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German Pages [265] Year 2016
Friedenstheorien
1
Alfred Hirsch / Pascal Delhom (Hg.)
Friedensgesellschaften – zwischen Verantwortung und Vertrauen
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808214
.
B
Alfred Hirsch / Pascal Delhom (Hg.) Friedensgesellschaften
ALBER FRIEDENSTHEORIEN
A
https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Dieser Band zielt darauf ab, mit Hilfe der ineinander verschränkten Haltungen des Vertrauens und der Verantwortung neue Zugänge zur Friedensthematik am Anfang des 21. Jahrhunderts zu eröffnen. Die hier versammelten Aufsätze gehen gemeinsam von der Annahme aus, dass Frieden mehr ist als die Aussetzung des Kampfes und die Pause zwischen den Kriegen und dass dieses »mehr« nicht nur auf der Ebene von rechtlichen oder politischen Institutionen, sondern auch auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen und der gesellschaftlichen Lebenswelt gesucht und analysiert werden soll. Vertrauen und Verantwortung stehen sowohl in Bezug auf eine Genealogie des Friedens als Friedensstiftung wie auch auf die Erhaltung des Friedens als Friedenswahrung im Zentrum dieser Analysen. Darüber hinaus haben Vertrauensprozesse und Verantwortungsbeziehungen nicht nur in innergesellschaftlichen Zusammenhängen eine für Konfliktschlichtungen und Friedensentwicklungen herausgehobene Bedeutung, sondern auch für globale Verhältnisse, da diese neben den zwischenstaatlichen Strukturen zunehmend von einer transnationalen Weltgesellschaft geprägt werden. Interpersonale und soziale Beziehungen erhalten in diesem Kontext ein besonderes Gewicht, da sie die Beziehungen zwischen- und transstaatlicher Institutionen nicht nur durch neue soziale Verbindlichkeiten ergänzen, sondern für deren Funktionieren und Weiterentwicklung sogar konstitutiv sind.
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Alfred Hirsch / Pascal Delhom (Hg.)
Friedensgesellschaften Zwischen Verantwortung und Vertrauen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Alber-Reihe Friedenstheorien Band 1
Herausgegeben von: Pascal Delhom, Alfred Hirsch, Christina Schües Wissenschaftlicher Beirat: Robert Bernasconi, Claudia von Braunmühl, Gertrud Brücher, Hauke Brunkhorst, Monique Castillo, Hajo Schmidt, Eva Senghaas, Christoph Weller
© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48678-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80821-4
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Inhalt
Alfred Hirsch und Pascal Delhom Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
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Sektion 1: Verantwortung Alfred Hirsch Friedensbeziehungen – von der Pflicht zu den Spielräumen der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Petar Bojanić Die kollektive Verantwortung als Bedingung für den Frieden. Imputationen und Amputationen. Über die Zurechnung (Imputation) zur Gruppe und über die Zurechnungsfährigkeit der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Gertrud Brücher Menschen-Recht auf Verantwortung . . . . . . . . . . . . . .
81
Jovan Babić Struktur des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
Sektion 2: Vertrauen Burkhard Liebsch Transparenz und/oder Vertrauen. Revisionen zeitgemäßer Ideen öffentlicher Sichtbarkeit in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens .
125
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Inhaltsverzeichnis
Christina Schües Vertrauen oder Misstrauen vertrauen? . . . . . . . . . . . . .
156
Sektion 3: Verantwortung und Vertrauen Hans-Martin Schönherr-Mann Verantwortung und Vertrauen nach dem Ende der Kriegshoffnungen Oder: Fördert die Ethik das Vertrauen? . . . . . . . . . . . . Tobias Nikolaus Klass Frieden gegen den Terror?
185
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Pascal Delhom Frieden mit Verantwortung und Vertrauen. Versuch über den Frieden als soziale Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
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Pascal Delhom und Alfred Hirsch
Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
Es geht im vorliegenden Band im Wesentlichen um die doppelte Frage, was Frieden ist und wie er verwirklicht werden kann. Wir gehen von der Feststellung aus, dass eine bloß negative Bestimmung des Friedens, wie sie lange Zeit üblich war und zumeist auch noch ist, als Nicht-Krieg und Eklipse der zwischenstaatlichen Gewalthandlungen, wenig Aufschlüsse darüber zu geben vermag, wie Frieden eigentlich verfasst ist. Diesem entsprechend stellen sich denjenigen, die den Frieden verstehen wollen, viele Fragen: Welches sind die ihn wesentlich konstituierenden Strukturen, Praktiken und Diskurse? Wie sieht zum Beispiel der ›Bürgerfrieden‹ im Unterschied zum Bürgerkrieg aus, was zeichnet ihn über die bloße Gewaltfreiheit hinausgehend aus? Dabei gilt es zuerst, zwischen verschiedenen Ebenen zu unterscheiden, auf denen sinnvoll von Frieden gesprochen werden kann. Eine erste und sicher wichtige Ebenendifferenz finden wir zwischen dem innergesellschaftlichen und dem zwischenstaatlichen Frieden. Insbesondere die vergangenen Jahrzehnte im europäischen und weltweiten gewaltsamen Konfliktgeschehen zeigen jedoch, dass es zwischen diesen beiden Ebenen zahlreiche und vielgestaltige Übergänge und Zwischenformen gibt – es lassen sich etwa auf der kriegsbezogenen Ebene der ›klassische‹ Bürgerkrieg, ethnisch-kulturelle Konflikte, die Staatsgrenzen übertreten, oder der neuartige ›Staatenkrieg‹, der als ›Krieg gegen den Terror‹ deklariert wurde, identifizieren. Nicht zu jedem dieser kriegsbezogenen Beispiele gibt es auch ein Friedenspendant. Denn hinsichtlich der Verfasstheit des Friedens zeigt sich, dass dieser vor allem im Hinblick auf funktionierende gewaltfreie Beziehungen innerhalb von und zwischen Ordnungen – seien dies soziale, kulturelle und/oder politische Ordnungen – zu beschreiben ist. Es gibt gute Gründe, diese unterschiedlichen Ordnungen analytisch zu differenzieren, zugleich aber lassen sich auch hier eine Vielzahl von Überschneidungen und Verschlingungen aus7 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Pascal Delhom und Alfred Hirsch
machen, wie etwa diejenige von sozial und kulturell geprägten Friedensbeziehungen, die vor jeder politischen Ordnung anzusiedeln sind. Oder es lassen sich außerordentlich friedfertige Konstellationen vor dem Hintergrund interkultureller und innergesellschaftlicher Beziehungen beobachten, die sich im Kontext politischer Ordnung entfalten und diese auch bis zu einem gewissen Maße tragen. Darüber hinaus darf nicht unbeachtet bleiben, dass all diese Interferenzen und Übergangsphänomene, die einen bestimmten Friedenszustand markieren, in der politischen Moderne auf der für sie so entscheidenden Etablierung einzelstaatlicher Souveränität aufbauen. Die äußere Souveränität eines Staates bedeutet seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegenüber anderen Staaten, sie bedeutet auch, dass ein Staat notfalls die Grenzen seines Territorium mittels militärischer Gewalt verteidigen und schützen kann. Diese ergänzend waltet im Innern des modernen Staates eine Souveränität, die sich auf ein Gewaltmonopol stützt, das mittels der Rechtsinstitutionen, der Administration und der polizeilichen Exekutive Ruhe und Ordnung im Staat garantiert. Sicherlich sind diese Formen staatlicher Souveränität, die die innerstaatliche Freiheit von privater Gewalt kontrollieren, die aber der zwischenstaatlichen Konfrontation oder Kooperation erst Gestalt geben, wieder ihrerseits auf die sie akzeptierenden und unterstützenden Bürger angewiesen. Dies löst allerdings nicht das Problem der mit ihr verbundenen Legitimation von Gewalt. Dies ist der Hintergrund, vor dem sich nun die Aufgabe stellt, die Möglichkeit friedfertiger Gesellschaften und ihrer Beziehung zueinander ausgehend von den zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen zu beschreiben. Hierauf aufbauend sollen die Voraussetzungen für die Verstetigung und Manifestierung von Friedenskräften in Staat und Recht durch Verantwortung und Vertrauen, die den Fokus des vorliegenden Bandes ausmachen, entfaltet werden. Entscheidend für diese Beziehung von Vertrauen und Verantwortung einerseits sowie Frieden andererseits ist allerdings, dass nicht primär ein moralischer Mehrwert aus dieser Verbindung geschlagen wird. Insbesondere sollte hinsichtlich des Friedensbegriffes darauf geachtet werden, dass dieser nicht durch pathetische und sozial harmonische Verschmelzungsphantasien kontaminiert wird. Denn dies kann besonders schnell geschehen, wenn eine inhaltlich positive Bestimmung des Friedensbegriffes entfaltet werden soll.
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Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
1.
Am Anfang war der Krieg?
Lange war der Frieden ein Randthema der Philosophie. Wenn wir heute an das antike Griechenland denken, so erinnern wir uns nicht primär an bestimmte Friedensauffassungen, sondern eher an die Formel Heraklits: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König« (Heraklit 2007, 19: Fragment B 53). Nicht der Frieden, sondern der Krieg (polemos) war für ihn die positive und fruchtbare Kraft des Lebens: »Der Krieg führt zusammen, und Recht ist Streit, und alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit« (ebd., 27: Fragment BH80). In den Schriften Platons tauchen die Phänomene Krieg und Frieden immer wieder auf (vgl. Platon 1990b (Politeia), 369bc–373de; 1990 (Gorgias), 518e), allerdings nie in der Form einer zentralen und ausführlichen Auseinandersetzung. Gleiches gilt für die Arbeiten Aristoteles’, auch wenn er in der Nikomachischen Ethik das Ideal des Friedens skizziert (vgl. Aristoteles 2006, X 6, 1176a30-b9) oder in der Politik den Krieg gegen Barbaren mit der Jagd auf wilde Tiere vergleicht (vgl. Aristoteles 2012, I 8, 1256b23–26; I 1, 1252b6–9). Erst bei Augustinus, in Vom Gottesstaat (Augustinus 1955, Buch XIX), findet sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Friedensbegriff. Die hier formulierten Überlegungen sind differenziert und explizieren einen eigenständigen Friedensbegriff, in dem bereits exemplarisch Frieden als positive Ordnung gedacht wird, die nicht allein ›negativ‹ an den Rändern des Krieges Kontur gewinnt (vgl. Delhom/Hirsch 2007, 10 ff.). Die augustinische Definition des Friedens als »Ruhe der Ordnung« (Augustinus 1955, 556), die in einem kosmologischen Sinn verstanden werden soll, wurde zur zentralen Referenz für die Auseinandersetzung mit Frieden in der mittelalterlichen Scholastik und bis zum Ende der Renaissance. Allerdings hatte hier das Thema des Friedens selbst nicht die Prominenz, die es bei Augustinus hatte. 1 Im humanistischen Zeitalter findet sich in vielen Schriften von Erasmus von Rotterdam erneut eine eingängige philosophische The1 Dies gilt sogar für bekannte Friedensschriften, wie etwa der Defensor Pacis von Marsilius von Padua (1324), dessen zentrales Thema eigentlich die Volkssouveränität ist und in dem die Macht des Papstes deswegen kritisiert wird, weil sie die Ruhe der innerstaatlichen Ordnung stört (Marsilius von Padua 1958), oder De pace fidei von Nikolaus von Kues (Nikolaus von Kues 2002), das sich in der Form eines Dialogs als ein Plädoyer für religiöse Toleranz präsentiert, allerdings auf Grund der Universalität der Grundannahmen des Christentums, um die es im Buch zentral geht.
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Pascal Delhom und Alfred Hirsch
matisierung des Friedens und nicht nur – wie zumeist in der Ideengeschichte des Abendlandes – eine Fokussierung auf den Krieg. Besonders prominent, aber wahrlich nicht isoliert, ist in dieser Hinsicht seine Schrift Querela Pacis (vgl. Erasmus v. Rotterdam 1968, 374 ff.). Ansonsten setzt sich aber die besagte Einseitigkeit in der Betrachtung der beiden Phänomene fort und zieht sich bis in die Gegenwart. Der Krieg springt ins Auge und wird in philosophischen Texten – zumal nur sporadisch und am Rande – behandelt, während hingegen der Frieden selbst diese marginale Aufmerksamkeit nicht erfährt. Für die Philosophen – und nicht nur für sie – hat er etwas Unscheinbares. »Er kann gebrochen werden, aber er bricht nicht selbst wie ein Sturm über uns herein, sein Kommen äußert sich darin, dass die Wogen sich glätten, dass Wunden heilen, dass Ruhe eintritt oder die Opfer der Gewalt ihre Ruhestätte finden« (Waldenfels 2007, 229). Die konstruktiven und destruktiven Kräfte des Lebens scheinen sich mit denen des Krieges zu verbünden, während hingegen der Frieden in die Ruhe und Stille der bequemlichen Ereignislosigkeit herabsinkt (vgl. Nietzsche 1980, 587). Der Frieden gilt auch und vor allem den Denkern der Neuzeit vorrangig als Beendigung des Krieges, dessen Auffälligkeit gegenüber dem Frieden nicht nur durch die Häufigkeit der Thematisierungen dokumentiert wird, sondern sich auch in der Bedeutungsgewichtung widerspiegelt. Der Krieg erhält in der ihn analysierenden Erkenntnis Struktur, Differenzierung und Prinzipien, wohingegen der Frieden als bloße Kriegslosigkeit das ungestaltete Andere des Krieges, sein Negativ, ist (vgl. Hegel 1986, 42). Es mag daher nicht verwundern, wenn die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie den Frieden stets nachrangig gegenüber dem Zustand des Krieges und der Gewalt thematisiert. Es gibt allerdings dazu eine wichtige Ausnahme: Seit vier Jahrhunderten ist der Frieden im philosophischen Denken des Westens mit einem Denken des Staates und des Rechts verbunden, die ihn sichern und notfalls mit Gewalt durchsetzen sollen. Deutlich wird dies insbesondere im Denken Thomas Hobbes’, der am Beginn der Neuzeit stehend dem Bezug von Krieg und Frieden eine nachhaltige Orientierung verleiht (Hirsch 2004, 61 ff.). Er prägt den Begriff des Friedens als Mittel der Lebenserhaltung für die einzelnen Individuen. Im Naturzustand des Krieges eines jeden gegen jeden werden die Menschen durch drei Leidenschaften friedfertig gemacht: »Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind, und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können. Und die Vernunft legt die 10 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
geeigneten Grundsätze des Friedens nahe, auf Grund derer die Menschen zur Übereinstimmung gebracht werden können« (Hobbes 1984, 98). Die Grundsätze der Vernunft sollen jeden Menschen dazu bringen, auf seine Rechte auf alles freiwillig zu verzichten, »soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält« (Hobbes 1984, 100), mit anderen Menschen Verträge (d. h. wechselseitige Übertragung von Rechten) zu schließen und letztendlich den Staat als die Instanz einzusetzen, die mit legitimer Gewalt die Erfüllung der Verträge erzwingen kann. Dieser für die historisch nachfolgenden philosophischen Denker so entscheidende Ansatz Hobbes’ weist allerdings deutlich auf seine eigenen Mängel hin. Denn die hobbesianischen Überlegungen sind blind für die Genealogie des Vertragsfriedens. Sie thematisieren nicht und verstehen mithin nicht, welche intra- und interkollektiven Prozesse Frieden entstehen lassen und welche ihn erhalten. Einerseits an die hobbesianische Konzeption anknüpfend, andererseits über sie hinausgehend entwickeln der Abbé de Saint-Pierre und nach ihm Jean-Jacques Rousseau die Prämissen eines dauerhaften, d. h. ›ewigen Friedens‹ in Europa (vgl. Hirsch 2012, 141 ff.). Gemäß ihrer Auffassung hängt der Frieden nicht primär von der internen Organisation einer gesellschaftlichen Ordnung, sondern von den Beziehungen zwischen den Staaten ab. Saint-Pierre plädiert entsprechend für eine föderative Regierungsform in Europa, »welche die Völker durch Bindungen, ähnlich denen zwischen den Individuen, vereinigt und allesamt in gleicher Weise der Autorität der Gesetze unterwirft« (Rousseau 1989, 8). Anders als die Individuen können allerdings die Staaten ihre Souveränität nicht einem höher gestellten Staat übertragen, denn dies würde ihre Auflösung bedeuten. Die rechtliche Form der Bindungen zwischen Völkern muss entsprechend diejenige eines Völkerbundes und nicht eines Völkerstaates sein. In den zwei ersten Definitivartikeln seines philosophischen Entwurfs »Zum ewigen Frieden« übernimmt und verbindet Kant die bereits erwähnten inner- und zwischenstaatlichen Ebenen des Friedens und fordert den Republikanismus als Form der bürgerlichen Verfassung und den Föderalismus freier Staaten als Grund des Völkerrechts. Er fügt einen dritten Artikel hinzu, der die Beziehungen von Individuen zu fremden Staaten im Weltbürgerrecht regeln und »auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« soll (Kant 1977, 213). Hiermit erweitert er die Tragweite des Rechts auf die ganze Menschheit und legt die Basis nicht nur eines europäischen 11 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Pascal Delhom und Alfred Hirsch
Völkerrechts, sondern eines weltweiten Bürgerrechts (vgl. Liebsch 2007, 411 ff.). In all diesen Ansätzen werden Staat, Recht und monopolisierte Gewalt als die Instanzen anerkannt, die für die Stiftung und die Gewährung des Friedens zuständig sind. Diese Auffassung prägt noch weitgehend die Art und Weise, wie heute die Frage des Friedens philosophisch gestellt wird. Die Veröffentlichungswelle zum 200. Jubiläum des Kantschen Traktats hat nicht nur eine Debatte erneut ausgelöst, die schon in der Zeit Kants entfacht wurde (vgl. Dietze u. Dietze 1989), sondern auch ihre erstaunliche Relevanz für politische Prozesse der Nachkriegszeit bewiesen, besonders für die Entwicklungen des internationalen Rechts und für die Bildung Europas sowie für theoretische Ansätze, z. B. das in der deutschen Friedensforschung viel diskutierte zivilisatorische Hexagon Dieter Senghaas’ (vgl. Senghaas 1997, 571 ff.) oder Theorien des demokratischen Friedens. Doch die gewaltigen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den Bereichen der global agierenden Wirtschaft, der neuen Formen von Kriegen und bewaffneten Konflikten, der gleichzeitigen Entdifferenzierung und Radikalisierung kultureller Feindbilder, der Probleme der Sicherheit und des Terrorismus auf der einen Seite sowie sich entwickelnde weltgesellschaftliche Strukturen und Ansätze einer transnationalen Zivilgesellschaft auf der anderen Seite lassen die Rolle der Staaten in der Lösung gesellschaftlicher Probleme sowie allgemeiner in der Organisation kollektiver Ordnungen geringer werden, sowohl in der Innen- wie in der Außenpolitik. Dies führt zur Notwendigkeit, Formen und Prozesse gesellschaftlicher Bindungen zu denken, die nicht auf die Funktionen staatlicher Institutionen zu reduzieren und die doch Bedingung der Möglichkeit eines friedfertigen Zusammenlebens der Menschen und der Völker sind. Die komplementären Dimensionen der Verantwortung und des Vertrauens sind solche Formen gesellschaftlicher Bindung, die für die Befriedung von interindividuellen, intrakollektiven und interkollektiven Beziehungen grundlegend sind, die allerdings – nicht nur im philosophischen Diskurs – nur unzureichend befragt werden.
2.
Was hat Frieden mit Verantwortung zu tun?
Die Beziehung von sozialer Verantwortung und Frieden ist von besonderem Gewicht, weil im Zeitalter der Globalisierung und der mit 12 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
ihr einhergehenden Schwächung des traditionellen Nationalstaates die Fürsorgepflicht der Einzelnen, der innerstaatlichen und transstaatlichen Institutionen und der multinationalen Unternehmen zunimmt. Verantwortungen, die der einzelne Staat abgibt, 2 gehen an diejenigen Menschen und Institutionen über, die bereits in verbindlicher Beziehung zum gesellschaftlichen und zwischengesellschaftlichen Frieden stehen. Dort, wo Entwicklungen und Vorgänge nicht determiniert oder notwendig ablaufen, liegen sie in der Reichweite des Handelns von Menschen. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Möglichkeiten ihres Handelns oder ihres Unterlassens von Handlungen. Verantwortung benennt exakt die Verbindlichkeit der Menschen, im Rahmen von Möglichkeiten und Handlungsspielräumen Aufgaben zu übernehmen, deren Übernahme er nicht abweisen kann. Unsere Überlegungen wenden sich, mit dieser Betonung, der interpersonalen und akteursbezogenen Dimension der Verantwortung zu und distanzieren sich damit bewusst von einer zumeist rein institutionalistischen Perspektive konventioneller Friedenstheorie. Dies heißt keineswegs, dass die Bedeutung von nationalen und internationalen politischen Institutionen für die Schaffung und die Erhaltung des Friedens unterschätzt wird. Vielmehr liegt uns an einer theoretischen Blickverschiebung, durch die auf der Grundlage zunächst interpersonal gedachter Verantwortungskonstitution Akteure ins Blickfeld geraten, die nicht vorrangig aufgrund gesetzlicher ›Pflichten‹, sondern aufgrund von Vorsorge- und Fürsorgeverantwortungen gegenüber anderen Menschen handeln. Insbesondere mit Blick auf die Aufgabe des Friedens gilt es zudem, einen Verantwortungsbegriff freizulegen, der sich von seiner Dies soll nicht als ein Plädoyer für einen Rückzug des Staates und der staatlichen Akteure aus ihrer Verantwortung für den Frieden verstanden werden. Staaten sind vielfach verantwortlich sowohl für kriegerische Unternehmungen wie auch für die Erfüllung der Aufgabe des Friedens. Sie sollten von dieser Verantwortung nicht entlastet werden! Doch angesichts der Globalisierung sozialer Beziehungen zwischen einzelnen und institutionellen Akteuren, der keine Globalisierung der Staaten entspricht, muss diese Verantwortung zunehmend durch eine soziale Verantwortung ergänzt werden. Darüber hinaus scheint es wichtig, die besondere soziale Verbindlichkeit von Verantwortung und Vertrauen zu betonen, die nicht auf ein Monopol legitimer Gewalt rekurrieren muss, um den Frieden zu sichern. Für eine einleuchtende, historisch und thematisch differenzierte Darstellung der Rolle von Verantwortung und Vertrauen im westlichen Verständnis der repräsentativen Demokratie, vgl. Plöhn 2013.
2
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eindimensionalen juristischen Beschränkung distanziert. Dieser nämlich erfasst die Beziehung zwischen einem handelnden Subjekt und einem Objekt der Bewertung derart, dass dem Subjekt die Folgen seines Handelns ›zugerechnet‹ oder ›zugeschrieben‹ werden. Dabei ist die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt selbst keineswegs wesensmäßig oder natürlich festgelegt, sondern wird diskursiv gestiftet und zweifelsfrei der Veränderung von menschlichen Praktiken angepasst. Eine scharfe Trennung von Mensch und ›Natur‹ ist im Verantwortungsbegriff damit implizit vorausgesetzt. Im Hintergrund dieser begrifflichen Bezüge und Festlegungen steht allerdings ein mehr oder weniger deutlich erkennbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Zuzurechnen ist ein Schaden als Wirkung einem bestimmten Subjekt als Urheber dieses Schadens nur, wenn die Handlung des Subjekts in eine kausale Linie dieser negativen Wirkung gebracht werden kann. ›Zugerechnet‹ und damit ›verantwortlich gemacht werden‹, bedeutet in diesem Sinne immer, ex post facto ein frei handelndes Subjekt für die negative Wirkung seiner Handlung zu adressieren. Das heißt, es wird erst dann nach einem Verantwortlichen gesucht, wenn ein bestimmter Schaden eingetreten ist. Die ideale Bedingung einer solchen Suche ist, dass ein direkter Weg von einer Schadenswirkung zu einem Urhebersubjekt führt. Wenn beispielsweise ein Mensch durch sein fahrlässiges Verhalten die Schädigung eines anderen Menschen herbeiführt, ist ersterer als Urhebersubjekt erkennbar. Eine Zurechnung ist daher möglich und bedeutet für das Urhebersubjekt, dass es für den entstandenen Schaden aufkommen muss, d. h. in einem juristischen Sinne. Schwieriger wird eine solche ›Verrechnung‹ – wie sie ja in der Semantik des Wortes ›Zurechnung‹ mitschwingt –, wenn ein Ausgleich des Schadens nicht wirklich möglich ist. Wenn beispielsweise der geschädigte Mensch zu Tode kommt, haben wir es zwar mit einer eindeutigen Zurechenbarkeit an ein verantwortliches Subjekt zu tun, doch selbst wenn dieses durch Schadenszahlung an die Hinterbliebenen juristisch seine Schuld abtragen kann, bleibt noch ein nicht benennbares Ausmaß an Verantwortung, die nicht verrechnet werden kann, übrig. Eine Zurechnung an eine subjektive Handlung ist zwar möglich, aber die im Rechtszusammenhang stets implizierte Reziprozität von Verantwortung/Pflicht einerseits und Rechten andererseits wird hier deutlich unterminiert. Es bleibt mithin die Frage nach einer moralischen, vorrechtlichen Verantwortung, die nicht mehr oder noch 14 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
nicht in der Kategorie der Zuschreibung aufgeht. Auch wird anhand des genannten Beispiels deutlich, dass Verantwortung nicht allein auf die kausale Beziehung zwischen Subjekt und Objekt reduziert werden kann, sondern zudem zu berücksichtigen ist, dass diese Beziehung in eine Ordnung von Normen eingelassen ist. Neben der Bedeutung der Handlungsfolgenzurechnung beinhaltet der Verantwortungsbegriff mithin eine normative Orientierung, wodurch die Beziehung eines Subjekts zur Erhaltung und Stiftung eines als bejahenswert und positiv eingeschätzten Zustandes bezeichnet wird. Nicht nur die Zuschreibung negativer Folgen einer Handlung, sondern auch der mit vermutlich positiven Folgen versehene Umgang mit einer Sache ist Verantwortung zu nennen. Haben wir es dort mit einer ex post facto Zuschreibung zu tun, haben wir es hier mit einer ex ante facto ›Sorge um‹ zu tun. Das Englische unterscheidet hier zwischen ›accountability‹ und ›responsibility‹ (vgl. Bernasconi 2007, 222). Die Verantwortung, die sich um die Stiftung und Bewahrung eines positiven Zustandes sorgt, ist daher auch eher prospektiv, während die Zurechnungsverantwortung retrospektiv einsetzt. Auch ein solcher Typ von Verantwortungsdiskurs korrespondiert mit modernen Zuständen, wie etwa der Verantwortlichkeit für die Stiftung einer friedfertigen und gerechten Gesellschaft oder die Sorge um die Bewahrung des ökologischen Gleichgewichts usw. Es ist unter anderen Hans Jonas zu verdanken, ein besonderes Gewicht auf diesen Aspekt des Verantwortungsdiskurses gelegt zu haben. Jonas geht es um einen Begriff von Verantwortung, »der nicht ex-post-facto Rechnung für das Getane, sondern die Determination des Zu-Tuenden betrifft; gemäß dem ich mich also verantwortlich fühle nicht primär für mein Verhalten und seine Folgen, sondern für die Sache die auf mein Handeln Anspruch erhebt. Verantwortung zum Beispiel für die Wohlfahrt Anderer ›sichtet‹ nicht nur gegebene Tatvorhaben auf ihre moralische Zulässigkeit hin, sondern verpflichtet zu Taten, die zu keinem anderen Zweck vorgehabt sind.« Wenn auch die Mittel-Zweck-Relation diskursives Leitbild bleibt, so hat das »›für‹ des Verantwortlichseins […] hier offenbar einen völlig anderen Sinn als in der vorigen, selbstbezogenen Klasse« (Jonas 1984, 174). In der Idee einer prospektiven Verantwortung, die Jonas in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung entwickelt, deutet sich eine Dimension des Verantwortungsdiskurses an, in dem eine Verbindlichkeit an der ›Sache‹ und an dem Zustand, der andere betrifft, ausgerichtet ist. ›Für‹ jemanden und etwas verantwortlich zu sein, heißt, sich ganz 15 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Pascal Delhom und Alfred Hirsch
und gar an den Ansprüchen dieses jemanden und dieses etwas zu orientieren. Nun findet sich bei Jonas gleichwohl keinerlei Auskunft über die Herkunft und die Genese einer solchen Verantwortungsdimension. Warum ist ein Mensch überhaupt verantwortlich für andere Menschen und friedfertige Zustände, die ihn nicht unmittelbar selbst betreffen und in großer räumlicher und manchmal auch zeitlicher Entfernung stattfinden? Warum gibt es ein ›Gefühl‹ oder einen ›Impuls‹ der Verantwortung, der ganz ohne institutionelle Verpflichtungen auskommt und diesen sogar vorausgeht? Lässt sich eine Verantwortung, bei der jemand ›für‹ etwas oder jemanden verantwortlich ist, überhaupt begrenzen, so als könne man nach getaner Hilfeleistung feststellen, nun müssten die Bedürftigen für ihr Schicksal alleine aufkommen, da man seine Verantwortung abgeleistet habe? Offensichtlich verhält es sich anders und es wird deutlich, dass es für eine Verantwortung, die ›für‹ andere übernommen wird, prinzipiell keine Begrenzung gibt. Kaum ein Autor hat dies so insistierend und nachdrücklich beschrieben wie Emmanuel Levinas: »Der Mensch ist«, schreibt er, »verantwortlich für die Welt (responsable de l’univers), Geisel des Geschöpfs (otage de la créature). […] Außerordentliche Würde (dignité extraordinaire). Unbegrenzte Verantwortung (responsabilité illimitée) […] Der Mensch gehört nicht zu einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern eine begrenzte Verantwortung (responsabilité limitée) überträgt. Er ist Mitglied einer Gesellschaft mit unbeschränkter Verantwortung (responsabilité illimitée)« (Levinas 1998, 134–137). Und dabei handelt es sich um eine Verantwortung für etwas, das ich nicht getan habe, für Zustände, die ich nicht herbeigeführt habe und für die Zukunft einer Welt, deren Entwicklung ich in keiner Weise voraussehen kann. Auch gibt es keine Beschränkung in Bezug auf die Menschen, für die ich verantwortlich bin. Es ist nicht möglich, mich für diese oder jene zuständig zu befinden und für andere nicht. Die Verantwortung kommt ohne mein Wollen und ohne meine Intention auf mich zu und nötigt mich, das Leid der anderen auf mich zu nehmen, und dies gilt ganz ohne Zweifel auch für das Leid, das ihnen nicht durch mich angetan wurde. Die prinzipielle Unbegrenztheit der Verantwortung für eine friedfertige Weltgesellschaft führt zugleich zu einem neuartigen Verständnis universeller Verpflichtungen. Denn die Aufgabe, einen Friedenszustand herbeizuführen, der nicht nur für einige privilegierte Teile der Welt gilt, hat auf noch unvorhersehbare Ansprüche zu antworten. Diese können in der Verknappung von Lebensmitteln oder 16 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
Wasser, in ökologischen und Naturkatastrophen, aber auch in der Entstehung neuer Konflikte begründet sein. Verantwortung als universale Aufgabe muss sich daher auch als Fortschreiten zu einer stets unabgeschlossenen und stets neu zu gewinnenden Universalität verstehen. Zweifelsfrei beruht aber gerade in dieser Universalität der Verantwortung eine nicht unerhebliche Gefahr für die Struktur ihrer Verbindlichkeit, denn eine Verantwortung für alles und jeden kann schnell zur Überforderung und zum Verlust konkreter Zuständigkeit führen (vgl. Picht 1969, 333). Von besonderer Bedeutung für diese Überlegungen ist die intensive Verschlingung des Verantwortungsparadigmas in dasjenige des Vertrauens. Denn das eine würde ohne das andere kaum seine normative Wirkung entfalten. Die Vertrauensgabe, die eine »der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft« ist (Simmel 1992, 393), ruft stets denjenigen zur verantwortlichen Replik auf, dem Vertrauen geschenkt wurde. Zu beachten ist in diesem Kontext, dass die spezifische Normativität, die sich aus der Beziehung von Verantwortung und Vertrauen ergibt, eine lebensweltliche Normalität darstellt – und dabei nur in Ausnahmefällen einem bewussten reziproken Verpflichtungsverhältnis entspricht (Delhom 2007, 346). Zweifelsfrei lassen sich in der alltäglichen und gesellschaftlichen Erfahrung Brüche im Zusammenspiel von Vertrauen und Verantwortung beschreiben. Jedoch stellt die Normalität der interpersonalen und sozialen Vertrauens–/Verantwortungsbeziehung die Basis eines positiven Friedensgeschehens dar, d. h. sie erweist sich als Grundlage eines Friedensbegriffes, der nicht nur negativ die Abwesenheit von Krieg und Gewalt bezeichnet, sondern die bereits vorhandenen lebensweltlichen Voraussetzungen für einen intra- und interkollektiven Frieden skizziert. Für die Konzeption des vorliegenden Bands war es entsprechend eine Leitfrage, ob und wie auf der Basis dieser Überlegungen über die Verantwortung und ihre Verankerung in sozialen Beziehungen ein Element der sozialen Verbindlichkeit gewonnen werden kann, das friedfertig und friedenswirksam ist – und darüber hinaus zur friedensstiftenden Dynamik einer globalen Zivilgesellschaft beizutragen vermag. Hieran knüpfte die Frage nach der Überführung der skizzierten, tendenziell unbegrenzten, interindividuellen und sozialen Verantwortung in eine Instituierung und eine entsprechende Begrenzung von Verantwortung an. Denn dauerhaft muss eine unendliche Verantwortung zur Überforderung des Individuums und damit zum 17 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Pascal Delhom und Alfred Hirsch
Scheitern eines Verantwortungskontinuums führen (vgl. Delhom/ Hirsch 2007, 57).
3.
Das Vertrauen als Grundlage friedfertiger Gesellschaftsbeziehungen
Das Vertrauen genießt seit einigen Jahren große Aufmerksamkeit in den Sozialwissenschaften. Doch es ist sowohl in der Friedensforschung wie in der Philosophie noch ein unterbeleuchtetes Thema. In der Geschichte der Philosophie fand es bis auf einzelne Monographien und gelegentliche Erwähnung, vor allem im Rahmen der politischen Vertragstheorie, wenig Beachtung. Sogar Denker der zwischenmenschlichen Beziehungen erwähnen zwar beiläufig, wenn überhaupt, das Vertrauen, aber es bleibt für sie ein Randphänomen. Doch es ist ein Grundgedanke des vorliegenden Bandes, dass weder eine Sozialphilosophie des Friedens noch ein philosophisches Denken der Verantwortung das Thema des Vertrauens ignorieren können. Der Frieden ist eine Aufgabe, die nur mit den anderen Menschen erfüllt werden kann. Er fordert also sowohl ihre Einbeziehung im eigenen Handeln und Verhalten wie auch unsere Beziehung zu ihrem Handeln und ihrem Verhalten. Letztere fordert Vertrauen. Doch diese (Ein-)Beziehung Bedeutet für den Vertrauenden eine doppelte Unsicherheit: Er wird mit der Freiheit der anderen Menschen konfrontiert, die er nicht kontrollieren, deren Fremdheit er nicht durch Erkenntnis (der Person oder von Natur- oder Sozialgesetzen) oder durch seinen Willen überwinden kann, die sogar für ihn eine Gefahr darstellen könnte. Er wird auch mit der Offenheit der Zukunft konfrontiert, die besonders groß ist in Bezug auf menschliches Handeln und in Gesellschaften, deren Ordnung ihre Einbettung in Traditionen verloren hat. Diese doppelte Offenheit der menschlichen Welt bedeutet für jedes Mitglied der Gesellschaft eine hohe Komplexität des Handlungs- und Verhaltenszusammenhangs, entsprechend eine hohe Zahl offener Möglichkeiten des Handelns und ein unzureichendes Wissen, um eine rationale Entscheidung zu treffen. Mit dieser Offenheit ist immer ein gewisses Risiko verbunden. Das Vertrauen bedeutet aber, und gerade darin besteht seine Stärke, ein Element der Zuverlässigkeit in dieser Offenheit und trotz der Kontingenz der menschlichen Welt. Es bedeutet eine Reduktion ihrer Komplexität – wie sich mit 18 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
Luhmann entwickeln lässt (Luhmann 2000, 27 ff.) –, d. h. die Möglichkeit eines vereinfachten Umgangs mit der doppelten Kontingenz der Spontaneität der anderen einerseits und der eigenen Situation andererseits, ohne jedoch das Risiko jemals gänzlich aufheben zu können. Deswegen kann die Option des Vertrauens zwar das Ergebnis einer vernünftigen Wahl sein, aber es fordert immer auch einen Glaubensüberschuss, der nicht rational begründbar ist. Das Vertrauen bleibt immer ein Wagnis. Es kann dennoch gewagt werden, weil es eine eigene Verbindlichkeit enthält, die das Risiko seiner Enttäuschung vermindert, wenn auch nie gänzlich aufhebt. Auf Grund dieser Verbindlichkeit bildet das Vertrauen »eine der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft«. (Simmel 1992, 393; vgl. auch Simmel 1989) Diese Verbindlichkeit entfaltet sich auf drei verschiedenen Ebenen: im Akt des Schenkens des Vertrauens bzw. im vertrauensvollen Verhalten, in einem diesem Akt und diesem Verhalten zugrunde liegenden Vertrauensethos und im sozialen und institutionellen Rahmen des Vertrauens. Der Akt des Vertrauensschenkens ist nicht normiert und kann nie hinreichend begründet werden. Doch indem der Vertrauende sein Vertrauen als »riskante Vorleistung« schenkt, sich dem anderen aussetzt und sich dadurch verletzbar macht (vgl. Baier 2001, 43 ff.), ermöglicht er, »als eine Norm zu formulieren, dass sein Vertrauen nicht enttäuscht werde« (Luhmann 2000, 56). Es setzt sozusagen Verantwortung beim anderen ein. Somit ist das Vertrauen die Quelle der eigenen Verbindlichkeit und es schafft die Bedingungen seiner Erhaltung. Allerdings hängt auch die Verbindlichkeit des Vertrauens von einer allgemeinen sozialen Haltung ab, ohne die der isolierte Akt des Vertrauens blind und gefährlich wäre. Deswegen bedarf das Vertrauen, neben dem Vertrauenden und dem Adressaten des Vertrauens, einer dritten Instanz, die garantieren soll, dass es nicht enttäuscht wird. Diese Instanz kann eine dritte Person sein. Sie ist allerdings meistens eine Institution oder der Staat, etwa in den politischen Vertragstheorien, und soll das Einhalten eines Versprechens oder eines Vertrags notfalls erzwingen können. Zwei Probleme sind allerdings mit dieser Figur des Dritten verbunden: Sie muss erstens selber das Vertrauen der Beteiligten genießen. Das Vertrauen wird also hier nur verlagert und nicht aufgehoben. Das Vertrauen in Institutionen und in Regierungen ist entsprechend seit Locke ein wichtiges Thema der 19 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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politischen Philosophie und der Politikwissenschaft (vgl. Locke 1977, bes. II, § 134 ff.; Plöhn 2013). Zweitens tritt mit dem potentiellen Zwang seitens der dritten Instanz ein Element der Gewalt in das Vertrauensverhältnis ein, das diesem entgegenwirkt und es zu zerstören droht. Wie die Autorität verträgt nämlich das Vertrauen keine Gewalt als Mittel seiner Durchsetzung. Deswegen ist die Figur des Dritten, die in Bezug auf das Vertrauen überzeugend ist, nicht primär eine politische Instanz mit Gewaltmonopol, sondern sie lässt sich eher als ein soziales Ethos verstehen. Das Ethos, das heißt die eingespielte Praxis der guten Sitten innerhalb einer sozialen Ordnung, bildet den Horizont jedes Aktes des Vertrauens und des vertrauensvollen Verhaltens. Es bestimmt weitgehend das Verhältnis zwischen dem möglichen Vertrauen und dem notwendigen Misstrauen innerhalb einer Gesellschaft. Es ist die bindende Kraft, von der wir annehmen, dass sie ohne Anwendung und Androhung von Gewalt eine bestimmte Sicherheit der sozialen Ordnung zu gewährleisten imstande ist. In einem vergleichbaren Sinne spricht Annette Baier von einem Vertrauensklima (Baier 2001, 42; 60), Robert Putnam von einem Sozialkapital, das das Maß des möglichen Vertrauens bestimmt (vgl. Putnam 1993), Piotr Sztompka von einer Vertrauenskultur (Sztompka 1999, 99 ff.). Wie der Akt des Vertrauens kann das habituelle Vertrauen nie hinreichend begründet werden und liefert auch keine hinreichende Begründung für einen Akt des Vertrauens. Es bedarf aber auch keiner solchen Begründung, sondern es besteht, solange es von keinem gerechtfertigten Misstrauen widerlegt wird. Umgekehrt wird es von gelungenen Erfahrungen des geschenkten und nicht enttäuschten Vertrauens verstärkt. Die dritte Komponente des Vertrauensgeschehens ist der gesellschaftliche Rahmen, in dem es erfolgt. Er bestimmt weitgehend die Bereitschaft zu vertrauen und die Grundlage seiner Verbindlichkeit. So unterscheidet sich das Vertrauen im – exklusiven – Rahmen der Familie vom Vertrauen innerhalb einer auf gemeinsamen Werten und Normen gründenden – und offeneren – gesellschaftlichen Gruppe (Kirche, Gewerkschaft, politische Partei, u. a.) und auch vom Vertrauen im Rahmen eines durch objektive Gesetze geregelten Nationalstaates, der vielleicht eine andere Art der Verbindlichkeit privilegiert. Sie unterscheiden sich etwa in Bezug auf die Bereitschaft der Menschen, nicht nur bekannten Personen, sondern auch Unbekannten innerhalb und außerhalb der Gruppe bzw. allgemein zu vertrauen. Die Form und die Rolle des Vertrauens sind auch verschieden 20 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Einleitung: Friedensbindungen aus Verantwortung und Vertrauen
im Rahmen einer traditionellen Gemeinschaft mit bestimmten Autoritäten und Ritualen, in modernen, posttraditionellen Gesellschaften und, spezifischer, im Rahmen einer Demokratie. In bestimmten Rahmen bezieht sich das Vertrauen eher auf bestimmte Personen, in anderen auf Systeme oder auf allgemeine Strukturen. Solche Unterscheidungen sind besonders bemerkbar in der Analyse von gesellschaftlichen Transformationsprozessen, etwa in Ost-Europäischen Ländern. Sie prägen auch die internationalen Beziehungen (vgl. Kydd 2007). Die Bildung und die Erhaltung des Vertrauens erfolgen in der Interaktion dieser drei Ebenen: Der gesellschaftliche und institutionelle Rahmen gewährt mehr oder weniger günstige Bedingungen des Vertrauens; der Vertrauensethos gibt das Maß des in einer Gesellschaft möglichen und erwarteten Vertrauens vor, und jeder Akt oder jedes Verhalten des Vertrauens im Sinne eines aktiven Vertrauens, insofern es nicht enttäuscht wird, bekräftigt dieses habituelle Vertrauen. Das Vertrauensethos oder die Vertrauenskultur wird auch dadurch verstärkt, dass sich Menschen, sei es als individuelle Personen oder in Bezug auf gesellschaftliche Rollen, als vertrauenswürdig erweisen. Und dies ist sicher ein Teil unserer gesellschaftlichen Verantwortung. In diesem Sinne spricht Gesine Schwan von ›Vertrauensträgern‹ (vgl. Schwan 2006). Für ein Denken des Friedens ist das Vertrauen relevant, da es erstens eine Form der Beziehung mit anderen Menschen ist, die diese einbezieht, Kooperationen fördert und Gewalt vermeidet, denn es kann durch Zwang und Gewalt nur geschwächt werden. Es hat zweitens eine Verbindlichkeit inne, die trotz der Offenheit der Gesellschaft eine soziale Verlässlichkeit ermöglicht. Und es privilegiert drittens weder die individuelle noch die soziale oder institutionelle Ebene der Gesellschaft, sondern kann nur im Zusammenwirken aller bestehen. Das Vertrauen ermöglicht dadurch eine Form der sozialen Sicherheit mit sicherheitspolitischer Relevanz, etwa durch vertrauensbildende Maßnahmen, die weder in der (gewaltsamen) Abschirmung des Selbst (Individuum, Gruppe, Staat) gegen mögliche Gefahren besteht, noch in dem Versuch, alle Bedingungen des eigenen Lebens und Handelns zu kontrollieren, sondern in einer Stärkung der Beziehung mit den anderen Mitgliedern der (Welt-)Gesellschaft. Deswegen ist es im Rahmen einer Philosophie des Friedens wichtig zu verstehen, erstens wie die Verbindlichkeit des Vertrauens die soziale Ordnung im Sinne der Friedfertigkeit und der Friedens21 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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wirksamkeit prägt, zweitens wie Prozesse der Vertrauensbildung gedacht werden können, die die Möglichkeit von Enttäuschungen einbeziehen und trotzdem als sozial verbindlich gelten.
4.
Die friedensstiftende Verstrickung von Verantwortung und Vertrauen
Das Verhältnis der Verantwortung und des Vertrauens, das heißt der beiden Seiten einer friedfertigen sozialen Verbindlichkeit, bedarf einer besonderen Analyse. Es gilt hierbei zu verstehen, wie sie sich zueinander verhalten, wie sie sich ergänzen und gegenseitig bestimmen. Es geht aber auch um die Frage nach der Art und den Bedingungen ihrer Verbindlichkeit. Nun ist dies keine Frage, die aus der Perspektive eines Dritten und in der dritten Person beantwortet werden kann: Es geht bei ihr nicht darum, ob eine Norm oder eine Regel für alle gleichermaßen gilt oder gelten soll (dies wäre die Frage ihrer Legitimität, nicht ihrer Verbindlichkeit), sondern ob und wie sie jeweils die handelnden Personen selbst verpflichtet. Hierbei ist zu beachten, dass jeder die Verbindlichkeit einer Norm, eines Befehls oder eines Gebots immer in der ersten Person und in der Form eines »ich soll« erfährt, bzw. als Antwort auf einen Anspruch in der zweiten Person: »Handle so …«. Deswegen muss die Frage der sozialen Verbindlichkeit von Verantwortung und Vertrauen in den ersten und zweiten Personen und aus der Perspektive der Handelnden und ihrer Mithandelnden gestellt werden. Aus dieser Perspektive sind Verantwortung und Vertrauen die zwei Seiten einer Aufgabe, die mehrere Menschen miteinander erfüllen sollen: Die Verantwortung betrifft für jeden sein Verhältnis zur eigenen Seite dieser Aufgabe und das Vertrauen sein Verhältnis zur Seite der Anderen. Da der Frieden in ausgeprägter Weise eine Aufgabe ist, die weder ohne noch gegen die anderen, sondern nur mit ihnen erfüllt werden kann, fordert seine Erfüllung sowohl Verantwortung für die eigene Seite wie auch Vertrauen in Bezug auf die andere Seite. In diesem Sinne ergänzen sich Verantwortung und Vertrauen als zwei Formen der sozialen Verbindlichkeit, die nur zusammen die Erfüllung der gemeinsamen Aufgabe des Friedens ermöglichen können. Verantwortung und Vertrauen ergänzen sich jedoch nicht nur wie die zwei Seiten unseres Verhältnisses zu einer gemeinsamen Auf22 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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gabe. Sie sind darüber hinaus auch voneinander abhängig. Denn im Kontext des sozialen Handelns kann weder Verantwortung ohne Vertrauen noch Vertrauen ohne Verantwortung entstehen und sich entwickeln. Die Übernahme von Verantwortung setzt voraus, dass die verantwortliche Person das Vertrauen der Anderen – oder zumindest eine Art »Vorschuss des Vertrauens«, etwa im Fall der Erziehung zur Verantwortung – genießt. Niemand kann Verantwortung übernehmen, wenn die Anderen kein Vertrauen in ihn haben und ihn entsprechend bevormunden und kontrollieren wollen. Und umgekehrt hat das Vertrauen ein doppeltes Verhältnis zur Verantwortung der anderen: Es ist erstens nur dann möglich, wenn wir erwarten können, dass die anderen Verantwortung für das ihnen Anvertraute übernehmen. Und zweitens schafft das Vertrauen gewissermaßen selber die Bedingungen einer berechtigten Verantwortungserwartung, insofern das Schenken des Vertrauens unter bestimmten sozialen Bedingungen die Verantwortung der Anderen einsetzt. Das heißt, das geschenkte Vertrauen wirkt wie ein Appell oder ein Aufruf, Verantwortung für eine Aufgabe, für Andere und sogar für die Qualität ihrer Beziehung zueinander zu übernehmen. Vertrauen und Verantwortung ergänzen sich also nicht nur. Sie bedingen sich gegenseitig. Gleichwohl erschöpft sich die Verbindung von Verantwortung und Vertrauen nicht in diesem Bedingungsverhältnis. Ein von langer Hand entstandenes Vertrauensverhältnis kann unversehens Schaden nehmen – möglicherweise nur durch ein Missverständnis oder eine Fehlinformation. In einer solchen Situation ist die verantwortliche Reaktion dem klugen und weitsichtigen Umgang mit der beschädigten Beziehung geschuldet. Eine durch Vertrauen eingesetzte Verantwortung kann dann den plötzlichen Bruch der Vertrauensbeziehung zu vermeiden helfen und erneut zum Aufbau einer stabilen Bindung beitragen. Dies zeigt auch, dass die unterschiedlichen Verfasstheiten von Verantwortung und Vertrauen einander stützend zu ergänzen vermögen. Bedarf das Vertrauen einer langen und ungebrochenen Entwicklung, um seine Wirkung zu entfalten, kann es umgekehrt ebenso schnell in sich zusammenstürzen. Die zumeist von der Vertrauensbeziehung initiierte Verantwortung kann hingegen ihrerseits kurzfristig entstehen, indem sie jemandem ›zufällt‹, und weist anschließend eine nachdrückliche Beharrung auf. Eine einmal übernommene Verantwortung kann nicht so ohne weiteres wieder abgegeben werden. Dies liegt überdies nicht im Entscheidungsspielraum eines souverän entscheidenden Subjekts. Verantwortungsbeziehun23 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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gen verleihen daher den auf die Fragilität des Vertrauens gegründeten zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen eine nachhaltige Dauer und Berechenbarkeit.
5.
Der Dritte und die Gesellschaftsphilosophie des Friedens
Verantwortung und Vertrauen sind keine Kategorien des individuellen Handelns oder Verhaltens. Wie die Erfahrung immer Erfahrung von etwas ist, ist die Verantwortung immer Verantwortung für etwas vor jemandem und das Vertrauen wird notwendig von jemandem einem Anderen geschenkt. Es sind also konstitutiv Kategorien des sozialen Lebens. Wenn wir aber dieses soziale Leben nicht nur im Sinne von Strukturen (bzw. Systemen) und Institutionen, sondern auch akteursbezogen verstehen wollen, ist es hilfreich, von einer Handlungstheorie auszugehen, die das Handeln prinzipiell als soziale Tätigkeit betrachtet und nicht erst a posteriori das soziale Geschehen als eine Kombination von individuellen Handlungen zu erklären versucht. Angemessen ist daher eine Begrifflichkeit, die das Verhältnis zwischen zwischenmenschlichen Beziehungen und einer sozialen Ordnung zu erklären vermag. Dies ist die Stärke einer Sozialphänomenologie, die nicht vom Verhältnis zwischen Individuen und Gesellschaft ausgeht, sondern den Begriff des Dritten als Angelpunkt zwischen zwischenmenschlichen Beziehungen und sozialen Ordnungen einführt (vgl. Delhom 2000; Bedorf 2003). Der Dritte ist hierbei nicht primär im Sinne einer dritten Person zu verstehen, sondern als die Instanz, dank der sich zwischenmenschliche Beziehungen auf die Pluralität der Menschen in der Gesellschaft beziehen. In Bezug auf die Fragen der Verantwortung und des Vertrauens ermöglicht die sozialphilosophische Kategorie des Dritten, das Verhältnis zwischen der Verantwortung als Verbindlichkeit in der ersten Person und der sozialen Ordnung zu verstehen, etwa in der Form einer Forderung nach Gerechtigkeit für alle Mitglieder dieser Ordnung. Mit ihr lässt sich auch das Verhältnis zwischen dem Vertrauen als zwischenmenschlicher Beziehung und dem Vertrauens-Ethos, das dessen soziale Basis darstellt, verstehen (vgl. Delhom 2006). Die Kategorie des Dritten ermöglicht aber nicht nur eine Erweiterung der zwischenmenschlichen Beziehung auf die soziale Ordnung. Umgekehrt bedeutet sie auch, dass die soziale Ordnung auf 24 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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diese Beziehungen verweist. Denn sie regelt nicht primär das Verhalten von Individuen, sondern die Beziehungen zwischen ihnen. Dies ist etwas, was wir mit den Vertragstheorien, die von Menschen als isolierten Individuen ausgehen, zu denken verlernt haben, was aber für ein Denken des Sozialen anhand der Kategorien von Verantwortung und Vertrauen konstitutiv ist. Und zuletzt bedeutet der Bezug der sozialen Ordnung auf zwischenmenschliche Beziehungen, dass sie nicht nur in der dritten Person, d. h. in der objektiven Sprache der Geschichte, der Strukturen oder der Systeme beschrieben werden kann, sondern dass sie immer auch aus der Perspektive der Handelnden, ihrer Verantwortung und ihres Vertrauens einerseits als eine bestimmte Ordnung gefordert und andererseits herausgefordert wird. Denn die Verbindlichkeit der sozialen Ordnung und ihrer Normen kann nur in konkreten Situationen und in Bezug auf konkrete Beziehungen ihre Wirkung entfalten. Sie ist etwa die sozial sanktionierte Verbindlichkeit der Verantwortung oder des Vertrauens in einer Konfliktituation, und nicht die abstrakte Verbindlichkeit eines Gesetzes, das unabhängig von jeder Situation verpflichten würde. Letzteres kann nur durch Gewalt oder durch die Androhung derselben durchgesetzt werden. Eine soziale Ordnung wird aber durch eine solche Gewalt eher zerstört als konstituiert. Würde sich eine soziale Ordnung auf die Perspektive der dritten Person, der abstrakten Verbindlichkeit und der durchsetzenden Gewalt reduzieren, wäre sie totalitär. Findet sie dagegen ihre Verbindlichkeit in sozial sanktionierten Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen, dann vermag sie, eine friedfertige Ordnung zu etablieren. In einer weiteren Hinsicht vermögen unsere Überlegungen der interpersonalen Kreation sozialer Macht zentrale Bausteine zu entlehnen. Wenn als Grundlage stabiler sozialer und politischer Institutionen die menschliche Fähigkeit betrachtet wird, »sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln« (Arendt 1993, 45), dann setzt diese Fähigkeit bereits eine komplexe Verknäulung von Vertrauens- und Verantwortungsbeziehungen zwischen den handelnden Menschen voraus. Mit nachdrücklicher Konzentration auf diese wesentlichen Formen interindividueller Beziehungen könnte eine weitergehende Stützung der friedenstheoretisch so bedeutsamen Differenzierung von Macht und Gewalt gelingen. Denn gerade dort, wo sich Übergänge und Verschränkungen zwischen einer konsensuell und kommunikativ erzeugten Macht einer25 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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seits und einer »bloß faktisch eingewöhnten« (Habermas 1986, 361) andererseits andeuten, da ließe sich mit den Kategorien der Verantwortung und des Vertrauens orientierend Hilfestellung geben. Insbesondere die in interindividuellen, sozialen und politischen Beziehungen unterschiedlich auftretenden Formen von Gewalt gilt es begrifflich und methodisch herauszupräparieren. Erst wenn dies mittels einer sozialphilosophischen Analytik der Verantwortungs- und Vertrauensbindung gelungen ist, lassen sich friedfertige Strukturen nachhaltig von gewaltsamen Verhältnissen und verletzenden Handlungsweisen sondern.
6.
Friedensstiftung, Friedensvertrag, Friedenskultur
Ausgehend von den Paradigmen der Verantwortung und des Vertrauens lässt sich ein Denken des Friedens entfalten, das weder auf die Abwesenheit der Gewalt oder des Krieges reduziert wird (negativer Friedensbegriff), noch die Kategorien der (personalen, strukturellen, symbolischen) Gewalt auf einen ihr entgegengesetzten Frieden überträgt. Vielmehr soll Frieden, ausgehend von der Beziehung mit den Anderen, als die innere Verbindlichkeit dieser Beziehung in der Verantwortung für sie und im Vertrauen ihnen gegenüber verstanden werden. Die Friedfertigkeit einer Gesellschaft ließe sich danach an dieser Verbindlichkeit der Beziehungen messen, die sich in sozialen Strukturen und in einer Kultur der Verantwortung und des Vertrauens niederschlagen. Eine entscheidende Frage für eine Philosophie des Friedens ist entsprechend diejenige der Wirksamkeit dieser Friedfertigkeit innerhalb und außerhalb einer Gesellschaft. Denn es ist nicht auszuschließen, dass eine Gesellschaft gerade durch die Fixierung auf ihre Friedfertigkeit es versäumt, die Keime der Gewalt in sich selbst zu beachten oder der Drohung der Gewalt von außen Einhalt zu gebieten. Anders als der Krieg kann nämlich der Frieden nicht ausschließlich als Zustand der zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen gedacht werden. Er ist immer auch, angesichts möglicher Gewalt, eine Aufgabe, die dem »Friedenszustand« eine normative Dimension verleiht. Der einzige nicht normative Zustand des Friedens ist derjenige des Friedhofs, des »ewigen Friedens«, in dem jede Begegnung des Selbst mit dem Anderen, des Eigenen mit dem Fremden, des Einen mit der Pluralität und Heterogenität der Anderen aufgehört 26 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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hat. Die Verbindlichkeit der Verantwortung und des Vertrauens ist eine solche, die sich mit der Friedfertigkeit einer Ordnung nie zufrieden gibt, sondern ihr immer vorausgeht und sie vorantreibt. In diesem Zusammenhang ergibt sich auch die praktische Relevanz einer Philosophie des Friedens. Sie besteht nicht darin, gesellschaftliche und politische Probleme zu lösen, bestimmte Richtungen des politischen Handelns vorzuschreiben oder bestimmte Formen sozialer Ordnungen zu entwickeln und voranzutreiben, sondern Denkhorizonte zu eröffnen, an denen wir uns im politischen Handeln und in der Organisation sozialer Ordnungen orientieren können und an denen wir unsere Ansprüche und unsere gesellschaftliche Realität messen können. Denn die Normativität des Friedens als Aufgabe hängt notwendig von der Art und Weise ab, wie wir den Frieden zu denken vermögen (vgl. von Weizäcker 1967, 25 f.). Ein zentraler Bezugspunkt für die Reflexion und die historische Praxis des Friedens ist hierbei der bereits erwähnte Friedensvertrag oder der friedensstiftende Gesellschaftsvertrag, solange er zumindest nicht primär als Vertrag zwischen Individuen, sondern als Grundbeziehung aufgefasst wird, durch die eine gesellschaftliche Ordnung gestiftet wird. Bereits in der Philosophie Hobbes’ ist der Gesellschaftsvertrag, der den Zustand des ›Krieges aller gegen alle‹ beenden soll, ein Friedensvertrag, in dem sich eine entsprechende Friedensstiftung vollzieht (Hobbes 1984, 99 ff.). Werden bei Hobbes im Ansatz noch die kontingenten Bedingungen des Friedensvertrages und des Vertragsschlusses berücksichtigt, kommen diese in den meisten Vertrags- und Rechtstheorien nicht zur Geltung. Jeder Friedensvertrag hat eine soziale und politische Geschichte, er hat eine Genealogie, die ohne die Begriffe der Verantwortung und des Vertrauens nur unzureichend zu beschreiben und zu analysieren sind. Den Abschluss eines Vertrages, der eine gegenseitige Übertragung von Rechten impliziert, kann es nur geben, wenn ein je einseitiger Vertrauensvorschuss gewährt wird (vgl. Kersting 1994; Hobbes spricht in diesem Zusammenhang von Pakt oder Übereinkommen). Der Friedensvertrag hat seine eigene Logik und seine eigene Zeit. Er kann nur zustande kommen, wenn jeder gibt, bevor er empfängt. Es gibt mithin keinen Zeitpunkt, zu dem beide Vertragsparteien dasselbe tun. Der Abschluss des Friedensvertrages und damit die Friedensstiftung spannt sich auf zwischen der Vorleistung des Vertrauens und der Replik der sich eröffnenden Verantwortung für dieses Vertrauen. Weniger noch als andere Rechtsverträge dürfen Friedensver27 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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träge allein von ihrem Resultat her betrachtet werden. Vielmehr ist von entscheidender Bedeutung für das Verstehen von Friedensstiftung und Friedenserhaltung, dass der Vertrag etwas besiegelt, was er selbst nicht garantieren kann. Die Genealogie des Vertrages findet eine Fortsetzung nach erfolgtem Vertragsschluss. Allein die interindividuellen und sozialen Beziehungsformen des Vertrauens – an dieses wäre noch die Dimension des Versprechens anzuschließen (vgl. u. a. Klass 2001) – und der Verantwortung vermögen die Einhaltung des Friedensvertrages zu gewährleisten. Es gibt und es wird ein Klima des Vertrauens und der Verantwortung – und erst durch dieses gewinnen Verträge ihre normative Kraft und ihr Beständigkeit. Dieses Klima zu schaffen ist kein unwesentlicher Teil der sogenannten vertrauensbildenden Maßnahmen. Aus dieser Problematik ergibt sich eine entscheidende Frage der Friedensstiftung, die mit der Frage nach ihrer Vollzugsform zu verknüpfen ist: Wie steht es um das Verhältnis zwischen dem ›Frieden machen‹ und dem ›Ereignis‹ des Friedens? Mag der Frieden sich auch im Friedensschluss bis zu einem bestimmten Maße ereignen, so kommt doch dieser nicht zustande ohne die Intention und das Handeln einzelner Akteure. In diesem Zusammenhang spielt auch die Dynamik eines gemeinsamen und interindividuellen Handelns eine wesentliche Rolle.
7.
Die notwendig weltgesellschaftliche Friedensperspektive
Die Akzentuierung der interpersonalen und akteursbezogenen Perspektive der Verantwortung und des Vertrauens setzt bei den gesellschaftlichen Mikroeinheiten von Friedensordnungen an. Dies soll allerdings nicht die Rolle nationaler und internationaler Institutionen bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Frieden unterbewerten. Vielmehr geht es darum, die Bedeutung der interindividuellen und sozialen Beziehungen für den größeren Rahmen gesellschaftlicher Prozesse freizulegen. Diese machen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr Halt an den nationalen Grenzen, sondern reichen von transnationalen gesellschaftlichen Formationen bis hin zu ersten Konturen einer Weltgesellschaft. Dabei müssen wir von einem Begriff der Weltgesellschaft ausgehen, der sich deutlich von den Konzepten der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Wurde in dieser Zeit die Weltgesellschaft als eine die 28 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Beziehung souveräner Staaten, d. h. die internationale Politik, nur ergänzende Sphäre beschrieben (vgl. Weizsäcker 1969), gewann der Begriff der Weltgesellschaft in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts an Eigenständigkeit und Gewicht. Sicherlich trugen hierzu die Dynamisierung des weltweiten Personen- und Warenverkehrs, die vielschichtige Modifikation des Status der Nationalstaaten, die weitgehende Auflösung der Demarkationslinie zwischen Ost und West sowie die Entwicklung neuer internationaler Organisationen bei. Überdies treten seit diesen Jahren verstärkt – in quantitativer und qualitativer Hinsicht – transnational operierende Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und zivilgesellschaftliche Gruppen auf den Plan, die gegenüber der Staatenwelt und den politischen Institutionen ein Mitspracherecht formulieren. Czempiel wies in den neunziger Jahren darauf hin, dass zunächst besser – und übergangsweise – von einer ›Gesellschaftswelt‹ zu reden sei, da »die Welt noch keine Weltgesellschaft, aber auch keine Staatenwelt mehr« sei, in der aber das »politische Gewicht der Gesellschaft« wachse (Czempiel 1996). Ganz in diesem Sinne ist auch heute das Konzept der Weltgesellschaft eher als Prozess und Entwicklungstendenz zu verstehen denn als eine bereits etablierte Struktur und Rahmengebung, die weltweit Gültigkeit beansprucht. Zu diesem Begriff von Weltgesellschaft gehört des Weiteren die Annahme, dass diese unmittelbar und genuin in ein Geschehen von Ansprüchen und Verantwortungsverhältnissen verstrickt ist, die noch vor und jenseits politischer Ordnungen sich vollziehen. Schon in diesem weltgesellschaftlichen Prozess entstehen Normen und ethische Verbindlichkeiten, die von zwischenmenschlichen Begegnungen und bürgergesellschaftlichen Lebenswelten getragen werden. Kommt es in diesen gesellschaftlichen Mikrogeflechten nicht zu belastbaren Verantwortungsbeziehungen und Vertrauensverhältnissen, bleiben auch die auf sie aufbauenden institutionellen Symmetrien und Rechtszusammenhänge fragil. In dieser Hinsicht beinhaltet der hier verwendete Begriff der Weltgesellschaft neben einem deskriptiven auch einen normativen Aspekt. Denn die Etablierung von Friedensordnungen, ob national oder transnational, lässt sich vorrangig im Ausgang eines interindividuellen und sozialen Geschehens denken, in dem Verantwortung und Vertrauen noch unbegrenzt und immer wieder unablässig neu entstehen. Die Begegnung von Selbst und Anderem, Eigenem und Fremdem stiftet eine Verantwortungsbeziehung, die trotz ihrer jeweiligen 29 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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konkreten Gegebenheit Voraussetzung auch größerer und weiter reichender Verantwortungsbezüge ist. Dies bedeutet, dass ohne die konkrete Begegnung von Menschen, in der Verantwortung erst entsteht, auch ein ›Gefühl‹ von Verantwortung für den Frieden in weit entlegenen Teilen der Welt nicht entstehen würde. In diesem Sinne steht die interindividuelle Verantwortungsbeziehung am Beginn jeder gesellschaftlichen Verbindlichkeit. Die den weltgesellschaftlichen Prozess darüber hinaus konstituierenden und forcierenden Bedingungen bestehen in bestimmten Formen von Diskursen und medialer Öffentlichkeit, aber auch der zunehmenden Geschwindigkeit von Ortswechseln und weltumspannender elektronischer Kommunikation. Am Beginn eines weltgesellschaftlich relevanten Verantwortungsgeschehens steht solchermaßen eine Dynamik, in der dem einzelnen stets und unaufhörlich Verantwortung für das Wohlergehen anderer Menschen zufällt – ohne dass diese ihm juristisch zugerechnet werden kann (vgl. Hirsch 2007). Der einzelne sieht sich mit einer unendlichen Verantwortung für andere Menschen konfrontiert, der er – zumal in einem weltgesellschaftlichen Rahmen – nicht gerecht werden kann. Insofern gehört zum Konzept der Weltgesellschaft, dass sie die Prozesse überbordender Verantwortung und stets neu anhebender Vertrauensstiftung in berechenbare Organisationsformen und rechtswirksame Institutionen auf transnationaler Ebene überführt. Die im vorliegenden Band versammelten Texte sind im Rahmen eines von der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) finanzierten und von den Herausgebern konzipierten Forschungsprojekts entstanden, in dem es zentral um die bereits skizzierte Fragestellung ging. Sie vertreten keine einheitliche Position und gehen sehr unterschiedlich auf die Thematik der Verbindung zwischen Verantwortung, Vertrauen und Frieden ein. Sie spiegeln aber zum Teil Diskussionen, die im Rahmen des Projekts stattgefunden haben, sowie Positionen, die im Anschluss daran weiterentwickelt worden sind. Unsere Hoffnung ist, dass sie mit der Begrifflichkeit eines sozialen und durchaus normativ geprägten Verständnisses von Verantwortung und Vertrauen einen zugleich notwendigen und kritischen Beitrag zum (philosophischen) Denken über den Frieden leisten.
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Sektion 1: Verantwortung
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Alfred Hirsch
Friedensbeziehungen – von der Pflicht zu den Spielräumen der Verantwortung
Die inflationäre Verwendung und der nachlässige Gebrauch der Wörter ›Verantwortung‹ und ›Frieden‹ in den öffentlichen Diskursen erschwert einerseits eine differenzierte Reflexion ihrer Beziehung, andererseits eröffnet die damit entstandene Entleerung der Begriffe die Chance, diese neu zu bestimmen und wechselseitig aufeinander auszurichten. Entscheidend für eine solche Annäherung von Frieden und Verantwortung wird vor allem sein, dass nicht zu früh ein moralischer Mehrwert aus dieser Verbindung geschlagen wird. Vielmehr sollte insbesondere hinsichtlich des Friedensbegriffes darauf geachtet werden, dass dieser nicht durch pathetische und sozial harmonische Verschmelzungsphantasien kontaminiert wird. Dies kann zweifelsfrei dann besonders schnell geschehen, wenn – wie im vorliegenden Versuch – eine inhaltlich positive Bestimmung des Friedensbegriffes entfaltet werden soll. Eine bloß negative Bestimmung des Friedens, wie sie lange Zeit üblich war und zumeist auch noch ist, als NichtKrieg und Eklipse der zwischenstaatlichen Gewalthandlungen, vermag wenig Aufschlüsse darüber zu geben, wie Frieden eigentlich verfasst ist. Diesem entsprechend stellt sich die Frage: Welches sind die ihn wesentlich konstituierenden Strukturen, Praktiken und Diskurse? Wie sieht der ›Bürgerfrieden‹ im Unterschied zum Bürgerkrieg aus, was zeichnet ihn über die bloße Gewaltfreiheit hinausgehend aus (vgl. Sternberger 1986, 13)? Dabei gilt es, zwischen den unterschiedlichen Ebenen, auf denen sinnvoll von Frieden gesprochen werden kann, zu unterscheiden. Die sicher wichtigste Ebenendifferenz finden wir auf der einen Seite in dem innergesellschaftlichen und auf der anderen Seite im zwischenstaatlichen Frieden. Insbesondere die vergangenen Jahrzehnte im europäischen und weltweiten gewaltsamen Konfliktgeschehen zeigen allerdings, dass es zwischen diesen beiden Ebenen zahlreiche und vielgestaltige Übergänge und Zwischenformen gibt – es lassen sich auf der kriegsbezogenen Ebene der ›klassische‹ Bürgerkrieg, der Staats37 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Alfred Hirsch
grenzen überschreitende ethnisch-kulturelle Konflikte oder der neuartige ›Staatenkrieg‹, der als ›Krieg gegen den Terror‹ deklariert wurde, identifizieren. Nicht zu jedem dieser kriegsbezogenen Beispiele gibt es auch ein Friedenspendant. Denn hinsichtlich der Verfasstheit des Friedens zeigt sich schnell, dass dieser vor allem im Hinblick auf funktionierende gewaltfreie Beziehungen innerhalb von und zwischen Ordnungen zu beschreiben ist. Seien dies soziale, kulturelle und/oder politische Ordnungen. Es gibt gute Gründe, diese unterschiedlichen Ordnungen analytisch zu differenzieren, zugleich aber lassen sich auch hier eine Vielzahl von Überschneidungen und Verschlingungen ausmachen, wie etwa diejenige von sozial und kulturell geprägten Friedensbeziehungen, die vor jeder politischen Ordnung anzusiedeln sind. Oder es lassen sich außerordentlich friedfertige Konstellationen vor dem Hintergrund interkultureller und innergesellschaftlicher Beziehungen beobachten, die sich im Kontext politischer Ordnung entfalten und diese auch bis zu einem gewissen Maße tragen. Schließlich ist allerdings zu beachten, dass all diese Interferenzen und Übergangphänomene, die einen bestimmten Friedenszustand markieren, auf der für die politische Moderne so entscheidenden Etablierung einzelstaatlicher Souveränität aufbauen. Die äußere Souveränität eines Staates bedeutet seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit gegenüber anderen Staaten, sie bedeutet auch, dass ein Staat notfalls die Grenzen seines Territorium mittels militärischer Gewalt verteidigen und schützen kann (vgl. Habermas 1996, 10). Diese ergänzend waltet im Innern des modernen Staates eine Souveränität, die sich auf ein Gewaltmonopol stützt, das mittels der Rechtsinstitutionen, der Administration und der polizeilichen Exekutive Ruhe und Ordnung im Staat garantiert. Sicherlich sind diese Formen staatlicher Souveränität, die die innerstaatliche Freiheit von privater Gewalt kontrollieren und die der zwischenstaatlichen Konfrontation oder Kooperation erst Gestalt geben, wieder ihrerseits auf die sie akzeptierenden und unterstützenden Bürger angewiesen. Doch die Konzentration auf den Friedensbegriff und seine Beziehung zu einem ihm entsprechenden Verantwortungskonzept zeigt, dass hier sowohl Reflexionstraditionen als auch konzeptionelle Neuerungen zu beachten sind. Eine der ersten und die inhaltliche Beziehung von Verantwortung und Frieden prägende Korrespondenz ist diejenige zwischen Verantwortung und Politik. Hinsichtlich der politischen Verantwortung oder der Verantwortung des Politikers gibt es 38 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Friedensbeziehungen – von der Pflicht zu den Spielräumen der Verantwortung
auch in der Gegenwart einige bemerkenswerte Ansätze. Viel interessanter ist gleichwohl, dass die ersten und paradigmenbildenden theoretischen Auseinandersetzungen zum Verantwortungsbegriff diesen vorrangig auf die Handlungen und Verhaltensweisen der Politiker bezogen.
1.
