Beichte neu entdecken: Ein ökumenisches Kompendium für die Praxis 3846902110, 9783846902103, 9783846902110

Dieses Buch möchte zur Wiederentdeckung der Beichte als christlicher Praxis - evangelisch wie katholisch - beitragen. Be

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German Pages 240 [241] Year 2016

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Beichte neu entdecken: Ein ökumenisches Kompendium für die Praxis
 3846902110, 9783846902103, 9783846902110

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Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie Begründet von Johannes Wirsching Herausgegeben von Jörg Lauster und Bernd Oberdorfer

Band 45

Gunter Prüller-Jagenteufel/Christine Schliesser/ Ralf K. Wüstenberg (Hrsg.) Beichte neu entdecken Ein ökumenisches Kompendium für die Praxis

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846902110. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2016 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Thies Münchow Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-8469-0210-3 (Print), 978-3-8469-0211-0 (eBook)

Inhaltsverzeichnis Vorwort .....................................................................................................11 Geleitwort von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ..............14 Geleitwort von Christoph Kardinal Schönborn, Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz..................................16 Teil I:

Erfahrungsorte der Befreiung ..................................................... 19

Ralf K. Wüstenberg Die Beichtgelegenheit am Berliner Dom Ein Beispiel aus der evangelischen Praxis ...................................................21 1. Vorbemerkungen zur Beichte im Evangelischen Kontext ..................................... 21 2. Vorbemerkungen zum Berliner Dom.......................................................................... 22 3. Zur Entstehung und theologischen Inspiration der Einzelberichte am Berliner Dom .............................................................................................................. 23 4. Praktische und liturgische Überlegungen .................................................................. 25 5. Ablauf der Beichte ........................................................................................................... 26 6. Liturgie (Beichtformular am Berliner Dom) ............................................................. 27 Hermann Glettler Die katholische Beichte – Verlustanzeige oder Neuentdeckung? Ein persönlicher Praxisbericht über ein Sakrament, das Zukunft hat. ........ 30 1. Einleitung ........................................................................................................................... 30 2. Ein totes Sakrament? ....................................................................................................... 31 3. Neue Vitalität .................................................................................................................... 33 4. Perspektiven für eine erneuerte Praxis ....................................................................... 35 Klemens Schaupp Beichte – Ort der Vergebung, Ort der Heilung? Oder: Zwischen Sündenvergebung und Lebensbegleitung Überlegungen zur therapeutischen Dimension der Beichte..........................41 1. Der historisch-theologische Zugang zum Thema des Schulderlebens ............... 43 2. Die gesellschaftliche Dimension der Erfahrung von Schuld und Sünde .......... 44

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Inhaltsverzeichnis

3. Der subjektiv-therapeutische Zugang zum Thema der Erfahrung von Schuld und Unheil ................................................................................................... 49 4. Schuldgefühle – Schulderfahrung – Schuld: Das Deutungsangebot der Psychoanalyse ............................................................................................................ 50 5. Verschiedene Weisen der Schulderfahrung in der individuellen Entwicklung des Menschen ........................................................................................... 52 6. Therapie und Beichte – Das Zueinander von therapeutischen und theologischen Theorieaussagen ........................................................................... 52 7. Umkehr als langedauernder, lebensverändernder Prozess .................................... 54 8. Geistliche Begleitung als Hilfe zur Umkehr .............................................................. 56 Joachim Zehner Versöhnung im Strafrecht............................................................................61 Ralf K. Wüstenberg Politische Umbrüche Wahrheitskommissionen als Beichtstuhl? .................................................... 69 1. Ein Fallbeispiel .................................................................................................................. 69 2. Erste Beobachtungen....................................................................................................... 70 3. Reue oder Bedauern? ...................................................................................................... 71 4. Einzelbeobachtungen ...................................................................................................... 73 5. Bedingt Reue die Vergebung? ....................................................................................... 74 6. Bedingungen für Versöhnung im politischen Raum .............................................. 75 7. Zwischenbilanz.................................................................................................................. 77 8. Was ist mit der Wiedergutmachung? .......................................................................... 78 9. Ergebnis .............................................................................................................................. 80 Christine Schliesser Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung Ruanda nach dem Völkermord ................................................................... 82 1. Einleitung ........................................................................................................................... 82 2. Beichte und Erinnerung ................................................................................................. 83 3. Beichte und Versöhnung ................................................................................................ 85 4. Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung – Ruanda nach dem Völkermord ..................................................................................... 89 5. Theologische Antwortversuche .................................................................................... 94

Inhaltsverzeichnis

Teil II:

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Theologische Wegmarken............................................................. 97

Peter Zimmerling Zur Geschichte der Beichte ........................................................................ 99 1. Vorformen der Beichte im Neuen Testament und in der Alten Kirche............. 99 2. Die Entstehung der Privatbeichte im orientalischen Mönchtum ...................... 100 3. Die Demokratisierung der Einzelbeichte durch die iro-schottische Kirche und Mission ....................................................................................................... 101 4. Die Reform der Beichte durch Martin Luther (1483–1546) ............................... 104 5. Der sukzessive Verlust der Beichte im Protestantismus nach der Reformation.............................................................................................................. 107 6. Ansätze zur Erneuerung der Beichte im 19. und 20. Jh. ..................................... 108 7. Ein Blick in die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche ...................... 111 8. Ausblick: Eine Renaissance der Beichte heute? ..................................................... 113 Michael Herbst Seelsorge und Beichte ............................................................................... 115 1. Es war einmal … .............................................................................................................. 115 2. Zwei alte Freunde, die sich aus den Augen verloren haben … ............................ 116 3. Oder hat die Beichte nur den Standort gewechselt? ............................................. 119 4. Zwischenfazit ................................................................................................................... 121 5. Beichte als Geheimtipp der Seelsorge ....................................................................... 121 Gunter Prüller-Jagenteufel Schuld und Versöhnung Zur Bedeutung interpersonaler Prozesse ................................................... 133 1. Freiheit und Verantwortung – Schuld und Sünde als Beziehungskategorien ............................................................................................. 134 2. Vergebung als personaler Prozess .............................................................................. 142 3. Versöhnung als interpersonaler Prozess ................................................................... 145 4. Eröffnung neuer Zukunft in Freiheit und Verantwortung .................................. 149 Ralf K. Wüstenberg Thesen und Beobachtungen zum Beichtverständnis der Confessio Augustana .............................................................................. 151 1. Quelle ................................................................................................................................ 151 2. Thesen ............................................................................................................................... 152

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Inhaltsverzeichnis

3. Textbeobachtungen zu CA 11..................................................................................... 153 4. Textbeobachtungen zu CA 12 .................................................................................... 154 5. Zusammenführung von CA 11 und 12 ..................................................................... 157 Gunter Prüller-Jagenteufel Absolution als Richterspruch? Beobachtungen zur tridentinisch-katholischen Bußtheologie ..................... 159 1. Die Wende von der altkirchlichen Buße zur Beichte als historischer Hintergrund der tridentinischen Bußtheologie ...................................................... 159 2. Das Gerichtsparadigma der Bußtheologie von Trient.......................................... 161 3. Weitere Entwicklungen ................................................................................................. 164 4. Fazit: tridentinisch oder post-tridentinisch? ............................................................ 168 Teil III: Ökumenische Ermutigungen ...................................................... 171 Peter Zimmerling Die Bedeutung der Beichte im Rahmen der Praktischen Theologie seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ......................................................... 173 1. Die Rolle der Beichte für die kerygmatische Seelsorge ........................................ 173 2. Ablehnung und Vernachlässigung der Beichte im Gefolge der sogenannten empirischen Wende ....................................................................... 177 3. Der lange Weg zu einer Rehabilitierung der Beichte ........................................... 178 4. Ausblick in die Zukunft: Beichte als Zeichen menschlicher Würde ................. 180 Johann Pock Versöhnungsweg, Laienbeichte und Pilgerbuße Pastoraltheologische Analyse neuer Entwicklungen des „ungeliebten Sakraments“ in der katholischen Kirche ........................ 186 1. Die Beichte – das pastoral(theologisch)e Stiefkind ............................................... 187 2. Ansätze und Modelle zwischen Beichte und Versöhnungsfeier......................... 190 3. Beichten neu?................................................................................................................... 195 4. Das Schweizer Modell des „Versöhnungswegs“ ..................................................... 198 5. Beichte und Versöhnung im Kontext der Kranken(haus)pastoral ................... 200 6. Laienbeichte – auch etwas für die katholische Kirche? ....................................... 201 7. Konsequenzen aus den Praxiserfahrungen für ein aktuelles Verständnis von Beichte und Versöhnung.............................................................. 202

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Christine Schliesser Beichte als „Angebot göttlicher Hilfe“ Ökumenische Ermutigungen auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers ...........205 1. Warum überhaupt Beichte? ........................................................................................ 206 3. Zwei Gefahren der Beichte........................................................................................... 214 4. Beichte als „Angebot göttlicher Hilfe“ – ein reformatorisches Anliegen mit ökumenischer Perspektive .................................................................................... 214 Gunter Prüller-Jagenteufel, Christine Schliesser, Ralf K. Wüstenberg Neu anfangen können Ökumenische Anstiftungen zur Beichte ..................................................... 216 1. Beichte als Ort der wahren Lebensgeschichte ........................................................ 216 2. Schulderkenntnis und Reue (contritio) – Wahrheit und Neuorientierung ........ 218 3. Schuldbekenntnis (confessio) – Einstehen für die eigene Verantwortung......... 220 4. Lossprechung (absolutio) – Erfahrung der Vergebung.......................................... 222 5. Der/die Beichthörende – Stellvertreter für Sünder und Kirche ....................... 224 6. Bußwerke (satisfactio) – Konkretisierung der Umkehr ......................................... 230 7. Neu anfangen können. Vergebung und Versöhnung als kirchlichgemeindliches Handeln ............................................................................................... 233 Die Autoren ...............................................................................................235 Personenregister ....................................................................................... 237 Sachregister ..............................................................................................238

Vorwort „Ein Katholik hat die Beichte, ich habe nur meinen Hund.“ Was Max Frisch vor einem halben Jahrhundert feststellte, hat sich bis heute nicht grundlegend geändert: Nach wie vor ist die Beichte für viele Menschen etwas „Katholisches“ – und das, obwohl in den letzten Jahrzehnten die Beichte auch in der katholischen Kirche weitgehend aus der Mode gekommen ist. Wenn man an Beichte denkt, mag man an Beichtstühle denken, an konkrete Situationen, in denen ein Beichtling dem Priester durch die gelöcherte Holzwand bestimmte Sünden anvertraut. Oder es mag einem eine der zahlreichen Hollywood-Produktionen in den Sinn kommen, in denen ein Priester mit schwarzem Kollar auftaucht und Beichte in solchem engen sakralen Bezug vorgeführt wird. Weniger bekannt ist, dass Beichte im evangelischen Glauben nie abgeschafft worden ist, ja dass Luther so hohe Stücke auf die Beichte gab, dass er damit rechnete, dass die Gläubigen ihre Pfarrer geradezu bedrängen würden, um von Sünde und Schuld losgesprochen zu werden. Und noch weniger denkt man an die politischen, gesellschaftlichen, juristischen oder therapeutischen Dimensionen von Beichte oder aber an die reiche Geschichte, die sich mit dieser Thematik schon seit den Wüstenmönchen im 4. Jahrhundert verbindet. Doch nicht nur die intuitive Verbindung zwischen Beichte und Katholizismus hat sich seit Max Frisch nicht verändert. Auch das menschliche Bedürfnis nach Befreiung, nach Lossprechung und nach einem konstruktiven Umgang mit der eigenen Vergangenheit, mit Fehlern und der eigenen Schuld ist dasselbe geblieben. Dieses Buch möchte daher zur Wiederentdeckung eines kostbaren Schatzes christlicher Praxis – evangelisch wie katholisch – beitragen. Beichte gleicht in mancherlei Hinsicht einer Perle von unschätzbarem Wert, die, in einer Truhe eingeschlossen, ihren Glanz nicht recht entfalten kann. Eröffnet doch die Kirche und der christliche Glaube in der Beichte einen Weg aus der Sackgasse persönlicher und gesellschaftlicher Schuld. Die Beichte kann bestehende therapeutische Angebote nicht nur sinnvoll ergänzen, sondern geht gleichzeitig über diese hinaus, indem sie den Menschen in seinem ganzen Wesen erfasst und ihm so bei der Bearbeitung von Schuld, Scham und Sünde zu helfen vermag. Wie groß der gesellschaftliche Bedarf hier ist, zeigen regelmäßig Fernsehsendungen à la „Britt am Mittag“, in denen Menschen ihre intimen Verletzungen dem kalten Licht der Öffentlichkeit preisgeben. Während dort die Hoffnung auf Befreiung von der eigenen Vergangenheit zumeist im Voyeurismus untergeht, gibt es andere Erfahrungsorte der Befreiung von Schuld – inner- und außerhalb kirchlicher Mauern. Das Phänomen der Beichte sowohl in kirchlichen als auch in gesellschaftlichen, strafrechtlichen, politischen und therapeutischen Strukturen aufzuspüren, ist daher eines der Ziele dieses Buches. Diese konkreten „Erfahrungsorte der Befreiung“ sollen daher an den Anfang dieses Bandes gestellt werden. Um die aktuelle kirchliche Praxis im evangelischen wie im katholischen Raum geht es in den Er-

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Vorwort

öffnungsbeiträgen von Ralf K. Wüstenberg und Hermann Glettler. Darin reflektieren die Autoren u.a. ihre persönlichen Erfahrungen, einerseits mit dem Aufbau einer Beichtgelegenheit am Berliner Dom und andererseits in der katholischen Beichtpraxis. Rechtsethische Überlegungen zur Versöhnung im Strafrecht schließen sich im Beitrag von Joachim Zehner an; Überlegungen zur therapeutischen Dimension der Beichte werden von Klemens Schaupp vorgestellt. Vergangenheitspolitische Brennpunkte im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung in den Fokus zu rücken, unternehmen die Beiträge von Ralf K. Wüstenberg und Christine Schliesser. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach dem Ende der Apartheid von der ersten frei gewählten Regierung unter Nelson Mandela eingesetzt wurde, steht im Mittelpunkt des Beitrages von Wüstenberg. Schliesser widmet sich dem gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Versöhnungsprozess in Ruanda nach dem Völkermord von 1994, in dem innerhalb von 100 Tagen bis zu 1.000.000 Kinder, Frauen und Männer zu Tode gebracht wurden. Nach dieser Bestandsaufnahme und dem Ausleuchten der verschiedenen Dimensionen, die im Befreiungshorizont von Beichte mitschwingen, folgt in einem zweiten Teil eine theologische Vertiefung unter der Überschrift „Theologische Wegmarken“. Wie ist in der reichen Geschichte von Kirche und Theologie über Beichte gedacht worden? Wie verhalten sich Beichte und Seelsorge zueinander? Wie Vergebung und Versöhnung? Welches sind die Kernbestandteile von Beichte in den beiden Konfessionen? Zunächst setzt Peter Zimmerling in seinem Beitrag „Von den Wüstenmönchen bis Taizé“ Akzente zur Geschichte der Beichte. Michael Herbst stellt seinen praktisch-theologischen Beitrag unter die Fragestellung „Beichte als Geheimtipp der Seelsorge?“ und Gunter Prüller-Jagenteufel arbeitet an den Leitbegriffen „Vergebung und Versöhnung“ die Bedeutung interpersonaler Prozesse heraus. Schließlich bilden die beiden letzten Beiträge dieses Teils je eigenständig das zu unterscheidende theologische Profil evangelischer und römischkatholischer Auffassung von Beichte ab: „Thesen und Beobachtungen zum Beichtverständnis der Confessio Augustana“ von Ralf K. Wüstenberg sowie „Absolution als Richterspruch? Beobachtungen zur tridentinisch-katholischen Bußtheologie“ von Gunter Prüller-Jagenteufel. Nach den theologischen Vertiefungen, die auch den Blick in den konfessionellen Graben des 16. Jahrhundert unter dem Stichwort Trient nicht scheuen, gilt es in einem dritten und letzten Teil, Ausblick zu halten und Perspektiven für die Beichte, gerade auch als „Ökumenische Ermutigung“ zu entwickeln. Hier werden zunächst in den Beiträgen von Peter Zimmerling und Hans Pock neuere Entwicklungen für Beichte, Buße und Umkehr aufgezeigt. In mancherlei Hinsicht werden die vielfältigen Impulse aus dem ersten Teil des Buches konstruktiv an die historische Entwicklung des Beichtverständnisses angeschlossen. Die beiden Schlusskapitel widmen sich im Blick auf die Zukunft ökumenischen Anschlussmöglichkeiten, gerade auch angesichts des erwähnten konfessionellen Grabens, der sich mit den

Vorwort

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gegensätzlichen Positionen zwischen der Confessio Augustana einerseits und dem Tridentinum andererseits wirkmächtig in die Geschichte der Ökumene eingezeichnet hat. In ihrem Beitrag „Beichte als ‚Angebot göttlicher Hilfe‘. Ökumenische Ermutigungen auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers“ stellt Christine Schliesser einen Zugang zur Beichte vor, der einerseits dem evangelischen Anspruch eines Interdependenzverhältnisses von Beichte und Rechtfertigungsgeschehen gerecht zu werden sucht, andererseits diesen nicht kontroverstheologisch verengt, sondern in seinem ökumenischen Potential im Lichte der Theologie Dietrich Bonhoeffers ausleuchtet. In ihrem gemeinsamen Schlusskapitel bieten die Herausgeber schließlich „Ökumenische Anstiftungen zur Beichte“ unter der Perspektive „Neu anfangen können“. Die Idee zu diesem Buch entstand im Anschluss an ein Forschungskolloquium zum Thema „Beichte und Sündenvergebung im ökumenischen Diskurs“, zu dem die katholisch-theologische Fakultät der Universität Wien im Dezember 2012 eingeladen hatte. Es stellte sich schnell heraus, dass es bei der Beichte vieles wieder und vieles neu zu entdecken gibt, nicht zuletzt in ökumenischer Perspektive. Die Leserinnen und Leser auf diese Entdeckungsreise mitzunehmen und damit auch fröhliche Anstiftungen zur Beichte, die weder verstaubt noch ausschließlich katholisch ist, zu vermitteln, ist der Wunsch der Herausgeber. Schließlich bleibt uns noch, einen herzlichen Dank für die finanzielle Unterstützung auszusprechen, die uns die Europa-Universität Flensburg, die Diözese Graz-Seckau, die Evangelische Kirche in Österreich, der evangelisch-lutherische Kirchenkreis Schleswig-Flensburg, die Erzdiözese Wien sowie das Ethik-Zentrum der Universität Zürich gewährt haben. Unser Dank geht zudem in besonderer Weise an Herrn Thies Münchow, der uns beim Erstellen der Druckvorlage behilflich war. Den Herausgebern der Reihe „Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie“, Prof. Dr. Jörg Lauster und Prof. Dr. Bernd Oberdorfer, danken wir für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und für die Aufnahme unseres Bandes in diese Reihe. Wien, Zürich und Flensburg im Oktober 2015 Gunter Prüller-Jagenteufel Christine Schliesser Ralf K. Wüstenberg

Geleitwort von Landesbischof Heinrich BedfordStrohm Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Gehe ich zur brüderlichen Beichte, so gehe ich zu Gott.“ Wenn Dietrich Bonhoeffer in seinem Buch „Gemeinsames Leben“ auf die lebensspendende Kraft der Beichte unter Mitchristinnen und Mitchristen hinweist, dann befindet er sich ganz und gar nicht im kirchlichen Mainstream seiner Zeit und seiner Kirche. Ähnlich wie heute, war auch zu Dietrich Bonhoeffers Zeiten die Beichte, besonders in der evangelischen Kirche, längst keine Selbstverständlichkeit. Als verstaubt galt sie, unnötig und „katholisch“. Und doch erkannte Bonhoeffer in ihr einen wahren Schatz, den es sich zu heben lohnt. Nicht nur er selbst praktizierte sie daher regelmäßig, er ermutigte auch andere zur Beichte. Dieses Erbe Bonhoeffers wieder zu beleben, haben sich die Herausgeber dieses Bandes zur schönen Aufgabe gemacht. Denn auch heute gehört das Wort „Beichte“ nicht zu den Worten, die sofort in den Sinn kommen, wenn man sich über Kernthemen evangelischer Glaubenspraxis Gedanken macht. Vielleicht denken wir an den Beichtgottesdienst für die Konfirmandinnen und Konfirmanden am Vorabend der Konfirmation. Oder auch an den Beichtteil in der Buß- und Bettagsliturgie. Wenn ihnen das Wort „Beichte“ begegnet, so assoziieren die meisten Menschen damit vermutlich aber eher ein katholisches Phänomen: die Beichte als eines der sieben Sakramente in der römisch-katholischen Kirche. Oder den Beichtstuhl in einer katholischen Kirche, in dem zu feststehenden Zeiten gebeichtet werden kann. Beichte scheint auf den ersten Blick wenig mit Ökumene zu tun zu haben. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch: Die Beichte spielt auch in der evangelischen Tradition eine wichtige Rolle. Für Martin Luther war die Beichte von großer Bedeutung. Auch wenn er den Zwang zur Beichte abschaffte und die Vorstellung, die Beichte sei eine Leistung des Menschen, mit der dieser sich die Sündenvergebung verdienen könnte, massiv kritisierte, so war für Luther die persönliche Buße in Form der Beichte wichtig: „Die Ohrenbeichte,“ – so hat er einmal zum Ausdruck gebracht – „wie sie jetzt allgemein begangen wird, gefällt mir – wenn sie auch aus der Schrift nicht bewiesen werden kann – doch außerordentlich gut, und sie ist auch nützlich, ja notwendig.“ An anderer Stelle schreibt Luther: „Darum, wenn ich zur Beichte vermahne, so vermahne ich dazu, ein Christ zu sein.“ Auch im Augsburger Bekenntnis, der Confessio Augustana, taucht das Thema gleich in drei Artikeln auf, so in Artikel 11: „Von der Beichte“, in Artikel 12: „Von der Buße“ und in Artikel 25, der nochmals die Überschrift trägt „Von der Beich-

Geleitwort von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

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te“. Die Beichte ist also in der Tat ein Thema, bei dem sich eine intensive ökumenische Betrachtung lohnt. In unserer Gesellschaft werden Zeiten des Innehaltens und des persönlichen Reflektierens immer wichtiger. Die Beichte gibt uns die Möglichkeit, weit über eine allgemeine Selbstreflexion hinaus, zu nüchterner Selbsterkenntnis zu gelangen und durch das Aussprechen unserer dunklen Seiten und durch die Zusage der Vergebung Befreiung zu erfahren. Bonhoeffer bringt es auch hier auf den Punkt: „Vor dem Psychologen darf ich nur krank sein, vor dem christlichen Bruder darf ich Sünder sein.“ Die Beichte bietet die Chance, das, was zwischen uns und Gott und das, was zwischen uns und anderen Menschen hinderlich im Wege steht, zu benennen und zu bekennen. Die Vergebung, die uns in der Beichte zugesprochen wird, ist Gottes Vergebung. Wer Vergebung erlebt, der erfährt Befreiung von Last und Schuld – etwas, wonach sich jeder Mensch sehnt. Die Beichte gehört zu den Schätzen katholischer und evangelischer Spiritualität in ökumenischer Perspektive, die viel aktueller sind als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie verdient daher unsere Aufmerksamkeit und unsere Neugier. Dieses Buch mit seinen 15 verschiedenen Aufsätzen gibt zu einer Neuentdeckung der Beichte einen wichtigen Impuls. Dass dies darüber hinaus in evangelischkatholischer Perspektive geschieht, ist umso begrüßenswerter. Ich wünsche diesem Buch daher viel Beachtung und Verbreitung!

Geleitwort von Christoph Kardinal Schönborn Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz „Lasst euch mit Gott versöhnen!“, ermahnt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Korinther (2 Kor 5,20). – Aber wie sehen die Wege der Versöhnung aus? Es gibt viele Wege der Versöhnung und dem entsprechende Traditionen, aber einen hat die katholische Kirche ganz besonders empfohlen, den sakramentalen Weg durch die Beichte. Einer der populärsten Heiligen der abendländischen Christenheit, Franz von Assisi, richtet die Ermahnung an „alle religiös lebenden Christen, Kleriker und Laien, Männer und Frauen, die in der ganzen Welt wohnen“: „Wir alle müssen unsere Sünden dem Priester beichten.“ Müssen wir? Faktum ist, dass es heutzutage nur wenige tun. Die Beichte ist auch in der katholischen Kirche, wo sie traditionell bis vor wenigen Jahrzehnten intensiv praktiziert wurde, aus der Übung gekommen und für Priester wie für Laien fremd geworden. Gegen den seelischen Druck des „Müssens“ hat Martin Luther wohl zu recht Einspruch erhoben, aber er war zugleich davon überzeugt, dass die recht praktizierte Beichte notwendig und heilsam ist. So teilen wir die Überzeugung, dass der massive Rückgang der Beichte bis hin zum totalen Verlust in beiden Kirchen, der evangelischen wie der katholischen, den Gläubigen nicht gut tut, dass etwas verloren gegangen ist, das fehlt und das zum Leben notwendig wäre. Dass die Beichte aus der Übung kam, hat viele Gründe. Wichtiger scheint mir aber, den Grund zu nennen, warum ich glaube und hoffe, dass das Bußsakrament eine Zukunft hat und wieder neu entdeckt wird. Das wird in dem Maß geschehen, wie wir die Botschaft Jesu, das Evangelium von der ungeschuldeten Gnade und Barmherzigkeit Gottes, neu entdecken. In dem Maß, wie diese Botschaft die Menschen erreicht, wird auch der Zugang zur Beichte wieder offen stehen. Die Beichte hat einen „heißen Kern“, eine geistliche Mitte, ohne die das Bußsakrament längst ausgestorben wäre. Durch alle Wechselfälle der Geschichte und alle Schwierigkeiten mit der Beichtpraxis gibt es diesen Kern, dessen Gnade Menschen in allen Jahrhunderten erlebt und erfahren haben. Das Geheimnis, das es wieder zu entdecken gilt, ist Jesus Christus selber: Er ist Quellgrund und Mittelpunkt dieses Sakraments. Seine Lebenshingabe bis zum Kreuz ist der Ursprung aller Versöhnung. Der rechte Schächer ist der erste, der aus dieser Quelle die Versöhnung erhält: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Es ist daher nur folgerichtig, dass die Vollmacht, Sünden zu vergeben, Jesu großes Ostergeschenk an seine Kirche ist – und auch sein Auftrag an uns. Gerade in der heutigen Zeit ist die Verkündigung und Praxis der Barmherzigkeit nicht nur eine fromme Übung für erwählte Seelen; sie ist vielmehr von größter Tragweite für unsere Gesellschaft. Denn erst im Vertrauen, Barmherzigkeit und Vergebung zu erlangen, muss Schuld nicht mehr verdrängt werden. Schuld und

Geleitwort von Christoph Kardinal Schönborn

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Sünde können zur Sprache und somit zur Heilung kommen, der Teufelskreis von Vergeltung und Gewalt wird aufgebrochen auf ein neues Miteinander der Menschen als Brüder und Schwestern hin, Gemeinschaft der Gnade Gottes entspringt. Die Wiederentdeckung der Beichte ist nun aber mehr als ein innerkirchlicher Wunsch, sie ist wichtig für die ganze Gesellschaft, dass wir wieder lernen, unsere Schuld anzuschauen, im Wissen, dass Gottes Barmherzigkeit auch die größte, die schwerste Schuld überwinden kann. Aus diesem Grund freut es mich persönlich ganz besonders, dass es auch ökumenische Initiativen gibt, die Beichte neu zu entdecken und ihre Praxis neu einzuüben. Für mich als Bischof der katholischen Kirche sind die Initiativen unserer evangelischen Brüder und Schwestern deshalb Hoffnungszeichen und Ansporn zugleich. Ich danke daher den Herausgebern und Autoren dieses evangelisch-katholischen Buchprojekts und hoffe, dass wir in diesem gemeinsamen Anliegen Fortschritte machen – zum Wohl der Menschen, denen wir Gottes große Barmherzigkeit verkünden.

Teil I:

Erfahrungsorte der Befreiung

Die Beichtgelegenheit am Berliner Dom Ein Beispiel aus der evangelischen Praxis Ralf K. Wüstenberg

1. Vorbemerkungen zur Beichte im Evangelischen Kontext Die Beichte ist auch in evangelischer Hinsicht ein faszinierendes Thema: Die Befreiung von persönlicher Schuld. Nach Martin Luther geht es um das AussprechenDürfen von erkannter und im Herzen gefühlter Schuld, um die stellvertretende Zusage der Vergebung im Namen Gottes und um die Annahme der göttlichen Vergebung im Glauben. Aus dem Sonntagsgottesdienst und der privaten spirituellen Praxis sind beichtverwandte Formen des Sündenbekenntnisses bekannt, wie die Herzensbeichte des einzelnen Sünders vor Gott, die Versöhnungsbeichte eines Christen gegenüber dem anderen nach Mt.5, die allgemeine Beichte im Gottesdienst, schließlich das Rüstgebet zu Beginn des Gottesdienstes (confiteor), mit dem die Gemeinde ihre Unwürdigkeit vor Gott bekennt und Vergebung erbittet. Martin Luther gab so hohe Stücke auf die Einzelbeichte, dass er meinte: Nicht die Kirche müsse ihre Gläubigen zur Beichte drängen, sondern die Menschen würden von sich aus ihre Pfarrer bedrängen, damit sie ihnen die Beichte abnehmen. Trotz mancher Neuansätze zur Einzelbeichte zunächst in lutherisch geprägten Erweckungsgebieten im 19. Jahrhundert, dann durch Bruderschaften wie beispielsweise der Michaelsbruderschaft und freie Werke wie dem CVJM, schließlich durch die Geistliche-Gemeinde-Erneuerung und Aufbau-Initiativen, wie den Erlanger Kreis um Manfred Seitz im 20. Jahrhundert – die Voraussage Luthers hat sich nicht erfüllt. Eher gleicht die Lage dem, was in einem ökumenischen Informationsblatt von 1988 zu lesen war: „Der Ruf nach Beichte in heutigen lutherischen Gemeinden ist sicher auszuhalten.“1 Es sind im Kern drei Einwände, die meist eher verdeckt gegenüber der Beichte vorgebracht werden und ihre Verankerung im Leben der Evangelischen Kirche erschweren, nämlich Beichte habe mit Zwang zu tun, Beichte bringe die Mittlerschaft der Kirche neu ins Spiel und Beichte habe keinen Sitz im Leben der evangelische Kirche. Beim ersten Einwand wird zunächst eingeschärft, dass man als Protestant nicht die Herkunft der Beichte vergessen dürfe. Schließlich sei die Beichte „organischer Bestandteil des katholischen Bußsakraments“ und eine Gefährdung der

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Jeziorowski, Jürgen, Sündenvergebung als Lebenshilfe. In: Ökumenische Information 3 (1988), S. 63.

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Ralf K. Wüstenberg

Gewissen „im Sinne unevangelischer Gesetzlichkeit“.2 Zweitens darf die Sündenvergebung nicht von der Aufrichtigkeit und Vollständigkeit des Sündenbekenntnisses abhängig gemacht werden. In diesem Fall wäre nämlich das Sündenbekenntnis und nicht Christus Ursache der Rechtfertigung. Die zentrale Frage hier ist also die nach dem Stellenwert des Bekenntnisses. Der zweite Einwand hat zugleich eine sozialkritische Dimension. Beichte bringe die Mittlerschaft von Kirche und Klerus neu ins Spiel, denn: Bei der Wiedereinführung der Beichte im evangelischen Raum geht es letztlich um „klerikalistische“ Interessen, die das Sozialprestige des zurückgesunkenen kirchlichen Amtes aufwerten wollten.3 In der antiklerikalen Polemik äußert sich ein Grundproblem. Die Beichte kann mit dem Grundsatz in Konflikt geraten, dass kein menschlicher Vermittler zwischen Gott und Mensch treten darf. Denn dann wäre das Evangelium als befreiender Zuspruch an die Vermittlung der Institution Kirche gebunden. Die zentrale Frage ist die nach dem Subjekt und Medium des Zuspruchs. Kurz: Wer darf die Sündenvergebung an Christi statt zusprechen? Der dritte Einwand, Beichte habe keinen Sitz im Leben der evangelischen Kirche, richtet sich gegen fehlende Strukturen. An wen kann man sich mit der Bitte um Einzelbeichte wenden? Wie bereitet man sich auf die Beichte vor? Neben der „Schwellenangst“ des Beichtwilligen werden in pastoraltheologischer Sicht zwei weitere Hindernisse genannt: „das verlorene Vertrauen der Gemeinde in die seelsorgerliche Verschwiegenheit der Amtsträger“ sowie „die Angst des Seelsorgers davor, Beichte hören zu müssen.“4

2. Vorbemerkungen zum Berliner Dom Der Dom besitzt (wie andere City-Kirchen auch) eine starke Anziehungskraft. Er hat eine für Stadt und Land hervorgehobene Bedeutung, ist präsent im öffentlichen Bewusstsein – ob bei Fernsehserien oder Nachrichtensendungen sowie in Printmedien. Liturgisch wird der Dom zum hervorgehobenen Ort für Sondergottesdienste, wie zum Beispiel Gottesdienste zum Gedenken an den 11. September 2001, den 20. Juli 1944 oder den 3.Oktober 1990. Geographisch liegt der Dom in der Mitte der Stadt. Man kommt nur schwer an ihm vorbei. Hohe Besucherzahlen bei den sonntäglichen Gottesdiensten, aber auch bei Konzerten sowie der „Langen Nacht der Museen“ oder dem „Tag der offenen Tür“ weisen auf seine starke Anziehungskraft hin. 2

3 4

Vgl.: Hermann, Rudolf, Zur evangelischen Lehre von der Buße. In: Beintker, Horst (Hrsg.), Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums (Gesammelte und nachgelassene Werke II), Berlin 1981, S. 139–144, hier S. 144. Vgl.: Scharfenberg, Joachim, Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung, Göttingen 1980, S. 22. Stein, Albert, Schuld –Vergebung – Beichte. In: Ammer, Heinrich, Henkys, Jürgen, Handbuch der Praktischen Theologie II, Berlin 1975, S. 313.

Die Beichtgelegenheit am Berliner Dom

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Für Luther bedeutet Gottesdienst feiern, „dass unser lieber Herr selbst mit uns redet durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“5 Dabei kennzeichnen viele evangelische Kirchen auch eine besondere äußere Gestalt. Wie alle Kirchengebäude ‚predigt‘ auch der Berliner Dom; wie jede Kirche ist der Dom „durchbeteter Raum“ (F. Steffensky). Man wird still vor etwas Größerem. Dabei wird der Raum mit Bedacht gefüllt: Das Bildprogramm, die Architektur, die Anordnung der Evangelisten. Bereits der äußere Rahmen, in dem Gottesdienste gefeiert werden, setzt Grundmomente eines evangelischen Gottesdienstes frei, wie − eine ganzheitliche Perspektive bei der Gestaltung des Gottesdienstes, die auch der Gemeinde ein ganzheitliches Erleben ermöglicht (Wort- und Sakramentsteil sind aufeinander abgestimmt, Liturgie und Kirchenmusik minutiös ineinander verschränkt); − eine Konzentration auf Kerngedanken evangelischen Gottesdienstverständnisses, die durch die Bibelstellen (sola scriptura), die Kostbarkeiten des Hauses (Orgel, Kanzel etc.) und das Bildprogramm (samt Reformatorenfiguren) hervorgerufen wird; − ein Reichtum unterschiedlicher Gedanken und Empfindungen, die allein durch den Raum, dann aber auch durch Kirchenmusik, Liturgie und Predigt geweckt werden und Gemeindegliedern erlauben, sehr verschiedene Dinge „mitzunehmen“; − eine besondere Sorgfalt bei der Gestaltung der Liturgie, die mit innerer Beteiligung und Zuwendung zur Gemeinde gefeiert wird und versucht, die liturgischen Details der Festlichkeit und Würde des Raumes anzupassen, in dem gefeiert wird.

3. Zur Entstehung und theologischen Inspiration der Einzelberichte am Berliner Dom Bei rund 700.000 Besuchern im Jahr wurde nach Gottesdiensten, Andachten oder Vespern am Berliner Dom häufiger die Frage laut: „Herr Pfarrer, können Sie mir die Beichte abnehmen?“ Mit dem Buß- und Bettag 2003 war am Berliner Dom die Gelegenheit zur Einzelbeichte durch einen feststehenden, wöchentlichen Termin erleichtert worden. In gewisser Hinsicht wurde ein „Sitz im Leben“ der Gemeinde und der Stadt geschaffen und dem praktischen Einwand entgegengewirkt, dass man gar nicht wisse, an wen man sich wenden solle, wollte man zur Beichte gehen. Neben praktischen Gesichtspunkten waren auch gesellschaftliche wie theologische leitend. Gesellschaftlich stellt die Beichte eine von mehreren Möglichkeiten des Umgangs mit Schuld dar. Theologisch ist die Beichte (im Element der Lossprechung) „praktizierte“ Stimme des Evangeliums (gemäß dem Jesus-Wort aus 5

WA 49, 588, 15f.

