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German Pages [232] Year 2008
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts
Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl und Stephan Hau Band 7 Rolf Haubl / Tilmann Habermas (Hg.) Freud neu entdecken
Rolf Haubl / Tilmann Habermas (Hg.)
Freud neu entdecken Ausgewählte Lektüren
Mit 2 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-45167-0 © 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rolf Haubl Die Macht von Illusionen – »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christa Rohde-Dachser Sprachen des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reimut Reiche Psychoanalytische Kunsttheorie nach Freud . . . . . . . . . . . . . .
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Burkhardt Lindner Den »Autor« Freud entdecken. Eine Lektüre der Abhandlungen über den Witz und über das Unheimliche . .
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Dirk Fabricius Psychopathen auf die Bühne? Verbrechen, Kunst und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Ilka Quindeau Trieb, Begehren und Verführung. »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Freud, 1905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Katharina Liebsch Psychoanalyse und Feminismus revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
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Inhalt
Helen Schoenhals Hart Das Erbe des Ödipuskomplexes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Tilmann Habermas Freuds Ratschläge zur Einleitung der Behandlung. Eine narratologische Interpretation der Wirkweise der psychoanalytischen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Vorwort
Sigmund Freud, der Gründervater der Psychoanalyse, hat seine Theorie und Praxis als dritte große Zumutung für das menschliche Selbstbewusstsein gesehen: Zumutung deshalb, weil es den Menschen kränkt, seine Heteronomie anzuerkennen. Wenn Kopernikus der menschlichen Gattung nachweist, dass sie mit ihrem Heimatplaneten nicht im Mittelpunkt des Universums steht, muss sie sich von Darwin tierische Ahnen in ihr Stammbuch schreiben lassen. Freud selbst provoziert den Menschen mit seiner Entdeckung des Unbewussten, das er auf dem Hintergrund von konzeptuellen Vorläufern in der Philosophie zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschung macht. Damit überbringt er denen, die er kränkt, gleichzeitig eine schlechte und eine gute Nachricht. Die schlechte: Bewusstsein ist ein nachrangiges Phänomen; es wird durch Bedingungen erzeugt, über die es nicht verfügt. Die gute: Diese Bedingungen hinterlassen Spuren im Erleben und Handeln, über die sie rekonstruiert werden können, was die Verfügung über sie erweitert. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Denn ganz durchsichtig wird sich der Mensch nie sein, nicht die Gattung und schon gar kein Einzelner. Folglich ist es ihm aufgetragen im Bewusstsein des Unbewussten zu leben. Zu diesem Zweck tut er gut daran, Räume zu schaffen, in denen sich die Spuren des Unbewussten leichter lesen lassen als im Trubel des Alltagslebens. Mit seinem von der Couch geprägten Setting hat Freud einen solchen Raum geschaffen. Es ist nur vorderhand ein psychotherapeutisches Setting, denn er verstand sich selbst nie primär als Psychotherapeut, sondern als Forscher, der in lebensgeschichtliche Konflikte verstrickten Menschen hilft, sich selbst zu erforschen, um diese Konflikte zu bewältigen.
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Vorwort
Als Forscher ging es Freud immer darum, den Einzelfall eines Patienten im Vergleich mit anderen Einzelfällen zu nutzen, um allgemeine Aussagen über die Conditio Humana zu treffen. Was die psychoanalytische Arbeit mit Patienten auf individueller Ebene leisten sollte, übertrug Freud auf kollektiver Ebene der psychoanalytischen Bewegung: die kulturelle Verankerung einer anhaltenden Bereitschaft, die je eigene Lebensgeschichte als Teil der Gattungsgeschichte zu reflektieren. In dieser Wertschätzung der Selbstreflexion erweist sich Freud als Parteigänger der Aufklärung, wobei er allerdings zeitlebens eine soziologische Analyse der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse als angewandte Psychologie verkennt. Blickt man auf die ersten hundert Jahre der Psychoanalyse zurück, die von Anfang an ein überaus ehrgeiziges Projekt ist, so darf man ihr eine erstaunliche Erfolgsbilanz bescheinigen. Wie zahlreiche Umfragen zu Freuds 150. Geburtstag im Jahre 2006 ergeben haben, wird der erste Psychoanalytiker sogar von den meisten seiner Kritiker zu den einflussreichsten Personen des letzten Jahrtausends gezählt. Die Wissenschaft, die er auf den Weg gebracht hat, ist Weltkulturerbe, was nicht heißt, sie sei unumstritten. Im Gegenteil: Bei einem derart ehrgeizigen Programm ist mit einer wechselvollen Geschichte zu rechnen. Dementsprechend gibt es für die Psychoanalyse ein Auf und Ab der Anerkennung, in der öffentlichen Meinung ebenso wie im Fachdiskurs der Wissenschaften. Mal wird die Wissenschaft des Unbewussten idealisiert, mal dämonisiert, mal banalisiert. In den letzten Jahren hat sie Anerkennung von einer Seite erhalten, von der sie es nicht vermutet hätte: Die Neurowissenschaften, die sich anschicken, die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts zu werden, finden in ihren Untersuchungen vieles von dem bestätigt, was Freud mit seinen besonderen Erkenntnismitteln bereits gefunden hatte. Auch für sie ist nicht länger das Unbewusste, sondern das Bewusstsein das erklärungsbedürftige Phänomen. Was trotz aller Anerkennung aber bei einer neurowissenschaftlichen Konzeptualisierung des Unbewussten auf der Strecke zu bleiben droht, sind die unbewussten Konflikte als Motiv für das Unbewusstmachen von Wünschen und Wahrnehmungen. Freud hat sich nicht allein für die Funktionsweise unbewusster Mechanis-
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men interessiert, sondern dafür, welche Erlebnisinhalte mit diesen Mechanismen unbewusst gehalten oder unbewusst gemacht werden, und warum es gerade diese Inhalte sind. So will er denn auch die Einzelnen und die Gattung nicht abstrakt über die Existenz des Unbewussten aufklären, sondern zur Sprache bringen, was aufgrund von Tabuisierungen unausgesprochen, ungedacht und sogar ungefühlt bleibt. Wenn im Jahr 2005 Leben und Werk von Freud geehrt worden ist, dann verlangt dies gleichzeitig, dem Eindruck entgegenzutreten, die Psychoanalyse sei auch heute noch die Psychoanalyse Freuds. Das trifft längst nicht mehr zu. Psychoanalyse ist heute ein Dach, unter dem sehr verschiedene Familienmitglieder mehr oder weniger friedlich zusammen leben. Zudem ist sie nach Zeiten, in dem man meist unter seinesgleichen blieb, zu einem Gebäude mit offenen Zugängen geworden, das nicht nur kleine und große Grenzverkehre mit benachbarten Wissenschaften erlaubt, sondern dazu einlädt. In diesem Sinne schlagen wir mit diesem Bändchen, zwei Jahre nach Freuds 100. Geburtstag, einige ausgewählte Texte Freuds zur erneuten oder auch erstmaligen Lektüre vor. Wir interessieren uns dafür, welche Wirkung einzelne Freud’sche Texte heute noch haben können. Dabei gehen wir durchaus unsystematisch von den Interessen aus, die neun Frankfurter Hochschullehrer und Psychoanalytiker aus so unterschiedlichen Disziplinen wie der Soziologie, Germanistik, Kriminologie und Psychologie an einzelnen Texten haben. Wir haben sie aufgefordert, sich jeweils einen Text auszusuchen, der ihnen heute noch Anstoß und Ideengeber für aktuelle Debatten in ihrem Fach ist. Herausgekommen ist dabei eine bunte Auswahl überwiegend kleiner Schriften Freuds. Die Beiträge bleiben unterschiedlich nah am Freud’schen Text, aber alle nehmen den je zentralen Freudtext zumindest zum Ausgangspunkt der von ihnen entwickelten Überlegungen. Die beiden ersten Beiträge entwickeln systematisch zwei Begriffe Freuds, den der Illusion und des Unbewussten. Rolf Haubl greift Freuds zentrales Theorem von der Selbstverblendung des modernen Kulturmenschen auf, der seine Triebe verleugnet, die hinterrücks aber kollektiv durchbrechen. (1.) Aus dem Aufsatz »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915) bestimmt Haubl Freuds
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Begriff der Illusion, dem er unter Einbezug vor allem Winnicotts eine positive Wendung gibt als notwendiges Element der Realitätsbewältigung. (2.) Systematischer greift Christa Rohde-Dachser einen anderen zentralen Begriff, den des Unbewussten, aus Freuds wichtigster metapsychologischer Schrift »Das Ich und das Es« (1923) auf und verfolgt seine historische Entwicklung über die Innovationen von Klein, Bion und der amerikanischen interpersonalen Psychoanalyse. Die nächsten drei Beiträge greifen kunst- und literaturpsychologische Schriften Freuds auf. (3.) Reimut Reiche bietet, ausgehend von »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« (1917), einen methodenkritischen Blick auf die Freud’sche Kunstinterpretation. Er entwirft eine Systematik psychoanalytischer Kunstinterpretationen, die er dann wiederum, ähnlich Rohde-Dachser, im Lichte postfreudianischer Modelle psychischer Transformationen dekliniert, um schließlich dem psychoanalytischen Prozess eine inhärente ästhetische Erfahrung abzugewinnen. (4.) Burkhard Lindner wendet sich dem Autor Freud als Diskursivitätsbegründer zu. Damit begründet er, Freud sehr genau zu lesen und ihn gegen sich selbst zu wenden, um aus den Widersprüchen des Textes kommend über den Text hinaus zu gehen. Auf diese Weise nähert er sich dem Text »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« (1905), um den Witz in seinen Mechanismen vom wortlosen Traum abzurücken und Ähnlichkeiten zum Komischen zu finden. In einem zweiten Schritt interpretiert Lindner auch »Das Unheimliche« (1919) als ein Textphänomen, das sich ebenfalls seinem Begriff des Komischen nähert. (5.) Dirk Fabricius greift den 1905 geschriebenen, doch erst posthum veröffentlichten, sehr kurzen Freudtext »Psychopathische Personen auf der Bühne« auf, um aus kriminologischer Sicht zwei Fragen zu stellen. Einmal befragt Fabricius den Text auf seinen Psychopathiebegriff, dem es, so argumentiert er mit Freud gegen den Text, am Begriff der Sublimierung fehlt. Zum anderen verfolgt er die rezeptionsästhetische Frage Freuds, unter welchen Bedingungen psychopathische Figuren den Zuschauer ansprächen, und wendet sie in einer überraschenden Wendung auf die erhoffte kriminalpräventive Wirkung von Strafprozessen an. Drei weitere Beiträge setzen sich mit unterschiedlichen Aspek-
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ten der Freud’schen Theorie der Sexualität und geradezu moralkonstitutiven Geschlechtsunterschieden auseinander. (6.) Ilka Quindeau greift Freuds Triebbegriffs im Text »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905) auf und verfolgt sein weiteres Schicksal. Zwar stimmt sie den meisten psychoanalytischen Theoretikern nach Freud zu, den Triebbegriff fallen zu lassen, möchte aber, entgegen dem historischen Trend, an der zentralen theoretischen Bedeutung der Sexualität festhalten, weil der Triebbegriff zum Unverwechselbarsten der Psychoanalyse gehöre und allein die nicht lediglich additive Integration des Somatischen, Psychischen und Sozialen erlaube. Als eine Möglichkeit, dieses theoretische Programm auszufüllen, rekonstruiert sie dann Jean Laplanches Begriff des Begehrens und der Verführung. (7.) Katharina Liebsch fragt danach, ob Freud für feministische Theorien der Weiblichkeit inzwischen obsolet geworden sei. Sie rekonstruiert Freuds Thesen zur Genese der Weiblichkeit, unter anderem in »Über weibliche Sexualität« (1931), und sein gleichzeitiges Beharren auf der Rätselhaftigkeit wie der Negativität der Entwicklung. Auf dem Hintergrund feministischer Kritik und Gegenentwürfe fordert Liebsch ein Modell zur Genese der Geschlechtsidentität ein, dem die Vermittlung des Sozialen mit dem Leiblichen gelingt. (8.) Helen Schoenhals Hart wählt einen klinischen Zugang zur Re-Lektüre Freuds. Sie kritisiert an seiner Konzeption der Genese des Über-Ichs durch die Auflösung des Ödipuskomplexes die mangelnde Differenzierung von interpersoneller Realität und Phantasie (Kastration) sowie die auch deshalb unzureichende These von der geringeren Über-Ich-Ausbildung des Mädchens. Sie präsentiert eine Behandlungssequenz einer Patientin mit einem sadistischen Über-Ich, das, so argumentiert sie, besser durch die Theorie Melanie Kleins zu erklären sei. Abschließend, und an die Fallbeschreibung anschließend, (9.) rekonstruiert Tilmann Habermas die Freud’schen Überlegungen zum Behandlungssetting, wie er sie in »Ratschläge für den Arzt« (1912) und »Zur Einleitung der Behandlung« (1913) ausführt. Tilmann Habermas deutet das klassische Setting als den Prototyp der Situation, die kontrolliertes analytisches Verstehen ermöglicht und daher ihr Spezifikum ausmacht. Als Beispiel für eine nichtpsychoanalytische Deutung des Settings begründet er aus narra-
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tologischer Sicht die Wirksamkeit des psychoanalytischen Settings für das erzählende Verarbeiten konflikthafter, schmerzlicher Erfahrungen und veranschaulicht es an einem Behandlungsprotokoll. Wir möchten mit diesem Band dazu anregen, Freud im Original zu lesen, Freud neu zu lesen, und das heißt auch, den Autor Freud in seiner Vielfalt und seinem Ideenreichtum zu rezipieren. Einige der Beiträge liefern Beispiele dafür, wie man heute Freud vielleicht am ehesten diesseits des Systematisierten, nämlich über seine kleinen Schriften und widersprüchlichen Argumentationen, Anregungen und neue Einsichten abgewinnen kann. Rolf Haubl Tilmann Habermas
■ Rolf Haubl
Die Macht von Illusionen »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«
»Zeitgemäßes über Krieg und Tod« ist 1915 in der psychoanalytischen Zeitschrift »Imago« erschienen, ein paar Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Der Aufsatz besteht aus zwei Teilen. Der erste trägt den Titel »Die Enttäuschung des Krieges«, der zweite »Unser Verhältnis zum Tode«. Dieser zweite Teil geht auf den Vortrag »Wir und der Tod« zurück, den Freud ein halbes Jahr zuvor in seiner jüdischen Loge B’nai B’rith gehalten hat. In diese Loge, die er wegen ihrer Liberalität schätzte, war er kurz nach dem Tod seines Vaters eingetreten, zum einen, um aus seiner intellektuellen Isolation in Wien herauszukommen, zum anderen, um sich mit dem Judentum seines Vaters zu versöhnen. Freuds Vortrag war lange verschollen und ist erst vor einiger Zeit wieder entdeckt worden. Er unterscheidet sich von der »Imago«-Fassung durch eine offenere Wortwahl und mehrfache Hinweise auf Besonderheiten der jüdischen Kultur. An geeigneter Stelle werde ich deshalb auch aus dem Vortrag zitieren. Beginnen möchte ich mit einer lebens-, zeit- und werkgeschichtlichen Kontextualisierung des Aufsatzes.
■ Der Erste Weltkrieg: Kriegsbegeisterung und Psychoanalyse Am 28. Juli 1914 erklärt das Habsburger Reich Serbien den Krieg, nachdem junge bosnisch-serbische Nationalisten Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau ermordet haben. Wenige Tage später folgt die Kriegserklärung Deutschlands erst an Russland, dann an
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Frankreich. In den Morgenstunden des 4. August 1914 marschieren deutsche Truppen im neutralen Belgien ein. Eine ständige Ausweitung des Krieges droht. Nachdem noch Großbritannien in den Konflikt verwickelt wird, hat ein Weltkrieg begonnen. Mit seinem Aufsatz »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« reagiert Freud auf diese Ereignisse und mehr noch auf die anfängliche Kriegsbegeisterung breiter Bevölkerungsschichten, einschließlich der Begeisterung, die Freud selbst und sein Kreis erlebt und gezeigt haben. Als er ihn schreibt, liegt seine eigene Kriegsbegeisterung allerdings bereits hinter ihm. Er hat zu einer nüchternen Haltung zurückgefunden, die es ihm erlaubt, den Krieg zu einem Gegenstand psychoanalytischer Untersuchung zu machen. Die Sätze, mit denen er seinen Aufsatz eröffnet, wären geeignet gewesen, die politische Zensur auf den Plan zu rufen: »Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden. Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe muss den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären, der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- und Seelenstörung verkünden« (Freud, 1915b, S. 524).
Wie sehr Freud selbst anfangs von einem nationalen Hochgefühl ergriffen ist, lässt sich seinen Briefen entnehmen, die er aus Wien an Karl Abraham schreibt, der in Berlin ebenfalls ganz patriotisch empfindet. Er fühle sich wieder als Österreicher, ein Gefühl, so bekennt er, das er seit dreißig Jahren nicht mehr gehabt habe: »Die Stimmung ist überall eine ausgezeichnete. Das Befreiende der mutigen Tat«, gemeint ist die Kriegserklärung, »der sichere Rückhalt an Deutschland tut auch viel dazu (Freud u. Abraham, 1980, S. 180). Und noch einmal: »Wir haben an den deutschen Siegen einen festen Halt für unsere Stimmung« (Freud u. Abraham, 1980,
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S. 188). Erst allmählich nimmt Freud Kriegszeiten als das wahr, was sie sind: »Zeiten der entfesselten Bestialität« (Freud u. Abraham, 1980, S. 190). Ähnlich ergeht es Freuds Söhnen an der Front. Zunächst meldet sich Martin freiwillig, dann Ernst, schließlich wird auch noch Oliver eingezogen. Martin zieht als ein früher Freiwilliger in den Krieg, »um nicht«, wie er seinem Vater schreibt, »diese fürchterliche, aber gewiss auch ungewöhnlich spannende Epoche als bloßer Zuschauer mitzumachen« (zit. nach Weissweiler, 2006, S. 218). Und im selben hoch gestimmten Ton: »Ich bin […] überzeugt, dass mir das Gefühl, diesen Krieg auch nur als einfacher Kanonier mitgemacht zu haben, […] eine beständige Freude gewähren wird« (zit. nach Weissweiler, 2006, S. 219). Als Martin später einen Streifschuss am Arm erhält und nur durch Glück einem Kopfschuss entgeht, hat ihn der Schrecken längst eingeholt. Mit ihren anfänglichen Hochgefühlen sind die Freuds nicht alleine. Noch weiß ja niemand, dass der Erste Weltkrieg der erste totale Krieg der Menschheitsgeschichte werden wird. Am Ende hat er in viereinhalb Jahren zehn Millionen Menschen, vor allem Soldaten, aber auch Zivilisten, das Leben gekostet. Noch verhalten sich die Kriegsparteien überwiegend, als ob der Waffengang ein Spaziergang werde, der lediglich Tage oder Wochen dauert, bis der Sieg errungen ist. So steht auf Eisenbahnwagons, die deutsche Soldaten an die Front bringen, zu lesen: »Zum Frühstück auf nach Paris!«. Alle Welt ist manisch, was gerade in Deutschland und Österreich viel damit zu tun hat, dass dieser Krieg keine instrumentellen politischen Ziele zu haben scheint, sondern vermeintlich um der moralischen Erneuerung der Völker, ja der gesamten Menschheit willen geführt wird: Kultur gegen Zivilisation, Innerlichkeit gegen Äußerlichkeit, Gemeinschaft gegen Gesellschaft und Nationalismus gegen Internationalismus. Die propagierte moralische Erneuerung beabsichtigt, den Modernisierungsprozess und mit ihm die fortschreitende Rationalisierung und Säkularisierung in Schach zu halten (vgl. Ekstein, 1990). So gleicht die Kriegsbegeisterung einem »religiösen Erweckungserlebnis« (Gay, 1996, S. 639), das gerade vom Bildungsbürgertum gefeiert wird: »Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung«,
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bekennt Thomas Mann im November 1914: »Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!« (Mann, 1990, S. 531). Die vielleicht präziseste Schilderung der damaligen Stimmung findet sich bei Stefan Zweig, der in »Die Welt von Gestern« (1970, S. 230) rückblickend schreibt: »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich bekennen, dass in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Und trotz allem Hass und aller Abscheu gegen Krieg möchte ich die Erinnerung an diese ersten Tage nicht missen: Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: dass sie zusammen gehörten. Eine Stadt von zwei Millionen, ein Land von fast 50 Millionen empfanden in dieser Stunde, dass sie Weltgeschichte, dass sie einen nie wiederkehrenden Augenblick mit erlebten und dass jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen, waren überflutet in diesem einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. Fremde sprachen sich auf der Straße an, Menschen, die sich jahrelang auswichen, schüttelten einander die Hände, überall sah man belebte Gesichter. Jeder Einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetaucht in eine Masse, er war Volk und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen. Der kleine Postbeamte, der sonst von früh bis nachts Briefe sortierte, immer wieder sortierte von Montag bis Samstag ununterbrochen sortierte, der Schreiber, der Schuster, hatte plötzlich eine andere, eine romantische Möglichkeit in seinem Leben; er konnte Held werden und jeden, der eine Uniform trug, feierten schon die Frauen, grüßten ehrfürchtig zurück.«
Wenn Christopher Bollas (1997, S. 25 ff.) Recht hat, dass sich alle Menschen nach einem »Verwandlungsobjekt« oder einem »Verwandlungsvorgang« sehnen (nach einer existentiellen Erfahrung, die ihrem Leben einen unveräußerlichen Sinn gibt), dann haben Millionen von Menschen diese Erfahrung damals im Krieg gesucht. Auf diesem Hintergrund ist »Zeitgemäßes über Krieg und
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Tod« entstanden. Und man darf wohl sagen, dass Freud das Thema Krieg und mit ihm die menschliche Aggressionsneigung als Schicksalsfrage der Gattung zeitlebens nicht wieder losgelassen hat. So wird er etwa im Februar 1916 angesichts der Großoffensive der Deutschen in Verdun in einer seiner »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« öffentlich gegen die These der verführten Massen argumentieren: »Glauben Sie wirklich, dass es einer Handvoll gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Verführten nicht mitschuldig wären?« (Freud, 1916–17, S. 147). Und seinen Brief an Albert Einstein »Warum Krieg?« aus dem Jahre 1932 wird er mit der Vorstellung einer »konstitutionellen Intoleranz« (Freud, 1933b, S. 363) gegen den Krieg schließen, was so viel heißt wie: Nur dann, wenn Menschen gleichsam mit körperlicher Aversion auf Krieg reagieren, Krieg sie bis zum Erbrechen anekelt, dann unterlassen sie es, Krieg zu führen. Aber ist damit überhaupt jemals zu rechnen?
■ Psychoanalytiker in Uniform Was Freud zum Zeitpunkt, als er »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« schreibt, bestenfalls ahnen kann, ist der Durchbruch, zu dem der Erste Weltkrieg der Psychoanalyse verhilft. Denn der berüchtigte Stellungs- und Grabenkrieg bringt Hunderttausende von »Kriegsneurotikern« hervor, die nicht länger fronttauglich sind. Es ist die Aufgabe der Militärpsychiatrie, sie möglichst schnell so weit wieder herzustellen, dass sie an die Front zurück können. Obgleich zu diesem Zweck drakonische Maßnahmen eingesetzt werden, sind die Erfolge bei diesen als »weibisch« beschimpften Männern (vgl. Zaretsky, 2006, S. 178 f.) gering. Deshalb erhält und ergreift die Psychoanalyse ihre Chance. Bis heute ist der Psychoanalytiker als Militärarzt in Uniform ein befremdliches Bild. Zwar arbeitete er mit weicheren Methoden als die psychiatrische Konkurrenz, verfolgte aber doch dieselben Ziele. Auf dem psychoanalytischen Kongress, den Sándor Ferenczi Ende 1918 in Budapest organisiert, geht es hauptsächlich um die
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Behandlung von »Kriegsneurotikern«, die jedoch so gut wie nicht als behandlungsethisches Problem diskutiert wird. Statt dessen verkündet etwa Ernest Jones (1919, S. 81) stolz: »Wir gelangen zu dem tröstlichen Schluss, dass ein normaler Mensch auch der drohenden Gefahr frei von Angst, furchtlos wie Siegfried gegenüberstehen müsste; solche Menschen scheint es in unserer Armee in reichem Maße zu geben.« Dementsprechend gelten alle Soldaten, die nicht »furchtlos wie Siegfried« sind, als nicht normal. Freud hält sich mit solchen Normalisierungen zurück. Er teilt sie wohl auch nicht. In seiner Einleitung in den Kongressband analysiert er (Freud, 1919d, S. 5) die »Kriegsneurose« als ein Phänomen des »Volksheeres«, nicht des »Söldnerheeres«. Denn die zwei Millionen Freiwilligen würden an einem »Ichkonflikt« leiden, der »zwischen dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich der Soldaten« besteht; dieser Konflikt werde »akut, sobald dem Friedens-Ich vor Augen gerückt wird, wie sehr es Gefahr läuft, durch die Wagnisse seines neu gebildeten parasitischen Doppelgängers ums Leben gebracht zu werden«. Zudem lenkt Freud in seiner Eröffnungsansprache die Aufmerksamkeit seiner Anhänger von den »Kriegsneurotikern« weg, wenn er mit Blick auf die Revolution in Russland die soziale Frage stellt. Sollte sich die Psychoanalyse nicht für Therapie und Erziehung der unteren Schichten einsetzen? Eines Tages, so Freud (zit. nach Weissweiler, 2006, S. 245), erwache »das Gewissen der Gesellschaft« und man werde einsehen, »dass der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung« hat wie auf körperliche, dass »die Neurose die Volksgesundheit nicht minder bedroht als die Tuberkulose […] Es mag lange dauern bis der Staat diese Pflichten als dringend empfindet […] Aber irgendeinmal wird es dazu kommen müssen.«
■ Freuds Rekonstruktion verschiedener Illusionen Nach dieser Kontextualisierung möchte ich nun den Argumentationsgang in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« rekonstruieren, wobei ich mich auf das Konzept der Illusion konzentriere, das Freud in diesem Aufsatz anreißt. In späteren Schriften – vor allem
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in seiner religionskritischen Schrift »Die Zukunft einer Illusion« aus dem Jahre 1927 – hat er es weiter elaboriert. Freud schreibt aus der Perspektive eines »Kulturweltbürgers« (Freud, 1915b, S. 327) für seinesgleichen. Als ein solcher haben er und sie an eine Entwicklung geglaubt, wie sie – obgleich von Freud nicht erwähnt – Immanuel Kant 1795–96 in seiner bürgerlichen Utopie »Zum ewigen Frieden« vorgezeichnet hat: dass die Handelsinteressen der »Kulturnationen« (Freud, 1915b, S. 326) zu einer internationalen Verflechtung führen, die Kriege unwahrscheinlich oder, falls unvermeidlich, wenigstens zu einem »ritterlichen Waffengang« (Freud, 1915b, S. 328) machen. Aber weit gefehlt: Die »durch Verkehr und Produktion hergestellte Interessengemeinschaft« (Freud, 1915b, S. 340) der Nationen konnte den Krieg nicht verhindern, weil Leidenschaften nicht in Interessen verwandelt worden sind (vgl. Hirschmann, 1987), sondern die Nationen »ihre Interessen vor(schieben), um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können« (Freud, 1915b, S. 340). So wird der Krieg dann auch mit einer erschreckenden Grausamkeit ausgetragen, die das Völkerrecht missachtet. Die Nationen bekämpfen einander mit unversöhnlichem Hass. Dabei geht die Gewalt von Bürgern aus, die doch im Rahmen eines staatlichen Gewaltmonopols zu individuellem Gewaltverzicht sozialisiert worden sind. Wenn die »Kulturweltbürger« angesichts dessen enttäuscht sind, dann deshalb, weil sie sich, so Freud, getäuscht hätten. Diese Enttäuschung habe aber letztlich auch etwas Gutes, weil sie die »Zerstörung einer Illusion« (Freud, 1915b, S. 331) sei. Illusionen sind für Freud das Ergebnis eines Wunsch erfüllenden Denkens, das der Anerkennung der Realität weichen muss. Der Krieg bringe die Wahrheit über die Natur des Menschen zum Vorschein. Während die Befürworter des Krieges ähnlich argumentieren, diese Wahrheit aber in Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft sehen, mithin den Krieg als eine Institution behaupten, die das Beste der Menschen enthüllt, besteht für Freud die Wahrheit darin, dass Gewaltbereitschaft auch bei kultivierten Menschen erschreckend leicht enthemmt werden kann. Dies sei so, weil egoistische und grausame Triebregungen zu der »elementaren Natur« (Freud, 1915b, S. 331) des Menschen gehören, die trotz ihrer »Veredelung«
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(Freud, 1915b, S. 335) fortbestehen und auf dem Wege der Regression wiederbelebt werden können. Freud bietet diese psychoanalytische Erkenntnis explizit als »Trost« (Freud, 1915b, S. 336) an. Sein Tröstungsversuch gipfelt in einer fast sprichwörtlich gewordenen Formulierung, die zum einen dadurch bemerkenswert ist, dass Freud sich und seinesgleichen – wenn man so will: wider besseres Wissen – aus ihrer Geltung ausnimmt, und zum anderen jenen »Galgenhumor« belegt, den er in seinem Brief an Ferenczi vom 8. April 1915 (zit. nach Jones, 1962, S. 426) als grundlegendes rhetorisches Stilmittel seines Aufsatzes bezeichnet hat. Diese Formulierung lautet lapidar: »In Wirklichkeit sind sie«, Freud (1915b, S. 336) meint alle jene Zeitgenossen, die noch keinen Weg aus ihrer nationalen Kriegsbegeisterung und ihrem Hass auf die Feinde gefunden haben – »In Wirklichkeit sind sie, nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir’s von ihnen glaubten.« Was an dieser Einsicht aber soll tröstlich sein? Ich stelle die Frage erst einmal zurück, um zunächst sechs Illusionen herauszuarbeiten, auf die Freud in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« zu sprechen kommt. Zunächst – in meiner Benennung – die Illusionen der »Kultiviertheit«, der »Macht der Intelligenz« und der »Reversibilität«.
■ Illusion der Kultiviertheit Die meisten Menschen, so Freud, leben ihre egoistischen und grausamen Triebbedürfnisse nur deshalb nicht aus, weil sie soziale Angst haben. Wo Angst vor Sanktionen herrscht, hat keine strukturelle psychische Veränderung stattgefunden. Wenn es der Gesellschaft ausreicht, dass sich ihre Mitglieder so sittlich verhalten, wie sie sich verhalten sollen, ohne die Motive zu bedenken, warum sie sich sittlich verhalten, begünstigt sie »Kulturheuchelei« (Freud, 1915b, S. 336). Freud erscheint die Gesellschaft seiner Zeit als eine Gesellschaft geheuchelter Kultiviertheit, in der die meisten ihrer Mitglieder nur auf eine günstige Gelegenheit warten, sich von ihrem erzwungenen »Kulturgehorsam« (Freud, 1915b, S. 335) psychisch zu entlasten. Der Krieg ist eine solche günstige
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Gelegenheit. Gesellschaftsmitglieder, die sich nur aus Angst vor Sanktionen sittlich verhalten, verlieren im Krieg alle Sittlichkeit, weil dort unsittliches Verhalten staatlich erlaubt oder sogar geboten ist. Freud zweifelt daran, dass es jemals eine Gesellschaft geben wird, die ohne jegliche »Kulturheuchelei« auskommt. Somit ist die Sittlichkeit der Gesellschaftsmitglieder immer eine Mischung aus Selbstzwang und Fremdzwang. Den intrinsischen »Kulturgehorsam«, der auf einer strukturellen psychischen Veränderung beruht, erachtet Freud als progressive Entwicklung, die aber ein mehr oder weniger großes Ausmaß an extrinsischem »Kulturgehorsam« mit sich führt, der auf sozialer Angst beruht. Je weniger nun bei Gesellschaftsmitgliedern die »Umsetzung von äußerem Zwang in inneren Zwang« (Freud, 1915b, S. 333) gelungen ist, desto anfälliger werden sie für regressive Entwicklungen: »Der frühere seelische Zustand mag sich jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen, dass er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden kann und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht worden wären« (Freud, 1915b, S. 337); »ohne Zweifel gehören die Einflüsse des Krieges zu den Mächten, welche solche Rückbildungen erzeugen können« (Freud, 1915b, S. 338). So gesehen ist nicht das Gewissen, wie es die Illusion der Kultiviertheit unterstellt, sondern die soziale Angst der vorrangige Kulturmaßstab.
■ Illusion der Macht der Intelligenz Während Freud (1927c, S. 377) gerne mit der Sentenz aus »Die Zukunft einer Illusion« zitiert wird, »die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat«, ist er in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (noch) skeptischer: Schützt Intelligenz vor Regression? Nein, so Freud, ihre Macht werde überschätzt, da man ihre »Abhängigkeit vom Gefühlsleben« (Freud, 1915b, S. 339) übersehe. Dagegen könne die Psychoanalyse zeigen, »dass sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet« (Freud, 1915b, S. 339).
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■ Illusion der Reversibilität Wenn der Krieg einen Regressionsdruck erzeugt, dem die meisten Menschen erliegen, dann ist es von großer Bedeutung, ob und inwieweit sich Regressionen rückgängig machen lassen. Freud nimmt an, dass frühere und niedere Entwicklungsstufen jederzeit wiederbelebt werden können. Dagegen »kommt (es) wohl vor, dass eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann« (Freud, 1915b, S. 337). Obwohl Freud selbst damit irreversible Regressionen einräumt, behauptet er, dies sei in diesem Krieg, immerhin der grausamste aller bisherigen Kriege, nicht der Fall. Er versichert, dass »wir nicht allen jenen, die sich gegenwärtig unkulturell benehmen, die Kultureignung abzusprechen (brauchen), und dürfen erwarten, dass sich ihre Triebveredelung in ruhigeren Zeiten wiederherstellen wird« (Freud, 1915b, S. 338). Desgleichen versichert er, dass Menschen, die aufgrund eines Gefühlswiderstands intellektuell nahezu schwachsinnig geworden sind, »auch alles Verständnis wiedererlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist« (Freud, 1915b, S. 339). Demnach würde das Ausleben egoistischer und grausamer Triebbedürfnisse im Kriegszustand letztlich spurlos an den Menschen vorbeigehen. Sollte dies so sein, so ist eine Illusion am Werke, was deutlich wird, wenn Freud das Verhalten des »Urmenschen« (Freud, 1915b, S. 345) und des »Kulturmenschen« nach einem Krieg vergleicht: Der »Urmensch« geht, so Freud, nach einem Kampf auf Leben und Tod, in dem er selbst getötet hat, nicht einfach zur Tagesordnung über, sondern betreibt eine rituelle Entsühnung: »wenn er als Sieger vom Kriegspfade heimkehrt, darf er sein Dorf nicht betreten und sein Weib nicht berühren, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch oft langwierige und mühselige Bußen gesühnt hat« (Freud, 1915b, S. 349). Auf diese Weise zieht er eine Grenze, die verhindern soll, dass der Friede durch den Krieg kontaminiert wird. Freud zufolge verhält sich der »Kulturmensch« anders: »Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine Entscheidung gefunden hat, wird jeder der siegreichen Kämpfer froh in sein Heim zurückkehren, zu seinem Weibe und Kindern, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde, die er im Nahkampf oder
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durch fernwirkende Waffen getötet hat« (Freud, 1915b, S. 349). Dass Freud dieses Verhalten, das er antizipiert, nicht billigt, belegt seine Bemerkung, dass der »Urmensch« mit seiner rituellen Entsühnung eine »ethische Feinfühligkeit« (Freud, 1915b, S. 349) beweise, die der »Kulturmensch« verloren habe. Freud kritisiert damit die Illusion der Reversibilität, da die Erfahrungen des Krieges tatsächlich nicht so einfach zu löschen sind, wie sie es glauben machen will. Sein Vergleich mit dem »Urmenschen« ist bezogen auf ein künftiges Ende des Ersten Weltkriegs ein Plädoyer für Entsühnung, was gleichzeitig als Warnung gelesen werden kann, dass der Krieg die Menschen psychisch verändert haben wird. In der Tat belegen Untersuchungen über kriegsbedingte psychotraumatische Belastungsstörungen, wie nachhaltig geschädigt selbst viele der vermeintlichen Sieger sind. Umso mehr die Verlierer. Insofern ist die Zeit nach einem Krieg eine Zeit, in der »Nachkrieg« (Naumann, 2001) herrscht. Noch gut in Erinnerung sind die aus den Dschungelkämpfen heimkehrenden Vietnamsoldaten, unfähig, sich in das zivile Leben zu integrieren und jederzeit getrieben, Amok zu laufen (vgl. auch Horn, 1981). Auch nach dem Ersten Weltkrieg sind die Krieg führenden Nationen von unzähligen Kriegsversehrten bevölkert. Hunderttausende traumatisierter Männer machen schon damals die Gesellschaft zu einer »vaterlosen Gesellschaft«, wie sie zuerst 1919 von Paul Federn – mit Blick auf die Russische Revolution idealisierend – und nach dem Zweiten Weltkrieg – kritisch – von Alexander Mitscherlich (1963) beschrieben worden ist (vgl. auch Brumlik, 2006, S. 61 ff.).
■ Nur Tote sind unsterblich Auf drei weitere Illusionen kommt Freud zu sprechen, wenn er die »kulturell-konventionelle« (Freud, 1915b, S. 542) Einstellung kritisiert, die der »Kulturmensch« – im Unterschied zum »Urmenschen« – gegenüber dem Tod hat. Diese Illusionen unterscheiden sich danach, ob es um den eigenen Tod geht oder um den Tod nahe stehender, geliebter Personen oder um den Tod fremder Personen, die vielleicht sogar zu den Feinden gehören. Es sind –
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wiederum in meiner Benennung – die Illusionen der »eigenen Unsterblichkeit«, der »ambivalenzfreien Nächstenliebe« und der »erwartungssicher befolgten, weil bedürfnisgerechten Gebote«.
■ Illusion der eigenen Unsterblichkeit Was den eigenen Tod betrifft, so besänftigt der »Kulturmensch« seine Todesangst, indem er sich für unsterblich hält, zumindest solange, bis er – wie eine umgangssprachliche Redewendung hellsichtig betont – »dran glauben muss«, mithin glauben muss, dass auch sein Leben nicht ewig währt. Die Illusion der eigenen Unsterblichkeit ist ein wesentlicher Bestandteil von Religionen. In seinem Vortrag vor seinen Logenbrüdern macht Freud dazu ein paar Ausführungen über die Bedeutung dieser Illusion für die jüdische Kultur. Gerade bei Juden sei sie besonders ausgeprägt: »Handelte es sich gar um einen von uns, einen Juden, dann müsste man auf die Idee kommen, dass ein Jude überhaupt nie auf natürliche Weise stirbt. Zum mindesten hat ihn ein Doktor verdorben; sonst lebte er wohl heute noch. Er wird zwar zugeben, dass man endlich sterben muss, aber wir verstehen es, dieses Endlich in unabsehbare Ferne hinauszurücken. Wenn man den Juden fragt, wie alt er ist, so antwortet er gerne: Sechzig (etwa) bis einhundertundzwanzig« (Freud, 1991, S. 41 f.). So Freud, der damals fast 60 ist! Die Illusion der eigenen Unsterblichkeit bestehe im Judentum aber nur innerweltlich. Das sei ein Grund, warum es nicht ebenso verbreitet sei wie das Christentum. Denn das Christentum habe in einer Steigerung der Illusion innerweltlicher Unsterblichkeit die Vorstellung eines außerweltlichen ewigen Lebens erfunden, die das Judentum den Menschen vorenthalte, weshalb es dem Realitätsprinzip näher stehe, damit aber auch weniger attraktiv sei. »Es ist sehr merkwürdig, dass unsere heiligen Schriften diesem Bedürfnis des Menschen nach einer Fortexistenz keine Rechnung getragen haben. Es heißt im Gegenteil einmal: ›Nur die Lebenden loben Gott‹« (Freud, 1991, S. 46).
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■ Illusion ambivalenzfreier Nächstenliebe Was den Tod nahe stehender, geliebter Personen betrifft, so glaubt der »Kulturmensch«, sie frei von Ambivalenz zu lieben. Diese Illusion überspielt, dass derselbe oder dieselbe Nächste nicht nur geliebt, sondern in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen immer auch gehasst wird. Als Belege lassen sich Beobachtungen von Freud selbst anführen. So erzählt er in einer Neuauflage seiner »Traumdeutung« einen Traum, in dem er während des Ersten Weltkriegs träumt, dass sein Sohn Martin an der Front »verwundet oder gefallen« ist; seine Analyse dieses Traumes lässt Freud dann »die verdeckte Regung finden, die sich an dem gefürchteten Unfall des Sohnes befriedigen könnte. Es ist der Neid gegen die Jugend, den der gealterte im Leben gründlich erstickt zu haben glaubt, und es ist unverkennbar, dass gerade die Stärke der schmerzlichen Ergriffenheit, wenn ein solches Unglück sich wirklich ereignete, zu ihrer Linderung eine solche verdrängte Wunscherfüllung aufspürt« (Freud, 1900a, S. 556). Ein weiterer Beleg ist Ernst, Freuds Enkel, jener kleine Junge, an dem Freud bereits das berühmte Garnrollenspiel beobachtet hatte, mit dem er die Trennung von seiner Mutter bewältigte: Dieses Kind pflegte während des Ersten Weltkriegs »Spielzeug, über das es sich geärgert hatte, auf den Boden zu werfen und dabei zu sagen: ›Geh’ in Krieg!‹ Man hatte ihm nämlich damals erzählt, der abwesende Vater befinde sich im Krieg, und es vermisste den Vater gar nicht, sondern gab die deutlichsten Anzeichen von sich, dass es im Alleinbesitz der Mutter nicht gestört werden wollte« (Freud, 1920g, S. 11).
■ Illusion erwartungssicher befolgter, weil bedürfnisgerechter Gebote Was schließlich den Tod fremder Personen betrifft, die vielleicht sogar Feinde sind, so glaubt der »Kulturmensch«, dass die Gebote erwartungssicher befolgt werden, weil sie bedürfnisgerecht sind. Diese Illusion überspielt, dass das Gebot »Du sollst nicht töten!« (Freud, 1915b, S. 349) auf keiner natürlichen Tötungshemmung beruht, sondern der Tatsache Rechnung trägt, dass der »Kultur-
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mensch« gattungsgeschichtlich von einer »unendlich langen Generationsreihe von Mördern« (Freud, 1915b, S. 350) abstammt. Da Gebote eben nicht bedürfnisgerecht sind, muss ihre universale Geltung gegen die menschliche Neigung, sie nicht zu befolgen, kulturell durchgesetzt werden.
■ Freuds unscharfer Begriff der Illusion Nachdem ich in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« sechs verschiedene Illusionen herausgearbeitet und benannt habe, ist es angebracht, den Illusionsbegriff genauer zu bestimmen, den Freud gebraucht (vgl. zur Begriffs- und Problemgeschichte der Illusion: Strube, 1976; Jacobs, 2000). Freud unterscheidet Illusion von Irrtum, Selbsttäuschung und Wahnidee. Sein zentrales Bestimmungsmerkmal für eine Illusion im Unterschied zu einem Irrtum ist Wunsch erfüllendes Denken. Wenn mittelalterliche Gelehrte dachten, dass Ungeziefer aus Mist entsteht, dann irrten sie sich, da sie sich nicht wünschten so zu denken, wie sie dachten. Dagegen war es eine Illusion, dass Kolumbus dachte, er habe einen neuen Seeweg nach Indien entdeckt, da er mit dem Wunsch in See stach, einen solchen Weg zu entdecken. Selbsttäuschung und Wahnidee teilen mit der Illusion das Wunschdenken, immunisieren es aber strenger gegenüber der Realität. Eine Selbsttäuschung liegt vor, wenn der Wunsch, der das Denken antreibt, den Irrtumsvorbehalt gegenüber den Resultaten des Denkens ganz ausschaltet. Im Falle der Wahnidee schließlich werden die Wunschgedanken als unbezweifelbare äußere Realität wahrgenommen. Und wenn Freud (1927c, S. 353) schreibt: »Als Illusionen kann man die Behauptung gewisser Nationalisten bezeichnen, die Indogermanen seien die einzige kulturfähige Menschenrasse«, dann rückt er Illusion und Ideologie nahe aneinander, womit er Ideologien einen Wunsch erfüllenden Kern zuschreibt. Im Einzelnen mangelt es den verwendeten Begriffen aber an Trennschärfe, vor allem dann, wenn Freud Religionskritik übt. Dann spricht er zwar von religiösen Lehren als prototypischen Illusionen, die durch »Denkverbote« (Freud, 1933a, S. 185) ge-
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kennzeichnet sind und der »Erfüllung der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit« (Freud, 1927c, S. 352) dienen, lässt den Illusionsbegriff dabei aber mit Selbsttäuschung und Wahnidee zusammenfallen. Somit liegt eine Illusion – in der Beobachterperspektive – dann vor, wenn eine Person a. eine (nach Maßgabe geltenden Weltwissens) falsche Überzeugung für wahr hält; b. sie diese Überzeugung deshalb für wahr hält, weil sie den Wunsch hat, sie möge wahr sein; c. sie diesen Wunsch nicht aufgeben kann, weil seine Erfüllung von lebenswichtiger Bedeutung ist; und d. sie nicht weiß, dass sie nur deshalb an jener falschen Überzeugung festhält, weil sie Wunsch erfüllend ist. Wunscherfüllendes Denken beziehungsweise Wunschdenken ist eine bestimmte Art, das Denken für die Erfüllung von Wünschen einzusetzen. Denn der Erfüllung von Wünschen dient, so Freud, auch das wissenschaftliche Denken, das als höchste Form des Denkens aber nicht das Realitätsprinzip ausschaltet wie illusionäres Denken, sondern danach sucht, wie die Wünsche unter Anerkennung des Realitätsprinzips erfüllt werden können, was die Schaffung von Wunsch erfüllenden Realitäten einschließt. So ist der Glaube an die eigene Unsterblichkeit eine Illusion, das Klonieren von Menschen aber eine Form, die gewünschte Unsterblichkeit real werden zu lassen. Freud ist von einem historischen Siegeszug wissenschaftlichen Denkens überzeugt. Dementsprechend schreibt er in »Die Zukunft einer Illusion«: »Der wissenschaftliche Geist erzeugt eine bestimmte Art, wie man sich zu den Dingen in dieser Welt einstellt; vor den Dingen der Religion macht er eine Weile halt, zaudert, endlich tritt er auch hier über die Schwelle. In diesem Prozess gibt es keine Aufhaltung, je mehr Menschen die Schätze unseres Wissens zugänglich werden, desto mehr verbreitet sich der Abfall vom religiösen Glauben, zuerst nur von den veralteten, anstößigen Einkleidungen desselben, dann aber auch von seinen fundamentalen Voraussetzungen« (Freud, 1927c, S. 362). Auf den Einwand, den Oskar Pfister, der Züricher Pfarrer und
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Psychoanalytiker, zeitlebens erhoben hat, ob denn nicht auch Wissenschaft eine Illusion sei (Freud, 1963, S. 123), antwortet Freud (1927c, S. 380) entschieden: »Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, dass wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.« Mithin heißt, wissenschaftlich zu denken, sich der Wahrheit als einer regulativen Idee zu verpflichten und auf eine anderweitige Wunscherfüllung zu verzichten. Ein solcher Verzicht fällt den meisten Menschen nicht leicht, weshalb Freud in einem Brief an Marie Bonaparte schreibt: »Mittelmäßige Geister verlangen von der Wissenschaft eine Art Gewissheit, die sie nicht geben kann, eine Art religiöser Befriedigung. Nur die echten, seltenen, wirklich wissenschaftlichen Geister können den Zweifel ertragen, der allem unserem Wissen anhaftet« (Brief an Marie Bonaparte, zit. nach Jones, 1962, S. 490). 1932 schreibt Freud die »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«. Eine davon heißt: »Über eine Weltanschauung« (Freud, 1933a, S. 170 ff.) und stellt eine Fortschreibung seiner Religionskritik aus dem Jahre 1927 dar. Freud (1933a, S. 173) benennt drei Konkurrenten der Wissenschaft: die Kunst, die »fast immer wohltätig«, und die Philosophie, die der Wissenschaft »nicht gegensätzlich« sei. Die Religion sei »allein der ernsthafte Feind«, weil sie »über die stärksten Emotionen der Menschen verfügt« (Freud, 1933a, S. 173 f.). Interessant ist, dass er im Titel seiner Vorlesung nicht von Religion spricht, sondern »Weltanschauung«, einen »spezifisch deutsche[n] Begriff« (Freud, 1933a, S. 170), gebraucht. Das liegt daran, dass Freud Weltanschauungen aller Art einen religiösen Charakter zuschreibt. Jede Weltanschauung ist eine »intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der demnach keine Frage offen bleibt« (Freud, 1933a, S. 170), mithin Orientierungssicherheit bietet, indem sie alle Zweifel still stellt. Gerade dadurch unterscheidet sich Weltanschauung von Wissenschaft. Nun würde man die tatsächlichen Machtverhältnisse verkennen, wollte man behaupten, der »wissenschaftliche Geist« habe sich bereits durchgesetzt: Nein, »der Kampf des wissenschaftlichen Geistes gegen die religiöse Weltanschauung (ist) nicht zu Ende gekom-
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men, er spielt sich noch in der Gegenwart unter unseren Augen ab« (Freud, 1933a, S. 182). Was sich 1932 abspielt, ist der Aufstieg des Nationalsozialismus zu einer quasi-religiösen Weltanschauung sowie eine völkische Vereinnahmung der Wissenschaften, ähnlich der Indienstnahme der Wissenschaften für das Schüren von Hass zwischen den Nationen, wie Freud es bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges festgestellt hat. Freud ist nicht naiv. In einem Begriff wie »Wissenschaftsreligion« (Freud, 1985, S. 376), den er bereits in einem Brief des Jahres 1899 an Wilhelm Fliess gebraucht, ist die Ahnung präsent, dass auch Wissenschaft auf die Stufe der Illusionsproduktion beziehungsweise Ideologieproduktion zurückfallen kann. Wenn Freud dennoch seinem »Gott Logos« (Freud, 1927c, S. 378 f.) huldigt, dann gebraucht er den Wissenschaftsbegriff normativ: als Institution der Generierung universalen Wissens, die es gegen weltanschauliche Beschränkungen jeglicher Art zu verteidigen gilt.
■ Illusion und Lebenskunst Die Verpflichtung auf Wahrheit, die das wissenschaftliche Denken kennzeichnet, erhebt Freud auch zum obersten Prinzip seiner eigenen und der von ihm propagierten Lebenskunst. Freuds Diagnose lautet: Der »Kulturmensch« macht sich Illusionen, wo es besser wäre, die Realität anzuerkennen, zu deren Anerkennung aber auch gehört, dass es die Realität des »Kulturmenschen« ist, sich Illusionen zu machen. Gegen diesen Illusionsbedarf setzt er seine Forderung, ein illusionsloses Leben zu leben und stattdessen, so Peter Gay (1986, S. 93 ff.), die »Freuden der Wahrheit« zu genießen. Dass Wahrheit und damit Desillusionierung Freude bereitet, kann womöglich aber nur ein Stoiker sagen, der Freud – bedenkt man seinen Kampf gegen den Krebs – tatsächlich gewesen ist. So spricht er sich in dem bereits zitierten Fliess-Brief nachdrücklich dagegen aus, einem Todkranken seinen wahren Zustand vorzuenthalten und fügt hinzu: »Hoffentlich finde ich zu meiner Zeit jemanden, der mich mit mehr Achtung behandelt und es mir
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sagt, wenn ich bereit sein soll« (Freud, 1985, S. 376). Zum Zeitpunkt dieses Briefes ist Freud zweiundvierzig. Vierzig Jahre später hat der Krebs den Lebenswillen des 82-Jährigen aufgezehrt. Aus London beklagt er sich im April 1939 bei Marie Bonaparte, dass man ihn in eine »Atmosphäre des Optimismus« (E L. Freud, 1960, S. 451) einhülle und dadurch zu trösten versuche. Auf einen solchen Trost aber könne er verzichten: Er glaube nicht daran, dass seine schlechte Verfassung nur vorübergehend sei und bekundet erneut: »ich […] mag es nicht, betrogen zu werden« (Freud, 1960, S. 451). Illusionen bedienen ein Trostbedürfnis, das Freud in seiner selbstbeherrschten Haltung letztlich als Ich-Schwäche versteht – und das nicht nur für sein privates Leben. Vielmehr sieht er die gesamte Psychoanalyse diesbezüglich in der Pflicht. So heißt es auf den letzten Seiten seiner wohl bekanntesten kulturtheoretischen Schrift, »Das Unbehagen in der Kultur«, dass er alle diejenigen enttäuschen müsse, die von der Psychoanalyse erwarten, Trost zu finden: »ich beuge mich ihrem Vorwurf, dass ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen« (Freud, 1930a, S. 506). Statt Trost biete die Psychoanalyse Wahrheit beziehungsweise treffender: ein aufrichtiges Streben nach Wahrheit, weil sie – vor aller Therapeutik – Wissenschaft und damit einem Ethos des Zweifels als Beweggrund der Wahrheitssuche verpflichtet ist. Anders gewendet: Freud bietet Wahrheit als Trost, so wie er in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« behauptet, es spende »Trost«, anzuerkennen, dass der »Kulturmensch« noch längst nicht so kultiviert sei wie es die Illusion seiner Kultiviertheit glauben mache. Ob und wie weit taugt Desillusionierung aber tatsächlich als Trost spendendes Therapeutikum? Für die therapeutische Psychoanalyse ist das eine wichtige behandlungstechnische und behandlungsethische Frage danach, wie rigoros sie mit ihrem Grundsatz, Unbewusstes bewusst zu machen, umgeht. Gibt es Grenzen der Aufklärung? Gibt es Wahrheiten, die Menschen nicht zumutbar sind? Unter welchen Bedingungen ist es angebracht, aufdeckend und damit desillusionierend zu arbeiten, wann dagegen stützend und damit Illusionen schonend?
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In »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« gibt Freud einen Hinweis, wenn er schreibt: »Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste Pflicht aller Lebenden. Die Illusion wird wertlos, wenn sie uns darin stört.« Damit deutet er eine differenzierte Sicht auf Illusionen an: Sie sind, so ließe sich mit einer Formulierung von Hans Thomae (2001, S. 224) sagen, »Instrumente alltäglicher Lebensführung«, die darin ihren Wert haben, dass sie das Leben erträglich(er) machen, diesen Wert aber verlieren, wenn sie das Leben dadurch weniger erträglich oder gar unerträglich machen, dass an ihnen festgehalten wird. So gesehen ist Desillusionierung nur insoweit angebracht, wie sie leistungsfähigere Instrumente der Lebensführung anzubieten hat. Dabei erweist sich die Erträglichkeit des Lebens freilich als ein normatives Kriterium, in das Vorstellungen eines guten Lebens eingehen, die historisch-kulturellgesellschaftlich unterschiedlich sein können. Freud setzt auf Desillusionierung und er tut dies in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« vor allem am Beispiel der Illusion der eigenen Unsterblichkeit, deren Wert darin liegt, Todesangst zu besänftigen. Denn diese Illusion trägt zum Krieg bei. Sie liegt dem »Heldentum« (Freud, 1915b, S. 350 f.) zugrunde: Dessen rationale Begründung, so Freud, »ruht auf dem Urteile, dass das eigene Leben nicht so wertvoll sein kann wie gewisse abstrakte und allgemeine Güter« (Freud, 1933a, S. 350). Eine solche Motivierung schützt seiner Auffassung nach aber nicht hinreichend vor Todesangst. Diesen Schutz bietet weit mehr »das instinktive und impulsive Heldentum« (Freud, 1915b, S. 351). Denn dieses »[trotzt] den Gefahren« für Leib und Leben, indem es sich, wie Freud mit Verweis auf eine damals bekannte österreichische Volksdichtung formuliert, an die »Zusicherung des Anzengruberschen Steineklopferhannes« hält: »Es kann dir nix g´scheh´n« (Freud, 1915b, S. 351). Deshalb gehört es denn auch bis auf den heutigen Tag zum Standardrepertoire aller Kriegstreiber, denen, die ihr Leben geben sollen, Unsterblichkeit – in welcher Form auch immer – zu versprechen. Dagegen bekennt sich Freud im letzten Satz seines Aufsatzes zu einem philosophischen Diktum, mit dem er fordert, auf die Illusion der eigenen Unsterblichkeit zu verzichten: »Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein« (Freud, 1915b,
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S. 355). Oder umformuliert: Lebe im Bewusstsein, dass Du sterblich bist. Um dieses Diktum besser zu verstehen, lässt sich ein anderer kleiner Text von Freud heranziehen: »Über Vergänglichkeit« aus dem Jahre 1916. Dort entwickelt Freud den Gedanken, dass die Vergänglichkeit der Dinge die Dinge nicht entwertet, sondern sie kostbar und, so lässt sich ergänzen, wert macht, sie zu schützen und zu erhalten. Das gilt auch für das eigene Leben. Sich dessen Vergänglichkeit bewusst zu machen, lässt es so kostbar erscheinen, dass die Angst steigt, es zu riskieren. Lassen wir dahingestellt sein, wie weit diese Angst zu einem friedfertigen Zusammenleben beiträgt. Freud thematisiert die Illusion der eigenen Unsterblichkeit aber nicht nur negativ. Er sieht auch, welche individuellen und soziokulturellen Konsequenzen es hat, wenn die Todesangst überhand nimmt, weil die Illusion sie nicht ausreichend besänftigt. Sie lähmt den Erfindergeist durch ein Übermaß an Sicherheitsdenken: »Wir getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Betracht zu ziehen, die eigentlich unerlässlich sind, wie Flugversuche, Entdeckungsreisen in ferne Länder, Experimente mit explodierenden Substanzen. Uns lähmt dabei das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn ein Unglück geschieht, und doch sind alle diese Unternehmungen notwendig« (Freud, 1915b, S. 343). In letzter Konsequenz »verarmt« das Leben, »wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf« (Freud, 1915b, S. 343). In der Gesamtbetrachtung löst sich damit die rigorose Gegenüberstellung von illusionärer und desillusionierter Lebensführung auf. Es kommt darauf an, welchen Gebrauch der »Kulturmensch« von Illusionen macht. Damit sind Illusionen das Resultat einer Fähigkeit der Illusionsbildung, die durch eine komplementäre Fähigkeit der Desillusionierung an die Realität angepasst werden können.