Republikanischer Frieden und bürgerliche Verantwortung
Die Schrift De la responsabilité des Ministres von Benjamin Constant aus dem Jahr 1815 (Constant 2013) ist vermutlich sogar das erste Buch, in dessen Titel das Wort ›Verantwortung‹ auftaucht. Das Buch von Constant zeigt, dass der leitende Politiker in besonderem Maße für sein Tun zur Rechenschaft gezogen werden kann – und zwar vorrangig von denjenigen, die er repräsentiert. Hier wird eine Neuerung der politischen Szenerie zu Beginn des 19. Jahrhunderts greifbar. Der Begriff der Verantwortung gewinnt nachvollziehbar seit der amerikanischen und französischen Revolution zunehmend an Bedeutung, da die neuen Theorien und Ordnungspraktiken der Demokratie Verantwortung zur zentralen Kategorie erheben. Die Regierung und ihre führenden Repräsentanten sind nicht mehr – wie noch zu Zeiten der Monarchie – autark und allein dem Ideal der Tradition der Amtsführung verpflichtet. Vielmehr ist die demokratische Regierung hinsichtlich der von ihr beeinflussbaren und von ihr durchgeführten Handlungen oder Unterlassungen den wählenden Bürgern gegenüber rechenschaftspflichtig. Die politischen Repräsentanten des Volkes werden durch die demokratischen Regime zu verantwortlichen Personen qua Amt. Sie sind rechenschaftspflichtig als Personen, die der Kontrolle ihrer Macht durch die Bürger unterliegen, und sie sind daher in bestimmtem Umfang auch haftbar zum machen. Bemerkenswert ist, dass eine andere, noch vor der Schwelle zum 19. Jahrhundert stehende Schrift, die repräsentative Verfassung eines Staates zur Bedingung eines Friedenszustandes zwischen den Völkern erklärt. In der im Jahr 1796 veröffentlichten Schrift Zum ewigen Frieden postuliert Kant in einem von drei ›Definitivartikel‹, die die hinreichenden Bedingungen für eine dauerhafte Friedensordnung abstecken sollen, dass die »bürgerliche Verfassung in jedem Staate republikanisch« sein solle (Kant 1983b, 204). Eine republikanische Verfassung, die in ihren zentralen Elementen derjenigen der modernen Demokratie entspricht, gründet sich nach Kant auf das Prinzip 39 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Alfred Hirsch
der Freiheit der Menschen einer Gesellschaft, auf eine gemeinsame, für alle geltende Gesetzgebung sowie auf die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Diese drei zentralen Aspekte einer republikanischen Verfassung gehen nach Kant auf die ›Idee des ursprünglichen Vertrages‹ zurück. ›Freiheit‹, ›allgemein geltende Gesetze‹ und die ›rechtliche Gleichheit‹ der Bürger bekommen in der Diktion Kants bei genauerem Hinsehen zwar eine besondere Wendung, doch stehen sie – wie bei anderen Zeitgenossen Kants auch – am Beginn einer neuen, in Verwirklichung begriffenen Zeit der politischen Moderne. So sind es gerade die Repräsentation des Volkes und die Partizipation desselben an der politischen Macht, die Kant zur Voraussetzung der republikanischen Friedfertigkeit erklärt: »Nun hat aber die republikanische Verfassung, außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. – Wenn […] die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ›ob Krieg sein solle, oder nicht‹, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstungen, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen, sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen« (Kant 1983b, 205 f.). Die Hoffnung hinsichtlich des republikanischen Staates gründete sich für Kant auf die wesentlichen Unterschiede zum despotischen Staat, in dem die Menschen nicht Staatsbürger und das Oberhaupt ›Staatseigentümer‹ ist. Die Monarchen seiner Zeit vor Augen, die aus Launen und wie zur gesellschaftlichen Unterhaltung Kriege führen, die von Söldnerheeren ausgetragen werden, sieht Kant in der mangelnden existentiellen und materiellen Betroffenheit der Kriegsentscheider das grundlegende Problem für die Häufigkeit und Willkürlichkeit der Kriege seiner Zeit. Seine These ist daher, dass ein dauerhafter Frieden dann möglich ist, wenn die den Krieg beschließenden und mit all seinen Folgen zugleich tragenden Personen identisch sind. Erst dann käme es der Leiden und Drangsale zu vermeiden suchenden menschlichen Vernunft nach nicht mehr – oder wenigstens nicht aus Bagatellgründen – zu Kriegsplänen. Vorausgesetzt wird von Kant zudem die freie Ent40 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Friedensbeziehungen – von der Pflicht zu den Spielräumen der Verantwortung
scheidungsmöglichkeit der Bürger, ob sie einen Krieg wollen oder nicht. Auch nimmt er an, dass dieselben Bürger unter den Folgen ihrer freien Entscheidung selbst zu leiden haben würden, d. h. sie stünden in Haftung für die Folgen ihrer eigenen Entscheidung. Genau diese Konstellation aber beschreibt die Verantwortung eines Individuums für die Schadensfolgen einer von ihm vollzogenen Handlung oder eines durch ihn bewirkten Geschehens. Kant spricht in seinem Text Zum ewigen Frieden nicht explizit von der Verknüpfung zwischen republikanischem Frieden und individueller oder bürgerlicher Verantwortung. Jedoch weist die gesamte Konstruktion eines auf Freiheit des einzelnen beruhenden repräsentativen Gemeinwesens darauf hin, dass Kant auch hinsichtlich der Friedensfähigkeit einer Gesellschaft auf die kalkulierbare Entscheidungsfindung eines vernünftigen und autonom entscheidenden Menschen setzt. Insbesondere die subjektiven Vernunftgründe sind dazu prädestiniert, »vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab, den Krieg als Rechtsgang schlechterdings« zu verdammen und den »Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht« zu machen (Kant 1983b, 211). Der Friedenszustand ist mithin nach Kant ein von der praktischen Vernunft zur Pflicht aufgegebenes Ziel des zwischenstaatlichen Verkehrs. Zwar spricht Kant hier noch nicht von Verantwortung, sondern von Pflicht – und auch ist der Pflichtbegriff nicht in eins zu setzen mit dem Verantwortungsbegriff im Sinne einer verbindlichen Übernahme der Haftung für die Schadensfolgen einer Handlung oder deren Unterlassung. Jedoch bereitet der Kant’sche Begriff der Pflicht diesen Begriff einer retrospektiven Verantwortung vor und begleitet ihn auch noch ein Stück des historischen Weges ins 19. Jahrhundert. Wenn Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreibt: »Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« (Kant 1983, 26), dann wird die Pflicht hier eingeführt als unmittelbarer Ausfluss des moralischen oder praktischen Gesetzes das jedes vernünftige Wesen in sich trägt. Pflicht in diesem Sinne ist eine Handlungsvorschrift durch die von der Vernunft gestiftete moralische Norm. Es gibt für diese keine Alternativen und keine Spielräume. Als Handlungsvorschrift ist die Pflicht explizit und exklusiv, sie gleicht einer unwiderrufbaren Anweisung, die von einer hierarchisch höher stehenden Instanz aus – hier der ›Vernunft‹ – an ein ausführendes Organ – hier das empirische menschliche Wesen – ergeht. Mit dem Pflichtbegriff – und dies nicht nur bei Kant – verbindet 41 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Alfred Hirsch
sich daher nicht selten die Vorstellung einer von einer Obrigkeit verfügten Handlung. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Pflicht und ihre normative Verfasstheit mit einer gewissen preußisch amtlichen Verfahrensweise identifiziert worden. Dies führte dann spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nach den Katastrophen militärischer Gehorsams- und administrativer Pflichterfüllung – zu einer nachhaltigen Diskreditierung des Pflichtbegriffs. Zugleich war dies das Signal für den Aufstieg des Verantwortungsbegriffs, der allerdings den Pflichtbegriff nicht einfach durch eine neue Semantik ersetzte, sondern diesen auch in gewisser inhaltlicher Hinsicht beerbte. Nach Kant ist der Pflichtbegriff unmittelbar an die ›Achtung des Gesetzes‹ geknüpft und die Erfüllung der Pflicht vollzieht sich daher ebenso unmittelbar in der Anwendung des ›praktischen Gesetzes‹. Kant will hier keinen empirischen Spielraum, keine menschlichen Irrungen und Wirrung des Handelns und keine lebensweltlichen Verhaltenskontingenzen zulassen. Das Gesetz der praktischen Vernunft verpflichtet die Menschen direkt und ohne Umwege. Dies gilt auch für die Friedenspflicht, die einen ›Friedensbund‹ (foedus pacis) als beste Lösung für die Abbildung des ›praktischen Gesetzes‹ in der wirklichen Welt vorschreibt. Denn die Vernunft verdammt »den Krieg als Rechtsgang schlechterdings« und macht »den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht […], welcher doch, ohne einen Vertrag der Völker unter sich, nicht gestiftet oder gesichert werden kann: – so muss es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund (foedus pacificum) nennen kann […]« (Kant 1983b, 211). Diese Formulierung vermittelt den Eindruck hinsichtlich der Beziehung von Pflicht und Frieden, dass Kant den Pflichtbegriff in zumindest doppelter Bedeutung einführt. Zum einen beschreibt er Pflicht als dasjenige Phänomen, das sich einstellt, wenn es im Menschen zu einer ›Achtung‹ des Gesetzes der ›praktischen Vernunft‹ kommt, d. h. Pflicht wird in dieser ersten Bedeutung gewissermaßen ›in foro interno‹ eingeführt. Zum anderen aber beschreibt er Pflicht als – wie im Kontext des letzten Zitats deutlich wird – verbindliche Handlungsanweisung der Vernunft in eine äußere Welt hinein, in der auch andere Formen des zwischenstaatlichen Verkehrs möglich und real sind, d. h. Pflicht in dieser zweiten Bedeutung wird ›in foro externo‹ wirksam. Diese Doppelung des Pflichtbegriffs weist darauf hin, dass Kant ihn jeweils für eine notwendige und verschuldende Beziehung zu einer Norm in Anspruch nimmt. Hierbei sind dann zweierlei semantische Lesarten möglich, näm42 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Friedensbeziehungen – von der Pflicht zu den Spielräumen der Verantwortung
lich, dass es entweder zu einer Verpflichtung durch das Gesetz oder zu einer Verpflichtung gegenüber dem Gesetz kommt. Diese doppelte normative Bindung erklärt auch, warum Kant in den ›Friedensbund‹ eine unvergleichbar größere Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden setzt als in den bloßen Friedensvertrag zwischen zwei Staaten. Dieser impliziert zwar ebenfalls sowohl Vertragspflichten als auch die vernunftgestiftete Pflicht zur Einhaltung des Vertrages, nicht jedoch – wie der Friedensbund – eine dauerhafte Einbindung in das Normennetz eines Bundes von Staaten. Allerdings will Kant diesen Bund nicht als mit öffentlichen und Zwangsgesetzen bewährten Bund im Sinne eines Staatenbundes verfasst wissen. Es soll keinen gemeinsamen gesetzlichen Rahmen geben, dessen Einhaltung durch ein staatliches Gewaltmonopol geschützt wird. Die Verpflichtung durch das Vernunftgesetz und gegenüber dem Vernunftgesetz weist zudem tendenziell auf eine prozessartige und dynamische Beziehung hin. Denn Kant setzt auf eine Entwicklung und zunehmende Ausdehnung der Föderalität und ihrer Normen auf andere Staaten. Zugleich geht er dabei von einer verstärkten Integration der zum Friedensbund zusammengeschlossenen Staaten aus. Diese vielgestaltige und in gewisser Hinsicht flexible Semantik des Pflichtbegriffs weist bereits auf den Paradigmenwechsel zum Begriff der Verantwortung hin und die sie einbettenden gesellschaftlichen und politischen Diskurse voraus. Zwar wird auch in der Schrift Zum ewigen Frieden einmal mehr deutlich, dass das Konzept der Pflicht im Denken Kants wesentlich an ein von jeder Erfahrung befreites, rein formales Gesetz geknüpft ist – und dies gilt selbst dann, wenn er über den Friedensbund spricht. Die Pflicht entsteht und spannt sich auf in der Achtung des Gesetzes als Gesetz, der Norm als Norm. Schon in dieser Achtung des Gesetzes stellen sich eine Befreiung des Achtenden sowie die Einsicht verallgemeinerungsfähiger Annahmen und Maximen ein. Die Pflicht im kantischen Sinne gehört nicht in die Welt des erfahrbaren Friedens, sondern steht am Anfang seiner transzendentalen Ermöglichungsbedingung. Seinem Ideal eines ›moralischen Politikers‹ – welchem er das eher abschreckende Beispiel eines ›politischen Moralisten‹ entgegensetzt 1 – ist es eine In dieser konzeptionellen Gegenüberstellung des ›moralischen Politikers‹ und des ›politischen Moralisten‹ finden sich bereits Spuren der weiter unten noch ausführlich behandelten Unterscheidung eines ›verantwortungsethischen‹ und eines ›gesinnungsethischen Politikers‹ in der Schrift »Politik als Beruf« von Max Weber.
1
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Aufgabe, »[…] den ewigen Frieden, den man nun nicht bloß als physisches Gut, sondern auch als einen aus der Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand wünscht, herbeizuführen« (Kant 1983b, 239). Zweifelsfrei ist der ewige Frieden auch als ›physisches Gut‹ nicht zu verachten, aber entscheidender ist schon, dass der ›moralische Politiker‹ den dauerhaften Friedenszustand aus der Anerkennung der Pflicht als Achtung vor dem Gesetz entstehen lässt. Auch hier wird deutlich, dass Kants Pflichtbegriff nicht losgelöst von einer strengen Bindung an normative Prinzipien gedacht werden kann. Dies ist vermutlich eines der zentralen Kriterien, die diesen Begriff der Pflicht von demjenigen der Verantwortung unterscheiden. Kant selbst benutzt das Wort Verantwortung in seinem Text Zum ewigen Frieden nur einmal und zwar geschieht dies in dem Sinne einer Bezugnahme auf Personen, seien es natürliche oder instituierte. In dem von ihm erwähnten Fall geht es um einen konstruierten ›Souverän‹, der »niemandem in seinem Staat verantwortlich ist« (Kant 1983b, 247). Die Lösung von der formalen Struktur des Gesetzes, wie sie stets im Kontext des Pflichtbegriffs auftaucht, wird deutlich. ›Verantwortlich‹ ist eine Person einer anderen, ›jemandem‹, gegenüber. Hier bricht die Wucht der Erfahrungswelt und ihrer Unwägbarkeiten herein und stellt sich der Prinzipienethik der Pflicht gegenüber. So hat es den Anschein, als begleite die Verantwortung – oder die Verantwortlichkeit – die transzendentale Pflicht auf der der Vernunft nicht unmittelbar zugänglichen Seite der menschlichen Erfahrungswelt. Anders als der Verantwortungsbegriff ist der Begriff der Pflicht bei Kant – neben dem Bezug zum ›Gesetz‹ – in der empirischen Welt auf den Begriff des ›Rechts‹ verwiesen. Zwar spricht Kant hinsichtlich des positiven Rechts in einem Staat auch von Gesetzen, aber er spricht nie von Recht im Kontext der Vernunft. Die Pflicht als Pendant des Rechts und als zwingend zum Rechtszustand gehörend, übernimmt im Staat die Rolle notwendiger und unabweisbarer Aufgaben, die die Rechtsordnung mit sich bringt. Die in Beziehung zu den Pflichten stehenden Rechte lassen sich als Berechtigungsrechte im Sinne der Befreiung des Einzelnen und des Schutzes durch eine institutionelle Rahmengebung fassen. Aber auch für Kant scheint es Übergangs- oder Schwellenphänomene des Rechts zu geben. So erweist sich der ›rechtliche Zustand‹ des foedus pacis, des Statenbundes, – wie bereits deutlich wurde – als nicht auf ein einheitliches Zwangsgesetz gegründete Ordnung, sondern er ist allein eine »fort44 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Friedensbeziehungen – von der Pflicht zu den Spielräumen der Verantwortung
während-freie Assoziation«. Das zu ihm gehörende Recht ist das ›Völkerrecht‹. Ebenso figuriert das Phänomen eines ›Weltbürgerrechts‹ oder ›Menschenrechts‹ nicht als Recht im klassischen Sinne einer sanktionsbewährten Jurisdiktion. Schon von einem ›Völkerrecht‹ zu sprechen und darunter ein Recht im eigentlichen Sinne zu verstehen, fällt auch zweihundert Jahre nach Kant schwer. Gleiches gilt noch eher für das ›Weltbürgerrecht‹ oder ›Menschenrecht‹. Es hat den Anschein, als habe sich hier in den Text Kants eine normative Zwischenform eingeschlichen, die auch auf der Seite der Pflichtbindungen keine Entsprechung mehr findet. Habermas schreibt: »Kants Begriff eines auf Dauer gestellten und gleichwohl die Souveränität der Staaten respektierenden Völkerbundes ist […] nicht konsistent. Das Weltbürgerrecht muss so institutionalisiert werden, dass es die einzelnen Regierungen bindet. Die Völkergemeinschaft muss ihre Mitglieder unter Androhung von Sanktionen zu rechtmäßigem Verhalten mindestens anhalten können« (Habermas 1996, 18). Habermas verkennt hier die auf der Ebene des Rechts von Kant bewusst vollzogene Ordnungsergänzung eines durch ein ordinales Gewaltmonopol bewährten Rechts durch ein ›weiches‹, im Verbund mit einer starken Verbindlichkeit der Mitglieder der Gemeinschaft funktionierendes Recht. Die Einhaltung eines gemeinsamen Rechts in diesem letzten Sinne bedarf allerdings nicht einer auf das gewaltbewährte Rahmenrecht bezogenen Pflichtethik, sondern vielmehr einer Ende des 18. Jahrhunderts noch neuartigen Verantwortungsethik. Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass sich der Kantsche Text eben an dieser Stelle dekonstruiert, indem er weiterhin von Pflicht spricht und doch bereits eine neue und veränderte Form ethischer Verbindlichkeit sucht. Das ›Weltbürgerrecht‹ fordert diese geradezu und findet sie erst sehr viel später in der Gestalt der Verantwortung. Diese verbindet die fehlende institutionelle Kraft der Menschenrechte mit einer moralischen Verbindlichkeit, die ihren Ausgang in einer Forderung nach Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen und dessen Menschenwürde hat, die über das jeweilige positive Gesetz hinausgeht. Die Ethik der Verantwortung korrespondiert mit den Menschenrechten auch deswegen besonders eng, weil diese den einzelnen Menschen mit Rechten begaben – unabhängig von seiner Beziehung zu dem jeweiligen Staat, der jeweiligen Kultur oder Gesamtordnung, in der er lebt. In der Verantwortung steht der einzelne Mensch als Individuum da, das sich
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Alfred Hirsch
nicht unter Berufung auf höchste Personen oder metaphysische Zwecke entlasten kann.
2.
Die neuen Spielräume der Verantwortung
Der einzelne Mensch steht in der Verantwortung angesichts der anderen Menschen und der Gesellschaft. Vor ihnen allein hat er sich zu rechtfertigen und zu erklären, aber er selbst trägt die signifikante und letzte Haftung. Dies entspricht einem mit dem neuzeitlichen Denken entstandenen Bild von der Rolle und der Position des Menschen in der Welt. Mit der Aufklärung wurde dies einer zunehmenden Rationalisierung unterworfen und mündet bei Kant in die Theorie eines vernunftbegabten und autonomen Wesens ein. Das Konzept der Pflichtethik, so wie es bei Kant entwickelt wurde, weist dann allerdings weniger hinsichtlich einer schuldhaften Zurechnung von Handlungsfolgen auf semantische Parallelen zum später bedeutsamer werdenden Verantwortungsparadigma hin. Vielmehr wird schon in der Pflichtethik Kants deutlich, dass es im menschlichen Subjekt eine bindende normative Kraft gibt, die aus ›Achtung‹ gegenüber einer anderen Ordnung oder einer anderen Instanz entsteht. Verpflichtung dieser Instanz gegenüber heißt, für ihren Fortbestand, für ihre Unversehrtheit und auch für ihre normativen Vorgaben Sorge zu tragen. In dieser Hinsicht erinnert der Pflichtbegriff nachdrücklich an einen zentralen Sinn des sich nach Kant ins Zentrum drängenden Verantwortungsbegriffs. Schon Locke hatte Ende des 17. Jahrhunderts eine Zusammenführung von Pflicht- und Verantwortungsbegriff unternommen. Wenngleich auch er nicht von ›responsibility‹ sondern von ›accountability‹ bzw. ›accountable‹ spricht – eine Entsprechungsmöglichkeit des englischen für das Konzept einer ›zurechenbaren‹ Verantwortung. Locke schreibt: »Adam and Eve, and after them all Parents were, by the Law of Nature, under an obligation to preserve, nourish and educate the Children, they had begotten, not as their own Workmanship, but the Workmanship of their own Maker, the Almithy, to whom they were to be accountable for them« (Locke 1991, § 56). Die Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder zu schützen, zu ernähren und zu erziehen, wird von Locke als ein ›Naturgesetz‹ (›Law of Nature‹) bezeichnet. Es gibt von Natur aus eine Pflicht der Sorge für die Kinder und verantwortlich für diese sind die Eltern gegenüber dem ›All46 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Friedensbeziehungen – von der Pflicht zu den Spielräumen der Verantwortung
mächtigen‹. Allerdings sind es die elterlichen Individuen, die alleinige Verantwortliche sind und daher auch keine Abgabe oder Übernahme der Verantwortung durch andere erwarten dürfen. Interessant ist, dass Locke Pflicht und Verantwortung im Kontext eines Phänomens zusammenführt, das auch in der Verantwortungstheoriegeschichte immer wieder als Archetyp der Verantwortung auftaucht. So wird die elterliche Verantwortung von Hans Jonas als Modell eines neuen Verantwortungskonzeptes benannt (Jonas 2003, 85 f.). Jonas unterstreicht in diesen Überlegungen insbesondere die fürsorgende Dimension der Verantwortung – auf die ich im späteren Verlauf meiner Überlegungen noch ausführlicher eingehen werde. Interessant an dieser Stelle – und daher dieser kleine Vorgriff – ist aber, dass sich von Locke bis hin zu Jonas auch die Rolle und Funktion der Eltern verschoben zu haben scheint. Heute würden wir sagen, dass eine bloße Pflichtübernahme für die zu erziehenden Kinder zu wenig ist für ein gewissenhaftes Elterndasein. Eltern gehen heute nicht nur ihrer Pflicht, d. h. ganz bestimmten moralischen Handlungsanweisungen nach. Sondern sie bemühen sich als verantwortliche Eltern um die Herstellung von gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedingungen ihrer Kinder, die idealerweise über die Gewährleistung von Schutz und Nahrung hinausgehen sollten. Im Gegensatz zur Pflicht steckt im Verantwortungsbegriff daher noch ein mögliches ›Mehr‹ oder ›Weniger‹ des Engagements – dies bleibt in der Entscheidung des Individuums oder hier der Eltern. Auch Bayertz unterstreicht diesen Aspekt, wenn er schreibt: »Mit dem Verantwortungsbegriff in seiner nichtklassischen Bedeutung werden demgegenüber bestimmte positiv ausgezeichnete (erwünschte) Zustände umschrieben, ohne dass im einzelnen festgelegt werden muss, wie der jeweilige Verantwortliche diese Zustände herbeiführt oder aufrechterhält« (Bayertz 1995, 33). Die ›nichtklassische‹ Bedeutung des Verantwortungsbegriffs geht über die ›klassische‹ Bedeutung der Handlungsfolgenhaftung insofern hinaus, als sie sich auf einen offenen und mithin unsicheren, kontingenten zukünftigen Zustand und Zeitpunkt bezieht. Entsprechend dieser Gestaltungsoffenheit in der ›nichtklassischen‹ Bedeutung des Verantwortungsbegriffs gewinnt auch die Verantwortung der Eltern für ihr Kind eine neue Dimension hinsichtlich der individuellen erzieherischen Spielräume, wie es sie im Rahmen einer Pflichtbefolgung kaum oder sehr viel weniger gibt. Verantwortung ist selbst intrinsisch orientierungs- und gestaltungsoffen im 47 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Alfred Hirsch
Umgang mit den lebensweltlichen Möglichkeiten des Handelns. Sie setzt keine Gesetzes- oder Normvorgaben ›eins zu eins‹ in die Praxis um. Vielmehr tastet sie sich, auf die konkreten Ansprüche und Herausforderungen einer gegenwärtigen und zukünftigen Wirklichkeit antwortend, voran. Sie erfindet sich dabei als normative Ethik immer wieder ein wenig neu und hält doch auch an etablierten moralischen und gesetzlichen Normen fest. Die Verantwortung der Eltern wird mittels des ›nichtklassischen‹ Verantwortungsbegriffs nicht neu erfunden. Jedoch erhält sie vor dem Hintergrund der tradierten elterlichen Tugenden neue Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungschancen. Ihr wohnt eine stark ausgeprägte Dimension individueller Freiheit inne, die für den einzelnen schnell zur Überforderung werden kann. Das dem Einzelnen letztlich überlassene ›Mehr‹ oder ›Weniger‹ des Engagements entbindet ihn jedoch nicht von seiner Verantwortlichkeit. Diese ist prinzipiell unbegrenzt – und kann sich auf eine nie kalkulierbare Menge und Intensität von elterlichen Fürsorgemöglichkeiten beziehen. Auch hier scheint sich ein wesentlicher Unterschied zum Pflichtbegriff im Kant’schen Sinne zu markieren. Die Pflicht bleibt letztlich nicht nur auf ein klar umrissenes, begrenztes Normengerüst bezogen, sondern weist sich auch als unabhängig von jeder lebensweltlichen Dynamik und der damit verbundenen normativen Kreativität aus. Diese Überlegungen zu Differenzen und Überschneidungen von Pflicht- und Verantwortungsbegriff verlieren ihre Geltung keineswegs, wenn sie aus der mikrosozialen Perspektive auf größere gesellschaftliche Gebilde oder auf den Kontext der Politik und des Politischen bezogen werden. Auch hier stellt sich die Frage nach den historischen Verschiebungen und epochalen Anpassungen.
3.
Pazifismus und die Zirkulation der Verantwortung
Sucht man nach weiteren bedeutsamen Auseinandersetzungen mit dem Paradigma der Verantwortung in der nachkantischen Zeit, dann fällt schnell der Blick auf Max Weber. In seinem zuerst als Vortrag verfassten Text »Politik als Beruf« von 1919 knüpft Weber nicht nur in begrifflich semantischer Hinsicht an die geschilderten Überlegungen Kants an, sondern besonders auffällig ist der thematische Kontext, den Weber für eine explizite Entfaltung einer ›Verantwortungsethik‹ wählt. 48 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Sein bestimmender Bezugsrahmen für ein verantwortungsethisches Handeln und Verhalten ist derjenige der Politik im Allgemeinen und des entscheidenden Politikers im besonderen. Weber entwickelt seine Überlegungen vor dem realgeschichtlichen Hintergrund – und mit expliziter Bezugnahme auf ihn – der räterepublikanischen Revolution 1918/1919 in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg. Manchmal zwischen den Zeilen, aber zumeist sehr ausdrücklich, verbindet er den Entwurf einer ›Verantwortungsethik‹ mit der Frage nach dem politischen Handeln angesichts von Krieg und Frieden. Mehr noch als die Pflichtethik in Kants Zum ewigen Frieden gewinnt Weber das Konzept einer ›Verantwortungsethik‹ in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der Friedensproblematik. Die Bezugnahme auf den realhistorischen Kontext macht einerseits deutlich, dass Weber seinen theoretischen Entwurf nicht fern der konkreten Anschauung entwickelt, und andererseits wird zugleich deutlich, dass Weber – wie im Übrigen viele seiner akademischen Kollegen jener Tage – keineswegs mit den Pazifisten und/oder Räterepublikanern in dieser Phase der deutschen Geschichte sympathisierte. Wenngleich – wie später noch deutlich werden wird – Weber ein differenziertes Bild einer Verantwortungsethik zeichnet, die sich als Ausfluss der Reflexion einer hoch konfliktreichen historischen Konstellation in Deutschland dieser Zeit erweist. Weber schließt in mancherlei Hinsicht an die Philosophie Kants an. Besonders zentral für seinen verantwortungsethischen Neuansatz ist allerdings die Kant’sche Konzeption der subjektiven Freiheit, die sich aus dem Vermögen des Menschen, selbst gesetzten Regeln zu folgen, ergibt. Dieser Entwurf einer moralischen Persönlichkeit, die die eigenen moralischen Verpflichtungen übernimmt, wird von Weber allerdings neu gewendet (vgl. Schluchter 1991, 1). Die Verantwortungsethik als Pflichtethik nimmt nach Weber ihren Ausgang nicht mehr im stummen Selbstgespräch des Subjekts mit den Gesetzen einer praktischen Vernunft, sondern realisiert sich erst in der konkreten und erfahrungsmäßigen Verantwortung der eigenen Handlungsorientierungen und deren Folgen gegenüber allen anderen potentiell betroffen Individuen. Nicht jedoch wie noch in der kantischen Wohlgeordnetheit der Vernunft, die als Orientierungsparameter über allem schwebt, geht Weber von unhinterfragbaren Wert- und Handlungsorientierungen aus. Die Welt Webers am Beginn des 20. Jahrhunderts eröffnet viele Handlungsoptionen und Wertorientierungen. Diese stehen keineswegs ohne einander zu wi49 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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dersprechen und einander zu widerstreiten nebeneinander, sondern befinden sich in einem konfliktreichen Verhältnis zueinander. Weber scheint in der Verantwortung gerade jenes Instrumentarium gefunden zu haben, das zwischen diesen so unterschiedlichen Handlungsund Wertorientierungen der modernen Gesellschaft zirkuliert. Die historische Situation, in der Weber am Ende des 1. Weltkrieges seine politische Theorie einer Verantwortungsethik entwickelt, könnte dramatischer kaum sein. In Deutschland tobt die Auseinandersetzung zwischen den sozialistischen Revolutionären auf der einen Seite und den konservativ reaktionären Kreisen auf der anderen Seite. Webers Sympathien liegen zumindest hinsichtlich der Kriegsschuld- und Pazifismusfrage bei den konservativen Gruppierungen der beginnenden Weimarer Republik. Dies wird besonders deutlich, wenn er die Problematisierung der Verschuldung des Kriegsbeginns als Bagatelle zurückweist und ein klares ›männliches‹ Bekenntnis fordert, das die Niederlage eingesteht und den Sieger als Sieger anerkennt. Nicht jedoch das Eingeständnis der Kriegsschuld, wie die Pazifisten und die linksrevolutionäre Bewegung jener Tage bekannten, führe zu einem dauerhaften Frieden. Weber schreibt: »Anstatt sich um das zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die Verantwortung vor ihr, befasst sie sich mit politisch sterilen, weil unaustragbaren Fragen der Schuld und der Vergangenheit. Dies zu tun, ist politische Schuld, wenn es irgendeine gibt« (Weber 1993, 55). Theoretisch bemerkenswert ist hier, dass Weber die Schuldfrage von der Verantwortungsfrage entkoppeln will, und empirisch auffällig ist, dass er die Argumentation der Arbeiter- und Soldatenräte als ›politisch steril‹ und schuldhaft bezeichnet. Insbesondere der Widerspruch zwischen einer pazifistischen Grundhaltung und einer revolutionären Gesinnung, die politisch sein will, wird unterstrichen. Mit der pazifistischen Kritik am Ende des Krieges sei nicht der Krieg selbst diskreditiert worden, sondern diese habe vielmehr dazu geführt, dass der zukünftige Frieden diskreditiert worden ist. Da der Friedensvertrag von Versailles ein Schuldbekenntnis-Vertrag sei und damit den Siegern die Möglichkeit gegeben wurde, den Krieg und seine Folgen als rentablen und sinnvollen Waffengang zu betrachten, sei nun der Frieden nach dem Krieg ein ›diskreditierter‹ Frieden. Ganz anders stellte sich dies dar, so Weber, wenn es im Friedensvertrag zu einer bloßen Bestätigung des status quo gekommen wäre. Denn dann hätten sich die kriegsbeteiligten Völker
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gefragt, wozu denn überhaupt ein solch grausamer und langer Waffengang nützlich gewesen sei. Es wird auch von Weber allzu offensichtlich an der ›DolchstoßLegende‹ der deutschen Kriegsanstrengungen durch den Arbeiterund Soldatenaufstand am Ende des 1. Weltkrieges in Deutschland gewoben. Zudem unterstützt er augenfällig die in der Weimarer Zeit – und bisweilen noch heute – verbreitete Feststellung, dass der Friedensvertrag von Versailles eher einem ›Diktat‹ der Siegermächte, insbesondere Frankreichs, entsprach (vgl. Schmitt 2005, 396). Er steht mit dieser Ansicht den Überlegungen Carl Schmitts nicht fern, der in einem erst 1933 geschriebenen Text mit dem bezeichnenden Titel ›Frieden oder Pazifismus‹ schreibt: »Die Sieger von Versailles haben der gequälten Menschheit statt des Friedens diese Art von Pazifismus gegeben. Jahrelang hat sich das getäuschte deutsche Volk irreführen lassen, und das bekannte deutsche ›Legalitätsbedürfnis‹ kam dieser Täuschung noch entgegen. […] Die Welt will den Frieden und nicht das giftige Surrogat des Friedens, das ein im Dienst imperialistischer Machtpolitik stehender Pazifismus sich [recte wohl: ihr] anbietet« (Schmitt 2005, 380). Diese Überlegungen äußert Schmitt in einem Text, der am Vorabend der Novemberwahlen zum Deutschen Reichstag 1933 verfasst wurde. Der Gehalt dieser Ausführungen diskreditiert sich auch deswegen vollends, da er als argumentatorischer Vorspann zum graphisch hervorgehobenen Schlusssatz zu lesen ist. Das den Text abschließende Diktum Schmitts gibt eine nachdrückliche Empfehlung zur Wahl ab: »Das Ja, das wir am 12. November der Regierung Adolf Hitler geben, wird auch die künstlichen Begriffsbestimmungen durchdringen und den falschen Begriffsnebel zerreißen. Es wird ein Ja des Friedens sein« (ebd.). In der historischen Retrospektive klingt diese Äußerung zwar zynisch und propagandistisch. Aber in den sich dem Ende entgegen neigenden Jahren der Weimarer Republik unterstreichen sie vor allem eines: die Sehnsucht, auch der politischen Theoretiker, nach einem starken und möglichst den Gebrauch von Gewalt als Mittel nicht scheuenden Politikkonzept. Der Pazifismusbegriff wird hier weitgehend missbraucht als Synonym für einen als ›ungerecht‹ empfundenen Nachkriegszustand, den die immensen Reparationszahlungen Deutschlands und die Abtretung großer Landesteile an die ehemaligen Kriegsgegner zu charakterisieren schienen. Als Pazifisten galten gerade jene Zeitgenossen, die diesen ›ungerechten‹ Frieden unterstützten und damit den Alliierten und insbesondere Frankreich in die Karten spielten. 51 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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4.
›Gesinnungsethik‹ und ›Verantwortungsethik‹
Davon, dass die tagespolitischen Einschätzungen und Stellungnahmen weder bei Schmitt noch bei Weber sehr weit entfernt sind von ihren theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang und zum Zusammenwirken von Gewalt, Politik und Verantwortung, zeugt auch eine Einlassung Webers kurz nach dem 1. Weltkrieg in der Frankfurter Zeitung im Januar 1919 – also etwa in der Zeit, in der auch der Vortrag ›Politik als Beruf‹ entstanden ist: »Wir haben in Deutschland zwei Monate hinter uns, deren vollendete Erbärmlichkeit im Verhalten nach außen alles überbietet, was die deutsche Geschichte aufzuweisen hat. Das Ohr der Welt gewannen allerhand Literaten, die das Bedürfnis ihrer durch die Furchtbarkeit des Krieges zerbrochenen oder der Anlage nach ekstatischen Seele im Durchwühlen des Gefühls einer ›Kriegsschuld‹ befriedigten. Eine solche Niederlage musste ja die Folge einer ›Schuld‹ sein, – dann nur entsprach sie jener ›Weltordnung‹, welche alle solchen schwachen, der Wirklichkeit nicht gewachsenen Naturen allein ertragen« (Weber 1991, 60). Die Literaten und jene ›schwachen Naturen‹, sind die Pazifisten, die einen ungerechten Friedensschluss intellektuell rechtfertigten. Diesen gegenüber stehen nach Weber vermutlich andere, die an den Schrecken des Krieges keineswegs zerbrochen sind, sondern die erfahrene Niederlage zwar als bedauerlich, aber gleichwohl normalen Vorgang im Rahmen eines zwischenstaatlichen Kampfes betrachteten. Die eher starken menschlichen Naturen verkörpern das eigentliche Wesen des Politischen besonders anschaulich. Das ›entscheidende Mittel‹ der Politik nämlich ist die ›Gewaltsamkeit‹ (Weber 1993, 58), wie Weber unterstreicht. Zwar schränkt er wenig später ein: »Das spezifische Mittel der legitimen Gewaltsamkeit rein als solches in der Hand menschlicher Verbände ist es, was die Besonderheit aller ethischen Probleme der Politik bedingt« (Weber 1993, 62). Immerhin wird ihm hier die ›legitime Gewaltsamkeit‹ zu einem ethischen Problem. Aber diese wird dadurch nicht als zentrales Charakteristikum des Politischen überhaupt in Frage gestellt. Eine Ethik der Gewaltlosigkeit gilt ihm in der politischen Auseinandersetzung hingegen als vollkommen deplaziert. Sie erweist sich schnell als ganz und gar verantwortungslos, da sie sich dem sich im politischen Ringen freisetzenden Übel nicht entgegenwirft und gewaltsam widersteht. Die wie auch immer sich entwickelnden Prozesse politischer Praxis und 52 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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sozialer Ordnung sind im Kern nicht durch kooperative Handlungsweisen zu gestalten, sondern werden durch gewaltsame und kriegerische Zugriffe geformt. Wendet man nun den Verantwortungsbegriff auf einen solchen Politikbegriff an – der sich nicht zu Unrecht an die Definition des Politischen bei Carl Schmitt als Unterscheidung von ›Freund‹ und ›Feind‹ anschließen ließe –, kann dies nur meinen, dass im Falle von Konflikten und Auseinandersetzungen Gewalt als vorrangige Option zu gelten hat. Vor diesem Hintergrund entfaltet Weber die so oft zitierte und für den Verantwortungsbegriff seit Beginn des 20. Jahrhunderts wegweisende Unterscheidung von ›Gesinnungsethik‹ und ›Verantwortungsethik‹. Es sind zwei ›grundverschiedene‹ Maximen und daher ist es ein »abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (vorhersehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat« (Weber 1993, 58). Verantwortung wird hier zunächst klassisch gesetzt, als Handlungsfolgenverantwortung beschrieben, und damit gegen eine Haltung in Anschlag gebracht, die sich nicht um die Folgen des eigenen Handelns schert. Diese letztere Haltung eignet dem pazifistischen Syndikalisten, dem es letztlich nur darum geht, »die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeiten der sozialen Ordnung« lodern und nicht erlöschen zu lassen (ebd.). Aber nicht nur den Pazifisten der Jahre 1918 und 1919 schreibt Weber eine solche ›gesinnungsethische‹ Grundhaltung zu, sondern auch denjenigen, die während des Krieges zur ›letzten Gewalt‹ aufgerufen haben und jede neue Offensive an der Front als Weg zum Sieg und damit zum Frieden proklamierten. Gerade weil der Gesinnungsethiker keine echte Beziehung zur Zukunft unterhält und nicht vorausschauend den Augenblick und die unmittelbar anschließende Gegenwart auf die möglichen Konsequenzen des eigenen Tuns transzendiert, erfasst er auch nicht die Wirklichkeit der Gegenwart. Hingegen sieht der Verantwortungsethiker aufgrund seiner vorausschauenden Orientierung auch die Gegenwart in einem anderen Licht. Der Folgen des eigenen Handelns in der Gegenwart gewahr werdend, sieht er sich zugleich außer Stande, die Verantwortung für dieses Handeln auf andere abzuschieben. »Ehre des politischen Führers, also: des leitenden Staatsmannes, ist dagegen gerade die ausschließ-
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liche Eigenverantwortung für das, was er tut, die er nicht abwälzen kann und darf« (Weber 1993, 28). Schon bei Weber findet sich hier ein Aspekt des Verantwortungsdenkens, der erst bei Emmanuel Levinas (Levinas 1987) wieder eine besondere Rolle spielt. Denn als wesentliches Charakteristikum der Verantwortung erkannte dieser, dass verantwortlich sein heißt, sich nicht stellvertreten lassen zu können. Niemand kann an meine Stelle treten, um für mein eigenes Handeln aufzukommen. Weber schränkt diese Radikalisierung noch dahin gehend ein, dass er ein Aufkommen für die eigene Handlung qua Verantwortung nur dann unbedingt für den Handelnden gegeben sieht, insofern dieser in der Lage gewesen ist, die Folgen auch tatsächlich vorauszusehen. Zweifelsfrei ließe sich hier nun eine Reihe wichtiger Differenzierungen anschließen, aber ausdrücklich anzumerken ist zunächst hinsichtlich dieser Verantwortungseinschränkung, dass dies zu einer starken Begrenzung von Verantwortlichkeit überhaupt führt. Schon in der mit der Industriegesellschaft aufkommenden gesetzlich erfassten Haftungsverantwortung des jeweiligen Eigentümers für seine technischen Apparate ist die Kontingenz der subjektiven Voraussehbarkeit der Folgen des Betriebs dieser Apparate kaum von Bedeutung. Es ist schlicht nicht relevant, ob derjenige, der eine risikobehaftete Technik betreibt, deren etwaigen Schaden bewirkende Folgen aufgrund z. B. seiner hervorragenden Kenntnis der Apparatur voraussieht. Entscheidend ist allein, dass er als Eigentümer verantwortlich für die von ihm in eine bestimmte Umwelt gesetzte Technik ist. Sicher geht es Weber nicht um einen universalisierbaren Verantwortungsbegriff, sondern um einen, der sich an der konkreten Person des Politikers ausrichtet. Und bei diesem ist in der Tat nach einer Verantwortung zu fragen, die ganz bestimmte Aufgaben – wenngleich nicht wenige und weit zu fassende – umschließt und sich nicht auf eine schiere Unbegrenztheit von Handlungen oder Unterlassungen eben solcher erstreckt. Wenngleich die Weitsichtigkeit und Antizipationsfähigkeit des modernen Politikers ein grundlegendes Charakteristikum seines erfolgreichen Agierens ist, so bleibt er doch auch hinsichtlich seiner Handlungsmöglichkeiten limitiert. Dies erfordert nach Weber ohnehin einen besonderen Typus und Mensch. Weber entwirft den verantwortlichen Politiker des modernen Staates als einen aus der Masse herausragenden Menschen, der sich zu Freiheit und Selbstbestimmung durchzuringen vermag. Er unterstreicht die notwendig charismatische Persönlichkeit des politischen 54 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Führers, der neben ›Mut‹ auch über die heroische Eigenschaft einer ›Hingabe‹ an die ›Sache‹ verfügen muss (vgl. Weber 1993, 51). Nur ein heldenhafter, zur echten Freiheit fähiger Mensch ist der Übernahme einer Verantwortung gewachsen, die damit zum Ausweis eines besonderen Menschen wird. Nicht jedermann ist mithin zur Übernahme von Verantwortung in der Lage. Sie ist das Charakteristikum eines neuen Menschen, eines Menschen, für den nicht mehr Gehorsamkeit und Disziplin grundlegende Persönlichkeitsmerkmale sind. Dieser neue, verantwortliche Mensch hat nicht mehr auf eine Obrigkeit zu hören, Befehle zu befolgen und das eigenständige Denken einzustellen. Vielmehr handelt es sich um eine Persönlichkeit, die gewisse elitäre und privilegierte Existenzbedingungen aufzuweisen vermag.
5.
Das Privileg der Verantwortung
Diese Einschätzung des modernen Politikers operiert einerseits mit einer Art Anthropologie der Verantwortung und andererseits knüpft sie an jüngst vergangene historisch gesellschaftliche Kategorien an. Denn das Ideal des zukünftigen verantwortlichen Menschen – sei er nun Politiker oder nicht – orientiert sich an einem elitären Muster, wie es das Beispiel der Aristokratie im 19. Jahrhundert vorgab. Die nicht von den Drangsalen des Überlebenskampfes gepeinigte Kreatur erst ist in der Lage, mit einer gewissen sachlichen Distanz – von einer Art lebensweltlichem Feldherrenhügel – befreit zu überblicken und zu entscheiden. Erst dieser von den dringendsten Zwängen und Einschüchterungen der Gegenwart befreite Mensch vermag den Kopf zu erheben und planend in die nächste Zukunft zu schauen. Hinzu kommt, dass er nicht mehr bei jeder kleinsten Verfehlung und mutigen Handlungsentscheidung Sanktionen einer weltlichen und kirchlichen Obrigkeit fürchten muss. Jener ›neue‹ Mensch, der sich im 19. Jahrhundert – nach den europäischen und amerikanischen Revolutionen – in seinen anfänglichen Konturen abzeichnet, scheint noch nach dem Vorbild des selbstbestimmten Aristokraten gezeichnet. Es ist daher keineswegs ein Zufall, dass einige Jahrzehnte vor Weber bereits Nietzsche das Phänomen der Verantwortlichkeit mit der Selbständigkeit und Exponiertheit des Individuums in Verbindung brachte: »Das stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, 55 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominierenden Instinkt« (Nietzsche 1999, 294). Es liegt nahe, die Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen als ›Privilegium‹ zu betrachten, wenn man in der Entgegensetzung jenen Menschen sieht, der weder über Handlungsfreiheiten verfügt, noch sich über die ihm in der sozialen und kulturellen Lebenswelt zugedachte Rolle hinwegzusetzen vermag. Der Wahrnehmung der Verantwortlichkeit des Menschen Ende des 19. Jahrhunderts wohnt eine Ahnung von der Selbstbestimmtheit zukünftiger Generationen inne, die dieses Privileg nicht mehr als solches erkennen werden – oder in dem Privileg und seiner maßlosen Ausweitung nur mehr eine Belastung und Überforderung sehen und erfahren werden. Aber auch in einer geschichtlichen Epoche, in der Verantwortlichkeit zum ›dominierenden Instinkt‹ geworden ist, bedeutet die tatsächliche Übernahme der Verantwortung, dass sich das Individuum zur Freiheit und Selbstbestimmung erst durchringen muss. Ganz im Nietzscheschen Sinne ist dies allein den ›freien Geistern‹ vorbehalten, die neben dem notwendigen Mut auch die unabweisbare Einsamkeit des Verantwortungsträgers auf sich zu nehmen haben. In den Überlegungen Nietzsches zum Privileg der Verantwortlichkeit dominiert noch deutlich die individualistische Ausrichtung des Verantwortungskonzeptes. An diese knüpft Weber einerseits mit Blick auf die dem Politiker zugeordnete Verantwortung an, andererseits weist er bereits auf eine an den Bedürfnissen und Ansprüchen der Gesellschaft ausgerichtete Dimension der Verantwortung voraus. Am Horizont taucht ein Politikverständnis auf, das weniger autoritär und obrigkeitsstaatlich ausgerichtet ist. Zwar heftet Weber die Ethik der Verantwortung vor allem an die Person des leitenden Politikers, aber von diesem aus ließe sich – wie es in der Folgezeit der begrifflichen Indienstnahme auch geschieht – eine ›Demokratisierung‹ vornehmen. Dies ist zumal dann geboten, wenn Verantwortung als verallgemeinerbare Ethik im Rahmen einer Gesellschaft sich ausbreitet, in der potentiell jeder Mensch zum Träger der politischen Ordnung und auch zu ihrem Repräsentanten werden kann. Das Konzept der Verantwortungsethik, das Weber von demjenigen der ›Gesinnungsethik‹ unterscheidet, erstreckte sich in seinen basalen Ausmessungen dann auch auf ein individuelles Handeln vor dem und jenseits des Politischen. Aber sowohl hier wie dort ist das Konzept der Verantwortungsethik an den Erfahrungen und unvorhersehbaren Veränderungen des Alltags und der Gesell56 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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schaftswelt ausgerichtet. Es bedarf auch in der Ethik einer neuen Wahrnehmung und Einstellung auf die konfliktreichen und auslegungsoffenen Praktiken und Diskurse einer sich demokratisierenden Gesellschaft. Auch der einzelne Mensch als fehlbares Mängelwesen ist von einer solchen Ethik zu berücksichtigen. Daher hat der Verantwortungsethiker »[…] mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen« zu rechnen, »er hat, wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet« (Weber 1993, 58). Anders formuliert: Es gibt kein Programm oder unabänderliches Gesetz, das wir unbesehen der menschlichen Irrungen und Wirrungen auf das handelnde Leben übertragen können. Aber es gilt eine Maxime, nämlich die, dass jeder Mensch zu jeder Zeit mit den Resultaten und Folgen seines Handelns zu konfrontieren ist und sich selbst zu konfrontieren hat. Dies setzt zweifelsfrei den Entwurf eines gewissen öffentlichen Diskurses voraus, denn das verantwortungsethische Achten auf die Folgen des eigenen Handelns und Unterlassens setzt stets die Fragen und Ansprüche anderer voraus. Dabei sind hier nach Weber nicht nur gut meinende und wohlwollende Ansprüche und Infragestellungen zu intendieren, sondern besser sogar das Gegenteil davon. Erst der Skeptiker ist der echte Verantwortungsethiker. Er verabsolutiert nicht einen bestimmten Wertekanon, sondern gewinnt seine handlungsleitenden Werte immer wieder neu durch ein folgenorientiertes praktisches Urteilen. Aber gerade dieser Webersche Skeptizismus gegenüber den tradierten Werten unterstreicht, dass verantwortungsethisch neue Wertorientierungen nur auf dem Wege interpersonaler Konflikte und Diskurse zu erreichen sind. Denn »mit der Übernahme der Verantwortung für die Richtigkeit der eigenen Handlungsorientierung positioniert sich die verantwortungsbewusste Person in einem Netz zwischenmenschlicher Verpflichtungen und Nötigungen, die ihre Entscheidung mitbestimmen, teils bestätigen, teils beschränken« (Bienfait 2006, 173). Der Weg des zwischenmenschlichen Aushandelns von allgemeingültigen Werten kann nur mittels einer Dialogizität geschehen, die die Trennung von miteinander um die Sache streitenden Individuen voraussetzt. Dies ist die konstitutive Bedingung und zugleich das Vehikel einer Verantwortungsethik. Denn eine auf die Pluralität von Ansprüchen und Interessen gegründete Gesell57 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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schaft bildet einerseits eine Ethik aus, die sich von autokratischen und monologischen Normdurchsetzungen distanziert und die andererseits den verantwortungsbewussten Umgang der Individuen im Dialog miteinander in der Weise zu kultivieren geneigt ist, dass ein Weitersprechen und interaktives Fortfahren jederzeit möglich sein muss. Alles andere brächte eine solchermaßen organisierte Gesellschaft immer wieder an den Rand ihres Bestehens. Gleichwohl kommt auch eine solche Diskursgesellschaft nicht umhin, Werte und Normen zu generieren, die eine gewisse Dauer und beharrende Festigkeit erlangen. Anderenfalls hätte die grundlegende Offenheit der Verantwortungsgesellschaft und ihrer Wertkonflikte zur Folge, dass diese ständig wechselten. Dies würde zu einem Relativismus führen, der auch die Existenzbedingungen der auf Pluralität und diskursivem Konfliktaustrag beruhenden Gesellschaft unterlaufen würde. Denn auch der Pragmatismus der reinen Verantwortungsethik, die zwar auf die Folgen des Handelns achtet, kann sich nicht ganz und gar von den Werten und Normen lösen, die für die Beurteilung der zu erwartenden Folgen stets notwendig sind. Wenn beispielsweise der Einsatz von militärischer Gewalt für die Beendigung von Menschenrechtsverbrechen innerhalb eines souveränen Staates in Erwägung gezogen wird, um noch schlimmere Folgen für die Menschen in dem entsprechenden Land zu verhindern, dann setzt dieses die Menschenrechte als eine die staatliche Souveränität des angegriffenen Staates übersteigende Norm voraus und es setzt auch voraus, dass dem intervenierenden Staat das Mittel der Gewaltsamkeit zur Lösung von Konflikten als legitimes Mittel erscheint. Hiermit werden zwei Wertarten bei der verantwortungsethischen Folgeneinschätzung der Intervention vorausgesetzt, die sich aus der Perspektive Webers auch als ›Gesinnungswerte‹ beschreiben ließen. Denn nachdem Weber in seinem Text ›Politik als Beruf‹ lange die Differenz von ›Gesinnungsethik‹ und ›Verantwortungsethik‹ zu einem Gegensatzpaar ausgeformt hat, stellt er zum Ende seines Textes hin eine wechselseitige Bedingtheit und Verstrickung der Gegensätze fest: »Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ›Beruf zur Politik‹ haben kann« (Weber 1993, 66). Geht es der Gesinnungsethik nur und ausschließlich um die moralische Richtigkeit ihrer Entwürfe und Handlungen – seien sie auch noch so weltfremd –, antizipiert die Verantwortungsethik die Folgen und 58 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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neigt zu einem vor allem Schaden abwendenden Pragmatismus. Aber auch Pragmatismus und Folgenorientiertheit benötigen, wie schon deutlich wurde, für die Normenbegründung der Herausbildung und des Festhaltens an gewissen ›moralischen Richtigkeiten‹. Ohne dies käme auch das verantwortungsethische Konzept ins Rutschen und würde schwerlich Halt finden. Und doch: mit jeder neuen verantwortlichen Bezugnahme in den Praktiken und Diskursen einer Gesellschaftswelt kommt es zu unmerklichen Verschiebungen und stillen Reformierungen der grundlegenden Wertsemantiken. Diese Verschiebungen und Reformierungen selbst sind letztlich nicht planbar oder zentral zu steuern. Sie geschehen in den Geweben einer Gesellschaftswelt, ohne den Einflüssen einer Herrschaft von außen zu unterliegen (vgl. Hirsch 2007, 303 f.). Diese Widerständigkeit gilt auch noch gegenüber den extremsten Formen von Gewalt und Zwang, die sich den prästabilisierten Elementen der gesinnungsethisch behaupteten Richtigkeiten entgegenstellen oder diese zu verändern suchen. In mancherlei Hinsicht geht damit der Webersche Text über seine eigenen Implikationen hinaus. Insbesondere die Gründung des Politischen auf der ›legitimen Gewaltsamkeit‹ wird mittels der Entfaltung der ›Verantwortungsethik‹ und ihrer Verstrickung in die ›Gesinnungsethik‹ ausgehöhlt – und neu fundiert. Die von einer verantwortungsethischen Anwendung von Normen vorausgesetzte Pluralität und Dissensualität der modernen Gesellschaft und ihrer Politikkonzepte legt nicht nur einen gewaltfreien Konfliktaustrag nahe, sondern verlangt ihn sogar mit Nachdruck. Denn zur Bedingung des Fortlebens einer pluralen und freien Gesellschaft gehört der friedfertige Austrag der konfligierenden Ansprüche aller Beteiligten. Verantwortungsethisch gewendet muss die Friedfertigkeit mithin immer auch als Folge des Handelns und Unterlassens intendiert sein.
Literatur: Bayertz, K. (1995): »Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung«, in: ders. (Hg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 3–71. Bienfait, A. (2006): »Die ›Verantwortungsgesellschaft‹ als ›Konfliktgesellschaft‹ : Max Webers Beitrag jenseits von Fatalismus und Moralismus«, in: L. Heidbrink u. A. Hirsch (Hg.): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Kon-
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Petar Bojanić
Die kollektive Verantwortung als Bedingung für den Frieden. Imputationen und Amputationen. Über die Zurechnung (Imputation) zur Gruppe und über die Zurechnungsfähigkeit der Gruppe Gleich zu Beginn möchte ich sowohl den Titel, Die kollektive Verantwortung als Bedingung für den Frieden und den Untertitel, Imputationen und Amputationen. Über die Zurechnung (Imputation) zur Gruppe und über die Zurechnungsfähigkeit der Gruppe, erklären als auch, warum ich anstatt über Verantwortung, über ein ihr sehr nahestehendes Wort rede – die Imputation oder die Zurechnung. Obwohl es dem Wort »Bedingung« auf den ersten Blick gelingt, kollektive Verantwortung und Frieden zu verknüpfen, würde dasselbe Wort auch kollektive Verantwortung und Krieg perfekt miteinander verbinden. Kollektive Verantwortung ist nicht die einzige, aber eine der friedenbringenden Bedingungen (eine zusätzliche Bedingung, obwohl ich gelegentlich denke, dass es sich um die letzte oder die unbedingte Bedingung handelt). Wenn es kollektive Verantwortung gibt, dann gibt es auch Frieden, oder genauer, wenn den bereits bestehenden zum Frieden führenden Bedingungen und den bestehenden Verantwortungsarten (die individuelle Verantwortung ist zweifellos die erste und grundlegende) auch die kollektive Verantwortung hinzugefügt wird, dann werden wir Zeugen eines beruhigenden und friedenbringenden Prozesses sein. Wie? Auf welche Weise? Der Ursprung der Ungenauigkeit oder der Unmöglichkeit des Titels liegt nicht nur in der Schwierigkeit zu zeigen, wie und ob Bedingung und Bedingen zwischen diesen beiden Feldern »arbeiten«. Es scheint viel problematischer, alle Bestimmungsschwierigkeiten, sowohl der kollektiven Verantwortung als auch des Friedens, aufzuzeigen, und wenn Sie so wollen, zu klassifizieren. Außerdem gibt es eine entscheidende Asymmetrie im Gebrauch und in den Investitionen: Während sich die Theorien über die Möglichkeit oder die Unmöglichkeit der »kollektiven Verantwortung« nach den großen und kleinen Kriegen im vorigen und in diesem Jahrhundert sehr schnell ent61 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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wickelt und gegenseitig ergänzt haben, blieb der »Frieden« im Schatten der großen und stets interessanten Diskussionen über gerechte oder ungerechte Kriege oder auch über Kriegsethik. 1 Ich lasse nun die sehr komplizierten Historien der Konstruktion und Dekonstruktion der »kollektiven Verantwortung« 2 völlig im Hintergrund und möchte einige gänzlich vorläufige Beobachtungen einführen, die vielleicht den Untertitel dieses Textes rechtfertigen könnten. Ich versuche also, die Beziehung zwischen »verantwortungsvollen« Mitgliedern eines »verantwortungsvollen« Kollektivs oder einer Gruppe – diese Beziehung setzt sofort »Frieden« voraus; sie ist friedlich, sie entfaltet sich im Frieden, so wie sie den Frieden zwischen Gruppen und Institutionen, einen neuen globalen Frieden ankündigt 3 – durch den von Kant gebrauchten alternativen Terminus für Verantwor-
Ich bin mir nicht sicher, ob es heute möglich ist, dem Dilemma Kelsens »Frieden durch Gewalt oder per Gesetz« oder dem folgenden Satz »Frieden ist ein Zustand der durch das Fehlen von Gewalt charakterisiert ist« zu folgen. In der Charta der Vereinten Nationen ist der Frieden nicht explizit definiert. Stattdessen gibt es eine implizit negative Definition des Friedens (der Mangel an Krieg oder der Mangel an zwischenstaatlichem Krieg) und keine positive Definition. Das Problem dabei zu sagen, dass der Frieden gebrochen wurde, wenn zwei Länder gegeneinander in den Krieg ziehen, ist, dass diese Definition z. B. Bürgerkriege nicht erfasst. Die Skizze der »großen Theorie des Friedens« des japanischen Professors Shin Chiba stellt einen neuen Denkansatz des Friedens dar, über den auch Richard Falk neulich geschrieben hat. 2 Es scheint mir, dass es sehr schwer ist, eine Forschung, die die sehr vielgestaltigen Versuche der Definition des Kollektivs und der (kollektiven) Verantwortung während der Denk- und Handlungsgeschichte umfassen könnte, zu konstruieren. Ein solches Abenteuer müsste die verschiedenen Thematisierungen der Selbst-Verantwortung in Betracht ziehen (von der Husserlschen Meditation über die Idee eines individuellen und Gemeinschaftslebens in absoluter Selbstverantwortung (Husserl 1959) und Webers berühmte Sätze über die Verantwortung bis zu Weischedel, Ingarden, Jonas oder Lévinas) oder die Arbeiten von Hannah Arendt (vor allem den Text Die Kollektive Verantwortung aus dem Jahr 1968 (Arendt 1968), in dem sie nach dem Ursprung dieser Idee fragt und sie von der Kollektivschuld unterscheidet; Margaret Gilbert hat sehr leicht die Schlüsse von Arendt in Frage gestellt (vgl. Gilbert 1997). Dennoch bin ich mir sicher, dass heutzutage die moralischen Argumente diejenigen, die aus der Sprachphilosophie oder Metaphysik kommen, übertönt haben. Heute ist es sehr schwer, Ausdrücke wie »die Nation X hat angegriffen«, »die Mannschaft hat ein Tor geschossen«, »das Gremium hat Petar entlassen« oder »die Firma X hat produziert« als sinnlos zu erklären. Deshalb eignet sich das Feld der »Kollektivverantwortung« sehr gut für eine fruchtbare Begegnung der kontinentalen und der angelsächsischen Philosophietradition. 3 Martha Nussbaum hat das Syntagma »global responsibility« vielen anderen vorgezogen. 1
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Die kollektive Verantwortung als Bedingung für den Frieden
tungs- oder Zurechnungsfähigkeit zu erklären: die Zurechnung (Imputation) 4. Ich habe die Absicht, auf dieselbe Weise Kant eine Idee zu »imputieren«, oder zu zeigen, dass seine Fiktion über die Existenz einer höheren Instanz (der Menschheit, Gottes oder der Welt), vor der wir uns alle verantworten müssen (oder in die wir de facto und nicht de jure uns selbst »imputieren«), die Präambel für jede künftige Gruppen- oder Kollektivzurechnung darstellt. Die selbstverantwortliche Einwilligung zur gemeinsamen Verantwortung aller könnte die Gruppe institutionalisieren, die dann imputierbar (zuschreibbar, zuordbar, zurechnungsfähig) ist, und diese Operation könnte zum Frieden führen. Die Institutionalisierung des Friedens (in diesem Moment versuche ich, die Formulierung Kants, dass der Frieden gestiftet werden muss, zu umgehen) meint also zum einen, dass der Imputationsprozess auf allen Gesellschaftsebenen durchgeführt wird (verantwortlich zu sein bedeutet, der Urheber, der Agent oder derjenige zu sein, der seine Akte gleichzeitig als eigene und gemeinsame akzeptiert). Der Schaden, den die ›unzurechnungsfähigen‹ und die nichtimputablen Einzelnen – und das ist nicht nur derjenige, der seine eigenen Taten nicht akzeptiert, sondern paradoxerweise auch derjenige, der es apriori ablehnt, das zu akzeptieren, was er nicht getan hat 5 – verursachen, könnte nur gemindert werden, wenn präventiv die Zustimmung aller besteht, ein Teil der Menschheit (und dann auch ein Teil der Institution, der Korporation, der Gruppe, der Nation, des Staates etc.) zu sein. 6 Wenn wir den Akt desjenigen, der ablehnt, auch das, was er nicht getan hat, zu akzeptieren, primitive und barbarische Unverantwortung nennen würden (ich paraphrasiere hier die bekannte Charakteristik der kollektiven Verantwortung von H. D. Lewis: vgl. Lewis 1991, 17), dann scheint es mir so, dass wir erst auf
Über diesen Begriff haben Hans Kelsen und Joachim Hruschka (vgl. Hruschka 2005) sehr wichtige Seiten geschrieben und in der Begriffsfamilie, zu der auch dieser Begriff gehört, befinden sich Attribution, Verschiebung, Anklage etc. 5 A priori bedeutet zusammen mit den anderen. A priori setzt die Gemeinschaft voraus. 6 In einem anderen Kontext kann die Kollektivverantwortung als ein präventives Institut die Gesellschaftsschäden erheblich mindern. Virginia Held schreibt: »[…] etwas, das ich als zentral vorgeschlagen habe: eine Praktik, bei der die Leute sich selbst als Verantwortung teilend sehen, wird das ungeheure Leid, das Gruppen mit sich bringen, mindern«. (Held 2002, 166) 4
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diese Weise unseren Kollektivbegriff 7 sowie auch die Theorie der Gruppenidentität bzw. der Staatssouveränität und der Weltsteuerung (world governance) rekonstruieren könnten. Institutionen sind nicht imputabel (oder »substantiell« unverantwortlich – es sei mir diese unpräzise und analoge Verwendung des Syntagmas von Scalon erlaubt), weil sie hierarchisch organisiert sind. Die unverantwortlichen Einzelnen »halten« an der Macht der Identität (Souveränität) ihrer Institutionen fest, entweder a) durch die Opferung eigener Teile (indem sie darauf bestehen, dass die Einzelnen verantwortlich sind), oder b) durch die Verhinderung des Widerstandes und des Misstrauens der Einzelnen, die sich an der Verantwortung aller beteiligen und diese akzeptieren wollen. Ich möchte auf die Negation hinweisen, die im Wort »Misstrauen« liegt (dieses Wort erwähne ich nur an dieser Stelle) und mich Kant aus einer anderen Perspektive annähern. Es handelt sich um die erste Szene der Verantwortlichkeit und der Unverantwortlichkeit. »Ich war es nicht.« »Ich war es nicht«, »Wir haben es nicht getan«, »Ich bin nicht oder wir sind nicht die Urheber«, »Nicht wir sind vor dem Computer« (com + putare), »Rechnet nicht damit, dass wir berechenbar sind«, »Belastet uns nicht«, »Wir sind nicht verantwortlich« … Die Ur-Gestalt und das anfängliche Geheimnis jeder (Un-)Verantwortlichkeit, jeder Antwort, ist die Ablehnung als Abwälzung der Last der Antwort und der Verantwortlichkeit auf jemand anderen oder etwas anderes, der oder das nicht dem Ruf folgen, antworten und die Verantwortung tragen kann. Den Abbruch der Verantwortung und die Suche nach dem verantwortlichen Urheber eines Aktes beschreibt Ambrose Bierce in seinem Devil’s Dictionary als Schlüssel und die erste Bestimmung des Substantivs »Verantwortung« [responsibility]. »VERANTWORTUNG, w: Eine ablösbare Last, die leicht auf die Schultern Gottes, des Schicksals, des Glücks, des Zufalls oder auf die des Nachbarn abgewälzt wird. In Zeiten der Astrologie war es üblich, sie auf die Sterne abzuladen.« (Bierce 2008). Meine erste Frage lautet, ob man hier auch die unbestimmten Entitäten wie Gruppe, Staat, Institution, Körperschaft etc. hinzufügen kann? Ich möchte hier auf zwei neue und sehr gelungene Versuche der Redefinition des Kollektivs hinweisen: McKenna 2006, 17; Gilbert 2006, 95 f.
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Wenn es eine Gruppe gibt und wenn daraus die unter den Mitgliedern 8 geteilte Verantwortung hervorgeht (jeder bleibt weiterhin für seinen individuellen Anteil in der Gruppe verantwortlich), auf welche Weise kann diese Gruppe dann sich selbst repräsentieren, ihre Verantwortung und sich als den Urheber eines Aktes verkünden? Oder, wie verneint die Gruppe ihre Urheberschaft oder die Miturheberschaft (wer ist überhaupt das »Individuum«, das imstande ist, auch im Plural auszusprechen: »Wir waren es nicht.«)? Wie kann man einer Gruppe ein Ereignis zuschreiben oder anrechnen? Wie unterschreibt die Gruppe ihre Urheberschaft und wie akzeptiert sie die Verantwortung, wenn dabei zugleich die Verantwortung jedes Gruppenteils im Besonderen beibehalten wird? Wie (gleichzeitig) sowohl individuell als auch kollektiv verantwortlich sein? Dieser »Teufelskreis« beginnt immer mit der Ablehnung des Kindes (des Verrückten, des Kranken, des Schwächlings [imbecillus]), in der Nähe zu sein, seinen eigenen Akt zu akzeptieren, sich ihn zu merken 9, ihn oder das Ereignis, das er hervorrief, anzuerkennen (»Ich habe das nicht getan« – »Er oder sie oder sie hat/haben das getan«; »Ich weiß nicht, wer das getan hat« etc.), und setzt sich mit der Gewinnung des Bewusstseins, der Freiheit und des »außerordentlichen Privilegiums der Verantwortlichkeit« 10 fort. Am Ende des Weges, auf dem die Erlangung und die Gestaltung der Individualität und der Souveränität der Gruppe, der Gemeinschaft, der Nation, des Volkes, des Staates, der Welt und ihrer Verantwortung fortgesetzt wird, muss vermutlich die Kraft des Bindeworts »und« unaufhörlich erhalten und affirmiert werden – »die individuelle und kollektive Verantwortung« 11. Ingarden nennt dies die »geteilte Mitverantwortung«. (Ingarden 1970, 23) Über die »Unterbrechung des Gedächtnisses« schreibt Ingarden: »Die Identität des Leibes eines Menschen bzw. einer Person scheint für die Identität dieser Person zwar unentbehrlich, aber nicht hinreichend zu sein, ihre Erhaltung ist aber für das Tragen der Verantwortung und auch für das Zur-Verantwortung-Ziehen notwendig. Es gibt aber gewisse pathologische Tatsachen, die sogenannten ›Spaltungen des Bewusstseins‹ bzw. des Ichs, die, wie es scheint, beides gefährden können«. (Ebd.) 10 Nietzsche 2007, »Zweite Abhandlung: ›Schuld‹, ›schlechtes Gewissen‹ und Verwandtes«, § 2. 11 Ingarden beschreibt die Situation, in der mehrere an einer Tätigkeit beteiligt sind, auf folgende Weise: »Und eben damit ist auch die Verantwortung der Gemeinschaft in gewissem Sinne geteilt und verteilt auf ihre einzelnen Mitglieder, die in ihrem eigenen Bereich nur »mitverantwortlich« sind, aber eben deswegen doch verantwortlich 8 9
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Ist es möglich, Bedingungen und einen Rahmen zu finden, in denen die kollektive Verantwortung nicht einen bloßen Vorteil, sondern gerade eine Symmetrie im Verhältnis zur individuellen Verantwortung haben kann? Zum Ersten soll die Gruppen- oder Kollektivverantwortung die individuelle Verantwortung nicht ersetzen, sondern diese ergänzen. Die Gruppenverantwortung ohne die individuelle Verantwortung versteckt die Urheber der Ereignisse und Handlungen, begrenzt das Wissen und die Geschichte und vernichtet de facto jegliche Verantwortung. Die individuelle ohne die kollektive Verantwortung schließt Teile einer Gemeinschaft aus und opfert sie im Namen ihrer stets mangelhaften Integrität und Einheit. »Die Verantwortung zu teilen« meint, dass jeder individuell verantwortlich ist und, dass gleichzeitig alle zusammen als Einheit verantwortlich sind. Zum Zweiten führt die »Teilung« eine Numerierung, eine Mengenangabe, eine Aufrechnung und einen Grad der Verantwortung (oder z. B. das Maß und die Ermessbarkeit, die »Prozentualität« der Verantwortung oder der Souveränität 12) ein. Daher ist die Rekonstruktion der Figur der »Verantwortung« mehrdeutig: (a) die Verantwortung ist aus dem Verfahren der »Imputation« (des Zurechnens, des Dazuzählens und des Addierens) einer Handlung oder eines Ereignisses zu einer Summe von Regeln (Gesetzen) und einem Subjekt als Täter abgeleitet; (b) das Subjekt soll nicht notwendig eins und einzig (in-dividuell) 13 sein; (c) das Verhältnis eines Teils oder der Teile zum Ganzen (zur Menge) ist die Grundcharakteristik der »Verantwortung«; (d) das Wort »Verantwortung« ist komplex und abgeleitet auf die besondere Weise der beschränkten, bedingten, geteilten Mitverantwortung. Im vollen Sinne ist aber die Gemeinschaft als Ganzes, als ein neues Subjekt, verantwortlich«. (Ingarden 1970, 23 f.) 12 Bei den ersten großen Widerständen gegenüber den schrecklichen Strafen und den »kollektiven« Verantwortungen, bei Abraham (Gen. 18:20) oder Moses (Num. 16) geht es immer um die »Zahl«. Zum Beispiel im Falle von Sodom und Gomorrha um die Frage, wie viele gute Menschen eine Stadt haben soll (zehn?), damit ihre totale Vernichtung verhindert wird? Virginia Held schreibt: »Moralische Verantwortung hat Stufen. Während es möglicherweise im Fall von gesetzlicher Verantwortung erforderlich ist, dass wir beschließen, ob Personen entweder gesetzlich verantwortlich sind oder nicht, sollten wir solcher Härte im moralischen Kontext widerstehen. Es ist eher angebracht, Stufen der Verantwortung und des Teilens der Verantwortung für das Unrecht an der unsere Gruppen Schuld haben, abzuschätzen«. (Held 2002, 168) 13 Diese Einstellung ist der Theorie von Ingarden oder, in einem anderen Kontext, jener von Jan Narveson völlig entgegengesetzt: »Nur Individuen haben eine moralische Instanz. […] Nichts anderes kann buchstäblich der Träger der ganzen Verantwortung sein«. (Narveson 2002, 179)
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und meint etliche Relationen, Begriffe oder Kriterien, die sie näher erklären: Subjektivierung, Quantifizierung, Zugehörigkeit, Ursächlichkeit, Verpflichtung, Sanktionen und Reparationen, Prävention, Repräsentation etc. Zum Dritten, das Verbrechen, mysteriös und unverzeihlich und stets schwer vorstellbar [mala in se oder scelus infandum], 14 das Verbrechen, das über das Verbrechen und dann auch über die mögliche adäquate Strafe, die Pflicht und die Verantwortung hinausgeht, führt die Gruppen-, Kollektiv-, Staatsverantwortung, nationale oder globale (internationale) Verantwortung ein. Die Spur dieses malum in se besteht heute auch weiterhin im internationalen Recht im Terminus »völkerrechtswidriges Handeln« (»internationally wrongful act«), der für die Verletzung einer internationalen gesetzlichen Verpflichtung durch einen Staat genutzt wird. Eine völkerrechtswidrige Handlung ist nämlich ein Akt, der zum einen nicht geschehen dürfte, und insofern er geschehen ist, einem Staat Entschädigung und nicht Schadensersatz aufbürdet. 15 An diesem ungewissen und komplizierten 14 Die Idiome mala in se oder scelus infandum, das »Böse an sich« oder das »unaussprechliche (nicht bezeugte) Verbrechen« (das Verbrechen größer als jedes mögliche Verbrechen; der Terminus »Genozid« ist ein Wort aus demselben Register und kann eine der Alternativen sein) benutzt Carl Schmitt in einer am 25. April 1945 in Berlin geschriebenen Fußnote. (Schmitt, 1994, 80 f.) »Bemerke als Schluss aus der Meinung von Prof. Dr. Carl Schmitt über ›Das international-rechtliche Verbrechen des Angriffskrieges‹ (August 1945)«. Der Standpunkt von Schmitt, dass scelus infandum unbedingt eine Ausnahme sein muss, sowie das Beharren darauf, dass scelus infandum von Hitler und die ungeheuerlichen Verbrechen von Gestapo und SS-Einheiten nicht durch die Kategorien des positiven Rechts erfasst werden können, stellen die Bedingungen für die unaufhörliche Rekonstruktion des internationalen Rechts und der Prozedur (des Urteils) eines »Tribunals« dar. Zum Beispiel wurde in der Anklage, die der Richter Richard J. Goldstone am 13. Februar 1995 unterschrieben hat, ein Verurteilter des Haager Tribunals mit 140 schwersten Verbrechen belastet. In einem späteren Text von Schmitt verübt der sog. Weltverbrecher malum in se und für ihn ist bis heute kein internationales Strafgericht erfunden worden. (Vgl. Schmitt 2005, 766, 823) 15 »Falls ein Staat gegen eine internationale Auflage verstößt und eine »völkerrechtswidrige Handlung« begeht, geht er eine Verpflichtung ein a) die unrechtmäßige Handlung zu beenden, falls sie noch andauert, und b) vollständige Reparationen für jeglichen verursachten materiellen und moralischen Schaden zu leisten. Eine völkerrechtswidrige Handlung ist keine zulässige Handlung, für die ein Preis verlangt wird, oder eine Handlung, die ein Staat berechtigt ist durchzuführen, solange adäquate Reparationen für entstehende Schäden geleistet werden; es ist eine Handlung, die nicht vollzogen werden sollte; falls sie doch vollzogen wurde und noch durchgeführt wird (z. B. wenn ein Staat ungesetzmäßig das Territorium eines anderen besetzt) sollte sie enden«. (Crawford u. Watkins 2010, 285 f.)
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Übergang zwischen der individuellen und der kollektiven (oder der aufgeteilten) Verantwortung finden wir die Aufgabe des Philosophen (der den Juristen oder den Richter ergänzt) und das philosophische Problem sowie den philosophischen Fokus«. 16 Es wird stets schwer sein, diese drei komplizierten »Momente«, die noch viele weitere Konsequenzen haben, zu formulieren und zugunsten der Symmetrie zwischen der individuellen und der kollektiven Verantwortung in ein präzises Argument zu »übersetzen«. Man kann anfangen, vom Ende bzw. von der Philosophie her zu fragen. Warum gerade die Philosophie, und warum ist diese Aufgabe der Philosophen vor allem auf das Begreifen der Gruppen- und Kollektivverantwortung gerichtet? Braucht man den Krieg und das unvorstellbare Verbrechen, das ein Einzelner nicht ohne die Koordinierung der gesamten Gemeinschaft ausführen könnte, sodass die Verantwortung zu einer allgemeinen Sache wird? Aber auch andersherum: Sind Kriege ein Produkt der Übermacht der individuellen Verantwortung und das Verhängnis der fatalen Asymmetrie zwischen der Verantwortung der Individuen und der Verantwortung der Gruppen und der Nationen? Auf welche Weise wurde dem Phänomen oder dem Begriff der »Verantwortung« im Laufe der langen Geschichte des Beichtens vor Gott, des Durchlaufens der Strafe, der Befragung und des Verhörs völlig die mathematische oder die buchhalterische Grundlage entzogen? Wie wurde die Ökonomie »ritualisiert« und »teleologisiert« und warum hat die Gemeinschaft einen Vorteil dem Einzelnen gegenüber (obwohl z. B. gegen die meisten Anführer und die Militärelite aller Länder, die sich am Konflikt in Ex-Jugoslawien beteiligt haben, Anklagen erhoben wurden, und obwohl man nach den Schuldigen für die großen Verbrechen, die alle Seiten verübt haben, gesucht hat, warum wurde die Souveränität der neuentstandenen Staaten niemals in Frage gestellt)? Letztendlich kann auch eine Gruppe oder ein Kollektiv eine PerGemeinsam mit Virginia Held wiederhole und folge ich den Worten, die Annette Baier im Text, den sie »A Naturalist View of Persons« nannte, ausgesprochen hat, als sie bei der Plenarsitzung des Eighty-Seventh Annual Eastern Division Meeting of the APA«, in Boston am 29. Dezember 1990 den Vorsitz hatte: »[…] wenn wir uns in irgendeiner Art von Krieg befinden, dann sind wir bereit, von der individuellen auf die kollektive Verantwortung überzugehen. […] Unser philosophischer Fokus soll in gleichem Maße auf der kollektiven wie auf der individuellen Verantwortung sein, wenn wir danach suchen, uns selbst als Personen zu verstehen«. (Baier 1991, 6; vgl. Held 2002)
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son sein und wie kann sie es, denn nur eine »Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind«? (Kant 1968, 223) In der Einführung in die Schrift Die Metaphysik der Sitten, in dem Kapitel, in dem er die Vorbegriffe der Moral definiert, sagt Kant, dass im Unterschied zur moralischen Persönlichkeit oder zur Person, die nichts anderes als die Freiheit eines vernünftigen, den moralischen Gesetzen unterworfenen Wesens ist, 17 die Sache nicht zurechnungsfähig und nicht frei ist. Aufgrund dessen folgt die Person, so Kant weiter, den Gesetzen und ist den Gesetzen unterworfen, die sie sich selbst gibt, »entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen«. (Ebd.) Nur wenige Seiten später gibt Kant seine Definition der Imputation, oder genauer, versucht er, die verschiedenen Bestimmungen dieser Rechtskategorie, die eine reiche Verwendunsgeschichte seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, seit Pufendorf, Baumgarten und anderen Denkern der Rechts- und Moraltheorie besitzt, zu präzisieren und zusammenzufassen. »Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die rechtlichen Folgen aus dieser That bei sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudiciaria s. valida), sonst aber nur eine beurtheilende Zurechnung (imputatio diiudicatoria) sein würde. – Diejenige (physische oder moralische) Person, welche rechtskräftig zuzurechnen die Befugniß hat, heißt der Richter oder auch der Gerichtshof (iudex s. Forum)«. (Ebd., 227) Es muss weder gewagt noch überstürzt sein, wenn angenommen wird, dass in diesem am Ende des 18. Jahrhunderts geschriebenen Text von Kant die dreidimensionale Gestalt der Figur, die wir heute mit dem Wort Verantwortung (Gen.: Femininum) bezeichnen, skizziert wurde. Ohne in einige andere Texte von Kant einzusteigen, ohne eine strikte Thematisierung des wesentlich komplizierteren Unterschieds zwischen Kants Zurechnung und Kants Verantwortung, wage ich anzudeuten, dass Die Metaphysik der Sitten drei Gestalten oder »Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist«. (Ebd.)
