – 130, hier passim. Siemann, Metternich, S. 639 f. 9 Zur Legitimität siehe Griewank, Wiener Kongress, S. 300 – 303. Sellin, Gleichgewicht, S. 60 f. 10 Jacob Burckhardt, Historische Fragmente. Aus dem Nachlass gesammelt von Emil Dürr, mit einem Vorworte von Werner Kaegi, Stuttgart 1957, S. 275 (Kursivsetzung im Original). 11 Siehe hierzu Armstrong, Revolution, S. 109 – 111, 204 – 219. Belissa, Repenser, S. 417 f. Steiger, Wiener Congressakte, S. 211 – 213. 12 Siehe Art. 13 Deutsche Bundesakte, Wien, 8. 6. 1815. Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 5 Bde., 2. erw. Aufl., Stuttgart 1961 – 1966/ 1997, hier Bd. 1, Nr. 29, S. 78, hier auch das Zitat. 13 Siehe Art. 57 Schlussakte der Wiener Ministerkonferenz, Wien, 15. 5. 1820. Ebd., Nr. 30, S. 88, hier auch das Zitat. Siehe hierzu Quaritsch, Staat, S. 481 – 487.
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Präambel formulierte souveräne Herrschaftsanspruch des Monarchen unterstrichen wurde, war die Charte kaum mehr als eine „Variante der Revolution“ (de Maistre). Der französische König war dazu gezwungen, liberale Zugeständnisse zu machen, die noch über die der kaiserlichen Verfassung hinausgingen.14 Er kam auch nicht umhin, eine Repräsentativkörperschaft einzurichten, die, so schwach sie auch gewesen sein mochte, Zeichen einer neuen Zeit war, in der die monarchische Herrschaftsausübung stärker denn je an die Zustimmung der Öffentlichkeit und der führenden Schichten der Gesellschaft gebunden war. Die neue Zeit war auch in Preußen längst angebrochen. An ihrem Beginn stand dort der Friedensschluss von Tilsit. Der Frieden wirkte, das hat die Analyse gezeigt, katalytisch auf ältere Entwicklungstrends und war die Initialzündung für einen Prozess in dessen Folge die tradierte Herrschaftsordnung neu verhandelt wurde. Der Niederlage von Jena und Auerstedt folgten noch monatelange Kämpfe, die immer wieder unterschiedlichste Kombinationen für einen Frieden möglich erscheinen ließen. Erst der Friedensschluss vom 9. Juli 1807 und die sich aus ihm ergebenden Folgekonventionen manifestierten geradezu einen preußischen Verfassungszustand,15 der von der Krise der äußeren und inneren Souveränität geprägt war. Vorrangig war der Tilsiter Frieden selbstredend ein außenpolitisches Ereignis. Preußen verlor nach den Bestimmungen des Friedensvertrags rund die Hälfte seines Territoriums. Schwerer als diese Verluste wogen jedoch die mannigfaltigen Möglichkeiten, die der Vertrag Napoleon bot, um die Hohenzollernmonarchie dauerhaft in ihrer außenpolitischen Handlungsfreiheit zu beschränken. So wurde etwa der Abzug der französischen und verbündeten Truppen aus weiten Teilen Preußens in der Königsberger Konvention an die Bezahlung vermeintlich rückständiger Kriegskontributionen geknüpft, deren Höhe bewusst nicht festgelegt wurde. Diese Regelung erlaubte es Napoleon, die Besetzung beliebig lange aufrechtzuerhalten. Erst die kriegerischen Ereignisse in Spanien erzwangen schließlich den Rückzug der französischen Truppen. Doch aufgrund der fortwährend hohen Kontributionslast und weiterer Faktoren blieb die äußere Souveränität Preußens auch dann äußerst beschränkt.16 Dieser außenpolitische Zustand des Souveränitätsverlusts führte im Innern zu einem erheblichen Legitimitätsdefizit des alten politischen Systems. Verschiedenste Akteure und Gruppen versuchten, vor dem Hintergrund des nicht vollständig verwirklichten Friedenszustands und der Schwäche der monarchischen wie überhaupt der staatlichen Herrschaft an der reklamierten souveränen Letztentscheidungsgewalt des Königs dauerhaft zu partizipieren. Ihre Motive waren dabei höchst unterschiedlich. So wollte etwa mancher Vertreter des Bürgertums, Beamtentums und Militärs das Leid, dem die Bevölkerung zweifellos als Ergebnis des Tilsiter Friedens 14 Siehe zur „Charte“ Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001, S. 275 – 304, hier das Zitat S. 280. 15 Siehe hierzu Kap. B. besonders Kap. B. II. bis B. IV. 16 Siehe Kap. C. I.