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■ Illusionsbildung in der Perspektive von Donald W. Winnicott Um ein solches Illusionskonzept zu elaborieren, kommt man mit Winnicott (1973) weiter als mit Freud. Während Freud seine negative Einstellung gegen Illusionsbildung nie ganz abgelegt hat, ist es Winnicott, der sich in der Psychoanalyse dezidiert für eine positive(re) Einstellung stark macht, indem er die Illusionsbildung dem Homo ludens zurechnet: dem spielenden Menschen, der mit der Realität sein Spiel treibt (illudere). Winnicott verankert sein Illusionskonzept entwicklungstheoretisch: Eine Mutter (bzw. eine bemutternde Person) hat die Aufgabe, für eine »hinreichend gute« Passung zwischen den Bedürfnissen ihres Säuglings und der Befriedigung dieser Bedürfnisse zu sorgen. Gelingt ihr dies, erlebt der Säugling, dass er in eine Welt hineingeboren worden ist, die seinen Bedürfnissen entgegenkommt. Das vermittelt ihm »Urvertrauen« (Erikson, 1966, 62 ff.) sowie die Überzeugung eigener Wirksamkeit, die ihm zunächst omnipotent erscheint, weil er die Realität verkennt, von der Bedürfnisbefriedigung durch die Mutter existenziell abhängig zu sein. Indem die Mutter die inneren und äußeren Anforderungen, die ihr Kind bedrängen, soweit moderiert, dass sie seine reifenden Fähigkeiten, Bedürfnisbefriedigungen aufzuschieben, weder unter- noch überfordern, sondern herausfordern, differenziert sie seinen Realitätssinn. Es entstehen drei Bereiche: eine innere Realität der Bedürfnisse, eine äußere Realität der Befriedigungsangebote sowie ein intermediärer Bereich, der als »Übergangsraum« zwischen Innenwelt und Außenwelt fungiert. Dieser intermediäre Realitätsbereich ist das Feld der Illusionen. Während Freud Illusionen immer schon als falsche Überzeugungen thematisiert, die geglaubt werden, obwohl oder besser noch: weil sie falsch, aber Wunsch erfüllend sind, schreibt ihnen Winnicott ein anderes Verhältnis zur Wahrheit zu. Unterscheidet man verschiedene Wahrheitsstufen, dann unterstellen Illusionen, dass es in der Außenwelt eine Möglichkeit gibt, wie bestimmte Bedürfnisse befriedigt beziehungsweise besser als durch die bestehenden Befriedigungsangebote befriedigt werden können. Das Mögliche ist weder wahrscheinlich noch sicher, aber eben auch nicht un-
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möglich und insofern nicht falsch. Mehr noch aber als ihr Verhältnis zur Wahrheit zeichnen sich Illusionen durch ihr Verhältnis zur Realitätsprüfung aus: Sie suspendieren die Prüfung. Wer sich eine Illusion macht, begnügt sich mit dem Wissen um die Möglichkeit, dass seine Überzeugung wahr sein könnte, ohne danach zu fragen, ob und inwieweit sie tatsächlich wahr ist. Er begnügt sich damit – bis auf Weiteres. Denn Illusionen implizieren keine Unfähigkeit, diese Frage zu stellen, und auch nicht eine grundsätzlich fehlende Bereitschaft dazu. Sie schieben die Realitätsprüfung lediglich auf. Wer sie aufschiebt, tut dies aus dem Wunsch heraus, seine Urteilsund Handlungsfähigkeit zu erhalten, die er zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht anders zu erhalten weiß. Damit dieser Wunsch erfüllt wird, müssen die Illusionen, die er sich macht, vor allem geeignet sein, Gefühle zu besänftigen, welche die Urteils- und Handlungsfähigkeit lähmen. In diesem Sinne können Illusionen etwa Trost spenden oder das Selbstwertgefühl stärken und auf diese Weise – zugespitzt formuliert – einen Beitrag zur Lebensfreude leisten. Somit ergibt sich eine Bestimmung, die Illusionen trennscharf von Selbsttäuschungen absetzt. Eine Illusion liegt dann vor, wenn eine Person a. die Realitätsprüfung für eine Überzeugung, die (nach Maßgabe geltenden Weltwissens) möglicherweise wahr ist, aufschiebt; b. sie diesen Aufschub betreibt, weil sie den Wunsch hat, ihre Urteils- und Handlungsfähigkeit durch eine Besänftigung lähmender Gefühle zu erhalten; c. sie diesen Wunsch nicht aufgibt, weil seine Erfüllung von lebenswichtiger Bedeutung ist; d. sie zumindest vorbewusst weiß, dass sie nur deshalb die Realitätsprüfung dieser Überzeugung aufschiebt, weil sie Wunsch erfüllend ist; e. sie diesen Aufschub nur solange praktiziert, wie er hilft, ihre Urteils- und Handlungsfähigkeit zu erhalten, andernfalls aber zu einer Realitätsprüfung zurückkehrt, der es um eine realitätsgerechtere Überzeugung geht. Auf diesem Hintergrund lässt sich eine ganze Reihe von Phänomenen anführen, die in der akademischen Psychologie untersucht
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worden sind und gemäß der formulierten Bestimmung als Illusionen gelten dürfen. Ich gebe einen kurzen Überblick, der über den Gebrauch von Illusionen informiert:
■ Illusionen gebrauchen Es liegen Untersuchungen vor, die für eine Illusion der Kontrolle (Langer, 1975) sprechen. Der Wunsch, die Kontrolle über kritische Situationen zu haben, kann dazu führen, deren faktische Kontrollierbarkeit zu überschätzen. Menschen, die dies tun, verhalten sich in diesen Situationen aktiver und kreativer als Menschen, die glauben, über keine Kontrolle zu verfügen (Moghaddam u. Studer, 1998). Dieser Wunsch kann so stark sein, dass Menschen, die nach einem Autounfall, den sie nachweislich nicht verschuldet haben, querschnittgelähmt sind, darauf bestehen, den Unfall verschuldet zu haben (Wortman, 1976). Ähnliche Selbstbeschuldigungen finden sich bei Opfern von Gewalt und Vergewaltigung (Miller u. Porter, 1983). Indem sie sich selbst beschuldigen, halten sie an der Illusion der Kontrolle fest, mit der sie die Angst abwehren, blindem Zufall ausgeliefert zu sein. Denn ein Opfer, das an Zufall glaubt, kann jederzeit wieder Opfer werden. Glaubt es dagegen, selbst schuld gewesen zu sein, glaubt es auch, sich auf künftige kritische Situationen besser vorbereiten zu können. Zu den Kontrollillusionen gehört ebenfalls der Glaube an eine gerechte Welt (Lerner, 1980). Er schließt die Illusion ein, dass guten Menschen Gutes und schlechten Menschen Schlechtes widerfährt, weshalb man Schlechtem entgehen kann, indem man gut ist – was immer »gut« und »schlecht« in einem bestimmten sozialen Kontext heißt. Nun widerfährt in der Realität aber auch guten Menschen Schlechtes, wobei Menschen meist diejenigen für gut halten, die ihnen ähnlich sind, weil sie sich selbst in der Regel für gut halten. Widerfährt einem solchen Menschen etwas Schlechtes, zeigt sich, dass die Überzeugung eine Illusion ist, die streng genommen einer Korrektur bedarf, um der Realität zu entsprechen. Viele Menschen wählen aber einen anderen Weg: Sie stabilisieren ihre Illusion durch ein »Blaming the victim« (Ryan, 1971). Sie glauben,
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dass sie sich in dem Opfer getäuscht haben: Es gehört gar nicht zu den guten Menschen und hat deshalb sein Schicksal verdient. Da sie selbst nicht Opfer geworden sind, müssen sie gute Menschen sein und haben es folglich ihrerseits verdient, dass ihnen erspart geblieben ist, Opfer zu werden. Und dass sie dem Opfer ähnlich seien, beruht – so gesehen – auf einem Irrtum. Alle Menschen, die traumatische Erlebnisse hatten, sind in ihrer Illusion eigener Unverletzbarkeit – eine schwächere Variante der Unsterblichkeitsillusion – erschüttert. Besonders traumatogen wirken Verlusterlebnisse, die zu den häufigsten Auslösern von Depressionen gehören. Vergleicht man depressive mit nicht-depressiven Personen, so läßt sich – zumindest unter bestimmten Bedingungen (vgl. Kapci u. Cramer, 1999) – ein »depressiver Realismus« (Alloy u. Abramson, 1988) feststellen. Demzufolge nehmen depressive Personen ihre Mit- und Umwelt sehr viel realistischer wahr als nicht-depressive Personen. Dieser Befund stützt die starke These, dass psychisches Wohlbefinden auf »positiven Illusionen« (Taylor, 1989) beruht, die negative Gefühle abschwächen (Taylor et al., 1993). So gesehen hängt die Bewältigung einer Depression davon ab, ob und wie weit es der Person gelingt, ihre erschütterten Illusionen wieder herzustellen. Jedoch haben Illusionen in diesem Zusammenhang nicht nur positive Auswirkungen. Gehen sie in einen »unrealistischen Optimismus« (Taylor u. Brown, 1988) über, kümmern sich die betreffenden Personen nicht mehr um ihr psychisches Wohlbefinden, weil sie sich für unverletzbar halten, und riskieren gerade dadurch ihre Gesundheit. Während Illusionen mit einer realistischen Vorsicht vereinbar sind, lassen sie Personen unvorsichtig oder gar kontraphobisch werden, je mehr sie sich Selbsttäuschungen nähern. Die Erschütterung einer Selbsttäuschung dürfte dann auch sehr viel traumatischer wirken als die Erschütterung einer Illusion. Illusionen greifen in die Gestaltung von Beziehungen ein: So wird gerne die Homogenität der Mitglieder der Gruppe, zu der man selbst gehört, im Vergleich mit den Mitgliedern von Fremdgruppen überschätzt. Aufgrund dieser Homogenitätsillusion glaubt man zu wissen, was von seinesgleichen zu erwarten ist. Da die Illusion allerdings eine scharfe Grenze zu den Mitgliedern von Fremdgruppen zieht, kann man sich dann auch nur schwer
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vorstellen, dass diese Personen einem ähnlich sind, was deren – feindselige – Ausgrenzung begünstigt (Tajfel, 1982). Geschwister geistig behinderter Kinder tendieren dazu, deren Fähigkeiten höher einzuschätzen, als dies dem Expertenurteil entspricht! Das heißt, sie nehmen ihre Brüder und Schwestern als weniger behindert und damit ihnen selbst als ähnlicher wahr, als diese es tatsächlich sind. Geschwister, die sich eine solche Illusion machen, haben im Vergleich die besseren geschwisterlichen Beziehungen (Hackenberg, 1982). Kehren wir schließlich noch einmal zu der frühen Mutter-KindInteraktion zurück. Indem Mütter mit ihrem Säugling sprechen, der doch noch gar nicht sprechen kann, etablieren sie auf dem Hintergrund leiblicher Interaktionen die Illusion einer Sprachfähigkeit, die für die Sprachentwicklung ihres Kindes konstitutiv ist (Snow, 1977) Mit Hilfe der Illusion greifen sie auf eine Zukunft voraus, in der sich die Möglichkeit des Säuglings, sprechen zu lernen, realisiert. Mütter, die im Bewusstsein der Sprachlosigkeit ihres Säuglings stumm bleiben, behindern seine Sprachentwicklung. Diese bunte Reihe von Illusionen ließe sich fortsetzen. Und auch die Illusionen, die Freud in seinen Texten rekonstruiert und kritisiert, gehören dazu. So muss die »Illusion der Kultiviertheit« nicht notwendigerweise eine Selbsttäuschung sein, sondern kann als Vorgriff auf eine Realität fungieren, deren Realisierung weiterer kollektiver Lernprozesse bedarf, die von der »Illusion der Reversibilität« unterstützt werden können, da diese die Möglichkeit eines Neuanfangs unterstellt. Gleiches gilt für die »Illusion erwartungssicher befolgter, weil bedürfnisgerechter Gebote«. Nur dann, wenn die Gesellschaftsmitglieder daran glauben, dass sie untereinander das Gebot »Du sollst nicht töten!« hinreichend befolgen, geben sie ihr wechselseitiges Misstrauen auf, das die Entwicklung eines prosperierenden Gemeinwesens verhindert. Dazu trägt auch die »Illusion ambivalenzfreier Nächstenliebe« bei. Indem sie die Liebe der nächsten Mitmenschen über deren möglichen Hass stellt, ermöglicht sie es, sich ihnen anzuvertrauen. Und wie schon gesagt: Freud selbst hat der »Illusion der Macht der Intelligenz« und des »wissenschaftlichen Geistes« nicht gänzlich abgeschworen, wenn er auf die leise Stimme der Intelligenz setzt, ohne darauf zu wetten, dass sie die Gattung vor dem Untergang rettet. Schließlich bedarf
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es für den Mut, sich in riskante Situationen zu begeben, der »Illusion der Unsterblichkeit« oder »Unverletzbarkeit«, die Gefahren für Leib und Leben als Herausforderungen erscheinen lässt, die bewältigt werden können.
■ Sich Illusionen machen können, ohne sich ihnen hinzugeben Widerspricht die Existenz von Illusionen einer »rationalen Lebensführung« (Seel, 1996)? Ich denke: Nein! Denn es gibt gute Gründe für eine Illusionsbildung. Deren bester ist die Erhaltung der eigenen Urteils- und Handlungsfähigkeit unter Bedingungen, die dazu geeignet sind, die eigene Urteils- und Handlungsfähigkeit durch unerträgliche Gefühle zu lähmen. Allerdings gibt es ein »optimales Ausmaß an Illusion« (Baumeister, 1989), das eine Realitätsprüfung nicht verhindert. Folglich lassen sich funktionale Wirklichkeitskonstruktionen als Zyklen von Illusionsbildung, Desillusionierung und erneuter, gegebenenfalls realistischerer Illusionsbildung begreifen. Pointiert gesagt, ist die Freiheit von Illusionen selbst eine Illusion, die wir gerne vor zuviel Realität schützen, indem uns immer nur die Wirklichkeitskonstruktionen der anderen als illusionär erscheinen. Aber mehr noch: Ohne Illusionen keine Lebensfreude! Indem ich das behaupte, bin ich mir der Provokation bewusst, die eine solche Behauptung bedeutet. Denn sie kann schnell als Verabschiedung des Programms der Aufklärung verstanden werden, besonders dann, wenn man an kollektive Illusionsbildungen denkt und sie mit Menschen verachtenden Ideologien kurz schließt. Aus dieser Warte erscheint es ethisch nicht legitimierbar, Illusionen rehabilitieren zu wollen, da dies die Gefahr eines »glücklichen Bewusstseins« (Marcuse) heraufbeschwöre, das sogar die Verhöhnung von Opfern gesellschaftlicher Gewalt hinnimmt, um sich nicht in seinem wohlfeilen Seelenfrieden stören zu lassen. Damit wird aber Illusionsbildung mit Verleugnung und Verdrängung gleichgesetzt. Zwar dienen auch Illusionen der psychischen Entlastung, sie sind aber nicht grundsätzlich realitätsblind. Insofern
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anerkennt, wer sich Illusionen macht, dennoch uneingeschränkt, dass es »Fälle« gibt, wo – um mit Baron Eduard aus den »Wahlverwandtschaften« von Goethe (1965, S. 664) zu sprechen – »jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist«. Illusionsbildung ist Teil der Kunst, ein Leben im Bewusstsein dieser Pflicht zu leben, ohne sich dadurch das Recht auf ein gutes Leben nehmen zu lassen. Von Winnicott her gedacht und mit Begriffen der Bindungstheorie formuliert, setzt die Fähigkeit, Illusionen zu bilden, voraus, sicher gebunden zu sein. Diese Sicherheit ist ein wirksames Antidepressivum: Sie erlaubt es, Realität auch dann anzuerkennen, wenn sie zutiefst erschreckt, weil ihre Anerkennung nicht die ganze innere Welt zum Einsturz bringt. Wem dagegen eine Re-Vitalisierung durch Vergegenwärtigung haltender Beziehungen aufgrund unbewältigter lebensgeschichtlicher Traumata verwehrt ist, muss Zuflucht bei einer zwanghaften Wachheit suchen, die vor einer Re-Traumatisierung schützen soll, gerade dadurch aber die vitalen Ressourcen erschöpft. Angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Realität, in der nach wie vor der Mensch des Menschen Feind ist, verbietet sich eine Lebenskunst, die auf deren totale Affirmation setzt. Gleiches gilt aber auch für deren totale Negation. Denn Totalisierung impliziert stets die Reduktion auf ein einziges Prinzip. Freuds Definition zufolge ist mit einer solchen Reduktion aber der Tatbestand erfüllt, sein Leben einer »Weltanschauung« unterzuordnen, um Trost zu finden. Denn auch die totale Negation ist ein Tröstungsversuch, weil es sehr viel schwerer fällt, ohne eine eindeutige Orientierung zurechtzukommen, durch die alle Wechselfälle des Lebens bereits vorentschieden sind. Eine Lebenskunst, die auf der Höhe dieses Problembewusstseins ist, wird Theodor W. Adornos berühmtester Sentenz aus seiner »Minima Moralia« (1951, S. 42) glauben, dass »es kein richtiges Leben im falschen gibt« und dennoch gleichzeitig auch daran glauben, dass einzelne Momente in diesem Großen-Ganzen ein – illusionärer – Vorgriff auf das richtige Leben sind, weil das Große-Ganze eben nicht alles ist. »Ist der Satz, es gebe kein richtiges Leben im falschen, ein richtiger oder ein falscher Satz?«, fragt Jochen Hörisch (2003, S. 16) und antwortet in meinem Sinne: »Wenn es möglich sein sollte, im falschen Leben richtige Sätze (und seien
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es auch nur Sätze über das falsche Leben) zu bilden, so kann das falsche Leben nicht nur falsch sein.«
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■ Christa Rohde-Dachser
Sprachen des Unbewussten
Das menschliche Seelenleben ist zum großen Teil unbewusst – mit diesem Satz ist gleichzeitig die Kernaussage der Psychoanalyse formuliert. Der größte Teil des Seelenlebens entzieht sich unserem Bewusstsein und damit auch dem Einfluss der Vernunft. Damit ist, so Freud, dem Menschen nach den Entdeckungen von Kopernikus und Darwin eine weitere Kränkung zugefügt. Er muss erkennen, dass er »nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht« (Freud, 1916–17, S. 295). Die Psychoanalyse sah deshalb von Anfang an eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin, Methoden zu entwickeln, die einen Zugang zu diesem Teil unseres Seelenlebens ermöglichen. »Wo Es war, soll Ich werden«, war der berühmte Satz, mit dem Freud diese wissenschaftliche Zielsetzung der Psychoanalyse umschrieb (1933, S. 86). In seiner Arbeit »Das Ich und das Es« (1923) hat er dem Unbewussten einen festen Platz im Seelenleben des Menschen zugewiesen. Ich möchte im Folgenden zeigen, wie Freud das Unbewusste dort beschreibt und wie sich das Konzept seither erweitert und verändert hat. Von daher stammt auch der Titel dieser Arbeit, nämlich »Sprachen des Unbewussten«. Denn die Psychoanalyse hat seit Freuds Zeiten eine enorme Weiterentwicklung genommen. Der von Freud entwickelten Trieb- und Konfliktpsychologie sind die psychoanalytische Ichpsychologie, die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie und die psychoanalytische Selbstpsychologie an die Seite getreten. In den letzten Jahrzehnten hat die Psychoanalyse auch von der empirischen Säuglingsforschung, der Neurowissenschaft und der Kognitionspsychologie entscheidende Anregungen erhalten (vgl. dazu
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Stern, 1985; Dornes, 1992; Fonagy et al., 2002; Solms u. Turnbull, 2004). Diese Entwicklungen sind auch am Konzept des Unbewussten nicht spurlos vorbei gegangen. Wir haben es statt dessen heute mit einer Reihe von Theorien zu tun, die teilweise stark voneinander abweichen und Wallerstein bereits 1988 zu der Frage veranlasste, was es denn sei, was die Psychoanalyse heute theoretisch überhaupt noch zusammenhalte (Wallerstein, 1988). Dies gilt auch für die Konzepte des Unbewussten, die die Psychoanalyse seit Freud entwickelt hat. Vielleicht bedarf es aber auch mehrerer theoretischer Sprachen, um diesen Bereich des Psychischen, der sich grundsätzlich der Beobachtung entzieht und deshalb immer nur indirekt erschlossen werden kann, einer einseitigen wissenschaftlichen Festlegung zu entziehen. Bion (1965/1997) spricht im gleichen Zusammenhang von theoretischen Umsetzungen, in denen jeweils unterschiedliche Segmente der gleichen Grunderfahrung hervorgehoben werden, vergleichbar einer Situation, in der ein impressionistischer, ein expressionistischer, ein abstrakter Maler und so weiter die gleiche Landschaft malen (zitiert nach Weiß, 2000, S. 44 f.; vgl. dazu auch Buchholz u. Gödde, 2005). Es dauert dann vielleicht einige Zeit, bis der Betrachter merkt, dass alle Maler dieselbe Landschaft im Blick hatten, und sich wundert, wie viele unterschiedliche Stilrichtungen es gibt. Auch Solms (2000) spricht vom Wechsel der Beobachterperspektive, der einen jeweils unterschiedlichen Blick auf den gleichen wissenschaftlichen Gegenstand ermöglicht und so unser Wissen weiter voran zu treiben vermag (S. 771 ff.). Der psychoanalytische Blick auf das Unbewusste kann dann gerade in seiner Heterogenität als ein fortgesetzter Versuch verstanden werden, dieses flüchtigen Gegenstandes habhaft zu werden. Ich werde im Folgenden unter diesem Gesichtspunkt vier Konzepte des Unbewussten betrachten, die gegenwärtig den psychoanalytischen Diskurs bestimmen, nämlich: − das Konzept des Unbewussten bei Sigmund Freud, wie er es insbesondere in seiner Arbeit »Das Ich und das Es« (1923) formuliert hat; − das Konzept des Unbewussten bei Melanie Klein; − das Konzept des Unbewussten bei Wilfred R. Bion und − das Konzept des Unbewussten in der relationalen Theorie der Psychoanalyse.
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Ich möchte sehen, was diese Theorien über das Unbewusste zu sagen haben, welche jeweils spezifischen Erkenntnisse daraus gewonnen werden können und wie sie sich aufeinander beziehen lassen. Sie alle beschreiben darüber hinaus einen Bereich, der mit dem herkömmlichen Wahrnehmungsinstrumentarium nicht erfassbar ist. Das Unbewusste, so Freud, »ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (Freud, 1900, S. 617 f.). Mit dieser Aussage verankert Freud die Psychoanalyse innerhalb der Philosophie Kants, nach dessen Anschauungslehre die Realität immer nur indirekt erfahrbar ist, und zwar in der Form, in der sie dem Bewusstsein durch die Vermittlung des Wahrnehmungsapparates dargestellt wird. Diese Wahrnehmung ist aber nicht mit der Realität identisch, und »so braucht [auch] das Psychische nicht in Wirklichkeit so zu sein, wie es uns erscheint« (Freud, 1915b, S. 270). Die Psychoanalyse könne dem vermuteten realen Sachverhalt mit Hilfe ihrer Methode vielleicht ein Stück weit näher kommen, aber das Endergebnis werde immer das Gleiche sein: »Das Reale wird immer ›unerkennbar‹ bleiben« (Freud, 1940, S. 126 f.). Wir treffen bei der Untersuchung des Unbewussten also auf einen »unassimilierbaren Rest« (Freud, 1895/1950, S. 457), der jenseits unserer Erfahrung liegt, der das »ganz Andere« verkörpert, das Unfassbare, Transzendentale, Heilige. Bei der folgenden Darstellung der psychoanalytischen Theorien über das Unbewusste werde ich auch darauf achten, wie dieser unaussprechliche, nicht assimilierbare Rest darin eingewoben ist, gleich, ob ausdrücklich expliziert oder nicht. Meine These, die ich an dieser Stelle vorausschicken will, lautet, dass alle vier Theorien sich auf die unbewusste Suche nach einem Objekt zurückführen lassen, das Bollas (1987/1997) auch als »Objekt der Verwandlung« beschrieben hat. Nach dieser Vorbemerkung möchte ich mit der Darstellung des Freud’schen Konzepts des Unbewussten beginnen.
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■ Das Konzept des Unbewussten bei Sigmund Freud Im Zentrum des Freud’schen Unbewussten stehen unbewusste Triebwünsche, die nach Realisierung drängen. Die Energie, die ihnen dafür zur Verfügung steht, nennt Freud »Libido«. Die Triebe sind im Körperlichen verankert und entziehen sich insofern unserer Erkenntnis. Psychoanalytisch erschließbar werden sie erst durch ihre psychische Repräsentanz – den »unbewussten Wunsch« (Freud, 1915b, S. 275 f.). Die Triebwünsche sind »immer rege, jederzeit bereit, sich Ausdruck zu verschaffen, wenn sich ihnen Gelegenheit dazu bietet« (Freud 1900, S. 558). Und sie sind unzerstörbar. Freud vergleicht sie deshalb auch mit den Schatten der odysseischen Unterwelt, die zu neuem Leben erwachen, sobald sie Blut getrunken haben (S. 558, Anmerkung). Das bedeutet aber auch, dass infantile Wünsche, die wegen ihrer Unverträglichkeit mit dem Ich der Verdrängung anheim fallen, durch die Verdrängung nichts von ihrer Wirksamkeit verlieren. Sie bleiben im Unbewussten weiter aktiv und steuern von dort aus unerkannt unser Verhalten. In seiner Trieblehre ging Freud von einem Triebdualismus aus, bei dem jeweils zwei gegensätzliche Pole einander gegenüber stehen. Für unsere Betrachtung interessant ist dabei vor allem die Gegenüberstellung von Eros oder Lebenstrieb und Thanatos oder Todestrieb (Freud, 1920). Der Lebenstrieb umfasst auch den Sexualtrieb und strebt nach Verbindung und Wachstum (Freud, 1930, S. 499). Der Todestrieb zielt demgegenüber auf die Wiederherstellung eines früheren, eines Ausgangszustandes, zu dem das Leben »über alle Umwege der Entwicklung hinweg« zurückstrebt. »Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, dass alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel allen Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende« (Freud, 1920, S. 40). Dieser letzte Triebdualismus stand Freud (1923) auch in seiner Arbeit »Das Ich und das Es« Pate, in der er das Strukturmodell des psychischen Apparates entwickelte und dabei auch sein Konzept des Unbewussten noch einmal neu definierte. Das psychische Strukturmodell besteht bekanntlich aus drei Instanzen, nämlich
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Ich, Es und Über-Ich, die auf eine jeweils spezifische Weise miteinander interagieren. Das Es ist nach Freud »der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit […] und lässt sich nur als Gegensatz zum Ich beschreiben« (Freud, 1923, S. 80). »Wir […] nennen es ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen« (S. 80). Es ist gegen das Somatische offen, nimmt von dort die Triebregungen auf, erfüllt sich von den Trieben her mit Energie und hat nur das Bestreben, ihnen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu verschaffen. Es folgt keinen logischen Denkgesetzen, vor allem nicht dem Satz des Widerspruchs. Gegensätzliche Regungen können in ihm nebeneinander bestehen. Es kennt weder Raum- noch Zeitvorstellungen. Die in ihm aufbewahrten Wunschregungen, gleich, ob sie das Es nie überschritten haben oder erst durch Verdrängung dorthin versenkt worden sind, sind virtuell unsterblich und drängen nach sofortiger Befriedigung. Das Ich, das diesen Leidenschaften Sinn und Vernunft entgegensetzen und sie mit dem Realitätsprinzip in Einklang bringen soll, hat allein von daher einen schweren Stand (S. 82 ff.). Es muss aber auch noch den normativen Anforderungen des Über-Ich gerecht werden, die sich der Realisierung der infantilen Wünsche entgegenstellen. Das Über-Ich enthält das Inzestverbot, das nicht übertreten werden darf, denn es steht auch stellvertretend für den symbolischen Vater, dessen Wohlwollen unbedingt erhalten werden muss: »Leben ist […] für das Ich gleichbedeutend mit Geliebt werden, vom Über-Ich geliebt werden […]« (Freud, 1923, S. 288). Das Ich muss sich insofern gleich mit drei Ängsten herumschlagen, nämlich der Realangst vor der Außenwelt, der Gewissensangst vor dem Über-Ich und der neurotischen Angst vor der Stärke der Leidenschaften im Es, und ist dabei immer in der Gefahr, zu unterliegen. Denn der verdrängte Trieb hört nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die für Freud in der identischen Wiederherstellung eines primären Befriedigungserlebnisses besteht, auch wenn dies realiter immer nur durch die Realisierung eines Erinnerungsbildes geschehen kann, das der identischen Wiederholung im Wege steht (Freud, 1900, S. 571). Der triebhafte Drang zurück zum Ursprung lässt sich dadurch aber nicht beirren. Alle späteren Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind ungenü-
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gend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern, wie Mephisto in Goethes Faust, »ungebändigt immer weiter vorwärts dringt« (Freud, 1920, S. 44 f.). Aber: »Die Befriedigung tritt nicht ein, das Bedürfnis dauert fort« (Freud, 1900, S. 572). Die Differenz zwischen dem ursprünglichen Befriedigungserlebnis und seiner symbolischen Repräsentation lässt sich nie mehr schließen. Was stattdessen in Gang gesetzt wird, ist eine endlose Kette von Signifikanten, die sich während der Suche nach dem Verlorenen immer weiter von ihrem Ursprung entfernt (Lacan, 1966/1975, S. 119 ff.). Erst mit dem Tod fällt diese semiotische Kette wieder in sich zusammen. So gesehen, ist der Wunsch nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Befriedigung gleichzeitig ein Wunsch zum Tode. Es ist von daher kein Zufall, dass Freud das Es unter der Herrschaft der stummen, aber mächtigen Todestriebe sieht (Freud, 1923, S. 289).Was er uns mit seiner Konzeption des Unbewussten vor Augen stellt, ist ein Subjekt, das – von einem grundlegenden Mangelgefühl getrieben – ein Leben lang nach der Wiederherstellung einer ursprünglichen Befriedigungserfahrung sucht, die namenlos bleibt und am ehesten mit der Metapher des verlorenen Paradieses umschrieben werden kann. Glück ist für Freud im Plan der »Schöpfung nicht vorgesehen« (Freud, 1930, S. 434). Was bleibt, ist die Erinnerungsspur an eine ursprüngliche Befriedigung (Freud, 1900, S. 371), die das menschliche Leben als Versprechen begleitet und erst mit dem Tode erlischt.
■ Das Konzept des Unbewussten bei Melanie Klein Melanie Kleins Konzept des Unbewussten hat eine andere Prägung. Ihr Denken ist zwar eng an dem Freuds orientiert. Dies gilt insbesondere für die Rolle der Triebe und hier vor allem für den Dualismus von Eros und Todestrieb, zwischen denen sich das menschliche Leben bewegt. Im Gegensatz zu Freud, der davon ausging, dass das Unbewusste den Tod nicht kennt (Freud, 1915a,
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S. 341 f.), hat der Todestrieb für Melanie Klein (1948/2000, S. 52) aber durchaus eine innere Repräsentanz, nämlich als Angst vor der Vernichtung des Lebens. Der Kampf zwischen Lebens- und Todestrieb beginnt nach ihr bereits während der Geburt (S. 55). Der Säugling erlebt die aus der inneren Aktivität des Todestriebs resultierende Gefahr als einen überwältigenden Angriff, den er in seiner Phantasie mit einem übel wollenden, verfolgenden Objekt verknüpft, das ihn von innen her bedrängt. Um diesem Angriff zu entgehen, werden die negativen Gefühle in einem nächsten Schritt nach draußen projiziert, und zwar auf die Mutterbrust als Teil des mütterlichen Körpers (die Mutter als ganzes Objekt kann in dieser ersten Lebensphase noch nicht wahrgenommen werden). Auf diese Weise entsteht neben der guten, nährenden eine böse, versagende Brust, auf die der Säugling mit Verfolgungsängsten reagiert. Er versucht, dieser Verfolgung zu entgehen, indem er die böse Brust wieder internalisiert. Das aber lässt die primäre innere Gefahrensituation nur noch bedrohlicher erscheinen. Die erneute Projektion der Aggression nach draußen hat dann vorübergehend eine angstlindernde Wirkung (S. 56). In diesem Zirkel von Projektion und Introjektion spielt sich die Auseinandersetzung mit den zerstörerischen Aktivitäten des Todestriebs ab. Parallel dazu erfolgt die Erschaffung einer befriedigenden guten Brust als einer Repräsentantin des Lebenstriebs, deren sichere Präsenz für das Kind die Voraussetzung dafür ist, den Kampf gegen die Angriffe des Todestriebs zu bestehen. Schon diese kurze Schilderung des inneren Dramas, das nach Melanie Klein den Anfang des menschlichen Lebens bestimmt, zeigt aber auch, worin sich ihr Konzept des Unbewussten von dem Freuds unterscheidet. Am Anfang der Entwicklung steht hier nicht ein ursprüngliches Befriedigungserlebnis, nach dessen Wiederherstellung der Mensch sich ein Leben lang sehnt, sondern viel eher eine innere Katastrophe. Der Säugling wird dabei nicht nur von existenzieller Angst geschüttelt; er muss sich unter dem Diktat des Todestriebs auch eines Ansturms von negativen Gefühlen erwehren, die er als Objekte erlebt, von denen er sich verfolgt fühlt. Melanie Klein spricht von unbewussten Phantasien, in denen die Triebregungen die Gestalt guter oder böser innerer Objekte annehmen, die miteinander in Interaktion treten. Sie drehen sich um
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konkretistische Wünsche, die Mutter zu zerstückeln und zu verschlingen oder selbst zerstückelt und verschlungen zu werden, die Mutter auszusaugen, zu überschwemmen, zu bombardieren, zu schneiden, zu verbrennen, zu vergiften und so weiter (Darmstädter, 2005, S. 574). Die reale Mutter hat in diesem inneren Drama vor allem die Rolle, dem Säugling eine verlässliche Umwelt zur Verfügung stellen, in der dieses Drama stattfinden kann und ihm so die Internalisierung eines guten inneren Objekts zu ermöglichen, das stark genug ist, das Drama heil zu überstehen (Klein, 1957/1995, S. 286 ff.). Eine besondere Rolle spielt dabei das Schuldgefühl, das das Kind der Mutter gegenüber empfindet, sobald es sie als ganzes Objekt wahrnehmen kann, von dem sowohl das Gute als auch das Böse kommt und die Aggression des Kindes deshalb Gefahr läuft, auch die Mutter als gutes Objekt zu vernichten. Freud war der Auffassung, dass das kindliche Schuldgefühl eine Folge des Ödipuskomplexes ist (Klein, 1957/1995, S. 49). Für Melanie Klein leitet sich das Schuldgefühl aus den aggressiven Impulsen her, die der Säugling gegen sein erstes Liebesobjekt, die Mutter, richtet. In der depressiven Position können diese Schuldgefühle verheerende Ausmaße annehmen (S. 30). Das Schuldgefühl kann unter dem Einfluss guter innerer Objekte im Laufe der Zeit zwar milder werden (Klein, 1957/1995, S. 31); grundsätzlich begleitet es den Menschen ein Leben lang. Melanie Klein ist wegen der Fähigkeit zur unbewussten Phantasietätigkeit, die sie dem Säugling praktisch von Geburt an zuschrieb, oft kritisiert worden (Dornes, 1994). Ein Kind sei, so zusammenfassend Dornes, allenfalls ab dem Alter von anderthalb Jahren zu einer solchen Phantasietätigkeit in der Lage. Genau so wenig habe der Säugling von Geburt an ein Ich, das mit diesen Phantasieobjekten in eine Beziehung treten könne. Aus kognitionspsychologischer Sicht hat er damit vermutlich sogar Recht. Solms (2000, S. 773), selbst ein anerkannter Neurowissenschaftler, sieht diese Sache gelassener. Für ihn vertritt Melanie Klein einfach einen anderen Beobachterstandpunkt, als Freud und die Kognitionswissenschaftler dies tun, so, als ob sie sagen würde: »Wenn das Neugeborene dazu in der Lage wäre, würde es das erleben, was hier beschrieben ist.«
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Wenn wir vor diesem Hintergrund die Konzepte des Unbewussten von Freud und Melanie Klein vergleichen, dann könnten wir sagen, dass in Freuds Vorstellung einer »primären Befriedigung«, die nie mehr einholbar ist, die Phantasie eines verlorenen Paradieses mitschwingt, dessen Tür für immer verschlossen bleibt, während für Melanie Klein am Anfang des menschlichen Lebens eher eine Höllenerfahrung steht, die aus der Vorherrschaft des Todestriebs resultiert und erst allmählich in ruhigere Gewässer gelangt (vgl. dazu auch Gast, 1996 u. 2005, S. 566). Dem entspricht eine theoretische Verschiebung von der Lust hin zur Angst. Bei Freud dienen die Objekte vor allem der Triebbefriedigung; bei Melanie Klein dienen sie in erster Linie der Projektion zerstörerischer Gefühle, die dem Todestrieb entstammen. Bei Freud resultieren die Schuldgefühle vor allem aus Todeswünschen, die sich gegen den ödipalen Rivalen richten. Für Melanie Klein entstehen sie aus der existenziellen Angst, das gute, spendende (mütterliche) Objekt durch die eigene Aggression zerstört zu haben. Bei Freud ist es der (symbolische) Vater oder – in seiner Nachfolge – das ÜberIch, das sich mit dem Inzesttabu den Leidenschaften der Triebe entgegenstellt und dafür Schutz und Liebe verspricht. Bei Melanie Klein ist es die gute Brust als Verkörperung des Lebenstriebs, die als stabiles inneres Objekt zur Verfügung stehen muss, um den Kampf mit den zerstörerischen Wirkungen des Todestriebs zu bestehen. Beide Theorien haben darüber hinaus eine deutliche geschlechtsspezifische Färbung: Freud ersetzt die Todesangst bekanntlich durch die Kastrationsangst als einer primär männlichen Angst, die dem Vater und später dem Über-Ich gilt (Freud, 1923, S. 289). Melanie Klein betont demgegenüber die Angst vor der eigenen Aggression und die Schuldgefühle, die vor allem die Mutter-Tochter-Beziehung belasten.
■ Das Konzept des Unbewussten bei Wilfred R. Bion Bion, ein Schüler Melanie Kleins, hat ihre Theorien auf sehr kreative Weise weiter entwickelt. Dazu gehört unter anderem eine spezifische Theorie des Denkens (Bion, 1959/1988, 1962a/1988).
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Denken ist für Bion eine Entwicklung, die unter dem Druck der Gedanken erfolgt, und nicht umgekehrt (Bion, 1962a/1988, S. 226). Für ihn ist der Gedanke vor dem Denken da, und das Denken muss entstehen, um die Gedanken zu bewältigen. Im Gegensatz zu Melanie Klein strebt Bion bei der Darstellung dieser Theorie nach einer von herkömmlichen Bedeutungen möglichst gereinigten, abstrakten Sprache, um den Leser selbst an der Erfahrung teilhaben zu lassen, die er als Entstehung des Denkens beschreibt (dazu auch Engel, 2000, S. 14). Das Unbewusste ist für ihn keine maßgebliche metapsychologische Kategorie, sondern wird durch den Begriff des Unendlichen ersetzt (Bion, 1965/1997, S. 72). Ausgangspunkt ist dabei ein psychischer Zustand, in dem die Zeitdimension noch keine Rolle spielt (dazu auch Darmstädter, 2005, S. 571). Die Trennung von Bewusstem und Unbewusstem entwickelt sich für Bion erst allmählich, und zwar in einem ständigen Austausch zwischen Mutter und Kind, in dem das Kind seine unlustvollen Erfahrungen in die Mutter projiziert, die diese in träumerischer Ahnung aufnimmt und mit Hilfe ihres Denkapparates so weit »verdaut«, dass sie nach der Rückgabe an das Kind auch von diesem »gedacht« werden können. Bion bezeichnet diesen Vorgang als Alpha-Funktion (Bion, 1962a/1988, S. 231) und die durch die Alpha-Funktion der Mutter erfolgte Umwandlung der zunächst rohen Sinneseindrücke des Kindes in Gedanken als Übergang von Beta- in Alpha-Elemente. Bevor das Kind über eine eigene Alpha-Funktion verfügt, erlebt es alle Eindrücke – gleich ob von außen oder von innen kommend – wie Dinge. Bion nennt diese Dinge Beta-Elemente, »unverdaute Fakten«, »Dinge an sich«. Ein Beta-Element besteht in dem Gefühl, ein böses Objekt in sich zu haben; Hunger wird beispielsweise als ein solches böses Objekt empfunden. Wenn die Mutter dem Säugling Milch gibt, hat sie mit Hilfe ihrer AlphaFunktion verstanden, dass er Hunger hat, und ihm mit der Milch auch Alpha-Elemente des Verstandenen und des Verstehens zu geben vermocht (Darmstädter, 2005, S. 577). Wie die Nahrung von der Mutter kommt, so erfolgt hier also auch die Entwicklung des Denkens (als Umwandlung von Beta- in Alpha-Elemente) auf dem Umweg über die Mutter. Wie aber kommt Bion zu der Auffassung, dass der Gedanke
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vor dem Denken kommt? Der Säugling wird, so Bion, mit einem A-priori-Wissen, einem Set von Präkonzeptionen geboren, die im Sinne Kants »leere Gedanken« sind, bis sie auf ein Realerlebnis treffen, das sie zu einer Konzeption werden lässt. Wenn wir beispielsweise annehmen, dass der Säugling mit einer seelischen Anlage geboren wird, die der Erwartung einer Brust entspricht, dann führt die reale Begegnung mit der Brust zu einer Konzeption der Brust. Verbunden damit ist ein befriedigendes Gefühlserlebnis (Bion, 1962a/1988, S. 226 f.). Ein negatives Realerlebnis, das heißt eine abwesende Brust, führt demgegenüber zum Konzept einer bösen Brust. Bei wachsender Fähigkeit, Versagung zu ertragen, kann aus der Erfahrung einer abwesenden Brust aber auch ein Gedanke hervorgehen, der dann seinerseits eines Apparates bedarf, um gedacht zu werden. Von hier entwickelt Bion die Vorstellung, dass der Gedanke vor dem Denken da ist. Mit der Entwicklung des Denkapparates kommt es auch zur Unterscheidung von »bewusst« und »unbewusst«, die durch eine Kontaktschranke voneinander getrennt sind (1962b/1990, S. 63). Die Unterscheidung dient dabei in erster Linie Abwehrzwecken. Für unser Thema bedeutsam ist aber vor allem die Vorstellung, dass es angeborene unbewusste Erwartungen oder auch Präkonzeptionen von einem Objekt gibt, das die Bedürfnisse des Säuglings stillen kann, und dass diese Erwartung dem realen Erlebnis, hier als Erfahrung einer Brust, vorausgeht, so wie der Gedanke dem Denken. Die Frage ist dann, ob das Gleiche auch für die Vorstellung einer »letzten Realität« gilt, für die »absolute Wahrheit«, »das Göttliche«, »das Unendliche«, »das Ding-an-sich« (Bion, 1965/1997). Bion nennt diese letzte Realität »O«. Seine Beschreibung von O ist nicht ohne Widersprüche. Man kann von O wissen; seine Gegenwart kann erlebt werden, aber es kann nicht erkannt werden (Bion, 1977, S. 30, zit. nach Neubaur, 2000, S. 127). Man kann mit O aber auch eins werden, so wie dies in der mystischen Vereinigung mit Gott geschieht (nach Darmstädter, 2005, S. 589). O kann auch in der psychoanalytischen Behandlung auftauchen, wenn der Analytiker bereit ist, sich mit seinem Unbewussten ganz für den Patienten zu öffnen und selbst ohne Erinnerung und Wunsch (engl.: no memory, no desire) zu sein (Bion, 1967/1988, S. 22). »Jede Sitzung, an der der Psychoanalytiker teilnimmt, darf
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weder eine Geschichte noch eine Zukunft haben […] Das einzige, was in einer Stunde wichtig ist, ist das Unbekannte« (S. 22 f.). Dann kann aus der Dunkelheit und Formlosigkeit etwas auftauchen, das eine Verbindung erlaubt. O ist in der psychoanalytischen Erfahrung dann das, was man die emotionale Wahrheit einer Sitzung nennen könnte (Eigen, 1981, S. 422), die von Analytiker und Patient geteilt wird. Obwohl O für Bion grundsätzlich formlos ist, gibt es auch dafür so etwas wie ein archaisches Vorwissen. Bion bezieht sich dabei auf die Ideenlehre Platos, nach der jeder Mensch auf Grund der Unsterblichkeit seiner Seele die unwandelbaren Ideen immer schon in sich hatte. Erkenntnis ist deshalb hier auch kein Neu-Entdecken, sondern ein Wiedererinnern der Ideen aus einer vorgeburtlichen Zeit, in der diese Ideen geschaut wurden (dazu auch Darmstädter, 2005, S. 589) Hier ergibt sich die Verbindung zu Bions Konzept der Präkonzeption. Denn auch für O gibt es eine »angeborene Antizipation«, die nach der Vereinigung mit einem Realerlebnis drängt. Vieles spricht dafür, dass diese Realisierung erstmals in der frühen Erfahrung des Säuglings mit der Mutter als einem Objekt der Verwandlung geschieht (Bollas, 1987/1997). Ich werde darauf am Ende dieser Arbeit zurückkommen und mich zunächst dem Konzept des Unbewussten zuwenden, wie es uns in der relationalen Psychoanalyse entgegentritt.
■ Das Konzept des Unbewussten in der relationalen Analyse Mit der intersubjektiven Wende der Psychoanalyse, die in den USA mit Harry Stack Sullivan (1953) sowie Jay Greenberg und Stephen Mitchell (1983) ihren Anfang nahm, richtete sich die Aufmerksamkeit nicht mehr wie bisher vor allem auf den Patienten, sondern immer mehr auf die therapeutische Beziehung als eine wechselseitige Interaktion von Analytiker und Analysand. Damit rückte auch der Begriff des Anderen immer stärker ins Zentrum des psychoanalytischen Diskurses. In der klassischen Auffassung der Psychoanalyse deutete der Analytiker das Material des Pati-
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enten so, als wäre er selbst als Person nicht vorhanden (Buchholz, 2005, S. 632). Heute wird die Beziehung zwischen Psychoanalytiker und Analysand demgegenüber als eine Beziehung zwischen zwei Subjekten aufgefasst, die beide auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung Einfluss nehmen, ob sie wollen oder nicht. Für die Beschreibung dieser Interaktion gibt es mittlerweile ein umfangreiches Instrumentarium. Gegenübertragung, projektive Identifizierung, Rollenübernahme durch den Analytiker, szenische Inszenierung und Enactment gehören heute zu den leitenden Begriffen der psychoanalytischen Theorie (Bohleber, 2004). Damit verlagert sich aber auch der Ort des Unbewussten: es ist weder »in der Kindheit« noch »hinter der Sprache«, es ist nicht »im archaischen Erbe« und nicht in den tieferen Windungen des Gehirns; »es ist Präsenz der Interaktion« (Buchholz, 2005, S. 633 f.). Ein solches Verständnis der therapeutischen Beziehung geht unter anderem auf die empirische Säuglingsforschung zurück, die sehr klar zeigt, wie sich das kindliche Selbst in der engen Interaktion mit der Mutter herausbildet. Die Bedeutung des »affect attunement« (Stern, 1985) und der adäquaten Spiegelung der Gefühle des Säuglings durch die Mutter (Fonagy et al., 2002) sind dafür nur zwei Beispiele unter vielen. »Es bedarf eines Anderen, um sich selbst zu erfahren«, fasst Bohleber diese Entwicklung zusammen (Bohleber, 2004, S. 778). Wie radikal der Einfluss des Anderen auf die menschliche Selbstwerdung und damit auch auf die Konstitution seines Unbewussten ist, zeigt sich am deutlichsten in der Theorie des virtuellen Anderen von Bråten (1992, 1998), einem norwegischen Soziologen und Entwicklungspsychologen (zusammenfassende Darstellung bei Dornes, 2002). In der Psyche des Säuglings gibt es danach den virtuellen Anderen als ein angeborenes Design, der die Mutter als den tatsächlichen »Anderen« im wechselseitigen Dialog erwartet und willkommen heißt (Bråten, 1972, S. 87, zit. nach Dornes, 2002, S. 306). Der Säugling ist mit diesem virtuellen Anderen in Kontakt, lange bevor er sich an einen tatsächlich vorhandenen, äußeren Anderen wendet. »Der äußere, tatsächliche Andere tritt gewissermaßen nur in die Fußstapfen, die in Gestalt des inneren virtuellen Anderen vorbereitet sind« (Dornes, 2002, S. 306). Was es bedeutet, wenn der tatsächliche Andere diese Spur verfehlt,
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kann man an Experimenten ablesen, in denen die Mutter veranlasst wird, in ihrer Interaktion mit dem Säugling für kurze Zeit ein unbewegtes Gesicht zu zeigen (Tronick et al., 1978; Tronick, 1998). Die abwehrende Reaktion des Säuglings auf die Erfahrung des unbewegten Gesichts der Mutter muss etwas mit der Enttäuschung einer vorangehenden Erwartung zu tun haben. Nahe an Bråtens Theorie liegt auch die Idee Bions von der angeborenen Präkonzeption der Brust, wenn man »Brust« als Metapher für eine Objektbeziehung versteht (Dornes, 2002, S. 312). Der gemeinsame Grundgedanke ist, dass der Säugling über angeborene Erwartungen verfügt, deren Realisierung oder Nicht-Realisierung – in Bråtens Terminologie »Erfüllung« oder »Nicht-Erfüllung« – seine weitere Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Die Erwartung richtet sich dabei nicht nur darauf, dass die Mutter bestimmte Handlungen ausführt. Die Handlung wird vom Säugling innerlich mitvollzogen. Was dabei erlebt wird, ist am ehesten ein Gefühl der Bewegung (nach Dornes, 2002, S. 315). Forscher haben herausgefunden, dass die Beobachtung einer Handlung, die ein anderer vollzieht, im Beobachter sozusagen spiegelbildlich dieselben Neuronen aktiviert, die auch aktiviert werden, wenn er selbst diese Handlung ausführen würde (Dornes, 2002, S. 316, dort auch Verweis auf die entsprechenden Forschungen). Dem entspricht das Gefühl einer aktiven Teilhabe. Wenn die Mutter ihren Säugling füttert, dann löst die Wahrnehmung dieser Aktivität im Säugling eine Resonanz aus, in der er spürt, wie sich die Mutter bei der Ausführung der Bewegung fühlt. Auf gleiche Weise wird auch die Erfahrung von Zurückweisung oder Misshandlung vom Säugling in unmittelbarer Teilhabe erlebt (Dornes, 2002, S. 319). Wer misshandelt wird, weiß dann aufgrund dieser unausweichlichen Teilhabe auch, wie man sich fühlt, wenn man misshandelt. Das disponiert dazu, die Misshandlung zu wiederholen (nach Dornes, 2002, S. 320). In der Begegnung mit dem realen Anderen bildet sich auf diese Weise auch jenes »implizite Beziehungswissen« heraus (The Process of Change Study Group, Boston, 2002, S. 936), das als »Wissen über das Zusammensein mit einem Anderen« später unbewusst unsere Interaktionen prägt. Eine psychoanalytische Interpretation, die auf eine dauerhafte Veränderung dieses Wissens
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abzielt, muss deshalb den impliziten Bereich des menschlichen Gedächtnisses erreichen, der grundsätzlich unbewusst ist. Deutungen spielen sich aber in der Regel auf einer bewussten oder vorbewussten Ebene ab. Es muss also in der Interaktion zwischen Analytiker und Analysand nach der Auffassung der Bostoner Change Study Group um Daniel Stern noch etwas anderes geben, das diese Änderung bewirkt. Für Stern und seine Mitarbeiter ist es das »Etwas-Mehr-als-Deutung«, das zu einer Veränderung des impliziten Beziehungswissens führt. Die Deutung geht dabei mit mikroprozessualen Veränderungen auf der impliziten Ebene einher, vergleichbar dem »affect attunement« zwischen Mutter und Kind, in dem es um die Herstellung eines Gefühls von Stimmigkeit geht (The Process of Change Study Group, Boston, 2002, S. 981), so wie dies Bråten auch für das Treffen eines innerlich bereits repräsentierten Andern voraussetzt (zit. nach Altmeyer, 2005, S. 660). Stern und seine Mitarbeiter beschreiben diesen Prozess auf der lokalen Ebene als eine Aneinanderreihung von Momenten, die sie Gegenwartsmomente nennen, weil sie sich von Sekunde zu Sekunde im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung abspielen. Dabei kann es auch zu Momenten kommen, in denen die gemeinsame implizite Beziehung gefährdet erscheint (The Process of Change Study Group, Boston, 2002, S. 991). Patient und Analytiker merken dies unter anderem daran, dass ihnen diese Momente unvertraut, beunruhigend, unheimlich erscheinen. Sie sind mit einer unbekannten Zukunft angefüllt, die man als Sackgasse, aber auch als Chance empfinden kann. »Die Gegenwart verdichtet sich subjektiv, ähnlich dem ›Augenblick der Wahrheit‹« (S. 991). Um daraus einen Moment der Begegnung zu machen, muss der Therapeut seinerseits, ohne es bewusst zu wollen, aus der analytischen Neutralität heraustreten und etwas einbringen, das über den gewohnten therapeutischen Rahmen hinaus seinen ganz persönlichen Stempel trägt. Buchholz (2005, S. 640 f.) schildert in diesem Zusammenhang, wie Beland, ein bekannter Berliner Analytiker der kleinianischen Schule, in einer psychoanalytischen Behandlung nach einer langen Phase scheinbar unauflöslicher negativer Übertragung von der Patientin hasserfüllt angeschrieen wurde, er sei ein eiskalter Stein, und er in diesem Augenblick seine psychoanalytische Neutralität über Bord warf und spontan zurückschrie:
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»Ich bin kein Stein!« Mit dieser Reaktion hatte er seine Position als Übertragungsobjekt verlassen und war als ein Anderer in Erscheinung getreten. Für die Process of Change Study Group, Boston (2002, S. 993), sind solche Momente der Begegnung »das Schlüsselereignis in diesem Prozess, der Drehpunkt, an dem sich der intersubjektive Kontext verändert und dadurch auch das implizite Beziehungswissen über die Patient-Therapeut-Beziehung«.
■ Schlussbetrachtungen »Das Unbewusste ist Präsenz der Interaktion«, so definierte Buchholz (2005) das Unbewusste in der relationalen Psychoanalyse. In dem therapeutischen Ansatz der Process of Change Study Group, Boston (2002, S. 989) bedeutet »Präsenz« die Konzentration auf das Fortschreiten des therapeutischen Prozesses von Moment zu Moment, bis es zu einem »now moment« kommt, der subjektiv und affektiv als »einschlagend« erlebt wird und die Beteiligten verstärkt in die Gegenwart hineinzieht. Eine stärkere Betonung der Bedeutung der Gegenwart im therapeutischen Prozess kann es kaum geben. Der »now moment« ist dabei gleichzeitig ein »Augenblick der Wahrheit« (S. 990). Ganz ähnlich spricht Bion von der »emotionalen Wahrheit einer Sitzung«, die für ihn eine Realisierung von O bedeutet (nach Eigen, 1981, S. 422). Wenn wir an dieser Stelle erneut unter Bezugnahme auf Freud nach den Manifestationen jenes »unassimilierbaren Restes« fragen, dem »ganz Anderen«, dem »Ding an sich«, das sich dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen entzieht, aber in den Konzepten des Unbewussten Spuren hinterlassen hat, dann finden wir diese Spur sowohl bei der Bostoner Study Group um Stern als auch bei Bion in der Begegnung von Analytiker und Analysand in einer Situation absoluter Gegenwart, die nicht durch Erinnerung und Wunsch getrübt ist und als unmittelbar stimmig, passend, »wahr« erlebt wird. Nur Melanie Klein und in ihrer Nachfolge Betty Joseph haben meines Wissens in ähnlicher Weise die Übertragung als »Gesamtsituation« betont (Joseph, 1985). Es gibt aber noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden
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Theorien, die sie auch mit den Konzepten des Unbewussten bei Freud und Melanie Klein verbindet. Ich habe sie bereits erwähnt. Sie betrifft die von Bollas (1987/1997) beschriebene frühe Erfahrung der Mutter als eines Objekts der Verwandlung. Die Erfahrung entstammt einer Zeit, in der der Säugling die Mutter noch nicht als Andere erkennt, sondern sie als Prozess erfährt, der das Selbst verwandelt. Gerade hat der Säugling noch verzweifelt geschrieen; das Erscheinen der Mutter führt dazu, dass Selbst und Umwelt sich verwandeln. Er wird an der Brust der Mutter ruhig und saugt zufrieden. Weil diese Erfahrung aber dem existenziellen Wissen angehört, das nicht bewusst repräsentiert ist, kann es nicht erinnert werden. Das Erfahren des Objekts geht also dem Wissen um das Objekt voraus (Bollas, 1987/1997, S. 51). Bollas bezeichnet es deshalb als das »ungedachte Bekannte« (S. 16). Später begegnet uns diese Erfahrung wieder in dem Streben nach einem Objekt, von dem wir hoffen, dass es das Selbst verwandelt (S. 26). Wenn die Suche von Erfolg gekrönt ist, spüren wir für Momente eine Beziehung zu diesem Objekt […], die einer Verschmelzung gleichkommt, in der wir uns des Verwandlungssubjekts entsinnen. Sie versetzen uns in eine ehrfurchtsvolle Haltung; oft werden diese Objekte sogar für heilig erklärt (S. 29). Übertragen wir diese Erfahrung auf die in dieser Arbeit untersuchten psychoanalytischen Theorien über das Unbewusste, dann wäre in der Theorie des virtuellen Anderen die Mutter als Verwandlungsobjekt der erste reale Andere, der in das Leben des Kindes tritt und seine Welt verwandelt, im Idealfall so, wie dies seinen präformierten Erwartungen entspricht. Bråten spricht vermutlich nicht umsonst von Erwartung und Erfüllung, wenn er die Begegnung des inneren virtuellen Anderen mit dem realen Anderen beschreibt (nach Dornes, 2002, S. 313). Bei Bion bewirkt in ähnlicher Weise das Zusammentreffen der von ihm als Präkonzeption bezeichneten Erwartung einer Brust mit einer realen Brust die Verwandlung des vorher hungrigen Säuglings in einen zufriedenen satten. In den Momenten der Begegnung in der therapeutischen Beziehung, wie sie von Stern et al. beschrieben werden, ist es der plötzlich als Anderer sichtbar werdende Analytiker, der eine solche Verwandlung bewirkt. Erwartung und Erfüllung sind also auch hier eng miteinander verbunden. Melanie Klein spricht
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von der Unverzichtbarkeit einer guten Brust als lebensspendendem Objekt, das in der Lage ist, den Auswirkungen des Todestriebs in Form von Hunger, Neid und Aggression entgegenzutreten und vor ihnen Zuflucht zu gewähren. Auch diese »gute Brust« ist danach ein Objekt der Verwandlung. Damit komme ich zurück zu Freud, nach dessen Vorstellung der Mensch ein Leben lang vergeblich nach der Wiederholung einer ersten Befriedigungserfahrung sucht, die mit Sicherheit auch als Erfahrung einer Verwandlung beschrieben werden könnte. Jedes spätere Objekt, das eine Wiederholung dieser Verwandlung verspricht, wird von daher idealisiert, man könnte auch sagen: in den Himmel gehoben (Freud, 1914c, S. 161). Und auch wenn Freud die Religion in den Bereich der Illusion verweist (1927c) und das Verliebtsein als maßlose Überschätzung des Liebesobjekts entwertet (1914c, S. 161): Die Sehnsucht nach einer Transformation des Selbst durch ein Objekt der Verwandlung lässt sich auf diesem Wege nicht zum Verschwinden bringen. Sie ist so unzerstörbar wie die Schatten der odysseischen Unterwelt, die jederzeit bereit sind, zu neuem Leben zu erwachen. Das jedenfalls ist der Vergleich, den Freud für die Unzerstörbarkeit der infantilen Triebwünsche wählte (1900, S. 58, Anmerkung). In der hier vorgeschlagenen Lesart beziehen sich diese Triebwünsche auf ein Objekt, das so wie in der ursprünglichen Begegnung mit einer noch als Prozess erlebten Mutter eine Transformation des Selbst verspricht. Diese Objekte sind ehrfurchtgebietend, heilig. Damit werden sie gleichzeitig zu einer Transformation von O. Jeder Text, und das heißt, auch jeder theoretische Text, hat einen unbewussten Subtext. Wenn wir mit diesem Wissen einen letzten Blick auf die vier Konzepte des Unbewussten werfen, die wir hier einer Untersuchung unterzogen haben, wäre es zu gewagt, zu behaupten, dass jede dieser Theorien als Subtext einen Mythos enthält, in dem die stärksten menschlichen Sehnsüchte und die tiefsten menschlichen Ängste ihren Niederschlag gefunden haben: in Freuds Theorie die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, in Melanie Kleins Theorie die Angst vor der Macht der Hölle im eigenen Innern, in Bions Theorie der Hinweis auf ein göttliches O, das unter anderem als Wahrheit in der psychoanalytischen Situation erfahrbar werden kann, und in der Theorie der relationalen
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Psychoanalyse die Vorstellung der Präsenz des Anderen in einer zeitlosen Gegenwart, der gemeinsamen Rêverie von Mutter und Kind vergleichbar, in der es weder Trennung noch Tod gibt?