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dem Lukasevangelium: „Wer euch hört, der hört mich.“ (Luk. 10,16). Beichte in der Evangelischen Kirche wertet weder die Bedeutung vom Klerus auf (wie im zweiten Einwand sozialkritisch formuliert), noch schaltet sie (unevangelisch) die Kirche als Mittlerinstanz zwischen Gott und Mensch. In der Lossprechung wird vielmehr das Evangelium explizit hörbar und ausgerichtet auf den Einzelnen. Für diese Ausrichtung des Evangeliums bedarf es nicht des Klerus‘, auch nicht des ordinierten Amtes. Beichte hören und von der Sünde lossprechen kann jedes Gemeindeglied. Theologisch inspirierend für die Beichtpraxis am Dom waren Kerngedanken Dietrich Bonhoeffers,6 der seinerseits beabsichtigte, diese spirituelle Praxis im Rahmen der Pfarrausbildung der Bekennenden Kirche wiederzubeleben. Für Bonhoeffer rücken Vergebung und Schuldbekenntnis in einen engen Zusammenhang. Ein Mensch kann sich nur das vergeben lassen, was er als eigene Schuld erkannt hat. Vergebung ohne Schuldanerkennung ist ebenso unmöglich wie innere Befreiung ohne Anerkennung der Knechtschaft. Menschen, die in die Beichte kamen, identifizierten sich freiwillig mit ihrer je individuellen Schuld. Wo der Mensch sein Scheitern vorbringt, da ist der „Stolz im Kreuz“ überwunden, wie Bonhoeffer sagen kann. „Im Bekenntnis konkreter Sünden stirbt der Mensch unter Schmerzen einen schmachvollen Tod.“7 Als konkrete Sünden wurde in der Beichtpraxis am Dom das Scheitern an Geboten bekannt, wie „Du sollst nicht töten!“, wenn es etwa um Schwangerschaftsabbruch geht, oder „Du sollst nicht Ehe brechen!“ in der Partnerschaft. Die theologische Anschlussfähigkeit dieser Beobachtung ergibt sich über die systematische Unterscheidung zwischen Schuld und Sünde. Menschen, die in die Beichte gehen, haben allgemein gesprochen ein intuitives Verständnis davon, dass ihr verfehltes Handeln, also ihre ethische Schuld, etwas mit der gestörten Gottesbeziehung zu tun hat, also der Sünde. In der gegenwärtigen Beichtpraxis werden hauptsächlich moralische Verfehlungen, d.h. ethische Schuld thematisiert. Es geht weniger um das verfehlte Sein vor Gott, als um das dem anderen Menschen oder sich selbst gegenüber – auch wenn letztlich alle drei Dimensionen in den Blick kommen. In dieser Beobachtung sehe ich zum einen die Aktualität der reformatorischen Einsicht, dass moralische Schuld in der Sünde wurzelt. Pointiert gesagt: Wer Schuld auf sich lädt, hat eine Ahnung davon, dass etwas mit seiner Gottesbeziehung nicht stimmt, dass letztlich alle ethische Schuld im Scheitern am ersten Gebot gründet, ja dass im Scheitern am Gesetz etwas Positives steckt. Die verheißungsvolle Ahnung vom Evangelium ist bereits da, wo Schuld bekannt wird. In der Beichte geschieht weiter das, was Bonhoeffer den „Durchbruch zum Leben“ nennt: „Wo Sünde gehasst, bekannt und vergeben ist, dort ist der Bruch 6

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Für das Folgende vgl.: Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel (Dietrich Bonhoeffer Werke 5 (= DBW 5)), Gerhard Ludwig Müller und Albrecht Schönherr (Hrsg.), München 1987, S. 93–102. DBW 5, 96.

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mit der Vergangenheit.“8 In gewisser Hinsicht übersetzt sich das bekannte Pauluswort in das Leben der Menschen: „Das Alte ist vergangene, siehe, es ist alles neu geworden.“ (2. Kor. 5) Menschen, die in die Beichte kommen, wollen ihre Schuld (im figurativen Sinn des Wortes) ablegen. Da ist zunächst die große Entzauberung oder Befreiung, die allein schon durch das Aussprechen von Schuld geschieht und die Beichte in diesem Aspekt anschlussfähig für psychologische Betrachtungen macht. Bei der Bearbeitung von Schuld in der Einzelbeichte kommt zum Aussprechen der Sünde etwas Entscheidendes hinzu: der Zuspruch der Vergebung. Wie oft nämlich wurde ein Problem, das das Gewissen belastet, im Freundeskreis oder an anderer Stelle besprochen? Wie oft hat der Schwangerschaftsabbruch, der Jahre zurückliegt, dem Gewissen Schrecken eingejagt? Wie oft war das Empfinden da: Ich bin schuldig – auch vor Gott? Du sollst nicht töten – als Anklage, als Gesetz, das die Gewissen martert? Den Moment der Lossprechung fasst Bonhoeffer als „Durchbruch zur Gewissheit“. Es ist die Gewissheit, dass die in der Beichte zugesprochene Vergebung wirklich Gottes Vergebung ist. „Wer schafft in uns hier Gewissheit?“, fragt Bonhoeffer und gibt zur Antwort: „Diese Gewissheit schafft Gott selbst durch den Bruder.“9 Die Vergebung hat in der Beichte einen Zeugen. Ihm darf ich glauben. Es ist das persönliche Spüren der annehmenden göttlichen Liebe. Von der Macht der Sünde kann nur frei werden, wer seinen eigenen Anteil an ihr übernimmt. In der Einrichtung eines festen Beichtangebotes wird diesem Gedanken eine Struktur geschaffen. Schuld darf ausgesprochen werden und Vergebung empfangen. Die befreiende Kraft der Beichte als Durchbrucherfahrung ist eine kirchliche Perspektive, die Horizonte öffnet.

4. Praktische und liturgische Überlegungen Dem theologischen Entschluss, der Beichte einen Raum im kirchlichen Leben zu geben, folgte eine Reihe praktischer Überlegungen. Welche Liturgie würde man zugrunde legen? Welchen Ort wählen? Die Rückkehr zum Beichtstuhl (350 Jahre nach dem Berliner Beichtstuhlstreit) war ausgeschlossen. Zwar hätte sich angesichts der finanziellen Lage der katholischen Kirche in Berlin manche katholische Gemeinde möglicherweise gefreut, einen Beichtstuhl zu verkaufen, aber das Signal wäre von evangelischer Seite wohl problematisch gewesen. Zum einen vermittelt der Beichtstuhl eine theologisch falsch verstandene Anonymität; es geht im evangelischen Verständnis von Beichte nicht darum, dass der Pönitent „anonym“ bleibt. Vielmehr eröffnet sich in der Beichte gerade die Möglichkeit, sich mit der Sünde zu identifizieren, um danach von ihr freigesprochen zu werden. Zum anderen verstellt der Beichtstuhl im dämmrigen Licht eher den Blick auf das Versöh8 9

DBW 5, 96. DBW 5, 97.

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nungsgeschehen, auf das der Zuspruch der Sündenvergebung das Augenmerk richtet: das Kreuz. Im Ergebnis schien es richtig, als Ort für die Beichte den Altarraum zu nutzen. Theologisch verbindet sich damit der Gedanke: Es wird Anschluss gewonnen an das bereits realisierte Versöhnungsgeschehen; eine Aktualisierung des Heilgeschehens und der Heilsvermittlung zwischen Gott und Mensch durch Jesus Christus. Damit ist zugleich darauf hingewiesen, dass er, Jesus, allein und direkt Gnade vermittelt (nicht der Priester aufgrund des Gnadenschatzes der Kirche, wie eingangs im ersten, kontroverstheologischen Einwand formuliert). Der Ort für die Einzelbeichte sollte der Altarraum sein. Zwei Stühle sollten vor dem Altar stehen; auch war das rote Kniepolster zum festen Bestandteil der Beichtpraxis geworden, das sonst Konfirmanden oder Hochzeitspaaren zum Knien vor dem Altar dient. Trotz der fehlenden Anonymität ist das Beichtgeheimnis auch in der evangelischen Kirche unverbrüchlich. Es sind die Ohren des Beichtvaters/der Beichtmutter, die hören. Der Beichtraum muss also in sich abgeschlossen sein. Wie kann das verwirklicht werden? Im konkreten Fall am Berliner Dom wurde die Seitenkirche, die am Wochenende für Taufen und Trauungen genutzt wird, zu einem solchen geschlossen Raum für Versöhnung. Man könnte von der Tauf- und Traukirche als von einem überdimensionierten Beichtstuhl sprechen. Die Seitenkirche ist mit einer Tür zum Kaiserlichen Treppenhaus verbunden, so dass dort diejenigen Platz fanden, die auf die Beichte warteten. An einem Seitenportal nahm der Küster potentielle Pönitenten in Empfang. Ein Schild am Eingang des Doms verwies auf die Möglichkeit zur Einzelbeichte, so dass ein diskreter Zugang zur Beichte möglich war. Im Ergebnis waren mehrere Strukturelemente für die Realisierung der Beichte notwendig: ein geschlossener Raum, idealerweise der Altarraum/die Kirche, eine Art Warteraum, die das Beichtgeschehen abschirmt sowie eine vertraute Person, z.B. der Küster, der die Beichtwilligen in Empfang nimmt sowie Pfarrer/Pfarrerin bzw. Gemeindeglied zum Hören der Beichte und zur Lossprechung.

5. Ablauf der Beichte Die Tauf- und Traukirche wird für die Beichtgelegenheit vorbereitet und die Verbindungstür zur Hauptkirche geschlossen. In der Praxis waren es die Pfarrer am Dom, die die Beichte abnahmen. An der Tür zum Kaiserlichen Treppenhaus nahm einer der Dompfarrer den Beichtsuchenden in Empfang. Die Pfarrer trug liturgisch violett (Stola) und meist Anzug und Priesterhemd. Auf dem Weg von der Verbindungstür zum Altar findet ein kurzes Vorgespräch statt, in dem u.a. geklärt wird, ob überhaupt ein Beichtbegehren vorliegt. In manchen Fällen suchte man seelsorgerliche Orientierung. In diesen Fällen setzte man sich in die Bankreihe und führte ein Seelsorgegespräch, das dann auch in ein Beichtgespräch vor dem

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Altar münden konnte. In der Regel bestand ein Beichtbegehren, so dass man nebeneinander auf zwei Stühlen vor dem Altar Platz nahm. Es folgten erläuternde Bemerkungen zur Beichte. Die Pfarrer folgten im Weiteren der Beichtliturgie, die unter Zuhilfenahme von Luthers Katechismus und der Anleitung zur Einzelbeichte aus dem Gesangbuch entwickelt wurde und mit Elementen aus Erfahrungen mit der Einzelbeichte einer anderen Berliner Gemeinde angereichert wurde (siehe unten 6.) Besonders erwähnenswert aus der unten abgedruckten Beichtliturgie ist die Vorbereitung zur Lossprechung, die nicht an der Vollständigkeit des Bekenntnisses hängt. Ein evangelisches Verständnis von Beichte hat Reue und Glauben zur Voraussetzung. Reue (contritio) ist wesentlich ein Vorgang coram deo, also ein innerer Vorgang zwischen dem Einzelnen und Gott. Da man als Beichthörer nicht wissen kann, ob der Beichtende aufrichtig bereut, kann dies nur äußerlich erfragt werden. Am Ende der Beichte wurde eine Kerze an der Osterkerze in der Tauf- und Traukirche entzündet als symbolische Handlung, dass nun das Verhältnis des Menschen zu Gott neu geworden ist, gewissermaßen der Glaubende zurückversetzt wurde in den Zustand des „Soeben-getauft-worden-seins.“ Der zentrale Zusammenhang zwischen Beichte und Taufe wird damit symbolisch unterstrichen.

6. Liturgie (Beichtformular am Berliner Dom10) a) Erläuterung der Beichte Anrede: Sie können in der Beichte aussprechen, womit Sie sich seit Längerem quälen und was schwer auf Ihnen lastet, Sie können auch über das reden, was Sie im Alltag hindert, ein Leben zu führen, das Ihrer würdig ist und Gott gefällt. – Alles was hier gesagt wird, unterliegt dem Beichtgeheimnis. Ich darf mit niemandem darüber reden, auch nicht vor Gericht. Sie brauchen auch nicht zu fürchten, dass ich Sie später einmal auf jetzt Gesagtes ansprechen werde. Im eigentlichen Sinn bin ich Zeuge für das, was Sie Gott in der Beichte sagen wollen. b) Votum Jesus sagte zu seinen Jüngern: Nehmet hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünde erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten (Joh. 20,22).

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Erarbeitet von Domprediger i. R. F.-W. Hünerbein und R. Wüstenberg unter Bezugnahme auf Luthers Katechismus sowie das Ev. Gesangbuch, EG 792–802 in der Ausgabe für die Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1993..

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c) Gebet Herr, öffne uns Dein Herz, damit wir bereit werden, in aller Ehrlichkeit in uns hineinzusehen. Lass uns die Fehler nicht kleinreden und die Versäumnisse nicht beschönigen. Führe uns durch die Finsternis der Selbstwahrnehmung in die helle Wärme deines Lichtes. Amen d) Schuldbekenntnis Vor Gott bekenne ich meine Sünde. Ich will aussprechen, was mich belastet, auch wenn es mir schwerfällt. (Beichtbekenntnis) Wenn es schwerfällt, für das Eingeständnis der Schuld eigene Worte zu finden, kann folgendes Beichtbekenntnis zum Ausgangspunkt der Beichte gebraucht werden: „Ich bekenne vor Dir, mein Gott: Ich bin nicht so, wie du mich haben willst. Ich täusche andere. Ich denke schlecht von anderen und rede über sie. Ich übersehe ihre Not und drücke mich, wo ich helfen sollte. Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig.“ e) − − − − −

− − −

Lossprechung Ist Ihnen von Herzen leid, was Sie gebeichtet haben? Ja, es ist mir von Herzen leid! Bitten Sie um die Vergebung der Schuld? Ja, darum bitte ich. So beten Sie mit mir: Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Schaffe in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir. Amen. Wollen Sie darauf vertrauen, dass Gott Ihnen ein neues Leben schenkt? Ja, darauf will ich vertrauen! Lossprechung (Absolution): „Gott sei dir gnädig und stärke deinen Glauben! Du sollst gewiss sein, dass die Vergebung, die ich Dir zuspreche, Gottes Vergebung ist. (Unter Handauflegung:) In der Vollmacht, die der Herr seiner Kirche gegeben hat, spreche ich dich los: Dir sind deine Sünden vergeben. Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

f) Dankgebet „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler“ (aus Ps. 103) – Es kann das gemeinsame Beten des Vaterunsers folgen.

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g) Segen „Es segne und behüte dich der allmächtige und barmherzige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gehe hin in Frieden.“ h) Entzünden einer Kerze an der Osterkerze, Entlassung in die Hauptkirche.

Die katholische Beichte – Verlustanzeige oder Neuentdeckung? Ein persönlicher Praxisbericht über ein Sakrament, das Zukunft hat. Hermann Glettler

1. Einleitung In einer atmosphärisch härter und unbarmherziger gewordenen Gesellschaft wächst der Wunsch nach Freiräumen für Seele und Geist sowie die Sehnsucht nach einer Entlastung von Schuld. Beides sind wesentliche Voraussetzungen für eine stabile seelische Gesundheit. Gerade deshalb ist es umso bedauernswerter, dass die Beichte zumindest auf der Ebene der Pfarrpastoral vollkommen ins Abseits geraten ist. Nicht nur Priester und Seelsorger, auch etliche Psychotherapeuten und andere Personen, die im psychosozialen Bereich tätig sind, beklagen den Verlust der Beichte, die doch noch bis vor einigen Jahrzehnten zum selbstverständlichen Grundbestand einer katholischen Glaubenspraxis gehörte. Dieser bedauerlichen Diagnose zum Trotz gibt es jedoch neue Orte und neue Formen der Versöhnung, die Mut machen. Anstelle einer Beichte wird heute eher eine Möglichkeit der Aussprache gesucht. Menschen möchten von dem erzählen, was sie betrifft, und wollen dabei vorurteilsfrei angehört und ernst genommen werden. Im wirklichen Zuhören öffnet sich für den konkreten Menschen ein Freiraum, in dem auch das Bekennen von belastenden und mit persönlicher Schuld in Zusammenhang stehenden Ereignissen möglich ist. Aus diesem Grund braucht es dann sehr wohl jemanden, der zum Thema Schuld etwas Befreiendes oder Entlastendes zu sagen hat. Ich beobachte, dass das Bedürfnis nach einer Rechtfertigung des eigenen Handelns, sowie der Wunsch nach einer faktischen „Lossprechung“ auch und gerade in einer durchwegs säkularisierten Gesellschaft ungebrochen vorhanden ist.1 Erfreulicherweise mehrt sich die Nachfrage nach einer geistlichen (Weg-) Begleitung auch von Menschen, die keine oder nur eine geringe Kirchen1

Eine Rechtfertigung des eigenen Tuns (durch sich selbst oder durch andere Personen) wird direkt oder zumindest in indirekter Weise immer gesucht. Menschen erzählen ihre gefühlten Schulderfahrungen im Bekanntenkreis, im Warteraum der Arztpraxis oder beim Friseur und hoffen auf eine „Lossprechung“ im Sinne von „Du hast schon Recht gehabt“ oder „Das machen doch alle so“. Dahinter steht der unausrottbare Wunsch nach Rechtfertigung und Absolution. Ähnliches gilt für die fast lustvolle Bereitschaft von Talkshowgästen, in den entsprechenden Shows vor einem Millionenpublikum sehr persönliche Geständnisse (Beichten?) abzulegen. In den Talkshows wird das Bedürfnis nach Aussprache und Lossprechung gezielt vermarktet. Sehr ausführlich dazu: Zimmerling, Peter, Beichte, Leipzig 2014, S. 25–35.

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bindung haben. Es ist ein faszinierender Dienst, in dem es nicht selten um die großen Fragen des Menschseins und des Glaubens geht. Ebenso erfreulich ist die Zahl jener steigend, die ein persönliches Beichtgespräch suchen. In dieser durchaus zeitgemäßen Form der klassischen Beichte wächst noch deutlicher als im Beichtstuhl der Wunsch nach einem spirituellen und nicht selten auch psychotherapeutischen Coaching. Diese berechtigte Erwartung muss manchmal mit dem Hinweis auf ein diesbezüglich professionelles Angebot klar zurückgewiesen werden. Der vorliegende persönliche Praxisbericht reflektiert ein paar Hintergründe für den Verlust einer einst vitalen Beichtpraxis und skizziert anhand von persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen einige pastorale und seelsorgliche Weichenstellungen für die Zukunft. Ich hoffe, dass wir eines unserer stärksten Heilsmittel im Dienst an den Menschen unserer Zeit wieder besser zum Einsatz bringen können.

2. Ein totes Sakrament? Abgesehen von der nach wie vor lebendigen Tradition an bestimmten städtischen Beichtorten lässt sich in den meisten katholischen Pfarrgemeinden ein fast gänzlicher Ausfall des Sakramentes der Versöhnung beobachten. Nur ganz vereinzelt kommen Leute in der eigenen Pfarrkirche zur Beichte. Für viele ist die Praxis, sich in einen barocken Beichtstuhl oder ähnlich gebauten Kasten2 zu begeben, um seine Verfehlungen und Sünden einem Priester anzuvertrauen, obsolet geworden. Auch für durchaus kirchlich engagierte Christen hat die Beichte ihre Plausibilität und Notwendigkeit verloren. Eine Ursache dafür ist gewiss die Überbetonung der Verfehlungen im Lebensbereich Sexualität. Das teilweise penetrante Insistieren auf Sünden im Zusammenhang mit dem sechsten Gebot ist ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und hat viel zu einem generellen Misstrauen gegenüber der Beichte beigetragen. Auch die Andachtsbeichten, die zur sinnentleerten Pflichterfüllung verkommen sind, haben ausgedient. Eine tiefer liegende Ursache für den Verlust der Beichte liegt gewiss auch in einer bestimmten Verkündigungspraxis, in der Umkehr und Buße nicht wirklich plausibel vorkommen. Heutzutage in verantwortbarer Weise über den Themenkomplex von Schuld und Vergebung zu sprechen, ist tatsächlich nicht einfach. Auf der einen Seite droht die Verharmlosung des Themas und auf der anderen Seite die Reduktion der befreienden Botschaft des Glaubens auf ein moralistisches Programm. Trotz der üblichen Schwierigkeit, sich persönlich als Sünder zu bekennen, leiden viele unter der Tatsache, dass die Welt im Großen wie im Kleinen an teilweise dramatischen Schieflagen leidet. Man nimmt sehr wohl die offensichtlichen Auswirkungen 2

Der Beichtstuhl erlebt trotz dieser kritischen Sicht auch eine positive Bewertung. Es ist in unserer Zeit, in der eine Fülle von Informationen über jeden Bürger gespeichert und damit auch „öffentlich“ sind, vielleicht der einzige noch verbleibende intime Ort. Der Beichtstuhl sozusagen als Zufluchtsort und noch verbleibende Schutzraum für den „gläsernen Menschen“ unserer Zeit.

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schuldhaften Verhaltens wahr – höchst aktuell in Bezug auf Ökologie und einer gerechten Verteilung der Lebensgüter – und tut sich trotzdem mit dem Anerkennen eigener Schuldanteile schwer. Das Bewusstsein für das, was Schuld und Sünde ist, scheint vollkommen unterentwickelt zu sein. Die Beichte taucht als positive Alternative zu einer krampfhaften Selbstentschuldigung oder ebenso sinnlosen Schuldzuweisung an „die Anderen“ nicht (mehr) im Bewusstsein der Leute auf. Selbst die Einladung zur Beichte im Zuge eines Einkehrtages oder einer traditionellen Wallfahrt wird kaum mehr angenommen. Ebenso verloren gegangen ist das Verständnis für die Zusammengehörigkeit von Taufe und Beichte. Die Taufe ist doch das ursprüngliche Sakrament der Umkehr und Neuausrichtung des Lebens. Das Katechumenat war in der jungen Kirche nicht nur die schrittweise Einführung in den christlichen Glauben, sondern auch ein Weg der bewussten Abwendung von allem, was einer Lebensgemeinschaft mit Christus widerspricht. Die Taufe selbst besiegelte diesen Prozess der Umkehr. Seit einigen Jahren bereiten sich jährlich in unserer Gemeinde ein paar Personen auf den Empfang der Taufe in der Osternacht vor. Die Leute in der Pfarrgemeinde erleben dabei die Entschlossenheit und die Begeisterung der Taufbewerber und fragen sich unweigerlich, welchen Stellenwert die Zugehörigkeit zu Christus in ihrem eigenen Alltag hat. Indirekt wird damit zeugnishaft für eine Haltung der Umkehr geworben und es wird auch leichter verständlich, dass in der Beichte die ursprüngliche Gnade der Taufe erneuert wird. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Beichte unter diesem Aspekt wieder sinnvoll erscheint und von einigen neu entdeckt wird. Ein weiterer Aspekt, der zur Sinnentleerung des Bußsakramentes geführt hat, war die zu starke Individualisierung von Schuld und Vergebung. Die Versöhnungspraxis der ersten Jahrhunderte, die sich durch eine selbstverständliche Einbettung von Schuldbekenntnis und Versöhnungsritus im Gottesdienst der Gemeinde vor Ort auszeichnete, ging mit der Konzentration auf den einzelnen Gläubigen und seinen individuellen Weg der Buße sukzessive verloren. Tatsache ist jedoch, dass jeder Gläubige als Teil einer Gemeinschaft durch sein Versagen diesen geistlichen Organismus (Leib) entstellt, bzw. in seiner Wirksamkeit beeinträchtigt. Ebenso wird auch das positive Engagement des Einzelnen, seine Umkehrbereitschaft und Versöhnung zum Segen für alle. Ein Versuch der Rückgewinnung der kirchlichen Dimension war die Einführung von sogenannten „Bußfeiern“ Anfang der 1980er Jahre. Das gemeinsame Umkehren zu Gott und der „soziale“ Charakter von Versöhnung und Wiedergutmachung sollte zum Ausdruck kommen. In der Wahrnehmung der Leute war jedoch die Bußfeier im Vergleich zur Beichte die einfachere und zeitgemäßere Form. Die Annahme der Bußfeiern in den Gemeinden war anfangs überwältigend euphorisch, was die Seelsorger zur Annahme verleitet hat, damit ein geeignetes Instrument einer gemeinschaftlichen Versöhnungspraxis für die Zukunft gefunden zu haben. Leider hat sich dies nicht bewahrheitet. Ähnliches ist auch von Bußan-

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dachten zu sagen, die teilweise als Vorbereitung auf die persönliche Beichte und teilweise auch als Ersatz dafür eingeführt wurden. Der Zuspruch zu diesen verschiedenen „Liturgien der Umkehr“ ist zur Zeit in nahezu allen katholischen Gemeinden relativ schwach. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die klassische Beichte generaldiagnostisch zwar nicht für tot zu erklären ist, es kann aber auch nicht behauptet werden, dass die Mehrzahl der katholischen Gläubigen mit diesem Sakrament etwas Wesentliches verbindet. Es ist ein Sakrament im Abseits, das dennoch seine Relevanz erweist und sich in neuen geistlichen Aufbrüchen wieder zurückmeldet.

3. Neue Vitalität Ein möglichst unvoreingenommener Blick auf die aktuelle Bußpraxis der katholischen Kirche liefert ein ausgesprochen divergierendes Bild. Es gibt kirchliche Orte – in den Städten meist Klosterkirchen oder seit Jahrzehnten als solche bekannte „Beichtkirchen“ – in denen nach wie vor eine ungebrochene Nachfrage nach dem Sakrament der Versöhnung besteht. Meist ist es die klassische Ohrenbeichte im Beichtstuhl, die mit einem scheinbar ungebrochenen Interesse gepflegt wird. Keineswegs sind es nur alte Personen, sondern erfreulicher Weise relativ viele junge Menschen, die sich in eine regelmäßige Beichtpraxis einüben. Es ist allerdings die absolute Ausnahme, dass sich die Motivation dazu einer positiven Erfahrung schulischer Pastoral (Schülerbeichte) oder der traditionellen Bußpraxis einer Pfarrgemeinde verdankt. In den allermeisten Fällen steht dahinter eine persönliche, mit starken positiven Emotionen abgespeicherte Glaubenserfahrung.3 Möglich wurden diese prägenden geistlichen Ersterfahrungen meist durch die Teilnahme an einem kirchlichen Jugendevent und der dabei erlebten Dynamik geistlichen Tuns, eingebettet in einer von Gemeinschaft und Lebensfreude getragenen Atmosphäre.4 Diese zu beobachtende Renaissance der Beichte unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist eine Frucht von Weltjugendtagen, Taizétreffen, internationalen Jugendforen, Jugendtagen und Wallfahrten, Pfingsttreffen, klassischen Exerzitien, Wüstenexerzitien, Sommerlagern, Sportaktivitäten in Kombination mit geistlichem Programm und ähnlichem mehr.5 Bei diesen Initiativen, die größtenteils von neuen geistlichen Gemeinschaften getragen werden, ist es vor 3 4

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Meine persönliche, außergewöhnlich positive Beichterfahrung habe ich auch als Jugendlicher im Rahmen eines Glaubenskurses der „Charismatischen Erneuerung“ gemacht. Ich hatte einige Wochen nach meiner Priesterweihe (23.06.1991) die Chance, in Paray le Monial anlässlich eines internationalen Sommerforums stundenlang Beichte zu hören. Es war für mich als junger, unerfahrener Priester eine von Gott geschenkte Feuertaufe in diesem Dienst. Das Vertrauen der vielen jungen und vor allem auch der alten Menschen in mich als Priester, der Zeuge von ganz persönlichen Umkehrprozessen wird, hat mich tief berührt. An dieser Stelle müsste man fast alle großen katholischen Wallfahrtsorte und neuen geistlichen Zentren nennen, an denen ein guter Empfang und eine aufmerksame Begleitung sowohl der traditionellen Pilger als auch der neuen Gottsucher stattfinden.

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allem auch die Vorbildwirkung anderer, die den Schritt zu einer persönlichen Hinwendung zu Gott und der damit verbundenen Umkehr gewagt haben und ein positives Zeugnis davon ablegen. Am überzeugendsten und nachhaltigsten erweist sich dieser Trend in jenen geistlichen Aufbrüchen, wo mit der geschenkten Umkehr auch ein konkretes soziales Engagement verbunden wird. In der gewöhnlichen Pfarrpastoral sind diese ursprünglichen und zur echten Lebensumkehr motivierenden Glaubenserfahrungen kaum zu initiieren. Die wesentlichen Impulse und Neuansätze zu einer Wiederentdeckung des Sakramentes der Versöhnung kommen derzeit von außerhalb der Gemeinden und werden teilweise – oft nur durch Einzelpersonen – in sie hineingetragen. Zahlreiche Menschen werden durch die Verkündigung der befreienden Liebe Gottes und durch die spirituelle Intensität an alten und neuen Wallfahrtsorten innerlich bewegt. Sie hören von der Barmherzigkeit und Vergebungspraxis Jesu und von Menschen, die einen Schritt der Umkehr gewagt haben. Sie machen damit eine erste, wenn auch sehr anfangshafte Erfahrung von Gottes bedingungsloser Liebe. Es wächst die Sehnsucht nach einem neuen Leben in größerer Freiheit, sodass die Entscheidung, sich in der Beichte einem Priester anzuvertrauen, leichter fällt. Es sind meist nicht die akribischen Sündenaufzählungen der alten Beichtspiegel, ebenso wenig die drastischen moralischen Appelle, die Menschen zur Umkehr bewegen, es ist Gott selbst, der sich den Menschen zuwendet. Überraschend „besucht“ er sie und greift damit heilend, tröstend und vergebend in konkrete Lebensgeschichten ein. Nicht selten kommt es auch zu einer existentiellen Erschütterung, wenn es jemand „mit Gott zu tun bekommt“. Meist jedoch ist es ein sanftes Berührt-Werden durch den Heiligen Geist, der den Einzelnen erkennen lässt, was Sünde ist. Er deckt lebenswidrige Haltungen und Abhängigkeiten auf, gibt Mut zum Bekenntnis und befähigt zu einem neuen Leben in der Freiheit der Kinder Gottes. Was hier als geistlicher Umkehrprozess an den neuen und alten Zentren der Spiritualität beschrieben wurde, gibt auch die Richtung zu einer möglichen Revitalisierung der Beichte in den Pfarrgemeinden an. Nur wenn der traditionelle Gläubige oder ein zufällig in die Kirche hineingestolperter Suchender unserer Zeit von der Gegenwart Gottes berührt wird, kommt es zu einem Bedürfnis nach Umkehr. Weil Gott eingreift, kann der Mensch sich öffnen und das Herz von Stein wird in ein Herz von Fleisch verwandelt. Auf Distanz gehen und Härte zeigen sind kollektive Reflexe in einer spürbar härter und im Umgang der Menschen untereinander unbarmherziger gewordenen Gesellschaft.6 Auf diesem Hintergrund wird 6

Menschen werden mit den übertriebenen Anforderungen einer erfolgsverwöhnten Zeit nicht mehr fertig. Zudem sind fast alle gesellschaftlichen Bereiche einer „Übertribunalisierung“ ausgesetzt. Der Begriff stammt von Ulrich Körtner, Die Presse, Printausgabe vom 17.05.2008. Immer rascher und unerbittlicher werden Alltagskonflikte vor das Tribunal des Gesetzes gezerrt. In dieser Atmosphäre des Anklagens von Verfehlungen und oft auch nur kleinster Rechtsverletzungen wächst ein negatives Grundgefühl, das ein gesellschaftliches Zusammenleben dauerhaft gefährdet.

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es als besonders heilsam und befreiend erlebt, gerade im Namen Gottes nicht angeklagt zu werden, sondern in seinem Namen Vergebung und damit Entlastung zu erfahren7. Hier tut sich für eine vom Evangelium inspirierte Versöhnungspraxis ein ganz neuer gesellschaftlicher Raum auf, den wir unbedingt wahrnehmen müssen. Allerdings wird dies nicht von der Mehrheit der Bevölkerung so gesehen. Im Ernstfall eines Versagens – speziell beim Scheitern von Ehen und Beziehungen – fühlen sich die Leute von der Kirche im Stich gelassen. Die Kirche erleben oder vermuten sie leider nur auf der Seite der Tugendhaften und moralisch Einwandfreien. Wir tragen zu diesem furchtbaren Missverständnis weiterhin bei, wenn wir unsere pastorale Ausrichtung in diesem Punkt nicht deutlich korrigieren. Wir selbst sind doch ebenso Sünder, die von der Barmherzigkeit Gottes leben. Aufgrund dieser Tatsache ist es unmöglich, dass wir jemandem, der die eigene Schuld bekennt und um eine „Entlastung“ bittet, diese verweigern. Wer wirklich zu Gott umkehren möchte und bei ihm Trost und Heilung erwartet, muss diesen Zuspruch in einer geregelten Form von der Kirche bekommen.

4. Perspektiven für eine erneuerte Praxis Der Blick auf die Bedeutung des Bußsakramentes in der aktuellen Pastoral der katholischen Kirche (erster Teil dieses Praxisberichtes) fiel relativ ernüchternd aus; und in der evangelischen Kirche ist es nicht anders. Trotzdem lassen sich an verschiedenen geistlichen Orten Zeichen des Aufbruchs zu einer neuen Praxis erkennen. Der nun folgende Abschnitt will einige Perspektiven eröffnen, wie es gelingen könnte, das so wichtige Sakrament auf der Ebene der Pfarrpastoral wieder der Belanglosigkeit zu entreißen. Es braucht dazu eine gezielte und gemeinsame Anstrengung aller Personen, die in der Pastoral tätig sind und ebenso den Mut für eine neue Phase des Experimentierens. Was hindert uns daran, neue Wege der Bußpraxis zusätzlich zur Höchstform des Sakramentes, wie sie uns in der Beichte vertraut ist, zu versuchen? Besonders geeignet für diesbezügliche Initiativen sind die 40 Tage der österlichen Bußzeit, die man auch als „Exerzitien für das ganze Volk Gottes“ bezeichnen könnte. Sie beginnen mit einem markanten Zeichen der Einladung zur Umkehr (Aschenkreuz) und finden ihren Abschluss in der Liturgie des Gründonnerstags (Fußwaschung) oder in der Osternacht (Erneuerung des Taufversprechens). Für diese Zeit kann man einen Umkehr- und Versöhnungsweg entwickeln, der gemeinschaftlich getragen ist und trotzdem dem Einzelnen den nötigen Spielraum für seinen persönlichen Weg offen lässt.8 7

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Ohne den Horizont einer Verantwortung vor Gott und einer möglichen Entlastung durch ihn, befindet sich der Mensch in der Lage, mit seiner Schuld und Schuldverflochtenheit selber fertig werden zu müssen. Vgl. dazu Zimmerling, Beichte (s. Anm. 1), 36. Sehr positiv angenommen wurde in unserer Pfarrgemeinde eine Serie von Predigten zum Thema Versöhnung an den Fastensonntagen, sowie die Verwendung von Zeichen und Symbolen, die

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Abgesehen von der Anstrengung um eine zeitgemäße Form der Bußpraxis braucht es eine inhaltliche und spirituelle Erneuerung in Bezug auf Umkehr und Versöhnung. Weder eine beschwörende Belebung der tradierten Form, noch eine experimentell ausgerichtete Suche nach neuen Formen wird eine Neubelebung des Bußsakramentes bringen. Die wichtigste Voraussetzung ist eine neue Pastoral (Seelsorge), die Umkehrprozesse von Menschen anregt und diese begleitet.9 Entscheidend ist eine verständliche und zu Herzen gehende Verkündigung des Evangeliums. In ihr kommt Jesus Christus als Herr des Lebens zur Sprache, der das Entscheidende zu sagen hat und jeden von uns immer neu zu einer sinnstiftenden Umkehr herausfordert. Ebenso müssen die Leute konkret erleben können, wie versöhnte Menschen miteinander umgehen und wie sich der Unterschied anfühlt, ob jemand aus der Vergebung Gottes lebt oder nicht. Die Bildung kleiner kirchlicher Gemeinschaften – Basisgruppen auf der Basis des Bibelteilens, Pfarrzellen, Hauskreise, Dorfrunden, u.a. – könnte diesbezüglich sehr wertvoll sein. Ich erlebe dies in unserer Gemeinde als einen zukunftsweisenden Versuch. Als nachhaltig erweist sich Umkehr und Versöhnung dann, wenn Menschen nicht mehr nur für sich selbst leben, sondern nach ihrem Auftrag in ihrem konkreten Lebensumfeld fragen. Ein wirklich bekehrter Mensch lebt nicht mehr allein für sich selbst. Ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen möchte ich nun im Folgenden einige Momente benennen, die für ein möglichst zeitgemäßes Verständnis des Bußsakramentes (Beichte) in Zukunft von Bedeutung sein könnten. Vorbereitung der Beichte: Ich beginne mit einigen Fragen, die die persönliche Vorbereitung des Sakramentes betreffen. Für den einzelnen Gläubigen ist dies oft ein mühsames Geschäft und die erste abweisende Hürde. Meist versucht man mit einem möglichst selbstkritischen Blick in die Vergangenheit ein paar Sünden oder zumindest ein paar Defizite und Unterlassungen zu benennen, die ein Bekenntnis sinnvoll erscheinen lassen. Trotz des guten Willens und der Zuhilfenahme von Beichtspiegeln verläuft diese Bemühung oft relativ erfolglos. Entweder sind die Zeitabstände zur letzten Beichte schon zu lang oder es ist bei bestem Willen einfach nicht zu erkennen, was als Sünde im eigenen Verhalten auszumachen wäre. Wesentlich zielführender als ein ausschließlicher Blick in die Vergangenheit ist ein Blick in die Zukunft mit folgenden Fragen: Was und wie möchte ich eigentlich leben? Wofür möchte ich meine Lebensenergie einsetzen? Wozu bin ich Christ?

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dem Versöhnungsweg zugeordnet waren (Wasser, Steine, Blumen, Uhr, u.a.). Zusätzlich dazu wurden an den Fastensonntagen Bildkarten mit Impulsen und konkreten Aufgabenstellungen für die nächste Fastenwoche verteilt, die eine schrittweise Vorbereitung auf den persönlichen Empfang des Bußsakramentes ermöglichten. Eine lauwarme Beschwichtigungspastoral, die den Kirchenmitgliedern ständig erklärt, wie gut sie sind, wird damit sicher nicht gemeint sein. Damit möchte ich aber keineswegs einer einseitigen Sündenpredigt das Wort reden. Zwischen einer Sündenfixiertheit in der kirchlichen Verkündigung – leider nicht nur ein Phänomen der Vergangenheit – und einer totalen Ausblendung des Themas liegt ein breites Feld, das kreativ zu gestalten ist.