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drei Momente der Verantwortung entdeckt oder zusammenfasst. Sie entdeckt drei und versteckt zugleich einen Moment. Die ersten zwei Momente sind in diesem Fragment erwähnt und beide betreffen das Wort Zurechnung. Kant verbiegt nämlich die bekannte Unterscheidung (die vor ihm vorkommt aber auch seine eigene ist) zwischen imputatio facti und imputatio iuris. Sagen wir zunächst, dass das Wort imputatio eine bestimmte Quantität des »Zwangs« hinter einer Tat (Aktion) oder einem Ereignis (diese beiden Worte decken Kants Wort Handlung), einen Urheber, eine Person, ein Antlitz, eine Entität oder etwas Ähnliches zu finden und festzustellen meint. Imputieren bedeutet zunächst, eine Tat bis hin zur Federführung und zur Nähe desjenigen – heute wäre dieser Ausdruck einfacher – zur Nachbarschaft desjenigen »zurückzuverfolgen«, der für sie »verantwortlich« ist. Damit jemand der Urheber einer Tat ist, soll er (oder sie? – 3. P. Sg., oder sie? – 3. P. Pl.; bei Kant gibt es solche Finessen in Zahl und Genus nicht) zustimmen (verlautbaren, unterschreiben), dass er sich verpflichtet oder dass er diese Tat nicht abstreitet. Dies ist eine »kausale Aktion«, da sie meint, dass eine Tat von ihrem Urheber abgefallen, amputiert und entfernt und (sowohl im Raum als auch in der Zeit) vergessen worden ist. Deshalb ist die Imputation als das neue Anbinden und Annähen dessen, was amputiert und vernachlässigt wurde, im Spiel. Als ich den »Zwang« dieses Zurück-Bringens einer Tat zu ihrem Urheber, diese Verwandlung einer anonymen Tat in den Akt, der einen Unterzeichner hat, erwähnt habe, war ich noch nicht an der Schwelle des Rechts (der Polizei, der Befragungen, der Folter, der Inquisitionen, des Prozesses usw.) und innerhalb von imputatio juris, sondern ich habe nur die negative Konnotation oder den negativen Akzent, der dieses lateinische Wort und seine möglichen Verwendungen und Etymologien 18 begleitet, verfolgt. Außer auf eine Die Etymologie des Verbs putare ist völlig ungewiss. Die Bedeutung des Wortes imputatio könnte erahnt werden, insofern zunächst das Syntagma »in Betracht ziehen« (die Einbeziehung, jemanden »ein-beziehen«, ihn einbezogen machen, aber auch in Betrachtziehung, sich vor Augen halten, die Tat von jemandem evidentieren) in Betracht gezogen wird. Das Adjektiv putus bezieht sich auf die Reinigung, die Reinigung von Silber, die Bereinigung, das Einebnen. Dann das Wort putativus kann eine nicht völlig sichere Annahme oder eine »Tatsache« bezeichnen. So etwa verweisen die putativen oder verpflichtenden Verben (im englischen may, can, should) auf etwas, das nicht ganz sicher ist, und deren Verwendung führt in die Ermittlung dessen ein, was erst evident werden soll. Dennoch beziehen sich die Wörter wie imputationis, imputator, imputo usw. ausschließlich auf die Berechnung der Schulden von jemandem, die Geldbelastung, die Kreditierung, auf das In-Betracht-Ziehen der Ausgaben 18
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völlig kognitive Operation, die nicht immer des Zwangs enthoben sein muss – der Urheber hat schlichtweg den Ort gewechselt, Zeit ist vergangen und wir wissen nicht, wer »gefragt« werden kann bzw. wer »verantwortlich« ist, die Beunruhigung durch Unkenntnis treibt zur Suche und Eile an, denjenigen zu finden, dem man diese Tat oder dieses Ereignis zuschreiben kann –, bezog sich die Institution imputatio vor allem auf jene Taten, die eine Schuldverpflichtung erzeugen. Das sind jene Taten und Ereignisse, die man zusammenzählen und addieren, mit denen man rechnen, und die man jemandem als Schuld und Pflicht anrechnen kann. Jemandem etwas imputieren bedeutet, ihn dazu verleiten, dass er sich erinnert, dass die von ihm begangene Tat ihm mitgehört (ihm angehängt wird) und stets »in ihm anwesend« ist. Der Hang zur Zurechnung wird natürlich mit dem Wort »Zurechnungsfähigkeit« bezeichnet. Der Zwang, auf den ich unaufhörlich bestehe, der Zwang der Umwandlung einer Tat oder eines Ereignisses in die Tatsache [Fakt, factum, That], wie Kant sagt, verpflichten das »zurechnungsfähige Subjekt«, seine Rechnungen zu zahlen und nicht so zu tun, als wäre er nicht der Urheber einer Tat, bzw. als wäre die Tat nie geschehen. Die Umformulierung des Instituts imputatio facti und Kants Originalität basieren gewiss auf einer Reduktion, aber auch auf der Transformation dieser zwei Momente (des kognitiven »Wer hat das getan?« und des buchhalterischen »Wer soll das bezahlen?« Moments), jedoch auf zwei unterschiedliche Weisen. Die erste Frage: »Wer hat das getan?« (das ist jene unhörbare Frage, auf die ich gleich geantwortet habe »Ich war es nicht«) und das erste Moment, das in die »Verantwortung« einleitet – Kant hat das vor uns versteckt und es erscheint nirgendwo in Der Metaphysik der Sitten (und gerade dieses Moment ist die Bedingung für die übrigen drei, die ich versuche zu formulieren) –, stellt zugleich die gewöhnliche Definition von imputatio facti dar. Zwanzig Jahre zuvor erarbeiund Schulden von jemandem, oder auf das Zählen (Zu-zählen) und »Kerben schnitzen« der monetären Akte und Transaktionen von jemandem. Die Worte wie Zurechnung oder accountability [engl.] oder uračunavanje [serb.] sind ganz buchstäbliche Übersetzungen des lateinischen imputatio. Cicero benutzt die Wörter assignare und ascribere, ein-schreiben und zuschreiben (Kant benutzt auch das Wort Zuschreiben), was auf die zweifache Verschiebung des ursprünglichen imputatio verweist: das, was gezählt wird, das wird gleichzeitig auch geschrieben (durchs Schreiben im Gedächtnis behalten, angerechnet) und kann schriftlich dargestellt werden; und das, was jemandem zugezählt (und memoriert) wird, kann aufgeschrieben werden, dem Gesetz unterliegen, ein Teil des Gesetzes oder der Regel, die in schriftlicher Form sind, sein.
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tet Kant in etlichen Fragmenten über die Moralphilosophie (sie wurden später nummeriert und im 19. Band seiner Werke veröffentlicht) den Unterschied zwischen der Zuschreibung oder der Einschreibung und der Zurechnung. Imputatio practica, sagt Kant, ist »Zuschreiben nach Regeln der Freyheit«. Im Unterschied zu imputatio legis (oder imputatio iuris), die eine Handlung unter das Sittengesetz stellt, unterstellt imputatio facti (oder die Zuschreibung) die Tat unter das Gesetz allgemein und auf der Grundlage der Freiheitsregel. »Die Zurechnung betrift immer die Wirkung, welche eine legale Folge hat. Man kann dem Menschen den Tod eines andern Zuschreiben, ohne ihn ihm zuzurechnen.« Das folgende Beispiel von Kant eröffnet automatisch die andere Frage (»Wer soll das bezahlen?«), die die Rechnung und die Zurechnung und die fatale Zurückdrängung von »mathema« und »Ökonomie« der Verantwortung in den Hintergrund drängt: »Wenn es ein Ochs und kein Mensch wäre, so würde keine Zurechnung stattfinden.« 19 Die Tötung des Ochsens gehört in das Register der Zuschreibung und imputatio facti und nicht in das Register der Zurechnung, d. h. in die imputatio moralis, die Kant schon damals mit der imputatio moralis identifiziert hat. Der Grund besteht darin, dass die »Zurechnung nach Gesetzen der Sittlichkeit« geübt wird und diese Gesetze sich nur auf die Menschen und nicht auf die Tiere beziehen. Mit anderen Worten, die Zuschreibung verpflichtet nicht und der »Zuschreibungsprozess« endet mit der »Wiedererkennung« des Urhebers einer Tat. Den Ochsen zu töten – Kant spricht jedenfalls nicht über den Ochsen, der im Besitz eines anderen Menschen ist (aber, und das ist vielleicht das wichtigste, ob es einen Ochsen gibt und ob es ihn je gab, der nicht im Besitz eines Menschen war) –, bedeutet, dass man nicht verpflichtet ist, dafür irgendetwas zu bezahlen (oder sich zu verantworten). Die Tötung des Ochsen wird erwiesen und zugeschrieben, aber es wird nicht abgerechnet und es gilt nicht (»Ja (ich habe getötet), na und!«). Selbst die Möglichkeit, dass es Taten oder Ereignisse gibt, die nicht unter das Gesetz fallen (die keine Fakten sind; die geschehen sind, aber an die man sich nicht erinnert und die nicht in die Geschichte »Die Zurechnung betrift immer die Wirkung, welche eine legale Folge hat. Man kann dem Menschen den Tod eines andern Zuschreiben, ohne ihn ihm zuzurechnen. Wenn es ein Ochs und kein Mensch wäre, so würde keine Zurechnung statt finden.« (Kant 1934, § 7134, 7135, 7297, 7298)
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gehören, weil wir weder jemals auf sie zurückkommen, noch es jemanden gibt, der uns zwingt, zu ihnen zurückzukehren), deckt die Konsequenzen auf, die bis heute wichtig für die Gestalten und die Verformung der Figur der »Verantwortung« von Kant sind. Zum Ersten gibt es Schäden, die nicht im Gedächtnis behalten werden sollen, weil sie kein Teil einer oder jemandes Rechnung sind – es gibt keine »Kasse«, die sie verbucht (Verantwortung und Handlung, so verlieren sie definitiv ihre gemeinsame Grundlage, die ich mit dem Wort »Kalkulation« bezeichnen würde); zum Zweiten sind Tiere – und natürlich nicht nur sie – aus der Welt der Sittlichkeit ausgeschlossen; zum Dritten ist der Zustand des Tiers (das Hegelsche Paradies oder der Tiergarten sind der Erkenntnis des Guten und des Bösen enthoben) oder der Zustand der Bewusstlosigkeit weiterhin anwesend innerhalb des Zustands der Menschheit. So wurde die Ansicht Hegels fallengelassen, dass der »Zustand des Menschen […] der Zustand der Zurechnung, der Zurechnungsfähigkeit« oder der Fähigkeit des Menschen, schuldig zu sein (»Schuld heißt im allgemeinen Zurechnung«), ist. (Hegel 1970, 263) Die letzte Intervention von Kant (einige Jahre vor seinem Tod) fängt mit der Vernachlässigung und der Zurückdrängung dieser ersten »Inhalte« der Figur »imputatio«, auf die ich erneut bestehe, an. Ich wiederhole noch einmal Kant: »Die Zurechnung in moralischer Bedeutung […]« – so fängt seine Definition an und der Akzent liegt gerade auf dieser Bedeutung – »ist das Urtheil«, die Zurechnung und die Verantwortung betreffen das Urteil oder die Ansicht oder, mit anderen Worten, die Zurechnung ist das Urteilen (Beurteilen), das als Ergebnis den mehr oder weniger verpflichtenden Satz oder die Satzmenge hat. Die Abstufung der Verpflichtung oder der Nichtverpflichtung ist dreifach – das sind die drei Momente, die ich angekündigt habe, und bei denen ich damit rechne, dass sie den heutigen Begriff der »Verpflichtung« erschöpfen – und hängt von der Art und Weise ab, wie man zu dem Urteil kommt bzw. wie der »Träger« (das Subjekt) des Beurteilens diese Tätigkeit ausübt. Vergessen wir nicht, dass auch die Zurechnung selbst eine Tätigkeit ist, die andere Tätigkeiten »behandelt« und »bewertet« bzw. »deren Objekt die Tätigkeit ist«. Drei Momente der Verantwortung sind drei Bedingungen für die Erfüllung und die Gestaltung einer Friedensgemeinschaft durch die Verantwortung. Genauer genommen besteht die Gemeinschaft als ein Netz von Verpflichtungen und des Verpflichtens dann und nur 73 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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dann, wenn die Zurechnung in allen drei Gestalten unaufhörlich und simultan erneuert wird. Wenn nur eine von ihnen ausbleibt, dann ist das Subjekt (die Person) von Kant nicht ganz für die Zurechnung geeignet und ist nicht zurechnungsfähig. Man soll nicht allzu leicht die Absicht Kants unterschätzen und meinen, dass das Subjekt bei Kant nicht das gleiche wie die Gemeinschaft ist, dass die Bedeutung der Anwesenheit der Anderen bei Kant gemindert und unachtsam geschwächt worden ist (erinnern wir uns an das merkwürdige Wörtchen von Kant »wenigstens«, wenn er über die Person spricht, die sich selbst die Gesetze gibt, »entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen«, 20 weil Kant der Prozess der »Zurechnung als Beurteilen« (wer ist verantwortlich und wer nicht, welche Tat hat Rechtkonsequenzen und welche nicht) wichtiger ist als der Prozess der »Zurechnung als Zurechnungsfähigkeit«, als der Akzeptierung und der »Übernahme der Verantwortung« etc. Als ich das Wort »Gemeinschaft« (das Wort, das es nur in den Andeutungen und völlig implizit in diesen Fragmenten von Kant gibt) verwendet und es Kant imputiert habe, versuchte ich mit seiner Hilfe, eine Menschengruppe, die nicht »zurechnungsfähig« ist und deren Rechnungen so oder so nicht sauber sind (putus), zu bezeichnen, und ihre Existenz zu erahnen. Auf einer Seite haben wir also einen idealen Zustand der Zurechnung und der Zurechnungsfähigkeit, einen Zustand des Friedens, in dem die drei Gestalten, die ich gleich darlegen werde, erfüllt sind. Das ist ein Zustand, in dem sowohl die individuelle als auch die kollektive Verantwortung unzertrennbar und unteilbar und a priori anwesend und symmetrisch sind. Auf der anderen Seite haben wir eine Entität, Gruppe oder Gemeinschaft 21, in der die Verantwortung für etwas Getanes mehr verneint als bestätigt und unterschrieben wird, und in der maßlos und ohne Rechnung getötet, geopfert und gegessen wird. Wenn wir uns nun ein solches beinahe paradiesisches Kollektiv (die Ansammlung) vor»[…] daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist«. (Kant 1968, 223) 21 In den letzten Jahren bekam eine solche Quasiinstitution oder Pseudogemeinschaft unterschiedliche Namen. Sie ist gewiss keine ideale Gemeinschaft nach Kant, in der das »reine böse Prinzip« herrscht, sondern eigentlich die Gemeinschaft, die sich niemals als Gemeinschaft konstituieren kann (zum Beispiel die »Gemeinschaft« der Piraten oder der Delinquenten). Diesen letzten Terminus benutze ich, indem ich mich auf die deutsche Übersetzung des Textes von Toni Erskine berufe: Vgl. Erskine 2010. 20
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Die kollektive Verantwortung als Bedingung für den Frieden
stellen, in dem es keine Schuld oder Unschuld gibt (gleichzeitig sowohl das Paradies als auch der Tiergarten, wie Hegel sagt), in dem jeder jemandem und keiner keinem Einzelnen etwas schuldet, und wenn wir uns vorstellen, dass eine solche mit hohen Wänden umgebene Entität oder der durch die Charta der Vereinten Nationen geschützte Raum, keine andere Gruppe oder kein anderes Kollektiv kolonisiert hat, wird der Unterschied zwischen der individuellen und der kollektiven Verantwortung abgezeichnet und ihre Asymmetrie leicht erkennbar. Diese Entgegensetzung zweier Fiktionen und der Konflikt zwischen zwei oder mehreren Gruppen (können wir sagen, dass der Ursprung des Zusammenschlusses, der Gruppierung und des Aufteilens in die Gruppen die erste Folge der Störung in der Imputation ist?) stellt ein unlösbares Paradoxon oder eine schwere Komplikation dar, die Kant (und nicht nur er) auf völlig unterschiedliche Weisen gelöst hat. 22 Worin besteht dann die Ähnlichkeit zwischen der kollektiven Verantwortung einer primitiven Gemeinschaft, worüber ein anderer berühmter Nachfolger von Kant (Ernst Cassirer 23) spricht, und der kollektiven Verantwortung der Bevölkerungsmehrheit eines Staates, gegen die eine humanitäre Intervention durchgeführt wird? War die kollektive Verantwortung nicht immer die Bedingung der Institution des Angriffskriegs (Annette Baier)? Und war der Kriegsabbruch nicht immer eine neue Gelegenheit dafür, Rechnungen zu begleichen und eine neue »verantwortliche« Ordnung oder eine Friedensordnung zu errichten? Wie ich bereits gesagt habe, bezeichnet Kant zwei oder drei Verantwortungsgestalten mit dem Wort »Imputation«. Die erste bezieht Zum Beispiel insistiert Kant als Erster auf dem Verbot des Angriffskriegs und gleichzeitig meint er, dass die Erreichung des Wohlstands und des Glücks bzw. dass die »höchste Stufe der Cultur […] der Kriegszustand der Völker im Gleichgewicht [ist]«. (Kant 1917, 411) Das ist der Anfang von Kants eigenem Kommentar zum Paragraphen 87 seines Buches über die Anthropologie. 23 »Tatsächlich ist in allen primitiven Gesellschaften, die von Riten gelenkt und beherrscht werden, individuelle Verantwortung eine unbekannte Sache. Was wir hier finden ist eine kollektive Verantwortung. Nicht das Individuum, sondern die Gruppe ist das wirkliche »moralische Subjekt«.« (Cassirer 2002, 371) Außer bei Cassirer und Lewis wäre es sehr wichtig, noch zwei wesentliche Verwendungen des Adjektivs »primitiv« zu betrachten: Searle spricht über einen primitiven Begriff der »kollektiven Intentionalität«, während Antonio Cassese schreibt: »die internationale Gemeinschaft ist derart primitiv, dass das archaische Konzept der kollektiven Verantwortung immer noch vorherrscht«. (Cassese 2005, 241) 22
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sich auf imputatio iuris, auf die Rechts- und Strafverantwortung. Das Institut imputatio iuris meint, dass es eine Person, einen Richter (oder den Richterchor, mehrere Richter) gibt, der das Recht hat, »rechtmäßig zuzurechnen«. Also die Person, die den Willen aller (anderen) Personen repräsentiert, urteilt über die Rechtsfolgen eines Akts einer Person (eines Subjekts) und stimmt sie mit den bestehenden Gesetzen ab. Die zweite Gestalt ist die bekannte Kant’sche Präformulierung des Instituts imputatio facti aus Die Metaphysik der Sitten: das Gericht, durch das eine Tat (die mit dem Wort »Akt« oder factum benannt wird) bereits einem Agierenden zugeschrieben ist, wird nun eingeschätzt und rekonstruiert. Kant nennt diesen Prozess der Prüfung und der Einschätzung des Übergangs einer Tat oder eines Ereignisses in factum (also, in die »Unterordnung« unter das Gesetz) eine beurteilende Zurechnung. Schätzende oder einschätzende Zurechnung (in einigen seinen Fragmenten verwendet Kant diese Ausdrücke synonym) ist der vom Richter durchgeführten »Exekution« entgegengesetzt [diiudicatio versus executio]. Sie besteht in der Konkretisierung oder der Qualifizierung eines Urteils, bzw. in der öffentlichen Kritik des Aktes von jemand. 24 Diesen Prozess der »Institutionalisierung der Verantwortung« können wir als die Einschätzung der Triftigkeit (ob ein »Gegenstand« dem Richter vorgelegt wird oder nicht) und die Erörterung des Verhältnisses des Urhebers einer Tat zu den Anderen während des Vollzugs derselben Tat (auch die Rekonstruktion des Gesetzes, das Erlassen der neuen Gesetze, die Theorie des Wörtchens »wenigstens« usw. werden in diesem Raum ausgeübt) benennen. Der dritte Moment der Verantwortung und die letzte große Bedingung einer eventuellen »Institution der Verantwortung« oder des »Idealen« jeder Möglichkeit der Verantwortung bezeichnet Kant in der Metaphysik der Sitten auf drei verschiedene Weisen: Der Mensch ist »der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich«; »das Gewissen als das subjektive Prinzip« denkt sich selbst als die Verant-
»Subjectiv ist der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlungen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen, die dabei haben überwunden werden müssen. – Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner das moralische Hinderniß (der Pflicht), desto mehr wird die gute That zum Verdienst angerechnet; z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Noth rette«. (Kant 1968, 228)
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wortung und die Gewissenhaftigkeit oder religio stellt sich als die Verantwortlichkeit dar. 25 Zwischen, auf der einen Seite, der Sache, die – erinnern wir uns – nicht frei und nicht zurechnungsfähig ist, sowie der »psychologischen Persönlichkeit«, die gerade das Vermögen ist, sich seiner selbst bewusst zu sein« (ist es zu rechtfertigen, hier etwas eilig und heimlich im Gegensatz zu Kant die Tiere einzuordnen?), und auf der anderen Seite der Zuschreibung, imputatio facti und imputatio iuris, findet Kant eine ungewisse und unklare Gestalt heraus, die er auch in anderen seiner Texte ziemlich konsequent und konsistent mit den Ableitungen des Wortes Verantworten bezeichnet. Im Unterschied zum Ein-schreiben und Ein-rechnen des Richters und der Gruppe (der Anderen) ist dieser Gestus subjektiv und eigeninitiativ. Die Person hat nicht nur eine innere Verantwortung und der Mensch ist nicht nur sich selbst verantwortlich, worüber Kant in seinen Heften und Ergänzungen schreibt, sondern die Person zeigt auch die Offenheit und die Freiheit, sich selbst nicht nur etwas einzurechnen und einzuschreiben, was keine Rechtskonsequenzen hat oder was sie nicht getan hat, sondern die Person erfindet und Alle drei Züge von Kant werden durch sog. »analogische Fiktionen« (Vaihinger 1922, 39; 42 ff.), die die Institution der Zurechnung schützen, vervollständigt: (1) Für die »Verantworung gegenüer der Menschheit« fügt Kant hinzu, dass »ein Mensch sein eigener Herr (sui juris) [ist], aber Eigenthümer von sich selbst (sui dominus) (über sich nach Belieben disponieren zu können), geschweige denn von anderen Menschen sein kann, weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist; wiewohl dieser Punkt, der zum Recht der Menschheit, nicht dem der Menschen gehört, hier nicht seinen eigentlichen Platz hat, sondern nur beiläufig zum besseren Verständniß des kurz vorher Gesagten angeführt wird« (Kant 1968, 279); (2) dass ein »solches über Alles machthabende moralische Wesen aber Gott heißt; so wird das Gewissen als subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen« (ebd., 439); (3) »Dies will nun nicht so viel sagen als: der Mensch, durch die Idee zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, sei berechtigt, noch weniger aber: er sei durch dasselbe ein solches höchste Wesen außer sich als wirklich anzunehmen; […] und der Mensch erhält vermittelst dieser nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen eine bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit (welche auch religio genannt wird) als Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralisch-gesetzgebenden Vernunft) sich vorzustellen und dessen Willen den Regeln der Gerechtigkeit zu unterwerfen« (ebd., 440). Alle drei Bestimmungen von Kant werden viele Jahre später in der ersten systematischen Erforschung des Verantwortungsbegriffs bei Wilhelm Weischedel wiederholt. Vgl. »Soziale Verantwortung (soziale Grundverantwortung), religiöse Verantwortung, Selbstverantwortung«. (Weischedel 1958, 26 f.)
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denkt sich die Instanzen aus, die für alle gemeinsam sind und vor denen alle »gemeinsam vereinzelt verantwortlich« sind. Gegenüber oder vor der Menschheit, vor allen verantwortlich zu sein, meint nicht nur eine ad hoc präventive Verantwortung, die zusätzlich mein Handeln reguliert, noch ist das nur eine a priori Offenheit vor der Menschheit, dass sie (die Menschheit, alle, die Welt) mir die Taten, für die die Anderen oder alle verantwortlich sind, einschreiben und zurechnen kann, sondern die Menschheit (oder Gott oder die Gruppe) ist die Instanz, die die Institution der Verantwortung (der Zurechnung) schützt und so tut als ob sie jeden von uns individuell in ein imaginäres grenzenloses Kollektiv dazuzählt und zurechnet. Übersetzt von Željko Radinković aus dem Serbischen
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Gertrud Brücher
Menschen-Recht auf Verantwortung
Die Verantwortungssemantik bietet ein merkwürdig zwielichtiges Bild. Es ist so einfach, sich jeglicher Verantwortung zu entledigen, sie auf höhere oder untere Instanzen abzuwälzen. Das Delegieren oder Abgeben von Verantwortung ist die Folge arbeitsteiligen Handelns. Es schlägt sich semantisch darin nieder, dass der Appell, Verantwortung zu übernehmen, überwiegend als Interventionsforderung an die Funktionssysteme adressiert wird. Und Menschen in ihrer Rolle als Funktionsträger sehen sich gezwungen, das reibungslose Funktionieren der Subsysteme den Belangen konkreter Individuen vorzuordnen. Dieser Hobbessche Umkehrschluss drängt sich auf, da das Wohl jener Einzelnen das Wohl der Funktionssysteme voraussetzt. Im scharfen Gegensatz dazu und gleichsam kompensatorisch hat Verantwortung als moralischer Term Hochkonjunktur. Sie ist nicht nur im massenmedialen Bewusstsein allgegenwärtig, unvermeidlich, ins Extrem getrieben. Auch in der praktischen Philosophie gibt es mit Blick auf die Probleme der Globalisierung nicht erlahmende Versuche, die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik in eine zeitgemäß-plausible Form zu bringen. 1 Dabei bleibt der Vorzugswert ganz im Geiste Max Webers die mit Verantwortung gleichgesetzte Folgenkalkulation. Verwaltung und Philosophie, Stochastik und Konsequenzialismus arbeiten Hand in Hand. Da Wert und Antiwert, das Übernehmen und das Abwälzen von Verantwortung so nahe aneinandergerückt sind, verlieren Angriffe auf die Willensfreiheit, wie sie von neurobiologischer Seite mitunter lanciert werden, ihre Sprengkraft. Denn sie scheinen einem MenDazu gehört die Unterscheidung zwischen einem reflektierten und einem naiven Normativismus bei Wolfgang Kersting (Kersting 1998, 548), der den Sinn der Differenz noch stärker als Max Weber mit Verantwortlichkeit und Unverantwortlichkeit identifiziert.
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Gertrud Brücher
schenbild den Kampf anzusagen, das durch die Praxis ohnehin ausgehöhlt wird. 2 So gibt es Vorschläge für eine Strafrechtsreform, die sich auf ein determiniertes Individuum als potentiellen Täter einstellt. Sollte die Rechtssprechung tatsächlich von Straf- auf Präventivmaßnahmen umgestellt werden, wie es der physiologische Psychologe Hans Markowitsch empfiehlt (Markowitsch, Siefer 2007), so ist an das normative Kontinuum von Freiheit, Verantwortung, Menschenrechten und Frieden gerührt. Ohne Willensfreiheit gibt es keine Verantwortung; ohne Freiheit und Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Menschen gibt es keine Menschenrechte. Die neurophysiologischen Attacken auf die Willensfreiheit sind eben deshalb alarmierend, weil sie einen Trend unterstützen, der im menschenrechtlichen Freiheitsverständnis Abwehrrechte durch beanspruchte Verfügungs- und Ermächtigungsrechte verdrängt. Es geht um die Ablösung eines Abwehrkonzepts durch ein Versorgungskonzept. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich ein Instrumentalisierungsverbot nicht anerkennen, gilt es doch zunächst, jene Verhältnisse global durchzusetzen, in denen Menschen nicht mehr instrumentalisiert werden. Infolgedessen pochen jene Akteure auf schier unbegrenzte Verfügungsrechte, die ihr Handeln als Schutz und als Durchsetzung der Menschenrechte deklarieren. Darunter fallen umstrittene biopolitische Forschungen ebenso wie Maßnahmen, die der sicherheitspolitischen Gefahrenabwehr dienen. Das reklamierte Recht auf eine nicht näher bestimmbare Gesundheit und Sicherheit ist identisch mit der Garantie, dass diese Rechte nicht verletzt werden. Der Menschenrechtskatalog lässt sich in einer Gesamtformel zusammenfassen, dem »Recht auf Verantwortung«. Der Denkfehler dieser Ineinssetzung liegt darin, dass es gerade jener namhafte Andere ist, der mir diese Rechte streitig macht. Das gilt selbst für den Anspruch auf eine psychosomatisch-sozial bedingte Gesundheit, scheint der Glückliche doch gesünder als der Unglückliche. Das ins Menschenrechtsregister aufgenommene Recht auf eine heile Familie spiegelt den Exzess als Vorstufe totaler Verantwortungslosigkeit. Denn sofern die Menschen einander die Verantwortung für ihr Wohlbefinden zuschieben, stärken sie bloß die VerZum Angriff auf die Verantwortungskultur, die Willensfreiheit und Schuld ernst nimmt und nicht als soziale Konstruktion relativiert, siehe typisch Maria-Sibylla Lotter 2012.
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fügungsmacht jener Menschen, die zu garantieren vorgeben, was niemand garantieren kann. 3 Die Folge moralischer Exzesse sind Differenzierungen, die das Prinzip der Reziprozität untergraben. Gefahren und Ärgernisse können ja nicht vom Anderen ausgehen, wenn dem Anderen die Pflicht zu deren Beseitigung auferlegt werden soll. Die Unterscheidung von Selbst und Anderem, als deren versöhnende Einheit Reziprozität gedacht ist, verliert jede Aussagekraft. Sie muss ersetzt werden durch eine andere Unterscheidung, die entparadoxierend wirkt. Das Absurde einer Konstruktion, die den Anderen zugleich als gefährlich und als rettend ins Spiel bringt, weicht der sinnstiftenden Unterscheidung von Mensch und Funktionsträger. Die Gefahr geht vom Menschen aus, die Rettung vom Funktionsträger. Wer sich in die Obhut der Funktionsträger begibt, partizipiert am Wohl, wer freiwillig oder unfreiwillig nicht zum Funktionsempfänger wird, profiliert sich als bloßer Mensch und wird somit als potenzielle Gefahr wahrgenommen. 4 Wir befinden uns heute auf der Ebene der Gesamtgesellschaft und das heißt auf der Ebene jedes einzelnen Funktionssystems in einer Situation, die begrenzt auf das politische System als Hobbessche Konstellation beschrieben wird: Der Rechtsgedanke treibt zur Instrumentalisierung des Menschen und er treibt zum Krieg. Erst der Gesetzesgedanke führt auf das Gleis Frieden schaffender Maßnahmen. Während Hobbes jedoch an der Schwelle zur Moderne noch mit neuen kontraktualistischen Denkexperimenten Recht und Gesetz gegeneinander ausspielen konnte, sehen wir uns heute in der misslichen Lage, dass alle Varianten der Entparadoxierung bereits durchgespielt worden sind. Sie scheinen so weit unplausibel geworden, dass der Friede als Vorzugswert abhanden zu kommen droht. Das natürliche Recht auf alles, wie es heute im anschwellenden Menschenrechtskatalog zum Ausdruck kommt, konnte bei Hobbes in seinen kriegstreibenden Wirkungen durch einen hierarchisch geordneten Naturbegriff aufgefangen werden. Die Todesangst und somit der Überlebenswille überragt alle anderen Bedürfnisse, sodass es die Na-
Es ist ein Unterschied, ob Aristoteles die Glückseligkeit als das höchste Gut preist, das nur in der Polis erreichbar ist, oder ob Thomas Jefferson 1776 »The Pursuit of Happiness« in die Verfassung aufnimmt. Der Aufruf des Revolutionärs Antoine de Saint-Just zur Brutalität im Namen des Glücks und die Zwangsbeglückungsregime des 20. Jh.s folgen dieser Logik. 4 Ausführlich dazu Gertrud Brücher 2004. 3
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Gertrud Brücher
tur selbst ist, die Menschen dazu treibt, durch einen Unterwerfungsvertrag Frieden zu schaffen. Die Durchsetzung eines naturwissenschaftlichen Naturbegriffs suspendiert jedoch die Bedürfnishierarchie und damit den Frieden als Vorzugswert. Vom empirischen Standpunkt aus betrachtet können alle Bedürfnisse an die erste Stelle rücken. Das Streben nach Anerkennung und Popularität, nach Reichtum und maximalem Glück sind mitunter stärker als der Überlebenswille. Wenn die Natur als Vehikel plausibler Entparadoxierung entfällt, so ist damit nicht das Problem aus der Welt geschafft. Ideengeschichtlich treten neue Formen auf: die Zivilreligion bei Rousseau, 5 das moralische Gesetz bei Kant. Deren Stelle nehmen heute Werte ein, die nur als situationsbezogene Präferenzen zur Güterabwägung taugen. In komplexen Systemen treten Werte in Gestalt von Programmen in Erscheinung, genauer, von programmatischen Entscheidungsprämissen (vgl. Luhmann 1973, 257 ff.). Als solche verweisen sie auf das jeweilige Funktionssystem, das mit der Betreuung von Werten wie Sicherheit, Wohlstand, Freiheit, Gesundheit und Gerechtigkeit beauftragt ist. Damit verschmilzt das Selbst des Individuums, das sich verwirklichen will, mit dem sich selbst reproduzierenden und organisierenden Selbst des Funktionssystems, dessen Leistungen Wertverwirklichung erst möglich machen. Selbstbestimmung ist Fremdbestimmung, nämlich Inklusion in die Funktionssysteme. 6 Mit Recht könnte man folglich die Frage stellen, gegen was und gegen wen ein Freiheitswille opponieren sollte, wenn die Gesellschaft so verfasst ist, dass der Widerspruch zwischen bestimmten Bedürfnissen in bio- und sicherheitspolitischen Komplexprogrammen aufgehoben ist. Diese erlauben, Widersprüchliches nacheinander zu tun. Nur das gleichzeitige Gewähren von Rechten des guten Lebens und des Überlebens zeigt sich mitunter als Ausschließungsverhältnis. Dilemmata treten hingegen nicht auf, wenn Leben schützen und Leben nehmen ihren Sinn aus der »Just-Peace-Programmatik« oder aus medizinisch-technischen Programmen der Leidverminderung bzw. von Das staatliche Gewaltmonopol wird durch Tugendterror erst möglich. Siehe dazu Alfred Hirsch 2012, 112 ff. 6 Nach Volker Gerhardt (Gerhardt 2008, 10) sind Parallelen zwischen biotischer, psychischer und sozialer Selbstorganisation der Grund, weshalb die Selbsterschließung durch die Wissenschaften und die Selbstverwirklichung des Menschen ein und dasselbe sind. Der Menschenwürdeartikel ist deshalb nicht in der Lage, der Forschungsfreiheit Schranken aufzuerlegen. 5
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Programmen des »human enhancement« beziehen. Indem die Idee des Programms alle Funktionen der Entparadoxierung übernimmt, lassen sich beliebige Praktiken legitimieren. Um wieder den konkreten Menschen ins Spiel zu bringen, müsste folglich die kompakte argumentative Figur des »VerantwortungÜbernehmens« in ihre Sinnsegmente zerlegt werden. Dabei stößt man auf die beiden moralphilosophischen Schulen, die zugunsten des Utilitarismus und zu Lasten der Sollensethik vereinigt worden sind. Die Nützlichkeitsethik konnte ihre Schwachstelle, nämlich das angemaßte Wissen über künftigen Schaden, zumindest vordergründig korrigieren, indem sie die hypostasierten guten Wirkungen vom Einzelhandeln auf ein Handlungs- qua Regelsystem übertragen hat. Mit dem Umstieg vom Handlungs- zum Regelutilitarismus wird auch der Gegenstand ausgewechselt, für den Verantwortung übernommen wird. Es sind nicht länger umweglos die Folgen des Handelns, die sich in ihrer unüberschaubaren Komplexität nicht sicher berechnen lassen. Was jetzt verantwortet werden muss, sind allein die intendierten Folgen. Denn es ist die Begründung, mit der man zu erkennen gibt, dass sich das Handeln an den Richtlinien desjenigen Regelsystems orientiert, dessen gute Wirkungen als verbürgt gelten. Dieser beigelegte Streit zwischen den beiden säkularen moralphilosophischen Schulen verschafft der westlich-abendländischen Art der Normbegründung eine Legitimität, die innerhalb der Philosophie internationaler Beziehungen die Ansicht vertreten lässt, die Phase der Normbegründung sei nunmehr abgeschlossen und es gehe lediglich noch um die globale Implementierung des Projekts. 7
Verantwortung in Dilemmasituationen Nun tangiert der Utilitarismus in seiner mit Kant versöhnten Gestalt gar nicht das Problem, zu dessen Lösung der kategorische Imperativ formuliert worden war. Es geht Kant nicht um die Frage, wie Normen begründet und wie folglich Handlungsweisen unter Bezug auf diese wohl begründeten Normen gerechtfertigt werden können. Kant zieht nicht die normative Kraft der Zehn Gebote in Zweifel, sondern die Eine internationale Ethik ist nach Kersting (Kersting 1998, 525) vor allem mit »Anwendungs- und Übertragungsfragen« einer moralisch-rechtlichen Vernunft beschäftigt.
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von der christlichen Religionsmoral wenn nötig gegen die staatliche Autorität mobilisierte Instanz des individuellen Gewissens. Das Gewissen ist ein Instrument der abwägenden Normenprüfung in Dilemmasituationen, in denen es nicht möglich ist, nach den Grundsätzen des Dekalogs zu handeln. Solche Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Beachtung eines bestimmten Gebots die Verletzung eines anderen zwangsläufig macht. Kant sucht zum einen deshalb nach einem funktionalen Äquivalent des Gewissens, weil der Religionsmoral seit den Konfessionskriegen die Friedensfähigkeit abgesprochen wird. Hinzu kommt, dass staatliches Recht im Gewissen einen gefährlichen Konkurrenten vorfindet und für Kant der bedingungslose Rechtsgehorsam conditio sine qua non jeder Friedensordnung ist. Gewissen und kategorischer Imperativ liegen auf ein und derselben Ebene. Ihre Funktion ist es, in Dilemmasituationen oder tragischen Konflikten entscheiden zu können – in der populären Rhetorik »Verantwortung zu übernehmen«. Es handelt sich mithin um einen zeittheoretischen Problembezug. Während sich Normen und ihre Begründung darin auszeichnen, dass sie wiederholt in Anspruch genommen werden können, sind Entscheidungen in Dilemmasituationen Ereignisse. Für den ethiktheoretischen Diskurs ist diese Unterscheidung von wiederholbaren Selektionen – Strukturen – und einmaligen Selektionen – Ereignissen – ausschlaggebend. Denn nur diese Unterscheidung und nicht Prozess und Struktur hat ein Fassungsvermögen für Probleme, die der Komplementarität von Norm und Ausnahme erwachsen. Die totale Normierung aller Lebensbereiche reduziert nicht die Zahl von Dilemmata, weil Normen nur vor dem Hintergrund von Ausnahmen regulierend wirken. Der diskurs- und begründungstheoretische Kontext hält nur den Unterschied zwischen einschlägigen Verfahrensweisen – den Prozeduren der Normbegründung – und dem Normenbestand für relevant, der als grundrechtlich verstandener Menschenrechtskatalog gegen Widerstand durchgesetzt werden muss. Das Stichwort lautet: Die Rechte müssen sanktionsbewehrt sein. Dilemmatische Situationen sind Anzeige für ein nicht lückenlos implementiertes positives Recht und bedürften deshalb keiner gesonderten Behandlung. Es ist der Idealtypus der guten Gesellschaft gleicher, freier und selbstverwirklichter Individuen, die in allen Handlungsweisen antizipiert wird und zwar auf dem Wege der »engagierten Herbeiführung«. (Kersting 1998, 535) 86 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Begründungstheoretischer vs. zeittheoretischer Verantwortungsbegriff Innerhalb des begründungstheoretischen Argumentationszusammenhangs lässt sich offensichtlich keine kritische Distanz zur Paradoxie einer unverantwortlichen universellen Verantwortlichkeit gewinnen. Anders verhält es sich, wenn man die Verantwortungsproblematik in einen zeittheoretischen Zusammenhang stellt. Jetzt wird die tiefere Bedeutung common sense orientierter Begründung verständlich und erst auf der Grundlage dieses Verstehens lässt sich Abstand gewinnen. Zunächst ist festzuhalten, dass es Situationen gibt, bei denen Idealtypen, normatives Gerüst oder Werteordnungen nicht mehr orientieren. Im Falle von Wertkollisionen helfen Reflexionen über Verfahren der Normbegründung nicht weiter. Aber das Insistieren auf dieser Art moralphilosophischen Diskurses wird jetzt zum Anzeichen für etwas ganz anderes; es wird in seinem sinnfunktionalen Bezug deutlich. Die regelutilitaristische Lösung, die Verantwortung für ein regelkonformes Begründen von Entscheidungen anmahnt, verrät ihre Herkunft aus dem modernen Verhältnis zu Zeit und Veränderlichkeit. Vernunft, Wert und Gerechtigkeit dienen als vermittelndes Prinzip nur im Falle einer Unterscheidung, die die Grenzen des Unterscheidenkönnens mit reflektiert und folglich Vergangenheit und Zukunft als Markierung von Zeit in den Horizont eines Unmarkierten rückt. Diese Funktion der Metacodierung erfüllt die Unterscheidung von tempus und aeternitas. Für eine Moderne, die selbst auf die kantische Metacodierung von Empirisch und Transzendental verzichtet und damit auf ein Instrument der Relativierung von zeitgemäßen Temporalisierungen, bleibt als Prinzip der Vermittlung nur die Entscheidung zur Perspektive. Als Abgrenzung von einer schlechten Vergangenheit und als Projektion einer besseren Zukunft sind temporale Perspektiven Entscheidungen. Was jetzt eine Überleitungsfunktion erhält, ist das gegenstandslose »Verantwortung-Übernehmen«. 8 Allein mit diesem rationalistischen Verständnis der Zeit ist eingehandelt, was der Utilitarismus zum Moralkriterium erhebt, nämlich die am Nutzen gemessenen Folgen des Handelns. Man könnte somit alle moralischen Gegenentwürfe zum Utilitarismus als RückSiehe dazu die Ausführungen Luhmanns zu »Temporalisierungen« in: Luhmann 1997, 997 ff.
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zugsgefechte interpretieren und der Nützlichkeitsphilosophie weniger einen präskriptiven und mehr einen deskriptiven Charakter zuschreiben. Ihre Aussage würde dann lauten: Welche Absichten auch immer verfolgt und welche Pläne auch immer in die Tat umgesetzt werden sollen, bewertet wird alles Handeln nach den Konsequenzen, die es zeitigt und zwar allein deshalb, weil es Entscheidungen, nicht aber Prinzipien sind, die im rationalistischen Handlungsverständnis die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden. Diese Logik gewinnt im Zuge einer fortschreitenden wissenschaftlichen Durchdringung aller Lebensbereiche insofern immer schärfere Konturen, als die Ereignisse geringer werden, die nicht als das Ergebnis von Entscheidungen interpretiert werden. Nicht weil der Vulkanausbruch in Island hätte vermieden werden können, werden Verantwortliche gesucht, sondern weil die moderne Schematisierung der Zeit das gegenwärtige Ereignis auf Entscheidung zurechnet, ist der öffentliche Diskurs ein Diskurs des »Verantwortlich-Machens«, des »Verantwortung-Übernehmens« und des »Verantwortung-Verweigerns«. In denselben Interpretationskontext gehört die Aussage des Gynäkologen und Spezialisten für künstliche Befruchtung Robert Edwards, dass Eltern für die Gesundheit ihrer Kinder verantwortlich sind. Damit wird eine Schwangerschaft ohne Embryo-Screening zum Inbegriff der Verantwortungslosigkeit, die den Betroffenen später Klagebefugnisse erteilt. Zwar bergen alle Pränataltechniken Risiken. Tritt der gemäß der Wahrscheinlichkeitsrechnung kaum zu erwartende Schaden jedoch ein, so haftet nicht das Funktionssystem, weil das Risiko notwendig dasjenige Individuum trägt, das den Service der Spezialisten in Anspruch nimmt, es sei denn, es kann Fahrlässigkeit nachgewiesen werden. Der verantwortlich Handelnde seinerseits bewertet antizipierte und eingetretene Folgen nach Kriterien, die der jeweiligen Situation angepasst sind. Umgekehrt stellt der potentielle Funktionsempfänger sich von vornherein als verantwortungslos dar, wenn er den Service nicht in Anspruch nimmt. Auch hier, wo es um die Verteilung von Verantwortlichkeiten geht, greifen wieder zeitstrukturelle Festlegungen, die auf die Selbstreproduktionsinteressen der Subsysteme abgestimmt sind. Grundlage einer Entscheidung kann nur die gegenwärtige Zukunft sein. Die morgigen Ereignisse sind ein technisches Konstrukt von Wahrscheinlichkeitskalkülen. Im Gegensatz dazu findet die Bewertung des eingetretenen Schadens in der zukünftigen Gegenwart statt, über die 88 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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niemand Auskunft geben kann. 9 Da die Berechnungen der gegenwärtigen Zukunft mit den Berechnungen der zukünftigen Gegenwart nichts gemein haben, gibt es kein »trial and error-Verfahren«, kein »Lernen aus der Geschichte«. 10 Sofern nun Prognosen auf der Grundlage gegenwärtiger Datenkenntnisse alle Entscheidungen legitimieren, so ist dies deshalb skandalös, weil die prognostizierten Ereignisse vom Wertstandpunkt aus gesehen mit den Ereignissen gar nichts zu tun haben, denen sich eine zukünftige Gegenwart konfrontiert sieht. Wenn es also auf der einen Seite kaum noch etwas gibt, das nicht verantwortet werden muss und das heißt, was nicht als Handeln zugerechnet wird, so hat die Gesellschaft zugleich Wege bereitgestellt, um sich jeder Verantwortung zu entledigen. Dieses paradoxe Koinzidieren von Verantwortungsrhetorik und Sozial- qua Zeitmanagement, das weniger denn je erlaubt, verantwortlich in der überkommenen Bedeutung des Begriffs zu handeln, sieht sich durch ein regelutilitaristisches Ethikverständnis legitimiert. Während der Sicherheit des »guten Lebens« eine systemprogrammatische Funktion zukommt, bleibt die Sicherheit des »reinen Überlebens« immer privates Schicksal, es lässt sich schlechterdings nicht vergemeinschaften. 11 Welche Zweckformel eine Entscheidung auch immer legitimiert, die menschlichen Kosten dieser Entscheidung können im Kalkül nicht mitberücksichtigt werden, weil sich die Formel nur auf eine gegenwärtige Zukunft bezieht, während die »Kollateralschäden« eines langjährigen Abnutzungskrieges erst für eine zukünftige Gegenwart von Belang sind. Letztere aber, die »zukünftige Gegenwart«, ist unerreichbar, denn im Hier und Jetzt konkreter Entscheidungssituationen gibt es keine Realität jenseits der »wissenschaftlich kalkulierbaren« »gegenwärtigen Zukunft«. In dieser vom politischen auf alle gesellschaftlichen Subsysteme ausgeweiteten Mechanik des hobbesschen Umkehrschlusses liegt kein Zynismus, zumindest dann nicht, wenn man mit diesem Begriff eine bestimmte Geisteshaltung verbindet. Aber es liegt in ihr eine Tragik, die so lange
Zur konstruktivistischen Zeittheorie siehe Luhmann 1993. Sich häufende Militärinterventionen durch eine »Koalition der Willigen« machen dies deutlich. Zur Gefahr der Aushöhlung des Gewaltverbots der UN-Charta siehe Becker u. Sommer 2012. 11 Reinhard Merkel (Merkel 2004, 125) weist in der Tradition Kants darauf hin, dass Menschen nicht verpflichtet werden können, sich für die Interessen anderer zu opfern. 9
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paralysiert, als sie im blinden Fleck einer vermeintlich rationalen Zukunftsgestaltung verborgen bleibt.
Schlussfolgerung Was folgt aus einer nüchternen Bestandsaufnahme dieser Art? Begriffe können einen Grad an symbolischer Generalisierung erreichen, der sie jeglichen Sach- und Problembezug verlieren lässt. Sie nehmen in diesem Stadium die Gestalt von Institutionen, mit anderen Worten, von Konsensunterstellungen an. 12 Als Realitätsstütze der Werte taugen sie folglich nur bedingt, was den Begriff der »basic structures« im Sinne von wertgesteigerten Werten der Demokratie, des Rechts- und Wohlfahrtsstaats im Anschluss an John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie in seiner Bedeutung schmälert. Unterstellt werden im Falle der institutionalisierten Verantwortung übereinstimmende Präferenzen und gemeinsame Überzeugungen hinsichtlich dessen, was aus der Wertorientierung als richtiges und angemessenes Handeln folgt. Der fehlende Konsens wird durch Expertengutachten zu kompensieren gesucht in der Hoffnung, die moralische Uneindeutigkeit könne wissenschaftlicher Eindeutigkeit weichen. Auch auf dieser Ebene delegierter Verantwortlichkeit ist angesichts von kontroversen bis widersprüchlichen Expertisen wieder kein Konsens, sondern nur die Konsensunterstellung institutionalisierter Verantwortungssemantik anzutreffen, die mit dem Hinweis auf »wissenschaftlich Erwiesenes« zur Entscheidung drängt. Dieser Befund zwingt zur ethischen Reflexion einer Semantik, in der de facto nur noch für die politisch korrekte Wahl von Zweckformeln Verantwortung übernommen werden muss. Denn ein solches Verständnis impliziert nicht absehbare Schäden für den konkreten Menschen, der aus der Schutzfunktion herauszufallen droht. Um dem entgegenzuwirken, bedarf es einer Ethik, die analog dem kantischen Begriff von Moralität Distanz zu intuitiven Wertungen gewinnen lässt. Der hohe Stellenwert, der dem spontanen Urteilen in hochkomplexen und unübersichtlichen Entscheidungssituationen zukommt, rührt aus der Kluft zwischen dem Anspruch auf eine realiZur sinnfunktionalen, auf das Problem der Erwartungsunsicherheit zugespitzten Terminologie siehe Luhmann 2008, 45.
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tätsgerechte Einschätzung der Lage aufgrund von kontroversen und also kontingenten wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeitsberechnungen und der zeittheoretisch bedingten Irrelevanz solcher Kalkulationen, wenn die »unwahrscheinliche« Katastrophe eingetroffen ist. Niemand kann haften und folglich müssen intuitiv Adressaten moralischer Anklage konstruiert und zur Verfügung gestellt werden. Was nach regelutilitaristischen Grundsätzen jedoch einzig unter moralische Anklage gestellt werden kann, ist die politisch inkorrekte Legitimation. 13 Der konkrete verletzliche Mensch verschwindet hinter dem idealtypischen Handlungssystem, das für Energiesicherheit, globale Demokratie, Freiheit, Menschenrechtssicherung und Wohlstandssicherung sorgt. Als Opportunitätsregeln sind Werte in der Lage, beliebige Entscheidungen zu rechtfertigen und damit dem Handlungssystem in seiner Anpassungsfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit behilflich zu sein. 14 Es ist dieser illusionslose soziologische Blick auf das Wesen der Wertdebatten, der die Frage der Moralität in ihrer Differenz zur Legalität wieder ins Spiel bringt. Es handelt sich dabei um die Frage, wie dem aus Systemlogiken externalisierten Menschen ein Platz in gesellschaftlichen Semantiken verschafft werden könnte. 15 Der Sprung vom soziologischen ins moralphilosophische Themenfeld vollzieht sich zunächst als Einsicht, dass Distanz zu moralischen Intuitionen, zu geltenden Werten geboten ist. Die Frage der Distanz aber ist eine Frage der Ethik und nicht der Soziologie, weil es hier um eine Ebene der Bewertung von Werten und mithin von Kriterien geht, die auf Abstand bringen. Vom pro forma wissenschaftlich angeleiteten, de facto aber spontanen Werten befreit nur ein fundamentales Infragestellen der zeitgenössischen Art moralischer Kommunikation, die sich an der unangefochtenen moralischen Metanorm der Unterscheidung von Regel und Ausnahme orientiert. Kant hatte gegen den politischen Absolutismus, gegen den hobbesschen UmkehrHier liegt der Grund für die zunehmende Bedeutung der »Bündnissolidarität« als genuin legitimitätsstiftendes Argument, wenn es um die Positionierung bei »Auslandseinsätzen« geht. Das lebensweltlich verpönte »die anderen machen es doch genauso«, mit dem alle Verantwortung auf die Gemeinschaft abgewälzt wird, dominiert Entscheidungen über Krieg und Frieden. 14 Nicht hierarchisch, sondern opportunistisch sind Werte nach Luhmann (Luhmann 2008c, 182) bestimmt. 15 Zur Frage der Wiedereinbeziehung des Menschen ins systemtheoretische Setting siehe Röttgers 2005; Brücher 2006. 13
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schluss die Unterscheidung von Moralität und Legalität gesetzt. 16 Die Differenz reflektiert nicht einzulösende Bedingungen eines Modells, das die Politik von den Verbotsnormen des Dekalogs befreien möchte: Im staatlichen Gewaltmonopol müssten Allwissenheit, Allgüte und Allmacht gebündelt werden können. In welchem Maße das blinde Vertrauen in die Problemlösekraft und Friedensstiftungsfunktion des Gewaltmonopols Illusionen entspringt, zeigt Kant im Rahmen seiner drei Kritiken: Da Allwissenheit unerreichbar ist, kann Vernunft nur als sich selbst infrage stellende Instanz, als ihr eigener Gerichtshof gedacht sein. Und da Allgüte schlechterdings nicht vorausgesetzt werden kann, bleibt jeder Einzelne auf sich selbst und sein eigenes Urteilsvermögen zurückgeworfen. Auf der Suche nach Richtlinien bedarf das individuelle Urteilen einer methodischen Anleitung durch den Normenprüfungssatz des kategorischen Imperativs. Schließlich bleiben angesichts der Tatsache, dass Allmacht ein größenwahnsinniges Phantasma ist, Großprojekte der Zukunftsgestaltung an die Grenzen des menschlichen Urteilsvermögens gebunden. Die von Kant empfohlene und schließlich von Idealismus, Materialismus und Neukantianismus wieder aufgegebene Distanz gilt es in der entwickelten funktional differenzierten Gesellschaft gegenüber allen Subsystemen zu wahren. Denn was heute zunehmend angeprangert wird, ist ein wirtschaftlicher, rechtlicher, pädagogischer, wissenschaftlicher und gesundheitlicher Absolutismus, der eigenes Handeln als Ausnahme legitimieren lässt und den jeweils anderen normkonformes Handeln abverlangt. 17 Die Luhmannschen Vorschläge für einen nicht normativen Zugang zu ethischen Fragen entspringen folglich nicht der Parteinahme für das Faktische, für den Status quo; vielmehr reagieren sie auf den Umstand, dass jede normativ ansetzende Herangehensweise das metanormative Niveau des Regel/ Ausnahme-Schemas nicht unterschreiten darf. Moralische Intuitionen sind Fühler, mit denen die Situation daraufhin abgetastet wird,
Die Differenz stützt sich auf das Außen/Innen-Schema: »Diese Gesetze der Freiheit heißen im Unterschiede von Naturgesetzen moralisch. Sofern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeiten gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, dass sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch, und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die Legalität, die mit der zweiten die Moralität der Handlung.« (Kant 1990, 46 f.) 17 Siehe zum subsystemischen besonders juridischen Absolutismus Teubner 2007. 16
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ob ein Fall für das Regelkonforme oder für die Ausnahme von der Regel vorliegt. Das Urteilsvermögen des politischen Absolutismus hat sich in den Augen Kants durch die Grausamkeit einer hier beförderten Ius ad bellum-Mentalität diskreditiert. Um darüber hinaus das Urteilsvermögen des subsystemischen Absolutismus einer kritischen Überprüfung zu unterziehen, muss Distanz zur zeitgenössischen Art moralischer Kommunikation mit Hilfe einer Ethik gewonnen werden, die Achtungskommunikation nicht stützt und rechtfertigt, sondern behindert. Damit nimmt Luhmann ein Motiv Kants auf: Von »Moralität« – in der Sprache Luhmanns von »Ethik« – kann nur die Rede sein, wenn Widerstände überwunden werden. 18 Die Unlust, einem Freund Leid zuzufügen, bedarf keiner Moral. Folglich greift das Instrumentalisierungsverbot erst in all jenen Situationen, in denen die Einstellung gegenüber Mitmenschen gleichgültig bis feindlich ist. Solche Widerstände müssten sich im Luhmannschen Ethikverständnis auf ein Sozialverhalten richten, das Mitmenschen schädigt, das in seiner schädigenden Wirkung aber nicht reflektiert werden kann, weil moderne Soziallehren in einem Selbstbegründungszirkel befangen sind: Moral und Sozial meinen dasselbe. Ausgrenzung, Diskriminierung, Sündenbockproduktion müssen folglich pathologisiert werden. Als abnorm und krank werden aber gewöhnlich nur die Praktiken der Gegner – diachron und synchron – wahrgenommen, jedoch nicht eigenes normwidriges Verhalten. Wie aber lassen sich im wertrelativistischen kulturellen Umfeld eine Erneuerung des Instrumentalisierungsverbots und somit ein Verständnis von Verantwortung rechtfertigen, das sich am Primat des fremden Interesses orientiert, wie Kant empfiehlt? Eine solche Frage stellt sich nur für den Fall, dass der begründungstheoretische Verantwortungsdiskurs nicht die modernisierte nachmetaphysische Fassung des moralischen Gesetzes ist. Diese Vermutung liegt nahe, weil bei Kant der Primat des fremden Interesses und damit das Instrumentalisierungsverbot nicht aus einer apriorischen wertethischen Festlegung folgt, sondern aus dem Unvermögen begründen zu können, warum ich die Weigerung anderer Menschen, sich für meine Ziele instrumentalisieren zu lassen, übergehen darf.
Ansätze zu einer moralkritischen Ethiktheorie finden sich insbesondere bei Luhmann 2008d und 2008e. Luhmann rehabilitiert implizit einen nicht transzendentalpragmatisch modifizierten Kantianismus.
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Es sind die in den drei Kritiken aufgezeigten Grenzen des Wissens, des Dürfens und des Urteilsvermögens, die gewichtige Gründe für monströse Übergriffe auf Leib und Leben anderer Menschen nicht beschaffen lassen. Der Mensch dürfte nicht das Differenzial oder die paradoxe Einheit der Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Subjekt sein, sondern müsste allwissend sein, um Tötungslizenzen reklamieren zu können. In der heutigen Sprache heißt dies: Wissenschaftlich validiertes Wissen müsste wahr und nicht nur provisorisch sein. Ferner dürfte das Handeln des Menschen nicht als Differenzial, als paradoxe Einheit von Moralität und Legalität wirksam werden, sondern als Allgüte – in heutiger Sprache, als absolute Gerechtigkeit. Und die Projekte der Menschen müssten mehr sein als das Differenzial von selbstbezüglichem Subjekt, fremdbezüglichem Objekt und selbstbezüglichem Objekt (vergesellschafteten Phänomenen); sie müssten auf Allmacht beruhen – in zeitgenössischer Sprache, sie müssten zur Steuerung hochkomplexer Systeme befähigen. Der aktuelle sich selbst als nachmetaphysisch bezeichnende Neokantianismus behauptet sehr wohl, Gründe für die Entsorgung des Instrumentalisierungsverbots beschaffen zu können, weil der Adressat nicht der betroffene Einzelne, sondern eine namenlose Diskursgemeinschaft oder »infinite society« ist, die sich betroffen fühlt. An diesem Punkt wird deutlich, dass hier keine nachmetaphysische Version des moralischen Gesetzes vorliegt, sondern dass vielmehr in das abgeglitten wird, was für Kant als schlechte Metaphysik Gegenstand der drei Kritiken ist. Denn hier ist an die Stelle des konkreten Menschen, der sich weigert, instrumentalisiert zu werden, ein detranszendentalisierter Einheitsbegriff gesetzt. Dieser versetzt die Vernunft wieder in einen vorkritischen Zustand. Das Gegenüber ist kein Mensch, sondern der common sense, symbolisiert als Diskursgemeinschaft oder »infinite society«. Dem Vorrang des fremden Interesses weicht der Vorrang der fremden Meinung. Wenn auch die westliche Welt näher zusammenrücken und ihre alten Grabenkämpfe angesichts der neuen »Feinde der Menschheit« ruhen lassen mag, so gibt es für eine Globalisierung des westlichen common sense keine Anhaltspunkte. Die folgenden Überlegungen sollen nur die Richtung andeuten, in der weitergedacht werden könnte: 19 Entspringt das InstrumentaliDie Gedankenführung ist ausgearbeitet in Brücher, »Ethik im Drohnenzeitalter. Zum Instrumentalisierungsverbot bei Luhmann und Kant«, i. V.
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sierungsverbot keinem metaphysischen Prinzip, sondern den Grenzen der theoretischen, der praktischen und der urteilenden Vernunft, so ist eine theoretische Erneuerung nur als eine Neufassung der drei Grenzziehungen plausibel. Hier liefert der differenztheoretische Entwurf von Luhmann deshalb Anhaltspunkte, weil er die Paradoxie in den drei Dimensionen berücksichtigt. Damit wäre der Akzent im Rechts- und Wertbewusstsein eindeutig auf die Betonung von Unterlassungsregeln und nicht von Interventions- und Ermächtigungsregeln verlagert. Zugleich erwächst aus der Theorieanlage ein Primat des fremden Interesses als Bedingung wechselseitiger Unterstellung von Zurechenbarkeit, von Freiheit. Die paradoxe Konstitution wird bei Luhmann auf allen Ebenen rekonstruiert, auf der epistemologischen Ebene mit der Kybernetik zweiter Ordnung, auf moralischer mit dem Sinn- als differenzlosem Begriff und auf pragmatischer mit dem Autopoiesiskonzept. Die Unterscheidungen, mit denen die entsprechenden Ebenen aktualisiert werden, sind zugleich als Einheit und als Differenz gedacht. Sie sind auf diese Weise in ihrer Paradoxie voll berücksichtigt. So findet eine Annäherung an die kognitiv-epistemologische Dimension – Luhmann bevorzugt den Begriff der Sachdimension von Sinn – mit Hilfe der Unterscheidung von Operation und Beobachtung statt. Da Beobachten eine Operation des unterscheidenden Bezeichnens ist (Beobachtung 1. Ordnung) und deshalb wieder beobachtet werden kann (Beobachtung 2. Ordnung), markiert das Verhältnis der beiden Begriffe »Operation« und »Beobachtung« ein Selbstimplikatives, Selbstreferenzielles, Paradoxes. Was den Menschen von der Allwissenheit trennt, ist folglich nicht ein Mangel an Wissen, der durch forcierte wissenschaftliche Anstrengung nach und nach behoben werden könnte; es ist die Unterscheidungsbedürftigkeit eines Ununterscheidbaren, die aufs kognitive Glatteis führt. Auf die kantische Frage, was können wir wissen, findet die Kybernetik 2. Ordnung eine analoge Antwort: Weil provisorische Datenkorpora kein Allwissen produzieren, kann der Einspruch anderer Menschen gegen ihre Instrumentalisierung nicht übergangen werden. Nichts grundsätzlich anderes gilt für die zweite Ebene. In der sozialen oder moralischen Dimension geht es um das von Erwartungsunsicherheiten durchzogene Verhältnis von Ego und Alter. Moral ist durchaus nicht die einzige Art und Weise, dem Problem sozialer Kontingenz Herr zu werden. Luhmann nennt weitere funktional äquivalente soziale Angebote, nämlich Recht, Anschlussrationalität 95 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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und Liebe. 20 Damit ist die Moral ein Stück weit von gesellschaftsintegrativen Aufgaben entlastet und der Blick kann frei werden für negative Seiten des Unterscheidens von gut und schlecht/böse. Dieser Modus unterscheidenden Bezeichnens birgt eminente Probleme, da es schlechterdings nicht möglich ist, nur den positiven Wert des Guten, Anerkennungswürdigen, Achtbaren zu stärken. Gewollt oder ungewollt bringt sich die Unterscheidung in ihrer Zweiseitenform zur Geltung: Das für gut Befundene konstruiert die andere Seite von zutiefst Verachtenswertem. Reziprozität wird im selben Zuge wieder untergraben, in dem sie intendiert und forciert wird. Folglich ist eine als Normbegründung verstandene Ethik nur in der Lage, Kommunikationsweisen zu unterstützen, die diskriminieren, weil ihr Geschäft die Diskrimination von Personen und Unpersonen, von achtbaren Bürgern und Schurken ist. Aufdringlichkeit und Furor der moralischen Zweiseitenform sind somit die Folge einer logischen Disposition. Sie bedürfen zunächst nicht des psychopathologischen Naturells fanatischer und autoritärer Charaktere. Dieses gewissermaßen Ursprungsübel keimt im unerfüllbaren Anspruch an die Güte jener Kriterien, die Gut von Schlecht unterscheiden sollen. Da Moral selbstimplikativ ist, bedarf es einer gesonderten Ebene des Beobachtens moralischer Kommunikation, auf der der Verlust kritischer Distanz reflektiert werden kann. Solche Schadensbegrenzung ließe sich nur von einer Ethik erwarten, die sich nicht mit der Moral solidarisiert, sondern die auf Abstand drängt. Die grenzbestimmende und somit im eigentlichen Sinne transzendentale Leistung einer gegen ihre Entdifferenzierung antretenden Unterscheidung von Ethik und Moral liegt im konsequenten Infragestellen von Gründen, die eine Instrumentalisierung von Menschenleben für die besonders wertvollen Werte bestimmter Akteure rechtfertigen lassen. Ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber moralischen Intuitionen nötigt auch Luhmann zur Ausarbeitung eines Konstrukts, das die Logik des kategorischen Imperativs fortführt. Darf auf der Suche nach den Kriterien für die Moralität der Moral deren paradoxe Herkunft nicht verleugnen werden, so ist ein Methodenverständnis nahegelegt, das die Unmöglichkeit der Selbstexemption bei jeder moralischen Kommunikation präsent hält. Selbstexemption bedeutet, für sich selbst ein Ausnahmerecht in Anspruch zu nehmen. Kant’sche Zur Funktion der Moral und zu funktionalen Äquivalenten siehe Luhmann 2008b, 123 ff.
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und Luhmann’sche Formulierung meinen dasselbe: Die Beherzigung eines von der Logik oktroyierten Verbots der Selbstexemption verlangt eine Überprüfung der eigenen Operationen in jeder Situation nach dem Grundsatz ihrer Verallgemeinerbarkeit. Es ist nämlich unvermeidlich, dass die Kriterien, nach denen man selbst Achtung und Missachtung verteilt, zur Bewertung der eigenen Person Verwendung finden. Der Generalisierungseffekt ist dem binären Code eigen und muss nicht als kontrafaktische Norm gesetzt werden. 21 Schließlich bleibt noch die differenz- und systemtheoretische Reformulierung der Kritik der Urteilskraft in groben Zügen zu umreißen. Die pragmatische Ebene des Handelns und Gestaltens, die das Vergangene mit der Zukunft verbindet, wird von Luhmann durch das System/Umwelt-Schema zum Ausdruck gebracht und nicht länger durch die Einheitskonfiguration des allgemeinen oder besonderen Handlungssystems. Auch hier, in der Zeitdimension, konkretisiert sich das Verhältnis als Paradoxie. Denn das System ist ein Zusammenhang, der sich selbst von nicht Dazugehörendem (Umwelt) abgrenzt und die Umwelt ist als systemrelativer Weltausschnitt vom System konstituiert. Dadurch kommt es zu jener Selbstimplikation von Operationen, die auf Operationen desselben Typs anschließen, was im Begriff der »Autopoiese« zum Ausdruck kommt. Autopoietische sind vergesellschaftete Phänomene, die im Sinne Kants durch Wechselwirkung gekennzeichnet sind und aus diesem Grund nicht gesteuert werden können. Fehlt dem Menschen aber die Allmacht der Steuerung hochkomplexer Systeme, so bleibt auch die temporale Rechtfertigungsfigur ohne Rückhalt in einem realistischen sozialtechnischen, teleologischen oder eschatologischen Projekt. Es gibt keine guten Gründe für die Missachtung des Widerstands von Menschen gegen ihre Instrumentalisierung. Zur Steuerungsresistenz kommt eine konstitutiv geringe Fähigkeit zur adäquaten Resonanz auf Gefahren, da Systeme Grenzmarkierungen und somit im anderen ihrer Umwelt enthalten sind. Unüberschreitbare Grenzen der Urteilskraft liegen folglich in der kognitiven Unerreichbarkeit und Unkalkulierbarkeit von selbstreferenziellen Phänomenen. Interventionen in komplexe Systeme – psychische und soziale – können produktiv stören und sie können zerstören, aber sie sind nicht in der Lage, steuernd einzugreifen und zu gestalten. »Humanitäre Interventionen«, »Demokratieimport« und »Interessenkriege« sehen sich mit analogen 21
Zum Verbot der Selbstexemption siehe Luhmann 2008c, 188.
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Gertrud Brücher
Denkmitteln delegitimiert wie vor ihnen »gerechte Kriege« und »absolutistische Kabinettskriege« durch das transzendentalphilosophische Argument. Mit dieser Reformulierung des kantischen Rechtspazifismus auf der Grundlage neuerer Denkmodelle wird ein weiteres Mal deutlich, dass der Vorrang des fremden Interesses und damit im ursprünglichen Sinne »Verantwortlichkeit« nicht moralisch, sondern logisch begründet ist und somit keiner apodiktischen Verbotsnormen bedarf.
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99 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Jovan Babić
Struktur des Friedens 1
In Der Metaphysik der Sitten, § 44, bemerkt Kant, dass »[…] bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden [ist], vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen […]« (Kant 1968b, 312). 2 Der Paragraph beginnt mit einer sehr starken Behauptung über den apriorischen Charakter dieser Thesis, die nicht aus der Erfahrung und nicht aus einer Tatsache stammt, die den öffentlichen gesetzlichen Zwang notwendig machen würde, sondern selbst aus der Vernunftidee über den rechtlosen Zustand hervorgeht, d. h. über den Zustand ohne den zustande gebrachten öffentlichen Zwang, bzw. aus der Idee über den Naturzustand. Es soll verstanden werden, dass es sich hier um die Spannweite von den »einzelnen Menschen« über die »Völker« bis zu den »Staaten« handelt. Der Rest des Paragraphen handelt von uns, als den EinEine Version dieses Textes wurde auf dem an der NTNU (Trondheim, Norwegen) am 12. Und 13. Dezember 2008 stattgefundenen Symposion »Law, Democracy, and Kant’s Three Dimensions of Right« vorgetragen. Ich bedanke mich bei Audun Øfsti und dem Auditorium für ihre Bemerkungen. Die nachgebesserte Version dieses Textes wurde in die Aufsatzsammlung World Governance (Babić u. Bojanić 2010) aufgenommen. Die serbische Übersetzung wurde im Buch Globalno upravljanje svetom (Babić u. Bojanić 2012) veröffentlicht. 2 Vgl. auch: »Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht=rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können […].« (Ebd.) 1
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Struktur des Friedens
zelnen auf eine direkte Weise, während es um die »Völker« und die »Staaten« nur mittelbar geht. 3 Dieser Unterschied ist sehr wichtig, er ist die Quelle der verschiedenen Deutungen, von denen eine die Grundlage der in diesem Artikel angebotenen Argumentation ausmacht. Eine solch starke, apriorische Charakterisierung des Naturzustandes, mit einer zusätzlichen Spezifizierung der aus drei Elementen bestehenden Menge (die Einzelnen, die Völker und die Staaten – von denen keiner im Naturzustand vor Gewalt sicher sein kann), wird im Rest des Paragraphen auf die Formulierung eingeengt, in der nur die Einzelnen übrig bleiben, die die Pflicht haben, den Naturzustand zu verlassen und um jeden Preis in den bürgerlichen Zustand einzutreten. Dieser Unterschied ist die Quelle einer interessanten und bedeutenden Ambivalenz in der Deutung des kantschen Verhältnisses zum Weltfrieden; einer Ambivalenz, die vielleicht nur ein Gegenstand der Erwartung und der falschen Perzeption ist, aber die es auf jeden Fall wert ist, geprüft zu werden: Meint der Weltfrieden das endgültige und umfassende »Verlassen« des Naturzustandes? Ist der bestehende internationale Zustand gesetzlos, stellt er den Übergangszustand aus dem wilden Zustand der Natur in den vernunftgemäßen zivilisierten Zustand dar oder ist das der normale Weltzustand, in dem jedes Gesetz mit dem gesetzgeberischen Willen der Völker in den Staaten verbunden ist? Und meint die Souveränität, die »Zivilisiertheit« in einem solchen Zustand zu erreichen, was nach sich zieht, dass die Staaten nicht auf die im Falle der Einzelnen richtigen Weise gezwungen werden dürfen? 4 Vgl. Kant 1968b, 312: »Erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten.« 4 Eine der Implikationen dieses zweiten Standpunktes ist, dass der Krieg keinen punitiven, strafenden Charakter haben kann, bzw. dass Bestrafung keineswegs Zweck noch Rechtfertigung des Krieges sein kann. Vgl. Kant 1968b, 347: »Kein Krieg unabhängiger Staaten gegen einander kann ein Strafkrieg (bellum punitivum) sein. Denn Strafe findet nur im Verhältnisse eines Obern (imperantis) gegen den Unterworfenen (subditum) statt, welches Verhältniß nicht das der Staaten gegen einander ist.« 3
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Es scheint so, dass im Unterschied zu seinem Anfang der Rest des Paragraphen 44 mehr im Einklang mit der siebten Thesis in Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht steht, wo es heißt: »Das Problem der Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden.« (Kant 1968c, 24; vgl. auch Cavallar 1999, 5) Es scheint, dass man zumindest auf dem ersten Blick, im Lichte der obigen Charakterisierung durch starke »apriori« Begriffe und durch die Unabhängigkeit von jeder tatsächlichen Erfahrung, voraussetzen kann, dass die Anwesenheit des bestehenden Naturzustandes im anarchischen internationalen Zustand bedeutet, universale Sicherheit sei erst dann möglich, wenn der gesetzliche Zustand auf alle drei vorausgesetzte ebenbürtige Ebenen eingeführt wird – auch wenn es um Völker und Staaten und nicht nur um die Einzelnen geht. Das würde die Aussichten auf einen wirklichen Weltfrieden in eine unbestimmte Zukunft versetzen, in einen Moment, in dem auch auf dem internationalen Plan das verwirklicht wird, was, wenn es um die Einzelnen geht, bereits verwirklicht worden ist, nämlich das Verlassen des Naturzustandes. Es ist nicht ausreichend, den Naturzustand nur auf einer Ebene zu verlassen, und der Prozess wird nicht zu Ende gebracht, solange dieser Zustand nicht auf allen Ebenen »verlassen« wird. Erst dann hätten wir einen universalen gesetzlichen Zustand in der Welt. Und das bedeutet, dass solange der Naturzustand auf dem internationalen Plan aufrecht erhalten wird, die innere nationale Gesetzgebung provisorisch, vorläufig und ungewiss bleibt, was alles das Gegenteil dessen, wie es sein soll, ist. Bedeutet das, dass auf der internationalen Ebene – ähnlich wie auf der individuellen Ebene – jeder jeden durch die Einführung der verpflichtenden, endgültigen und unbestreitbaren Gesetze zum Verlassen des Naturzustandes zwingen kann? 5 Um demnach den Frieden zu sichern, sollen auch Völker und Das kann zwei sehr unterschiedliche Dinge bedeuten: 1) das »ideale«, vernünftige Gesetz – ein Gesetz für alle, der endgültige Frieden, die Unmöglichkeit der kriegerischen Auseinandersetzung (vorausgesetzt, nach einem finalen Krieg, durch welchen diese universale Gesetzgebung als das Weltgesetz eingeführt worden wäre) und 2) das Zwingen der »Anderen«, d. h. der anderen Staaten, ein akzeptables und nachhaltiges Gesetz anzuwenden, d. h. das eigene Gesetz auf dem ganzen Territorium des Staates anzuwenden und nicht zuzulassen, dass es Teile dieses Territoriums gibt, auf denen dieses Gesetz nicht »gelten« würde, d. h. dass es nicht systematisch angewendet würde, wodurch dieses Territorium faktisch gesetzlos wäre. In diesem zweiten Fall ist das
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Staaten den Naturzustand verlassen. Und solange das nicht erreicht ist, wird auch das Recht bestehen bleiben, die anderen Staaten – wenn nötig durch Krieg – zum gesetzmäßigen Verhalten zu zwingen, was im völligen Einklang mit der Definition und der Beschreibung des Naturzustandes am Anfang des Paragraphen 44 zu sein scheint. Frieden ist das Ziel, das erreicht werden soll, und Krieg kann ein notwendiges Mittel für dieses Ziel sein. Frieden ist auch die Beschreibung des idealen Zustands der Dinge in der Welt, was gleichzeitig auch die Beschreibung eines gesetzlichen Zustandes ist. Demnach ist der nur als faktischer aber zufälliger zwischenstaatlicher Zustand bestehende Frieden kein Weltfrieden, was bedeutet, dass ein solcher Frieden unvollständig und ungewiss ist. Diese Ambivalenz wird insbesondere sichtbar in der Spannung zwischen dem Anspruch auf Apriorität im Zugang zur Bestimmung der Gesetzlichkeit und der Weise, auf welche Gesetze, die notwendig für den Austritt aus dem Naturzustand und den Eintritt in den zivilisierten Zustand sind, artikuliert werden müssen: Sie müssen von unserer Freiheit, von der Autonomie der Handelnden, die in einen neuen (bürgerlichen) Zustand »eintreten«, ausgehen, was sich in ihrer Zustimmung manifestiert. Wir wissen, dass es so ist, aber es ist dennoch merkwürdig: damit Gesetze gerecht sind, müssen sie seitens derjenigen, auf die sie sich beziehen, akzeptiert und autorisiert und nicht aufgezwungen werden, und das ist eine Forderung, die unabhängig von allen anderen Gesetzeseigenschaften gilt. Die Gesetze beziehen sich auf unsere äußere Freiheit, aber diese soll auch weiterhin die Freiheit sein. Sie ist ein Teil des Ganzen der Freiheit, jener selben Freiheit, die wir aus dem Naturzustand (in gewissem Sinne gezwungenermaßen als Freiheit, die wir in dem Zustand besaßen) mitgebracht haben. Die äußere Freiheit soll nicht eine Art Sklaverei werden, oder eine Domäne, in der die Freiheit ihr Wesen verloren hat, wonach sie die Macht hat, zu entscheiden bzw. anders zu entscheiden. Diese Macht ist das Wesen der Freiheit. Im bürgerlichen Zustand ist die Freiheit eingeschränkt. Sie ist nur ein Teil von dem, was sie im Naturzustand war, aber der übriggebliebene Teil ist weiterhin ein Teil jener selben Ganzheit, deren Teil, ja man kann sagen, deren bester die Gesetzlosigkeit oder – was in diesem Fall dasselbe wäre – die Unfähigkeit und die Unmöglichkeit, das Gesetz anzuwenden und durchzuführen, und nicht die Tatsache, dass es ein anderes Gesetz ist, was »ungesetzlich« ist und was zum casus belli werden kann.