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■ Reimut Reiche
Psychoanalytische Kunsttheorie nach Freud 1
Manche Kunstwerke der Romantik, des Symbolismus und der Dekadenz, lange vor dem Erscheinen der Psychoanalyse geschaffen, lesen sich nachträglich wie gemalte, gezeichnete und in Bronze gegossene Kommentare zu Freuds »Traumdeutung«. Max Klingers Zyklus »Ein Handschuh«, um 1880 entstanden, ist ein zugleich erzählter und analysierter Traum. Ohne den einzelnen Bildern des Zyklus Gewalt anzutun, kann man »unterhalb« des gemalten manifesten Traums die Arbeit der gemalten Traumentstellung, die Mechanismen der Traumarbeit und den latenten Traumgedanken erkennen und diese Bereiche voneinander scheiden. Das Gleiche gilt für Odilon Redons »Dans le rêve« von 1879. Nachträglich kann man wohl sagen, dass die »Traumdeutung« ohne das Klima, in dem diese Bilder entstanden, ihrerseits nicht hätte entstehen können. Nachträglich wirken diese visuellen Vorläufer Freuds aber auch schrecklich naiv und plakativ. Das ändert sich mit den Surrealisten, die, an der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse geschult, deren Erkenntnisse bewusst in ihre literarischen und bildnerischen Produktionstechniken einbauen. Das Verschwinden, die Lücke, die Verneinung, die konvulsivische Zuckung der Hysterie werden bei André Breton oder Salvador Dalí zum Formprinzip der künstlerischen Gestaltung. Mit der Veralltäglichung der Psychoanalyse ebbt die Begeisterung der Künste für die nun nicht mehr neue Wissenschaft auch 1 Erstmals erscheinen unter dem Titel Reiche, R. (2006). Kunst und Kunsttheorie. In H.-M. Lohmann, J. Pfeiffer (Hrsg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (S. 307-318). Stuttgart: © J. B. Metzschlersche Verlagsbuchhandlung. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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rasch wieder ab. Es hätte nicht der nationalsozialistischen Barbarei bedurft, um die junge Allianz zu trennen. Das zeigt die amerikanische Kunstgeschichte. Wenn sich nach 1950 Künstler für die Psychoanalyse interessieren, dann nicht mehr für irgendwelche Traumsymbole oder inzwischen langweilig gewordenen Enthüllungen aus dem Reich des verdrängten Sexuellen – nach dem Muster: lackierte Zehennägel = erigierter Penis; blicklose Augen der Statue = leere Depression. Wenn heute ein Künstler Elemente aus dem Vokabular der Psychoanalyse in sein Werk einbaut, dann nicht um, wie noch Hitchcock, etwas zu enthüllen – sondern eher, um den gutgläubigen Psychoanalytiker in die Irre zu führen. Im Steinbruch der Kulturgeschichte liegen in ausreichender Zahl Stereotype aus der psychoanalytischen Enthüllungsära bereit. Das heißt nicht, dass eine solche Kunst, die sich, wie die »appropriation art«, die Kunstfiguren ihrer Vorgänger aneignet, frei von unbewussten Bedeutungen wäre; aber diese liegen gewiss nicht in den Symbolen und Figuren aus der Asservatenkammer der Psychoanalyse. Der Wirkungsgeschichte des Verhältnisses von Psychoanalyse und Kunst nähert man sich heute nur noch, wenn man das Stichwort Psychoanalyse und Kunst zugleich als ein Psychoanalyse als Kunst liest. Denn die Psychoanalyse hat auf die Kunst nicht dadurch besonders fruchtbar eingewirkt, dass Künstler psychoanalytische Werke gelesen oder sich einer Psychoanalyse unterzogen hätten. Das haben Künstler zwar immer auch getan – heute nicht weniger als vor hundert Jahren. Viel entscheidender ist, dass die Psychoanalyse für eine subjektive Dimension der Erfahrung steht, die vielerlei strukturelle Gemeinsamkeiten mit der ästhetischen Erfahrung der Moderne teilt. Ein psychoanalytischer Prozess stellt sich ebenso nur in der Muße des Sichfreimachens vom Heilungszwang ein, wie ein Kunstwerk nur in der Muße des Sichfreimachens vom Bedeutungszwang (Was soll denn das bedeuten, was ich da herstelle, sehe oder höre?) sich einstellt. Beide brauchen eine gewisse Entlastung vom ökonomischen Praxisdruck. Ebenso brauchen beide eine gewisse Zeitlosigkeit, einen Zeitaufschub, eine Verweigerung der Antwort auf die Frage, wozu das gut sein soll. Kunst funktioniert ebenso wie ein psychoanalytischer Prozess nur innerhalb eines gesellschaftlich definierten und von den Beteilig-
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ten akzeptierten Rahmens. Wie zum psychoanalytischen Prozess die Festlegung der Stunde, des Honorars und der jeweiligen Aufgaben der beiden Partner des Geschehens gehört, so gehört zum Kunstwerk seine Präsentation in einem festgelegten Rahmen von Markt, Museum und der normativen Festlegung: Dies ist Kunst. Und vor allem: In der Kunst wird wie in der Psychoanalyse nach jeweils internen Regeln ein vorhandenes, bekanntes Etwas (die Ansicht eines Baums, ein Beziehungskonflikt) in ein neues, noch unbekanntes Etwas umgeformt. Eine ziemlich gute Antwort auf die schwierige Frage »Was ist ein Bild?« hat Polanyi (1994, S. 154) gegeben. Danach umfasst ein Bild »sowohl die perspektivische Tiefe seiner Malerei als auch die Flachheit seiner Leinwand, wobei diese kontradiktorischen Eigenschaften als eine verbundene Qualität gesehen werden; und in der Tat ist eben diese Qualität für ein normales Bild charakteristisch«. Diese Bestimmung des Bildes als der Einheit des Widerspruchs von Flachheit und Tiefe, von Rahmen und Stoff, lässt sich vom Bild auf die Kunst überhaupt und von da auf die Psychoanalyse übertragen: Wenn wir die Trauben auf dem Bild so sehr für wirkliche halten, dass wir sie »wirklich« essen wollen, bricht das Bild zusammen, und wenn wir den Mord auf der Bühne für so wirklich halten, dass wir von unserem Sessel aufspringen und die Polizei rufen, bricht das Stück zusammen. Derselbe Grundkonflikt von Flachheit und Tiefe bestimmt auch den psychoanalytischen Prozess. Eine Stunde dauert 50 Minuten und kostet 70 Euro; und innerhalb dieses »flachen« Rahmens drängt jetzt ein »tiefer« Triebwunsch zu Erfüllung und äußert sich in allen möglichen Formen von Liebe und Hass, Erwartung und Enttäuschung. Und wenn die Patientin ihren Analytiker nun wirklich küsst, oder schlimmer, der Analytiker mit seiner Patientin Sex macht, dann bricht noch etwas mehr zusammen als nur der Rahmen. Kurz gesagt besteht die gemeinsame Schnittmenge von Psychoanalyse und Kunst in der Erschaffung eines intermediären oder imaginären Raumes – der Sprache, der Klänge, der Formen, der Bedeutungen –, eines Raumes, in dem Sprache, Klänge, Formen und Bedeutungen von etwas in etwas anderes transformiert werden. Die intuitive Erfahrung dieser strukturellen Gemeinsamkeit wiegt stärker als solche inhaltlichen Motive wie »die Hysterie in
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der Kunst«, »der Traum in der Kunst« oder am Ende gar »der Ödipuskomplex in der Kunst«. Falls sich der Choreograph William Forsythe für die Psychoanalyse interessiert, dann wegen ihrer Potenz, die Elemente einer psychischen Ablaufbewegung von einander zu isolieren, einzelne Elemente still zu stellen und den Blick hypertroph auf sie einzustellen. Er zeigt dann eine – für unseren konventionellen Blick – verdrehte Armbeuge oder Schulter in ihrer diagnostischen Differenz zur nächsten Armbeugen- und Schultersequenz – so wie wir etwa die Erscheinungsformen eines Angstäquivalentes in der Phobie, in der Bulimie und in der Perversion in ihrem Bewegungsablauf differentialdiagnostischhypertroph herausarbeiten. Am Beitrag der Psychoanalyse zur Kunst lassen sich vier Felder unterscheiden: die Psychopathographie des Künstlers, die Interpretation von konkreten Kunstwerken, der Beitrag der Psychoanalyse zu einer Philosophie der Kunst und die Erforschung der künstlerischen Kreativität. Im Werk einzelner psychoanalytischer Autoren überlagern sich natürlich diese Felder, wie schon bei Freud, auf vielfache Weise. Dennoch kann man einige Zugänge unterscheiden.
■ Ein psychopathographischer, über die AutorPsyche laufender Zugang Dieser Zugang hat seine Urform in Freuds Leonardo-Arbeit. Dabei wird ein Element X aus dem Leben des Künstlers, vorzugsweise ein Kindheitskonflikt oder ein frühes Trauma, mit einem Element Y aus seinem Kunstschaffen derart in eine Passung gebracht, dass die psychoanalytische Deutung Z plausibel erscheint. Im Falle von Freuds Leonardo sind das X die »zwei Mütter« und die »GeierPhantasie«, das Y ist die zweifache Eigentümlichkeit in der Motivwahl und Motivgestaltung von Anna und Maria (zwei Mütter, die in schöner Harmonie im Schoß ineinander übergehen) – und schließlich die psychoanalytische Engführung Z in einer Aussage über Leonardos nicht gelebte Homosexualität. Im Moment seiner
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Erschaffung war dieser Verknüpfungsmodus revolutionär – und so wirkte er auch, auf die Zeitgenossen und noch lange danach. Die Faszinationsgeschichte dieses Essays – und des in ihm paradigmatisch entwickelten Zugangs – ist immer noch nicht an ihr Ende gelangt (vgl. Reiche, 2001, S. 9 ff.), aber die Faszination hat sich inzwischen vielfach in hagiografische Dogmatik und redundante Langeweile verwandelt. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Geier, auf den Freud seine Deutung über Leonardos homosexuelle Fellatio-Phantasie aufgebaut hatte, eine Gabelweihe war, die auf einem Übersetzungsfehler beruhte. Das war für K. R. Eissler, der später durch eine Goethe-Biographie bekannt wurde (die höchst interessant und lehrreich, wenn auch oft exzessiv mit dem genannten Verknüpfungsmodus X:Y=Z operiert) ein Anlass, diesen Typus der Psychopathographie des Künstlers autoritär als psychoanalytisches Monopol festzuschreiben. Diese Festschreibung operierte in etwa mit der Zusatzfigur: Als Psychoanalytiker wissen wir, dass im Unbewussten eine Gabelweihe doch ein Geier ist, denn nur wir Psychoanalytiker haben die klinische Erfahrung … In diese Debatte griffen in den 1950er Jahre sowohl prominente Kunstwissenschaftler ein – unter ihnen Meyer Shapiro – als auch Psychoanalytiker, die ihrerseits ausgebildete Kunsthistoriker waren, wie Ernst Kris. Mit guten Argumenten vertraten sie vorsichtig einen Zugang über die Psychoanalyse der künstlerischen Form. Dabei wurden sie von Eissler brüsk zurückgewiesen: »Im Unbewussten aber, genauer: im Es und dem Verdrängten, findet sich von Ästhetik auch nicht eine Spur, es beschäftigt sich vielmehr mit Inhalten und archaischen Impulsen« (Eissler, 1992, S. 66). Diese kleine Probe Pulverdampf aus den 1950er Jahren mag genügen, um die Fronten in einem Krieg zu skizzieren, der untergründig immer noch andauert. Adorno hat an den Anfang seiner Schrift »Ästhetische Theorie«, etwa zehn Jahre später, eine weit ausholende Kritik an Freuds Kunsttheorie gestellt. Ohne irgendwie zu leugnen, dass am künstlerischen Produktionsvorgang unbewusste Regungen am Werk sind – das ist für Adorno wie für uns eine Selbstverständlichkeit – beharrte er doch auf dem Vorrang des Werks, auf seiner Autonomie jenseits aller möglichen individuellen Motive des künstlerischen Subjekts. Adornos (1970, S. 39) Grundgedanke vom Vorrang des
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Objekts – er spricht von »der dem lebenden Subjekt vorgängigen Objektivität des Werkes an sich« – ist für die meisten Psychoanalytiker offenbar eine unzumutbare Kränkung. Anders ist es nicht zu erklären, dass auch heute noch so viele psychoanalytische Arbeiten über Kunst und Künstler in ihrem Zentrum letztlich die von mir auf ihre Grundbestandteile heruntergekürzte Formel X:Y=Z aufweisen. Mit dieser Formel werden Kunst und Künstler als einander gleich behandelt, Objekt und Subjekt regressiv miteinander in Deckung gebracht. Dabei fängt es da erst an interessant zu werden, wo man sich der künstlerischen Form und den Formgesetzen als dem »Ungleichen« zuwendet, als dem, das uns offenbar »als Kunst« so sehr anzieht und das nicht in der Psychologie des Subjekts aufgeht.
■ Der Zugang über die so genannte Gegenübertragung auf das Kunstwerk Auch dieser Zugang hat seine Urform in einer Arbeit Freuds (1914), nämlich im »Moses des Michelangelo«. Dort interessiert sich Freud überhaupt nicht für die psychopathologische oder auch nur im weitesten Sinn psychogenetische Verknüpfung von Autor und Werk. Er geht vielmehr aus von seiner eigenen anhaltenden affektiven Reaktion auf das Werk – und versucht dann, diese am Werk verständlich zu machen und aufzulösen. Er stellt in dieser klassischen Arbeit sein »Ergriffensein« im Angesicht der Statue an den Anfang. Moses scheint im Begriff, die Gesetzestafeln im Zorn auf den Boden zu schleudern – und Freud schreibt, er habe sich aus seinem Blick »geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat« (Freud, 1914, S. 175). Dieser affektiven Reaktion lag – darüber ist sich die Freud-Biographik heute einig – eine unbewusste Moses-Identifizierung zugrunde. Aber Freuds wirkliche oder nur als literarischer Kunstgriff gebrauchte affektive Reaktion und ihre Ausschmückung mit dem Wort »Gesindel« ist nicht selbst schon die Gegenübertragung.
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Je nachdem wie der Begriff der Übertragung gehandhabt wird, sprechen unterschiedliche Autoren und Schulen entweder von der Übertragung des Betrachters/Lesers/Hörers auf das Werk oder aber – häufiger – von seiner Gegenübertragung. Diejenigen, die von Gegenübertragung sprechen, müssen die Werk-BetrachterBeziehung stark intersubjektiv aufladen und supponieren, dass das Werk eine Beziehung zu uns aufnimmt, nämlich eine Übertragungsbeziehung, auf die wir mit einer Gegenübertragung reagieren. Das sind jedoch Feinheiten, die die gemeinsame Schwäche dieses Zugangs nur verdecken. Wenn der Begriff der Übertragung nicht jeden Sinn verlieren soll, dann beschreibt er die unbewusste Wurzel einer affektiven Reaktion auf eine Tätigkeit oder Eigenschaft des Objekts. Nicht jede affektive Reaktion ist eine Übertragung. Sobald ich diese Wurzel bewusst gemacht habe, handelt es sich – streng genommen – nicht mehr um eine Übertragung, denn diese löst sich ja mit der Bewusstmachung virtuell auf. Das Gleiche gilt für die Gegenübertragung. Wenn ich sage: »dieses Bild ist schön« – dann ist das ein ästhetisches Urteil, und diesem Urteil kann, wenn man diesen Terminus unbedingt verwenden will, eine unbewusste Disposition zugrunde liegen. Das ist aber eine letztlich sinnlose Zusatzaussage, denn alle Urteile auf dieser Welt haben eine unbewusste Dimension. Das Gleiche gilt für eine Aussage wie: »[…] dieses Bild löst völlige Orientierungslosigkeit und Ängste vorm Alleingelassen- und Fallengelassen-Werden aus«. Auch das ist zunächst ein ästhetisches Urteil, wenn auch ein in den üblichen Psycho-Jargon »löst […] aus« verpacktes Urteil. Alfred Lorenzer (1986) hat die Deutung von Werken der Literatur und Kunst mithilfe eines Einstiegs über die Gegenübertragung systematisiert und diesen Zugang unter dem Namen tiefenhermeneutische Kulturanalyse in den psychoanalytischen Diskurs eingeführt. Besonders im deutschen Sprachraum ist die Verwendung des Titels Tiefenhermeneutik zur Selbstbeschreibung des eigenen Tuns bei Autoren, die der Psychoanalyse verpflichtet sind, sehr beliebt. Bei genauerem Hinsehen dient die Benennung einer so genannten Übertragung/Gegenübertragung jedoch nur der literarischen Einstimmung in die Ausbreitung der Deutung, die schon vorher im Kopf des Interpreten bereitlag. Die inflationäre Rede von Psychotherapeuten und Psychoanalytikern über »meine Ge-
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genübertragung« – gleichgültig ob in Bezug auf Patienten, Kunstwerke oder andere Objekte – ist ein sicherer Indikator für eine Verschluderung des Denkens. In der Anwendungspraxis betreibt die Tiefenhermeneutik denselben systematischen Missbrauch mit der psychoanalytischen Methode, den sie am psychobiographischen Zugang kritisiert. Diesen gesamten, hier nur angedeuteten Komplex hat der Soziologe Ulrich Oevermann (1993) unter dem Stichwort Subsumtionslogik versus Rekonstruktionslogik bearbeitet und damit die von ihm entwickelte objektive Hermeneutik als Gegenspielerin der Lorenzer-Schule etabliert. Sein Vorwurf geht im Kern dahin, die Tiefenhermeneutik »subsumiere« das Kunstwerk unter schon bereitliegende psychoanalytische Kategorien und Konzepte, unterwerfe das Kunstwerk also der »Logik« der Psychoanalyse, anstatt es in seinem Eigengehalt, gemäß seiner ihm eigenen Logik, allererst sprachlich zu »rekonstruieren«. Oevermann hat eine eigene Methode der »sequenziellen Rekonstruktion« von kulturellen Ausdrucksgestalten entwickelt – gleichgültig ob es sich hierbei um Kunstwerke, um massenkulturelle Events oder um Gesetzestexte handelt. Zu Recht hält er der Tiefenhermeneutik entgegen, sie betreibe die gleiche »Nachvollzugshermeneutik« wie die Philologie des 19. Jahrhunderts. Nehmen wir zur Verdeutlichung einen zentralen Satz aus Kierkegaards (1960, S. 156) berühmter Analyse von Mozarts »Don Giovanni«. In seiner Beschreibung der Ouvertüre heißt es: »[…] so ahnt das Ohr in jenem hinsterbenden Bogenstrich die ganze Leidenschaft. Es ist eine Angst in jenem Aufblitzen, es ist, als würde es in der tiefen Finsternis in Angst geboren und solchergestalt ist Don Juans Leben«. Aus den Augenwinkeln erkennt man bereits, dass Don Giovannis »Angst« hier unter die Existenzangst-Theorie des Kierkegaard subsumiert wird – und dass wir, mit dieser Theorie ausgestattet, das Kunstwerk »nachvollziehen« sollen – und mit ihm wiederum die Auffassung Kierkegaards. Bei einem modernen psychoanalytischen Autor könnten wir den zitierten Satz leicht in folgender Variation antreffen: »[…] der erste selbständige Melodiebogen in den Violinen löst im Hörer eine Angst aus […]«. Stereotyperweise würde dieser Autor dann fortfahren, das psychoanalytische Angstkonzept zu referieren, dem er anhängt – und er würde dann garantiert die Anschlussstelle finden, an der Giovanni genau in dieses Konzept passt.
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■ Die Frage nach der künstlerischen Kreativität Zu Freuds Zeit gab es das eingedeutschte Wort Kreativität noch nicht. Freud (1925, S. 91) sprach von schöpferisch und von Begabung und er war noch der Ansicht: »Die Analyse kann nichts zur Aufklärung der künstlerischen Begabung sagen und auch die Aufdeckung der Mittel, mit denen der Künstler arbeitet, der künstlerischen Technik, fällt ihr nicht zu«. Obwohl es also damals noch keine Kreativitätsforschung gab, war das eine bescheidene Untertreibung. Denn in der »Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« war Freud auf der Suche nach dem künstlerischen Impuls, der Leonardo antrieb, und er glaubte diesen Impuls in Leonardos unbewusstem Verlangen nach der Vereinigung der zwei Mütter gefunden zu haben. Auf jeden Fall beruht die große Attraktivität des Leonardo-Essays in dem suggestiven Versprechen, die Wurzeln der künstlerischen Begabung zu entschlüsseln. Schon in der »Traumdeutung« hatte Freud die Entstehung des Traums immer wieder mit der Entstehung eines Kunstwerkes verglichen. Und gewiss hat er auch den Vergleich von Kunst und Spiel gebraucht, so wenn er mutmaßt: »Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt schafft« (Freud, 1910, S. 213). Aber er hat die gemeinsamen Struktureigentümlichkeiten dieser »eigenen Welt« von Kunst und Traum, Kunst und Spiel, Künstler und Kind nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Das ist eigentlich erst D. W. Winnicott (1973, S. 73) mit seiner Lehre der Übergangsobjekte und Übergangsphänomene gelungen. Um dies tun zu können, musste er sich erst von der orthodoxen psychoanalytischen Lehre frei machen und dieser bescheinigen, dass sie »den Blick für das Wesentliche verloren« habe, »nämlich die Frage nach dem kreativen Impuls«. Als Übergangsobjekt bezeichnet Winnicott ein materielles Etwas, das vom kleinen Kind zu einer bestimmten Zeit aus »objektiv« vorgefundenen Gegenständen »subjektiv« erschaffen und mit besonderer Bedeutung ausgestattet wird. Fortan schafft das Übergangsobjekt eine Zeitlang eine Brücke von der subjektiven zur objektiven Welt und zurück. Ursprünglich mag es aus der Not geboren sein, das abwesende Objekt (Mutter) zu ersetzen. Man würde es sich aber zu einfach machen, seine Wurzel und seine
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Funktion nur in der Ersetzung von abwesend/anwesend zu sehen. Bettzipfel, Tücher, Stoffpuppen mögen sich dafür wegen ihrer haptischen und olfaktorischen Eigenschaften besonders eignen. Es dürfen aber auch durchaus harte, kantige Gegenstände sein. Wenn seine Zeit um ist, wird das Übergangsobjekt wieder aufgegeben. Winnicott sagt über das Übergangsobjekt, es sei das erste reguläre Objekt, das »zugleich Nicht-Ich und doch niemals ganz Nicht-Ich ist« – wobei dieser Gegensatz nicht stört, sondern vielmehr weltbildend ist. Was sich in diesem »intermediären Bereich« ereignet, nennt Winnicott »primäre Kreativität«. Von besonderer Wichtigkeit ist, dass dieser Bereich nicht im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur inneren oder äußeren Realität in Frage gestellt wird – und nur, wo diese Fähigkeit erhalten bleibt, eine neue Realität zu erschaffen, ohne dass – wie in der Psychose – innere und äußere Realität kontaminieren oder deren Grenzen zusammenbrechen – wird man dann im späteren Leben von künstlerischer Kreativität sprechen können. Mit dieser Schnittstelle ist zugleich eine große Gefährdung der künstlerischen Produktivkraft bezeichnet. Winnicott hat sich freilich nicht für die Frage interessiert, was die künstlerische von der primären Kreativität unterscheidet. Aber mit seiner Art, die Dinge in einer von Freud so unterschiedlichen Art und Weise und mit einem ganz anderen begrifflichen Rahmen anzugehen, waren plötzlich viele Türen aufgestoßen – nicht nur die Tür zur künstlerischen Kreativität. Aus der Vielzahl gehaltvoller Arbeiten seien hier nur die von Greenacre (1971) und Gedo (1996) genannt. Nicht jeder, der ein schönes Bild malt, ist ein Künstler. Zum Künstler wird er erst, wenn zwei weitere Gründe hinzukommen: Er muss malen müssen und er muss sich – ganz unpsychologisch zu verstehen – den Zwängen der Professionalisierung innerhalb des vorgefundenen Kunstsystems aussetzen. Eine psychoanalytische Theorie der Kreativität muss dieses gesamte äußere Feld (vgl. die Übersichtsarbeit von Clemenz, 2005) berücksichtigen, sonst fällt sie zurück in den Geniekult des vorletzten Jahrhunderts. Auf dessen Spuren treffen wir immer wieder in der psychoanalytischen Literatur. Ob wir überhaupt sinnvoll zwischen Genie und (gewöhnlichem) Künstler unterscheiden sollen, mag dahin gestellt bleiben. Jedenfalls hat K. R. Eissler (1985, S. 1485), der eisern am
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Geniebegriff festhält und Leonardo und Goethe als Genies bezeichnet – warum nicht Caravaggio oder Tizian oder Tintoretto? – kein Kriterium für diese Superlativbildung angeben können: »Sie waren Menschen mit der Fähigkeit, den menschlichen Kosmos, oder einen Teil davon, in einer Weise wiederzuerschaffen, die bedeutsam war und die sich nicht mit irgendeiner früheren Wieder-Erschaffung vergleichen lässt.«. Implizit gibt Eissler damit als Kriterium die Entstehung des Neuen an. Dieses Kriterium bildet tatsächlich eine zentrale Achse für die Bestimmung von Kunst überhaupt. Aber bereits die Frage, wie »bedeutsam« dieses Neue sein müsse, um als neu gelten zu können, führt die Frage selbst ad absurdum. Eine zweite Achse zur Bestimmung der künstlerischen Kreativität bildet, wie schon angedeutet, das Obligatorische des Schaffens, das Müssen. Vom Übergangsobjekt her gefragt: Was befähigt und – gleichzeitig – was zwingt den Künstler dazu, andauernd ein Objekt, das zugleich Ich und Nicht-Ich ist, neu zu erschaffen. Auf diese Frage nach dem Neuen ist die Psychoanalyse nicht gut vorbereitet. Sie ist nämlich konträr hierzu auf »das Alte« geeicht, nämlich auf biographische Determination und auf unbewussten Wiederholungszwang. Die meisten psychoanalytischen Ansätze sind, auch wenn sie das nicht wollen und sogar bestreiten, davon geprägt, dass der Künstler, auch wenn er das Neue schafft, eine alte psychodynamische Konstellation wiederholt. In dem immer gleichen Nachweis, dass hier doch das Alte am Werk ist, geht die Frage verloren, wie gerade dadurch Neues entsteht. Die Antwort auf diese Frage führt in die Richtung der Arbeit an der Form. Wenn wir den Begriff des Übergangsobjektes als Metapher für das unbekannte X nehmen, an dem die künstlerische Kreativität ihren Anfang hat, dann können wir sagen: Der Künstler hat die Umformung des Übergangsobjektes so hoch besetzt, dass sie zu seiner Lebensaufgabe wird. Damit sind wir bei der Frage nach der Form angelangt.
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■ Auf dem Weg zu einer Psychoanalyse der Form Natürlich finden sich bei Freud vereinzelte Hinweise auf die Frage der Form. Die wohl prägnanteste Formel, in die er das interne Verhältnis von Künstler und Werk fasste, lautet: Der Künstler »[…] stellt zwar seine persönlichen Wunschphantasien als erfüllt dar, aber diese werden zum Kunstwerk erst durch eine Umformung, welche das Anstößige dieser Wünsche mildert, den persönlichen Ursprung derselben verhüllt, und durch die Einhaltung von Schönheitsregeln den anderen bestechende Lustprämien bietet« (1913, S. 417). Hier ist also allgemein von Umformung und von Schönheitsregeln die Rede. Freud betont immer wieder die Struktureigentümlichkeiten, die den Traum und das Kunstwerk sowohl voneinander unterscheiden als auch miteinander verbinden. Im Unterschied zu den »asozialen, narzisstischen Traumproduktionen« sind Kunstwerke »auf die Anteilnahme anderer Menschen berechnet, konnten bei diesen die nämlichen unbewussten Wunschregungen beleben und befriedigen. Überdies bedienten sie sich der Wahrnehmungslust der Formschönheit als ›Verlockungsprämie‹« (1925, S. 90). Gemeinsam haben Traum und Kunstwerk vor allem eine Umformung nach Regeln. Für die Traumarbeit, also den Prozess der Umformung des latenten Traumgedankens in den manifesten Traum hat Freud einige solcher Regeln benannt: Verdichtung, Verschiebung, Darstellung durch das Gegenteil, Reihenbildungen (Serien). Es überrascht nicht, dass sich besonders für die moderne Kunst analoge Regeln der Transformation des Bildgedankens aufzeigen lassen. Robert Waelder (1973) hat in einer sehr interessanten Arbeit in die drei Ebenen des Freud’schen Strukturmodells von Es, Ich, Über-Ich drei Zugänge zum Kunstwerk eingetragen, die zugleich drei Zugänge zum Verständnis dessen sind, was wir Schönheit nennen. Im »Es-Zugang« geht es natürlich um die Wunscherfüllung, um das, was Freud in die zitierte Formel fasste: Der Künstler stellt seine persönlichen Wunschphantasien als im Kunstwerk erfüllt dar. Um diese Formel plausibel zu machen, müssen wir den Begriff der Wunschphantasien freilich etwas weiter fassen, so weit, dass darin auch der lebensgeschichtlich relevante traumatische Kern aufgehoben ist. Im »Über-Ich-Zugang« geht es bei Waelder
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um Formen des ästhetischen Genusses – um Humor, Witz, Komik und dergleichen. Beim »Ich-Zugang«, der uns hier besonders interessiert, steht die Befriedigung über die Lösung von »unlösbaren« Aufgaben im Mittelpunkt, also die »Eleganz« oder »Perfektion« in der Ökonomie der Mittel, die zur Lösung eines Problems führen. Hier stoßen wir wie nirgends sonst an die Grenzen der Psychoanalyse. Offenbar lassen sich der Bereich ästhetischer Urteile und der Bereich der Herstellung wohlgeformter Gebilde – Sätze, Klänge, Figuren, Sequenzen – nur sehr partiell mit psychoanalytischen Bordmitteln erfassen. Die offenkundige Freude eines einjährigen Kindes an einer Melodie, die auch die Erwachsenen als schön beurteilen, lässt sich nicht mit desexualisierter oder neutralisierter Ich-Energie erklären. Denn welche sexuellen Besetzungen oder Triebwünsche sollten das wohl sein, die im Alter von einem Jahr zu Geschmacksurteilen sublimiert sind? Das hat Waelder schon 1965 festgestellt, und damit sehr vorsichtig am damals noch sehr starren Gehäuse der psychoanalytischen Trieblehre gerüttelt. Pinchas Noy (1984, S. 200) hat diesen Zugang weiter vorangetrieben und herausgearbeitet, dass und warum der Künstler die »vollkommene Form« anstreben muss. Diese vollkommene Form ist seine ganz persönliche subjektive Gleichung, geboren aus der Notwendigkeit, eine innere Ordnung der Selbstintegration wiederherzustellen, die sonst durch Fragmentierung und Zerfall bedroht wäre. Im Prozess der Werkerschaffung wird mit der »äußeren« Ordnung des Werkes zugleich die innere Ordnung wiedererschaffen. Die vollkommene Form ist nach Noy durch »Harmonie, Ausgeglichenheit, Symmetrie und die Versöhnung von Gegensätzen« gekennzeichnet. Das klingt einerseits ziemlich banal – und verlangt andererseits die Bereitschaft, die Begriffe der Harmonie, der Ausgeglichenheit usw. so weit auszulegen, dass sie auf die großen Werke der Moderne und der Gegenwartskunst anwendbar werden. Die Rätselfrage bleibt dabei weiterhin ungelöst: Offenbar gelingt es dem Künstler, uns Betrachtern (oder Hörern oder Lesern) eine neue Form als »bezwingend« und damit schließlich als schön »aufzuzwingen«, die nach konventionellen Gesichtspunkten »eben noch« als unharmonisch, unausgeglichen und zerklüftet oder sogar hässlich gegolten hätte. Wie also gelingt es dem Werk, unsere Widerstände zu überwinden und uns, wie der Name sagt,
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dazu zu zwingen, es als bezwingend schön anzuerkennen? Das ist die Rätselfrage, die bei Freud mit den zitierten Stichworten der »Verlockungsprämie« und der »Lustprämie« anklingt. Zu Recht war ihm diese Formulierung so wichtig, dass er sie immer wieder verwendete.
■ Vier Transformationsformeln In der Psychoanalyse wie in der Kunst werden innere Bilder, Vorstellungen und Affekte freigesetzt, transformiert, und neu gebunden. Die Art und Weise, wie dies geschieht, wird von unterschiedlichen psychoanalytischen Autoren und Schulen unterschiedlich konzeptualisiert. Die Modi und die Fokussierungen dieser Transformation und die hierbei verwendete Terminologie lassen sich zwanglos zu Formeln verdichten. Zum tieferen Verständnis müsste die gesamte Theorie der entsprechenden Schule referiert werden; das kann hier gewiss nicht geschehen. Vier solcher Formeln sind im folgenden Schaubild dargestellt. Die Beiträge von Freud und von Winnicott sind oben schon so weit entwickelt worden, dass deren »Formeln« aus dem Schaubild unmittelbar hervorgehen. Nicht so die Beiträge der Melanie-Klein-Schule und ihrer Weiterentwicklungen; diese seien hier wenigstens in ihren Grundzügen gestreift. Die Bewegung der Wiedergutmachung (Reparation), der Wiederherstellung des zerstörten Objektes bildet der kleinianischen Theorie zufolge den unbewussten Kern einer jeden gelungenen Entwicklung – einer menschlichen Entwicklung, eines psychoanalytischen Prozesses oder eines Kunstwerks. Die Rekonstruktion dieser Bewegung bildet dann das, worin die kleinianische Sicht nach ihrem eigenen Selbstverständnis über die Auffassung Freuds hinausweist (vgl. Segal, 1996). In der kleinianischen Terminologie formuliert: In der paranoid-schizoiden Position wird das geliebte und zugleich gehasste Objekt aus Neid und Wut – in der Phantasie – zerstört; die depressive Position wird dadurch eingeleitet, dass das – in der Phantasie – zerstörte Objekt betrauert, die Tat als schuldhaft erlebt und die – innere – Beziehung zum Objekt nun-
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mehr auf höherer Stufe wiederhergestellt wird. Diese Bewegung erscheint in der Form der Selbsterschaffung der Theorie wieder: Das psychoanalytische Erkenntnisobjekt wird als Freud-Code zerstört und als Melanie-Klein-Code wiederhergestellt. Jedoch ist die in Frage stehende Bewegung der Zerstörung und Wiederherstellung, bei ausreichender Formalisierung, gewiss schon in der Freud’schen Lehre enthalten; ödipale Struktur meint genau dies. Die Bewegung der Zerstörung und Wiederherstellung kommt ihrerseits in jeder Kunstbeschreibung noch einmal vor. Indem wir beschreiben, ordnen, Diagramme herstellen, zerstören wir die Synchronie der ästhetischen Wahrnehmung. Diese Zerstörung lässt sich nur durch die Gelungenheit der Wiederherstellung des Werkes als Text rechtfertigen. Diese Grundfigur ist von Bion (1997) in einer wiederum eigenen Theoriesprache weiterentwickelt worden. Bion hat zwar keine explizite psychoanalytische Kunsttheorie vorgelegt, aber er denkt in einem Transformations-Paradigma, das sehr nahe an dem sich bewegt, was in der künstlerischen Tätigkeit und in der ästhetischen Wahrnehmung stattfindet. Darum ist dieses Paradigma zu Recht in vielen neueren psychoanalytischen Beiträgen zur Kunst präsent. Ihm zufolge beginnt das psychische Leben damit, dass quälende, schmerzhafte Gefühle – in erster Linie also der Hunger – ursprünglich als »böse Objekte« außerhalb des Selbst wahrgenommen werden. Diese bösen Objekte drängen darauf, ausgestoßen zu werden – so die Grundannahme der Theorie. Im Stillvorgang werden diese »bösen Objekte« vom Baby in die Mutter »ausgeschieden« (evacuated). Die normal-empathische Mutter wandelt diese ausgestoßenen bösen Objekte, die Bion unverdauliche Fakten oder β-Elemente nennt, sukzessive in α-Elemente um. α-Elemente sind das, was die Mutter dem Kind zurückgibt, früher hätte man von primordialen guten Partialintrojekten gesprochen. Zu diesem Zweck stellt die Mutter in einem traumartigen Zustand, den Bion »Reverie« nennt, einen »Container« bereit, in dem sie die β-Elemente (»unverdauliche Fakten«) aufnimmt. Die Transformation von β in α wird also durch einen doppelten Ausscheidungsvorgang eingeleitet: Die Mutter scheidet Milch aus = gibt dem Kind die Brust (das gute Objekt). Aber das weiß das
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Kind nicht, es nimmt omnipotenter Weise zunächst an, die Milch komme aus seinem aktiv-saugenden Vorgehen an der Brust. Das Kind scheidet quälende Spannungen (Hunger usw.) in die »böse« Brust aus. Hieraus ergibt sich das Transformationsparadigma: Das Kind verinnerlicht ganz allmählich den Umwandlungsvorgang, den die Mutter ursprünglich mit den unverdaulichen Fakten vornimmt. Dadurch lernt es Schritt um Schritt, Abwesenheit und Spannung zu ertragen. Was hat dies nun mit Kunst zu tun? Zunächst haben wir mit der Bion-Formel eine elegante – und das heißt zugleich – eine in sich konsistente psychoanalytische Theorie der »subjektiven« Entstehung von Raum und Zeit vor uns: Das mich befriedigende Objekt ist jetzt nicht da, wird aber wiederkommen (Zeit). Es ist jetzt an einem anderen Ort als ich, wird aber wiederkommen (Raum). Dieser Transformationsvorgang ist zugleich ein Erkenntnisvorgang; er bereitet Lust. Denken und Fühlen entstehen dieser Lehre zufolge aus ein und derselben Matrix. In der Erzeugung von künstlerischen Objekten nimmt der Künstler – ebenso wie später der Betrachter im Genuss dieser Objekte – zugleich beide Positionen ein: die des Kindes, das mit »unverdaulichen Fakten« konfrontiert ist, und die der »containenden« Mutter, die diese β-Elemente in Kunst umwandelt. Insbesondere in der modernen Kunst ist der konventionell-voreingenommene Betrachter seinerseits mit »unverdaulichen« β-Brocken konfrontiert, die er, wenn er sich, wie oben expliziert, selbstgenügsam dem Objekt überlässt, sukzessive in irgendeine Form von Verstehen und Genuss transformiert. Die vier hier schematisch dargestellten Formeln operieren jeweils mit einer Transformationsregel, die in der Kunst wirksam ist: Leider sieht man vielen psychoanalytischen Publikationen, die sich mit einem konkreten Kunstwerk befassen, schon von weitem an, welcher Formel sie folgen – und wie sie das Werk unter diese Formel subsumieren. Es stellt sich dann das schale Gefühl ein, dass nicht das Werk verstanden, sondern dazu gebraucht oder sogar missbraucht wurde, um ein psychoanalytisches Sprachspiel zu explizieren und das Weltbild eines Autors zu festigen.
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Tabelle 1: Vier Transformationsregeln Autor
Formel
Paradigma
Freud
der Künstler stellt einen Triebwunsch als erfüllt dar; die Einhaltung von Schönheitsregeln wirkt dabei als Verlockungsprämie
Sublimierung
Klein
Wiederherstellung des zerstörten Objekts; im Spiel (Kind) und im Traum werden (destruktive) Phantasien in symbolischer Weise zur Darstellung gebracht
depressive Position
Winnicott Spielen; Alleinsein in Anwesenheit der (real abwesenden) »good enough mother« Bion
Transformationskriterium privater asozialer Trieb wird in sozial verfügbaren Genuss umgewandelt
Umwandlung von paranoidschizoiden in depressive Mechanismen
Übergangsobjekt ein Objekt, das zugleich Ich und Nicht-Ich ist
Ermöglichung (»conContainer – taining«) des Ertragens Contained des Unaushaltbaren; dies bahnt den Weg zum Genießen des Unverstehbaren.
Umwandlung von nichtverdaulichen β-Elementen in α-Elemente
■ Psychoanalyse als ästhetische Erfahrung Von den vielen psychoanalytischen Autoren, die sich mit Kunst beschäftigen, stellt nur eine ganz kleine Minderheit die Formfrage – und innerhalb dieser kleinen Minderheit geht die große Mehrheit wiederum vom »schaffenden Subjekt« aus und nicht vom »erschaffenen Objekt«, also vom Werk. Und wenn vom Werk ausgegangen wird, dann oftmals nur, um dies in eine anthropomorphe Gestalt zu bringen, die dann wie ein Mensch – im Regelfall wie ein Patient – behandelt wird. Das Werk aber ist etwas Anderes. Adorno (1970, S. 217, S. 477 f.) sprach von diesem Anderen als dem »Vorrang des Objekts«.
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Allmählich setzt sich im psychoanalytischen Diskurs der Gedanke durch, dass auch die Psychoanalyse noch etwas anderes ist. Dieses Andere wird mit Metaphern wie potential space, intermediärer Raum oder Das Dritte bezeichnet. Wir richten unser Erkenntnisinteresse zunehmend nicht mehr auf »die« Neurose x des Analysanden y, sondern auf das Dritte das entsteht, wenn die zwei Subjekte Analytiker und Analysand zusammenkommen. Dieses Dritte kann man auch mit dem dürren Wort »analytischer Prozess« bezeichnen, aber in diesem Ausdruck kommt offenbar eine bestimmte Eigenschaft dieses emergenten Neuen nicht ausreichend zur Geltung. Profan taucht dieses Dritte im Gespräch schon immer in der Umschreibung »in meiner Analyse« auf – wenn ein Mensch einem anderen Menschen etwas von der besonderen Eigenschaft seiner Erfahrung »in« der Analyse mitteilen will, oder noch einfacher als »hier«, wenn der Analysand seinem Analytiker mitteilen möchte, dass es etwas gibt, was eben nur »hier« in der Analyse stattfindet. Ogden (1996, S. 884) nennt dieses emergente Dritte auch das »subject of analysis« – eine ins Deutsche nicht übersetzbare Metapher, denn »subject« oder »sujet« bedeutet im Englischen und Französischen sowohl das Subjekt wie der Gegenstand. Und genau darum handelt es sich: ein Subjekt-Objekt, das vom Analytiker und vom Analysanden zwar ins Leben gerufen wird, aber eine von beiden unabhängige Gestalt annimmt, die nicht willkürlich gesteuert oder verändert werden kann. Von hier aus stellen wir fest: Die Psychoanalyse hat einen ganz eigenen Zugang zur ästhetischen Erfahrung und zur künstlerischen Form (– oder zur Schönheit, was dasselbe ist.) Dieser Zugang besteht gerade nicht in irgendeiner Anwendung irgendwelchen psychoanalytischen Wissens auf irgendwelche Kunstwerke, sondern er besteht in ihr selbst. So wenig das Gelungene eines gelungenen Kunstwerks darin besteht, dass der abgebildete Apfelbaum »realitätsgerecht« und die Perspektive »unverzerrt« wiedergegeben sind, so wenig besteht eine gelungene Analyse darin, dass eine sexuelle oder charakterliche Hemmung von einem »pathologischen« in einen »realitätsgerechten« Zustand umgewandelt worden ist. Wenn ein psychoanalytischer Prozess zu sich selbst findet, kommen Inhalt und Form tendenziell zur Deckung. Diese Konvergenz wird von beiden Beteiligten in einem ganz elementaren Sinn als
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schön empfunden. Inhalt: Das sind in diesem Fall die Probleme, Traumen und Konflikte, derentwegen der Analysand ursprünglich gekommen war. Form: Das ist die Art und Weise, wie diese Inhalte innerhalb des psychoanalytischen Behandlungsrahmens sukzessive in die Übertragung gelangen, dort zur Darstellung, zur Auflösung oder Umformung gelangen, auf jeden Fall: eine neue Gestalt annehmen. Diese Konvergenz wird in Falldarstellungen selten oder nie in den Mittelpunkt gerückt, teils aus Scham vor der Preisgabe eines intimen Summum Bonum, teils aus Unvermögen, teils aus neurotischer und teils auch aus realer Angst vor der Zerstörung des Schönen, sobald dieses vor der Community zur Darstellung gebracht wird. Am stärksten wiegt wohl das Unvermögen; denn nach hundert Jahren Psychoanalyse fangen wir gerade erst an, zu verstehen, was wir hier treiben.
■ Krise und Muße Zwei Stichworte zum Verständnis dessen, was hier geschieht, sind Krise und Muße. Dieses aneinander gebundene Paar nimmt in der ästhetischen wie in der analytischen Erfahrung gleichermaßen eine zentrale Stelle ein – und eröffnet darum einen neuen Zugang zur Psychoanalyse der Form, der strikt vom Werk ausgeht. Dass Kunsterfahrung oder Werkaneignung nur im Zustand der Muße möglich sind, gehört zur Struktureigenschaft der ästhetischen Erfahrung – also zu einer Eigenschaft, die durch alle Zeiten und für alle Kulturen gleich bleibt (Oevermann, 1991, 1993). Nur in dieser Befindlichkeit kann das Subjekt in die Krise geraten, in die es geraten muss, um das Neue des Werks für sich selbst aufschließen zu können. Die entsprechende kunstgeschichtliche Semantik hierzu ist: Erschütterung, Ergriffenheit. Muße heißt also zweierlei: freigesetzt von Entscheidungs- und Praxisdruck und frei von normativen und Klassifikationszwängen. Der Betrachter soll die Krise, in die er gerät, nicht wie eine konventionelle Entscheidungskrise alsbald beheben müssen (»dieses Bild finde ich nicht so gut«) und er soll das Werk nicht, wie in der alltäglichen Wirklichkeit, un-
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ter normativen Gesichtspunkten betrachten müssen (»dies ist ein Hauptwerk des Manierismus«). Der Betrachter bringt sich also in einen Zustand, in dem er sich selbstgenügsam dem Gegenstand überlassen kann. Zu diesem Zweck wurde idealerweise das Institut des Museums geschaffen. Hier simuliert das Subjekt die Krise unter den krisenfreien Bedingungen der Muße. In einer knappen Gegenüberstellung wird sofort deutlich, wie diese Struktureigenschaften der ästhetischen Erfahrung in der psychoanalytischen Erfahrung wiederkehren: Tabelle 2: Ästhetische Erfahrung und psychoanalytischer Prozess Ästhetische Erfahrung
Psychoanalytischer Prozess
Muße
Setting und Abstinenzregel erzeugen eine besondere, mußeähnliche Befindlichkeit
sich selbstgenügsam dem Gegenstand überlassen
auf Seiten des Analytikers: Schwingen zwischen gleichschwebender Aufmerksamkeit und Deutung (Eingriff) auf Seiten des Patienten: freie Assoziation (»…. alles sagen, was Ihnen einfällt«)
freigesetzt von Praxisdruck und Entscheidungszwang
freigesetzt von Handlungsdruck; im Unterschied zu einer konventionellen therapeutischen Situation muss weder gehandelt noch »ein Rat gegeben« werden
simuliert die Krise unter den krisen- die spontan sich einstellende Überfreien Bedingungen der Muße tragung belebt (»simuliert«) eine lebensgeschichtliche Krise wieder; Produktion und Lösung der Krise fallen in eins Asymmetrie von Künstler und Betrachter wird vorausgesetzt
strukturelle Asymmetrie von Analytiker (dessen persönliche Belange und Begehren abgeschattet bleiben) und Patient (dessen Belange und Begehren fokussiert werden)
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■ Das Bild als Text und sein Unbewusstes So wie wir zum geträumten Traum keinen unmittelbaren Zugang haben, sondern, aus strukturlogischen Gründen, immer nur zum erzählten – gleich ob uns selbst, oder dem Analytiker erzählten – Traum haben, so haben wir auch keinen unmittelbaren Zugang zum gemalten Bild oder zur gespielten Musik, sondern wir müssen immer über die Brücke der Versprachlichung gehen. Sobald ich sage: »dieses Bild ist schön« – habe ich auch schon ein textförmiges Protokoll einer, falls sie denn stattgefunden hat, unmittelbaren ästhetischen Erfahrung angefertigt. Das Bild ist dann schon zum Text geworden. Zwischen dem Künstler und seinem fertigen Werk besteht hier grundsätzlich die gleiche unüberschreitbare Kluft wie zwischen dem Werk und dem Betrachter. Der geschaffen habende Künstler ist von seinem Werk ebenso getrennt wie der »ergriffene« Betrachter. Über diese Trennung vom Werk sind der Künstler und der Betrachter miteinander verbunden, und genau diese Trennung können wir uns durch eine möglichst genaue sprachliche Rekonstruktion des Werkes zunutze machen. Hierin besteht die Chance der Psychoanalyse: das Werk so weit aufzuschließen, dass und bis sich psychoanalytische Anschlussstellen ohne Zwang ergeben. Wir müssen also von dem Kunstwerk eine Beschreibung (ein Protokoll) anfertigen – und das tun wir, indem wir, der technischen Regel Freuds folgend, von der »Oberfläche zur Tiefe« fortschreiten. In einer philosophisch abgründigen Weise analysieren wir immer nur unser Protokoll des Bildes und nicht das Bild selbst. Dass dem so ist, kommt auch in der Bestimmung Adornos des Kunstwerks als des zugleich Identischen und Nichtidentischen zum Ausdruck: Jedes Bild ist ein Bild von etwas – und dieses durch das Bild bestimmte Etwas ist etwas anderes als das Bild selbst. Jedes Bild lässt einen Gegenstand erscheinen, der nicht das Bild selbst ist. Weil dies so ist, ist es auch die gewöhnliche Unterscheidung von »gegenständlich« und »abstrakt« irreführend und sinnlos. Es gibt keine abstrakten Bilder. Das erfahren wir geradezu mit Gewalt, wenn wir versuchen, ein so genanntes abstraktes Bild zu beschreiben. Was immer wir beschreiben, und wie unvollkommen diese Beschreibung ausfällt: Dies ist sein Gegenstand. Wenn wir konsequent in der Beschreibung verfahren, stellen wir unweiger-
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lich fest: Ein Werk besteht nur aus – immer neu zu erschließenden – Oberflächen. Falls es so etwas gibt wie eine unbewusste Mitteilung im Kunstwerk, einen unbewussten Gehalt oder dergleichen, so liegen diese nicht in irgendeiner Tiefe des Werks verborgen, sondern an der Oberfläche. An der Radikalität dieser Forderung zerschellt die so genannte Gegenübertragung auf das Werk, von der die tiefenhermeneutische Kulturanalyse ausgeht. Die Gegenübertragung muss sich an der Beschreibung abarbeiten und löst sich dann, wenn die Beschreibung gelingt, in ihr auf. Wenn man so vorgeht, löst man zugleich Adornos Forderung nach dem »Vorrang des Objekts« ein.
■ Was ist schön? Wenn wir das gesamte Spektrum der durch die Physiologie – des Gleichgewichts, des binokularen Sehens, des Achsenkreuzes von Wirbelsäule und Schulterblatt, des Farbenspektrums und so weiter – vorgegebenen »Schönheitsregeln« (Freud) als gegeben voraussetzen, dann gibt es auf der Basis dieser Voraussetzungen einen noch lange nicht ausgeschöpften Bereich, auf dem in Zukunft der Beitrag der Psychoanalyse zur Kunst liegen wird: die Explikation der gemeinsamen Schnittmenge von Ergriffenheit, Denken und Schönheit. Freud (1914, S. 172), um ein letztes Mal mit ihm zu beginnen, hat hier etwas forciert den Standpunkt der Hingabeverweigerung eingenommen. »In der Musik«, sagte er, »bin ich fast genussunfähig. Eine rationalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir dagegen, dass ich ergriffen sein und nicht wissen solle, warum ich es bin, und was mich ergreift.« Natürlich wusste Freud auch dort, wo er von der Moses-Statue des Michelangelo ergriffen war, gerade nicht, was ihn so ergreift. Wir sind immer von dem Rest er-griffen, den wir nicht be-griffen haben, und den wir nicht begreifen können. In diesem Sinn sprach Adorno vom »Rätselcharakter« des Kunstwerks. Es kann kein Zufall sein, dass Freud die Grenzen des psychoanalytischen Kunstverstehens – so wie er dies Verstehen verstand – an der Musik festmachte. In einer
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hier nicht weiter zu bestimmenden Hinsicht ist die Musik die Mutter aller Künste. Von einer Melodie sagen wir umstandslos, was wir von einem Bild niemals sagen würden: Wir fühlen uns von ihr verstanden. Wir kehren also, und dies nur bei der Musik, die Subjekt-Objekt-Relation um. Aus diesem einfachen Grund verstummen auch vor der Musik die dummen Fragen nach der Bedeutung. Niemand fragt, was man unter diesem oder jenem Stück von Beethoven oder Coltrane oder den Rolling Stones zu verstehen habe und was diese oder jene Figur in einem Musikstück bedeuten solle. Möglicherweise kommt das Gefühl, verstanden zu werden – das uns so ergreift – daher, dass wir früher hören als sehen, jedenfalls in dem Sinn, wie wir im Mutterleib die Bewegungen und Töne der Mutter »hören« und dass, von der Mutter bewegt zu werden und ihr dabei zuzuhören die elementare Form sowohl des Verstandenwerdens als auch des Nichtverstehens ist. Intuitiv verhalten wir uns, wenn wir Musik hören und von ihr ergriffen sind, so, wie es Hegel (1986, S. 13) für die »klassische Schönheit« der griechischen Antike wollte: Sie ist »nicht die Bedeutung von irgendetwas, sondern das sich selbst Bedeutende und damit auch das sich selber Deutende«. So wie es die Aufgabe der Kunst ist, »das in sich selbst Gehaltvolle zu adäquater sinnlicher Gegenwart herauszustellen«, so ist es die Aufgabe der Philosophie der Kunst – und wir ergänzen: der Psychoanalyse –, »was dies Gehaltvolle und seine schöne Erscheinungsweise ist, denkend zu begreifen« (Hegel, 1986, S. 241). Es hat keinen Sinn, den Begriff der Schönheit, wie Luhmann (1995, S. 309 ff.) dies tut, mit einem Tabu zu belegen, nur weil die Opposition schön – hässlich sich geschichtlich überholt hat. Wer dies tut, dem geht es wie mit dem Glauben: Wenn man ihm die Türe weist, dann kommt er als Aberglaube zur Hintertür wieder herein. Was wir Schönheit nennen, ist vielfach determiniert. Eine Determinante liegt in der Befriedigung über die vollzogene Transformation von etwas Unverstandenem in Verstehen, von etwas Bedrohlichem in Bekanntes, von Fremdem in Wiedererkanntes, von Unerträglichem in Ertragbares, von Zerstörung in Versöhnung, von Ekel in Genuss. Die vier Formeln, die oben zusammengefasst wurden, bestehen im Kern aus einem solchen Transformationskri-
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terium – und versuchen, sich mithilfe dieses Kriteriums der Frage der Schönheit zu nähern. Es liefe auf konkretistischen Kitsch hinaus, dem unerträglichen Lärm – um bei der Musik zu bleiben – die gehaltvolle Stille oder die harmonische Form oder die postharmonische Serialität oder irgendein anderes vergängliches Seiendes als das Schöne entgegenzusetzen. Schön ist das, was wir immer aufs Neue erträglich machen, was wir dennoch oder gerade deshalb zu genießen gelernt haben. Die in solchem Genuss aufgehobenen Wahrnehmungsund Denkprozesse, verweisen auf Internalisierungen, die bis zum Genießbarmachen des Unverdaulichen – wie oben beschrieben – zurückreichen. Das Schöne hat viele Oppositionen: das Gefällige, das Kitschige, die Nachahmung, das Beliebige, das Konventionelle, das Erhabene. Das Schöne an der Sache ist nun: Alle Positionen auf dieser endlosen Reihe von Oppositionen können ihrerseits das »in sich selbst Gehaltvolle zu adäquater sinnlicher Gegenwart herausstellen« (Hegel), also ihrerseits so durchgeformt sein, dass Schönheit neu entsteht. Schönheit ist eine sich andauernd entziehende Bestimmung. Sobald man auf sie weist, verschwindet sie auch schon wieder und es entsteht eine Lücke, eine Leere, die durch keine Definition, sondern nur durch das Begehren nach Schönheit gefüllt werden kann. Das ist das Feld, zu dem uns Lacan den Weg weist. Damit wäre dann eine fünfte Transformationsformel für die Psychoanalyse der Kunst angedeutet.
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■ Burkhardt Lindner
Den »Autor« Freud entdecken Eine Lektüre der Abhandlungen über den Witz und über das Unheimliche
■ Der Autor Freud Was ist eigentlich das Werk Freuds? Sind es die Bände der gesammelten Schriften oder ist es »die Psychoanalyse«? Die Frage lässt sich nicht nach der einen oder anderen Seite entscheiden. Wie eng beides zusammenhängt, lässt sich schon darin erkennen, dass Freud sehr bewusst die Organisationspolitik des Begründers einer Wissenschaft und ärztlichen Therapie mit der Publikationsstrategie des Autors (vgl. Lindner, 2006a) verknüpft hat. Wie ernst es ihm mit diesem Anspruch war, kommt deutlich zum Ausdruck als er 1935 die zehn Jahre zuvor verfasste »Selbstdarstellung« für die zweite Auflage ergänzt und auf die 1930 erfolgte Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main eingeht. Diese offizielle Würdigung und der Erfolg seiner Schriften bei einem breiteren Publikum, heißt es rückblickend, habe bei ihm die »Entstehung der kurzlebigen Illusion« befördert, »daß man zu den Autoren gehört, denen eine große Nation wie die deutsche bereit ist, Gehör zu schenken […] Es war der Höhepunkt meines bürgerlichen Lebens […]« (Freud, 1935, S. 33). Die Verfemung durch den Nationalsozialismus konnte den Erfolg der Psychoanalyse letztlich nicht verhindern. Dass Freuds Begriffsbildungen Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fanden, beruht darauf, dass seine Forschung etwas traf, das die Epoche beunruhigte und umtrieb. Und diese Epoche Freuds ist keineswegs abgeschlossen. Es beruht aber ebenso auf der Art, wie Freud seine Begriffsbildungen präsentierte, nämlich wie er seine Texte schrieb. Ein ganz entscheidender Faktor für die Popularisie-
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rung der Psychoanalyse bildet dabei die in den Texten fortlaufend inszenierte Beteiligung des Lesers am Werk. Dies geschieht auf zwei Ebenen. Zum einen arbeitet Freud durchgängig mit »vorgefundenem Material«: Er berichtet Fallgeschichten und klinische Beobachtungen, gibt Überblicke über den wissenschaftlichen Forschungsstand, bezieht immer wieder persönliche Erfahrungen ein. Die Darstellung dieses Materials wird zweifellos in bestimmter, autorstrategischer Weise präpariert und komponiert; doch geschieht das auf eine Weise, die dem Leser den Eindruck gibt, es werde ihm durchgehend ermöglicht, die Argumentationen und Überlegungen kritisch nachprüfen zu können. Die zweite Ebene ist die der Dramaturgie der Abhandlungen. Freud weiht in Vorworten und Einleitungen den Leser in das jeweilige Vorhaben ein, hält dauernd Kontakt mit ihm, beteiligt ihn an eigenen Schwierigkeiten und Zweifeln, entschuldigt sich bei ihm für unerfüllte Erwartungen, stellt Vermutungen über vom Leser zu erwartende Einsprüche an. Hierbei handelt es sich nicht um stereotyp eingesetzte rhetorische Floskeln, sondern um ein erstaunlich variantenreiches Repertoire, das offenkundig für die Ausarbeitung der Manuskripte unentbehrlich ist und sich kaum sonst bei einem Theorie-Autor findet. Dies betrifft auch die Wahl der erläuternden Vergleiche, die häufig die Arbeit des Psychoanalytikers mit der Entzifferungsarbeit des Archäologen vergleichen. Der Leser soll mitgraben. Er wird in ein Arbeitsbündnis mit dem Autor gezogen. Aber wird er damit nicht von einem Übervater an die Hand genommen? Und: Geht die beschriebene Strategie restlos auf? Wer anders als »die Psychoanalyse« hat solche Vorstellung von theoretischer Sprachherrschaft am nachhaltigsten unterminiert? Freud hat, diese These wird meinen ganzen Aufsatz begleiten, etwas in Bewegung gesetzt, das er selbst nicht vollständig beherrschen konnte und das zu beherrschen auch dem eigenen Programm zufolge gar nicht möglich war. Man muss nur an die ängstliche Befangenheit Freuds gegenüber Bretons Inanspruchnahme der Traumdeutung für den Surrealismus erinnern, um auf die Folgen einer Theorie hinzuweisen, die sich nicht mit der Intention des Autors decken. Und dies kann auch bei einer Theorie nicht überraschen, die gelehrt hat, der Souveränität des IchBewusstseins und seiner Intentionalität zu misstrauen. Durch die
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Grundannahmen des Unbewussten und der entstellten Wiederkehr des Verdrängten hat Freud die gängige Vorstellung revidiert, das Subjekt könne in der Reflexivität des Selbstbewusstseins eine restlose Transparenz seiner Intentionen und Motive gewinnen. Ohne Zweifel besteht der Gestus der Psychoanalyse Freuds darin, ein bisheriges Nichtwissen in Wissen zu verwandeln und hinter dem Widersinn der Symptome einen Sinn zu finden. Die terra incognita des Unbewussten, der der bewussten Wahrnehmung entzogene »psychische Schauplatz« (Freud, 1905, S. 200), soll durch eine spezifische Praxis des Deutens wissenschaftlich erschlossen werden. Aber zugleich stellt die Logik dieser Rekonstruktion die Annahme eines ursprünglichen Sinns in Frage. Wenn Freuds Aufmerksamkeit den Bildungen der Verdrängung und Entstellung, der Fehlleistungen und der Symptome gilt, so hat er die Tür zu einer Theorie des Textes und überhaupt geistiger Ausdrucksformen aufgestoßen, die vom alten hermeneutischen Modell eines verfügbaren Sinns, von dem die Mehrdeutigkeiten der Artikulation wie Schlacke abfallen, sich abkehrt. Die Radikalität des Aufklärers Freud und das Abenteuer seiner Schreib- und Theorieproduktion bleibt deshalb in lehrbuchartigen Zusammenfassungen und Systematisierungen seiner Wissenschaft ausgeblendet. Sie erschließt sich vielmehr erst in der Nachverfolgung jener Schreibprozesse, die jeder einzelne Text darstellt. Dass Freud die Mühen der Begriffsbildung und die Widerspenstigkeit des Gegenstands in der Darstellung mitthematisiert, macht gerade seinen Rang als großer wissenschaftlicher Autor aus. Die Vorgehensweise, mit der im Folgenden Freuds Abhandlungen über den Witz und über das Unheimliche analysiert werden, richtet sich deshalb auf das Sperrige der Texte. Einer genauen Lektüre seiner Schriften sind deshalb die Ambivalenzen in der Autor-LeserStrategie der Texte oder die Auffälligkeiten, Ungereimtheiten und dunklen Stellen in der Rhetorik der Texte wichtig. Gerade sie halten seine Texte im Umlauf; gerade sie geben Anstöße und Fingerzeige, von hier aus Freuds Projekt weiterzudenken.