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ausgesetzt war, beenden; andere drängte das eigene Ehrgefühl oder ein früher Nationalismus; und nicht wenige sahen im Staat einen Garanten der Sittlichkeit, den es zu stärken und bewahren galt. Deutlich wurde der Drang zur Revision des außen- wie innenpolitischen Status quo etwa als 1808 und 1809 Teile der militärischen und politischen Führung vom König den neuerlichen Krieg gegen Frankreich forderten. Nicht nur, dass die angestrebte Art der Kriegsführung in Form eines „Volks“- oder Partisanenkriegs grundsätzlich die Staatlichkeit Preußens zu untergraben drohte; die Pläne von einer Repräsentationskörperschaft, die nun zirkulierten, hätten leicht die Parlamentarisierung der Hohenzollernmonarchie zur Folge haben können. Die Befürworter des Krieges stellten die politische Stellung des Monarchen offen in Frage. Sie rechtfertigten ihr Handeln unter Hinweis auf die angebliche Entscheidungsschwäche des Monarchen in Zeiten der Not. Diese angesichts der Umstände überzogene Charakterzuschreibung wurde derart wirkmächtig, dass sie sich bis heute hartnäckig in der Literatur behauptet.17 Am Ende konnte sich der preußische König dem Andringen zahlreicher Personen seines engeren Umfelds widersetzen und seine Entscheidungskompetenz in außenpolitischen Fragen (zumindest bis zur Konvention von Tauroggen) behaupten. Gleichwohl vergrößerte sich in Folge der administrativen Reformen an der Regierungsspitze die Abhängigkeit des Monarchen von seinen führenden Beamten, allen voran von seinen Ministern; ohne ihre Unterstützung war es ihm kaum mehr möglich, positiv zu handeln. Wie weiter oben beschrieben wurde, bedeutete dies aber mitnichten den Beginn einer Herrschaft der Bürokratie. Der Monarch behielt weiterhin die finale Entscheidungskompetenz in Dingen der Legislative wie Exekutive und konnte beispielsweise über die Besetzung der Ministerposten entscheiden. In der Verfassungswirklichkeit etablierte sich ein monarchisch-bürokratischer Kompromiss, der das Zustandekommen politischer Entscheidungen stärker als zuvor zu einem Aushandlungsprozess zwischen monarchischem und bürokratischem Element machte.18 Ob die Entscheidungen der Staatsführung akzeptiert wurden oder nicht, hing zunehmend davon ab, ob sie den Erwartungen einer sich nach 1807 ausformenden politischen Öffentlichkeit entsprachen. Der Tilsiter Frieden schuf in sozialer, ökonomischer und nicht zuletzt kommunikativer Hinsicht Gegebenheiten, die eine breitgefächerte Politisierung weiter Bevölkerungsteile beförderten. Das Politische drang in Folge des Friedens und der Umstände, die er schuf, bis in die Städte und Dörfer ein – zunächst in Form der Besatzungsmacht, die vor allem durch Einquartierungen, Kontributions- und Requisitionsforderungen die Bevölkerung drangsalierte und damit die Entstehung eines noch vorrangig preußischen Nationalbewusstseins begünstigte.19 Mit der Rückkehr der Staatsgewalt in den vormals besetzten Raum Ende 1808 stellte sich kaum eine Besserung der Lage der Menschen 17 18 19
Siehe Kap. C. II. Siehe Kap. E. I. 1. Siehe Kap. D. IV.
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ein; nach wie vor blieben Krieg und Frieden in der Wahrnehmung vieler kaum unterscheidbare Zustände. Die hohen Kontributionslasten und die desaströse Lage der Staatskasse zwangen weiterhin zum rücksichtlosen Eintreiben von Abgaben und Sondersteuern. Als Reaktion lassen sich vielfach Fälle von Widerständigkeit einzelner Personen bis zu ganzen Dorf- und Bürgergemeinschaften beobachten. Die Autorität der Obrigkeiten wurde hinterfragt. Das zeigt sich auch an der großen Zahl an Majestätsbeleidigungsprozessen, welche die politische Führung überraschend energisch anstrengte.20 Dass König und Staat ihrer den Frieden und den Schutz sichernden Aufgabe nicht nachkamen, untergrub die Legitimität der alten Ordnung und beschwor allerorten Kritik herauf. Nicht nur in Flugschriften und Büchern, die sich begünstigt durch die Okkupationssituation rasch verbreiteten, wurden nun Vorschläge für eine neue politische und gesellschaftliche Verfasstheit Preußens formuliert. Auch in zahlreichen Eingaben forderten Personen unterschiedlichster Herkunft einen Wandel der Verhältnisse. Nicht selten dominierten Vorstellungen von einer gerechten Verteilung der steuerlichen Lasten wie überhaupt von größerer politischer und sozialer Egalität. Indem sie eine Reformerwartung formulierte und darauf abzielte, das politische Handeln der Staatsführung zu beeinflussen, wohnte dieser Kritik grundsätzlich eine partizipative Grundtendenz inne, die in ihrer Bedeutung für das Entstehen eines innerpreußischen Verfassungsdiskurses, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiter an Intensität gewann, nicht zu unterschätzen ist; selbst wenn außerhalb der ständischen Politik nur selten offen Forderungen nach einer Konstitution und Repräsentation artikuliert wurden.21 Die politische Führung Preußens versuchte, das Phänomen der Politisierung einzuhegen, zu kontrollieren und gegebenenfalls zu unterdrücken. Um ihren Anspruch auf Entscheidungsautonomie und politische Deutungshoheit durchzusetzen, griff sie neben der Zensur zunehmend auf die Mittel einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit und Meinungslenkung zurück. Gleichzeitig entstand in den ersten Jahren nach dem Tilsiter Frieden mit der Geheimpolizei ein Instrument der Repression, das später auch gegen die liberale und nationale Bewegung eingesetzt werden konnte. Ansätze dieser Bewegung können bis in das sich nach 1807 rasant verbreitende Vereins- und Geheimbundwesen zurückverfolgt werden.22 Trotz Politisierung und Kritik darf nicht übersehen werden, dass die Monarchie als Grundprinzip der politischen Ordnung von der Bevölkerung gemeinhin akzeptiert wurde. Es bestand eben ein Unterschied zwischen der prinzipiellen Anerkennung des Königs als Staatsoberhaupt und der impliziten Infragestellung seiner souveränen Entscheidungsautonomie. Was sich veränderte, war das Bild, das man sich von der Rolle des Königs machte, der zur Projektionsfläche unterschiedlichster politischer und sozialer Erwartungen wurde. In einem spätestens seit dem Tilsiter Frieden an20 21 22
Siehe Kap. E. I. 3. a) und b). Siehe Kap. E. II. 1. Siehe Kap. E. II. 2.