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Teil er immer war. Im praktischen Sinne ist die Freiheit effektiv/wirksam in ihren beiden Teilen 1) durch die Bestimmung der legitimen Freiheit (was ist das, was getan werden darf), aber auch 2) in jenem Teil, der durch die Einschränkung aus der Legitimität herausgefallen ist, aber weiterhin wirklich als die Macht, Gesetze zu brechen, anwesend ist. In der Domäne der legitimen Freiheit können wir unsere Ziele frei aufstellen und versuchen, sie zu realisieren, indem wir die volle Verantwortung für den Erfolg oder Misserfolg in ihrer Realisierung übernehmen. In der Freiheitssphäre, die durch das Gesetz eingeschränkt ist, ist Freiheit durch die Notwendigkeit der Zustimmung präsent, ohne die diese Einschränkung nicht gültig wäre, aber gleichzeitig muss diese Zustimmung frei und nicht das Ergebnis von Zwang oder Nötigung sein. Es gibt und es darf keine Nötigung zur Zustimmung geben und der Akt der Zustimmung kann nicht Sache der analytischen Wahrhaftigkeit sein. Die Kraft des normativen Begründens, die zum Erringen der Zustimmung führt, beinhaltet eine Notwendigkeit, aber eine solche der normativen und nicht der faktischen Art. Vielmehr ist die Nötigung, die es in jener in der Pflicht beinhalteten »Notwendigkeit« gibt, wenn Kant sagt, dass »die Pflicht […] die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« ist (Kant 1968, 400; vgl. auch Babić 1991), keine wirkliche, sondern eine normative Notwendigkeit – es ist nicht notwendig, dass es so wird, sondern dass es so sein soll, und das völlig unabhängig von dem Unterschied »aus der Pflicht / der Pflicht nach« (vgl. Kant 1968, 400). Jedoch muss normative Notwendigkeit natürlich nicht auch verwirklicht werden. Daher ist der normativen Notwendigkeit zuzustimmen. Sie ist keine wirkliche (faktische) Notwendigkeit, sondern sie ist nur jener Druck, den die Gründe infolge ihrer argumentativen Kraft beim Vollzug der rationalen Schlüsse ausüben können, dass zugestimmt werden soll. Dieser Druck ist primär sogar kein moralischer, sondern mehr ein rein rationaler, auf der Autonomie gegründeter Druck, der aber unsere (beste) Heteronomie ausdrückt: das rationale Interesse. Dieser ganze Druck ist jedoch nicht ausreichend, um aus ihm die wirkliche Notwendigkeit abzuleiten, im Sinne, dass das Ergebnis, der Akt des Zustimmens aus dem Gesetzesinhalt »deduziert« werden kann. Was die Gesetze sein werden, wird im entscheidenden Teil davon abhängen, was die wirklichen Interessen sind, was wirklich gewollt wird. Und wirkliche Interessen hängen davon ab, wessen Interessen das sind und was vor ihrer Konstitution geschehen ist. Das schließt viel 104 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Ungewissheit und eine Variable beim Bestimmen der wichtigsten Interessen von jemandem ein. Die Ungewissheiten beziehen sich auf Ereignisse, die »zuvor geschehen sind«, und die Variable ist die Identität der Person oder der Personen, die der Träger ist oder die Träger der Freiheit als Entscheidungsmacht sind. Wir können daraus schließen, dass die »Notwendigkeit«, mit der wir es hier zu tun haben, im besten Fall Wichtigkeit und Dringlichkeit ist, Zustimmung zu geben, ohne irgendeine Spezifikation über den Inhalt dieser Zustimmung. Dies in Betracht ziehend können wir sagen, dass es arrogant ist vorauszusetzen, dass im Falle dieses Inhalts jedermanns Entscheidung dieselbe sein wird bzw. dass die Interessen und ihre Rangordnung bei allen Menschen dieselben sein werden. Der Druck, den bürgerlichen Zustand herzustellen, soll dazu beitragen, dass diese Entscheidung gefällt wird, aber welche Entscheidung es letztendlich sein wird und was ihre konkrete Artikulation sein wird, ist in diesem Prozess nicht präzise bestimmt. Auf einer Seite haben wir also die normative Thesis der Aufstellung der praktischen Prinzipien a priori, die besagen, dass man vor dem Verlassen des Naturzustandes keinen wirklichen Frieden hat (vgl. Kant 1968b, 320) bzw. dass wir den Naturzustand zu verlassen und den wirklichen Frieden aufzustellen und auf diese Weise den Krieg zu überwinden haben (vgl. ebd., 344). Das ist eine Forderung der Vernunft (vgl. ebd., 312). Die Realisierung dieser Forderung braucht Zeit und sie kann unvollständig und unzureichend sein. Diese Probleme, d. h. Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit sind Zeichen der Anwesenheit des Naturzustandes. Am sichtbarsten ist das in der internationalen Szene, wo noch eine Art der Anarchie zu finden ist. Die Forderung der Vernunft könnte sein, dass ein solcher Zustand durch die Aufstellung des wahrhaftigen globalen gesetzlichen Zustandes überwunden wird. Nach dem Krieg haben wir das, was Kant »Waffenstillstand« nennt, »ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeit, nicht Friede« (Kant 1968c, 343), sondern ein Zustand des vorübergehenden Friedens, auch dann wenn er den Friedensvertrag zum Ergebnis hat, durch den der Sieg der einen und die Kapitulation der anderen Seite bestimmt wird (vgl. ebd., 355). Bei Kant ist der Waffenstillstand ein fester Begriff, inhaltlich viel reicher als das, was uns unser erster Eindruck suggeriert. Es scheint so, dass sich dieser Begriff auch von der gängigen Wörterbuchbedeutung unterscheidet. In
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jedem Fall ist der Begriff eine Untersuchung wert. Ich habe zwei wichtige Momente im Sinn. Zum Ersten, der Kant’sche Begriff des Friedensvertrages als Ende eines bestimmten Krieges bezeichnet nicht das Ende des Kriegszustandes überhaupt. Die Staaten können nicht [immer] ihr Recht in einem dem gerichtlichen ähnlichen Prozess suchen und im Krieg wird der Streit durch Sieg gelöst, durch eine Institution, die keine (normativ zwingende) Lösung des Rechtstreits bietet. Das heißt, dass im Krieg jeder Richter in eigener Sache ist, so dass man (wenn dafür die Möglichkeit besteht) immer einen Grund für die Fortsetzung des Krieges finden kann (vgl. ebd.). Diese Bedeutung des Terminus »Waffenstillstand« ist im Einklang mit unserer normalen sprachlichen Intuition, dass der Waffenstillstand nur eine Pause im fortlaufenden Krieg ist. Die Möglichkeit künftiger Konflikte bleibt immer eine der Optionen. Auch nach dem (durch den Friedensvertrag abgeschlossenen) Krieg hat man gar nur »Waffenstillstand«, ein Zustand, der dem Naturzustand ähnlicher ist als dem wirklichen Frieden. Das liegt daran, dass unter Frieden der aufgestellte gesetzliche Zustand verstanden wird, was auf dem internationalen Plan und im Unterschied zum Zustand innerhalb des Staates nicht der Fall ist. »Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist […]. […] Er muß also gestiftet werden […].« (Ebd., 348 f.) Aber zum Zweiten haben die Staaten den Naturzustand bereits verlassen und das, was als Forderung für die Einzelnen im anomischen Naturzustand unbedingt gilt, nämlich »aus diesem Zustande herausgehen zu sollen« (ebd., 355), eben das kann »von Staaten nach dem Völkerrecht nicht […] gelten, […] (weil sie als Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind) […]« (ebd.; Hervorhebung v. J. B.). Demnach ist der Waffenstillstand, durch den die anarchische internationale Gesellschaft charakterisiert ist, kein Naturzustand! Die Ambivalenz im Begriff Waffenstillstand wird nun völlig sichtbar. Der Waffenstillstand an sich stellt die Natur der Welt dar: Kriege sind immer möglich und der Frieden, der eigentlich ein Waffenstillstand ist, ist der Zustand der Dinge, in dem diese Möglichkeit überwunden und erfolgreich vermieden wurde. Krieg ist eine latente aber wirkliche Möglichkeit – eine sehr teure, unbequeme, oft vermeidbare, immer hässliche und unmoralische, sogar absurde, jedoch wirkliche 106 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Möglichkeit, so wie es viele andere sind, die in der Domäne unserer Macht, in der Domäne der Freiheit als Macht liegen (obwohl viele von ihnen niemals als Inhalt potenzieller Zwecke unserer Entscheidungen in Betracht gezogen werden). Jedoch, fast alle diese Möglichkeiten können in einer spezifischen Verkettung von Umständen wirklich, normal, ja sogar der gewünschte (beste) Gegenstand der Wahl werden (wie z. B. dass geweint oder laut geklagt wird: Es wäre von mir sehr unangemessen, wenn ich inmitten des Vortrages oder während ich dies schreibe anfangen würde, lauthals zu schreien, jedoch wenn ich die rauen Klippen hinunter in eine Schlucht falle, wäre das sowohl angemessen als auch praktisch). Mit anderen Worten, wenn wir im Zustand des Waffenstillstandes sind, scheint es so, dass es für uns ausreichend ist, sagen zu können, dass wir nicht im Naturzustand sind. Der Waffenstillstand ist mehr als eine bloße Abwesenheit irgendwelcher Einschränkung. Das Recht, die Anderen durch die Einführung der verpflichtenden, endgültigen und unbestreitbaren Gesetze zum Verlassen dieses Zustandes zu zwingen, das den Naturzustand charakterisiert, scheint im Zustand des Waffenstillstandes nicht anwendbar zu sein. Der Waffenstillstand ist scheinbar mehr eine Art des Friedens als ein Segment des Krieges. Wäre dem nicht so, dann hätten wir das Recht, (alle?) andere(n) zu zwingen, diesen Zustand zu verlassen, um den wahrhaftigen Frieden herzustellen. Das müsste in zwei Schritten getan werden: Zum Ersten müssten die Einzelnen ihre wilde und uneingeschränkte zugunsten der eingeschränkten aber garantierten Freiheit, die die Gesetze des Staates bieten, aufgeben. Dann zum Zweiten müssten die Staaten, die als (künstliche?) Moralpersonen angenommen wären, diesen Prozess fortführen und beenden, indem sie in den gesetzlichen Zustand des kosmopolitischen, weltweiten Friedens, der nicht nur eine Art des »Waffenstillstandes« wäre, eintreten würden. Das damit verbundene Problem ist folgendes: im Prozess der Herstellung der nachhaltigen Weltrechtsordnung wäre es schwer oder unmöglich, die Zerstörung des inneren Gesetzes oder der bestehenden Ordnung zu vermeiden. Es scheint so, dass diese zwei Prozesse nicht simultan ablaufen können und dass ihre notwendige (logische, normative, faktische?) Aufeinanderfolge es unmöglich macht, dass der andere ausgeführt wird, ohne dabei das mit dem ersten Erreichte zu zerstören. Und mit dem ersten hat man den Naturzustand der totalen Freiheit verlassen und ist in den bürgerlichen Zustand der legitimen Freiheit eingetreten, die durch die gleiche Freiheit 107 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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für alle eingeschränkt ist. Das geht verloren, wenn man zum zweiten Schritt der Realisierung des universalen Weltgesetzes übergeht. Das kann ein Grund dafür sein, weshalb Kant im Hinblick auf den Naturzustand behauptet, dass das, was für die Einzelnen gegolten hat, nicht für die Staaten gelten kann: Es scheint unwahrscheinlich oder unmöglich, dass die Struktur des aufgestellten inneren Friedens, die durch das Verlassen des Naturzustandes bereits erreicht worden ist, nicht in einem wiederholten Verfahren auf höherer Ebene zerstört würde, mit der Möglichkeit, dass sie (in einem neuen dunklen Zeitalter) auch völlig verloren geht. Streng genommen, wenn diese neue Weltordnung gemäß der Vernunftforderungen hergestellt werden soll, sollten alle Staaten und alle ihre Gesetze in Frage gestellt und umgebaut und erneuert werden. Andernfalls würden der stärkste Staat oder die stärksten Staaten ihr Gesetz (ihre Verfassung) als die Quelle der unbedingten Ermächtigung und als den einzigen und endgültigen Standard und als die Quelle ihrer Wertkriterien anderen aufzwingen. In diesem Prozess müssten alle anderen Ermächtigungen zurückgezogen oder abgeschafft werden. Scheint dies bekannt zu sein? Hier lauern viele Gefahren. Keiner, der im Einklang mit dem geltenden heimischen Gesetz verfährt, würde und könnte zum Beispiel wissen, ob er damit das Gesetz auch achtet, weil es sich später herausstellen könnte, dass das heimische Gesetz nicht im Einklang mit dem neuen, ex post facto aufgestellten globalen Gesetz steht. Alle vergangenen Handlungen und nicht nur jene, die nicht im Einklang mit dem zu dem Zeitpunkt geltenden Gesetz gestanden haben, würden verdächtig und potentiell ungesetzlich werden. Das Ergebnis wäre völlige Unsicherheit in irgendeiner Übergangsperiode (angenommen dass jene, die in der fernen Vergangenheit lebten, an den Zufluchtsort der vergangenen Zeit fliehen konnten, im Grunde an den Zufluchtsort, den der Tod als der endgültige Garant der Freiheit jedem bietet). Das ist jedoch nur ein Beispiel. Das Hauptproblem ist, dass die inneren, heimischen Gesetze ihre normative Autorität und ihre Rechtskräftigkeit und damit auch ihre Rolle beim »Verlassen des Naturzustandes« verlieren würden. Es scheint so, dass jeder Versuch der Verwirklichung des Weltfriedens eine Art Revolution impliziert, die nicht nur die erreichte Ordnung und Frieden, sondern auch die meisten bis dahin verwirklichten Werte zerstört. Das wäre im Gegensatz zu Kants Behauptung, dass »[…] doch irgendeine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade 108 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine […]« (ebd., 373, Fußnote). Das zweite, noch weiterreichende Problem könnte die Frage sein, ob der Weltstaat überhaupt eingerichtet werden kann. Sodann ist da auch die Frage, ob ein solches Ziel wertvoll genug ist – die Frage, die direkt durch Kants Vorstellung von dem »seelenlosen Despotismus« des Weltimperiums bekräftigt wird (vgl. ebd., 367). Mit dieser Frage ist die weitere verbunden, ob der vorausgesetzte moralische Status des neu eingerichteten Imperiums das Prinzip der moralischen Gleichheit aller moralischen Wesen, darunter heutiger und künftiger Menschen, die vor dem Moment der Einrichtung des endgültigen gesetzlichen Zustandes auf der Welt leben würden, zerrütten würde, insbesondere im Hinblick auf die Achtung vor den Entscheidungen, die sie – angenommen frei – durch ihre Gesetze gefällt haben, wobei diese Gesetze sowohl die Verpflichtung als auch den Zwang in der daraus erfolgten Anwendung eingeschlossen haben. (Das erinnert ein wenig an die islamische theologische Thesis, von der ich einmal gehört habe, dass die Christen aus der Zeit vor der Ankunft des Propheten Mohammed prinzipiell gerettet sind, nur deshalb, da sie die Offenbarung, die der Prophet brachte, nicht kannten und nicht kennen konnten – im Unterschied zu den Christen, die wie alle anderen Ungläubigen nun leicht gerettet werden könnten, nur wenn sie es wollten, und wenn sie es ja nicht wollen, sei kein anderer als sie selbst daran schuld.) Meine eigene These ist, dass der »Frieden« einen Namen für den Zustand der Dinge darstellt, der seine Bedeutung nur im Verhältnis zu seinem Gegensatz erhält, nämlich einen Zustand der Abwesenheit des Krieges (vgl. Kant 1968b, 344). Das, was hier wirklich »ewig« ist, sind die Möglichkeiten, die Kriegs- und Friedensmöglichkeiten. Frieden und Krieg müssen im gegenseitigen Verhältnis definiert werden. Frieden hat prima facie positive und Krieg negative Konnotationen. Das ist jedoch nur prima facie, weil der Frieden ungerecht sein, in sich solche Dinge wie Sklaverei, Diskriminierung, Erniedrigung, Ungleichheit, Ausbeutung, Nichtachtung usw. beinhalten kann, und das alles auf eine allgemeine und systematische, gesetzesähnliche Weise. Vielleicht kann man einwenden, dass dies alles Eigenschaften des Friedens als Waffenstillstand sind, was kein wirklicher, wahrhafter Frieden ist, der der komplette Gegensatz zu allem, was Krieg beinhaltet, sein sollte. Aber was beinhaltet der Krieg? Was ist der Zweck und die Bedeutung des Krieges, jener Zweck und jene Bedeutung, die zu einer Kriegsrechtfertigung führen könnten (weil alles, was getan 109 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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wird, nicht von selbst geschieht, sondern aufgrund der gesetzten Ziele, die das in einem anfänglichen Sinne rechtfertigen)? Begriffe wie der (mögliche) eschatologische Zweck des Krieges (dass der Krieg das notwendige und angemessene, zum endgültigen Frieden führende Mittel ist) 6 beiseite lassend, soll die adäquate Beschreibung des Krieges und des Friedens mit der Bestimmung der Rolle, die die Gesetze in jeder von diesen Schemata haben, verbunden werden. Noch direkter ausgedrückt: sowohl der Krieg als auch der Frieden artikulieren sich im Kontext der Zeit auf zweifache Weise. Erstens, in der Zeit als dem konkreten Rahmen, in dem die Möglichkeiten, die in einem durch die vorherige Zeit definierten Zeitpunkt bestimmt sind, enthalten sind – darüber, was in dem Zeitpunkt (in dem Kontext) möglich und praktisch machbar ist. Zweitens in der gesamten Zeit, in der die Veränderungen und die Unterschiede erscheinen. Die Gesetze sind empfindlich gegenüber dem Einfluss der Zeit in diesen beiden Sinnen. Sie sind das Ergebnis der vorausgehenden Traditionen, die Gegenstand der Veränderung sind. Diese Tatsache richtet den Inhalt des Friedens ein, das, was dem Frieden seine Artikulation gibt bzw. aus ihm die Form des Lebens macht. Aber gleichzeitig ist es das, was den Frieden vorübergehend macht. Die Vergänglichkeit ist ein sehr wichtiger Bestandteil der Friedensstruktur. Sie ist das Ergebnis der durch die Unterschiede hergestellten Veränderungen. Manche Veränderungen gehen verloren, die von ihnen hervorgebrachten Unterschiede verschwinden, aber einige der Unterschiede werden akkumuliert. Die Unterschiede wachsen. Krieg ist der Grenzpunkt einiger dieser Unterschiede in ihrem Potential, die Unterschiede hervorzubringen. Andererseits kann man aber auch der Meinung sein, dass der Krieg den status quo schützt. Aus der Perspektive der gemeinsam aufgestellten Rechtfertigungen betrachtet, jener, die auf den akzeptierten Argumenten für die Rechtfertigung des vorgefundenen Zustandes gegründet sind, besteht in der gesamten rechtfertigenden Kraft dieser Argumente eine gewisse Asymmetrie, die dem vorgefundenen Zustand den prinzipiellen Vorteil im Verhältnis zur Veränderung gibt; der bestehende, bereits errichtete Zustand der Dinge hat dieser Annahme nach einige Argumente in seiner Grundlage und Vgl. Kant 1968c, 365: »Wenn ein Volk auch nicht durch inner Mißhelligkeit genöthigt würde, sich unter den Zwang öffentlicher Gesetze zu begeben, so würde es doch der Krieg von außen thun, […].« Vgl. auch Ludwig 2004, 74 ff.
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die Kraft dieser Argumente (die Weise ihres Funktionierens, wenn sie uns in unseren Entscheidungen darüber, was wir tun sollen, leiten) funktioniert bereits als eine motivierende Kraft, die macht, dass sich dieser Zustand der Dinge formiert und akzeptiert wird. Der gesamte Prozess ist in einem gewissen Sinne bereits in der Vergangenheit durchgeführt worden und das, was wir im jetzigen Augenblick haben, hat so sein normatives raison d’être. Andererseits ist die beabsichtigte Veränderung (noch) nicht wirklich und als der Prozess der wirklichen Veränderung ist sie zunächst der Anfang (oder sogar etwas, was dem Anfang vorausgeht, was erst noch nur in Gedanken ist), ihre Wirklichkeit liegt in der Zukunft und ist ungewiss. Die Kraft einiger Argumente, die unsere Handlungen bis zur Realisierung des angesetzten Zieles leiten, liegt nicht auf derselben Ebene wie die Kraft, die im bereits Bestehenden enthaltenen rechtfertigenden Argumente haben. Sie ist notwendig niedriger auf der Bedeutungsskala verortet, so dass eine verhältnismäßig größere argumentative Kraft für die Rechtfertigung der Wandlung des bestehenden Zustandes nötig ist. Die Eröffnung des Veränderungsprozesses zieht die Eröffnung des Konfliktes mit dem bestehenden Zustand nach sich. Und es ist möglich, dass dieser Konflikt ab einem Punkt nicht auf rein rationale Weise fortgesetzt werden kann, so dass es unmöglich sein wird, die Konfliktlösung auf der argumentativen Kraft der rechtfertigenden Argumente für die eine und die andere Option zu prozessieren, was bedeutet, dass es unmöglich sein wird, Gewalt zu vermeiden. Eine der beiden Seiten wird ohne eine für sie adäquate argumentative Rechtfertigung nachgeben müssen oder man wird die Konfliktlösung aufgeben müssen. Es ist aber auch möglich, dass diese zweite Option des Aufgebens der Konfliktlösung nicht leicht oder nicht möglich ist, was bedeutet, dass es nicht leicht oder nicht möglich ist, zu einem anfänglichen bzw. zu einem Zustand vor dem Anfang des Konflikts zurückzukehren. Das ist einer der Gründe, weshalb ein Konflikt, ja auch Krieg, viel leichter anzufangen als zu beenden ist. In einem solchen Fall stellen die außerargumentativen Weisen der Konflikt- oder Problemlösung einen Weg für seine Fortsetzung bis zur Auflösung dar. Und wieder ist der vorherige Zustand in einer besseren Position: Die Rechtfertigung, dass er verteidigt wird, ist ziemlich offensichtlich. Sie folgt aus den errichteten und geltenden Erwartungen, aus der Verfassung, aus dem Gesetz, die verteidigt werden müssen. Wenn jemand angegriffen wird, ist die Verteidigung nicht bloß eine von vielen Optionen, die zur Verfügung stehen und die mit diesen anderen 111 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Jovan Babić
Optionen gleich ist. Im Gegenteil, Verteidigung ist eine selbstverständliche und verpflichtende Sache. Die Verteidigung ist nur Reaktion. Natürlich ist es möglich, die Verteidigung aufzugeben, aber nicht prinzipiell und im Voraus (vgl. Babić 2011). Das bedeutet jedoch, dass die Zuflucht zur Gewalt in jedem Augenblick eine Option darstellt. Das bedeutet, dass in diesem Sinne, der hier durch die Priorität der Ziele definiert ist, der Krieg und nicht der Frieden Vorrang hat. Und das bedeutet ferner, dass ein Teil der Friedensdefinition ist, dass das der Zustand der Dinge ist, in dem der Krieg vermieden worden ist. »Vermieden« bezeichnet hier keine Notwendigkeit: Man war schlichtweg im Stande und war erfolgreich darin, nicht zuzulassen, dass der Krieg geschieht. Aber wir können nicht im selben Sinne vom »Vermeiden des Friedens« oder vom »vermiedenen Frieden« reden. Der Frieden ist ein Ziel, Krieg nicht. Der Krieg ist nur Mittel – Mittel für den Frieden. Es gibt keinen möglichen Erfolg darin, »den Frieden zu vermeiden«, nichts, was man mit dem Erfolg beim Vermeiden eines Krieges vergleichen könnte. Auf eine Weise stellt dieser dialektische Aspekt des Verhältnisses zwischen Frieden und Krieg ihre Dynamik dar. Sie ist aber stark: Der Frieden setzt den Krieg als das Schutzschild, als das Refugium, als die Verteidigung voraus. Im Unterschied zum Krieg, der definitionsgemäß als noch zu beendender (das Kriegsziel ist, den Punkt seiner Aufhebung, den Sieg zu erreichen) Zustand der Dinge vorläufig ist, wird Frieden normativ als ein permanenter Zustand der Dinge konzipiert. Wenn man, wie es oft getan wird, den Krieg mit Tod assoziiert, so kann man den Frieden mit dem Leben assoziieren. Sagen wir also, dass der Frieden das Haus des Lebens ist. Offensichtlich meinen wir nicht den absoluten Frieden, jenen ewigen Frieden, den man auf den Friedhöfen findet, wie Kant sagt (vgl. Kant 1968c, 343) – in der Tat finden wir dort den Frieden, den totalen Frieden, aber ohne Leben! –, sondern einen dynamischen Zustand der Dinge, der dem gängigen Lebensbegriff entspricht. Das, was den Frieden so wertvoll und teuer macht, ist, dass er uns das Wertvollste fürs Leben und im Leben ist: die (gewisse) Überwindung der Zeit durch die Vorhersehbarkeit. Viel kürzer und vereinfacht können wir sagen, dass der Frieden uns die Kontrolle über die zukünftige Zeit gibt. Das ist das, was wir durch die Vorhersehbarkeit erreichen. Wenn wir das Leben als die Tätigkeit der Setzung der Ziele und der Versuch ihrer Realisierung definieren, dann ist offensichtlich, dass das Leben auf die Zukunft gerichtet und vom Vermögen der Kontrolle der zukünftigen Zeit abhängig ist. Das ist das, was uns 112 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Struktur des Friedens
die Gesetze geben. Die Gesetze setzen den Frieden voraus und sind von ihm abhängig. Der Hauptteil der Kriegsdefinition bestätigt dies: Der Krieg setzt notwendig die Suspendierung, die vorübergehende Aufhebung oder Verringerung einiger wichtiger Gesetze und mit ihnen verbundenen Rechten und Freiheiten voraus. Im Krieg gibt es keine Kontrolle über die zukünftige Zeit. Im Krieg ist die Zeit klar durch einen einzigen Punkt zweigeteilt. Dieser Punkt ist das Ende des Krieges – der Punkt des Sieges oder der Niederlage, der Punkt des errichteten Friedens. Indem er uns die Kontrolle über die (zukünftige) Zeit gibt, ist Frieden der Rahmen für die gesellschaftliche Macht sowie der Ausdruck der Distribution und der Artikulation dieser Macht. Neben dem Grenzpunkt des latenten Krieges macht die Artikulation der gesellschaftlichen Macht die Struktur des Friedens aus. Die ganze Sache funktioniert auf folgende Weise: Die Verfassungen und überhaupt die Gesetze müssen sowohl als verteidigungswert als auch als verteidigbar angenommen werden – und in der Tat als verteidigt (als wäre der Frieden das Ergebnis einer erfolgreichen Verteidigung, was in einem gewissen Sinne auch immer der Fall ist, unabhängig von der Tatsache, dass das nicht das Ergebnis eines wirklichen Krieges sein muss). Der Versuch der Verteidigung der Gesetze ist stets stark motivational bekräftigt. Die Gesetze könnten nicht funktionieren, wenn man proklamieren würde, dass sie nicht (normativ notwendig) angewendet werden. Vielmehr würde die Annahme der Position der Nichtverteidigung der Gesetze ihre Anwendbarkeit zerstören. Jeder Staat hat die legale Pflicht, sich zu verteidigen, die in seiner Pflicht der Anwendung der eigenen Gesetze enthalten ist. Diese Pflicht ist auch eine moralische Pflicht, solange das Bestehen (aller oder zumindest einiger) dieser Gesetze moralisch gerechtfertigt ist. Demnach scheint eine Deutung des Textes von Kant, die das Recht (und die Pflicht) nach sich zieht, die (anderen) Staaten dazu zu zwingen, dass sie ihre Gesetze aufgeben und sich dem einheitlichen und vereinheitlichenden universalen (Welt-) Gesetz unterwerfen, dass sich die ungehorsamen Staaten der Forderung nach dem »Eintreten« in den dem bürgerlichen analogen globalen gesetzlichen Zustand beugen, wobei die ungehorsamen Staaten (wegen ihrer andersartigen Artikulation des Friedens) zu abtrünnigen und kriminellen ausgerufen würden, und die dann noch unterstellt, dass dahinter die Vernunft selbst steht – all das scheint sehr totalitär und völlig der Grundlage jedes Gesetzes selbst entgegengesetzt zu sein, und das ist Freiheit! 113 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Jovan Babić
Für die Möglichkeit, dass in den Gesetzen, so wie es sein soll, die Freiheit verpfändet wird und dass die Gesetze aus ihr hervorgehen, ist es nötig, dass der Frieden als »Waffenstillstand« verstanden wird – ein Zustand, der kein perfekter, endgültiger, idealer endzeitlicher Zustand der Dinge ist! Denn das würde den Unterschied zwischen Recht und Moral zerstören, sowie den Unterschied zwischen Legalität und Moralität, der auf dem kategorischen Imperativ gegründet ist. Das wäre eine Moral, die die Perfektion der anderen verlangen würde, was aber im Gegensatz zum kategorischen Imperativ ist, der meine Sorge um die fremde moralische Vollkommenheit verbietet (die fremde moralische Vollkommenheit ist die fremde Verantwortung, sodann auch die fremde Sorge, und der Anspruch auf eine solche Übernahme würde die Nichtachtung ihrer Autonomie und zumindest den Paternalismus und vermutlich vieles mehr als nur das nach sich ziehen, was moralisch arrogant und moralistisch eine direkte Negation der Moral wäre: Es ist an anderen zu entscheiden, wie sie vorgehen und dafür die Schuld oder den Verdienst oder lediglich den Erfolg oder Misserfolg tragen werden, und nicht dass sie dazu gezwungen werden, gut zu sein). Unsere Moralpflicht ist auf die Domäne des Glücks der anderen begrenzt, auf die Pflicht, sie nicht daran zu hindern, ihre eigenen Ziele zu verfolgen und, wenn das in der Domäne unserer Macht liegt, ihnen in Not eventuell zu helfen. Ihre Tätigkeit ist moralisch vor unserer Einmischung geschützt, solange sie sich im Rahmen der legitimen äußeren Freiheit, die für alle gleich ist (der Freiheit, die mit Möglichkeiten und Gelegenheiten hantiert), befindet. Bis zu dem Punkt ist die fremde Tätigkeit die fremde Privatsache, die Sache des Rechtes aufs Glück, sowohl wenn es um die Einzelnen als auch um die von den Einzelnen (durch die freie Zustimmung) formierte Gruppe geht. Im Vorgang der gewalttätigen Unterordnung unter das »Welt«-Gesetz wäre die Privatheit dieser Freiheit zerstört und das gesamte Leben wäre insgeheim oder nicht unter dem Aspekt der Kontrolle des polizeilichen Typs subsumiert, mit dem ganzen Argwohn als einer universellen Voraussetzung. Vielmehr würde die Ermächtigung für die Einmischung in fremde Angelegenheiten zu unserem Recht und eigentlich zu unserer Pflicht werden. Diese Logik ist völlig sichtbar in der gegenwärtigen Praxis der »humanitären Militärinterventionen«. Sie ähneln sehr den polizeilichen Aktionen, wo die vorausgesetzte Macht-, Ermächtigungs- und Verantwortungsdistribution völlig asymmetrisch ist: Die ganze legitime Macht und die gesamte Ermächtigung ist ausschließlich auf einer Seite, während die 114 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Struktur des Friedens
andere Seite nicht mal das Recht auf Selbstverteidigung hat, sondern sie ist sogar verpflichtet, sich zu unterwerfen (vgl. Babić 2003). Frieden ist ein Begriff, der ein dichtes Netz von durch die gegenseitigen Vereinbarungen, aufgestellten Erwartungen, gebilligten und akzeptierten Androhungen von Sanktionen, Gesetzen etc. geschaffenen Freiheitseinschränkungen bezeichnet. All diese Einschränkungen machen, dass unsere schlechten Ziele schwieriger zu erreichen, aber nicht unerreichbar sind. Man kann versuchen, alle Ziele auch weiterhin zu erreichen, nur unter der Bedingung, dass wir so entscheiden; und unsere Macht, dass wir das wollen, ist auch weiterhin völlig real. 7 Die in den Gesetzen enthaltene Macht der Freiheitsbegrenzung ist nicht perfekt effektiv (es ist eine Macht der normativen Art, jener, die Kriterien hat, wenn sie angewendet wird) – die Freiheit wird immer ein Reservoir sowohl der Autonomie als auch der Gewalt sein. Das ist so, weil der bürgerliche der einzige gezügelte, gezähmte Zustand ist – der Zustand, in dem die »Natur« (d. h. die menschliche Natur, d. h. die Freiheit) gezügelt, aber nicht »abgeschafft« oder »aufgehoben« ist. Die legitime Freiheit, die ein Rest der natürlichen Freiheit ist, ist Freiheit in demselben Sinne wie auch die Freiheit, die Legitimitätsgrenze zu überschreiten, obwohl das nicht getan werden soll. Dass etwas nicht getan werden soll, bedeutet gerade, dass das getan werden kann und nicht dass es unmöglich ist, denn andernfalls könnte man nicht sagen, dass man es nicht tun soll. Die zwei Freiheiten, die Freiheit, die Gesetze zu achten oder zu brechen, sind von derselben Art, sind ein und dasselbe Vermögen. Daher kann diese gezügelte Kraft, wenn sie mit dem oben erwähnten totalitären Ideal des reinen und absoluten Friedens konfrontiert ist, in einer Gewalteruption ausbrechen oder sich in totale Resignation, in Apathie zurückziehen, in der der Sinn und der Wert der Zielsetzung an Kraft verliert und verschwindet und, was für uns besonders wichtig ist, die Zustimmung passiv, irrelevant, deplatziert und letztendlich entbehrlich Kant sagt, dass das Wollen eines Ziels notwendig nach sich zieht, dass auch das für die Verwirklichung dieses Ziels notwendige Mittel gewollt wird (es ist analytisch enthalten im Begriff des Wollens), und dann bleibt nur die Frage, ob es ein solches Mittel gibt und ob wir es wollen. Das bedeutet, dass unser Vermögen zu wollen, das viel kleiner als unser Vermögen zu wünschen ist, nur durch zwei Dinge begrenzt ist: durch die Natur, die manche Ziele mit den Mitteln ihrer Verwirklichung versorgt, und durch die Freiheit so zu entscheiden, wenn wir es wollen. Das bedeutet nicht, dass alles, was gewollt werden kann, auch gewollt werden soll (wobei es unmöglich ist, alles zu wollen, was man wünschen kann). Vgl. Kant 1968, 417; vgl. auch Babić 2011.
7
115 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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macht. Wenn sie jedoch als reine Gewalt ausbricht, die sich aus der aus dem Eindruck der Ohnmacht und der Erniedrigung entstandenen Verzweiflung speist (was ein unmittelbares Anzeichen der Konsensabwesenheit und des Sich-nicht-damit-abfinden-Wollens ist), dann wird signalisiert, dass der Frieden seine normative Kraft verloren hat. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Kontrolle schwer zu ertragen, der Sklaverei ähnlich geworden ist. Der Zweck der Freiheit ist, zu sein, was man ist, und nicht etwas anderes, etwas, das man nicht ist; dass man nicht unter einer derartigen Kontrolle ist, die man nicht anerkennt und die einen zwingt, sich mit etwas zu identifizieren, was man nicht will und was man nicht ist. Und wenn man oder wenn über einem gelenkt oder regiert wird, dann ist das mehr als Kontrolle. Und wenn man ohne eigene (ehrliche) Zustimmung gelenkt wird – ungeachtet dessen, ob »man« ein »Ich« oder ein »Wir« ist, ein Einzelner oder ein Volk (oder ein Staat) –, ist man nicht frei. Die Kontrolle, auch dann, wenn sie den Frieden gibt, gibt dem Frieden nicht notwendig jene Qualität, derentwegen der Frieden wertvoll ist: die Friedensgarantie. Die größere Qualität der Kontrolle ergibt einen stabileren Frieden, aber dieser Frieden muss nicht mit der Qualität des Friedens mithalten. Nicht jeder Frieden gibt eine Friedensgarantie, mancher Frieden kann Sklaverei aufrechterhalten oder sie erzeugen. Obwohl das durch die Dilemmas, die Entscheidungsschwierigkeiten und die Versuchung aufzugeben bereits auf der individuellen Ebene erscheint, entsteht auf der kollektiven Ebene ein echtes Problem, auf der das Ziel der Kontrolle, die Einheit, durch die Unterdrückung anderer Meinungen und Standpunkte erreicht wird, was, indem es die Einwilligung im reinen Gehorsamsakt oder die Rationalisierung abschafft, die Auferlegung des einen und die Geringschätzung des anderen Standpunktes nach sich zieht. Und das alles führt dann entweder zu einem Gewaltausbruch im Aufstand oder zur Aufgabe, Resignation und Apathie. Wenn möglich, dann ist die Lösung hier einfach: die Toleranz, das Zulassen der Unterschiede, die Bereitschaft, den anderen zuzugestehen, dass sie ihre Optionen, die uns nicht gefallen, die sie aber ohne unsere Einmischung frei wählen können, auswählen (auf dieselbe Weise, auf die auch wir unsere Entscheidungen selbständig und ohne Druck der anderen sollen fällen können), dass unser Nichtgefallen und unsere Nichtbilligung der fremden Wahlentscheidungen nicht unser Recht ist und nicht die Pflicht nach sich zieht, sie zu zwingen, das zu wählen, was wir für gut und das Beste halten, un116 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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geachtet dessen, dass wir überzeugt sind, gerade die beste wählbare Wahl getroffen zu haben. Es gibt keine Notwendigkeit, weder eine wirklichkeitsgemäße noch eine normative, dass meine Überzeugung oder die Verfassung meines Staates zu der Überzeugung oder der Verfassung aller Staaten, zu jedermanns Verfassung wird. Es gibt eine Menge verschiedener Geschmäcker und Wünsche (zu überleben, Sicherheit zu erreichen, Wohlstand zu erlangen – all das klingt völlig hobbesianisch) (vgl. Hobbes 1966, Teil I, Kap. VI) und das, was man da braucht, ist nicht universale Gehorsamkeit, sondern universale Toleranz. Das, was die Toleranz buchstäblich notwendig macht, sind die Grenzen der möglichen Identifikationen: Ich als der autonome Einzelne kann meine Freiheit mittels meiner Gesetze (was durch meine Zustimmung bestätigt wurde) auf meinen Staat delegieren oder übertragen und mich so mit jenem »Wir«, für das diese Gesetze die »unseren« sind, identifizieren. Die universale Identität scheint unmöglich zu sein: Sie würde irgendeinen relevanten Identitätsunterschied verunmöglichen und zur Folge haben, dass für mich nichts (mehr) besonders wichtig ist – wichtig wäre nur das, was als wichtig »gezählt« wird, was für jeden gleichermaßen wichtig ist, neben vielleicht einigen trivialen kleinen und laufenden Abweichungen, die aus den Zufällen der unterschiedlichen Umstände resultieren. Eigentlich schafft die universale Identität sowohl die Möglichkeit für als auch das Bedürfnis nach einer wirklichen Entscheidung ab. Jedes Unterscheiden und Auseinandergehen wäre entweder unmöglich oder trivial. Für unsere Abhandlung über die politische Verfassung des Friedens würde das bedeuten, dass mit der Beseitigung der Möglichkeit des relevanten, kardinalen, jedoch moralisch zulässigen Auseinandergehens auch das Bedürfnis nach der Zustimmung entfällt, die selbstverständlich (inhaltlich, in der Gesamtheit des Wichtigen und wirklich Wertvollen und nicht nur in der Annahme, dass es selbstverständlich ist, dass es einer Zustimmung im Einvernehmen über das Wichtige und Wertvolle sein muss!) geworden ist. Die Zustimmung und der Konsensus werden überflüssig und irrelevant. Es wird keinen Unterschied zwischen meiner freiwilligen (freien) Teilnahme an der Erschaffung des kollektiven gesetzgeberischen »Wir« und meiner unfreiwilligen Teilnahme an dem Prozess geben, und mein Beitrag zur Gestaltung kollektiver Entscheidungen und kollektiver Tatsachen wird völlig bedeutungslos und auch überflüssig. Dasselbe geschieht auch auf der Ebene der Sittlichkeit durch die aktive oder passive Teilnahme an der Anwendung der geltenden Wertkriterien: Es wird keine 117 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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ehrliche Identifikation geben mit »unseren« Sitten, mit dem Stolz auf unsere Erfolge oder mit der Trauer wegen allen unseren Unternehmungen, wegen allem, was wir tun. Stattdessen wird es entweder den Vergleich mit dem Fremden oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Eigenen geben. Jedoch, um dieses »Eigene« zu konstituieren, muss man einen Prozess der Herauslösung aus der Ganzheit der Welt durchlaufen und dem Rest der Welt zusprechen, nicht ein »Teil von uns« zu sein. Wenn ein unterschiedsloses »Untertauchen« in den Rest der Welt den Verlust der identischen Selbsteigenheit und eigentlich Sklaverei als die normative Irrealität des Entscheiders als Freiheitsträger bedeutet, so hat auch die »Sich«-Auferlegung einer Matrize der ganzen Welt dieselbe Auswirkung: die Unfähigkeit und die Unmöglichkeit der Herauslösung seiner selbst aus der Ganzheit und die Abwesenheit des »Selbst« (so dass ein solches Wesen, wie John Stewart Mill sagen würde, nur das »bloße affenartige Vermögen der Nachahmung« haben würde; Mill 2011, 187–188). Der Unterschied zwischen Freiheit und Sklaverei würde verloren gehen, nicht weil es empirisch schwierig wäre, dass die Menschheit als Ganzes zu einem gesetzgeberischen »Wir« wird, mit dem wir uns identifizieren (und dessen Gesetze wir ehrlich als »unsere Gesetze« erleben), sondern wegen einem stärkeren logischen Grund: weil es im Prozess der Identitätsbildung ein Bedürfnis nach dem Anderen gibt. Der Unterschied muss aufgestellt werden, um den Ort für die mögliche Autonomie zu konstituieren, wo die Freiheit als eine reale Macht zum Vorschein kommen kann. Im Identifikationsprozess haben die Anderen eine formative, konstitutive Funktion. Eine Identifikation mit allen ist keine Identifikation. Das, was in der Tat universell funktionieren kann und auch soll, ist die Pflicht zur universalen Achtung. Jedoch, gerade das gibt den Anderen das Recht, die Anderen und nicht dasselbe wie wir zu sein, und aus demselben Grund »uns« das Recht, nicht »sie« zu sein. Auf diese Weise wird nur derjenige eine Identität haben, der frei ist, der das Vermögen der Autonomie hat. Die Identität ist ein Ort, an dem die Möglichkeit der Freiheit zum Vorschein kommt, was dasselbe ist wie die Freiheit selbst. Ohne Freiheit gibt es keine Identität, aber auch umgekehrt: Wenn es keine Identität gibt, dann gibt es auch niemanden, der frei sein könnte. Man kann sich ohne Schwierigkeiten vorstellen, dass sich alle Menschen, alle menschlichen Wesen bei einer Gefahr, die z. B. aus dem All oder von einer die ganze Menschheit bedrohenden Naturkatastrophe kommt, zusammentun. Jedoch scheint es so, dass die 118 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Natur dieses Zusammenschlusses in hohem Maß von der Natur der Gefahr abhängen wird: Bei einer Naturkatastrophe reicht die Zusammenarbeit und die gemeinsame Aktion aus und es ist keine dauerhafte und ernsthafte Identifikation nötig. Beim gegenseitigen Helfen in Not funktioniert die Identifikation als eine Quelle der Pflicht, meint aber nicht die Aufhebung der Unterschiede, die die Anderen zu den Anderen machen. Dann werden wir erwarten, dass das alte Wertsystem (oder zumindest ein im relativen Sinne dem alten ähnlicher Zustand der Dinge) erneut aufgestellt wird, nachdem die Gefahr vorüber ist. Wenn jedoch die Gefahr einen Angriff einschließen würde, der normativ als »Aggression« im Sinne eines Angriffs durch andere rationale Wesen (z. B. eines Angriffs aus dem All) charakterisiert werden könnte, dann – und nur dann – könnte sinnvoll über eine politische Vereinigung der Welt nachgedacht werden, deren Ergebnis in diesem Moment nach der Erschaffung einer einzigen Nation auf der (ganzen) Welt aussehen würde. Dies würde uns alle dazu zwingen, uns nicht nur bei der gemeinsamen Zusammenarbeit zu einigen (die neben ihrer Notwendigkeit ansonsten auch durch das Prinzip der universalen Hospitalität gesichert ist, das die Annahme aller mit guten Absichten Kommenden verlangt), sondern über eine einheitliche und gesetzgeberische Ganzheit. Genauso kann man sich leicht vorstellen, dass eine solche Gemeinschaft, die unitär ist, wie ein Staat, der sich verteidigen muss, fortbestehen würde, wenn die Angreiferseite auch weiterhin eine reale und relevante Bedrohung darstellen würde. Wenn es uns jedoch gelingen würde, alle Angreifer zu zerstören, dann wären wir mit der Frage konfrontiert, ob die Erinnerung an die überwundene Gefahr ausreicht, um die neuentstandene Union in eine dauerhafte Nation umzuwandeln und damit den dauerhaften, »ewigen« Frieden zu sichern, in dem die bloße Möglichkeit des Krieges »überwunden« wäre!? Oder ist es wahrscheinlicher, dass dieser neuerrichtete, rechtlich verbindliche Staatenbund, wenn nicht aufgelöst, dann wegen der Unmöglichkeit der Formierung der einheitlichen politischen Weltidentität doch allmählich auseinander fallen würde? Es scheint so, dass man bei Kant eine feine Bekräftigung für das zweite finden kann. Im Paragraph 61 der Metaphysik der Sitten sagt er Folgendes: »Weil aber bei gar zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats [dem Entstehen nach analogen zum Entstehen des Volksstaats] über weite Landstriche die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Glieds endlich unmöglich werden muß, eine Menge solcher Corporationen aber wiederum ein Kriegs119 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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zustand herbeiführt: so ist der ewige Friede (das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) freilich eine unausführbare Idee.« (Kant 1968b, 350) Mein eigener Standpunkt ist, dass der Krieg ein notwendiges Mittel für die Verteidigung des Gesetzes und des Friedens ist und dass das etwas ist, worüber nicht ad hoc entschieden wird, weil die relevante Entscheidung bereits durch den Akt der Verlautbarung des Gesetzes (der Verfassung) »gefällt« wurde. Das Problem liegt nicht im Krieg, sondern im Frieden. Der Frieden ist hier die problematischere Sache. Das ist die Sache jener Freiheitsartikulation, die sich in der Struktur und Distribution der gesellschaftlichen Macht spiegelt: Was wird die Struktur und die Rangordnung der möglichen legitimen Ziele, welche wird die Struktur der legitimen Distribution der Ergebnisse und Errungenschaften sein, welche Kriterien werden in dieser Struktur akzeptiert und angewendet und im welchem Verhältnis werden diese Kriterien zum Gerechtigkeitsprinzip stehen? Das ist es, was definiert, wer und wie regieren und was verboten sein wird. Am Ende können wir folgern, dass die Friedensstruktur aus uns selbst besteht, daraus, wer und was wir sind und was wir wollen, was die Ziele sind, die wir uns setzen und zu realisieren versuchen. Das wird ein geltendes Gefühl der gemeinsamen Gerechtigkeit erzeugen, das auf einem begrenzten Raum und innerhalb einer bestimmten Zeit gelten wird. Der Inhalt dieses Gefühls wird immer einen Anspruch darauf erheben, sich mit dem endgültigen Gerechtigkeitskriterium zu decken, obwohl das niemals der Fall sein wird. Die Freiheit und die Zeitlichkeit bzw. die Temporalität, als zwei Hauptbestandteile des Lebens, sichern, dass diese Frage, obwohl sie vorübergehend beantwortet (gelöst) wird, dennoch stets prinzipiell offen bleibt. Die Ziele, die wir setzen, können nicht im Voraus fixiert werden, weil sie eine Sache des freien Entscheidens sind (der Wahl zwischen vielen Möglichkeiten, die sich anbieten und die alle gleich legitim sind). Diese Ziele müssen rational (begründet) sein, sogar auch in einer aus Teufeln bestehenden Gesellschaft (vgl. Kant 1968c, 366). Sie müssen in einem Netz aus gewährten und möglichen Errungenschaften und Besitztümern strukturiert und angeordnet sein. Der Erfolg wie auch der Besitz sind konstitutive Teile des Netzes, des endlichen Lebensinhaltes, und all das muss in einer völlig bestimmten, spezifischen und singulären Struktur und in der Machtartikulation ausgedrückt werden. Aber das alles ist überhaupt möglich, weil die Existenz (das Gelten) des Gesetzes Vorhersagbarkeit zulässt. Wir können, und müssen uns selbst diese Vorhersagbarkeit sichern, sie ist der Schlüsselteil zu dem, 120 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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was wir sind (vielmehr: In dem Maße, in dem wir entscheiden, uns selbst diese Vorhersagbarkeit zu gönnen, werden wir Entsprechendes im Leben erreichen können; ohne das gibt es keine Errungenschaft und noch weniger eine Akkumulation der Errungenschaften). Das schließt auch den Krieg ein, der, obwohl er in einem Moment als eine bloße Naturerscheinung zu funktionieren beginnt (der Augenblick ist jener unumkehrbare Punkt, nach dessen Überschreiten es keine Rückkehr auf ein dem Anfang ähnliches Etwas gibt), dennoch aufgrund unserer Entscheidung angefangen wird. Frieden ist das, was wir aus uns gemacht haben, das, was wir sind, aber der Krieg ist ein Teil dieser Ganzheit. Das Vermögen der Wahl des Bösen ist ein unvermeidbarer und notwendiger Teil jeder Freiheit (vgl. Babić 2004). Wir haben gute Gründe, diesen Teil des Ganzen an Möglichkeiten nicht zu wählen, er wird aber immer bei uns sein – solange wir frei sind. Demnach ist die Dauer des Friedens notwendig vorübergehend, obwohl der Frieden ein Zustand der Dinge ist, in dem Krieg erfolgreich vermieden wurde. Der Frieden kann nicht dauerhaft werden. Das ist eigentlich das, was Kant in seinen Werken Die Metaphysik der Sitten und Zum ewigen Frieden sagt. Übersetzt von Željko Radinković aus dem Serbischen
Literatur: Babić, J. (1991): »Kantova koncepcija dužnosti« [Kants Konzept der Pflicht], Theoria 2. – (2003): »Foreign Armed Intervention: Between Justified Aid and Illegal Violence«, in: A. Joki (Hg.): The Ethics of Humanitarian Intervention, Calgary: Broadview Press; erneut gedruckt als »Strana vojna intervencija: izmedˉu opravdane pomoći i nezakonitog nasilja«, in: J. Babić u. P. Bojanić (Hg.), Humanitarne vojne intervencije, Belgrad: Službeni glasnik, 2008. – (2004): »Toleration vs. Doctrinal Evil in Our Time«, in: The Journal of Ethics, Vol. 8. – (2011): »Ispravno i nužno. Ogled o odbrani« [Das Richtige und das Notwendige. Ein Versuch über die Verteidigung], Filozofski godišnjak 24 [Philosophisches Jahrbuch]. – (2011b): »Vrednovanje i tumačenje« [Auswertung und Interpretation], Theoria 4. Babić, J. u. Bojanić P. (Hg.) (2010): World Governance, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing (Paperback 2013).
121 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Jovan Babić – (2012): Globalno upravljanje svetom, Belgrad: Pravni fakultet Univerziteta u Beogradu, Dosije studio. Cavallar, G. (1999): Kant and the Theory and Practice of International Right, Cardiff: University of Wales Press. Hobbes, T. (1966): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. I. Fetscher, aus dem Englischen v. W. Euchner, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kant, I. (1968): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe, Bd. IV, Berlin: de Gruyter. – (1968b): Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin: de Gruyter. – (1968c): »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, in: Akademie-Textausgabe, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin: de Gruyter. Ludwig, B. (2004): »Condemned to Peace? What Does Nature Guarantee in Kant’s Treatise of Eternal Peace?«, Filozofski godišnjak 17. Mill, J. S. (20112): Über die Freiheit, aus dem Englischen v. E. Wentscher, neu hrsg. v. H. D. Brandt, Hamburg: Meiner.
122 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Sektion 2: Vertrauen
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Burkhard Liebsch
Transparenz und/oder Vertrauen. Revisionen zeitgemäßer Ideen öffentlicher Sichtbarkeit in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens
[…] the modernist faith that visuality and rationality can be reconciled was decisively rejected. […] but the power of visuality has certainly survived the attack. Martin Jay (1994, 585; 594) Das Licht gibt dem Denken die reine Sichtbarkeit zum Maßstab. Maurice Blanchot (2003, 83) […] unauflösliche Verbindung zwischen dieser Sichtbarkeit, dieser Transparenz, und dem Urteil der Bürger. Marcel Hénaff (2011b, 106) Das Leben ist aber nicht lebbar, wenn man des Vertrauens beraubt ist. Georgias v. Leontinoi 1
Unfrieden ist zweifellos ein weiter Begriff, unter den vieles fällt, allzu vieles, werden manche sagen. Doch drängt gerade dieser Begriff sich auf, wo weder offener Krieg noch auch wirklicher Friede herrscht. Von letzterem haben wir heute kaum mehr eine Vorstellung, die sich mit der politischen Wirklichkeit verknüpfen ließe. Kann und wird überhaupt je Friede »herrschen«? Oder bleibt der uns erreichbare Frieden allemal eine höchst prekäre zwischenmenschliche, politischinstitutionell nur indirekt zu stabilisierende Angelegenheit? Und beginnt er nicht schon in dem Moment zu verfallen, wo man glaubt, er »herrsche« tatsächlich, so dass man sich nicht mehr um ihn sorgen müsste? Wenn ein echter, das konnte für Kant nur heißen: ein ewiger Friede nicht in Reichweite ist, auf den man wirklich vertrauen könnte, 1
Zit. n. T. Schirren, T. Zinsmaier 2003, 99.
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Burkhard Liebsch
bleiben wir dann nicht einem Naturzustand auf Dauer verhaftet, der zwar nicht in einen »klassischen« und ohne weiteres erkennbaren Krieg münden muss, aber ständig mehr oder weniger den bedrohlichen offenen Ausbruch von Feindseligkeiten befürchten lässt, die sich heute weniger denn je an eine konventionelle Form halten? So gesehen muss tatsächlich der Unfrieden unsere Hauptsorge sein, so wie er nach Kriegen gleich welcher Art oder vor neuen Gewaltausbrüchen herrscht, sei es in Gestalt andauernder Feindseligkeiten, in denen man die kommende Gewalt buchstäblich herbeiredet, sei es in fortgesetzter Polemik, die das politische Klima vergiftet, durch ständige Diskriminierung von Minderheiten oder auch in nur mit Mühe unterdrückten Ressentiments, die das soziale Leben nach und nach zerrütten. Wo das schließlich der Fall war und ganze Staaten wie auf dem Balkan zerfallen sind, herrscht bis auf Weiteres vielfach ein amorpher Residualzustand zwischen Krieg und Frieden, in dem man nicht mehr weiß, worauf überhaupt noch Verlass ist, zumal die Bevölkerung in gescheiterten oder mutwillig zerstörten Staaten schlimmste Gewalt in Erinnerung hat, deren sog. Aufarbeitung eine schier unlösbare Aufgabe darzustellen scheint, von einer wirklichen Versöhnung ganz abgesehen, von der man kaum zu sprechen wagt. 2 In einer solchen Lage, wo der gesellschaftliche Unfrieden schier ausweglos herrscht und nicht zuletzt durch die Erinnerung der einen und durch das brutale Vergessen der anderen immer wieder angefacht wird, sollen sich nun aber zwei Phänomene bewähren, von denen man zwar noch keine effektive Befriedung, wohl aber die Eröffnung eines politischen Weges dorthin erwartet: Transparenz und Vertrauen. Im Folgenden gehe ich dem inneren, in den eingangs angegebenen Zitaten bereits anklingenden Zusammenhang von Transparenz und Vertrauen nach und werfe in einer sozialphilosophischen Untersuchung die Frage auf, was man sich von diesen Begriffen erwartet bzw. erwarten kann, und was nicht. Dabei kann ich im verfügbaren Rahmen auf politische und sozialwissenschaftliche Beschreibungen konkreten, in jedem Fall anders ausgeprägten gesellschaftlichen Unfriedens nur en passant Bezug nehmen, habe sie aber immer wieder mit im Blick.
Vgl. Verfolgung und Vertreibung. Zum Streit um Perspektiven der Versöhnung; epd Dokumentation 31/32 (2011).
2
126 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Transparenz und/oder Vertrauen
1.
Einführung
Einen scheinbar unüberbietbaren Anspruch entfaltete Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes, wo er zeigte, wie die beharrliche »Arbeit des Negativen« nach und nach ein Wissen hervorzubringen vermag, das endlich reflexiv, sich selbst wissend und restlos durchsichtig werden muss, wie er meinte. Was auch immer als intransparent begegnen mag, bis das Telos eines absoluten Geistes verwirklicht ist, wurde so zum bloß Vorläufigen herabgestuft oder aber wie das radial Fremde gänzlich ausgeschieden aus dieser Theorie der Vernunft, die vor der Exteriorität des Anderen als einer »Nacht der Welt« zurückschreckte, ohne jemals wieder bei einem »ruhigen unmittelbare[n] Vertrauen« Zuflucht suchen zu dürfen. 3 Inzwischen hat man diese Philosophie der Transparenz zwar vielfach revidiert und ihr eine ihr selbst innewohnende, untilgbare Intransparenz nachgewiesen (vgl. Gamm 2012, 116, 130 ff.). Aber es grassieren ungeachtet dessen Phantasmen einer »restlosen« Durchsichtigkeit für Andere, die mit dem Ungeist einer technischen, auf einseitige Kontrolle, instrumentelle Manipulation und ökonomische Verwertung aller möglichen Informationen abzielenden Vernunft in Verbindung gebracht werden, die keinerlei Vertrauen erweckt. So wird Intransparenz womöglich zur Zuflucht und das dem Wissen und jeglichem Zugriff Entzogene zur letzten Hoffnung derer, die glauben, niemand könne oder dürfe in Wahrheit einer restlosen Sichtbarkeit ausgeliefert werden. Auf diesem Wege macht eine Apologie der Unsichtbarkeit rhetorisch Karriere, die nicht müde wird, eine weder dem sinnlichen Sehen noch auch der Gnosis begrifflicher Einsicht zugängliche Alterität zu beschwören, die nicht als absolut befremdliche Nacht des Verstehens und des Begreifens gewissermaßen vergessen oder verdrängt, sondern als Herausforderung der Achtung jedes anderen als eines Anderen zur Geltung gebracht werden soll. Das geschieht allerdings in einer Zeit, in der sich (inzwischen Milliarden) Menschen in der Nutzung virtueller Medien in gänzlich unerwarteter Manier selbst der »Sichtbarkeit« durch anonyme Andere ausliefern (vgl. Grimm und Badura 2011); vielleicht deshalb, weil sie hoffen, in einer unüberschaubaren Sozialität wenigstens auf diese Weise sozial zu existieren, sei es auch um den Preis einer Alteritäts-
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Hegel 1987, 172; 1980, 513; vgl. Liebsch 2010.
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vergessenheit, die es eines Tages gestatten könnte, die Frage, was man von einem Menschen wissen kann, algorithmisch zu erledigen (vgl. Sartre 1977, 7). Idealisierungen aufgeklärter Durchsichtigkeit, der Verständlichkeit (für das »Auge des Begriffs«, wie Hegel sich ausdrückte) und einer reflexiven, vermeintlich sich selbst transparenten Vernunft sind zwar vielfach rigoroser Kritik unterzogen worden. Und diese Kritik hat vor Begriffen wie »Einsicht«, »Aufklärung« und »Transparenz« nicht Halt gemacht. So lehrte Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung, wie sich ein rückhaltlos auf diese Begriffe verpflichtetes Denken gegen uns wenden kann. Dessen ungeachtet gilt im öffentlichen politischen Diskurs Transparenz nach wie vor fast uneingeschränkt als hohes Gut, insofern sie unverzichtbare Ansprüche an die institutionelle Grundstruktur einer politischen Lebensform betrifft. 4 Man sagt, sie sei in liberalen und demokratischen Gemeinwesen und im Fall ihrer erforderlichen Wiederherstellung schlechterdings grundlegend für eine freie Willensbildung und eine fundierte Wahlentscheidung, die Einsicht in durchsichtig gemachte Angelegenheiten öffentlichen Interesses voraussetze; sie gestatte es den Bürgern, diese Angelegenheiten nicht nur wahrzunehmen, sondern sich auch darüber zu beschweren, wenn ihnen nicht angemessen Rechnung getragen wird; und sie ermögliche auf dieser Basis politische Mitwirkung, begründe (oder regeneriere) damit Loyalität und Bürgernähe einer andernfalls gefährlich vom demos entfremdeten Politik. Nur als so weit wie möglich transparent gemachte sei letztere schließlich auch verständlich, erfahre ihrerseits Akzeptanz und erwecke Vertrauen. Im Allgemeinen ist mit Transparenz indessen kaum mehr gemeint, als dass man politische Prozesse in Grundzügen verständlich, nachvollziehbar und einsichtig findet bzw. finden will, auch wenn man sie gegensätzlich beurteilt. Wäre Transparenz in dieser Form weitgehend gegeben, hätten wir freilich kaum Anlass, nach diesem Begriff zu fragen. Das tun wir aber, wenn wir die Erfahrung der Intransparenz machen; und zwar einer Intransparenz, die sich nicht nur zufällig dann und wann bemerkbar macht, sondern im Verdacht steht, systematisch politische Grundstrukturen und das Zustande»Fast« muss man sagen, denn es kann nicht verschwiegen werden, dass sie in den Verdacht eines euphemistischen Missbrauchs geraten ist, wie man ihn in einem neoliberalen Fahrwasser häufig feststellt; vgl. Ehrenburg 2012, 472 f.
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kommen der wichtigsten Entscheidungen zu betreffen, die in einem Gemeinwesen zur Diskussion stehen. Unter der Voraussetzung systematischer Unverständlichkeit, Nichtnachvollziehbarkeit und Uneinsichtigkeit wird die Forderung nach Transparenz laut und nimmt in dem Maße einen verschärften Ton an, wie Grund zu der Annahme besteht, an der beklagten Intransparenz hätten Andere ein Interesse und sie werde womöglich absichtlich herbeigeführt oder aufrechterhalten. Dieser Verdacht kann von der Anderen zugeschriebenen Taktik der Verschleierung in normaler Lobbyarbeit, die die Organe des Staates infiltriert, über fragwürdige, mit versteckten Nebeneinkünften verknüpfte Loyalitäten, die an Bestechlichkeit grenzen, bis hin zu handfesten Intrigen gewisser Seilschaften, die den Zusammenbruch eines alten Regimes überdauert haben, und zum Hochverrat reichen. Breitet dieser Verdacht sich aus, vergiftet er das sog. politische Klima am Ende genauso wie all das, wogegen er sich zunächst richtet. So liegt nicht nur in systematischer Intransparenz, sondern auch in dem Misstrauen, das sie hervorruft, eine eminente Herausforderung für jedes politische Gemeinwesen, das darauf angewiesen ist, sich auf der Basis seiner allgemeinen Verständlichkeit auch als seinen Mitgliedern gegenüber legitim zu erweisen und in beiden Hinsichten Vertrauen zu verdienen. Eine mehr oder weniger tief greifende Krise, in der das nicht mehr der Fall ist, stellt sich nun aber keineswegs von sich aus ohne weiteres als eine Krise der Transparenz dar. 5 Mit diesem Wort wird vielmehr in spezifischer, historisch voraussetzungsreicher Art und Weise eine Vertrauenskrise mit einer normativen Implikation auf den Begriff gebracht, die suggeriert, wie diese Krise zu beheben wäre: durch eine Aufklärung nämlich, die »durchsichtig« zu machen hätte, was sich zunächst als »undurchsichtig« darstellt und somit dem rationalen Verstehen, Begreifen und Urteilen entzieht. So steht am Anfang der Forderung nach Transparenz das mangelnde Vertrauen. Auf die Herausforderung des Misstrauens wird dann aber nicht mit dem Versuch geantwortet, Vertrauen unmittelbar »wiederherzustellen«, wie eine gängige Redeweise lautet. Vielmehr soll das Vertrauen durch Oft ist dagegen eine solche Krise als eine Art Treuebruch beschrieben worden, in dem es sich um einen Bürgerverrat (E. W. Böckenförde, Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1999, 276 ff.) oder um einen Staatsverrat an den Bürgern handelt. Vgl. M. Buber, »Sie und Wir. Zum Jahrestag der Kristallnacht (November 1939)«, in: Politische Schriften, Frankfurt/M. 2010, 738.
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Transparenz, d. h. durch eine spezielle, politisch gedeutete Art der »Sichtbarkeit« wiedergewonnen werden. Diese, vor allem auf allgemein zugängliches Wissen gestützte politische Sichtbarkeit soll erneuertes Vertrauen ermöglichen. Den Weg aus der Krise soll trotz mangelnden Vertrauens eine Transparenz weisen können, der man zutraut, Vertrauen wiederherzustellen, ohne selbst auf Vertrauen angewiesen zu sein. Verspricht aber Transparenz, von sich aus Vertrauen in das Gemeinwesen – bzw. in Andere, die verantwortliche Positionen in ihm einnehmen – wiederherzustellen? Ist Transparenz nicht ihrerseits auf Vertrauen angewiesen? Setzt sie also in einer Krise des Misstrauens nicht selbst ein Vertrauen voraus, das in ihr gerade nicht gegeben zu sein scheint? Richtet sich das Misstrauen auf Andere, in die wir buchstäblich nicht hineinsehen können, kann ihm dann eine Transparenz entgegenwirken, die gerade die politische Sichtbarkeit dessen verbürgen soll, was Andere uns auf illegitime Art und Weise vorenthalten haben (vgl. Liebsch 2015)? Liegt hier nicht ein kaum zu überbrückendes Missverhältnis zwischen Vertrauen und Misstrauen einerseits, Transparenz und Intransparenz andererseits vor? Dürfen wir wirklich erwarten, als politische Sichtbarkeit könne Transparenz wie eine Art Ersatz für Vertrauen fungieren, ohne ihrerseits Vertrauen vorauszusetzen? Erfordert sie nicht wenigstens Vertrauen in diese Sichtbarkeit? Um was für eine Sichtbarkeit kann es sich speziell in politischer Hinsicht überhaupt handeln? In ideengeschichtlicher Perspektive liegt zweifellos die Antwort nahe, dass es um eine Sichtbarkeit für den Bürger (civis) geht, der einer Bürgerschaft (civitas) bzw. einer politischen Lebensform (bios) angehört. Im Rahmen einer solchen Lebensform, so lehrt es die Politische Philosophie der Antike, bedeutet politische Sichtbarkeit Öffentlichkeit in dem Sinne, dass alles Öffentliche dem Blick und der kritischen Beurteilung derjenigen ausgesetzt ist, die ihr zugehören (vgl. Geuss 2002, 58 f., 76). Das Konzept der Öffentlichkeit verstehen wir ungeachtet aller einschneidenden virtuellen Transformationen, die sie inzwischen durchgemacht hat, nach der festen Überzeugung von Marcel Hénaff nach wie vor so, dass es eine nicht aufzulösende innere Verbindung zwischen transparenter politischer Sichtbarkeit einerseits und dem Urteil der Bürger andererseits impliziert (vgl. Hénaff 2011b). Dieses Verständnis politischer Sichtbarkeit wirft allerdings viele ungelöste Fragen auf. So ist fraglich, ob es sich auch dann aufrechterhalten lässt, wenn diese Sichtbarkeit kaum mehr an einem privi130 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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legierten Ort (meson; agora) oder in einem Raum (polis) konkret Gestalt annehmen kann; wenn sie Fremde jenseits abgegrenzter Lebensformen einschließen soll, so dass ganz und gar fraglich wird, wie ein – in sich vielfach gespaltener – demos (vgl. Rancière 1998, 84; 2000) zwischen Gleichen eine (Welt-)Bürgerschaft (politeia) sollte bilden können; wenn sie unter diesen Bedingungen gleichsam neue Aggregatzustände virtueller, dezentrierter, offener, flexibler und spezifischer Vernetzungen annehmen muss etc. Wenn darüber hinaus sogar ein »Verschwinden des öffentlichen Raumes im traditionellen Sinne« des Wortes festzustellen ist, wie Hénaff in seinen Erörterungen einer »globalen Urbanität« diagnostiziert, die die Welt zur Stadt werden lasse 6, wie kann dann unter diesen Bedingungen noch ein »Raum des Öffentlichen« (ebd., 108) Bestand haben, der allgemeine politische Sichtbarkeit für alle zu garantieren hätte, die sie angeht? Laufen die Bedingungen komplexer Vernetzungen multipler Öffentlichkeiten nicht einer allgemeinen Öffentlichkeit zuwider, die wir traditionell mit der Vorstellung eines zentralen, allen Bürgern zugänglichen Ortes politischer Sichtbarkeit verknüpfen? Gehen Öffentlichkeit und Sichtbarkeit politisch noch so ohne weiteres zusammen, wenn wir uns beide Konzepte dezentriert denken müssen (vgl. Geuss 2002, 121)? Lässt sich Sichtbarkeit noch mit Transparenz geradezu gleichsetzen, wie es Hénaff an der zitierten Stelle suggeriert? Und können beide Konzepte heute – nach Jahrzehnten radikaler Kritik an der Metaphysik des Lichts, an der Modernität der an diese Metaphysik sich anlehnenden Aufklärung und nach einer rigorosen machtkritischen Befragung des Auges und des Sehens (in seinen wörtlichen und auf menschliches Wissen übertragenen Bedeutungen) als deren bevorzugte Organe und Modalitäten der Erfahrung – überhaupt noch begrifflich attraktiv erscheinen (vgl. Blanchot 2003, 83)? Folgen wir Martin Jay 7, der sich mit diesen Fragen in ideengeschichtlicher Perspektive ausführlich auseinander gesetzt hat, so kann die auf eine optisch-physikalische Analogie sich stützende Forderung nach Transparenz als solche nur vor dem historischen Hintergrund der Durchsetzung eines »okularen Regimes« verstanden werden, welches dem Sehen, der (perspektivischen) Durchsicht und der Nicht ohne dass die Stadt ihrerseits nunmehr aufhöre, eine Welt zu sein, wie Hénaff meint (2011b, 98). 7 Zur Kritik am Ansatz M. Jays vgl. Liebsch 1995. 6
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Souveränität eines auf luzide Visualität und Evidenz angelegten Subjekts alle Klarheit und Einsichtigkeit menschlicher Rationalität vorbehielt. Obgleich dieser ideengeschichtliche Hintergrund inzwischen verblasst ist, gilt Transparenz immer noch – wenn auch vielfach nur metaphorisch – als zentraler Anspruch einer Rationalität, die sich als eine Form des Sehens und nach dem Vorbild idealisierter Leistungen einer visuellen Perspektivität verstehen lassen sollte. 8 Jay verteidigt zwar keine Gleichsetzung von Transparenz und »perfekter Intelligibilität« (Jay 1994, 86); und er versucht seine Leser nicht von einer gleichsam schattenlosen, von jeglicher Opazität befreiten Rationalität zu überzeugen, die nach dem Vorbild restloser Klarheit zu denken wäre, wie man sie dem »nobelsten« aller Sinne (vgl. Jonas 1973), dem Sehen, aber auch dem menschlichen Erkennen vor allem seit Descartes zugeschrieben hat (Jay 1994, 90 f., 588). Jedoch verteidigt Jay eine ungeachtet aller Kritik am sinnlichen und theoretischen Sehen für ihn nach wie vor denkbare »Versöhnung von Sichtbarkeit und Rationalität«, auf deren Basis allein auch am »modernen Projekt der Aufklärung« festzuhalten und die moderne und postmoderne Vernunftkritik davor zu bewahren sei, in einen irrationalen Obskurantismus zurückzufallen (vgl. ebd., 585, 588 f.). Allerdings ist fraglich, ob sich der heutige normale Sprachgebrauch in der Rede von Transparenz und politische Forderungen, die sich auf diesen Begriff stützen, überhaupt mehr als nur vage und »rhetorisch« an die von Jay aufgerufene Überlieferung anlehnen. Insofern kann man nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, von welchen Ideen sich diejenigen leiten lassen, die Transparenz in einer mehr oder weniger akuten Krise des Misstrauens in ihr Gemeinwesen oder nach dessen Zusammenbruch polemisch einfordern, und worauf diese Forderung eigentlich hinaus will. – An dieser Stelle ist mit einer unbedachten metaphorischen Rede von Transparenz nicht weiterzukommen. Denn prima facie ist sie tatsächlich kaum geeignet, erschüttertes Vertrauen in als intransparent erlebtes Handeln Anderer, in ihre Politik bzw. in das Politische als solches zu erneuern. Das zeigt sich in einer ersten sprachkritischen Besinnung auf die physikalischoptische Analogie, deren man sich vielfach in einer Art und Weise Auch dort, wo schließlich eine a-perspektivische Rationalität verteidigt wird, die nicht mehr von der Endlichkeit partikularer »Sichtweisen« abhängig sein sollte, wird sie meist als Transzendierung jener Perspektivität begriffen, so dass sie letztere unumgänglich voraussetzt; vgl. Ricœur 1989, zweites Kapitel.
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bedient, die den Sinn der Forderung nach Transparenz geradezu konterkariert. 9
2.
Zur metaphorischen Rede von Transparenz
Als »transparent« gilt im üblichen politischen Sprachgebrauch, woran nichts Verborgenes, insbesondere nichts Geheimes ist, das der öffentlichen Wahrnehmbarkeit, der Beurteilbarkeit und der Anfechtbarkeit durch Andere entzogen wäre, sei es unabsichtlich, sei es mit der ihrerseits öffentlich unkenntlichen Absicht der Irreführung, der Täuschung, der Geheimhaltung aus welchen konkreten Gründen auch immer. Umgekehrt dürfte das Transparente in öffentlicher Hinsicht als vollkommen Unverborgenes gelten. Nichts wäre demnach an ihm, was nicht ohne weiteres zumindest öffentlich sichtbar gemacht werden könnte. Von »Sichtbarkeit« kann hier nur in einem elliptischen Sinne die Rede sein, denn sie impliziert komplexe Bedingungen der öffentlichen Zugänglichkeit, der Hörbarkeit, der öffentlichen Darstellbarkeit, der Lesbarkeit, Anfechtbarkeit etc. dessen, was als ganz und gar transparent gilt. Ohne spezielle Rücksicht auf diese komplexen Bedingungen suggeriert der Begriff der Transparenz zweifellos jedoch eine reichlich abgegriffene Metaphorik der Visualität, die kaum mehr als im Sinne Ricœurs »lebendige« (Ricœur 1986) gelten kann, denn die zweifelhaften visuellen Implikationen, die mit der Forderung nach Transparenz einhergehen, werden kaum je eigens bedacht. Infolgedessen ist auch der Zusammenhang zwischen Transparenz (als idealiter restloser öffentlicher Sichtbarkeit) einerseits und Vertrauen andererseits, das wir in Andere setzen, obgleich all das, was man gemeinhin ihrem Inneren zuschreibt, keinerlei direkten »Einblick« erlaubt, weithin unaufgeklärt. 10 Im beschränkten Rahmen dieser Untersuchung konzentriere ich mich im Folgenden auf eine Erörterung dieser Forderung selbst, ohne den angedeuteten transnationalen und globalen Implikationen virtuell transformierter Öffentlichkeit(en) nachgehen zu können. 10 Vgl. dazu J. Starobinskis Ausführungen zu Rousseau, die in französischer Sprache unter dem Titel La Transparence et l’obstacle erschienen sind. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Autor die Rousseausche Not der Erfahrung, einer Welt der Intransparenz ausgeliefert zu sein, im Sinne des generalisierten Verdachts deutet, belogen und getäuscht zu werden (Starobinski 2003, 22–26). Dieser Erfahrung wird die 9
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Kant legte einen solchen Zusammenhang in seinem Entwurf Zum Ewigen Frieden nahe, wo er behauptete, Recht und Politik könnten ihren Zweck (die Glückseligkeit des Volkes zu gewährleisten) nur erfüllen »durch die Publizität, d. i. durch die Entfernung alles Misstrauens gegen die Maximen derselben« (Kant 1977, 250) – vor allem insoweit sie auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen betreffen (ebd., 245). Wenn wir die Publizität wie angedeutet reinterpretieren, wird so ein indirekter Zusammenhang von Transparenz und Vertrauen erkennbar. Publizität kann, wenn wir Kant folgen, gewissermaßen als politische Operationalisierung von Transparenz gelten, insofern von ihr zu erwarten ist, dass sie dem Misstrauen in die Beweggründe des Handelns Anderer entgegenwirkt (oder es sogar »entfernt«, wie es an der zitierten Stelle heißt). Indessen spricht Kant selbst nicht von Transparenz. Und er argumentiert primär nicht in den Registern des Sehens und der Sichtbarkeit, sondern in den Registern der Rede, der Sagbarkeit, der Hörbarkeit und der Beurteilbarkeit. D. h. es geht ihm um einen »praktischen Gebrauch der Vernunft« von »Weltbürgern«, die (1) selbst denken, die (2) »sich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes anderen denken« und (3) »jederzeit mit sich selbst einstimmig« denken sollten. Neben den Prinzipien der Zwangsfreiheit (1) und der Konsequenz (3) beinhaltet der zweite Punkt den Pluralismus einer »liberalen, sich den Begriffen anderer bequemenden« Denkungsart (Kant 1977b, 41, 511, 549). Diese setzt in der Öffentlichkeit voraus, dass man seine Stimme erheben kann und tatsächlich erhebt, um das eigene Urteil »am Verstande anderer zu prüfen«, statt sich logisch, moralisch und ästhetisch selbst genügen zu wollen. Wir bedürfen Sehnsucht nach einem unmittelbaren (keiner Interpretation bedürftigen) und »absoluten Vertrauen« unter den Augen eines (bzw. einer) privilegierten Anderen entgegengesetzt (und auf diese Weise zugleich entpolitisiert); vgl. ebd., 129. Rousseau hielt (im Gegensatz zu Kant) tatsächlich eine politische Welt für möglich, in der niemand etwas täte, was verborgen bleiben müsste. Infolgedessen gäbe es eigentlich kein Privatleben mehr und die Gesellschaft, der sich alle integriert fänden, käme einem Gott gleich, für den es nichts Verborgenes geben kann … Vgl. Hirsch 2012, 119, 128. In die gleiche Richtung zielt m. E. M. Blanchots Beschreibung eines Staates, in dem es überhaupt »keine rätselhaften Vorkommnisse« mehr geben würde, allerdings um den Preis, dass der Staat schließlich »überall« wäre und eine »unerforschliche« Klarheit herrschen würde, zu der niemand mehr Distanz hätte (Blanchot 2011, 262 ff.). Ein »grenzenloses Vertrauen« würde demnach den Staat und die Bürger versöhnen, mit der Folge aber, dass jegliches Misstrauen liquidiert wäre (ebd., 293 f., 298) und die Bürger nur umso rückhaltloser dem Staat ausgeliefert sein müssten (ebd., 300, 333).