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■ Vom Traum zum Witz: Das Problem der Komik Freuds Untersuchung »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten« ist das Beste geblieben, was über diese höchst besondere, nur dem Menschen eigentümliche Kurztextsorte »Witz« je geschrieben wurde. Man erfährt hier alles über die raffinierten Techniken und die amoralisch-anarchischen Tendenzen der Witzbildung. Man findet das Geheimnis der Lachlust über Witze aufgelöst und begreift, warum Witze immer einem andern erzählt werden müssen. Mir selbst kann ich keinen Witz erzählen. Und ich kann erst lachen, wenn der andere über meinen Witz gelacht hat. Der Witz ist anders als der asoziale Traum ein »sozialer Vorgang«. Andererseits stellt das Buch, wenn man sich in die Einzelheiten des Aufbaus und die Prämissen der Argumentationsweise versenkt, keineswegs bloß eine Monographie über den Witz dar, sondern zeigt eine merkwürdig schiefe Architektonik. Ich führe rasch einige Auffälligkeiten an. Das Buch sollte nicht allein den Witz behandeln, sondern in einem direkten Bezug zur Traumdeutung stehen, und es sollte auch eine Theorie des Komischen bieten, obschon die Einleitung ausdrücklich davon abrät. Daraus entspringt der Schlussteil »C. Theoretischer Teil« (Freud, 1905, S.181 ff.) mit den beiden Kapiteln »Die Beziehung des Witzes zum Traum und zum Unbewußten« und »Der Witz und die Arten des Komischen«. Am Beginn dieses letzten Kapitels reflektiert Freud noch einmal die Anlage des Buchs. Die Probleme des Komischen, schreibt er, hätten allen Lösungsbestrebungen der Philosophen und der Ästhetiker so erfolgreich getrotzt, »daß wir die Erwartung nicht aufrechterhalten können, wir würden ihrer gleichsam durch einen Handstreich Meister werden, wenn wir von der Seite des Witzes an sie herankommen. Auch brachten wir für die Erforschung des Witzes ein Instrument mit, welches andern noch nicht gedient hatte, die Kenntnis der Traumarbeit; zur Erkenntnis des Komischen steht uns kein ähnlicher Vorteil zu Gebote, und wir dürfen daher gewärtig sein, daß wir vom Wesen der Komik nichts anderes erkennen werden, als was sich bereits im Witz gezeigt hat, insofern derselbe dem Komischen zugehört und gewisse Züge desselben
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unverändert oder modifiziert in seinem eigenen Wesen führt«. (Freud, 1905, S. 207). Was spielt sich in diesem äußerst verklausulierten Satz ab? Zum einen ist der Hinweis auf die »Traumdeutung« von Gewicht. Ein Einwand gegen die »Traumdeutung«, bei der sprachlichen Protokollierung und Zerlegung der einzelnen Träume gewönnen diese vielfach einen witzartigen Charakter, war unmittelbarer Anlass für die Abhandlung »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«. Dazu hat Freud sich mehrfach noch später geäußert. In einer 1909 in die »Traumdeutung« eingefügten Fußnote, er habe die Abhandlung über den Witz schreiben müssen, weil »der erste Leser und Kritiker dieses Buchs« – gemeint ist die »Traumdeutung« und ihr Kritiker Fließ –, dass hier »der Träumer oft zu witzig erscheine […] Immerhin gab mir dieser Vorwurf Anlaß, die Technik des Witzes mit der Traumarbeit zu vergleichen […]« (Freud, 1900, S. 299). In der »Selbstdarstellung« (1925, S. 91) kommt er ausführlich darauf zurück. Sein Buch über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten sei »direkt ein Seitensprung von der ›Traumdeutung‹ her. Der einzige Freund der damals an meinen Arbeiten Anteil nahm, hatte mir bemerkt, daß meine Traumdeutungen häufig einen ›witzigen‹ Eindruck machten. Um diesen Eindruck aufzuklären, nahm ich die Untersuchung der Witze vor und fand, das Wesen des Witzes liege in seinen technischen Mitteln. Diese seien aber dieselben wie die Arbeitsweisen der ›Traumarbeit‹, also Verdichtung, Verschiebung, Darstellung durchs Gegenteil, durch ein Kleinstes usw.«. Und in den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« wird dieser aus der Frage nach Witzigkeit von Traumdeutungen entstandene »Seitensprung« noch schärfer beurteilt. »Diese Frage hat mich seinerzeit ein Stück von meinem Wege abgeführt, indem sie mir die Notwendigkeit auferlegte, den Witz selbst einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen« (Freud, 1916–17, S. 242). Worin das Abführen vom rechten Weg eigentlich bestand, verrät uns Freud allerdings nicht. In der Abhandlung über den Witz scheint Freud sich seiner Sache hingegen noch durchaus sicher. Er will vorführen, dass das Analyseinstrument der Traumdeutung auch für die Analyse der Witze Geltung hat und dass zugleich diese Analyse die grundle-
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gende Differenz zwischen Traum und Witz in der psychischen Lokalisierung erfassen lässt. So wie Freud in der Abhandlung den wissenschaftlichen Ertrag seiner Forschung bündig zusammenfasst, gelingt dies bestens. Ich zitiere auszugsweise die grundlegende Passage zum Verhältnis von Traum und Witz, die sich im Schluss des Kapitels VI findet. Dient der Traum »auf dem regressiven Umweg der Halluzination«, nämlich der halluzinatorischen Wunscherfüllung, der Funktion den Schlaf zu hüten, so bedient sich der Witz der »bedürfnisfreien Tätigkeit unseres seelischen Apparats«, nämlich einer regressiven Lust am sprachlichen Unsinn, die er sekundär mit sozialen Motiven auffüllt. »Der Traum ist ein vollkommen asoziales seelisches Produkt; er hat einem anderen nichts mitzuteilen; innerhalb einer Person als Kompromiß der in ihr ringenden seelischen Kräfte entstanden, bleibt er dieser Person selbst unverständlich […] Der Witz dagegen ist die sozialste aller auf Lustgewinnung zielenden seelischen Leistungen […] Er muss sich also an die Bedingungen der Verständlichkeit binden, darf die im Unbewußten mögliche Entstellung durch Verdichtung und Verschiebung in keinem weiteren Maße in Anspruch nehmen […] Der Traum dient vorwiegend der Unlustersparnis, der Witz dem Lusterwerb; in diesen beiden Zielen treffen aber alle unsere seelischen Tätigkeiten zusammen« (Freud, 1905, S.204 f.). Diese bündige Zuordnung von Traum- und Witzarbeit wird dann im Kapitel VII »Der Witz und die Arten des Komischen« um die psychogenetische Lokalisierung des Komischen vervollständigt. Hier heißt es resümierend: »Die Quelle der Lust des Witzes mußten wir in das Unbewußte verlegen; keine Veranlassung zur gleichen Lokalisation ist für das Komische erfindlich. Vielmehr deuten alle Analysen, die wir bisher angestellt haben, darauf hin, daß die Quelle der komischen Lust die Vergleichung zweier Aufwände ist, die wir beide dem Vorbewußten zuordnen müssen. Witz und Komik unterscheiden sich vor allem in der psychischen Lokalisation; der Witz ist sozusagen der Beitrag zur Komik aus dem Bereich des Unbewußten« (Freud, 1905, S. 237). Das Komische selbst bleibt aber auf den Bereich des Vorbewussten beschränkt. Hinter dieser bestechend einfachen Aufteilung verbergen sich Probleme. Freuds Schematismus deckt die Widersprüche und
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Ungereimtheiten der Abhandlung zu, auf die es gerade ankommt. Thesenhaft gesprochen ergeben sich die widerstreitenden Textbewegungen daraus, dass Freuds Argumentationslinie sich im Schreibprozess gewaltsam gegen zwei sozusagen insgeheim geflüsterte Gegeneinwände zu behaupten sucht. 1. Die formale Applikation der Mechanismen der Traumarbeit auf den Witz – Verdichtung, Verschiebung, Gleichbehandlung von Wort- und Sachvorstellung, Umgehung der Zensur und so weiter – rücken Traum und Witz enger zusammen, als es der Autor eigentlich möchte. Daher rühren auch die späteren Distanzierungen Freuds. Dahinter verbirgt sich aber ein grundlegenderes Problem, ob nämlich der Traum, wie ihn der Träumende erfährt, als Text, zu denken sei. Der Witz ist, das hat Freud richtig erkannt, ein Text; er operiert mit semantischen und dialogischen Mechanismen der Umgangssprache. Der Witz ist eigentlich ein Sprachwitz. Die szenische Visualität der Träume gewinnt hingegen erst durch Übersetzung, durch erinnerndes Nacherzählen, ihren Textcharakter. Und ob die psychoanalytische Zerlegung des erinnerten Traums in vielfach überdeterminierte rebusartige Elemente ihr Ziel in einem neuen Text, dem Text der Traumgedanken, hat, bleibt sehr die Frage. 2. Die formale Analogie von Witz und Traum und damit die Lokalisation (»Quelle«) des Witzes im Unbewussten hat die Lokalisation der Komik im Vorbewussten zur Folge. Damit reißt Freud die enge Verbindung von Witz und Komik auseinander. Das führt im Ergebnis zu einer geradezu ›entpsychoanalysierten‹ Theorie des Komischen. Die nur gewaltsam zu behauptende Trennung hat im abschließenden Kapitel »Der Witz und die Arten des Komischen« eine äußerst verschlungenen Darstellung zur Folge, die manchmal geradezu haarspalterisch den eigentlichen Witz vom bloß Komischen, das den Anschein des Witzigen habe, »reinlich zu scheiden« sucht (Freud, 1905, S. 236). Ich werde mich im Folgenden vor allem auf diesen zweiten Punkt, also auf Freuds »reinliche Scheidung« von Witz und Komik, konzentrieren. Als grundsätzliche Unterscheidung zwischen Witz und Komik
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geht Freud davon aus, der Witz werde »gemacht«, das Komische hingegen »gefunden« (Freud, 1905, S. 206). Dass diese Bestimmung mindestens fragwürdig ist – man könnte geradezu umgekehrt sagen, dass der Witz gefunden und das Komische gemacht wird –, lässt sich bei Freud selbst nachlesen, wenn er im weiteren Verlauf ausführlich die Mittel darstellt, welche dem Komischmachen dienen. Fast alles Komische, das wir kennen, ist gemacht, inszeniert. Das Unfreiwillig-Komische, das wir bei einem Kind oder bei einer zufälligen Fehlleistung finden, – davon geht Freuds Analyse zunächst aus – ist hingegen ein Sonderfall. Freud benötigt aber die Unterscheidung zwischen dem Finden des Komischen und dem Machen des Witzes, weil er mit ihr die Hauptunterscheidung stützen kann, dass der soziale Vorgang des Witzes und des Komischen differiere. Das Komische, sagt Freud immer wieder, begnüge sich mit zwei Personen: dem »Ich«, das lacht, und der »Objektperson«. »Beim Komischen kommen im Allgemeinen zwei Personen in Betracht, außer meinem Ich die Person, an der ich das Komische finde.« Der Witz hingegen bedarf neben dem Witzerzähler und der Person, die Gegenstand des Witzes ist, noch des anderen, einer »dritten Person«, die durch ihr Lachen die gelungene Witzarbeit bestätigt. Diese dritte Person, beobachtet Freud, falle beim Komischen weg. Der »psychische Vorgang des Witzes vollendet sich zwischen der ersten, dem Ich, und der dritten, der fremden Person, nicht wie beim Komischen zwischen dem Ich und der Objektperson« (Freud, 1905, S. 161 f., vgl. auch S. 206). Was hier als sorgsame Unterscheidung vorgetragen wird, beruht genauer betrachtet auf einer trickreichen Vertauschung der Position des Ich. Im Falle des Witzes ist mit dem Ich der WitzErzähler gemeint. Im Falle der Komik ist mit dem Ich hingegen der Lachende, der eine komische Figur rezipiert, gemeint. In ersten Fall wird vom Produktionsvorgang ausgegangen; im zweiten vom Rezeptionsvorgang. Tatsächlich handelt es sich in beiden Fällen um eine triadische Struktur; ohne die »dritte Person« geht es in beiden Fällen nicht. Der Erzeuger des Witzes – der Witzerzähler – und der Erzeuger der komischen Handlung – der Komiker – lenken von sich auf eine zweite Person (auf das Objekt des Witzes bzw. auf die komisch
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verfremdete Figur) ab, die nichts anderes als die Einbruchstelle des Unbewussten darstellt. Die dritte Person, der Lachende, bestätigt im Lachen, dass diese Überrumpelung geglückt ist. Freud hingegen möchte unbedingt seinen Hauptsatz erhalten: »Vom Witz wissen wir, daß nicht fremde Personen, sondern die eigenen Denkvorgänge die Quellen der zu fördernden Lust in sich bergen« (Freud, 1905, S. 206). Ihm geht es um die Analogie zwischen dem Unbewussten in der Traumerzeugung und dem Unbewussten in der Witzerzeugung. Die Formel, die er dafür findet, lautet sinngemäß: Ein vorbewusster Gedankengang wird für einen Moment der unbewussten Bearbeitung überlassen, aus welcher er dann als Witz auftaucht. Für das Komische falle indes solche Regression aufs Unbewusste weg. Ich will nun im Folgenden zeigen, wie Freuds Regressionsmodell sowohl für den Witz wie für die Komik angewandt werden kann und muss, wie also Komik und Witz der gleichen Quelle des Unbewussten zugehören und in beiden eine »Wiederkehr des Verdrängten« wirksam wird. Bei dieser Argumentation wird der Gedanke zentral sein, dass der Witz wesentlich über das Sprachgedächtnis, das Komische wesentlich über das Körpergedächtnis den Zugang zum Unbewussten eröffnet. Um diese These vorzubereiten, muss zunächst nochmals genauer auf die Differenz zwischen dem Witz und dem Komischen eingegangen werden. Denn keineswegs soll geleugnet werden, dass zwischen dem Witz und der komischen Handlung in der Tat wesentliche Differenzen bestehen. Der Witz ist ein Text. Die Komik kann hingegen ganz ohne die Wortsprache auskommen. (Man erinnere sich an Chaplin oder überhaupt den Stummfilm-Slapstick.) Und der Witz lebt von der Verknappung und Verdichtung sowie dem raschen Schluss, der Pointe. Komische Abläufe ziehen hingegen gerade aus der Wiederholung eine wunderbare Steigerung der Wirkung. Leider ist Freud nicht ins Kino gegangen (vgl. Lindner, 2007). Er hat sich damit des besten Materials für eine Theorie des Komischen beraubt. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wird das Komische zum Gegenstand ganz neuer theoretischer Aufmerksamkeit. Und zwar zieht gerade das alltägliche und »niedere« Komische – der Gag, der Klamauk, der Slapstick – das Interesse
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auf sich. Hier vollzieht sich eine neuartige Konfrontation des Lebendigen mit dem Mechanischen. Das Medium Film machte zum erstenmal überhaupt Bewegungen als mechanisch reproduzierbare Abläufe sichtbar. Es löste sie damit ab von der Person als dem willentlichen Zentrum der Bewegung. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass im Film als Medium der Bewegungsdarstellung eine neue Quelle des Komischen erschlossen wird. Indirekt ist Freud doch darauf gestoßen. Denn er benutzt bei der Analyse der Komik der Bewegungen dankbar Henri Bergsons (1988) einflussreiche Untersuchung über das Lachen, die ganz wesentlich auf der Analyse der Bewegungskomik beruht. Bergson macht das Mechanische und Automatenhafte, das sich der willentlichen Bewegung aufzwingt und die handelnde Person unfreiwillig lächerlich erscheinen lässt, zum Ausgangspunkt seiner Analyse. Die Leistung des Komikers auf der Kabarettbühne oder im Film bemisst sich gerade daran, wie er diese mechanische Verdinglichung der lebendigen Person perfekt zu erzeugen vermag. (Dass solche Automatismen, wenn sie als Produkt eines beunruhigenden psychischen Wiederholungszwangs erscheinen, aufhören komisch zu sein, wird im späteren Teil über das Unheimliche erörtert.) Eine zweite Differenzierung zwischen Witz und Komik ergibt sich, wenn wir die Amoralität beider betrachten. Auch ohne die Psychoanalyse zu bemühen, wird man schnell darüber einig sein, dass alle Arten der Komik von Tabuverletzungen und Normüberschreitungen leben. Es gibt nichts, das davor gefeit wäre als Gegenstand eines Witzes oder einer komischen Lächerlichmachung dienen zu können. Auch hier macht sich nochmals die Besonderheit der Sprachlichkeit und Kürze des Witzes geltend. Der Witz ist, wie Jean Pauls schöne Formulierung lautet, ein »verkleideter Priester, der jedes Paar kopuliert« (Jean Paul, 1967, S.173). Diesem falschen Priester der Sprache stehen alle Verknüpfungsmöglichkeiten der Sprache offen, mögen sie noch so verwerfliche und anstößige Assoziationen beinhalten. Der Witz ist flüchtig, anonym; es ist niemand für sein Entstehen verantwortlich zu machen. Auch das Komische ist strukturell amoralisch. Aber es bleibt gebunden an eine fiktionale Person (komisch verfremdete Figur). Das Komische verlangt eine konkrete Verleiblichung , die über die
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bloß abstrakte Typisierung der Objekte des Witzes (Ostfriesen-, Blondinen-, Judenwitze etc.) hinausgeht. Die komische Figur muss entweder ein sympathischer Schwächling sein oder eine aufgeblasene Autorität, an der wir unsere Schadenfreude genießen können. (Daraus ergibt sich dann meist ein David-Goliath-Paar: Der komische Kleine bringt den dicken Polizisten zu Fall usw.). Und in der Welt dieser Figuren, der komischen Sphäre, müssen die Übertreibungen einen Spielcharakter behalten. Ihnen fehlt ein letzter Ernst. Mit dieser Bestimmung des komischen Objekts und der komischen Sphäre löst sich auch ein Widerspruch, der in Bergsons wie Freuds Analyse als Widerspruch zwischen komischer Lust und Gefühllosigkeit erscheint. Bergson hatte behauptet, das Lachen habe keinen größeren Feind als die Emotion. Das Lachen sei mit einer bestimmten Empfindungslosigkeit, ja Herzlosigkeit verknüpft und wende sich eher an den Intellekt. Entsprechend notiert, an Bergson anschließend, Freud: »Die Affektentwicklung ist […] die intensivste unter den die Komik störenden Bedingungen« (Freud, 1905, S. 251). Richtig daran ist, dass eine bestimmte Affektentwicklung, nämlich das Aufkommen des Mitleids oder gar des empathischen Entsetzens, das Lachen verhindert. Aber welche psychische Disposition löst das Lachen aus? Freuds Analyse des Witzes ist deshalb so wertvoll, weil er sich nicht bloß mit formalen Hinweisen auf das Überraschende des Witzes begnügt, sondern die Psychodynamik des Witze-Erzeugens (und Witze-Wiedererzählens) aufdeckt. Die Intervention des Unbewussten meldet sich wieder in den nächtlichen Träumen, in den »Fehlleistungen« des Alltagslebens oder eben, so die hier verfolgte These, im Lachen über Komisches und über Witze. Und in allen drei Fällen – Traum, Fehlleistung, Komik – zeigt sich die Wirksamkeit unbewusster Vorgänge darin, dass wir uns schlecht daran erinnern können. Der Verdrängungscharakter, der sich noch in solcher Wiederkehr des Verdrängten offenbart, zeigt sich gerade im raschen Vergessen und in der Resistenz gegenüber einer Analyse. Witze darf man bekanntlich nicht erklären. Das ist die sicherste Methode, ihre Lachwirkung abzutöten. Wir wissen gar nicht recht, worüber wir lachen, wie Freud richtig feststellt, und wollen gar
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nicht wissen, warum und worüber wir lachen. Es gibt also beim Komischen – und das macht eine besondere Schwierigkeit aus – etwas Verdrängtes, das sich der inhaltlichen Analyse des Komischen widersetzt. Nach dem konvulsivischen Lachausbruch stellt sich eine Unlust ein, den »Lachgehalt« erfassen zu wollen. Im Komischen ist ein Verdrängungskern enthalten: was nichts anderes heißt, als dass sich die Wiederkehr des Verdrängten immer nur in Figuren der Entstellung ereignet. Mit dieser Darlegung haben wir uns allerdings von Freuds Analyse des Lachvorgangs schon ein Stück weit entfernt. Sie ist nunmehr genauer zu betrachten. Freud begreift das Lachen als plötzlich hervorgerufenes Ablachen (oder als Abfuhr) eines bei der Triebkontrolle unverwendbar gewordenen Betrags an psychischer Energie. Diese durchaus einleuchtende psychophysische Erklärung, die Überlegungen von Darwin und Spencer aufnimmt, wird nun durchgängig mit dem Prinzip der Ersparung (Ersparung des Hemmungsaufwands, des Vorstellungsaufwands, des Gefühlsaufwands) in Verbindung gesetzt (vgl. die ausführliche Darstellung bei Freud, 1905, S. 167 ff.). Dieses zunächst rein quantitativ gefasste Modell gewinnt aber seine analytische Tiefenschärfe erst dadurch, dass der psychische Hemmungsaufwand als eine regressive Aufhebung der kulturell auferlegten Normen und des Realitätsprinzips gedacht wird. Das vernünftige, realitätstüchtige Verhalten des Erwachsenen hat Triebaufschub und Verzichten gelernt. Diese Hemmung oder Verdrängung bleibt instabil und bedarf beständig zu ihrer Aufrechterhaltung eines »Betrags« an psychischer Energie. Der Witz und das Komische erlaubt nun, wie Freud auch später notiert, »das Verdrängte mit Umgehung der Widerstände und unter Lustgewinn zeitweilig in unser Ich aufzunehmen […] Bei allen Verzichten und Einschränkungen, die dem Ich auferlegt werden, ist der periodische Durchbruch der Verbote Regel, wie ja die Institution der Feste zeigt […]« (Freud, 1921, S. 146). Die kulturelle Funktion dieser Lockerung kann nicht allein aus einem quantitativen Modell der energetischen Besetzungsabfuhr begriffen werden, vielmehr muss deren Dynamik aus den Instanzen und Inhalten der Verdrängung interpretiert werden. Es wird nun deutlich, dass die Vorgehensweise der Abhandlung
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über den Witz gewissermaßen das Pferd von hinten aufzäumt. Der außerordentlich umfangreiche und fast überdetaillierte Teil über die »Technik des Witzes« ist ausschließlich damit beschäftigt, die formalen Analogien zwischen der Traumarbeit und der Witzarbeit darzulegen. Dadurch wird aber das Wesen des Witzes reduziert und verharmlost. Das Wesen des Witzes besteht in sprachlichen Verdichtungen, Verschiebungen, Mehrdeutigkeiten und Mischwortbildungen, die ihren Kern in einer reinen Lust am Sprach-Unsinn haben. Freud spricht vom »Wortlustgewinn« (Freud, 1905, S. 201). Erst in dem nachgeschobenen Abschnitt »Die Tendenzen des Witzes« wird erkennbar, worum es im Witz eigentlich geht. Im tendenziösen Witz tritt die Wortlust in den Dienst von aggressiven, obszönen, zynischen und herabsetzenden Tendenzen. Diesen Witzen ist gemeinsam, dass sie erlauben, für einen Moment schamlos zu sein, und damit, wie Freud voller Sympathie bemerkt, »die Stimme in uns, die sich gegen die Moralanforderungen auflehnt,« erwecken (Freud, 1905, S. 121). Betrachtet man von hier aus rückblickend die vielen Witzbeispiele im Abschnitt über die Technik des Witzes, so kann man leicht feststellen, dass auch diese Witze allesamt bereits tendenziöse Witze sind und Freud Mühe hat, diesen Aspekt beiseite zu lassen. Der Primat der formalen Analogie von Traum- und Witzarbeit hat entsprechend Folgen für die Analyse des Komischen und des ihm zugesprochenen Lachvorgangs im Schlusskapitel des Buchs. Hier geht Freud von einem im Vorbewussten lokalisierten Mechanismus der Vergleichung aus. Das Sehen einer Handlung mobilisiert ein Sich-uns-Vorstellen der Handlung; ein Vorstellen, das ich erworben habe und »vermittels meiner Erinnerungsspuren« als Maß der Vergleichung einsetze. »Hier weist uns die Physiologie den Weg, indem sie uns lehrt, daß auch während des Vorstellens Innervationen zu den Muskeln ablaufen […].« Ontogenetisch verfügen wir also über ein Maß der Vergleichung: die Muskelkoordinierungen der Bewegungen haben sich als »Innervationsempfindung« ins körperliche Gedächtnis eingeschrieben und als innerliche »Vorstellungsmimik« verfestigt (Freud, 1905, S. 218 ff.). Analoges gilt für den Bereich der geistigen Leistungen. Jemand, dessen Verhalten wir als komisch-naiv wahrnehmen, scheint be-
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stimmten zivilisatorischen Hemmungen enthoben. Die Einfühlung in ihn erspart uns die gewohnten Hemmungen (moralische Zensur). Der ersparte psychische Aufwand kann in der Lachlust abgeführt werden. Dieser Mechanismus des Vergleichens läuft ab, wenn wir die Handlung einer komischen Figur wahrnehmen. Mehr noch: an ihr erfährt dieses automatische Vergleichen eine besondere Zuspitzung durch die Übertreibung. So lässt sich im Ergebnis sagen, dass »derjenige uns komisch erscheint, der für seine körperlichen Leistungen zu viel und für seine seelischen Leistungen zu wenig Aufwand im Vergleich mit uns treibt« (Freud, 1905, S. 222). Was wir gelernt haben im Prozess der Körperkoordinierung, Abstraktionsbildung und Trennung zwischen Ego und Alter, fällt nun bei der komischen Figur aus. Es entsteht eine Differenz zwischen unserem Vorstellungsaufwand und dem Aufwand, den wir der komischen Figur unterlegen, die wir lustvoll abführen können. Nun hat aber dieses automatisierte, maßnehmende Vergleichen offenkundig noch nichts mit dem Vorgang der Verdrängung zu tun. Deshalb ordnet Freud das Komische bloß den Vorstellungsbesetzungen im Vorbewussten zu und belässt es damit in jenem neutralisierten Zustand, in dem sich der Witz als Demonstrationsobjekt für Techniken der Witzarbeit zunächst befand. Bei der Analyse des Komischen kommt es auch, anders als bei der Witzanalyse, nicht zu einer nachträglichen Erörterung des Tendenziösen. Es wird allenfalls gestreift (Freud, 1905, S. 252 f.). Und diese Zurückhaltung verstärkt sich noch, wenn Freud auf die »infantilen Wurzeln des Komischen« zu sprechen kommt (Freud, 1905, S. 254 ff.). Diese Passagen des Witzbuchs sind in der tastenden Argumentation und in ihren ambivalenten Befunden außerordentlich lehrreich. Freud will sich nicht darauf einlassen, dem Komischen zuzugestehen, was er dem Witz zugestand: die Amoralität. Die Amoralität besteht aber im Falle des Komischen in nichts anderem als in der Ermöglichung der Schadenfreude. Denn Schadenfreude ist ja nicht bloß eine schäbige Lust am fremden Unglück, sondern eine Entlastung vom Druck eigener Bedrohtheit. Hier müssen wir nochmals auf die Position des Dritten (oder des Anderen) zurückkommen, die Freud für den Witz fordert,
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aber unglücklicherweise der Komik verweigert. Erst die Position des Dritten macht aus der einfachen Subjekt-Objekt-Struktur des Lachens über etwas – einen Zweiten – eine triadische Struktur. Dieser Dritte »urteilt« über das Gelingen des Witzes, aber nicht frei und bewusst, sondern lässt sich für einen Moment vom Unbewussten überrumpeln. Er repräsentiert insofern nicht nur einen Anderen, sondern das Andere. Erst über diesen Umweg kommt es, wenn man so sagen kann, zu einer Kommunikation zwischen zwei Unbewussten. Erst der Dritte, der lachen muss, macht den Witz zum Witz. Diese Struktur gilt wie gesagt auch für die Komik. Erst mein Lachen bestätigt dem Komiker, der über sich nicht lachen kann, die komische Leistung. Denn die Vorstellungen, die aufgerufen werden, entstammen nicht bloß einem quantitativen Vergleich von psychischen Aufwänden, sondern sind psychogenetisch noch auf andere Weise vorhanden. Im Regressionsvorgang des Komischen wird dies erschließbar. Freuds energetisches Triebmodell beziehungsweise das Modell des psychischen Apparats geht von den »Erfahrungen über die Verschiebbarkeit der psychischen Energie längs gewisser Assoziationsbahnen und über die fast unverwüstliche Erhaltung der Spuren psychischer Vorgänge« aus (Freud, 1905, S. 165). Das Psycho-Gedächtnis ist kein Archiv, das das Erlebte sozusagen in geschlossenen Erlebniseinheiten konserviert. Vielmehr muss angenommen werden, dass der Speicherungsprozess auf notwendigen Verdrängungen beruht und in ihm Vorstellungen und Affekte auseinander treten, so dass die affektive Energie sich mit unterschiedlicher Intensität und großer Verschiebbarkeit über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreiten kann. Der Gedanke der psychodynamischen Aufspaltung von Affekt und Vorstellung bildet eine grundlegende Konstante von Freuds Theorie, die seit den frühen Konzeptionen des psychischen Apparats bis ins Spätwerk bestimmend bleibt. Die Vorstellung, die die Verdrängung erfährt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden kann, fällt mit dem Affekt, der sich als ein energetischer Abfuhrvorgang vollzieht und Lust oder Angst auslöst, nicht zusammen (Freud, 1916–17, S. 425; Freud, 1933, S. 89). Entsprechend analysiert die »Traumdeutung« in einem eigenen
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Abschnitt, wie die einzelnen Vorstellungen der Traumgedanken in der Traumarbeit von den an ihnen haftenden Affekten getrennt werden (Freud, 1900, S. 444 ff.; vgl. Freud, 1933, S. 21). Auf dieser Trennung beruht das anästhetische Moment des Träumens, dem wir gleichsam ohne den normalen Wahrnehmungsapparat ausgesetzt sind, weshalb wir rasch bereit sind, Träume als Unsinn zu deklarieren. Zugleich berührt der Traum den Träumer unmittelbar, sonst wäre die affektive Intensität nicht zu erklären, mit dem er erfahren wird und die nach dem Erwachen stärker nachwirkt als das direkt Erinnerbare. Auf sehr andere Weise als im Traum findet im Komischen (stärker als in der Kurzkomik des Witzes) eine derartige Trennung von Affekt, Vorstellung und Erinnerung statt. In der Lockerung der Verdrängungsabwehr durch das Komische werden die Gedächtnisspuren des Verdrängten aktiviert. Zugleich unterliegt die Wiederkehr des Verdrängten – und diese Einschränkung ist für das Komische entscheidend – der automatischen Abfuhr im Lachen. Damit stimmt überein, dass wir unmittelbar »niemals wissen, worüber wir eigentlich lachen« (Freud, 1905, S. 172). Damit bleibt im Lachen unausgemacht, wo das Komische an das Eigenste rührt. In der komischen Lust, die ihren Ursprung im Körpergedächtnis hat, sind die Schrecken aus infantiler Herkunft wirksam. Das Innervationsgedächtnis enthält eine lange leidvolle Geschichte der infantilen körperlichen Bedrohtheit und die Traumata des zerstückelten Körpers. »Keinem menschlichem Individuum«, heißt es in dem ganz späten »Abriß der Psychoanalyse«, »werden solche traumatischen Erlebnisse erspart, keines wird der durch sie angeregten Verdrängungen enthoben« (Freud, 1940, S. 111). Und die suggestive Angstlosigkeit im Lachvorgang besteht eigentlich in nichts anderem, als darin die Affektivität peinlicher Zustände ohne bewusstes Erinnern der eigenen Lebensgeschichte erfahren zu können. Damit können wir die Einsicht psychoanalytisch bestätigt finden, die frühere Katastrophen-Theoretiker des Komischen – etwa Baudelaire oder Nietzsche – schon ahnten, dass wir im Komischen nur um Millimeter »an einem Abgrund sozusagen mit heiler Haut vorbeigekommen« sind. Letztere Formulierung stammt von dem sehr interessanten, heute wenig bekannten Freudianer Theodor
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Reik (1929). Er erweiterte Freuds Analysen der Lust am Witz und am Komischen durch die Einführung des »Gedankenschreckens« als einem grundlegenden Moment im Lachvorgang. Das Schockhafte, das durch die lustvolle Entladung abgefangen wird, »ist durchaus der Wirkung zu vergleichen, die wir dem Schrecken in den traumatischen Neurosen zuschrieben« (Reik, 1929, S. 224 f.).
■ Das Unheimliche oder der Ausfall des Dritten Auch die Schrift über das »Unheimliche« zeigt in Komposition und Textgestalt eine widersprüchliche Autorhandschrift. Dies beginnt schon damit, dass Freud, wie beim Witzbuch, Originalität aus Inkompetenz beansprucht. »Der Psychoanalytiker«, schreibt er, »verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen«. Und wenn er diesen Antrieb verspüre, »dann ist es gewöhnlich ein abseits liegendes, von der ästhetischen Fachliteratur vernachlässigtes. Ein solches ist das ›Unheimliche‹« (Freud, 1919, S. 229). Die Formulierung »abseits« ist signifikant: sie kann heißen, der Autor muss sich nicht den Autoritäten der philosophischen Ästhetik unterwerfen, ja kann diese in Frage stellen. Und sie kann heißen: Die Psychoanalyse gerät hier auf ein Gebiet, dass außerhalb ihrer Zuständigkeiten liegt. So heißt es denn auch am Schluss des Textes: »Wir sind auf dieses Gebiet der Forschung ohne rechte Absicht geführt worden […]« (Freud, 1919, S. 267). Abseits ist kein ungefährlicher Ort. Das Unheimliche, so lautet nun Freuds Entdeckung, sei »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht« (Freud, 1919, S. 232). Im Unheimlichen steckt etwas Heimliches, Intimes und Heimeliges. An dieser Grundeinsicht hält Freud den ganzen Text hindurch fest. Er präzisiert dies später, wenn er das Längstvertraute als das »Verdrängte«, der Verdrängung Unterworfene, bestimmt. Im Vorgang der Verdrängung werden Affekte »gleichgültig von welcher Art […] in Angst verwandelt« (Freud, 1919, S. 237), so dass in der unerwarteten und ungewollten Wiederkehr des Verdrängten dieses Angstpotential reaktiviert wird, was sich in einer besonderen Beklemmung manifestiert.
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Auf die vorangegangene Analyse des Komischen bezogen können wir sagen, dass die Möglichkeit der Spannungsabfuhr versperrt ist. Denn das Unheimliche bildet – dies ist meine, nicht Freuds Formulierung – keine triadische Struktur aus; es beruht vielmehr auf dem Ausfall der Instanz des Dritten. Die Struktur des Unheimlichen ist ausweglos zirkulär. Es ist für den Leser nicht einfach, die Konzeption von Freuds Abhandlung über das Unheimliche zu überblicken. Insbesondere der dreiteilige Aufbau der Abhandlung hat es in sich: Im ersten Teil wird anhand von Wörterbüchern die Semantik von »unheimlich« befragt und hervorgehoben, dass nur im Deutschen »heimlich« eine Ambivalenz in sich birgt, die das Wort »unheimlich« verstärkt. Der mittlere Teil setzt mit der Analyse eines allgemein anerkannten Beispiels von Unheimlichkeit, nämlich der Analyse von Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann« ein. Danach folgt ein längerer Durchgang durch zahlreiche weitere Beispiele für das Unheimliche und seine Ambivalenz (Doppelgänger, unerklärliche Zufälle, böser Blick, Tod und Gespenster): ein Durchgang, der – wie auch im ersten Teil die Überfülle der sprachlichen Belege – es dem Leser nicht leicht macht, den Überblick zu behalten. Der dritte Teil beginnt deshalb mit einer »captatio benevolentia«: »Schon während der Lektüre der vorstehenden Erörterungen werden sich beim Leser Zweifel geregt haben, denen jetzt gestattet werden soll, sich zu sammeln und laut zu werden« (Freud, 1919, S. 268). Die Absicht ist, jene fingierten Zweifel durch massive definitorische Grenzziehungen zu bändigen, die aber selbst wieder zu zahlreich sind, um klärend zu wirken. Bis zuletzt scheint sich Freud zu fragen, in welche Irre er sich mit diesem Thema hat führen lassen, und behilft sich mit einer ständigen Umänderung der Textstrategie. So wie in Hoffmanns Erzählung, nach Freuds Interpretation, der Sandmann als Störer der erfüllten Liebe dazwischentritt, so stört das Unheimliche, in der Schwierigkeit, es begrifflich fassen zu können, immer wieder den Gang der Abhandlung und sperrt sich gegen Freuds »Vorliebe für glatte Erledigung und durchsichtige Darstellung« (Freud, 1919, S. 263). Umso mehr ist ein Bestreben am Werk, dieser Gefahr nicht zu erliegen. Im Folgenden soll erschlossen werden, was die Abhandlung
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über das Unheimliche derart beunruhigt und wie Freud das Beunruhigende zu meistern sucht. Dabei konzentriere ich mich auf Freuds Sandmann-Lektüre und danach auf den Schlussteil der Abhandlung. Wie liest Freud E. T. A. Hoffmanns Erzählung der »Sandmann«? Er gibt zunächst eine ausführliche Nacherzählung des Inhalts und stellt dann die literarische Gestaltung des Motivkomplexes der Augen und der Augenangst als Hauptquelle des Unheimlichen heraus. Damit ist zunächst gesagt: Andere symptomatische Auffälligkeiten, die in der Erzählung vorkommen, werden beiseitegeschoben. Unbeachtet bleibt beispielsweise die auffällige Fehlleistung der falschen Briefadressierung am Anfang der Erzählung. Unerwähnt bleiben auch andere, dem Leser höchst unheimliche Effekte: dass der Erzähler beim Streit zwischen Spalanzani und Coppola um Olimpia die Stimme des Coppelius’ aus Nathanaels Kindheit hören lässt; dass sich die chemische Explosion im Vaterhaus später im Haus, wo Nathanael wohnt, wiederholt; dass Nathanael am Schluss mit dem Perspektiv nicht Coppelius, sondern Clara ansieht; oder dass zwei Türen der Treppe, die das Brautpaar gerade erklommen hat, nunmehr verriegelt sind. Unerörtert bleiben die Traumvisionen und Dichtungsversuche Nathanaels. Und ganz stiefmütterlich wird die Instanz des Matriarchalen (Mutter, Amme, Clara) behandelt. Andererseits hat Freud durchaus ein Gespür dafür, dass die unheimliche Wirkung ganz wesentlich auf der besonderen Erzählweise Hoffmanns beruht und nicht bloß auf einem literarischen Motiv. Dass der Leser durch Hoffmanns multiperspektivisches Erzählen nicht etwa Distanz gewinnt, sondern vom Unheimlichen geradezu infiziert wird, ist gemeint, wenn Freud feststellt, »wir merken, dass der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will, ja dass er vielleicht in höchsteigener Person durch solch ein Instrument geguckt hat« (Freud, 1919, S. 242). Nur: Allzu sehr möchte Freud sich darin nicht vertiefen. Wenn in der Tat die Erzählung nicht einfach bloß »die Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen« (Freud, 1919, S. 242) vorführt, so zeigt sie doch im Kern eine psychoanalytisch korrekt erschließbare Kran-
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kengeschichte. Freud hat ein außerordentliches Interesse, das Unheimliche, als dessen Meister er Hoffmann bezeichnet, auf den Komplex des infantilen Neurotikers zurückzuführen. Durch die Fallanalyse bannt er die unheimlichen Effekte des Textes, denen er sich widerstrebend aussetzen wollte. Entsprechend wird eine Unterscheidung vorgenommen zwischen einem analysierbaren latenten Subtext und der Phantastik, die auf der manifesten Textoberfläche unerklärlich wirkt. »Diese sowie viele andere Züge der Erzählung«, schreibt Freud, »erscheinen willkürlich und bedeutungslos, wenn man die Beziehung der Augenangst zur Kastration ablehnt, und werden sinnreich, sowie man für den Sandmann den gefürchteten Vater einsetzt […]«. Und weiter: »In der Tat hat die Phantasiebearbeitung des Dichters die Elemente des Stoffes nicht so wild herumgewirbelt, dass man ihre ursprüngliche Anordnung nicht wiederherstellen könnte« (Freud, 1919, S. 244). Das ist der Sinn einer direkt anschließenden, ungewöhnlich langen Fußnote, in der die psychoanalytische Deutung zusammengefasst wird. Hier wird die Augenangst vorm Sandmann als Ersatzbeziehung zur Kastrationsdrohung erklärt und in den weiteren Verschiebungen bis hin zu den Glasaugen der Puppe Olimpia verfolgt. Ebenso wird die Aufspaltung zwischen der guten und der bösen Vater-Imago rekonstruiert, die zunächst zwischen dem Vater und bösen Advokaten Coppelius (dem Sandmann) besteht, und sich dann fatal weiter wiederholt. Diese Deutung, die ich hier nur auszugsweise referiert habe, verfolgt den offenkundigen Zweck, die literarische Erzählung in eine Falldarstellung zu verwandeln, die Freud durch seine eigenen Analysen an Neurotikern bestätigt sieht. Als letzte Bestätigung verweist er zudem auf die Biographie Hoffmanns, in der er die entsprechende psychische Disposition vorgezeichnet findet. »E. T. A. Hoffmann war das Kind einer unglücklichen Ehe. Als er drei Jahre war, trennte sich der Vater von seiner kleinen Familie und lebte nie wieder mit ihr vereint […] Die Beziehung zum Vater [war] immer eine der wundesten Stellen in des Dichters Gefühlsleben« (Freud, 1919, S. 245). Aber Freud wäre nicht Freud, wenn er uns nicht die Möglichkeit eröffnete, an dieser reduktionistischen Erklärungsweise zu zweifeln. In der Schrift, auf die die Abhandlung über das Unheim-
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liche als gegenwärtig in Arbeit befindlich ausdrücklich verweist – »Jenseits des Lustprinzips« – wird der Traum mit dem Trauma, mit der traumatischen Neurose verknüpft und damit sein auf infantilen Reminiszenzen beruhender Wiederholungscharakter direkt mit Angst und Zwang in Verbindung gebracht. Das Träumen untersteht hier einer anderen Wiederkehr des Verdrängten als sie die »Traumdeutung« vorsieht. »Diese Träume suchen die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren Unterlassung die Ursache der traumatischen Neurose geworden ist. Sie geben uns einen Ausblick auf eine Funktion des seelischen Apparats, welche, ohne dem Lustprinzip zu widersprechen […] ursprünglicher scheint.« Die »Träume der Unfallsneurotiker« und die »Träume, die uns die Erinnerung der psychischen Traumen der Kindheit wiederbringen […] gehorchen vielmehr dem Wiederholungszwang […]« (Freud, 1920, S. 32). Vom Wiederholungszwang und vom Trauma aus ergibt sich ein deutlicher Zugang zur Sandmann-Erzählung. Am Anfang steht der beunruhigende Name des Sandmanns, das Zu-Bett-geschicktWerden, das unerklärliche Poltern auf der Treppe. In der Erzählung wird ausführlich geschildert, wie das Kind an den Abenden, wo der Sandmann zu Besuch kommt, vom imaginären Bild des Sandmanns in Angst und Schrecken versetzt wird und die ganze Nacht nicht einschlafen kann. Vergeblich versucht es, so wird weiter beschrieben, sein Bild los zu werden, indem er es am Tage in abscheulichen Gestalten auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide hinzeichnet. Auf Freuds Überlegungen zum Albtraum, der das Trauma wiederholt, bezogen, können wir also sagen, dass Nathanael eine derartige Trauma-Reproduktion im Traum oder im bildnerischen Kritzeln nicht gelingt und auch der spätere Versuch einer künstlerischen Bewältigung als dichtender Jüngling missrät. Die Wiederkehr der Katastrophe des potentiellen Künstlers Nathanael ist nun aber gerade der Stoff, aus dem Hoffmann das Unheimliche der Erzählung gewinnt. Von Anfang an bezieht er den Leser in ein unheimliches Bündnis mit ihm als literarischem Autor und als getreuem Freund des unglücklichen Nathanael ein. Was Hoffmann damit bewirkt – und woran auch der ironische Schluss nichts ändert – ist eben jene unauflösliche Verstrickung
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von Realitätsaussage und subjektivem Wahn, die Freud dann das Unheimliche, das sich einem verborgenen Heimlichen verdankt, nennen wird. Die psychoanalytische Auffindung des Unheimlichen hat Konsequenzen für die Poetik des Unheimlichen. Mit ihr lässt sich die Annahme einer »ursprünglichen Anordnung«, die der Erzählung zugrunde liege, nicht länger vereinbaren. Wenn Freud behauptet, wie oben zitiert, die Phantasiebearbeitung des Dichters habe die Elemente des Stoffes wild herumgewirbelt, er könne aber ihren Sinn erraten, so muss dies jetzt umgekehrt heißen: Gerade dieses Herumwirbeln ist eine sehr zutreffende Beschreibung für den Sog und den Drehschwindel, der von dem Text ausgeht und dessen Sinn und die sinnliche Gewissheit des Lesers aporetisch werden lässt. Dies geschieht ausschließlich mit sprachlichen Mitteln. Hier erweist sich noch das kleinste Element als semantisch überdeterminiert, so dass ein immer dichteres, unheimliches Netz von Verweisungen entsteht. In einer Fußnote immerhin ist Freud diesen sprachlichen Verstrickungen auf der Spur (Freud, 1919, S. 241). Er erkennt in den Namen Coppola und Coppelius verdichtete Abwandlungen von »Coppella = Probiertiegel, was an die chemischen Experimente erinnert, bei denen der Vater tödlich verunglückte«, und von »coppo = Augenhöhle«, was auf das durchgehende Motiv des Augenherausreißens verweist. Das ist ein Knoten der semantischen Verdichtung, der die verschiedensten Verschiebungen auslöst. Coppo verweist auf die leeren Augenhöhlen des Wandschranks in der Urszene; hieran schließt die ganze Kette der Augensymptomatik (Olimpia, Clara, Perspektiv, der Wahnsinnstraum) an. Coppella verweist auf die Metaphorik des Feuers: auf das Laboratorium in der Urszene ebenso wie auf das Wahnsinnsmotiv des Feuerkreises; auf die Explosion, die zum Tod des Vaters führte, und auf die abgebrannte Wohnung Nathanaels. Der Wortkern der Namen erinnert auch an die grammatische Funktion der »Kopula«, der elementarsten Form sprachlicher Identitätslogik, deren Abgründigkeit durch den Sandmann markiert wird. Coppelius und Coppola werden durchgehend mit der Topographie der Treppe verbunden, die nicht erst in Hitchcocks »Psycho« und in »Vertigo« einen bevorzugten Ort
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des Unheimlichen darstellt. Überhaupt muss hier wie vorher beim Komischen auf den Film verwiesen werden, der früh – man denke an »Nosferatu« oder an »Der Golem« – seine Eignung für die Darstellung des Unheimlichen entdeckte. Freud hätte solchen Hinweisen gar nicht widersprochen, vielmehr seine Auffassung bestätigt gesehen, dass in der Gegenwart das Unheimliche weitgehend ein Gegenstand der Literatur und der Künste geworden ist oder eben ein Spezialbereich der Neurosen. Damit kommen wir auf das Ende der Abhandlung über das Unheimliche. In deren unübersichtlichem Schluss, der an den unentwegten Grenzziehungen im Feld des Unheimlichen zu kollabieren droht, sich zwei Hauptunterscheidungen herausbilden, nämlich erstens eine Trennung zwischen dem Unheimlichen des Erlebens und dem Unheimlichen der künstlerischen Fiktion sowie zweitens eine Trennung zwischen dem Unheimlichen, das infantil verdrängt wurde, und dem Unheimlichen, das zivilisatorisch überwunden sei. Obschon Freud selbst eingesteht, dass eine »Verwischung der Abgrenzungen« unvermeidlich sei, richtet sich sein ganzes Interesse darauf, die neurotische Wiederkehr des Verdrängten, das von infantilen Komplexen ausgeht, vom historischen Wiederauftauchen eines bereits Zivilisatorisch-Überwundenen strikt zu trennen. Für »die Theorie ist die Unterscheidung der beiden sehr bedeutsam«, heißt es. Und dann folgt ein Satz, der einem ob seiner Fortschrittsgewissheit den Atem stocken lässt: Der »Zustand, in dem sich die animistischen Überzeugungen des Kulturmenschen befinden« müssen wir »als ein – mehr oder weniger vollkommenes – Überwundensein bezeichnen« (Freud, 1919, S. 257). Ist das wirklich eine Einsicht der Psychoanalyse? Hat nicht Freud selbst die besten Gegenargumente gegen eine von ihrem selbsterzeugten Licht geblendete Aufklärung geliefert? Nachdem er anfangs von seiner Stumpfheit gegenüber dem Gefühl des Unheimlichen gesprochen hatte, führt er später mehrere höchst eindrucksvolle Beispiele des eigenen Erlebens an, in denen er sehr persönliche Züge preisgibt. Er beschreibt, wie er in einer italienischen Stadt zufällig in eine Gasse mit Prostituierten gerät und sich dieser »Besuch« gegen seinen Willen und zu seiner größten Peinlichkeit dreimal wiederholt. – Er beschreibt sich als 62-Jäh-
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rigen, den es beunruhigt, auf diese Zahl bei den verschiedensten Gelegenheiten wiederholt und kurz hintereinander zu treffen. – Er fühlt sich unheimlich berührt, kurz hintereinander Post von verschiedenen Personen gleichen Namens zu erhalten. – Oder er berichtet eindrucksvoll von einem Doppelgängererlebnis im Eisenbahncoupé, wo er sich im Spiegel für einen fremden älteren Herrn hält, der ihm gründlich missfällt. Derart streut Freud selbst Zweifel gegenüber seiner Behauptung, er habe animistische und dämonische Vorstellungen »bei sich gründlich und endgültig erledigt […] Das merkwürdigste Zusammentreffen […], die rätselhafteste Wiederholung […], die täuschendsten Gesichtswahrnehmungen […]« würden »keine Angst in ihm erwecken, die man als Angst vor dem Unheimlichen bezeichnen könne« (Freud, 1919, S. 262). Und man muss nicht erst die »Psychopathologie des Alltagslebens« oder »Totem und Tabu« aufschlagen, um darüber hinaus Zweifel an Freuds Behauptung über den Kulturmenschen, der das Unheimliche zivilisatorisch überwunden habe und es nur noch als neurotisches Symptom oder als Dichtung kenne, zu hegen. »Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, / Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll«, steht als Motto über der »Psychopathologie des Alltagslebens«. Das Wort stammt vom greisen Faust, der am Schluss der Tragödie von der unheimlichen Gestalt namens »Die Sorge« heimgesucht wird. Die Wahl des Mottos soll hier gerade nicht anzeigen, dass der Spuk ein bloß dichterischer sei, sondern auf einem Unheimlichwerden des zivilisatorischen Prozesses selbst beruht. Deshalb wird man es auch nicht bloß für Ironie halten können, wenn Freud in der Abhandlung über das Unheimliche bemerkt, das Mittelalter habe »psychologisch beinahe korrekt« den Wahnsinn »der Wirkung von Dämonen zugeschrieben« und dann fortfährt: »Ja ich würde mich nicht verwundern zu hören, dass die Psychoanalyse, die sich mit der Aufdeckung dieser geheimen Kräfte beschäftigt, vielen Menschen darum selbst unheimlich geworden ist« (Freud, 1919, S. 257). In der Psychoanalyse spukt es: Denn wenn man Gespenster verscheuchen will, muss man sie erst einmal beschwören. Mit den Gespenstern und den Untoten ist Freud auf ein Feld geraten, das ihm selbst unheimlich zu werden beginnt. Daraus
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resultiert das seltsam unkomponierten Ende des Aufsatzes. Freud will noch etwas sagen, das er vorher nicht recht hat unterbringen können, aber auch hier nicht eigentlich unterbringen kann. Er spricht unvermittelt von der bei den meisten Menschen nie ganz erlöschenden Kinderangst, was die oben dargelegte Trauma-Konzeption des Komischen bestätigt. Und er verweist – hier zum ersten Mal – auf eine Affinität von Komischem und Unheimlichem. Ihm fällt dazu Nestroys Posse »Der Zerrissene« ein, wo das wiederholte Auftreten des Gespenstes eines Ermordeten keine unheimliche, sondern eine komische Wirkung auslöst. In der Tat bestehen zwischen dem Komischen und dem Unheimlichen sehr viel engere Bezüge als man zunächst vermeint. Die Wirkung hängt eben, wie Freud richtig bemerkt, nicht vom stofflichen Motiv, sondern vom Modus der Darstellung ab. So können wir bei Freuds eigenen Beispielen für Unheimlichkeit – der Doppelgänger im Abteil, die peinliche Rückkehr in die verrufene Straße – ein Lächeln nicht unterdrücken, weil sie in selbstironischer Distanz erzählt werden. Aber auch beim Komischen kann uns unheimlich werden, wenn es in das Groteske und Wahnwitzige umkippt oder der Komiker satanisch-satirische Züge annimmt. Es ist dasselbe Unbewusste, das sich in entstellter Wiederkehr des Verdrängten geltend macht und die Affekte des Lachens wie des Unheimlichen auslöst. Für die Analyse der ästhetischen Formen und Medien, in denen dieses psychodynamische Material bearbeitet wird, ergeben sich von hier aus neue Aufschlüsse und Deutungsmöglichkeiten. Sie erlauben es, Probleme der Wirkungsästhetik, die seit der philosophischen Ästhetik des deutschen Idealismus als kunstfremd und sinnlicher Unmittelbarkeit verhaftet abgetan war, neu aufzurollen. Es ist keine bloß rhetorische Floskel, wenn Freud sich immer wieder als unzuständig für Fragen der Ästhetik erklärte und doch nicht abließ, über ästhetische Affekte und Kunstwerke zu schreiben. Gerade die Position der vorgeblichen Marginalität erlaubte es ihm, hier strategische Eingriffe vorzunehmen, die erst heute, in der Neubestimmung des Ästhetischen als Übertragung, als Zirkulation zwischen dem Rezipienten und dem ästhetischen Objekt, ihr volles Gewicht erlangen. Freud war ein großer Autor. Dass seine Texte immer wieder gelesen und sozusagen nicht ausgelesen werden, verdankt sich
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eines besonderen Zusammentreffens von Wissenschaftsentwurf und literarischer Autorschaft. Die anhaltende Wirkung des Autors Freud besteht durchaus unabhängig von der Geschichte der psychoanalytischen Schulen und Lehrmeinungen und auch unabhängig von der Verwerfung der Psychoanalyse durch ›exaktere‹ Wissenschaften fort. In diesem Sinne nennt Michel Foucault Freud (wie auch Marx) einen Diskursivitätsbegründer und spricht ihm damit einen seltenen Gründungsakt zu, der unüberholbar bleibt und immer wieder die Forderung einer Rückkehr zum Autor auslöst (Foucault, 1974, S. 24 ff.). Diskursivitätsbegründer operieren am Ursprung, den sie selber setzen, aber nicht abschließend besetzen. Daher rührt der spezifische Sog der Freud’schen Texte. Nur darf man sie nicht auf zusammenfassende Definitionen reduzieren. Um mit Freud zu arbeiten, muss man sich in die komplexe Struktur und in die Wörtlichkeit der Texte hineinbegeben.
■ Literatur Bergson, H. (1988). Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Frankfurt a. M. Cixous, H. (2006). Die Fiktion und ihre Geister. Eine Lektüre von Freuds Das Unheimliche. In K. Herding, G. Gehrig (Hrsg.), Orte des Unheimlichen. Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst (S. 37-59). Göttingen. Foucault, M. (1974). Was ist ein Autor? In M. Foucault, Schriften zur Literatur (S. 7-31). München. Freud, S. (1900). Die Traumdeutung. Studienausgabe. Bd. 2. Frankfurt a. M. Freud, S. (1905). Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Gesammelte Werke. Bd. VI. Frankfurt a. M. Freud, S. (1916–17). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke. Bd. XI. Frankfurt a. M. Freud, S. (1919). Das Unheimliche. Gesammelte Werke. Bd. XII. S. 229-268. Frankfurt a. M. Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke. Bd. XIII (S. 1-69). Frankfurt a. M. Freud, S. (1921). Massenpsychologie und Ich-Analyse. Gesammelte Werke. Bd. XIII (S. 71-161). Frankfurt a. M. Freud, S. (1925). »Selbstdarstellung«. Gesammelte Werke. Bd. XIV (S. 31-96). Frankfurt a. M.
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Freud, S. (1933). Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke. Bd. XV. Frankfurt a. M. Freud, S. (1935). Nachschrift zur »Selbstdarstellung«. Gesammelte Werke. Bd. XVI (S. 31-34). Frankfurt a. M. Freud, S. (1940). Abriss der Psychoanalyse. Gesammelte Werke. Bd. XVII (S. 63-138). Frankfurt a. M. Grubrich-Simitis, I. (1993). Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Frankfurt a. M. Jean Paul (1967). Vorschule der Ästhetik. Werke hrsg. v. N. Miller. Bd. V (S. 7-514). Darmstadt. Lindner, B. (2003). Die Spuren von Auschwitz in der Maske des Komischen. Chaplins The Great Dictator und Monsieur Verdoux heute. In M. Frölich, H. Loewy, H. Steinert (Hrsg.), Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust (S. 83-106). München. Lindner, B. (2005). Der Groteskfilm als Gegenstand der historischen Emotionsforschung. In O. Grau, A. Keil (Hrsg.), Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound (S. 149-170). Frankfurt a. M. Lindner, B. (2006a). Der Autor Freud. In H. Lohmann, J. Pfeiffer (Hrsg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (S. 232-237). Stuttgart. Lindner, B. (2006b). Freud liest den Sandmann. In K. Herding, G. Gehrig (Hrsg.), Orte des Unheimlichen. Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst (S. 17-36). Göttingen. Lindner, B. (2007). Wäre Freud ins Kino gegangen … Früher Zeichentrickfilm, Affektbildung, Psychoanalyse. In K. Herding, A. Krause-Wahl (Hrsg.), Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht (S. 289-304). Taunusstein. Reik, T. (1929). Die zweifache Überraschung. Die psychoanalytische Bewegung, 1 (1), 212-217.
■ Dirk Fabricius
Psychopathen auf die Bühne? Verbrechen, Kunst und Psychoanalyse
Soll man psychopathischen Personen eine Bühne geben? Der Jurist antwortet: Das kommt darauf an. Worauf? Freuds Antworten (1905a) in dem kaum mehr als fünf Druckseiten kurzen Text dienen als Ausgangspunkt, die Frage zu beantworten. Die Stichworte »Psychopathische Personen« und »Bühne« ließen den Kriminalwissenschaftler aufmerken. Psychopathie spielt in der Kriminalwissenschaft eine nicht immer rühmliche Rolle; die Psychopathen auf der Bühne könnten eine »kriminalpräventive«, aber auch eine Kriminalität verstärkende Wirkung haben. Wenn Freud in dem Text »Hamlet« als erstes psychologisches Drama und Hamlet als psychopathischen Charakter anführt, wenn man das durch viele Verbrechen herbeigeführte Blutbad am Ende dieser Tragödie im Sinn hat, drängt sich die Frage nach dem Zusammenhang von »Verbrechen, Kunst und Psychoanalyse« auf. Diese ist kriminalwissenschaftlich auch im Rahmen der so genannten »Positiven Generalprävention« von Interesse, wonach das Rechtsbewusstsein der Bürger, ihre Bereitschaft, sich rechtstreu zu verhalten, durch Zuschauen (beim Bestrafen) erhöht werde (Fabricius, 2006). Löst man dieses Konzept aus dem strafrechtlichen Kontext, befreit es von der Last, Strafe zu legitimieren, so kann man Freuds Text als Ausgangspunkt nehmen, um zu fragen, wie Gerichtsverfahren und die Berichterstattung darüber und über Kriminalfälle, aber auch die künstlerische Darstellung gestaltet sein sollten, damit solche generalpräventiven Wirkungen erzielt werden können.