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zutreffenden Prozess diskursiver Aneignung des Königtums durch politisch völlig verschieden motivierte Personen und Gruppen veränderte sich langfristig die politische Stellung des Monarchen. Da es praktisch unmöglich war, den ständischen, bürgerlich-liberalen, nationalen oder sonstigen Zielvorstellungen zu entsprechen, musste der König am Ende aus seiner einflussreichen politischen Stellung zurücktreten, wenn von der Krone weiterhin jene kohäsionsstiftende Wirkung ausgehen sollte, die sie zeitweilig in den Krisenjahren nach 1807 bewiesen hatte. Des Königs Legitimität war, so lässt sich sagen, nurmehr um den Preis seiner Souveränität zu retten.23 Unmittelbar nach der Niederlage und dem Friedensschluss von 1807 setzten noch vorrangig die Stände als bedeutendster außerstaatlicher Akteur der monarchischen Souveränität unmittelbar zu. Ihren partizipativen Anspruch und ihren Widerstand gegen den forcierten Ausbau der Staatsgewalt legitimierten sie mit Hilfe des Herkommens und tradierter Rechte, ohne aber zwangsläufig ein ständisch-konservatives Programm zu verfolgen; vielfach blieben die Stände einzelner Provinzen erstaunlich offen für moderne Konzepte politischer Partizipation. Die Stärke der Stände nach dem Tilsiter Frieden, der auch ein Momentum der Ständegeschichte war, beruhte unter anderem auf den während der Okkupation entstandenen oder ausgebauten mindestens halbautonomen Verwaltungsstrukturen. So entstanden neben den Landschaften häufig ständische Komitees, welche gegenüber der Besatzungsmacht als Vertretung des Landes auftraten und, mal mehr mal weniger energisch, die französischen Kontributions- und Requisitionsforderungen zu befriedigen suchten. Letzteres war ihnen auch aufgrund ihres finanziellen Potenzials möglich, welches das des finanzschwachen Staats deutlich übertraf und die Stände auch noch nach dem Abzug der französischen Armee zu einflussreichen politischen Akteuren machte, welche die künftige Verfassungsordnung Preußens zu beeinflussen versuchten.24 Als Hardenberg 1810 das Amt des Staatskanzlers übernahm, intensivierte er sogleich die Anstrengungen seiner Vorgänger, die neugewonnene Stellung der alten Stände zu untergraben und deren politische Ansprüche zu delegitimieren. Als einen ersten Schritt veröffentlichte er im Oktober 1810 das Finanzedikt, das zusammen mit einschneidenden fiskalpolitischen Maßnahmen, die auch die Steuerfreiheit des grundbesitzenden Adels trafen, die Etablierung einer „zweckmäßig eingerichtete[n]
23
Siehe Kap. E. II. 1. Siehe zu den neuen „Rollen“ und Legitimationsmustern des Königtums im 19. Jahrhundert Kroll, Modernisierung, v. a. S. 208 – 221. Martin Kirsch, Die Funktionalisierung des Monarchen im 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich, in: Stefan Fisch/Florence Gauzy/Chantal Metzger (Hrsg.), Machtstrukturen im Staat in Deutschland und Frankreich. Les Structures de Pouvoir dans l’Etat en France et en Allemagne (Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees, 1), Stuttgart 2007, S. 81 – 97, hier passim. Vergleichbare Tendenzen lassen sich auch für Bayern feststellen. Siehe Demel, Staatsabsolutismus, S. 29 – 32. 24 Siehe Kap. D. III. und Kap. E. I. 3. c).
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Repräsentation, sowohl in den Provinzen als für das Ganze“25 ankündigte. Vorstufe einer solchen Vertretungskörperschaft war die zum Februar des Folgejahres einberufene Notabelnversammlung, deren Mitglieder nicht aus altständischen Wahlmodi hervorgingen, sondern vom König ernannt wurden. Hardenbergs Absicht war es schließlich, mit Hilfe einer Repräsentation den Souveränitätsausbau voranzutreiben und – nicht unähnlich der Intentionen Steins – das altständische Ausschuss- und Komiteewesen wie grundsätzlich intermediäre Gewalten zu untergraben. Die Einberufung der Notabelnversammlung sollte zugleich das Ende der früheren Versuche bedeuten, provinzweise zu einer Regelung der Provinzialschulden zu gelangen; statt für jede Provinz je einzeln ein Tilgungsverfahren zu finden, sollten Vertreter aller Stände die umfassenden Finanzgesetze, die Hardenberg zur Konsolidierung der Provinzialschulden und des Staatshaushalts plante, legitimieren. Dass er die Einkommensteuer für ungeeignet erachtete, um mit ihr seine Ziele zu erreichen, machte er früh deutlich, so dass das von Sack mühevoll errungene Einkommensteuergesetz für die Kurmark nie zur Ausführung gelangen konnte.26 Wenn es aber Hardenbergs Absicht war, auf diese Weise dem Widerstand gegen seine Finanzund Reformpolitik die Spitze zu nehmen, so hatte er sich verkalkuliert; keineswegs waren die Landstände dazu bereit, sich in eine einseitig von der Staatsführung beschlossene Neuordnung der politischen Verhältnisse zu fügen, geschweige denn sich mit der mangelhaften Repräsentanz in den Hardenbergschen Repräsentationskorpora zu begnügen.27 Die Ständevertreter der Notabelnversammlung und der späteren Interimistischen Nationalrepräsentation opponierten genauso gegen Hardenbergs fiskalische und agrarpolitische Pläne wie gegen das Gendamerieedikt, das darauf ausgerichtet war, das ständische Element aus der lokalen Administration zu drängen. Angesichts der Heftigkeit des Widerstands, der schließlich von einem umfangreichen Petitionswesen begleitet wurde,28 musste Hardenberg das Gendamerieedikt bald wieder vollständig fallen lassen.29 Die Stände, allen voran der Gutsadel, hatten damit ein weiteres wesentliches Reformvorhaben, das auf die weitere Durchsetzung der Staatsgewalt abzielte, verhindert. Die Grenzen souveräner Legislativgewalt wurden erneut offensichtlich. Von Seiten der Stände, des Beamtentums, des Militärs und zunehmend auch der Öffentlichkeit wurde, wie oben gezeigt, die souveräne Entscheidungsgewalt des Monarchen hinterfragt und herausgefordert. Die Umstände verlangten eigentlich nach einem Ausgleich, wenn nicht nach einem Kompromiss zwischen den neuen und alten politischen Kräften, wie er in anderen deutschen und europäischen Staaten mit 25 Siehe „Edikt über die Finanzen des Staats und die neuen Einrichtungen wegen der Abgaben“, Berlin, 27. 10. 1810. Gesetzessammlung, Bd. 1, Nr. 2, S. 31. 26 Siehe Lehmann, Ursprung, S. 33 f. 27 Zu Hardenbergs Verfassungspolitik siehe u. a. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 445 – 448. Koselleck, Preußen, S. 185 – 195, 208 – 215. Kroll, Verfassungsidee, S. 161 – 171. 28 Siehe Koselleck, Preußen, S. 205. Zum Petitionswesen, das in den folgenden Jahrzehnten immer breitere Formen annahm, siehe Neugebauer, Wandel, S. 263, 388 ff. 29 Siehe Botzenhart, Verfassungspolitik, S. 448 f. Koselleck, Preußen, S. 195 – 206.