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selbst der auf diese Weise erfolgenden Überwindung des »Privatsinns«, weil wir nicht einmal den eigenen Sinnen ganz und gar vertrauen können (vgl. ebd., 409) und weil wir uns nur in der Auseinandersetzung mit Anderen als Weltbürger verhalten können, die zu werden wir bestimmt sind. Und zwar in einem »Ganzen anderer, mit [uns] in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt)« (ebd., 411). Anteil an dieser Welt haben wir im Kant’schen Verständnis als deren Bürger, die im Pluralismus ihrer »liberalen Denkungsart« jederzeit dazu bereit sein sollten, sich in die »Stelle«, in den Stand- oder Gesichtspunkt bzw. in die »Perspektive« Anderer zu versetzen. Dass diese vier Begriffe bis heute vielfach promiscue verwandt werden, wie u. a. Habermas’ Anlehnung an die von J. Piaget ausgehenden einschlägigen Theorien sozial-kognitiver Perspektivität (bis hin zu R. L. Selman u. a.) zeigt 11, macht darauf aufmerksam, wie eng der zumindest metaphorische Zusammenhang zwischen weltbürgerlicher Rationalität und perspektivisch gedeuteter Visualität nach wie vor ist. Habermas hat, von der metaphysischen Grundierung jenes Weltbegriffs absehend, gezeigt, wie sich im 18. Jahrhundert dort, wo vorher von der Welt oder auch von der mankind die Rede war, der Begriff des »Publikums« einbürgerte, das als öffentlich in Erscheinung tretendes und urteilendes »Publicität« gewinnt und sich mittels einer vielfältig sich ausbreitenden Medialität selbst hervorbringt, um eine politische Welt zu stiften (Habermas 1976, 41). Diese Welt sollte ganz und gar »im Licht der Öffentlichkeit« erkennbar werden, in dem »erst das, was ist, zur Erscheinung [kommt]« und »allen alles sichtbar [wird]«. An die »normative Kraft« dieses Modells der Öffentlichkeit hellenischer Herkunft will Habermas ausdrücklich (auch in europäischer Perspektive) anknüpfen, ungeachtet längst tief greifend veränderter gesellschaftlicher Bedingungen ihrer Formation.12 Deutlicher als bei Kant wird hier, auf den Spuren Hannah Arendts, 13 auf ein Register der Visualität – und in diesem engeren Vgl. Habermas 1983, Kap. 4; zum ideengeschichtlichen Hintergrund vgl. Röttgers 1994. 12 Ebd., 16. Vgl. Raulet 2000; Derrida und Habermas 2003, 33 f., zur Geburtsstunde einer demokratischen europäischen Öffentlichkeit. 13 Auch Arendt spielt auf ein Modell allseitiger Sichtbarkeit an, wo sie die Öffentlichkeit des sog. Gemeinsinns beschreibt. Allerdings hält sie die Singularität jeder »Perspektive« für unaufhebbar. Ob sie damit radikal von Habermas abweicht, der eher einem Hegelschen Schema der Integration von Allgemeinheit und Besonderheit verpflichtet zu bleiben scheint, bleibe dahingestellt. Vgl. Arendt 1985, § 7; 1994, 298 f., 11
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Sinne auf ein Inerscheinungtreten – Bezug genommen, das eine umfassende, restlose Sichtbarkeit all dessen suggeriert, was von öffentlichem Belang ist – wenn tatsächlich »allen alles« sichtbar werden können soll. Dann würde es in der Tat nichts Verborgenes mehr geben. Alles wäre öffentlich gleichsam »ausgestellt« und niemand davon ausgenommen, sich dessen vergewissern zu können. Diesem Modell zufolge wäre von der als öffentliche Sichtbarkeit definierten Transparenz zu erwarten, dass sie allgemeines Vertrauen bewirkt bzw. alles Misstrauen »entfernen« können sollte. So würden Transparenz und Vertrauen gewissermaßen zur Deckung kommen – und wir hätten überhaupt keinen Anlass, nach dem Verhältnis beider Begriffe zu fragen. Diesen Anlass haben wir aber; und zwar aufgrund ihres vielfach weitgehenden Auseinandertretens; d. h. aufgrund der Erfahrung, dass das, was öffentlich (wie eingeschränkt auch immer) »sichtbar« ist, keinerlei Vertrauen erweckt oder sogar ausdrückliches Misstrauen hervorruft. So steht die negative Erfahrung weitgehend ruinierten Vertrauens am Anfang des Verlangens nach Transparenz. 14
334, 343 f. Hier ist ausdrücklich von einer perspektivisch zugänglichen »Gesamtansicht« die Rede, die gewährleisten sollte, dass ein Gegenstand »von allen Seiten […] für das Verstehen transparent werde«. 14 Im Folgenden beschränke ich mich weitgehend auf diesen negativistischen Ausgangspunkt, also darauf, dass die Vertrauenskrise das jeweilige politische Gemeinwesen im Ganzen in Frage stellt. Zugleich sehe ich ab von differentiellen Abwägungen von Vor- und Nachteilen mehr oder weniger für Dritte transparenter politischer Prozesse. Zu den politikwissenschaftlich vielfach analysierten Nachteilen zählen die Erschwerung von Kompromissfindungen, wenn die Beteiligten jederzeit damit rechnen müssen, dass ihr Verhalten von denen kontrolliert werden kann, die sie zu vertreten haben, der sog. political correctness effect, die Behinderung eines ungezwungenen, offenen Austauschs zwischen den Beteiligten usw. Ein Zwang zur Transparenz durch Veröffentlichung kann auch Taktiken der Verschleierung in der Veröffentlichung selbst provozieren, um die fraglichen politischen Prozesse weiterhin vor übermäßiger Kontrolle durch Dritte abzuschirmen. Genau diese Strategie wird vielfach höchsten Gremien der EU zugeschrieben: nach außen eine Pseudo-Einheit vorzuspiegeln, die intern gar nicht besteht. Ob das den Vorwurf einer allgemein vorherrschenden organized hypocrisy rechtfertigt, ist allerdings fraglich. Wenn Gremien unter forciertem Öffentlichkeitsdruck dahin tendieren, ihre Beratungen gleichsam auszulagern in wiederum nicht öffentlich kontrollierbare Abstimmungsprozesse, so kann das ja auch dazu dienen, einen freien Meinungsaustausch und die Auslotung von Kompromissmöglichkeiten zu befördern. Von solchen, vielfach ins Kasuistische hineinspielenden Überlegungen sehe ich im Folgenden ab und beschränke mich auf das begriffliche Missverhältnis zwischen Vertrauen und Transparenz. Vgl. Stasavage 2005.
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3.
Forderungen nach Transparenz nach ruiniertem Vertrauen
Allgemein ruiniertes Vertrauen 15 wird von einschlägig engagierten NGOs wie Transparency International (mit Filialen wie Transparency Serbia) vor allem als Folge von Korruption beschrieben, die derart um sich greifen kann, dass die »Substanz des Staates« (vgl. Fatić 2001, 9) und das »öffentliche Interesse« geradezu zerstört zu werden drohen und sich niemand mehr auf ein reguläres Funktionieren staatlicher Institutionen verlassen will (vgl. Nemadić 2003; Hénaff 2011, 54 ff.). Infolgedessen kann Bestechung zu einem normalen und unvermeidlichen »way of life« werden, der die ganze Bevölkerung demoralisiert und einen befriedeten Neuanfang nach dem Zusammenbruch des Staates unmöglich zu machen droht. Nicht einmal das Minimalziel »to restore at least a semblance of order to everyday life« (Fatić 2001, 8) erscheint dann noch als erreichbar, wenn man weder durch ein »rapid clean up« das für administrative Positionen wichtigste Personal komplett austauschen noch sich darauf einlassen kann und will, »to languish in a long and messy transition« auf dem Weg zu einer politischen Ordnung, die wieder allgemeines Vertrauen verdienen würde (ebd., 12). So sieht man sich in Fällen kollabierter oder durch und durch korrupter Staaten mit einer fatalen Zirkularität konfrontiert: Ohne Vertrauen ist eine solche Ordnung nicht (wieder) aufzubauen; aber
Ich übernehme solche Diagnosen nur mit Vorbehalten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass bspw. zwischen ehemaligen Bürgerkriegsparteien durchaus eine »Kultur der (In-)Transparenz« gepflegt wird; allerdings ganz anders, als man es sich wünschen möchte. So »checkt« man Unbekannte möglichst rasch auf ihre vergangenen Verstrickungen und auf ihre ethnischen und politischen Loyalitäten hin, um abschätzen zu können, ob man auf sie zählen, ob man sie erpressen kann oder als Feinde behandeln soll. Selbst in von Bürgerkriegen fast ganz zerrütteten failed states kann im Übrigen im öffentlichen Verkehr eine weitgehende Normalität herrschen, so dass man von einer unumschränkten Herrschaft des Misstrauens wie sie im sog. Naturzustand zu erwarten wäre, weit entfernt ist. Niemand kann ja auch auf Dauer generalisiert Anderen vertrauen oder misstrauen. Auf Dauer muss sowohl das Vertrauen als auch das Misstrauen seine Fähigkeit der Diskriminierung zwischen beidem einbüßen – und damit genau das, worauf es im Vertrauen und im Misstrauen eigentlich ankommt. Beides muss schließlich in eine Normalität übergehen, die nur anlässlich von Störerfahrungen die akute Frage wieder auf den Plan ruft, ob und wem man vertraut oder misstrauen muss.
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angesichts der tatsächlich zerstörten oder weitgehend ruinierten politischen Ordnung fehlt gerade die Grundlage für (neues) Vertrauen, zumal man die Menschen, die sie in verschiedenen Funktionen tragen müssten, nicht zur Gänze ersetzen kann (vgl. ebd., 13). Darüber vermag nicht hinwegzutäuschen, dass man mit verschärfter Kontrolle etwa durch anti-corruption squads gegen Infiltration neu aufzubauender staatlicher Strukturen durch alte Seilschaften und quasi-mafiöse Organisationen vorgehen will und strikte Regularien für die Vergabe öffentlicher Aufträge, gegen Geldwäsche und für die Annahme von »Geschenken« vorsehen will. Die Vielzahl in diesem Zusammenhang vorgeschlagener Maßnahmen – von der Schaffung unabhängiger Kontrollgremien über die Offenlegung von Interessenkonflikten und ökonomischen Verflechtungen bis hin zum public blacklisting und zur Etablierung formeller Verfahren zur Aufhebung parlamentarischer Immunität – ändert nichts daran, dass es entscheidend darauf ankommt, wer in welchem Geiste die jeweiligen Funktionen in einer wiederherzustellenden Staatlichkeit ausüben wird. Kontrollgremien, die über Antikorruptionsgesetze und deren Anwendung wachen sollen, sind schließlich mit einer Aufgabe betraut (entrusted), die Vertrauen in die fraglichen Personen erfordert (vgl. Transparency Serbia 2006). Das Wie der Ausübung ihrer Funktionen ist nicht regelbar. Auch das strengste Gesetz kann nicht garantieren, dass ein solches Gremium nicht zu einer dummy institution schrumpft, die beweist: »the Law exists, but it is practically of no effect« (ebd., 2). Wenn dagegen behauptet wird, nach dem weitgehenden Zusammenbruch eines Staates, der in den Augen der Bürger aufgrund alles durchdringender Korruption keinerlei Vertrauen mehr zu verdienen scheint, »the first task is establishing of a state ruled by law« (PACO 2004, 3), so wird damit die Aporie verdeckt, die darin liegt, dass kein Gesetz seine eigene Anwendung regulieren kann. Wie soll man aber aus einer ihrerseits angeblich weitgehend korrumpierten Bevölkerung jene Kräfte rekrutieren, die dem neu zu etablierenden Staat gegenüber loyal zu bleiben und die Gesetze entsprechend anzuwenden versprechen? Kann es ein Department of Institutional Integrity oder ein Integrity System (Fatić 2001, 35) geben, das allein aufgrund seiner Unabhängigkeit und Zuständigkeiten dieser Anforderung gerecht zu werden verspricht? Gewiss: es kann Behörden, Kommissionen und Einsatzkräfte geben, die mit der Aufgabe der Sicherstellung staatlicher Integrität betraut sind und die Umset138 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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zung einer verschärften Antikorruptionsgesetzgebung überwachen; aber wie das geschieht und dass tatsächlich die Praxis dem Namen einer solchen Institution nicht spotten wird, kann kein noch so ausgefeiltes institutionelles Design vorab garantieren. Wenn die Mitarbeiter solcher Institutionen einigermaßen gut bezahlt werden, mag man immerhin der Versuchung entgegenwirken, sich wiederum bestechen zu lassen, um ein Auskommen zu haben. Und durch eindeutige Regularien wird man Interessenkonflikten vorbeugen können, die korruptionsanfällig zu machen drohen. Aber gleichsam wasserdichte Institutionen, die aus eigener Kraft, allein durch die sie konstituierenden Regeln, davor geschützt wären, wiederum auf mehr oder weniger korrupte Art und Weise missbraucht zu werden, kann es nicht geben. Stets bleiben sie auf ein ihren Geist mit Leben erfüllendes Ethos der Beschäftigten (Transparency Serbia 2006, 11) angewiesen, dessen effektive Umsetzung erst das Vertrauen in die jeweilige Institution rechtfertigen kann. Im Zweifelsfall müssen whistle-blower auch die zur Korruptionsbekämpfung installierten Institutionen »verraten«, wenn diese ihrem Auftrag nicht gerecht werden. Und wenn diese »Abweichler« durch ihren öffentlich werdenden »Verrat« sich selbst exponieren, fragt es sich, ob eine Gesellschaft oder ein Staat ihnen auch dann noch Schutz gewähren kann. Wenn ja, steht auch diejenige Institution, die ihn gewährleisten sollte, vor dem gleichen Problem. Wenn nein, laufen die »Verräter«, die eine unzulängliche oder sogar ihrerseits korrupte Korruptionsbekämpfung öffentlich brandmarken und sie im gleichen Zug an ihren eigentlichen Sinn wieder erinnern, Gefahr, ihrer eigenen Loyalität zu eben diesem Sinn zum Opfer zu fallen. 16 Jedenfalls müssten gerade diejenigen, welche ihre abweichende Meinung freimütig öffentlich zu äußern wagen, das Vertrauen in eine zu rehabilitierende Staatlichkeit stärken. Und diese müsste die public dissenters nicht etwa als Gefahr einstufen, sondern schützen, statt sie einem untragbaren existenziellen Risiko auszusetzen für den Fall, dass sie die Illusion durchkreuzen, es genüge bereits, eine für Korruptionsbekämpfung zuständige Institution zu haben, damit der Staat seine »Substanz« und »Transparenz« zurückgewinnt. – Aber ist das überhaupt eine sinnvolle Zielperspektive? Was kann dieser Begriff,
Vgl. in diesem Sinne Heinrich Bölls Erinnerung an Verse Ingeborg Bachmanns in seinen Frankfurter Vorlesungen (Böll 1977, 50).
16
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Burkhard Liebsch
der vielfach unreflektiert durch die einschlägige Literatur geistert, politisch überhaupt besagen?
4.
Vertrauen in Transparenz?
Wir würden so überhaupt nicht fragen, wenn Vertrauen und Transparenz tatsächlich zusammenfallen könnten, wenn also das, was wirklich Vertrauen verdient und genießt, uns (allen, die es im Kontext einer politischen Lebensform angeht) als solches »transparent« gegeben wäre, so dass für »alle alles« an ihm sichtbar wäre (s. o.). Wie gesagt steht die gegenteilige Evidenz am Anfang unseres Fragens nach dem Zusammenhang von Vertrauen und Transparenz: Im weitgehend zerstörten Vertrauen machen wir die Erfahrung politischer Intransparenz, so dass generalisiertes Misstrauen ständig den Verdacht nährt, Sachverhalte, Informationen, Personen und ihre Handlungen seien womöglich systematisch verzerrt oder gar nicht einsehbar und zu beurteilen. Spezifisch politisch virulent wird diese Erfahrung, wenn sie sich auf die Substanz des Staates und seiner Institutionen sowie auf diejenigen bezieht, die ihr normales Funktionieren zu garantieren hätten. In diesem Fall wird das Verlangen nach Transparenz so ins Spiel gebracht, als würde es sich um das wichtigste Heilmittel handeln, durch das Vertrauen in die Institutionen wiederzugewinnen und der gesellschaftliche Unfrieden aufzuheben wäre. Und zwar in einer Situation, in der die Öffentlichkeit aufgrund einschlägiger negativer Vorerfahrungen nur allzu bereit ist, nicht an diese Transparenz zu glauben und auf diese Weise dazu verurteilt scheint, auf unabsehbare Zeit weiterhin im Unfrieden zu leben. Paradox: So nimmt die fragliche Transparenz ein anfängliches, geradezu irrationales Vertrauen bereits in Anspruch, das sich ihr eigentlich erst verdanken sollte. Durch das Transparentmachen von Entscheidungsprozessen, Auswahlverfahren, Finanzflüssen und Interessenlagen sollte es ja gerade möglich werden, Vertrauen neu zu bilden, das ganz und gar verloren gegangen zu sein schien. Jetzt aber stellt sich heraus, dass man dem Anspruch des Transparentmachens selbst schon Vertrauen schenken muss, das nicht wiederum darauf bauen kann, zu wissen, dass und inwieweit dieser Anspruch begründet oder berechtigt ist. Selbst das zögerlichste, vorsichtigste Vertrauen, das man anfänglich in eine politische Praxis des Transparentmachens setzt, kann nicht umhin, gewissermaßen umsonst ge140 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Transparenz und/oder Vertrauen
schenkt werden zu müssen. Es kann sich als Vertrauen in das Transparentmachen niemals auf ein vorheriges Wissen darüber stützen, ob es (zureichend) begründet oder berechtigt ist. 17 Heißt das, dass es nur als ein unbefriedigendes Surrogat für nicht verfügbares Wissen in Betracht kommen kann, das durch vollkommene Transparenz zu erübrigen wäre (vgl. Luhmann 1989, 73)? Dieser Schluss führt in die Irre. Es geht hier überhaupt nicht darum, dass ein Mehr an Transparenz das Vertrauen überflüssig machen könnte, sondern um ein anfängliches Vertrauen in die Transparenz selbst, das sich nicht selbst wiederum auf eine Art Transparenz stützen kann. Dieses Vertrauen ist kein Surrogat für Wissen (und Transparenz), sondern kommt gerade dort zum Zug, wo es kein zureichendes Wissen und insofern nur weitgehende Intransparenz geben kann. Es handelt sich nicht um ein Vertrauen trotz ungenügenden Wissens, sondern gerade um ein Vertrauen angesichts niemals genügenden Wissens (vgl. Grøn und Welz 2010; Liebsch 2011, 287 ff.). Aber daraus folgt nun gerade nicht, man brauche einander in einem zerrütteten Staat (gleichsam in einem Schlag) nur wieder kollektiv Vertrauen zu schenken, um seinen Institutionen wieder zu einer gewissen Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Das anfängliche, primäre Vertrauen, das man in der Tat nur schenken kann (trotz und angesichts aller ihm zuwiderlaufenden politischen Vorerfahrungen), bedarf der Bestätigung durch ein sekundäres Vertrauen, in dem sich das primäre Vertrauen nur nachträglich als begründet erweisen kann. 18 Zunächst macht letzteres diejenigen, die es schenken, nur aufs Neue und infolgedessen sogar verstärkt verletzbar durch erneute Enttäuschung, durch Verrat und zwielichtiges Verhalten. Aber gerade dadurch gibt es die Gelegenheit, es nicht zu enttäuschen und stiftet auf diese Weise aufs Neue den Geist eines Zusammenlebens,
Insofern zeigt sich auch im primären Vertrauen, das man in Andere trotz ihm widerstreitender Vorerfahrungen setzt, etwas von der Unbedingtheit eines »ersten Schrittes«, der den Weg der Entfeindung und zum Frieden zu bahnen verspricht. Kant verlangte im Namen des »Ende[s] aller Hostilitäten« radikalen Verzicht auf jeglichen »geheimen Vorbehalt«, der echten (endgültigen) Frieden zu unterminieren droht (Kant 1977, 196). Dieser Verzicht kann zweifellos auf keinerlei Wissen darüber bauen, ob auch Andere zu ihm bereit sind. Vor der gleichen Schwierigkeit stehen soziale Gabe- und Austauschprozesse, die vor die Alternative stellen: »entweder volles Vertrauen oder volles Misstrauen« (vgl. Mauss 1984, 180; Callié 2008, 59 ff., 108 f.). 18 In diesem Zusammenhang spricht Callié von einer bedingten Unbedingtheit (inconditionnalité conditionelle) des Vertrauens (Callié 2008, 108 ff.). 17
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ohne den kein Staat bestehen kann, mag man auch noch so sehr auf Hegels Spuren dessen »Substanz« beschwören. Das bedeutet indessen nicht, dass das primäre Vertrauen ohne Bestätigung durch ein sekundäres Vertrauen auskommen könnte. Es kommt spezifisch politisch überhaupt nur dann zum Tragen, wenn es als Herausforderung an die Adresse verlässlicher Institutionen begriffen wird, die sich ihrerseits das in sie zu setzende Vertrauen erst verdienen müssen, um auf diese Weise dem gesellschaftlichen Unfrieden entgegen zu wirken. Genau hier setzt die Forderung nach Transparenz ein. Wenn sie nicht in utopischer Art und Weise darauf hinauslaufen soll, »allen alles« sichtbar zu machen, so kann sie nur bedeuten, dass die fraglichen Institutionen von sich aus eine Politik der Offenlegung von kritischen Informationen, der Zugänglichkeit, des Sichinfragestellenlassens usw. betreiben, durch die sie freilich ihrerseits nichts beweisen können. Durch keine noch so forcierte Politik der Offenheit können sie jeglichen Verdacht gegen sich ausräumen. Im Gegenteil: Je mehr sie auf diese Weise zu beweisen suchen, desto mehr müssen sie wiederum Misstrauen auf sich ziehen. Wenn überhaupt, dann können sie nur durch eine lang anhaltende Praxis der Vertrauenswürdigkeit zeigen, dass sie diesem Anspruch tatsächlich genügen, so dass am Ende dieses Prozesses die von Misstrauen gespeiste Frage, ob sie Vertrauen verdienen, wieder »vergessen« werden kann. Gerade das Verschwinden der Frage nach dem Vertrauen in Institutionen macht am ehesten deutlich, dass es vorhanden ist. Lebt man (wieder) »im Vertrauen«, so braucht man sich nicht um es zu sorgen. Paradoxerweise kommt es stets erst als getrübtes, eingeschränktes oder zerstörtes Vertrauen zum Vorschein, d. h. nachträglich, wenn man es bereits irgendwie eingebüßt hat. Wiederzugewinnen ist es primär stets nur so, dass es erneut geschenkt wird und eigene Verletzbarkeit durch erneute Enttäuschung riskiert. Auch wenn das nicht ohne Grund und Zweck erfolgt (denn man schenkt Vertrauen mit Blick auf zu rehabilitierende politische Institutionen, die ihre tatsächliche – sekundäre – Vertrauenswürdigkeit stets erst noch erweisen müssen), wohnt dem Vertrauenschenken doch ein anökonomisches Moment inne – wie einer einseitigen Gabe, die in jeder Hinsicht »umsonst« gegeben wird und auf diese Weise zu einer relativen gesellschaftlichen Befriedung beiträgt. Trägt es nun aber überhaupt zum Verständnis primären und sekundären politischen Vertrauens bei, (a) ihm ein Verlangen nach Transparenz zuzuschreiben und es (b) seinerseits durch Transparenz begründet zu sehen? Ist der 142 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Transparenz und/oder Vertrauen
Begriff der Transparenz nicht mit außerordentlich irreführenden ideengeschichtlichen Assoziationen belastet?
5.
Was bedeutet »Transparenz« in politischer Hinsicht?
Im politischen Diskurs hat sich wie gesagt eine eindeutig metaphorisch-optische Redeweise von Transparenz durchgesetzt 19, die sich eher vage an die Physik anlehnt, in der man von der Durchlässigkeit eines Materials wie Glas oder auch von Kristallen etwa in Bezug auf elektromagnetische Wellen spricht. Unterschiedlichste Materialien werden aber auch für Wärme oder als akustisch mehr oder weniger »transparent«, d. h. hier: als durchlässig bezeichnet. So stellt sich jedes Mal die Frage, was wofür (und in welcher Art und Weise) transparent ist. Das gilt auch bei analoger Rede von Transparenz. Das fragliche »Was« ist ein Stoff, ein Raum oder das Medium, das von etwas Anderem (teilweise oder ganz) durchquert wird auf einem Weg von A nach B. 20 So durchquert die elektromagnetische Strahlung bzw. das Licht das Glas, hinter dem das menschliche Auge dank der Transparenz dieses Mediums ein Objekt ausmachen kann. Wie das notorische Beispiel der getönten Brille zeigt, die gewisse (UV-) Strahlen abschirmt und andere in verminderter Stärke durchlässt, so dass das Objekt gefärbt erscheint, ist Transparenz ohne Selektivität nicht zu haben, die um so weniger auffällt, wie das selektivtransparente Medium nicht auch ausgeschaltet oder durch ein anderes ersetzt wird. So kann das Medium in einer selektiv transparent machenden Funktion seinerseits zur Selbstverständlichkeit und insofern selbst geradezu unsichtbar werden. Der Blick, den es freigibt, In der Akustik spricht man von Transparenz im Sinne der Unterscheidbarkeit zeitlich aufeinander folgender Töne, bei Computergrafiken von durchscheinenden Elementen in einer Bilddatei, bei Computersystemen von einer Hard- oder Software, deren Existenz für den Benutzer weder direkt erkennbar noch relevant ist, bei Signalverarbeitung von einer transparenten Signalübermittlung, die sich beim Empfänger nicht bemerkbar macht, etc. 20 Vgl. Starobinski 1984, 379 ff. zur Transparenz von Wasser oder eines Kristalls. Wie auch diese Vergleiche zeigen, kann gerade das Ernstnehmen der metaphorischen Funktion der Rede von Transparenz deutlich machen, inwiefern sie womöglich auch in die Irre führt. So legt die physikalisch-optische Analogie ja nahe, die Transparenz medial zu deuten, nicht aber, die Subjektivität der (sinnlich oder begrifflich) sehenden Instanz selbst auf eine sie konstitutiv bestimmende Transparenz oder Intransparenz hin zu erforschen. 19
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bezieht sich dann ganz und gar auf das zu Sehende; er vergisst aber, welchen Voraussetzungen sich der Zugang zum Sichtbaren überhaupt verdankt. Und das menschliche Auge, das, von Licht getroffen, retinale Reize verarbeitet, macht uns glauben, seinerseits das Medium zu durchdringen. Dem Auge selbst wohnt aufgrund seiner Konstruktion eine unhintergehbare Medialität inne, was mehr oder weniger empfindlich in allen möglichen Sehstörungen offenkundig wird. Ungestört aber »vergisst sich« diese Medialität – ebenso wie die der Luft, die normalerweise als solche unsichtbar bleibt, solange nicht winzige Wassertröpfchen oder gewisse Partikel die Sicht trüben und auf diese Weise darauf aufmerksam machen, dass sich das Sehenkönnen jederzeit einem Medium oder sogar mehreren Medien verdankt, die in dem Maße, wie sie selbst in ihrer Transparenz unsichtbar werden, den Zugang zum Sichtbaren verbürgen. Immer und unvermeidlich handelt es sich dabei um eine selektive, nie um eine »reine« oder uneingeschränkte Transparenz. Kein noch so klares Wasser, keine noch so saubere Glasscheibe, keine noch so reine Luft lässt je alles durch. Und wie bei jenen Spezialbrillen, die man bei einer Sonnenfinsternis verwenden muss, ist es oft gerade die Selektivität des Mediums, die überhaupt oder etwas Neues zu sehen erlaubt, wofür wir unter anderen Umständen buchstäblich blind bleiben (oder werden) müssten. Nur unter derart außergewöhnlichen Bedingungen springt die Selektivität des Mediums als das, was das Sehen überhaupt erst ermöglicht, derart buchstäblich ins Auge; wohingegen sie in dieser Funktion normalerweise unbedacht bleibt. So ist es paradoxerweise gerade die selektive Transparenz, die sich unserem Blick am meisten entzieht. Wir »sehen« nicht sie, sondern durch sie, was sie selektiv wahrzunehmen erlaubt. So könnte man geradezu von einer durch Transparenz (bzw. durch die Vorstellung, die man sich politisch von ihr macht) bewirkten Blindheit für die Selektivität der Transparenz sprechen. Wie sehr die medial zu verstehende selektive Transparenz vielfach buchstäblich übersehen wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass man von transparenten Objekten spricht, so als ob sie ganz und gar »durchsichtig« wären, nicht das Medium, das sie den Blicken anderer aussetzt. Die gängige Rede vom »gläsernen Abgeordneten« und vom »gläsernen Bürger« macht das unverkennbar deutlich. Die fragliche Transparenz wird hier weniger der öffentlichen Information (über die finanziellen Verstrickungen der Volksvertreter) oder einer anonymen Datenerhebung (über die Bevölkerung), sondern den Menschen at144 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Transparenz und/oder Vertrauen
testiert, die nichts mehr sollten verbergen können, wenn wir die Metapher wörtlich nehmen. Aber würde nicht der wie restlos durchsichtiges Glas transparente Abgeordnete oder Bürger bis auf seine äußeren Konturen gerade unerkennbar? Wenn die Objekte nicht nur durch Transparenz dem öffentlichen Blick zugänglich gemacht, sondern selbst transparent sein sollen, wie es die Rede von »gläsernen« Menschen ja suggeriert, hieße das nicht, dass ihr Inneres aufgrund seiner Durchsichtigkeit vollkommen unerkennbar werden müsste? Muss, anders gefragt, die Transparenz eines Mediums nicht früher oder später auf ein mehr oder weniger intransparentes Objekt stoßen, wenn die geforderte Durchsichtigkeit nicht in eine Unsichtigkeit umschlagen soll? Längst ist die Rede von Transparenz im Politischen zu einer toten Metapher verkümmert. Das zeigt sich gerade an solchen kritischen Befunden, auf die man nur stößt, wenn man das metaphorische Etwas-als-etwas-Sehen beim Wort nimmt. Nur wenn wir wieder die physikalische Analogie ernst (nicht aber die Metapher allzu wörtlich) nehmen, stoßen wir (a) auf jene Paradoxie der selektiven Ermöglichung von Sichtbarkeit durch eine ihrerseits (relativ) unsichtbare Transparenz; und (b) auf den Widersinn, eine möglichst ideale Durchsichtigkeit nicht einem Medium, sondern Objekten (darunter Menschen) zuzuschreiben, die sich unter dieser Bedingung der Sichtbarkeit gerade weitgehend entziehen müssten. Darüber hinaus fällt auf, wie positiv im Politischen die Vorstellung von Transparenz besetzt ist und wie nachhaltig eine unbedachte Anlehnung an die physikalisch-optische Analogie eine weit zurückreichende und tief greifende Erfahrung negativer Sichtbarkeit verdrängen konnte. Vergessen scheint der religiöse Schrecken und die paranoide Faszination angesichts eines Gottes, von dem man befürchtete, er könne jederzeit »ins Verborgene sehen« (Derrida 1994, 316, 417; Levinas 1992, 17) und das Privateste durchdringen, ohne sich je selbst zu erkennen zu geben (vgl. Starobinski 1984). Vergessen auch die an diesen Schrecken gemahnenden Vorstellungen souveräner Macht von Hobbes’ Leviathan über Benthams Panoptikum bis hin zu Orwells Big Brother. Und das, obwohl zahllosen anonymen virtuellen Instanzen des gegenwärtigen Internet nachgesagt wird, niemand könne sich mehr ihrem »Blick« und Zugriff entziehen. Durch die Geschichte jener Vorstellungen geistert der Schrecken einer absoluten Machtasymmetrie, die darin liegt, selbst restlos 145 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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durchsichtig zu sein, während die Macht des durchdringenden Blicks sich nicht begrenzen oder nicht einmal orten lässt. Gegen eine solche Macht richtet am Ende auch der Rückzug hinter die eigene Körperperipherie nichts mehr aus. Denn der »Blick« einer derart mächtigen Macht bedarf womöglich gar keiner äußeren Anzeichen wie eines verräterischen Lächelns, eines verschlagenen Blicks oder einer finsteren Mine, um in Erfahrung bringen zu können, was sich dahinter verbirgt. Für eine absolute Macht, die sich über jegliche Intransparenz hinwegsetzen könnte, gäbe es, so scheint es, überhaupt nichts Verborgenes mehr; sie könnte sich über die selektive Zugänglichkeit eines Mediums jederzeit hinwegsetzen, das den Blick auf Jenseitiges stets ermöglicht und – selektiv – verstellt; und sie würde niemals Gefahr laufen, selbst sichtbar zu werden. So geht das Phantasma restloser Sichtbarkeit mit der Furcht vor einer absoluten Auslieferung und Schutzlosigkeit einher, die dem Blick eines Anderen eine radikale Vision zutraut – und gerade nicht nur ein Sehen, das an der Oberfläche von Körpern oder an irgendeiner anderen Abschirmung Halt machen müsste. 21 Einer solchen absoluten und vertikalen Asymmetrie der Sichtbarkeit und der Transparenz, in der letztere die Erfahrung einer rückhaltlosen Ohnmacht markiert, stehen Vorstellungen relativer und gewissermaßen horizontaler Symmetrien der Unsichtbarkeit und der Intransparenz gegenüber, wie sie vielfach mit zwischenmenschlicher Freundschaft verknüpft wurden. Wenn diese nicht mit einer restlosen Identifikation zweier Wesen gleichgesetzt wurde, die füreinander »ein Herz und eine Seele« und insofern restlos miteinander vertraut sein sollten, so beinhaltete sie stets auch eine irreduzible Verschiedenheit, Unzugänglichkeit und Intransparenz im Verhältnis zueinander. Statt diese aufzuheben, sollte die Freundschaft mit deren Unaufhebbarkeit leben können. So lesen wir es jedenfalls bei Derrida, Bataille, Blanchot und vielen anderen (vgl. dazu nur beispielhaft Blanchot 1990, XIII). In der Freundschaft kann in dieser Perspektive gerade nicht aufgrund gegenseitiger Transparenz Vertrauen herrschen. Vielmehr vertraut man einander ungeachtet oder gerade angesichts gegenseitiger
Vgl. Marion 2011, 242 f. Ich sehe an dieser Stelle von der Frage ab, warum virtuelle Medien wie das Internet offenbar nicht in analoger Art und Weise ein derartiges Phantasma hervorrufen, obwohl sie in ungeahnter Radikalität digitalen Ersatz für eine solche Vision bieten und ihre Nutzer ohne ihr Wissen einem noch das Privateste durchdringenden Wissen Anderer ausliefern.
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Intransparenz. Man behauptet nicht, sich gegenseitig restlos zu kennen und einander deshalb zu vertrauen. Nicht das Wissen verbürgt hier das Vertrauen. Umgekehrt vielmehr vertraut man sich gegenseitig ohne nach einem Wissen zu fragen, welches das Vertrauen überflüssig zu machen verspräche. Man setzt sich im Nicht-Wissen einander gegenseitig aus, statt genau das zu vermeiden in einer dem Anschein nach weitestgehend transparenten Beziehung. So gesehen wäre es ein vollkommenes Missverständnis, zu glauben, man bräuchte die persönliche Freundschaft nur zu erweitern, um zu einer friedlichen »Politik der Freundschaft« (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IX, 1171a) zu gelangen, in der Transparenz und Intransparenz, Vertrauen und Misstrauen die gleiche Rolle spielen könnten. In diesem Sinne wäre es auch abwegig, politische Transparenz durch Vertrauen (in Freunde) zu begründen. Das genaue Gegenteil wird denn auch meist suggeriert: dass es im Politischen Vertrauen überhaupt nur durch Transparenz geben kann. Wo sie nicht gegeben ist, will man sich durch die bekannten »vertrauensbildenden Maßnahmen« behelfen, z. B. sich (teilweise) angreifbar machen, indem man (militärische) Informationen ohne Not preisgibt oder einseitig abrüstet und damit signalisiert, dass man die eigene Macht freiwillig einzuschränken bereit ist. Erfahrungsgemäß ist aber keine Macht der Welt ohne weiteres bereit, darin gleich bis zum Äußersten zu gehen und sich bspw. einseitig derart zu entwaffnen, dass man in jedem ernsthaften Konflikt sofort unterliegen würde. Genau das nährt allerdings neues Misstrauen gegen einseitige, effektive Entwaffnung eben nicht riskierende Schritte, das unwiderleglich scheint. Keine öffentlich zugänglich gemachte Information und keine einseitige Abrüstung kann von sich aus beweisen, dass man durch sie nicht seine Gegner zu täuschen beabsichtigt und dass man insofern Vertrauen verdient. Das lähmt nicht zuletzt Versuche atomarer Abrüstung bis heute. Unvorstellbar scheint, dass eine Seite tatsächlich auf diejenigen Waffen einseitig verzichten könnte, durch deren Verlust sie wirklich wehrlos würde. Solange das aber nicht geschieht, kann keine einseitige Vorleistung, die zur Transparenz beitragen soll, einen Vertrauensbeweis erbringen. Gründe, Motive und Anlässe zum Misstrauen gegen die tatsächlichen Absichten, die eine Gegenseite mit scheinbar vertrauensbildenden Maßnahmen verfolgt, lassen sich immer ins Feld führen. Genau das macht das Misstrauen nicht selten zu einer fatalen Angelegenheit, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt. 147 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Transparenz schafft also nicht einfach Vertrauen. Sie kann keinen Beweis der Vertrauenswürdigkeit liefern und bleibt mit Misstrauen behaftet, zumal die Forderung nach Transparenz ihrerseits schon Ausdruck gesteigerten Misstrauens ist. Man muss deshalb zu dem Schluss kommen, dass sich diese Forderung nicht im Sinne einer politischen Technik der Befriedung sozialen und politischen Unfriedens umsetzen lässt. Nichts lässt sich als restlose Erfüllung dieser Forderung politisch so einrichten, dass man unterstellen dürfte, Transparenz sei wirklich gegeben. Der Verdacht, wichtige Informationen, Beweggründe taktischen Verhaltens und Ziele strategischen Tuns würden kaschiert, lässt sich grundsätzlich nicht definitiv ausräumen. Im Gegenteil: wer das Gegebensein von Transparenz in diesem Sinne postulieren wollte, würde nur in eine Ideologie der Transparenz verfallen und müsste so tun, als wäre ihrer Wirklichkeit der Beweis für etwas zu entnehmen, was sie prinzipiell nicht zu leisten vermag: nämlich zu beweisen, dass restlos alles (und jeder Beteiligte) »durchsichtig« gemacht wurde. Eine solche Behauptung widerspräche auch der einfachsten Besinnung auf den Sinn der metaphorischen Rede von Transparenz. Wenn diese etwas lehrt, indem man die physikalisch-optische Analogie beim Wort nimmt, dann doch dies, dass stets selektive Transparenz nur medialen Zugängen zu etwas anderem zuzuschreiben ist, das seinerseits niemals ganz durchsichtig werden kann, wie es im Fall der irreführenden Rede vom »gläsernen Bürger« oder vom »gläsernen Abgeordneten« ohne weiteres einsichtig zu machen ist. Darüber hinaus handelt es sich in beiden Fällen nicht um Dinge, in die man hineinsehen könnte. Der Einsicht, die ihre Motive, Gründe, Pläne und Strategien durchsichtig machen kann, müssen Andere selbst sich öffnen; d. h. sie müssen »Einsicht gewähren«. Und dazu kann sie letztlich kein noch so rigider institutionalisierter Zwang zur Transparenz bewegen, der es ihnen auferlegt, alles für politische Entscheidungsfindungen Relevante offen zu legen. So gesehen kommen wir nicht umhin, die zunächst an politisch institutionalisierte Prozesse adressierte Forderung nach Transparenz in eine ethische Richtung zu wenden und infolgedessen die Frage aufzuwerfen, wie und durch wen diese Forderung konkret zu erfüllen ist. Niemals ist Transparenz in der Politik ein bloßer (technisch zu bewerkstelligender und dann als gegeben anzusehender) »Zustand mit freier Information, Partizipation und Rechenschaft im Sinne einer offenen Kommunikation zwischen den Akteuren des politi148 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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schen Systems und den Bürgern«, wie man in verbreiteten Begriffsdefinitionen lesen kann. 22 Vielmehr muss diese Offenheit stets durch die Beteiligten selbst hergestellt und garantiert werden. Ihnen obliegt es, institutionelle Regularien und Gesetze so anzuwenden, dass sie für Dritte, die nicht beteiligt sind, verständlich, nachvollziehbar und einsichtig werden. »Transparent« verhält sich in diesem Sinne, wer von sich aus und gewissermaßen »ohne Not«, d. h. ohne erst dazu angehalten werden zu müssen, Einsicht in die Beweggründe, Formen und Ziele des eigenen Tuns gewährt und sich auf diese Weise »angreifbar« macht. Nur ein solches (in einer machiavellistischen Perspektive höchst »unkluges«) Verhalten erscheint dazu geeignet, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Jedoch droht es im gleichen Maße sogleich wieder verspielt zu werden, wie man sich im Sinne eines kollektiven Ethos öffentlich demonstrierte Transparenz als einen sog. Wert zu eigen macht und sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Dabei kann Transparenz in Wahrheit stets nur aus der Perspektive Anderer attestiert werden, für die der Mangel an Transparenz zuvor ein außerordentliches politisches Vertrauensproblem aufgeworfen hatte. Diesem Problem können nicht Personen und Instanzen begegnen, die sich selbst Transparenz bescheinigen. Vielmehr müssen sie sich zum Zeichen ihrer Vertrauenswürdigkeit angreifbar machen und das Urteil darüber, ob sie dadurch (neues) Vertrauen verdienen, Anderen überlassen. In dem Maße, wie sich ein solcher Prozess wiederholt bewährt, kann man erwarten, dass sich in der Tat neues Vertrauen so bildet, dass die Forderung nach Transparenz politisch entschärft wird – d. h., dass man sie nicht derart »überzieht«, dass politisches Handeln blockiert zu werden droht. Wenn die tatsächlich politisch-praktisch unsinnige und unerfüllbare Forderung, »allen alles« öffentlich transparent zu machen, bevor wichtige politische Entscheidungen fallen, befolgt werden müsste, wäre nicht neues Vertrauen die Folge, sondern im Gegenteil verschärftes Misstrauen, das sich womöglich niemals dessen sicher sein könnte, dass eine Grenze erreicht ist, über die hinaus keine weitergehende Transparenz mehr denkbar erscheint. Überzogene Forderungen nach Transparenz führen sie nicht herbei, sondern nähren nur immer neuen Verdacht, der aus sich heraus niemals dazu in der Lage sein wird, in neues Vertrauen umzuschlagen. Man misstraut niemals 22
https://de.wikipedia.org/wiki/Transparenz_(Politik).
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genug, wenn man unbedingt misstrauen will und sich nur von einem wörtlich genommenen Vertrauensbeweis überzeugen lassen möchte. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit sind, zumal nach einer tief greifenden politischen Erfahrung, die beides erschüttert hat, überhaupt nicht zu beweisen. Deshalb darf auch die Forderung nach Transparenz von vornherein nicht darauf hinauslaufen, von Anderen strikte Beweise ihrer Vertrauenswürdigkeit zu verlangen. Denn auf diese Weise verurteilte sie sich nur selbst zu nicht endendem Misstrauen und böte keinerlei Aussicht auf effektiv wiederhergestelltes politisches Vertrauen, von dem man sich eine Aufhebung gesellschaftlichen Unfriedens verspricht. Überdies muss sie sich auf das öffentlich zu Verhandelnde beschränken, insofern es die Verantwortung, Vorstellungen vom guten Leben sowie Rechte und Pflichten aller Beteiligten betrifft. Dagegen darf sie nicht darauf abzielen, ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren, was Schutz vor ihr verdient. Andernfalls verkäme sie ihrerseits zur publicity. Und so würde sie Gefahr laufen, jeglichen Respekt einzubüßen, den man ihr zunächst als einer Forderung nach Wiederherstellung der elementarsten Bedingungen eines politischen Lebens entgegenbringt, das allgemeines Vertrauen verdient. So muss sich das Verlangen nach Transparenz selbst nach der Erfahrung einer weitgehenden Zerstörung politischen Vertrauens in die Institutionen, die die Verlässlichkeit einer politischen Lebensform hätten garantieren sollen, gleich in mehrfacher Hinsicht mäßigen: – Es darf nicht auf die Forderung nach rückhaltloser Transparenz hinauslaufen, die nichts mehr dem Licht der Öffentlichkeit zu entziehen gestattete. Aus einer derart überzogenen Forderung würde nur ein neuer Tugendterror durch privilegierte Personen und Instanzen folgen, die jederzeit den – im Prinzip niemals definitiv zu begrenzenden – Verdacht äußern dürften, Andere hätten der Öffentlichkeit etwas Wesentliches vorenthalten. – Das Verlangen nach Transparenz darf nicht mit einem einseitigen Anspruch einhergehen, zu wissen, wo zwischen dem in diesem Sinne Wesentlichen und dem Unwichtigen die Grenze verläuft. Vielmehr ist diese Grenze zwischen den Beteiligten selbst jedes Mal neu zu ziehen. Und das kann nicht darauf hinauslaufen, sie gänzlich aufzuheben. Das wiederum müsste dazu führen, auch Peinliches und Heikles gewissermaßen ohne Rücksicht auf Verluste öffentlich zu verhandeln. Wer aber befindet im Einzelfall darüber, wo jene Grenze zu ziehen ist? 150 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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In politischen Gemeinwesen nennenswerter Größe fallen die jeweils am politischen Prozess Beteiligten niemals mit dem Umkreis derer zusammen, die direkt oder indirekt von ihm betroffen sind. Das Verlangen nach Transparenz mag sich für erstere in gewissen Grenzen erfüllen lassen, niemals aber zugleich auch für letztere. Selbst ein Runder Tisch, an dem nur öffentlich übertragene Auseinandersetzungen stattfinden, wirft das Problem einer Selektion und (gleichzeitigen) Exklusion auf, die schon im Zustandekommen der Situation wirkt, in der man um Transparenz streitet und um Vertrauen wirbt. Diese Situation kann allenfalls durch diejenigen im revidierten Sinne teilweise transparent werden, die in ihr Macht und Stimme haben – im Gegensatz zu Anderen, die unvermeidlich außen vor bleiben oder die ausgeschlossen werden. So ziehen sich unvermeidlich diejenigen, die nach Transparenz verlangen und sie womöglich institutionalisieren wollen, ein Problem der Intransparenz im Verhältnis zu all jenen zu, die jeweils nicht berücksichtigt oder einbezogen werden können. (Auf dieses unaufhebbare Missverhältnis zwischen Betroffenen und Beteiligten, das in jede originäre politische Strukturierung von Sichtbarkeit und Sagbarkeit hineinwirkt, hat auch die Diskussion um die Politische Theorie Jacques Rancières immer wieder aufmerksam gemacht. 23) Allzu groß ist die Versuchung auch für diejenigen, die nach Transparenz verlangen, sich mit dem demos gleichzusetzen, für den sie stellvertretend diese Forderung geltend machen. Niemals aber kommen diejenigen, die öffentlich das Wort führen, mit all jenen zur Deckung, die sie (mehr oder weniger legitimiert) vertreten. Das Allgemeine spricht sich nicht unmittelbar durch ihren Mund hindurch aus. So kann in der stellvertretenden Rede für Andere oder anstelle Anderer bereits das Bewusstsein dafür vernebelt werden, dass sie niemals mit den Anderen schlicht zu identifizieren ist. Niemand ist das Allgemeine, das er nicht nur als »besonderes«, sondern als singuläres Wesen verbal zum Vorschein bringt. Nach einer tief greifenden Krise des Vertrauens in politische Institutionen ist es jedoch in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens unDabei stehen in Wahrheit plurale und kontingente Ordnungen von stets selektiven Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten zur Diskussion, die niemals etwas (öffentlich) in Erscheinung treten lassen, ohne zugleich den politischen »Blick« auf Anderes zu beschränken oder zu unterbinden; vgl. Rancière 2006, 16.
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vermeidlich und unabdingbar, dass einige (für alle) die Forderung nach Transparenz bzw. nach Öffentlichkeit aller Prozesse erheben, die im Horizont gemeinsamer Verantwortung für das Gemeinwesen sowie der Rechte und Pflichten, die es regeln sollten, von Belang sind. So bleibt auch ihnen, wenn sie nicht in selbstgerechtester Art und Weise Transparenz für sich in Anspruch nehmen wollen, nichts anderes übrig, als sich selbst dadurch angreifbar zu machen, dass sie von sich aus Einsicht in ihr Tun gewähren und das Urteil darüber, ob sie sich ihren eigenen Ansprüchen gemäß verhalten haben, wiederum Anderen zu überlassen. Andernfalls würden sie sich durch die von ihnen reklamierte Transparenz diese ihrerseits als einen Wert aneignen und gleichsam in Beschlag nehmen, um sie umso effektiver von Anderen verlangen zu können. Auf diese Weise mag man mit »Transparenz« symbolische Politik machen können; aber so wird man vergessen, worin allein ihr Anspruch in Wahrheit liegen kann: nämlich darin, den Augen und Ohren Anderer nichts geheim Gehaltenes zu entziehen, das für sie, insbesondere für ihre öffentlich zu artikulierenden Rechte, von Belang sein könnte. Das entsprechende Urteil darüber aber steht unumgänglich Anderen zu. Das sollten, in gleichsam prophylaktisch-ideologiekritischer Absicht, gerade diejenigen nicht vergessen, die nach einer tief greifenden Vertrauenskrise ihres politischen Systems gegen die dafür Verantwortlichen im Namen der Aufhebung gesellschaftlichen Unfriedens eine kategorische Forderung nach Transparenz erheben. Läge nicht eine bizarre Ironie darin, wenn sie dieser Forderung selbst nicht Genüge tun würden, indem sie sie nur als von Anderen zu erfüllenden Anspruch begreifen?
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Christina Schües
Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
»Vertrau mir«, sagt die Schlange Kaa und züngelte mit ihrem Imperativ um ihr giftiges Geschenk herum. »Vertrau mir!« Wer den Imperativ gebraucht, um jemandem Vertrauen abzuringen, wird seine besonderen Gründe haben und die Ambivalenz zwischen Stärkung und Schwächung, Wissen und Nichtwissen, Geschenk und Gift einseitig auflösen wollen. Aber warum sollte jemand versuchen, solch einer Aufforderung zu trauen? Sie könnte auch gleichgültig beiseite geschoben werden oder den Angesprochenen in tiefes Misstrauen versetzen. Der Imperativ »Vertrau mir!« wie auch die Nachfrage »Vertraust du mir?« wirken wie Gefahrenzeichen, die die Betroffenen und Angesprochenen alarmieren (vgl. Baier 1991, 113). Die Aufforderung »Vertrau mir!« alarmiert die angesprochene Person, denn Vertrauen ist – und dieses ist eine erste Begriffsannäherung – eine Herzensangelegenheit, über die nicht einfach entschieden werden kann. Doch unerschütterlich wird Vertrauen verlangt, besonders von Politikern, Unternehmern und Finanzberatern, und die meisten Menschen wollen im Allgemeinen vertrauen, bis auf die wenigen hoffnungslosen Pessimisten. Doch Vertrauen basiert weder auf einer Willensentscheidung noch auf rationalen Kriterien. Einige werden eine Aufforderung zu vertrauen empört zurückweisen, andere geraten in zweifelnde Grübeleien über die Frage, warum die andere Person überhaupt diesen Appell äußert. Es gibt Kontexte, wie z. B. im sportlichen Bereich, in denen solch ein Zuruf Mut machen soll, eher im Sinne von: »Ich halte dich – du kannst nun losklettern!« Überdies ist die Frage einer dritten Person nach dem Vertrauen im Kontext der Beschreibung über die Beziehung zu einer anderen Person nicht ungewöhnlich. Fragen scheinen angemessen, wenn vermutet wird, dass eine Beziehung schwierig oder institutionelle Zusammenarbeit kompliziert sind. Sie werden eher gestellt in Phasen der Irritation oder des Ungewöhnlichen, des Konflikts oder der gewalttätigen Auseinandersetzungen. 156 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
Aber wenn die Aufforderung nicht als ›sportliche Ermutigung‹ verstanden werden kann, sondern Vertrauen im engen Sinne eingefordert wird, dann scheint diese Aufforderung, es zu haben oder es einem Menschen zu geben, eher einen Widerspruch zu provozieren: Nein – dem vertraue ich nicht. Was am Vertrauen ist es, das eine Aufforderung unzumutbar erscheinen lässt? Was führt bei einer Nachfrage zur Irritation? Die Antwort zu dieser Frage wird sich erst in mehreren Schritten entfalten lassen. Der erste Schritt dreht sich um die Einsicht, dass Vertrauen geschenkt wird. Und Geschenke können zwar erwartet werden, aber nicht explizit gefordert. In der Folge soll es um eine Begriffsklärung und Verortung des Vertrauens und Misstrauens gehen. Es soll gezeigt werden, dass selektives Misstrauen angemessen sein kann, etwa hinsichtlich nicht vertrauenswürdiger Personen oder Institutionen, eines falschen Vertrauens oder eines Vertrauens, das durch Normalisierungsprozesse die demokratische Mitbestimmung in Gleichgültigkeit versinken lässt. Friedenspolitische Verantwortung balanciert zwischen Vertrauen und selektivem Misstrauen.
1.
Vertrauen als Geschenk
Im Folgenden werde ich das Vertrauen als ein Geschenk vorstellen und fragen, weshalb jemand einer anderen Person Vertrauen schenken könnte. Diese Überlegungen werden die Eingangsbemerkungen, dass Vertrauen nicht gefordert werden kann, wieder aufnehmen. Das Geschenk des Vertrauens trägt die Handlung des Schenkens in sich und verpflichtet dadurch den Beschenkten in ein Beziehungsverhältnis. Marcel Mauss hat diesen »giftigen« Verpflichtungszwang des Geschenks im Zusammenhang des in einem Geschenk enthaltenen Moments der »Rivalität« festgemacht, das zur Überbietung des Gebens anspornt (vgl. Mauss 1990, 25). Schon Friedrich Nietzsche hatte diesen Gedanken, der für ethnologische Studien zentral ist, aufgenommen und notiert, dass sich ein Geschenk auch gegen den Beschenkten richtet und zwar deshalb, weil es ihn verpflichtet. Deshalb ist ein Geschenk auch eine Zumutung. Da Gift eine Substanz ist, der der Vergiftete nicht (so leicht) entkommen kann und da der Verpflichtung ein Zwangscharakter inne ist, enthält gleichermaßen das Geschenk des Vertrauens ein Gift. Nietzsche betonte die Ökonomie des Marktes, die dem Geschenk anhaftet. Allerdings sind die Reaktio157 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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nen auf diese Erkenntnis unterschiedlich: Der Kultursoziologe Marcel Mauss heißt die »Ketten« des Geschenks willkommen; Nietzsche selbst ist eher bestrebt, die Menschen von diesen Ketten des Verpflichtungsverhältnisses zu befreien. Seine Sorge ist, dass das Schenken zu eng an die Ökonomie angelehnt ist, da der Schenkende im Vorteil ist, weil er das Geschenk geben oder auch bei sich behalten kann. Deshalb rät Nietzsche: »Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von giftigen Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo rauhe, starke Luft weht!« (Nietzsche 1988, 66). Nietzsche unterscheidet die Kräfte eines Geschenkes und die eines Giftes. Zwar ist es so, dass sich im Schenken einer »guten Gabe« heimlich eine bindende und lebensfeindliche Wirkung entfaltet; aber es kommt darauf an, was gegeben wird und hierin unterscheiden sich beide wesentlich. Die Qualität des Giftes besteht in ihrer giftigen, zersetzenden, bösen Substanz, die allerdings für Nietzsche eine befreiende Wirkung haben kann (Hitz 1999, 141). Diese Wirkung verdeutlicht er durch eine Erzählung von der Begegnung mit einer Schlange, dem »klügsten Thier unter der Sonne« (Nietzsche 1988, 27). Als Zarathustra von einer Schlange gebissen wurde, schrie er vor Schmerz auf; doch dann sah er die Schlange an und sie erblickte seine Augen und wollte flink davon. »›Nicht doch, sprach Zarathustra: noch nahmst du meinen Dank nicht an! Du wecktest mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang.‹ ›Dein Weg ist noch kurz, sagte die Natter traurig; mein Gift tödtet.‹ Zarathustra lächelte. ›Wann starb wohl je ein Drache am Gift einer Schlange? – sagte er. Aber nimm dein Gift zurück! Du bist nicht reich genug, es mir zu schenken.‹ Da fiel ihm die Natter von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunden.« (Ebd., 87) Als Nietzsche von seinen Jüngern nach der Moral der Geschichte gefragt wurde, verwies er auf die Rolle der Verstärkung. Es geht darum, nicht das Böse mit dem Guten zu vergelten, sondern das Böse selbst in Gutes zu verwandeln. Somit kann ein Gift zur Vergiftung führen, aber auch ein »Stärkungsmittel« werden. Oder ein Gift trifft auf ein Wesen, das, wie der Drache, dagegen gefeit ist (vgl. Hitz 1999, 141). Nicht das kalte Kalkül des Rechtes und der vertrockneten Moral ist maßgeblich, sondern das Starke, Schöne und Lebendige; sucht, wo »Liebe mit sehenden Augen ist« (Nietzsche 1988, 88). Wer einer anderen Person Vertrauen schenkt, fordert diese mit ihrem »Geschenk« auf, ihr Handeln und ihre Haltung gegenüber der
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Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
vertrauenden Person entsprechend auszurichten. 1 Dieser Aufforderungscharakter aber bleibt implizit. Mit dem Geschenk des Vertrauens werden der Person, der Vertrauen geschenkt wird, nicht nur Verpflichtungen zugemutet; sie wird obendrein gestärkt in ihrer Haltung und ihrer Rolle, sie bekommt einen Ermessensspielraum des Handelns aufgrund ihrer Fähigkeiten und sie wird Teil einer sie bestärkenden Beziehung. Diese Stärkung beruht auf dem Vertrauen als Herzensangelegenheit, aber ebenfalls auf der Überantwortung eines Ermessensspielraums, der im Sinne eines Verantwortungsraums gedeutet werden kann. Die Begriffe Vertrauen und Verantwortung sind eng verknüpft, insofern sie wechselseitig beide Beziehungen – also die des Vertrauens und der Verantwortung – bestärken und Handlungsräume eröffnen können. Die explizite Aufforderung, Vertrauen zu schenken, scheint absurd, ja giftig, denn sie fordert etwas, was man nicht per Entscheidung geben kann und sie verleitet deshalb eher zur Vorsicht und zum Misstrauen. Vertrauen wird gegeben, begründet oder unbegründet, stets ist es aber mehr als das, was rational begründet werden könnte. Misstrauen dagegen ist häufig gut begründet. Vertrauen ist ein Gefühl und hängt mit einem Glauben in Bezug auf eine Person oder eine Institution zusammen.
2.
Worauf könnte Vertrauen gründen? Braucht Vertrauen Gründe?
Üblicherweise suchen wir nach Gründen für unsere Handlungen und Entscheidungen (vgl. Nida-Rümelin 2012). Gründe fungieren als Kriterien und als Basis für eine Gefühls- oder Handlungsweise. Gefühle werden retrospektiv begründet, Entscheidungen auch prospektiv. Im Folgenden möchte ich nach Gründen für ein Vertrauensgefühl fragen und drei Modelle der Begründung diskutieren: a) Vertrauen gründet auf gemeinsamen Interessen. Russel Hardin argumentiert in seiner funktionalistischen Analyse des Vertrauens, »you trust someone if you believe it will be in her interest to be trustworthy in the relevant way at the relevant time, and it will be in her Der Begriff »Person« ist hier im Singular gesetzt, weil damit entweder ein einzelner Mensch oder auch eine Institution (im Sinne der Rechtsperson) gemeint ist.
1
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interest because she wishes to maintain her relationship with you« (Hardin 2002, 13). Hardin knüpft das Vertrauen an gemeinsame Interessen und an den Wunsch, die Beziehung zu erhalten. Vertrauen ist somit ein Beschreibungsmerkmal von Interessensbeziehungen. Aber ist es nicht eher so, dass Vertrauen gerade dann virulent wird, wenn die Interessen unterschiedlich sind? Vertrauen geht über den Glauben an die Interessen einer anderen Person hinaus, denn es schließt gleichfalls Situationen ein, in denen die Vertrauenden nicht sicher sind, welche Interessen die Person genau hat, die als vertrauenswürdig angesehen sind. Muss also derjenige, der vertraut, immer hoffen, dass das Interesse immer aufrecht erhalten und bewusst bleibt? Wenn Vertrauen von den jeweiligen momentanen Interessen abhängt, dann bricht es, sobald die gemeinsamen Interessen nicht mehr deutlich sind. Damit würden der Begriff des Vertrauens und der des Interesses zusammenfallen und das Spezifische des Vertrauens ginge verloren. Wenn Personen oder Institutionen sowieso das gleiche Interesse haben wie die vertrauende Person, dann ist die Erwartung einer entsprechenden Handlungskonformität gut begründbar; die Frage des Vertrauens stellt sich jedoch nicht mehr. Darüber hinaus scheint es unklar, wie ein Vertrauensverhältnis zu einer Institution beschrieben werden kann. Wird einer Institution vertraut, dann geht dieses Gefühl einher mit dem Glauben in ihre Vertrauenswürdigkeit. Aber dieser Glaube schließt nicht den Gedanken ein, die Institution hätte ein spezifisches Interesse an der konkreten Beziehung zur vertrauenden Person. Prinzipiell wird einer Institution Vertrauenswürdigkeit unterstellt, würde man vermuten, sie würde nur in Bezug auf ausgewählte Personen vertrauenswürdig agieren, dann würde genau diese Exklusivität ihre Vertrauenswürdigkeit einschränken. b) Vertrauen gründet darauf, sich auf andere verlassen zu können. Um den Begriff des Vertrauens deutlicher zu erfassen, unterscheidet Annette Baier das Gefühl des Vertrauens von der Gewohnheit, sich auf jemanden zu verlassen (Baier 2001, 42). Wer einer anderen Person vertraut, glaubt ebenso, sich auf sie mindestens in Bezug auf bestimmte Handlungsbereiche verlassen zu können. Ist Vertrauen mit dem Gefühl, sich auf jemanden verlassen zu können, gleichzusetzen? Wenngleich die Abgrenzung zwischen dem Gefühl, sich auf jemanden verlassen zu können, und dem Gefühl, einer Person zu vertrauen, schwierig ist, so ist doch ihre Unterscheidung sinnvoll. Die 160 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
Unterscheidung bleibt undeutlich hinsichtlich der Erwartungen, die mit den jeweiligen Gefühlen verknüpft werden. Sie wird deutlich mit Blick auf die Erschütterung der vertrauenden Person, wenn die jeweilige Erwartung enttäuscht wird. So werden diejenigen, die sich auf Kants Pünktlichkeit verlassen haben, zwar in ihren Erwartungen enttäuscht sein, wenn er verschläft und erst später zu seinem Morgenspaziergang aufbricht, doch das Vertrauen in den Nachbarn Immanuel Kant wäre damit nicht gebrochen. Kant selbst hatte mit seiner Tagesroutine wohl kaum die Fürsorge oder das Wohlwollen für die Nachbarn im Blick gehabt. Sich auf die Gewohnheiten einer anderen Person zu verlassen, heißt nicht, dass das Vertrauen erschüttert ist, wenn diese Person ihre Handlungsroutine ändert. Ist allerdings das, worauf sich eine Person verlässt, Teil der Vertrauensbeziehung, dann wird sie überzeugende Erklärungen erwarten, warum das, worauf sie sich verlassen hatte, nicht erfolgte. Wenn z. B. abgesprochen wurde, routinemäßig über einen politischen Vorgang informiert zu werden, dann muss eine Unterlassung gut begründet werden, damit sich keine Zweifel oder misstrauische Fragen in die Beziehung einschleichen. Täglich verlassen sich Menschen auf jemanden oder etwas, allerdings gibt es viele Bereiche und Zusammenhänge, in denen sich Fragen des Vertrauens oder des Misstrauens gar nicht stellen. Vertrauen kann zum Beispiel keinen Gegenständen gegeben werden. Wenn mein Computer abstürzt, dann bin ich vielleicht enttäuscht oder meine Erwartungen sind nicht erfüllt, aber meine Vertrauensfähigkeit als solche bleibt unbeschädigt. 2 Wenn Menschen sich sicherer fühlen durch Überwachungskameras und Ganzkörper-Scanner, dann ist ihr Vertrauen in ihre Mitmenschen nicht gewachsen, sondern sie besänftigen lediglich ihr latentes Misstrauen in andere mit Kontrollinstrumenten und dem Glauben an deren sachgemäße Bedienung. Vertrauen ist kein Charakteristikum von Sachverhältnissen. Als Basis von Vertrauen überzeugte bislang weder die Aufforderung oder die Nachfrage, noch gemeinsame Interessen, Kontrollmittel oder Gewohnheiten des täglichen Lebens. Gleichwohl sind Interessen und das Gefühl, sich auf eine Person zu verlassen, häufig Teil einer Vertrauensbeziehung. Allerdings schon eine Aufforderung, Wenn allerdings das Versagen von Geräten unmittelbar auf Menschen oder auf Herstellerfirmen zurückzuführen ist, z. B. weil die Obsoleszenz mutwillig in das Gerät eingefügt wurde, dann wird auch das Vertrauen gegenüber den Machenschaften in der Industrie zum Thema werden müssen.
2
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Vertrauen zu schenken, oder eine Nachfrage über die Gründe eines Vertrauensgefühls, können ein Vertrauensverhältnis in Zweifel ziehen. Das zeigt: Vertrauen ist fragil, wenngleich bisweilen auch unerschütterlich. Diese erste Suche nach möglichen Gründen des Vertrauens zeigt, dass es vielleicht gar keine Gründe gibt, dem Vertrauen zu vertrauen. Werden Gründe eher auf der Seite des Misstrauens gefunden? c) Vertrauen gründet darauf, keine Gründe des Misstrauens zu haben. Hat eher das Misstrauen Gründe auf seiner Seite? Bohrende Nachfragen und die Suche nach Beweisen sind die ersten Schritte, Vertrauen in Frage zu stellen und Misstrauen zu erzeugen. Warum also sollte ich überhaupt meinem Vertrauen in eine andere Person vertrauen? Warum sollte ich einem Gefühl vertrauen, für das ich womöglich noch nicht einmal gute Gründe habe? Der britische Soziologe Diego Gambetta geht sogar einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass Vertrauen »nicht auf Beweisen, sondern auf einem Mangel an Gegenbeweisen gründet« (Gambetta 2001, 235). Vertrauen stützt sich nicht auf Gründe, sondern auf einen Mangel an Gründen gegen das gesetzte Vertrauen. Somit ist es das Misstrauen, das gute Gründe für seine Richtigkeit sucht und Beweise gegen ein Vertrauensverhältnis findet. Gute Gründe basieren auf rationalen Kriterien und auf Tatsachen, die deshalb gut sind, weil sie für die Person, die sich nach ihnen ausrichtet, einsichtig und überzeugend erscheinen. Ein Beweis besticht durch die für wahr erachteten Prämissen und die aus ihnen gezogene Schlussfolgerung. Ein Beweis wirkt also durch die Zusammenführung von Gründen und Argumentation zwingend. Werden gute Gründe für den Glauben in ein Vertrauensverhältnis gesucht, dann ist diese Suche zumeist eine Reaktion auf Indizien, die dazu führt, eine Vertrauensbeziehung zu hinterfragen oder zu beurteilen. Die Entdeckung eines Missverständnisses oder die Erfahrung einer gemeinsamen Vergangenheit sind mögliche besänftigende Kriterien eines keimenden Zweifels. Aber sind erst Zweifel Begleiter der Rückfrage an die Grundpfeiler eines Vertrauensverhältnisses, dann werden diese nicht so leicht beiseite geschoben. Wenn Vertrauen schwindet, dann sind es meist Gründe, die eine Person hat und durch die sie verleitet ist, ein Vertrauen in Frage zu stellen oder es sogar regelrecht zum ›Platzen‹ zu bringen. Misstrauen basiert auf guten Gründen aus der Sicht der misstrauischen Person. Die Gründe können Handlungstatsachen sein, die als Vertrauensverletzung, wie 162 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
etwa Betrug oder Täuschung, verstanden werden, oder kommunikative Fehlgriffe, wie etwa kränkende Bemerkungen oder Lügen. Typisch für Misstrauen ist, dass es auf Gründen beruht, für die kleinste Indizien eine Bestätigung darstellen. Vertrauen dagegen wird auch ohne Gründe gegeben und bisweilen sogar – mindestens aus der Außenperspektive betrachtet – gegen gute Gründe beibehalten. 3 Vertrauen ist grundlos. Dennoch können einige Aspekte des Vertrauens beschrieben werden, die allerdings nicht in ein endgültig bestimmbares Konzept zusammengefasst werden können.
3.
Wie ist Vertrauen? Konglomerat Vertrauen.
Vertrauen ist das Konzept eines interpersonellen Kontextes, sei es zwischen zwei Personen oder zwischen Personen und Institutionen oder Systemen. Wer vertraut, hat nicht Vertrauen in Bezug auf eine Handlung, sondern in eine Person und in Bezug auf einen nur ungefähr umrissenen Handlungs- und Lebensbereich. Vertrauen wird einer Person geschenkt, nicht einer Sache. Strenggenommen ist Vertrauen nicht als eine Eigenschaft zu verstehen, die jemand hat oder nicht hat, sondern nur als ein Konglomerat von einem mehrdimensionalen Gefühl in Bezug auf jemanden anderes. Vertrauen ist ein Gefühl, dass ohne Korrelat nicht bestehen kann. Eine andere Person bleibt als andere immer kontingent und unterbestimmt, Vertrauen überbrückt genau diesen Mangel der Intransparenz des Anderen in der Beziehung. Somit ist die Vertrauensbeziehung zwischen Wissen und Nichtwissen eingelassen. Die Beziehung mit Anderen und eine Zukunftszugewandtheit changiert zwischen Wissen und Nichtwissen. Diese Zukunftszugewandtheit liegt im jeweilig gegenwärtigen Vertrauensverhältnis, das oft auf einer gemeinsamen Vergangenheit beruht. Deshalb ist »Optimismus«, eine positive Vorausschau, meistens Teil des Vertrauens (vgl. Jones 1996, 5). Vertrauen kompensiert die potentielle Unsicherheit, die durch Trudy Govier erzählt die tragische Geschichte einer Anwältin, die gegen die von ZeugInnen vorgebrachten Aussagen und vorgelegten Photos, sehr lange nicht glauben konnte, dass ihr Vater tatsächlich als Soldat während des Nationalsozialismus für den Tod und die Folterung vieler Menschen verantwortlich war. Allmählich wurde ihr bewusst, dass ihr Vertrauen sich in Misstrauen verwandelte. Häufig geschieht der Umschwung von Vertrauen in Misstrauen sehr plötzlich und die Vergangenheit wird zusätzlich narrativ uminterpretiert (Govier 1998, 139–142).
3
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die Interpersonalität und Temporalität entsteht. Diese Kompensation führt dazu, dass Vertrauensverhältnisse üblicherweise nicht befragt werden, selbstverständlich wirken und unthematisch vorausgesetzt werden. Wer vertraut, ist in vielerlei Hinsicht unaufmerksam, nicht misstrauisch und verletzbar mit Blick auf das eigene Wohlergehen. Diese Verletzbarkeit wird aber nicht als solche empfunden, denn sie ist verborgen hinter dem Sicherheitsgefühl und dem Optimismus, die durch Vertrauen gebildet werden können. Diese im Vertrauen gebildeten Dimensionen liegen jenseits von Interessen und Versprechen, Rechten und Pflichten, die ihrerseits immer auf einen bestimmbaren Gegenstand oder eine bestimmte Sache abzielen. Da Vertrauen ein Beziehungsphänomen ist und nicht aus einem Set von Gründen oder Kriterien, die es zu erfüllen gilt, besteht, ist die Frage »Was Vertrauen ist?« ziellos. Einige Aspekte aber, wie Vertrauen sich zeigt, können dargestellt werden. Nur sind diese Aspekte niemals ausschließlich, festumrissen oder hinreichend, deshalb kommen in dem Konglomerat Vertrauen verschiedene Dimensionen und Aspekte zusammen, die jeweils wichtig sind, aber nicht notwendige oder hinreichende Teile des Vertrauens sind. Diese einem Vertrauen innewohnenden Dimensionen können epistemologisch, psychologisch, sozial und moralisch ausgerichtet sein. In der epistemologischen Dimension wird Vertrauen als eine Verstehenskategorie verstanden und bedeutet, mit jemandem, mit etwas oder mit seiner Umgebung vertraut zu sein. Dieses Vertrautsein gründet auf einer gewohnten Selbstverständlichkeit des Grundverstehens, dem Regeln und Geflogenheit, Dinge, Reaktionen der Menschen und deren Umgangsweisen vertraut vorkommen. Sich auszukennen bedeutet, sich auf das, was einem vertraut ist, zu verlassen und es als eine Art Geländer zu benutzen. Das können Regeln und Normen des täglichen, gesellschaftlichen, kulturellen oder wirtschaftlichen Umgangs sein, ebenso Grundwerte und Prinzipien des Denkens und Urteilens. Die psychologische Dimension stellt das Vertrauen als ein Gefühl oder einen Glauben dar. Es ist auf eine konkrete Beziehung mit einer anderen Person bezogen und wird in eine Person oder Institution gesetzt. Psychologisch betrachtet ist Vertrauen ein präreflexives Phänomen, das nicht herbeigewünscht oder -gewollt werden kann. Vertrauen wird meistens für einen bestimmten Glaubens-, Gefühlsund Handlungsbereich ausgesprochen oder gefühlt. Wie bereits dar164 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
gestellt, beruht Vertrauen nicht notwendig auf Gründen; manchmal verlassen sich Menschen auf ihr Gefühl sogar gegen rationale Gründe; man könnte sagen, sie vertrauen ihrem Gefühl des Vertrauens. 4 Auf der soziologischen Dimension wird Vertrauen funktional als »social kit«, »soziale Kraft«, als willkommene »Komplexitätsreduktion«, als Systemvertrauen und als Bedingungen des sozialen Handelns bezeichnet (Fischer und Huhnholz 2010, 17; vgl. Luhmann 1968). Es gilt besonders im ökonomischen Bereich als Voraussetzung einer Investitionsgemeinschaft (als »encapsulated interests«), der Zukunftsvergewisserung und des Engagements (vgl. Hardin 2002). Beziehungen und Verhältnisse zwischen Menschen sind unvermeidbar. Aber die Frage ist, wie diese Beziehungen und Verhältnisse gestaltet werden. Selbst der auf einen Grundzug des Egoismus setzende Adam Smith spricht von einer »Gesellschaft zwischen Räubern und Mördern«, die »sich wenigstens des Raubens und Mordens untereinander enthalten« (Smith 1994, 128). Denn sie können, wie auch von David Hume bemerkt, »ihre verderbliche Verbindung nicht aufrechterhalten, wenn sie nicht unter sich […] jener Gesetze der Fairneß erinnerten, die sie gegenüber dem Rest der Menschheit verletzen« (Hume 1984, 131). 5 Allerdings scheint das Morden oder die Gewaltanwendung im Falle von einigen Verbrechergruppen nur ausgesetzt, solange die Bandenmitglieder gehorsam funktionieren bzw. für die Gruppe einen Nutzen haben. Hier von Vertrauen zu sprechen, scheint deshalb unangemessen, denn Vertrauen impliziert obendrein einen Bereich jenseits von Nutzenkalkül und Interessen, Rechten und Pflichten. Eine erste Annäherung zur Frage, wann Vertrauen eigentlich angemessen ist, wird in der Unterscheidung zwischen unterschiedliIn Kafkas »Prozess« wird erzählt wie ein Gerichtsverfahren allmählich in ein Urteil übergeht. Ein Angeklagter kann bereits Vertrauen in einen Prozess besitzen, aber er wird es in ihn nicht erzeugen können, wenn er es nicht hat. Das Verderben des Protagonisten Josef K. liegt darin, dass er zu viel vertraut; nämlich darauf, man werde das Missverständnis einer Verwechslung schon aufklären und damit seinen Schuldspruch abwenden. Vielleicht können wir vor dem Hintergrund lernen, dass wer vertraut, nichts zu gewinnen, auch nichts zu verlieren hat; aber dass die Fähigkeit des Vertrauens existiert. Hannah Arendt erzählt die Geschichte über die Tage, als sie im Gefängnis saß und es darum ging, dass ein Polizist ihr Hilfe zur Flucht versprach. Sie befand, dass der Mann, der sie verhaftet hatte, »so ein offenes, anständiges Gesicht hatte. Ich verließ mich auf ihn […]« (Arendt 1996, 50). Und ihr Gefühl hat sich als richtig erwiesen. 5 Baier diskutiert Hume ausführlich (vgl. Baier 1991, 155). 4
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chen Formen des Vertrauens ersichtlich, wie etwa dem aktuellen Vertrauen, das nur für eine bestimmte Person oder Institution in Bezug auf eine bestimmte Handlung und Zeit gilt, einem »Klima des Vertrauens« (Baier 2001, 42; 60), das eine Stimmung in einer Gruppe, Institution oder Gesellschaft beschreibt, und einer Kultur des Vertrauens, die die Geflogenheiten und Weisen des Umgangs andeutet. Alle drei Formen liegen in ihrer Negativform ebenfalls als eigene Phänomene vor, nämlich als aktuelles Misstrauen, eine Atmosphäre des Misstrauens und einer »Kultur des Verdachtes« (O’Neill 2002, 18). Aus einer gesellschaftlichen Perspektive wird häufig gewünscht, dass Vertrauensbeziehungen gefördert werden sollten. Aber Vertrauen ist nicht in sich moralisch gut. Sicherlich ist es in den meisten Fällen gut, wenn Menschen einander vertrauen. Aber das Vertrauen in eine Person, die nicht vertrauenswürdig ist, ist ungünstig für denjenigen, der Vertrauen schenkt, sowie für die Gesellschaft insgesamt. Vertrauen ist nie unfreiwillig, manchmal unmerklich, aber immer überschreitend, weil es mehr als einen konkreten Glauben oder ein konkretes Gefühl bedeutet und weil es immer auf andere Personen und die gemeinsame Zukunft ausgerichtet ist. 6 Diese gemeinsame Zukunft könnte, wenn sie jemals thematisiert würde, unter dem Begriff Frieden entfaltet werden. Frieden bedeutet in diesem Zusammenhang die konkrete Möglichkeit, dass Menschen Beziehungen eingehen können, die durch eine gemeinschaftlich verbrachte Zeit, ein Vertrauensverhältnis und die Hoffnung auf die Fortführung dieses Verhältnisses gekennzeichnet sind. Somit ist die Zukunft dem Vertrauen wie auch dem Frieden eingeschrieben. Vertrauen ist auf Frieden hin ausgerichtet! 7 Umgekehrt könnte man denken, dass der Grad des Misstrauens mit dem Unfrieden in einer Gesellschaft korrelierte. Allerdings ist die Sachlage nicht so einfach: Ein tiefes allgemeines Misstrauen und die Abwesenheit von Vertrauen in andere Menschen oder gesellschaftliche Institutionen sind nicht vereinbar mit Vorstellungen von Frieden und Glück. Aber andererseits – wie noch gezeigt werden soll – ist ein selektives Misstrauen keinesfalls Zeugnis für eine friedlose Gesellschaft. Die moralische Dimension des Vertrauens liegt neben dem BeZum Gedanken, dass Vertrauen unmerklich, unverzichtbar und überschreitend ist, vgl. Schües 2008. 7 Diese absolut anmutende These gilt nicht, wenn es sich um »falsches Vertrauen« handelt, das im dritten Abschnitt behandelt wird. 6
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reich der Rechte und Pflichten, mit denen die meisten klassischen Moralphilosophen und männlichen Kaufleute ihre kühl-distanzierten Beziehungen zu regeln versuchen. Rechte und Pflichten sind Regelwerke für gleichgestellte volljährige (meist männliche) Erwachsene, die auf dem Grundprinzip der Freiwilligkeit Verpflichtungen eingehen und die in keinem deutlichen Abhängigkeitsverhältnis stehen, wie z. B. Kinder gegenüber ihren Eltern. Minderjährige, kleine Kinder, Menschen mit Demenz oder kognitiven Behinderungen sind von diesen üblicherweise als reziprok gestalteten Zuschreibungsverhältnissen ausgeschlossen. Vertrauen ist für das Wohlergehen aller Menschen wichtig, sei es als ein Gefühl für einzelne Menschen oder als ein Charakteristikum von Beziehungen. Für mitmenschliche Beziehungen sind die Kennzeichen der Pluralität und Heterogenität zentral, somit muss Vertrauen sowohl in Beziehungen zwischen gleichgestellten wie auch zwischen Menschen in Ungleichverhältnissen möglich sein. Auf der moralischen Dimension wird Vertrauen meist im Sinne der Vertrauenswürdigkeit diskutiert, also der moralischen Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Person, der vertraut wird.