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■ Freuds Antworten – der wesentliche Inhalt des Textes Freud bestimmt anfangs den Zweck, die Absicht des Schauspiels, knüpft an die aristotelische Schauspielkonzeption an, nach der das Schauspiel die Affekte reinige, indem Furcht und Mitleid erregt, Quellen für Lust und Genuss (wieder) geöffnet würden, indem eigene Affekte ausgetobt werden könnten, begleitet von einer sexuellen Miterregung und daraus resultierender Höherspannung. Das Zuschauen beim Schauspiel entspreche dem Spiel der Kinder. Der Zuschauer identifiziere sich mit dem Helden, wisse sich aber in Sicherheit. Genuss habe Illusion zur Voraussetzung. Dann heißt es, der Zuschauer könne unterdrückten Regungen wie religiösen, politischen, sozialen und sexuellen Freiheitsbedürfnissen ungescheut nachgeben. Das Drama sei aus Opferhandlungen hervorgegangen und der Held sei ein Aufrührer gegen Gott – Stichwort Prometheusstimmung. Das seelische Leiden sei Thema des Dramas und es komme zu einem »erregten Mitleiden«. Seelische Leiden kenne der Mensch wesentlich in Zusammenhang mit den Verhältnissen, in denen sie erworben würden. Daher brauche das Drama eine Handlung, die solche Leiden erst hervorrufe. Die Handlung müsse eine des Konflikts sein. Eine Anstrengung des Willens des Helden und Widerstand gegen die göttliche Ordnung in der griechischen, gegen die menschliche Ordnung im Falle der bürgerlichen Tragödie. Die Charaktertragödie entnehme die Erregungen dem Konflikt zweier hervorragender von Einschränkungen befreiter Personen, entbehre der Genussquelle der Auflehnung. Im psychologischen Drama werde das Seelenleben des Helden der Kampfplatz, ein Leiden schaffender Kampf zwischen verschiedenen Regungen und schlussendlichem Verzicht. Es könne Mischungen geben zwischen dem bürgerlichen, sozialen Drama und dem Charakterdrama, wenn Institutionen diesen inneren Konflikt, prominent der zwischen Liebe und Pflicht, hervorriefen. Psychopathisch ist nach Freud der Held im psychologischen Drama, wenn es eine bewusste und eine verdrängte Quelle des Leidens gebe. Die Bedingung des Genusses des Auftretens des Psychopathen auf der Bühne sei, dass der Zuschauer auch Neurotiker
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sei, der seine Verdrängung ständig aufrecht erhalten müsse. Beim Nichtneurotiker würde die Anrührung der verdrängten Regung bloß auf Abneigung stoßen und die Bereitschaft hervorrufen, den Akt der Verdrängung zu wiederholen, denn diese sei gelungen. Freud will den Gesunden an gesicherter Verdrängung, das heißt einer erfolgreichen Abwehr, und nicht am Gelingen der Sublimierung erkennen. Als Beispiel zieht Freud Shakespeares »Hamlet« heran, mit dem er sich schon in der Traumdeutung beschäftigt hatte, und findet bei »Hamlet« drei Bedingungen für die Kunstform des Dramas mit einem Psychopathen als Helden: − Der Held sei noch nicht von Beginn an psychopathisch, sondern werde es erst im Laufe der Handlung. − Bei uns allen sei die in der Psychopathie ausgelebte Regung in entsprechender Weise verdrängt. − Die Handlung des Dramas rüttele an der Verdrängung der Zuschauer. Für den Erfolg des Schauspiels sei es unabdingbar, dass die Regung nicht mit deutlichen Namen benannt werde. Würden diese Bedingungen nicht erfüllt, seien die psychopathischen Persönlichkeiten auf der Bühne so unbrauchbar wie im Leben. Bei der fertigen Neurose rufe man im letzteren Falle den Arzt und für das Schauspiel seien die Betreffenden »bühnenunfähig«. Es folgt eine Kritik des Dramas »Die Andere« von Hermann Bahr, einem österreichischen Romancier und Dramatiker. Die Heldin trete darin mit einer solchen »fertigen Neurose« auf. Zudem bleibe nichts mehr zu erraten, was den Widerstand des Zuschauers wachrufe. Die Bedingung der abgelenkten Aufmerksamkeit sei verletzt. Die allgemeine Schlussfolgerung: »Im Allgemeinen wird sich etwa sagen lassen, dass die neurotische Labilität des Publikums und die Kunst des Dichters, Widerstände zu vermeiden und Vorlust zu geben, allein die Grenze der Verwendung abnormer Charaktere bestimmen kann.« Freuds Manuskript selbst ist undatiert. Das Schauspiel »Die Andere« wurde in Wien im November 1905 aufgeführt. Als Buchform erschien das Stück 1906. Daher kann man den Essay
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auf Ende 1905, Anfang 1906 datieren. Freud selbst hat diesen Text nicht veröffentlicht, sondern Max Graf geschenkt, dem Vater des »kleinen Hans«, Musikwissenschaftler und Schriftsteller, einer der Nichtmediziner im Kreis um Freud (Worbs, 1988, S. 139). Dieser gab den Essay erst nach dem Tode Freuds 1942 zur Veröffentlichung; er erschien zunächst in englischer Sprache unter dem Titel »Psychopathic characters on the stage« und erst 1962 auf Deutsch.
■ Nicht abartig: Absage an den gemeinen Psychopathiebegriff Psychopathie war nach der um die Jahrhundertwende erblühten »Degenerationshypothese« ein genetischer Defekt. Diejenigen, die ihn hatten, waren die Abartigen, derer man durch Ausmerzen Herr werden musste. Der Begriff der »Psychopathia Criminalis« wurde, im Gegensatz zur »Psychopathia Sexualis«, nicht als Terminus in die Psychiatrie aufgenommen. Er stammt vielmehr von dem Satiriker Oskar Panizza (1898), der den Missbrauch der Psychiatrie fast prophetisch vorwegnahm. In der von falsch verstandener Evolutionstheorie in Form von Eugenik und Sozialdarwinismus beherrschten Psychiatrie am Beginn des 20. Jahrhunderts wurden »Psychopath« oder der »psychopathisch Minderwertige« Leitwörter eines ganzen kriminalpolitischen Konzeptes (eingeführt von Koch, 1891/93), dessen Karriere durch den Nationalsozialismus weiter befördert wurde. 1945 gab es keinen Bruch, vielmehr dominierte ein solches Verständnis die forensische Psychiatrie und die darauf Bezug nehmende Jurisprudenz bis weit ins 20. Jahrhundert; noch die Strafrechtsreform 1970 brachte den Begriff der »Abartigkeit« in § 20 des Strafgesetzbuches unter und dort steht er noch immer. Zwar geriet »Psychopathie« im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bei einigen in Verruf, jedoch ist das Wort aus juristischen Standardwerken nie verschwunden (Lenckner u. Perron, 2001). Vor Kochs Arbeit war der Begriff breiter auf alle psychischen Störungen bezogen angelegt. Inwieweit Freud bereits den engeren Begriff kennt oder im Text zugrunde legt, ist nicht ganz klar. Da Freud seine Ausführungen zu Hamlet in dem Text erwähnt, Hamlets Tötungshemmung gegenüber seinem Onkel Claudius dort mit
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der mühelos vollzogenen Tötung des Polonius’ und der Auslieferung von Rosenkranz und Güldenstern an den englischen Henker kontrastiert, gehört jedenfalls der engere Psychopathie-Begriff auch in den Kreis. Nimmt man die drei genannten Bedingungen (der Held wird erst psychopathisch, die Regung ist bei allen in gleicher Weise verdrängt und die Situation rüttelt an der Verdrängung), so liegt darin eine Absage an diese Degenerationshypothese. Zwar wird eine solche Degeneration nicht explizit ausgeschlossen, aber doch implizit. Wenn die Regung bei allen in gleicher Weise verdrängt ist, so muss sie bei allen vorhanden sein. Gesunde und Psychopathen unterscheiden sich nicht in der Existenz solcher Regungen, sondern in ihrer Unterdrückung. Das impliziert, dass die Degeneration, wenn es sie denn gibt, nur die Kontrolle und Unterdrückung beeinträchtigt, aber nicht das Böse in die Welt bringt. Auch insoweit wird die Degenerationshypothese verworfen. Wenn die »Situation an der Verdrängung rüttelt«: Damit wird auch das, wenn man so will, Kontrollsystem als variabel angesehen, der Ausfall der Verdrängung und der Hemmung nicht als erblich angesehen. Weiter unterstreicht die Möglichkeit einer Mischung zwischen bürgerlicher Tragödie und psychologischem Drama eine sozialpsychologische Sichtweise. Denn es sind die Institutionen, welche die Konflikte bei den Helden hervorrufen, deren Bewältigung der Inhalt des psychologischen Dramas ist. Das phänomenal Psychopathische wird als Antwort auf einen durch die äußeren Verhältnisse konstellierten Konflikt gesehen, der widersprüchliche Regungen und Strebungen auslöst, von denen eine bewusst, die andere unbewusst ist. Die hier eingenommenen Positionen entsprechen denen Freuds und denen von der Psychoanalyse durchgängig gehaltenen (Worbs, 1988, S. 78 ff., 164). Auch in der Folgezeit wird die Degenerationshypothese zurückgewiesen und die Entstehung der Psychopathie auf die Verhältnisse, unter denen sie erworben wurde, zurückgeführt, mit dem Konzept der durch frühkindliche Erfahrungen erworbenen Persönlichkeitsstörungen (Alexander u. Staub, 1929; Aichhorn, 1974; Reiwald, 1948; Redl u. Wineman, 1979; Kernberg, 1997; Winnicott, 1984b; Wurmser, 1987). Die gesellschaftliche Unterdrückung als Quelle des Auftretens psychopathischer Erscheinungen bei Ubiquität der entsprechenden
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Regungen hat Devereux in seinem Buch »Normal und Anormal« aufgenommen. Er ist überzeugter und entschiedener Verfechter einer Trennung von gesellschaftlicher Normalität im Sinne von sozialer Konformität in Abhebung von krank und kriminell. Im Konzept der ethnischen Störung hat er das Modell entwickelt, dass viele Individuen einer Gesellschaft krank sein können oder auch die Mehrheit. Dies führt zu einer lediglich statistisch definierten herrschenden Normalität, die aber nur bedeutet, dass Krankheit verbreitet ist. In der Auseinandersetzung mit Psychopathie schält die Psychoanalyse deutlich heraus, dass die Trennung zwischen uns und »denen da« einem projektiven Mechanismus folgt; dass umgekehrt eine nicht auf solchen Abwehrvorgängen basierende Kriminalpolitik die Ähnlichkeiten betont und die Unterschiede mehr auf die unterschiedlichen Situationen zurückführt, in denen wir leben und – in zweiter Linie – in denen wir groß geworden sind, und auf die unterschiedlich gut ausgebildeten Kontrollsysteme, nennen wir sie nun Gewissen, Über-Ich oder inneres normatives System. Freuds Antwort, Psychopathie sei keine »Abartigkeit«, ist als richtig ebenso festzuhalten wie die, dass Psychopathie auf der Bühne auch nicht als solche dargestellt werden dürfe. Am Ende des Textes allerdings, mit der Einführung des Terminus »abnorme Charaktere«, kommt eine Zweideutigkeit ins Spiel, welche die Debatte um die Psychopathen auch innerhalb der Psychoanalyse belastet. Was nämlich die Norm ist und was ein Charakter, und ob es Charaktere in diesem Sinne überhaupt gibt, bleibt umstritten.
■ Wirkungen der Bühne und wie sie erzielt werden Wie werden die möglichen Wirkungen der Psychopathen auf der Bühne erreicht, wie sind die erwünschten Wirkungen genauer zu bestimmen, wie sind sie zu erreichen? Verderbliche Medien: Bücher, Theater (zu Zeiten Shakespeares seitens der Puritaner), Film und auch Märchen waren, besonders in der Zeit des ersten Auftretens und Verbreitung das, was heute Fernsehen und Computerspiele sind, Verderber der Sitten, der
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Jugend, Anstiftung zum Verbrechen (Möckelmann, 2007). Solche negativen Wirkungen fasst Freud nicht ins Auge. Das Ärgste für ihn ist, dass der Zuschauer sich abwendet. Dem psychoanalytisch Informierten wird Freud folgend dergleichen Medienschelte fremd sein. Er wird auf das einzelne Werk schauen, in welchem Medium auch immer es sich vermittelt und fragen, ob es Abwehrvorgänge stimuliert und stabilisiert oder Bewusstwerdungs- und Reflexionsprozesse in Gang setzt, differenzierte Affektwahrnehmung bei sich und anderen anregt. Die Darstellung der (phänomenalen) Psychopathen als Abartige, als Monster, kann in diesem Zusammenhang beispielhaft für eine Projektion verstärkende und damit Ausschlussprozesse unterstützende genannt werden. Selbst wenn dies zu einem Zusammenschluss der »Guten«, zur Bekräftigung ihrer gesellschaftlichen Identität und zu größerem Rechtsgehorsam führt, ist diese Sündenbockproduktion jedenfalls langfristig verderblich. Wer »positive Generalprävention« will, muss darauf Bedacht nehmen. Läuterungsprozesse – am Zuschauer oder Patienten, durch Dramatiker oder Psychoanalytiker: Etwas zu erraten lassen, keine Widerstände hervorrufen, Vorlust geben, sagt Freud, lösen die Affektreinigung aus. Was der gute Dramatiker – darin dem Psychoanalytiker gleich – berücksichtigt, sind die Widerstände des Patienten respektive Zuschauers; hier wie dort ist es falsch, jemandem die heiklen Botschaften auf den Kopf zuzusagen. Diagnosen verlangen Beurteilungen, können leicht als Verurteilung verstanden beschämen und Widerstand wecken (Wurmser, 1987, S. 6, 314). Die andere Seite ist die Herstellung und der Erhalt einer lustvollen Lage. Im Patienten kommt die entscheidende psychische Bewegung durch eine Lockerung des Widerstandes und eine Überwindung der Angst davor nur dann zustande, wenn dieser Vorgang in Lust und Genuss eingebettet ist. Auch der Analysand bedarf des Momentes der Erleichterung und Entspannung in der Stunde, um weiterarbeiten zu können (Morgenthaler, 1981). Die Deutung gibt sich der Zuschauer ganz und gar selbst, er muss der Unterstützung des Analytikers entbehren. Das Drama regt Identifikationen und Schwelgen in Illusionen an, auch zur Übertragung und Reinszenierung, zur Wiederholung des »ein
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jeder von uns war einmal ein Ödipus«. Schließlich können die so aufgerufenen Affekte abgeführt werden. Das Denken, die kognitive Verarbeitung dieser Vorgänge soll jedoch nicht Sache des Dramatikers sein, sondern die des Zuschauers selbst – es muss etwas zu erraten bleiben – eine durchgängige Position Freuds (Worbs, 1988, S. 259 ff.). Das rührt an die Konzeption der Psychoanalyse, die jedenfalls in der Urfassung der Traumdeutung dominant war: Der Analytiker formuliert nur noch den Gedanken, den der Patient/Zuschauer durch die psychische Arbeit in der Übertragung und durch das Wiederholen und das begleitende Denken schon gefasst hat (Winnicott, 1971, S. 101). Reinigung der Affekte – Abfuhr oder Sublimierung: Neurotisch und gesund werden nach der Intensität und Haltbarkeit der Verdrängung geschieden. Gesund ist, wessen Verdrängung dem Auftreten der psychopathischen Person auf der Bühne standhält, sodass nur Abneigung und kein Genuss beim Zuschauen entstehen. Kultur ist danach auf Triebverzicht gebaut (Worbs, 1988, S. 318). Eine Versöhnung des triebhaften Individuums mit den gesellschaftlichen Anforderungen ist unmöglich; gesellschaftliches Zusammenleben setzt Unterdrückung von Freiheitsbedürfnissen voraus. Kultur macht krank und bedarf der Krankheit? Das Verhältnis der in diesem Sinne Gesunden zu den Neurotikern wird als variabel dargestellt, weil erst das moderne Drama die Psychopathen auf die Bühne bringt, was nach Freuds Auffassung eine Vielzahl von neurotischen Zuschauern voraussetzt. Dementsprechend ist der psychische Vorgang, den sich Freud von den psychopathischen Persönlichkeiten auf der Bühne bestenfalls vorstellen kann, dass die immer gefährdete Verdrängung des Neurotikers dadurch erhalten wird, dass die Psychopathie im Stück als aus den Verhältnissen, unter denen sie erworben wurde, vorgeführt, aber nicht benannt wird. Auch der neurotische Zuschauer wendet sich in dem Moment ab, in dem ihm die verdrängte Regung zu deutlich gemacht wird. Anders gesagt, im Text fehlt ein Konzept der Sublimierung. Das ist auffällig. Denn die Idee der Sublimierung taucht in einem Brief an Fliess zum ersten Mal auf (1898) und wird dann in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905b) entfaltet, war also zum
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Zeitpunkt der Entstehung des hier zu bearbeitenden Textes bereits vorhanden (Hirschmüller, 2002, S. 684). Sublimierung ist eine Form der Versöhnung von Trieben und Affekten mit der äußeren Realität, die (fast) ohne Unbewusstmachung, ohne neurotische Abwehr möglich ist (Bernfeld, 1931, S. 406 ff.; Whitebook, 1996, S. 850 ff.; Ornstein, 1996, S. 447). Mit Sublimierung umschreibt Freud einen Bereich, in dem kulturelles Erleben Bedeutung hat (Winnicott, 1971, S. 111). Woran lässt sich erfolgreiche Sublimierung erkennen? Ist es jedenfalls minimale Voraussetzung, dass das Verhalten den Normen und Standards der jeweiligen Gesellschaft entspricht, wie manche vertreten? Die alternative Auffassung widerstrebt einer solchen kulturrelativistischen Konzeption und misst Sublimierung an universalen Kriterien der Anpassung. Das kann abweichendes Verhalten gegenüber einer bestimmten Kultur einschließen (Devereux, 1974, S. 128, 164). Angepasstes Verhalten kann dann kriminell und krankheitsbedingt sein, nonkonformes gesund und, zum Beispiel der Tyrannenmord, nichtkriminell, gerechtfertigt und geradezu wohltätig sein. Auch kann gerechtfertigtes Verhalten krankheitsbedingt und rechtswidriges gesund sein – alle Kombinationen sind möglich. Von hier aus kann erst der »soziale Ort der Neurose«, den Freud schon thematisiert (Worbs, 1988, S. 128 ff.), können die Zusammenhänge zwischen Klassenlage und spezifischer Abwehrformation, zwischen einer Kultur und der in ihr erzwungenen oder ermöglichten Charakterstruktur, Kultur- und Persönlichkeitsstrukturwandel aussichtsreich untersucht werden (Erdheim, 1997). Ethnopsychoanalyse und Ethnopsychiatrie relativieren alle kulturspezifischen Normalitätsvorstellungen, die Freud, auch in diesem Text, in Frage stellt (vgl. auch Worbs, 1988, S. 252). Der Stellenwert des Ödipuskomplexes sieht im Lichte der Rostam-Sage, in welcher der Vater den Sohn erschlägt (Charlier, 2006, S. 103), anders aus. Identität verändert sich mit gesellschaftlichem Wandel (Bohleber, 1999, S. 517). Damit ergibt sich eine bedeutende Schnittstelle zum Recht, welches gleichermaßen die Suche nach kulturinvarianten Elementen nicht aufgeben kann, ohne die unverzichtbare Trennung von Recht und Gesetz aufzugeben (Sobota, 1997, S. 90 ff.). Die Gesetzesform schließt nicht aus, dass Unrecht normiert
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wird – wer wüsste das besser als die Deutschen nach den Verbrechen im Nationalsozialismus. Eine weitere im Sublimierungsbegriff unterschiedlich beantwortete Frage ist die nach der Trennung von oder dem Aufrechterhalten der Spannung zwischen Natur und Kultur. Ist die Biologie des Menschen von seinen kulturellen Zügen ganz getrennt, wird er im Wesentlichen durch Gesellschaft konstituiert, oder ist Gesellschaft Mittel und Instrument der Selbstkonstitution, zur Kooperation, Zähmung des Konkurrenzkampfes? Gibt es, anders gesagt, eine Ethik, nach der Menschen ohne altruistische Selbstaufopferung, im Einklang mit ihren Trieben und Affekten leben können? Können wir, ohne den anderen zu missbrauchen und ihm die Anerkennung zu entziehen, gut leben?
■ Freiheitsdurst: Verdrängen, unterdrücken oder Wege suchen, ihn zu stillen? Dass Freud auf die eben gestellte Frage eine positive Antwort nicht ganz ausschließt, indiziert die politische Metaphorik, derer er sich nicht nur in diesem Text bedient (Worbs, 1988, S. 39 ff.). Sie steht im Kontrast zur Absage an politische Revolution und passt zu einem kulturinvarianten Sublimierungskonzept. Auch das Motto der Traumdeutung, das Vergil’sche »Wenn ich die Oberen nicht beugen kann, bewege ich die Unteren« ist revolutionär, besonders im Vergleich zum »bürgerlichen« des Marx’schen Kapitals, dem Dante zugeschriebenen »Geh du deines Weges, und lass die Leute reden«. Ob das Motto etwas im Text Unterdrücktes, Unterbelichtetes, Zurückgehaltenes ins Spiel bringt, eine gesellschaftskritisch optimistische Tendenz, der Freud misstraute, jedenfalls ihre Ausformulierung für nutzlos hielt? Die Bedürfnisse nach Beseitigung religiöser, politischer, sozialer und sexueller Unterdrückung anzuführen heißt, eine Dimension politischer Psychologie, eine kulturkritische Perspektive einzuspielen. Die psychopathische Persönlichkeit kann zum Helden von Befreiungskämpfen werden – auch dies ist eine revolutionäre Perspektive. Vielleicht kann der Held gesellschaftliche Freiheit erfolgreich nur erkämpfen, wenn er von der Neurose zur Sublimation
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gelangt, sich vom Wiederholungszwang befreit (Heenen-Wolff, 2006, S. 227). Sozialer Druck schlägt sich im Ich und schlägt das Ich nieder, löst den Aufbau von Abwehrmechanismen aus, beschränkt die äußere Freiheit wie die des Denkens und Fühlens selbst, um negativen äußeren Konsequenzen zuvorzukommen. So wird die innere seelische Struktur ein Widerschein äußerer sozialer Beziehungen. Dies wird zum Beispiel durch den Terminus »Traumzensur« unterstrichen, und erst recht kann das Über-Ich in der Freud’schen Version als Reaktion auf elterliche Aggression verstanden werden. Die aus dem pessimistischen Menschenbild resultierende Absage an gesellschaftliche Revolution und die Annahme, der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft sei nicht lösbar, wird über die kommenden Jahrzehnte hin konterkariert durch die Vorstellung, der Mensch solle sich mit seinen Komplexen ins Einvernehmen setzen oder die leise Stimme der Vernunft werde sich schließlich doch durchsetzen. Die Beziehungen von Freiheit und Recht, dem Verhältnis von innerer und äußerer Freiheit, innere Freiheit dabei auch im Kant’schen Sinne als sittliche Autonomie verstanden, sind zentrale Aspekte, mit denen Freud sich auch in der Folge immer wieder auseinandersetzt. Der Text legt nahe, die stabilisierte Verdrängung des Freiheitsdurstes als bestmöglichen Effekt zu nehmen. Ob Freud später diesen Text anders geschrieben hätte mit Blick auf die Frage der Scheidung von Gesunden und Kranken? Insbesondere die spätere Schrift »Die Zukunft einer Illusion« schließt die Möglichkeit der Sublimierung und damit eine bessere Vereinbarkeit von individuellen Regungen und Bedürfnissen und kulturellen Anforderungen ein. Gesund ist dann eben nicht mehr, wer eine besonders erfolgreiche und nachhaltige Verdrängung aufzuweisen hat, sondern derjenige, der die Verdrängung durch den im Bewusstsein der bestehenden Regungen erfolgenden Verzicht ersetzen oder aber in sublimierter Form eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse anstreben kann. Die Trennlinie zwischen gut und böse verläuft im Spätwerk nicht mehr entlang der Grenze zwischen Individuum und Kultur, sondern quer dazu (Saller, 1999, S. 114). Die Annahmen, dass eine Revolution wahrscheinlich um so
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eher misslingt, je weniger sublimierungsfähig die Revolutionäre sind, und dass die Ausbildung von Sublimierungsfähigkeit um so weniger gelingt, je repressiver, diktatorischer, oder manipulativer die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, sind plausibel. Zusammengenommen implizieren sie, dass die Revolution umso wahrscheinlicher misslingt, wie ihr Ausbruch wahrscheinlicher wird. Die Leitstichworte »Freiheitsdurst« und »Sublimierung« sind im Kontext der Unterscheidung Recht und Gesetz, mit Blick auf universale Menschenrechte und ihre Realisierung, auf Menschheits- und Kriegsverbrechen und ihre Verhinderung juristisch relevant.
■ Tyrannenmord bei psychischer Gesundheit? Freud hat uns in dem Text den Umweg zu Hamlet über die »Traumdeutung« gewiesen. Hamlet eignet sich in hervorragender Weise, die bis jetzt angelegten Themen miteinander verknüpft aufzunehmen und vertieft wie anschaulich zu behandeln. Das, was den Maßstab für Sublimierung ausmacht, kann, soviel ist klar, nicht am Status quo der Normalität einer Gesellschaft ausgerichtet werden. Sublimieren können nur autonome Individuen, Autonomie garantiert das Gelingen der Sublimierung nicht, erhöht aber ihre Wahrscheinlichkeit. Der psychopathische Charakter der Charaktere: Die Betrachtung aller Charaktere auf der Suche nach Psychopathischem war ausgesprochen reizvoll. Platzgründe gebieten, sich auf wenige zu beschränken. Claudius kann als Modell des Psychopathen im modernen Verständnis angesehen werden. Ihm gegenüber ist man spontan am wenigsten geneigt, Sympathie zu entwickeln. Doch Shakespeare (1939) hilft dem Zuschauer auch hier bei der Identifizierung, denn er stellt ihn nicht als »abartig« dar. So in der Szene, in der sein Gewissen ihn nicht nur plagt (das schon in III 1: »Wie trifft dies Wort mit scharfer Geißel mein Gewissen!«), sondern er bekennt und zu bereuen versucht. Es bleibt beim mehrfachen Versuch, weil das Über-Ich der Vergebung nicht zugänglich ist (III 3). Die zum Ausdruck kommende Hoffnungslosigkeit treibt
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ihn weiter auf dem verbrecherischen Pfad. Auch dies lässt sich bei vielen Straftätern beobachten. Sie nicht als gewissenlos, sondern als von einem »archaischen Über-Ich« besetzt zu sehen, ist für ein menschliches Verstehen hilfreich. Hamlet kontrastiert Vater und Onkel als Apoll und Satyr. Denken wir daran, dass die Satyrn eher missgestaltete Figuren sind, so passt dies mit den typischen Beschreibungen der Psychopathen bestens zusammen, denen ebenfalls alle möglichen körperlichen Auffälligkeiten angedichtet werden. Dass der vom Schicksal, von Gott oder durch den Zufall der Geburt am falschen Ort zurückgesetzte, benachteiligte oder behinderte Bruder zum Mörder wird, ist eine alte und immer wieder erzählte Geschichte, beginnend mit Kain und Abel. Hamlet weiß darum: »So geht es oft mit einzelnen Menschen auch / dass sie durch ein Naturmal, das sie schändet / als etwa von Geburt (worin sie schuldlos, / weil die Natur nicht ihren Ursprung wählt) […]« (II, 4; S. 21). Bei Hamlet ist Psychopathie weniger ein »Charakterzug« als ein wiederholt auftretendes, aber auch immer wieder verschwindendes und letztlich nicht dominierendes Merkmal. Freud deutet das Zögern Hamlets, Claudius zu töten, als Resultat verdrängten Hasses gegen den Vater. Er verzögert durch das Sammeln von Beweisen und das Verlangen nach Gewissheit dafür, dass der Geist keine Verkleidung des Teufels sei. Er beklagt seine Willensschwäche und Tatenlosigkeit, verachtet sich, weil er sich einem Weib, einer Hure, einer Küchenmagd ähnlich sieht, lehnt seinen weiblichen Anteil ab (Winnicott, 1971, S. 99). Allerdings ist Ophelia Kind einer patriarchalischen Kultur und ihr Gehorsam auch bezüglich der Unterdrückung ihrer Weiblichkeit steht einer autonomen Identität entgegen (vgl. Charlier, 2006, S. 104). Die Verdrängung des Todeswunsches gegen den Vater hat auch eine Reihe von prosozialen Ausweichmanövern zur Folge. Man würde wohl doch zögern, umstandslos ein Aufheben der Verdrängung mit der Folge der sofortigen Tötung von Claudius gut zu heißen. Aber: Als er darauf verzichtet, Claudius während des Gebets zu töten, erfüllt er damit den väterlichen Auftrag. Hatte doch Hamlet Senior in Gestalt des Geistes gerade beklagt, dass er ohne Beichte und letzte Ölung ermordet worden sei. Die Rache kann daher nur vollendet werden, wenn auch Claudius ohne Beichte getötet wird,
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das heißt er muss nach der Gebetsszene noch neue Sünden begehen, was Hamlet auch erwartet. Sowohl bei Claudius wie Hamlet ist Vorsicht zu erkennen, der Versuch, mehr Klarheit durch Beobachtung und Spionage zu gewinnen. Claudius agiert jedoch in einem prägnant machiavellistischen Muster, berechnend und kühl, während Hamlet immer wieder von Gefühlswallungen und insbesondere Enttäuschungen über verräterische Freunde und seine nicht hilfreiche Geliebte bestimmt wird. Am Ende bleibt Hamlet dem väterlichen Auftrag zur Rache verpflichtet und gelangt nicht zur Autonomie. Hätte es eine »produktivere«, »sublimere« Lösung gegeben, wenn Hamlet sich von diesem Auftrag befreit hätte? Wie könnte eine sublime erfolgreiche Bewältigung aussehen? Würde auf die Überprüfung des Verdachts, auf den Versuch, ein Geständnis zu gewinnen, verzichtet werden? Oder würde Hamlet im Bewusstsein dieser Regung den Prozess nicht eher dahin bringen können, dass es nicht wie auf einem Schlachtfeld endet? Es lässt sich jedenfalls argumentieren, dass Hamlet gegen die Ursupation des Thrones durch Claudius nach dem Mord vorgehen durfte, dass er dazu Aggression brauchte und Gewalt nicht per se illegitim ist. Tyrannentötung kann bei psychischer Gesundheit, das heißt bei Fehlen rigider Abwehrmechanismen, begangen werden. (s. Winnicott, 1994, S. 47, zur Definition von Gesundheit). Heenen-Wolff (2006, S. 234) fragt, ob der Entschluss, sich einer Widerstandsgruppe anzuschließen, etwas anderes sein könne als die Rationalisierung eines ursprünglichen Wunsches, Günter (2006, S. 226) sieht unter Bezug auf Erdheim Hass von Adoleszenten als Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung– auch hier wird auf Abwesenheit primitiver Abwehrmechanismen abgestellt. Hamlets Handeln ist von Hass und Unwillen gegenüber dem Verrat von Liebe und Freundschaft aus Gehorsamsbereitschaft getragen. »Wo Kriecherei Gewinn bringt […]« (S. 54). »Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft nicht macht zum Sklaven« (III, 2). Das überschießende affektive Moment, welches zum Mord treibt, kann man jedoch als Reaktionsbildung, als Folge der Projektion der eigenen Gehorsamsbereitschaft auf Rosenkranz und Güldenstern, Ophelia und seine Mutter ansehen, die den Verrat am Selbst bedingt.
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Staatsverfassung, Gesetz und Selbsthilfe: Wenn man aus der Perspektive des mit dem Helden identifizierten Zuschauers fragt, wie der Ausgang des Trauerspiels ausgesehen hätte, wenn Hamlet, aber auch die anderen, der Sublimierung fähig gewesen wären, so muss man sich klar machen, dass es keine Gewaltenteilung, kein geschriebenes Gesetz gibt, das ungeregelt ist, was passiert, wenn an der Spitze der Hierarchie ein Verbrecher steht. Unter solchen Umständen ist gewaltsame Selbsthilfe kaum zu umgehen und nicht von vornherein als Unrecht einzustufen. In Gesellschaften ohne Justiz wird deren Funktion von der Blutrache erfüllt, die doch nur zwischen, aber nicht innerhalb von Sippen funktionieren kann. In solchen Gesellschaften gilt die Tötung von Blutsverwandten als besonderes Verbrechen, was dem Konflikt, in dem sich Hamlet befindet, einen besonderen Anstrich gibt. Er befindet sich tatsächlich in einem moralischen Dilemma, dem er ohne Eingreifen eines nicht blutsverwandten Dritten nicht entkommen kann. Wir werden an dieser Stelle der Tatsache gewahr, dass sublimierte Lösungen der geeigneten sozialen Umgebung bedürfen, und dass die Entwicklung einer rechtsstaatlichen Demokratie mit Gewaltenteilung, unabhängiger Justiz, der Unterwerfung der Spitzen der Hierarchien unter das Gesetz geeignet sind, solche Umgebungen entstehen zu lassen. Anders gesagt: Auch insoweit ist der Zusammenhang von Reifungsprozessen und fördernder Umwelt relevant, von Winnicott (1984a) beschrieben, der an anderer Stelle explizit Verwirklichung von Demokratie an das Vorhandensein eines Prozentsatzes reifer Individuen koppelt (Winnicott, 1994, S. 212). Unabhängig davon, ob eine ursprüngliche Destruktivität postuliert wird, die es abzumildern gilt, oder ob eine solche Destruktivität überhaupt erst am Entstehen gehindert werden soll: Es eint die Psychoanalytiker, dass eine gute Umwelt unerlässlich ist (Dornes, 1999, S. 560). Die Freud’sche Intuition, dass der Einsatz von Abwehrmechanismen durch die äußeren Verhältnisse in variablem Umfang geradezu erzwungen wird, bestätigt sich so. Hamlets Autonomie ist eingeschränkt. Da er eine Überzeugung von seiner Irrtumsneigung hat, setzt er sie, soweit man Freuds Deutung vom unterdrückten Todeswunsch gegen den Vater folgt, rationalisierend ein, wenn er die Tötung hinauszögert; auch im
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Bewusstsein des Todeswunsches gegen den Vater könnte er diese Überzeugung weiter hegen. Dann hätte sie keine rationalisierende Funktion, sondern wäre Ergebnis von Sublimierung. Warum hilft nur mehr Autonomie? Jeder Versuch, Individuen gezielt zu programmieren, ist zum Scheitern verurteilt, weil Individuen Variablenwerte selbst setzen können, nicht zuletzt mittels der Vielzahl möglicher Abwehrmanöver zur Erfindung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen (»blaming the victim«). Dies konvergiert mit der Konzeption einer postkonventionellen Moral und den dafür erforderlichen Fähigkeiten: Man muss die Regeln mit Blick auf Lage und Prinzipien transzendieren und gegebenenfalls brechen. Und dies kann, da Unparteilichkeit und Objektivität dafür erforderlich sind, nur gelingen, wenn die Abwehr minimiert ist (Devereux, 1967). Die Einlösung unserer Rechtsstaatskonzeption verlangt mündige, autonome Bürger auch im psychoanalytischen Verständnis von Autonomie. Es gibt Interpretationen, die Claudius als den Prototyp des modernen Machthabers ansehen, der die Gesinnungsethik über Bord wirft und zu einer Verantwortungsethik übergeht, die das Wohl des Staates, seine Stabilität, die Sicherung seiner Grenzen in den Vordergrund stellt und zu diesem Zwecke Verstöße gegen die Gesinnungsethik als gerechtfertigt ansieht. Nun ist die Frage, ob eine »gesinnungsethische Ausrichtung« als Rückfall in eine vorsäkulare Ordnung, in eine religiöse Bindung anzusehen ist. Wenn an einer kulturinvarianten Sublimierungs- / Gesundheits- / Kriminalitätsdefinition festzuhalten ist, kann die Scheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik nicht aufrechterhalten werden. Shakespeare, im »Hamlet« wie seinen anderen Dramen, hat die Freud’schen Kriterien, auch in der hier angelegten Ausweitung beziehungsweise Konkretisierung, für das Auftreten der Psychopathen auf der Bühne erfüllt: Er hat die Psychopathie als von den Umständen ausgelöst, zu innerem Konflikt und äußerem verbrecherischen Handeln führend eingeführt, und lädt den Zuschauer zu wechselnden Identifikationen ein, ohne belehrende Lösungen vorzugeben.
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■ Bühnen und andere Spielräume Die Faszination von Mord und Totschlag, Sex and Crime ist groß: 80 Morde auf dem Bildschirm pro Abend finden ihre Zuschauer, Krimis ihre Leser, wie auch die entsprechende Berichterstattung. Günter (2006, S. 215) bringt sie mit frühen Identifizierungen, der Wiederbelebung infantiler Komplexe zusammen. Welche Effekte dies auslöst, ist unzureichend geklärt, sicher jedoch, dass weder »das Buch«, »das Kino« noch »der Fernseher«, wenn Gewalt beschrieben oder dargestellt wird, unvermittelt zur Nachahmung führen (Günter, 2006, S. 229). Auch Berichterstattung ist »narrativ«, Basis für Interpretation, nicht für Beweis (Moser, 1999, S. 244 f.), Fiktuales und Faktuales gehen oft ununterscheidbar ineinander über. Das Narrative aus generalpräventiver Perspektive in den Vordergrund zu rücken, heißt mitnichten, es auch in spezialpräventiver zu tun. Hier muss, wie es in der Therapie wohl auch sein sollte (Dornes, 1999, S. 548; Ornstein u. Ornstein, 1997, S. 292; Zeul, 2004, S. 585) die Suche nach Wahrheit – empathisch, was nicht bedeutet: alles verzeihend – die Basis sein, denn die Folgen des Urteils werden real gespürt. Lear (1996) hat darauf verwiesen, dass das Theater für die attische Demokratie wesentlich war, weil den Bürgern ermöglicht wurde, der untergründigen psychischen Bewegungen einsichtig zu werden und damit nicht dem großen Wahn der Machbarkeit und kalkulierbaren Rationalität anheim zu fallen. Dieser politische Hintergrund in der Polis mag die Basis für die aristotelische Konzeption des Theaters gewesen sein, die an Aktualität nichts verloren hat. Schauspiel, Film, Strafprozess, Berichterstattung: Alle können Regression im Dienste des Ichs oder im Dienste der Entsublimierung auslösen. Wenn Sublimierung Verfeinerung bedeutet, dann bedeutet Entsublimierung Verrohung. Zur Forschung über »Medieneffekte« und »positive Generalprävention« sind die Konzepte des Übergangs- und Möglichkeitsraumes (Winnicott, 1971, S. 11 ff.) und das von der Bindungstheorie hervorgehobene »pretend play« eine hervorragende Basis. Umgekehrt müssen auch die Formen der Entsublimierung im Blick behalten werden, die Abwehrmechanismen fördern, Hass anstacheln und Empathie herabsetzen. Die empirische Basis für den Strafzweck positive Ge-
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neralprävention ist bisher mehr als dürftig – aber das müsste nicht sein (Fabricius, 2006).
■ Pretend play Erwachsene wie Kinder spielen das ödipale Drama. Wenn sie es zu spielen verweigern, sei es, dass wir Ernst machen, sei es, dass sie kalt und starr werden, wird früher oder später Blut fließen. Einen Charakter darzustellen, eine Rolle zu spielen, die einem auf den Leib geschrieben ist, ist also unser aller Erfahrung. Wie erschaffen wir die eigentümliche Realität des Möglichkeitsraumes (Winnicott, 1971, S. 11 ff.)? Der andere spielt bei der Entwicklung der dazu erforderlichen Mentalisierungskapazität eine entscheidende Rolle (Fonagy et al., 2004, S. 265 ff.; s. a. Brunotte, 2000). Wenn wir das Drama auf bloße Phantasie reduzieren oder zum körperlichen Vollzug schreiten, stürzt der Raum zusammen. Das »Als-ob«, das Prätendierte muss ebenso klar wie unbenannt sein: Mit seiner Benennung wird der Zauber gestört, die Magie funktioniert nicht mehr. Wenn aus dem Prätendierten Ernst wird, ist der Zauber ebenfalls dahin. Überleben heißt in solchen Zusammenhängen, sich nicht rächen, und dann ist der Weg frei, dass die Zerstörungswut zu Angst, Schuld und Mitleid führt und diese wiederum reparative Tendenzen einleiten (Haas, 2000, S. 1130). Dies Spiel ist in die Beziehung eingebettet, und wenn unsere späteren Beziehungen gelingen sollen, muss das ödipale Drama ohne Blut, nicht aber ohne Tränen geendet haben. Elemente des Spiels, Momente illusionärer Verkennung, das Entfalten von Spielräumen machen die Beziehung lebendig und schaffen »Momente der Begegnung« (Zeul, 2004, S. 605). Wenn Galgen aufgestellt werden, Scharfrichter das Schwert schwingen, schuldig gesprochene Menschen der Freiheit beraubt werden, dann wird der Zusammenbruch des Psychopathen, sein Übergang zum blutigen Ernst, mit Gleichem vergolten. »Gewalt oder die Drohung mit Gewalt gegen den Körper tötet die Seele, weil es der ultimate Weg ist, die Abwesenheit von Liebe seitens
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der Person, welche die Gewalt ausübt, zu kommunizieren, von der man Verständnis erwartet« (Fonagy et al. 2004, S. 427). Ist es für den Zuschauer, Beobachter erheblich, ob all dies faktisch geschieht? Wenn die Neigung, abgelehnte Triebe und Affekte projektiv in den anderen zu verlagern und in der dann scheinbar berechtigten Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung einen Weg zu finden – einen »normalen«, sozial akzeptierten Weg –, genau diese Triebe und Affekte in Handlungen blutigen Ernsts auszuleben, wenn das Konzept der Psychopathie – gleich, unter welchem Namen und mit welchen Techniken umgeben – diesen Vorgang beschreibt, programmiert und rechtfertigt, dann stehen wir genau an der Stelle, an der Gesetz und Recht geschieden werden müssen. Das Opferritual wie das Schauspiel müssen im »Als-ob« verbleiben, müssen das Opfer wie das Blut symbolisieren: mehr als Schein und weniger als Sein sein. Wenn auf den Bühnen die Entstehung des Leidens nicht dargestellt wird, so wird der projektive Mechanismus, der Sündenbockmechanismus nicht durch »erregtes Mitleiden« gestört, läuft vielmehr ungestört weiter mit der Konsequenz des ausgeführten Menschenopfers.
■ Positive Generalprävention durch Psychopathen auf der Bühne? Die Dramaturgen und professionellen Rollenspieler müssen, darin den Psychoanalytikern gleich, ein Ethos der Anerkennung pflegen und leben, welches den Übergriff meidet. Der Zuschauer muss die inneren Konflikte der Charaktere identifikatorisch miterleben können, die tragischen Zuspitzungen und gewaltsamen Durchbrechungen der Dilemmata nachvollziehen, um so dahin zu gelangen, selbst reifere, sublimere Auswege aus den ihnen vertrauten Dilemmata zu finden. Die Einsicht: »Das könnte ich sein, ich könnte in eine solche Lage kommen«, schafft die Möglichkeit der Vorbereitung, die wiederum eine Selbstprogrammierung für den Ernstfall sein wird. Abartigkeit darzustellen, Ausschluss und die Ausrottung vorzuführen, anzuprangern und verächtlich zu
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machen, durch Schauspielkunst, Strafprozess und andere Medien hingegen ist gefährlich und potenziell verderblich. Das Theater kann eine »sublimierende Wirkung« nur dann entfalten, wenn es einen Möglichkeitsraum eröffnet, was eine Entwicklung einzuleiten verlangt, indem Irritationen erzeugt und die Zuschauer zum unbelehrten Nachdenken gebracht werden oder dazu, vor sich selbst ein Geständnis abzulegen.
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■ Ilka Quindeau
Trieb, Begehren und Verführung »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Freud, 1905)
■ Einleitung Die »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« gelten als einflussreichstes sexualwissenschaftliches Werk des 20. Jahrhunderts. Mit dieser Schrift stellt Sigmund Freud das Sexuelle ins Zentrum der psychoanalytischen Theorie; das sexuelle Begehren erscheint als zentrale Antriebskraft des menschlichen Verhaltens und Erlebens und motiviert nicht nur sexuelle Aktivitäten im engeren Sinne, sondern liegt jeder menschlichen Tätigkeit zugrunde. Den Herausgebern der Studienausgabe von Freuds Werk erscheinen die »Drei Abhandlungen« neben der »Traumdeutung« als sein bedeutendster, originellster Beitrag zu einer Wissenschaft vom Menschen. In weit stärkerem Maße als bei anderen Schriften nahm Freud an diesem Text über zwanzig Jahre lang Ergänzungen und Veränderungen vor. So kamen etwa die Ausführungen über die kindlichen Sexualtheorien oder die prägenitale Libidoorganisation erst zehn Jahre später hinzu. Freud gliedert seine Sexualtheorie in drei große Abschnitte und zeichnet damit zugleich sein Programm: Er überschreibt die einzelnen Kapitel mit »Die sexuellen Abirrungen«, »Die infantile Sexualität« und »Die Umgestaltungen in der Pubertät«. Mit dieser Reihung sucht er deutlich zu machen, dass es die »normale Sexualität« nicht gibt. Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit lassen sich nach psychoanalytischer Vorstellung im Bereich des Sexuellen ebenso wenig festlegen wie in anderen Bereichen menschlichen Erlebens und Verhaltens. Freud zeigt auf, dass sich die als »pervers« bezeichnete, die kindliche und die als »normal« geltende erwachsene Sexualität weit mehr ähnelten und
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innere Zusammenhänge aufwiesen als es dem Alltagsverständnis scheine. Das Verbindungsglied von »normaler« und »perverser« Sexualität stellt das infantile Sexualleben dar, die von Freud so genannte »polymorph-perverse« Anlage des Kindes. Das ist nun gewiss kein glücklicher Begriff, aber er bezeichnet treffend die Vielgestaltigkeit der kindlichen Lust- und Befriedigungsmodalitäten, von Freud als »Partialtriebe« bezeichnet. Provokant reklamierte Freud die »Entdeckung« der infantilen Sexualität für sich, obschon das kindliche Sexualleben in der Sexualwissenschaft seiner Zeit immer wieder thematisch wurde (vgl. Sigusch, 2005). Doch bahnbrechend war nicht allein die Beobachtung der infantilen Sexualität, sondern die Beschreibung des Infantilen, des Unfertigen als Wesenszug der menschlichen Sexualität. Die infantile Sexualität bleibt also nicht auf das Kindesalter beschränkt, sondern zeigt sich zeitlebens in unterschiedlichsten Manifestationen. Eine solche Manifestation stellen die Perversionen dar. Nach Freud seien Perversionen im Wesentlichen vergröberte, überzeichnete oder verfestigte Formen kindlicher Befriedigungsmodalitäten. Einen breiten Raum in den »Drei Abhandlungen« nimmt die Beschreibung des Sadismus ein, an ihm zeigt sich die Verschränkung von Sexualität und Aggression. Sadismus sei eine »selbständig gewordene, übertriebene, ins Zentrum verschobene aggressive Komponente der Libido« (Freud, 1905, S. 57), die perverse Phantasie oder Handlung sei ein manifestes Überbleibsel einer früheren psychosexuellen Entwicklungsphase, ein der Verdrängung entgangener und unverblümter Hinweis auf eine einstmalige Fixierung (S. 62); die Symptome der Perversion bilden gewissermaßen Fenster ins Unbewusste, als ließen sich hier Wesen und Wirken der Partialtriebe unmittelbar, in vivo, beobachten. Die Lust- und Befriedigungsmodalitäten, die bei den meisten Menschen verdrängt und somit unbewusst sind, finden sich hier in manifester Inszenierung. Die Verdrängung spielt eine entscheidende Rolle in der Sexualentwicklung, ebenso die Etablierung des Genitalprimats in der Pubertät. Im Übergang von der infantilen zur erwachsenen Sexualität werden sämtliche Partialtriebe zusammengefasst und dem Primat des Genitalen untergeordnet. Das verschafft einerseits einen Zugewinn an Lust, ein intensives Lusterleben wie im Orgas-
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mus fehlt der kindlichen Sexualität, andererseits wird das Sexuelle aber auch verstärkt den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen unterworfen, der Geschlechterhierarchie ebenso wie dem Gebot der Heterosexualität. Nichtsdestoweniger legt Freud überzeugend dar, dass Angst und Schuldgefühle im Zusammenhang der Sexualität im Wesentlichen nicht auf gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen zurückzuführen sind, sondern vielmehr aufs innigste mit der Entwicklung der Sexualität verknüpft sind. Damit sind auch Befreiungsversprechen oder -hoffnungen hinfällig, die Funktion selbst – wie Freud dies in einer späteren Schrift formuliert – versage die volle Befriedigung. Schließlich wandte sich Freud in den »Drei Abhandlungen« gegen den damals herrschenden – und heute verschiedentlich wiederauflebenden – Diskurs, der in Homosexuellen eine spezifische Persönlichkeit sah und ihnen damit eine »Sondernatur« verschaffte (Dannecker, 2005): »Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit gegen Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von anderen Menschen abzutrennen. Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen Sexualerregungen studiert, erfährt sie, dass alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewussten vollzogen haben« (Freud, 1905, S. 56). Aufgrund der Liebe eines Kindes zu beiden Elternteilen, die sich in der Objektwahl des Erwachsenen fortsetze, sei die Heterosexualität ebenso erklärungsbedürftig wie die Homosexualität. Der Fähigkeit zu einer doppelten Objektwahl – einer gleich- und einer gegengeschlechtlichen – liegt die so genannte »konstitutionelle« Bisexualität des Menschen zugrunde. Die Bisexualität zeigt sich in zwei Aspekten: Zum einen weise der Geschlechtscharakter jedes Menschen eine Mischung aus männlichen und weiblichen Zügen auf, zum anderen richtet sich das sexuelle Begehren sowohl auf Männer als auch auf Frauen, wenngleich das gleichgeschlechtliche Begehren zumeist unbewusst ist. Freud spricht im Übrigen auch nicht von Homosexualität, sondern von Inversion. Dies macht deutlich, dass sich Homosexualität nicht auf die manifest Homosexuellen reduzieren lässt; Homosexualität wird als Phänomen in den Blick genommen (Unterscheidung von absolut invertiert, amphigen invertiert, okkasionell
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invertiert) und nicht als Eigenschaft von Menschen. Freud hebt Männlichkeit der Invertierten und deren bisexuelle Objektwahl hervor, ihr Sexualobjekt sei nicht das gleiche Geschlecht, sondern vielmehr ein Kompromiss zwischen dem Wunsch nach einem Manne und dem nach einer Frau. Er verdeutlicht diese Sichtweise mit einem Blick auf die griechische Antike: »Bei den Griechen, wo die männlichsten Männer unter den Invertierten erscheinen, ist es klar, dass nicht der männliche Charakter des Knaben, sondern seine körperliche Annäherung an das Weib sowie sine weiblichen seelischen Eigenschaften […] die Liebe des Mannes entzünden.« Im Phänomen der Inversion spiegele sich »sozusagen die eigene bisexuelle Natur« (Freud, 1905, S. 56). Wenngleich viele von Freuds Gedanken keineswegs so originell waren, wie uns das heute manchmal scheinen mag, sondern in damaligen Diskursen vielfach anzutreffen waren, rührten die damals prominenten Sexualforscher wie Richard von Krafft-Ebing, Albert Moll oder Havelock Ellis mit ihren Thesen doch offenbar nicht in gleicher Weise am Schlaf der Welt. Volkmar Sigusch (2005) zufolge liegt Freuds nachhaltiger Erfolg begründet in seiner Fähigkeit, gegensätzliche Hypothesen zusammen zu denken, verbunden mit einem Schuss Metaphysik, begrifflicher Unschärfe sowie dem geschickten Schwimmen auf dem Strom des herrschenden Wissenschaftsobjektivs und sicher nicht zuletzt in der fortwährenden unterstützenden Rezeption seiner Anhänger und Anhängerinnen. Ich möchte meine Auseinandersetzung mit den »Drei Abhandlungen« um drei Begriffe zentrieren: Trieb, Begehren und Verführung. Unter dem Aspekt des Triebs wird die Kontroverse um dieses umstrittene Konzept nachgezeichnet, Argumente für dessen schwindende Bedeutung zusammengetragen und Gründe für die Beibehaltung dieser Theorie – wenngleich in modifizierter Form – herausgearbeitet. Der Begriff des Begehrens steht für diese Neuformulierung des psychoanalytischen Sexualitätskonzepts, da die Bezeichnung »Trieb« nach jahrzehntelangen Missverständnissen nicht mehr zu retten zu sein scheint. Nichtsdestoweniger finden die zentralen Bestimmungsstücke des Triebbegriffs Aufnahme in das modifizierte Konzept. Unter dem Aspekt der Verführung wird schließlich die Frage der Konstitution des Sexuellen diskutiert. Was Lust macht und auf welche Weise sie befriedigt werden kann,
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erscheint im Wesentlichen kulturell beziehungsweise durch die subjektive Lebensgeschichte der Einzelnen bedingt. Menschliche Sexualität wird somit weit stärker von (unbewussten) Phantasien und (unbewussten) Erinnerungen geformt als von genetisch angelegten, endogenen biologischen Faktoren. Den Ausgangspunkt des komplexen sozialen Bedingungsgefüges des Sexuellen bildet die Verführungssituation. Kennzeichnend für diese Situation ist der Primat des Anderen; das Begehren des Subjekts entsteht durch das Begehrtwerden, als Antwort auf das Begehren des Anderen.
■ Trieb: Ein umstrittenes Konzept Während Freud die Triebtheorie noch für das unverzichtbare Fundament der Psychoanalyse hielt, hat sich inzwischen wohl die Mehrheit der Analytikerinnen und Analytiker von dieser Theorie verabschiedet: Sie sei veraltet, nicht mehr zeitgemäß, nicht anschlussfähig an gegenwärtige Diskurse in den Human- und Sozialwissenschaften. Für diese Entwicklung lassen sich drei Gründe anführen: So ist erstens die sprachliche Bezeichnung »Trieb« inzwischen problematisch geworden, da dessen einstmals komplexe philosophische Bedeutungsgeschichte mittlerweile einer reduktionistische Auffassung gewichen ist. Zweitens stellte Freud in seinen späteren Ausarbeitungen dem Sexualtrieb eine Reihe von anderen Trieben zur Seite wie etwa Ich- und Selbsterhaltungstriebe und ersetzte diese schließlich durch das Gegensatzpaar von Lebens- und Todestrieb. Und drittens findet sich in der psychoanalytischen Theoriegeschichte mit Ausnahme des Ansatzes von Jean Laplanche kaum eine Weiterentwicklung der Triebtheorie unter dem Primat des Sexuellen. Zuerst zum Begriff des Triebs: Nicht selten wird der Trieb inzwischen als eine aus menschlichen Vorzeiten übrig gebliebene, dumpfe Regung verstanden, die von Zeit zu Zeit aus den Tiefen der Seele hervorbricht und ansonsten unter Kontrolle gehalten werden muss. Die Komplexität des ehemals philosophischen Begriffs, seine feinen Nuancierungen bei Kant, Fichte, Hegel bis hin zu Schopenhauer und Nietzsche wurden durch die alltagssprach-
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liche Verwendung weitestgehend eingeebnet, wovon nicht zuletzt Bezeichnungen wie etwa »Triebtäter« zeugen. Zur Klärung der Frage, ob der Begriff des Triebs eine angemessene und sinnvolle Konzeptualisierung für die psychoanalytische Theorie ermöglicht, soll kurz seine Bedeutungsgeschichte beleuchtet werden. Seit dem 18. Jahrhundert bezeichnet der Begriff des Triebs als psychologischer Fachbegriff das weite Feld der Bestimmungs- und Beweggründe menschlichen Handelns und Verhaltens (vgl. Ritter u. Gründer, 1998, S. 1483 ff.). Kontrovers sind die Ansichten darüber, inwieweit Triebe in der gesamten Natur zu finden seien – wie dies etwa Herder oder Schelling mit dem »Trieb zur unendlichen Entwicklung« im Sinne einer permanenten Höherentwicklung der Naturgeschichte annehmen – oder ob die Triebe etwas spezifisch Menschliches bezeichnen – wie etwa bei Fichte, dessen System der Triebe die Besonderheit des Menschen begründet und ihn von der gesamten Natur unterscheidet. Strittig ist ferner das Verhältnis von Trieb und Vernunft. Während Kant noch annimmt, dass Triebe der Vernunft und damit der menschlichen Selbstbestimmung diametral entgegenstehen, sieht Fichte im Trieb vielmehr den Ausdruck absoluter Selbstbestimmung, »er allein ist es, der uns zu selbständigen, beobachtenden und handelnden Wesen macht« (Ritter u. Gründer, 1998, S. 1484). Bei Hegel ändert sich die Bedeutung des Triebbegriffs im Verlauf seiner Denkentwicklung; während er Triebe zunächst als etwas Naturhaftes, »Tierisches« versteht, gegen das sich die Vernunft zur Wehr setzen könne, identifiziert er schließlich Trieb und Vernunft, indem der Trieb als logische Bestimmung, als »Trieb zur Totalität« selbst Vernunft geworden sei (Kozu, 1988). Gegen diese Identifizierung von Trieb und Vernunft setzt Schopenhauer den Trieb als Gegenbegriff zur Vernunft, als Ausdruck eines unstillbaren, rastlosen, mit sich selbst entzweiten Willens, der allen menschlichen Betätigungen zugrunde liege. Diese Linie führt Nietzsche fort, indem er als Grundform dieses Willens den Willen zur Macht postuliert und das Triebleben als dessen Ausgestaltung versteht (Nietzsche, 1886). Was bedeutet dies nun für die Psychoanalyse? Freud verwendet die Bezeichnung »Trieb« erstmalig in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«. Festhalten lässt sich damit, dass sich der freudsche
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Begriff des Triebes an der Beschreibung der Sexualität entwickelt. Freud führt diesen Begriff nicht eigens ein – da ist er ganz Kind seiner Zeit, der Begriff des Triebs ist damals geläufig –, sondern knüpft in rhetorischer Absicht gleich in den ersten Zeilen seiner Schrift an die biologische Annahme eines »Geschlechtstriebs« an, die dem Alltagsverständnis vertraut sei, und fährt gleichwohl fort, die »Ungenauigkeiten« und »Irrtümer« dieser Annahme schrittweise zu widerlegen (Freud, 1905). Durch welche Elemente ist dieser erste Triebbegriff in Freuds Werk gekennzeichnet? Der Trieb besitzt eine energetische Dimension, die bereits in Freuds früherer Unterscheidung von äußeren und inneren Reizen anklingt (Freud, 1895). Während sich das Subjekt vor äußeren Reizen schützen oder vor ihnen fliehen kann, existieren innere Quellen, die eine konstante Reizanflutung bewirken, denen der Organismus nicht ausweichen kann und die die Triebfeder für das Funktionieren des psychischen Apparates sind. Freud unterscheidet zwischen Quelle, Objekt, und Ziel des Triebs, eine Unterscheidung, die er sein ganzes Leben lang beibehält. Durch das Objekt versucht der Trieb, sein Ziel zu erreichen, nämlich eine bestimmte Art der Befriedigung. Das Objekt kann eine Person oder ein Teil einer Person sein, es kann real oder phantasiert sein. In den »Drei Abhandlungen« formuliert er: »Führen wir zwei Termini ein: heißen wir die Person, von der die geschlechtliche Anziehung ausgeht, das Sexualobjekt, die Handlung, nach welcher der Trieb drängt, das Sexualziel« (Freud, 1905). Im Unterschied zum Instinkt, welcher ein hereditär fixiertes, durch Vererbung weitergegebenes Verhalten beschreibt, das im biologischen Sinne für die Erhaltung der Art notwendig ist, besitzt der Trieb weder ein festgelegtes Objekt noch ein vorgegebenes Ziel. Das Objekt ist das Variabelste am Trieb, die Sexualziele – die Befriedigungsformen – sind vergleichsweise weniger variabel, sie sind aber nicht angeboren, sondern werden in der Lebensgeschichte des Einzelnen erworben, ich komme noch später genauer dazu: Die Sexualziele bilden sich durch die jeweiligen subjektiven Erfahrungen von Lust und Befriedigung, bilden eine Art Muster, das beibehalten wird. Auch die Quellen des Triebs können sehr unterschiedlicher Art sein, zumindest nach Freuds erster Konzeption, in der direkte
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und indirekte Quellen unterschieden werden, direkte Reizung der erogenen Zonen durch verschiedene Stimuli ebenso wie allgemein »›Muskeltätigkeit‹, ›Affektvorgänge‹, ›intellektuelle Arbeit‹« (Laplanche u. Pontalis, 1972). Erst in der weiteren Ausarbeitung der Triebtheorie sucht Freud dem Trieb eine ausschließlich somatische Grundlage zu geben, indem er dessen Quelle in Körperorganen ansiedelt (Freud, 1915). Doch wird damit die Frage, ob es sich beim Trieb um eine somatische Kraft oder um seelische Energie handelt, nicht entschieden. Wohl mit Bedacht lässt Freud die Doppeldeutigkeit des Triebs als Grenze zwischen dem Somatischen und dem Psychischen in all seinen Ausführungen bestehen. Nichtsdestoweniger kommt es im Verlauf seines Werkes zu vielfachen, teils unverständlichen und teils theoriearchitektonisch äußerst problematischen Veränderungen des Triebkonzepts, denen ich hier nicht im Einzelnen nachgehen kann. Freud begann in den »Drei Abhandlungen« mit der Konzeption eines einzigen Triebs – des Sexualtriebs. Dem stellte er 1910 in der Schrift »Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung« zunächst die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe gegenüber und in »Jenseits des Lustprinzips« (1920) schließlich den Todestrieb. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Freud in seiner Theoriebildung immer mythologischer wird. Fast folgerichtig – möchte man sagen – kommt er in seinem Spätwerk schließlich zu der berühmten Einschätzung: »Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit« (Freud, 1932). So sehr man Freud auch in seiner Wertschätzung des Unbestimmten und Unbestimmbaren zustimmen mag, so erscheint es nicht unproblematisch, eine Mythologie zum Fundament einer Wissenschaft zu machen. Dies bedeutet nun nicht, die Triebtheorie sogleich als unbrauchbar zu verwerfen, sondern erforderlich ist erneutes Nachdenken, um das in dieser Theorie noch unausgeschöpfte Potenzial auszuloten und weiterzuführen. Für diese Weiterführung erscheint eine neue Bezeichnung unumgänglich. Nach über hundert Jahren psychoanalytischer Begriffsgeschichte scheint mir die Bezeichnung »Trieb« mittlerweile unrettbar – die Verwirrung und die Missverständnisse über
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diesen Begriff sind nicht mehr auszuräumen und führen meines Erachtens zur vorschnellen Verwerfung des eigentlich sinnvollen Konzepts. Sichtbar ist das vor allem im angelsächsischen Raum, wo Übersetzungsprobleme das Verständnis noch zusätzlich erschweren. Freuds treffende Formulierung der »Triebschicksale«, welche die Transformationsprozesse des vom Ich zurückgewiesenen Triebs bezeichnen wie Verdrängung, Verleugnung oder Sublimierung, wurde etwa in einem englischen Aufsatz übersetzt mit »vicissitudes of instinct«; bei einer Rückübersetzung ins Deutsche wurden daraus schließlich die »Wechselfälle des Instinkts« (vgl. Reiche, 1997). Der Bedeutungsverlust des Triebkonzepts bei amerikanischen und englischen Analytikern und Analytikerinnen scheint somit nicht verwunderlich. Um das nach wie vor sinnvolle Konzept zu erhalten, wäre meiner Meinung nach der Begriff des Triebes zu ersetzen durch weniger vorbelastete Bezeichnungen. Selbstverständlich ist solch eine Begriffsänderung nicht ohne Bedeutungsverschiebung möglich, zu diskutieren wäre jedoch, ob das Anliegen, das Freud mit der Konzeption seines ersten Triebbegriffs in den »Drei Abhandlungen« anvisierte, mit einem weniger belasteten Begriff nicht besser transportiert werden kann. Zur Auswahl stehen zwei Begriffe: der Begriff des Wunsches und des Begehrens.