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der Konstitutionalisierung vorerst gefunden wurde. In Preußen zerbrachen die in diese Richtung führenden Bemühungen nicht nur an innerbürokratischen Fraktionskämpfen, sondern auch an der Realität einer sich seit 1807 rasant politisierenden Gesellschaft. Der Plan Hardenbergs und anderer Protagonisten des Reformbeamtentums, die Stimmen innerhalb und außerhalb der Stände, die Einfluss auf die künftige Gestalt der politischen Ordnung nehmen wollten, mit Hilfe einer in allen Belangen abhängigen Repräsentation mundtot zu machen und auf den politischen Kurs der Regierung einzuschwören, hatten wenig Aussicht auf Erfolg. Daneben konnte eine selbst nur zaghafte Konstitutionalisierung schlagartig in einer weiteren Erosion der Entscheidungsmacht von König und Bürokratie münden. Die Erfahrungen der Notabelnversammlung und der Interimistischen Nationalrepräsentation ließen dies zumindest erwarten.30 Eine häufig vernachlässigte Folge der ausgebliebenen Konstitutionalisierung Preußens war die staatliche Finanzschwäche. Nicht nur, dass andere Staaten, in denen die souveräne Entscheidungsgewalt gemeinschaftlich von dem Monarchen und einer Repräsentation ausgeübt wurde, häufig einen höheren Grad der Staatlichkeit erreichten; sie gewannen auch deutliche Vorteile bei der Ressourcenmobilisierung. Bodin hatte eine Teilung der Souveränität zwar ausgeschlossen, doch in der Verfassungswirklichkeit kam diese durchaus vor.31 England ist mit der Verfassungskonstruktion des „King in Parliament“ das vielleicht bekannteste Beispiel für ein Staatswesen, das durch die Teilung der (Entscheidungs-)Macht zwischen Monarchen und Parlament enorme finanzielle Potenziale freizusetzen vermochte. Das englische Königreich war aufgrund einer geregelten Diversifizierung der höchsten Entscheidungsgewalt zu einer Machtentfaltung in der Lage, welche die Möglichkeiten anderer europäischer Staaten mit vergleichbaren Ressourcenpotenzialen deutlich überstieg. Mit dem Parlament entstand nicht nur ein ausgleichender Faktor, der etwaige persönliche Schwächen des Monarchen austarieren half, die Beteiligung führender Gesellschaftsschichten am politischen Entscheidungsprozess erhöhte auch die Chancen, dass die einmal gefassten Beschlüsse auf größere Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen würden. Für den Bereich der Staatsfinanzen bedeutete dies, dass sich die steuerliche Belastung leichter und schneller erhöhen ließ als in Staaten, in denen der fiskalische Druck durch eine einseitige Entscheidung des Monarchen und seiner Beamten vergrößert wurde. Schließlich verbürgte das Parlament gegenüber Kreditgebern auch eine gewisse Kontinuität und Stabilität des politischen Systems, wodurch das staatliche Kreditpotenzial, um das es in Preußen nach 1807 sehr schlecht bestellt war, ausgeweitet wurde.32 30 Zum Verfassungsversprechen und dem Scheitern der Verfassungspläne siehe u. a. Kroll, Verfassungsidee, S. 171 – 178. Botzenhart, Verfassungsproblematik, S. 449 f. Koselleck, Preußen, S. 215 f. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 302 – 313, Bd. 2, S. 484 – 498. 31 Siehe hierzu Quaritsch, Staat, S. 511. 32 Siehe hierzu und zum englischen Beispiel ebd., S. 429 – 471. Ders., Souveränität, S. 59 f. Neugebauer, Staat, S. 197 – 199. Wolfgang Reinhard, Kriegsstaat – Steuerstaat – Machtstaat, in: Asch/Duchhardt, Absolutismus, S. 277 – 310, hier S. 285. Georg Eckert, Die Öffentlichkeit des
F. Monarchische Souveränität und Verfassungswirklichkeit
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Auch wegen solcher Vorteile für den Staatshaushalt kam es in anderen deutschen Staaten, die wie Preußen nach den Revolutionskriegen unter einer nicht unerheblichen Schuldenlast litten, zur Einrichtung repräsentativer Körperschaften, die eine Fundierung der öffentlichen Schuld ermöglichten. Die Rheinbundstaaten hatten vielfach schon vor 1815 Konstitutionen nach westphälischem Vorbild eingeführt, die den Weg für die späteren Repräsentativverfassungen – es sei an die bayerische Verfassung von 1818 erinnert – ebneten.33 Wie in England so war zwar auch hier die konstitutionelle Monarchie kaum mehr als ein Kompromiss auf dem Weg zum Parlamentarismus oder zur Autokratie des 20. Jahrhunderts, doch ermöglichte dieser etwa in Bayern den Ausbau der Staatsgewalt sowie