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Was erwartet Gott von mir in meiner aktuellen Lebenssituation? Was brauchen die Menschen in meiner Umgebung? Diese und ähnliche Fragen können dazu beitragen, den Blick nach vorne zu richten.10 Dahinter steht die Überzeugung, dass Christsein keine Privatsache ist, sondern eine Berufung und Sendung aus der Kraft der Taufe. Dieser Blick ermöglicht dann relativ rasch ein Erkennen wesentlicher Defizite im Wahrnehmen der Differenz von dem, was faktisch gelebt wird und dem, was im Sinne des Evangeliums notwendig wäre. Vor allem kommen damit auch fragwürdige Haltungen und Grundeinstellungen in den Blick, die dem eigentlichen Auftrag des Christseins in der Welt von heute widersprechen.11 Empfang: Aus Erfahrung weiß ich, dass das atmosphärische Umfeld eines Beichtgesprächs und die Grundhaltung, in der es stattfindet, ganz entscheidend sind. Die äußeren Umstände, wo und wie das Sakrament gespendet wird, tragen viel dazu bei, ob sich jemand öffnen kann. Ein einladender Raum, ein bewusst gestaltetes Beichtzimmer und selbst ein Beichtstuhl, der gepflegt ist, sind ein Signal des Willkommens. Ebenso positiv ist die Angabe einer fixen Zeit (verlautbart im Pfarrblatt oder im Kirchenraum ersichtlich ausgehängt), in der ein Priester für die Beichte zur Verfügung steht. Dankbarkeit: Nach der Begrüßung und dem Kreuzzeichen ist ein kurzes Gebet des Dankes sinnvoll. Ich selbst praktiziere es ganz selbstverständlich und mache die Erfahrung, dass es der Person, die zur Beichte kommt, ein positives Grundgefühl für ein Angenommen-sein von Gott vermittelt und auch den Stress nimmt, gleich selbst etwas sagen zu müssen. Dankbarkeit muss geübt werden. Sie ist ein Ausdruck der Umkehr zu Gott, denn Undankbarkeit ist die eigentliche Ursünde heutiger Zeit. Alles scheint selbstverständlich zur Verfügung zu stehen. Wenn etwas fehlt, wird es eingeklagt bzw. werden entsprechende Ansprüche formuliert. Um dieser Fehlhaltung entgegen zu wirken, lade ich nach dem Dankgebet auch die beichtende Person ein, mit der Formulierung eines Dankes zu beginnen. Es kann auch die Dankbarkeit für etwas sein, was seit dem letzten Empfang des Sakramentes gelungen ist. Mit diesem bewussten Vorspann der Dankbarkeit lässt sich wesentlich leichter auch der Blick auf das Scheitern, sowie auf die Verfehlungen und Unterlassungen richten.

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Auch der griechische Ausdruck für Sünde, „hamartia“, weist in diese Richtung. Er bedeutet ursprünglich „Verfehlen eines Zieles“. Sünde ist also eine Verfehlung dessen, was für das eigene Leben und für dasjenige der Mitmenschen gut ist und damit in Zukunft zu tun wäre. Oft sind verkehrte Haltungen das eigentliche Problem und nicht einzelne Verfehlungen. Exemplarisch seien nur ein paar aufgezählt: Die narzisstische Haltung einer permanenten Sorge um sich selbst; Engherzigkeit und mangelnde Großzügigkeit im Blick auf die Not der Zeit; eine geistige und emotionale Unbeweglichkeit für neue Herausforderungen; eine bis ins Krankhafte reichende Unversöhnlichkeit mit bestimmten Menschen; etc.

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Schuldbekenntnis: Für den nächsten Schritt braucht es den Mut zur Deklaration von Schuld und Sünde. Das Zugeben und Aussprechen von eigener Schuld fällt niemandem leicht. Zu sehr haben wir uns an Verdrängungen und Verharmlosungen gewöhnt. Zu sehr leben wir im atmosphärischen Sog einer Gesellschaft, in der es kaum so etwas wie eine Kultur von Versöhnung gibt, geschweige denn ein dafür notwendiges Zugeben von Verfehlungen und Schuld. Schuldeingeständnisse werden als Niederlagen gewertet. Diesem Zeitgeist zum Trotz kommt man um ein demütiges Hinschauen, Wahrnehmen und Benennen von Schuld nicht herum. Nur das, was als Schuld anerkannt wurde, kann vergeben werden. Das möglichst klare Benennen von Sünde hat auch den Charakter einer bewussten Distanzierung: Dies oder jenes will ich eigentlich nicht tun! So möchte ich eigentlich nicht leben! Es tut mir leid, dass ich es trotzdem getan habe. Um diesen heilsamen Effekt zu erreichen, ist es nicht damit getan, sich relativ pauschal als ein Mensch mit Verfehlungen zu bekennen. Wie bei einem Arztbesuch ist es hilfreich, Erkrankungen möglichst genau zu benennen und zu diagnostizieren, damit ein Heilungsprozess mit einer gezielten Behandlung eingeleitet werden kann. Dieses Verständnis der Beichte als geistlicher Arztbesuch ist besonders durch die Bußpraxis der Wüstenväter und der iro-schottischen Mönche historisch belegt, die ein genaues, detailliertes Sündenaufzählen verlangt haben, um eine darauf abgestimmte geistliche Therapie empfehlen zu können. Wort Gottes: Nach dem Bekenntnis der Sünden und vor der Lossprechung durch den Priester ist ein gemeinsames Hören auf das Wort Gottes von größter Bedeutung. Gott selbst hat in diesem kostbaren Moment, wo sich ein Mensch öffnet und etwas sehr Persönliches von sich preisgibt, das Wesentliche zu sagen. Dazu braucht es einen einleitenden Moment der Stille. Ich persönlich rufe in dieser Stille den Heiligen Geist an, um möglichst klar die wesentlichen Momente des Bekenntnisses erfassen zu können und durchlässig für einen Zuspruch Gottes zu werden. Danach ist es sinnvoll, dass der Priester ein Wort aus der Heiligen Schrift zitiert oder auf eine Stelle des Evangeliums Bezug nimmt. Damit ist auch die persönliche Beichte zumindest ansatzweise in eine Wort-Gottes-Feier eingebettet. Außerdem wird damit die Person, die von Gott Vergebung empfangen will, nicht (nur) mit guten oder weniger guten Ratschlägen des Beichtpriesters konfrontiert, sondern mit dem lebendigen Wort Gottes. Dieses Zusprechen eines biblischen Wortes gibt dem Beichtenden vielleicht auch den Anstoß, sich selbst in Zukunft deutlicher am Wort Gottes zu orientieren. Natürlich ist es sinnvoll, wenn der Beichtpriester aufgrund seiner geistlichen Erfahrung auch die eine oder andere Richtungsweisung mit auf den Weg gibt. Allerdings sollte dies tatsächlich im Rahmen bleiben und sich nicht in Richtung einer Lebensberatung entwickeln. Die geistliche Erfahrung von Vergebung sollte durch nichts überlagert werden. Zu viele Ratschläge – und unter ihnen sind es vor allem die allzu gut gemeinten – können auch für eine Entwicklung des Pönitenten hin zu einer größeren Eigenverantwortung auf dem geist-

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lichen Weg eher hinderlich sein. Der zuhörende und lossprechende Priester ist in seinem Dienst unersetzlich, doch er sollte sich nicht in den Vordergrund drängen, weder als Lebensberater, noch als Therapeut, und vor allem keine falsche Bindung auf der Beziehungsebene zum Empfänger des Sakramentes aufbauen. Lossprechung: Der Höhepunkt der Beichte ist die Lossprechung und die daraufhin ausgesprochene Sendung. Die biblische Neuausrichtung des Sakramentes muss sich am Gleichnis des Barmherzigen Vaters orientieren. Der barmherzige Vater läuft seinem Sohn, der am Schweinetrog gelandet ist, entgegen und umarmt ihn mit einer bedingungslosen Herzlichkeit, zu der nur Gott fähig ist. Die Lossprechung durch den Priester hat die Qualität dieser Umarmung durch Gott. Unzählige Male durfte ich dies schon erleben – verbunden mit einer unbeschreiblichen Freude, die auch mich als Priester in meiner Identität bestätigt und gestärkt hat. Lossprechung bedeutet wieder voll in die Lebensgemeinschaft mit Gott aufgenommen und als sein Sohn und seine Tochter angenommen zu sein.12 Die Lossprechung, die der Priester im Namen Jesu spricht, ist eine Entlastung von allem, was im Bekenntnis an Schuld ausgesprochen wurde und auch von dem, was dem Beichtenden gar nicht als Schuld bewusst war. Gottes Vergebung erreicht die Tiefenschichten der menschlichen Seele, wenn sich der Beichtende dafür öffnet. Die Lossprechung ist zugleich die Wiederversöhnung mit der konkreten Gemeinschaft der Kirche, als dessen Vertreter der Priester ebenso aktiv wird. Die Lossprechung ist des Weiteren die Zusage von Gottes Begleitung und Segen für die Zukunft. Wer in dieser Weise losgesprochen und entlastet wurde, übernimmt mit dem Empfang des Sakramentes auch den Auftrag, im Dienst der Versöhnung in der persönlichen Umgebung zu wirken. Einübung: Auch wenn Versöhnung ohne Vorleistung geschenkt wurde, braucht es Impulse für die Änderung von Lebensgewohnheiten und Fehlhaltungen, die zur Sünde geführt haben und auch in Zukunft zu dieser verleiten werden. Das neue Leben, das durch das Sakrament der Versöhnung ermöglicht wurde, braucht eine Einübung. Wenn Befreiung geschehen ist, braucht es kluge Weichenstellungen, damit der geistliche und menschliche Ertrag nicht bald wieder versiegt. Früher hatte man dazu die Bezeichnung „Buße“ verwendet. Diese Bezeichnung ist irreführend, weil sie zur Annahme verleitet, der Umkehrwillige könne sich Vergebung und Versöhnung selbst erarbeiten, bzw. durch Buße erwirken. Versöhnung ist jedoch ein Geschenk Gottes, das Leben verändert. Wenn Versöhnung passiert, öffnet sich der Himmel. Es gibt wieder Zukunft. Darauf ist jedes Sakrament – und 12

Gott, der verlässliche „Freund des Lebens“, will durch die Vergebung Leben schenken, das durch die Sünde beeinträchtigt oder zerstört wurde. Denn Sünde ist in vielfältiger Weise „tödlich“ und niemals harmlos. Gier, Hass, Stolz, Neid und vieles mehr „töten“ das Zusammenleben von Menschen. Sünde im eigentlichen Sinn und in ihrer vielfältigen Form führt zumindest zu gravierenden seelischen Verletzungen aller Beteiligten.

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im Speziellen das Sakrament der Versöhnung – ausgerichtet. Jesus fasst in dem Wort „Ich verurteile Dich nicht!“ das gesamte Evangelium zusammen. Aber er fügt noch hinzu: „Geh und sündige nicht mehr!“ Dieser zweite Satz ist ebenso zu beachten. Es macht Sinn, wenn der Priester einen Vorschlag macht, wie die betreffende Person etwas einüben könnte, was sich neu in der Freiheit und Freude der Gotteskindschaft leben lässt. Es kann dies eine Ermutigung zum regelmäßigen Gebet sein oder ein sehr konkreter Dienst für jemanden und vieles mehr. Der Kreativität ist hier keine Grenze gesetzt. In jedem Fall geht es um die Erfahrung, nach der Beichte neu beginnen zu können. Das hat auch eine festliche Note, die nicht zu kurz kommen sollte. Die Anleihe dazu nehme man am schon erwähnten Gleichnis vom barmherzigen Vater und an ähnlichen Gleichnissen im Evangelium. Welch eine Freude, wenn die verlorene Drachme oder das verlorene Schaf wiedergefunden wurde! Versöhnung soll in irgendeiner Weise – ohne Übertreibung oder Verordnung – zum Fest werden.13 Es darf zumindest an der wiedergewonnen Lebensfreude sichtbar sein, dass jemand bei der Beichte war. Vielleicht wird die Beichte ihren ursprünglichen Ort in der Mitte christlicher Frömmigkeit und im Dienst an einer versöhnungsbedürftigen Gesellschaft in Zukunft wiedergewinnen. Dazu braucht es eine neue gemeinsame Anstrengung und ein kreatives Entwickeln unterschiedlichster Formen einer für den Menschen von heute relevanten Versöhnungspastoral. Ebenso gehört dazu ein unverkrampftes Wahrnehmen, dass die wesentlichen Impulse zur Neubelebung der Beichte derzeit von „auswärts“ kommen – für mich als Katholiken durchaus überraschend auch von evangelischen Kirchen, die die Beichte als zeitgemäße Versöhnungspraxis wiederentdecken und neu beleben.

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Auch die passenden Zeichen könnten dafür eingesetzt werden. So bringt z.B. ein Ehemann nach der Beichte für seine Frau einen Blumenstrauß mit nach Hause und sagt damit vieles – vielleicht auch jenes Wort der Bitte um Entschuldigung, das ohne die heilsame Erfahrung des Sakramentes nicht über die Lippen kommen wollte. Viele ähnliche Beispiele könnte man hier aufzählen, die eine ganz natürliche Verschränkung der Beichte mit dem alltäglichen Leben deutlich machen. Es soll jedenfalls erkennbar sein, wenn jemand das Sakrament der Versöhnung empfangen hat, um einen Neuanfang zu setzen.

Beichte – Ort der Vergebung, Ort der Heilung? Oder: Zwischen Sündenvergebung und Lebensbegleitung Überlegungen zur therapeutischen Dimension der Beichte Klemens Schaupp Beichte ist ein Sakrament, in dem einem schuldig gewordenen Menschen in besonderer Weise die Vergebung zugesprochen wird. Voraussetzung dafür ist von Seiten des Menschen einerseits die Einsicht in seine Schuld, andererseits die Reue als Bereitschaft angesichts der Nähe des Reiches Gottes der Einladung Jesu zu folgen: „Kehrt um und glaubt an die Heilsbotschaft.“ (Mk 1,15). Camillo de Lellis (*1550 in den Abruzzen, 1614 in Rom)1 erzählt einem Wohltäter der von ihm gegründeten Gemeinschaft der Krankendiener, wie sich in seinem Leben diese Umkehr ereignet hatte. Camillo war adeliger Herkunft – jedoch ein schwer erziehbares Kind. Seine Mutter starb, als er zwölf Jahre alt war, sein Vater – selbst Hauptmann – war kaum zu Hause. Nachdem wiederholte Versuche ihn zu beschulen gescheitert waren, steckte sein Vater ihn in die Armee. Gemeinsam mit seinem Vater verdingte er sich als Söldner einem Heer, das gegen die Türken aufgestellt wurde. Kurz danach starb sein Vater, Camillo war nun allein und mittellos. Schließlich bekam er starkes Fieber – eine Wunde am Knöchel, die er nicht beachtet hatte, entzündete sich und begann zu eitern. In dieser schwierigen Situation legte er ein Gelübde ab: wenn er gesund würde, werde er bei den Franziskanern eintreten. Als sein Gesundheitszustand sich besserte, vergaß er jedoch sein Versprechen. Dieses Versprechen legte er in kritischen Situationen seines Lebens noch zweimal ab, erst beim vierten Mal setzte er es in die Tat um, blieb jedoch nicht dort, sondern gründete mit einigen Freunden die Gemeinschaft der Krankendiener. Im Verlauf von nur 30 Jahren gab es bald in allen größeren Städten in Italien ein Krankenhaus, indem Mitglieder der Gemeinschaft der Krankendiener tätig waren. Kurz vor seinem Tod erzählt er nun einem Wohltäter, der große Bewunderung für das Werk des Camillo hegte, folgenden Traum. „Ich will dir einen Traum erzählen, in dem mir Gott gezeigt hat, was bei Ihm zählt. – Es träumte mir, ich sei gestorben. Ein Bote Gottes holte mich ab, und er führte mich eine Straße entlang mit kleinen und großen Gebäuden, die alle mit ihrer Rückwand an eine sehr große Mauer gebaut waren. Ich fragte den Boten Gottes, was diese Mauer, diese Gebäude und diese Straße bedeuten, und er ant1

Eine Kurzbiographie findet sich in: Manns, Peter, Camillo de Lellis. In: ders. Die Heiligen in ihrer Zeit (Band 2), Mainz 1967, S. 255–258.

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wortete mir: ,Diese Straße ist die Zeit deines Lebens, die Gebäude sind deine Werke, die Mauer ist die Stadtmauer des himmlischen Jerusalem. In einem dieser Gebäude ist für dich der Zugang zur Stadt Gottes, zum ewigen Leben.‘ Nach diesen Worten ließ mich der Bote Gottes allein. Ich betrachtete die Gebäude genauer; es waren armselige Wohnhäuser, Krankenhäuser, Kasernen, alles Orte, an denen ich in meinem Leben gewesen war, und ich sah auch die Menschen, die ich gekannt hatte… [Ich begab] mich in das schönste und größte Gebäude der Straße; es war ein Krankenhaus, und ich erkannte Menschen, die ich gepflegt hatte und Brüder, die mit mir gebetet, gedient und gelebt hatten, und ich fragte sie, ob sie von einer Türe wüssten, die nur für mich bestimmt sei. Sie bejahten dies und führten mich zu einer verschlossenen Türe. Einer der Brüder brachte mir den Schlüssel – ich schloss auf, trat ein und ich befand mich in einem hellen und blendenden Spiegelsaal – wohin ich auch blickte, immer sah ich nur mich selber. Da geriet mein Herz in Angst und Panik, ich taumelte verwirrt umher und fand nirgends einen Ausgang. Als ich mich verzweifelt gegen die Spiegelwand warf, um sie zu zerstören, gab sie nach, und ich stand wieder allein auf der Straße. So erging es mir noch viele Male, und ich fürchtete mich vor jedem Eintritt in die verschiedenen Häuser und Bauwerke an meinem Lebensweg. – Da sah ich ein altes, heruntergekommenes und wenig ansehnliches Haus, das mich an das St. Jakobus-Spital in Rom erinnerte, wo ich selber drei Jahre Hilfe und Pflege erfahren hatte, und ausgerechnet der Bruder, der mich oft mürrisch und lieblos behandelt hat, öffnete mir und führte mich brummig an die Türe, die für mich bestimmt war. Sie war offen und hell erleuchtet, in ihr stand aufrecht das Kreuz, und der Herr hing daran. Er sprach zu mir: ,Camillo, lasse dich heilen!‘ … Und nach einem längeren Schweigen sagte der Heilige zu jenem Wohltäter: ,Lobe mich nicht für die guten Werke, die ich durch Gottes Gnade tun darf – die dienende Liebe ist mein Beruf. Bete für mich, dass ich Gottes Liebe zu erkennen und zu empfangen vermag in welcher Gestalt auch immer sie mir begegnet.‘“2

Zunächst hat Camillo versucht, auf seine verkehrten Lebenspläne zu beharren. Immer wieder von neuem hat er versucht, an einer militärischen Karriere festzuhalten, immer wieder ist seine alte Wunde aufgebrochen, immer wieder scheiterten seine Versuche, seinem Leben auf diese Weise eine Richtung zu geben. Im Leben des Camillo de Lellis zeigt sich, dass Versagen, Scheitern und auch Schuldig-Werden Realitäten im menschlichen Leben sind, die jedoch oft durch Selbsttäuschung, Projektion auf andere (bei Camillo: das Böse nicht in sich, sondern im äußeren Feind, den Türken bekämpfen) oder durch Fluchtverhalten in Geschäftigkeit oder schlimmer noch in Alkohol und Drogen geleugnet werden können. Camillo hatte vor seiner Bekehrung sein ganzes Vermögen bei Wett-spielen und Trinkgelagen vergeudet. – Wir wissen nicht genau, wie es im Leben des Camillo zu einer Neuausrichtung seines Lebens kam. Doch der Traum macht deutlich, dass ein Perspektivenwechsel stattgefunden hatte: Nicht sosehr das zählt, was er 2

Arnold, Klaus-Jochen et al., Gib mir ein Wort. Heiligenbronner Geschichten. Heiligenbronn o.J., S. 186–188.

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getan und geleistet hat, sondern was Gott für ihn getan hat. Theologen würden wohl die von Gott geschenkte Erfahrung des Heil-Werdens und der Vergebung als Ursache für den Prozess der Neuwerdung unterstreichen. Nur im Vertrauen auf ihn ist es einem Menschen möglich, nicht mehr an der Fehlausrichtung seines Lebens festzuhalten, sich nicht mehr in unheilvolle Strukturen zu verstricken, angesichts von Versagen und Scheitern nicht zu verzweifeln, sondern im Vertrauen auf seine Güte einen Neuanfang zu wagen. Psychotherapeuten würden dieses Leben und den Traum, den Camillo einem Wohltäter erzählt wohl eher deuten als Geschichte eines resilienten3 Menschen, dem es möglich war, die lebensbedrohlichen Krisensituationen seines Lebens als Chance für eine Neuausrichtung des Lebens zu nützen. Eine christlich-gläubige Deutung unterscheidet sich von einer therapeutischen und damit weltanschaulich neutralen Sichtweise jedoch darin, dass erstere die Gnadenhaftigkeit dieses Geschehens betont, während Therapeutinnen und Therapeuten mehr den Aspekt des persönlichen Engagements, der Verantwortung und den Prozesscharakter eines solchen Geschehens betonen. Daraus ergeben sich zwei Fragen, die es zu beantworten gilt: Erstens: Wie kann die Beichte zu einem Ort werden, an dem die Zusage der Güte Gottes zumindest ansatzweise auch erfahren werden kann? Zweitens: Wie ist es möglich, dass eine solche Erfahrung das ganze Leben eines Menschen durchdringt? An der Biographie des Camillo wurde ja deutlich, dass es in seinem Leben mehrere „Anläufe“ brauchte, bis der Einsicht in die Notwendigkeit einer Lebensänderung auch Taten folgten.

1. Der historisch-theologische Zugang zum Thema des Schulderlebens Camillo war ein Mensch, der am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit lebte. In dem Versuch, Gott durch das Versprechen des Gelübdes, bei den Franziskanern einzutreten zu bewegen, ihm die Gesundheit wiederzuschenken zeigt sich ein damals weit verbreitetes Denken: Ein Gott, der das Böse bestraft, kann durch Ablegung eines solchen Gelübdes gleichsam „besänftigt“ werden. Diese Sichtweise gründet in einer bestimmten Theologie, die ihrerseits wieder bestimmte gesellschaftliche Wurzeln hat. Die vollständige Neu-Ausrichtung, wie Camillo sie seinem Wohltäter in der Erzählung seines Traumes andeutetet ist ermöglicht worden durch eine neue, von Gott geschenkte Einsicht: Entscheidend ist die liebende Annahme der Güte Gottes und die Bereitschaft, sie in jeder Gestalt anzunehmen, in der sie ihm begegnet. 3

Resilienz meint einen dynamischen Anpassungs- und Entwicklungsprozess eines Menschen, der es ihm erlaubt, risikoreiche oder potentiell lebensbedrohliche Situationen positiv zu bewältigen. Im Unterschied zu der früheren Annahme, diese Fähigkeit sei angeboren, gehen heutige Forscher davon aus, dass sich diese Fähigkeit im Laufe eines Lebens entwickelt – oder aber auch verkümmert. Zum Begriff der Resilienz vgl. ausführlicher Fröhlich-Gildhoff, Klaus, Resilienz, Stuttgart 2014.

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2. Die gesellschaftliche Dimension der Erfahrung von Schuld und Sünde Nach Karl Gabriel haben sich vor allem Theologen und Religionssoziologen in Mitteleuropa zur Erklärung der veränderten Beziehung zwischen Kirche und Welt vorwiegend auf die Säkularisierungsthese gestützt: Die Welt sei zunehmend säkularer, weniger fromm, aufgeklärter geworden. Und in einer solchen Welt werde der Platz für religiöse Sinndeutungen immer kleiner.4 Der von allen wahrgenommene gesellschaftliche Wandel ist nach Karl Gabriel jedoch zutreffender als Konsequenz eines fortschreitenden Modernisierungsprozess zu deuten. Dabei handelt es sich um einen gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess, der sich auf der Makroebene in einer zunehmenden Globalisierung und Pluralisierung der Wertvorstellungen zeigt, auf der Mesoebene als ein Prozess der Bürokratisierung, Professionalisierung und zunehmenden Institutionalisierung und auf der (individuellen) Mikroebene als ein Prozess zunehmender Individualisierung. Das bedeutet, dass immer mehr Entscheidungen in die Autonomie des Einzelnen gestellt sind – Dinge, die der Einzelne entscheiden darf, die er aber auch entscheiden muss. Mit anderen Worten: Die gesellschaftlich gewährte Entscheidungsfreiheit bedeutet auch einen Zwang zur Entscheidung.5 In einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft erhöht sich damit auch das Risiko des Scheiterns – für das jeder Einzelne auch verantwortlich gemacht wird, nachdem ihr oder ihm ja auch die Entscheidungsfreiheit zugesprochen wurde. Sowohl die raschen gesellschaftlichen Veränderungen, als auch die zunehmend hohe Komplexität unserer Welt erhöhen natürlich auch das Risiko des Scheiterns. Gabriel spricht in diesem Zusammenhang von „Modernisierungsfallen“6. Er meint damit typische Gefährdungen für den Einzelnen, die moderne und postmoderne Gesellschaften mit sich bringen. Ein Beispiel: Jede Frau ist vom Selbstverständnis moderner Demokratien frei in der Art und Weise, wie sie ihr Leben in der Spannung zwischen Partnerschaft, Kinderwunsch und Berufstätigkeit gestalten will. Faktisch gibt es aber die verschiedensten Einschränkungen ökonomischer Natur, persönlicher Natur, aber auch von den konkreten Umständen her. Das bedeutet aber auch: dass ein gutes Ausbalancieren dieser verschiedenen Anforderungen gelingt, ist durchaus nicht selbstverständlich! Verschiedene Formen der Begleitung (Beratung, Selbsthilfegruppen, Psychotherapie, Geistliche Begleitung) sind auf diesem Hintergrund zu verstehen als individualisierungsbegleitende Maßnahmen. Sie ermöglichen es einem einzelnen Menschen in Entscheidungs-, Konflikt- oder Krisensituationen, den damit gegebenen Herausforderungen konstruktiv zu begegnen. Ein zusätzliches 4 5 6

Vgl. dazu ausführlicher: Pollak, Detlef, Rückkehr des Religiösen? Tübingen 2009, sowie Gabriel, Karl, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg 1995. Dazu ausführlicher: Funk, Rainer, Ich und Wir. Psychoanalyse des postmodernen Menschen, München 2005. Vgl.: Gabriel, Tradition und Postmoderne (s. Anm. 4), S. 13–141.

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Problem besteht nun aber darin, dass es in unserer Gesellschaft einen Markt an Hilfsangeboten gibt, einen Markt, auf dem es gilt, ein Angebot unter vielen anderen auszuwählen. Das christliche Angebot ist nur ein Angebot unter anderen (Stichwort „Pluralisierung der Wertvorstellungen“). Das christliche Sinnangebot hat sein „Deutungsmonopol“ verloren und muss sich nun auf einem „Markt“ der verschiedenen weltanschaulichen Orientierungen behaupten. Aus der Sicht einer betroffenen Person muss es einen guten Grund geben, gerade ein bestimmtes Deutungsangebot unter mehreren anderen auszuwählen. Für diese Wahl können verschiedene Gründe ausschlaggebend sein: ein häufig starkes Motiv ist die Vertrautheit: In einem „Markt der Möglichkeiten“ wählt man lieber vertraute „Produkte“ als weniger vertraute. Unter den gegebenen Umständen wird dies in vielen Situationen bedeuten, dass Menschen nicht auf die Möglichkeit der Beichte zurückgreifen, weil sie diese nicht kennen. Allerdings gilt dies auch für viele psychotherapeutische Angebote, doch ist hier die Wahrscheinlichkeit höher, dass Freundinnen, Freunde oder Bekannte Erfahrungen damit gemacht haben. Ein anderes wichtiges Motiv ist die „gefühlte Stimmigkeit“. Gemeint ist damit eine intuitive Bewertung eines Hilfsangebotes als für mich passend oder unpassend. Genau an diesem Punkt zeigt sich m.E. ein Problem: Die Art und Weise der Wahrnehmung von Schuld und Versagen haben sich stark verändert! Das traditionelle Angebot der Beichte entspricht nicht mehr automatisch dem veränderten Schuldempfinden. Im Rahmen eines sehr knappen historischen Überblicks möchte ich zeigen, dass es bereits innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition verschiedene Weisen des Verständnisses von Schuld gab. Der Blick auf diese Vielfalt kann die Augen öffnen für die verschiedenen Weisen, wie Unheil und Schuld erlebt werden, mit denen sich der christliche Glaube konfrontiert sieht.7 Paul Tillich weist den Hauptepochen des Christentums – Altertum, Mittelalter, Neuzeit – verschiedene Grundängste zu, denen auch ein jeweils anderes Verständnis von Sünde und Schuld entspricht.8 Die Angst vor der Vernichtung: Das Altertum sei – so Tillich – bestimmt durch die Angst vor der Vernichtung. Politisch ist diese Angst verständlich auf dem Hintergrund der Bedrohung des römischen Reiches durch immer wieder von Neuem eindringende feindliche Völker – einer Bewegung, die um die Mitte des 5. Jahrhunderts auch zum Untergang des römischen Reiches geführt hat. Besonders anschaulich wird diese Angst im künstlerischen Schaffen dieser Zeit. Die ältesten christlichen bildhaften Darstellungen des Glaubens finden sich in den Katakomben.9 Die biblischen Szenen, die dort dargestellt sind, sind zum allergrößten Teil Rettungsszenen: die Rettung der drei Jünglinge aus dem Feuerofen (Dan 3), die Rettung Daniels aus der Löwengrube (Dan 6), die Rettung Susannas aus der Hand 7 8 9

Dazu ausführlicher: Coate, Mary Anne, Sin, Guilt and Forgivness, London 1994. Vgl.: Tillich, Paul, Offenbarung und Glaube (Schriften zur Theologie, Band 8), Tübingen 1970. Vgl. dazu ausführlicher: Stevenson, Joe, Im Schattenreich der Katakomben. Entstehung, Bedeutung und Wiederentdeckung der frühchristlichen Grabstätten, Bergisch Gladbach 1980.

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ihrer Verführer (Dan 13), die Rettung Israels aus der Macht der Ägypter, indem Gott sie trockenen Fußes durch das Rote Meer führt, während das gleiche Meer die Ägypter überflutet (Ex 14; 15) sowie die Rettung des Lazarus aus dem Grab (Joh 11). In all diesen Szenen geht es um die Errettung aus lebensbedrohlichen Situationen. Etwas zugespitzt formuliert: das Problem für die ersten Christen war nicht so sehr, ob sie in diesem oder jenem Punkt richtig gehandelt hatten, sondern ihre Frage war: Wie ist es möglich, der drohenden Vernichtung zu entgehen? Auf diesem Hintergrund ist auch die überragende Bedeutung der Taufe zu verstehen. Durch die Taufe wurde der Täufling der Macht des Todes entrissen und ging in den Macht-Bereich Christi über. In diesem Reich haben der Satan und der Tod keine Macht mehr.10 Die Angst vor der Verurteilung und Verdammnis: Ausgelöst durch verschiedene sehr komplexe historische Prozesse11 hat sich die soziale Situation für die Christen seit Kaiser Konstantin stark verändert. Aus der Religion einer verfolgten Minderheit ist eine staatlich anerkannte Religion geworden, ungefähr hundert Jahre später sogar eine Staatsreligion. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass die Zahl der Mitläufer wuchs, weil es nun – im Unterschied zu den Jahrhunderten der Verfolgung – soziale Vorteile bringen konnte, wenn sich jemand zum christlichen Glauben bekehrte. Die Bewegung der Wüstenväter und der frühen Mönchsgemeinschaften war ein Versuch, die Frohe Botschaft Jesu wieder zum Leuchten zu bringen. Die existentielle Frage war nach dem Untergang des römischen Reiches nun nicht mehr die der Lebensbedrohung, sondern die nach moralischer Integrität. Ausgelöst durch die Völkerwanderung und andere volksreligiöse Vorstellungen der germanischen Völker prägte sich eine andere Form der Angst aus: die Angst vor der Verurteilung oder Verdammnis. Auch hier kann ein Blick auf das künstlerische Schaffen hilfreich sein: Auf den allermeisten Kirchen des Mittelalters ist im Tympanon über dem Haupteingangstor eine Darstellung des Jüngsten Gerichtes zu finden, in dem Christus als Richter der Menschheit dargestellt wird. Vor allem in der Darstellung der Teufel, seiner „Gehilfen“ sowie der Verdammten, die sich in ihrer Macht befinden, wird die für diese Epoche typische Grundangst vor der ewigen Verdammnis bildlich-konkret vor Augen geführt. Diese war bis in die ersten Jahrhunderte der Neuzeit hinein so prägend, dass sie sowohl das künstlerische Schaffen (z.B. auch noch das Jüngste Gericht in der Sixtinischen Kapelle in Rom), als auch die „religiösen Virtuosen“ jener Zeit prägte. Exemplarisch sei

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Menschen, die traumatische Erfahrungen erlebt haben, haben möglicherweise einen besonderen Zugang zu dieser Sichtweise, aber auch Menschen, die in destruktive soziale Netze verstrickt sind und für die Befreiung und Erlösung in erster Linie bedeuten, dem Einflussbereich destruktiver Mächte entzogen zu sein. Zusammenfassend vgl. Meßner, Reinhard, Zur heutigen Problematik von Buße und Beichte. München 1992. Ausführlicher: Ders., Feiern der Umkehr und Versöhnung. In: Meyer, HansBernhard (Hrsg.), Gottesdienst der Kirche (Handbuch der Liturgiewissenschaft), Regensburg 1992, Teil 7/2.

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auf zwei bedeutende Gestalten der frühen Neuzeit verwiesen: auf Martin Luther und Ignatius von Loyola. Für Ignatius geht es in der ersten Woche der Exerzitien darum, den Übenden hinzuführen zu einer Begegnung mit der Güte Gottes, wie sie sich darin zeigt, dass Gott seinen eigenen Sohn für uns – für mich! – in den Tod gegeben hat. Diese Begegnung soll in eine „Zwiesprache mit dem Gekreuzigten“ münden, in der der Übende sich persönlich betreffen lässt von einem Gott, dessen Liebe und Erbarmen nicht begrenzt werden können durch menschliche Schuld. Die entscheidende Stelle im Exerzitienbuch lautet: „Indem man sich Christus, unseren Herrn, vorstellt, vor einem und ans Kreuz geheftet ein Gespräch halten: Wie er als Schöpfer dazu gekommen ist, Mensch zu werden, und von ewigem Leben zu zeitlichem Tod, und so für meine Sünden zu sterben … Das Gespräch wird gehalten, indem man eigentlich spricht, so wie ein Freund zu einem anderen spricht, oder ein Diener zu seinem Herrn, indem man bald um eine Gnade bittet, bald sich wegen einer schlechten Tat anklagt, bald seine Dinge mitteilt und in ihnen Rat will.“ 12

Bei Martin Luther ist es die Suche nach einem gnädigen Gott, zu dem er zunächst und vor allem durch seinen Begleiter und Beichtvater Johannes von Staupitz hingeführt wurde.13 Es war diese Suche, die ihn letztlich zu einem Bruch mit kirchlichen Strukturen und Glaubensformen geführt hat, die die Güte und das ungeschuldete Erbarmen Gottes nicht mehr transparent haben werden lassen. Dieser Angst vor der Verdammnis versuchte die Beichtpraxis des Mittelalters und die durch das Konzil von Trient „modernisierter Form“ der häufigen Einzelbeichte zu begegnen. In ihr wurde dem Beichtenden – immer von neuem – die Zusage zugesprochen, dass Gott ihn wegen seiner Schuld nicht verdammt, sondern vergibt. Im eingangs erwähnten Traum von Camillo de Lellis erzählt er seinem Wohltäter, wie Gott ihn aus dieser Angst vor Verdammnis oder Vernichtung befreit hat. Dabei fällt auf, dass bei ihm schon stärker die neuzeitliche Angst vor dem Scheitern des Lebens dominierte. Die Angst vor dem Scheitern des eigenen Lebens: Stärker noch und nachdrücklicher als die Renaissance betonte die Aufklärung die Autonomie des einzelnen, indem sie ihn aus einer selbstverständlichen weltanschaulichen Bindung lösen wollte. Konkret erfahrbar wurde diese auch für den „einfachen Mann“ durch die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Gewährung der Religionsfreiheit, durch die Entstehung des modernen Bürgertums. Mit dieser größeren Möglichkeit der 12 13

Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte. Übersetzt und erklärt von Peter Knauer, Leipzig 1978, Nr. 53. Vgl. dazu ausführlicher: Leppin, Volker, „Ich hab all mein Ding von Doctor Staupitz“. Johannes von Staupitz als Geistlicher Begleiter in Luthers reformatorischer Entwicklung. In: Greiner, Dorothea u.a. (Hrsg.), Wenn die Seele zu atmen beginnt. Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive, Leipzig 2007.

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Selbstbestimmung ist aber auch die Gefahr des persönlichen Scheiterns gestiegen. Es war nun – zumindest im Prinzip – nicht mehr möglich, die Ursache für das Scheitern bei anderen zu suchen. Und die Wahrscheinlichkeit dieses Scheiterns ist in dem Maß gestiegen, in dem traditionelle Lebensentwürfe immer weniger plausibel wurden. So hat sich immer mehr eine neue Form der Angst entwickelt – die Angst vor dem individuellen Versagen. Ein bekannter Analytiker meinte einmal scherzhaft, als es in einer Balintgruppe um das Thema Schuld ging: „Heute sagt niemand mehr zu mir: ,Ich bin ein Sünder!‘ Heute kommen die Leute und sagen: ,Ich habe Mist gebaut.‘ Oder aber: ,Ich bin eine Flasche.‘“ Immer deutlicher wird eine starke Ambivalenz: Einerseits möchte wohl kaum jemand die Errungenschaften der Neuzeit missen, andererseits zeigt sich auch immer deutlicher, dass die neuzeitliche Verheißung der individuellen Freiheit auch eine Schattenseite hat. Die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen, bedeutet auch den Zwang, sich selbst zu verwirklichen. Und weil nicht jeder sich jederzeit dieser Aufgabe gewachsen sieht, wächst auch die Angst, das eigene Selbst zu verfehlen. Die Angst, sich durch Verstrickung selbst zu verlieren:14 Ein Mitarbeiter eines Konzerns, der Bauteile herstellt, die weltweit auch in der Rüstungsindustrie verwendet werden, fragt sich immer wieder, ob er sich durch seine Arbeit nicht mitschuldig macht am Tod derjenigen Menschen, die durch diese Waffen oder Kampfflugzeuge getötet werden. Gleichzeitig braucht er die Arbeit, um seiner Familie einen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Eine andere Situation: Eine Pflegedienstleiterin arbeitet in einem Krankenhaus, das vor kurzem von einem Konzern übernommen wurde, der noch massivere Einsparungen verlangt, als dies bisher schon der Fall war. Will sie ihre Arbeit behalten, muss sie in ihrem Bereich die Vorgaben zur Personaleinsparung der Krankenhausleitung in ihrem Bereich umsetzten – obwohl sie weiß, dass die Umsetzung sowohl dem Personal als auch den Patienten schaden wird. Wiederholte Versuche, ihre Situation auf Leitungsebene verständlich zu machen und so eine Verbesserung zu bewirken, werden einfach abgeblockt. Wieder eine andere Situation: Eine Familie merkt, dass der Mann im Nachbarhaus offensichtlich ein massives Alkoholproblem hat. Immer wieder einmal ist zu hören, dass es zu lautstarken Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner Frau kommt. Die Vermutung liegt nahe, dass es dabei auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kommt. Versuche, das Thema auf nachbarschaftlicher Ebene anzusprechen, scheitern. Was tun? Ein „ungutes Gefühl“ bleibt zurück. Die eben nur kurz angedeuteten Situationen weisen eine ähnlich Problemstruktur auf: Menschen sind von einem offensichtlichen Unrecht betroffen, ohne jedoch direkt dafür verantwortlich zu sein. Wenn dieses Problem auch in der traditionellen Moraltheologie durchaus erkannt wurde, so ist es bisher wohl kaum gelungen, eine geeignete Form des persönlichen und gemeinschaftlich-rituellen 14

Die Beschreibung dieser heute wohl weit verbreiteten Angst findet sich nicht bei Paul Tillich. Den Hinweis auf diese Form der Angst verdanke ich Martin Strauss, Pfarrer der evangelischlutherischen Kirchengemeinde in Lindenberg/BRD.