■ Wunsch und Begehren: Die Neuformulierung des psychoanalytischen Sexualitätskonzepts Den Wunschbegriff entwickelte Freud in der »Traumdeutung« im Zusammenhang der halluzinatorischen Wunscherfüllung. Das Wunschkonzept kann als Vorgänger des Triebkonzepts gesehen werden. Der Wunsch gilt dort – dem Trieb vergleichbar – als »Motor jeglicher psychischer Aktivität« (Freud, 1900, S. 572). Der Wunsch strebt danach, sich zu erfüllen, indem er nach den Gesetzen des Primärvorgangs die an die ersten Befriedigungserlebnisse geknüpften Zeichen wiederherstellen will. Diese halluzinatorische Wunscherfüllung gilt als zentrale Funktion der Traumarbeit. Sie findet ihren Ursprung im primä-
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ren Befriedigungserlebnis des Säuglings, dem damit wesentliche Bedeutung für die Bildung der psychischen Struktur und die Sozialisation zukommt: Die Erfahrung von Befriedigung tritt beim Säugling – exemplarisch etwa in der Still- oder Fütterungssituation – durch das Handeln einer oder eines Anderen ein. In Freuds Terminologie formuliert: die Befriedigung, die Aufhebung einer Unlustspannung, braucht ein Objekt, das den inneren Reiz aufhebt. »Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses ist das Erscheinen einer bestimmten Wahrnehmung (der Nahrung im Beispiel), deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Befriedigung assoziiert bleibt. Sobald das Bedürfnis ein nächstes Mal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, die das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen; das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung« (Freud, 1900, S. 571). Trotz der offenkundigen Analogien der beiden Konzepte Wunsch und Trieb scheint mir der Wunschbegriff jedoch auch keine wirklich angemessene Bezeichnung, da er zu sehr mit anderen Konnotationen verbunden ist. So scheint er etwa im Wesentlichen auf psychische Prozesse bezogen und die somatische Dimension außer Acht zu lassen. Im Französischen wird der psychoanalytische Wunschbegriff mit »desir« übersetzt, das wiederum bei der Rückübersetzung ins Deutsch mit »Begehren« gefasst wird. Das erscheint mir als passende Alternative und am ehesten geeignet, das ursprüngliche Triebkonzept aufzunehmen und weiterzuführen. Interessanterweise fand der Begriff des Begehrens keine Verwendung im freudschen Werk. Das Begehren hat seinen Sitz im Körperlichen und stellt zugleich eine psychische Repräsentanz dar. Auf diese Weise lässt es sich als Grenzbegriff zwischen dem Somatischem und dem Psychischem konzipieren. Die problematische Dimension des Hereditären, des biologisch Angelegtem, die dem Triebbegriff anhaftet, ließe sich mit dem Begriff des Begehrens vermeiden. Eröffnet wird somit die Möglichkeit, die Entstehung des Begehrens in einem sozialen, inter-subjektiven Raum zu verorten.
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Ein weiterer Grund für die schwindende Bedeutung der Triebtheorie scheint mir in Freuds späteren dualistischen Konzeptionen des Triebbegriffs zu liegen. Während er in den »Drei Abhandlungen« nur einen einzigen Trieb – den Sexualtrieb – annahm, diversifizierte er die Triebe in seinen weiteren Ausführungen: In »Triebe und Triebschicksale« entwickelte er den Dualismus von sexuellen und Ich- oder Selbsterhaltungstrieben (Freud, 1915) und in seiner letzten Ausarbeitung der Triebtheorie in »Jenseits des Lustprinzips« schließlich den Gegensatz von Libido und Thanatos, von Lebens- und Todestrieb (Freud, 1920). Insbesondere diese letzte, wohl spekulativste und umstrittenste Konzeption, mit der Freud sowohl Anleihen in der Mythologie macht als auch die biologische Grundlegung des Triebs festigt, besiegelt meines Erachtens das Schicksal der freudschen Triebtheorie. Mit der Diversifizierung nahm er dem Sexualtrieb seine prominente, herausgehobene Stellung und konzipierte ihn als einen Trieb unter anderen. Auf diese Weise leitete Freud selbst die Herabsetzung der Bedeutung des Sexuellen ein. Seine Nachfolger fügten der Reihe von Trieben jeweils beliebige hinzu – wie beispielsweise Adler (1981) den Selbstbehauptungstrieb, Bowlby den Bindungstrieb (1951), und Balint (1935) ersetzte die Libido durch die primäre Liebe. Dieses Vorgehen setzt sich fort über die Konzeptionen der Selbstpsychologen bis hin zu neueren Theorien etwa in der Säuglingsforschung, in denen das Triebkonzept in unspezifischen Motivationssystemen aufgeht (etwa Lichtenberg, 1989). Während der Mainstream der psychoanalytischen Theoriebildung dieser Diversifizierung der Triebe folgt, gibt es kaum Theorien, die an den Primat des Sexuellen anknüpfen, wie wir ihn in der ursprünglichen Fassung der »Drei Abhandlungen« finden. Eine Ausnahme bildet die Theorie von Jean Laplanche, der am frühen Denken Freuds ansetzt und es weiterentwickelt. So konzipiert Laplanche etwa auch den Todestrieb als sexuellen Trieb und gewinnt so einen Monismus in der Triebtheorie zurück, der die zentrale Bedeutung des Sexuellen hervorhebt. Im psychoanalytischen Diskurs hat die Sexualität inzwischen zweifellos ihren zentralen Stellenwert verloren. Konzepte wie Bindung, Trauma, Intersubjektivität haben der Sexualität längst den Rang abgelaufen. Andre Green (1998) sah darin schon vor
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zehn Jahren eine problematische Entwicklung, im abnehmenden Interesse am theoretischen und praktischen Thema der Sexualität in den einschlägigen psychoanalytischen Zeitschriften ebenso wie in der randständigen Bedeutung von Sexualität in klinischen Darstellungen und der Diskussion von Fallbeispielen. Der Sexualität komme keine theoretische Funktion von heuristischem Wert mehr zu, sie sei zu einem Sonderthema geworden, das auf seine manifesten Aspekte beschränkt würde. Diese Entwicklung scheint mir verhängnisvoll nicht nur im Hinblick auf die psychoanalytische Praxis, sondern – wesentlicher noch – im Blick auf die Theoriebildung. Denn im Konzept der Sexualität bündeln sich somatische, psychische und soziale Faktoren, es erscheint damit als zentraler Schlüsselbegriff der Psychoanalyse. Doch warum nun gerade die Sexualität? Gibt es nicht inzwischen Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse, die angemessener oder zeitgemäßer sind? Intersubjektivität oder Bindung zum Beispiel? Ich werde nun zwei Gründe ausführen, weshalb sich meines Erachtens gerade die Sexualität – im Unterschied zu anderen Konzepten – als Schlüsselbegriff der Psychoanalyse eignet. 1. Erstens markiert dieser Punkt – die Sexualität als Schlüsselbegriff – einen wichtigen Unterschied zwischen der Psychoanalyse und anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Psychologie oder der Soziologie. Für letztere mögen sich Intersubjektivität oder Bindung eignen, für die Psychoanalyse hingegen nicht, weil deren zentrales Konzept – als Alleinstellungsmerkmal gleichsam – das Unbewusste ist. Und mit Laplanche sehe ich das Unbewusste in erster Linie als sexuelles Unbewusstes (eine Art »weißer Schimmel«). Als Wissenschaft vom Unbewussten benötigt die Psychoanalyse ein Konzept von Sexualität, das die widersprüchliche, konflikthafte und nichtidentische Dimension thematisierbar macht, die das menschliche Seelenleben aufweist. Das sexuelle Begehren steht somit paradigmatisch für das Unbewusste, das Andere, das dem Ich Fremden. Dass der Mensch nicht Herr/Herrin ist im eigenen Haus ist, zeigt sich gerade am sexuellen Erleben und Verhalten. Die freudsche Triebtheorie begründet somit die Formulierung eines dynamischen Unbewussten im Unterschied
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zu einem lediglich deskriptiven Unbewussten und damit die Dezentrierung des Subjekts – der Mensch ist nicht Subjekt seines Begehrens, sondern diesem weitgehend unterworfen. Mit seiner Triebtheorie hat Freud auf einen grundlegenden Sachverhalt aufmerksam gemacht: Das Begehren ist von Grund auf konflikthaft angelegt und dem bewussten Zugriff weitgehend entzogen. Die Konfliktlinien verlaufen zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, aber auch innerhalb des Unbewussten und zwischen einzelnen Subjekten. Der Konflikt ist somit unvermeidlich in die psychische Struktur eingeschrieben und stellt keine Störung oder Abweichung dar, wie in anderen psychologischen oder psychotherapeutischen Theorien. Im Laufe der psychosexuellen Entwicklung erwirbt das Kind verschiedene Modalitäten der Befriedigung(ssuche), die jeweils polar, als Gegensatzpaar von Aktivität und Passivität organisiert sind. Bekanntlich sind diese Wünsche an grundlegende Körperprozesse und -erfahrungen gebunden und werden verschiedenen Körperzonen zugeordnet: die Befriedigungsmodalitäten der Oralität (einverleiben, verschlingen beziehungsweise verschlungen werden), der Analität (festhalten bzw. loslassen), der Phallizität/Genitalität (eindringen bzw. aufnehmen). Aus dieser Polarität der Befriedigungsmodalitäten entstehen seelische Konflikte: Unvereinbar sind sowohl deren gleichzeitige aktive wie passive Ausrichtung (Beispiel Oralität: verschlingen – verschlungen werden) als auch die häufig entgegengesetzte Richtung der Wünsche (Beispiel: gleichzeitig Wunsch nach Verschmelzung und nach Abgrenzung, Individuation). 2. Die Sexualität ist auch ein Konzept, das die drei Dimensionen verbindet, welche die Psychoanalyse beschäftigen: das Somatische, das Psychische, das Soziale. Lorenzer (1972) beschrieb den wissenschaftstheoretischen Standort der Psychoanalyse mit einem anschaulichen Bild: Sie oszilliert in einem Dreieck mit den Eckpunkten Biologie, Psychologie, Soziologie, ohne mit dem einen oder dem anderen Bereich zusammenzufallen. Entsprechend zeichnet sich psychoanalytische Theoriebildung dadurch den Versuch aus, die Dimensionen des Körperlichen, des Seelischen, des Beziehungsgeschehens und der umgebenden Kultur in einem spannungsvollen Verhältnis zusammenzuhalten.
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Neuerdings ist vielfach die Rede von einem bio-psycho-sozialen Modell, sowohl in der Psychoanalyse (Ermann, 2006) als auch in der akademischen Psychologie. Allerdings scheinen in diesem Modell die einzelnen Ebenen in einem additiven Verhältnis zueinander gedacht und schlicht nebeneinander gestellt zu werden. Implizit bedeutet das jedoch meist, dass dem Alltagsverständnis entsprechend das Biologische das Primäre, das Grundlegende darstellt, zu dem die psychischen Dimensionen hinzutreten, was wiederum Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen hat. Die Komplexität der Wechselwirkungen wird zwar rhetorisch unterstellt, aber nicht im Einzelnen konzeptualisiert. Solch ein letztlich additives Modell scheint mir psychoanalytischem Denken nicht angemessen. In meinem Versuch, das Verhältnis und die Wechselwirkungen zwischen dem Somatischen, dem Psychischen und dem Sozialen zu beschreiben (Quindeau, 2004), nehme ich eine wesentliche Veränderung der Alltagsvorstellung vor, die nicht selten zu Missverständnissen führt. Denn ich kehre die skizzierte, vertraute Vorstellung vom Primat des Biologischen, des Somatischen, die in weiten Teilen auch der freudschen Theorie zugrunde liegt, gewissermaßen um. Während das Somatische alltagsweltlich meist als etwas Natürliches, den Menschen bei Geburt Gegebenes – etwa im Sinne einer biologischen Ausstattung – verstanden wird, das keinerlei historischen Veränderung unterliegt, erweist es sich in de-konstruktivistischer Perspektive als kulturell und gesellschaftlich geformt Vereinfacht gesagt, gehe ich nicht davon aus, dass der Mensch zuerst ein Körper ist, zu dem das Psychische und das Soziale hinzukommt. Vielmehr nehme ich an, dass das Soziale, Gesellschaftliche dem Einzelnen vorgängig ist – ein Kind kommt nicht einfach auf die Welt, sondern wird immer in eine Gesellschaft hineingeboren, zu einer bestimmten Zeit, zu einem bestimmten Ort. Das Psychische und das Somatische bilden sich in Wechselwirkung mit einer sozialen Matrix. Ein anschauliches Beispiel bietet etwa die Diskussion über problematisches Verhalten von Müttern in der Schwangerschaft; dort zeigt sich der unmittelbare kulturelle Einfluss der Mutter auf die Bildung des kindlichen Körpers. Als extremes negatives Beispiel lässt sich etwa der Zusammenhang von starkem
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Alkoholkonsum der Schwangeren und Missbildungen des Embryos anführen. Daran wird deutlich, dass nicht der Körper zuerst da ist und dann die sozialen Beziehungen hinzutreten, sondern dass sich auch der Körper in sozialen Beziehungen bildet. Vergleichbares gilt auch für psychische Prozesse: Nicht nur Alkohol beeinträchtigt das Ungeborene, sondern auch etwaige traumatische Prozesse der Mutter. Positiv gewendet lässt sich auch sagen, dass Ausgeglichenheit der Schwangeren einen günstigen Einfluss auf die Entwicklung von Säuglingen nimmt. Die akademische Entwicklungspsychologie bietet unzählige solcher Untersuchungen, die inzwischen auch in der vielfältigen Ratgeberliteratur popularisiert sind. Diese Akzentverschiebung, dass auch der Körper als etwas begriffen wird, das nicht hinreichend durch genetische Ausstattung und biologische Reifungsprozesse erklärbar ist, sondern in sozialen Interaktionen hervorgebracht und geformt wird, findet sich in den gegenwärtigen Sozial- und Kulturwissenschaften im Bereich poststrukturalistischer Theorien; ausgehend von Michel Foucault über Judith Butler bis hin zur neuesten Strömung der »queer theory« (einen Überblick bietet Kraß, 2003). In der Psychoanalyse finden sich Ansätze zu solchem Denken beispielsweise in der Allgemeinen Verführungstheorie von Jean Laplanche. Diese Perspektive scheint mir insbesondere zum Verständnis menschlicher Sexualität fruchtbar, die gerade nicht in ihren biologischen Funktionen aufgeht, sondern nicht zuletzt aufgrund technischer Entwicklungen zunehmend unabhängig wird von ihren biologischen, reproduktiven Funktionen und insbesondere als Psychosexualität das psychoanalytische Interesse findet. Es sind somit weniger biologische Vorgänge, die das sexuelle Erleben des Menschen ausmachen, als vielmehr psychische Prozesse wie etwa Phantasien und das heißt im Wesentlichen unbewusste Phantasien. Ein wesentliches Unterscheidungskriterium menschlicher Sexualität von der Sexualität anderer Lebewesen liegt darin, dass sexuelle Erregung keine unmittelbare Perzeption benötigt, keine Wahrnehmung äußerer Reize (gleich welcher Modalität, ob visuell, auditiv oder taktil), sondern allein durch Phantasien und Erinnerungen entstehen kann. Das ist das spezifisch Menschliche
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an der Sexualität und das soll mithilfe psychoanalytischer Konzepte erklärt werden.
■ Verführung: Die Konstitution des Sexuellen Rekonstruieren wir zunächst die Entstehung der erogenen Zonen: Mit diesem Begriff bezeichnet Freud bekanntlich »eine Haut- oder Schleimhautstelle, an der Reizungen von gewisser Art eine Lustempfindung von bestimmter Qualität hervorrufen« (Freud, 1905a, S. 84). Entscheidend ist nun, dass diese Lustempfindung nicht primär an der Körperstelle haftet, das heißt nicht vom Körper ausgeht und in irgendeiner Weise ausgelöst wird, sondern durch das Einwirken einer anderen Person erst entsteht. Als Beispiel dient die Stillsituation: Durch das Saugen an der Brust der Mutter werden die Lippen und der Mund des Kindes zu einer erogenen Zone. Die Erfahrung von Befriedigung bildet den kindlichen sexuellen Körper, sie stattet ihn mit einer spezifischen Reizbarkeit oder Erregbarkeit aus. »Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet« (Freud, 1905a, S. 82). Diese »Anlehnung« stellt ein wesentliches Merkmal der infantilen Sexualität dar und prädestiniert bestimmte Körperstellen als erogene Zonen. Gleichwohl löst sich die sexuelle Aktivität von diesen Stellen und so kann »ganz wie beim Ludeln jede beliebige andere Körperstelle mit der Erregbarkeit der Genitalien ausgestattet und zur erogenen Zone erhoben werden« (Freud, 1905a, S. 84). Die erogenen Zonen bilden sich somit durch die sexuelle Aktivität, durch die Erfahrung von Lust und Befriedigung, die ihren Ausgang bei den Pflegehandlungen der Erwachsenen nimmt. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für das Stillen, sondern für alle körperlichen Berührungen, die sich zwischen einem Erwachsenen und einem Kind abspielen, beim Wickeln und Baden ebenso wie beim Spielen oder Schmusen. In der ersten Zeit des Lebens eines Kindes sind die Interaktionen im Wesentlichen körperbezogen. Aus diesen Erfahrungen entwickelt sich eine Art Körpergedächtnis, das sich an bestimmten Körperstellen nieder-
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schlägt, die dann in besonderer Weise lustempfindlich sind. Mit diesen Überlegungen modifiziere ich ein Konzept von Lorenzer (1972), die Theorie der Interaktionsformen, die er allerdings auf die Sprachentwicklung hin fokussiert, wobei das Begehren nicht berücksichtigt wird. Was diese Sichtweise meines Erachtens wesentlich stützt, ist die Beobachtung, dass es zwar bestimmte Körperzonen gibt, die bei allen Menschen erogen sind, dass es darüber hinaus aber auch höchst individuelle erogene Zonen gibt, das heißt Körperstellen, die bei manchen Menschen Lustempfindungen hervorrufen und bei anderen nicht. Genau dieses idiosynkratische Moment kann nun meines Erachtens nicht hinreichend mit biologischer Ausstattung erklärt werden – etwa dass sich bei manchen Menschen an bestimmten Körperstellen die empfindsamen Nervenendigungen häufen, sondern dies lässt sich weit plausibler mit unterschiedlichen Erfahrungen erklären, jeder Säugling macht eben spezifische Erfahrungen im körperlichen Umgang mit seinen Eltern und bildet daher jeweils besondere erogene Zonen aus. Die erogenen Zonen sind demnach Spuren der Erinnerung an frühere Befriedigungen, die in den Körper eingeschrieben sind (ausführlich Quindeau, 2004). Sexuelle Erregbarkeit gründet nach dieser Sichtweise nicht in besonderen physiologischen Bedingungen von einzelnen Körperzonen, sondern in unbewussten Erinnerungen, die bei der Stimulierung der erogenen Zonen aktiviert werden können, aber dieser perzeptiven Stimulierung nicht notwendig bedürfen. In der prinzipiellen Unabhängigkeit der sexuellen Erregung von sinnlicher Wahrnehmung, in dem Umstand, dass sie ebenso von Phantasien und Erinnerungen ausgelöst werden kann, liegt meines Erachtens das zentrale Kriterium menschlicher Sexualität. An dieser Stelle scheinen mir Freuds Ausführungen zum primären Befriedigungserlebnis des Säuglings in der »Traumdeutung« (1900) noch einmal weiterführend. Wie dargestellt leitet Freud aus diesem Erlebnis sein Konzept der halluzinatorischen Wunscherfüllung ab: Der Wunsch geht auf eine Erinnerung zurück; besetzt wird das Erinnerungsbild an eine Befriedigungssituation, durch diese Besetzung wird erneute Befriedigung gesucht beziehungsweise angestrebt. Insofern gilt der Wunsch – das Begehren – als
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Motor jeglicher psychischer Aktivität. In der »Traumdeutung« fokussiert Freud mit der halluzinatorischen Wunscherfüllung ausschließlich mentale, kognitive Prozesse, die körperliche Dimension wird ausgeblendet oder höchstens auf der Ebene neuronaler Verknüpfungen thematisiert. Nachzutragen wäre daher eine Verbindung der beiden Schriften – der »Traumdeutung« und der »Drei Abhandlungen« – an diesem Punkt, indem aus dem primären Befriedigungserlebnis des Säuglings nicht nur das Konzept der Wunscherfüllung abgeleitet wird, sondern auch die Entstehung der sexuellen Erregbarkeit, der erogenen Zonen. Betont wird mit dieser Sichtweise der Primat des Anderen, die zentrale Bedeutung von sozialen Beziehungen im psychoanalytischen Theoriegebäude: Die psychische Struktur gründet in Sozialität – allerdings nicht im Sinne der modischen Rede von Intersubjektivität, sondern in Form eines Primats des Anderen, der die Entwicklung der psychischen Struktur, die Subjektwerdung, erst ermöglicht. Bezogen auf die Triebentwicklung bedeutet dies, dass sich die Triebe nicht im Sinne einer biologischen Anlage im Verlaufe einer individuellen Lebensgeschichte entfalten, sondern in der Interaktion mit dem Anderen, dem erwachsenen Anderen erst entstehen. Pointiert könnte man formulieren, dass das Begehrtwerden dem Begehren vorausgeht. Die berühmte cartesianische Formel des modernen Subjekts: »cogito, ergo sum« könnte in diesem Sinne reformuliert werden in »desiderata/desideratus, ergo sum«. Weil ich begehrt werde, bin ich. Das stellt natürlich schon eine deutliche Herausforderung für unser modernes Selbstverständnis dar, aber es macht deutlich, dass der Mensch nicht Subjekt seines Begehrens ist. Freud erfand dafür die berühmte Formulierung, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause sei. Zumeist wird das auf die Vernunft oder den Willen bezogen und so verstanden, dass es neben den bewussten noch andere Antriebe des Handelns gibt, die den Akteuren nicht zugänglich sind. Ich würde das gern grundlegender fassen, dass der Mensch nicht Schöpfer seines eigenen Begehrens ist, sondern mit seinem Begehren auf das ursprüngliche, auf das primäre Begehrtwerden antwortet. Formuliert man die Entstehung des Begehrens unter dem Primat des Anderen, trifft man damit nicht nur eine Aussage hinsichtlich der frühkindlichen Situation. Vielmehr antwortet jegliches
Trieb, Begehren und Verführung
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Begehren – auch im Erwachsenenalter – auf diese frühkindlich internalisierten Szenen des Begehrtwerdens durch Mutter, Vater oder sonstige Bezugsperson. Die Rolle der Verführung bei der Entstehung der infantilen Sexualität hat auch Freud an verschiedenen Stellen seines Werkes immer wieder betont. Dennoch hat er meiner Ansicht nach die Bedeutung der Verführung nicht genügend gewürdigt. Möglicherweise stand ihm die Aufgabe der Verführungstheorie im Weg, die er Ende des 19. Jahrhunderts in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ erstmals formulierte und dann immer wieder betonte, wie sehr er sich damals geirrt habe (vgl. Freud, 1986, insbesondere Brief S. 139). Freud war damals den Erzählungen seiner Patientinnen gefolgt, die allesamt von sexuellen Übergriffen im Kindesalter berichteten. Während er diese Übergriffe zunächst für eine allgemeine Ursache hysterischer Erkrankungen hielt, wurde er mit der Zeit stutzig über die Häufigkeit dieser Übergriffe und kam zu dem Schluss, dass dieses Narrativ – die Erzählung sexueller Übergriffe – ein typisches Kennzeichen hysterischer Konfliktverarbeitung darstellt. Freud wurde dadurch auf die Bedeutung der psychischen Realität aufmerksam. Für die Entstehung der Psychoanalyse war dies zweifellos ein bedeutender Schritt, doch schüttete Freud meines Erachtens das Kind mit dem Bade aus. Ich meine damit keineswegs, dass Freud mit der Aufgabe der Verführungstheorie – wie es manchmal behauptet wird (Masson, 1984; Krüll, 1979) – auch der faktischen Realität sexueller Übergriffe oder sexueller Gewalt keinerlei Bedeutung mehr zumaß; Freud kommt auf diese Art der Traumatisierung in seinem Werk immer wieder zu sprechen. Doch geht es bei der Verführung nicht nur um Traumatisierung, sondern in einem allgemeinen Sinne um die Bedeutung des Anderen, des Erwachsenen, für die kindliche Entwicklung. Jean Laplanche (1988, 1996) hat dies in seiner allgemeinen Verführungstheorie deutlich gemacht: Das kindliche Unbewusste, das infantile Begehren entsteht in der Interaktion eines Säuglings mit einem Erwachsenen. Das Kind identifiziert sich mit dem unbewussten Begehren des Erwachsenen. Dieses Begehren ist keineswegs pädophil, pathologisch, sondern unvermeidlich. Als Beispiel lässt sich noch einmal die Stillsituation heranziehen: Die Brust der Mutter stellt nicht nur die Nahrung für das Kind zur Verfügung, sondern
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ist selbst sexuell erregbar. Wenngleich diese Erregung der Mutter in der Stillsituation in der Regel unbewusst bleibt, ist sie doch wirksam und teilt sich dem Kind mit, auch wenn das empirisch nicht zu überprüfen ist. Das Kind ist in seinen eingeschränkten kognitiven und affektiven Möglichkeiten noch nicht in der Lage, diese »rätselhafte Botschaft« – wie Laplanche es nennt – zu entziffern; sie bleibt als Fremdkörper bestehen und treibt das weitere Handeln und Denken immer wieder aufs Neue an. Von entscheidender Bedeutung ist dabei das Phänomen der Nachträglichkeit. In diesem Phänomen liegt meines Erachtens die Pointe der freudschen Sexualtheorie. Dennoch findet dieses Konzept, dem in Freuds anderen, frühen Schriften zentrale Bedeutung zukommt, in den »Drei Abhandlungen« erstaunlicherweise keinerlei Berücksichtigung. Ich möchte daher nun diesen Aspekt, die Nachträglichkeit, in die freudsche Sexualtheorie eintragen – gewissermaßen als nachträgliche Umschrift dieser Theorie. Freud entwickelte das Konzept der Nachträglichkeit bekanntlich im Zusammenhang seiner frühen Trauma- oder Verführungstheorie. Nach diesem Konzept werden Erfahrungen, Eindrücke und Erinnerungsspuren zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund neuer Erfahrungen beziehungsweise neu erreichter Entwicklungsstufen umgearbeitet. Mit dieser Umarbeitung erhalten die früheren Erfahrungen gleichzeitig neuen Sinn und neue psychische Wirksamkeit. Freud illustriert das Phänomen der Nachträglichkeit in den »Studien über Hysterie« (1895a) mit der Krankengeschichte Emmas. Emma war als Kind einem sexuellen Übergriff ausgesetzt, dem sie jedoch zu jenem Zeitpunkt aufgrund der fehlenden sexuellen Reife noch keine Bedeutung beigemessen hatte. Erst nach der Pubertät entfaltete diese Erfahrung traumatische Wirkung, als ein zweites, gleichwohl harmloseres Ereignis eintrat, das gewisse Ähnlichkeiten mit der ersten Szene aufwies. Die unbewusste Assoziation, das Zusammentreffen dieser beiden Szenen in der Erinnerung machte aus dem früher unbedeutenden Ereignis ein traumatisches aufgrund der inzwischen erfolgten sexuellen Reife, die ein anderes Verständnis des früheren Übergriffs nach sich zog. Betrachtet man die Sexualität – wie vorgeschlagen – nicht als etwas, das dem Körper »von Natur aus« anhaftet und sich in Reifungsprozessen lediglich entfaltet, sondern als leibliche Einschrei-
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bung lustvoller Erfahrungen, lassen sich auch die Umgestaltungen in der Pubertät und die »Zweizeitigkeit« der Sexualentwicklung noch einmal anders beleuchten. Während die Partialtriebe als (nachträgliche) Nieder- und Umschriften der infantilen Befriedigungserfahrungen aufgefasst werden können, stellt die Pubertät einen zentralen Knotenpunkt dieser Umschriften dar, an dem diese Erfahrungen unter dem Primat des Genitalen neu strukturiert und zur Erwachsenen-Sexualität umgeschrieben werden. Die Partialtriebe erhalten so nachträglich neue Bedeutung. Zentral für den Begriff der Nachträglichkeit ist die Auflösung linearer Zeitvorstellungen; frühere Erfahrungen werden demnach ebenso bedeutsam für spätere wie umgekehrt. Solch ein konstellativer Zeitbegriff scheint mir gerade zum Verständnis menschlicher Sexualität sinnvoll, da in jeder sexuellen Aktivität eine Reihe von Erfahrungen, die zu unterschiedlichsten Zeiten gewonnen wurden, zusammentreffen und in einer neuen Umschrift verarbeitet werden.
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■ Katharina Liebsch
Psychoanalyse und Feminismus revisited
Es war vor gut dreißig Jahren, man schrieb das Jahr 1974, als Juliet Mitchell, US-amerikanische Feministin der ersten Stunde, ein kämpferisches Motto in die Diskussion warf: »Wer die Unterdrückung der Frau begreifen und wirksam bekämpfen will, kommt an der Psychoanalyse nicht vorbei« (Juliet Mitchell, 1985, S. 11). Ungefähr 15 Jahre lang galt dieses Diktum für ein breites Spektrum feministischer Theorien. Bis circa 1990 war die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse für das Verständnis vieler feministischer Debatten eine unbedingte Voraussetzung und Ansätze von beispielsweise Margarete Mitscherlich-Nielsen (1985) und Christa Rohde-Dachser (1991), Carol Hagemann-White (1979), Nancy Chodorow (1985), Jessica Benjamin (1990) Luce Irigaray (1980) und Julia Kristeva (1978) – um nur einige Namen zu nennen – prägten die theoretische Auseinandersetzung. Diese Autorinnen knüpften an jeweils verschiedene psychoanalytische Schulen an. Sie entwarfen neue Weiblichkeitsbilder, erklärten die Nachhaltigkeit der traditionellen Geschlechterrollen, dachten über die Rolle von Gewalt, Zwang, Normierungen in den Geschlechterverhältnissen nach und setzten sich nicht zuletzt mit dem Frauenbild der klassischen Psychoanalyse auseinander. Immer wieder kreisten die Debatten um die Frage, ob Freuds Bild vom »Mängelwesen Frau«, das er als kastriert und penisneidisch konzipierte, schlicht eine weit verbreitete männliche Abwertung von Frauen reproduziert oder ob das Bild als Kritik an der gesellschaftlichen Unterordnung der Frauen gelesen werden sollte – als metaphorischer und drastischer Hinweis auf den bis heute gültigen gesellschaftlichen Tatbestand, dass Frauen hinsichtlich der Beteiligung an wichtigen gesellschaftlichen Positionen
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und Möglichkeiten der politischen Einflussnahme eingeschränkt beziehungsweise »kastriert« sind und dass Frauen auf die Vielfalt männlicher Macht und Möglichkeiten möglicherweise und nachvollziehbarerweise mit Neid reagieren. Heute, nochmals 15 Jahre später, heißt der Feminismus »Geschlechterforschung« oder »gender studies«, von der »Unterdrückung der Frau« redet heute kaum jemand mehr – sie findet bestenfalls als ein Indikator der Rückschrittlichkeit muslimischer Lebenswelten Erwähnung. Und die Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Überlegungen spielt in dieser Forschungsrichtung so gut wie keine Rolle mehr. Stattdessen überwiegt die Beschäftigung mit einer breiten Palette konstruktivistisch und diskurstheoretisch ausgerichteter Forschungsansätze. Was ist passiert? Wie haben sich die Paradigmen des Denkens verschoben und welche Perspektiven sind in diesem Prozess gestärkt und welche marginalisiert worden? Wie ist diese Veränderung zu erklären? Inwieweit hat die psychoanalytische Theorie der Weiblichkeit diesen Bedeutungsverlust selbst zu verantworten? Welche Gründe und Argumente gibt es dafür, noch heute Freuds Theorie der Weiblichkeit zu rezipieren und zu diskutieren? Sich diesen Fragen zumindest zu nähern, ist Anlass und Ziel dieses Beitrags. In Auseinandersetzung mit Freuds zwei kleinen Aufsätzen »Über die weibliche Sexualität« von 1931 und »Die Weiblichkeit« von 1933 möchte ich die Bedeutung, die Beschränkungen und die Potenziale einer psychoanalytischen Theorie der Weiblichkeit veranschaulichen und diskutieren. Dazu werde ich erstens kurz Thesen der besagten Aufsätze vorstellen und einordnen, zweitens meine Überlegungen und Fragen nach der erneuten Lektüre thematisieren und mich drittens schließlich der Frage zuwenden, wie an Freud angelehnte Thesen und Ausführungen für die heutige Debatte um die Geschlechterverhältnisse produktiv sein könnten.
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■ Die Rede von der Weiblichkeit in der Psychoanalyse Freuds: »Über weibliche Sexualität« und »Die Weiblichkeit« Der Text »Über die weibliche Sexualität« von 1931 und der zwei Jahre später erschienene Text »Die Weiblichkeit« sind die einzigen und letzten Beiträge Freuds, die sich ausdrücklich und explizit der Frage nach weiblichen Besonderheiten widmen. Die Inhalte sind ähnlich und fassen den Stand der Freud’schen Einsichten in Anlehnung und in Abgrenzung zu anderen Autorinnen und Autoren zusammen. Dies gilt besonders für den Text »Die Weiblichkeit«, welcher als fünfte der »Neue(n) Folge der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse« veröffentlicht wurde. Diese Vorlesungen wurden nie gehalten und stellen gewissermaßen eine Bilanz vieler Freud’scher Ausführungen dar. Freud selbst beschreibt sie als Fortsetzung und Ergänzungen zu bis dato ausgeführten Positionen. Die Vorlesung »Die Weiblichkeit« bildet somit den Abschluss einer langen Auseinandersetzung um die Frage, wie sich die Psychosexualität von Frauen von der der Männer unterscheidet, wie sich das Weibliche entwickelt und worin es überhaupt besteht beziehungsweise wie es erfasst und beschrieben werden kann. Diese Auseinandersetzung begann 1905 mit der Veröffentlichung der »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«. Hier entwickelt Freud seine Lehre von der infantilen Sexualität als primäre Parallelität beider Geschlechter unter männlichem Vorzeichen. Sein Betrachtungsansatz beschreibt lediglich das männliche Geschlechtsorgan als wahrnehmbar und bedeutungsvoll. Das weibliche Genital hingegen versteht er als für die kindliche Entwicklung bedeutungslos: Die Vagina bleibe bis zur Pubertät unentdeckt, die Klitoris sei ein kleiner Penis. Dieser als »phallischer Monismus« kritisierte Ansatz unterstellt, dass es keine eigenständige weibliche psychosexuelle Entwicklung gäbe und ist viel diskutiert und kritisiert worden, zu Lebzeiten Freuds wie auch danach immer wieder. Freud selbst war sich der Thesenhaftigkeit seiner Äußerungen durchaus bewusst. An verschiedenen Stellen formuliert er, dass das Material zu den Entwicklungsvorgängen beim Mädchen »unbefriedigend, lücken- und schattenhaft« (Freud, 1924, S. 401) ist und immer wieder schwankt er zwischen verschiedenen Deu-
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tungen und Hypothesen und befragt die eigenen Behauptungen. Bereits in den eben erwähnten »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Freud, 1904) formuliert er den Gedanken einer bisexuellen frühkindlichen Entwicklung, als die Vorstellung einer anfänglichen Existenz und Egalität zweier Geschlechter. Auch stellt er die Gleichsetzung von männlich = aktiv und weiblich = passiv in Frage und äußert sich kritisch zu damaligen Vorstellungen von geschlechtsgebundenen Charaktereigenschaften. In der gleichen Schrift klopft er jedoch die nämlichen Vorstellungen wieder fest, indem er ausführt, dass die aggressive und aktive Sexualität von Mädchen in der präödipalen Phase »durchaus männlich« sei, ja, dass die Libido insgesamt »regelmäßig und gesetzmäßig männlicher Natur« sei (Freud, 1904, S. 120). Alle Aussagen Freuds zum Thema Weiblichkeit schwanken zwischen der Reproduktion der zu seiner Zeit gültigen Weiblichkeitsklischees und einer Ratlosigkeit über den »dark continent« Weiblichkeit (Freud, 1927, S. 241). Auch in seinem letzten Beitrag zum Thema »Die Weiblichkeit« bleibt dieselbe für Freud »ein Rätsel«, über das »die Menschen zu allen Zeiten gegrübelt haben« (Freud, 1933, S. 120). Sein in diesem Text formuliertes Anliegen, dass die Psychoanalyse »nicht beschreiben will, was das Weib ist, […] sondern untersucht, wie es wird, wie sich das Weib aus dem bisexuell veranlagten Kind entwickelt« (Freud, 1933, S. 124) blieb Forschungsprogramm. Er hinterließ zu diesem Thema genauso viele Fragen wie Antworten. Diese Sprachlosigkeit, Ratlosigkeit und sicher auch Bewusstlosigkeit ist aktuell. Sie herrscht auch heute noch. Weiblichkeit und Männlichkeit sind auch heute entweder völlig selbstverständlich, banal und »natürlich« oder aber – wenn wir anfangen, darüber nachzudenken – vielfältige, mit verschiedenen Gefühlen, Bewertungen und Bedeutungen besetzte Konstruktionen, die es immer wieder vermögen, uns an den Rand der Verzweiflung bringen. Die Verschiedenheit der Geschlechter, Unterschiede zwischen Männern und Frauen gelten uns als »Rätsel«, das anhaltend, gern und immer wieder als unerklärbar angesehen wird. Das, was man nicht erklären kann, erscheint schnell als unabänderlich und wird der Natur, Biologie und Körperlichkeit zugeschrieben, beispielsweise zu beobachten angesichts der Nachhaltigkeit geschlechtsstereo-
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typer Sozialisation, die sich darin zeigt, dass zweijährige kleine Jungen Schaufelbagger von Kippladern zu unterscheiden wissen, während ihre gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen diese nicht einmal eines Blickes würdigen: »Ist wahrscheinlich angeboren.« Oder auch bei Bemühungen, Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zum Beispiel beim Einparken oder ihrem Interesse an Naturwissenschaften, zu erklären. So wie im vergangenen Jahr Larry Summers formulierte – der damalige Präsident der Harvard-University – er mache sich Gedanken über einen angeborenen Unterschied zwischen Männern und Frauen, der verhindere, dass Frauen in naturwissenschaftlichen Fächern Spitzenleistungen brächten. Denn schließlich habe jahrzehntelange Frauenförderung seiner Eliteuniversität keine weiblichen Spitzenkräfte hervorgebracht. Merkwürdig, nicht wahr? Unverständlich. Eben rätselhaft. Insofern hat sich gehalten, was für Freud 1931 und 1933 Ausgangsund Endpunkt seines Beitrags zum Thema »Weiblichkeit« war. Doch betrachten wir genauer, wie Freud das »Rätsel« zu lösen gedachte. Er präsentiert die Frage nach der Weiblichkeit als »Probe einer analytischen Detailarbeit« und verspricht, »nichts als beobachtete Tatsachen, fast ohne den Beisatz von Spekulation« (Freud, 1933, S. 120) auszubreiten. Ein Versprechen, das er, wie wir sehen werden, nicht halten kann. Seine Betrachtung des Themas beginnt mit der Formulierung der Fragestellung: Ihn interessiert, wie es von einer anfänglichen Bisexualität zur Differenzierung in zwei Geschlechter kommt und zu diesem Zwecke schaut er sich die Sexualentwicklung von Mädchen genauer an. Dabei betrachtet er – ähnlich wie in dem vorangegangenen Aufsatz »Über die weibliche Sexualität« im Wesentlichen vier Themen, nämlich 1. das libidinöse Verhältnis des Mädchens zur Mutter; 2. die Entdeckung des weiblichen Genitals als Kastration, Penismangel, Penisneid; 3. den weiblichen Ödipuskomplex und 4. psychische Besonderheiten der reifen Weiblichkeit. Diesen Betrachtungen vorangegangen war, wie ja bereits erwähnt, eine vehemente Auseinandersetzung mit anderen Vertreterinnen und Vertretern der psychoanalytischen Zunft. Freud argumentiert
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hier vor allem gegen Einschätzungen von Ernest Jones (1928), Jeanne Lampl-de Groot (1927) und Karen Horney (1926) und betont seine Auffassung, dass es in der weiblichen Sexualentwicklung eine zweifache Schwierigkeit zu bewältigen und zu erklären gäbe. Mädchen müssen im Verlauf ihrer Entwicklung sowohl einen Wechsel im Geschlecht ihres Liebesobjekts vollziehen – von der ursprünglichen ersten Liebe zur Mutter eine Wendung zum Vater vollziehen. Zweitens, so Freud, müssten Mädchen ihre genitale Zone differenzieren und neu besetzen, von einer Kenntnis der von Freud als »männlich« definierten Klitoris zu einer Kenntnis ihrer als »weiblich« bezeichneten Vagina gelangen. Hier wird bereits sichtbar, was Gegenstand der Kontroverse war und ist: Die Annahme, dass für alle Mädchen ein einziges, normatives Entwicklungsmodell gelten soll, die Vorstellung, dass Präödipalität ausschließlich durch die Bindung zu einer weiblichen Person bestimmt sein soll und die Annahme, dass das weibliche Genital im Prozess der kindlichen Entwicklung zweitrangig sei, abgewertet und in Teilen zunächst gar unbekannt sei. Allein die Tatsache, dass uns diese Vorstellungen bestens bekannt sind – wir mögen sie nicht teilen, aber sie gehören fest zum kulturellen Deutungsrepertoire des Geschlechterthemas –, ist Grund genug, sie genauer anzuschauen.
■ Lesarten und Fragestellungen ■ Das libidinöse Verhältnis des Mädchens zur Mutter: Ursache oder Funktion? Zum ersten Thema, der Bedeutung der Mutterbindung des Mädchens, räumt Freud die große Bedeutung der präödipalen Phase ein. Seine klinischen Beobachtungen lehren ihn, dass die präödipale Mutterbindung in der kindlichen Entwicklung bis ins vierte und fünfte Lebensjahr anhalten kann und Frauen mit starker Vaterbindung eine seiner Einsicht nach genauso wichtige, vorangegangene, präödipale Beziehung zur Mutter gehabt haben. Eine starke präödipale Beziehung zur Mutter könne aber genauso
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dazu führen, dass »eine Anzahl von weiblichen Wesen in der ursprünglichen Mutterbindung stecken bleibt und es niemals zu einer richtigen Wendung zum Manne bringt« (Freud, 1931, S. 518). In der Rede vom ›Stecken-Bleiben‹ und davon, ›es niemals zum Richtigen zu bringen‹, zeigt sich die Normativität des Freud’schen Modells. Heterosexualität erscheint als Regel und Norm, die selbst jedoch weder erklärt noch hergeleitet wird. Schwierigkeiten in der ehelichen Beziehung zwischen Mann und Frau hingegen werden mit Spezifika der weiblichen Entwicklung in Verbindung gebracht. Zum Beispiel thematisiert Freud in diesem Zusammenhang den klinischen Befund der Beziehungsprobleme von Frauen. Viele Frauen, so Freud (1931, S. 523), wiederholten in der Ehe ihr problematisches Verhältnis zur Mutter: »Er [der Ehemann] sollte die Vaterbeziehung erben und in Wirklichkeit erbt er die Mutterbeziehung. Das versteht man leicht als einen naheliegenden Fall von Regression. Die Mutterbeziehung war die ursprüngliche, auf sie war die Vaterbindung aufgebaut, und nun kommt in der Ehe das Ursprüngliche aus der Verdrängung zum Vorschein. Die Überschreibung affektiver Bindungen vom Mutter- auf das Vaterobjekt bildete ja den Hauptinhalt der zum Weibtum führenden Entwicklung.«
Und so bekommen wir »bei so vielen Frauen den Eindruck […], dass ihre Reifezeit vom Kampf mit dem Ehemann ausgefüllt« (Freud, 1931, S. 523) ist. Man kann diese thematische Abfolge als kausal, als Begründungsfigur lesen: Weil es eine konfliktreiche frühkindliche Mutter-Tochter-Beziehung gegeben hat, ist die erwachsene, heterosexuelle Liebesbeziehung negativ beeinflusst; um Freuds Worte zu benutzen, wird eine »richtige Wendung zum Manne« verhindert. In dieser Lesart hat entweder die Mutter oder die Tochter schuld, oder beide zusammen. Man kann den Textaufbau aber auch als Beschreibung eines Funktionsmechanismus verstehen, als Hinweis darauf, dass in Liebesbeziehungen zwischen Erwachsenen frühkindliche Beziehungsmuster aktiviert und wiederholt werden und dass damit Widersprüche – in der Geschlechterbeziehung wie auch in der jeweiligen Geschlechtlichkeit selbst – verbunden sind. Sie verweisen auf ein bei vielen Frauen auffindbares Festhalten an der Beziehung zur Mutter als einer Repräsentationsfi-
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gur des Altvertrauten, des Heimischen und auf das Festhalten an der unerfüllten Hoffnung auf ein befriedigendes Liebes- und Geschlechterverhältnis. Eine solche Lesart ist weniger anklagend und nimmt das Phänomen, das sich zeigt, nicht wörtlich, sondern macht es einer weiteren Beschreibung und Deutung zugänglich. Die von Freud konstatierte, nicht erfolgte »Wendung zum Manne« verweist auf einen Mangel in der Beziehung, auf ein anhaltendes Gefühl von Fremdheit und Unverstandensein, das weiter erklärt werden muss. Für die weitere Lektüre der Freud’schen Weiblichkeitstheorie wäre deshalb die Einsicht zu berücksichtigen, dass psychoanalytische Aussagen nicht die Frage nach den Ursachen beantworten; sie geben vielmehr Hinweise darauf, »wie es funktioniert«. Dabei wird der Tatbestand, den es zu erklären gilt, erst erkennbar. Der interessante Punkt ist so gesehen also nicht, dass Frauen mit einer starken Mutterbindung in der Entwicklung »stecken bleiben«, sondern die Frage, welche präödipalen Erfahrungen wie und weshalb in der erwachsenen Liebesbeziehung mit einem Mann aktiviert werden. So transportiert der Freud’sche Text zwar eine Anregung zur Deutung und zur Interpretation, treibt diese aber selbst auf der inhaltlichen Ebene nicht voran. Ähnliches zeigt sich bei der Lektüre des zweiten von Freud behandelten Themenkomplexes.
■ Das Kastrationsmodell der Weiblichkeit: Verkümmerung und Verkennung »Irgendeinmal macht das kleine Mädchen die Entdeckung seiner organischen Minderwertigkeit« (Freud, 1931, S. 524). »Wenn das kleine Mädchen durch den Anblick eines männlichen Genitals seinen eigenen Defekt erfährt, nimmt sie die unerwünschte Belehrung nicht ohne Zögern und Sträuben an. Wie wir gehört haben, wird die Erwartung, auch einmal ein solches Genitale zu bekommen, hartnäckig festgehalten, und der Wunsch danach überlebt die Hoffnung noch um lange Zeit. In allen Fällen hält das Kind die Kastration zunächst für ein Missgeschick, erst später dehnt es dieselbe auch auf einzelne Kinder, endlich
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auf einzelne Erwachsene aus. Mit der Einsicht in die Allgemeinheit dieses negativen Charakters stellt sich eine große Entwertung der Weiblichkeit, also auch der Mutter, her« (Freud, 1931, S. 526). »Beim Manne erübrigt vom Einfluss des Kastrationskomplexes auch ein Maß an Geringschätzung für das als kastriert erkannte Weib. (…) Ganz andere sind die Wirkungen des Kastrationskomplexes beim Weib. Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit, aber es sträubt sich auch gegen diesen unliebsamen Sachverhalt« (Freud, 1931, S. 522).
Carol Hagemann-White (1979) hat eine Lesart der Freud’schen Weiblichkeitsthesen stark gemacht, die deren Problemorientierung hervor hebt. Freud, so behauptet sie, benenne unliebsame, soziale Tatsachen. Die Fragen, die er aufwirft, verwiesen auf gesellschaftliche Probleme und insofern übe er Kritik und fordere zur Durcharbeitung realer Konflikte und zur Anerkennung gesellschaftlicher Verhältnisse auf. Seine Rede von der weiblichen Minderwertigkeit sei eine Aufforderung an alle Frauen darüber nachzudenken, »was mit uns geschehen ist, damit wir unsere Weiblichkeit als einen Mangel zu erleben bereit wurden« (Hagemann-White, 1979, S. 28). Dies ernst genommen, wäre in Auseinandersetzung mit Freud zum einen zu beschreiben, worin für Frauen und Männer heute der konstatierte Mangel gesehen wird, worin die »Minderwertigkeit« des Weiblichen besteht. Zum zweiten müsste der Prozess dieser Abwertung, »das, was mit uns geschehen ist«, beschrieben und erklärt werden. Dazu gehören zum einen biografische Erfahrungen wie auch sozial-strukturell verfestigte Abwertungen und Kränkungen. Zum anderen gehören dazu die symbolischen Ordnungen und kulturellen Deutungsmuster, die Unterschiede und Hierarchien im Geschlechterverhältnis stabilisieren. Ich werde hier nur auf den letztgenannten Punkt eingehen. Man kann das eben Zitierte so lesen, dass Freud mit Hilfe der psychoanalytischen Therapie hier eine symbolische Ordnung der Geschlechterhierarchie sichtbar gemacht hat. Weibliche Abwertung und männliche Überlegenheit können als grundlegendes kulturelles Muster gelesen werden, das im Verlauf einer jeden kindlichen Entwicklung erfahren wird. Gegen eine solche Lesart
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spricht allerdings, dass Freud seine Weiblichkeitskonstruktion der Analyse kindlicher Sexualtheorien und Phobien abgewann, die er als Versuche der Bewältigung von Konflikten, als Heilungsversuche verstand. In aller Regel begriff er die kindlichen Konstruktionen als welche, die ein Mischungsverhältnis von Phantasie, Realität, Irrtum und Wahrheit zusammen bringen und sah seine Aufgabe darin, eine Durcharbeitung dieses Mischungsverhältnisses vorzunehmen. Genau dies aber unterbleibt bei der Weiblichkeitstheorie. Das vom Kind entwickelte Kastrationsmodell der Weiblichkeit wurde von Freud nicht zum Gegenstand weiterer Analyse gemacht. Die »Grauenhaftigkeit« des weiblichen Genitals oder auch der die Möglichkeit »weiblicher Libido« ausschließende »Penisneid« wurden von ihm nicht im Zusammenhang mit der Verdrängung untersucht. Die Suche nach einer möglichen repräsentativen Funktion dieser »Entdeckungen« unterblieb (vgl. Schlesier, 1981, S. 167). Stattdessen begründet Freud seine Auffassung der Weiblichkeit als »Kastriertheit« damit, dass er es als »biologische Tatsache« ausweist, dass die Frau zwei Genitalien, ein »weibliches« und ein »männliches«, Vagina und Klitoris, besitzt. In dieser symbolisch angereicherten Aufspaltung wird die Frau nicht nur in einem harmonisierenden Trennungsvorgang zu einer Repräsentationsfigur sowohl von »Männlichkeit« als auch von »Weiblichkeit«, sie wird auch zur Repräsentation von verstümmelter Männlichkeit und verstümmelter Weiblichkeit. Weder Männliches noch Weibliches ist durch sie vollständig repräsentiert. Zentral ist stattdessen der »negative Charakter« der psychoanalytischen Konstruktion von Weiblichkeit. Aufgrund dieser negativen Beschreibung könnte man die Unrealisiertheit weiblicher Sexualität oder die Beherrschung des Geschlechterverhältnisses durch ungelöste Konflikte assoziieren. Auch wäre denkbar, Weiblichkeit in dem Text als Chiffre eines unstimmigen, zerrissenen Geschlechterverhältnisses zu verstehen. Eine solche Lesart wird vor allen dadurch befördert, dass in dem Text die Herstellung der Geschlechterbeziehung für die Frau nur dadurch als möglich beschrieben wird, dass sie sich mit ihrem »negativen« Charakter nicht abfindet. Gerade den »Defekt« und den »Penisneid« macht Freud dafür verantwortlich, dass die Frau
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den Mann überhaupt begehren kann. Auf der Seite des Mannes hingegen beschreibt er eine »Scheu vor dem Weibe« (Freud, 1918, S. 168), die als »Angst vor der Kastration« ein zum Misslingen veranlagtes Verhältnis zwischen den Geschlechtern zum Ausdruck bringt. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern muss misslingen, weil sich die männliche Angst vor der Kastration nicht auf eine Angst vor der Kastration durch die Frau, sondern nur auf eine Angst vor der Kastration als Angleichung an die Frau bezieht. Solange aber die Möglichkeit der Mächtigkeit von Frauen nicht in Erwägung gezogen wird und solange stattdessen über ein theoretisches Konstrukt negativer Weiblichkeit versichert wird, dass Frauen als Kastrierende nicht gefürchtet zu werden brauchen, symbolisiert dieses Modell Verkennung und Abwehr.
■ Die weibliche ödipale Situation: Der Kinderwunsch als kulturelles Symbol von Weiblichkeit »Der Wunsch, mit dem sich das Mädchen an den Vater wendet, ist wohl ursprünglich der Wunsch nach dem Penis, den ihr die Mutter versagt hat und den sie nun vom Vater erwartet. Die weibliche Situation ist aber erst hergestellt, wenn sich der Wunsch nach dem Penis durch den nach dem Kind ersetzt, das Kind also nach alter symbolischer Äquivalenz an die Stelle des Penis tritt […] Mit der Übertragung des Kind-Penis-Wunsches auf den Vater ist das Mädchen in die Situation des Ödipuskomplexes eingetreten« (Freud, 1933, S. 137 f.).
Auffallend ist hier zum einen die begriffliche Verschiebung von »Neid« auf »Wunsch«, zuvor ist in den Freud’schen Ausführungen immer nur vom »Penis-Neid« der Frauen die Rede. Neid und Wunsch sind aber nicht dasselbe. Man könnte argumentieren und behaupten, alles worauf Menschen neidisch sind, wollen sie auch haben und wünschen es sich deshalb. Sich etwas zu wünschen, ist aber viel harmloser als neidisch sein, ist verbunden mit der Bitte an ein Gegenüber, weniger missgünstig, weniger aggressiv als der Neid. Die begriffliche Gleichsetzung entschärft also den Neid und als Entschärftes kann es zur Konvention werden, ist tauglich für den Alltagsgebrauch, für die Normalität. Man kann deshalb vermuten, dass die Gleichsetzung von Neid
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und Wunsch der Norm, dem gesellschaftlichen Sollen geschuldet ist. In dieser gesellschaftlich neutralisierten und verharmlosten Fassung wird der ehemalige Neid verwandelt in einen Wunsch, mit dem sich Frauen an Männer richten. Eine solche Behauptung legt Frauen auf einen Gebärwunsch, auf den Wunsch, schwanger zu werden, fest. Die implizite, nicht genannte Voraussetzung dafür ist dauerhafte Bereitschaft zum Beischlaf – ein eher männliches Wunschbild, wie man vermuten darf. So scheint mir an dieser Textpassage interessant, dass die weibliche Lust ausgespart bleibt, keine explizite Erwähnung findet und Heterosexualität nicht durch weibliche Lust, sondern durch den weiblichen Kinderwunsch begründet wird. Erst mit Kind kann »das Weib«, wie Freud durchgängig schreibt, dann auch sprachlich wirklich weiblich werden. »Die Frau« verwandelt ihren Neid auf den Penis in einen Wunsch nach dem Kind. Hier wird das Kind zum Symbol von Weiblichkeit. Wenn es also zutreffend ist, dass Weiblichkeit in unserer Gesellschaft durch ein Kind symbolisiert ist, wird erklärbar, dass erst die Geburt eines Kindes, den Wunsch nach Vollständigkeit, nach Anerkennung wie auch den Wunsch, der eigenen Mutter gleichberechtigt entgegen treten zu können, befriedigt. Wenn Weiblichkeit durch ein Kind symbolisiert wird, bleibt aber auch das Verständnis von weiblicher Sexualität davon bestimmt, dass das zu gebärende Kind Ziel und Motor ist. Die weibliche Sexualität ist demzufolge immer sekundär, basierend auf der Hingabe zu einer Lust, »die nicht die eigene ist« (Hagemann-White, 1979, S. 53). Auch eine zweite Abstraktion ist interessant an den zitierten Formulierungen. Der Wunsch nach einem Kind, nicht das Leben mit Kindern, wird als Zeichen der Normalität bei der Frau genannt. Weder die individuelle Fähigkeit zur Mütterlichkeit, die Bereitschaft ein Kind zu versorgen und es groß zu ziehen, noch die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen von Mutterschaft finden Erwähnung. Es geht hier also offenbar nicht darum, sich nach der Versorgung von Kindern zu sehnen und mit dieser Arbeit gesellschaftliche Anerkennung und Achtung zu fordern und zu bekommen, auf dass die Arbeit der Frauen als der Arbeit der Männer ebenbürtig angesehen wird. Das konkrete Muttersein bleibt unter der symbolischen Vorgabe von Weiblichkeit = Kind
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davon bestimmt, dass der Wunsch, ein Kind zu haben, etwas anderes verspricht, als sich in der Praxis der Mutterschaft dann auch tatsächlich realisiert. Die Aktualität dieser Abstraktionen zeigt sich derzeit in der Debatte um die sinkende Geburtenrate in der Bundesrepublik, in der primär beklagt wird, dass die Gleichstellung von Frauen dazu geführt habe, dass so wenig Frauen ihren Gebärwunsch realisieren, und in der die Bedingungen von Mutter- und Elternschaft nun durch eine Allianz von Familienpolitik und den Kirchen im Rahmen einer gemeinsamen Kampagne für Werteerziehung zu regulieren versucht werden. Solange es also symbolisch verankert ist, dass »echte« Weiblichkeit sich in der Geburt eines Kindes ausdrückt und solange es männliche Institutionen und Machtinstanzen sind, die das Ehe- und Familienleben dominieren und regeln, reproduziert sich eine Form der Minderwertigkeit von Frauen, insofern weibliche Erfahrungen und Wünsche im herrschenden gesellschaftlichen Diskurs bereits definiert und beschrieben sind.
■ Die psychischen Besonderheiten der reifen Weiblichkeit: Das ungelöste »Rätsel« um das Verhältnis von Körper und Kultur »Dass man dem Weib wenig Sinn für Gerechtigkeit zuerkennen muss, hängt wohl mit dem Überwiegen des Neids in ihrem Seelenleben zusammen, denn die Gerechtigkeitsforderung ist eine Verarbeitung des Neids, gibt die Bedingung an, unter der man ihn fahren lassen kann. Wir sagen auch von den Frauen, dass ihre sozialen Interessen schwächer und ihre Fähigkeit zur Triebsublimierung geringer sind als die der Männer […] Hingegen kann ich es nicht unerwähnt lassen, einen Eindruck zu erwähnen, den man immer wieder in der analytischen Tätigkeit empfängt. Ein Mann um die Dreißig erscheint als ein jugendliches, eher unfertiges Individuum, von dem wir erwarten, dass es die Möglichkeiten der Entwicklung, die ihm die Analyse eröffnet, kräftig ausnützen wird. Eine Frau um die gleiche Lebenszeit aber erschreckt uns häufig durch ihre psychische Starrheit und Unveränderlichkeit. Ihre Libido hat endgültige Positionen eingenommen und scheint unfähig, sie gegen andere zu verlassen. Wege zu weiterer Entwicklung ergeben sich nicht; es ist als wäre der ganze Prozess bereits abgelaufen, bliebe von nun an unbeeinflussbar, ja, als hätte die
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schwierige Entwicklung zur Weiblichkeit die Möglichkeiten der Person erschöpft« (Freud, 1933, S. 144/5).
Weiter vorne heißt es aber: Wir müssen aber »achthaben, den Einfluss der sozialen Ordnungen nicht zu unterschätzen, die das Weib gleichfalls in passive Situationen drängen. Das ist alles sehr ungeklärt«(Freud, 1933, S. 123). Freud berichtet hier von Eindrücken der Geschlechterdifferenz, so wie sie sich ihm in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts boten. Er erwägt den Einfluss von »Bedingungen« und den daraus resultierenden »Möglichkeiten«, kann sich aber zu einer Analyse und einem Verständnis der Weiblichkeit, so wie er sie sah, nicht durchringen. Seine Bilanz lautet, dass er das Rätsel nicht zu lösen vermochte und er rät uns angesichts seiner negativen, ja vernichtenden Bilanz, im Auge zu behalten, »dass die einzelne Frau auch sonst ein menschliches Wesen sein mag« (Freud, 1933, S. 145). Sie gehört also zur Gattung, dessen werden wir versichert, auch wenn sonst beim Thema so ziemlich alles unsicher ist. Unklarheit, Unsicherheit, Rätselhaftigkeit werden hier geradezu beschworen und man muss keine Psychoanalytikerin sein, um sich zu fragen, was das Rätseln eigentlich repräsentieren soll. Auf der inhaltlichen Ebene des Textes korrespondiert die Lückenhaftigkeit der Freud’schen Weiblichkeitstheorie mit der kindlichen Beschreibung des unvollständigen weiblichen Genitals. Nimmt man diese Parallele ernst, könnte man sagen, dass die hier vorgelegte Theorie regressiv, aus der Perspektive eines Kleinkindes betrieben wird, oder vorsichtiger formuliert: noch in den Kinderschuhen steckt und weiterer Arbeit und Erklärungen bedarf. Vom Textaufbau her ist auffällig, dass das Eingeständnis der Rätselhaftigkeit wie auch des Rätsels Lösung, nämlich »der negative Charakter« (Freud, 1931, S. 526) der Weiblichkeit, gleichermaßen beide Texte durchqueren, sozusagen miteinander verwoben sind. In beiden Texte zeigt sich auf mehreren Ebenen eine Gleichzeitigkeit von In-Gang-Setzen und Stornieren, Anfangen und Aufhören, Bagatellisieren und Provozieren. Weiblichkeit erscheint hier, so ließe sich sagen, als nicht real und nicht realisiert. Sie ist durch Konflikte und Versprechen bestimmt. Sie ist Hilfsund Abwehrkonstruktion, ein Modell, dessen Charakteristikum es ist, unklar, deutungsoffen und bedeutungsvielfältig zu sein.