die relative Konsolidierung der Staatsfinanzen. Der preußische Staat blieb demgegenüber „unmodern“, das heißt unvollständig, mit einer nach innen schwachen Souveränität. Die preußische Staatsgewalt war auch über das Jahr 1815 hinaus durch Regionalismus oder adlige Reservatrechte vielfach gebrochen, während die Souveränität zumindest formell in der Hand eines Monarchen verblieb, der diese kaum vollumfänglich exekutieren konnte. Nichts trifft angesichts dessen für das preußische Herrschaftssystem weniger zu als die Zuschreibung „bürokratischer Absolutismus“ – eine Bezeichnung, welche irrige Vorstellungen von einem allmächtigen Staatsapparat weckt.34 Noch lag in Preußen Altes und Neues unverbunden nebeneinander, standen Stände dem wachsenden Staat, Frühformen bürgerlicher Partizipation den tradierten Herrschaftsbeziehungen und die monarchische Souveränität einer wachsenden Kritik gegenüber. Dieses Nebeneinander schuf zusammen mit der chronischen Unterfinanzierung des Staats politische Verwerfungen, die den Weg zur Revolution von 1848 bereiten halfen.35
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II. Gedruckte Quellen
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G. Quellen und Literatur
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Personenregister Alexander I., Zar von Russland 15, 42, 44 – 48, 50, 53, 55 – 69, 71, 73, 81 – 85, 104, 112, 117 – 119, 122, 124 f., 127 – 129, 131, 143, 147, 151 – 153, 265 Altenstein, Karl Sigmund Franz vom Stein zum 37, 40, 58, 87 f., 91, 93 f., 98, 123, 133 – 140, 153 f., 164, 179, 190, 234 – 236, 239 – 241, 244 f., 247 f., 251 f., 258, 263, 266 f., 269, 283, 286, 289 f., 294 f., 301, 308 – 310, 316, 319, 327 f., 334, 337, 341, 345 – 347, 355 Angern, Ferdinand Ludolph Friedrich von 105, 172, 174, 176, 178, 207 Anglès, Jules-Jean-Baptiste 169 Arndt, Ernst Moritz 140 f., 180 Arnim, von (Landrat) 178 Arnim, Achim von 289 Arnim, Bettina von 289 Athanarich, Anführer der Westgoten 59 Aubignose, de 173 Auerswald, Hans Jakob von 88, 96, 218, 223, 248, 250 f., 256, 269, 279, 283, 300 f., 326 f. Baczko, Ludwig 89 Bading 336 Bailleu, Paul 14, 38 Balthasar, Friedrich von 100 Barbegne`re 106 Barbiguiers 173 Bardeleben 353 Bassewitz, Magnus von 16, 66, 89, 108, 168, 222, 315, 322 Beguelin, Heinrich Huldreich Peter von 131, 155, 194, 218, 220, 282, 289, 33 Behre, Otto 96 Beissert 227 Belhagen 353 Bellisle, Pepin de 172 Bennigsen, Levin August von 56 Beringuier 207
Berthier, Louis-Alexandre 51, 61, 72, 95, 100 f., 106, 117, 121, 169, 179 f., 184, 192, 218, 224, 331 Beyer 92, 179, 183, 197 f. Beyme, Carl Friedrich 90 f., 153, 178, 214, 252, 269, 290, 346, 355 Bignon, Louis-Pierre-E´douard 170, 175, 186, 192, 207, 331 f. Bismarck, Carl Wilhelm von 187, 211, 213, 229, 324 Bismarck, Otto von 14, 244 Blanckensee, von 321 Blu¨ cher, Gebhard Leberecht von 49, 86 f., 89, 154, 156 f., 161 Bock, Helmut 160 f. Bodin, Jean 21 – 30, 32, 37, 126, 255, 292, 366 Bonaparte, Louis 81 Borgstede, August Heinrich von 100, 104, 182 f., 186, 190, 194, 198, 215 f., 220, 222, 227 f., 263, 296 Bose, Carl Ludwig von 265 Both, von 353 Botzenhart, Manfred 40 Boyen, Hermann von 126, 144 – 146, 165, 167, 354 Brandt 253 Braun 225 Bredow, von 206, 258 Briese, Olaf 161 Brockhausen, Karl Christian Friedrich von 112, 116 f., 122, 125, 128, 137 Brune, Guillaume-Marie-Anne 168 Bubna, Ferdinand Graf von 143 Buchholz, Friedrich 72, 332 – 335, 344 Bukovansky, Mlada 78 Bülow, Friedrich von 352 Bülow von Dennewitz, Friedrich Wilhelm Graf 154, 160 f. Burckhardt, Jacob 360
Personenregister Büsching, Johann Stephan Gottfried 180, 231, 344 Butterfield, Herbert 15 Campan 172 Canning, George 83, 86 Carl von Österreich, Erzherzog 143, 164 Carl, Horst 59, 77, 187 Castillon, Frédéric Graf von 103 Caulaincourt, Armand-Augustin Marquis de 119, 123 f., 152 Chaillous 169 Champagny, Jean-Baptiste Nompe`re de 112, 119, 124, 132 f., 137, 139, 159, 262, 354 Chasoˆ t, Ludwig August Graf von 156, 161 f., 164, 166 f., 355 Chifflard 153 Chopin 203 Clarke, Henry-Jacques-Guillaume 98, 101 f., 120 f., 158, 170, 206, 218, 220, 230 Clausewitz, Carl von 120, 142, 148 f., 163, 167, 189, 341 Clausewitz, Marie von 149 Cle´rembault, Louis de 87 Cölln, Friedrich von 150, 333 – 335, 344 Constant, Benjamin 339 Czartoryski, Adam Jerzey 45 f. Danckelmann, Heinrich Wilhelm August Graf von 109, 218 Daru, Pierre 34, 95 – 99, 101 – 106, 108 f., 112 – 115, 117 – 120, 122 – 124, 129, 159, 170, 173, 184 – 187, 191 – 194, 197 f., 206, 212, 225, 236, 280 Davout, Louis-Nicolas 158, 169, 214 Decken 126 Deez 353 Delbrück, Hans 14, 65 Delport 172 Denon, Dominique-Vivant 199 Deswismes 173 Dieterici, C. F. W. 89, 96 Diethard, von 222 Dietherdt, von 228 f. Dilthey, Wilhelm 32 Dohna-Schlobitten, Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu 37, 40, 88, 100, 110, 130, 133, 154 – 156, 158, 166, 176, 181,