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Umgangs damit zu finden. Damit ist diese Form des Unheils zwar benannt, ohne dass sich freilich dadurch auch schon eine Lösung abzeichnen würde. Auf diese beiden letztgenannten Grundängste des modernen Menschen haben die Großkirchen meines Erachtens noch keine angemessene Antwort gefunden. Therapeutische Schulen scheinen hier flexibler zu sein. So ist es insgesamt gelungen, die enge analytische Krankheitslehre aufzubrechen und durch eine Vielzahl anderer Ansätze zu korrigieren und zu erweitern: durch verhaltenstherapeutisch-lerntheoretische, systemische und psychoedukative Methoden, um nur die wichtigsten zu nennen. Kirchlicherseits ist es durch die Einführung von Bußgottesdiensten zwar gelungen, die soziale Dimension der Schuld stärker zu betonen, doch insgesamt hat die Bußpraxis der Kirche dadurch kaum an Plausibilität gewonnen.

3. Der subjektiv-therapeutische Zugang zum Thema der Erfahrung von Schuld und Unheil Therapeutische Schulen machen keine direkten Aussagen darüber, was objektiv gesehen Schuld und Sünde ist. Dies festzulegen ist Aufgabe einer philosophisch begründeten Ethik oder theologisch begründeten Moraltheologie. Therapeutische Schulen beschäftigen sich aber sehr wohl mit dem (subjektiven) Schulderleben und der individuellen Schuldverarbeitung. Im Rahmen der jeweiligen Krankheitslehre werden Aussagen darüber gemacht, wann und unter welchen Bedingungen von einem gesunden Umgang und wann von einem krankmachenden Umgang mit Schulderfahrungen gesprochen werden kann. Insofern enthalten auch therapeutische Ansätze – auch wenn sie weltanschaulich neutral sein wollen – einen „normativen Kern“. Im Unterschied zur „Theologie der Beichte“, die nahezu ausschließlich auf die individuelle Sünde als einer im Grunde freiwilligen und gewollten Verletzung der gott-gegebenen Ordnung der Welt bzw. der Beziehung zu ihm, den Mitmenschen und sich selbst abhebt, gehen therapeutische Ansätze von einem weiteren Verständnis von Schuld aus. Schuld wird gesehen als zwanghaft auftretende Gedanken, aggressiven oder sexuellen Impulsen Raum zu geben, als nicht-authentische Weise der Kommunikation, als Verstrickung in krankmachende Strukturen, als Verfehlung des „wahren Selbst“.15 Im eingangs zitierten Traum wird diese Angst vor der Verfehlung des wahren Selbst eindrücklich geschildert: Camillo weiß, dass sich in einem der Häuser eine Tür befindet, die zum Leben führt und die nur für

15

Zur Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Selbst vgl. Winnicott, Donald, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt a. M. 1985, S. 182–199. Für eine theologische Deutung dieser Unterscheidung vgl. die sehr anregende Arbeit von Fuchs, Rainer, Gewalt und Kontemplation. Der Beitrag Thomas Mertons zur Friedensproblematik, Frankfurt a. M. 1992. Fuchs entfaltet in dieser Monographie die These, dass für Thomas Merton die Gewaltbereitschaft von Menschen in einem falschen Selbst gründet.

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ihn bestimmt ist – aber trotz wiederholter Hinweise durch andere, trotz wiederholten Bemühens findet er sie nicht.

4. Schuldgefühle – Schulderfahrung – Schuld: Das Deutungsangebot der Psychoanalyse Siegmund Freud16 hatte es in seiner Praxis überwiegend mit psychisch belasteten, oft auch psychisch kranken Personen zu tun. Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass seine Sicht des Glaubens stark durch die Wahrnehmung krankhafter Formen von Religiosität bestimmt war. Die Frage, die sich ihm stellte, fasst Bernhard Grom prägnant wie folgt zusammen: „In welchem Maß und in welcher Weise erlebt eine Person ihre Religiosität deshalb als emotional bedeutsam, weil sie in der Bereitschaft zu moralischer Selbstkontrolle durch inneren Zwang und durch Angst verwurzelt ist?“17 Freud deutet also Schuldgefühle als „Über-Ich-Angst“, als eine psychische Reaktion, die immer dann auftritt, wenn das Verhalten von einer bestimmten verinnerlichten Norm abweicht. Es ist zu erwarten, dass diese Angst umso größer ist, je „höher“ die Autorität eingestuft wird, deren Norm verletzt wird. Obwohl sich Freud durchaus dessen bewusst ist, dass unsere Gesellschaft ohne die Verinnerlichung bestimmter Normen, die den ungebremsten Ausdruck elementarer Triebe – vor allem aggressiver und sexueller Impulse – hemmen, nicht gelingen kann, geht er von der Annahme aus, dass genau diese innerpsychische „Kontrollinstanz“ zwar notwendig, aber auch potentiell krankmachend ist. Die entscheidende Frage für ihn lautet deshalb: Ist diese innerpsychische Hemmung in der Natur des Menschen gegebener Triebe der Realität angemessen – oder ist sie vielmehr von inneren Zwängen bestimmt, die zu Empfindungen und Verhaltensweisen führen, die der Realität nicht angemessen sind. Handelt es sich um eine „gesunde“, weil realitätsgeleitete Über-Ich-Angst, so kann von Gewissenhaftigkeit gesprochen werden. „Der Bereich des Normalen wird (aber) zum Krankhaften hin überschritten, wenn der innere, eigene Zwang nicht mehr als Grundlage flexibler Selbstkontrolle und Festigkeit empfunden, sondern als einengend, unsinnig und auf quälende Weise anstrengend erlebt wird. Wenn sich Denkinhalte oder Handlungsimpulse so aufdrängen, dass der Versuch, sie zu unterdrücken, unerträgliche Angst auslöst, sodass man ihnen folgen und sie wiederholen muss, obwohl man sie als absurd erkennt und sich ihnen widersetzen möchte.“18 Da die 16

17 18

Da es im Rahmen dieses Beitrages nicht möglich ist, auf all diese unterschiedlichen Sichtweisen der verschiedenen therapeutischen Schulen einzugehen, werde ich mich auf die Darstellung der Position der analytisch orientierten Psychotherapieformen beschränken. Der Grund für diese Auswahl liegt einerseits darin, dass diese sich wohl am eingehendsten mit dem Thema „Schuld“ beschäftigt haben. Zudem handelt es sich dabei um die historisch gesehen älteste Schule, auf der die anderen Schulen mehr oder weniger stark aufbauen. Grom, Bernhard, Religionspsychologie, München 1992, S. 117. Grom, Religionspsychologie (s. Anm. 17), 121.

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Arbeiten von Freud meist von einer negativen Interpretationstendenz gegenüber jeder Form religiöser Praxis bestimmt sind, ist es nicht verwunderlich, dass Freud der christlichen Bußpraxis zwar eine psychisch entlastende Funktion zugesteht, aber niemals eine wirklich heilende, weil sie seiner Ansicht nach ungeeignet ist, die unbewussten psychischen Konflikte aufzudecken, aus denen solche Über-IchÄngste überhaupt entstehen. Die nicht-pathologische Gewissenhaftigkeit resultiert aus einer Reaktion auf Forderungen eines milden, flexiblen Über-Ichs während die neurotische Über-Ich-Angst zu verstehen ist als Reaktion auf ein rigides, strafendes, unflexibles Über-Ich. Die beiden Ängste sind sich also ihrer Struktur nach ähnlich, unterscheiden sich nur nach dem Grad der Ausprägung voneinander. In der älteren spirituellen und moraltheologischen Literatur wurde das Thema unangemessener Schuldgefühle unter dem Stichwort „Skrupel“ und „Skrupulosität“19 behandelt. Aus der Tatsache, dass das Vorhandensein eines skrupelhaften Gewissens sehr oft thematisiert wurde, darf geschlossen werden, dass es sich dabei um ein wohl weit verbreitetes Problem gehandelt hat. Es darf aber auch angenommen werden, dass es keine allgemein überzeugende Praxis gab, die zu einer nachhaltigen Befreiung von solchen Skrupeln führte. Es war wohl eher so, dass es einzelnen Beichtvätern durch ihr persönliches Charisma gelungen ist, Betroffene davon zu befreien. Erst Freud war es gelungen, eine Theorie und Methode zu entwickeln, um Menschen, die unter einem skrupelhaften Gewissen bzw. ausgeprägten Zwangsgedanken leiden, eine geeignete Hilfe anbieten zu können. Der Fairness halber aber muss gesagt werden, dass eine solche Befreiung oder Heilung einen längeren therapeutischen Prozess voraussetzt und auch dann nicht immer gelingt. Mit dieser Unterscheidung zwischen strafend-rigidem und flexiblem Über-Ich ist ein wichtiges Kriterium zur Unterscheidung zwischen (neurotischen) Schuldgefühlen und realitätsgerechter Über-Ich-Angst gewonnen. Während Schuldgefühle immer dann auftreten, wenn ein Mensch eine Abweichung zwischen verinnerlichter Norm und tatsächlichem Verhalten wahrnimmt – unabhängig davon, ob diese Norm der Realität entspricht oder nicht (mit anderen Worten: ob dem Schuldgefühl tatsächliche Schuld zugrundeliegt) – kann von realitätsgerechter Über-Ich-Angst oder Schulderfahrung dann gesprochen werden, wenn diese verinnerlichte Norm zwei Kriterien erfüllt: a) Sie ist der Realität angemessen; b) sie gründet in einem milden, flexiblen Über-Ich und führt deshalb nicht zu unangemessenem, unfrei machendem inneren Leiden. Ziel der therapeutischen Arbeit, die sich oft über einen Zeitraum von einigen Jahren erstrecken kann, ist es, durch die Methode der freien Assoziation, der Deutung und Bewusstmachung unbewusster innerpsychischer Konflikte zu einem

19

Vgl. dazu ausführlicher: Häring, Bernhard, Das Gesetz Christi (Band 2), Freiburg 1963; Snoeck, Andreas, Skrupel, Sünde, Beichte, Frankfurt a. M. 1960.

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realistischeren und freieren Umgang mit den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Biographie zu finden.

5. Verschiedene Weisen der Schulderfahrung in der individuellen Entwicklung des Menschen Das bekannte entwicklungspsychologische Modell von Erik H. Erikson20 kann auch gelesen werden als eine Darstellung verschiedener, für die einzelnen Entwicklungsphasen des menschlichen Lebens typische Weisen der Schulderfahrung: UrMisstrauen als typische Gefährdung im Kleinkindalter, Scham und Zweifel im Kindesalter, Schuldgefühle (im engeren Sinn) im Schulkindalter, Minderwertigkeitsgefühle im älteren Kindesalter, Identitätsdiffusion (als Angst, sich selbst zu verlieren) in der Pubertät und Adoleszenz, Selbstbezogenheit als unangemessenes Um-sich-selber-Kreisen im jungen Erwachsenenalter, Stagnation und Resignation, sowie Verzweiflung und Ekel in den Phasen des reifen und späten Erwachsenenalters. Auch wenn diese Typisierung der Entwicklung eines Menschen ihre Grenzen hat und menschliches Leben sicher nicht immer genau in den hier genannten Phasen abläuft, so weist dieses Modell doch auf eine für unsere Fragestellung bedeutsame Tatsache hin: Es ist nicht davon auszugehen, dass das Schuldempfinden eines Menschen sein Leben über unverändert gleich bleibt. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass sich nicht nur der Gegenstand seiner Schulderfahrung ändert, sondern auch seine Art und Weise. Diese Einsicht der Entwicklungspsychologie hat Auswirkungen sowohl auf die Beichtpraxis als auch auf einen therapeutischen Zugang zu Schuld und Unheilserfahrungen.

6. Therapie und Beichte – Das Zueinander von therapeutischen und theologischen Theorieaussagen Die Diskussion des beginnenden 20. Jahrhunderts war geprägt von einer starken gegenseitigen Ablehnung zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse einerseits und Theologie andererseits. Es handelte sich um zwei unterschiedliche Zugänge zum Verständnis des Menschen, um zwei konkurrierende Sinnsysteme, die sich gegenseitig ausschließen: das traditionelle, von den Vertretern der modernen Wissenschaften als mythologisch, unwissenschaftlich oder vorwissenschaftlich abgewertete theologische Denken und umgekehrt, das als ungläubig, mechanistisch oder reduktionistisch eingestufte Denken moderner psychologischer Zugänge zum Menschen. In der Zwischenkriegszeit setzte sich dann – zumindest bei für die Entwicklungen der Moderne aufgeschlosseneren – Theologen und Seelsorgern die Einsicht durch, dass die Kirche ihrer Aufgabe, dem konkreten Menschen das Heil 20

Vgl.: Erikson, Erik, Identität und Lebenszyklus, 11. Auflage, Frankfurt a. M. 1989.

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zu verkünden, nur dann gerecht werden kann, wenn sie auch auf Einsichten und Methoden der modernen Humanwissenschaften zurückgreift. Es entwickelte sich ein Modell, das als „Ancilla-Modell“ (H. Steinkamp) bezeichnet werden kann: Einzelne Einsichten, Methoden und Theorieelemente wurden herangezogen, um den kirchlichen Auftrag besser erfüllen zu können. So entwickelten sich mehr und mehr Hilfsdisziplinen, z.B. eine Pastoralpsychologie und eine Pastoralmedizin. Dabei handelte es sich um Teildisziplinen einer als übergeordnet angesehenen Pastoral. Die Ziele und Normen wurden durch die Theologie vorgegeben, die Frage, wie diese Ziele und Normen konkret umgesetzt werden können, wurde durch Rückgriff auf die jeweiligen „Hilfswissenschaften“ beantwortet. Charakteristisch für diese Zeit war eine grundsätzliche Würdigung neuerer psychotherapeutischer Ansätze und Methoden bei gleichzeitiger Tendenz, diese für die eigenen Absichten zu instrumentalisieren und so weder ihre Eigengesetzlichkeit, noch ihr kritisches Potential angemessen zu bedenken. Um die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils, vor allem auch im Kontext verschiedener befreiungstheologischer Ansätze,21 entwickelte sich eine neue Sichtweise, die als „Fremdprophetie“ bezeichnet werden kann. Ausgehend von der Überzeugung, dass Gott sich auch im Fremden, im Anderen, im Nicht-kirchlichen Raum zeigen kann, begann man mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Gott auch durch Wissenschaften und Methoden, die sich im außerkirchlichen Raum entwickelt hatten – wie dies ja bei fast allen therapeutischen Ansätzen der Fall war –, eine „Botschaft“ für die Kirche hat. Mit anderen Worten: Gerade in Auseinandersetzung mit auf den ersten Blick „ungläubigen“ Positionen ist es möglich, dass Christen ihr Eigenes entdecken können. Als Beispiele für solche „Entdeckungen“ möchte ich nennen: die Bedeutung unbewusster seelischer Prozesse für das Wachstum und die Reifung einer Person, die Bedeutung der „Achtsamkeit“ als einer entscheidenden – auch christlichen! – Grundhaltung, die für ein Gelingen des menschlichen Lebens entscheidend ist; die Unterscheidung zwischen subjektivem Schulderleben und objektiver Schuld; die Leitbegriffe der Identität und Authentizität.22 In dieser Situation stellt sich dann aber die Frage, wie mit den „Fremdpropheten“ umzugehen ist. Ist jedem zu glauben? Oder keinem? Wann kann oder darf man ihnen glauben, wann nicht? Hier scheint mir ein Vorgehen hilfreich, das ich als „kooperative Unterscheidung“ bezeichnen möchte.23 Koopera21

22

23

Exemplarisch für viele andere sei verwiesen auf das einleitende Kapitel (Die richtige Zuordnung von Reich Gottes – Kirche – Welt) in dem ekklesiologischen Entwurf von Boff, Leonardo, Kirche – Institution, Charisma und Macht, Düsseldorf 1985. Eine sehr anregende kritische theologische Würdigung dieser Leitbegriffe findet sich bei Luther, Hennig, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen. In: Theologia practica 20 (1985), S. 317–338. Vgl. dazu ausführlicher: Schaupp, Klemens, Geistliche Begleitung. Unterscheidung und Kooperation mit anderen Begleitungsdiensten. In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Da kam Jesus hinzu. Handreichung für geistliche Begleitung auf dem Glaubensweg (Arbeitshilfen 158), Bonn 2001, S. 68–81.

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tive Unterscheidung geht von der Annahme aus, dass jede menschliche Erkenntnis grundsätzlich ergänzungsbedürftig ist. Deshalb ist einer anderen Position, auch wenn sie sich von der eigenen unterscheidet, zunächst ein Vorschussvertrauen entgegenzubringen. Das bedeutet die Bereitschaft, davon auszugehen, dass auch die fremde, anders denkende Wissenschaftlerin bemüht ist, durch ihre Arbeit der Wahrheit näher zu kommen.24 Erst wenn dieses Vorschussvertrauen definitiv und wiederholt enttäuscht wurde bzw. sich als irrig herausgestellt hat, muss es darum gehen, die Meinungsunterschiede auf eine respektvolle Weise im Sinne einer Diskursethik zu klären. Es mag im Einzelfall schwierig sein, diese Haltung über längere Zeit zu bewahren – gerade auch angesichts von historisch gewachsenen gegenseitigen Vorurteilen oder starker Interessenskonflikte –; sachlich ist eine solche Haltung in jedem Falle lohnend.25

7. Umkehr als langedauernder, lebensverändernder Prozess Am Beginn des Markusevangeliums fasst Jesus seine Botschaft in knapper und eindringlicher Weise zusammen: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Kehrt um und glaubt an die Heilsbotschaft“ (Mk 1,14). Die durch Gottes Wirken ermöglichte Neuausrichtung des Lebens ist ein langer Prozess. Dies gilt auch, wenn sie durch plötzliche, zum Teil überwältigende Bekehrungserlebnisse ausgelöst wurden.26 Durch diese wird zwar eine grundsätzliche Neuausrichtung des Lebens angestoßen, die Tiefenschichten eines Menschen bleiben jedoch unberührt. Diese Tatsache wird auch in der Biographie und dem Traum des Camillo de Lellis deutlich: Von einer ersten Einsicht in die Notwendig24

25

26

Diese Haltung ist Ausdruck einer kommunikativen Grundhaltung, wie sie von Ignatius von Loyola als Grundlage für einen gelingenden Begleitprozess formuliert wurde: „Damit sowohl der, der die geistlichen Übungen gibt, wie der, der sie empfängt, mehr Hilfe und Nutzen haben, ist vorauszusetzen, dass jeder gute Christ bereitwilliger sein muss, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen; und wenn er sie nicht retten kann, erkundige er sich, wie jener sie versteht, und versteht er sie schlecht, so verbessere er ihn mit Liebe …“ (Geistliche Übungen Nr. 22). Eine anregende Deutung dieser kommunikativen Grundhaltung bei Ignatius findet sich bei Lambert, Willi, Die Kunst der Kommunikation, Freiburg 1999. Das „Ancilla-Modell“ scheint in neueren Veröffentlichungen wieder an Bedeutung zu gewinnen – nur in umgekehrter Richtung. Während die psychologisch-psychotherapeutische Literatur bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts von einer starken anti-kirchlichen und auch antispirituellen Haltung geprägt war, hat sich dies grundlegend geändert: Spiritualität wird mehr und mehr als Ressource gesehen, die es zu nutzen gilt. Diese neue Haltung scheint mir begrüßenswert. Was allerdings oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass Spiritualität tendenziell instrumentalisiert wird. Eine solche Instrumentalisierung widerspricht zumindest einer christlichen Vorstellung von Glaube: Aus einer theologischen Perspektive sind spirituelle Einstellungen primär nicht deshalb positiv zu bewerten, weil sie der Gesundheit des Menschen dienen, sondern weil sie Ausdruck der Hinordnung auf Gott sind, der Ursprung und Ziel jeden menschlichen Lebens ist. Vgl. dazu ausführlicher: Schaupp, Klemens, Gott im Leben entdecken. Einführung in die geistliche Begleitung, Würzburg 2011, S. 87–100; sowie: Schaupp, Klemens, In Freiheit wachsen. In: Psychotherapie und Seelsorge 4 (2008), S. 11–15.

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keit der Umkehr bis er tatsächlich sein Leben veränderte, dauerte es lange. Im Traum wird dieser Prozesscharakter sehr eindrücklich im Bild der Straße deutlich, die „die Zeit seines Lebens ist“. An ihr reihen sich die einzelnen Häuser auf, die die Werke seines Lebens darstellen. Erst nach einer Reihe fehlgeschlagener Versuche findet er schließlich in einem „alten, heruntergekommenen und wenig ansehnlichen Haus“ den Zugang zum Leben. Immer wieder haben Christen, die ihren Glauben radikal lebten gespürt, dass es Zeit braucht, bis die von Gott geschenkte Neuausrichtung des Lebens in ihrem ganzen Leben Gestalt annehmen kann. So haben sie sich oft für längere Zeit in die Wüste zurückgezogen: Paulus in die Wüste von Arabien, Benedikt nach Subiaco, Ignatius nach Manresa – um nur einige Beispiele zu nennen. Bernard Lonergan beschreibt in seinem fundamentaltheologischen Entwurf „Method in Theology“27 drei Stufen oder drei Ebenen der Umkehr: (1.) Die Umkehr des Verstandes besteht in der Bereitschaft, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Dies setzt die Bereitschaft voraus, sich immer wieder von allen Vorurteilen zu lösen, auch eigene „Lieblingsideen“ immer wieder hinterfragen zu lassen. Auf dieser Ebene ist allerdings erst ein Anfang eines viel umfassenderen Prozesses gegeben. Denn aus einer Einsicht folgt bekanntlich noch nicht automatisch ein entsprechendes Verhalten. Camillo hatte schon sehr bald erkannt, dass sein Leben eine neue Ausrichtung brauchte, bis zur Umsetzung dauerte es jedoch noch einige Zeit. (2.) Die moralische Umkehr oder Umkehr des Verhaltens geht einen Schritt weiter oder tiefer. Sie besteht in der Bereitschaft, das als richtig Erkannte auch zu tun. Im Traum des Camillo sind wird dieses Tun symbolisch in den Häusern angedeutet, die für die Krankenhäuser stehen, die er selbst gegründet hat, um Notleidenden zu helfen. (3.) Schließlich gibt es noch eine dritte Ebene, die religiöse oder christliche Umkehr, die Umkehr des Herzens. Sie ist dann gegeben, wenn sich eine neu gewonnene Einsicht nicht nur auf das Verhalten eines Menschen auswirkt, sondern sich auch sein Selbstverständnis ändert. Es ist eine solche Veränderung, die die Propheten Jeremias und Ezechiel im Blick hatten, wenn sie davon sprechen, dass Gott seinem Volk ein neues Herz schenken wird. Jahwe verheißt seinem Volk: „Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben, euer steinernes Herz wegnehmen, und euch ein Herz von Fleisch geben. Ich will meinen Geist in euer Inneres geben und bewirken, dass ihr nach meinen Satzungen wandelt …“ (Ez 36,26f; ähnlich auch Jer 31,31). Es geht um eine solche innere Wandlung, die Jesus in der Bergpredigt meint, wenn er seinen Hörern die Botschaft zuspricht, Stadt auf dem Berge und Licht der Welt zu sein, ihnen sagt, dass sie selig sind, weil sie arm, hungrig, traurig sind oder verfolgt werden (vgl. Mt 5; Lk 6, 20–22). Eben weil Jesus seinen Hörern 27

Lonergan, Bertram, Method in Theology, London 1972.

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zuspricht, von Gott auserwählt und geliebt zu sein, können sie sich auch anders verhalten. Ein konkretes „Anschauungsbeispiel“ ist die Begegnung Jesu mit Zachäus (Lk 19,1–10). Als Zachäus die gütige Zuwendung Jesu erfährt, wird er fähig, sein Leben zu verändern. Camillo formuliert es seinem Zuhörer gegenüber so: „Mein Zugang zum Leben ist die empfangende Liebe.“ Im Sinne einer „kooperativen Unterscheidung“ kann gesagt werden, dass die traditionelle Form der regelmäßigen Andachtsbeichte – zumindest in ihrer guten Form – aus der Einsicht entstand, dass eine ganzmenschliche Umkehr zum Evangelium nicht in einem einzigen Augenblick möglich ist, sondern dass es sich dabei um einen lebenslangen Prozess handelt. Während die Theologie der Beichte mehr an die Freiheit des Willens appelliert, haben Therapeuten stärker die potentiell krankmachenden Verstrickungen oder Zwänge im Blick, die dazu führen, dass Betroffene nicht wirklich frei sind, ihrer Berufung gemäß zu leben und auf die Einladung Jesu zur Umkehr mit ihrem ganzen Leben zu antworten. Eine solche Freiheit muss errungen werden durch eine intensive Bearbeitung der psychischen Ursachen der Verstrickungen, unter denen ein Mensch leidet.28 Während im Rahmen der Beichte stärker die Gnadenhaftigkeit einer solchen Neuausrichtung des Lebens betont wird, betonen Therapeuten stärker die Verantwortung und das Tun des Einzelnen.

8. Geistliche Begleitung als Hilfe zur Umkehr Geistliche Begleitung29 ist eine Form der persönlichen Unterstützung einzelner oder kleiner Gruppen, damit sich die von Jesus geforderte Umkehr nicht in einem Lippenbekenntnis erschöpft, sondern die ganze Person durchdringt. Wie oben gezeigt wurde, braucht ein solch tiefer gehender Prozess der Umkehr Zeit und Unterstützung. Während sich in der traditionellen Andachtsbeichte das Sündenbekenntnis und die entsprechende Zusage der Vergebung in der sakramentalen Form der Beichte vollzogen, fand in den letzten Jahrzehnten faktisch eine Differenzierung statt. Beichte wird stärker in ihrer ursprünglichen Funktion gesehen als Ort des Sündenbekenntnisses und als Ort der Zusprache der Vergebung. Der Geistlichen Begleitung kommt immer mehr die Funktion zu, längere und bewusster vollzogene Prozesse der Umkehr zu unterstützen.30 Therapeutische Zugänge bieten 28

29 30

Klaus Baumann hat in einer vergleichenden Studie zu zeigen versucht, wie unbewusste Blockierungen ethisch verantwortliches Handeln behindern können. Vgl. dazu: Baumann, Klaus, Das Unbewusste in der Freiheit. Ethische Handlungstheorie im interdisziplinären Gespräch (Analecta Gregoriana), Rom 1996. Eine Gesamtdarstellung dieser Form der persönlichen Unterstützung findet sich bei Schaupp, Klemens, Gott im Leben entdecken (s. Anm. 26). Im Hinblick auf die Entwicklung immer divergenterer kirchlicher Richtungen oder Gruppierungen muss diese Aussage jedoch differenziert werden. Während das Gesagte für die Großkirchen gilt, gilt es nicht für kirchliche Gruppierungen, die sich dem Programm der Re-Traditionalisierung verschreiben, ebensowenig im evangelischen Kontext den Freikirchen, die eine tenden-

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sich für viele kirchlich ungebundene Menschen als Alternative zur kirchlichen Beichtpraxis an; für kirchlich gebundene Menschen als eine Möglichkeit, von meist unbewussten Verstrickungen und Bindungen frei zu werden. Geistliche Begleitung hat dabei oft eine Brückenfunktion zwischen der traditionellen Form der Beichte und therapeutischen Zugängen. Michael Utsch hat zehn solcher „Brückenfunktionen“ der Geistlichen Begleitung beschrieben: Sie bildet eine Brücke zwischen dem Wort der Schrift und der persönlichen Erfahrung; zwischen dem Intellekt und den Emotionen bzw. zwischen Rationalität und Mystik; zwischen wissenschaftlicher Theologie und Spiritualität; zwischen individueller Glaubenserfahrung und institutionalisierten Glaubensvollzügen; zwischen Glaube als Geschenk und der Notwendigkeit der übenden Annahme dieses Geschenkes; zwischen katholischer und evangelischer Spiritualität; zwischen monastischer und Laienspiritualität; zwischen einer „vorgegebenen“ Tradition und einer individuell passenden Gestaltwerdung des Glaubens; zwischen christlicher und nichtchristlicher Mystik; zwischen menschlicher (psychischer) und spiritueller Entwicklung.31 Ausgehend von den Überlegungen von Dom André Louf32 möchte ich exemplarisch zeigen, wie diese Brückenfunktion der geistlichen Begleitung praktiziert werden kann. Nach Louf ist es Aufgabe der Geistlichen Begleitung, den Lebenskeim, den Gott in das Innere aller Getauften gelegt hat, zu wecken, zu stärken und zu fördern. Vor allem die frühen Mönche betonten unermüdlich den engen Zusammenhang, der zwischen Taufe und Geistlicher Begleitung besteht. In der Taufe hat Gott uns aus der Macht des Todes befreit und uns in die Lebensgemeinschaft mit ihm aufgenommen. Im Johannesevangelium wird gesagt, dass dieses neue Leben in einer lebendigen Erkenntnis Gottes besteht: „Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott erkennen, und den du gesandt hast, Jesus Christus“ (Joh 17,3) Erkennen bedeutet in der biblischen Tradition (vgl. Hos 2,22; Joh 10,14f; 14,20 u.a.m) jedoch nicht nur ein rein verstandesmäßiges Geschehen, sondern es gründet in einer lebendigen Erfahrung der Gegenwart Gottes, die zur Umorientierung des ganzen Lebens drängt. Damit diese Erkenntnis Gottes wachsen kann, braucht sie die Unterstützung durch eine Begleiterin oder einen Begleiter, der dieses Leben aus eigener Erfahrung kennt; denn Leben kann nur durch Leben weitergegeben und gefördert werden. Fehlt diese Hilfe, so kann es leicht sein, dass die Gabe Gottes verkümmert oder sogar abstirbt.

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ziell sehr skeptische Haltung gegenüber allen Formen säkular geprägter psychotherapeutischer Zugänge haben. Utsch, Michael, Psychologische Hilfen zur Förderung der spirituellen Begleitung. In: Greiner, Dorothea u.a. (Hrsg.), Geistlich begleiten. Eine Bestandsaufnahme evangelischer Praxis, Leipzig 2011, S. 177–198. Louf, André, Au gré de sa grace, Paris 1989. Ders., La grace peut advantage, Paris 1992 (deutsch: Die Gnade kann mehr…, Münsterschwarzach 1995). Eine knappe Zusammenfassung findet sich bei: Schaupp, Klemens, Geistliche Begleitung. Spiegelung des Handelns Gottes. In: Jetzt 3 (1995), S. 3–7.

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Der Weg, der im Rahmen einer Geistlichen Begleitung gegangen wird, nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Sehnsucht des Suchenden.33 Mit dem Begriff „Sehnsucht“ ist die Wurzel aller Wünsche und Strebungen gemeint, die das Leben eines Menschen bestimmen. Diese zeigen sich vor allem in spontanen Gedanken und inneren Bewegungen. Begleitung wird gelingen, wenn der Suchende seinem Begleiter oder seiner Begleiterin die Gedanken und Bewegungen nicht verbirgt, sondern offenlegt, unabhängig, ob sie wichtig oder unwichtig, interessant oder uninteressant, schön oder unschön scheinen: in allen Gedanken oder Bewegungen kann sich ein Stück der eigenen Sehnsucht offenbaren.34 In der frühen Kirche wurde für dieses Mitteilen der Gedanken der Ausdruck „auf den Marktplatz führen“ (exagoreusis) gebraucht. Alles, was sich im Menschen regt, soll ausgesprochen werden, damit es vom Licht Christi erleuchtet und verwandelt werden kann. Denn in seinem Licht verlieren die lebenszerstörenden Mächte ihr Kraft (vgl. Joh 3,20f). Nur in dem Maß, in dem es gelingt, dass der Übende seine Sehnsüchte wahrnimmt, können sie sich ordnen und als beziehungsstiftende Kräfte gelebt werden. So kann einem Menschen die Erfahrung geschenkt werden, dass die letzte Erfüllung seiner Sehnsucht nur in Gott gefunden werden kann, von dem ein altes Gebet sagt: „Du Gott allein kannst unserer Sehnsucht Erfüllung schenken.“ Louf weist wiederholt darauf hin, dass es unerlässlich ist, zu dieser tiefsten Sehnsucht hinzufinden, einer Sehnsucht, die oft noch ganz und gar unausgesprochen ist, die dort aufbricht, wo der Mensch sich am verwundbarsten fühlt und wo er auch tatsächlich am schlimmsten verwundet wurde, da wo er sich ganz schwach weiß, denn genau diese „Stelle“ ist der Berührungspunkt zwischen der Gnade Gottes und der menschlichen Person. Lassen wir uns auf unser Verlangen ein, so wird der oft krampfhaft verfolgte Wunsch, über sich selbst allein verfügen zu wollen, aufgebrochen werden und der Mensch wird offen für das Wirken der Gnade. Louf nennt zwei Grundversuchungen des Menschen, die es im Verlauf einer Begleitung zu bewältigen gilt: die eine besteht darin, Gott nach dem Bild eines inneren, strafenden Richters zu sehen, die andere darin, Gott als die bloße Verlängerung unserer Wünsche zu sehen. (1) Die Versuchung, Gott als inneren Richter zu sehen: Gott wird hier gesehen als Garant äußerer Normen, die dem Einzelnen von seinen Eltern, der Gesellschaft oder auch

33 34

Dazu ausführlich: Schaupp, Klemens, Gott im Leben entdecken. Einführung in die geistliche Begleitung (Überarbeitete und ergänzte Neuauflage), Kavelaer 2011, S. 53–63. Die Forderung der Offenlegung der Gedanken und inneren Regungen ist der analytischen Grundregel sehr ähnlich, die für einen therapeutischen Prozess Gültigkeit hat. Geistliche Begleitung unterscheidet sich jedoch von einer Therapie in der Art und Weise, wie mit diesen Gedanken umgegangen wird: Während sie im Kontext einer Psychoanalyse als Ausdruck des Unbewussten bzw. der Übertragungsbeziehung gedeutet werden, werden sie von den Wüstenvätern als Ausdruck des geordneten oder ungeordneten Verlangens eines Menschen gedeutet und so als Kräfte, die es auf Gott hin auszurichten gilt.

Beichte – Ort der Vergebung, Ort der Heilung?

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kirchlichen Einrichtungen vermittelt wurden.35 Bleibt die Beziehung zu Gott zu einseitig mit den gesammelten Erfahrungen mit Autoritätspersonen der eigenen Lebensgeschichte besetzt, so hat dies zur Folge, dass der Übende vor Gott Angst haben wird und dazu neigen wird, sich vor ihm zurückzuziehen. Es wird ihm schwer fallen, Gott rückhaltlos zu vertrauen. Zudem besteht das Risiko, die persönlichen Beurteilungskriterien, die sich im Verlauf der eigenen Sozialisation herauskristallisiert haben, einfach und unhinterfragt zu übernehmen. In einem solchen Fall ist es aber nicht die befreiende Botschaft des Evangeliums, die das Leben bestimmt, sondern ein diffuser „Bodensatz“ verschiedener gesellschaftlicher Normen des Wohlverhaltens. „Wenn es uns schwer fällt, unsere Wünsche und Gefühle aufzudecken, so nicht deshalb, weil sie in sich schlecht wären, sondern weil wir uns unbewusst von unserem inneren Richter beurteilt fühlen. Schämen wir uns vor unserer Begleiterin oder unserem Begleiter oder fühlen wir uns von ihr oder ihm eingeschüchtert, so deshalb, weil wir ihm Werturteile unterstellen, unter denen wir wegen unserer inneren Zensur unentwegt zu leiden haben. Die Identifizierung des inneren Richters mit dem geistlichen Vater, die der Schüler unbewusst vollzieht, birgt einerseits die Chance einer echten Befreiung, andererseits auch die Gefahr des Scheiterns jeglicher Hoffnung. Eine Gefahr, die beträchtlich erhöht wird, wenn der Begleiter unbewusst die Stelle des inneren Richters einnimmt und dessen unheilvollen Einfluss – wenn auch in bester Absicht – erweitert und verstärkt.“36 Das passiert leichter als man meint: Wenn die Begleiterin oder der Begleiter zu leichtfertig auf den Wunsch nach Bestätigung eingeht („Das war gut, wie Sie das gemacht haben!“), zu häufig direkt ermutigt oder korrigiert („So würde ich das an Ihrer Stelle nicht machen!“). Vielmehr ist es hilfreich, durch eine „wertungsarme Haltung“ den Übenden zu ermutigen, auf die Stimme seines eigenen „inneren Meisters“ zu hören und sich danach zu orientieren. (2) Die Versuchung, Gott als Spiegel unserer Wünsche zu sehen: Gott wird hier mit dem Ideal-Bild unseres Selbst, unserer Familie oder unseres Berufes verwechselt. Die biblische Tradition ist an diesem Punkt sehr eindeutig: Sie spricht von Götzen: Götzen sind unlebendige, selbstgemachte Vorstellungen von Gott, die dem lebendigen und wahren Gott oft zum Verwechseln ähnlich sind. Solche Idealbilder sind – wenn sie lebendig und realistisch bleiben – notwendig, damit ein Mensch sich entfalten kann; handelt es sich jedoch um starre, überzogene und unkorrigierbare 35

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Louf verwendet hier einen Ausdruck der das meint, was die analytische Persönlichkeitstheorie mit „Über-Ich“ bezeichnet. Freud unterscheidet in der Person zwischen drei Instanzen: „Es“ als dem Bereich der spontanen, noch ungeordneten Wünsche und Bedürfnisse; „Über-Ich“ als dem Bereich der verinnerlichten Normen; das „Ich“ vergleicht Freud mit einem Steuermann, der zwar nicht genügend eigene Kräfte hat um ein Schiff in Bewegung zu bringen, der aber die Kräfte des Windes (Es) nutzen kann, um sein Schiff (Person) mittels Segel und Steuer in die gewünschte Richtung zu lenken. Louf, Grace (s. Anm. 32), 130f.