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Inhaltlich bleibt Freud den Nachweis dafür schuldig, dass und warum der »negative Charakter« für sein Verständnis von Weiblichkeit elementar ist. Er deutet immer wieder an, dass auch Zeitgeist, soziale Bewertungen und soziale Ordnungen es den Frauen schwer machen, geht aber der entscheidenden Frage, nämlich wie das Verständnis von Weiblichkeit durch das Verhältnis von Anatomie und Gesellschaft, von Körper und Kultur bestimmt ist, nicht systematisch nach. Zwar hatte er an verschiedenen Stellen darüber nachgedacht, wie die Psychoanalyse als Naturwissenschaft zu konzipieren sei, wie die Körper-Natur gesellschaftlich in den Griff genommen wird und sich diesem Einfluss doch wieder entzieht, aber im Zusammenhang mit seiner Theorie der Weiblichkeit bedachte und reflektierte er derartige Fragen nicht grundlegend. Es blieb deshalb den nachfolgenden Generationen von Psychoanalytikerinnen und Sozialwissenschaftlerinnen überlassen, die Frage nach dem Verhältnis von Biologie und sozialem Einfluss im Handeln und der psychischen Befindlichkeit von Männern und Frauen zu thematisieren. Heute stellt sich diese Frage unter dem Einfluss von Neurowissenschaften, Biotechnologien und einer anhaltenden Konjunktur von Körpertheorien verstärkt. Ich möchte deshalb in einem dritten und letzten Schritt fragen, ob und inwiefern psychoanalytische Thesen zur Weiblichkeit respektive Geschlechtlichkeit einen Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses von Psyche, Kultur und Körperlichkeit leisten können.
■ Zum Verhältnis von Körper und Kultur in der Geschlechterforschung In der Geschlechterforschung, das will ich voran schicken, verlief die theoretische Suchbewegung zum Thema Biologie und Gesellschaft kreisförmig. So ging in den 1990er Jahren die Bedeutung psychoanalytischer Ansätze aufgrund der konstruktivistischen und diskurstheoretischen Kritik am Feminismus zurück. Diese Kritik stellte die biologischen Grundlagen der Sexualität und der Geschlechtlichkeit in Frage und argumentierte gegen den Begriff der Identität und des Subjekts. Jede Fixierung weiblicher Identität,
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so lautet beispielsweise die Vermutung Judith Butlers (1991), berge die Gefahr, eine naturalisierte weibliche Identität festzuschreiben. Damit diene der anatomische Unterschied dann doch wieder als Bezugspunkt für die Erklärung von Männlichkeit und Weiblichkeit. Dieses Denken verbleibe in einer Polarität, der Opposition von Mann und Frau, und berge die Gefahr, dass die klassische Hierarchie, in der Frauen auf eine Position der Minderwertigkeit verwiesen sind, immer wieder hergestellt wird. Geschlecht und Körper, so die These, seien kulturell und diskursiv hervorgebracht – nachträglich werde ihnen der Stempel der Natur aufgedrückt, was normativen Charakter habe. Dem wurde dann entgegnet, dass es eine offensichtliche Diskrepanz gebe zwischen dem alltäglichen körperlichen Erleben und den Phänomenen von Schmerz, Müdigkeit, Lust einerseits und der theoretischen Konzeption des Körpers als ein diskursiv überformtes oder sogar diskursiv hergestelltes Konstrukt andererseits und so wuchs Ende der 1990er Jahre das Interesse am Körper und entsprechende Theoretisierungen folgten. Psychoanalyse als eine Theorie, die sich zentral mit der Leiblichkeit, der Sexualität und den »Triebschicksalen« als Ausdruck von sozialen Verhältnissen auseinandersetzt, blieb dabei unberücksichtigt. Das mag damit zu tun haben, dass in der Psychoanalyse primär die normierende Kraft sozialer Ordnungen in den körperlichen Dimensionen »Geschlecht«, »Sexualität« sowie die Dynamik der Umsetzung von realer Unterdrückung in psychische und körperliche »Deformation« thematisiert wurde. Diese Zentrierung auf Repression und Beschränkung wollte in Zeiten der Travestie und des Post-Feminismus niemand hören. Es hat aber auch damit zu tun, das eine parteiliche Sichtweise auf Vergesellschaftung als Zwang, Leiden und Gewalt normativ fest schreibt, was doch erst Ergebnis der Analysen sein sollte. Zudem sind die psychoanalytischen Denkmuster durch die Arbeiten von Foucault, den Autoren der Postmoderne und des Konstruktivismus kritisiert, relativiert und differenziert worden. Durch diese Theorietraditionen ist verdeutlicht worden, dass der gesellschaftliche Umgang mit den Körpern sowohl repressiv als auch regulierend ist. Er beschränkt und ermächtigt zugleich. Auch wurde die Frage aufgeworfen, ob berechtigterweise die Subjekte als der Ort
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von Widerständigkeit, Kritik und Aufbegehren angesehen werden können und ob die Annahme einer Körpernatur samt seiner Triebe nicht primär als ein Narrativ, eine spezifische Erzählform und ein kultureller Wahrnehmungsmodus zu verstehen sei. Diese Kritik hat auch innerhalb der Psychoanalyse Kreise gezogen. Moniert wurde zunehmend, dass Freuds Pessimismus, die Zentralität der Differenzierung zwischen innerer und äußerer Realität in seinem Denken, sein Glaube an die Herrschaft des Realitätsprinzips über das Lustprinzip und seine Hierarchisierung der Entwicklungsabfolge und seine Betonung der Abwehr, kurz: sein Kulturpessimismus, die theoretische Begründung von alternativen Möglichkeiten, Wandelbarkeit, Paradox und Konflikt innerhalb des psychoanalytischen Denkens verzögert und behindert habe (vgl. Liebsch, 1994). Derartige Kritik ist zudem indirekt unterstützt worden durch einen Perspektivwechsel der sozialwissenschaftlichen Betrachtung von Individuen und deren Handlungen, in denen Prozesse von Inszenierung und Signifizierung stärker als bislang als aktive, gestaltete und kreative Handlungen verstanden werden. Dabei wird auch gefragt, wie Stilisierungen, Beherrschung und Präsentation des Leibes in die soziale Ordnung eingewoben werden und welcher Art diese sozialen Ordnungen sind (z. B. patriarchal, postmodern, individualisiert). Aber: Auch eine solche Perspektive, die Individuen als »Konstrukteure« der sozialen Ordnung betrachtet und deren Einverständnis und Aktivität beschreibt wie auch deren Grenzen in einer unbewussten Verleiblichung der sozialen Ordnung als »Inkorporierung« bezeichnet, braucht ein Verständnis des Mechanismus der Zusammenwirkens von körperlicher Praxis, Erleben und Bewusstheit. Und: Theoretische Modelle, die den wechselseitigen Prozess von Gestaltung und Prägung des Sozialen durch den Körper und umgekehrt auch den Prozess von Verleiblichung oder auch der Materialisierung von Körpern erfassen, sind selten. Hubert Knoblauch (1998) hat beispielsweise die Inkorporierung ethnomethodologisch als Konventionalisierung charakterisiert, Gabriele Klein (1999) hat sie mit Hilfe des ästhetischen Verfahrens der Mimesis begründet und ich möchte hier abschließend auf ein theoretisches Verständnis verweisen, das den Prozess der Inkorpo-
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rierung als eine Vorstellung von geschlechtsübergreifenden identifikatorischen Suchbewegungen versteht. Die US-amerikanische Psychoanalytikerin Donna Bassin hat 1995 eine Konzeption einer Geschlechtergrenzen auflösenden Identifizierung vorgestellt, die auf der Vorstellung eines »Körper-Ich als Ort und Ursprung von geschlechtsunspezifischen Symbolisierungen« basiert. Donna Bassin begreift die Geschlechtsidentität als ein aus mehreren Komponenten zusammengesetztes Konstrukt: Dazu gehört für sie erstens die Anerkennung der anatomischen Geschlechtsunterschiede. Diese Anerkennung der körperlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau versteht sie als eine zentrale Realitätskonstruktion des Ich. Das bedeute aber nicht, dass Geschlechtlichkeit ein für allemal festgelegt sei, sondern ist vielmehr als Basis, als Ausgangspunkt zu verstehen, auf dem sich Versuche einer anderen Identifizierung vollziehen. Diese basale Anerkennung des Körpers wird ergänzt durch andersgeschlechtliche weibliche Identifikation mit Vaterfiguren sowie die gleichgeschlechtliche Synthese mit Mutterfiguren. Diese gleichgeschlechtliche und gegengeschlechtliche Identifikation begreift Bassin als wichtig für die Ordnung des weiblichen Erwachsenen-Ichs. Beide bilden ein Raster, in das vergeschlechtliche Erfahrungen einsortiert werden können. Zum dritten ist Bassin der Ansicht, dass das Ich aufgrund von Erfahrungen und aufgrund imaginativer und symbolischer Fähigkeiten in der Lage ist, die geschlechtliche Kernidentität als Rahmen von Identität und Selbst-Kontinuität in den Hintergrund treten zu lassen. Diese Fähigkeit zur vorübergehenden Relativierung der eigenen Geschlechtlichkeit begründet Bassin mit der Möglichkeit zu einer Transformation und Nutzung früher Körper-Ich-Erfahrungen. Eine Bezugnahme auf diese frühen Körper-Ich-Erfahrungen können eine »Wiedereingliederung früher Bisexualität in den Zusammenhang eines postödipal differenzierten Selbst« (Bassin, 1995, S. 97) und eine identifikatorische Vielfältigkeit befördern. Um diese These zu begründen, bezieht sich Bassin auf Freuds Schrift »Das Ich und das Es«. Hier führte Freud aus, dass das Ich zuallererst ein »Körper-Ich« sei, eine Struktur, die ihre psychischen Aktivitäten analog zu ihren körperlichen Aktivitäten darstellt (z. B. orale, anale, genitale Erfahrungen). Das Körper-Ich
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habe aber, so argumentiert Bassin über Freud hinausgehend, eine symbolische und eine metaphorische Beziehung zum Körper, es sei eine Art imaginativer Anatomie. Das Körper-Ich sei zentral für die Nutzung der Symbolisierungen durch das Selbst und für die Differenzierung der Phantasie. Ein sicheres und aktiviertes Körper-Ich stelle den Raum zur Verfügung, in dem sich zum einen Anpassungsfunktionen entwickeln, zum zweiten aber auch neue und andere Inhalte ansiedeln können. Beispielsweise werden Vorstellungen vom Greifen, Empfangen, Einführen in der Welt des Körpers erfahren und erhalten die ihnen zugrundeliegende Struktur von Körperlichkeit. Sie wirken als Organisatoren für weitere Vorstellungen und entwickeln sich weiter zu psychischen Metaphern. Diese Vorstellungen und Metaphern sind wiederum Übergänge zu symbolischen Verhaltensweisen. Sie sind flexible Kategorien, mit denen das Bewusstsein den Körper erfährt und mit denen es kreative und wahrnehmende Systeme organisiert. Bassin begreift das Körper-Ich als flexible Einheit, die das Selbst mit elementaren Repräsentationen der Erfahrung ausstattet. Der Körper ist ein wichtiger Ursprung von Erfahrung und ein Modell, mit dem sich Erfahrungen verstehen lassen. Das Körper-Ich kann jedoch nicht auf die Anatomie reduziert werden. Da es auch noch die Ebene der Erfahrungen und Identifizierung mit Vaterfiguren und Mutterfiguren gibt, müssen diese Prozesse auch theoretisch berücksichtigt werden. Dabei ist es Bassin wichtig, die Existenz einer frühen Phase von geschlechtsundifferenzierter und überintegrativer Erfahrungen zu berücksichtigen. Bis zum Alter von ungefähr zwei Jahren identifizieren sich Kinder ganz ungehemmt mit Personen und Eigenschaften beider Geschlechter. Aus dieser Zeit resultieren, so Bassins Annahme, auch spezielle Körper-IchOrganisatoren. Eben solche, die aus dem frühen, überintegrativen, symbolischen Repräsentationen stammen und die Bestandteile der imaginären, symbolischen Repräsentation des anderen Geschlechts sind. Deshalb behauptet Bassin auch, dass es sowohl Repräsentationen von Geschlecht als geschlechtlich differenzierte gibt wie auch solche, die undifferenziert (d. h. überintegrativ) sind. Beide gehen in das »Körper-Ich« ein und bilden die Anfänge und Ursprünge symbolischer Inhalte.
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Es ist theoretisch wie praktisch möglich, dass im Prozess der Identitätsgenese die geschlechtlich differenzierten wie auch die überintegrativen Symbole aktiviert werden. Denkbar ist eine »flexible« Organisation der weiblichen Geschlechtsidentität, bei der überintegrative Symbole zu Identifikationen mit sogenannt männlichen Attributen und Zuschreibungen verhelfen. Auf diese Weise wird einer Auflösung der Bisexualität in polare Geschlechtscharaktere entgegengewirkt. So erscheint die theoretische Alternative einer mobilen, flexiblen Sexualität als Prozess, die von einem symbolisierenden Ich kontrolliert wird (Bassin, 1995, S. 119). Bassin lokalisiert die geschlechtlichen Unterschiede als welche, die den eigenen Körper durchqueren und Bestandteil von Wissen und Erfahrungen des Individuums sind. Ihre Vorstellung von Weiblichkeit ist – obwohl sie körperlich erfahren wird – nicht an die Anatomie und auch nicht an eine weibliche Sexualität gebunden, wohl aber in der Konzeption des Körper-Ichs mit beiden verknüpft. Der Körper erscheint in ihrem Modell als ein ständiger Prozess der symbolischen und imaginären Konstruktion des Ichs. Das theoretische Modell von Bassin präsentiert eine Genese von Körperlichkeit, in der Körpererfahrungen, Phantasien, Beziehungsmodi und Symbolisierungen sich miteinander verknüpfen. Der Körper »materialisiert« sich in diesem Prozess. Er kann zum konkreten Ort von Erfahrungen werden; die Erfahrungen können aber auch über ihn hinausgehen. Körper und Psyche werden hier als zusammen gehörig gedacht. Es sind sowohl körperliche Vorstellungen der anatomischen Differenz wie auch einer symbolischen, überintegrativen Geschlechtlichkeit denkbar. Bassins Modell kann als ein Beitrag zu einem neuen KörperDiskurs verstanden werden. Es macht deutlich, dass Symbolisierungen, die den Körper nachzeichnen, individuell und kulturell verschieden sein können. Auf diese Weise variieren sie den Prozess der individuellen Konstitution und der politisch-gesellschaftlichen Materialisierung von Körpern. Dieses Modell versucht, das Konzept der »Geschlechtsidentität« neu zu denken. Es reagiert damit auf Kritik, nicht nur aus der Geschlechterforschung, an dem Identitätskonzept als fester Bezugsgröße. Die Autorin unternimmt den Versuch, die symbolische Geschlechterordnung zu variieren. Sie überlegt, wie Sexualitäten,
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Körper und Geschlecht zunächst überhaupt einmal anders gedacht und beschrieben werden können. Hinter diesem Versuch steht die Annahme von Freud, dass menschliche Sexualität wesentlich eine Psychosexualität ist, dass geschlechtliches, sexuelles Erleben zentral über innere, psychische Besetzung und Bewertung verläuft. Das bedeutet aber auch, dass das Imaginäre und das Unbewusste Bestandteile der Entwicklung einer Geschlechtsidentität sind und theoretisch weiter entwickelt werden müssen; beispielsweise haben Christa Rohde-Dachser (2006) oder Ilka Quindeau (2005) in diese Richtung weiter gedacht. An genau dieser Stelle bedürfen sozialwissenschaftliche Identitätskonzepte einer psychoanalytischen Perspektive, da sie Imaginäres und Unbewusstes bislang fast immer als Außen, als Nicht-Ich definieren und deshalb Imaginäres und Unbewusstes als Momente von Entwicklung kaum oder nur als Beispiele gescheiterter Entwicklung vorkommen. Die Einbeziehung dieser Perspektive in die Frage der Konstitution und Konstruktion von Identität und Geschlecht hat den Vorteil, dass sie die Dimension der Erfahrung und des Erlebens von Menschen berücksichtigt und die Frage nach dem Ort von Veränderungsmöglichkeiten in der Entwicklungsgeschichte der Individuen zu lokalisieren versucht. Damit bleiben die Individuen als Träger von Veränderungen theoretisch berücksichtigt. So hat eine psychoanalytische geschulte Perspektive in der Frauen- und Geschlechterforschung immerhin den Vorteil, das nicht aus dem Blick zu verlieren, worum es in diesen Überlegungen eigentlich geht: die Frauen.
■ Literatur Bassin, D. (1995). Jenseits von ER und SIE: Unterwegs zu einer Versöhnung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit in der postödipalen weiblichen Psyche. In J. Benjamin (Hrsg.), Unbestimmte Grenzen. Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter (S. 93-125). Frankfurt a. M. Benjamin, J. (1988). Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt a. M. Butler, J. (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.
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■ Helen Schoenhals Hart
Das Erbe des Ödipuskomplexes
■ Einleitung In seiner Arbeit über den »Untergang des Ödipuskomplexes« gibt uns Freud eine anschauliche Beschreibung der enttäuschenden Realitäten, mit denen ein Kind in der ödipalen Phase konfrontiert wird. Er meint, dass der Ödipuskomplex an seinem Misserfolg zugrunde gehe. Das ist schon stark ausgedrückt. Etwas später in der Arbeit betont er, wie die Verdrängung nicht ausreicht, und der Ödipuskomplex sogar zerstört werden muss: »Aber der beschriebene Prozeß ist mehr als eine Verdrängung, er kommt, wenn ideal vollzogen, einer Zerstörung und Aufhebung des Komplexes gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß wir hier auf die niemals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalem und Pathologischem gestoßen sind. Wenn das Ich wirklich nicht viel mehr als eine Verdrängung des Komplexes erreicht hat, dann bleibt dieser im Es unbewußt bestehen und wird später seine pathogene Wirkung äußern« (Freud, 1924, S. 399).
Merkwürdiger noch finde ich, wie Freud ein Jahr später in seiner Arbeit »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds« das Zerschellen des Ödipuskomplexes bei der gleichzeitigen Entstehung des Über-Ichs beschreibt: »Indes der Ödipus-Komplex ist etwas so Bedeutsames, daß es auch nicht folgenlos bleiben kann, auf welche Weise man in ihn hineingeraten und von ihm losgekommen ist. Beim Knaben wird der Komplex nicht einfach verdrängt, er zerschellt förmlich unter dem Schock der Kastrationsdrohung. Seine libidinösen Besetzungen werden aufgegeben, desexualisiert und zum Teil sublimiert, seine Objekte dem Ich einverleibt, wo sie den
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Kern des Über-Ichs bilden und dieser Neuformation charakteristische Eigenschaften verleihen. Im normalen, besser gesagt im idealen Falle besteht dann auch im Unbewußten kein Ödipus-Komplex mehr, das ÜberIch ist sein Erbe geworden« (Freud, 1925, S. 29).
Es ist klar, dass Freud zunächst die Realitäten aufzeigt, die das Kind dazu zwingen – solange sie nicht verleugnet werden –, seine ödipale Illusion aufzugeben. Es sind zum Beispiel die schmerzlichen Enttäuschungen, die das Kind erlebt, wenn es sieht, dass das geliebte Elternobjekt seine Illusionen nicht bestätigt, sondern erzieherisch eingreift oder sich von ihm ab- und einem Dritten zuwendet. Die Befriedigung des ödipalen Wunsches bleibt aus und der Ödipuskomplex geht zugrunde »an seinem Misserfolg, dem Ergebnis seiner inneren Unmöglichkeit«. Freud beschreibt es hier als eine innere Unmöglichkeit, aber die schmerzliche Realität ist auch eine äußere Unmöglichkeit, denn das Kind ist nicht groß genug, um ein geeigneter Partner für einen Erwachsenen zu sein. Ich verwende hier den Begriff der »ödipalen Illusion« von Britton (1998, S. 55 ff.), weil ich denke, dass Freud solche Wünsche und Phantasien in seiner Beschreibung vom Untergang des Ödipuskomplexes im Sinn hat. Eine Schwierigkeit mit Freuds Verwendung des Begriffs »Ödipuskomplex« ist die Tatsache, dass er nicht zwischen der ödipalen Situation – so nennt es Melanie Klein – und der ödipalen Illusion – so nennt es Britton – unterscheidet. Zur ödipalen Situation gehören das Dreieck Mutter, Vater, Kind und die begleitenden ödipalen Wünsche. Diese Situation befindet sich auf der Realitätsebene und bleibt Bestandteil der psychischen Realität eines Menschen, solange er lebt. Allenfalls einem Psychotiker gelingt es, sie zum Zerschellen zu bringen: Er kann folglich nicht denken, weil ihm die trianguläre Basis für das symbolische Denken fehlt. Die ödipale Illusion gehört dem Bereich der Phantasie an, und es ist die Illusion, die letztendlich aufgegeben wird oder zugrunde geht. Mangels Unterscheidung zwischen den zwei Ebenen entsteht also zumindest in den diesbezüglichen Arbeiten ein Bruch in Freuds theoretischer Ausführung, wenn er von der Realitätsebene abrückt und auf eine Phantasieebene geht. Der Junge phantasiert, dass der Vater ihn kastrieren wird, wenn er ihm die Mutter als Geliebte wegnimmt. Das bringt den Jungen nun in einen furchtba-
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ren Konflikt – er müsste sich entweder für die Mutter als Geliebte oder für das Beibehalten seines Penis entscheiden. Freud meint, er verzichte nun auf seine Mutter als Geliebte, um seinen Penis zu retten. Das heißt aber, dass er in seiner Phantasie seine Mutter als Geliebte hätte haben können, wenn er sich anders entschieden hätte. Mit anderen Worten auch die Mutter hätte – in seiner Phantasie – ihren Jungen zum Liebhaber genommen, wenn der Vater keinen solchen Terror gemacht hätte. Tatsache ist, dass der kleine Junge physisch nicht in der Lage ist, eine erwachsene Frau sexuell zu befriedigen. Nur aus seiner Sicht fühlt sich der Junge aber vom Vater, einem rächenden Über-Ich, klein gemacht, bestraft und kastriert. Das entspricht nicht der Realität, sondern der ödipalen Illusion des kleinen Jungen. Warum drückt sich Freud hier so aus, als sei die Kastration durch den Vater eine ebensolche Realität wie die sonstigen Realitäten, die das Kind dazu zwingen, seine ödipale Illusion aufzugeben? Zweifelsohne waren die moralischen Gepflogenheiten der Zeit, in der Freud lebte, hier stark wirksam. Das Bild vom Struwwelpeter, der seinen Daumen durch die Bestrafung mit einer Riesenschere verlor, war ein Schreckensbild in der moralischen Erziehung eines jeden Kindes. Da Freud sich hier auf die Phantasieebene des kleinen Jungen begibt, statt auf der Realitätsebene zu bleiben, kommt er aber in Schwierigkeiten bei der Ausführung seiner Theorie. Nun behauptet er, dass die Verdrängung des Ödipuskomplexes nicht ausreiche, um seinen Untergang – das heißt, den der ödipalen Illusion – zu erreichen. Wie soll sie denn ausreichen, wenn er aus der Sicht des Jungen lediglich auf eine mögliche Befriedigung verzichtet hat? Das heißt doch, dass die Illusion nach wie vor aufrechterhalten wird und weiterhin auf Befriedigung drängt. Die einzige Lösung wäre ein hartes Durchgreifen von einem sehr strengen Über-Ich. Schere her! Es liegt nur an der Härte eines bösen Über-Ichs und nicht an der harten Realität, weshalb der Junge Verzicht leisten muss. Dadurch entsteht das Über-Ich. Bisher haben wir uns mit dem Erbe des Ödipuskomplexes beim kleinen Jungen auseinander gesetzt. Was meint Freud zu der Über-Ich-Entwicklung beim kleinen Mädchen? Er schreibt: »Mit der Ausschaltung der Kastrationsangst entfällt auch ein mächtiges
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Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs und zum Abbruch der infantilen Genitalorganisation« (Freud, 1924, S. 401). »Das Über-Ich wird niemals so unerbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen affektiven Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern« (Freud 1925, S. 29). Ich finde diese Schlussfolgerung nun sehr fragwürdig, denn sie ist aus der Kastrationstheorie entstanden, einer Theorie, bei der die Bereiche der Realität und der Phantasie nicht klar unterschieden werden. Ich denke, dass die ödipale Illusion des Kindes, einerlei ob beim Mädchen oder Jungen, durch die Konfrontation mit der Realität aufgegeben wird, und nicht durch die Ermahnung eines dabei entstehenden Über-Ichs. Das Über-Ich, das Freud als Erbe des Ödipuskomplexes beschreibt, ist eine grausame, archaische Instanz, und nicht das vermittelnde, mitfühlende Über-Ich, das normalerweise in der ödipalen Situation – und auch für Freud in seinen sonstigen Beschreibungen – vorhanden ist.
■ Fallbeschreibung Ich möchte nun auf das klinische Beispiel einer Patientin mit einem archaischen Über-Ich eingehen. An diese Patientin musste ich denken, als ich die zitierten Arbeiten von Freud noch einmal las. Mir kam es so vor, als habe sie stets versucht, ihre ödipalen Wünsche mir gegenüber zu vernichten, und zwar so gründlich, dass sie nie wieder auftauchen sollten. Die ödipale Hoffnung musste mehr als verdrängt werden, sie musste sozusagen zum Zerschellen gebracht werden. Es handelt sich um eine alleinstehende, geschiedene (von ihrem Mann misshandelte) Frau im mittleren Lebensalter, die als Lehrerin an einer sozialen Einrichtung für behinderte Kinder arbeitet. Sie war anorektisch, als sie kam – in ihren Worten: sie sei »schon immer lieber dünn gewesen« –, suchte aber nicht deshalb Hilfe, sondern wegen einer depressiven Krise nach einer enttäuschenden Freundschaft zu einer Frau. Es war keine intime Beziehung gewesen, und dennoch hatte sie sich schon gefragt, ob sie eventuell eine homosexuelle Neigung habe – auch wenn sie so etwas
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nicht spüre –, denn alles habe sich zum Schluss der Beziehung so stark dramatisch zugespitzt. Sie habe diese Frau sehr geliebt und sie dennoch als kalt, bestrafend, herablassend und besonders gemein zu ihr erlebt. In Reaktion darauf hatte sich die Patientin in einen Sessel ihrer Einzimmerwohnung zurückgezogen, sich in der Dunkelheit verbarrikadiert, nichts gegessen, nichts getrunken und tagelang auf den Tod gewartet. Die Freundin brach den Kontakt zu ihr dann ganz ab, da sie sich diesen Schwierigkeiten nicht gewachsen fühlte. Die Patientin wollte nicht mehr leben und kam in dieser Verzweiflung zu mir. Ich machte mit ihr eine Analyse mit fünf Wochenstunden, während eines finanziellen Engpasses auch einige Jahre mit vier Stunden pro Woche. Das von ihr geschilderte Drama stellte sich nun wiederholt in der Übertragungsbeziehung her. Sie entwickelte eine Liebesbeziehung zu mir, reagierte bei Wochenend- und sonstigen Unterbrechungen, aber auch bei meinen Deutungsversuchen, gekränkt, zog sich zurück, verbarrikadierte sich in ihre seltsame Einsamkeit, hungerte und wurde dann oft somatisch ernsthaft krank. In ihrer Isolierung war keine analytische Arbeit möglich. Sie quälte sich selbst vor meinen Augen, schlug manchmal eisern mit den Fäusten auf ihre Beine, Arme, Brust und Bauch, beschimpfte sich – und später auch mich – und blieb für meine Kontaktversuche unerreichbar. Während solcher Phasen war ihre Denkfähigkeit stark eingeschränkt, konfus, teilweise konkret, was ich sowohl auf ihren somatischen Hungerzustand zurückführte als auch auf ihre Verweigerung, eine ödipale Dreiersituation entstehen zu lassen. Klingelte zufällig das Telefon oder gab es ein Geräusch in der Wohnung nebenan, schreckte sie hoch. Es störte alles, was nur den Hauch einer Anwesenheit eines Dritten andeuten konnte. Versuchte ich unsere Situation zu beschreiben oder irgendwelche Zusammenhänge herzustellen, ignorierte sie dies, um in ihrer Selbstkasteiung unbeeinflusst fortzufahren, oder verwendete es sogar als einen weiteren Schlag gegen sich selbst. Ein sadomasochistischer Modus hielt uns nun eng umschlungen, so dass kein Platz für eine abweichende dritte Sichtweise übrig blieb. Immer klarer wurde mir, dass die Patientin ein rigides Über-Ich hatte, das ihr nicht nur die liebevollen Gefühle, sondern Gefühle jeglicher Art verbot. So kam es auch zu ihrer Anorexie.
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Ihr wurden regelrecht alle Triebbedürfnisse und Wünsche verboten, aber auch jede Äußerung des lebendigen Kontakts und der lebenskräftigen Kreativität. Nun verstand ich ihre gelegentliche Äußerung viel besser: »Es läuft etwas Mörderisches ab.« Zunächst war das so zu verstehen, dass ihr Über-Ich von ihr verlangte, sich umzubringen. Dieses Über-Ich projizierte sie auf mich. Jedoch Übertragungsdeutungen in dieser Richtung – nämlich sie erlebe es so, dass ich die Regeln aufstellte und von ihr erwarte, dass sie alle Gefühle, die sie habe, nicht haben sollte – waren für sie jedoch wie sadistische Schläge. Wie könne ich überhaupt so etwas sagen? Sie erlebe mich als nur gut, verstehend, klug, kreativ und eben ideal. Sie versuche, genau so zu werden wie ich – so stelle sie sich das Ziel der Analyse vor. Ihre Heilungsvorstellung bedeutete also, dass sie durch eine projektive Identifizierung mit mir, besser gesagt mit ihrer idealen Vorstellung von mir, endlich gut leben könnte. Dafür müsste ich mitmachen und ihrer idealen Vorstellung entsprechen. Die traktierende Person war immer wieder jemand anderes: Ihr Vermieter, der ihren Garten so stark begoss, dass die neu gepflanzten Blumen starben; ihr Arbeitgeber, der sie unverschämt ausnützte und lange auf ihr verdientes Geld warten ließ; die BfA, die einen Jahresbeitrag von ihr verlangte, der höher war als ihr jährliches Einkommen und so weiter und so fort. Freitags- und Montagsstunden waren besonders schwierig. Freitags versuchte sie, endlich erwachsen zu sein und nicht das Gefühl zu haben, dass sie mich über das Wochenende entsetzlich vermissen würde, und montags versuchte sie, mit süßlichen, harmonisierenden Falschtönen ihre wahren Gefühle, von mir auf grauenvolle Weise im Stich gelassen worden zu sein, zu verleugnen. Dass sie ein Recht auf solche Gefühle hatte, sah sie gar nicht ein. Erst als ich ihr Erleben nachdrücklich anerkannte – wie sie sich von mir über das Wochenende brutal fallen gelassen und grausam behandelt fühlte –, erst dann konnte sie zum ersten Mal ihr wirkliches Erleben in Bezug auf mich stehen lassen. Es war für sie eine enorme Erleichterung, mich als das quälende Objekt erleben zu dürfen, und später versuchte sie immer wieder, an dieses Erlebnis mit mir anzuknüpfen. Zunehmend konnte sie mir in den guten Phasen, nachdem wir uns wieder aus einer kontaktlosen Phase herausgearbeitet hatten,
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erzählen, wie sie mich einerseits als sehr gemein, grausam, verhöhnend erlebe, aber andererseits nicht wirklich daran glaube, dass ich tatsächlich so sei. Außerdem wolle sie mir sagen, auch wenn sie so tue, dass sie mich nicht höre, höre sie mich trotzdem. Es wurde also zunehmend möglich für sie, mich als eine symbolische Übertragungsfigur zu benutzen: Ich war in ihrem Erleben zugleich ein grausames inneres Objekt als auch ein verstehendes, containmentbietendes Objekt in der äußeren Realität. Es wurde auch allmählich verständlicher, wie es zu dieser Charakterentwicklung gekommen war. Die Eltern verlangten, dass ihre drei Töchter, besonders die älteste (meine Patientin), sich »richtig« benehmen und funktionieren, dass sie »erwachsen« sein sollten. »Hass« war ein verbotenes Wort, und wenn man zu sehr aufmuckte, sei man in sein Zimmer geschickt worden. Dort musste man bleiben, bis man meinte, dass man sich in das Familienleben wieder »richtig« einfügen könnte. Falsche Töne ersetzten echte Gefühle, und meine Patientin beklagte sich zunehmend über die Unehrlichkeit ihrer Eltern. Obwohl einerseits liebevoll, waren die Eltern dennoch vereinnahmend und schwierig. Ihre Mutter, die häufig unter heftigen Migräneattacken litt, bestrafte sie tagemanchmal sogar wochenlang mit Schweigen. Meine Patientin fand dies unerträglich und flehte ihre Mutter an, ihr zu sagen, was sie falsch gemacht habe – umsonst. Ihr Vater war mindestens genauso unzugänglich. Oft lief er im Zimmer auf und ab, über irgendein ideologisches Thema tobend, und war für anderes unansprechbar. Ich vermute, dass das archaische Über-Ich meiner Patientin aus einer sehr frühen Entwicklungsphase stammte. Sie schien an einem Primärobjekt zu hängen, das sie anlockte, um sie dann abrupt fallen zu lassen oder in anderer Form schlecht zu behandeln. Dieses Objekt projizierte sie in mich und fand, dass ich sie dazu brachte, sich in mich zu verlieben, ihr aber dann verbot, in mich verliebt zu sein. Ich war eine gemeine, autoritäre Figur, die – vielleicht ähnlich dem oben von Freud beschriebenen Über-Ich – von ihr verlangte, ihre libidinösen Wünsche zu vernichten. Um dieses furchtbare Objekt fernzuhalten, pflegte meine Patientin ein ideales, aber auch falsches Objekt in mich zu projizieren. Ich fühlte mich oft leicht gezwungen, eine falsche Rolle zu übernehmen und die nette, unterstützende und bestätigende
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Analytikerin zu sein, die sie sich im Idealfall vorstellte. Wenn ich dem Druck widerstand, mir selbst treu blieb und versuchte, unsere Situation zu analysieren, wurde ich in ihrem Erleben sofort gemein und sadistisch. Um zu zeigen, wie dies im Verlauf aussah, aber auch, um ein Bild von dem Über-Ich der Patientin zu vermitteln, möchte ich nun den Verlauf von zwei aufeinander folgenden Stunden darstellen. Es handelt sich zunächst um eine typische Stunde, in der alles schlecht verlief, in der ich es sehr schwer hatte, analytisch zu arbeiten – es gelang mir auch nicht ganz; es war eine Stunde, die ich normalerweise nicht protokollieren konnte, weil alles in furchtbarem Aufruhr war. Es war außerdem ein Freitag. Ich erinnere sie noch im Stehen daran, dass unsere Montagsstunde eine Stunde früher stattfinden wird. Ja, das wisse sie. Sie setzt sich vorsichtig vorne auf die Kante der Couch, die Knie artig zusammen gehalten. Sie wartet angespannt, spielt nervös mit dem Päckchen Tempo in ihren Händen, schaut mich an, schaut weg ins Zimmer, wartet, schaut wieder zu mir und dann wieder weg, wartet und dann, schließlich, legt sie sich hin. (Dieser Ablauf, der meistens einige Sekunden bis Minuten in Anspruch nimmt, ist üblich und noch ein Rest aus der Anfangszeit, als sie sich noch nicht hinlegen konnte und sie die ganze Stunde in dieser angestrengten Sitzstellung verbracht hatte. Obwohl ich mehrmals versucht habe, mit ihr zu klären, was hierbei geschieht, ist es bisher nicht wirklich geklärt worden. Jedoch fühlt sich dieser Ablauf heute besonders angespannt und ausgedehnt an.) Nach ein paar Minuten Schweigen zeigt sie mit ausgestrecktem Arm auf die andere Seite des Zimmers und sagt melancholisch: »Irgendein Patient hat Ihnen Blumen gebracht. Erst nächstes Frühjahr wird mein Garten wieder Blumen für Sie produzieren können.« Daraufhin schweigt sie eine Weile. Mir kommt es vor wie eine Einladung, in ein eingeübtes Rollenspiel mit ihr einzusteigen und ihr zu deuten, wie zurückgesetzt sie sich wegen der Blumen fühle und wie verlassen sie sich wegen des bevorstehenden Wochenendes vorkomme. Gleichzeitig kommt es mir so vor, als hätte eine solche Deutung keine reale Wirkung, sondern würde eher von ihr erwartet. Außerdem fällt meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass es wieder – wie schon so oft – um ein Geschenk
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geht und um die Rahmenbedingungen der Analyse, was mich auch ärgert. Ich sage: »Ich glaube, Sie denken, so ein Geschenk ist, was ich mag und will.« Ich höre sie dann sagen: »Eigentlich ja.« In der darauf folgenden Stunde erklärt sie mir jedoch, dass sie »Eigentlich nein.« gesagt hatte. Ich sage: »Aber dann haben wir uns nicht wirklich verständigen können, was es mit Geschenken auf sich hat und warum ich sie ablehne.« Plötzlich schleudert sie ihren Arm hinaus und zeigt mit streng gespitztem und rüttelndem Zeigefinger auf die Blumen und sagt lauthals: »Die wurden gekauft! Meine stammen aus meinem Garten. Ich habe sie selbst gezüchtet und gepflegt. Das ist was anderes!«
In der darauf folgenden Schweigepause denke ich daran, wie ich mich von ihr über die Jahre hinweg unter einen subtilen, aber stetigen Druck gesetzt fühle, einerseits das Setting für sie konsequent einzuhalten – eine verschobene Stunde wie an dem kommenden Montag ist eine Seltenheit – und dennoch den analytischen Rahmen mit leichten Veränderungen zu sprengen (z. B. in der Annahme von Geschenken und Blumen oder mit dem Einlassen auf eine soziale Smalltalk-Ebene). Ich dachte, dass es sich um eine Spaltung handelt zwischen der idealen Schoenhals als Person und der Analytikerin Schoenhals, die – wie ihr strenges Über-Ich – sie mit absurden Regeln traktiert. Ich sage: »Es ist störend, wenn eine Stunde von mir verschoben wird oder wenn Sie denken, dass ich von jemandem anders Blumen angenommen habe. Es fällt mir aber auch auf, wie sehr die Rahmenbedingungen hier insgesamt im Zentrum unserer Aufmerksamkeit sind. Sie sprechen oft von der störenden Absurdität ›meiner Regeln‹ und es geht uns häufig um die Blumen, die Geschenke, oder um das Sitzen oder Liegen. Öfters haben Sie davon gesprochen, wie schwierig für Sie das Hereinkommen, das sich Hinlegen und Herausgehen ist, und schließlich besonders auch die Tatsache, dass die Analyse ein endgültiges Ende hat. Der Rahmen ist von großer Bedeutung und ich denke, dass Sie sich von dem Rahmen traktiert
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fühlen. Dann versuchen Sie mit leichtem Druck, außerhalb des Rahmens einen Platz für die gute Beziehung zu mir zu machen.« Nun schreit sie wütend und unvermittelt: »Also gut! Dann räume ich Ihnen meine Gefühle aus dem Weg! Ich werde sie einfach vernichten. Ich werde sie schon loswerden – ich werde sie einfach abschneiden. Mein Problem ist, dass ich mich in Sie verliebt habe. Das war ganz falsch!« Ich sage: »Unser analytischer Rahmen ist also etwas furchtbar Destruktives, das keine Gefühle zulässt.« Sie steigert sich dann in eine Tirade von vorwurfsvollen Klagen, bis sie regelrecht tobt: »Sie hassen mich! Das ist kein Vorwurf. Was ich meine, ist, dass ich etwas tue, wofür Sie mich dann hassen. Sie hassen es, dass ich einige Sekunden sitze; Sie hassen mich, weil ich Sie liebe, und ich soll das wegmachen. Es ist etwas Kriminelles – das weiß ich inzwischen! Es ist von mir kriminell, dass ich mich in Sie verliebt habe. Nun, keine Sorge! Ich habe bei Ihnen gut gelernt und werde meine Gefühle gut entsorgen, genau so, wie Sie das haben wollen. Es geht hier immer um Ihre verdammten Regeln – ich darf Sie nicht anschauen, darf nicht ein paar Sekunden schweigen, ich muss mich sofort hinlegen – Plop! – Ich muss schnurstracks auf die Couch zusteuern und Sie nie dabei anblicken – das ist verboten! – und ich soll vor allem ganz sachlich bleiben. Alles was außerhalb Ihrer Regeln fällt, ist etwas Kriminelles.«
Sie tobt weiter in diesem Sinn. Wie so oft bei einem solchen Wutausbruch von ihr, fühle ich mich ziemlich hilflos und hoffnungslos. Es ist sehr fraglich, ob ich sie für ein Verständigungsgespräch mit mir vor dem Ende der Stunde werde erreichen können. In einem Versuch, den Wutanfall zu durchbrechen, vergleiche ich unsere Situation mit ihrer Arbeitssituation: »Stellen Sie sich mal vor, dass ein kleiner Junge in Ihre Klasse kommt, setzt sich zu Ihnen an Ihren Tisch, packt sein Müsli aus und sagt, dass er ein Geschenk für Sie hat. Er habe Müsli für sie beide mitgebracht – Sie könnten mit ihm zusammen frühstücken. Ihre Aufgabe ist es aber, ihn und die Klasse zu unterrichten. Was würden Sie ihm dann sagen?« Sie schweigt einige Minuten, die Spannung lässt etwas nach, und sie scheint nachzudenken. Dann sagt sie vorwurfsvoll: »Also ist es falsch,
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wenn ich Blumen aus meinem Garten mitbringe. Habe ich es richtig verstanden?« Ich: »Also ist es falsch, wenn ich uns beiden Frühstück mitbringe. Was würden Sie ihm nun sagen? Ist es etwas Kriminelles, wenn er mit Ihnen frühstücken will?« Sie: »Nein.« Sie schweigt nachdenklich.
Die Spannung baut sich aber wieder auf und sie tobt wieder. Ich unterbreche sie und sage, dass wir nun die Anna Fuchs hier hätten. (Anna Fuchs war eine der Außenfiguren, eine frühere Vorgesetzte, die verfolgend streng, sogar monströs mit der Patientin umging.) »Sie ist hier und knallt uns die Regel auf den Tisch. Sie insistiert, dass wir keine Verständigung miteinander erreichen dürfen, sie erlaubt keine Gefühle, besonders keine Liebesgefühle, und sie meint auch, dass es keine fruchtbare analytische Arbeit zwischen uns geben darf. Sie verbietet Analyse. Obwohl Sie mir in anderen Zeiten gesagt haben, dass Sie beides wollen, Kontakt mit der privaten Schoenhals als auch die Arbeit mit mir als Analytikerin, Anna Fuchs verbietet das jetzt. Sie möchte nicht, dass Sie mir liebevolle Gefühle entgegenbringen, und sie möchte auch nicht, dass wir Analyse machen. Ich glaube, Sie erleben unseren Rahmen hier genau so feindlich wie die Regeln von Anna Fuchs. Statt dass Ihnen dieser Rahmen Raum für Ihre Gefühle gibt, erleben Sie es so, dass er Ihnen Ihre Gefühle nicht erlaubt.« Sie schimpft weiter: »Sie haben anscheinend vergessen, dass es Zeiten gegeben hat, wo ich sehr wohl mit Ihnen Analyse gemacht habe. Aber ich habe das nicht vergessen!«
Am Montag bringt sie einen Umschlag mit ins Zimmer. Sie habe es sich gründlich überlegt. Sie möchte ihre Analyse schon zu Ende machen, aber mit einem anderen Analytiker, mit jemandem, mit dem sie über die Probleme, die sie mit mir habe, reden könne. Sie möchte mir diesen Brief geben, in dem sie mir alles sorgfältig erklärt, und sie möchte eine Liste von Analytikern von mir bekommen, zu denen sie hingehen könnte. Sie würde das Setting auch bestimmt einhalten, das verspreche sie, sie würde den Rahmen nicht verletzen.
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Ich sage, dass es eher darum gehe, wie der Rahmen sie verletzt, und nicht umgekehrt. Sie meint: »Aber ich habe Sie so gewaltig hasserfüllt und wütend gemacht. Es kann mir nicht gut gehen, denn meine Analytikerin hasst mich so sehr und nimmt mir so viel übel – wegen der ganzen Schäden in all den Jahren!« Ich sage: »Sie denken, ich nehme es Ihnen übel, wenn Sie Schwierigkeiten mit dem Setting haben.« Sie: »Ja eben, genau das meine ich auch – der Druck, den ich hier offensichtlich auf Sie ausübe, meine ganzen manipulativen Manöver – Sie hatten recht, als Sie sagten, ich verstehe Sie nicht. Ich habe alles in diesem Brief hier aufgeschrieben und möchte, dass Sie ihn lesen – oder ich könnte ihn hier auch vorlesen.« Ich: »Sie haben das Gefühl, Sie können es mir nicht sagen und es mit mir besprechen.« Sie: »Nein, ich kann’s auch nicht.«
Wir versuchen uns dann zu verständigen und stellen erst einmal fest, dass ich sie falsch verstanden habe, als sie auf meine Frage wegen der Blumen mit »Nein« antwortete. Ich sage, dass ich trotzdem nach wie vor finde, dass es ein großes Problem mit dem Rahmen gibt, und sie redet weiter über meinen Hass auf sie, der während der Jahre so zugenommen habe. Ich sage: »Es fühlte sich für Sie so an, als sei ich so voller Hass und als ob ich Sie verprügelte.« Sie: »Ich fühlte mich von Ihnen so attackiert. Ich konnte es kaum nach Hause schaffen, mir war danach so übel. Ich musste mich übergeben, sobald ich, endlich zuhause angekommen, durch die Tür kam. Dann träumte ich Freitag Nacht: Ich wurde verfolgt, sollte umgebracht werden. Ich war in einem Haus, und ein Wagen fuhr neben das Haus und parkte und jemand kam herein. Wer es auch immer war, er wollte mich kriegen. Ich flüchtete aus dem Haus und rannte über das Feld. Ich fragte jemanden, ob es dort drüben ein Polizeirevier gäbe – Ja, war die Antwort – und ich rannte dort hin, aber jemand war mir dicht auf den Fersen, und ich
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wusste nicht, ob ich es schaffen würde, und es war alles sehr, sehr beängstigend.« Ich sage: »Sie sagten, Sie fühlten sich von mir attackiert.« Sie: »Ja, das stimmt.« Ich: »Nun wollte ich Ihnen genau das am Freitag sagen – dass Sie sich von mir, von meinem Rahmen hier angriffen fühlen. Aber ich glaube, Sie hörten mich so was Ähnliches sagen wie: ›Sie machen alles falsch! Sie machen alles nicht nach meinen Regeln. Sie sind respektlos, geradezu unverschämt! Und Sie versuchen, mich zu manipulieren, und ich nehme es Ihnen übel, ich hasse Sie sogar dafür. Sie kommen so lange hierher und haben immer noch nicht gelernt, es richtig zu machen! Ich hasse Sie dafür!‹« Sie sagt: »Ja, genau. Das ist, was ich von Ihnen hörte, ja.« Sie schweigt etwa fünf Minuten ganz ruhig.
Die Stunde verläuft weiter in diesem Sinne. Die Patientin will mir den Brief zum Schluss doch noch geben. Ich sage: »Es ist wichtig, dass wir uns so auseinandersetzen, bis Sie das Gefühl haben, Sie können mir alles sagen. Das ist viel wichtiger.« Sie: »Ich hatte heute schon das Gefühl, das ich hier Einiges davon sagen konnte. Vielleicht können wir morgen daran noch weiterarbeiten.«
■ Diskussion An solche Äußerungen wie den Ausbruch meiner Patientin – »Dann räume ich Ihnen meine Gefühle aus dem Weg! Ich werde sie einfach vernichten. Mein Problem ist, dass ich mich in Sie verliebt habe. Das war ganz falsch!« – musste ich denken, als ich bei Freud las, dass es sich um »mehr als eine Verdrängung« handele und eher »einer Zerstörung und Aufhebung des Komplexes« komme (Freud, 1924, S. 399).
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Ich stelle mir vor, dass Freud auch der Meinung gewesen wäre, dass dieses Über-Ich meiner Patientin eine pathologische Qualität besitzt. Da er weiter schreibt: »Es liegt nahe anzunehmen, dass wir hier auf die niemals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalem und Pathologischem gestoßen sind« (Freud, 1924, S. 399), stelle ich mir auch vor, dass er es bei seiner Beschreibung selbst schwer hatte, das Pathologische vom Normalen abzugrenzen. Schon früher, in »Trauer und Melancholie«, beschrieb Freud die Entstehung des Über-Ich aus einer anderen Perspektive, in der »sich ein Teil des Ichs dem anderen gegenüberstellt, es kritisch wertet, es gleichsam zum Objekt nimmt« (Freud, 1917, S. 433). Hier handelt es sich um eine pathologische Identifizierung mit einem geliebten Objekt, das zwar aufgegeben werden muss, jedoch nicht aufgegeben werden kann, und durch den projizierten Hass in ein pathologisches, grausames Über-Ich verwandelt wird. Freud schreibt: »Hat sich die Liebe zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann, während das Objekt selbst aufgegeben wird, in die narzißtische Identifizierung geflüchtet, so betätigt sich an diesem Ersatzobjekt der Hass, indem er es beschimpft, erniedrigt, leiden macht und an diesem Leiden eine sadistische Befriedigung gewinnt. Die unzweifelhaft genussreiche Selbstquälerei der Melancholie bedeutet ganz wie das entsprechende Phänomen der Zwangsneurose die Befriedigung von sadistischen und Hasstendenzen, die einem Objekt gelten und auf diesem Wege eine Wendung gegen die eigene Person erfahren haben. Bei beiden Affektionen pflegt es den Kranken noch zu gelingen, auf dem Umweg über die Selbstbestrafung Rache an den ursprünglichen Objekten zu nehmen und ihre Lieben durch Vermittlung des Krankseins zu quälen, nachdem sie sich in die Krankheit begeben haben, um ihnen ihre Feindseligkeit nicht direkt zeigen zu müssen« (Freud, 1917, S. 438).
Diese Beschreibung würde gut passen zu meiner Patientin und zu dem beschriebenen sadomasochistischen Beziehungsmodus in der Übertragung. Klein (1958) greift diese Auffassung Freuds bezüglich der ÜberIch-Entwicklung zustimmend auf – nämlich seine Theorie, dass das Ich sich selbst spaltet und ein Teil dem anderen gegenüber stellt, als auch die Idee, dass das Über-Ich zum Teil aus Aspekten
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der introjizierten Eltern besteht. Sie akzeptiert aber nicht seine Theorie, dass das Über-Ich das Erbe des Ödipuskomplexes sei: »Im Gegensatz zu Freud bin ich aber der Ansicht, dass die Introjektionsprozesse, die der Über-Ich-Bildung zugrunde liegen, bereits zum Zeitpunkt der Geburt einsetzen. Das Über-Ich geht dem Beginn des Ödipuskomplexes, dessen Anfänge ich ebenso wie das Auftauchen der depressiven Position auf das zweite Viertel des ersten Lebensjahres datiere, um einige Monate voraus. Die frühe Introjektion der guten und bösen Brust schafft somit die Grundlage für das Über-Ich und beeinflusst die Entwicklung des Ödipuskomplexes. Diese Konzeption der Über-Ich-Bildung steht im Widerspruch zu Freuds ausdrücklichen Erklärungen, dass die Identifizierungen mit den Eltern ›Erbe‹ des Ödipuskomplexes seien und erst nach dessen Bewältigung erfolgten […] Ich betrachte die Spaltung des Ichs, die das Über-Ich entstehen lässt, als Folge eines durch die Polarität der beiden Triebe hervorgerufenen Konfliktes im Ich. Verstärkt wird dieser Konflikt durch die Projektion der Triebe sowie durch die nachfolgende Introjektion guter und böser Objekte. Unterstützt durch das internalisierte gute Objekt und gestärkt durch seine Identifizierung mit ihm, projiziert das Ich einen Teil des Todestriebs in jenen Teil seiner selbst, den es abgespalten hat – und der so zum Gegenpart des übrigen Ichs wird und die Grundlage des Über-Ichs bildet« (Klein, 1958, S. 377 f.).
Klein erklärt weiter, wie sowohl gute als auch böse Objekte abgespalten werden, um Teil des Über-Ich zu werden. Mit der Entwicklung und fortlaufenden Integration »wird der Todestrieb in einem gewissen Umfang vom Über-Ich gebunden. Das Über-Ich wird, wenn die Entwicklung gut verläuft, bis zu einem gewissen Grad als hilfreich empfunden und operiert nicht als überstrenges Gewissen« (Klein, 1958, S. 378 f.). Mit der Zeit und mit der Hilfe von guten Objekten der Außenwelt wird also das ursprünglich archaische Über-Ich milder, freundlicher und den realen Elternfiguren ähnlicher. Es ist dann dieses freundliche und hilfreiche Über-Ich, das dem Kind in seinen enttäuschenden ödipalen Erfahrungen beisteht. Dennoch meint Klein in dieser Arbeit, dass es manche »extrem gefährlichen Objekte« gibt, die »abgespalten […] und in tiefere Schichten des Unbewussten verbannt« werden (Klein, 1958, S. 379 f.). Diese monströsen Gestalten werden nicht in das hilfrei-
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che Über-Ich integriert, sondern bleiben in der Tiefe des Unbewussten, von wo aus sie aber weiterhin wirksam sind. Sie werden weder in das Ich noch in das Über-Ich integriert, sondern bleiben abgespalten, unmodifiziert und monströs. Ich denke, dass das mörderische Über-Ich meiner Patientin ein solches »extrem gefährliches Objekt« ist, das zum Teil unverändert bleibt. Obwohl ihr archaisches Über-Ich während der Analyse zum großen Teil modifiziert worden ist, bleibt ein gefährliches Objekt, das sie bedroht, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Auch wenn ein Rest des archaischen Über-Ich bleibt, kann das modifizierte ÜberIch der Patientin helfen, mit ihm besser zurechtzukommen. Deshalb suchte sie im Traum das Polizeirevier als benignes Über-Ich auf, um Hilfe gegen den mörderischen Verfolger zu bekommen. Ich stelle mir vor, dass meine Patientin wenig Hilfe von ihren Eltern bei der Modifizierung ihres archaisches Über-Ich bekam. Das Wort »Hass« war verboten und Projektionen von Aggressionen wurden nicht aufgenommen, sondern trafen auf eine Granitmauer eiskalten Schweigens oder den Befehl, sich in die Isolation ihres Zimmers zurückzuziehen. Ich stelle mir vor, dass sich meine Patientin als Säugling missverstanden und vom Rückzug des Primärobjekts, das ihre Projektionen zurückwies, gewaltsam attackiert fühlte. Solche Attacken verstärkten ihren Hass und dadurch auch ihr Bedürfnis, den Hass in ein Containment bietendes Objekt zu projizieren. Als Kleinkind pflegte meine Patientin ihren Kinderwagen den langen Gang entlang zu schieben, bis er gegen die Wand stieß. Wenn sie nicht weiterkam, schrie sie verzweifelt und schlug wiederholt mit ihrem Kopf gegen den harten Boden. Ich denke, dass sie damit die unbewusste Phantasie von der Interaktion mit einem – nach Bion (1958) – »blockierenden Objekt« agierte. Bion meint, dass solche Interaktionen mit einem blockierendem Primärobjekt zu einem pathologischen Über-Ich führen: »Kennzeichnend für diese Katastrophe ist die Etablierung eines archaischen Über-Ich, das den Gebrauch der projektiven Identifizierung verbietet« (Bion 1958, S. 146). Die gleiche unbewusste Phantasie wurde in den hier vorgestellten Sitzungen agiert. Ich habe die Patientin missverstanden. Sie erlebte nicht nur, dass ich sie nicht aufgenommen hatte, sondern – noch schlimmer – dass ich sie sogar brutal attackiert hatte. Sie
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wurde dadurch gezwungen, die giftige Aggression wieder zu sich zu nehmen und konnte sie erst nach der Stunde mittels Erbrechen wieder loswerden. Für sie war ich ein grausames, blockierendes Objekt. Es ist für die Analytikerin nun sehr schwierig, der Patientin zu helfen, ihre Phantasie, die in der Übertragungsbeziehung agiert wird, als Teil ihrer inneren Welt zu erkennen. Dies kann nur stattfinden, indem die Analytikerin die Phantasie mit Worten beschreibt – nach Freud heißt es, dass die Sachvorstellungen mit den Wortvorstellungen verknüpft und so dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden. Diese Aufgabe ist aber deshalb so schwierig, weil die Patientin die Deutungen als Verfolgung erlebt: Es liege alles an ihr, es sei alles ihre Phantasie und sie sei an allem schuld. Sobald die Spaltung in der Stunde angesprochen wird, wird wieder das missverstehende, attackierende Primärobjekt – nun eben in der Übertragung – erlebt.