403
190, 193, 203, 225, 239 f., 244, 252, 258, 266 f., 269, 281, 283 – 286, 290, 295, 308 – 310, 314, 316, 319, 327, 345 – 351, 355 Dohna-Wundlacken, Heinrich Ludwig Adolf Graf zu 328, 339 Do¨ nhoff 109 f. Dörnberg, Wilhelm von 157 Duncker, Max 96, 108, 280 Duroc, Ge´raud-Christophe-Michel 46, 53, 56 Eggert, Oskar 16 f. Enghien, Louis Antoine Henri de BourbonCondé, Duc de 132 Ephraim, W. 337 Erler, Willi 155 Este`ve, Martin-Roch-Xavier 170, 172 – 174, 179 f., 193, 195, 204, 206, 208 Eylert, Rulemann Friedrich 347 Favier, Mathieu 170 Fichte, Johann Gottlieb 120, 304, 347, 356 Fischer (Kaufmann) 336 Fischer (Kreisjustizrat und Stadtdirektor) 336 f. Flad, Ruth 17 Focke, Johann Dietrich 99, 185 Fontane, Theodor 163 Fouché, Joseph 348 Fouque´, Friedrich de la Motte 220 Fox, Charles James 48 Freese 337 Frey, Johann Gottfried 212, 253, 293 Friedrich I., König in Preußen 296 Friedrich II., König von Preußen 27, 232, 260 Friedrich August I., König von Sachsen 71, 100, 107, 110, 262 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 27, 296 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 43 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 33 – 35, 42 – 44, 46 – 50, 52 – 58, 60 – 65, 67 – 70, 72, 84, 86, 89 – 91, 93, 96, 98, 103, 106 – 108, 112, 114 f., 119, 123 – 127, 131 f., 137, 139, 141 – 150, 152 – 154, 156 – 160, 162 – 167, 171, 174, 176 f., 181, 185, 188 f., 197, 213 – 216, 223 f., 228, 230, 232 f., 235 – 240, 242 – 244, 247 – 249, 252, 257 f., 260 f., 263, 265, 267 – 269, 271,
404
Personenregister
275 f., 279, 283 – 285, 287 f., 290 f., 294, 296 – 298, 300, 302, 306 – 311, 313 – 316, 318 f., 321, 323, 326 – 328, 332, 334 f., 338 – 343, 345 f., 350 f., 353, 355, 361 – 366 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 27, 44 Friesen, Friedrich 356 Garlike, Benjamin 86 Gaudin, Martin-Michel-Charles 106 Gebel (Medizinalrat) 211 Gebel (Ackerbürger) 337 f. Gerlach, Agnes von 220 f. Gerlach, Carl Friedrich Leopold von 100, 131, 175, 181 f., 192, 206, 222, 225, 252, 281 f., 296, 354 Gneisenau, August Neidhardt von 131, 137, 141 – 146, 148 – 151, 155 f., 164 f., 167, 220, 282, 289, 310, 330 Goldbeck, Heinrich Julius von 175 – 178, 180, 185, 205 Goltz, August Friedrich von 62, 69 f., 72, 86 f., 91, 96 f., 99, 102, 104, 109 f., 121 f., 127 – 129, 136 – 139, 154, 159, 162, 164, 183, 195, 197, 220, 222, 265, 280, 290, 296, 346 Götzen, Friedrich Wilhelm von 143, 147, 160 – 165 Granier, Hermann 38 Grawert, Julius von 159 Grolmann, Karl von 167, 353 Grotius, Hugo 188 Gruner, Justus Carl 154 – 158, 166, 349 – 352 Gustav IV. Adolf, König von Schweden 83, 86 Haeke 285 Hahlweg, Werner 148 f. Hardenberg, Karl August von 14, 36 f., 46, 48, 50, 56 – 58, 60, 62 f., 66 f., 69, 72 f., 87, 90 – 92, 94 f., 109, 133, 139 f., 145, 235 – 237, 239, 241, 243, 247, 249, 252, 269, 305, 309, 314, 324, 333, 335, 340 f., 345 – 347, 351, 356, 364 – 366 Hassel, Paul 14 Hatzfeld, Franz Ludwig Fürst von 151, 220 Hauchecorne, Fre´de´ric-Guillaume 332
Haugwitz, Christian von 49 f. Haußherr, Hans 15 f., 91, 115, 126 Heinsius, Wilhelm 331 Heller, von 337 Herrmann, Carl 227 Herrmann, Ludger 17 Heymann, Joseph 227 Hintze, Otto 32, 96 Hobbes, Thomas 25, 334 Hoche, Lazare 98 Hoffmann (Staatsrat) 269 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 262 Hoffmann, Johann Carl Ludwig von 293 Hofmeister-Hunger, Andrea 17, 331 Hohenlohe-Ingelfingen, Friedrich Ludwig Fürst zu 54 Holstein-Beck, Friedrich August von 87 Hotho, Thomas-Heinrich 207 Houdetot, Frederic-Christophe de 108, 172 f., 189 Hoym, Carl Georg Heinrich Graf von 211, 213 Hubatsch, Walther 40 Huber, Ernst Rudolf 132 Hulin, Pierre-Augustin 331 Humboldt, Caroline von 92, 107, 134, 137, 240, 289 Humboldt, Wilhelm von 92, 107, 134, 137, 239 f., 289, 345 f. Hundt 99, 248 Iffland, August Wilhelm 230, 331 Jablonowski 109 Jacobi (Kommerzienrat) 295 Jacobi-Kloest, Constans Philipp Wilhelm Freiherr von 86 Jahn, Friedrich 356 Jasky 278, 289 Jerome Bonaparte 40, 66 f., 69, 167 Jeromin, Andr. 336 Jordan 100 Kalckreuth, Friedrich Adolf Graf von 57 f., 60 – 63, 70, 72, 89, 95 f., 98, 100, 102, 284 Kant, Immanuel 234 Karl Emanuel IV., König von Sardinien 133 Katharina II., Zarin von Russland 42 f., 45