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Klemens Schaupp

Ideale, können sie lebenszerstörend werden: Besonders deutlich wird dies dann, wenn sie in einer fanatischen Weise vertreten werden.37 Gerade religiös bestimmte Ideale scheinen für eine falsche Form der entstellenden Übertreibung besonders anfällig zu sein. In Camillos Traum wird diese Versuchung bildhaft sehr eindrücklich vor Augen gestellt: Als er in den ersten Häusern – die seine eigenen Gründungen symbolisieren – den Zugang zum Leben sucht, findet er sich jedes Mal in einem „hellen und blendenden Spiegelsaal“. Er begegnete nur sich selbst: „wohin ich auch blickte, immer nur sah ich mich selbst.“ An dem Traum des Camillo de Lellis wurden zwei entscheidende Merkmale einer zeitgemäßen Beichtpastoral deutlich: die Bedeutung der Wahrnehmung eines veränderten Schuldempfindens, das nicht auf der Ebene der „Werke“ anzusiedeln ist, sondern auf der Ebene des Selbstverständnisses, und die Betonung des Prozesscharakters. Beichte ist ein Ausbruch aus diesen Spiegelsälen, in denen wir nur uns selber sehen. Sie ist in ihrer besten Form ein Durchbruch zur Gemeinschaft, ein Durchbruch zum neuen Leben, ein Durchbruch zur Gewissheit, dass wir gerettet sind, dass unser Leben in Gott gelingen wird, der uns erlöst und befreit.38

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Vgl. dazu ausführlicher: Schaupp, Klemens, Kriterien für das Streben nach Heiligkeit. In: Diakonia 31(2000), S. 31–35. Vgl. Die Ausführungen Dietrich Bonhoeffers in: Bonhoeffer, Dietrich, , Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel (Dietrich Bonhoeffer Werke 5 (= DBW 5)), Gerhard Ludwig Müller und Albrecht Schönherr (Hrsg.), München 1987, S. 93–102.

Versöhnung im Strafrecht Joachim Zehner Von den gut 1700 Seiten des Handbuchs der Praktischen Theologie sind fünf der Sündenvergebung gewidmet.1 Das 1988 erschienene „Wörterbuch des Christentums“ – ausdrücklich auf „das moderne Christentum in seiner historischen, empirischen und theologischen Vielfalt“2 ausgerichtet – enthält keinen Artikel zum Thema. Ein neueres praktisch-theologisches Lehrbuch führt die Beichte gar nicht mehr mit einem Abschnitt an; Sündenvergebung in der Beichte ist nur noch als geschichtliches Phänomen von Interesse.3 Das 1992 erschienene „Handbuch der Psychologie für die Seelsorge“ schweigt in unserer Sache völlig. Das ein Jahr später erschienene „Wörterbuch der Religionspsychologie“ schweigt nicht nur, sondern weist in eine ganz andere Richtung. „Menschen (müssten) lernen, sich selber zu vergeben, statt auf Vergebung von außerhalb zu warten.“4 Ein Blick in Lexika zeigt die Zurückhaltung der Theologie in beinahe all ihren Disziplinen gegenüber dem Gedanken der Vergebung. Dem steht gegenüber die Entdeckung des Phänomens „Vergebung“ in bedeutenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und in anderen Wissenschaften.5 Wie kann der an der 5. Bitte des Vaterunsers erkennbare Zusammenhang von Gottes Vergebung und der Vergebung der Menschen untereinander heute erklärt werden? Sündenvergebung steht für Schrift und Tradition im Zentrum, doch wo geschieht sie heute? Petrus und Paulus sind ihrer ganzen Lebensgeschichte nach zu den Säulen der Gemeinde geworden – aus vergebener Schuld! Nach der Apostelgeschichte liegt das Wachstum der Gemeinde auch in der Bereitschaft zu vergeben begründet (vgl. Apg 2, 37–47). Wo erfahren wir sie in unserer kirchlichen Praxis? Die Zahl der Gemeinden ist klein, die Beichte anbieten. Das der Kirche anvertraute „Amt der Schlüssel“ ist ein Rätsel geworden.6 Über Vergebung, wie sie 1 2 3 4 5

6

Vgl.: Bloth, Peter u. a. (Hrsg.), Handbuch der praktischen Theologie (Praxisfeld: Der einzelne/Die Gruppe, Band 2), Gütersloh 1981, S. 310–314. Vgl.: Drehsen, Volker u. a. (Hrsg.), Wörterbuch des Christentums, Gütersloh, Zürich 1988, S. 7. Vgl.: Rössler, Dietrich, Grundriss der praktischen Theologie, 2. Auflage, Berlin, New York 1994, S. 156–159; S. 235–237. Vgl.: Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela, Art. Sünde/Schuld. In: Dunde, Rudolf (Hrsg.), Wörterbuch der Religionspsychologie, Gütersloh 1993, S. 295. Vgl. hierzu meine Habilitationsschrift mit Untersuchungen zum Straf- und Völkerrecht, zur Philosophie von Hannah Arendt, zur Psychoanalyse und Politikwissenschaft z.B. von Gesine Schwan, zu gesellschaftlichen Debatten um Verjährung von 1993 nach der Wende in Deutschland und zur Praxis der „Wahrheits- und Versöhnungs-Kommission“ in Südafrika in: Zehner, Joachim, Das Forum der Vergebung in der Kirche. Studien zum Verhältnis von Sündenvergebung und Recht, Gütersloh 1998. Vgl.: Gestrich, Christoph, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 1989, S. 56.

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sich ereignen kann und wie ich sie zwischen Menschen suchen kann, wird im Konfirmanden- oder Religionsunterricht wenig gelehrt.7 In verschiedenen Humanwissenschaften allerdings wird das Phänomen „Vergebung“ entdeckt:8 Im Strafrecht wurde der Täter-Opfer-Ausgleich9 als „dritte Spur“ neben den zwei üblichen Sanktionsformen „Strafe“ und „Maßregel“ eingeführt. Im Recht ist Vergebung eine viel beachtete Form der Erneuerung geworden. Ein Blick in das Recht kann lehren, christliche Vergebung in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu verstehen und in den kirchlichen Vollzügen wieder praktizieren und einlösen zu lernen und so als Sündenvergebung in ihrer geistlichen Tiefe zu erkennen und zu begreifen. Die Reform des Strafrechts bietet Anregung und Beispiel dafür. Der Täter-Opfer-Ausgleich ist in den 1980er Jahren zunächst als Modellprojekt im Jugendstrafrecht eingeführt worden. Das Jugendstrafrecht war schon immer Vorreiter bei der Reform des gesamten Strafrechts. Der Strafrechtler PeterAlexis Albrecht sieht die Intention des Gesetzgebers so: „Der beschuldigte Jugendliche … erkenne in der Konfrontation mit dem Opfer den ‚Verletzungscharakter seines Verhaltens‘, den ‚aktuellen Geltungsbereich strafrechtlicher Normen‘ und die ‚Bedeutung der Rechtsordnung für ein einvernehmliches Zusammenleben‘. Er werde motiviert, ‚durch die aktive Beteiligung an der Konfliktlösung zu seiner Verantwortung zu stehen und sich und seiner Umgebung zu beweisen, dass er kriminelle Betätigung als Ausdruck bzw. Ursache der Störung des sozialen Frie-

7 8 9

Vgl.: Zehner, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 17–40. Vgl. dazu Zehner, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 57–173, vgl. insbesondere zur südafrikanischen „Wahrheits- und Versöhnungskommission“, S. 88–91. Für einen ersten Überblick zum Stand der Forschung im Täter-Opfer-Ausgleich siehe die Literaturangaben bei Albrecht, Peter-Alexis, Jugendstrafrecht. Ein Studienbuch, München 1993, S. 168f. und Roxin, Claus, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I. Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Auflage, München 1994, S. 63f. Zu den Bemühungen des Gesetzgebers, den Täter-Opfer-Ausgleich im strafrechtlichen Sanktionssystem zu verankern vgl. Kaiser, Günther, Täter-Opfer-Ausgleich nach dem SPD-Entwurf zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems. In: ZRP-Gesetzgebungsreport 8 (1994), S. 314–319. Ich beziehe mich besonders auf juristische Monographien zum Thema von Frehsee, Detlev, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, Berlin 1987; Marks, Erich, Rössner Dieter (Hrsg.), TäterOpfer-Ausgleich. Vom zwischenmenschlichen Weg zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens, Bonn 1989 und den Forschungsbericht zum Reutlinger Modellprojekt „Handschlag“ von Kuhn, Annemarie u. a., Von der Idee zur Institution. Stationen des Modellprojektes „Handschlag“. In: dies. u. a., „Tat-Sachen“ als Konflikt. Täter-Opfer-Ausgleich in der Jugendstrafrechtspflege. Forschungsbericht zum Modellprojekt „Handschlag“, Bonn 1989, S. 13–27. Seit dem 1. Dezember 1994 ist der Täter-Opfer-Ausgleich – über das Jugendstrafrecht hinaus – durch das sog. „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ auch für erwachsene Straftäter (§ 46a Strafgesetzbuch) möglich. Die Einführung war – wie Pressemitteilungen zeigen – sehr erfolgreich; vgl. stellvertretend von Bebber, Werner, Wenn Schläger und Geschlagener sich an einen Tisch setzen. Über den TäterOpfer-Ausgleich könnten Konflikte geschlichtet werden, ohne dass die Justiz strafen muss. Enormer Erfolg in Brandenburg. In: Der Tagesspiegel Nr. 15, 531 vom 8. Februar 1996. Vgl. auch Bundesministerium für Justiz (BMJ), Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland, Berlin 2011.

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dens zu meiden suchen wird.‘“10 Der Täter-Opfer-Ausgleich wird bei Delikten mittlerer Schwere praktiziert. Für schwere Verbrechen scheidet er nach den bisherigen Erfahrungen aus. Grundsätzlich kommt jedoch jeder Fall infrage. Die Rechtsgrundlage findet sich in § 155a und § 155b Strafprozessordnung und § 46a Strafgesetzbuch. Wie läuft er ab?11 Wenn der Richter das Geständnis für glaubhaft und die Schuld für erwiesen hält, kann er den staatlichen Strafanspruch zurückstellen, um das Verfahren auf andere Art als durch ein Gerichtsurteil zu erledigen. Das nennt der Jurist Diversion. Nach § 155a und § 155b der Strafprozessordnung wird die Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung von Auflagen verfügt. Dieses vereinfachte Erledigungsverfahren dient der Friedensstiftung ohne Verurteilung, aber ohne Verzicht auf Sanktionen. Der Täter ist nicht vorbestraft. Der Täter-Opfer-Ausgleich ist ein Angebot auch für das Opfer der Straftat; er soll auf beiden Seiten – das ist ein zentrales Prinzip – freiwillig zustande kommen. Eine dritte Person, ein „professionelle(r) Sozialisationsexperte“, ein engagierter Laie, in den meisten Fällen aber das Jugendamt,12 führt Einzelgespräche mit dem Beschuldigten und dem Geschädigten. Die Vermittler schlagen eine persönliche Begegnung vor und moderieren sie. In diesem Gespräch geht es um die Tat, ihre Folgen für den Geschädigten und um die Vereinbarung einer Wiedergutmachung. Großer Wert wird auf die gegenüber dem staatlichen Verfahren erkennbare Neutralität gelegt; vom Subsidiaritätsprinzip, so heißt es im Projektbericht, ist eine freie Trägerschaft geboten.13 Das Gespräch zwischen Täter und Opfer hat die schwierige Aufgabe, den in juristische Termini gefassten Konflikt „rückzuübersetzen“, so dass die Sachdimension (zählund messbare Schädigungen und Verletzungen), die Beziehungsdimension (aller betroffenen Personen) und die Affektdimension (Angst, Wut, Gekränktheit) Raum finden.14 Die das Konzept tragende Leitvorstellung lautet: Der Täter-OpferAusgleich eröffnet einen Handlungsspielraum, um eigenverantwortlich einen Konflikt zu bereinigen.15 Der Konflikt kann in den „sozialen Nahraum“ zurückverlegt werden. Das müsste auch deshalb gelingen, weil Wiedergutmachung auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen (Familie, Nachbarschaft, Betrieb) gesellschaftliche Relevanz besitzt. Wann ist der Täter-Opfer-Ausgleich erfolgreich und wann kann das Verfahren eingestellt werden? Der Erfolg wird am Konsens der Beteiligten über eine Aus10 11 12 13 14

15

Vgl.: Albrecht, Jugendstrafrecht (s. Anm. 9), S. 179f.. Vgl. die Portale zum Täter-Opfer-Ausgleich verfügbar unter: http://www.taeter-opferausgleich.de/erfahrungen; http://www.toa-servicebuero.de und http://www.tatausgleich.org/ Vgl.: Albrecht, Jugendstrafrecht (s. Anm. 9), S. 181 mit ausgewerteten Projektberichten. Vgl.: Kuhn, Von der Idee zur Institution (s. Anm. 9), S. 18f. Vgl.: Kuhn, Annemarie, Der Täter-Opfer-Ausgleich im Spiegel theoretischer Überlegungen. In: dies. u. a., „Tat-Sachen“ als Konflikt. Täter-Opfer-Ausgleich in der Jugendstrafrechtspflege. Forschungsbericht zum Modellprojekt „Handschlag“, Bonn 1989, S. 61. Vgl.: Kuhn, Der Täter-Opfer-Ausgleich im Spiegel theoretischer Überlegungen (s. Anm. 14), S. 40, S. 63.

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gleichsvereinbarung gemessen. Der Konsens mit seinen Vereinbarungen wird in einem Vertrag dokumentiert. Bisher waren drei von vier Fällen Erfolge. In 40 % der erfolgreichen Fälle werden aber noch zusätzlich Sanktionierungen durchgeführt. Für die Geschädigten werden, so betonen die Befürworter, Schäden reguliert, Ängste und seelische Belastungen abgebaut; sie vertrauen wieder in das Funktionieren der Rechtsordnung. Dem spezialpräventiven Ansatz wird durch die Hinwendung zum Opfer ein generalpräventiver und sühnender Ansatz zur Seite gestellt. Der Strafrechtler Claus Roxin konstatiert: „Die Wiedergutmachung … trägt Wesentliches auch zur Erreichung der Strafzwecke bei“16. „Vergebung bedeutet“, so die Definition, „den freiwilligen Verzicht, eine Schuldforderung einzutreiben …; sie will Gemeinschaft wiederherstellen und führt damit weiter und tiefer als Wiedergutmachung und Vergeltung. Nach der 5. Bitte des Vaterunsers ist Vergebung Inbegriff des Handelns Gottes, dem menschliches Handeln entsprechen soll.“17 Geschieht im Täter-Opfer-Ausgleich tatsächlich Vergebung? Strafe wird zugunsten der Versöhnung ausgesetzt und schließlich ersetzt; es wird darauf verzichtet, eine Schuldforderung einzutreiben. Man mag hier zunächst rückfragen: Stimmt die Voraussetzung, denn die Strafe wird ja in eine Wiedergutmachung umgewandelt? Die Sanktion, so kann man einwenden, wird damit eben nicht ausgesetzt. Wir müssen jedoch bedenken: Der Täter-Opfer-Ausgleich trägt primär und gerade mit Hilfe der persönlichen Begegnung das Ziel der Versöhnung in sich. Der Strafrechtler Detlev Frehsee macht deutlich: „Erst der face-toface Kontakt ermöglicht eine gemeinschaftliche Bewältigung des gemeinsamen Erlebnisses, indem er den Kontrahenten erlaubt, sich gegenseitig als Menschen kennenzulernen.“18 Dies ist mehr als Wiedergutmachung im zivilrechtlichen Sinne. In einem der Modellprojekte wurde konstatiert:19 Das Opfer verzichtet letztlich oft auf Ansprüche, und es genügt ihm das gemeinsame Gespräch und – was nach allgemeiner Erfahrung einen hohen Stellenwert hat – eine Entschuldigung; Ausgleichleistungen stehen zudem kaum in einer Beziehung zur Schwere der Verletzung oder Kränkung. Positiv ist hervorzuheben, dass Vergebung, so wie sie im Neuen Testament beschrieben wird,20 als ein Element zur Reform des Strafrechtes angesehen werden kann. Der Ausgleich setzt auf der Opferseite die Bereitschaft voraus, in der persönlichen Begegnung die moralische Schuld des Täters zu vergeben. Nur so kann 16 17 18 19

20

Vgl.: Roxin, Claus, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Auflage, München 1994, S. 65. Gestrich, Christoph, Zehner, Joachim, Art. Vergebung, EKL 4, Sp. 1137. Frehsee, Detlev, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, Berlin 1987, S. 135. Vgl.: Kuhn, Annemarie, Der Täter-Opfer-Ausgleich beim Projekt „Handschlag“. In: dies. et al., „Tat-Sachen“ als Konflikt. Täter-Opfer-Ausgleich in der Jugendstrafrechtspflege. Forschungsbericht zum Modellprojekt „Handschlag“, Bonn 1989, S. 194–236, 209. Vgl. zum neutestamentlichen Befund Zehner, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 292–305.

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wieder ein mitmenschliches Verhältnis entstehen. Die materielle Wiedergutmachung ist auch ohne das Gespräch zu leisten, sie kann nicht der Hauptzweck sein. In der Begegnung wird der Täter wieder zum Mitmenschen, die Person, die hinter der Tat steht, wird wahrgenommen und von seiner Tat unterschieden. Dies entspricht den Geschichten, in denen Jesus Sünder wieder zu Mitmenschen, zu Gliedern der Gemeinschaft macht. Insofern – aber auch nur insofern – entspricht es den vielen Vergebungsgeschichten des Neuen Testaments. Vergebung wird dort anders begründet, nämlich mit der von Gott empfangenen (Gleichnis vom Schalksknecht, Mt 18,21–35) oder der für alle Menschen gleichermaßen notwendigen (Sünderin und Pharisäer, Joh 8,1–11) Vergebung. Die Analogie zum TäterOpfer-Ausgleich liegt in der Bereitschaft zu vergeben statt zu strafen. Wer als Opfer den Ausgleich will und sich mit dem Täter an einen Tisch setzt, für den ist dies m.E. eine unausgesprochene Prämisse. In der christlichen Interpretation ist zu erkennen, dass vom Zentrum christlicher Botschaft, nämlich der Wiederherstellung von Gemeinschaft aufgrund von vergebener Schuld, ein gesellschaftlicher Impuls ausgeht. Versöhnung aufgrund von Vergebung geschieht nicht nur im privaten Bereich, sondern eröffnet – wo klassische Sanktionsformen ihre Grenzen finden – neue ethisch-gesamtgesellschaftliche Möglichkeiten, gestörte Gemeinschaft wiederherzustellen. Nicht nur zur Vergebung im Neuen Testament, auch zur Beichte entstehen bei aller Unterschiedlichkeit des Grundes der Vergebung Ähnlichkeiten. Anmerken muss man hier jedoch, dass die – rein optisch betrachtet – autoritäre Gestalt der Beichte dazu beiträgt, den christlichen Vergebungsbegriff zu diskreditieren. In Beichte und Täter-Opfer-Ausgleich wird eine Institution geschaffen, die Versöhnung stiftet. Strukturell gesehen sind von der Täterseite aus analog: Beichte Reue Bekenntnis Absolution Genugtuung (in kath. Tradition)

Täter-Opfer-Ausgleich Bereitschaft zur Begegnung Gespräch über die Tat, Erkenntnis der Folgen Konsens Ausgleichsleistung

Elemente christlicher Tradition sind offensichtlich enthalten. Sie tragen dazu bei, das Strafrecht zu reformieren. Folgendes ist aber auch gegenüber dem Täter-OpferAusgleich kritisch zu sehen: (1.) Das Verfahren ist letztlich nicht freiwillig. Die Motivation des Täters ist im überwiegenden Teil der Fälle das drohende strafrechtliche Verfahren. Die Motivation des Opfers wird zunächst die Wiedergutmachung sein. Das Opfer kann de facto in die Richterrolle gedrängt werden; denn ohne Konsens kommt es zu dem – vom Täter gefürchteten – Gerichtsverfahren. (2.) Der Staat kann m.E. nur die Aufgabe haben, Verstöße gegen die vorher bekanntgemachte Rechtsordnung zu sanktionieren. Es steht ihm nicht zu, die Gesinnung seiner Bürger zu

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bestimmen und zu beurteilen. Im Täter-Opfer-Ausgleich versucht der Staat in Gestalt des Jugendamtes, den Konsens, die positive Grundeinstellung, gewissermaßen zu erzwingen. Die Praxiserfahrung aus den bisherigen Modellen legt gerade eine gegenüber staatlichen Organen erkennbare Neutralität des Vermittlers nahe; der Täter-Opfer-Ausgleich soll ja nicht – wie von vielen Strafrechtlern gefordert und von den Gesetzentwürfen vorgesehen – die Palette der staatlichen Reaktionsformen erweitern, sondern er ist vielmehr eine eigenständige Form der Konfliktlösung „außerhalb und neben der Justiz“21. Als staatliche Einrichtung würde er seine Grundprinzipien (autonome Konfliktlösung, Freiwilligkeit) nicht beibehalten können. Schon jetzt findet ein Ausgleich häufig ohne Gespräch statt,22 auch entsteht eine Form der Routine, die die Phantasie in der Konfliktlösung einschränkt.23 Als staatliche Maßnahme ist der Täter-Opfer-Ausgleich zudem mit großem zeitlichem und personellem Aufwand verbunden; hierin liegt m.E. der Hauptgrund dafür, dass er bisher – so der grundsätzlich zustimmende Strafrechtler Claus Roxin – „mehr Programm als Realität“ ist.24 Hier ist m.E. die Kirche gefordert. Mit einem theologisch geklärten Begriff von Vergebung kann sie ihren Dienst anbieten und leisten. Nach dem Prinzip der Subsidiarität ist dies sogar geboten; denn der Staat soll erst dann helfend („subsidiär“) mit dem Recht eingreifen, wenn die Kraft bestehender gesellschaftlicher Institutionen (etwa zur Konfliktregelung) nicht ausreicht. Das Strafrecht ist nicht das Medium sozialer Integration! Denn zusammenfassend kann man sagen: Der Ausgleich setzt auf die Vergebung, vermag sie aber nicht zu begründen und vermag auch nicht die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dem entspricht es, dass für den TäterOpfer-Ausgleich nur leichte bis mittlere Fälle in Frage kommen. Die Kirche kann und muss jedoch daraus lernen, ihre eigene Praxis der Vergebung ernster zu nehmen; denn es bedarf – das zeigt der Täter-Opfer-Ausgleich – des Zuspruchs der Vergebung; es fehlen jedoch die adäquaten Mittel: unabhängige Seelsorger/Innen einer gesellschaftlichen Institution und deren Verschwiegenheit, Präsenz des Vermittlers im sozialen Nahraum, Einübung der Versöhnungsbereitschaft in Unterricht, Gemeinschaft und vielfältiger Symbolhandlungen (wie z. B. dem Abendmahl), die langfristig – und nicht nur fixiert auf ein Ausgleichsgespräch – einen Versöhnungsprozess ermöglichen. Es zeigen sich die Grenzen des rechtlichen Bereichs: Vergebung kann letztlich nur aus Gottes Vergebung und aus der Sühne Jesu Christi verstanden werden; nur so wird einsichtig: Der Rechtsverzicht ist mit einer Verheißung ausgestattet. Erst von hierher kann das Motiv zu vergeben begründet werden; Grundhaltungen, Wertevorstellungen, Lernfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Sozialdisziplin, die Dimension des „human factor“, werden vom kulturell-religiösen Unterbau entscheidend mitbe21 22 23 24

Vgl.: Kuhn, Der Täter-Opfer-Ausgleich im Spiegel theoretischer Überlegungen (s. Anm. 14), S. 46. Vgl.: Kuhn, Der Täter-Opfer-Ausgleich beim Projekt „Handschlag“ (s. Anm. 19), S. 205. Vgl.: Kuhn, Der Täter-Opfer-Ausgleich beim Projekt „Handschlag“ (s. Anm. 19), S. 215. Vgl.: Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil (s. Anm. 16), S. 65.

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stimmt. Dieser vor-rechtliche Bereich bleibt der Einflussnahme des Staates entzogen. Mit einem Wort des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde: der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.25 Der christliche Begriff von Vergebung muss aber zur autonomen Konfliktlösung beitragen und darf nicht letztlich, wie in der kirchlichen Beichtpraxis, die menschliche Bereinigung in den Hintergrund der Beliebigkeit und Zweitrangigkeit drängen; auch hier wird der zwischenmenschliche Konflikt „geraubt“. Der Begriff der Vergebung kann bezogen werden auf staatliche Strafsanktionen; denn Strafrecht ist ja nur ein Teilbereich sozialen Umgangs miteinander. Die Möglichkeit der staatlichen Strafsanktion ist sogar für einen christlichen Begriff der Vergebung vorauszusetzen; denn Vergebung sollte frei als eine von mehreren Alternativen gewählt werden können. Ich darf nicht gezwungen werden, vergeben zu müssen, weil mir keine andere Wahl bleibt. Der in der Besinnung auf den Täter-OpferAusgleich präzisierte Begriff christlicher Vergebung muss aber auch in seinen ekklesiologischen Konsequenzen bedacht werden. Wie müssten die konstitutiven kirchlichen Vollzüge aussehen, um für eine christlich motivierte Konfliktlösung ein Forum zu bie26 ten? Der Täter-Opfer-Ausgleich ist gewissermaßen ein Gleichnis, ein Aufblitzen der einen großen Vergebung. Die Kirche ist gefordert als eine Institution, die die Möglichkeit zur Einübung der Vergebungsbereitschaft und der Vergebungsannahme bietet. Insbesondere der „Versöhnungsweg“27 ist die in der Kirchengeschichte uneingelöst gebliebene, biblisch vorgegebene, verheißungsvolle Möglichkeit der zwischenmenschlichen Vergebung. Auf diese Weise kann die Gefahr des Täter-Opfer-Ausgleichs (das Opfer wird zum Richter über den Täter) vermieden und das Defizit der Beichte (Ausblenden des verletzten Dritten) behoben werden. Die zwischenmenschliche Vergebung ist theologisch gesehen ein sakramentales Zeichen; sie verweist auf die Vergebung Gottes, sie hat Gebot und Verheißung; als zwischenmenschliche Vergebung hat sie aber teil an der Ambivalenz der Lebensvoll28 züge und ist deshalb „nur“ sakramentales Zeichen. Nicht nur der Täter-Opfer-Ausgleich, sondern auch die Verjährungsdebatte, die im Jahre 1993 mit der Verfolgung der Stasi-Unrechtstaten entstand und ihr Plädoyer für Versöhnung,29 zeigen, welche gesellschaftlich erneuernde Kraft von der Vergebung erhofft wird. Erneuernd in dem Sinne, dass Konflikte bearbeitet und bereinigt, 25

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Vgl.: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung. In: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 112. Vgl.: Zehner, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 245–444. Vgl.: meine Ausführungen zum „Versöhnungsweg“ als ein die Beichte ergänzendes und der biblischen Vielfalt der Vergebungsformen entsprechendes und noch zu entwickelndes Angebot der Kirche, Zehner, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 292–346. Vgl. die ausführliche Begründung in meiner Habilitationsschrift Zehner, Joachim, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 344f. Vgl.: Zehner, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 76–91.

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soziale Beziehungen von Dauer geschaffen, neue Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden. Vergebung bedeutet im christlichen Sinne: sie geschieht zwischen Gott und Mensch und die Bibel beschreibt damit die Neuschöpfung des Menschen (kaine ktisis, 2. Kor 5,17). Vergebung stellt im privaten Bereich Gemeinschaft wieder her; Vergebung kann im Zusammenhang mit dem Recht im öffentlichen Bereich wirken. Die materiale Analyse zeigt, dass zwischen der kirchlichen Rede von göttlicher Sündenvergebung, der menschlichen Vergebung und dem Recht ein unauflöslicher, bleibender Zusammenhang besteht. Vergebung stünde somit nicht nur jenseits der Grenzen der Ethik,30 sondern wäre ein auf unterschiedliche ethische Situationen anzuwendender Grundbegriff christlicher Ethik, insbesondere für die Aufgaben des Strafrechts. Zeichenhaft hierfür ist Jesu Reden und Umgang mit den Sündern in den synoptischen Evangelien. Im Gericht Christi wird deutlich, dass diese Vergebung auch immer Erkennen und Benennen von Schuld einschließt. Vergebung kann nicht eine eigenmächtig verfügbare und notwendige Funktion des Staates werden. Der Staat kann nicht mit seinen Mitteln die innere Haltung und Motivation seiner Bürger hervorbringen und bestimmen. Es müsste in der Kirche ein unabhängiges „Forum der Vergebung“ eingerichtet werden, zu dem Versöhnungsweg und Beichte gehören. Karl Barth hat im Blick auf die Vergebung Gottes, die sich für alle ereignet hat, gefordert, die Todesstrafe aufzuheben.31 Dieser Gedanke müsste auf das Strafen insgesamt angewendet werden. Es muss daher die Möglichkeit geben, zwischen der Bestrafung des Täters vor staatlichen Gerichten und der Vergebung im Forum der Kirche zu wählen. Das Opfer muss analog zur eschatologischen Gerichtssituation die Möglichkeit haben zu vergeben oder den Täter seiner Strafe zuzuführen. Der Staat muss die Möglichkeit schaffen, dass ein Konflikt zurückdelegiert wird auf die persönliche Ebene und dort aus dem Konflikt entstandene Schuld vergeben werden kann. Auf dieser Form der Schuldbewältigung müsste der eindeutige Schwerpunkt liegen und nicht auf dem an sich subsidiären Strafrecht des Staates. Der Staat kann dafür die Rahmenbedingungen schaffen; das zeigen der Täter-Opfer-Ausgleich in der Bundesrepublik Deutschland und das auf eine bestimmte Zeit befristete „Gesetz zur Förderung der nationalen Einheit und Versöhnung“32 in Südafrika.

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Vgl.: Honecker, Martin, Einführung in die theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin, New York 1990, S. 357. Vgl.: Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von der Schöpfung: Das Gebot Gottes des Schöpfers. Band III, 4, Zürich 1951, S. 506f.: „Die Bestrafung des Verbrechers (wird) vielmehr eine Form haben müssen, in der die Vergebung, die Jesus Christus auch für ihn erworben hat, ihm selbst und allen Anderen, den weniger Bösen, sichtbar gemacht und eben ihm, dem noch Böseren, konkret angeboten wird“ (Barth, Kirchliche Dogmatik Band III, S. 507.). Der katholische praktische Theologe Eugen Wiesnet hat in beiden Konfessionen eine „Anwendungsverweigerung der Grundgedanken der Soteriologie auf den Bereich des Strafens“ festgestellt und scharf kritisiert, vgl. Wiesnet, Eugen, Die verratene Versöhnung. Zum Verhältnis von Christentum und Strafe, Düsseldorf 1980, S. 156. Vgl. Zehner, Forum der Vergebung in der Kirche (s. Anm. 5), S. 88–91.

Politische Umbrüche Wahrheitskommissionen als Beichtstuhl? Ralf K. Wüstenberg

1. Ein Fallbeispiel Der zu Apartheidtagen hoch dekorierte Kapstädter Polizeichef Jeffrey Benzien tritt im Juli 1997 vor die Wahrheits- und Versöhnungskommission (= TRC), um für seine zum Teil sehr grausamen Foltermethoden Amnestie zu erlangen. Die südafrikanische Wahrheitskommission war 1995 nach den ersten freien Wahlen nach dem Ende der Apartheid von der Regierung Mandela eingesetzt worden, um die Menschenrechtsverbrechen zwischen 1960 und 1993 im Land zu untersuchen.1 Die einzige Voraussetzung für Straffreiheit war, vor die Kommission zu treten und die Wahrheit zu sagen. Das hieß: alle relevanten Fakten mitzuteilen, die sich auf die Straftat bezogen – in der Regel: Folter, Mord oder das Verschwindenlassen von Menschen. Reue musste der Straftäter nicht zeigen. Die dreitägige Anhörung vor der Wahrheitskommission, die sich mit dem Fall Jeffrey Benzien befasste, fand im Juli 1997 in Kapstadt unter großer Anteilnahme von Bevölkerung und Medien statt. Nach der Gesetzgebung der Wahrheitskommission war es den Opfern erlaubt, bei den Anhörungen nicht nur anwesend zu sein, sondern auch ihre Peiniger zu sehen und selbst ins Kreuzverhör zu nehmen. Im Fall Benzien hatten zwei seiner Folteropfer sogar darum geben, dass noch einmal die spezielle Foltertechnik vorgeführt werden soll, mit denen er Aussagen erzwang. Den Opfern wurde ein nasser Sack über den Kopf gezogen bis ihnen der Erstickungstod drohte. Seinen Opfern gegenübersitzend, begann Jeffrey Benzien2 seine Aussage: „Ich entschuldige mich bei den Menschen, die ich während meiner Verhöre angegriffen haben, vor allem Peter Jacobs, Ashley Forbes, Tony Yengeni …“ Ashley Forbes wollte dann sogleich von Benzien wissen: „Erinnern Sie sich, dass Sie zu mir sagten, je nach Kooperationsbereitschaft werde ich entweder wie ein Tier oder wie ein Mensch behandelt?“ Benzien bestätigte, „etwas in dieser Richtung gesagt zu haben.“ Peter Jacobs, das andere Folteropfer, will wissen, ob sich Benzien daran erinnere, dass die Menschen sich ausziehen mussten, bevor die Foltermethode mit dem nassen Sack Anwendung fand und fügt an: „Erinnern Sie 1

2

Vgl. den Überblick Wüstenberg, Ralf, Versöhnung oder Aufarbeitung? Vergangenheitspolitik in Südafrika und Deutschland, Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 2008. Eine Zusammenfassung des Abschlussberichts der Versöhnungskommission ist in Deutschland unter dem Titel Das Schweigen gebrochen. Geschichte – Anhörungen – Protokolle, Frankfurt, Wien 2000 erschienen. Nachfolgende Zitate aus der Anhörung nach Wüstenberg, Versöhnung (s. Anm. 1), S. 41–44.

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sich, dass ich zu ersticken drohte?“ Benzien: „Ich kann mich an Ihren Fall nicht im Einzelnen erinnern, aber gut, ich gestehe ein ..., dass das so war.“ Ein weiteres Opfer, Tony Yengeni, fragte, ob sich Benzien entsinne, dass er seinen Kopf gegen die Wand schmetterte bis er das Bewusstsein verlor. Benzien verneint: „Ich bezweifele, dass ich Ihren Kopf gegen die Wand geschmettert habe, denn das hätte Spuren hinterlassen.“ Ashley Forbes: „Sie schienen sehr effizient in Ihrer Tätigkeit. Kann man sagen, Sie sind ein Naturtalent? Benzien: „Ich kann nicht bestätigen, dass ich ein von der Natur gegebenes Talent zum Foltern besitze, und wenn, dann wäre es sicher kein schönes Talent. Die Foltermethode mit dem nassen Sack, die ich erfunden habe, ist etwas, mit dem ich leben muss. Ich finde es ausgesprochen schwierig, hier vor Ihnen und der ganzen Medienwelt zu sitzen. Wie schrecklich ich mich auch immer fühle – für Sie und Ihre Leidensgenossen muss es schlimmer gewesen sein.“ Tony Yengeni, der Benzien am zweiten Anhörungstag aufforderte, die Foltertechnik mit dem nassen Sack zu demonstrieren, fragte schließlich: „Was für ein Mensch wendet solch eine Foltermethode gegenüber einem anderen menschlichen Lebewesen an und hört dabei das Stöhnen, während er sie nahe an den Tod bringt? Was für ein Mensch sind Sie? Was ist passiert mit Ihnen - als menschliches Wesen?“ Benzien: „Mr Yengeni, nicht nur Sie haben mir diese Frage gestellt. Ich, Jeff Benzien, habe mir diese Frage in einem Ausmaß gestellt, dass ich mich schließlich freiwillig einer psychiatrischen Behandlung unterzogen habe. – Sie fragen mich, was für ein Mensch ich bin, ich, Jeffrey Benzien, stelle mir selbst diese Frage.“

2. Erste Beobachtungen Äußerlich fällt zunächst auf, dass verschiedene Dimensionen der Wahrheit ineinander vermittelt werden: Benzien tritt auf, um formal zu berichten, was geschehen war, um so den Kriterien für die Amnestie zu genügen (juristisch relevante Faktenwahrheit). Indem er aber schildert, was war und von seinen ehemaligen Opfern mit den bohrenden „Warum-Fragen“ konfrontiert wird, stellt er moralisch sein Tun in Frage (moralische Dimension der Wahrheit). Er stellt nicht nur sein Tun in Frage, sondern seine Person, sein Ich wird hinterfragt, der ‚innere Mensch’ tritt hervor (theologische Dimension). Die Wahrheitskommission hält den Raum für ein Geschehen offen, das ganz offenbar den juristischen Vorgang der Amnestieprüfung übersteigt und aufs Moralische, ja Theologische verweist. Denn die Frage nach dem „inneren Menschen“ weist nun deutlich auf das hin, was theologisch Reue heißt. Zweitens sieht man, wie Amnestie (als juristisches Instrument) und Vergebung (als moralische Kategorie) unterschieden werden müssen, ohne vollständig getrennt zu sein. Hier zeigt sich die Stärke einer Individualamnestie, die an die Stelle der Strafe auf der einen und der Generalamnestie auf der anderen Seite trat. Die

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Amnestierung des Täters hängt nicht an der Vergebungsbereitschaft des Opfers, sondern ist – rechtsstaatlich – als juristisches Institut an vorher definierte gesetzliche Vorgaben (Vollständigkeit der Aussage, Verhältnismäßigkeit der Mittel usw.) gebunden. Und dennoch: Zwei Wochen nach der Benzien-Anhörung sagt das Folteropfer Ashley Forbes: „Ich habe Jeffrey Benzien vergeben. Nun kann ich mit dem Rest meines Lebens fortfahren.“ Aus einem Satz wie diesem lernt man: Vergebung hilft offenbar nicht nur dem Täter, sondern auch dem Opfer. Vergebung markiert den Wendepunkt in einem Versöhnungsprozess, der mit der SelbstInfrage-Stellung des Täters begann. So wird eine neue Perspektive eröffnet, nämlich die Versöhnung mit der eigenen Geschichte. In dieser Perspektive – so könnte eine sozialethische Folgerung aussehen – sind gesellschaftliche Anstrengungen unbedingt zu unterstützen, die den Zusammenhang von Würde und Leiden konstruktiv aufnehmen, erlebtem Leiden Raum geben, um durch Zuspruch in Form symbolischer oder sprachlicher Kommunikation zur Heilung der Erinnerung beizutragen. Deutlich ist: Eine Versöhnung mit dem eigenen Schicksal kann nur über die Integration von Leid- und Sinnleere-Erfahrungen gelingen.3

3. Reue oder Bedauern? Im öffentlichen, politischen Raum reicht der Ausdruck des „Bedauerns“ oder der „Entschuldigung“ durch politische Akteure, der (in der Rezeption durch die Hörer) unterschiedlich „tief“ scheint und (entsprechend) „angenommen oder nicht angenommen“ wird. Theologisch gilt, dass a) Vergebung eine personale Kategorie ist, die b) einen Schuldzusammenhang sowie c) die Unterscheidung zwischen Person und Tat voraussetzt. Um sich differenziert mit diesem Beispiel auseinandersetzen zu können, ist zu fragen, in welchem (univoken) Sinn hier theologisch von Reue (contritio) gesprochen werden kann. Um dieser Frage nachzugehen, ist zunächst eine Zwischenüberlegung geboten, die den theologischen Sinn von Reue klärt. Ich beschränke mich dazu auf Grundzüge der reformatorischen Theologie. Nach der Confessio Augustana4 besteht Buße, wie in einem anderen Beitrag in diesem Buch näher ausgeführt, aus Reue (contritio) und Glauben (fides). Contritio bedeutet „die Schrecken (terrores), die dem Gewissen eingejagt worden sind, nachdem die Sünde erkannt worden ist.“5 Der andere Teil der Buße ist „der Glaube, der aus dem Evangelium, d.h. aus der Lossprechung ([ex] absolutione), empfangen wird und der Glaubensgewissheit gibt, dass um Christi willen die Sünden vergeben werden, und der so tröstet und aus den Schrecken 3

4 5

Vgl.: Wüstenberg, Ralf, Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh 2004 (endgl. GrandRapids, Cambrisge 2009). CA 12 (Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition (= BSELK), Göttingen 2014, 107) Nachfolgende Übers. d. Verf. CA 12, 3f. (BSELK, 107, 5f.)