4.
Vertrauen korreliert mit der Vertrauenswürdigkeit einer Person
Die Vertrauenswürdigkeit einer Person bemisst sich an ihrer Haltung, ihrer Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit. Vertrauensbildende Maßnahmen, die durch Kontrollen oder Evaluationen versuchen, den Glauben in die Vertrauenswürdigkeit von z. B. Institutionen zu erzeugen, ersetzen Vertrauen durch Kontrolle. 8 Das Ergebnis ist die Einschränkung der Freiheit, aber nicht unbedingt eine Verbesserung der Atmosphäre oder der Kultur des Vertrauens. So argumentiert etwa O’Neill, dass sogenannte vertrauensbildende Maßnahmen eher mit einer Kultur der Rechenschaftspflicht (accountability) einhergehen, die auf institutionelle Kontrollen, verlässliche Vorhersehbarkeit und sichtbare professionelle Performance (Evaluation, Akkreditierung) abzielen. Mit diesen Maßnahmen wird erhofft, Misstrauen (untrustworthiness) zu verringern. Doch dieser Weg der Kontrolle Im Zusammenhang mit vertrauensbildenden Maßnahmen wird häufig auch Transparenz gefordert, eine Forderung, die ambivalent ist. Siehe dazu Hirsch, Bojanic, Radinkovic 2013.
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geht in die falsche Richtung, denn er führt eher zu einer Kultur des Verdachtes (suspicion) (vgl. O’Neill 2002). Moralisch betrachtet, kann gesagt werden: Erstens, dass Vertrauen gut ist, solange die Person bzw. die Institution, in die vertraut wird, vertrauenswürdig ist. Ist sie nicht vertrauenswürdig, dann hat die vertrauende Person ihr Vertrauen falsch gegeben. 9 Dritte Personen missbilligen bisweilen Vertrauensbeziehungen oder Vertrauensbekundungen und bemängeln die Vertrauenswürdigkeit der Person, der Institution oder des Systems, der oder dem vertraut wird. Die Beurteilung, ob ein Vertrauen richtig oder falsch geschenkt wurde, kann nur aus der Dritten-Personen-Perspektive oder nachträglich, wenn das Vertrauen gebrochen ist, gegeben werden. Wer behauptet, er vertraue jemandem, aber es handle sich um ein falsch gegebenes Vertrauen, widerspricht sich selbst. In Bezug auf Vertrauen wird die Vertrauenswürdigkeit einer Person aus einer subjektiven Perspektive eingeschätzt. Zweitens bedingen sich eine vertrauensvolle Beziehung und das geschenkte Vertrauen gegenseitig, denn Vertrauen funktioniert als Verstärkung von Beziehungen. Gleichermaßen festigen gerechte und fürsorgliche Beziehungen das Vertrauen der jeweiligen Beteiligten. Deshalb gehört es zu der Verantwortung einer Person, die das ihr gegebene Vertrauen akzeptiert, dass sie sich nicht nur um die andere Person kümmert, sondern auch für die vertrauensvolle Beziehung selbst einsteht. Drittens kann Vertrauen unter bestimmten Bedingungen zerstört werden; zu den Bedingungen gehören nicht nur Verrat, Betrug oder Lüge, sondern auch enge Kontrollmaßnahmen und die Gleichgültigkeit gegenüber einer Beziehung. Wie Annette Baier hervorhebt, geht es einem Vertrauenden darum, dem Vertrauten etwas zu überantworten und ihm einen »Ermessensspielraum« (margin of discretion) zu gewähren (Baier 2001, 28), und darüber hinaus zu glauben, dass er eine Verpflichtung in und für die Beziehung hat. »For to trust is to give discretionary power to the trusted, to let the trusted decide how, on a given matter, one’s welfare is best advanced, to delay the accounting for a while, to be willing to wait to see how the trusted has advanced one’s welfare.« (Baier 1991, 117) Hierbei geht es um die gutgläubige Übertragung eines Ermessensspielraums, und zwar hinsichtlich eines individuellen Wohls als auch einer Beziehung, die – wenigstens aus der Perspektive des Vertrauenden, in Bezug auf 9
Das falsche Vertrauen wird im 7. Abschnitt besprochen.
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denjenigen, dem vertraut wird – das mitmenschliche Wohl zu befördern verspricht. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit korrelieren nicht notwendig miteinander. Einer vertrauenswürdigen Person kann das Vertrauen entzogen werden; und selbstverständlich kann Vertrauen einer nicht vertrauenswürdigen Person geschenkt werden. Das sind Fälle eines Missverhältnisses, die zu Enttäuschungen führen. Obwohl Vertrauen scheinbar grundlos geschenkt wird und als Begriff kaum greifbar erscheint, haben Menschen doch Kenntnis vom Vertrauen und eine Disposition, Vertrauen zu suchen und zu finden. Vertrauen ist ein Beziehungsphänomen und primär vor Misstrauen oder Gleichgültigkeit. Die Vorgängigkeit des Vertrauens bedeutet, dass zuerst Vertrauen in seiner Verletzbarkeit vorliegt.
5.
Primat des Vertrauens – Vertrauen als Verstehen und Verstehen als Quelle des Vertrauens
Die Beziehung ist der Anfang eines Menschen, der strukturell in die Geburt eingelassen ist, weil jeder Mensch von einer Mutter geboren und mit mindestens einem anderen Menschen auf die Welt gekommen ist. Gleichgültig wie ein Mensch nach der Geburt weiterlebte, ob liebevoll aufgenommen oder brutal abgeschoben, es geht jeweils um die Gestaltung, Weiterentwicklung und Ausformung dieser ersten Beziehungsstruktur. Diese Beziehung ist meistens durch Vertrauen geprägt, manchmal aber wird sie vernachlässigt oder sogar abgebrochen. Wird ein Kind gleich nach der Geburt abgegeben, dann hat es bereits den Abbruch einer Beziehung erlebt. Es ist ein Erlebnis, durch das es geprägt wird, obgleich es keine bewussten Erinnerungen daran haben wird. Diese ersten Beziehungsstrukturen und -konstellationen prägen die Menschen kognitiv, psychisch, sozial und moralisch. Auch für das Vertrauen wurden bereits diese Dimensionen des Verstehens, Psychischen, Sozialen und Moralischen herausgestellt, die in ihrer Verschränkung ein Grundvertrauen im Sinne eines Weltvertrauens bilden können (vgl. Schües 2008, Kap. 4, 6). Weder Grundvertrauen noch Weltvertrauen heißt, dass jedem und allem vertraut wird. Grundvertrauen setzt auf die grundsätzliche Bereitschaft, anderen Menschen mit einer Haltung der Offenheit, prinzipiell vertrauensvoll zu begegnen. Weltvertrauen ist ein Grundelement des Friedens. Es stützt sich auf den Glauben, dass es prinzipielle friedensfördernde 169 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Maßstäbe des Denkens und Urteilens in der Welt gibt und dass Vertrauen in ihr Weiterbestehen, in die Mitmenschen und in die mitmenschlichen Beziehungen prinzipiell möglich ist. a) Weltvertrauen. Hannah Arendts Beschreibung eines Zusammenbruchs des Weltvertrauens zeigt deutlich, dass es eine Beziehung zwischen Vertrauen und Verstehen und ein Primat des Vertrauens gibt. Sie hat aus einer historischen Zeit heraus geschrieben, in der die Anerkennung der grundsätzlichen Pluralität und Welt zwischen den Menschen und die Verwirklichung des »Rechts, Rechte zu haben« (Arendt 1986, 614) außer Kraft gesetzt wurden, ja einer Zeit, in der sogar die grundsätzlichen Denk- und Urteilskategorien nicht ausreichten, um das zu beschreiben, was geschah, in der die Welt zusammenbrach, politische Verantwortung nicht mehr im Eintritt in das Geschehen, sondern nur im Sich-Heraushalten geübt werden konnte. Arendt hat im Exil das »Höllenspektakel« (Arendt 1985, 58; Arendt an Jaspers, 18. 11. 45) überlebt und versucht nun im großen Rahmen der menschlichen Verfassung – human condition – zu fragen, wie wir wieder in einer Welt zu Hause sein können, die uns so grundsätzlich unvertraut, fremd vorkommt, dass sogar ein Sprechen, das Narrative, unmöglich erscheint. Wie kann aus einer abgrundtiefen Fremdheit heraus ein Eintritt in die Welt ermöglicht werden? Sie möchte verstehen, nicht entschuldigen, wie in einer Welt so etwas wie Totalitarismus überhaupt möglich sein konnte, und fragen, ob es Wege zurück zur Welt gibt; folglich ist die Wiedergewinnung des Weltvertrauens ein politisches und ein philosophisches Projekt (vgl. Benhabib 1998, 96). Letztlich geht es ihr also darum, im Verstehen, in dieser nicht endenden Tätigkeit, die Wirklichkeit in ständigem Abwandeln und Verändern zu begreifen, um uns mit der Welt, wohlgemerkt nicht mit Mördern und Gewaltherrschern, zu versöhnen (vgl. Arendt 1994, 110). Diese Versöhnung im Verstehen bedeutet weder ein Verzeihen noch ein Verstehen im Sinne von Verständnis haben. Verstehen zielt nicht auf Wahrheit oder Informationen ab, sondern auf »Sinn, den wir im bloßen Lebensprozess insofern erzeugen, als wir uns mit dem, was wir tun und erleiden, zu versöhnen versuchen« (ebd., 111). In dieser Versöhnung durch Verstehen machen wir uns die Welt mit ihren kulturellen und sozialen Gepflogenheiten, ihren Normen und Werten vertraut. Somit bietet Verstehen eine Quelle des Vertrautseins mit der Welt und in der Welt, das die Einbindung in die sozialen Beziehungen und moralische Einschät170 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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zungen bedeutet. Damit bildet es selbst wieder eine Begünstigung für Verstehen. Weltvertrauen ist ein beziehungsvolles Wechselspiel zwischen Vertrauenswürdigkeit und Vertrautsein, zwischen Selbstverständlichkeiten und Überraschungen, zwischen allgemeinen Werten und konkreten Normen. b) Geburt und Grundvertrauen. Das Verstehen, in dem jede einzelne Person sich mit der Welt versöhnen kann, beginnt mit der Geburt. »Verstehen […] ist die spezifisch menschliche Weise, lebendig zu sein, denn jede einzelne Person muss sich mit jener Welt versöhnen, in die sie als Fremder hineingeboren wurde und wo sie im Maße ihrer klar bestimmbaren Einmaligkeit immer ein Fremder bleiben wird. Verstehen beginnt mit der Geburt […].« (Ebd., 110) Mit der Geburt eines Kindes wird Vertrauen in die Welt gebracht, weil die Beziehung der Anfang ist, der an eine unausgesprochene leibhaftige Fürsorge appelliert (vgl. Jonas 1984, 234 f.). 10 Dieser Neuanfang, der mit jedem Kind in die Welt kommt und der mit Vertrauen aufgeladen ist, ist eine Zumutung für die Eltern und die Welt. Er kann wie ein Versprechen aufgefasst und anerkannt werden und den Boden für Verantwortung bereiten. Die Neuankömmlinge bringen Vertrauen und ihre anfängliche Fremdheit in die Welt und werden sich in sie eingewöhnen müssen. Das Sinnverstehen im Eingewöhnen wird unterschiedlich sein. Jede neue Generation, jeder Neuankömmling bringt aufgrund seiner/ihrer Einzigartigkeit neue Verstehensweisen, neue Stimmen und Pfade des Denkens in die Welt, auf denen alle Menschen versuchen können, sich erneut verstehend an die Welt zu wenden (vgl. Arendt 1989, 206). Die Neuanfänge und Wege der Eingewöhnung in die Welt bieten die Chance auf neues Vertrauen in der Welt. Das neue Vertrauen in die Welt, in die Beziehungen und Mitmenschen kann nur stark sein und bleiben, wenn auf die Zumutung des kindlichen Vertrauens mit einer eingelösten sittlichen und leibhaftigen Verantwortung geantwortet wird. Das Vertrauen, das mit der Geburt eines Kindes in die Welt kommt, ist grundsätzlich und womöglich sogar eine Zumutung für Gerade weil das kleine Kind keine Forderungen stellt und in seiner Verletzbarkeit ohne die Fürsorge verloren wäre, sieht Jonas hier ein Dasein der Verantwortung. Die Jonas’sche These, dass die Grundlage für ein Sollen in der Natur liege, teile ich nicht. Sehr wohl stütze ich aber die These der Verantwortung für diese erste Beziehung. In ihr ist der Säugling das »Anvertraute«, maßlos in seinen (notwendigen) Forderungen und stets von Enttäuschungen bedroht (siehe auch Schües 2008, 450).
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die Eltern, Angehörigen und Mitmenschen, da sie zur Fürsorge verpflichtet werden. Die Beziehung des Kindes zu den Eltern ist eine der Abhängigkeit, umgekehrt ist die Beziehung der Eltern zu den Kindern eine der Verantwortung. Das kindliche Vertrauen muss nicht gewonnen oder hergestellt werden, es ist bereits vorhanden. 11 Eltern bzw. weitere Bezugspersonen können an diesem ersten Vertrauen anknüpfen und es festigen, oder aber ruinieren und zerstören. Das heißt, Eltern können eigentlich nur Misstrauen säen, aber nicht Vertrauen gewinnen, es sei denn sie wollen es wiedergewinnen, weil sie es verloren haben. Das kindliche Vertrauen, das die Grundlage für die Fähigkeit des Vertrauens ist, gründet auf einem Beziehungszusammenhalt und nicht auf einer rationalen Überzeugung. Diese erste Zumutung des Vertrauens seitens des Kindes kann nicht abgelehnt werden, ohne es zu verletzen. Dem Vertrauen werden durch Enttäuschung, durch das Kennenlernen unterschiedlicher Personen und ihrer Umgangsweisen, oder durch die Erzählungen über mitmenschliche Beziehungen mehr oder weniger starke Grenzen gezogen. Ein Erwachsener, der grenzenloses Vertrauen in andere hätte, würde als unangemessen kindlich und naiv bezeichnet werden. Worin aber liegt die Zumutung? Die Zumutung liegt in einer unausgesprochenen Unterstellung und Erwartung: Wem vertraut wird, von dem wird erwartet, dass er oder sie vertrauenswürdig ist und dass das Vertrauen nicht missbraucht wird. Diese Erwartung richtet sich auf eine Verantwortung, nämlich darauf, dass eine Person entsprechend der Vertrauensbeziehung und antwortend auf diese Beziehung handelt und sich gefühlsmäßig auf sie einlässt. Vertrauen und Verantwortung gehören als wichtige soziale und moralische Anker in einer Friedensgesellschaft zusammen. Aber nicht nur im persönlichen Bereich von Familie und Freundschaft, auch im politischen Kontext werden Verantwortung und Vertrauen gewünscht und gesucht. Politiker_innen sollen so handeln, wie sie es wahltaktisch versprechen, Gremien sollen rechtschaffend, normverbindlich agieren. Das Vertrauen in Familien- und Freundschaftsbeziehungen ist die Basis für den verantwortlichen Umgang Die entwicklungspsychologisch zu beobachtende mehr oder weniger stark ausgeprägte Phase des Fremdelns richtet sich nicht gegen die bereits vertrauten Personen des täglichen Lebens. Oft ist diese Phase bald vorüber und das Kind schaut wieder neugierig in die Welt. Auch Baier (2001, 58) teilt die These eines grundsätzlich vorhandenen frühkindlichen Vertrauens, zumindest solange es nicht eindeutig verraten wird.
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miteinander, ein Garant für Normalität und Selbstverständlichkeiten und einen zugewandten Umgang mit Anderen. Aber Vertrauen im politischen Bereich kann zur schleichenden Normalisierung von Routine führen. Das wiederum kann der Ruin des Politischen sein. Deshalb brauchen wir im öffentlichen politischen Bereich auch das Misstrauen, oder wenigstens die reflektierte Möglichkeit des Vertrauensentzugs. Vertrauen und Misstrauen stehen in einer asymmetrischen Gegensatzspannung. Vertrauen ist existential-ontologisch primär, aber wird vor dem Hintergrund des Misstrauens thematisiert. Misstrauen ist dort, wo man hätte Vertrauen erwarten können, dennoch ist Misstrauen ein ganz eigenes Phänomen.
6.
Falsches Vertrauen und selektives Misstrauen
Vertrauen kann letztendlich grundlos sein, während Misstrauen auf guten Gründen basiert aus der Sicht desjenigen, der das Vertrauen verloren hat oder nicht haben konnte. Obgleich Vertrauen oft unbemerkt und scheinbar grundlos gegeben wird, soll das nicht heißen, dass Vertrauensgründe nicht wichtig wären oder ungeprüft bleiben sollten. Knapp formuliert: »Vertrauen ist grundlos, aber nicht blind« (Bude 2010, 11). Das gilt insbesondere für den friedenspolitischen Bereich. Im täglichen Bereich wird Vertrauen oft unbemerkt jemandem gegeben. Vertrauen ist bei Menschen mehr oder weniger, oft auch diffus, vorhanden und von gleichgültigen Gefühlen gegenüber anderen Menschen oder Institutionen gerahmt. Misstrauen ist »selektiv«. Es sticht explizit gegen eine bestimmte Person oder Institution. 12 Wenn Vertrauen thematisiert wird, dann muss außerdem die Frage danach gestellt werden, was Vertrauen richtig oder falsch machen kann. Nicht nur die Vertrauenswürdigkeit einer Person oder Institution steht zur Disposition, sondern darüber hinaus die politische Angemessenheit eines Vertrauens. Erstens kann Vertrauen auf einen falschen moralischen Grund beruhen, weil es in nicht vertrau-
O’Neill betont, dass Vertrauen »selektiv« gegeben werden muss, da es immer auch die Möglichkeit des Irrens gibt (2002b, 122). Da Vertrauen nicht gewählt gegeben werden kann, möchte ich eher von einem »selektiven Misstrauen« sprechen.
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enswürdige Personen oder Institutionen gesetzt wurde; 13 zweitens kann Vertrauen im politischen Bereich zur Normalisierung führen, was die demokratische Lebendigkeit lähmt; drittens zeigt sich besonders im politischen Kontext bisweilen ein »falsches Vertrauen«. Dieses Vertrauen ist sowohl falsch begründet als auch falsch ausgerichtet, da es in bestimmte politische Wege, Systeme oder Autoritäten gesetzt wird, die eine friedenspolitisch ungünstige Ausrichtung haben und somit eher schädlich als begünstigend für Gesellschaft und Politik sind.
7.
Falsches Vertrauen
Karl Jaspers ist ein politischer Autor, der die Gefahren eines falschen Vertrauens deutlich erkannt hat. »Wenn wir den Grund unseres Vertrauens gewinnen und zur Wirkung bringen wollen, dann ist jedes falsche Vertrauen zu vernichten.« (Jaspers 1961, 308) Falsches Vertrauen ist sehr häufig, besonders im gesellschaftlichen und politischen Bereich. Jaspers skizziert im Kapitel »Wo bleibt noch Vertrauen?« im Buch Die Atombombe und die Zukunft der Menschen vier verschiedene Weisen des falschen Vertrauens im Zusammenhang eines drohenden Atomwaffenkrieges. Seine Beschreibungen gelten aber viel allgemeiner für den politischen Bereich, denn sie können zeigen, wie undifferenziert die Forderung nach Vertrauen besonders im politischen Raum und für Frieden sein kann und wie vorsichtig eigentlich das Thema Vertrauen platziert und kontextualisiert werden sollte, damit es nicht friedensschädigend oder schlicht politisch falsch ausgerichtet ist. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, wo ein falsches Vertrauen verantwortungsvolles Handeln und mitmenschliches Vertrauen verstellen kann. Karl Jaspers nennt falsches Vertrauen im Zusammenhang von Technik, Politik, Fatalismus und Führerhörigkeit (vgl. ebd., 309–315).
Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung von »well-placed trust and misplaced trust« im Zusammenhang von Vertrauenswürdigkeit von Praktiken und Produkten, rechtlichen und ethischen Prinzipien hier vor allem des medizinischen Sektors spricht auch O’Neill (2002b, 123) an. Ich möchte allerdings weitere Möglichkeitsarten von falschem Vertrauen aufzeigen.
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a) Falsches Vertrauen richtet sich häufig auf »technische Auswege«. Diese Form des falschen Vertrauens, das meist aus Zukunftsvertrauen in Systeme besteht oder in menschliche Fähigkeiten im Allgemeinen gesetzt wird, findet sich besonders im Zusammenhang von Atomenergie und Atomwaffentechnik. So wie ein Vertrauen auf die Erfindung der Endlagerung von Atommüll auf zukünftige Generationen übertragen wird, so ähnlich wird sich mit Hilfe von Spekulationen auf passende Abwehrmittel im Waffenbereich beruhigt. Jaspers assoziiert diese Form des Vertrauens mit einer Arche-Noah-Phantasie, die Rettung für alle verspricht und Hoffnung als Grund des Vertrauens setzt. b) In Zeiten der Krise bedeutet falsches Vertrauen auch, dass »politische Auswege in den bisherigen Bahnen« des Denkens und Handelns gesucht werden. In Bezug auf die atomare Abschreckungsdoktrin sagt der gesunde Menschenverstand, dass die auf Dauer gestellte Angst vor einem kollektiven Selbstmord ausreicht und dass das Gleichgewicht des Schreckens, das im Falle der erhöhten Zerstörungskraft der Bomben nur noch gesteigert wird, genügt, um eine Kriegsgefahr zu mindern und einen zwar von Angst geprägten, doch dauerhaften Zustand des Kriegsverzichts zu erreichen. Diese Form von Vertrauen macht sich vermeintlich keine Illusionen über die Friedfertigkeit der menschlichen Natur oder über eine Verwandlung der Menschheit hin zu mehr Frieden. Doch kann Angst der Grund von Vertrauen sein? Historische Tatsachen zeigen, dass die Opferung der eigenen Bevölkerung Kriegsherren nicht abschreckte, zu Waffen zu greifen. Psychologische Beobachtung kann zeigen, dass Angst meistens eine schwache Grundlage für Verträge und Vereinbarungen ist, denn üblicherweise lähmt Angst eher und drängt auf kurzfristiges Handeln. Ein Angstdiskurs erscheint ungeeignet für die Beförderung eines friedlichen Weltverlaufs. 14 Wenngleich Jaspers seinen Text 1961 veröffentlicht hat, zeigt doch die gegenwärtige Diskussion im Jahre 2013, dass von der Abschreckungsdoktrin und dem Festhalten an der Notwendigkeit von Atomwaffen aus der Sicht des Westens, besonders der USA, nicht abgerückt wird. Die Zusammenstellung der Gespräche zwischen George P. Shultz (Secretary of State unter Präsident Ronald Reagan von 1982 bis 1989), William J. Perry (Secretary of Defense unter Präsident Bill Clinton von 1994 bis 1997), Henry A. Kissinger (Secretary of State unter Präsident Richard Nixon von 1973 bis 1977) und Sam Nunn (Co-chairman and Chief Executive Officer der Nuclear Threat Initiative und Democratic Senator von Georgia zwischen 1974 und 1997) belegen,
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c) Wer den »Glaube[n] an die Unmöglichkeit des totalen Untergangs« pflegt, hat vielleicht ein Motiv, Panik abzuwiegeln, doch kaum einen guten Grund für Vertrauen. Dieser Aspekt, der vielleicht auf den ersten Blick abwegig erscheint, dient Jaspers der Klärung der Ausrichtung eines Glaubens. Soll man sich überhaupt einen Glauben gestatten, der eher auf dem Mangel an Phantasie beruht? Andersherum gewendet: »Wir sollten uns jede Weise eines uns ablenkenden Vertrauens verbieten« (Jaspers 1961, 309). Dieser Punkt erstaunt auf den ersten Blick. Aber bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass Jaspers hier auf einen wichtigen psychologischen Aspekt verweist, nämlich auf die Notwendigkeit von Phantasie und der Bereitschaft von gedanklicher Flexibilität, wenn es um die gesellschaftliche und politische Gestaltung eines Landes geht. Wenn Vertrauen heißt, politisch nicht mehr zu hinterfragen, zu prüfen, Ideen zu entwickeln, sich einzumischen und insgesamt einen lebendigen Diskurs zu führen, dann lähmt und behindert es und ist deshalb falsch. d) »Auf Propheten und Führer zu vertrauen, ist ein falsches Vertrauen.« (Ebd., 314) Die Begründung, die Jaspers gibt, ist wenig erstaunlich. Politik hat den Anspruch, den Verstand zu benutzen und ihn nicht an göttliche Verkündigungen zu binden. Diesem Anspruch sind die Propheten nicht würdig, denn entweder begrenzen sie ihn oder zwingen ihn zum Ungehorsam gegenüber sich selber und seinen Einsichten. Der Führer ist als gewählter ›Erlöser‹ immer einer aus der Mitte der Gesellschaft, der sich auf seine charismatische Macht stützen möchte, aber bei gleichzeitiger Notwendigkeit, die Untertanen mögen Vernunft und Verantwortung abgeben. Solchermaßen reduziert könnten die Menschen nicht mehr politisch handeln. Die Aufdeckung eines falschen Vertrauens setzt die Fähigkeit zum Fragen, zum Zweifeln, sogar zum Misstrauen voraus. Die Haltung des Misstrauens kann Gründe bewusst machen, die dem Anspruch objektiver Kriterien genügen müssen, um tatsächlich als Prüfungsinstanz und Befragen eines Vertrauens in das Vertrauen dienen zu können. Aber das Wissen um die Falschheit eines Vertrauens wird
dass sie sich noch 2007 für eine atomwaffenfreie Welt eingesetzt haben, aber diese Vorstellung 2010 und 2011 nicht mehr beibehalten wurde. Die Forderung nach der Vernichtung von Atomwaffen gilt jeweils vor allem für die anderen, insbesondere für Länder, deren politische Regime als unsicher gelten. Vgl. Schultz, Perry, Kissinger u. Nunn 2007–2011.
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Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
nicht immer die Mitglieder eines falschen Vertrauensverhältnisses von diesem emanzipieren. Zum Beispiel ist moralische Anständigkeit nicht vereinbar mit einem sogenannten Vertrauensverhältnis, das mit Vertuschung und Drohung aufrechterhalten wird (vgl. Baier 2001, 76). Dennoch gibt es diese Verhältnisse. Ein Beispiel ist der sogenannte Mafia-Kuss: Bei einer Festnahme eines Mafiamitglieds besiegelt der Kuss ein »Band des Vertrauens«. Mit dem Kuss überträgt der Festgenommene dem anderen die Pflicht zur Verschwiegenheit und die Aufforderung, sich um die Familie zu kümmern. Der Verweis auf erzwungene sogenannte Vertrauensverhältnisse soll zeigen, dass Vertrauen nur dann moralisch legitim ist, wenn die am Vertrauensverhältnis beteiligten Personen die Voraussetzungen und Grundüberzeugungen für das Vertrauensverhältnis akzeptieren könnten, wenn sie gefragt und ehrlich antworten würden. Deutlich wird hier der Konjunktiv angeführt, denn üblicherweise werden die Grundüberzeugungen und Vorraussetzungen in einem Vertrauensverhältnis nicht expliziert; aber sie sind impliziert. Moralisch bezweifelbare Verhältnisse zeigen den Mangel dieser Vertrauensvoraussetzungen deutlicher. Sogenannte Vertrauensverhältnisse, seien sie falsch oder erzwungen, lauern im Hintergrund des politischen Bereichs. Vertrauen besänftigt das Gemüt, ermutigt kaum zu Fragen und wägt den Vertrauenden in Sicherheit, deshalb ist Vertrauen im politischen Bereich nicht nur in Bezug auf seine Angemessenheit zu hinterfragen, sondern auch in Bezug auf seine möglicherweise lähmende Wirkung. Vertrauen schlägt leicht in ein falsches Vertrauen um, nämlich dann, wenn Vertrauen im politischen Bereich normal wird und so die Wachsamkeit der BürgerInnen, die notwendig ist, um Demokratie am Leben zu erhalten, erlahmen lässt.
8.
Selektives Misstrauen
Ein allgemeines Misstrauen deutet entweder auf den Zerfall der Mitmenschlichkeit in der Welt oder auf ein psychologisch krankhaftes Verhalten einer Person. Üblicherweise ist Misstrauen selektiv und von Vertrauen sowie Nicht-Vertrauen zu unterscheiden. Nicht-Vertrauen kann Gleichgültigkeit, eine skeptische oder fragende Haltung bedeuten. Misstrauen ist nicht nur das Gegenteil von Vertrauen. Es ist ein eigenes Phänomen und kann berechtigt oder unberechtigt sein. 177 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Selektives Misstrauen wird deshalb als selektiv bezeichnet, weil es jeweils – im Unterschied zum Vertrauen – aus Sicht der misstrauenden Person auf Gründen beruht. Wenn Misstrauen unberechtigt auf eine Person gerichtet wird, dann verletzt und schädigt es sie. Vielleicht würde den meisten Menschen das Vertrauen von zu vielen schlicht als Zumutung erscheinen, aber noch weniger Menschen möchten vermutlich das Misstrauen anderer verspüren. Doch es gibt Fälle, in denen unberechtigtes Misstrauen zu berechtigtem Misstrauen wird. Misstrauen, also die Unterstellung schlechter Handlungsabsichten oder eines bösen Willens, führt zu unterschiedlichen Reaktionen: Einige Menschen fühlen sich gekränkt, andere werden womöglich ermuntert, wirklich die ihnen unterstellte Untat zu begehen. Welcher Seite sich der Misstraute zuwendet, hat einerseits mit der zeitlichen Komponente zu tun, andererseits auch mit der Art der Beziehung, in der das Misstrauen deutlich wird. Wird im Nachhinein, also nach der Äußerung eines angeblich verletzenden Wortes oder einer misslungenen Handlung, der böse Wille unterstellt, ist die Vertrauensbeziehung in Frage gestellt. Eine Defensivhaltung oder ein Beziehungsabbruch oder -niedergang ist vorgezeichnet. Die Unterstellung böser Handlungsabsichten kann auch den zu Unrecht Misstrauten zur Untat verleiten, denn so könnte er argumentieren: »Wenn mir eh misstraut wird, dann ist es ja auch egal, ob ich mich korrekt verhalte oder eben nicht.« Wird etwa Steuerhinterziehung als Normalität angenommen, dann kommt es nur noch auf die Geschicklichkeit an, sich strategisch klug zu verhalten – jeweils blöd ist, wer sich erwischen lässt. Die Einsicht hier wäre, dass Misstrauen ein Klima vergiften kann. So könnte es wohl sein, dass die Zumutungen – das von Nietzsche genannte »Gift« – des Vertrauens sowie des Misstrauens nicht nur für die betroffene Person Konsequenzen haben, sondern auch maßgeblich den Verlauf der Handlungen, und damit die Gestaltung der Beziehungen und Orientierung der Verhältnisse beeinflussen. Ist die Frage nach dem Vertrauen erst einmal thematisiert, dann ist Wachsamkeit für die Möglichkeit des Misstrauens geweckt. Aber ob es angemessen scheint, die Frage nach Vertrauen oder Misstrauen zu stellen, hängt auch von der Art des Verhältnisses oder der Beziehung ab. Wer zum Beispiel fragt, warum man dem Freund traue, wird kaum eine Antwort auf die Frage erhalten, sondern eher den Grund der Frage erklären müssen. Bei unbekannten Gästen stellt sich möglicherweise die Frage, ob man ihnen vertrauen könnte. Aber wenn ich 178 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Vertrauen oder Misstrauen vertrauen?
einen unbekannten Menschen bei mir übernachten lasse, dann heißt das nicht notwendig, dass ich ihm vertraue. Ich nehme ihn auf, obwohl ich die Vertrauensfrage für mich nicht geklärt habe. Im Zusammenhang der psychologischen Dimension hatte ich das Vertrauen als ein präreflektiertes Gefühl bezeichnet, da in vertrauensvollen Beziehungen und Bezügen die »Frage des Vertrauens schlicht und ergreifend nicht im Raum« steht (Lagerspetz 2001, 91). 15 Die Frage, ob ein Vertrauen angemessen ist, berührt immer auch die moralische oder politische Dimension und den jeweiligen Kontext. Es gibt einen Unterschied, ob im Rahmen einer Freundschaft oder im politischen Kontext die Frage nach dem Vertrauen gestellt wird. In Freundschaften muss der Grund für die Frage nach Vertrauen erklärt werden, d. h. die Frage selbst beunruhigt und verunsichert; im politischen Bereich sind Fragen nach dem Vertrauen, den Gründen für Entscheidungen und Handlungen wichtige Elemente des politischen Umgangs selbst. Die Fragen selbst sind eher Teil des Umgangs, die zur Klärung der Vertrauensgründe (bzw. der mangelnden Gründe für ein Misstrauen) und zur Entlarvung von falschem Vertrauen beitragen können. Die Aufdeckungen von falschem Vertrauen, ausgenutztem oder verletztem Vertrauen sind wichtig für politische Orientierungen und aufgeklärtes friedenspolitisches Handeln. Manchmal ist dem Misstrauen zu vertrauen. Misstrauen weckt die Wachsamkeit für die Handlungsabsichten von Individuen und für die Wirkungsweisen von Institutionen und es verleitet dazu, mit dem sogenannten »gesunden Menschenverstand« und der Intuition, böse Absichten, schlichtes Taktieren anderer zu entlarven. Vertrauen verbindet mit anderen Menschen und hat die Kraft, Beziehungen zu erhalten; aber selektives Misstrauen ist dann angemessen, wenn andere mein Vertrauen ausgenutzt hätten oder wenn es gilt, sich selbst oder andere von einem falschen Vertrauen zu befreien. Deshalb kann sich Misstrauen gegen das eigene Vertrauensgefühl richten und dieses auf seine Richtigkeit überprüfen. Beide, Vertrauen und selektives Misstrauen, können für ein verantwortliches Handeln angemessen sein, denn Verantwortung werden Menschen immer für jemanden oder etwas übernehmen müssen, Außerdem muss Misstrauen in einer aktuellen Beziehung nicht notwendig zu einer von ihm bestimmten Handlung führen. Selbst wer Misstrauen fühlt, muss nicht seine Handlungen auch wirklich nach ihm ausrichten. Eine erhöhte Aufmerksamkeit für andere kann gleichermaßen die Folge sein.
15
179 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Christina Schües
sogar ungeachtet der Frage, ob Vertrauen vorliegt oder nicht. Im politischen Bereich ist das falsche Vertrauen nachteilig und selbst das begründete Vertrauen bisweilen demokratisch einschläfernd. Deshalb gilt es friedenspolitisch, das Vertrauen nicht zu sehr zu hofieren, sondern auch selektives und wachsames Misstrauen zu wagen. 16
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Mein Dank gilt Pascal Delhom und Alfred Hirsch, die mit Workshops im Kontext des Projektes »Verantwortung und Vertrauen als komplementäre Formen gesellschaftlicher Friedensstiftung« wertvolle und weiterführende Diskussionsräume eröffnet haben und damit viele Überlegungen dieses Beitrags erst möglich machten. Auch danke ich Christoph Rehmann-Sutter für seine Anmerkungen.
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Vertrauen oder Misstrauen vertrauen? Govier, T. (1998): Dilemmas of Trust, Montreal: McGill-Queen’s University Press. Hardin, R. (2002): Trust and Trustworthiness, New York: Russell Sage Foundation. Hartmann, M. u. C. Offe (Hg.) (2001): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main/New York: Campus. Hitz, T. (1999): »Geschenk, Gift, Gabe«, in: George Bataille: Vorreden zur Überschreitung, hg. v. A. Hetzel u. P. Wiechens, Würzburg: Königshausen & Neumann. Hume, D. (1984): Untersuchung über die Prinzipien der Moral, hg. u. aus dem Englischen v. G. Streminger, Stuttgart: Reclam. Jaspers, K. (1961): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München: dtv. Jonas, H. (1984): Das Prinzip der Verantwortung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jones, K. (1996): »Trust as an Affective Attitude«, in: Ethics, Vol. 107, Nr. 1, Chicago Journals, 4–25. Kafka, F. (2005): Der Proceß, Frankfurt am Main: Fischer. Lagerspetz, O. (2001): »Vertrauen als geistiges Phänomen«, in: M. Hartmann u. C. Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main/New York: Campus, 85–113. Luhmann, N. (1968): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Lucius & Lucius. Mauss, M. (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp (6. Auflage). Nida-Rümelin, J. (2012): Verantwortung, Stuttgart: Reclam. Nietzsche, F. (1988): Also sprach Zarathustra I–IV, in: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München/Berlin/New York: De Gruyter, Bd. 4. O’Neill, O. (2002): A Question of Trust. The BBC Reith Lectures 2002, Cambridge: Cambridge University Press. – (2002b): Autonomy and Trust in Bioethics, Cambridge: Cambridge University Press. Ottmann, H. (1992): »Verantwortung und Vertrauen als normative Prinzipien der Politik«, in: K. Gloy (Hg.): Demokratietheorie. Ein West-Ost-Dialog, Tübingen/Basel: Francke, 19–30. Schües, C. (2008): Philosophie des Geborenseins, Freiburg/München: Alber. – (2013): »Wagnis Zukunft: Braucht Vertrauen Transparenz?«, in: A. Hirsch, P. Bojanic u. Z. Radinkovic (Hg.): Vertrauen und Transparenz – Für ein neues Europa, Belgrad: Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie, 56–80. Schultz, G. P., W. J. Perry, H. A. Kissinger u. S. Nunn (2007–2011): Toward a World without Nuclear Weapons. The groundbreaking Wallstreet Journal op-ed series, NSP (http://www.nuclearsecurityproject.org/uploads/publica tions/NSP_op_eds_final_.pdf). Smith, A. (1994): Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg: Meiner.
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Sektion 3: Verantwortung und Vertrauen
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Hans-Martin Schönherr-Mann
Verantwortung und Vertrauen nach dem Ende der Kriegshoffnungen Oder: Fördert die Ethik das Vertrauen? Worauf gründet sich Vertrauen, das zum Frieden zwischen Ländern und Kulturen beiträgt? Blind darf es schwerlich sein und es sollte auch nicht in einem religiösen Sinne tragen. Denn seit der Säkularisierung entfällt für viele Zeitgenossen jenes religiöse Grundvertrauen, jenes Vertrauen in Gott, das sie noch hielt. Für viele fragt sich, worauf man dabei denn überhaupt vertraut und ob das des Vertrauens dann auch würdig sei. So steht heute Vertrauen in Frage, wird zum Problem oder manchmal dringend gebraucht. Kann sich Vertrauen auf die Moralität der Mitmenschen stützen? Offenbar ebenfalls nicht, wenn es sich um die traditionelle Ethik handelt. Denn wie bemerkt doch Hannah Arendt 1965: »Ich erwähnte den totalen Zusammenbruch moralischer und religiöser Normen unter Leuten, die allem Anschein nach immer an sie geglaubt hatten, und ich habe auch die unleugbare Tatsache angeführt, dass die Wenigen, denen es gelang, nicht in den Wirbel hineingezogen zu werden, keineswegs die ›Moralisten‹ waren, also Leute, die schon immer Regeln des richtigen Verhaltens hochgehalten hatten, sondern im Gegenteil sehr oft jene, die schon vor dem Debakel sowieso von der objektiven Nicht-Gültigkeit dieser Normen als solcher überzeugt gewesen waren« (Arendt 2006, 139). Die Moralität der Mitmenschen heißt häufig nur, dass sie sich einer Obrigkeit unterordnen und mit deren Direktiven andere fleißig bevormunden möchten. Das ist natürlich nur ein Nebenargument, das aber zum entscheidenden Argument hinleitet. Denn am Anfang des 20. Jahrhunderts war die vorherrschende Ethik eine Normenethik und die Ethik der Verantwortung erst im Entstehen begriffen, verdankte sich diese doch der damaligen Weltlage. So stellt sich die Frage, warum sich Vertrauen nicht auf die Prinzipienethik stützen kann, und ob, inwieweit und auf welche Weise die Ethik der Verantwortung Vertrauen zu fördern in der Lage ist, und zwar ein reflektierendes Vertrauen, bei dem gedacht und mitgedacht und nicht geglaubt wird. 185 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Hans-Martin Schönherr-Mann
1.
Der Niedergang der gemeinschaftsorientierten Ethik
Kriegs- und Terrorszenarien nicht endender Konflikte stellen keine apokalyptische Drohung dar, wenn Samuel Huntington den Zusammenprall der Kulturen prognostiziert (Huntington 2002). Apokalypsen sollen ja auch gar nicht eintreten, sondern deren Androhung soll das Handeln der Zeitgenossen ändern – eine fragwürdige Pädagogik allerdings, der auch offenbar wenig Erfolg beschieden ist. Ob am 11. September 2001, im Afghanistan- oder im Irak-Krieg, heute in Pakistan realisiert sich jedoch Huntingtons Vision längst: ergo handelt es sich um keine Apokalypsen. Dabei träumen die Kriegsparteien natürlich noch vom Sieg, der indes für alle Beteiligten immer weiter in die Ferne rückt. Mit diesem eingetretenen, nicht apokalyptischen Clash of Civilizations kehren nach dem Zeitalter der Ideologien die europäischen Religionskriege des 17. Jahrhunderts diesmal global wieder. Allzu sehr verwundern sollte das nicht, waren die Lehren aus den Religionskriegen – man denke an Hobbes – rund 100 Jahre später längst vergessen. Weite Teile der modernen Kultur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert setzen große Hoffnungen auf den Krieg, der häufig nicht mehr die ungläubigen Teufel besiegen, sondern den Fortschritt beschleunigen soll: die Ausbreitung der Menschenrechte durch Napoleon, die Einigung der Nationen, der Aufbau kolonialer Reiche, der revolutionäre Fortschritt zum Sozialismus, eine rassistische Vormachtstellung oder deren Bekämpfung als Krieg aus humanitären Zwecken. Alles das entspringt der romantischen Kriegsbegeisterung, die der Turiner Philosoph Massimo Mori 1984 in La ragione delle armi (vgl. Mori 1984, 229) diagnostiziert. Europa exportiert dieses Denken in diesen Jahrhunderten auch fleißig in alle Erdteile, so dass dort viele Menschen im antikolonialistischen Krieg eine schöpferische Kraft erkannten – man denke an Frantz Fanon und Sartre, von Trotzki und Mao ganz zu schweigen. Gelegentlich mag man ja überschaubare Ziele durch Kriegführung erreichen. Der globale Konflikt zwischen Kulturen, Religionen, Weltanschauungen, verquickt mit Nationen und ökonomischen Machtzentren lässt sich jenseits eines bloßen Waffenstillstands dagegen nur friedlich ausgleichen, wenn einerseits ein Kriegspotential mit schauerlichen Zerstörungen und schier unerschöpflichen Vorräten droht, und andererseits missionarischer Eifer wie ideologische Verbohrtheit Kriege ins Unendliche verlängern. Immerhin hat sich 186 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Verantwortung und Vertrauen nach dem Ende der Kriegshoffnungen
die Sowjetunion ohne großen Krieg aufgelöst: der größte Glücksfall der bisherigen Geschichte. Oder hatte sie diese Lektion gelernt? Denn im anderen Fall hätte ein globaler Atomkrieg stattgefunden. Den Frieden herzustellen und zu sichern, stellt sich daher im 21. Jahrhundert als vordringliche Aufgabe natürlich primär der Politik, der Wirtschaft und sozialen Kräften heraus. Zudem sehen sich die Akteure auch vor eminenten ökologischen, technologischen und ökonomischen Herausforderungen, die zu einem großen Teil nur global, also durch internationale Kooperation angegangen werden können – sei es die globale Armutsbekämpfung oder die Klimaveränderung. Kann Vertrauen dem latenten wie manifesten Bellum omnium in omnes widerstreiten? Das wäre zumindest denkbar, wenn man dabei an die Moderaten in allen politischen und kulturellen Lagern denkt. Denn auch bei harten Auseinandersetzungen gibt es immer verschiedene Grade der Verbitterung unter den Beteiligten. Wie bringt man die Moderaten beider Konfliktparteien miteinander ins Vernehmen? Eine zentrale Voraussetzung dazu ist, dass sie sich gegenseitig in einem gewissen Maße überhaupt vertrauen, sich gegenseitig als Gesprächspartner anerkennen. Wenn ihnen beispielsweise Hans Küngs Bemühungen um ein Weltethos vorführen, dass sich die andere Seite hinsichtlich der Basisnormen von ihnen selbst kaum unterscheidet, könnte sich ein solches Vertrauen leichter aufbauen, das am Ende womöglich sogar zu einem gewissen gegenseitigen Respekt führt (Schönherr-Mann 2008). Das klingt allerdings zu einfach: Religiöse oder moralische Menschen folgen ähnlichen ethischen Prinzipien und neigen daher eher zu gegenseitigem Vertrauen, das Verständigungsbereitschaft fördert. William James erklärt in seinen Varieties of religious Experience aus den Jahren 1901/02, dass das Gebetsbewusstsein den empirischen Beleg für den Beitrag der Religionen zur Humanisierung darstellt, erweisen sich religiöse Menschen doch als moralischer als nichtbetende (vgl. James 1979). Im Rahmen einer überschaubaren Gruppe von Siedlern bzw. Kolonialisten, die alle derselben Sekte angehören, erleichtert der gemeinsame religiöse Glaube zumindest die permanente gegenseitige Kontrolle und fördert dadurch eine moralische Orientierung. Doch nicht nur, dass sich die Normenethik zwischenzeitlich als fragwürdig herausgestellt hat. Wenn vielmehr die Normenethik das Vertrauen fördern würde, müsste das immer schon so gewesen sein, verknüpfte das Christentum den Glauben mit einem moralischen 187 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Hans-Martin Schönherr-Mann
Code, dem man sich zu unterwerfen hatte. Ergo förderte die Normenethik keineswegs das Vertrauen. Warum sollte religiöse oder nichtreligiöse Normenethik dann plötzlich jetzt zum Frieden beitragen, Vertrauen schaffen, gar zum gegenseitigen Verständnis führen? Warum sollte heute klappen, was bisher scheiterte? Ist dergleichen, nämlich Vertrauen und Verständigung zu schaffen, überhaupt der Zweck ethischer Systeme? Schließlich kann man einwenden, dass ethische Systeme regelmäßig nur für die Mitglieder der eigenen Gruppe galten. Zugleich regelten sie den Umgang mit Fremden durch spezielle Prinzipien. Der Islam oder das Christentum, die universelle Ansprüche verfolgen, grenzen in der Alltagspraxis häufig die Ungläubigen aus. Universalismus hieß hier lange nicht mehr, als das Angebot an alle Menschen, sich zum jeweiligen Glauben konvertieren zu lassen. Ähnliche Auffassungen findet man aber auch in der analytischen Philosophie, die dekonstruktiven Positionen zumeist die Anerkennung verweigert, sie gewiss nicht für weise, höchstens für kauzig hält (Quine). Wieso sollte die Einsicht in gemeinsame ethische Normen zwischen Analytikern und Dekonstruktivisten oder zwischen Christen und Moslems oder zwischen Frankreich und Deutschland, Indien und Pakistan, China und Taiwan also plötzlich befriedend wirken? Doch aus welchem Grund ist wohl niemand im Zeitalter des Kriegs der Ideologien, also seit der Französischen Revolution, beispielsweise auf die Idee eines Weltethos gekommen und prüfte, ob es zwischen den verfeindeten Ideologien nicht gemeinsame ethische Standards gibt? Und dass es solche gemeinsamen Standards gab und gibt, das darf man wohl annehmen; wenn man von den Nazis absieht, die sich trotzdem weitgehend der gängigen ethischen Normen bedienten, wiewohl sie deren Anwendungsbereich so massiv einschränkten, dass jeder universelle ethische Sinn zerstört wurde. Oder glaubte jemand gar, dass die Universalität ethischer Normen den Frieden zwischen den Staaten fördert? Doch jenseits gemeinsamer Standards hoffte man erstens im 19. Jahrhundert auf die Fortschritt stiftende Kraft des Krieges und hielt die Ethik noch bis ins späte 20. Jahrhundert für schwach. Zweitens selbst wenn man einsah, dass die Feinde denselben ethischen Normen folgten, so sah man darin keine besondere Gemeinsamkeit, ging es primär um eigene Interessen, die man für wichtiger als jede Ethik hielt. Marx erklärt die objektiven Interessen des Proletariats zum Menschheitsinteresse, womit er dezidiert keine ethische Begründung liefern wollte, sondern 188 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Verantwortung und Vertrauen nach dem Ende der Kriegshoffnungen
eine materielle und historische, die letztlich nicht viel anders als Nietzsches Wille zur Macht funktioniert. Gerade weil die Ethik salopp formuliert überall Ähnlichkeiten aufweist, stiftet sie nicht die entscheidende Identität, sondern die eigenen Interessen, die von anderen abgrenzen, unterscheiden, aber auch verbinden können. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war man längst nicht bereit, den anderen ob eines ähnlichen Ethos als ebenbürtig anzuerkennen, zählte das Ethos eher als sekundär gegenüber dem richtigen Glauben oder später gegenüber den nationalen oder Klasseninteressen. Das Kant’sche Volk von Teufeln muss schließlich auch das Problem des Zusammenlebens lösen, soll die Ethik den Egoismus der Teufel untereinander mäßigen, damit sie nach außen umso geschlossener auftreten. Überhaupt zielte die Ethik – ob im mittelalterlich christlichen Sinn oder im aufklärerischen Verständnis – doch eher auf die Anpassung des Individuums an die Gemeinschaft und deren Sitten durch die Unterdrückung seiner egoistischen Neigungen. Damit gründet sich Humanität eher am Rande auf das Ethos, wie die Prinzipienethik umgekehrt unter diesen Bedingungen schwerlich nachhaltige Beiträge zur Lösung massiver politischer oder internationaler Konflikte fähig erscheint und insofern auch dem Frieden nicht notwendig dient, sondern eher dem Krieg, weil sie die Mitglieder einer Gruppe zusätzlich diszipliniert, ihren Gehorsam fördert und damit ihre Bereitschaft, im Dienst der Gruppe das eigene Leben im Krieg zu gefährden. So erkannte man längst, dass die Ethik auch die Gemeinschaft nicht primär stabilisiert, die sich ja vielmehr durch gemeinsame Interessen nach außen abgrenzt. Die Ethik kommt erst in zweiter Linie, wiewohl sie immer dann beschworen wird, wenn es ökonomisch nicht mehr so viel zu verteilen gibt. Doch vielleicht just aus diesem Grunde wirkt auch ein solches ethisches Bewusstsein längst nur noch marginal. Vielerorts ertönt denn auch das Lamento vom Wertezerfall, vom Verblassen absoluter Normen, vom Relativismus in der Ethik. Doch wie sollte man solchen Normen noch vertrauen, wenn sie primär zu einer Freund-Feind-Unterscheidung führen? ›Right or wrong, it’s my country.‹ Wenn sie folglich blindes Vertrauen verlangen? Und keine durchsetzungsfähigen Mehrheiten mehr Gott oder dem Vaterland vertrauen, jedenfalls in der westlichen Welt?
189 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Hans-Martin Schönherr-Mann
2.
Die befriedende Stärke der individuellen Ethik
Wirkt die Ethik daher heute weder verbindend noch vertrauensbildend? Indes bekräftigt das in den letzten Jahrzehnten wiedererwachte Interesse an der Ethik, dass die Ethik für das Selbstverständnis der Zeitgenossen zwischenzeitlich eine wichtige Grundlage der eigenen Existenz darstellt, während die Anpassung an die Gemeinschaft als primäre Aufgabe der Ethik in den Hintergrund tritt. Wie aber sehen solche Gemeinsamkeiten aus? Stehen dabei wirklich die ethischen Normen im Vordergrund? Bereits im Protestantismus dient die Ethik primär der Gestaltung der individuellen Identität. Da der protestantische eher ferne Gott den Menschen weitgehend sich selbst überlässt, stellen mystische Praktiken zu diesem Gott keine lebensgestaltende Verbindung mehr her. Stattdessen muss der einzelne sein Leben innerweltlich in den Griff bekommen. Dazu aber dienen ihm die diversen asketischen Praktiken der protestantischen Ethik: »Stets aber bleibt das spezifische Ziel vor allem: ›wache‹ methodische Beherrschung der eigenen Lebensführung« (Weber 1979, 323), bemerkt Max Weber über den asketischen Protestantismus. Um ökonomisch erfolgreich zu handeln, muss man sich bestimmten Lebensregeln unterwerfen. Der ökonomische Erfolg bleibt aber individuell und wird nur in bestimmten liberalen Theorien mit dem Gemeinwohl vermittelt – man denke an die unsichtbare Hand des Adam Smith. Letztlich aber gewinnen asketische Regeln immer größere Bedeutung für die Selbstkonstitution des Individuums. Sören Kierkegaard erkennt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann definitiv, dass Ethik längst nicht mehr primär dazu taugt, das Individuum der Gemeinschaft unterzuordnen, sondern dass sie dem individuellen Leben Form gibt, über die aber das Individuum in letzter Konsequenz selbst befindet. »Indem die Persönlichkeit sich selbst wählt, wählt sie sich selbst ethisch« (Kierkegaard 1957, 189), so Kierkegaard, gestaltet sie ethisch ihr eigenes Leben für sich selbst und nicht bloß unterworfen unter ein allgemeines Sittengesetz, wie es Hegel begrifflich entwickelt. Zeitgleich bemerkt Max Stirner, dass man sich den Mord selbst verbieten muss. Ansonsten stellt man nur ein Ausführungsorgan des Gesetzes dar. Jedoch muss man das nicht nur, man kann sich dem auch nicht entziehen (vgl. Stirner 2009, 61). Das hat ihm gründlich den Ruf verdorben. Trotzdem konstatiert er mitten im militaristischen und hierarchischen 19. Jahrhundert, dass jeder einzelne über sein Le190 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Verantwortung und Vertrauen nach dem Ende der Kriegshoffnungen
ben befindet. Nietzsche wird ein ähnliches Verständnis von Ethik mit seiner Konzeption des Übermenschen und der Wiederkünftigen entwickeln. Ethik stellt nicht mehr die Unterordnung unter eine Gemeinschaft dar, sondern die Entfaltung des Individuums, das etwas über sich hinaus entwickeln muss, genauer neue Werte erfinden und aus seinem Leben ein Kunstwerk machen. Sartre entwirft eine Philosophie der Freiheit des Individuums im Angesicht auch des schlimmsten Tyrannen, was – ob peinlich oder nicht – Amokläufer und Selbstmordattentäter eindrucksvoll bestätigen. Für Michel Foucault stellt dann die Ethik gänzlich eine individuelle Lebenskunst dar. Dabei greift er auf antike Modelle der Asketik zurück, damit man nicht Opfer der eigenen Lüste wird, sondern just um diese nachhaltig gebrauchen zu können, nicht um sich ihrer zu verweigern (vgl. Foucault 1989, 317). Dieses Verständnis von Ethik als individueller, gestalterischer Kraft hat sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt, waren die abendländischen Gesellschaften der zwei Jahrhunderte zuvor primär hierarchisch bzw. militärisch strukturiert, orientierten sie sich am Krieger und am Priester als sozialen Leitbildern. Seither trägt diese individuelle Perspektive wesentlich zur neuerlichen Bedeutung der Ethik in einer demokratischen Welt bei, in der der einzelne so mündig und wenig autoritätsgläubig ist, wie man es in der Geschichte wahrscheinlich kaum findet. So schreibt Ulrich Beck: »Der Vulkan politischer Freiheit ist keineswegs erloschen. Wir haben es nicht nur mit einem Zusammenbruch bisheriger Gewissheiten, sondern mit einem Aufbruch in neue Freiheitsräume zu tun und damit in Felder vorbildloser Fragen.« (Beck 1997, 384) Trotz der immer noch vorhandenen intuitiven Unterschiede im Verhalten zwischen Menschen aus Gegenden, in denen die Gegenreformation die ethischen Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken weitgehend einebnete, und Menschen aus Gegenden, in denen weder die Reformation noch die Gegenreformation große Rollen spielten, hat eine sehr ähnliche ethische Lebensgestaltung die Unterschiede zwischen Franzosen, Griechen und Deutschen längst aufgehoben. So darf man zumindest hoffen, dass die Einsicht in individuelle ethische Gemeinsamkeiten auch dem gegenseitigen Fremdeln zwischen Muslimen und Christen entgegenwirken wird, jedenfalls dort, wo sie beginnen ihr Leben selber zu gestalten. Insofern kann man unterstellen, dass die Ethik individueller Lebensgestaltung wirklich Gemeinsamkeiten über nationale und kultu191 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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relle Grenzen hinweg herzustellen vermag, die dadurch befriedend wirken, wie sich Menschen nicht mehr so leicht in den Dienst entsprechender Gemeinschaften nehmen lassen. Sie könnten mehr Vertrauen zu anderen Menschen entwickeln, als Vertrauen in die eigenen politischen und sozialen Institutionen aufbauen. Dieses Vertrauen stützt sich dabei auf ähnliche ethische und existentielle Probleme, den ähnlichen Umgang mit denselben, den man daher auch nachzuvollziehen in der Lage ist. Ein solches reflektierendes Vertrauen zwischen den Individuen fördert den Frieden vor allem auch dadurch, dass es die traditionelle Ethik der Orientierung an der Gemeinschaft hintergeht und erodieren lässt, also Freund-Feind-Bilder untergräbt. Menschen, die dagegen ihr Leben in den Dienst einer Idee, einer Religion oder einer Gemeinschaft stellen, erscheinen nicht mehr als besonders vertrauenswürdig – man denke an Eichmann, Osama bin Laden, oder schlicht an die Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit.
3.
Individualisierung und Emanzipation
Diese Entwicklung verdankt sich dabei diverser Emanzipationsprozesse der letzten Jahrhunderte, die allerdings nicht zu einer Universalisierung ethischer Werte führen, sondern zu einer Pluralisierung. Unter Emanzipation verstehe ich nicht, dass man zum mächtigen Subjekt avanciert, das sich die Welt untertan macht, auch nicht, dass man sein wahres Wesen nach außen kehren darf, sondern zunächst im Anschluss an Kant den Anspruch auf Mündigkeit, aber einen individuellen. Daraus folgt heute nicht nur die freie Wahl der Lebensform, was lange noch primär eine private Angelegenheit darstellt. Doch diese wird öffentlich, wenn die eigene Lebensform nicht bloß versteckt geführt werden muss, wenn man sie vielmehr offen bekunden darf und man keiner vorgegebenen Sittlichkeit huldigen muss. Man bewundert keine Majestäten mehr, den demokratischen Staat allemal nicht. Nach Thomas Hobbes im Zeitalter erster Emanzipationsbestrebungen, wenn die Lebenssicherung der Bürger zum Staatszweck avanciert, der Staat damit seinen göttlichen bzw. Selbstzweckcharakter verliert, muss der Untertan noch öffentlich der Staatsreligion huldigen, darf aber privat und versteckt dem Kult frönen, den er bevorzugt. Es dauert quasi bis in die letzte Hälfte des 20. Jahrhunderts, bis 192 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Verantwortung und Vertrauen nach dem Ende der Kriegshoffnungen
zumindest in einigen Ländern das Private emanzipatorisch ins Licht der Öffentlichkeit getreten ist. Dabei gehe ich von verschiedenen Wellen der Emanzipation aus. Sie beginnt mit der Reformation und dem Anspruch der Reformierten, nicht als Häretiker betrachtet, sondern als berechtigte Glaubensgemeinschaft anerkannt zu werden. Hier liegt bis heute noch immer viel im Argen, beispielsweise im Umgang mit den diversen Sekten, zu denen man auch politische zählen sollte. Allerdings erheben religiöse Gruppierungen ihrerseits regelmäßig universelle Wahrheitsansprüche, was die Konflikte verschärft, anstatt dass sie auf Mission verzichten würden. Trotzdem gehört hierzu auch noch Galileis Forderung nach der Laienauslegung der Bibel. Im 17. und 18. Jahrhundert erfolgt dann die Emanzipation des Bürgertums, das politische Partizipation und letztlich sogar Hegemonie beansprucht. Im 19. Jahrhundert rollen zwei Wellen der Emanzipation nebeneinander ab, die sich gar nicht selten kreuzen, nämlich die Emanzipation der Juden, die dabei notorisch droht, in Assimilationsstrukturen abzugleiten, und die Emanzipation der Arbeiter. Beide Bestrebungen vollenden sich zumindest tendenziell nach dem ersten Weltkrieg. Im 20. Jahrhundert sehen wir zunächst den antirassistischen Emanzipationsanspruch der Farbigen – man denke an die Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren in den USA und an das Ende der Apartheid in Südafrika. In der zweiten Hälfte setzt sich dann mit großem Erfolg die Emanzipation der Frauen durch, die zwar sicherlich noch viele Altlasten ihrer früheren unterwürfigen Rolle mitschleppen und die noch längst nicht entsprechend in den Führungspositionen von Wirtschaft und Politik angekommen sind, die aber jedenfalls ihre vormals unterwürfige Rolle längst verlassen haben, indem sie sich ökonomisch zunehmend selbständig machen. Das kann man zwar wie Wolfgang Streeck als Anpassung an den neoliberalen Kapitalismus geißeln: Aber viele Frauen arbeiten lieber für Geld als für die Liebe, was nichts anderes bedeutet, als dass man von einem Mann abhängig ist. Die unpersönliche Abhängigkeit ist heute vielen lieber als die persönliche. Im begonnenen 21. Jahrhundert sind die Homosexuellen zunehmend aus dem Schatten ins Licht der Öffentlichkeit wie der Politik getreten. Man kann auch von einer gelungenen Multikulturalisierung der westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten sprechen, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Migrations- und 193 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Hans-Martin Schönherr-Mann
Kulturhintergründen mit ihren Themen ebenfalls in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen oder manchmal auch aus gegenteiligen Motiven dorthin gezerrt werden. In einem solchen emanzipatorischen Licht darf man denn wohl auch die politischen Partizipationsbemühungen in vielen arabischen Ländern betrachten. Die Welle dieser Emanzipation wirkt sogar zurück ins alte Europa – man denke an die Proteste in Griechenland oder Spanien oder an die Parlamentswahl im Februar 2013 und den Erfolg der Bewegung Fünf Sterne. Auch viele Bürger mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen sind sich wahrscheinlich längst nicht so fern und fremd, wie es die jeweiligen religiösen oder ideologischen Hardliner propagieren – man denke an jenen Banker, der sich einbildet und fest daran glaubt, dass sich Deutschland abschafft. Aus dieser Perspektive verschiedener Emanzipationswellen verliert Emanzipation aber ihren universellen Sinn, den sie bei Friedrich Schiller im Wilhelm Tell noch hatte, wenn Bürgertum, Menschheit und Natur zusammenfließen, oder an Ökologien gemahnt, die ein globales menschheitliches Interesse behaupten. So sehr sich auch manche feministische Positionen darum bemühen, ähnliche Gleichungen zu formulieren, so sehr wird doch wie bei allen anderen Emanzipationsbewegungen deren partieller Charakter deutlich, der auf die universellen Ansprüche von Bürgertum und Proletariat längst nachhaltig demolierend rückwirkte. Bürgertum und Arbeiterschaft stellen heute ebenfalls partielle Interessensgruppen dar, die durch Neoliberalismus und Sozialstaat nur unzulänglich beschrieben werden. Arnold Gehlen kritisiert sicherlich aus seiner Perspektive zu Recht 1956 diese Entwicklung, wenn er über die Kulturentwicklung bemerkt: »Diese Emanzipation der Teilaspekte beobachten Sie überall, im gesellschaftlichen Leben liegt hier der reine Interessenpositivismus der organisierten Gruppen, auf den ich an dieser Stelle nicht näher einzugehen brauche, mich mit der Bemerkung begnügend, dass seinetwegen die Soziologie heute ohne den Begriff ›Volk‹ auskommen kann.« Damit bestätigt er indirekt die Diagnose der Emanzipation als pluralistischen Prozess. Die Volksgemeinschaft der Nazis reduziert sich bei Jürgen Habermas auf die Verfassungsordnung. Es geht ja bei den diversen Emanzipationsbewegungen längst nicht nur um allgemeine Menschenrechte und um allgemeine politische Partizipation, sondern um besondere Lebensformen und deren öffentliche Ansprüche, die dadurch die traditionelle sittliche Ordnung nicht nur herausfordern, sondern auflösen: man denke hier nicht nur 194 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Verantwortung und Vertrauen nach dem Ende der Kriegshoffnungen
an die Abtreibung oder an die sogenannte Homo-Ehe, sondern auch an Minarette im einstmals christlichen Abendland. Insofern zielen die diversen Emanzipationsprozesse denn auch nicht mehr primär auf universelle Normen, sondern darauf, das eigene Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können, was politisch partizipatorische Ansprüche aber keineswegs ausschließt. In diesem Sinn tangieren sich denn auch die individuelle Ethik und die diversen Emanzipationsbestrebungen, die sich historisch natürlich nicht überall parallelisieren lassen, die trotzdem zum gegenseitigen Vertrauen der einzelnen über Länder- und Kulturgrenzen hinweg beitragen – gestützt durch die mediale Welt, das Fernsehen oder Facebook. Einen derartigen Wandel der Ethik wie der Humanität bestätigt denn auch Charles Taylor: »das Gefühl des Epochenwandels spiegelt sich in den folgenden bekannten Worten Virginia Woolfs: ›Ungefähr im Dezember 1910 änderte sich die menschliche Natur.‹ Ein Parallelfall ist in den 1920er Jahren André Gides öffentliches Bekenntnis zu seiner Homosexualität – ein Schritt, zu dem ihn nicht nur sein Begehren, sondern auch seine Haltung in Bezug auf Moral und Integrität veranlassten. […] Aber erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt diese Ethik der Authentizität die allgemeine Einstellung der Gesellschaft zu prägen. Es wird gang und gäbe, die ›eigenen Angelegenheiten‹ selbst erledigen zu wollen.« (Taylor 2009, 792) Foucault geht davon aus, dass es den Menschen als lebendiges Wesen und die Sexualität als Heterosexualität erst seit ca. 300 Jahren gibt.
4.
Von der Prinzipien- zur Verantwortungsethik
Insgesamt hat damit die Ethik nicht nur eine andere Rolle erhalten, nämlich das Leben der Individuen zu formen. Sie entwickelt sogar, wie es Nietzsche ankündigt, neue Werte und Normen: z. B. die Anerkennung unterschiedlicher sexueller Praktiken, die politische Partizipation potentiell aller Menschen, neue lebensweltliche Werte wie Sensibilität, Emotionalität, Zärtlichkeit, oder neue technisch implantierte Normen, z. B. die Lebensverlängerung als ethische Norm in der Medizinethik. Vor allem tritt mit dem Problem der Lebensgestaltung die Beachtung der Folgen als neuer ethischer Maßstab mit zahlreichen Konsequenzen in den Vordergrund: Im 20. Jahrhundert ent-
195 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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steht die Verantwortungsethik, die man als Oberbegriff dieser individuellen ethischen Bestrebungen betrachten kann. Max Weber prägt die Unterscheidung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungs- bzw. Prinzipienethik vor dem Hintergrund der großen sozialen und ideologischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts, die bis 1989 fast noch das ganze 20. Jahrhundert beherrschen. Verantwortung orientiert sich nach Weber primär an den Folgen des Handelns, nicht an hehren Zielen oder obersten Normen. Das gilt jedoch nur für führende Politiker und Manager. Weber konstatiert: »Ehre des politischen Führers, also: des leitenden Staatsmannes, ist dagegen gerade die ausschließliche Eigenverantwortung für das, was er tut, die er nicht ablehnen oder abwälzen kann und darf« (Weber 1971, 524). Damit schließt Weber an Nietzsche an, der Verantwortung ebenfalls einer Elite attestiert. Nietzsche beschreibt das souveräne elitäre Individuum in Zur Genealogie der Moral folgendermaßen: »Das stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominierenden Instinkt« (Nietzsche 1999, 294). Nietzsche bezieht sich damit indes nicht auf die noch in seiner Zeit herrschenden Aristokratien. Stattdessen hofft er auf eine Avantgarde der freien Geister, die er gerade nicht politisch im Sinne des zeitgenössischen Einheits- und Nationalstaates, sondern individualistisch ausrichtet, um von dort aus eine ästhetisch partizipatorische Staatskonzeption zu entwickeln. Der Begriff der Verantwortung beschränkt sich bei Max Weber noch auf die Ebene politischen Führertums und schließt davon dezidiert alle Untertanen aus, deren Ethos im Gehorsam liegt – hier hat er Nietzsches modernen individuellen Anspruch missverstanden, dass das Individuum sein Leben auch politisch selber gestaltet, was vielleicht nicht allen gelingt, aber niemanden davon strukturell ausschließt. Eher im Sinne Nietzsches erreicht die Verantwortung in JeanPaul Sartres erstem Hauptwerk Das Sein und das Nichts jeden Einzelnen. Das Buch erscheint 1943 in Paris unter deutscher Besatzung und formuliert die Philosophie des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Sartre propagiert das Individuum als frei trotz Fremdherrschaft und Unterdrückung: Ob der Einzelne gegen das Besatzungsregime kämpft oder nicht, bleibt allemal seine Entscheidung, 196 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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die ihm niemand abnimmt, die er aber auch alleine verantwortet. Sartre konstatiert, »dass der Mensch, dazu verurteilt, frei zu sein, das Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern trägt: er ist für die Welt und für sich selbst […] verantwortlich« (Sartre 1993, 950). Niemand kann sich der politischen Situation, in der man lebt, entziehen und sich ins private stille Kämmerlein zurückziehen. Jeder bleibt für die Welt genauso verantwortlich wie für den Krieg, den er weder gewollt noch selber erklärt hat. Nicht nur der politische Führer, jeder ist dabei gerade im Widerstand auf sich alleine gestellt, politische Entscheidungen zu treffen, die ihm keine Ideologie oder Religion abnehmen. Sartre bereitet damit auch dem liberalen wie partizipatorisch demokratischen Selbstverständnis der Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Weg: Da Verantwortung primär eine individuelle Struktur besitzt, eignet sie sich für eine historische Situation, in der die Einzelnen auf sich selbst zurückgeworfen sind. So überschreitet die Verantwortung auch die politische Sphäre, erstreckt sich die Macht der Verantwortung (vgl. Schönherr-Mann 2010) auf die Existenz als solche, gewinnt folglich einen ästhetisch partizipatorischen Charakter. Derart konturiert sich die emanzipatorische Perspektive, die nicht nur politische Partizipation für alle Menschen beansprucht, sondern die freie Wahl der Lebensform, die Staat, Kirche, Moschee oder Familie den Menschen nicht mehr vorschreiben dürfen. »Allen Konfusionen und Ausflüchten zum Trotz«, gesteht auch Charles Taylor ein, »wird jedoch deutlich, dass eine echte Werteverschiebung eingetreten ist. Man erkennt das daran, dass manche Dinge Jahrhunderte lang ertragen wurden, von denen es heute heißt, sie seien unerträglich. Ein Beispiel sind die eingeschränkten Optionen der Frauen. […] Nach meiner Überzeugung hat dieser Wechsel zwar offensichtliche Nachteile mit sich gebracht, ist aber alles in allem positiv zu bewerten« (Taylor 2009, 799). Man kann der Macht der Verantwortung nach Sartre denn auch nicht mehr entgehen. Selbst der, der versucht, die Verantwortung abzuwälzen, bleibt allemal für diese Abwälzung, damit letztlich doch für das, was er tut, verantwortlich. Auch wenn man nicht handelt, wenn man sich nicht entscheidet oder wenn man die Verantwortung für die eigenen Handlungen bewusst oder unbewusst verdrängt und ausblendet, bleibt das eine eigene freie Entscheidung. Für Sartre ist man gleichermaßen zur Freiheit und zur Verantwortung verurteilt. Dem entspringt denn auch ein reflektierendes Vertrauen, wenn man weiß, 197 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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dass die anderen verantwortlich sind und auch verantwortlich gemacht werden können. Darauf kann man sich allemal eher verlassen als auf den gehorsamen Untertanen, der seine Pflicht erfüllt und daher natürlich auch jedem Herren dient, auch jenem langjährigen Nazi-Kanzler, eine eigene Verantwortung für die Folgen seines Handelns aber wie Eichmann in Jerusalem ablehnt, der vielmehr nur Verantwortung dafür tragen wollte, Befehle korrekt ausgeführt zu haben. Hier deutet sich eine Perspektive des Friedens an, die der Verantwortung der Individuen entspringt, die ein reflektierendes Vertrauen ermöglicht. Von der Ästhetik auf die Politik überträgt Hannah Arendt Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft, die zu einem einzelnen Urteil eine übergreifende Regel sucht, wenn diese eben nicht mehr selbstverständlich immer schon vorliegt (vgl. Arendt 2002, 191). Oder wenn Gott tot ist, was für Nietzsche heißt, dass es eben keine gemeinsamen obersten Werte mehr gibt. Wenn das Gottvertrauen verblasst, dann bleibt nichts anderes als ein reflektierendes Vertrauen, das nach Gründen für das Vertrauen fragt. Auch für Simone de Beauvoir erstreckt sich die Macht der Verantwortung auf das gesamte Leben der Individuen. Niemand kann sich mehr auf andere berufen, auf keine bösen Nachbarn, keine unfähigen Eltern, keine politischen Autoritäten und schon gar nicht auf eine göttliche oder natürliche Macht, die dem Einzelnen die Verantwortung abnehmen. Das entlastet ihn jedoch nicht etwa. Vielmehr belastet es ihn massiv. Denn seither trägt er die Verantwortung für das eigene Leben. Was heißt das? Simone de Beauvoir antwortet 1947 in ihrem programmatischen Essay Pour une Morale de l’Ambiguité: »Indessen erlaubt die Abwesenheit Gottes keineswegs jede Freiheit, sondern im Gegenteil: weil der Mensch auf der Erde verlassen ist, sind seine Handlungen endgültige, absolute Verpflichtungen. Er trägt die Verantwortung für eine Welt, die nicht die Schöpfung einer fremden Macht, sondern sein eigenes Werk ist, eine Welt, die seine Niederlagen wie seine Siege bezeugt« (Beauvoir 1983, 85). Die Emanzipation der Frauen erlaubt ihnen, ihre Lebensform selber zu wählen, befreit sie aus der Hausfrauenexistenz, belastet sie dadurch mit der Verantwortung sowohl für die Gestaltung des eigenen Lebens als auch für ihre Erfolge oder ihr Scheitern. Im Gegensatz zu Sartre erkennt Simone de Beauvoir jedoch, dass der Mangel an Prinzipien nicht durch die Ausdehnung der Verantwortung kompensiert werden kann. So schreibt de Beauvoir 1944 in ihrem Essay Pyrrhus und Cineas: »Der Kranke, den ich heile, kann 198 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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bei seinem ersten Ausgang unter einen Omnibus kommen: ich werde nicht behaupten, dass meine Pflege ihn getötet habe. Ich setze ein Kind in die Welt: wenn es zum Verbrecher wird, bin ich deshalb kein Übeltäter. Wenn ich die Folgen meiner Handlungen bis ins Unendliche auf mich nehmen wollte, könnte ich nichts mehr wollen. Ich bin endlich und muss meine Endlichkeit bejahen. Dennoch ist es mein Wunsch, ein Ziel zu wählen, das nicht überschritten werden kann, ein Ziel also, das wirklich Ziel und Endpunkt ist« (Beauvoir 1983b, 231). Diese Einsicht überträgt sie 1954 auf ihren Protagonisten Robert in ihrem Roman Die Mandarins von Paris, für den sie den Prix Goncourt erhielt: »›Man muss jünger als ich sein, um glauben zu können, dass die Zukunft alles retten wird. Ich empfinde meine Verantwortlichkeit begrenzter als früher, aber auch endgültiger und schwerwiegender‹« (Beauvoir 1965, 199). Statt traditionelle ethische Prinzipien selbstverständlich einzuhalten, müssen die Einzelnen nun über ihre Handlungen selber entscheiden. Wenn Prinzipien dabei keinen natürlichen Halt mehr geben, was bleibt anderes, als sich an den Folgen des Handelns zu orientieren, noch dazu in einer Zeit, in der sich in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft alles um die Effizienz und deren Verbesserung dreht. Heute haben individuelle Entscheidungen, persönliches Engagement, Abwägung der Chancen und Risiken des eigenen Handelns weitgehend die Rolle traditioneller gemeinschaftsorientierter Werte übernommen. Der französische Existentialismus der vierziger Jahre erkennt diesen Trend als erster, vor allem auch die damit schwieriger gewordene Moralität. Bisher genügte es, sich an den Normen zu orientieren, um ein guter Mensch zu sein. Wenn das verantwortungsethisch an den Folgen bemessen wird, dann droht ständig ein Scheitern und ein Abgleiten in die Unmoralität – ebenfalls eine dramatische Erfahrung des Widerstandes. Doch darin kulminiert die Ethik des Individuums und der Emanzipation, die daher auch zunächst wenig vertrauenserweckend erscheint, wenn das Handeln scheitern kann und der Mensch damit ins Unmoralische gerät. Doch was nützt es, wenn jemand es gut meint und sich um die Folgen nicht kümmert? Letztlich zerstört das Gutgemeinte das Vertrauen. Dieses vermag sich nur auf die Verantwortung, damit auf die Orientierung an den Folgen des Handelns zu stützen. Das ist zweifellos kein blindes Vertrauen mehr, das man regelmäßig Vater und Mutter entgegenbringt, sondern ein reflektierendes, kritisches, das man im Zeitalter der Emanzipation indes auch 199 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Vater und Mutter nur noch entgegenbringen sollte. Steht nicht die Emanzipation der Kinder noch aus?