Personenregister Katharina Pawlowna Romanowa, Großfürstin von Russland 129 Katte, Friedrich von 157 Kehr, Eckart 19, 32, 39, 241 f. Kiesewetter, Johann Gottfried Karl Christian 225, 350 Kircheisen, Friedrich Leopold von 186 Kissinger, Henry 79 Kleist, Friedrich Heinrich Graf von 91, 159 Kleist, Heinrich von 150, 347 Klewitz, Wilhelm Anton von 91, 257, 260 f., 265 Knesebeck, Karl Friedrich von dem 126, 153 Knobelsdorff, Wilhelm von 97, 104, 111 f., 138 Konstantin Pawlowitsch Romanow, Großfürst von Russland 56 Koppe 353 f. Koselleck, Reinhart 242 Kotschubei, Viktor Pawlowitsch 83 f. Kratz 337 Kraus, Christian Jakob 269, 293 Krause, Carl Georg Wilhelm von 321 Krug 353 Krüger 337 Krusemark, Friedrich Wilhelm Ludwig von 137 Kunisch, Johannes 40 Kurakin, Alexander Borissowitsch Fürst 62, 64 L’Aigle 179, 186, 210 L’Estocq, Anton Wilhelm von 154, 159, 162, 164, 166 f., 220 La Bouillerie, Franc¸ ois 170 Labaye, Jean Baptiste 99, 134, 136 – 138, 198 Lange 331 Lason 172 Lauer 180, 224 Le Noble 203 Lehmann (Professor) 353 Lehmann, Max 15, 17, 65, 155, 298, 301 Leibetseder, Mathis 186 Lenin, Wladimir Iljitsch 13 f. Lenz, Max 14, 65 Lesage, Charles 15, 99 Lesperut, François Victor Jean de 210 Lettow-Vorbeck, Oscar von 66
405
Levinger, Matthew 305, 341 Linke, Otto 155 Lobanof, Fürst 56 f., 62, 66 Lombard, Johannes Wilhelm 42, 50 Lottum, Karl Friedrich Heinrich von 91, 261 Lucchesini, Girolamo Marquis von 49, 52, 54 f. Ludwig XIV., König von Frankreich 77 Ludwig XVIII., König von Frankreich 359 – 361 Luise Herzogin zu Mecklenburg-Strelitz, Königin von Preußen 47, 57 f., 60 – 63, 67, 69, 90, 230, 232 Maistre, Joseph de 361 Mamroth, Karl 96 Martens, Georg Friedrich 77 Marwitz, Friedrich August von der 163, 222, 315 Massow, Ewald Georg von 100, 114, 168, 175 – 177, 179, 181 – 183, 187, 190, 211, 213, 218, 222 f., 251 f., 267, 285, 324 f. Massow, Julius Eberhard Wilhelm von 175, 177, 180 Mecklenburg, Georg Großherzog von 90 Meinecke, Friedrich 151 Meister, Ferdinand 289 Merckel, Friedrich Theodor von 285, 349 Meyer, Friedrich-Ludwig 207 Mieck, Ilja 15, 65 f., 89, 231 Mieges 173 Möllendorff, von 159 f. Montesquieu, Charles-Louis de Secondat Baron de La Brède et de 234 Morgenbesser, Ernst Gottlob 271 Mortier, Adolphe-Édouard-Casimir-Joseph 168 Moser, Johann Jacob 25, 27 Mosqua, Friedrich Wilhelm 353 Mouniers, Claude-Philibert-Édouard 169 Müller, Adam 346 f. Müller, Carl Gottfried 336 Münchow-Pohl, Bernd von 18, 39, 155, 332 Nagel, Johann Friedrich 100 Nagler, Carl Ferdinand Friedrich 96 – 98 Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen 13 – 15, 32 f., 38, 40, 42, 45 – 75, 78 – 86,
406
Personenregister
90, 95, 97 f., 101 – 103, 105 – 107, 109 – 129, 131 – 133, 137 – 140, 142 f., 150 – 153, 156, 158 f., 167 – 171, 174 f., 178 – 180, 184, 187 – 189, 200, 206, 212, 216 – 221, 230, 243, 257, 262, 280 f., 290, 320, 330, 334, 354, 358, 361 Neigebauer 156 f. Neugebauer, Wolfgang 16 f., 231, 322, 335 Nicolovius, Theodor 138, 145 Niebuhr, Barthold Georg 73, 91 f., 114, 135 f., 138, 295 f. Niepel 336 Nipperdey, Thomas 243 Nitze 207 Nolte, Paul 19 f. Obenaus, Herbert 242, 253, 328 Oubril, Peter von 48, 51 Oye, Joseph Schimmelpfennig von 88 Palm, Johann Philipp 132 Pannewitz, von 258 Paul I., Zar von Russland 46, 56, 82 Perre´geaux 172 Pertz, Georg Heinrich 17, 156 Pestalozzi, Johann Heinrich 304 Peters, Nastasja 60 Petersdorff, von 286 Pietschmann, Dietrich 92 Preuß, Hugo 253 Quaritsch, Helmut 25, 30, 320 Quast, Otto Christoph Leopold von 91 Ranke, Leopold von 14, 32, 51 Raumer, Carl Georg von 99, 185, 341 Raumer, Kurt von 125, 339 Raumer, Marie von 220 f. Ravene´, Jean Isaac 283 f. Reck, Eberhard Friedrich Christoph Freiherr von der 175 – 177, 180 Reden, Friedrich Wilhelm von 98, 175, 177 Rehdiger, Karl Nikolaus von 303, 306, 340 Reik, von der 222 Reimer, Georg Andreas 355 Rémy, Philippe de 21 Renan, Ernest 13 Riedel, Adolph Friedrich 96