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befreit (liberat).“6 Die Zweiteilung nimmt strukturell Grundgedanken aus Luthers 95 Thesen zum Ablass auf: 7 die Reue über die Sünde, die von Gott allein Vergebung erhält, und den Glauben, der in der bußfertigen Haltung besteht, in der der Mensch sein ganzes Leben auf die Gnade Gottes angewiesen bleibt.8 In seinem sermo de poenitentia von 15189 führt Luther aus, dass nicht die Reue, sondern der Glaube an die Barmherzigkeit Gottes in Christus den Menschen an der Vergebung Gottes teilhaftig werden lässt. Die Vergebung erlangt man nicht um der Würdigkeit willen, sondern wegen des Glaubens. Die Buße erhält einen anderen Inhalt, wo man sich nicht auf die Reue, sondern das Wort Christi verlässt. Luther behält zwar formal die Dreiteilung der Buße (contritio cordis, confessio oris, satifactio operis)10 bei, hebt aber ihre Bedeutung auf: Wo der Glaube fehlt, da nützen Reue, Beichte und Satisfaktion nichts. Artikel 12 der CA entspricht den skizzierten Gedanken aus Luthers Bußverständnis: Buße ist keine bestimmte Handlung; sie ist (als Reue und Glauben) dem christlichen Leben unter dem Wort Gottes, dem Gesetz und dem Evangelium, gemäß.11 Reformatorische Theologie versteht Buße als Werk Gottes, und zwar als sein uneigentliches, fremdes Werk (opus alienum), das den Menschen zu seinem opus proprium treiben soll. Reue ist dann „passiva contritio“, nicht eine Leistung des Menschen, sondern Aufdeckung der Sünde durch das Evangelium.12 „Reue“ beschreibt gewissermaßen den Tief-, End- und Wendepunkt eines Prozesses, der unterbrochen, gerichtet wird, d.h. befreit durch das Evangelium (liberat! CA 12). Die Reue wird der Weg, auf dem Gott den Menschen zu sich führt. Und weil der Mensch ständig in der Sünde lebt, muss er immer von neuem vom Gesetz zum Evangelium geführt werden, d.h. in der Buße leben.13 Fragen wir nach dieser theologischen Zwischenüberlegung, ob manche Aussagen Benziens während seiner Amnestieanhörung vor der TRC an ein theologisches Verständnis von Reue heranreichen. Vorab: Eine Reue aus Furcht vor Strafe (das wäre „attritio“) liegt nicht vor. Amnestie war nach dem TRC-Gesetz nicht an die Reue gebunden. Seinen Amnestieantrag gefährdet Benzien allenfalls durch Gedächtnislücken. Eine Erörterung der fehlenden Erinnerungen kann für eine evangelische Betrachtung ausbleiben, weil sie einem Beichtverständnis entspricht, 6 7

8 9 10 11 12 13

CA 12, 5f. (BSELK, 107, 6f.) Vgl. zu Luthers Stellung zum Augsburger Bekenntnis Wenz, Gunther Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch Bd. 1, Berlin u.a. 1996, S. 499f., bes. 506. Vgl. die berühmte These: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße!, so hat er gewollte, dass das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei.“ WA 1, 319–324. So im Konzil von Florenz festgestellt; vgl. die Bulle Exultate deo, 22. Nov. 1439 (D1323). Melanchthon parallelisiert explizit „Reue“ und „Gesetz“ in der Apologie: Die Reue sei mit anderem Worte Werk des Gesetzes, vgl. Apol. CA 12 (BSELK, 442). Vgl. Schmalkaldische Artikel 3,3f. (BSELK, 751, 32f.) In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum Bonhoeffer von der „Wegbereitung“ als Buße spricht. Vgl. hierzu den Beitrag von Christine Schliesser „,Beichte als Angebot göttlicher Hilfe‘. Ökumenische Ermutigungen auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers“ in diesem Buch.

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nach dem alle Einzeltaten (omnium delictorum) vollständig aufzuzählen sind. Zudem entspricht das Auftreten vor der TRC nicht der Beichtsituation. Die Reformatoren betonen den privaten Charakter der Beichte in den Kirchen.

4. Einzelbeobachtungen Theologisch auffällig sind Passagen in den Antworten Benziens wie „es ist kein schönes Talent“ oder „Ich finde es schwierig hier vor Ihnen zu sitzen“. Während erstere auf eine Umkehr im Sinne einer Neuinterpretation der Tat verweist, bringt letztere ganz offensichtlich „Scham“ zum Ausdruck. Das Problem des „Öffentlichen“ ist bereits angesprochen worden. Die Scham drückt noch etwas anderes aus: Der „innere Mensch“ tritt hervor. Die Abkehr betrifft nicht nur die Tat, sondern auch den Menschen. Eine Wandlung im Innersten kündigt sich an. Dem „Gewissen werden Schrecken eingejagt“. Im letzten Satz stellt sich Benzien als Person in Frage: „Ich habe mir selber die Frage gestellt, was für ein Mensch ich bin.“ Es wird deutlich, dass die Reue (contritio) nicht nur einzelne Vergehen betrifft, sondern in der Zerknirschung gründet, die das Gesetz durch die Erkenntnis bringt, dass alles im Menschen unter dem Fluch der Sünde steht. Benzien „erwacht“ aus dem Apartheids(alb)traum, der von Theologen als Sünde gegen Gott erkannt wurde. Es ist insofern ein Erwachen aus der Feindschaft gegen Gott. Umkehr ist „Erweckung“, wie Karl Barth auch für unseren Zusammenhang treffend auslegt: „Der Schlaf, aus dem laut der Schrift Menschen erweckt werden, ist ihr Gehen auf verkehrtem Weg: ein Gehen, in welchem begriffen sie selbst Verkehrte sind und Verkehrte auch bleiben müssen.“14 Benziens „Erwachen“ geschieht indessen nicht aufgrund von Furcht, Nötigung oder Einschüchterung; es vollzieht sich in innerer Freiwilligkeit, vordergründig eingeleitet durch die Nennung relevanter Umstände zur Erfüllung der Amnestiekriterien (justizielle Ebene). „Wahrheit“ bekommt durch die personale Begegnung mit den Opfern noch eine andere, anklagende Dimension (moralische Ebene): Die Opfer stellen die Person hinter dem Tun in Frage. Der Täter wird wachgerüttelt. In diesem „Wachrütteln“ kann die geistliche Funktion der Bußpredigt wiedererkannt werden (theologische Ebene). Es geht jetzt nicht mehr im moralischen Paradigma darum, dass „die Maßstäbe moralischen Verhaltens kenntlich gemacht werden.“15 Jetzt wird der Mensch durch das Gesetz hindurch geführt zum tiefsten Punkt der (verzweifelten) Infragstellung des (alten) Ichs. Es handelt sich gewissermaßen um den „Bußaufruf“, der der Umkehr vorausgeht. In der „Benennung von Unrecht“ durch Yengeni und Forbes ist der Ruf des Evangeliums und der Propheten zur „Umkehr“ wiederzuerkennen. Das 14 15

KD IV,2, 633. So erläutert der Philosoph Fritze, Lothar, Täter mit guten Gewissen. Zur Analyse menschlichen Versagens im diktatorischen Sozialismus. In: Politische Zeitschrift für Philosophie 6, 46 (1998), S. 885–1032, 895, die Funktion der Benennung von Schuld.

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Beispiel Benzien zeigt: Versöhnung (im Aspekt der Reue) setzt die Konfrontation mit der Wahrheit (als Benennung des Unrechts) voraus. Insofern bereitet die Wahrheit (in Form der Bußpredigt) der Versöhnung den Weg. So kann die politische Formel „Versöhnung durch Wahrheit“ theologisch „übersetzt“ werden.16

5. Bedingt Reue die Vergebung? Zwischen der Reue Benziens und der Vergebung von Ashley Forbes besteht eine Distanz, die das Anhörungsprozedere übersteigt. Wann der Akt der Vergebung erfolgt ist, bleibt verborgen. Aber er ist erfolgt: „Ich habe ihm vergeben“, so zitierten wir oben Forbes. Bis zum Akt der Vergebung vergeht Zeit. Richtig ist wohl die Annahme: „Vergebung beginnt damit, dass Opfer Rachegedanken aufgeben und Täter auf die Beteuerung ihrer Unschuld verzichten.“17 Wie sind in unseren politischen Fallbeispielen beide Elemente miteinander verbunden? Bedingt die Reue die Vergebung? Oder geht die Vergebungsbereitschaft der Opfer dem Schuldbekenntnis der Täter voraus? Interessanterweise sind Anhörungsbeispiele zu diesen Fragen nicht eindeutig; sie belegen aber, dass beide Elemente vorkommen müssen. Das Fallbeispiel Benzien-Forbes zeigt, dass sie einander bedingen: Das Angebot der Versöhnung als Infragestellung der Person (nicht nur der Tat) und die Annahme der Versöhnung als Unterscheidung zwischen Tat und Person. Wo der Täter seine Person in Frage stellt und das Opfer bereit ist, diese Person (hinter seinem Tun) wahrzunehmen, da ist der Vergebung der Weg bereitet. Es zeigt sich besonders eindrücklich, dass Vergebung ein personales Geschehen ist. Wo die Vergebung fehlt, fällt der Täter mit seinen Taten zusammen. In der Vergebung bricht das Unendliche in unser endliches Dasein ein. Der Bestätigungszwang zwischen Täter und Tat wird unterbrochen. Die Vergebung ist insofern ein Entlastungsgeschehen, eine Befreiung; sie zeigt noch einmal, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Taten. Vieles spricht dafür, dass beide Elemente des politischen Versöhnungswegs, die Infragestellung der Person und ihre Annahme, den Gotteswerken von Reue und Absolution entsprechen. Sie sind im Begründungszusammenhang des Umgangs mit Schuld zu verstehen, den Gott in Christus für uns möglich gemacht hat, nämlich der Versöhnung.

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17

Von allen in meiner größeren Untersuchung analysierten Dialogbeispielen erschien mir theologisch der zwischen Benzien und seinen Opfern am aussagekräftigsten: Wir begegnen gewissermaßen Transzendenzzeichen der Buße in der politischen Wirklichkeit. Vgl. Wüstenberg, Dimension (s. Anm. 3), 587. Shriver, Donald, Brücken über den Abgrund der Rache. Reue und Vergebung können zur Heilung von Gesellschaften beitragen. In: Der Überblick. Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit 35/3 (1999), S. 6–11, 7.

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6. Bedingungen für Versöhnung im politischen Raum An unserem Beispiel kristallisieren sich wenigstens drei Bedingungen für Versöhnung heraus: a) Reue auf Seiten des Täters. Die Vermutung, wonach die Annahme der Versöhnung an der „Tiefe des Bedauerns“ hängt, bestätigt sich aufgrund unserer Überlegungen zur Buße: „Tiefe“ heißt, dass auch die Person sich in Frage stellt. Die Adressaten scheinen die „innere Wandlung“ zu „spüren“. b) Vergebungsbereitschaft auf Seiten der Opfer. Gründe, die es dem Opfer ermöglichen, den Täter mit seiner Tat nicht vollständig zu identifizieren, gibt es mehrere. Entscheidend ist, dass die Unterscheidung zustande kommt. Wo nicht zwischen Person und Tat differenziert wird, entlädt sich – wie an der Stasi-Debatte nach der Wende in Deutschland zu studieren war18 – der Hass auf das System als Hass auf Menschen. Dem Verlangen nach andauernden Reueleistungen (activa contritio!) stand keine Absolution gegenüber. Die Forderung nach „Dauerreue“ – ohne Aussicht auf Vergebung – war als Element in der deutschen Stasidebatte erkennbar. Dabei zeigen unsere Beispiele aus Südafrika, dass Vergebung auch dem Opfer hilft. Es kann abgeschlossen werden. c) Beidseitige Bereitschaft zur Begegnung. Angebote zur Versöhnung können ins Leere laufen, wo es nicht zur Begegnung zwischen Opfer und Täter kommt. Wo niemand um Vergebung bittet, da kann sie auch nicht gewährt werden. Wo das personale Gegenüber zum Opfer fehlt, fehlt auch der Adressat: Ein Vorgang des „Einfühlens in die Verletzungen“ des Opfers kann nicht stattfinden, der der Reue voranginge. So bleibt die Schuld auf Täterseite unbearbeitet (also weder vergessen noch vergeben). Der inter-personale Versöhnungsvorgang ist für das Opfer auf einen intra-personalen beschränkt. Das war häufig in der Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland der Fall, wo es bekanntlich keine Wahrheitskommission als Forum der Begegnung von Opfern und Tätern gab, sondern im Mittelpunkt die aktenbezogene Aufarbeitung des Einzelnen im Rahmen der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen stand.19 Diese Bedingungen für Versöhnung verweisen auf Entsprechungen zwischen dem politischen Versöhnungsprozess und dem biblischen Versöhnungsweg. Das politische Versöhnungsangebot erscheint im Begründungszusammenhang des paulini18 19

Vgl. hierzu Wüstenberg, Ralf Von Südafrika die befreiende Kraft der Versöhnung lernen. In: Deutschland Archiv 33/5 (2000), S. 794–796. Vgl. hierzu aus der großen Literaturfülle etwa Gauck, Joachim, Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe als gesellschaftliche und politische Herausforderungen. In: Bongardt, Michael, Wüstenberg, Ralf, Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit. Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten (= Kontexte 40), Göttingen 2010, S. 17–27.

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schen, wo argumentiert wird: „Christus, das Wort der Versöhnung, stellt sich zwischen Täter und Opfer und überbrückt so die Trennung, die zwischen beiden entstanden ist. Erst dadurch wird Vergebung möglich, die Vergangenes weder aufrechnet noch ungeschehen zu machen versucht. Dieses Wort zeigt auch die heilsame Grenze auf zwischen einem Verschweigen, das für die Opfer unzumutbar würde …, und einem unaufhörlichen Gedenken, das nicht heilen kann und darum umso mehr haften bleibt.“20 Neben Entsprechungen bringen folgende Beobachtungen Differenzen zum Ausdruck: Zwischen Reue und Vergebung kann bei zwischenmenschlichen Vorgängen eine Zeitspanne liegen, wie wir am Beispiel Benzien-Forbes sahen. Diese Spanne zwischen Reue und Vergebung beinhaltet in politische Versöhnungsprozessen ein „Wagnis“. Auf politischen Foren – auch wenn sie geschlossenen Räumen gleichen – kann sich ein Täter auch nach offenkundiger „Reue“ der „Absolution“ nicht sicher sein und schon gar nicht sofort. Andererseits ließe sich als möglicher „Vergebungsvorschuss“ die Bereitschaft interpretieren, die Opfer aufbringen, wenn sie sich auf eine Kommunikation mit den Tätern einlassen. Anders als vor dem politischen Forum soll es sich vor dem kirchlichen Forum verhalten: Nach der Confessio Augustana muss die Kirche denen, die bereuen, ohne Vorbehalt vergeben. Vergebung und Reue rücken eng zusammen, weil Sünde erst im Licht der Vergebung erkannt wird. Die nach reformatorischem Verständnis zwingende Interdependenz zwischen Reue und Absolution fehlt im Politischen. Vielmehr begegnet hier die „reservatio“, allerdings in dem Sinne, dass es die Opfer sind, denen die Vergebung vorbehalten ist.21 Nach reformatorischem Bußverständnis besteht indessen kein Automatismus in der Frage der Absolution. Eine berechenbare Methode wird auch hier ausgeschlossen. Bedingung der Absolution ist der Glaube, fides. Der Versöhnungsweg vor Gott ist ebenso „Wagnis“, eine Hingabe an ein Gegenüber in der Hoffnung auf Gutes.22 Besagte Differenz zwischen dem politischen Versöhnungsprozess und dem geistlichen Versöhnungsweg beschreibt also nicht etwa eine von völliger Ungewissheit des Ausgangs auf der einen und falscher Gewissheit (securitas) auf der anderen Seite. Man könnte vor diesem Hintergrund fragen, ob Entsprechungen bestehen zwischen dem „Wagnis“ des Täters, sich im zwischenmenschlichen Versöhnungsprozess in Frage zu stellen und auf Vergebung zu hoffen, und dem Glaubenden, der sich auf Gott „einlässt, es also wagt – in der Hoffnung auf (immer

20 21

22

Sauter, Gerhard‚ „Versöhnung“ als Thema der Theologie, Gütersloh 1997, S. 24f. Der letztlich von Kant her gedachte Satz, nur die Opfer hätten das Recht zu vergeben (vgl.: Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 171), erfährt vom Stellvertretungsgedanken her eine Neubewertung. Jetzt bedeutet er das Ende des Sühnemythos und damit Christus, das Opfer, für sich anzunehmen und keine neuen Opfer zu verlangen. Daraus folgt, dass das Opfer-Recht, nicht zu vergeben, in theologischer Perspektive die Rechtssicherheit verliert, denn eine Verweigerung der Vergebung ist christologisch nicht ableitbar. Vgl.: Härle, Wilfried Dogmatik, 3. Auflage, Berlin 2007, S. 58.

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neue) Vergewisserung“.23 Das Analogon wäre dann die Hoffnung. Sicher wird eine Entsprechung im Blick auf den Wunsch nach Ent-Schuldung theologisch bestimmt werden können. In den theologischen Verstehenszusammenhang hinein übersetzbar werden diejenigen Entschuldigungen aus der politischen Wirklichkeit, die auf Erklärungen verzichten und sich stattdessen ganz dem (gnädigen) Urteil des anderen hingeben, also um Ent-Schuldung bitten, sie ganz vom anderen erwarten.

7. Zwischenbilanz Vergegenwärtigen wir uns zur Bilanz die verschiedenen Dimensionen, die uns auf dem Forum der Wahrheitskommission begegnen: − Die juristische Dimension des Vorgangs besteht darin, dass die Opfer die Täter während ihres Amnestieverfahrens ins Kreuzverhör nehmen dürfen. Der Gesetzgeber räumt der Kommission das Recht ein, Aussagen der Täterdurch die der Opfer gegenzuprüfen, um ihren Auftrag zur Amnestiefindung wahrnehmen zu können, nämlich neben anderen gesetzmäßig vorgegebenen Kriterien auch die Prüfung der Vollständigkeit der Aussage. Von Fragen des moralischen Urteilens bleibt der justizielle Vorgang unberührt. Dennoch entwickelt der Prozess des Fragens und Infrage-gestellt-Werdens eine eigene Dynamik, die nicht rechtlich, aber moralisch bedeutungsvoll wird. − Das Anhörungsbeispiel Benzien zeigt in besonderer Weise die moralische Dimension des Vorgangs. Die Begegnung ermöglicht für den Täter die Konfrontation mit den Folgen seiner Tat. Für das Opfer kann es zum „Einfühlen in den Täter“ kommen. „Restorative justice is a process whereby all parties with a stake in a particular offence come together to resolve collectively how to 24 deal with the aftermath of the offence and its implications for the future.“ Mit der Kategorie Empathie wird ein moralischer Prozess bestimmt. − Die theologische Dimension des Versöhnungsprozesses, könnte man folgern, bestehe darin, dass das wechselseitige Einfühlen der Menschen dem Einfühlen Gottes in die Menschen entspräche; schließlich beschreiben „die Evangelien Jesus als die verkörperte Empathie Gottes …, in der Friede und Versöhnung konkret erfahrbar werden.“25 Diese Folgerung trägt ihre Schlussrichtigkeit nicht in sich. Sie muss theologisch hergestellt werden. Empathie ist nämlich kein (moralischer) Normbegriff. Versöhnung lässt sich nicht anordnen; sie rechnet mit dem unkalkulierbaren Zusammentreffen von Reue und Verge23 24

25

Härle, Wilfried, Christlicher Glaube zwischen Gewissheit und Skepsis. In: Marquardt, Manfred, Theologie in skeptischer Zeit (TSB 8), Stuttgart 1997, S. 67–80, 74. Marshall, Tony, Restorative Justice. In: Llewellyn, Jennifer, Restorative Justice – A Conceptual Framework. Prepared for the Law Commission of Canada, Vancouver 1998 (Ms. 108 S.), S. 55– 78, 67. Huber, Wolfgang, Friedensethik, Stuttgart u.a. 1990, S. 227.

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bung, was schnell an biblischen Versöhnungsgeschichten zu verifizieren wäre.26 Versöhnung unterbricht menschliche Möglichkeiten, ist nicht einfach am Ende des (moralischen) Prozesses einzukalkulieren, ja sie muss sogar mit ihrem Scheitern rechnen. Eine Ideologisierung des Versöhnungsbegriffs droht, wo Versöhnung aufgezwungen wird. „Versöhnung durch Wahrheit“ unterstreicht im Licht der „Wegbereitung“ gerade nicht den Zwang, sondern die Befreiung. Dass die Wahrheit nur dann in ihrem ureigenen Element ist, wenn sie befreit – das ist das Evangelium in seiner Urgestalt (Joh. 8,32). Die befreiende Kraft der Wahrheit, die das Johannesevangelium bezeugt, übersetzt Mirsolav Volf treffend in die zwischenmenschliche Versöhnung: „The truth will make you free, said Jesus. Free for what? – free to make journeys from the self to the other and back and to see our common history from their perspective as well as ours, rather than closing ourselves off …; free to live a truthful life and hence be a self-effecting witness to truth rather than fabricating our own ,truths‘ and imposing them on others; free to embrace others in truth rather 27 than engage in open or clandestine acts of deceitful violence against them.“ Unter diesen Bedingungen erscheint die wechselseitige Empathie zwischen Täter und Opfer, wie sie empirisch auf politischen Foren analysiert werden kann, im Begründungszusammenhang der Empathie Gottes, wie sie durch Jesus Christus verkörpert wird.

8. Was ist mit der Wiedergutmachung? Vieles spricht dafür, dass der Versöhnungsweg bis zur Wiedergutmachung führt. Joachim Zehner28 hat hierzu das ökumenische Gesprächsangebot aufgenommen, wie es Dorothea Sattler in die Diskussion um „die menschliche Satisfactio“ eingebracht hat. Dabei besteht Zehners Erkenntnisinteresse im theologischen Verstehen der juristischen Vorgänge beim Täter-Opfer-Ausgleich, für den die Wiedergutmachung des Straftäters am Opfer die Strafe ersetzen kann.29 Das Subjekt der Wiedergutmachung nach Menschenrechtsverletzungen ist in den untersuchten Fallbeispielen ausgehend von der südafrikanischen Wahrheitskommission aber der Staat. Prüfen wir den Anhörungsdialog dennoch auf die zwischenmenschliche Wiedergutmachung, ist ein Negativergebnis zu bilanzieren: Auch auf freiwilliger Basis spielt die Wiedergutmachung keine Rolle – weder nach der Vergebung noch davor. 26

27 28 29

Vgl. die schönen Überlegungen von Decke, Gerd, Biblische Dimensionen der Versöhnung. In: Wüstenberg, Ralf, Wahrheit, Recht und Versöhnung (= Kontexte 24), Frankfurt/M. et al. 1998, S. 101–107. Volfe, Miroslav, Exclusion and Embrace. A Theological Exploration of Identity, Otherness, and Reconciliation, Nashville 1996, S. 272f. Zehner, Joachim, Das Forum der Vergebung in der Kirche. Studien zum Verhältnis von Sündenvergebung und Recht, Gütersloh 1998. Vgl. den Beitrag „Versöhnung im Strafrecht“ von Joachim Zehner in diesem Buch.

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Steht aber ein Versöhnungsprozess noch in theologischem Begründungszusammenhang, wo die zwischenmenschliche Wiedergutmachung fehlt? Wollen wir in dieser Frage weiterkommen, lohnt zunächst wieder eine theologische Vertiefung anhand der lutherischen Bekenntnisschriften. Wir behandelten aus der Confessio Augustana bereits den Artikel 12. Nachdem fides und contritio als die beiden konstitutiven Teile der Buße benannt sind, hängt CA 12 den Satz von den guten Werken an, die als Früchte der Buße danach (deinde) folgen sollen (sequi debent). Begreift man die Wiedergutmachung als gutes Werk, dann wäre sie nach der Confessio Augustana nicht Bestandteil der Buße, sondern ihre „Frucht“ (fructus). Bereits das ‚deinde‘ verweist auf die (bloß) temporale, nicht finale Verbindung mit dem geistlichen Geschehen. Dass – wie in CA 6 – Glaube und Werke mit „sollen“ (debeat) verbunden werden, ist zwar sprachlich nicht überzubewerten, spielt aber in der weiteren Entwicklung der Theologie des Reformators Melanchthon eine Rolle. Inhaltlich sind diese Stellen wieder von Luther her zu beleuchten: Wenn Glaubensgerechtigkeit bedeutet, Gott die Ehre zu geben, alles von seiner Barmherzigkeit (in Christus) empfangen zu wollen, dann kann die Frage gar nicht auftauchen, was der Mensch im Verhältnis zu Gott tun kann. Hier kann nur Christus (stellvertretend) etwas ausrichten, nicht nur am Anfang, sondern das ganze Leben lang. Eine satisfactio gegenüber Gott scheidet aus. Vielmehr resultiert die Buße in einer das Leben lang anhaltenden Bewegung von Gesetz zu Evangelium, von Reue zu Glauben (als Absterben des alten Menschen und das Teilhaftigwerden an der stellvertretenden Genugtuung Christi). Nach dem Sermon von dem Sakrament der Buße30 genügt es zu sagen, die beste Satisfaktion sei, niemals zu sündigen und dem Nächsten alles Gute zu tun. Für Luther ist die Vorstellung ganz ausgeschlossen, dass dem Glauben keine Werke folgen. Sie folgen mit innerer Notwendigkeit aus dem Glauben und müssen nicht mittels Imperativen eingefordert werden. Wichtig für unseren Zusammenhang ist Luthers Überlegung, dass der Christ im Dienst am Nächsten in Gottes eigenes Werk eingetreten ist, indem er im Glauben mit Gottes Werk vereint ist. Die Überlegung mündet an anderer Stelle in eine Analogie zur Inkarnation: Wie Christus Mensch wurde (obwohl er als Gott alles besessen hatte), so wird der Glaube (obwohl er alles hat, nämlich den gnädigen Gott) in die Liebe zum Nächsten „inkarniert.“31 Aus dem normativen Zwischenschritt werden für unsere Fragestellung zunächst zwei Überlegungen wichtig: Erstens wird die satisfactio (Gott gegenüber) ausgeschlossen; zweitens fließen gute Werke (den Menschen gegenüber) aus der Vergebung, ohne dass sie eingefordert werden müssten. Wo das Verhältnis zwischen Mensch und Gott wieder gut geworden ist, da ist das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch auch wieder gut geworden. Zehner fasst das evangelische Verständnis in den Satz: „Wiedergutmachung gibt es nur als Zeichen der Reue 30 31

WA 2, 713–724. Vgl. im Galaterbriefkommentar WA 40,1, 417, 12f. und 427, 11f.

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Ralf K. Wüstenberg

und als Linderung der Folgen.“32 Im Wechselbezug zur Reue (als Vorgang des inneren Menschen) ist die Formulierung von der Wiedergutmachung als äußeres Zeichen einer inneren Haltung zutreffend. Diese Beschreibungen treffen sich im neueren ökumenischen Gespräch mit denen, die der Wiedergutmachung keine kompensatorische, sondern eine symbolische Funktion zuschreiben. Es scheint dringend geboten, diese konstruktiven Überlegungen zur menschlichen Wiedergutmachung auch begrifflich zu würdigen. Aufgegeben werden sollte auf zwischenmenschlicher Ebene aber die Rede von der Sühne,33 der Genugtuung34 bzw. der satifactio35. Geboten erscheint es, gerade hier zur theologischunivoken Begriffsbildung zurückzufinden und die Verwendung dieser Termini ausschließlich auf die Soteriologie zu beschränken.36

9. Ergebnis Rückblickend auf die Stationen des zwischenmenschlichen Versöhnungswegs auf politischen Foren, widerlegen unsere Überlegungen die in der südafrikanischen Diskussion geäußerte Ansicht, der TRC-Prozess sei im Rahmen des römischkatholischen Bußinstituts zu verstehen. Allenfalls auf dem Weg gewaltsamer Äquivokationen wird man das Schema contritio, confessio, absolutio, satisfactio abgebildet finden. Dann müsste nämlich das Erscheinen vor der TRC der contritio entsprechen, das Aussprechen der Wahrheit der confessio oris in Form des vollständigen Bekenntnisses („full disclosure“) und die Amnestie der absolutio. Selbst wo ein katholisches Verständnis der Bußbegriffe vorausgesetzt wird, bedeuten sie juristisch und theologisch je Verschiedenes. Und in evangelischer Perspektive? Hierzu möchte ich so formulieren: Gottes Angebot der Versöhnung in Christus entspricht seiner „offenen“ Beziehung zu den Menschen; die Versöhnung, Christi Werk, gilt der Welt. Gott bezeugt in Christus sein „Für-den-Menschen-Sein“.37 Gottes In-Beziehung-Sein zum Geschöpf in Jesus Christus entspricht das In-Beziehung-Sein des versöhnten Menschen mit den anderen Menschen und Geschöpfen. Vorgänge zwischen Menschen 32 33 34 35 36

37

Zehner, Forum (s. Anm. 28), 394. So Seidler, Elisabeth, „Versöhnung. Prolegomena einer künftigen Soteriologie“. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 42 (1995), S. 5–48, 10f.. So Zehner, Forum (s. Anm. 28), 214f. So – trotz kritischer Selbstreflexion – Sattler, Dorothea, Gelebte Buße. Das menschliche Bußwerk (satisfactio) im ökumenischen Gespräch, Mainz 1992, S. 389. Sattler weist zurecht drauf, dass nach der „kirchlich gefeierten Versöhnung (...) nicht einfach alles schon wieder gut sei.“ Sattler empfiehlt (in der Sache zurecht, wenn auch terminologisch problematisch) „konkrete Formen einer menschlichen satisfactio „… zur Behebung der leidvollen Folgen einer Tat“. Sie fordert „eng auf die Art der Sündentat bezogene Weisen der „Wiedergutmachung“ angerichteter Schäden“ und folgert exklusiv: Nur so könne „die sakramental gefeierte Versöhnung (...) erfahrbar und erlebbar werden.“ Bonhoeffer, Dietrich, Schöpfung und Fall, Dietrich Bonhoeffer Werke 3 (= DBW 3), Gütersloh 1989, S. 60.

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verweisen auf das Zwischen, das Christus bedeutet, indem er „Gottes-für-denMenschen-sein“ bezeugt. So ist die Vorstellung von Christus, der zwischen Täter und Opfer tritt (Beintker et al.) nicht substanzhaft zu verstehen, sondern so, dass die Relationen einander entsprechen. Nicht aber in der Weise, als hätten die Menschen etwas Göttliches an sich oder zwischen sich. In den Worten Bonhoeffers sei daran erinnert: „Die Ähnlichkeit, die analogia des Menschen zu Gott, ist nicht analogia entis, sondern analogia relationis. Das besagt aber: 1. Auch die relatio ist nicht eine dem Menschen eigene Fähigkeit, Möglichkeit, eine Struktur seines Seins, sondern sie ist geschenkte, gesetzte Beziehung, justitia passiva! Und in dieser gesetzten Beziehung ist die Freiheit gesetzt. Daraus folgt 2. dass diese analogia nicht so verstanden werden darf, als habe der Mensch diese Ähnlichkeit nun irgendwie in seinem Besitz, in seiner Verfügbarkeit, sondern analogia, Ähnlichkeit ist ganz streng so zu verstehen, dass das Ähnliche seine Ähnlichkeit allein von dem Urbild hat, uns also immer nur auf das Urbild selbst hinweist und allein in diesem Hinweis ‚ähnlich‘ ist.“38 Die Aussagemöglichkeit von Versöhnungstheologie im Politischen eröffnet sich in der Kategorialität der analogia relationis.39 Innerhalb der Versöhnungsbeziehung zwischen Menschen in der politischen Wirklichkeit kann versöhnungstheologisch die Beziehung der „neuen Schöpfung“ rekonstruiert werden, in die hinein der Mensch in Christus gerufen wird: (1.) Das zwischenmenschliche Versöhnungsangebot, das der Täter dem Opfer (oder umgekehrt) unterbreitet, erfährt vom Angebot der Versöhnung, das Gott in Christus den Menschen macht, seine Ähnlichkeit. (2.) Die Bitte um Entschuldigung, die der Täter in seiner Beziehung zum Opfer unterbreitet, wissend, dass er nichts zur Entschuldung beitragen kann, erfährt in der Beziehung des Sünders vor Gott seine Ähnlichkeit. (3.) Der zwischenmenschliche Versöhnungsweg in der Opfer-Täter-Beziehung, der durch Bußpredigt in die Reue zur Vergebung führt, erfährt von der Beziehung Gottes zu den Menschen durch Gesetz und Evangelium seine Ähnlichkeit. (4.) Die (Opfer-Täter-)Beziehung, in der z.B. Forbes bei Benzien zwischen Tun und Person unterscheidet, erfährt allein aus der Beziehung des rechtfertigenden Gottes in Christus seine Ähnlichkeit (opus proprium). (5.) Die (Täter-Opfer-)Beziehung, in der Forbes Benzien anklagt und jener sich in Frage stellt, erfährt aus der Beziehung des Gottes, der den Menschen durch das Gesetz hinführt zum tiefsten Punkt der (verzweifelten) Infragestellung des (alten) Ichs seine Ähnlichkeit (opus alienum).

38 39

DBW 3, 61. Vgl. Wüstenberg, Wahrheit (s. Anm. 26), 96–107.

Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung Ruanda nach dem Völkermord Christine Schliesser

1. Einleitung „Ich saß da, noch immer wie benommen angesichts der schreienden Verneinung all dessen, was einst meine Familie war, meine Kindheit, meine Wurzeln, meine Bindungen. Nichts mehr, nicht eine Spur mehr. Ich dachte an meine Eltern und an meine Schwester Stéphanie. Nirgendwo eine Spur davon, dass unsere Lieben dort oder überhaupt gelebt hatten, außer in unserer Erinnerung.“1 Esther Mujawayo hat im ruandischen Völkermord nahezu alle Verwandten verloren. Jahre später kehrt sie an den Ort des Grauens – zurück auf der Suche nach den sterblichen Überresten ihrer Schwester und deren drei kleinen Kindern. Wunden, die nie verheilt waren, brechen neu auf. Die Rede von Erinnerung, von Beichte und von Versöhnung kann nicht in der Abstraktion stattfinden. Sie braucht einen Bezugspunkt, um sich nicht in der Bedeutungslosigkeit zu verlieren. Was wird erinnert? Was wird gebeichtet? Warum bedarf es einer Versöhnung? Esther Mujawayos Geschichte steht stellvertretend für das, was sich hinter dem Begriff „ruandischer Genozid gegen die Tutsi und moderaten Hutu“ verbirgt. Sie soll für die folgenden Überlegungen den Referenzrahmen bilden. Der Völkermord in Ruanda hat sich durch seine Brutalität hervorgetan, als in ungezügelter Gewalt in hundert Tagen rund eine Million Kinder, Frauen und Männer zu Tode gebracht wurden. Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, überhaupt von „Versöhnung“ zu reden. Ist Versöhnung hier denkbar? Was hat Versöhnung mit Erinnern zu tun? Und welche Rolle kann dabei die Beichte spielen? Um diese Fragen wird es im Folgenden gehen. Dazu soll es zuerst um das Erinnern und seinen Bezug zur Beichte gehen. Danach wird, zweitens, die Verbindung von Beichte und Versöhnung, insbesondere unter der Perspektive der Gerechtigkeit, in den Blick genommen. In einem dritten Teil wird das Spannungsfeld von Erinnerung, Beichte und Versöhnung vor dem Hintergrund des post-genozidalen Ruandas und dessen „Nationaler Versöhnungspolitik“ betrachtet, bevor in einem vierten und letzten Teil zwei theologische Versuche vorgestellt werden, diesem Spannungsfeld zu begegnen.

1

Mujawayo, Esther, Auf der Suche nach Stéphanie. Ruanda zwischen Versöhnung und Verweigerung, Wuppertal 2007, S. 115.