5. Verantwortung und Vertrauen Verfechter traditioneller Ethiken werden darin den Wertezerfall und die Ausbreitung des Misstrauens auch noch zwischen den Generationen erblicken. Analytisch betrachtet sogar in gewisser Hinsicht zurecht. Umgekehrt kann eine absolute Ethik ein reflektierendes Vertrauen schon gar nicht schaffen, verlangt sie höchstens eine Variante des Gottvertrauens. Es gibt jedoch nichts auf der Welt, dem ganz und gar vertraut werden könnte, schon gar nicht Mutter und Vater, weder dem Teufel noch dem lieben Gott. Sät dieses reflektierende Vertrauen somit doch Misstrauen? Indes könnte sich das Vertrauen noch auf eine andere Struktur der Verantwortung stützen. Die Erfahrung des Faschismus, vor allem die des Holocaust, und damit des totalen Zusammenbruchs der traditionellen abendländischen Werteordnung, prägt das ethische Denken von Emmanuel Lévinas. Im Zentrum seiner Ethik steht gleichfalls der Begriff der Verantwortung, in die mich konkret der andere Mensch ruft, dem ich begegne. Im Angesicht des anderen bin ich für ihn verantwortlich, eine Verantwortung, die mir nicht von außen, von einer Moral oder Religion auferlegt ist, sondern die allein der zwischenmenschlichen Beziehung entspringt. Lévinas stellt 1961 in seinem ersten Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit unzweideutig fest: »Die Verantwortung kann nicht abgewiesen werden« (Lévinas 1987, 289). Lévinas verschiebt die ethische Perspektive. Er geht nicht mehr von einem überlieferten vorgegebenen Rahmen aus, auch nicht mehr von einer allgemeinen und übergreifenden Vernunft. Vielmehr verlegt er den ethischen Ausgangspunkt vom Allgemeinen ins Besondere, ins Einzelne, nämlich in die zwischenmenschliche Begegnung, der sich die ethische Beziehung verdankt. Den moralischen Anstoß erhält die Begegnung mit dem anderen Menschen dabei nicht durch dessen bloße Anwesenheit, nicht durch dessen abstrakte Existenz, nicht dadurch, dass er allein der Nächste wäre. Dass die Begegnung mit dem anderen Menschen zum Ursprung der Ethik wird, liegt in der unmittelbaren Begegnung, in der direkten Ansprache, genauer im Antlitz des Anderen. Für Lévinas begründet 200 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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das Antlitz die Verantwortung, die durch dessen Nacktheit und die Ansprache des Anderen aufgerufen wird. Zwischen Antlitz und Verantwortung entsteht eine grenzenlose Beziehung. Einerseits zeugt das Antlitz von der Andersheit des Anderen, die sich nicht eingrenzen lässt. Andererseits entsteht daraus eine unendliche Verantwortung gegenüber dem Anderen. So schreibt Lévinas: »Das Andere aber, das absolut anders ist – der Andere – begrenzt nicht die Freiheit des Selben. Indem der Andere die Freiheit zur Verantwortung ruft, setzt er sie ein und rechtfertigt sie. Das Verhältnis zum Anderen als Antlitz heilt von der Allergie. Es ist Begehren, empfangene Unterweisung und friedlicher Gegensatz der Rede« (ebd., 282). Das Antlitz ist mehr als nur das nackte Gesicht, das sich durch seine Posen zu schützen versucht. Die Nacktheit des Antlitzes ist eine metaphysische, die über seine bloße äußerliche Vorhandenheit hinausdeutet und die Verantwortung aufruft, die soziale, bzw. die ethische Beziehung ermöglicht. Die Beziehung zum Anderen durch das Antlitz beschränkt sich nicht auf das, was ich wahrnehmen kann. Im Gegenteil, sie überschreitet diese Ebene und erklärt sie für belanglos. Es geht nicht um das Aussehen. Das Antlitz, so Lévinas, sagt mir vielmehr: ›Du sollst nicht töten!‹. Insofern begründet das Antlitz die ethische Beziehung. Darauf könnte sich ein reflektierendes Vertrauen stützen, nämlich auf eine zwischenmenschlich fundierte Verantwortung. Aber widerspricht dem die Realität nicht allzu häufig? Doch dass man das Gebot ›Du sollst nicht töten‹ überschreiten kann, eröffnet gerade die ethische Fragestellung. Gegenüber Sartre, bei dem die Verantwortung zwar eine herausragende, aber implizite Rolle spielt, steht diese bei Lévinas von vornherein im Vordergrund. Damit avanciert er zum ersten großen Vordenker der Verantwortungsethik im 20. Jahrhundert, der die Thematik breit ausarbeitet, während sie auch bei Weber eher eine Nebenrolle spielt. Nach Lévinas bin ich gegenüber dem Anderen für diesen verantwortlich – man denke an Oskar Schindler, der in Steven Spielbergs Film (USA 1993) kein moralischer Mensch ist, sondern ein Gauner und Abenteurer, der sich aber plötzlich von seinen jüdischen Arbeitern in die Verantwortung gerufen sieht. Mit aller Raffinesse pokert er auch mit dem Teufel um diejenigen, für die er sich verantwortlich fühlt, und rettet auf seiner – Schindlers – Liste über 1000 Juden vor der Ermordung in Auschwitz. Nicht ob des christlichen Liebesgebotes, nicht ob des kategorischen Imperativs,
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nicht mal ob der goldenen Regel wird man für den anderen Menschen verantwortlich, sondern schlicht aufgrund der Begegnung mit ihm. Er mag mir dabei fremd bleiben. Das spielt keine Rolle. Nicht weil er mir gleicht, bin ich für ihn verantwortlich, sondern weil er schlicht der Andere ist. Das Antlitz – so Lévinas – sagt mehr, als was ich bewusst verstehen könnte, was ich auf einen bestimmten Begriff bringen könnte. Im Antlitz leuchtet die absolut fremde Andersheit des Anderen auf. »Nur das absolute Fremde kann uns unterweisen. Es ist nur der Mensch, der mir absolut fremd sein kann – widersetzlich gegen jede Typologie, jedes Genus, jede Charakterologie, jede Klassifikation […]. Die Fremdheit des Anderen, das ist seine eigentliche Freiheit. Nur freie Wesen können einander fremd sein. Gerade die Freiheit, die ihr ›Gemeinsames‹ ist, trennt sie.« (Ebd., 100) Verantwortlichkeit heißt für Lévinas Verantwortung für den Anderen, genau für das, was nicht meine eigene Sache ist, ja gerade für das, was mich gar nichts angeht, was mich jedoch unvermeidlich dadurch in die Verantwortung ruft, dass ich dem Antlitz des Anderen begegne. Denn ich bin im Angesicht des Anderen schlicht verantwortlich, ohne dass ich irgendeine Verantwortung erst übernehmen müsste. Die Verantwortung wird durch den Anderen in die Welt gesetzt. Ich kann ihr nicht mehr entgehen. Diese Verantwortung für den Anderen übersteigt jede übliche Form der Verantwortlichkeit, die sich normalerweise auf das eigene Handeln erstreckt: dort bin ich verantwortlich für das, was ich tue. Doch im Angesicht des Anderen wird meine Verantwortung unendlich: Ich bin für die Verantwortung des Anderen verantwortlich. Man braucht keinen Gott, keine Gemeinschaft und keine Vernunft, die Vertrauen schaffen, sondern die eigene Verantwortung in Situationen, in die mich der andere ruft, die dadurch die Zwischenmenschlichkeit herstellt. In diesem Sinne kann ich mir selber vertrauen und somit auch dem anderen Menschen, für dessen Verantwortung ich verantwortlich bin. Verantwortliche – d. h. freie – Menschen können sich persönlich selbst und gegenseitig – somit reflektierend – vertrauen. Vielleicht werden sie sich dann schwerer gegeneinander aufhetzen lassen. ›Das Vertrauen ist zerstört‹, hört man oft als Klage. Das ist zumeist richtig, wenn es sich um ein Vertrauen handelt, dass der traditionellen Prinzipienethik mit ihren diversen – vor allem religiösen – Hintergründen erwächst. Spätestens seit 2010 kann man einem katholischen Priester nicht mehr blind vertrauen. Vernünftigerweise 202 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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war man auch zuvor schon vorsichtig, wie bei allen anderen Zeitgenossen auch. Aber man darf natürlich auch nicht von 1968 beseelten Erziehern blind vertrauen. Die Blindheit ist grundlos, selbst wenn sie in Gott gründet, ist Gott doch kein Grund, wäre er dann ja schließlich nur ein Produkt einer Verstandeskategorie. Vertrauen, das der Verantwortung im Rahmen einer individuellen Ethik erwächst, kann sich auf gewisse Eigenheiten eines freien bzw. emanzipierten Menschen stützen. Dazu gehört auch – aber keinesfalls primär – der Homo oeconomicus. Nein, berechenbar wird der individualisierte Mensch trotzdem nicht. Aber von einem zum anderen darf man gelegentlich schließen. Derart könnte ein reflektierendes Vertrauen nach dem Ende des blinden wiederkehren, das sich der Verantwortlichkeit der Zeitgenossen verdankt. Hat das blinde Vertrauen den Frieden allemal nicht gefördert, bleibt in diesem gedanklichen Rahmen nichts anderes, als es mit solcherart reflektierendem zu probieren.
Literatur Arendt, H. (2002): Vom Leben des Geistes – Das Denken (1977), München: Piper (2. Auflage). – (2006): Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, aus dem Amerikanischen v. U. Ludz, München: Piper. Beauvoir, S. de (1965): Die Mandarins von Paris (1954), aus dem Französischen v. R. Ücker-Lutz, Reinbek: Rowohlt. – (1983): »Für eine Moral der Doppelsinnigkeit« (1947), in: Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, aus dem Französischen v. A. Zeller, Reinbek: Rowohlt (6. Auflage). – (1983b): »Pyrrhus und Cineas«, in: ebd. Beck, U. (1997): »Ursprung als Utopie: Politische Freiheit als Sinnquelle der Moderne«, in: ders. (Hg.): Kinder der Freiheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, M. (1989): Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit 2, aus dem Französischen v. U. Raulff, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Huntington, S. P. (2002): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, aus dem Amerikanischen v. H. Fliessbach, München: Goldmann. James, W. (1979): Die Vielfalt religiöser Erfahrungen – Eine Studie über die menschliche Natur (1901/02), hg. u. aus dem Amerikanischen übersetzt v. E. Herms, Olten/Freiburg i. Br.: Walter-Verlag. Kierkegaard, S. (1957): Entweder/Oder. Ein Lebensfragment. Zweiter Teil (1843), in: Gesammelte Werke, aus dem Dänischen v. W. Pfleiderer u. C. Schrempf, 2. u. 3. Abteilung, Düsseldorf/Köln: Diederichs.
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Hans-Martin Schönherr-Mann Lévinas, E. (1987): Totalität und Unendlichkeit (1961), aus dem Französischen v. W. N. Krewani, Freiburg/München: Alber. Mori, M. (1984): La Ragione delle Armi, Mailand: Il Saggiatore. Nietzsche, F. (1999): Zur Genealogie der Moral (1887), Kritische Studienausgabe Bd. 5, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München/Berlin/New York: dtv. Sartre, J.-P. (1993): Das Sein und das Nichts (1943), aus dem Französischen v. T. König u. H. Schöneberg, Reinbek: Rowohlt (17. Auflage). Schönherr-Mann, H.-M. (2008): Miteinander leben lernen – die Philosophie und der Konflikt der Kulturen, Vorwort und Nachwort v. Hans Küng, München: Piper. – (2010): Die Macht der Verantwortung, Freiburg/München: Alber. Stirner, M. (2009): Der Einzige und sein Eigentum, Freiburg/München: Alber. Taylor, Ch. (2009): Ein säkulares Zeitalter, aus dem Englischen v. J. Schulte, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Weber, M. (1971): »Politik als Beruf« (1919), in: Gesammelte politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen: Mohr Siebeck (3. Auflage). – (1979): Die protestantische Ethik I (1904/1920), hg. v. J. Winckelmann, Gütersloh: Mohn (5. Auflage).
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Tobias Nikolaus Klass
Frieden gegen den Terror?
0.
Einleitung
Frieden, so scheint es, kennt nur eine Form, Krieg dagegen sehr viele verschiedene. Ob man Terror zu diesen Formen zählt, mag mit Grund Gegenstand einiger Auseinandersetzungen sein. Sicher aber ist, dass Terror eine Form von Unfrieden ist, insofern man sich keinen Frieden vorstellen kann, in dem Terror einen Platz hat. Mag Terror auch keine Form von Krieg sein, so ist Terror doch immer ein Gegenteil von Frieden. So dass, umgekehrt, Friedensstiftung immer auch da, wo Terror auftaucht, Terrorbekämpfung bedeuten muss. Das aber scheint ein Paradox: nur friedvolle Mittel können wohl zu Frieden führen; kann man sich aber ein friedvolles Mittel gegen den Terror, diese unheimlichste aller unkontrollierbaren Gewaltformen, vorstellen? Eben darum soll es in den folgenden Zeilen gehen: Wenn Vertrauen und Verantwortung komplementäre Strategien der Friedensstiftung sind, was könnte es dann heißen, Vertrauen stiften und Verantwortung übernehmen zu wollen angesichts des Terrors? Um diese Frage zu beantworten werde ich in drei Schritten vorgehen: Zuerst werde ich einige Worte zum Begriff der Verantwortung – oder vorsichtiger: zu einem bestimmten Begriff von Verantwortung – sagen, bevor ich in einem zweiten Schritt zu bestimmen versuchen werde, was genau Terror bzw. Terrorismus ist. Um auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen dann im dritten und letzten Teil eben auf die eingangs genannte Frage zurückkommen zu können: Was könnte es heißen, Vertrauen stiften bzw. Verantwortung übernehmen zu wollen angesichts des Terrors?
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Tobias Nikolaus Klass
1.
Verantwortung
Der Begriff der Verantwortung, den ich meinen Überlegungen zugrunde legen will, ist, sagen wir vorsichtig: »inspiriert« von den Reflexionen Jacques Derridas zum Thema. Dass ich nur so vorsichtig »inspiriert« schreibe, soll bedeuten, dass ich zum einen den Begriff der Verantwortung, wie er bei Derrida ausgearbeitet wird, mitnichten in Gänze und in seiner ganzen Komplexität meinen Überlegungen zu Grunde legen werde, sondern nur bestimmte Züge von ihm (die sich auch bei anderen Autoren wie Lévinas oder Waldenfels finden lassen); und zum anderen wähle ich das relativierende »inspiriert«, weil ich in einer bestimmten, nicht unwichtigen Hinsicht etwas andere Wege gehen will als Derrida, was, so glaube ich, zuerst dem Gegenstand geschuldet ist, mit dem ich den Verantwortungsbegriff zusammen zu denken versuchen werde, nämlich Terror. Zu dieser Relativierung kommt eine Einschränkung dazu: der Verantwortungsbegriff, um dem es im Folgenden im Ausgang von Derrida gehen soll, ist eingegrenzt auf den Bereich politischer Verantwortung. Es mag, angesichts des Terrorismus, auch Sinn machen, nach Rolle und Funktion ethischer Verantwortung zu fragen, ich aber werde mich im Folgenden vornehmlich auf den Bereich politischer Verantwortung beschränken, weil ich Terror zuerst als ein politisches Phänomen betrachte. Den Begriff des Politischen, den ich dabei zugrunde legen möchte, hat vielleicht niemand besser auf den Punkt gebracht als Hannah Arendt, als sie behauptete, dass Politik auf der Tatsache der Pluralität der Menschen beruhe und damit zuerst und vor allem vom Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen handele (vgl. Arendt 1993, 9). Politik, so betrachtet, fragt nicht mehr zuerst nach der gerechtesten Verteilung nur begrenzt vorhandener Güter oder aber der richtigen Gestalt politischer Institutionen, sondern Politik stellt zuerst die Frage nach der Andersheit des Anderen, nach einem möglichen Umgang mit dieser Andersheit im begrenzten Raum des Gemeinsamen oder Gemeinschaftlichen. Wenn ich diese Andersheit »im begrenzten Raum des Gemeinsamen oder Gemeinschaftlichen« so betone, möchte ich damit dem Faktum Rechnung tragen, dass es schon bei Arendt nicht einfach um die Verschiedenen (also um Alterität tout court), sondern um das Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen geht. Politische Verantwortung ließe sich vor diesem Hintergrund im Anschluss an Derrida verstehen als eine besondere Art der Antwort auf den Anspruch des Anderen, in 206 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Frieden gegen den Terror?
dem Sinne, dass diese Antwort es schafft (oder schaffen müsste), der Alterität des Anderen gerecht zu werden, indem sie dieser Alterität nicht nur Respekt zollt, sondern auch tatsächliche Räume schafft und gestaltet, in denen besagte Alterität als solche bestehen kann (und nicht durch den Respekt – etwa, wenn er Teil eines Anerkennungsprozesses im Hegel’schen Sinne ist – aufgehoben wird 1). Politische Verantwortung zu übernehmen hieße demnach, durch sein Handeln (das natürlich nach Derrida nie einfach das eigene ist, sondern selbst vom anderen her sich schon denkt) dafür Sorge zu tragen, dass im Miteinander die Andersheit des anderen geachtet und möglich bleibt. 2 Geht man von einer solchen – sehr groben, hier eigentlich nur angedeuteten 3 – Fassung der Idee politischer Verantwortung aus, dann kommt – angesichts einer Figur wie der des Terroristen – natürlich sofort die Frage auf: Was tun, wenn besagter anderer ein »Feind« im Sinne Schmitts ist, d. i. ein solcher anderer, der durch seine Art des Seins eine existentielle Bedrohung meiner Andersheit ist – bis hin zur »reale[n] Möglichkeit der physischen Tötung« (Schmitt 1963, 33), wie es bei Schmitt heißt; oder Derrida’scher formuliert, wenn der Andere ein solcher anderer ist, der selbst jedwede Alterität jenseits seiner ausschließen will, Alterität als Möglichkeit unmöglich machen will, damit selbst in seiner Andersheit zu einer Bedrohung der ja gerade zu schützenden Alterität wird. Derrida selbst hat auf diese Frage – vor allem in seiner Auseinandersetzung mit dem Schmitt’schen Feindbegriff in Politik der Freundschaft (Derrida 2000) – damit geantwortet, dass er den Schmitt’schen Begriff des Feindes bis zu dem Punkt dekonstruiert hat, dass klar wurde, dass der Feind schon bei Schmitt eigentlich nicht einfach der Andere ist, sondern nichts anderes als »meine eigene Frage in Ge-
Zu einer alteritätstheoretisch geläuterten Anerkennungstheorie siehe Bedorf 2010. Bei Derrida selbst bleibt die politische Verantwortung an diesem Punkt nicht stehen, sondern wird zugleich noch der Zeitlichkeit, genauer: einer spezifischen Form von Geschichtlichkeit überantwortet, so dass bei Derrida politische Verantwortung immer auch noch (und vielleicht sogar zuerst) einen messianischen Zug bekommt; diesen Messianismus klammere ich aber an dieser Stelle aus – auch wenn er nach Derrida nicht wirklich auszuklammern ist und sich auch im Laufe meines Textes immer mal wieder zumindest kurz zeigen wird. 3 Zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mir dem Begriff der Verantwortung im Werk Derridas, siehe Klass 2007. 1 2
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stalt« (vgl. Schmitt 2002, 87), also eine Art Revenant des Eigenen, der, ganz in der Logik des Freud’schen Unheimlichen, der jeder Selbstidentität inhärenten Selbstfremdheit eine Gestalt gibt und damit diese Selbst-Identität in ihrem Mit-sich-Selbst-Identisch-Sein bedroht. Diese Denkfigur hat tatsächlich einige Resonanz auch in aktuellen Diskursen über den Terrorismus gefunden bei so unterschiedlichen Autoren wie Navid Kermani (vgl. Kermani 2002) oder Jean Baudrillard (vgl. Baudrillard 2002). Beide nämlich haben – und zwar: durchaus überzeugend – darauf hingewiesen, dass viele der Terroristen, die heute das westliche System als Ganzes durch ihren Terror zu bekämpfen versuchen, selbst nicht einfach aus einer anderen Welt kommen – also ein ganz »Anderes« dem »Eigenen« des Westens entgegensetzen –, sondern im Gegenteil zuerst Produkte dieser westlichen Zivilisation sind: Absolventen nicht selten von westlichen Eliteunis, die eine gute Zeit ihres Lebens damit verbracht haben, die Früchte dieses Westens leidlich zu genießen, um erst darüber darauf zu kommen, diesen Teil des Eigenen als etwas Hassens- und damit Bekämpfenswertes anzusehen. Was sie nur vermögen, indem sie besagten inneren Geist zu einem äußeren werden lassen, denn bekämpfbar ist er nur dort: im Außen. 4 Wie immer man sich nun – theoretisch wie praktisch – zu dieser Bestimmung des »Feindes« als meiner »eigenen Frage in Gestalt« auch stellen mag, eine Frage bleibt auch nach dieser Dekonstruktion des Feindbegriffes weiter unbeantwortet: Wie mit diesem unheimlichen Gast, wie mit seiner Alterität – und sei es auch nur meine eigene – umgehen, und zwar: verantwortlich umgehen? 5 Um diese Frage beantworten zu können, gilt es nicht nur zu bestimmen, was genau dieser unheimliche Gast denn nun ist (dies kommt erst im nächsten Abschnitt zum Terror); sondern es gilt ebenso vorab noch zu klären, wie sich das »Wie« im Satz »Wie mit dem unheimlichen Gast verantwortlich umgehen?« überhaupt vorzustellen ist, d. i. es gilt zu klären,
Während Baudrillard dabei freilich metaphysischen Großthesen über den generellen Zustand der westlichen Kultur folgt, zeichnet Navid Kermani ganz empirisch die Lebenswege wichtiger Protagonisten des Al-Kaida-Terrors nach, die in den Ausbildungs- und Vergnügungszentren der westlichen Eliten begannen und dann in den Kampf gegen denselben Westen umschlugen. 5 Schmitt selbst hatte bekanntlich immerhin schon zugestanden, dass dieser Feind, da er ja auf meiner eigenen Ebene stehe und dadurch zuerst mein Maß sei, nicht zu vernichten sei, sondern man sich mit ihm »kämpfend« auseinander zu setzen habe. 4
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in welcher Form die besagte Verantwortung übernommen werden kann. Folgt man – was ja mein Anspruch war – auch in dieser Frage zuerst Derrida, gilt es mindestens zweierlei an dieser Stelle schon einmal allgemein festzuhalten (konkrete Bestimmungen des Wie folgen erst ganz am Ende des vorliegenden Beitrags): Zum einen gilt es, einen kurzen Blick auf Derridas Interpretation des Terminus »Performativität« zu werfen, zum anderen auf seine Bestimmung der »Aporie«. Auf den Begriff der Performativität stößt Derrida bekanntlich sehr früh, schon in seiner ersten Auseinandersetzung mit Austin Anfang der 1970er Jahre (vgl. vor allem Derrida 1976). Vieles bleibt in diesem Text nur angedeutet und wird von Derrida erst später in seiner expliziten Auseinandersetzung mit Searle Anfang der 1980er ausdekliniert (vgl. Derrida 2001) – bevor er es dann Ende der 1980er Jahre in seine Überlegungen zum Begriff der politischen Verantwortung überträgt (vgl. vor allem Derrida 2000). Zentral scheint mir für die hiesigen Belange an diesen Überlegungen Folgendes: Indem Derrida die Idee der Verantwortung an die Idee der Performativität koppelt, versucht er auf ganz eigene Art die Marx’sche Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, bzw. genauer: die Marx’sche Bestimmung der Theorie als einer Form von Praxis beerben zu wollen. Politisch Verantwortung zu übernehmen heißt danach für einen Philosophen wie Derrida, als Philosoph (und nicht als Politiker, Feldherr o. ä.) zuerst schreibend Verantwortung zu übernehmen. Und zwar in einer Form von écriture, die über das bloße Benennen von Sachverhalten hofft, eine Wirkung zu entfalten, wirkmächtig werden zu können – im Dienst der verfolgten politischen Idee (in diesem Fall: der zu bewahrenden Alterität). Deshalb setzt Derrida zuerst auf das Wort (genau wie und zugleich anders als der frühe Marx: der ja zuerst auf die »Waffe der Kritik« gesetzt hat (vor allem der Ideologiekritik), zu der er dann aber stets noch die »Kritik der Waffen« zugerechnet wissen wollte (vgl. Marx 1981, 386)). Bzw., vorsichtiger formuliert, Derrida setzt auf den durch eine Form gebannten Sinn – wobei diese seltsam ungelenke und vage Formulierung eines »durch eine Form gebannten Sinns« vor allem dazu dienen soll, den Aktionskreis der gesuchten philosophischen Praxis nicht auf das Wortsprachliche zu reduzieren, sondern zu erweitern in einen Bereich, den man vorsichtig und vorläufig im Anschluss an Cassirer den Bereich des Symbolischen nennen könnte. Auf dieses Symbolische, insofern »Waffe der Kritik«, setzt Derrida nun, insofern es Handlungscharakter hat (was eben das performative Moment der gesuchten symbolischen Hand209 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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lung bezeichnet). Als Philosoph politisch Verantwortung zu übernehmen, bedeutet demnach zuerst, dies durch symbolische Handlungen zu tun, genauer: durch einen bestimmten Typus symbolischer Handlungen, und zwar jene, die es – qua performativer Kraft oder Macht – auf die Andersheit des Anderen zu antworten vermögen, d. i. die seiner Andersheit Achtung zu garantieren und zugleich Raum zu geben schaffen. Bei der genaueren Bestimmung dieses besonderen Typus von symbolischer Handlung kommt nun das zweite eben genannte Stichwort ins Spiel: die Aporie (wobei klar sein muss, dass die Aporie nicht den Königsweg, sondern eine Möglichkeit unter vielen bedeutet, den genannten Typus symbolischer Handlung zu bestimmen: die Aporie soll hier als Beispiel vieler anderer möglicher Typen symbolischer Handlungen fungieren). Warum »Aporie«, dieser Weg, der keiner ist, der sich selbst versperrt? Derridas Vorliebe für die Aporie (und auch das Paradox, diese Gegenbewegung gegen die doxa) war für viele seiner Leser gerade ein herausragendes Zeichen seiner Verantwortungslosigkeit: weil hier ein Denker, statt für ernste Probleme ernste Lösungen zu suchen, nur – ironisch – mit Denkmöglichkeiten jongliert, Wortspielereien betreibt; eine Art lustvoll inszenierter Irrationalismus. Laut Derrida aber ist genau das Gegenteil der Fall: »Denn die Dekonstruktion, wenn es so etwas gibt, bleibt in meinen Augen ein unbedingter Rationalismus, der […] niemals davon abgeht, in dem zu eröffnenden Raum einer kommenden Demokratie argumentativ, durch rationale Diskussion, sämtliche Bedingungen, Hypothesen, Konventionen und Vorannahmen zu suspendieren, ohne Vorbedingung sämtliche Bedingtheiten zu kritisieren einschließlich derer, die noch der kritischen Idee zugrunde liegen, nämlich des krinein, der krisis, der Entscheidung und des binären oder dialektischen Urteils« (Derrida 1991, 44). Die erste Aufgabe rationalen Diskutierens – d. i. des Philosophen – ist demnach für Derrida, die jedem Denken zugrunde liegenden Bedingtheiten nicht nur offen zu legen, sondern dabei und dadurch zu »suspendieren« – was wohl zuerst so viel meint wie: in ihrer Wirkmächtigkeit zu suspendieren, in ihrer Lebensweisen und Lebensformen bestimmenden Macht einzuklammern. Eben ein solches Suspendieren aller ein Denken je schon bestimmenden Bedingtheiten leistet nun – oder: kann leisten – in ganz ausgezeichneter Weise die Form der Aporie: in der Aporie nämlich – dieser »bevorzugten Gegend […] der Dekonstruktion« (vgl. Derrida 1991, 44) – wird das Begriffsnetz, das ein Denken fundieren soll, nicht nur bis an seine Grenze geführt, sondern – da man diese Grenzen 210 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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denkend, d. i. im Vollzug erreicht – es wird ihm die Erfahrung dieser Grenzen ermöglicht, die Erfahrung damit der Begrenzung des ein Leben tragenden Denkens tout court. Dadurch – könnte man etwas heideggerisierend sagen – lässt die Aporie ins Offene kommen, lässt – da sie Grenzen aufhebt – das Offene kommen, löst ein Denken wieder aus dem Bann der doxa und öffnet es für den Raum des Möglichen. D. i. für den Raum, in dem anderes möglich bleibt, das Andere möglich bleibt. Ich möchte diese ersten groben Bemerkungen zum Begriff der Verantwortung und einer möglichen Form, die diese Verantwortung annehmen könnte, an dieser Stelle erst einmal auf sich beruhen lassen – später werde ich auf sie zurückkommen und dabei zu konkretisieren versuchen – und mich dem zweiten Thema zuwenden.
2.
Terror
Jede Reflexion zum Thema »Was ist Terror?« hat, denke ich, zuerst mit einer kritischen Genealogie des Terrorbegriffs in der abendländischen Philosophie zu beginnen, schon allein deshalb, um den Mythos zu brechen, Terror sei das, was uns von außen aufgenötigt wird, sei das Andere unseres politischen Handelns und Selbstverständnisses. Schon Derrida hat in seinen Überlegungen zum Terror darauf hingewiesen, dass bereits bei Hobbes der Begriff des Terrors nicht nur vorkommt, sondern durchaus einen eigenen, systematisch wichtigen Platz einnimmt (vgl. Derrida 2006b, 137). Von dieser Entdeckung ausgehend hätte jede kritische Genealogie im Folgenden ganz sicher Station zu machen bei der Jakobinischen Idee des »Grande Terreur«, der laut Robespierre nichts anderes ist als die »unmittelbare, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit« (Robespierre 1989, 594); bei den von Schmitt in seiner Theorie des Partisanen beschriebenen antinapoleonischen Kämpfern, die als erste die Hegungen des Krieges aufkündigten und den Kampf aus dem Dunkeln in zwischenstaatliche Konflikte einführten; bei den deutschen und russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts (wie Johann Most oder Wilhelm Weitling), die das Dynamit als Waffe der Unterdrückten und den Bombenanschlag als »Propaganda der Tat« entdeckten; bei den vielen verschiedenen staatlichen und antistaatlichen Formen von Terror im 20. Jahrhundert schließlich, da insbesondere den von Hannah Arendt
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in ihrem Totalitarismusbuch so eindringlich beschriebenen totalitären Terror. 6 Diese Geschichte werde ich im Folgenden nicht erzählen 7, ich werde aber immer wieder auf einzelne Elemente aus ihr zurückgreifen, die mir für die Bestimmung des Terrors unverzichtbar erscheinen. Stattdessen versuche ich »Terror« zuerst zu fassen, in dem ich ihn von »Terrorismus« unterscheide. Während »Terrorismus« dabei ein komplexes Phänomen bezeichnen soll, das zumeist bestimmte politische Ziele verfolgt und für dessen Zustandekommen man auch eine Reihe von Gründen benennen kann – religiöse, soziale, ökonomische, kulturelle etc. –, soll »Terror« zuerst als ein Mittel politischer oder auch gesellschaftlicher Auseinandersetzung angesehen werden. Als ein solches – das scheint banal, ist aber deshalb doch nicht unwichtig – ist der Terror, anders als der Terrorismus, grundlos – denn niemand muss dieses oder jenes Mittel anwenden und sei es noch so naheliegend; so sehr man auch zugestehen mag, dass ökonomische Not gepaart mit bestimmten religiös gehaltenen Ideologien und kulturellen Prägungen nicht selten am Grund des Terrors zu finden sind, so wenig wird irgendjemand ernstlich behaupten wollen, dass, weil jemand arm und Mitglied dieser oder jener Religion und aus diesem oder jenem Teil der Welt ist, er notgedrungen Terrorist werden musste. Es gibt – das scheint mir wichtig, deutlich festzuhalten – keine quasinatürlichen Kausalismen oder Automatismen, die zur Wahl eines Mittels wie des Terrors zwingen – auch wenn dies eine der meist verwendeten Rechtfertigungsfiguren von Terroristen (und auch ihren Sympathisanten) ist: dass sie nämlich nur reagieren mit ihrem Terror – den sie dann als Widerstand verstehen – auf einen anderen, viel schlimmeren Terror, den sie selbst zuvor erfahren haben, und zwar: notgedrungen so reagieren, d. i. notgedrungen selbst mit Terror reagieren. Eine solche Unterscheidung von »Terror« und »Terrorismus« in Mittel und Phänomen scheint mir aus einem einfachen Grund geboten, den anzuführen nicht mein Verdienst, sondern das Verdienst Michael Walzers ist (vgl. Walzer 2003; 2006). Walzer nämlich – der schon in den 1970er Jahren eine »Just War Theory« entworfen hatte, in der er selbst noch fragt, welche Gewaltmittel im Kriegsfall gerechtVgl. Arendt 1955, insbesondere Teil III: »Totale Herrschaft«, gipfelnd im Abschnitt 13: »Ideologie und Terror: eine neue Staatsform«. 7 Für einen ersten Ansatz zu einer solchen Geschichte siehe Klass 2009. 6
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fertigt sind und welche nicht (Walzer 1977) – hatte nach dem 11. September 2001 eine für ihn unerträgliche »Kultur der Entschuldigung« aufkommen sehen, die stets darauf aus war zu verstehen – und damit, für Walzer, eben im Ansatz auch schon zu rechtfertigen –, wieso die Terroristen zu den Mitteln gegriffen haben, zu denen sie gegriffen haben. Ein solcher Ansatz, so Walzer, sucht Erklärungen, die Argumente dafür bereitstellen, Entschuldigungen für ein Handeln zu finden, für das es keine Entschuldigung gibt. Der Grundfehler solcher Ansätze liegt für Walzer in der dabei eingenommenen Perspektive: der der Täter statt der der Opfer. Während nämlich aus Sicht der Täter immer nahe liegt zu fragen, ob ein gegebenes Mittel – und sei es noch so schrecklich – nicht doch irgendwie über einen bestimmten Zweck gerechtfertigt werden könne (berühmtestes Beispiel der Diskussion – mit dem sich vor allem Georg Meggle auseinandergesetzt hat (Meggle 2003) – ist der Widerstand gegen den Faschismus), sei es dem Opfer, das traumatisiert, verletzt oder gar getötet wird, ganz egal, ob dies aus einem »gerechten« oder »ungerechten« Grund geschah. Eben deshalb ist es für Walzer unabdingbar, Terror aus der Zweck-MittelPerspektive des Terrorismus (die immer die des Täters ist) zu lösen und – in einer Denkfigur, die aus Benjamins »Kritik der Gewalt« bekannt ist (Benjamin 1988) – rein als Mittel in den Blick zu bekommen; weil man Terror nur dann danach beurteilt, was er in sich selbst ist und aus sich anrichtet. Folgt man diesem von Walzer eingeschlagenen Weg, kann man, was Terror ist, besser abheben vom umfassenderen Phänomen Terrorismus und es zugleich aus sich schärfer fassen. Betrachtet man Terror aus der Täterperspektive, steht bei seiner Bestimmung zumeist die kriegsethische Frage im Vordergrund, wodurch und bis zu welchem Ausmaß das Töten Unschuldiger 8 zu rechtfertigen sei (in Absetzung zur kriegsethischen Figur des »collateral damage«). Aus der Sicht der Opfer dagegen sind es vor allem die dem Terror – d. i. der Erfahrung des Terrors – eigenen Qualitäten, die in den Blick zu nehmen sind, von denen der faktisch eintretende Tod nur eine mögliche letzte Konsequenz darstellt und für die die Frage nach Schuld und Unschuld schnell anachronistisch erscheint. Von diesen dem Terror eigenen Qualitäten scheinen mir die folgenden die hervorstechendsten: Terror In seinem Bemühen, Terrorismus auf eine Formel zu bringen, schlägt Walzer eine weithin akzeptierte Definition vor: »Terrorism ist the random killing of inncocent people in the hope of creating pervasive fear«; vgl. Walzer 2006, 3.
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operiert, anders als andere Mittel der Gewalt, explizit aus dem Dunklen, der Intransparenz, aus der er dann ereignishaft 9 und zugleich exzessiv hervorbricht (das ist das Grenzsprengende des Terrors); Terror macht sich so bemerkbar, erscheint – fast gespenstisch – als sich plötzlich manifestierende, in ihrer Logik für das Opfer uneinsehbare, d. i. dessen Vorstellungswelt transzendierende höhere Gewalt. Erhofftes und wohl auch tatsächliches Resultat solcher plötzlich sich ereignenden Gewaltexzesse ist weniger dieser oder jener strategischer Teilsieg in einer Gesamtschlacht, die Zerstörung dieser oder jener Figur und Örtlichkeit (und da dies nicht im Zentrum steht, kann man Terror schwerlich eine Kriegsstrategie nennen – wiewohl er natürlich auch im Krieg eingesetzt werden kann und wird), als vielmehr eine ebenso allgemeine wie diffuse Atmosphäre der Angst. Und zwar, trotz des diffusen Charakters, einer sehr spezifischen Form von Angst, deren Kern eine Drohung ist: die nämlich, dass diese Art des Exzesses, der plötzlichen, aus dem Dunkel kommenden Aufsprengung jeder menschlichen Hegung, jederzeit und an jedem Ort sich wiederholenden kann. Wodurch, um eine wichtige Unterscheidung der Kierkegaard’schen Philosophie zu verwenden, nicht nur konkrete Furcht vor benennbaren Gefahren entsteht, sondern eine allumfassende, das gesamte Leben affizierende Angst, die Schritt für Schritt alle Formen von Vertrauen – diesem zugleich fragilsten und wichtigsten Kitt offener Gesellschaften – in etablierte Ordnungsmuster und Semiotiken des Sozialen unterminiert (vgl. Kierkegaard 1992). Eben deshalb gilt die Figur des »Schläfers« heute nicht zu Unrecht als das Emblem des Terroristen: weil in ihm der nette Nachbar und Kollege, mit dem zusammen und im Vertrauen auf den wir unsere soziale Welt gestalten, vom Zerstörer eben derselben sozialen Welt nicht mehr zu unterscheiden ist – und damit besagte soziale Welt ins Grundlose fallen macht. Auf diese Weise nimmt Terror Züge einer Machtform an, die Foucault an den Anfang seiner Vorstellung von Biomacht gestellt und »Pastoralmacht« getauft hat (Foucault 2005): die eben nicht, wie das Recht, dem Einzelnen äußerlich bleibt, bloße Grenzen des Verhaltens setzt und ansonsten die juridische »Hegung« (Schmitt) des Selbst achtet, sondern – weil von einer höheren Wahrheit als dem Recht abgeleitet (wie etwa der »Tugend« am Grund des jakobinischen Terrors) – tief in jede Pore eines Lebens eindringt und dieses von innen her bestimmt – wenn auch thanato- und nicht ei9
Derrida nennt dies die »Plötzlichkeit« des Terrors, vgl. Derrida 2006b.
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gentlich biopolitisch (d. i. nicht als Führung, sondern als Zerstörung des einzelnen Lebens). So dass man in Abwandlung der Idee Hannah Arendts, dass »das Wesentliche der totalitären Herrschaft« darin liegt, dass sie »die Menschen […] in das eiserne Band des Terrors schließt« (vgl. Arendt 1986, 958), sagen könnte: »Das Wesentliche des Terrors ist sein Hang, den Menschen in das eiserne Band der totalitären Herrschaft einzuschließen«, in dem Sinne, dass Terror den Menschen immer »total« zu erfassen versucht. 10 Durch diese Totalerfassung des Lebens führt der Terror dem Einzelnen die Schutzlosigkeit vor Augen, die ihm sein aktuelles Leben und vor allem: die aktuell von ihm gewählte offene Lebensform beschert, über deren Sein die – sich entziehenden, unerreichbaren – Initiatoren des Terrors die Macht besitzen, gottgleich zu verfügen. Das ist die eine Seite, die eine Wirkung des einzelnen terroristischen Akts. Die – oder vorsichtiger: eine – mögliche zweite Wirkung besteht darin, dass es der Terrorakt vermag, über die Verbreitung von Vertrauen zerstörender Angst hinaus, vorsichtig gesagt: etwas zu sagen; eben deshalb haben nicht wenige Terror als Mittel politischer Auseinandersetzung eine symbolische oder kommunikative Strategie genannt bzw. ihm eine symbolische oder kommunikative Funktion zugeschrieben. Dabei wird sowohl die Struktur als auch die übermittelte Botschaft von verschiedenen Autoren durchaus verschieden interpretiert. Michael Walzer etwa glaubt, dass terroristische Akte den Angegriffenen eine Botschaft übermitteln wollen etwa folgenden Inhalts: »We don’t want you here. We will not accept you or make our peace with you as our fellow-citizens or partners in any political project. You are not candidates for equality or even co-existence« (Walzer 2006, 5). Andere Autoren finden eine derartige Botschaft nicht, für sie – etwa für Herfried Münkler (Münkler 2001) – ist der Terror eine kommunikative Strategie ohne Botschaft bzw. – so sieht es Habermas – eine kommunikative Strategie, die die Kommunikation stört bzw. zum Abbruch der Kommunikation führt (Habermas 2006, 61). All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie in ein Paradox führen: Einen Hinweis auf diesen Kern des Terrors findet sich auch in der Alltagssprache bzw.- vorstellung: Wenn dort etwa die Rede davon ist, dass jemand jemand anderen durch seine anhaltenden Telefonanrufe »terrorisiere« oder auch eine Dauerberieselung mit Musik in einem Café als »Terror« apostrophiert wird, dann soll damit vor allem hervorgehoben werden, dass das Schreckliche an diesen Phänomenen ist, dass man ihnen nicht entkommen kann, da sie keine Hegungen um Schutzräume respektieren.
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das nämlich, dass da – qua Terror – eine Kommunikation initiiert wird, bzw. dazu initiiert wird, um dann Kommunikation abzubrechen, zu zerstören. Das ist das Paradox des Sprechaktes, der laut sagt: Ich spreche nicht mit Dir. Baudrillard hat diese Vorstellung eines Typs von Kommunikation, der Kommunikation unterbinden oder auflösen will, dazu geführt, den Terror zu einem »symbolischen Ereignis« zu erklären, d. i. zu einem Ereignis, das als »absolutes und unwiderrufliches Ereignis« generell mit der Idee des allgemeinen Äquivalents im generalisierten Tausch bricht, mit der Idee kommunikativen Tauschs und kommunikativer Tauschbarkeit; der Terror führt laut Baudrillard den Tod in den symbolischen Tausch ein als eine Gabe, die dort gerade nicht mehr beantwortbar ist, da sie kein – kommunikatives – Äquivalent mehr kennt oder zulässt (Baudrillard 2002, 11 ff.). 11 Was all diese Interpretationen der symbolischen oder kommunikativen Dimension des Terrors nicht in Betracht ziehen, ist, was im Konzept der »Propaganda der Tat« – entwickelt und angewandt vornehmlich von deutschen und russischen Anarchisten im 19. Jahrhundert – immer schon ganz selbstverständlich mitgedacht wurde: Dass nämlich der terroristische Akt sich als Kommunikation gar nicht an denjenigen, der da Opfer des Terrors ist, wendet, sondern an ein imaginiertes und durch den symbolischen Akt eigentlich erst hergestelltes Publikum oder Auditorium. Das aus der marxistischen Tradition stammende Konzept der »Propaganda der Tat« möchte eine besondere Art von Ideologiekritik betreiben: Terror will sich vor allem als Zeichen, das all denen schlagartig eine Wahrheit offenbart, von der sie, in der Enge ihres Verblendungszusammenhangs befangen, sonst nie erfahren hätten: den unterdrückten, zumeist illiteralen, vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossenen Massen. 12 Für sie inszeniert der Terror einen kommunikativen Akt (wobei es zum Wesen dieser Inszenierung gehört, dass diese Kommunikation keine Wechselrede ist, an der beide Kommunizierenden einen Anteil haben, sondern beide Rollen fest in einer Hand liegen: der des Inszenierenden). Und dieser inszenierte kommunikative Akt stellt dar, wie der Schwache, Aus11 Dass Baudrillard immer noch von einem symbolischen Ereignis spricht, d. i. aus dem oben genannten Paradox des Sprechaktes, der erklärt: Ich spreche nicht mit Dir, strukturell nicht ausbricht, hat bei ihm mit der eingangs schon genannten Idee zu tun, dass es eine tiefgreifende Komplizenschaft zwischen »uns« und den »Terroristen« gibt in dem Sinne, dass mit dem Terroristen unser anders zu uns spricht. Dadurch wird dieses Gespräch, das keines ist, zuerst zu einem Selbstgespräch – das keines ist. 12 Für eine genauere Darstellung des Konzepts vgl. vor allem Elter 2008.
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gestoßene sich vom Starken, Herrschenden nicht mehr in dessen Kommunikationsbahnen zwingen lässt, da diese in ihrer Logik vom Starken zuungunsten des Schwachen bestimmt und kontrolliert werden (durch die Herrschaft über das gesprochene und geschriebene Wort mit Hilfe von Tabus und ökonomischer Macht). Stattdessen wird ein Schwacher vorgestellt, der einen symbolischen Akt auf der Agora des Starken vollzieht, dem der Starke sich ebenso wenig entziehen wie er ihn kontrollieren kann. Die inszenierte Kommunikation stellt dieselbe nicht als eine Wechselrede dar, einen Austausch unter solchen vor, die ihre Antwort davon abhängig machen, was der andere (als anderer) sagt oder tut, sondern als ein Duell: in dem diesmal, dies eine Mal (aber damit eben potentiell auch alle folgenden Male) am Ende der Schwache, bis dato Unterdrückte als Sieger dasteht. Womit der symbolische Gehalt des terroristischen Akts einerseits die Darstellung eines Sieges – nämlich diesmal der des Schwachen –, andererseits die Darstellung einer Art von Konfliktlösung ist: nämlich durch Kampf und Negation des Anderen. In der performativen Absicht, dass das Auditorium, das diese doppelte Botschaft versteht, durch den Akt, der sich an das Auditorium wendet, erst – und endlich – geschaffen wird. Terror will die eine, angegriffene Welt durch das Verbreiten von Angst zerstören, indem diese Angst das Vertrauen ruiniert, auf dem diese Welt aufbaut; und will zugleich für eine andere Welt, in der das geoffenbarte Wort und nicht der Dialog unter Gleichberechtigten gilt, Anhänger und damit: neue Bürger schaffen. 13 Fasst man den Terror in dieser Weise, erscheint auch ein anderes Bild des Terrorismus als das, das man gemeinhin aus der Täterperspektive zeichnet (was nicht heißt: ein vollkommen anderes, aber doch: ein in wichtigen Punkten anders gewichtetes Bild). Peter Sloterdijk hat für den Einstieg in diese Perspektivverschiebung – ohne dies so theoretisch rückzubinden – eine treffende Formel geprägt: »Der Anfang des Terrors«, so lautet seine Antwort auf die These, dass Terrorakte nichts anderes seien als das einzig wirksame und daher legitime Gegenmittel der Schwachen gegen einen zuvor selbst erfahrenen Terror, »ist nicht das ausgeführte Attentat der einen Seite, sondern der Wille und die Bereitschaft von Konfliktpartnern, in der ausgeDiese grundsätzliche Abkehr vom Dialog und Hinwendung zu einer geoffenbarten bzw. zu offenbarenden Wahrheit macht, dass Terror auch da theologische Züge in sich trägt, wo er sich inhaltlich gar nicht religiös rechtfertigt.
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weiteten Kampfzone zu operieren« (Sloterdijk 2002, 25). Terrorismus ist nach dieser Bestimmung nicht einfach die Entscheidung für eine besondere, bestimmten Zweck-Mittel-Relationen entsprechende Kampfesmaßnahme (d. i. einen einzelnen Terrorakt, der als Akt des Widerstands verstanden wird), sondern die Entscheidung für einen besonderen Typ von Konfliktlösung und damit von Weltsicht: die bestimmte Standards der Rechtsförmigkeit, Transparenz und Sichtbarkeit (d. i. Vernunftförmigkeit) von Konfliktlösungen nicht anerkennt und stattdessen auf andere, menschliche Vermögen übersteigende Muster und Mächte setzt, in denen der Einzelne als Einzelner nur Teil – und damit eben auch verzichtbarer bzw. auslöschbarer Teil – eines größeren, für den Einzelnen nicht mehr einsehbaren, ihn nur ereignis- oder schicksalhaft betreffenden Ganzen ist (was unterstrichen wird durch die Tatsache, dass dies im Terrorismus für die Opferseite genauso gilt wie für die Täterseite: wovon die wiedererstarkte Figur des Selbstmordattentäters oder Märtyrers zeugt; einer Figur, der jüngst vor allem Sigrid Weigel so aufschlussreich nachgegangen ist (Weigel 2007)). Wie sehr »Terrorismus« in diesem Sinne Name einer »Kampfzone«, und nicht einfach einer bestimmten Art, gegen anzuklagende Unterdrücker einen »Widerstands«-Kampf zu führen, ist, zeigt sehr beeindruckend Yasmina Khadra im Roman Wovon die Wölfe träumen (Khadra 2003). Dort beschreibt der Autor, ein ehemaliger hochrangiger algerischer Militär, der heute im französischen Exil lebt und unter einem Pseudonym veröffentlicht, wie ein junger Algerier seinen Weg in den Terrorismus findet. Was Khadra in seiner Schilderung (im Gegensatz zu John Updikes ähnlichem Versuch in Terrorist, der ganz und gar einer psychologisierenden Außensicht verhaftet bleibt (Updike 2006)) besonders glaubwürdig darlegen kann, ist, wie sehr das System, gegen das der Hauptprotagonist schließlich zum Terrorist wird, die Konfliktlösungsmuster dieses Terrorismus dem jungen Mann von Geburt an als legitim mit auf den Weg gegeben hat: Auch die algerische Staatsmacht nämlich kennt und akzeptiert nach Khadra keine Gesetzeshegungen, operiert – mit Hilfe von Spezialeinheiten des Geheimdienstes – im Dunkeln, ist in ihrer plötzlich in alle Bereiche – auch die privatesten – eindringenden Gewalt zugleich exzessiv und grenzaufhebend, verweist dabei für ihr Handeln auf höhere, dem einzelnen Opfer unzugänglichen Gründe und fundiert durch diese Art, Politik auszuüben, das gesamte soziale Leben in einer diffusen Atmosphäre von alles erfassender Angst, in der jeder das nächste Opfer sein oder aber sich als ein Komplize der 218 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Täter entpuppen kann. Die Entscheidung für den Terror, das zeigt Kadhras Erzählung auf beeindruckende Art und Weise, ist in solchen politischen Kulturen des Terrors 14 nicht einfach eine Entscheidung für eine Kampfesmaßnahme gegen zuvor erfahrenen Terror, sondern eine Entscheidung dafür, in die von diesen Kulturen des Terrors selbst eröffneten Kampfzonen einzusteigen; was eben auch heißt, in eine Welt und eine Lebensform einzusteigen (und sie damit zu perpetuieren), in der das Leben des Einzelnen nichts zählt, »Menschenwürde« ein Fremdwort ist und das Recht in seiner »Wahrheits«-Ferne keine Ansprüche auf Geltung erheben kann. 15 Einmal eingetreten in dieses Reich geheiligter Gewalt, stehen die einzelnen Akte der Gewalt einander als unversöhnliche Zeichen gegenüber, die ohne Äquivalent sind, daher nicht kommunikativ ausgetauscht, sondern nur einander präsentiert, zur Erscheinung gebracht werden können. Als Symbole eines imaginierten Gesamtsieges, der keine Verschiedenen mehr kennt, die ein Miteinander suchen, sondern nur noch Sieger und Besiegte, Richtige und Vernichtete. Terror, so gesehen, wäre kein Mittel der, sondern nichts anderes als das Ende von Politik.
3.
Verantwortung und Terror
Und damit komme ich auf meine Ausgangsfrage zurück: Wie verantwortlich mit dem Terror umgehen, d. i. wie so auf ihn antworten, dass Alterität Räume erhält, als Alterität möglich bleibt, ohne dass dadurch ein zugelassenes anderes seinerseits die Andersheit aller anderen verunmöglichen kann? Meine – zugestanden: sehr schwache – Antwort darauf wäre nun: Wenn Terror tatsächlich zuerst eine symbolische Handlung ist, die von Terroristen dazu verwendet wird, einerseits durch Produktion alles erfassender Angst das Vertrauen in das Funktionieren eines friedlichen Miteinander der Verschiedenen au fond zu zerrütten, wissend, dass eben dieses Vertrauen die wichtigste Basis für das Funktionieren offener Gesellschaften ist; und andererseits einem anSolche politischen Kulturen des Terrors, auch das lässt sich dem Buch entnehmen, gründen ihrerseits in sozialen Kulturen der Gewalt: wo Gewalt, und durchaus auch exzessive, als legitimes Mittel der Konfliktlösung anerkannt ist und tradiert wird. 15 Menschenverachtung und grundsätzliches Misstrauen, auch das zeigt Khadra im Fortgang seiner Geschichte, bestimmen nicht nur das Verhältnis der Kämpfer zu den Bekämpften, sondern auch das Verhältnis zueinander: es wird zu einer Lebensform. 14
219 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Tobias Nikolaus Klass
genommenen – d. h. durch den terroristischen Akt erst hergestellten – Publikum vorzuführen, dass die Logik des Austausches, des Hörens auf den Anderen an ihr Ende gekommen, und von einer monologischen, nicht-relativierbaren, geoffenbarten Wahrheit ersetzt, im Sinne von: besiegt werden kann und muss, dann hätte eine politisch verantwortliche Antwort darauf selbst zuerst eine symbolische Handlung zu sein. Nicht als Antwort auf den Akt insofern er ein Verbrechen darstellt; dazu müssen weiter – wie bei jedem anderen Verbrechen – polizeiliche oder im Extremfall vielleicht auch militärische Aktionen in Anschlag gebracht werden (wobei der Extremfall sich nach etabliertem Muster an den beiden Normen Notwehr und Nothilfe orientieren muss). Wohl aber als Antwort auf den politischen Gehalt des terroristischen Aktes: und sowohl inhaltlich – als Antwort auf das Modell unverfügbarer, geoffenbarter Wahrheiten – als auch performativ: als Antwort auf die Macht der Angst, des zerstörten Vertrauens. Diese symbolische Antwort auf den terroristischen Akt wäre dabei etwas anderes als der Versuch, eine zerrüttete oder zerstörte Kommunikation wieder herzustellen; denn die dieser Kommunikation zugrunde liegende Vernunft – selbst in dem weiten, oben im Anschluss an Derrida dargelegten Sinn – wäre dabei immer schon vorausgesetzt, also eben jene Vernunft, die der Terrorist gerade – als das Mittel der Herrschenden – in Frage stellt und daher bekämpfen will. Sondern die gesuchte Antwort hätte, wie sein Gegenteil, der terroristische Akt, selbst eine Art »Propaganda der Tat« zu sein; freilich eine, die dem Terror gerade nicht in die »ausgeweitete Kampfzone« differenzloser Gewalt folgt (also nicht, wie bei Baudrillard, der gescheiterten Kommunikation die Macht des »absoluten Ereignisses«, der reinen Gewalt entgegensetzt), sondern im Gegenteil: Differenz sichtbar hält, überhaupt ein Gespür für Differenz aufrechterhält (oder gar erst initiiert). Die Aporie, wie Derrida sie vorgeschlagen hat, wird aller Voraussicht nach als Strategie in diesem Raum kaum wirkmächtig werden können, eben da sie – darin tatsächlich ganz rationalistisch – auf das Denken, das Vorhanden-Sein bzw. den Vollzug von Denken angewiesen bleibt – ebenjenes Denken, das im und durch den terroristischen Akt gerade verunmöglicht werden soll. Wichtiger als der vermeintliche »Rationalismus« der Antwort scheint mir ihre Performativität, und das heißt vor allem: ihr Handlungs- und ihr Inszenierungscharakter. Der weniger das Vorhandensein einer Kommunikation bzw. die Universalität ihrer Regeln zu sichern hätte, als vielmehr dafür zu 220 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Frieden gegen den Terror?
sorgen, dass die Gesprächspartner überhaupt im Gespräch bleiben, Kontakt halten. Im Anschluss an Jakobson gesagt: die »phatische« Ebene ist bei dieser Art symbolischer Handlung wichtiger als die »referentielle« – was, ganz im Sinne Jakobsons, natürlich nicht damit zu verwechseln ist, dass die referentielle nun keine Rolle mehr spielt, nur eben eine nachgeordnete (vgl. Jakobson 1971). Wie dies je konkret auszusehen hat, lässt sich allgemein natürlich schwer sagen. Und dies schon aus ganz systematischen Gründen. Zum einen hat jeder Fall seine je spezifischen, historisch kontingenten Besonderheiten, die Verallgemeinerungen nur schwer zulassen. Jede symbolische Handlung ist unbedingt an den Kontext gebunden, in dem sie erscheint, und kann also nur aus den Vorgaben des Kontextes hervorgehen. Und zum anderen – das gehört zum Wesen jedes performative – kann jeder symbolische Akt auch scheitern, weil keine Konvention sein Gelingen garantieren kann. Zumal nicht in einem Feld, in dem die den Akt tragende Vernunft ja gerade Teil der Auseinandersetzung ist. Symbolische Handlungen der gesuchten Art sind immer, wie Schmitt sagen würde, »riskant«: weil kein Gemeinsames sie mehr versichern kann. Trotz dieser systematischen Bedenken ließen sich aber doch vielleicht zumindest generell Anhaltspunkte sammeln, die bei der jeweiligen Suche nach möglichen Kandidaten für eine mögliche Strategie helfen können. Drei solche Anhaltspunkte seien zum Schluss kurz bedacht. Zuerst einmal scheint es mir sinnvoll, bei der Suche nach dem von mir gesuchten Typ von Antwort bzw. Art von »Ideologiekritik« – denn das ist die »Propaganda der Tat« ja au fond, und das eben soll auch die gesuchte Antwort zuerst sein: Kritik und Zerstörung von per definitionem autoimmuner Ideologie –, sich noch einmal David Humes Reflexionen zur Herstellung sozialer Verbindlichkeit vorzunehmen, da diese, anders als Derridas ganz auf die Macht der Negation setzenden Überlegungen, sich an positive, d. i. weltschaffende Bestimmungen wagen. Hume nämlich, der Hobbes Paradox des Urvertrages aufgewiesen und die Unmöglichkeit, Sozialität mit einem Vertrag gründen zu wollen, vorgeführt hat, hatte ein sehr feines Gespür dafür entwickelt, dass Dinge, die nicht gründbar sind, im Bodenlosen des Miteinander gleichwohl eingeübt werden können. Die – noch einmal: zugestandenerweise ausgesprochen schwache – Erfahrung während dieser Einübung, dass etwas so Ungründbares wie soziale Verbindlichkeit trotzdem funktionieren kann, wenn nur alle 221 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Tobias Nikolaus Klass
einander vertrauen, war für Hume nicht nur eine, die soziale Akteure auf ihrem Weg in die Gemeinschaft machen konnten und sollten, sondern die zugleich diesen Akteuren auch vorgeführt werden konnte und musste – um das Vertrauen in ihr Funktionieren zu stärken. Eben deshalb setze Hume nicht nur gegen Hobbes Idee eines letztabschließenden Vertrages das Offene des Versprechens (also die Form der Zuwendung zum Anderen, die für Hannah Arendt neben dem Verzeihen die entscheidende in der Gestaltung eines gemeinsamen Wertes war (Arendt 2007, § 34)); sondern er riet zugleich, die Macht der eloquence, des Theatralen zu aktivieren, um der fragilen Vertrauenswürdigkeit von Versprechen auf die Sprünge zu helfen. Etwa indem man – ganz gegen die definitorische Notwendigkeit, das Versprechen von der bloßen Vorhersage abzugrenzen – auch das verspricht, was man ohnehin zu tun vorhatte. Hume weiß: In einer Welt des Misstrauens haben Versprechen, hat eine Sozialität, die auf Versprechen aufbaut, keine Chance. Eben deshalb muss man als Mitglied einer Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft Vertrauen gewinnen in das schwache Etwas, das ihr Zusammenleben fundieren soll. Was man nicht nur dadurch tut, dass man selbst Versprechen auch hält; sondern zugleich dadurch, dass man dies auch bewusst macht: dass da ein Versprechen gegeben und gehalten wurde. Sogar dann, wenn es vielleicht gar kein echtes Versprechen war. 16 Zweitens scheint mir wichtig zu sein, dass die gesuchte Art der Antwort deutlich sichtbar werden lässt, dass ihr Hauptanliegen nicht die Konfrontation, sondern das Hören-auf ist, d. h. dass der andere und der Respekt vor dem anderen im Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit steht. Ich denke dies war, was etwa Barack Obama durch seine Rede an der Universität von Kairo im Juni 2009 zumindest versucht hat: Er wollte durch die Art und den Ort seines Auftrittes, insbesondere aber durch die Verbeugung vor der Rolle, die der Islam für die Genese der Identität Europas und der USA gespielt hat und noch spielt, zeigen, dass er für eine Politik steht, die vom anderen her denkt, den anderen im Eigenen mitdenkt. Und so aller auf einfachen Dichotomisierungen, einfachen Freund-Feind-Schematisierungen aufbauenden Politik eine Absage erteilt zugunsten einer Politik des Austausches und des Dialogs. Drittens schließlich halte ich es für unverzichtbar, gegen die Omnipotenzattitüde des Terrors offensiv Schwäche zu setzen, d. h. 16
Zu diesem Zug des Hume’schen Denkens siehe ausführlich Klass 2001.
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Frieden gegen den Terror?
laut und deutlich eingestandene Schwäche. Terrorismus – zumindest der uns in den letzten 50 Jahren vornehmlich beschäftigende Terrorismus – rechtfertigt den eigenen Terror, wie ich oben darzulegen versucht habe, zumeist mit der Erfahrung eines zuvor selbst erfahrenen Terrors: als unvermeidbare, weil einzig noch wirkmächtige Antwort auf ihn. Im Zentrum dieser Argumentation steht dabei das, was oben die biopolitische Dimension genannt wurde: insofern Terror eine Macht ist (oder zu sein versucht), die in jeden Bereich des Lebens eindringt und es so von außen her fremd bestimmt. Diese Erfahrung ist eine, die viele Millionen Menschen überall auf der Welt mit der »westlichen« Kultur machen: dass sie vor nichts Halt macht, alles an sich zieht, in alles eindringt und so lokale Kulturen und Werte von innen her zerstört. Eben diese Unentrinnbarkeit lässt die westliche Kultur, auch ohne explizit Gewalt anzuwenden, bedrohlich erscheinen, was anzunehmenderweise ein wichtiger Baustein im Verständnis der Sympathien für anti-westliche Terroristen ist (d. i. für das oben genannte »Publikum«, das durch Terror-Akte in Anhängerschaft verwandelt werden soll). Um dem entgegen zu wirken, müsste eine symbolische Antwort auf den Terror sich selbst öffentlich entmachten: und den Adressaten der symbolischen Handlung selbstbewusst und offenherzig die Schwäche der als machtvoll Empfundenen spüren lassen. D. h. öffentlich sichtbar und spürbar werden lassen, wie sehr die von anderen angenommene und auch erfahrene Macht, mit der da scheinbar alles durchdrungen und alles bestimmt wird, selbst eine in und aus sich fragile, weil (mangels einer Letztbegründung) jederzeit revidierbare ist. 17 Solange die, gegen die Terror als politische Waffe in Anschlag gebracht wird, nicht vermögen, sich selbst glaubwürdig zu depotenzieren, d. i. sich selbst glaubwürdig aus der erwähnten Kampfzone des Terrors herauszunehmen, so lange wird es wohl weiter Terror geben. Einfach weil er als einzig mögliche und quasi »natürliche« Antwort auf zuvor erfahrenen Terror angesehen werden kann, innerhalb eines Feldes (der genannten »erweiterten Kampfzone«), das als Feld nie wirklich in Frage gestanden hat. Pointierter gesagt: Die politische Antwort auf den Terror, die politische Art, Verantwortung gegenüber dem Terror zu übernehmen, kann nur in symbolischen Akten liegen, die einem angenommenen – und dabei eigentlich erst produzierten – Auditorium vorEin solcher symbolischer Akt kann natürlich nur dann glaubwürdig kommuniziert werden, wenn die damit einhergehende Realpolitik in dieselbe Richtung geht.
17
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Tobias Nikolaus Klass
zuführen vermögen, dass das Miteinander der Verschiedenen klappen kann, dass es möglich ist, Alterität Beachtung zu schenken, ihm Raum zu gewähren und zu garantieren, ohne dass dadurch die gemeinsame Welt zerspringt. Dieses Miteinander muss dabei erkennbar werden als ein Miteinander von »Schwachen«: die nicht einer geoffenbarten, und daher unrelativierbaren Wahrheit sich unterwerfen bzw. in ihren Taten kraftvoll Geltung zu schaffen versuchen, sondern die selbstbewusst und bereitwillig die Fragilität und Revidierbarkeit des Grundlosen auszuhalten imstande sind. Nur wer sich, das wäre die Hoffnung dahinter, zum Herr macht, kann als Herr angegriffen werden. Wer sich dagegen als ein selbst Schwacher präsentiert hat zumindest eine Chance, das Schlachtfeld zu verlassen und in einem Kontakt jenseits von Siegern und Besiegten zu gelangen.
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Pascal Delhom
Frieden mit Verantwortung und Vertrauen. Versuch über den Frieden als soziale Tugend.
»Jede andere Zeit ist Frieden« schreibt Thomas Hobbes, Gründer der modernen politischen Philosophie, im dreizehnten Kapitel seines Leviathans. Unmittelbar vorher hatte er das Wesen des Krieges so definiert: »Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder in Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist«. Das Wesen des Krieges bestehe also »nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann.« Und hier fügt Hobbes hinzu: »Jede andere Zeit ist Frieden« (Hobbes 1966, 96). Der Kontrast zwischen der Bestimmung des Krieges – als Kampf und als bekannte Bereitschaft zum Kampf – und der Unbestimmtheit des Friedens – jede andere Zeit – ist markant. Damit bringt Hobbes nicht nur zum Ausdruck, dass er den Frieden nur negativ als Abwesenheit von Krieg versteht. Er verweist auch indirekt auf die in der Moderne sehr verbreitete Schwierigkeit, den Frieden positiv zu bestimmen. Zwar verbindet Hobbes die Suche nach dem Frieden mit der Hoffnung, die Dinge, »die zu einem angenehmen Leben notwendig sind […], durch Fleiß erlangen zu können« (ebd., 98). Denn dies sei in Zeiten des Krieges nicht möglich und müsse entsprechend in anderen Zeiten erfolgen, welche auch immer diese seien. Doch diese Verbindung kann kaum als Bestimmung dessen verstanden werden, was Frieden ist. Die tatsächliche Erfüllung der Hoffnung nach einem angenehmen Leben kann höchstens als Zeichen fungieren, dass Menschen in Zeiten des Friedens leben. Der Frieden zeigt sich darin nicht selbst, sondern nur indirekt durch das, was er ermöglicht. Auch der Vertrag, durch den nach Hobbes der Kriegszustand zwischen den Vertragsparteien beendet werden soll, kann nicht als Bestimmung dessen verstanden werden, was Frieden ist. Er ist nur das beste Mittel, das unsere Vernunft im Dienst unserer Leidenschaften uns nahelegt, um den Frieden zu erreichen. Dieser bewirkt wie227 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Pascal Delhom
derum, dass wir uns wirksam gegen die Anderen verteidigen können und die Möglichkeit erhalten, unsere Hoffnungen zu erfüllen. Der Vertrag ist also nur ein Mittel zum Zweck des Friedens, der selber nur ein Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung und eines angenehmen Lebens ist. Zwischen dem Vertrag als Mittel, Frieden zu schließen, und dem angenehmen und gesicherten Leben als Zweck, zu dem der Frieden nur ein Mittel ist, bleibt bei Hobbes der Frieden selbst sonderbar unterbestimmt. Das einzige positive Kriterium des Friedens, das Hobbes angibt, ist die Sicherheit, dass niemand zum Kampf bereit ist: Der Frieden wäre nach ihm jede Zeit, in der man sich des Gegenteils des Kampfs und der Bereitschaft dazu sicher sein kann. Allerdings hängt für ihn diese Sicherheit des Friedens von der Existenz eines Souveräns ab, der mit Gewalt bzw. mit der erschreckenden Androhung derselben das Einhalten der Verträge erzwingen darf (ebd., 131; 134). 1 Es bedeutet, dass sich offensichtlich der Frieden nach Hobbes nicht ohne Gewalt gegen die Gewalt des Kampfes zu behaupten vermag. Hierbei kann diese Gewalt des Souveräns, die den Frieden sichern soll, kaum selber als inhaltliche Bestimmung des Friedens gelten. Die Unbestimmtheit des Friedens scheint allerdings nicht nur eine Schwäche der Hobbes’schen Philosophie zu sein. Auch sein Zeitgenosse Blaise Pascal etwa vermeidet jede inhaltliche Bestimmung des Friedens, auch wenn er behauptet, dieser sei das höchste Gut (vgl. Pascal 1994, 157). 2 Sogar Kant ist in dieser Hinsicht nicht aufschlussreicher. Er behauptet zwar, dass der Friedenszustand unter Menschen kein Naturzustand sei, sondern gestiftet werden müsse (vgl. Kant 1977, 203). Doch anschließend beschreibt er nicht den Frieden selbst, sondern die Rechtsordnung, durch die allein der Frieden gestiftet werden kann und aus der er wie von selbst folgen soll (vgl. ebd., 240). Diese Rechtsordnung ist allerdings so unterschieden vom Frieden selbst wie die moralische Pflicht von der Glückseligkeit als Zweck des menschlichen Lebens bzw. wie die Pflicht überhaupt von Zwecken in der ganzen praktischen Philosophie Kants: Es ist nämlich Pflicht,
In der deutschen Übersetzung wird das englische Wort »terror« einmal durch »Fucht« und einmal durch »Schrecken« übersetzt. Es geht aber in beiden Fällen um den Schrecken der Einzelnen vor der Gewalt des souveränen Staates. 2 In der deutschen Übersetzung steht: »Dadurch bleiben wir friedlich miteinander, und das ist das Wichtigste von allem.« Im französischen Text heißt es aber: »Nous voilà en paix par ce moyen, ce qui est le plus grand des biens« (Pascal 1964, 157). 1
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Frieden mit Verantwortung und Vertrauen
»den Zustand eines öffentlichen Rechts […] wirklich zu machen« (ebd., 251), wohingegen der Frieden als Aufgabe dargestellt wird, die »ihrem Ziele beständig näher kommt« (ebd., 251). Es wäre nach Kant ein Widerspruch, die Pflicht durch einen Zweck bestimmen zu wollen, aber auch umgekehrt den Zweck dadurch inhaltlich zu bestimmen, dass er aus der Erfüllung der Pflicht folgt. Was der Frieden ist, kann also nicht inhaltlich durch die Rechtsordnung bestimmt werden. Es scheint überhaupt, dass es dem modernen Denken, das sich seit dem 17. Jahrhundert von der augustinischen Bestimmung des Friedens als »Ruhe der Ordnung« (Augustinus 1955, 556) abgewendet hat, weitgehend nicht gelingt, den Frieden inhaltlich anders zu bestimmen als entweder negativ durch die Abwesenheit vom Krieg, oder indirekt durch die Bestimmung der Mittel, die ihn ermöglichen, der Zwecke, denen er dient, oder einer formellen Rechtsordnung, der er notwendig folgt. Eine historische Erklärung dieser inhaltlichen Unbestimmtheit liegt in der Tatsache, dass es nach den Religions-, Bürger- und machtpolitischen Kriegen des 16. und des 17. Jahrhunderts anscheinend – zumindest im europäischen Raum – nicht mehr möglich war, von einer kosmologischen Auffassung des Friedens auf Grund einer vorgegebenen Weltordnung auszugehen. Allerdings scheint auch eine inhaltliche Bestimmung des Friedens im Rahmen einer Philosophie der Erfahrung, die im 17. Jahrhundert entsteht und nicht auf kosmologische Annahmen zurückgreift, nicht unproblematisch. Denn der Frieden zeichnet sich offensichtlich dadurch aus, dass er sich kaum als solcher zeigt. Anders als der Krieg und der Kampf, die sich meistens durch ihre Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit auszeichnen, die entsprechend vielfach erzählt, gezeigt und repräsentiert wurden und noch werden, von deren blendenden, unsere Sinne überfordernden und zum Teil verletzenden Wahrnehmbarkeit wir uns sogar zu schützen versuchen 3, scheint sich der Frieden der Phänomenalität zu entziehen,
Es gibt auch Formen und Aspekte der Gewalt, die nicht erscheinen. Manche Art der Unterdrückung ist etwa nur dadurch wirksam, dass sie sich nicht als Gewalt zu erkennen gibt. Auch ein Schaden wird nach Lyotard dadurch zu einem Unrecht, dass er nicht ausgedrückt werden kann (Lyotard 1987, 20). Es gehört also nicht zur Gewalt als solcher, dass sie sich zeigt. Dennoch vermag die Gewalt durch ihre Erscheinungsweise, wenn sie erscheint, eine gewisse Faszination auszuüben, auch bei denjenigen, die sie verwerfen. Dies bleibt dem Frieden verwehrt.
3
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Pascal Delhom
als ob er nicht als Frieden erscheinen könnte. Anders auch als die Androhung des Kampfes und als der Schrecken eines kalten Krieges, in dem jede Seite durch Abschreckung die jeweils andere Seite von der Anwendung »realer« Gewalt abzuhalten versucht, scheint sich der Frieden auch nicht in einem Gefühl zu manifestieren, das nicht die bloße Abwesenheit der Angst, der Unsicherheit und des Hasses wäre. Er ist auch nicht mit der Trauer, mit dem Siegesrausch oder mit deren merkwürdigen Kombination gleichzustellen, die nach dem Ende eines Ausbruchs kollektiver Gewalt empfunden werden können. Trotz aller etymologischer Nähe sind auch Zufriedenheit oder Friedlichkeit keine Gefühle, in denen sich der Frieden als solcher manifestiert. Tatsächlich ist die Phänomenalität des Friedens paradox: Er erscheint am stärksten in den Zeiten, in denen er nicht verwirklicht ist. In Zeiten des Krieges wird er vielfach als etwas erfahren, wonach sich viele sehnen und einige streben, allerdings meistens nur negativ im Sinne der Beendigung des Krieges und der Gewalt, die erlitten und ausgeübt wird. In Zeiten des kalten Krieges wird er eher im Sinne einer Ablehnung von drohenden Katastrophen beschwört und hochgehalten. In Zeiten des Friedens aber scheint er hauptsächlich durch den Kontrast zu anderen Zeiten und anderen Orten erfahrbar, in denen der Krieg herrschte oder noch herrscht. Verschwindet dieser Kontrast, scheint auch der Frieden selbst als Phänomen zu verschwinden. Wir leben dann in Frieden wie wir die Luft atmen, die uns umgibt, oder wie wir auf dem Boden stehen, der uns trägt. Wir konzentrieren uns auf das, was der Frieden ermöglicht, und vergessen ihn selbst als Bedingung dieser Möglichkeit. Der verwirklichte Frieden erscheint uns nicht mehr, er verschwindet aus der Sphäre unserer Aufmerksamkeit. Diese paradoxe Phänomenalität kann nicht dadurch erklärt werden, dass der Wert des Friedens ein Trugbild ist, der nur in Zeiten des Krieges unschätzbar zu sein scheint und in der Wirklichkeit des Alltags kaum Anziehungskraft besitzt. Er ist nicht wie der Scheinriese in einem Roman von Michael Ende (Ende 1990, Kap. 17), der von weit weg riesig zu sein scheint und immer kleiner wird, je näher man an ihn herankommt. Denn nicht primär der angestrebte, sondern der verwirklichte Frieden ist wirklich wertvoll. Seine Unscheinbarkeit als positives Phänomen kann also nicht im Sinne einer Täuschung aufgefasst werden, nach der das so wertvoll Geglaubte und so hoffnungsvoll Angestrebte am Ende kaum mehr verdient als ein müdes: 230 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Frieden mit Verantwortung und Vertrauen
»War es nur das?«, auch wenn manchmal die Routine des ruhmlosen Alltags in Zeiten des Friedens so empfunden werden kann. 4
Frieden als soziale Tugend Überzeugender ist eine Erklärung der paradoxen Phänomenalität des Friedens durch die Annahme, dass er nur teilweise ein Phänomen ist. Trotz allen Unterschieden ähnelt er in dieser Hinsicht unserem Leib, den wir einerseits als Körper unter anderen Körpern in der Welt wahrnehmen können, wenn auch nie vollständig, der aber auch, als unser eigener lebendiger Leib, der Ausgangspunkt des je eigenen Wahrnehmens und Handelns ist. Als solcher ist er für uns kein Gegenstand, sondern die leibliche Bedingung dafür, dass wir überhaupt Gegenstände intentional erreichen können. Wie unser Leib sind etwa auch die Luft, die wir atmen, oder der Boden, auf dem wir stehen, einerseits mögliche Gegenstände unserer Betrachtung, andererseits aber Bedingungen unseres Lebens und unseres Handelns, die uns als solche nicht erscheinen. Genauso scheint der Frieden, wenn er verwirklicht ist, die soziale Bedingung unseres gemeinsamen Lebens und unseres freien Handelns zu sein, so dass er als Gegenstand unserer Betrachtung verschwindet. Entsprechend wird er nur dann für uns ein Objekt, wenn er verletzt ist oder wenn er bedroht wird und wenn dadurch seine Selbstverständlichkeit als Bedingung unseres Zusammenlebens schwindet. Allerdings ist der Frieden keine natürliche Bedingung unseres Lebens und unseres Handelns wie unser Leib, der Boden, auf dem wir stehen, oder die Luft, die wir atmen. 5 Er muss gestiftet werden. Wenn er also in Analogie zum Leib und zu den Bedingungen des So sagte Herman Van Rompuy in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union am 10. 12. 2012: »Die Europäische Union hat die Kunst des Kompromisses perfektioniert. Es geht nicht um Sieg oder Niederlage, sondern darum, dass alle Länder aus den Gesprächen als Sieger hervorgehen. Langweilige Debatten sind hierfür wahrlich ein geringer Preis« (http://europa.eu/ rapid/press-release_SPEECH-12–930_de.htm). 5 Dass durch neuere Technologien unser Leib, der Boden oder die Luft keine rein natürliche Gegebenheiten mehr, sondern auch Objekte unseres Handelns geworden sind, kann hier unberücksichtigt bleiben. Es geht mir nämlich nicht um die Behauptung ihrer Natürlichkeit, sondern um die Tatsache, dass der Frieden, zumindest in seinem modernen Verständnis, nie als natürliche Gegebenheit aufgefasst werden kann. 4
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leiblichen Lebens verstanden werden soll, dann eher im Sinne einer Gewohnheit oder eines bewohnten Raums, die durch Übung, durch Gewöhnung, durch Aneignung zu einem Teil unseres leiblichen Selbst werden und die wir, je wirksamer sie unser Leben, unser Handeln und unsere Erfahrung bestimmen, desto weniger selbst als Gegenstände wahrnehmen. Wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise gehören Gewohnheiten und ein bewohnter Raum zu dem leiblichen Ort, von dem aus wir in unserer intentionalen Beziehung zur Welt und zu den Anderen ausgehen. So auch der Frieden, sobald er verwirklicht ist. Der so verstandene Frieden ist also keine objektive Entität in der Welt. Er ist keine Rechtsordnung, kein Gesellschaftszustand, kein politisches Konstrukt, die von Menschen hergestellt oder instituiert werden könnten und die als solche erfahrbar wären, auch wenn das Recht, die gesellschaftliche Ordnung und politische Institutionen eine wichtige Rolle in der Etablierung des Friedens spielen. 6 Er ist vielmehr eine Art Gewohnheit des Zusammenlebens zwischen Menschen. Er ist zwar keine leibliche Gewohnheit, wenn damit eine solche gemeint ist, die dem Leib der einzelnen zukommt und seine Bewegungen und Empfindungen prägt. Er ist eher eine Gewohnheit des Zusammenlebens und prägt die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen in den Gesellschaften, in denen sie unter der Bedingung ihrer Pluralität und ihrer leiblichen Positionalität miteinander leben. Als solcher ist der Frieden nicht direkt wahrnehmbar, sondern nur indirekt in den Institutionen, die ihn stützen, sowie in den Handlungen und Lebensweisen, die er wiederum ermöglicht. Dass der Frieden indirekt in Institutionen und Handlungen wahrnehmbar ist, verweist auf die Tatsache, dass er zwar nicht mit ihnen identifiziert werden kann, aber auch nicht als von ihnen getrennt zu verstehen ist. Der Ort des Friedens ist die allen Menschen gemeinsame Welt oder Mitwelt, die Hannah Arendt auch »das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« nennt (Arendt 1994, § 25), und er kann nicht darin bestehen, sich von ihr abzuwenden. Als eine Gewohnheit des Zusammenlebens ist er nämlich eine erworVon diesen rechtlichen, institutionellen und politischen Bedingungen des Friedens wird hier kaum die Rede sein. Dies bedeutet natürlich nicht, dass ich sie für unwichtig halte, sondern dass ich nicht von ihnen ausgehe, um den Frieden inhaltlich zu bestimmen. Ich möchte umgekehrt von einer Auffassung des Friedens als sozialer Tugend ausgehen, um deren notwendigen rechtlichen, institutionellen und politischen Bedingungen bestimmen zu können. Dies muss allerdings an einer anderen Stelle erfolgen.