Rikot 173 Ritter, Gerhard 17, 132 Rochow, Rochus von 258 Röckner, Christian Gottlieb 145 Romanoff, Nicolas 14 Rosenberg, Hans 19, 241 Rousseau, Jean-Jacques 330, 340 Roux 72 Rumjanzew, Nikolai Petrowitsch 82 Sabatier 108, 171 Sachs, L. W. 336 Sack, Johann August 88, 97 – 99, 101 f., 105 – 107, 112, 117, 122, 132, 135, 154 – 157, 162, 164, 167, 178, 181 f., 184 f., 189 f., 193, 198, 208, 212, 214, 232, 251 f., 262, 269, 280 – 286, 289 f., 294, 296 – 298, 311 – 323, 325, 329 – 331, 343 – 347, 350 f., 353, 365 Saint Hilaire, Louis-Vincent-Joseph Le Blond de 225 Saint Marsan, Antoine Graf de 133, 137 – 139, 156, 220, 354 Savary, Jean-Marie 118 Sayn-Wittgenstein, Wilhelm Ludwig Georg Graf zu 125, 132, 136, 139, 142, 238, 351 Scharnhorst, Gerhard von 90, 126, 137, 142 f., 145 – 148, 153 f., 156, 160 f., 163 – 165, 167, 220, 261, 286, 290, 340, 345, 354 Scharnhorst, Julie von 90 Scharnhorst, Wilhelm von 220 Scheel, Heinrich 40 Scheffner, Johann Georg 117 Schennach, Martin 157 Schill, Ferdinand von 35, 156 – 158, 160 – 167, 225, 355 Schissler, Hanna 39, 295 Schladen, Friedrich Heinrich Leopold von 49, 56, 58, 87 Schleiermacher, Friedrich 347 f. Schmalz, Theodor Anton Heinrich 331, 344 Schmidt, Doris 40 Schmitt, Carl 187 Schöler, Reinhold Otto Friedrich August von 117, 119, 122, 265 Schön, Theodor von 58, 88, 91, 93, 138, 145, 159, 176, 256 f., 269 – 271, 273, 304 f., 307 f., 341
Personenregister Schönbeck, Otto 326 Schroeder, Paul W. 85 Schroetter, Friedrich Leopold von 87 f., 91 f., 100, 136, 177, 181, 183 f., 218, 222, 237, 253, 258, 270 f., 273, 278 – 280, 289, 293 f., 296, 299, 302, 326, 344 Schroetter, Karl Wilhelm von 92, 177, 185, 229, 237, 257 f., 284, 288, 297, 311 Schuchard, Theodor 289 Schulenburg-Kehnert, Friedrich Wilhelm von der 97 f., 178 Schulz, Fr. 214 Seegebarth, Johann Friedrich von 92, 190 Selim III., Sultan des Osmanischen Reiches 53, 55 Serre 155 Smith, Adam 196 f., 270 Solms-Braunfels, Fürstin zu 263 Souboff, Fürst 57 Soult, Jean de Dieu 95, 102, 104, 109 f., 121, 125, 132, 168 Staegemann, Elisabeth von 87, 122, 131, 223 Staegemann, Friedrich August von 88, 91, 114, 117, 120, 122 f., 131 f., 223, 248, 295, 298, 327, 332, 346, 350 Stamm-Kuhlmann, Thomas 49, 146, 152 Steffens, Heinrich 141 Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum 17, 36 f., 40, 50, 90 – 93, 98, 107 – 109, 112 – 116, 122 – 127, 131 – 134, 136, 138, 141 – 143, 145 – 148, 150, 155, 160, 167, 177 – 179, 184, 186 f., 189, 191 f., 194 f., 197 f., 211, 213 f., 230, 234 – 243, 245 – 248, 250, 253 – 258, 260, 263, 265, 269, 271, 273, 292 – 300, 302 – 309, 313, 317, 324, 326, 337, 340 – 342, 344, 347, 353 – 355, 365 Stein, Wilhelmina Magdalena Friederika Freifrau vom 177, 230 Strassard 169 f., 179, 212 Stresemann, Gustav 13 f. Sulikowski 336 f. Svarez, Carl Gottlieb 43, 342 Taboureau 172 Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de 55, 58, 62, 70, 73, 80 f., 84, 112 Tatistcheff, Serge 14, 38
407
Tauentzien, Bogislav Friedrich Emanuel von 154, 158 f., 162, 164, 166 f. Tempel, Ferdinand 15, 65 f. Teulon 173, 180 Thulemeier, Friedrich Wilhelm Freiherr von 175 – 177, 180 Tolstoi, Peter Graf 112, 117 f. Troschke 325 Twarowski 109 Valckenaer, Johan 138 Valens, oströmischer Kaiser 59 Valentini, Georg Wilhelm von 158 Vattel, Emer de 76 Vaupel, Rudolf 40 Veitel, Heimann 208 Velhagen 353 Veltzke, Veit 156 f., 165 Victor, Claude-Victor Perrin (gen. Victor) 159, 169, 192, 218 f., 331 Villemanzy, Jacques-Pierre Orillard Comte de 170 Vincke, Ludwig Freiherr von 92, 134, 137, 154, 203, 214, 221, 240, 291, 295 f., 305 Vogel, Barbara 18, 92, 241 Voß, Otto Carl Friedrich von 100, 130, 132, 159, 184, 223, 225, 313 f. Waldersee, Graf Friedrich 131 Weber, Max 13, 168 Wedell, Wilhelm von 310 Wehler, Hans-Ulrich 39, 221 Weiher, von 220 Werner 336 f., 339 Wibeau 207 Wieland, Christian Martin 80 Wietzoreck, Johann 227 Wilhelm I., Kurfürst von Hessen 136, 296 Wilhelm, Prinz von Oranien 263 Wilhelm, Prinz von Preußen 115 – 117, 122, 124 f., 159, 165, 184, 232 Winter, Georg 40 Winterfeldt 99 f. Wolber 336 Wolff, Christian 77 Wöllner, Johann Christoph von 343 Wolzogen, Caroline von 80 Wulf, Lippmann Meyer 208
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Personenregister
Yorck, Ludwig von 109 f., 150 f. Zastrow, Friedrich Wilhelm Christian von 54, 151, 220
Zelter, Karl Friedrich 207 Ziekursch, Johannes 17 Zieten, Friedrich Christian Ludwig von 258