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2. Beichte und Erinnerung In einem bekannten Schlager heißt es: „Was einmal war, ist vorbei und vergessen und zählt nicht mehr.“2 Mag auch eine neue Liebe wie ein neues Leben sein, so verhält es sich zumindest im Blick auf die Vergangenheit anders als es uns jener Sänger frisch verliebt ins Ohr singt. Denn das, was gestern war, ist von tragender Bedeutung nicht allein für heute, sondern auch für morgen. Ohne Erinnerungen wäre Versöhnung und wäre auch Beichte hinfällig; Erinnerungen bilden geradezu die Voraussetzung von Versöhnung und Beichte. Anders als es uns unser fröhlicher Sänger nahe bringen will, lassen sich Erinnerungen nicht einfach abhaken. Das, was einmal war, zählt sehr wohl. Erinnerungen bilden eine „normative Brücke“, die die Vergangenheit mit der Gegenwart und mit der Zukunft verbindet und sie beeinflusst. Auf diese Verbindung sowie auf die Rolle des sogenannten kulturellen Gedächtnisses, weist die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hin: „The central aim of cultural memory, then, is … the extension of the temporal horizon by creating links to a normative past. … (C)ultural memory creates an extended framework for communication across the existential limit of death and the abyss of time.“3 Aufgrund dieser Brückenfunktion ist die Erinnerung nicht nur für die Beichte, sondern auch für Versöhnungsprozesse, von denen die Beichte ein Teil ist, von zentraler Bedeutung. Paul Ricœur weist auf den Zusammenhang von Erinnerung und Versöhnung, Gedächtnis und Gerechtigkeit hin, wenn er von einer „Kultur eines gerechten Gedächtnisses“4 spricht. Doch was heißt es überhaupt, sich zu erinnern? „Erinnerungen sind wie Einfälle: Sie kommen nicht, wann und wie ich es will.“5 Gleiches gilt für das Vergessen. Denn Erinnern und Vergessen unterliegen nur bedingt unserer Kontrolle. Besonders problematisch stellt sich dies bei Traumatisierten wie Überlebenden eines Genozids dar; sie sind gefangen zwischen Vergessen-Wollen und sich Erinnernmüssen.6 Dies wird deutlich an einer Inschrift in der nationalen Genozidgedenkstätte in Ruandas Hauptstadt Kigali, der letzten Ruhestätte von mehr als 250.000 Kindern, Frauen und Männern: „Forgetting the past is impossible. Remembering the past is infinitely painful.“ Gibt es eine „Heilung“ von Erinnerungen? Die Erinnerungen bleiben, bestenfalls können sie kontrollierbar werden. Der jüdische Psychoanalytiker Dori Laub 2 3

4 5 6

Vgl. den Schlager „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ von Jürgen Marcus. Assmann, Aleida, The Religious Roots of Cultural Memory. In: Norsk Teologisk Tidsskrift 109.4 (2008), S. 270–292, 273. Das kulturelle Gedächtnis, das die Bilder, Texte und Traditionen von vielen Generationen und Jahrhunderten enthält, bildet zusammen mit dem kommunikativen Gedächtnis, das etwa drei Generationen zurückreicht, das kollektive Gedächtnis. Ricœur, Paul, Gedächtnis. Geschichte. Vergessen, München 2004, S. 113. Feiter, Reinhard, Erinnerungen sind wie Einfälle. In: Katechetische Blätter 128 (2003), S. 394– 396, 394. Lindorfer, Simone, Reise durch unerforschtes Land. Vergessen und Erinnern aus der Perspektive der Traumapsychologie. In: Ökumenische Rundschau 2009, S. 330–345, 331.

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weist dabei auf die Beziehung zwischen Erinnern und Zeugenschaft hin, da das Erlebte erst durch das Bezeugen und durch das Gegenüber existent wird: „Zeugnisse sind keine Monologe; sie können nicht in Einsamkeit stattfinden.“7 Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Gegenüber. Es muss die Erinnerungen aushalten können, d.h. es hat Anteil „an einer toxischen Ohnmacht …, die auch [sein] Wertesystem anficht.“8 Auch wenn hier in erster Linie die Zeugnisse der Opfer im Blick sind, ist dieser Zusammenhang auch für die Zeugnisse der Täter und damit für die Beichte relevant. Auch Beichte ist kein einsamer Monolog, sondern braucht ein Gegenüber, auf den das, was gebeichtet wird, nicht ohne Auswirkungen bleibt. Im Blick auf das Erinnern und Vergessen sind folgende zwei Dimensionen zu unterscheiden: ein individuelles Erinnern bzw. Vergessen einerseits und eine kollektive, generationenübergreifende Erinnerungskultur, ein „kollektives Gedächtnis“ andererseits. Auch hier sind die Forschungen von Assmann hilfreich. Sie weist darauf hin, dass das individuelle wie das kulturelle Gedächtnis dynamische Konstrukte sind, auf die vielfältige Prozesse des Erinnerns und Vergessens einwirken, die aktiver oder passiver Natur sein können.9 In diesem Zusammenhang sind insbesondere das aktive Erinnern und das aktive Vergessen von Bedeutung. Aktives Erinnern findet durch bewusste Selektion der Bestandteile eines „Kanons“ statt, der durch regelmäßige Wiederholung in Benutzung bleibt. Aktives Vergessen involviert bewusstes Zerstören, ein mitunter notwendiger Teil sozialer Transformation. Wird es jedoch eingesetzt, um die Kultur einer Minderheit zu unterdrücken, wird sein weitreichendes destruktives Potential deutlich. Prozesse aktiven Vergessens zeigen sich heute in der offiziellen ruandischen Erinnerungskultur, wie im dritten Teil näher gezeigt wird. Prozesse des Erinnerns und Vergessens sind stets eingebunden in Machtstrukturen. Aufgrund der engen Verbindung von Identität und Erinnerung sieht Ricœur insbesondere in der „Fragilität der Identität“ die beständige „Gelegenheit zur Manipulation des Gedächtnisses“ und warnt vor allem vor „der offiziellen Geschichte“.10 Damit verbunden sieht Ricœur eine andere Form der Instrumentalisierung von Erinnerung: ihre Ritualisierung, durch die Erinnerungen statisch fixiert und machtlos werden.11 Erinnerungskultur ist daher von Erinnerungspolitik nicht zu trennen. In seiner negativen Utopie „1984“ stellt George Orwell das 7

8 9 10 11

Laub, Dori, An Event Without a Witness. In: Felman, Shoshana, Laub, Dori (Hrsg.), Testimony: Crisis of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992, S. 75–92, 70. Vgl. auch Lindorfer, Traumapsychologie (s. Anm. 6), 341. Lindorfer, Traumapsychologie (s. Anm. 6), 343. Assmann, Cultural Memory (s. Anm. 3), 274–280. Ricœur, Gedächtnis (s. Anm. 4), 684f. Auch Jorge Semprún, Überlebender des KZ Buchwald, warnt vor einem „bloß rituell“ gewordenen Gedächtnis, das „nur dem plumpen Mitleid, der falsch verstandenen Identifikation und der historischen Selbstbefriedigung“ dient. Rede anlässlich der Verleihung des Carl-von-OssietzkyPreises an Volkhard Knigge, Mai 2006.

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„Wahrheitsministerium“ unter den doppelten Wahlspruch: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“12 Der Vergangenheit wird damit eine Schlüsselfunktion im Blick auf die Gestaltung der Zukunft zuerkannt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es Versöhnung und Beichte ohne Erinnerung nicht geben kann; sie wären gegenstandslos. Erinnerungen sind nicht nur Bestandteil der Vergangenheit. Sie haben eine Brückenfunktion, die die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verbindet und auf diese einwirkt. Aufgrund dieser Funktion ist die Erinnerung auch für Versöhnungsprozesse von zentraler Bedeutung. Um die soll es im Folgenden gehen.

3. Beichte und Versöhnung Was heißt eigentlich „Versöhnung“? Der ehemals vorwiegend religiös konnotierte Begriff Versöhnung hat längst Eingang in den historischen und politischen Diskurs gefunden. Als Zielvorgabe transitorischer Gesellschaften soll er einen Neuanfang ermöglichen, um nach gewalttätigen Konflikten Sicherheit, Stabilität und (Wirtschafts-)Wachstum zu gewährleisten. Ist Versöhnung eine Zielvorgabe oder ein Prozess? Die Antwort lautet: beides. Versöhnung ist sowohl ein „wechselseitiger Prozess zwischen mindestens zwei Parteien, die in unmittelbarem oder mittelbarem Kontakt ihre Beziehung zueinander reflektieren und positiv, in gegenseitiger Anerkennung neu gestalten, wie auch [das] Ergebnis dieses Prozesses.“13 Und was hat nun Beichte mit Versöhnung zu tun? Beichte ist ein Teil des Versöhnungsprozesses. Der Versöhnungsprozess kann „ganz unterschiedliche Elemente wie Schuldeingeständnis, Sühne, Vergebungsbitte und Gewährung beinhalten …, bis hin zu einem neugeordneten Beziehungsverhältnis, das im Ergebnis ebenfalls als Versöhnung bezeichnet wird.“14 Mit den Aspekten Schuldeingeständnis (confessio), Vergebungsbitte und Gewährung (absolutio) sind zwei klassische Elemente der Beichte benannt. Ein kurzer Blick in das protestantische Verständnis von Beichte ist dabei erhellend. In seinem „Kleinen Katechismus“ erklärt Martin Luther die Beichte wie folgt: „Was ist die Beichte? Die Beichte begreift zwei Stücke in sich. Eins, dass man die Sünde bekenne, das andere, dass man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger empfange als von Gott selbst, und ja nicht daran zweifle, sondern fest glaube, die Sünden seien dadurch von Gott im Himmel vergeben.“15 Mittlerweile hat nicht nur der Versöhnungsbegriff, sondern auch die 12 13 14 15

Orwell, George, 1984, Frankfurt a. M. 1977, S. 34. Van de Loo, Stefanie, Versöhnungsarbeit. Kriterien – theologischer Rahmen – Praxisperspektiven, Stuttgart 2009, S. 16. Enns, Fernando, Transformative Gerechtigkeit als Möglichkeitsraum zur Versöhnung. In: Kirchliche Zeitgeschichte 26 (2013), S. 23–35, 24. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition (= BSELK), Göttingen 2014, S. 852.

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Rede von Beichte und Vergebung einen „Sitz im Leben“ außerhalb ihrer früheren Heimat, d.h. dem religiösen bzw. kirchlichen Kontext, gefunden. Im dritten Teil wird gezeigt, welchen Platz die Rede von Versöhnung, von Beichte und von Vergebung im konkreten Kontext des post-genozidalen Ruandas eingenommen hat. Ein weiteres unverzichtbares Element im Versöhnungsprozess ist die Gerechtigkeit, denn das jeweilige Verständnis von Versöhnung wird ganz erheblich von dem ihm zugrundeliegenden Verständnis von Gerechtigkeit mitbestimmt. Von Bedeutung sind hier v.a. folgende zwei Konzeptionen von Gerechtigkeit: ein retributives Gerechtigkeitsverständnis einerseits sowie ein restauratives bzw. transformatives Gerechtigkeitsverständnis andererseits. Unserem westlichen Justizsystem liegt zumeist ein retributives Gerechtigkeitsverständnis zugrunde,16 wenn beispielsweise am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Verbrechen gegen die Menschlichkeit zumindest exemplarisch geahndet werden und die Verantwortlichen einer Strafe – bzw. Sühneleistung – zugeführt werden. So sinnvoll und bewährt dieses Gerechtigkeitsverständnis als iustitia retributiva ist, so hat es doch einige Schwachstellen, auf die der Soziologe Howard Zehr verweist.17 Dazu zählen eine Abstraktion von Opfern, Tätern und der Tat selbst sowie eine nicht ausreichende Beachtung der betroffenen Gemeinschaft, um deren Erhalt es bei den Strafverfahren doch letztlich geht. Als Ergänzung und Korrektiv eines retributiven Gerechtigkeitsverständnisses schlägt Zehr daher ein restauratives bzw. transformatives Gerechtigkeitsverständnis vor: „Restorative Justice is a process to involve, to the extent possible, those who have a stake in a specific offense and to collectively identify and address harms, needs, and obligations, in order to heal and put things as right as possible.”18 Zu den Prinzipien des transformativen Ansatzes gehören:19 (1.) Verbrechen werden als Verletzung von Menschen und Beziehungen verstanden. (2.) Aus diesen Verletzungen resultieren Verpflichtungen der Täter gegenüber dem Opfer sowie der Gemeinschaft gegenüber beiden. (3.) Ziel ist die Wiedergutmachung des Unrechts und Heilung des Schadens. Handlungsleitend ist dabei das Bedürfnis der Opfer nach Information, Bestä-

16 17 18

19

Für alternative Ansätze vgl. in diesem Band den Beitrag von Joachim Zehner, „Versöhnung im Strafrecht“. Zehr, Howard, Changing Lenses. A New Focus for Crime and Justice, Scottdale 2005. Zehr, Changing Lenses (s. Anm. 18), 37. Ich ziehe den Begriff der „transformativen Gerechtigkeit“ gegenüber dem Begriff der „restaurativen Gerechtigkeit“ vor. Denn eine „restaurative“ Gerechtigkeit vermittelt den Eindruck, es gehe schlicht um die Wiederherstellung des status quo ante, der jedoch im Fall Ruandas auch vor dem Genozid von Ungerechtigkeit durchzogen war. Demgegenüber vermittelt der Begriff „transformative Gerechtigkeit“ das Streben nach einem echten Neubeginn, d.h. nach einer Transformation von ungerechten hin zu gerechten Verhältnissen. Vgl.: hierzu Enns, Transformative Gerechtigkeit (s. Anm. 15), 32.

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tigung, Strafe, Wiederherstellung, Sicherheit und Unterstützung. Das Verfahren wird von und innerhalb der Gemeinschaft durchgeführt. Auch wenn der transformative Ansatz nicht überbewertet werden sollte, enthält er gerade mit seiner Beziehungskomponente Aspekte, die im Hinblick auf die spezifische Situation in Ruanda hilfreich sein können. Wie kommt nun in diesem transformativen Ansatz die Beichte zur Sprache? Dies geschieht in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ist Beichte ein Beziehungsgeschehen. Unter Verweis auf Dori Laub wurde eingangs deutlich gemacht, dass Zeugnisse, und darunter fällt auch die Beichte, keine einsamen Monologe sind, sondern ein Gegenüber brauchen. Ziel der Beichte ist es, eine zerstörte Beziehung – zu sich selbst, zum anderen, zur Gemeinschaft, zu Gott – zu heilen. Diese Beziehungsdimension wird im ersten Prinzip des transformativen Ansatzes aufgenommen. Ein zweites verbindendes Element zwischen der Beichte und dem transformativen Ansatz findet sich in der Verpflichtung des Täters gegenüber dem Opfer (zweites Prinzip). Zwar ist die sogenannte „satisfactio“, also eine Bußleistung, nicht expliziter Bestandteil des protestantischen Beichtverständnisses. Doch lässt sich der Hinweis der „Augsburger Konfession“ auf die „bona opera“, d.h. die guten Taten, die ganz selbstverständlich auf die Buße folgen,20 durchaus auch als Hinweis auf den Wunsch des Opfers nach Wiedergutmachung verstehen. Schließlich kommt die Beichte dem Bedürfnis des Opfers nach Information, d.h. nach Wahrheitsfindung, entgegen, wie es im dritten Prinzip artikuliert wird. In der Beichte kommt die ungeschönte Wahrheit zur Sprache. Verheimlichungen oder Schönfärberei haben hier keinen Platz. Es hat sich damit gezeigt, dass wesentliche Elemente der Beichte im transformativen Ansatz zu finden sind. Zwei Missverständnissen ist hier vorzubeugen: Weder erfolgt durch den Aufweis dieser Verbindungslinien eine allgemeine „Säkularisierung“ der Beichte noch eine „Taufe“ des transformativen Ansatzes. Stattdessen wurde auf die grundsätzliche Produktivität der Beichte über ihre ursprünglich religiös-kirchliche Heimat hinaus aufmerksam gemacht. Dabei bleiben wesentliche Veränderungen nicht aus: Das Gegenüber des Beichtenden ist dann nicht mehr primär ein Geistlicher, sondern ein Gremium (mit oder ohne Richterbefugnisse) und/oder auch das Opfer selbst. Ein transzendenter Bezug ist zwar nicht notwendig ausgeschlossen, aber eben auch nicht mehr notwendig. Mag sich auch der Anwendungsbereich der Beichte erweitert haben, so ist der Kontext doch derselbe geblieben: Stets ist die Beichte Teil eines Versöhnungsgeschehens. Ein zentraler Aspekt der Beichte bleibt im transformativen Ansatz auffällig unerwähnt: die Vergebung. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Vergebung und Versöhnung? Ist Vergebung notwendiger Bestandteil von Versöhnung oder 20

„Deinde sequi debent bona opera, quae sunt fructus poenitentiae.“ („Darauf müssen die guten Werke folgen, die die Früchte der Buße sind“) CA 12.

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gibt es Versöhnung auch ohne Vergebung? Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu betont in diesem Zusammenhang: „No future without forgiveness“21. Vergebung ist für Tutu ein unverzichtbarer Teil des Versöhnungsprozesses. Vergebung ist in sich selbst prozesshaft und beinhaltet unterschiedliche Phasen, darunter das Eingeständnis, falsch gehandelt zu haben, das Einander-Zuhören und die Anerkennung des zugefügten Schmerzes sowie die Verpflichtung, das Verhalten zu ändern.22 Doch gibt es auch Stimmen, die den Zusammenhang von Versöhnung und Vergebung anders bewerten. Eine von ihnen ist auch Esther Mujawayo, Überlebende des Völkermordes, der wir bereits eingangs zugehört haben: „Darüber hinaus aber, liebe Freundin, vergiss mich, wenn’s um irgendwelche Fragen von Vergebung geht. Hören wir lieber denen zu, die sich heute für die Versöhnung einsetzen. Um den Preis ihres eigenen Friedens.“ Versöhnung nach Gräueltaten wie in Ruanda wird damit zwar als unausweichlich und als notwendig für das weitere Zusammenleben in diesem kleinen Land anerkannt. Doch die Frage nach Vergebung stellt sich für Esther geradezu als eine Zumutung dar. Auf diesen Ausnahmecharakter von Vergebung verweist auch Jacques Derrida. Vergebung „sollte weder normal noch normalisierend sein. Sie sollte Ausnahme und außergewöhnlich bleiben, als Erprobung des Unmöglichen.“23 Daraus folgt, dass Versöhnung und Vergebung nicht automatisierbar sind. Sie sind nicht „machbar“; sie können daher auch nicht verordnet oder gefordert werden. Versöhnung wie auch Vergebung sind das ureigenste Recht des Opfers, niemals kann es aus ihrer Hand genommen werden. Thomas Auchter ist daher zuzustimmen, wenn er hier eine „Grenze des Versöhnungsprinzips“ ausmacht. „Wer traumatisierte Opfer von derartigen Gewalttaten gar mit Forderungen nach Vergebung und Versöhnung unter moralischen Druck setzt, retraumatisiert die Opfer und begeht meiner Auffassung nach eine schuldhafte Gewalttat. Wir stoßen an dieser Stelle an die Grenze des Versöhnungsprinzips.“24 Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass Versöhnung nicht ohne Gerechtigkeit denkbar ist, es kann stets nur eine „Versöhnung in Gerechtigkeit“ 25 geben. Dabei ist es hilfreich, neben dem retributiven auch den transformativen Charakter von Gerechtigkeit zu sehen. Denn dadurch kommen wesentliche Teilaspekte von Versöhnung wie Beziehungen, Beichte und Vergebung besser in den Blick. Doch sind Versöhnung und Vergebung nicht automatisierbar, sondern das alleinige Recht des Opfers. 21 22 23 24 25

Tutu, Desmond, No Future without Forgiveness, New York 1999. Vgl.: Falconer, Alan, Erinnerungen zur Versöhnung führen. In: Ökumenische Rundschau 45 (1996), S. 468–478, 476. Derrida, Jacques, Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität. In: Lettre International 48 (2000), S. 10–18, 12. Auchter, Thomas, Über Grenzen des Erinnerns. Psychoanalytische Überlegungen jenseits des Versöhnungsprinzips. In: Wege zum Menschen 49 (1997), S. 474–484, 483. Friese, Sebastian, Politik der gesellschaftlichen Versöhnung. Eine theologisch-ethische Untersuchung am Beispiel der Gacaca-Gerichte in Ruanda, Stuttgart 2010, S. 212.

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4. Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung – Ruanda nach dem Völkermord Im Folgenden soll es darum gehen, das bisher Gesagte im Blick auf das postgenozidale Ruanda auf seine Relevanz hin zu überprüfen. Vor diesem konkreten Hintergrund erhellt sich auch der Zusammenhang von Beichte, Versöhnung und Erinnerung; die Grauen des Völkermordes lassen ihn grell hervortreten. 4.1 Zum Hintergrund 1994 wurden vor den Augen einer tatenlosen Weltbevölkerung in nur 100 Tagen bis zu 1.000.000 Kinder, Frauen und Männer ermordet.26 Sie gehörten vor allem der Minderheit der Tutsi an, doch auch zahllose moderate Hutu, die sich dem Morden nicht anschließen wollten, fielen den radikalen Hutu zum Opfer. Dabei sind Hutu, Tutsi und Twa keine Ethnien im herkömmlichen Sinne, sondern soziale Gruppen mit ein und derselben Sprache und Kultur. Die Kolonialmächte, zunächst Deutschland und nach dem Ersten Weltkrieg Belgien, haben deren Konkurrenz durch ihre divide-et-impera-Strategie massiv gefördert und tragen damit eine indirekte Mitschuld am Genozid, die bis heute weder anerkannt noch aufgearbeitet worden ist. Die Minderheit der Tutsi (ca. 15 %) wurde als Elite bevorzugt, Hutu und Twa dagegen als einfaches Bauernvolk klassifiziert. Kriterium war der Besitz: Wer mehr als zehn Rinder besaß, war automatisch ein Tutsi. Ruanda ist etwa halb so groß wie die Schweiz und gehört damit zu den kleinsten Ländern Afrikas. Zugleich ist es das am dichtesten bevölkerte Land des Kontinents sowie eines der ärmsten, trotz massiver wirtschaftlicher Fortschritte in den letzten Jahren. Zur Zeit des Völkermordes war Ruanda das „christlichste“ Land Afrikas, über 95 % der Menschen bekannten sich zum christlichen Glauben. Die Bevölkerung lebt auch heute noch größtenteils von der Landwirtschaft. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das alltägliche Leben in Ruanda in der Regel nicht von einer Einzelperson bewältigt werden kann, sondern auf das Zusammenspiel und die gegenseitige Unterstützung in der Familien- und Dorfstruktur angewiesen ist. Gemeinschaft, Verbindlichkeit und gegenseitige Unterstützung sind entsprechend hohe kulturspezifische Güter: „Soziale Harmonie ist für uns das ‚summum bonum‘“.27

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Vgl.: hierzu den Erfahrungsbericht von Roméo Dallaire, Oberbefehlshaber der dort stationierten Blauhelme der UN-AMIR Einheit. Anstatt Dallaires dringender Bitte nach einer Aufstockung des kleinen Kontingentes zu entsprechen und damit diesen Völkermord möglicherweise zu verhindern, zog die UN sogar noch Blauhelme ab und gab die Zivilbevölkerung Ruandas der Vernichtung preis. Dallaire, Roméo, Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda, Frankfurt am Main 2005. Bataringaya, Pascal, Versöhnung nach dem Genozid. Impulse der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers für Kirche und Gesellschaft in Ruanda, Kamen 2012, S. 174.

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Der ruandische Genozid zeichnet sich nicht nur durch seine Verhinderbarkeit, seine strukturierte Vorbereitung, seine Kürze und Intensität aus, sondern auch durch seine Grausamkeit. Als Mordwerkzeuge dienten überwiegend Hacken, Knüppel und Macheten, mit denen die Opfer – Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge – entweder zu Tode gestückelt wurden oder verstümmelt wurden, um dann in Latrinen geworfen ihren Tod zu finden. Die systematischen Gewaltexzesse bei Massenvergewaltigungen führten dazu, dass Vergewaltigungen bzw. sexuelle Verstümmelungen seit einem Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda 1998 als Völkermordhandlungen anerkannt sind. Eine weitere Besonderheit dieses Genozids ist, dass Täter und Opfer einander in der Regel durch nachbarschaftliche, freundschaftliche oder familiäre Beziehungen verbunden waren. Ruanda stellt uns damit vor ein Paradox. Einerseits haben wir es auch heute noch mit einem kollektiv traumatisierten Land zu tun, in dem praktisch jede und jeder Täter und/oder Opfer ist. Andererseits gibt es in der ruandischen Realität diese „entsetzliche Zwangslage: Zusammenleben müssen – nach einem und trotz eines Genozids.“28 Das Land ist zu klein und zu überfüllt, als dass sich Täter und Opfer dauerhaft aus dem Weg gehen könnten. Das alltägliche Leben kann nicht alleine gemeistert werden. Und oftmals sind es gerade die materiell, sozial, physisch und psychisch geschwächten Überlebenden, die auf die Hilfe der Täter angewiesen sind, sei es beim täglichen Wasserholen, beim Hausbau, bei der Ernte oder bei Krankheit. Das Leben in Ruanda funktioniert nur in Gemeinschaft, die nun eine „Gemeinschaft“ von Tätern und Opfern geworden ist. Zentrale Merkmale von Versöhnung, wie sie oben skizziert wurden, treffen daher auf das postgenozidale Ruanda nicht zu: Versöhnung ist kein Angebot des Opfers, sondern eine Auflage vom Staat. Versöhnung geschieht nicht freiwillig, sie ist das Diktat der Lebensumstände. Versöhnung in Ruanda ist keine Option, sie ist – eine oftmals bittere – Realität. 4.2 Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung – Ruandas „Nationale Versöhnungspolitik“ Die Macht der Erinnerung für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft – und damit für Versöhnung – ist kaum zu überschätzen. Oft genug hat sie sich als destruktiv erwiesen. Individuelle und kollektive Identitäten als „Identitäten-inGegnerschaft“ werden „durch Erinnerungen [genährt] – besonders durch Erinnerungen an Gräueltaten, die eine Gemeinschaft oder Gruppe der anderen angetan hat.“29 Bezüglich Ruanda weist der ruandische Theologe Pascal Bataringaya daher zu Recht daraufhin, dass Versöhnung als dreidimensionales Zeitgeschehen erfasst

28 29

Mujawayo, Versöhnung und Verweigerung (s. Anm. 1), 57. Falconer, Erinnerungen (s. Anm. 23), 472.

Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung

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werden muss: Versöhnung mit der Vergangenheit, mit der Gegenwart und mit der Zukunft.30 Versöhnung wurde in Ruanda zum politischen Ziel erklärt. Die „Nationale Versöhnungspolitik“ des gegenwärtigen Präsidenten Paul Kagame treibt dieses Anliegen auf verschiedenen Ebenen voran. Auf nationaler Ebene wurde eine „Einheits- und Versöhnungskommission“ (NURC) geschaffen, die im ganzen Land unterschiedliche Versöhnungsforen anbietet. Die Bezeichnungen „Tutsi“, „Hutu“, „Twa“ wurden verboten, stattdessen wird die Einheit unter dem Motto „Wir sind alle Ruander“ proklamiert. Neben verschiedenen Projekten auf lokaler und individueller Ebene wie Bildungsarbeit und organisierten Täter-Opfer-Begegnungen, sind auf justitialer Ebene insbesondere die so genannten Gacaca-Gerichte zu nennen. Aufgrund ihrer weitreichenden Bedeutung für den gesamtgesellschaftlichen Versöhnungsprozess wenden wir uns den Gacaca etwas näher zu. Nach dem Genozid brach das Justizwesen Ruandas zusammen. Die meisten Richter waren ermordet, die Gefängnisse mit bis zu 120.000 Menschen überfüllt. Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) hatte nur sehr begrenzte Kapazitäten. Auf der Suche nach Alternativen besann man sich auf die traditionelle ruandische Gerichtsbarkeit: Gacaca31. Von 2001 bis zum offiziellen Ende ihrer Tätigkeit 2012 wurden im ganzen Land Gacaca-Gerichte eingesetzt, insgesamt rund 11.000, mit allgemein angesehenen Persönlichkeiten als Laien-Richtern. Dieser alternative Konfliktlösungsansatz besitzt durchaus seine Stärken: Aufgrund der Verankerung in der eigenen Tradition verfügten die Gacaca über beträchtliche Akzeptanz, sie trugen zu einer Beschleunigung der Prozesse bei, zur Wahrheitsfindung und zu einem Ende der bis dahin vorherrschenden Kultur der Straflosigkeit besonders bei ethnisch motivierten Straftaten. Ein Vergleich der Gacaca als Versöhnungsinstrument mit dem Konzept transformativer Gerechtigkeit lässt dazu bemerkenswerte Parallelen zu Tage treten. Insbesondere aufgrund des Gemeinschaftsaspektes (ubuntu), der die Gacaca kennzeichnet, erweist sich der ruandische Kontext als für den transformativen Ansatz überaus anknüpfungsfähig. Des Weiteren lässt sich eine Übereinstimmung in den Zielen feststellen: Beiden liegt das Bestreben nach Versöhnung, nach einer Wiederherstellung der zerstörten Beziehungen zu Grunde. Auch im Blick auf das hier besonders interessierende Phänomen der Beichte ist eine Beschäftigung mit den Gacaca aufschlussreich. Entlang der von Luther im „Kleinen Katechismus“ angeführten zwei Hauptbestandteile der Beichte, Schuldbekenntnis (confessio) und Vergebung (absolutio), soll im Folgenden gezeigt werden, wie der Bedeutung der Beichte für das angestrebte Versöhnungsgeschehen von den Gacaca Rechnung getragen wird. Dabei sollen auch die damit verbundenen Probleme benannt werden. 30 31

Bataringaya, Versöhnung nach dem Genozid (s. Anm. 28) 182. [gaˈʧaʧa]. Dieser Kinyarwanda-Begriff bedeutet „Gras“ oder „Grasfläche“ und bezieht sich auf den Ort, wo das traditionelle Dorfgericht stattfand. Vgl. zu den Gacaca-Gerichten Friese, Politik der gesellschaftlichen Versöhnung (s. Anm. 26), 59–72.

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Das Schuldbekenntnis spielt insbesondere bei der Wahrheitsfindung der Gacaca, eine ihrer zentralen Aufgaben, eine tragende Rolle. Mit dem Ziel der Wahrheitsfindung verbindet sich aus der Perspektive des Opfers sein Informationsbedürfnis wie es im transformativen Ansatz ausdrücklich erwähnt wird. Es geht für die Überlebenden insbesondere darum zu erfahren, „was sie [die Täter] getan, was sie gesehen haben, wie die Opfer getötet wurden und wo sie seitdem verscharrt sind.“32 Die Gacaca finden vor den versammelten Bewohnern des jeweiligen Dorfes statt, d.h. sie sind ihrem Charakter nach öffentliche Veranstaltungen. Entsprechend sind auch die dort erfolgten Geständnisse öffentlich. „Die öffentlichen Bekenntnisse und Zeugenaussagen haben zweifellos das Potential, Versöhnung zu schaffen, wenn nämlich deutlich wird, dass Verbrechen nicht verschwiegen werden, dass Täter verurteilt werden, ihnen anschließend aber ein Neuanfang ermöglicht wird.“33 Doch zeigte sich im Verlauf der Gacaca schnell, dass die angestrebte Wahrheitsfindung mit einer Reihe von Schwierigkeiten behaftet war. Bereits der Wahrheitsbegriff ist nicht frei von Problemen. Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission unterscheidet daher verschiedene Arten von Wahrheit,34 von denen hier insbesondere die forensische/faktische und die persönliche/narrative Wahrheit von Bedeutung sind. Da sich die forensische/faktische Wahrheitsfindung der Gacaca auf Zeugenaussagen bezieht, erwies sie sich mehr als zehn Jahre nach den Ereignissen als äußerst schwierig. Bewusst oder unbewusst verfälschte Erinnerungen, Angst vor Rache, Sorge davor, eigene Angehörige zu belasten, Schweigen und widersprüchliche Aussagen erschwerten den Prozess. Auch die persönliche/narrative Perspektive der Wahrheitssuche war problembehaftet: Täter, die sich als Opfer eines langwierigen Gerichtsverfahren sahen, und Opfer, die durch die erneute Konfrontation und durch das Fehlen von psycho-sozialer Begleitung retraumatisiert wurden. Der Mangel an Unterstützung für die Opfer erwies sich als ein zentrales Versäumnis der Gacaca. Angesichts dieser zahlreichen Probleme hatten die öffentlichen Bekenntnisse daher durchaus „auch das Potential, neue Konfrontationen zu schaffen, und Wunden der Vergangenheit wieder zu öffnen.“35 Welche Rolle spielt die Vergebung in den Gacaca? Die Bitte um Vergebung sowie die Gewährung von Vergebung hatten einen festen Platz in den Gacaca. Angeklagte wurden von den Gacaca und vom Staat motiviert, um Vergebung zu bitten, und Überlebende, diese Vergebungsbitte zu gewähren. Und hierin lag genau das Problem. Vergebung wurde formalisiert, geradezu standardisiert. Die Vergebungsbitte wurde damit ebenso ihrer Ernsthaftigkeit beraubt wie ihre Gewährung ihrer befreienden Kraft für Täter und Opfer. Überlebende berichten von Briefen, die sie von Tätern erhalten haben, mit identischem Wortlaut und Kalkül, 32 33 34 35

Mujawayo, Versöhnung und Verweigerung (s. Anm. 1), 164. Friese, Politik der gesellschaftlichen Versöhnung (s. Anm. 26), 77. TRC (Truth and Reconciliation Commission of South Africa): Final Report. Volume 1, Chapter 5. 1998. Verfügbar unter: http://www.justice.gov.za/Trc/report/index.htm. [01.04.2015] Friese, Politik der gesellschaftlichen Versöhnung (s. Anm. 26), 77.

Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung

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nämlich um bei den Gacacaverhandlungen in einem besseren Licht zu erscheinen.36 Teilweise wurden die Vergebungsbitten der Täter in Form einer arrogantaggressiven Forderung formuliert: „Wir möchten, dass ihr uns verzeiht.“37 Es überrascht daher nicht, wenn sowohl Täter wie Opfer dem Versöhnungsprozess mit steigendem Zynismus begegneten. Den Gacaca zugute ist festzuhalten, dass sie die Konstruktivität der Beichte mit ihren Elementen Schuldbekenntnis, Vergebungsbitte und Gewährung in ihrer Bedeutung für den Versöhnungsprozess erkannt haben und ihr Raum gegeben haben. Durch eine problematische Anwendung wurden diese grundsätzlich hilfreichen und sinnvollen Konzepte jedoch ihrer Produktivität beraubt. Neben die genannten Schwächen, unter denen die Gacaca-Gerichte in der Praxis litten, traten weitere, darunter die teilweise fehlende Eignung der Laienrichter, Gefährdung der beteiligten Akteure, fehlende psycho-soziale Begleitung der Opfer und rechtliche Mängel.38 Allen diesen Mängeln zum Trotz ist es vor allem ihre Alternativlosigkeit, die die Gacaca als relativ beste Lösung erscheinen lässt. Bemerkenswert ist, dass weder die Gacaca noch Ruandas „Nationale Versöhnungspolitik“ im Ganzen den engen Zusammenhang zwischen Erinnerung und Versöhnung angemessen berücksichtigen. Dies wird offensichtlich in einer zutiefst problematischen Erinnerungskultur bzw. Erinnerungspolitik. Im offiziellen, allein zugelassenen Wortlaut gilt das Gedenken dem „Genozid gegen die Tutsi“ – dabei fallen sowohl die zahllosen ermordeten moderaten Hutu als auch die Gräueltaten der von Präsident Kagame geführten Tutsi-RPF-Armee dem „aktiven Vergessen“, d.h. dem bewussten Zerstören von Erinnerungen, anheim.39 Anderslautende Bezeichnungen oder Darstellungen werden als „Verharmlosung des Genozids“ mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft. 40 Hier tritt grell zu Tage, was Ricœur die „größte Gefahr“ für das Erinnern nennt: die „Handhabung der autorisierten, verbindlich gemachten, gefeierten und im gemeinsamen Gedenken begangene Geschichte – der offiziellen Geschichte … [A]uf dem Wege der Einschüchterung oder Verführung, der Ängstigung oder Schmeichelei [wird] eine harmonische Erzählung“ von den Machthabenden durchgesetzt.41 Damit einher geht eine besonders heimtückische Form des „aktiven Vergessens“, indem nämlich „gesell-

36 37

38 39 40 41

Mujawayo (s. Anm. 1), 133f. Hankel, Gerd, „Wir möchten, dass ihr uns verzeiht.“ Die Anfänge der Gacaca-Justiz in Ruanda. In: Kenkmann, Alfons und Zimmer, Hasko (Hrsg.), Nach Kriegen und Diktaturen Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem – Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen 2006, S. 141–152, 149. Vgl.: hierzu Friese, Politik der gesellschaftlichen Versöhnung (s. Anm. 26), 73–85. Vgl.: Assmann, Cultural Memory (s. Anm. 3), 274. Vgl.: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afrika/20-jahre-nach-dem-voelkermord-staatlichverordnete-versoehnung-in-ruanda-12882782-p3.html. [01.09.2015] Ricœur, Gedächtnis (s. Anm. 4), 684f.

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schaftliche … Akteure ihres originären Vermögens beraubt werden, sich selbst zu erzählen.“42 Doch wie soll, wie kann hier „aktives Erinnern“ eine Form annehmen, die dem Versöhnungsprozess nicht entgegensteht, sondern ihm vielmehr konstruktiv entspricht? Was bleibt angesichts der vielfältigen Gefahren der Instrumentalisierung, Verdrängung und Verfälschung bei dem Versuch, das Nichterinnerbare zu erinnern? Schweigen ist keine Option, führt es doch in eine „zweite Schuld“43.

5. Theologische Antwortversuche Die christliche Tradition enthält eine Reihe von hilfreichen Ressourcen, dem Spannungsfeld von Erinnerung, Beichte und Versöhnung zu begegnen. Auf zwei mögliche Antworten möchte ich daher abschließend kurz hinweisen. Zum einen ist die Forderung des katholischen Theologen Johann Baptist Metz nach „anamnetischer Solidarität“ von Interesse. Für Metz kann Theologie nach Auschwitz – und man möchte einfügen: nach Ruanda – nur noch im Angesicht der Leidensgeschichte der Welt geschehen. Dabei ist die „memoria passionis“ nach christlichem Glauben von der „memoria resurrectionis“ nicht zu trennen, die Leidensgeschichte ist Teil der Freiheitsgeschichte, die Freiheitsgeschichte Teil der Leidensgeschichte.44 Gleichzeitig ist die „memoria passionis“ eine „gefährliche Erinnerung“, weil sie auf „unausgetragene, verdrängte Konflikte und unabgegoltene Hoffnungen“ verweist und „gegen die herrschenden Einsichten früher gemachter Erfahrungen hoch“ hält.45 Zudem gilt: „Every rebellion against suffering is fed by the subversive power of remembered suffering.“46 In der „gefährlichen Erinnerung“ liegt daher eine eschatologische Hoffnung, die „Leiden und Schmerz, Trauer und Tragik des Lebens“ nicht ausweichen muss.47 In ihrer Verknüpfung von Passion und Auferstehung enthält die christliche Tradition Ressourcen, die Leidensgeschichte nicht als Endpunkt zu sehen, sondern als von einer Hoffnungsperspektive umhüllt.48 Zum anderen ist hier auch der Zusammenhang zwischen Erinnerung und Versöhnung im hebräischen Denken und im Neuen Testament erhellend. Vor dem 42

43 44 45 46 47 48

Ricœur, Gedächtnis (s. Anm. 4), 684. Dies betont auch Jürgen Ebach, wenn er drei unterschiedliche, aber gleich notwendige Formen des Erinnerns sieht: die objektive, nüchterne Darstellung, die subjektive Weitergabe sowie rituelle Orte. Ebach, Jürgen, Erinnern und Vergessen. Biblischexegetische und hermeneutische Anmerkungen. In: Ökumenische Rundschau 58 (2009), S. 275– 294, 284f. Giordano, Ralph, Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein, Hamburg 1987. Metz, Johann Baptist, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977, S. 98. Metz, Glaube (s. Anm. 45), 176. Metz, J. B., Moltmann, J., Faith and the Future. Essays on Theology, Solidarity, and Modernity, New York: Orbis Books, 1995, S. 8. Schoberth, Ingrid, Erinnerung als Praxis des Glaubens, München 1992, S. 212. Vgl. hierzu auch Konz, Britta, Von Hoffnungserinnerung und ‚befriedetem Vergessen‘. In: Ökumenische Rundschau (2009), S. 300–325, 317f.