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bene Qualität der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Er ist weder eine Qualität der intimen Beziehungen, die es zwischen uns auch gibt, noch dessen, was Martin Buber die Ich-Du-Beziehung nennt und von den sozialen Beziehungen ausdrücklich unterscheidet (vgl. Buber 1984, 271). Denn sowohl die intimen Beziehungen wie auch das Grundwort »Ich-Du« im Sinne Bubers sind weltlos. 7 Der Frieden hingegen ist eine Gewohnheit des Zusammenlebens der Menschen in der Welt. Ohne gesellschaftliche Verankerung, ohne rechtliche Ordnung, ohne Institutionen, die ihn stützen und festigen, und ohne Handlungen und Lebensformen, die er ermöglicht, in denen er sich auch festigt und indirekt zu erfahren gibt, wäre der Frieden nicht das, was er ist und was in der Welt gestiftet werden soll: eine Alternative zum Kampf und zum Krieg. 8 Dies bedeutet nicht, dass der Frieden als Form der Beziehung zwischen zwei Menschen nicht möglich ist. Aber auch wenn zwei Menschen nach einem Streit miteinander Frieden schließen und in Frieden leben, ist dieser Frieden eine Qualität ihrer Beziehung in der Welt und nicht im zeitlosen Augenblick des Du-Sagens oder im Rückzug der Intimität. Die soziale Dimension des Friedens hängt nicht von der Anzahl der Menschen ab, die miteinander in Frieden leben und handeln, sondern von der Weltlichkeit ihrer Beziehung. Die Auffassung des Friedens als eine Gewohnheit des Zusammenlebens in der Welt ermöglicht es, dessen paradoxe Phänomenalität zu verstehen. Denn unsere Gewohnheiten erscheinen uns nicht. Sie sind »auf unserer Seite« in unserem intentionalen Bezug zur Welt, wie Merleau-Ponty in Bezug auf den Eigenleib schreibt. 9 Diese Auffassung muss allerdings präzisiert werden, wenn sie zur inhaltlichen Bestimmung des Friedens beitragen soll. Der erste Aspekt des Friedens, der hierbei unterstrichen werden muss, ist seine Normativität. Frieden ist keine neutrale Gewohnheit, wie etwa bestimmte Im selben Sinne ist auch die Liebe nach Hannah Arendt weltlos (vgl. Arendt 1994, 237). 8 Sogar für Emmanuel Levinas, der den Frieden als Eschatologie versteht (vgl. Levinas 1987, 24) und nach dem die Quelle des Friedens in der moralischen Beziehung zum Anderen – und durch ihn zur ganzen Menschheit – zu finden ist, ist diese Beziehung nur dann eine Quelle des Friedens, wenn sie nicht nur die Zeit der Geschichte unterbricht, sondern selbst in die Geschichte eindringt (vgl. u. a. Levinas 2005, 138). 9 Vgl. Merleau-Ponty 1966, 115. In der deutschen Übersetzung heißt es »meinerseits«. Ich ziehe es aber vor, das französische »de mon côté« durch »auf meiner Seite« zu übersetzen. 7
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Essverhalten oder erworbene Fähigkeiten, die genauso gut hätten auch anders sein können. Die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden ist in dem Sinne normativ bestimmt, dass es eine Asymmetrie zwischen dem Frieden gibt, der gestiftet, in Zeiten des Krieges angestrebt und in Zeiten des Friedens gepflegt werden soll, und dem Krieg, der als Friedensbruch oder als Verletzung des Friedens angesehen werden kann, und nicht umgekehrt. Auf Grund dieser Normativität ist es angemessen, den Frieden nicht nur als eine soziale Gewohnheit, sondern als eine soziale Tugend zu verstehen. Die Rede von Tugend ist hier mehrfach relevant. Denn sie verweist nicht nur auf die normative Dimension des Friedens. Sie bedeutet auch, dass der Frieden eine Gewohnheit des Handelns und nicht etwa des leiblichen Verhaltens, des Denkens oder der Wahrnehmung ist. Laut Aristoteles ist eine (ethische) Tugend eine durch wiederholtes Handeln erworbene Disposition oder Gewohnheit von Menschen, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln (vgl. Aristoteles 1991, 1103a 16). Das heißt einerseits, dass auch gute Handlungen nicht tugendhaft sind, wenn sie nicht auf Grund einer entsprechenden Tugend vollzogen werden, sondern etwa auf Grund einer einmaligen Entscheidung oder sogar des Zufalls. Eine tugendhafte Handlung ist die Handlung eines tugendhaften Menschen (vgl. ebd., 1105a 18 ff.). Andererseits heißt es aber auch, dass ein Mensch nicht tugendhaft ist und sein kann, wenn er nicht handelt (vgl. ebd., 1098 b 30 ff.; 1105b 9). Denn die tugendhafte Disposition ist eine Disposition zu handeln, die sich erst in diesem Handeln verwirklicht. Sie entsteht und befestigt sich auch nur durch wiederholtes Handeln, auch wenn dieses Handeln zuerst, wegen der erst zu bildenden Disposition, noch nicht als tugendhaft bezeichnet werden kann. Wird der Frieden als Tugend verstanden, heißt dies also, dass er nicht bereits in den Akten eines Friedensschlusses, eines Friedensvertrages oder einer friedfertigen Konfliktregelung verwirklicht ist. Solche Akten beenden einen Konflikt, einen Kampf, einen Krieg oder asymmetrische Formen der Ausübung und des Erleidens von Gewalt. Sie können darüber hinaus einen Prozess einleiten, in dem sich Formen des Zusammenlebens bilden und etablieren, die nicht von solcher Gewalt geprägt sind. Sie sind aber noch nicht der Ausdruck eines bereits verwirklichten Friedens. Auch die Ausübung friedfertiger Handlungen im Allgemeinen bedeutet in diesem Sinne noch nicht, dass Frieden verwirklicht ist. Sie tut es erst dann, wenn deren Friedfertigkeit nicht nur eine Eigenschaft ist, die ihnen als einzelnen 234 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Handlungen zukommt, sondern auf eine soziale Disposition zurückgeführt werden kann, die sich in solchen Handlungen manifestiert. Eine Zeit des Friedens wäre demnach eine Zeit, in der die Menschen auf Grund einer erworbenen sozialen Disposition oder Tugend friedfertig miteinander handeln und zusammenleben. Es stellt sich allerdings die Frage, in welchem Sinne man von einer sozialen Tugend sprechen kann. Ist nicht das Subjekt des Handelns immer ein Individuum, auch wenn mehrere Individuen zusammen handeln? Ist nicht der tugendhafte Mensch immer ein Einzelner, auch wenn das, was für eine Tugend gehalten wird, sozial, politisch oder rechtlich bestimmt wird? Nach Hannah Arendt ist allerdings das Handeln eine Tätigkeit, die wir Menschen nur im Raum der Vielen und auf der Grundlage unserer Pluralität ausüben können. Eine einzelne Handlung, die nicht von Anderen aufgenommen und vollendet werden würde, wäre wie eine sprachliche Äußerung, die nicht von Anderen gehört werden würde und auf die sie nicht antworten würden: Es wäre so, als hätte sie nicht stattgefunden (vgl. Arendt 1994, 180 ff.)! Es stimmt zwar, dass eine Person nur dann handelt, wenn sie freiwillig und von sich aus handelt und dadurch als Person im öffentlichen Raum erscheint. Es stimmt auch, dass die Handlungsdispositionen, die wir haben können, in den einzelnen Menschen verankert werden müssen. Aber dieses individuelle Verständnis des Handelns und der Tugend, die immer wieder betont wird, reicht nicht aus, um die Spezifizität des Handelns zu verstehen. Genauso wichtig ist nämlich die Tatsache, dass das jeweils »eigene« Handeln ohne dasjenige der anderen nicht zustande kommen würde. Diese Einsicht geht weit über die Annahme hinaus, dass die Einzelnen das Handeln der anderen berücksichtigen und sogar in das eigene einbeziehen können. Sie bedeutet, dass die Anderen immer konstitutiv am eigenen Handeln beteiligt sind. Im selben Sinne sind auch in einem Gespräch die Anderen konstitutiv an der Produktion unserer eigenen Rede beteiligt, erstens durch ihre mehr oder weniger ausdrücklichen Erwartungen, durch ihre Fragen, Äußerungen und Gesten, die unsere Rede hervorrufen; zweitens durch ihr Zuhören, während wir reden; drittens durch ihre Reaktionen und Erwiderungen, in denen sie unsere Rede aufnehmen und fortführen. Umgekehrt sind wir auch konstitutiv an der Produktion ihrer Rede durch unsere Erwartungen, unser Zuhören und unsere Reaktionen beteiligt. Fehlt diese Beteiligung der jeweils Anderen am eigenen Reden, wird sie gestört oder absichtlich gebrochen, dann 235 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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scheitert das Gespräch. Dieses Scheitern führt zur Isolierung der Einzelnen oder artet in Gewalt aus. Deswegen wäre es irreführend, ein Gespräch als eine Reihenfolge einzelner Sprechakten zu verstehen. Jeder Sprechakt ist konstitutiv in einer gemeinsamen Tätigkeit von mindestens zwei Sprechenden und Hörenden eingebunden, und sollte entsprechend genauer »Gesprächsakt« heißen. Auf Grund dieser Pluralität der miteinander Sprechenden ist es auch sinnvoll, in Bezug auf die Disposition zum Gespräch von einer Gesprächskultur zu reden, die nicht als Bereitschaft der einzelnen Beteiligten verstanden werden kann, sondern als gemeinsame, durch eine gemeinsame Praxis erworbene und befestigte Disposition aller Beteiligten innerhalb einer Gruppe, einer Gesellschaft oder einer Sprachgemeinschaft aufgefasst werden muss. Diese Gesprächskultur entspricht einem wichtigen Aspekt dessen, was ich hier eine soziale Tugend nennen möchte. Es handelt sich um die Entwicklung und Festigung einer gemeinsamen Disposition in Bezug auf das Handeln, insofern dieses von anderen initiiert oder aufgenommen werden muss, um vollzogen werden zu können. Umso wichtiger ist diese Gemeinsamkeit in Bezug auf bestimmte Formen des Zusammenhandelns, die so unterschiedlich sein können wie die Arbeitsteilung, Tauschpraktiken, kollektive Spiele oder bestimmte künstlerische Produktionen etwa eines Orchesters, eines Chors oder einer Theatertruppe, bei denen das Handeln der Einzelnen nur als Beitrag zum gemeinsamen Handeln und nie als individuelle Leistung zu verstehen ist. In allen diesen Fällen ist die Disposition zu einem solchen Handeln keine individuelle, sondern notwendig eine gemeinsame Disposition, auch wenn sie bei einigen ausgeprägter ist als bei anderen. Genau dies gilt auch in besonderer Weise für den Frieden als soziale Tugend. Denn Frieden kann nie durch einen Einzelnen geschaffen und etabliert werden. Wir können nur mit den anderen Frieden schließen, friedfertig handeln und in Frieden leben, nie gegen sie und noch weniger ohne sie. Sogar das friedfertige Handeln, das einseitig von einer Person oder einer Gruppe im Sinne einer Friedensinitiative ausgeht, ist konstitutiv ein Handeln, das der Anderen bedarf. Es ist mit einer Anrede vergleichbar, die von den Anderen als Anrede – und nicht etwa als Angriff oder Belästigung – erkannt und angenommen werden muss, um Teil des Gesprächs zu werden, das sie initiiert. Wird sie es nicht, dann ist sie kein »Gesprächsakt« sondern ein gescheiterter Gesprächsversuch. Auch ein einseitiges friedfertiges 236 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Handeln im Sinne einer Friedensinitiative ist nicht mehr als ein Angebot zum gemeinsamen Handeln. Es muss von den anderen als ein solches erkannt, angenommen und vollzogen werden. Geschieht dies nicht, ist es zwar ein Beitrag zum Frieden, zumindest vielleicht ein Beweis des guten Willens, aber es ist genauso wenig ein Teil eines friedfertigen Zusammenhandelns wie eine bloße Anrede, auf die niemand eingeht, ein Teil eines Gesprächs ist. Wird es dagegen angenommen, dann ist es, wie auch jedes darauf folgende friedfertige Handeln, nur als Teil einer gemeinsamen Praxis zu verstehen, in der kein einzelner Akt von den anderen isoliert werden kann. 10 Der Frieden muss auch deswegen als soziale Tugend aufgefasst werden, weil seine Verwirklichung davon abhängt, dass die beteiligten Handelnden nicht nur von der eigenen Disposition, sondern auch von der Bereitschaft der Anderen ausgehen können, friedfertig zu handeln. Hier stellt sich erneut die Frage der Sicherheit als positive Bestimmung des Friedens, die ich bereits bei Hobbes hervorgehoben habe. Hobbes hatte sie indirekt als Bedingung des Friedens genannt, indem er den Krieg mit der bekannten Bereitschaft zum Kampf gleichsetzte »während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann« (Hobbes 1966, 96). Der Frieden konnte entsprechend als eine Zeit verstanden werden, in der sich die Handelnden der Friedfertigkeit der Anderen sicher sein können. Allerdings ist die Quelle dieser Sicherheit nach Hobbes dem Frieden äußerlich und sogar in gewissem Sinne gänzlich fremd, denn sie beruht auf der Bereitschaft des Souveräns zur Gewalt gegen die einzelnen Bürger. Hobbes scheint im Frieden selbst keine Kraft zu finden, die eine solche Sicherheit zu gewähren vermag. Diese Auffassung teilt auch Kant, der in der Rechtsordnung weder eine Garantie für die Bildung noch für die Erhaltung des Friedens findet. Er verweist vielmehr in diesem Zusammenhang auf die Teleologie der Natur, die das richten soll, wozu die Menschen allein anscheinend nicht fähig sind. Nun ist diese Teleologie der Natur nicht nur dem menschEine solche Auffassung des gemeinsamen Handelns bedeutet eine radikale Absage an der Ideologie der anzustrebenden Autonomie oder Eigenständigkeit des handelnden Subjekts. Diese Absage gilt in besonderer Weise in Bezug auf den Frieden. Ein autonomes Subjekt, wenn es ein solches geben könnte, würde vielleicht ohne die anderen tätig sein können, wie die einzelnen Menschen in den unterschiedlichen Fassungen der Fiktion eines Naturzustandes etwa bei Hobbes, Rousseau oder Kant. Es könnte aber weder sprechen noch handeln. Der Frieden im Sinne einer geteilten Disposition zum Zusammenhandeln wäre ihm allemal verwehrt.
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lichen Handeln fremd, sie bedient sich auch des Mittels des Krieges, um ihren Zweck zu erreichen (vgl. Kant 1977, 217 ff.; 1977b). Gegenüber solchen Quellen der Friedenssicherung oder der Garantie des Friedens hat die Bildung einer sozialen Tugend als Grundlage des gemeinsamen Handelns und des Zusammenlebens mehrere Vorteile. Sie muss nicht auf Mittel der Gewalt rekurrieren, um den Frieden zu verwirklichen. Im Gegenteil entsteht die Disposition zum friedfertigen Handeln durch dieses Handeln selbst und durch dessen Wiederholung. 11 Diese Disposition erhöht dann die Bereitschaft der Beteiligten, mit den Anderen im Sinne des Friedens zu handeln, wodurch sie wiederum selber verstärkt wird. So kann sich der Prozess der Tugendbildung, wenn er nicht gestört wird, wie ein positiver Kreislauf entwickeln. Die Bildung einer sozialen Tugend trägt darüber hinaus dazu bei, dass die Sicherheit der Beteiligten nicht nur das aktuelle Handeln der Anderen betrifft, sondern auch ihr zukünftiges Handeln, und dies umso mehr, als jedes friedfertige Handeln die bereits bestehende Disposition noch verstärkt. Die Bildung einer sozialen Tugend verspricht zwar keinen ewigen Frieden – der allerdings auch bei Kant erst am Ende einer unendlichen Annäherung wirklich erreicht werden kann (vgl. Kant 1977, 251) –, sie vermag es aber, einen dauerhaften Frieden entstehen zu lassen und zu festigen. Gewiss gibt es keine absolute Garantie, dass ein tugendhafter Mensch tugendhaft handelt. Jeder kann sich in bestimmten Situationen und unter bestimmten Umständen gegen seine eigenen Dispositionen für eine andere Art des Handelns entscheiden, im Guten wie im Schlechten. Es gibt entsprechend auch keine absolute Garantie, dass die soziale Tugend des Friedens tatsächlich in ein friedfertiges Handeln mündet und dass die Handelnden sich nicht doch für den Kampf entscheiden. Hannah Arendt spricht sogar, auf Grund der Pluralität und der Freiheit der Menschen, von der prinzipiellen Offenheit des Handelns und von der entsprechenden »Unabsehbarkeit des ZuDies bedeutet nicht, dass Frieden durch friedliche Mittel gestiftet werden kann und soll, wie unter anderem der Titel eines Buches Johan Galtungs nahelegt (vgl. Galtung 1998). Die Entwicklung einer Tugend des gemeinsamen Handelns kann nämlich nicht durch das Einsetzen geeigneter Mittel zu bestimmten Zwecken erklärt werden, sondern nur durch die sich selbst festigende Kraft des wiederholten gemeinsamen Handelns, die nicht der zweckrationalen Logik folgt. Es gilt also, und es wird im Folgenden darum gehen, diese Kraft, ihre Komponenten und die Art ihrer Wirksamkeit zu verstehen.
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künftigen« (Arendt 1994, 239). Deshalb ist für sie die bindende Kraft des Versprechens und des Vertrags, die so oft in der politischen Theorie und Praxis betont wurde, so wichtig, um die Zukunft auf eine Weise zu sichern, die der Freiheit der Handelnden adäquat ist (vgl. ebd., 240). Doch bei aller Wichtigkeit des Versprechens lässt Arendt hierbei die bindende Kraft der Tugend unerwähnt, die nach Aristoteles die wirksamste von allen ist: Bei »keiner der menschlichen Leistungen gibt es eine solche Beständigkeit wie bei den tugendgemäßen Tätigkeiten« (Aristoteles 1991, 1100b 12). Dazu kommt, dass eine gemeinsame, soziale Tugend nicht nur dank der Kraft der Gewohnheit wirksam ist. Sie lässt auch gegenseitige Erwartungen entstehen, die selber eine normative Kraft besitzen. Denn eine Tugend bildet sich nur dann, wenn jede Wiederholung des entsprechenden Handelns im Sinne dieser Tugend erfolgt. Bei einem gemeinsamen Handeln hängt aber dieser Erfolg der einzelnen Leistungen immer von den Leistungen der anderen Beteiligten ab. Die Beteiligten können also ihren Fokus nicht ausschließlich auf den eigenen Beitrag setzen, der zur eigenen Gewohnheit wird, sondern müssen sich auch auf den Beitrag der Anderen und auf die Tatsache beziehen, dass dieser im Sinne des gemeinsamen Handelns erfolgt. Dabei erwarten sie bei jedem erneuten Handeln, dass dies der Fall sein wird. Wird diese Erwartung enttäuscht, dann geschieht dies nicht nur im Sinne einer Überraschung, dass das Erwartete nicht eintrifft, sondern im normativen Sinne einer Enttäuschung. Denn das, was nicht eingetroffen ist, hätte eintreffen sollen, um das gemeinsame Handeln zu ermöglichen. Diese normative Erwartung verpflichtet nun die einzelnen Handelnden gegenüber allen anderen Beteiligten in Bezug auf das gemeinsame Handeln. 12 Zusammen mit der Beständigkeit eines Handelns, das auf Tugend gründet, trägt diese Normativität der Erwartungen in Bezug auf das gemeinsame Handeln zur bindenden Kraft der sozialen Tugend bei, die im Sinne des Friedens gebildet werden soll. Diese bindende Kraft ist dem friedfertigen Handeln inhärent und sie vermag, In seinem Aufsatz »Freiheit und Übelnehmen« (Strawson 1978) geht auch Peter Strawson von solchen allgemeinen Erwartungen aus, die zwar nicht notwendig ausdrücklich formuliert, aber von bestimmten reaktiven Haltungen wie Übelnehmen oder Empörung vorausgesetzt werden, da diese durch die Enttäuschung solcher Erwartungen durch Andere hervorgerufen werden. Bereits Bergson vertrat die Idee von sozialen Verpflichtungen, die aus der Kraft gemeinsamer Gewohnheiten entstehen (Bergson 1992, Kap. I.).
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wenn der Frieden als soziale Tugend verwirklicht ist, allen Beteiligten eine zwar nicht vollkommene, dennoch kaum zu überbietende Sicherheit in Bezug auf die Bereitschaft der anderen zu gewähren, auch im Sinne des Friedens zu handeln. Es geht nun im Folgenden darum, diese Tugend selbst, ihre Grundlegung und ihre bindende Kraft inhaltlich näher zu bestimmen, zuerst auf der Basis unserer Verletzlichkeit und unserer Abhängigkeit von den Anderen, dann in Verbindung mit den zwei komplementären Friedenskräften der Verantwortung und des Vertrauens.
Verletzlichkeit, Abhängigkeit und die Aufgabe des Friedens Die dargestellte Auffassung des Friedens als soziale Tugend, die ein friedfertiges Zusammenleben der Menschen innerhalb einer Gruppe, einer Gesellschaft und sogar der Weltgesellschaft ermöglichen soll 13, erklärt einerseits die besondere Phänomenalität des Friedens. Sie verweist andererseits auf die Art der normativen Bindung, die der Frieden für die zusammenlebenden Menschen bedeutet. Sie ermöglicht auch ein Verständnis der Schwierigkeiten, ja der Herausforderungen, die mit der Stiftung und der Erhaltung des Friedens verbunden sind. Die erste Herausforderung besteht in der Notwendigkeit, in Zeiten des Krieges und des Kampfes, den Frieden nicht nur mit denjenigen zu suchen und zu etablieren, die bereits »auf unserer Seite« sind und mit denen wir in Sicherheit handeln und leben (was wichtig ist und bleibt), sondern auch und gerade mit den »Feinden«, mit denjenigen also, gegen die wir kämpfen, die uns bekämpfen oder zumindest von denen wir fast sicher sind, dass sie dazu bereit sind. Der Frieden muss mit den verfeindeten Anderen erfolgen (vgl. Waldenfels 2007, 245), obwohl er auf keiner mit ihnen geteilten Tugend gründen kann und obwohl es keine Sicherheit gibt, dass auch sie zum Frieden bereit sind. Sowohl eine eigene Initiative des Friedens wie auch die Annahme einer Initiative, die von den Anderen herkommen würde, erfordert also einerseits eine Überwindung der eigenen Bereitschaft zum Es wäre nämlich verhängnisvoll, wenn das gemeinsame Handeln innerhalb einer gegebenen Gruppe oder Gesellschaft zur Konfrontation mit anderen Gesellschaften führen würde. Anders als der Krieg und der Kampf, die strukturell eine Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden fordern, ist der Frieden eine soziale Tugend, die nicht selektiv sein darf, sondern gerade mit denjenigen etabliert werden soll, die noch nicht daran teilhaben. Die Eigendynamik des Friedens führt zur Weltgesellschaft hin.
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Kampf und andererseits ein Wagnis in Bezug auf die Möglichkeit einer ähnlichen Überwindung seitens der Anderen. Der Frieden, der hier gestiftet werden soll, ist noch keine soziale Tugend, sondern zuerst eine Initiative zum gemeinsamen Handeln. Erst durch die Annahme dieser Initiative und die Wiederholung eines entsprechenden Handelns trägt er zu einer möglichen Tugendbildung bei. Die zweite Herausforderung besteht in der Erhaltung des Friedens in den Zeiten, in denen er verwirklicht ist. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe hängt mit ihrem Erfolg zusammen. Sie rührt von daher, dass in Zeiten des gesellschaftlichen Friedens sowohl die soziale Tugend des gemeinsamen Handelns wie auch die mit ihr einhergehende Sicherheit in Bezug auf das Handeln der Anderen zur Gewohnheit geworden sind. Dadurch sind sie aber dem Risiko ausgesetzt, nicht mehr als Aufgabe erfahren, sondern für eine Selbstverständlichkeit gehalten zu werden, die scheinbar weder thematisiert noch bewusst angestrebt zu werden braucht. Doch eine Tugend verkümmert, wenn sie nicht aktiv praktiziert wird. Dies ist die bittere Erfahrung Europas am Anfang des XXI. Jahrhunderts, siebzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Die Entwicklung des Kontinents wird seit Jahren von der Durchsetzung einer zunehmend durch Gewalt geleiteten »Sicherheitspolitik« geprägt, von der wachsenden Militarisierung der Außenpolitik und von dem Schwinden des kollektiven Bewusstseins, dass Frieden immer wieder gestiftet und durch ein gemeinsames Handeln erhalten werden soll, dass er also eine Aufgabe ist und bleibt. Dass der Frieden in Zeiten des Friedens nicht als solcher, das heißt als Tugend, die gepflegt werden muss, erscheint, ist für den Erhalt des Friedens in der Tat eine Herausforderung. Die einzigen überzeugenden Antworten, die wir Menschen auf diese doppelte Herausforderung geben können, hängen unmittelbar mit dem Grund zusammen, warum die Bildung und die Erhaltung einer sozialen Tugend des Friedens für uns nicht nur eine Möglichkeit unter anderen, sondern eine Aufgabe des Handelns ist. Sie basieren, so scheint mir, auf zwei Grunderfahrungen unseres menschlichen Daseins: auf den Erfahrungen der menschlichen Verletzlichkeit und der Abhängigkeit der Menschen voneinander. Beide Erfahrungen sind eng miteinander verbunden und werden meistens für negativ gehalten, nicht selten auch als negativ erlebt. Sie gehören aber beide zu dem, was durchaus im positiven Sinne unser Menschsein ausmacht. Sie sind zugleich der Grund, warum wir Frieden anstreben 241 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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sollen, und auch die Ressource, dank der wir ihn erreichen können. Sie spielen beide zusammen eine entscheidende Rolle in der Bildung und Erhaltung einer sozialen Tugend des friedfertigen Handelns, das heißt in der Überwindung der Herausforderungen, die sie für uns bedeuten. Ich wende mich zuerst der Verletzlichkeit als Möglichkeit von Verletzungen zu, deren viele Dimensionen hier nur sehr knapp skizziert werden sollen. 14 Wie alle Tiere, die leben und danach streben, weiter zu leben, sind auch wir Menschen als leibliche Lebewesen verletzlich. Eine Verletzung unseres Leibes unterbricht von außen den Fluss dieses Lebens und zwingt uns zu einer Aufarbeitung ebendieser Verletzung. Sie beeinträchtigt darüber hinaus unseren vielfältigen Bezug zur Welt, zu uns selbst und zu den Anderen. Sie beeinträchtigt erstens unseren sensomotorischen Bezug zu unserer Umwelt, in der wir leben und die wir von uns aus, das heißt von der zentralen Position aus, die wir leiblich in ihr einnehmen, intentional erreichen können. Sie bewirkt, dass wir nun diese Umwelt und die Gegenstände, die sie füllen, als bedrohlich oder umgekehrt als unerreichbar oder als unhandhabbar erleben. Sie lässt uns auch empfinden, dass wir unserer Umwelt ausgesetzt sind, ohne dass wir sie von uns aus intentional erreichen können. Eine Verletzung ist in diesem vielfachen Sinne immer eine Erfahrung der Passivität. Jede Verletzung verändert auch, zweitens, unseren Bezug zu uns selbst. Sie führt einerseits dazu, dass wir unseren eigenen Körper nicht mehr nur als Leib erleben, mit und ausgehend von dem wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen, sondern dass wir ihn als Teil dieser Welt erfahren, als verletzten Körper, das deren Gesetzen, Härte und Kontingenz unterworfen ist. Andererseits werden aber auch Verletzungen nicht selten von unmittelbaren Empfindungen des Schmerzes, der Angst, der Hilflosigkeit begleitet, die uns von der Welt als Raum aller intentional erreichbaren Gegenstände isolieren können. Denn der Schmerz oder die Angst haben keinen Gegenstand. Ihr Erleiden wirft uns auf uns zurück. In beiden Fällen führen Verletzungen dazu, dass wir für uns selbst nicht mehr unmittelbar der leibliche Ausgangspunkt unseres Bezugs zur Welt und zu den Anderen sind, sondern entweder ein Körper in der Welt oder ein weltloser Leib. Drittens und zuletzt betreffen Verletzungen auch auf verschie14
Für eine detaillierte Darstellung, vgl. u. a. vom Verfasser: Delhom 2011.
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dene Weise unsere Beziehungen zu den Anderen. Verletzte Lebewesen sind einerseits verstärkt auf die Hilfe Anderer angewiesen. Viele bekommen auch diese Hilfe und erfahren dadurch auf besondere Weise den Wert von Beziehungen. Einige erleben aber gerade diese einseitige Hilfe, die sie nicht erwidern können, als eine Last. Denn sie verstärkt noch und überträgt auf die zwischenmenschlichen Beziehungen das Erlebnis der Passivität, die mit der Verletzung verbunden ist. In Gesellschaften, die durch den Tausch geprägt sind, wird sie auch als unbezahlbare Schuld gegenüber den Anderen erfahren. Umgekehrt können aber verletzte Lebewesen Opfer der Gleichgültigkeit, des Kontroll- und Bestimmungsdrangs und sogar der Gewalt Anderer sein. Sie sind ihnen ausgeliefert. Ihre Verletzungen machen sie noch verletzlicher. Darüber hinaus können die Beziehungen selber der Ort von Verletzungen sein, die wir nicht erleiden würden, wenn wir allein wären. Der Bruch einer Liebes- oder einer Vertrauensbeziehung etwa kann als eine Verletzung empfunden werden, die einen Menschen um wesentliche Dimensionen seines emotionalen oder seines sozialen Lebens bringt, die sogar nicht selten sein leibliches Befinden beeinträchtigt. Als sprachlich konstituierte Wesen (vgl. Butler 1998, 9) können wir auch durch sprachliche Äußerungen verletzt werden, die unsere sprachliche und soziale Identität angreifen. Ein solches Verständnis der Verletzungen, die wir erleiden können, und der Art und Weise, wie wir sie erleiden, ist allerdings mit einer Bestimmung unserer Verletzlichkeit, von der hier die Rede sein soll, nicht gleichzusetzen, auch wenn wir letztere nicht selten durch aktuelle Verletzungen oder durch deren greifbare Möglichkeit erfahren. Unsere Verletzlichkeit geht nämlich über die bloße Möglichkeit von Verletzungen hinaus. Sie bedeutet zwar einerseits, dass wir verletzt werden können: Diese Möglichkeit gehört zu unserer Bedingtheit als Lebewesen, als Beziehungswesen und als soziale und sprachliche Wesen. Andererseits enthält aber unsere Verletzlichkeit auch eine normative Dimension, die von daher herrührt, dass Verletzungen keine neutralen Erfahrungen sind, sondern als etwas erlitten werden, was nicht sein soll. 15 Diese normative Dimension unserer Verletzlichkeit besagt, dass wir vor den Verletzungen, die wir erleiden Sogar derjenige, der jemanden absichtlich verletzt, tut dies im Wissen der Tatsache, dass die von ihm zugefügte Verletzung als etwas erlitten sein wird, was nicht sein soll. Deswegen empfinden wir eine Hemmung im Moment der Ausübung von Gewalt, es
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können, geschützt werden sollen. Sie ist der Sinn dessen, was wir in Bezug auf den Leib von Lebewesen, auf die Privatsphäre einer Person, auf ihren privaten Lebensraum oder sogar im übertragenen Sinne auf das Territorium eines Staates »Integrität« nennen (vgl. Delhom 2014). Die inhaltliche Bestimmung der Integrität, das heißt dessen, was vor Verletzungen geschützt werden soll, hängt von sozialen und kulturellen Faktoren ab. 16 Allerdings ist die normative Bestimmung der Integrität als sozial instituierter Schutz von Lebewesen – und besonders von Menschen – vor bestimmten Verletzungen, eine konstitutive Dimension unserer Verletzlichkeit. Dass wir verletzlich sind, bedeutet also nicht nur, dass wir verletzt werden können, sondern auch, dass wir als soziale Lebewesen davor geschützt werden sollen. Diese Normativität gilt für uns in Bezug auf die Verletzlichkeit der Anderen genauso wie sie für die Anderen in Bezug auf unsere eigene Verletzlichkeit gilt und für alle in Bezug auf die Verletzlichkeit von Dritten. Die Erfahrung von Verletzlichkeit ist genauso wenig neutral wie die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden: Verletzlichkeit verpflichtet. 17 Eine mögliche und leider sehr verbreitete Antwort auf diese Verpflichtung besteht in der Suche nach Schutz und nach Sicherheit für sich selbst, für die eigenen Verwandten und Freunde, durch die Androhung oder sogar durch die Anwendung von reaktiver oder präventiver Gewalt gegen diejenigen, die uns angreifen, die uns angreifen könnten oder von denen wir nicht sicher sein können, dass sie nicht zum Kampf gegen uns bereit sind. Diese Reaktion führt allerdings unweigerlich zu dem, ja sie befindet sich bereits in dem, was Hobbes den Kriegszustand nannte. Sie setzt uns in einen Zustand, in dem sei denn, wir sind außer uns oder haben uns daran gewöhnt und dadurch diese Hemmung überwunden. 16 Es stimmt zwar, dass sich diese soziale oder kulturelle Bestimmung der Integrität auf körperlich/leibliche Elemente wie die Haut oder die Abgrenzung eines bewohnten Raums bezieht und beziehen muss. Doch die hier relevante Bestimmung der Art und Weise, wie etwa unsere Haut, von wem, wann und wozu gesehen, berührt oder sogar geschnitten (zum Beispiel in einem medizinischen Akt) werden darf, ohne dass dabei die Integrität der Person verletzt wird, ist nicht natürlich gegeben, sondern sie entsteht im Rahmen von sozialen oder kulturellen Prozessen. 17 Nur auf Grund einer solchen Verpflichtung kann es so etwas wie Gewalt geben. Verletzungen durch Gewalt unterscheiden sich nämlich von Verletzungen durch natürliche Ereignisse oder Unfälle dadurch, dass sie nicht nur ein Lebewesen in verschiedenen Dimensionen seines Lebens verletzen, sondern zugleich als Verletzung der Pflicht geschehen und erlitten werden, solche Verletzungen zu vermeiden.
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erstens Sicherheit per Definition nie erreicht werden kann, denn er gründet auf Unsicherheit, in dem zweitens der Schutz vor Verletzungen notwendig selektiv ist, das heißt in dem der Pflicht gegenüber der Verletzlichkeit einiger nur durch die Verletzung derselben Pflicht gegenüber der Verletzlichkeit der Anderen entsprochen wird. Wer die Widersprüchlichkeit einer solchen Antwort einsieht, wer darüber hinaus vor ihren katastrophalen Auswirkungen – für die es wahrlich genug Beispiele in der Geschichte der Menschen bis hin zur heutigen Zeit gibt – nicht die Augen verschließt, wird es als eine Aufgabe auffassen, eine andere Antwort zu suchen: eine Antwort, die weder konstitutiv auf der eigenen Unsicherheit in Bezug auf das Handeln der Anderen beruht, sondern Sicherheit zu etablieren versucht; eine Antwort, die den Schutz vor Verletzungen nicht selektiv als Schutz vor den eigenen Verletzungen versteht, sondern die Verletzlichkeit aller mit derselben Normativität auffasst. 18 Die Aufgabe der Suche nach einer solchen Antwort besteht darin, wie Hobbes bereits vor vier Jahrhunderten schrieb, den Frieden zu suchen. Allerdings gründet diese Suche nach Frieden nicht ausschließlich in der Angst vor dem eigenen Tod und in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich selbst, wie Hobbes meinte, sondern in der Normativität der Verletzlichkeit der einen und der anderen, die entsprechend einen Schutz vor den Verletzungen aller fordert. 19 Diese Suche nach Frieden geht einher mit einer bestimmten Auffassung unserer Abhängigkeit von den anderen Menschen, die nicht primär als eine Einschränkung unserer Selbstständigkeit oder als eine mögliche Quelle unserer Verletzlichkeit erfahren wird, sondern als Bedingung unseres Zusammenlebens und als Ressource für unser gemeinsames Handeln. Hiermit komme ich zur Abhängigkeit als zweiter Grunderfahrung des menschlichen Daseins, die eine wesentliche Rolle in der Bildung und Erhaltung einer sozialen Tugend des friedfertigen Handelns spielt. Wir werden noch sehen, dass eine solche Antwort möglich ist und dass sie mit einem bestimmten Verständnis der Sicherheit durch Kooperation einhergeht, die unsere politische Freiheit nicht einschränkt, sondern fördert. 19 Diese Formulierung sollte nicht so verstanden werden, dass die Normativität des Schutzes gegen Verletzungen in ihrer Universalisierbarkeit gründet. Diese Normativität hat unterschiedliche Quellen, je nachdem, ob sie die Verletzlichkeit der Anderen oder die eigene betrifft. Wir gehen auch anders mit der einen und mit der anderen um. Ich komme noch in Zusammenhang mit den Friedenskräften des Vertrauens und der Verantwortung darauf zurück. 18
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Es stimmt zwar und es kann nicht geleugnet werden, dass unsere Abhängigkeit von anderen Menschen uns verletzlich macht. Wir erfahren die negative Seite dieser Verletzlichkeit in allen Gelegenheiten unseres Lebens, in denen wir Andere brauchen, ohne sie nicht zurechtkommen, in denen sie aber nicht für uns da sind. Wir erfahren sie auch, wenn unsere Beziehungen zum Anlass von Verletzungen werden, etwa im Fall einer zerstörten Freundschaft, eines enttäuschten Vertrauens oder bei allen Arten von Gewalt. Diese Verletzlichkeit ist ein unvermeidbarer Aspekt unserer Abhängigkeit. Dies zu leugnen, wäre nicht nur naiv, sondern lebensfremd. Dennoch ist diese Verletzlichkeit nur ein sekundäres Merkmal unserer Abhängigkeit. Sie wäre nicht möglich, wenn unsere Beziehungen zu den Anderen und unsere Abhängigkeit von ihnen nicht primär und seit unserer Geburt ein notwendiger Bestandteil unseres Lebens und ein konstitutiver Aspekt unserer selbst wäre. Unsere Abhängigkeit ist primär etwas, was uns zu dem macht, was wir als soziale, als handelnde und als sprechende Lebewesen sind. Nur deshalb kann ihre Störung oder ihre Abwesenheit als eine Verletzung erfahren werden. Entsprechend kann die Vermeidung solcher Verletzungen nicht dadurch erreicht werden, dass wir versuchen, unsere Abhängigkeit zu reduzieren. Das wäre so, als würden wir versuchen, unsere leibliche Verletzlichkeit dadurch zu vermeiden, dass wir uns nicht mehr bewegen oder aufhören zu leben, oder als würden wir versuchen, uns unserer Verletzlichkeit durch Sprache dadurch zu entziehen, dass wir stumm und taub werden. Würden wir versuchen, der Verletzlichkeit, die mit unserer Abhängigkeit von anderen Menschen verbunden ist, dadurch zu entgehen, dass wir uns von den Anderen isolieren, würde dies kein Heil versprechen, sondern es würde unseren sozialen Tod bedeuten. Der einzige realistische Weg der Reduzierung unserer Verletzlichkeit besteht im Gegenteil in dem Versuch, unsere Abhängigkeit von den Anderen so zu gestalten, dass wir sie nicht nur und nicht primär als potentielle Verletzung erleben, sondern als Quelle von Stärke und als Ressource für unser Leben. Diese positive Gestaltung unserer Abhängigkeit ist keine Umwandlung dessen, was sie angeblich wäre, nämlich einer Einschränkung unserer natürlichen Selbstständigkeit. Sie ist im Gegenteil eine Betonung und eine Stärkung unseres Daseins (vgl. Todorov 1996, Kap. 2) und des positiven Erlebens, das sie für uns seit der Geburt wirklich ist, auch wenn wir es nicht immer bewusst erleben. Ein solches Erleben geschieht von An246 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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fang an bei Säuglingen, die getragen, geschützt und ernährt, angesprochen, gehört und angesehen werden. Es geschieht auch bei uns Erwachsenen jedes Mal, wenn wir mit anderen Menschen sprechen und handeln, wenn wir mit ihnen Aufgaben teilen, wenn uns von anderen Menschen geholfen wird, wenn wir von anderen Menschen gepflegt, unterstützt, aber auch geliebt und anerkannt werden. Es geschieht bei der alltäglichen Arbeitsteilung 20 und bei der Organisierung des gemeinsamen Lebens in der Gesellschaft. Es geschieht auch jedes Mal, wenn Andere durch ihre Tätigkeiten die Welt gestalten, in der wir leben; wenn sie durch ihre Geschichten zur Bildung unserer und einer gemeinsamen Identität beitragen, usw. Unsere Abhängigkeit von den anderen Menschen gehört für jeden von uns zur grundsätzlichen Bedingtheit seines Lebens. Sie wird als solche primär positiv erlebt, nicht notwendig und nicht immer im Sinne einer schönen oder angenehmen Erfahrung, aber gewiss im Sinne eines für unsere Seinsweise konstitutiven Erlebnisses. Sie trägt wesentlich dazu bei, dass wir die Lebewesen sind, die wir sind. Weil dies so ist, können wir auch in unseren Beziehungen zu den anderen Menschen eine wichtige Ressource im Umgang mit den Problemen und Hürden unseres Lebens finden, nicht zuletzt mit unseren Verletzungen: Nur die Anderen können uns die Kraft geben, für unser Leben zu kämpfen, wenn wir gerade durch Verletzungen geschwächt und wenn unser Wille auf Unterstützung angewiesen ist. Nur sie können uns Hoffnung in die Zukunft wieder schenken, wenn wir vom Unglück getroffen sind oder wenn wir trauern. Nur sie können uns eine Stimme wieder geben, wenn wir Opfer von Gewalt und Unrecht geworden sind und stimmlos zu sein scheinen. Der Mensch, der in diesen, in ähnlichen und in vielen anderen Situationen seines Lebens allein ist, ist nicht selbstständig, sondern einsam. Dass unsere Abhängigkeit von den Anderen eine wichtige ResDass die Arbeitsteilung nicht ausschließlich in einem ökonomischen Sinne als Instrument der Steigerung der Produktivität der Arbeit verstanden werden muss, unterstreicht u. a. Eugen Fink: »Die Arbeitsteilung ist zwar ein Differenzierungsprozess, aber bedeutet noch nicht gleich die Aufsplitterung des Menschen in isolierte Funktionen der Werktätigkeit. Differenzierung ist zunächst Zeichen der Macht des alle miteinander verbindenden Lebensgefühls; die Beschränkung der allseitigen Arbeit auf bestimmte Verrichtungen, deren Vollzug zu immer größerer Meisterschaft gesteigert wird, kann überhaupt nur gewagt werden, solange das Vertrauen auf die wechselseitige Verantwortung der Menschen füreinander, das Vertrauen auf einen solidarischen Gemeingeist intakt ist« (Fink 1979, 270).
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source des Lebens sein kann, gilt auch und in besonderer Weise in Bezug auf die Aufgabe des Friedens als Bildung und Erhaltung einer sozialen Tugend des gemeinsamen Handelns. Denn der Frieden ist nicht nur etwas, was wir nie ohne die Anderen verwirklichen können. Als soziale Tugend hängt er im Wesentlichen davon ab, dass unsere Abhängigkeit von den Anderen nicht als Bedrohung oder als Verletzungsgefahr, sondern im positiven Sinne als konstitutive Bedingung unseres Handelns erlebt werden kann. Die Aufgabe des Friedens besteht also gerade in der entsprechenden Gestaltung unseres gemeinsamen Handelns und auch darin, dass diese Gestaltung für alle Beteiligten eine eigene Verbindlichkeit aufweist, dank der es für die Einen eine Sicherheit in Bezug auf das Handeln der Anderen geben kann. Der so verstandene Frieden ist nichts anderes als eine Form der verbindlichen Gestaltung des Zusammenlebens durch ein gemeinsames Handeln, das unter den Bedingungen der Pluralität der Menschen und unserer gegenseitigen Abhängigkeit sowie auf Grund der Normativität unserer Verletzlichkeit als gemeinsame Aufgabe aufgefasst wird. Bei dieser Gestaltung spielen nun in besonderer Weise die zwei komplementären Kräfte der Verantwortung und des Vertrauens eine entscheidende Rolle.
Verantwortung und Vertrauen als Friedenskräfte Verantwortung und Vertrauen sind nicht nur Friedenskräfte. Sie können auch mit anderen Aufgaben in Verbindung gebracht werden. Ich werde mich aber im Folgenden auf ihre Relevanz für den Frieden konzentrieren. Der erste Aspekt, der hier angesprochen werden muss, ist, dass beide eine besondere Art des Umgangs mit der menschlichen Verletzlichkeit darstellen und dass beide einen wichtigen Teil ihrer Verbindlichkeit eben dieser Verletzlichkeit verdanken. So entsteht unsere Verantwortung für die Anderen unter anderem dadurch, dass diese uns als verletzlich erscheinen, dass wir aber zugleich diese mögliche Verletzung als ein an uns adressiertes Verbot dieser Verletzung erleben. So ist nach Levinas das erste an uns adressierte Wort des Anderen, noch bevor wir über etwas Bestimmtes miteinander sprechen, ein schweigsames »Du wirst nicht töten«. Das Angesicht des Anderen, das sich uns in seiner Nacktheit und seiner Verletzlichkeit zuwendet, 248 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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drückt ein Verbot der Verletzung und des Mordes aus und setzt dadurch unsere Verantwortung als Antwort ein (vgl. u. a. Levinas 2008, Kap. 7). Umgekehrt besteht das Wagnis des Vertrauens (Delhom 2007) darin, dass wir uns dem Handeln der Anderen aussetzen, ohne es zu bestimmen oder zu kontrollieren, dass wir uns dadurch verletzlich machen, dass wir aber gerade auf Grund dieser Verletzlichkeit oder dieser Verwundbarkeit, wie es Niklas Luhmann ausdrückt, die Norm formulieren können, dass unser Vertrauen nicht enttäuscht werde: »Für den Vertrauenden ist seine Verwundbarkeit das Instrument, mit dem er eine Vertrauensbeziehung in Gang bringt« (Luhmann 2000, 55). Dieser zweifache Umgang mit unserer Verletzlichkeit trägt dazu bei, dass Verantwortung und Vertrauen verbindliche Kräfte in der friedfertigen Gestaltung unserer Abhängigkeit voneinander sein können: Unsere Verantwortung ist unsere verbindliche Antwort auf die Verletzlichkeit der Anderen und auf ihre Abhängigkeit von unserem Handeln und von unserer Haltung ihnen gegenüber. Unser Vertrauen ist wiederum eine Form unseres Umgangs mit unserer eigenen Abhängigkeit gegenüber den Anderen, dank der wir es schaffen, diese uns gegenüber zu verpflichten. Unter bestimmten Bedingungen verdanken wir gerade dieser Form des Umgangs mit der eigenen Abhängigkeit eine Sicherheit in Bezug auf das Handeln der Anderen, die durch keine Kontrolle, keine Herrschaft und keine Androhung von Gewalt erreicht werden könnte. Ich werde noch darauf zurückkommen. Verantwortung und Vertrauen sind aber nicht nur komplementäre Kräfte, die auf Grund ihres Bezugs zur Normativität der menschlichen Verletzlichkeit eine friedfertige Gestaltung der Abhängigkeit der Menschen voneinander ermöglichen. Auch in Bezug auf die Aufgabe selbst dieser Gestaltung sind sie komplementär: Die Verantwortung stellt unser Verhältnis zur eigenen Seite dieser Aufgabe dar, das Vertrauen hingegen unser Verhältnis zur Seite der Anderen. Nur auf Grund dieser Komplementarität können wir verbindlich miteinander handeln. Hierbei setzt unsere Verantwortung für unseren Teil der gemeinsamen Aufgabe das Vertrauen der Anderen in Bezug auf eben diesen Teil der Aufgabe voraus, und umgekehrt setzt unser Vertrauen die Anderen in die Verantwortung für ihren Teil der gemeinsamen Aufgabe ein. Die Komplementarität von Verantwortung und Vertrauen bedeutet also nicht nur, dass sich beide Kräfte ergänzen, son249 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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dern dass sie sich gegenseitig ermöglichen und bedingen in der Gestaltung unseres Zusammenlebens und unseres gemeinsamen Handelns. Nun stellt sich in Bezug auf die Aufgabe des Friedens die Frage, ob die komplementären Kräfte der Verantwortung und des Vertrauens es auch vermögen, auf der Basis der ihnen inhärenten Verbindlichkeit, nicht nur ein durch gemeinsames Handeln geprägtes Zusammenleben der Menschen zu gestalten, sondern darüber hinaus auf die zwei angesprochenen Herausforderungen für die Bildung des Friedens als sozialer Tugend in Zeiten des Krieges und für seine Erhaltung in Zeiten des Friedens zu antworten. Denn nur dann sind sie Friedenskräfte in dem Sinne, dass sie nicht nur eine Zeit gestalten können, in der die Menschen friedfertig mit ihrer Verletzlichkeit und ihrer Abhängigkeit voneinander umgehen können, sondern dass sie die Kraft besitzen, diese Zeit herbeizuführen und zu erhalten. Die Herausforderung einer Suche nach Frieden in Zeiten des Krieges liegt in der Tatsache, dies wurde schon erwähnt, dass jede Partei diesen Frieden nur mit ihren jeweiligen Gegnern oder Feinden verwirklichen kann. Dies ist deswegen besonders schwierig, weil auf jeder Seite Menschen stehen, die von den jeweils Anderen vielfach bedroht, getötet und in allen Dimensionen ihres Lebens verletzt worden sind und noch werden, weil ihre Beziehungen zu diesen Anderen entsprechend voller Angst, Misstrauen und Hass sind, und weil diese Angst, dieses Misstrauen und dieser Hass sie daran hindern, die Verletzlichkeit der Anderen als Verbot der Gewalt gegen sie zu erfahren. Die Suche nach Frieden in Zeiten des Krieges ist auch deshalb schwierig, weil sie kaum etwas vorfindet, worauf sie aufbauen kann. Sie kann auf keiner Tugend des gemeinsamen Handelns gründen und sie genießt keine Sicherheit in Bezug auf das Handeln der Anderen. Nicht nur der Frieden, sondern sogar die Bedingungen des Friedens müssen in diesen Zeiten gestiftet werden. Dass der Frieden dennoch gesucht und angestrebt wird, setzt also weder eine Art des Wohlwollens noch des Vertrauens gegenüber den feindlichen Anderen voraus. 21 Jeder Mensch und jede Partei sucht zu-
Es setzt allerdings voraus, dass die Möglichkeit dieses Vertrauens nicht endgültig zerstört worden ist. In einem ähnlichen Sinne schreibt Kant im sechsten Präliminarartikel seines Entwurfs Zum ewigen Frieden: »Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen« (Kant 1977, 200).
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erst im Frieden den besten Weg, um das eigene Leben und dasjenige seiner Angehörigen, seiner Freunde, seiner Mitkämpfer zu schützen. Der Ausgangspunkt der Suche nach Frieden ist zuerst die Normativität der eigenen Verletzlichkeit, die Schutz und Sicherheit erfordert. Diese Suche nach Frieden antwortet zwar schon in diesem Moment, zumindest bis zu einem gewissen Umfang, auf die Normativität der Verletzlichkeit Anderer. Denn die Beteiligten suchen den Frieden auch zum Schutz des Lebens der Menschen, die im Kampf auf ihrer Seite sind oder ihnen nahe stehen. Bereits hier ist also die Suche nach Frieden nicht nur durch das Interesse am eigenen Leben, sondern durch die Verantwortung für das Leben Anderer getragen. Bereits hier hat diese Verantwortung für Andere eine Verbindlichkeit, die das eigene Interesse allein nicht haben kann, da es nicht zu verpflichten vermag. Diese Verantwortung ist allerdings selektiv. Nun muss die Suche nach Frieden genau diese Selektivität der Verantwortung überwinden. Der entstehende Frieden unterscheidet sich nämlich von der Fortführung des Kampfes durch die Einsicht derjenigen, die nach ihm streben, dass sie ihn nur mit den Anderen werden verwirklichen können. Diese Einsicht ist eine notwendige Bedingung des Friedens. Sie bedeutet aber, dass für diejenigen, die nach Frieden streben, die Verletzlichkeit der Anderen nicht mehr nur als Möglichkeit ihrer tatsächlichen Verletzung im Dienste des eigenen Schutzes und des eigenen Sieges, sondern umgekehrt als Verbot solcher Verletzungen aufgefasst werden muss. Denn nur wenn die Anderen nicht verletzt sind und nicht verletzt werden dürfen, können auch sie an der Verwirklichung des Friedens mitwirken. Diese Berücksichtigung der Verletzlichkeit der Anderen mag zuerst instrumentell erscheinen: Sie ist das Mittel, wodurch die einen für den eigenen Schutz und für den Schutz ihrer Angehörigen sorgen. Doch sie fordert eine Aufmerksamkeit, ja eine Wachsamkeit für diese Verletzlichkeit der Anderen, deren Normativität nun wieder erfahren werden kann und nicht mehr gänzlich durch die eigene Angst, das eigene Misstrauen, den eigenen Hass überdeckt wird. Dadurch, dass die Verletzungen der Anderen auch als etwas erfahren werden, was nicht sein soll, wird die Angst vor dem eigenen Tod und vor den eigenen Verletzungen sowie vor dem Tod und den Verletzungen derjenigen, die auf der eigenen Seite kämpfen, durch die Furcht vor den Verletzungen und vor dem Tod der Anderen ergänzt. Die Verantwortung für die Anderen hört auf, sich nur selektiv auf die Angehörigen der eigenen Seite zu beziehen, und wird auch 251 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Verantwortung für diejenigen, die noch Feinde sind und dennoch bereits angefangen haben, diejenigen zu sein, mit denen ein Frieden möglich sein soll. 22 Es entsteht eine erste Verpflichtung ihnen gegenüber, die als erste Grundlage eines gemeinsamen Handelns fungieren kann. Dass in Zeiten des Krieges die Suche nach dem Frieden mit der Suche nach Schutz für sich selbst einsetzt und erst dann den Weg zur Verantwortung für die Anderen beschreitet, bedeutet nicht, dass die Menschen prinzipiell zuerst von Eigeninteressen getrieben werden und erst dann, etwa durch einen Vertrag, sich gegenüber den Anderen verpflichten. Vieles deutet im Gegenteil darauf hin, dass wir zuerst in Beziehungen mit Anderen leben, von ihnen abhängen und in dieser Abhängigkeit von ihnen getragen werden, dass wir im Laufe unseres Heranwachsens auch lernen, selber Verantwortung für die Anderen zu übernehmen und uns für sie verantwortlich zu fühlen, dass aber der Krieg und der Kampf genau diese Beziehungen der positiven Abhängigkeit und der Verantwortung zerstören, so dass wir Menschen nur noch von der Angst für das eigene Leben geführt und von den eigenen Interessen geleitet werden. 23 Nicht von Natur aus oder im Sinne unserer Bedingtheit als Menschen, sondern im Krieg und im Kampf sind wir von den Anderen abgeschnitten. Deshalb müssen wir erst wieder lernen, uns für die Anderen verantwortlich zu fühlen und ihnen zu vertrauen. Die Suche nach Frieden lässt unsere Verantwortung für die Anderen, die älter ist als der Krieg, nicht erst entstehen, sondern sie lässt sie wieder zu. In Bezug auf eine andere Art der Ungewissheit zwischen Freund und Feind kommentiert Emmanuel Levinas einen Vers der Bibel auf eine Weise, die auch hier relevant ist: »Im Kapitel 32 der Genesis wird Jakob durch die Ankündigung beunruhigt, dass sein Bruder Esau – Feind oder Freund – ihm entgegenkommt, »vierhundert Mann bei ihm«. Vers acht lehrt uns: »Jaakob fürchtete sich sehr, ihm wurde bang.« Welchen Unterschied gibt es zwischen Furcht und Bangen? Der rabbinische Kommentator, der berühmte Rachi, erläutert für uns: Er fürchtete sich vor seinem Tod, aber ihm wurde bange, dass er vielleicht zu töten haben würde« (Levinas 2007, 140 f.; die Bibelzitate sind der hebräischen Bibel 1997 entnommen). Genau um diese Verdoppelung der Angst und um die daraus entstehende Verantwortung für die Anderen geht es mir hier. 23 Auch die moderne Ideologie der Autonomie und der Selbstständigkeit der Einzelnen, des entsprechenden Leistungskampfes und der Konkurrenz zwischen den Individuen, verdeckt und zerstört in vielen Bereichen des menschlichen Lebens die positive Erfahrung ihrer Abhängigkeit und die Verantwortung der Einen für die Anderen. Auch sie muss um die Möglichkeit des Friedens willen überwunden werden. 22
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Die erste Aufgabe, die mit dieser Verantwortung verbunden ist, besteht darin, ein gemeinsames Handeln, durch das Frieden entstehen kann, überhaupt möglich zu machen. Dies geschieht durch eine an die Anderen adressierte Initiative zum gemeinsamen Handeln, die von diesen als solche erkannt und angenommen werden kann. Nur dann kann sie von ihnen als gemeinsame Aufgabe des Friedens übernommen und fortgeführt werden. Nur dann ist ein Frieden mit ihnen möglich. Dafür muss allerdings diese Initiative das Misstrauen der Anderen, das in Zeiten des Krieges durchaus berechtigt ist, überwinden. Die Träger der Initiative müssen sich also als vertrauenswürdig zeigen, 24 sie müssen »Beweise« ihres guten Willens liefern, die von den Anderen angenommen werden können, auch wenn solche Beweise nie zwingend sind. Dies geschieht etwa dadurch, dass die Handelnden etwas Bestimmtes versprechen und dieses Versprechen einhalten (etwa einen Gefangenenaustausch, einen Waffenstillstand, einen Schritt der Abrüstung), so dass ihr nächstes Versprechen an Glaubwürdigkeit gewinnt und dass das Vertrauen der Anderen durch die Wiederholung eingehaltener Versprechen allmählich verstärkt wird. Dies geschieht auch dadurch, dass die Handelnden offen handeln, sich nicht verstecken, sich zwar dadurch dem Blick der Anderen aussetzen und sich angreifbar machen, aber auch zugleich deren Vertrauen gewinnen können. Das so gewonnene Vertrauen der Anderen darf wiederum in einem solchen Prozess nicht enttäuscht werden. In diesem Sinne verpflichtet es die Handelnden. Es macht sie für das Anvertraute verantwortlich. Das Vertrauen der Anderen ist also nicht nur die Bedingung der Übernahme von Verantwortung in Bezug auf die Aufgabe der Friedensbildung. Es ist auch eine neue Quelle der Verpflichtung für diejenigen, die aus Verantwortung handeln. Zur Aufgabe des Friedens gehört aber nicht nur das jeweils eigene Handeln oder die eigene Initiative, für die wir verantwortlich sind und in Bezug auf die wir das Vertrauen der Anderen zu gewinnen versuchen. Es gehört auch das Handeln der Anderen, zu dem wir entsprechend ein Verhältnis des Vertrauens entwickeln müssen. Sonst wäre kein gemeinsames Handeln möglich und der Frieden als gemeinsame Aufgabe wäre nicht zu verwirklichen. Doch dieses Vertrauen kann und darf in Zeiten des Krieges nicht grenzenlos sein. Es Über verschiedene Gründe der Vertrauenswürdigkeit, vgl. Sztompka 1999, Kap. 4; Delhom 214b.
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darf nicht dazu führen, dass sich eine Friedensinitiative gegen ihre Urheber wendet und zu ihrer eigenen Zerstörung führt oder dass sie von den Anderen zu einer Verschärfung des Krieges und des Kampfes missbraucht wird. Dies wäre nicht nur für die Handelnden, sondern für die Aufgabe des Friedens selbst verheerend. Es liegt also jeweils in der Verantwortung der Einen, so viel zu vertrauen, dass sie einerseits eine Friedensinitiative seitens der Anderen als solche annehmen können, dass sie andererseits auch die Aufnahme und den Vollzug des eigenen Handelns durch die Anderen zulassen können. Es liegt allerdings auch in ihrer Verantwortung, soviel zu misstrauen, wie sie es für notwendig halten, um das Risiko des Missbrauchs ihres Vertrauens so gering wie möglich zu halten. Nur wenn ihr beschränktes Vertrauen nicht enttäuscht wird, können und dürfen sie es wagen, weniger eingeschränkt zu vertrauen. Nur dann kann allmählich die Erwartung entstehen, dass ihr Vertrauen nicht enttäuscht werde, und nur dann kann dieses Vertrauen seine normative Kraft entfalten und die Anderen in die Verantwortung für dieses Vertrauen einsetzen. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass weder die Verantwortung für die Aufgabe des Friedens noch das Vertrauen, das mit ihr einhergeht, in einer symmetrischen Beziehung zum Vertrauen und zur Verantwortung der Anderen erfolgen. Beide müssen gewagt werden, ohne als eine Bedingung dieses Wagnisses zu stellen, dass sie auch und zuerst von den Anderen gewagt werden müssen. Denn eine solche Bedingung, wenn sie auf beiden Seiten gestellt wird, verunmöglicht jede Initiative. Beide müssen aber auch so gewagt werden, dass sie wiederum auch von den Anderen gewagt werden können. Die eigene Verantwortung bedarf des Vertrauens der Anderen und muss es hervorrufen. Das eigene Vertrauen hofft auf die Verantwortung der Anderen und muss sie entstehen lassen. Zuerst sind sie jedoch ein Wagnis, das die Bedingungen erst zu schaffen versucht, unter denen sie nicht waghalsig erscheinen, sondern eine eigene Sicherheit entfalten können. In diesem Sinne enthalten sowohl Verantwortung wie auch Vertrauen einen Moment der Schwäche. Denn sowohl diejenigen, die den Anderen Vertrauen, wie auch diejenigen, die sich gegenüber den Anderen verpflichten und durch eine Vorleistung oder durch ihre Offenheit um deren Vertrauen werben, setzen sich dadurch den Anderen aus. Allerdings ist in Bezug auf die Aufgabe des Friedens gerade diese Schwäche als eine Stärke aufzufassen, insofern nur sie den Weg zu 254 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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einem Handeln mit den Anderen und dadurch den Frieden ermöglichen kann. In einem sehr ähnlichen Sinne schreibt Emmanuel Levinas über die Reise Anwar as-Sadats nach Jerusalem am 19. November 1977 (vgl Levinas 2005, 154), dass sie den Frieden zwischen Israel und Ägypten ermöglichte, indem sie den Weg einer Politik verließ, die als Kampf und als Krieg verstanden wird: »Wie gesagt hat die Reise Sadats nach Jerusalem den einzigen Weg zum Frieden im Nahen Osten eröffnet, wenn dieser Friede überhaupt möglich ist: was an ihm vielleicht »politisch« schwach ist, ist vielleicht der Ausdruck dessen, was an ihm kühn ist, und was letztlich stark an ihm ist« (ebd., 162). Natürlich geht es inhaltlich bei Initiativen des Friedens um vieles Andere als nur um die Verbindlichkeit von Verantwortung und um die Bildung von Vertrauen. In Zeiten des Krieges geht es um gegenseitige Zugeständnisse (in der Tradition der Vertragstheorie), um gegenseitige Anerkennung als Verhandlungs- und als Handlungspartner, um die Lösung von den Konflikten, die zum Kampf oder zu dessen Verschärfung geführt haben. Es geht auch um die Verarbeitung des vergangenen Unrechts auf beiden Seiten, die mit der Benennung dieses Unrechts anfängt, das heißt mit dessen Annahme als Unrecht und mit dessen Verurteilung, und die dann auf dieser Basis verschiedene Wege der Verarbeitung eingehen kann. Es geht auch um die Vorbereitung einer politischen, sozialen und rechtlichen Ordnung, in der Konflikte nicht durch Kampf und Krieg gefochten, sondern durch Kooperation geregelt werden. Doch keine dieser Aufgaben kann ohne Übernahme von Verantwortung und ohne Vertrauensbildung jemals erfolgreich erfüllt werden, denn sie fordern alle ein Handeln mit den jeweils Anderen. Im Gegenzug trägt die gemeinsame Erfüllung dieser Aufgaben zur Bildung von Vertrauen und zur Bereitschaft bei, Verantwortung für zukünftige Aufgaben zu übernehmen. Auf der Basis dieser komplementären Bildung von Verantwortung und Vertrauen besteht zuletzt die Aufgabe des Friedens langfristig in der Etablierung einer sozialen Tugend des gemeinsamen Handelns. Die Verantwortung und das Vertrauen sind selbst keine Tugenden. 25 Sie sind keine Form des Handelns und dessen HabitualiChristian Graf von Krockow stellt zwar das Vertrauen zusammen mit dem Misstrauen als eine Tugend der Friedensfähigkeit dar. Seine Erläuterungen betonen allerdings eher die wichtige Rolle des Misstrauens und einer entsprechenden Skepsis gegenüber Regierenden (von Krockow 1995, 431 f.).
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sierung, sondern wichtige Bedingungen unseres Handelns mit den Anderen. Sie können allerdings als soziale Kräfte so gebildet werden, dass sich eine Kultur des Vertrauens und der Verantwortung etabliert, die auf zweierlei Weise zur Bildung einer Tugend des gemeinsamen Handelns beiträgt: sie verstärken erstens durch ihre eigene Verbindlichkeit die normative Dimension dieser Tugend, sie tragen zweitens durch ihre Kultivierung zur Stabilisierung einer Kultur des gemeinsamen Handelns bei. Die Bildung einer Vertrauenskultur durch das wiederholte und nicht enttäuschte Schenken von Vertrauen ist vielfach beschrieben worden (vgl. u. a. Sztompka 1999, 99 ff.; Endress 2002, 45 f.). Diese Vertrauenskultur, die manche auch Vertrauensklima (vgl. Baier 2001, 42; 60) oder Vertrauensethos (vgl. Röttgers 2004) nennen, bildet wiederum eine Basis für jedes weitere Schenken des Vertrauens. Denn sie stärkt die Disposition der Menschen, die in einer Gesellschaft mit einem solchen Vertrauensethos leben, Anderen zu vertrauen. Sie bietet ihnen auch, durch die Normativität einer Vertrauenskultur, nach der das Vertrauen und die damit einhergehenden Erwartungen in Bezug auf das Handeln der Anderen nicht enttäuscht werden dürfen, und nach der diejenigen, die es doch enttäuschen, sich vor der Gesellschaft verantworten müssen, eine gewisse Sicherheit in Bezug auf das Handeln der Anderen (vgl. Delhom 2007, 349 ff.). Die Bildung einer Verantwortungskultur 26 im Sinne einer Verantwortung für die gemeinsame Aufgabe des Friedens begleitet als komplementäre Kraft die Bildung einer Vertrauenskultur. Sie entsteht, in Anbetracht der Verletzlichkeit der Anderen und unserer gegenseitigen Abhängigkeit, mit der Einsicht, dass wir diese Aufgabe nicht ohne die Anderen erfüllen können und dass wir sie entsprechend nicht verletzen bzw. ihre Verletzungen nicht annehmen dürfen. Sie entwickelt sich mit unserer wachsenden Offenheit für die normative Kraft dieser – im gemeinsamen Handeln an uns adressierten – Verletzlichkeit der Anderen, die sich nicht dadurch auflöst, dass wir unserer Verantwortung ihnen gegenüber nachkommen, sondern Über viele Aspekte einer Kultur der Verantwortung in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, vgl. u. a. die drei im Rahmen des Forschungsbereichs »Verantwortungskultur« (2004–2012) am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen entstandenen Bände von L. Heidbrink und A. Hirsch 2006; 2007 u. 2008. Darin werden auch die Entwicklung und die mit ihr verbundenen Probleme der »Eigenverantwortung« thematisiert. In unserem Kontext ist allerdings vor allem die Verantwortung für die Anderen und für die mit ihnen geteilten Aufgaben relevant.
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die im Gegenteil dadurch wächst. Denn sowohl die positive Gestaltung unserer gegenseitigen Abhängigkeit im gemeinsamen Handeln wie auch das Vertrauen der Anderen, die für unsere Übernahme von Verantwortung notwendig ist, verpflichten uns. So bilden die Vertrauenskultur im Sinne eines Vertrauensklimas in der Gesellschaft, in der wir leben, und die Verantwortungskultur im Sinne eines Sinnes für die Verletzlichkeit der Anderen und für die entsprechende eigene Verpflichtung ihnen gegenüber die Basis für eine Kultur des gemeinsamen Handelns. Diese Kultur ist insofern eine Tugend, als sie erstens nur durch eben dieses Handeln und dessen Wiederholung entstehen und sich etablieren kann, als sie zweitens normativ im Sinne einer Gewohnheit des Handelns geprägt ist, die auf Grund der Verletzlichkeit und der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen gepflegt werden soll. Trotz allen Konflikten, die im Rahmen einer solchen Kultur des gemeinsamen Handelns entstehen können, trotz allen Unterschieden zwischen den Handelnden in Bezug auf ihre Bedürfnisse und Interessen, auf ihre gesellschaftlichen Stellungen und Leistungen, kann eine Zeit, die von einer solchen Kultur geprägt ist, als eine Zeit des Friedens gelten. Dieser Frieden ist nicht nur negativ durch die Abwesenheit von Kämpfen und von der Bereitschaft zu solchen geprägt, sondern positiv durch die Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln und durch die doppelte und komplementäre Verbindlichkeit des Vertrauens und der Verantwortung. Diese Verbindlichkeit vermag, zusammen mit der bindenden Kraft der Tugend, eine Sicherheit in Bezug auf das Handeln der jeweils Anderen zu geben, die von keiner Androhung von Strafe und von keiner Abschreckung durch Gewalt auch nur entfernt erreicht werden kann. Denn nicht nur die objektive Sicherheit der Handelnden ist im Rahmen einer Kultur des gemeinsamen Handelns höher als im Rahmen einer Kultur der Abschreckung und des – auch innergesellschaftlichen – kalten Krieges. Auch das subjektive Gefühl der Sicherheit ist unvergleichbar höher: es ist verbunden mit der berechtigten Erwartung, dass die Anderen unser Vertrauen nicht enttäuschen werden, und nicht mit der bloßen Hoffnung, dass sie sich, durch die Androhung von Gewalt, von ihrer eigenen Gewalt – mit der ansonsten jederzeit zu rechnen ist – werden abhalten lassen. Eine Zeit des Friedens, die durch eine Kultur des gemeinsamen Handelns bestimmt ist, ist also eine Zeit, in der auch die Sicherheit durch diese Kooperation definiert wird. Sie ist eine Zeit, in der auf der 257 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
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Ebene von Nachbarschaften eine Kultur des Zusammenhalts vor einer Haltung des Verdachts und der Isolierung den Vorrang hat, in der aber auch auf nationaler und internationaler Ebene eine Politik der Sicherheit durch Kooperation und durch vertrauensbildende Maßnahmen nach dem Modell der OSZE den Vorrang hat gegenüber einer Politik der Abschreckung. Diese Bestimmung der Sicherheit ermöglicht ein bestimmtes Verständnis und eine Förderung der politischen Freiheit, wie sie etwa Montesquieu verstand. Für ihn bestand nämlich die politische Freiheit eines Bürgers »in der Sicherheit oder wenigstens in dem Glauben, den man an seine Sicherheit hat« (Montesquieu 1951, Buch XII, Kap. 2, 258). Im Gegensatz zu einer Sicherheitspolitik durch Abschreckung und Kontrolle, die nur unter Einschränkung der Freiheit möglich ist, führt also eine Politik der Sicherheit durch Kooperation in Zeiten des Friedens, die das Gefühl der Sicherheit steigert, zu einer Gewährung der politischen Freiheit. Diese Freiheit gehört wie die Sicherheit zur inhaltlichen Bestimmung des Friedens als sozialer Tugend des gemeinsamen Handelns. Doch ein solcher Frieden ist immer wieder bedroht, und zwar nicht nur durch äußere Angriffe. Denn je mehr er sich etabliert, je mehr die Formen des gemeinsamen Handelns, die er zugleich verlangt und ermöglicht, selbstverständlich werden, desto unscheinbarer wird er. Der verwirklichte Frieden als soziale Tugend bestimmt zwar das Handeln und die Erwartungen der Menschen, die in dieser Zeit leben. Aber er erscheint nicht mehr als eine Aufgabe. Dies ist die zweite Herausforderung, mit der eben diese Aufgabe konfrontiert wird. Diese Herausforderung besteht darin, dass auch in Zeiten des Friedens Konflikte gelöst werden müssen, bei denen die eigenen Interessen und die eigene Verletzlichkeit immer wieder drohen, die Verletzlichkeit der Anderen und die eigene Verantwortung für sie zu überdecken. Immer wieder werden Handlungen ausgeführt oder entstehen Situationen, durch die das Vertrauen in die Anderen erschüttert wird oder werden kann. Denn es ist viel leichter, Vertrauen zu zerstören, als es entstehen zu lassen. Immer wieder werden Menschen der Versuchung ausgesetzt, andere Lösungen für diese Konflikte und diese Erschütterungen zu suchen als die schwierige Aufgabe des gemeinsamen Handelns, bei dem wir gerade mit denen eine Lösung zu finden haben, von denen wir uns angegriffen oder bedroht fühlen. Immer wieder wird die Illusion einer Lösung von Konflikten 258 https://doi.org/10.5771/9783495808214 .
Frieden mit Verantwortung und Vertrauen
durch Ausschluss der Anderen, durch Gewalt oder Androhung derselben propagiert und von vielen aufgenommen. Diese Versuchungen und Illusionen bedrohen den Frieden, weil sie die schwierige und unscheinbare Aufgabe des täglichen Eingehens auf die Anderen, der Sensibilität für ihre Verletzlichkeit und einer entsprechenden Rücksicht, 27 der täglichen Suche nach Wegen des Zusammenlebens durch ein gemeinsames Handeln nicht nur erschweren, sondern vielleicht als zwecklos und sinnlos erscheinen lassen. Deswegen reicht die soziale Tugend des gemeinsamen Handelns alleine nicht aus, um den Frieden zu etablieren. Sie muss von Institutionen und einer gesetzlichen Ordnung unterstützt werden, die eine solche Tugend ermöglichen, ihre Praxis regeln und fördern. Sie muss durch einen Diskurs unterstützt werden, in dem der Frieden positiv und normativ als das dargestellt wird, was er ist: die mühsame aber unermüdliche soziale Tugend des Handelns mit den Anderen. Sie muss durch soziale und politische Praktiken unterstützt werden, die das Vertrauen der einzelnen in den Anderen und die Verantwortung eines jeden für sie und für die gemeinsame Aufgabe des Friedens stärkt. Sie muss vielleicht durch Rituale der Kooperation unterstützt
Ich schreibe diese Zeilen, kurz nachdem Journalisten und Karikaturisten der französischen Zeitung Charlie Hebdo ermordet wurden, weil sie unter anderem durch Karikaturen des Propheten Mohammads den Islam beleidigt hätten. Nichts rechtfertigt einen solchen Anschlag. Bei der Verteidigung der Karikaturen wird allerdings immer wieder betont, dass die Ausdrucksfreiheit durch keine Rücksicht auf die Empfindlichkeit Anderer sich selbst »zensieren« darf. Dies zu verlangen wäre bereits ein Angriff auf einen Grundwert unserer Gesellschaft. Ich kann mich dieser Rechtfertigung nicht anschließen. Denn es gilt erstens, zwischen einer Selbstzensur aus Angst vor Strafe und Vergeltung, das heißt zum Schutz vor eigenen Verletzungen, und einer Zurückhaltung aus Rücksicht für die Verletzung Anderer zu unterscheiden. Die erste ist eine Niederlage der Freiheit. Die zweite ist eine Grundhaltung jeder zivilisierten Gesellschaft. Es gilt zweitens zu betonen, dass unsere Freiheit nicht durch die Rücksicht auf die Anderen bedroht oder sogar eingeschränkt wird, sondern im Gegenteil als politische Freiheit in einer Gesellschaft, in der wir in Frieden mit den Anderen leben, durch sie ermöglicht wird. In Bezug auf die politische Freiheit schreibt Montesquieu: »In der Tat scheint das Volk in den Demokratien zu tun, was es will. Aber die politische Freiheit besteht nicht darin, zu tun was man will. In einem Staat, das heißt in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen soll, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf« (Montesquieu 1951, 212 f., leicht veränderte Übersetzung). Das Gleiche gilt in Bezug auf die Grundregeln des sozialen Zusammenlebens, das heißt auch in Bezug auf die Rücksicht auf die Verletzlichkeit der Anderen.
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werden, in denen diese nicht nur gefeiert, sondern auch sichtbar gemacht wird. Alle diese unterstützenden Elemente sind allerdings selber keine inhaltliche Bestimmung dessen, was der Frieden ist, sondern sie ermöglichen und stützen den Frieden als soziale Tugend des gemeinsamen Handelns im Dienst eines friedfertigen Zusammenlebens.
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Die Autorinnen und Autoren
Jovan Babić ist Professor für Ethik an der Universität Belgrad. Petar Bojanić ist Direktor des Instituts für Philosophie und Gesellschaftstheorie an der Universität Belgrad und Direktor des Centre for Advanced Studies – South-East-Europe an der Universität Rijeka. Gertrud Brücher lehrt Philosophie an der Universität Marburg. Pascal Delhom ist Akademischer Rat am Philosophischen Seminar der Europa-Universität Flensburg. Alfred Hirsch lehrt Philosophie an der Universität Witten-Herdecke. Er ist Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Tobias Nikolaus Klass ist Akademischer Rat am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Burkhard Liebsch ist apl. Professor für Philosophie an der RuhrUniversität Bochum. Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Dozent an der Hochschule für Politik München. Christina Schües ist Professorin am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und apl. Professorin am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg.
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