■ Fortsetzung der Fallbeschreibung Ich möchte nun einiges aus einer Freitagsstunde drei Wochen später wiedergeben, um zu zeigen, wie dieses Problem sich weiter entwickelte. In der Stunde am Tag zuvor hatte ich der Patientin gedeutet, dass die Anna Fuchs eigentlich jemand sei, mit der sie zurechtkommen müsse, denn sie wohne schließlich in ihr, sei quasi immer da, gerade um die Ecke. Es war ein Versuch meinerseits, der Patientin bewusst zu machen, dass es sich um ihre eigene Phantasie handelt. In die Freitagsstunde kommt sie dann schwer erkältet. Sie berichtet zunächst ganz detailliert darüber, wie ihr bei der Arbeit ein Fehler unterlaufen sei und ihre Vorgesetzte sie ertappt habe: »Sie sind eine furchtbare Frau!«, habe die Vorgesetzte geschrieen und habe nicht aufgehört, sie zu traktieren. »Sehen Sie?« meint meine Patientin; »Es passiert da draußen wirklich!« Ich sage: »Das ist wahr. Und manchmal passiert es auch wirklich hier.«
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»Ja, das stimmt.« Ich: »Und im Moment können wir darüber reden, weil es da draußen ist und nicht hier. Wenn es hier ist, haben wir es schwer, darüber zu reden.«
Sie stimmt dem zu und wir versuchen festzustellen, warum das so ist. Sie redet von der »vergifteten Situation hier« und wie verzweifelt, hoffnungslos und elend sie sich dabei fühle. Ich sage, dass sie sich dabei nur vorstellen könne, dass ein anderer Analytiker dann helfen könnte. Sie sagt: »Genau, ich dachte vor kurzem, ich müsste das tun – obwohl ich heilfroh war, dass ich das nicht tun musste – aber wenn das hier passiert, ist alles vorbei. Das war‘s. Ich kann nichts ändern.« Ich sage: »Da ist auch keine Verzeihung.« Sie: »Nein … (paar Minuten Schweigen) … da haben Sie aber etwas ganz Wichtiges gesagt. Da ist dann nie, nirgends, die Möglichkeit einer Verzeihung. Und dann weiß ich gar nicht, was ich tun könnte. Ich versuche dann, nicht zu lange am Anfang der Stunde zu sitzen, versuche Sie nicht anzuschauen, versuche alles zu vermeiden, was Sie ärgern könnte.«
Ich beschreibe, wie das Giftige trotzdem kommuniziert werde und nicht durch konkrete Handlungen aufgehalten werden kann. Sie sagt: »Und Sie sind dann auch giftig!« Ich: »Sicher. Ich glaube, als ich Ihnen gestern sagte, dass die Anna Fuchs in Ihnen wohnt, machte es Ihnen Angst. Sie wussten dann gar nicht, was Sie mit all dem Gift machen sollten, das auf einmal anscheinend nur Ihr Problem sein soll. Und ich glaube auch, dass es das Gift war, was Sie krank gemacht hat.« Sie: »Ja, genauso fühlt es sich an, obwohl ich gleichzeitig weiß, dass Sie es nicht so meinen. Es fühlt sich so an, als ob es gar nichts in mir gibt, was überhaupt gut ist. Und ich weiß nicht, was ich machen kann.« Ich: »Und den Regeln folgen hilft auch nicht. Sie müssen immer noch mit einer Anna Fuchs umgehen, die sehr verärgert ist.«
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Sie: »Und die mich hasst. Und ich habe ihren Hass verursacht! Ich verursache auch, dass Sie mich hassen, und das ist das Allerletzte was ich will!« Ich: »Wenn ich sagen würde, dass das Gift nicht in Ihnen ist …« Sie unterbricht mich: »Ich würde es Ihnen gar nicht glauben. Das wäre unecht. Es ist schon mein Problem. Ich weiß nur nicht, wie ich damit umgehen soll.«
■ Fortsetzung der Diskussion In dieser Stunde war es also eher möglich, eine aufdeckende Arbeit zu leisten und unsere Situation nicht nur konkret zu aktualisieren, sondern auch auf einer symbolischen Ebene zu besprechen und zu durchdenken. Ein ähnlicher klinischer Verlauf wie in diesen Stunden wiederholte sich oft im Sinne des Durcharbeitens. Die Hoffnung in dieser Analyse ist, dass die Patientin mit der Zeit die hilfreiche Analytikerin – diejenige, die auch die Projektion ihres grausamen Über-Ichs aufgenommen hat – internalisieren und in ihr Über-Ich integrieren kann. Fortschritte in der Modifizierung ihres Über-Ich sind schon zu erkennen: Es gelingt ihr besser, gute und verbindliche soziale Kontakte herzustellen; sie kann sich eher gegenüber Vorgesetzten behaupten und sie hat außerdem die meisten disziplinarischen Probleme mit ihren Schülern überwunden. Eine große Aufgabe steht uns jedoch noch bevor: die Beendigung der Analyse. Am Anfang der Behandlung war gar nicht daran zu denken, geschweige denn auszusprechen, dass die Analyse eines Tages zu Ende gehen würde. Die Patientin lebte in der völligen Überzeugung, ihre ödipale Illusion sei endlich erfüllt: Die Beziehung zu mir wäre für immer. Es dauerte lange, bis der Gedanke, dass eine Analyse eines Tages zu Ende geht, zumindest in der Luft liegen konnte, wenn er auch nicht auszusprechen war. Jahre vergingen, bis die Patientin folgende Idee einbringen konnte: Wenn die Analytikerin so grausam wäre, die Behandlung zu einem absoluten Abschluss zu bringen, wie sollte die Patientin überhaupt
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noch bei ihr in Analyse bleiben? Langsam wurde die Beendigung der Analyse, die von Anfang an ein Hauptproblem war, auch zum Hauptthema in den Stunden. Das grausame Über-Ich ist nun zum erbarmungslosen Henker geworden, der den Kontakt auf absolute Art und Weise abschneiden wird. Es handelt sich erneut um die Aktualisierung der unbewussten Phantasie von jenem blockierenden Objekt. Der Termin für die Beendigung der Analyse ist schon ausgemacht, wir stehen am Ende des Gangs und sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie den Kinderwagen nicht weiter schieben kann. Nach meinem Verständnis repräsentiert das Beendigungsproblem die Schwierigkeiten der ödipalen Situation. Wird sie in der Lage sein, mich loszulassen und die Tatsache zu akzeptieren, dass sie nicht in alle Ewigkeit bei mir bleiben kann? Wird sie ihre libidinösen Wünsche behalten können und sie nicht absolut vernichten müssen? Hat sie genug Containment für ihre monströsen Objekte bekommen und mich als helfendes Objekt so weit internalisiert, dass sie sich selbst nach dem Abschied von mir helfen lassen kann? Sie fürchtet, sie könne es nicht. Ich glaube, sie kann es doch. Wegen des ödipalen Verzichts und der Trauerarbeit, die in der depressiven Position vollbracht werden müssen, braucht ein Mensch den Beistand eines hilfreichen Über-Ich, das die trianguläre Situation menschlich vertritt und vermittelt. Es handelt sich dabei nicht um das Einhalten eines moralischen Verbots, sondern um die schmerzliche Anerkennung der Realitätsgrenzen. Das grausame Über-Ich ist eine vernichtende archaische Figur, die keinen Ödipuskomplex, keine ödipalen Wünsche, aber letztlich auch keine ödipale Triangulierung duldet. Es verhindert die Symbolisierungsfähigkeit des Ich, statt sie zu fördern. Deshalb kann dieses Über-Ich auf keinen Fall das Erbe des Ödipuskomplexes sein.
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■ Literatur Bion, W. (1958). On Arrogance. International Journal of Psychoanalysis, 39, 144-146. Britton, R. (1998). Belief and Imagination. London (Dt.: Glaube, Phantasie und psychische Realität. Stuttgart, 2001). Freud, S. (1915). Das Unbewußte. Gesammelte Werke. Bd. X. Frankfurt a. M. Freud, S. (1917). Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke. Bd. X. Frankfurt a. M. Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. Gesammelte Werke. Bd. XIII. Frankfurt a. M. Freud, S. (1924). Der Untergang des Ödipuskomplexes. Gesammelte Werke. Bd. XIII. Frankfurt a. M. Freud, S. (1925). Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds. Gesammelte Werke. Bd. XIV. Frankfurt a. M. Klein, M. (1958/1975). The development of mental functioning. In Klein, M., The Writings of Melanie Klein. Vol III. London (Dt.: Zur Entwicklung psychischen Funktionierens. In M. Klein, Gesammelte Schriften. Bd. III. Stuttgart, 2000). Dieser Vortrag ist eine veränderte Version einer Arbeit des gleichen Titels in: Wellendorf, F., Werner, H. (Hrsg.) (2005). Das Erbe des Ödipus (S. 178-198). Tübingen.
■ Tilmann Habermas
Freuds Ratschläge zur Einleitung der Behandlung Eine narratologische Interpretation der Wirkweise der psychoanalytischen Situation
Sigmund Freud fand das psychoanalytische Setting durch Versuch und Irrtum. Es entstand über 15 Jahre hinweg und verleugnet seine Ursprünge in der Anordnung eines wissenschaftlichen Experiments und in der Hypnose nicht (Mayer, 2002). Ausgehend von den beiden technischen Schriften, in denen Freud das Setting bestimmt, die »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung« (1912) und »Zur Einleitung der Behandlung« (1913), möchte ich die These vertreten, dass das psychoanalytische Setting weiterhin als ein wirksames Instrument des gemeinsamen Erkennens angesehen wird, obwohl seine Begründungen sich gewandelt haben. Diese These werde ich in drei Schritten untermauern. − Zuerst rekonstruiere ich Freuds eigene Bestimmung und Begründungen des Settings. − Sodann werde ich zwar nicht die historische Entwicklung der Begründungen des Settings kontinuierlich weiterverfolgen, aber doch einige gegenwärtige Begründungen anführen, um die historische Distanz der Deutung und zugleich scheinbare Invarianz des Settings zu verdeutlichen. − Schließlich werde ich als Beispiel für eine nicht-psychoanalytische Reinterpretation des Settings versuchen zu erklären, wie das Setting das Erzählen von Geschichten erst einmal erschwert, um es dann zu erleichtern. Dabei werde ich einige wichtige Fragen an das Setting ausklammern: − Einmal werde ich die Frage nach der therapeutischen Effizienz des Settings nicht im Vergleich mit anderen Therapiesettings und nicht unter Rekurs auf empirische Studien stellen, son-
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dern lediglich die Situation selbst auf einzelne wahrscheinliche Wirkmechanismen hin analysieren. − Auch werde ich die Frage der Indikation beiseite lassen, also für welche Patienten und welche Zielsetzungen das psychoanalytische Setting im Vergleich mit anderen geeignet ist. Dazu gehören auch die Überlegungen, wie das Setting zu modifizieren sei, um bestimmten Patienten besser zu helfen. − Und ich werde nicht gezielt auf die Modi des Intervenierens der Analytikerin eingehen, und den psychoanalytischen Prozess werde ich primär als Resultat des psychoanalytischen Settings behandeln. Wiewohl die fünf behandlungstechnischen Schriften, die Freud in den Jahren 1911 bis 1915 veröffentlichte, zu seinen kleineren und unsystematischen Arbeiten gehören, stellen sie doch seinen systematischsten Versuch dar, die psychoanalytische Methode zu beschreiben. Die fünf Schriften hängen untereinander nur lose zusammen, und auch innerhalb der beiden hier diskutierten Schriften finden sich eher Aufzählungen denn entwickelte Argumente. Das sieht man besonders am Aufbau der »Ratschläge für den Arzt« (1912), die in neun Punkte von a) bis i) durchgegliedert sind. Diese vergleichsweise geringe und unsystematische Berücksichtigung der psychoanalytischen Methode in Freuds Schriften mag zum einen auf ein Zögern Freuds hinweisen, seine Methode einer breiten Öffentlichkeit und damit auch seinen prospektiven Patienten zu enthüllen, wie in den editorischen Bemerkungen der Standard Edition vermerkt wird. Dieses Motiv mag auch noch die Herausgeber der deutschen Studienausgabe bewogen haben, Schriften zur psychoanalytischen Methode ursprünglich nicht mit veröffentlichen zu wollen; erst drei Jahre später wurden sie in einem Extraband nachgereicht. Zum anderen weist die geringe Stringenz der Schriften zur Methode darauf hin, dass Freud diesen Bereich nicht durchgehend theoretisiert hat, sondern mehr an den Resultaten der Methode als an ihr selbst interessiert war. Das ist in der aktuellen Psychoanalyse anders, da wir uns inzwischen mehr mit der Methode selbst als mit den durch sie erzielten theoretischen Erkenntnissen beschäftigen. Was also gehört zum analytischen Setting oder Rahmen? Freud
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unterschied einen als unveränderlich gedachten Rahmen sowie einen durch ihn geförderten und durch die Neurose in Gang gesetzten Prozess von den Interventionen, pauschal häufig als Deutungen bezeichnet. Bereits in dieser Grundkonzeption der Psychoanalyse fällt die Analogie zum Experiment auf, mit den konstant zu haltenden Randbedingungen, den Interventionen des Experimentators als unabhängiger Variable und dem so hervorgerufenen Prozess als der abhängigen Variable.
■ Das Setting und Freuds Begründungen Das Setting oder der Rahmen besteht weitgehend aus einer Reihe von Regeln, wie Freud sie nennt, also Handlungsanweisungen. Nur in einer Hinsicht ist der Rahmen tatsächlich ein räumliches Gebilde, nämlich wenn es um den Behandlungsraum geht. Freud führt die Regeln des Settings in der Schrift »Zur Einleitung der Behandlung« (1913) mit einer Schachmetapher ein: »Wer das edle Schachspiel aus Büchern erlernen will, der wird bald erfahren, dass nur die Eröffnungen und Endspiele eine erschöpfende systematische Darstellung gestatten, während die unübersehbare Mannigfaltigkeit der nach der Eröffnung beginnenden Spiele sich einer solchen versagt« (Freud, 1913, S. 454). Der Vergleich mit dem Schachspiel erinnert zuerst an John Searles (1969) Verwendung der Schachregeln als Beispiel für konstitutive Regeln, die etwas, hier das Schachspiel, überhaupt erst definieren und damit ermöglichen. Das würde der Metapher des Rahmens und der Metapher des Settings entsprechen, die etwas in ihrer Mitte Entstehendes erst ermöglichen. Doch genau besehen spricht Freud nicht von den Schachregeln, sondern von der Kunst des Spielens, also von Spielstrategie. »Es sind Bestimmungen darunter, die kleinlich erscheinen mögen und es wohl auch sind. Zu ihrer Entschuldigung diene, dass es eben Spielregeln sind, die ihre Bedeutung aus dem Zusammenhang des Spielplans schöpfen müssen. Ich tue aber gut daran, diese Regeln als ›Ratschläge‹ auszugeben und keine unbedingte Verbindlichkeit für sie zu beanspruchen« (Freud, 1913, S. 454).
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Freud stuft seine Spielregeln also zu Spielstrategien herab. Diese Bemerkungen warnen uns, Freuds Regeln nicht als festen Rahmen zu verstehen, sondern zu realisieren, dass das, was als Rahmen gilt, variabel sein mag und Opportunitätsüberlegungen untergeordnet wird. Dennoch möchte ich an den Metaphern des Rahmens und des Settings festhalten, die zumindest als Idealtypus bestimmen mögen, was als psychoanalytische Situation zu verstehen sei, in der erst ein analytischer Prozess sich entwickeln mag. Freud führt drei Arten von Begründungen für seine Behandlungsregeln an: moralisch-ethische, also über die spezielle Behandlungsform hinausgehende allgemeine Erwägungen, therapeutische Begründungen, die auf eine Erhöhung der Effizienz der Therapie zielen, und pragmatische, im Interesse des Analytikers liegende Gründe. Ich habe diesen idealtypischen Rahmen in drei Aspekte unterteilt, nämlich erstens den äußeren Rahmen der raumzeitlichen Aspekte, dann den inneren Rahmen der Kommunikationsregeln, nämlich die Grundregel und die gleichschwebende Aufmerksamkeit, sowie den inneren Rahmen des Interaktionsverbots.
■ Der äußere Rahmen: Geld, Zeit und Raum Freud empfiehlt, von Anfang an den Preis der Behandlung zu nennen und auch regelmäßig in Rechnung zu stellen, eine offensichtlich von der damals geläufigen Praxis abweichende Empfehlung. Freud führt zwei Gründe ins Feld. Einmal lassen die Würde des Arztes und seine Ethik nicht zu, dass er »seine wirklichen Ansprüche und Bedürfnisse« verleugne, hinten herum aber über die knickrigen Patienten schimpfe. Zum anderen möge der Analytiker dem Patienten ein Vorbild an Aufrichtigkeit sein, denn die Zwiespältigkeit, Prüderie und Heuchelei seien in der Gesellschaft gegenüber dem Geld ähnlich ausgeprägt wie gegenüber der Sexualität, da Geld auch eine sexuelle Bedeutung zukomme. Freud begründet die Offenheit in finanziellen Forderungen einmal mit einer allgemeinen Ethik der Aufrichtigkeit, zum anderen therapeutisch: Dem Patienten solle von Beginn an die angestrebte Offenheit im Sprechen über eigene Bedürfnisse vorgelebt werden. Ein dritter Grund schwingt in der Empfehlung mit, regelmäßig
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Rechnungen zu stellen, um keine zu großen Summen auflaufen zu lassen, nämlich das pragmatische Interesse daran, dass Patienten auch wirklich ihre Stunden bezahlen. Seine zweite Empfehlung lautet, immer ein Honorar zu verlangen und nie gratis zu behandeln. Einem Grund für Gratisbehandlung, nämlich Kollegialität im kostenlosen gegenseitigen Behandeln unter Ärzten, begegnet er mit dem enormen Aufwand für eine psychoanalytische Behandlung, die ihn ein Achtel, bei zwei Gratisbehandlungen schon ein Viertel seines Einkommens koste. Außerdem berichtet er, in der Vergangenheit von sich aus gratis behandelt zu haben in der Hoffnung, damit den Widerstand der Patienten zu senken und so bei seinen Forschungen schneller vorwärts zu kommen. Doch da habe er sich getäuscht, denn die Gratisbehandlung habe den Widerstand erst recht verstärkt. Denn das Interesse und die Großzügigkeit des Analytikers mögen auf eine Patientin verführerisch wirken und bei einem jungen Patienten das Gefühl hervorrufen, einer Vaterfigur dankbar sein zu müssen – beides ängstigt und ruft Widerstand hervor. »Der Wegfall der Regulierung, die doch durch die Bezahlung an den Arzt gegeben ist, macht sich sehr peinlich fühlbar; das ganze Verhältnis rückt aus der realen Welt heraus« (Freud, 1913, S. 465). Schließlich rät Freud, Honorar nicht für erbrachte Leistungen, sondern für das Vermieten festgelegter Stunden zu verlangen, ob der Patient sie nun in Anspruch nimmt oder auch nicht. Erneut begründet er die Regel erst einmal mit den finanziellen Interessen des Analytikers, dem sonst zu viele Stunden abgesagt würden, die er nicht anderweitig zum Geldverdienen verwenden könne. Sodann begründet er die Regel therapeutisch, denn ohne diese Regel komme es gerade dann, wenn schwierige Themen anstünden, zu gehäuften Stundenausfällen, so dass die heiklen und damit wichtigen Punkte in der Analyse nicht besprochen werden können. Auch zeitlich solle die Analyse einen festen Rahmen haben, jedenfalls was die Häufigkeit und was die Dauer der einzelnen Stunden betrifft. Die Behandlung sei täglich, und das hieß damals sechs Mal in der Woche außer sonntags durchzuführen. Freud führt zwei therapeutische Begründungen an. Einmal bestünde sonst die Gefahr, »mit dem realen Erleben des Patienten nicht Schritt halten zu können«, so dass man nur mehr aus einer Dis-
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tanz vom Leben des Patienten spreche, aber nicht mehr über das, was ihm gerade unter den Nägeln brenne. Zum anderen werde die »Arbeit verschüttet«; bereits nach der kurzen sonntäglichen Pause entstehe eine »Montagskruste«. Dieselbe Begründung führt Freud dafür an, manchen Patienten mehr als eine Stunde Zeit pro Sitzung einzuräumen, da sie länger dafür bräuchten »aufzutauen«. Schließlich begründet er die lange und unabsehbare Dauer der Therapie, die halbe oder ganze Jahre dauern könne, wiederum therapeutisch, nämlich mit ihrer Prozesshaftigkeit. Der Analytiker könne helfen, den Prozess in Gang zu setzen, aber er könne ihn nicht steuern oder gar vollenden. Für die räumliche Gestaltung der Behandlung empfiehlt Freud, ein wenig defensiv klingend, den Gebrauch der Couch. »Noch ein Wort über ein gewisses Zeremoniell der Situation, in welcher die Kur durchgeführt wird. Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebett lagern zu lassen, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt« (Freud, 1913, S. 193). Freud erklärt dieses räumliche Arrangement als einen Rest der hypnotischen Behandlung, begründet es aber nicht mit seiner entspannenden, zum Träumen einladenden Wirkung, sondern erst einmal mit einer persönlichen Vorliebe: »Ich vertrage es nicht, acht Stunden täglich (oder länger) von anderen angestarrt zu werden« (Freud, 1913, S. 467). Doch diese pragmatische Begründung verwandelt er im nächsten Satz in eine therapeutische: »Da ich mich während des Zuhörens selbst dem Ablauf meiner unbewussten Gedanken überlasse, will ich nicht, dass meine Mienen dem Patienten Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen« (Freud, 1913, S. 467). Das räumliche Arrangement soll es also beiden Beteiligten erlauben, sich von der mimischen Realität des Anderen und der durch diese nahe gelegten Kontrolle des Gesichtsausdrucks wie der Gefühle und Gedanken abzuwenden und sich den eigenen Gedanken zuzuwenden. Der Zugang zum Unbewussten wird erleichtert durch eine Verminderung der sozialen Kontrolle, die über die Mimik ausgeübt wird. Seitens des Patienten soll dieses Abkoppeln seiner Tendenzen von den Reaktionen des Analytikers helfen, die »Übertragung zu isolieren« und erkennbar werden zu
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lassen. Äußerungen des Patienten könnten dann allein auf den Patienten und nicht auf Reaktionen des Analytikers zurückgeführt und entsprechend gedeutet werden. Der Analytiker soll zum stabilen, unveränderten Rahmen gehören, zu den Randbedingungen, auf die einzelne Reaktionen des Patienten nicht zurückzuführen sein sollen. Vielmehr werden Verhalten und Erleben des Patienten als Variable isoliert und auf das vermeintlich einzig Variable innerhalb dieses Rahmens, das Unbewusste des Patienten, zurückgeführt. Dann warnt Freud den Analytiker, dass dieses Arrangement den Widerstand des Patienten hervorrufen werde, da er die Situation als Entbehrung erlebe, und zwar insbesondere als Frustration des voyeuristischen Schautriebes. Eine vom Analytiker nicht direkt zu unterbindende Form des Widerstandes ist, zu Beginn und am Ende der Behandlung, im Stehen, einige Worte zu wechseln. »Sie teilen sich so die Behandlung in einen offiziellen Abschnitt, während dessen sie sich meist sehr gehemmt benehmen, und in einen ›gemütlichen‹, in dem sie wirklich frei sprechen und allerlei mitteilen, was sie selbst nicht zur Behandlung rechnen. Der Arzt lässt sich diese Scheidung nicht lange gefallen, er merkt auf das vor oder nach der Sitzung Gesprochene, und indem er es bei nächster Gelegenheit verwendet, reißt er die Scheidewand nieder, die der Patient aufrichten wollte« (Freud, 1913, S. 473). Freud empfiehlt also, den Widerstand erst zu dulden, dann aber zu überwinden. Wenn wir Freuds bisherige Begründungen des Settings zusammenfassen, kommen wir neben moralisch-ethischen und pragmatischen Überlegungen im Eigeninteresse des Analytikers zu folgenden therapeutischen Zielen, die als Begründungen dienen: − Unbewusstes bewusst machen; − Widerstand gegen Bewusstmachen überwinden; − Isolieren von Tendenzen des Patienten von allen aktuellen Umwelteinflüssen im Sinne eines Isolierens von Variablen.
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■ Der innere Rahmen oder die Kommunikationsregeln: Grundregel, gleichschwebende Aufmerksamkeit und Anonymität Diese drei Begründungen werden wir in der Folge bei der Erörterung weiterer Elemente des Settings ergänzen. Eine Regel für den Patienten und eine korrespondierende Regel für den Analytiker sollen den Zugang zum Unbewussten erleichtern. Die so genannte Grundregel für den Patienten lautet in der Fassung von 1913: »Noch eines, ehe Sie beginnen. Ihre Erzählung soll sich doch in einem Punkte von einer gewöhnlichen Konversation unterscheiden. Während Sie sonst mit Recht versuchen, in Ihrer Darstellung den Faden des Zusammenhangs festzuhalten, und alle störenden Einfälle und Nebengedanken abweisen, um nicht, wie man sagt, aus dem Hundertsten ins Tausendste zu kommen, sollen Sie hier anders vorgehen. Sie werden beobachten, dass Ihnen während Ihrer Erzählung verschiedene Gedanken kommen, welche Sie mit gewissen kritischen Einwänden zurückweisen möchten. Sie werden versucht sein, sich zu sagen: Dieses oder jenes gehört nicht hierher, oder es ist ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum nicht zu sagen. Geben Sie dieser Kritik niemals nach, und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abneigung dagegen verspüren. Den Grund für diese Regel – eigentlich die einzige, die Sie befolgen sollen – werden Sie später erfahren und einsehen lernen. Sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht […] Benehmen Sie sich so, wie zum Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahnwagens sitzt und dem im Inneren Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Ansicht verändert« (Freud, 1913, S. 468). Diese Regel soll Regeln der alltäglichen Kommunikation außer Kraft setzen, die darauf zielen, dass Äußerungen möglichst nicht abschweifen, sondern zum Punkt gemacht werden, dass man Irrelevantes weglässt und sich auf das Wichtigste konzentriert, und dass sie sinnvoll sind und in verständlichem Zusammenhang stehen. Denn die Selektion und das Ordnen von Gedanken zu einem verständlichen Ganzen, zu einer Geschichte, dienen zwar der Verständigung und dem Sich-verständlich-Machen. Doch wie
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Freud (1900) schon mit dem Begriff der sekundären Bearbeitung des Traums hervorhob, kann gerade dieses Verständlichmachen von der Abwehr benutzt werden, um konflikthafte Gedanken zu kaschieren. Die Grundregel ersetzt in diesem Sinne also die Hypnose und das Stirndrücken des frühen Freud als Mittel, den Widerstand gegen das Bewusstwerden unbewusster beziehungsweise abgewehrter Gedanken und Gefühle zu schwächen. In der Grundregel verdichtet sich der Kern der Psychoanalyse, das Zergliedern alltäglichen Sinns, um die Einzelteile sinnvoller und wahrhaftiger wieder zusammensetzen zu können, wenn die ausgeblendeten Motive integriert wurden. Hier treffen wir auf Freud den Detektiv und Bastler der »Traumdeutung« und der »Psychopathologie des Alltagslebens« (vgl. Haubl u. Mertens, 1996). Aber er geht in »Zur Einleitung der Behandlung« weiter, indem er von der Technik der unmittelbaren Wunschdeutung zu der Widerstandsdeutung fortschreitet. Denn als er den Widerstand gegen die Grundregel diskutiert, empfiehlt Freud nicht mehr, den Widerstand zu umgehen oder zu beseitigen, sondern ihn als Hinweis auf einen unbewussten Konflikt zu verstehen. Aus einem Hindernis wird ein zu verstehender Hinweis auf einen unbewussten Konflikt. Hermann Argelander (1982) ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat die Grundregel neu gedeutet, nicht, wie von Freud intendiert, als Instrument zum Abbau des Widerstandes, sondern im Gegenteil als Mittel zum Verschärfen und Aktualisieren von Konflikten, da durch den Selbstoffenbarungsimperativ die Abwehr erst recht auf den Plan gerufen wird und sich in Widerständen gegen die Grundregel zeigt. Das Gegenstück zur Grundregel ist für den Analytiker die Regel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Statt des unselegierten Sprechens verlangt sie eine nicht-selektive Aufmerksamkeit: »[…] sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche gleichschwebende Aufmerksamkeit entgegenzubringen […] Soweit man nämlich seine Aufmerksamkeit bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Material auszuwählen … und folgt dabei seinen Erwartungen oder Neigungen. Gerade das darf man aber nicht, […] [denn] so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als man bereits weiß […] Man darf nicht da-
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rauf vergessen, dass man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird« (Freud, 1912, S. 377). Der Analytiker soll also auch nicht selegieren, sondern alle Wahrnehmungselemente bewahren. Schon das gezielte Sichetwas-merken-Wollen führe zur Selektivität. Gleichermaßen solle man sich weder Notizen machen noch an eine wissenschaftliche Verwertung denken. Die Scheinexaktheit von genauen Protokollen ermüde den Leser von Publikationen und ersetze dennoch nicht seine Anwesenheit bei der Sitzung. Mit derselben Begründung führt Freud den Chirurgenvergleich an, nämlich dass der Therapeut gerade wie der Chirurg »alle seine Affekte und selbst sein Mitleid beiseite drängt« und sich ganz auf das Verstehenwollen ausrichte. Als Paradebeispiel für selektiv die Wahrnehmung verzerrende Affekte nennt er den therapeutischen Ehrgeiz. Beim Analytiker strukturiert also nicht nur die theoriegetränkte Erwartung die Wahrnehmung, sondern, wie beim Patienten, auch seine eigenen Wünsche. Im Grunde genommen impliziert Freud mit der Regel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit auch die therapeutische Neutralität gegenüber den Konfliktparteien, den Handlungen und den Lebenszielen des Patienten. Der Analytiker soll nicht Partei ergreifen. Die ultimative Begründung für die gleichschwebende Aufmerksamkeit ist aber eine kommunikative. In dem Vergleich mit einem Telefonhörer begründet Freud die gleichschwebende Aufmerksamkeit mit den Notwendigkeiten unbewusster Kommunikation: »Der Analytiker soll dem gebenden Unbewussten des Kranken sein eigenes Unbewusstes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telefons zum Teller eingestellt wird. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewusste des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewussten dieses Unbewusste, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen« (Freud, 1912, S. 382). Wenn also der Patient sich bemühe, sich radikal zu offenbaren, und der Analytiker sich bemühe, auf jede Vorerwartung und jede Bewertung seiner Wahrnehmungen zu verzichten, dann ermög-
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liche dies eine Annäherung an das Unbewusste im Sprechen des Patienten und im Wahrnehmen des Analytikers. Wiewohl diese Regeln von beiden Beteiligten gleichermaßen verlangen, die alltäglichen Mechanismen der Strukturierung des Sprechens und Wahrnehmens zu unterbinden, schaffen sie doch zugleich ein radikales Ungleichgewicht in der Kommunikation, denn beim Patienten bezieht sich das Verbot der Selektion auf das Sprechen, beim Analytiker auf das Wahrnehmen. Der Patient soll alles mitteilen, der Analytiker alles hören. Entsprechend verlangt Freud vom Analytiker, nichts von sich preiszugeben. »Der Arzt soll undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird« (Freud, 1912, S. 384). Obwohl dies dem Reziprozitätsgebot der Intimitätsgewährung zuwiderlaufe, möge der Analytiker dem Patienten weder Einblick in seine eigenen seelischen Konflikte noch in sein Privatleben geben. Die alltäglichen Reziprozitätsregeln der Intimität wie auch des Fragens und Antwortens werden aufgehoben zugunsten einer radikalen Einseitigkeit: Freud begründet diese Regel damit, dass − gegenseitige Intimitäten den Widerstand des Patienten untergrüben statt ihn abzubauen, − manche Patienten unersättlich seien und dann die Rollen umkehrten, um das Seelenleben des Arztes zu analysieren statt das eigene, und − die Übertragung dann noch schwerer zu lösen sei (Freud, 1912, S. 384). Um diese ungewöhnliche Beziehung zu erleichtern, sollen Analytiker und Patient sich nicht kennen und auch während der Analyse außerhalb der Sitzungen keinen Umgang miteinander pflegen. Freud verwendet für die Begründung von Grundregel, gleichschwebender Aufmerksamkeit und Anonymität erneut die Ziele des Bewusstmachens von Unbewusstem und das Überwinden der Widerstände dagegen (Grundregel) sowie das Isolieren der Tendenzen des Patienten von denen des Analytikers (Anonymität). Er weist aber auch dem Hervorrufen des Widerstandes einen Wert zu, da er auf einen unbewussten Konflikt hinweise (Grundregel). Eine weitere Neuerung ist das Ziel, unbewusste Kommunikation und
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ihr Dechiffrieren durch den Analytiker zu ermöglichen (gleichschwebende Aufmerksamkeit). Schließlich verweist Freud auf das Ziel, die Übertragung am Ende der Behandlung aufzulösen.
■ Der innere Rahmen oder die Interaktionsregeln: Das Abstinenzgebot Schließlich empfiehlt Freud, die Behandlung in einem Zustand der Abstinenz durchzuführen. Wünsche seien systematisch zu frustrieren. Dabei geht Freud von der Annahme aus, dass Bewusstsein entstünde, wenn Befriedigung aufgeschoben und Libido angestaut würden. Erst dann ergebe sich ein Motiv, sich der eigenen Wünsche bewusst zu werden, um doch noch, mit den Mitteln des Bewusstseins, neue Wege für die Befriedigung zu finden. »Die Kur muss in der Abstinenz durchgeführt werden; ich meine damit nicht allein die körperliche Entbehrung, auch nicht die Entbehrung von allem, was man begehrt, denn dies würde vielleicht kein Kranker vertragen. Sondern ich will den Grundsatz aufstellen, dass man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehen lassen und sich hüten muss, dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen« (Freud, 1915, S. 313). Der neurotische Leidensdruck soll nicht durch Ersatzbefriedigungen entschärft, sondern für die analytische Arbeit genutzt werden. Dabei mildert Freud dieses Gebot sogleich ab – absolute Abstinenz vertrüge niemand. Was also meint Abstinenz? Der Kern des Abstinenzgebots betrifft die sexuelle Abstinenz, nämlich die Weigerung, Liebesgefühle des Patienten beziehungsweise hier der Patientin für bare Münze zu nehmen: »[…] wenn ihre Liebeswerbung Erwiderung fände, […] hätte [sie] erreicht, wonach alle Kranken in der Analyse streben, etwas zu agieren, etwas im Leben zu wiederholen, was sie nur erinnern […] soll, […] ohne dass eine Korrektur möglich […] wäre« (Freud, 1915, S. 314). Freud begründet die sexuelle Abstinenz von Analytiker und Patientin moralisch und therapeutisch. Er begründet sie moralisch, insofern die Übertragungsliebe durch die analytische Situation hervorgerufen sei, »ähnlich wie die körperliche Entblößung eines
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Kranken oder die Mitteilung eines lebenswichtigen Geheimnisses. Damit steht es für ihn [den Arzt] fest, dass er keinen persönlichen Vorteil daraus ziehen darf« (Freud, 1915, S. 318). Therapeutisch begründet er die sexuelle Abstinenz nicht nur mit den Folgen aller anderen Optionen, die die Neurose unangetastet lassen. Erneut verwandelt er ein problematisches Phänomen in ein Mittel der Erkenntnis. Dies gelingt ihm, da er den auswegslosen Alternativen entsagt, indem er von der Handlungs- auf die Reflexionsebene wechselt. So erklärt er das Phänomen, die Übertragungsliebe und auch andere Übertragungsgefühle und -gedanken, zum Widerstand gegen das Verstehen von Konflikten. Darüber hinaus erklärt er diesen Widerstand als Hinweis auf den Konflikt, fasst ihn also nicht als etwas zu Überwindendes auf, sondern als etwas zu Verstehendes. Und der berühmte Kniff Freuds besteht darin, die aktuellen Gefühle in der therapeutischen Beziehung als Fiktion, als »Als-ob«-Phänomen zu begreifen, das eigentlich eine Wiederholung historischer Konflikte sei und historisiert und damit erinnert werden müsse. Bei Freud finden sich jenseits des absolut geltenden sexuellen Abstinenzgebots keine unverrückbaren Grenzen des Abstinenzbegriffs. Er verzichtete auf Berührungen in der Stunde, wie beispielsweise den Stirndruck, ein Handhalten oder gar in den Arm nehmen, gab aber, so nehme ich an, zur Begrüßung und Verabschiedung durchaus die Hand. Es wurde nicht getrunken, aber geraucht. Diese körperlichen Befriedigungen unterliegen nicht nur therapeutischen, sondern auch historisch variablen konventionellen Normierungen. Der Abstinenzbegriff wurde nach Freud auf viele weitere Befriedigungen angewendet wie die, Erwartungen bestätigt zu bekommen, Gefühle zu äußern, Neugier zu stillen oder pädagogischen, therapeutischen und wissenschaftlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Seitens des Patienten bezieht Abstinenz sich auf Wünsche nach Bestätigung, Lob, Kritik, Zuneigung, billigen Trost und vorschnelle Beruhigung. Auf diese vielen anderen Formen der »Abstinenz« lässt sich jedoch die libidotheoretische Begründung, dass erst Frustration Bewusstsein schaffe, kaum mehr anwenden. Zutreffender ist es, von einem Handlungsverbot und Antwortverbot zu sprechen, das eingeschliffene Muster des Handelns und
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Sprechens nicht zum Zuge kommen und deshalb als Gefühle und Gedanken bewusst werden lässt. Im Folgenden möchte ich einen Schritt zurücktreten und zumindest skizzieren, nicht welche Modifikationen, sondern welche Reinterpretationen ein im Wesentlichen unverändertes psychoanalytisches Setting seither erfahren hat. Damit möchte ich die These belegen, dass Freud ein Instrument erfunden hat, das seine historische Begründung und Erklärung überlebt. Ich werde zuerst drei psychoanalytische Neudeutungen skizzieren, um dann mit einer exemplarischen nichtanalytischen Reinterpretation der Wirkung des Settings zu schließen.
■ Drei psychoanalytische Reinterpretationen des Settings Die drei Verschiebungen in der Interpretation des analytischen Settings betreffen nicht den äußeren Rahmen von Geld, Zeit und Raum, der gleich bleibt, sondern den inneren Rahmen, also die Kommunikationsregeln. Dabei lasse ich die Stilisierung des psychoanalytischen Settings zum »klassischen Setting« durch die Ichpsychologie der 1950er Jahre (z. B. Eissler, 1953) ebenso beiseite wie ihre sukzessive erneute Abmilderung (Stone, 1961), und konzentriere mich auf europäische Variationen. Eine erste Veränderung des Verständnisses des Settings finden wir bereits bei Freud, und zwar im Übergang von der Drucktechnik zu der des freien Einfalls. Das Setting verändert sich von einem, das es erleichtert, direkten Zugang zum Unbewussten zu erlangen, zu einem, in dem sich bei dem Versuch, das Unbewusste ans Licht zu holen, der Widerstand besonders deutlich profiliert. Ich werde die Interpretationen anhand der zentralen Freud’schen Metaphern des Chirurgen, des Reisenden, des Spiegels und des Telefonhörers verdeutlichen. Dabei stehen die Metaphern für Interpretationen des Settings, nicht für dieses selbst. Eine erste Umdeutung erfährt die analytische Situation durch die Aufwertung der Gegenübertragung, also der subjektiven Reaktionen, Emotionen wie Gedanken des Analytikers zu einer mögli-
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chen Information über die unbewussten Regungen des Patienten (z. B. Heimann, 1956). Diese bis heute drastischste Veränderung des analytischen Verstehens impliziert zugleich ein verändertes Verständnis der analytischen Situation. Denn die Revision führt die Telefonhörermetapher gegen die Chirurgenmetapher ins Feld, die Forderung nach Affektlosigkeit wird obsolet. Emotionale Reaktionen des Analytikers werden als unvermeidlich angesehen, und, in guter Freud’scher Manier, das Unvermeidliche zum Mittel der Erkenntnisgewinnung umgemünzt, indem man den Handlungsimpuls, den jeder Affekt darstellt, blockiert, und den Affekt als Information verarbeitet, so, wie es im Rückblick schon die Telefonhörermetapher nahe zu legen scheint. Im Grunde verändert sich etwas in der Forderung nach gleichschwebender Aufmerksamkeit, wenn man das Affektverbot darunter subsumiert, während zugleich an der Abstinenzregel umso klarer festgehalten wird. Eine weitere Umdeutung erfährt die psychoanalytische Situation mit Bions (1962) Betonung des Träumens, das zu einer Umwertung des freien Assoziierens führt. Aus dem Berichten des eigenen Bewusstseinsstroms, bei dem der Patient den von seinem Unbewussten angetriebenen Einfällen beobachtend gegenüber steht, wird ein Träumen, bei dem der Patient zum Subjekt der Produktion der Einfälle wird, die er, so suggeriert die Wortwahl »träumen«, nicht mehr sofort zu berichten hat. Der Akzent wird von der Verpflichtung zur völligen Offenheit, die ohnehin unmöglich ist und ohnedies die völlige Selbstaufgabe verlangen würde, verschoben hin zur Einladung, sich den eigenen Gedanken und ihrer Entwicklung zu überlassen (Ogden, 1996). Der berichtende Reisende wird ersetzt durch den Träumer, der sich mitteilt oder auch nicht. Auf den Analytiker gewendet, impliziert das Träumen eine Offenheit nicht nur gegenüber der Wahrnehmung des Patienten, sondern auch gegenüber den eigenen Einfällen und Empfindungen. Das Handlungsverbot der Abstinenz bleibt bestehen, das unrealistisch strikte Sprechgebot und der Zwang, sich zu offenbaren, werden gelockert zugunsten einer Einladung zum Träumen und zum Isolieren der Tendenzen von Analysand und Analytiker, wie sie die Liegeposition und das Sich-nicht-Sehen ohnehin immer
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schon aussprechen. Der Als-ob-Charakter der analytischen Situation wird gestärkt. Der Bezug zur Vergangenheit wird dadurch geschwächt, dass das Erinnern durch das Träumen ersetzt wird. Schließlich weisen Winnicott und andere darauf hin, dass die in der Experimentalanordnung gründende Vorstellung, das zu Beobachtende völlig unbeeinflusst zu lassen, also den Patienten von Einflüssen des Analytikers zu isolieren, unrealistisch sei. Vielmehr wird die Telefonmetapher gegen die Spiegelmetapher stark gemacht, und davon ausgegangen, dass das Telefon in beide Richtungen Kommunikation erlaubt, also auch der Analytiker unbewusst kommuniziert. Ferro (2005) verwendet die Metapher des elektromagnetischen Feldes für das affektive Feld, in dem die beiden Beteiligten sich befinden und das von beiden unbewusst beeinflusst und damit von beiden gemeinsam aufgebaut wird. Ogden (1996) spricht vom »gemeinsamen Träumen«, Winnicott (1971) gar vom »gemeinsamen Spielen«. Diese Wendung ist allerdings nicht als Aufforderung zu verstehen, sich nicht mehr um ein Verständnis des Analysanden zu bemühen. Im Gegenteil: Da das Feld, die Atmosphäre, die Beziehung trotz aller Zurückhaltung immer schon vom Analytiker beeinflusst ist, muss er sich nicht krampfhaft neutral verhalten, was ein entspanntes Sich-den-Gedanken-Überlassen verhindern würde. Der Analytiker solle sich des eigenen Einflusses bewusst sein, ihn möglichst mitbekommen und in den Deutungen berücksichtigen und anerkennen. Owen Renik (2006) plädiert dafür, »mit offenen Karten zu spielen« und dem Patienten das Wichtigste, was der Analytiker zu bieten habe, nicht vorzuenthalten, nämlich wie der Analytiker den analytischen Prozess erlebe. Das umfasse jedenfalls in kritisch zugespitzten Situationen die subjektiven Reaktionen des Analytikers, die er ohnehin nicht verbergen könne. Er solle sie dem Patienten freimütig als Teil des Materials vorlegen, das beiden helfe zu verstehen, was in der Analyse passiert und wie dies die Problematik des Patienten erhelle. Ohne das Setting wesentlich geändert zu haben, verstehen wir es heute doch anders. Ohne Rekurs auf Libidotheorie und Assoziationspsychologie ist die unbewusste Kommunikation, auf die die Metapher des Telefons zielt, in den Vordergrund gerückt, die sowohl durch den äußeren wie den inneren Rahmen erleichtert und
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gefördert wird. Immer mehr wurde anerkannt, dass das Ideal eines unbeeinflussten Analytikers und eines unbeeinflussten Patienten nie zu erreichen ist. Man hielt an dem Ziel fest, das Problem des Patienten zu verstehen, doch man meinte es besser erreichen zu können, wenn die Subjektivität des Analytikers und ihr Einfluss auf den Patienten nicht nur erkannt, sondern auch genutzt werden. Konstanz und Kontinuität des äußeren Rahmens, Freiraum und zugleich die Erfahrung, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, beide durch das Nichtreagieren des Analytikers bedingt, die infantile Position in der radikal einseitigen therapeutischen Beziehung ebenso wie der fiktionale Charakter dessen, was sich innerhalb des Rahmens abspielt, laden den Patienten dazu ein, die Ängste zu erleben, in die er gerät, wenn er anderen zu vertrauen beginnt, laden dazu ein, im Beisein des Anderen zu träumen, sich seinen Phantasien zu überlassen, und ermuntern zum Nachdenken über die eigenen Angst- und Wunschphantasien. Diese Einladung mobilisiert Schwierigkeiten des Patienten, die er mit geliebten Anderen hat, und führt zu Verletzungen des Rahmens, des äußeren durch Zuspätkommen, Nichtbezahlen, Aufrichten auf der Couch, sowie des inneren Rahmens durch trotziges oder leeres Schweigen, Ablenkungen der Aufmerksamkeit des Analytikers, kleinere Verletzungen der Abstinenz durch Patient oder Analytiker. Die Verletzungen des Rahmens sind häufig die unmittelbarsten Anzeichen für Konflikte in und zwischen den beiden Beteiligten (Ferro, 2005). Wird das Setting einmal angenommen, ist das Ziel der Analyse erreicht, und der Patient kann frei spielen. Wird der Rahmen (vgl. Goffman, 1977) aber massiv verletzt oder bricht er gar zusammen, wird aus der Fiktion bittere Realität, in der jedes Wort Folgen hat und kein Spiel mehr ist.
■ Nichtanalytische Deutungen der Wirkung des psychoanalytischen Settings Das psychoanalytische Setting und seine Wirkungen lassen sich schließlich mit Gewinn auch aus nicht-analytischer Warte erklären. Ich führe das an, um zu zeigen, welche Bedeutung das Setting
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weit über Freuds eigene Begründungen hinausgehend hat. Schon Bernfeld (1941) hatte gefordert, die analytische Konversation selbst zum Forschungsgegenstand zu machen. Es ließen sich hier eine ganze Reihe von sehr interessanten und aufschlussreichen Beispielen anführen, von Ulrich Oevermanns (2006) professionstheoretischer Reinterpretation der Spannung zwischen professioneller Beziehung und Intimität, über Labov und Fanshels (1977) konversationsanalytischen Beitrag zur therapeutischen Kommunikation bis zu Koerfer und Neumanns (1982) Interpretation der analytischen Kommunikationsregeln als Außerkraftsetzen der Grice’schen (1975) Konversationsmaximen. Der Kürze halber werde ich hier außeranalytische Deutungen des Settings lediglich anhand einer Interpretation der Wirkungen des Settings auf das Erzählen veranschaulichen. Erzählungen sind im Alltag eine wichtige Textsorte, die dazu benutzt wird, Erfahrungen mit anderen zu teilen. Erzählungen spielen auch in der Psychoanalyse eine Rolle, insofern Patienten Einfälle haben, zu denen sie Geschichten erzählen, um die Einfälle zu erklären, und insofern sie Geschichten erzählen, um aus ihrem aktuellen und vergangenen Leben zu berichten. Wenn in einem Gespräch jemand dazu ansetzt, eine Geschichte zu erzählen, signalisiert er das und bittet quasi um Erlaubnis, mit einem »Du, ich muss dir was erzählen.« oder »Mensch, da ist mir was passiert.« oder »Da fällt mir was zu ein!«. Stimmen die Gesprächsteilnehmer zu, kann der Erzähler berechtigterweise erwarten, dass er für die Dauer der Erzählung das alleinige Sprechrecht erhält, um die Geschichte in einem Monolog zu erzählen. Im Alltag können Erzählungen verschiedenen Zwecken dienen, beispielsweise dazu, andere zu unterhalten oder die eigene Position in der Gruppe zu behaupten. Erzählungen von Erlebnissen, für die der Erzähler Verständnis sucht, zielen auf eine Reaktion, die Fiehler (1990) als »Anteilnahmemuster« bezeichnet. Dabei bestätigen die Zuhörer den Erzähler mit wertenden Ausrufen wie »Wahnsinn!« (Bestätigung der Außergewöhnlichkeit), »Das glaub’ ich dir!« (Bekundung des Glaubens und der Berechtigung zu einer Reaktion), »Oh Mensch, das tut mir leid!« (Mitleidsbekundungen), »Und wie geht’s dir jetzt?« (Erkundigungen zum Erleben), »Ist doch nicht so schlimm.« (Trösten) und »Ich würd’
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da jetzt einfach keinen Gedanken mehr drauf verschwenden.« (Ratschlag). Wie mag sich das Erzählen nun unter den besonderen Bedingungen des psychoanalytischen Settings verändern? Hierzu möchte ich drei Spekulationen und ein Beispiel dafür, wie das Erzählen sich im Laufe der Analyse verändert, anbieten. Die beiden ersten Punkte beziehen sich auf das Setting, der dritte auf die Interventionen des Analytikers. − Aufgrund der Abstinenzregel reagiert der Analytiker im Unterschied zum alltäglichen Zuhören nicht bestätigend auf Erzählungen des Patienten, sondern versucht lediglich, sie auf sich wirken zu lassen und die untergründigen Emotionen und Bedeutungen zu erfassen. Die fehlende Bestätigung, ja jegliche fehlende Rückmeldung durch den Analytiker können den Sprecher verunsichern und an der Erzählung zweifeln lassen, sei es an der Richtigkeit der Abfolge der Ereignisse, sei es an dem Zutreffen der Bewertung der Ereignisse. Das könnte beim ersten Erzählen zu einer Verunsicherung und zu Zweifeln an der Geschichte führen, was sich in Zögern und im Einsatz von Äußerungen von Unsicherheit manifestiert (vgl. Gerhardt u. Stinson, 1995). Beim wiederholten Erzählen motiviert die Verunsicherung dazu, zu versuchen, die Geschichte auszubauen, so dass sie verständlicher wird. − Die Grundregel verlangt, Einfälle auch dann zu erzählen, wenn sie redundant sind, sie also zu wiederholen, wenn sie einem erneut einfallen. Und unverarbeitete Ereignisse, so eine der Grundthesen Freuds, drängen sich immer wieder auf. Außerdem dauern Analysen so lange, dass Patienten Begebenheiten erneut erzählen, da sie nicht gewiss sein können, dass der Analytiker sich noch erinnert beziehungsweise ob sie sie bereits erzählt haben. Wiederholtes Erzählen führt im Alltag in vielen Fällen zu einer Straffung der Erzählstruktur (Chafe, 1998; Norrick, 1997, 1998, 2000, 2005), einer Kürzung und Glättung der Erzählung. Die Wirkung des Wiederholens scheint also der zuvor genannten Tendenz zur Elaboration zuwider zu laufen. − Schließlich antwortet der Analytiker doch auf manche Erzählungen, indem er klärende Nachfragen stellt, eventuell Abläufe und vor allem die Evaluation des Erzählers in Frage stellt, die
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Erzählung vergleicht mit anderen Erzählungen oder mit der aktuellen Übertragungssituation, und schließlich die Erzählung des Patienten deutend ergänzt. Das klärende Nachfragen und Ergänzen weist gewisse Ähnlichkeiten zu den Nachfragen und Elaborationen auf, mit denen Eltern auf die rudimentären Erinnerungserzählungen ihrer Vorschulkinder reagieren (Fivush et al., 1996). Darüber hinaus stellen sie bereits erfolgte Evaluationen in Frage und fordern zu ihrer Revision auf, damit die Erzählungen an Plausibilität gewinnen. Die Bemühungen des Analytikers zielen darauf, zu einer plausibleren, vollständigeren und wahrhaftigeren Geschichte zu kommen. Alle drei Einflüsse zusammen wirken dahingehend, so die These, unverarbeitete Erlebnisse immer wieder zu erzählen, dabei die Erzählungen erst einmal auszubauen, von Widersprüchen zu befreien und zu vervollständigen (Wirkungen 1 und 3), um schließlich in einer wieder einfacheren, aber auch konsistenteren Geschichte zu münden (Wirkungen 2 und 3; vgl. Stiles et al., 1999). Diesen Prozess möchte ich abschließend an der Veränderung der Erzählung eines einzelnen Erlebnisses über den Verlauf einer Analyse illustrieren, die ich einem Artikel von Catherine Nye (1996) entnehme. Die Analysandin ist eine 30-jährige Hausfrau mit zwei Kindern und einer agoraphobischen Angstsymptomatik. Einschränkend ist zu bemerken, dass ich nicht den Stundenkontext berichten kann, also die Wirkung des analytischen Settings nicht direkt am Material wahrscheinlich machen kann, sondern nur das Ergebnis, also die Erzählungen betrachte. Die Geschichte wird in einer insgesamt 324 Stunden dauernden Analyse insgesamt drei Mal erzählt und zehn Mal erwähnt.
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Erste Erwähnung, 6. Stunde: Wir waren nicht oft zusammen [Erzählerin und ihre Mutter] … Ich erinner’ mich, dass ich viel bei meiner Oma war. Wissen Sie, ich erinner’ mich nur ganz wenig, zuhause gewesen zu sein. Ich weiß noch, ich war so 5, fast 6, als ich in die Schule kam.
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6. Und meine Mutter brachte mich nicht, 7. mein Vater ging mit mir hin, 8. und, hm, das war auch –, hm, ich erinner’, wie mein Vater viele Dinge mit mir machte 9. und nicht meine Mutter. 10. Er brachte mich in die erste Klasse die ersten Male, 11. nicht meine Mutter. Diese sehr rudimentäre Erzählung beschreibt die eigentliche Handlung lediglich in den Sätzen 7 und 10 knapp und erzählt nicht im engeren Sinne des »und dann …, und dann …« (vgl. Labov u. Waletzky, 1967). Vier Mal wiederholt die Erzählerin, dass sie nicht mit ihrer Mutter zusammen war, erklärt das aber nicht und bewertet es nicht explizit.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Erste Erzählung, 41. Stunde: Und dann, wissen Sie, zieht man da plötzlich aus, und sie nehmen sich eine eigene Wohnung, und ein neues Baby kommt daher, und danach kommt dann noch ein Baby ein Jahr später, und man wird zur Schule abgeschoben, und deine eigene Mutter bringt dich nicht mal hin, dein Vater bringt dich, der, der dich angeschrieen hat, als das erste Baby kam, wissen Sie, ich glaube, das sind alles Elemente, glaube ich, die zu meiner Einstellung geführt haben.
Hier wird richtig erzählt in den Zeilen 1 bis 5, die Evaluationen sind etwas expliziter und werden zumindest einmal begründet, und Folgen des Ereignisses werden skizziert. Das unpersönliche »man« springt ins Auge, mit dem sich die Erzählerin distanziert und die Handelnden nicht benennt. Mit dem vertraulich-generischen »du« in den Zeilen 6 bis 8 ebenso wie mit dem zweifachen »Wissen Sie« versucht sie, die Analytikerin von ihrer Position zu überzeugen. Die abschließende lebensgeschichtliche Interpretation schwächt sie durch ein unsicheres, Bestätigung erheischendes
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»Glaube ich« ab. Dies ist die erste richtige Erzählung. Der Hintergrund für die Vorwürfe gegenüber der Mutter wird deutlicher.
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Zweite Erzählung, 58. Stunde: Alles, was ich erinner’, ist, ich glaub’, der erste Schultag, und ich erinner’ irgendwie wie er geht, und ich kann seine Stimme hören, aber ich erinner’ ihn nicht richtig [seufzt], aber ich mochte das nicht. Und ich mochte es nicht, getrennt zu sein. I-Ich glaube, die erste Woche war gar nicht soo schlimm, zur Schule zu gehen, aber ich glaube, danach fing das an, dass ich dieses ganze Erbrechen bekam, vielleicht ist das ein Symptom, das ich vom zur Schule Gehen bekam – wohin, wo ich nicht hin wollte. Ich wär’ lieber zuhause geblieben. Ja! Ich wär’ lieber zuhause geblieben.
Hier bemüht sich die Erzählerin sichtlich um eine konkrete Erinnerung. Diesmal sind sogar in 6 von 14 Sätzen Unsicherheitsmarker eingebaut wie »ich glaube«, »vielleicht« oder »irgendwie«. Es wird eigentlich gar nicht konkret erzählt, die Mehrzahl der Sätze sind Evaluationen, im Mittelpunkt steht die Suche nach damaligen Motiven und Wünschen, womit die Erzählung auch abschließt.
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Dritte Erzählung, 117. Stunde: Und ich dachte: O.K., damals musste ich in die 1. Klasse gehen, und mein Vater brachte mich, weil meine Mutter, denk’ ich, sich um das Baby kümmern musste, und, hm, vielleicht hatte ich wirklich einfach ganz natürlich Angst vor der Trennung, und es gab niemanden, der mich beruhigte, es blieb mir nichts als einfach zu gehen,
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und es war ein ganz – so verlorenes Gefühl, wie so – keinen kümmert’s, wissen Sie, so dass, wenn dir übel [Original sick] wird, ich weiß nicht, es schien einfach so zu passieren, dass es damit endete, dass ich mich übergeben musste. Und dann kümmern sie sich um dich, weißt du, du bist nämlich krank [Original sick]. Oh! Hab ich nicht gesagt, meine Mutter war eine Florence Nightingale, wenn wir krank waren? Das trifft’s ins Schwarze! Wenn wir krank sind, ist sie gleich bei uns am Bett. Wissen Sie, vielleicht hab ich das rausbekommen – ich weiß nicht, was damals los war. Ich-ich erinner bloß einige Vorfälle – und einige nicht, wo-wo ich Angst bekam, und ich mich übergeben musste, und ich es nie bis in die Schule schaffte, so dass ich zuhause blieb – ich zuhause bleiben durfte. Ich glaube – ich glaube, ich war nicht von meinen Eltern getrennt – es ist sehr vage.
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In dieser nun viel längeren Erzählung ergänzt die Analysandin zusätzlich zu ihren Ängsten und Wünschen auch noch ein Motiv für ein ihr erst einmal scheinbar nur widerfahrendes Ereignis, zu dem sie selbst nichts beiträgt, das Sich-Übergeben. Sie ergänzt weitere Umstände, nämlich dass sie über Krankheit Zuwendung von der Mutter bekommen konnte. Nun erfahren wir eine umfassende Geschichte, mit Hintergrund, eigenen Handlungen und Motiven – das Ereignis wird verständlich. Diese Sequenz von Wiedererzählungen bildet den vermuteten Prozess der Elaboration der Erzählung ab. Dass die Erzählung am Ende wieder auf eine einfache und deshalb kürzere Geschichte schrumpft, dafür mag diese letzte Erwähnung des Ereignisses ein erstes Anzeichen liefern.
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Letzte Erwähnung, 305. Stunde: 1. Damals hat mich das auch daran erinnert, 2. wie meine Mutter nicht mit mir in die Schule ging, wissen Sie. 3. Mich die ganze Zeit allein zu schicken – 4. oder mit meinem Vater. 5. Das mochte ich nicht. 6. Therapeutin: Es war ´ne Trennung von Ihrer Mutter 7. und ein Gefühl, 8. dass sie sich nicht richtig um Sie kümmert, 9. und das Gefühl ist offensichtlich geblieben, 10. so dass wenn Sie Angst haben, irgendwohin zu gehen, 11. Sie sich wie ein Kind fühlen, 12. von dem etwas verlangt wird, 13. was es überfordert 14. und dessen Eltern ihm nicht helfen (alle Zitate aus Nye, 1996, Übersetzung TH). Diese letzte Erwähnung des Ereignisses fällt kurz und knapp aus und enthält eine schlichte Bewertung. Im Vergleich dazu fehlte in der ersten Erwähnung eine explizite Evaluation, dafür enthielt sie eine vierfache Wiederholung. Und hier fasst die Therapeutin lebensgeschichtliche Zusammenhänge zwischen uneingestandenen Ängsten und aktuellen Symptomen zusammen. Die Erzählungen erhalten im Laufe des Wiedererinnerns also mehr Erzählsätze und mehr Evaluationen, insbesondere mehr Motive, mehr Hintergrund, eigene Handlungen und Zusammenhang mit der Gegenwart. Die Erzählungen werden also klarer strukturiert, plausibler, verantworteter (Schafer, 1983), und treten in ihrer biographischen Bedeutung hervor. Mein Ziel war zu zeigen, dass Freud mit dem psychoanalytischen Setting etwas geschaffen hat, das seine eigenen Begründungen überlebt. Das Setting zeigt Wirkungen, die auch jenseits von Libidotheorie und Assoziationspsychologie verstanden werden können. Wenn wir ein letztes Mal zu Freuds Text zurückkehren, müssen wir uns fragen, ob er nicht vielleicht doch auch schon die Wirkung des Settings auf das Erzählen selbst mitbedacht hatte: »Eine sys-
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tematische Erzählung erwarte man auf keinen Fall und tue nichts dazu, sie zu fördern. Jedes Stückchen der Geschichte wird später wieder erzählt werden müssen, und erst bei diesen Wiederholungen werden die Zusätze erscheinen, welche die wichtigen, dem Kranken unbekannten Zusammenhänge vermitteln« (Freud, 1913, S. 469).
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Die Autorinnen und Autoren
Dirk Fabricius, Jurist und Psychologe, ist Professor für Strafrecht, Kriminologie und Rechtspsychologie am Fachbereich für Rechtswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Tilmann Habermas, Psychologe, ist Professor für Psychoanalyse am Institut für Psychologie an der Universität Frankfurt am Main. Rolf Haubl, Psychologe und Germanist, ist Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt am Main und Direktor des dortigen Sigmund-FreudInstituts. Katharina Liebsch, Soziologin, ist Professorin für Familien- und Jugendsoziologie am Fachbereich für Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt am Main. Burkhardt Lindner, Germanist, ist Professor für Medienwissenschaften am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Universität Frankfurt am Main. Ilka Quindeau, Soziologin, Psychologin und Psychoanalytikerin, ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse am Fachbereich Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt am Main. Reimut Reiche, Soziologe und Psychoanalytiker, arbeitet in Frankfurt am Main in eigener Praxis als Psychoanalytiker.
Die Autorinnen und Autoren
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Christa Rohde-Dachser, Soziologin und Psychoanalytikerin, vormalige Professorin für Psychoanalyse am Institut für Psychologie an der Universität Frankfurt am Main, arbeitet in eigener Praxis als Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main. Helen Schoenhals Hart, Ärztin und Psychoanalytikerin, arbeitet in Frankfurt am Main in eigener Praxis als Psychoanalytikerin.
Schriften des Sigmund-FreudInstituts Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Band 1: Ulrich Moser Psychische Mikrowelten – Neuere Aufsätze
Band 5: Ralf Zwiebel / Annegret Mahler-Bungers (Hg.) Projektion und Wirklichkeit
Herausgegeben von Marianne LeuzingerBohleber und Ilka von Zeppelin. 2005. 498 Seiten mit 10 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45165-6
Die unbewusste Botschaft des Films 2007. 235 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45179-3
Band 2: Klaus Herding / Gerlinde Gehrig (Hg.) Orte des Unheimlichen
Band 6: Timo Hoyer (Hg.) Vom Glück und glücklichen Leben
Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst 2006. 300 Seiten mit 70 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45176-2
Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge 2007. 275 Seiten mit 2 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45180-9
Band 3: Marianne LeuzingerBohleber / Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.) Bindung, Trauma und soziale Gewalt
Band 8: Stephan Hau Unsichtbares sichtbar machen
Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog 2006. 295 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45177-9
Band 4: Marianne LeuzingerBohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen 2. Auflage 2006. 306 Seiten mit 14 Abb. und 3 Tab., kart. ISBN 978-3-525-45178-6
Forschungsprobleme in der Psychoanalyse 2008. Ca. 350 Seiten mit 13 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45181-6
Band 9: Gisela Greve Bilder deuten Psychoanalytische Perspektiven auf die bildende Kunst 2008. Ca. 192 Seiten mit ca. 32 farbigen Abb. und 3 s/w Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45182-8 Erscheint im Herbst 2008