Im Spannungsfeld von Beichte, Versöhnung und Erinnerung

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Hintergrund des Konflikts in Nordirland verweist der Theologe Alan Falconer auf die Feier des Passah-Mahls sowie des Herrenmahls mit der Aufforderung Jesu: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ In der Erinnerung wird das Vergangene gegenwärtig, während zugleich das befreiende Handeln Gottes erfahren wird. „Der neue Bund mit Gott, Versöhnung und Vereinigung, ist die Frucht der Vergebung der Sünden durch das Sterben und Auferstehen mit Christus – Ereignisse, die uns allen gegenwärtig werden in der Feier des ‚Tut dies zu meinem Gedächtnis‘.“49 Aus dem Versöhnungszuspruch Gottes an uns Menschen folgt der Versöhnungsanspruch der Menschen untereinander. In Ruanda, einem Land, in dem sich auch nach dem Völkermord noch über 90 % der Bevölkerung dem christlichen Glauben zugehörig sehen, kommt den Kirchen diesbezüglich eine besondere Verantwortung zu. Dabei stehen den Kirchen, die die Menschen an der Basis erreichen, noch andere Möglichkeiten zur Verfügung als einer von oben dekretierten „Nationalen Versöhnungspolitik“. Dazu gehört zuallererst, so Bataringaya, „diese Botschaft des Evangeliums von der Wahrheit, die frei macht, von der Gerechtigkeit für alle und der Liebe zum Nächsten, die den Feind mit einschließt, von der absoluten Achtung des Menschen, der als Ebenbild Gottes geschaffen und durch Jesu Blut erlöst ist, von der Vergebung der Schuld, vom Dialog und der Versöhnung zu verkünden.“50 Auf diese Weise können die Kirchen einen produktiven Beitrag zur Befriedung des Spannungsfeldes von Erinnerung, Beichte und Versöhnung leisten, das Ruanda auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Völkermord noch zutiefst prägt.

49 50

Falconer, Erinnerungen (s. Anm. 23), 474. Bataringaya, Versöhnung nach dem Genozid (s. Anm. 28), 177.

Teil II:

Theologische Wegmarken

Zur Geschichte der Beichte Peter Zimmerling Die Einzel- oder Privatbeichte – und um sie soll es in den folgenden Überlegungen primär gehen – besitzt eine lange Geschichte,1 in der sie sich mehrfach grundlegend gewandelt hat.2 Dabei lassen sich mehrere folgenreiche Einschnitte erkennen: die Entstehung der Beichte im orientalischen Mönchtum, die Demokratisierung der Einzelbeichte im Gefolge der iro-schottischen Germanenmission im 7. Jh., die Reform der Beichte durch die lutherische Reformation im 16. Jh., der sukzessive Verlust der Beichte im Protestantismus seit dem Ende der lutherischen Orthodoxie, Ansätze zur Wiedergewinnung der Beichte seit dem 19.Jh., die massive theologische Kritik an der Beichte durch Vertreter der humanwissenschaftlich geprägten Seelsorge am Beginn der 1970er Jahre und zaghafte Anzeichen einer Renaissance der Beichte in den vergangenen Jahren im evangelischen Raum bei gleichzeitigem rapiden Schwinden der Beichtpraxis in der katholischen Kirche.

1. Vorformen der Beichte im Neuen Testament und in der Alten Kirche Auch wenn es in der Urchristenheit noch keine liturgisch geprägte oder gar sakramental verstandene Einzelbeichte gab, reichen deren Vorformen doch bis ins Neue Testament zurück. Jesus Christus beauftragte seine Nachfolger und Nachfolgerinnen, an seiner Statt Sünden zu vergeben: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 18,18; vgl. auch Joh 20,22f). Fortan erfolgte die Vergebung der Sünden in der christlichen Gemeinde im Namen Jesu Christi: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,8f). Die klassische Belegstelle für die Einzelbeichte, auf die sich alle Konfessionen berufen, steht in Jak 5,14–16: „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem 1

2

Eine Reihe der folgenden Überlegungen habe ich vorgetragen in: Zimmerling, Peter, Studienbuch Beichte (UTB 3230), Göttingen 2009; ders., Beichte. Gottes vergessenes Angebot, Leipzig 2014. Vgl. dazu im Einzelnen: Frank, Isnard W., Art. Beichte II. Mittelalter; Bezzel, Ernst, Art. Beichte III. Reformationszeit; Obst, Helmut, Art. Beichte IV. Neuzeit. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 5, Berlin, New York 1980, S. 414–428.

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Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.“ Allerdings lässt sich die heutige Einzelbeichte auch mit dieser Stelle nicht direkt begründen. Nicht nur, dass darin Beichte und Krankengebet bzw. -salbung miteinander verbunden werden. Anders als bei der Einzelbeichte geht es in Jak 5 um ein wechselseitiges Schuldbekenntnis zwischen Ältesten und Krankem. Die Beichte erfolgt vor der Gemeinde, die von den Ältesten repräsentiert wird. Sie wird als ein soziales Geschehen verstanden. Von einem förmlichen Zuspruch der Vergebung, ein essentieller Bestandteil der traditionellen Einzelbeichte, ist nicht die Rede. Zudem wird die Beichte lediglich empfohlen. Sie besitzt somit keinerlei verpflichtenden Charakter. Ausdrücklich wird festgehalten, dass die Initiative zur Einladung der Ältesten, und damit auch zum Bekenntnis der Schuld, vom Kranken ausgeht. In der Alten Kirche – spätestens vom 2. Jh. an – wurde die öffentliche Buße üblich. Sie betraf öffentliche Todsünden und beinhaltete den Ausschluss vom Abendmahl, das Bekenntnis der Schuld vor der ganzen Gemeinde, den öffentlichen Zuspruch der Vergebung durch einen Priester und die Ableistung von Bußwerken. Daneben wurde die tägliche private Buße für Vergehen, auch für Gedankensünden, praktiziert.3 Die öffentliche Buße war nur einmal möglich. Das führte zu dem Brauch, sich erst auf dem Sterbebett taufen zu lassen, um zu vermeiden, womöglich mit unvergebenen Todsünden sterben zu müssen. Kaiser Konstantin ist das prominenteste Beispiel für diesen Brauch. Das Problem der Sünde im Christenleben war dadurch jedoch nur unzureichend gelöst, weil nicht vermieden werden konnte, dass jemand starb, bevor er getauft worden war.

2. Die Entstehung der Privatbeichte im orientalischen Mönchtum Die geheime und wiederholbare Einzelbeichte – eine Kombination von öffentlicher Buße vor der Gemeinde und täglicher privater Buße – wurde zuerst in den neu entstandenen Klöstern des Orients seit dem 4. Jh. eingeführt.4 Das Mönchtum verstand sich als Intensivform der Nachfolge Jesu Christi. Angesichts des Einströmens breiter Teile der Bevölkerung des Römischen Reiches in die Kirche – verstärkt nach der zunehmenden Privilegierung des Christentums durch Konstantin d. Gr. in der ersten Hälfte des 4. Jh. und der Erhebung zur Staatsreligion unter Theodosius d. Gr. 381 – strebte das Mönchtum danach, die Bergpredigt wörtlich zu erfüllen. Das Interesse wandte sich den Gedankensünden zu, hatte doch Jesus 3 4

Vgl.: Seeberg, Reinhold, Lehrbuch der Dogmengeschichte (Die Dogmenbildung des Mittelalters, Band 3), 6. Auflage, Darmstadt 1959, S. 87ff., bes. 95. Frank, Beichte (s. Anm. 2), 415.

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bereits in der Bergpredigt die sündigen Gedanken mit der sündigen Tat gleichgesetzt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“ (Mt 5,27). Die Verfeinerung des Gewissens und die Einführung der Ohren- bzw. Privatbeichte bedingten sich dabei gegenseitig. Der geistliche Sohn und die geistliche Tochter hatten ihren geistlichen Vätern und Müttern täglich die eigenen Gedanken offen zu legen. Diese bestimmten dann, welche davon in der Beichte als Sünde zu bekennen waren.

3. Die Demokratisierung der Einzelbeichte durch die iroschottische Kirche und Mission Erstmals wurde die Einzelbeichte in der irischen Mönchskirche des 6./7. Jh. Bestandteil der allgemeinen Seelsorge.5 Da es in Irland keine Städte gab, bildeten die Klöster die Mittelpunkte der kirchlichen Organisation. „Alle Kleriker waren Mönche und beobachteten mit ihrem Bischof die Mönchsregel“ (Beda). Zahlreiche Äbte empfingen die Bischofsweihe nicht selbst, sondern ließen sie einem ihrer Mönche erteilen, so dass nicht der Bischof, sondern der Abt Leiter des Kirchenbezirkes wurde – ein Unikum in der abendländischen Kirchengeschichte. Das jeweilige Mutterkloster mit seinen Tochtergründungen war der Mittelpunkt eines eigenen Seelsorgebezirks. Indem die Einzelbeichte von der klösterlichen Praxis auf die Seelsorge für alle Kirchenmitglieder übertragen wurde, konnte der christliche Glaube das irische Volk innerlich erfassen. Die ganze Persönlichkeit wurde unter den Anspruch von Gottes Gebot und unter den Zuspruch von Gottes Gnade gestellt: In der Beichte hatte der Einzelne für seine Taten Verantwortung zu übernehmen; durch die Absolution wurde jedem persönlich Gottes Gnade zugesprochen. Mit der Beichte war ein bestimmtes Strafsystem verbunden. Bereits im 5. Jh. entstand das erste Bußbuch, in dem für jede gebeichtete Sünde eine entsprechende Bußleistung festgelegt wurde.6 Da die irischen Mönche Asketen waren, bildete ihre asketische Ethik das Erziehungsprinzip des Volkes. Verstärkt wurde die Wirkung des Mönchtums dadurch, dass die irischen Klöster nicht nur spirituelle, sondern auch geistige, gewerbliche und wirtschaftliche Zentren waren.7 Das ältere orientalische Mönchtum kannte noch keine kulturelle Einflussnahme. Auch die frühesten abendländischen Klöster unterhielten keine Schulen. Erst die Klöster in Irland wurden zu Trägern der Kultur. Ihre Schulen standen allen Kindern und Jugendlichen offen. Gewöhnlich nahmen sie am Mönchsleben

5 6 7

Vgl. hier und im Folgenden: Haendler, Gert, Geschichte des Frühmittelalters und der Germanenmission (Die Kirche in ihrer Geschichte, Band 2, Lieferung E), Göttingen 1961, E 28ff. Nachweis bei Preuschen, Erwin u.a., Das Altertum. In: Krüger, Gustav (Hrsg.) Handbuch der Kirchengeschichte. 1. Teil, Tübingen 1911, S. 283, Anm. 3. Vgl.: Haendler (s. Anm. 5), Geschichte, E 52.

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teil. Organisch ergaben sich daraus dauerhafte Beziehungen zwischen Mönchen und Laien, was wiederum die seelsorgerlichen Aufgaben der Klöster förderte. Durch ihre Missionstätigkeit gewann die iro-schottische Kirche für die Christianisierung des Frankenreiches und gleichzeitig für die Einführung der Beichte im Abendland entscheidende Bedeutung. Die iro-schottische Germanenmission führte seit der Mitte des 7. Jh. dazu, dass auch auf dem europäischen Festland für alle Gemeindeglieder neben der öffentlichen Buße die private, geheime und wiederholbare Beichte verbindlich wurde. Der jüngere Columban (ca. 530–615), im südöstlichen Irland geboren, wurde zum Bahnbrecher der iro-schottischen Mission auf dem Festland.8 Um 590 zog er mit zwölf Gefährten über England und die Bretagne ins Frankenreich. Columban erinnert an einen alttestamentlichen Propheten. Er predigte als Ziel des christlichen Glaubens die Abwendung von den irdischen Gütern und die Hinwendung zum ewigen Gott. Im burgundischen Gebiet gründete er auf vom König geschenktem Land am Südwestabhang der Vogesen die Klöster Annegray, Luxeuil und Fontaines. Luxeuil wurde eines der bedeutendsten Klöster des Frankenreiches; seine Einrichtungen waren bei der Stiftung neuer Klöster vorbildhaft. Predigt und asketische Lebensführung Columbans und seiner Mönche führten zu einer geistlichen Erweckung im Frankenreich. Ihr Einfluss vergrößerte sich noch, weil das hohe Bildungsniveau der neuen Klöster den Adel veranlasste, seine Kinder in ihnen erziehen zu lassen. Indem Columban und seine Mönche durch Predigt und Vorbild zu „Beichtvätern“ – das Wort findet sich in dieser Zeit zum ersten Mal9 – des ganzen Volkes, von Klerikern und Laien, von Hochgestellten und Niedrigen, wurden, brachten sie dem fränkischen Volk das, was ihm, wie Columban glaubte, am meisten fehlte: das Heilmittel der Beichte. Obwohl keine Volkspredigt aus der Umgebung Columbans erhalten geblieben ist, kann man doch aus den Reden an seine Mönche entnehmen, wie er Menschen zu Buße und Umkehr aufrief. Es ging ihm darum, die Hörer zur Sündenerkenntnis und zum Bruch mit ihren Sünden zu führen. Ausgangspunkt der Predigt war die Hoffnung auf das ewige Leben bei Gott: „Bedenke nicht, was du bist, armer Mensch, sondern was du sein wirst; was du bist, ist ein Augenblick, was du sein wirst, immer. Sei nicht untätig für dich selbst, sondern erwirb in kurzer Zeit, was du in Ewigkeit besitzen wirst.“10 Columban forderte zur Selbstprüfung auf: „Wenn wir nicht stolz sind, weil wir nicht mit den Dieben stehlen und nicht zu den Mördern und Meineidigen uns gesellen, so mögen wir vor unserem Gewissen überlegen, wie wir uns verhalten: tragen wir nicht Hass gegen irgendwen, tun wir alles Lästern ab, sind wir nicht von Stolz aufgeblasen, 8

9 10

Haendler, Geschichte (s. Anm. 5), E 33; Baus, Karl u.a., Die Kirche in Ost und West von Chalkedon bis zum Frühmittelalter (451–700). In: Jedin, Hubert (Hrsg.), Handbuch zur Kirchengeschichte. Band II/2, Freiburg 1975, S. 244f. Beleg bei Hauck, Albert, Kirchengeschichte Deutschlands. 1. Teil, 7. Auflage, Berlin, Leipzig 1952, S. 293, Anm. 1; vgl. im Folgenden a.a.O., 254ff.292ff. Hauck, Kirchengeschichte (s. Anm. 9), 294.

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durch eitle Ehre erfreut, durch Üppigkeit befleckt, durch Zorn erbittert, von Eitelkeit beseelt …“11 Die Frage nach der Vergebung der Sünden und der Gewissheit des Heils begann im 7. Jh. die Menschen im Frankenreich in der Tiefe zu bewegen. Das zeigte sich äußerlich daran, dass es seit dieser Zeit üblich wurde, neben den Namen ein peccator (= Sünder) zu setzen. Die neue Tiefendimension des Glaubens zeigte sich auch an folgender Beobachtung: Hatte man im 6. Jh. Stiftungen gemacht, um Glück im Leben zu haben, so wollte man im 7. Jh. dadurch Vergebung seiner Sünden erlangen. Durch die Iro-Schotten wurde auf dem europäischen Festland für alle Gemeindeglieder üblich, was man in Irland schon lange praktizierte: das freiwillige Bekenntnis der Sünden vor einem Priester, sowohl der Tatsünden als auch der Gedankensünden. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die in Columbans Bußbuch fixierten schriftlichen Anweisungen. Für die einzelnen Sünden wird eine je nach ihrer Schwere verschieden lange Bußzeit bestimmt; zusätzlich werden weitere Bußleistungen wie Fasten, Almosengeben und Eintritt ins Kloster vorgeschrieben. Dabei werden Sünden thematisiert, die im 7. Jh. offensichtlich besonders verbreitet waren: Gewalttätigkeiten der Geistlichen und Laien, die ohne zu zögern ihre Gegner (sogar unmittelbar vor dem Altar) töteten, sexuelle Sünden, Probleme um Eid und Besitz, Unmäßigkeit in Speise und Trank und die Teilnahme an heidnischen Gebräuchen. Die Bestimmungen gehen davon aus, dass die einheimische Kirche, nicht die fremden Mönche, für ihre Durchsetzung sorgen sollten. Die fränkische Synode von Chalon-sur-Saône erklärte Mitte des 7. Jh. die Beichte als ein Heilmittel für die Seele und jedermann nützlich. Damit war der erste Schritt zur offiziellen Anerkennung der Beichtpflicht in der abendländischen Kirche getan. Durch das der Einzelbeichte zugrunde liegende Bußverständnis erreichte der christliche Glaube auch im Frankenreich das Gewissen des Einzelnen und fing an, es im Alltag zu prägen. Damit war eine wesentliche Voraussetzung für die weitere innere Entwicklung des abendländischen Christentums gegeben. Auch Luthers brennende Frage nach einem gnädigen Gott ist nur auf diesem Hintergrund denkbar. Das 4. Laterankonzil von 1215 machte die jährliche Beichte vor Ostern allen Gläubigen zur Pflicht.12 In der Folge entwickelte die scholastische Theologie das Buß- und Beichtverständnis weiter. Dazu gehörte vor allem die theologische Begründung, warum die Beichte ein Sakrament darstellt.

11 12

Hauck, Kirchengeschichte (s. Anm. 9), 295.297. Scheule, Rupert M., Beichte und Selbstreflexion. Eine Sozialgeschichte katholischer Bußpraxis im 20. Jh., Frankfurt a.M., New York 2000, S. 64f.

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4. Die Reform der Beichte durch Martin Luther (1483–1546) Am Anfang der Reformation stand der Wittenberger Beichtstuhlstreit.13 Als Professor der Universität war Luther im Nebenamt Seelsorger an der Wittenberger Schlosskirche. Durch Gemeindeglieder erhielt er Einblick in den von Johann Tetzel in Brandenburg durchgeführten Ablasshandel. Tetzel verkündete, dass der Ablass auch Sünde und Schuld vergebe, ja, dass keine Sünde zu groß für den Ablass sei. Er konnte sogar für die Verstorbenen gekauft werden. Überdies vermittelte der Ablass eine trügerische Heilssicherheit: Wer zahlen konnte, war seine Sünde los. Im Beichtstuhl zeigten die Gemeindeglieder Martin Luther ihre teuer erworbenen Ablasszettel und verlangten die Absolution. Luther geriet über diesen Handel in Zorn und versuchte, ihn im Gespräch mit Verantwortlichen in Kirche und Staat abzustellen. Nach monatelangen Überlegungen, als Tetzel die Gegend um Wittenberg schon verlassen hatte, verfasste Luther die 95 Thesen, um gegen den Ablasshandel Einspruch zu erheben. Sie lassen bereits ein völlig neues Buß- und Beichtverständnis gegenüber der bis dahin vorherrschenden mittelalterlichen Lehre und Praxis erkennen. Stand im Mittelpunkt der spätmittelalterlichen Seelsorge eine dinglich verstandene Buße, verbunden mit einer ebenso dinglich verstandenen Gnade, lassen die Thesen einen gewaltigen Schritt auf den Weg zur Wiedergewinnung eines personalen Buß- und Gnadenverständnisses erkennen. Aufgrund seiner Neuentdeckung der paulinischen Rechtfertigungslehre ist Luther überzeugt, dass zur wahren Buße gehört, dass ich nicht nur meine Tatsünden erkenne, sondern begreife, dass selbst die innersten Motive meines Handelns selbstsüchtig sind. Zur wahren Buße gehört, Abschied zu nehmen von der Vorstellung, aufgrund eigener Anstrengung vor Gott wohlgefällig leben zu können. Ich lasse mir gefallen, dass mir das Handeln Jesu Christi von Gott als Gerechtigkeit zugerechnet wird. In der ersten These ist in nuce das neue reformatorische Bußverständnis enthalten: „Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte mit seinem Wort: ‚Tut Buße‘ usw. (Mt 4,17), dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“14 Entsprechend zeigt die zweite These die Richtung an, die das reformatorische Buß- und Beichtverständnis einschlagen wird: „Dieses Wort (Mt 4,17) kann nicht als auf die sakramentale Buße bezogen verstanden werden.“ Luther wehrt damit ein doppeltes Missverständnis ab: Die kirchliche Hierarchie hat weder Macht, durch ihr Bußinstitut Menschen den Himmel auf- oder zuzuschließen, noch kann sich ein Mensch durch die Kirche von der täglich existentiell zu vollziehenden Umkehr dispensieren lassen.

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Vgl. dazu im Einzelnen Fischer, Emil, Zur Geschichte der Evangelischen Beichte (Die katholische Beichtpraxis bei Beginn der Reformation und Luthers Stellung dazu in den Anfängen seiner Wirksamkeit, Band 1), Leipzig 1902; (Niedergang und Neubelebung des Beichtinstituts in Wittenberg in den Anfängen der Reformation, Band 2), Leipzig 1903 (Neudruck Aalen 1972). Abgedruckt in: Leppin, Volker, Reformation, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Band 3, Neukirchen-Vluyn 2005, S. 37.

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Zum Erstaunen säkularer Protestanten gehört Martin Luther zu den großen Beichtvätern der Christenheit und darüber hinaus zu denjenigen Christen, die Zeit ihres Lebens regelmäßig selbst gebeichtet haben. Wir kennen sogar seinen Beichtvater: Nach Johann von Staupitz war es Johannes Bugenhagen, Pfarrer an der Wittenberger Stadtkirche, wo Luther häufig predigte. Luther lehnte – wie die übrigen Reformatoren auch – die Beichte nicht als solche ab, sondern wollte die in seinen Augen falsche Beichtpraxis der damaligen Kirche reformieren. Aus Gottes gnädigem Angebot der Vergebung war in der mittelalterlichen Beichte ein Zwangsinstrument zur Knechtung der Gewissen geworden. Luther trat dafür ein, dass die Beichte stattdessen wieder zu einem freiwillig gebrauchten Hilfsmittel auf dem Weg der Christusnachfolge wurde. Die Reformation brachte gegenüber dem Buß- und Beichtverständnis des Mittelalters neu biblische Einsichten ans Licht. Das aus dem iro-schottischen Verständnis hervorgegangene mittelalterliche Bußwesen, das im Ablass seine bedenklichste Ausprägung gefunden hatte, schafften die Reformatoren zu Recht ab. Es hatte einerseits der irrigen Meinung Vorschub geleistet, man könne durch eigene Leistungen zum Heil etwas beitragen. Andererseits hatte es zum Glauben geführt, dass man sich durch fromme Werke vom ganzheitlich zu verstehenden Umkehrruf Gottes freikaufen könnte. Vor allem aber hatte ein derartiges Bußwesen die Heilsgewissheit zerstört. Die Wirksamkeit der mittelalterlichen Beichte hing vom Reuegrad der Beichtenden und von der Vollständigkeit der Aufzählung der Sünden ab. Luthers Erkenntnis, dass die Glaubensgerechtigkeit des Menschen eine fremde, d.h. ihm von Gott umsonst, aus lauter Gnade zugerechnete Gerechtigkeit ist, löste auch das Problem der Sünde im Christenleben: Trotz bleibenden Sünderseins (simul peccator et iustus) war nun Heilsgewissheit möglich. Martin Luther weist in seinen Schriften regelmäßig auf den großen Nutzen der Einzelbeichte hin. Eine Art Kompendium seiner Beichtauffassung liegt im „Großen Katechismus“ und im „Kleinen Katechismus“ vor. Im „Kleinen Katechismus“ wird die Beichte zunächst auf ihre beiden wesentlichen Stücke beschränkt: Es geht in ihr allein um das Bekenntnis der Sünde und um die Absolution. „Die Beichte begreift zwei Stücke in sich: eins, dass man die Sünde bekenne, das andere, dass man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger empfange als von Gott selbst ...“ Damit ist die mittelalterliche Verknüpfung der Beichte mit einer Fülle von Bußleistungen vom Tisch. Weiter weist Luther darauf hin, dass nur bewusste Sünden bekannt werden müssen. Damit ist die Forderung der mittelalterlichen Kirche nach vollständiger Aufzählung aller begangenen Sünden überwunden. Die Beichte ist Gottes Angebot, sich das Evangelium persönlich zusprechen zu lassen: „Wir vermahnen aber du sollst beichten und deine Not nicht anzeigen darum, dass du es als ein Werk tust, sondern hörest, was dir Gott sagen lässt. Das Wort, sage ich, oder die Absolution sollst du ansehen, sie groß und teuer achten als ein trefflichen, großen Schatz mit allen Ehren und Dank anzuneh-

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men.“15 Die Beichte ist im Kern Zuspruch des Evangeliums. Genauso wenig wie ein Mensch zur Annahme des Evangeliums gezwungen werden kann, sollte er mit Zwangsmitteln zum Gebrauch der Beichte gebracht werden: „Man soll wohl dazu reizen, aber nit treiben, man soll dazu locken, aber nit zwingen. Man soll die Leute darin bestärken, aber man soll nit drohen und schrecken mit der Beicht. Frei, willig und gern soll man beichten. Kann man das nit tun, so lasse man das Treiben ausstehen.“16 Die Beichtpraxis wird durch die neuen Einsichten Luthers von Ängstlichkeit und Skrupulösität befreit. Er öffnet ihr einen Spielraum der Freiheit. Dass sie dem Menschen ein befreites Gewissen schenken will, muss sich widerspiegeln in der Art, wie in ihr Schuld bekannt wird. Darum sollen nur konkrete Sünden gebeichtet werden. Es soll auch nicht nach Sünden gesucht werden; der Beichtende ist frei von der ängstlichen Fixierung auf vielleicht in der Vergangenheit begangene, aber in Vergessenheit geratene oder unbewusst gebliebene Sünden: „Wenn aber jemand sich nicht befindet beschweret mit solcher oder größeren Sünden [die Luther zuvor aufgezählt hat], der soll nicht sorgen oder weiter Sünde suchen noch erdichten und damit eine Marter aus der Beicht machen, sondern erzähle eine oder zwo, die du weißt.“17 Indem er die Absolution ins inhaltliche Zentrum der Beichte rückt, wird sie zu einer freudigen, ja fröhlichen Angelegenheit: „Wer nun sein Elend und Not fühlet, wird wohl solch Verlangen danach kriegen, dass er mit Freuden hinzu laufe.“18 „Siehe, das wäre recht von der Beicht gelehret, so könnte man Lust und Liebe dazu machen, dass die Leut herzukämen und nachliefen, mehr denn wir gern hätten.“19 Besonders wertvoll ist die Beichte für Luther deshalb, weil in ihr die Absolution in der Beichte im Auftrag Gottes durch einen Mitmenschen erteilt wird. Das Evangelium, die gute Nachricht von der Vergebung meiner Schuld, findet seinen Weg zu mir nicht anders als durch das Wort des Bruders: „Denn welchem willst du dein Gebrechen klagen denn Gott? Wo kannst du ihn aber finden denn in deinem Bruder? Der kann dich mit Worten stärken und helfen.“20 Am Schluss seiner Überlegungen zur Beichte im „Kleinen Katechismus“ stellt Luther sie noch in einen größeren Zusammenhang hinein. Ihre damit verbundene Relativierung soll ihrer Entlastung und ihrer Wirksamkeit dienen. Nicht immer genügt nämlich ein einzelnes kurzes Beichtgespräch, um den angefochtenen Menschen zu trösten. Daran wird sichtbar, dass die Beichte für Luther in den größeren Raum der seelsorgerlichen Begleitung gehört. „Welche aber große Beschwerung 15 16 17 18 19 20

Zit. nach Luther, Martin, Ausgewählte Werke (Die Münchener Lutherausgabe, Band 3), hrsg. v. Borcherdt, H.H., Merz, Georg, 3. Auflage, München 1962, S. 290. WA 8, 177, S. 28–33 (Von der Beichte, 1521; Sprache modernisiert); ähnlich auch Großer Katechismus. In: BSELK, S. 1160f. Kleiner Katechismus, zit. nach Luther, Ausgewählte Werke 3 (s. Anm. 15), 180. Großer Katechismus, zit. nach Luther, Ausgewählte Werke 3 (s. Anm. 15), 290. Luther, Ausgewählte Werke 3 (s. Anm. 15), 291. WA 15, 488, S. 30, zit. nach Althaus, Paul, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, S. 274.

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des Gewissens haben oder betrübt und angefochten sind, die wird ein Beichtvater wohl wissen mit mehr Sprüchen zu trösten und zum Glauben reizen.“21 Es ist für Luther unfassbar, dass Menschen das Angebot der Beichte ausschlagen. Er kommt darum im „Großen Katechismus“ zu dem Schluss, dass derjenige, der nicht beichtet, gar kein Christ sein kann, weil er dadurch zu erkennen gibt, dass er das Evangelium selbst verachtet: „Willst du es aber verachten und so stolz ungebeichtet hingehen, so schließen wir das Urteil, dass du kein Christ bist … Denn du verachtest, was kein Christ verachten soll … und ist ein gewisses Zeichen, dass du auch das Evangelium verachtest.“22 Umgekehrt ist die Praxis der Beichte ein untrüglicher Hinweis auf das Christsein eines Menschen: „Darum wenn ich zur Beichte vermahne, so tue ich nichts anders, denn dass ich vermahne, ein Christ zu sein. Wenn ich dich dahin bringe, so habe ich dich auch wohl zur Beicht gebracht.“23 Luther rückt Christsein und Beichte damit unmittelbar zusammen. Wer Christ ist, übt die Beichte, und wer die Beichte übt, ist ein Christ. In solchen Sätzen spiegelt sich nicht zuletzt Luthers eigene Erfahrung. Er war davon überzeugt, dass er gerade der eigenen regelmäßigen Beichtpraxis das Bleiben im Glauben verdankte. „Aber dennoch will ich mir die heimliche Beichte niemand lassen nehmen und wollte sie nicht um der ganzen Welt Schatz geben. Denn ich weiß, was Trost und Stärke sie mir gegeben hat. Es weiß niemand, was sie vermag, denn wer mit dem Teufel oft und viel gefochten hat. Ja, ich wäre längst vom Teufel erwürgt, wenn mich nicht die Beichte erhalten hätte.“24

5. Der sukzessive Verlust der Beichte im Protestantismus nach der Reformation Im reformierten Bereich wurde die Einzelbeichte bald durch die Kirchenzucht ersetzt, obwohl Calvin selbst sie noch empfohlen hat.25 Im Raum der lutherischen Kirchen führte Luthers reformatorische Entdeckung paradoxerweise sowohl zur Erneuerung als auch zum Niedergang der Einzelbeichte: Zur Erneuerung, insofern sie aus einem kirchlichen Zwangsinstrument zur Knechtung der Gewissen zum befreienden Angebot der persönlichen Vergewisserung der Vergebung wurde; zum Niedergang, insofern die Beichte fortan freiwillig praktiziert werden sollte und darum nicht mehr mit kirchlichen Disziplinarmaßnahmen durchgesetzt werden konnte. Die evangelisch gewordenen Kirchenmitglieder missverstanden die neu gewonnene Freiheit zur Beichte als Freiheit von der Beichte. Luther war darüber so 21 22 23 24 25

Kleiner Katechismus, zit. nach Luther, Ausgewählte Werke 3 (s. Anm. 15), 180. Großer Katechismus, zit. nach Luther, Ausgewählte Werke 3 (s. Anm. 15), 291. A.a.O. WA 10, III, 61, 7.28, zit. nach Althaus, Die Theologie Martin Luthers (s. Anm. 20), 273f. Vgl.: Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion (Institutio Christianae Religionis, letzte Auflage 1559, 1. Auflage 1535), Weber, Otto (Hrsg.), Neukirchen 1955, S. 407–409.

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verärgert, dass er im „Großen Katechismus“ den Gemeindegliedern erneut das Joch des Papsttums auf den Hals wünschte.26 Allerdings konnte er aufgrund der neuen reformatorischen Erkenntnisse die Beichte nicht wieder für alle obligatorisch machen. Als Ausweg bot sich die Katechismusprüfung an. Diese trat in der Folgezeit in den lutherischen Kirchen an die Stelle der Beichte als Voraussetzung der Zulassung zum Abendmahlsempfang. Der Kommunikant musste Rechenschaft darüber ablegen, ob er den Sinn des Abendmahls verstanden hatte. Im Zusammenhang damit bestand auch die Möglichkeit zur Einzelbeichte. Dadurch drohte allerdings eine ungute Vermischung von Glaubensprüfung und Beichte. Im Verlauf der weiteren Entwicklung der evangelischen Kirche verfiel die Beichte zunehmend.27 Im 17. Jh. wurde sie im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie mehr und mehr zu einer Art obligatorischem Katechismusverhör vor dem Abendmahlsgang, das zudem oft mit einer Geldzahlung verbunden war. Aufgrund der Kritik des älteren Pietismus an dieser Praxis wurde die Beichte als Institution in vielen lutherischen Landeskirchen an der Wende vom 17. zum 18. Jh. abgeschafft.28 Mit dem Hinweis auf die notwendige Freiwilligkeit der Beichte sollte es dem Einzelnen überlassen bleiben, ob er die seelsorgerliche Aussprache mit dem Pfarrer suchte oder nicht. Der Pietismus übersah angesichts seines Misstrauens gegenüber toten rituellen Formen, dass statt der Abschaffung die Erneuerung des Beichtrituals sinnvoller gewesen wäre. Indem selbiges abgeschafft wurde, ging es in der Folgezeit für die Kirche als Ganze endgültig verloren. Dazu beigetragen hat neben dem Pietismus wesentlich der Einzug des Rationalismus in Theologie und Kirche. Dieser lehnte die Beichte an sich ab, da er in ihr nur die Ausübung von Zwang auf das autonome Gewissen des Menschen zu sehen vermochte.

6. Ansätze zur Erneuerung der Beichte im 19. und 20. Jh. Im 19. Jh. kam es im Gefolge der Erweckungsbewegung in Württemberg durch Johann Christoph Blumhardt (1805–1880)29 und in Franken durch Wilhelm Löhe (1808–1872)30 ansatzweise zu einer Wiedergewinnung der Einzelbeichte.31 Konkret 26 27 28 29

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Vgl.: Großer Katechismus, zit. nach Luther, Ausgewählte Werke (Band 3) (s. Anm. 15), 287f. Vgl. dazu im Einzelnen Klein, Laurentius, Evangelisch-Lutherische Beichte. Lehre und Praxis, Paderborn 1961. Vgl. dazu im Einzelnen z.B. Obst, Helmut, Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen Orthodoxie (AGP 11), Witten 1972. Zur Biographie: Zündel, Friedrich, Johann Christoph Blumhardt. Eine Leibensbild, 13. Auflage, Gießen 1936; Ising, Dieter, Johann Christoph Blumhardt. Leben und Werk, Göttingen 2002; Werkausgabe: Johann Christoph Blumhardt, Johann Chr., Gesammelte Werke. Schriften, Verkündigungen, Briefe, Schäfer, Gerhard (Hrsg.), Göttingen 1968ff. Zur Biographie Löhes vgl. Geiger, Erika, Wilhelm Löhe (1808–1872). Leben, Werk, Wirkung (Testes et testimonia veritatis – Zeugen und Zeugnisse der Wahrheit, Band 3), Neuendettelsau 2003. Ein wichtiger Vertreter der lutherischen Erneuerung, der für die Wiedergewinnung der Beichte eintrat, war auch der Mecklenburger Theodor Kliefoth; vgl. dazu: Gral, Martin, Beichte und Ab-

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sah Blumhardts Beichtpraxis folgendermaßen aus:32 Die förmliche Absolution unter Handauflegung sprach er erst nach drei bis sechs Beichtgesprächen zu. Blumhardt begründete die Beichte einerseits exegetisch und durch Aussagen der Reformatoren; andererseits wies er auf die Praxis der Säuglingstaufe hin, die ein nachgeholtes Sündenbekenntnis notwendig werden ließ. Als Erfahrungsargument aus seiner Möttlinger Seelsorgepraxis führte er weiter an, dass nach der Absolution die Freude aus dem Angesicht des Absolvierten geleuchtet habe. Blumhardts Beichtpraxis wies mehrere Eigentümlichkeiten auf. Fast alle Gemeindeglieder aus Möttlingen kamen nach und nach zur Beichte, die häufig mit Heilungserfahrungen verbunden war. Für Blumhardt korrespondierte der Grad der Reue mit der Wirksamkeit der Vergebung. Auch wenn er mit der Möglichkeit weiterer Beichten im Leben rechnete, betrachtete er die förmliche Absolution unter Handauflegung als einmaliges Geschehen. Die Absolution war für ihn mehr als ein Bewusstseinsvorgang; er verstand das Wirken des Geistes dabei als etwas „Reales“, als förmliche Kraftmitteilung.33 Neben Johann Christoph Blumhardt trat vor allem Wilhelm Löhe im 19. Jh. für die Erneuerung der Einzelbeichte in der evangelischen Kirche ein.34 Er erstrebte eine Überwindung des Schematismus der Allgemeinen Beichte im Gottesdienst wie der Privatbeichte vor dem Abendmahl. Jeder Kommunikant sollte selber entscheiden, welche Form von Beichte er für sich wählte. Löhe legte eine Fülle von pastoraltheologischen Überlegungen zur Beichte vor. Dabei plädierte er für ein ökumenisches Lernen, vor allem von der römisch-katholischen Tradition. Erst wieder in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeigten sich in der evangelischen Kirche verstärkte Bestrebungen zur Wiedergewinnung der Beichte. Die 1931 gegründete evangelische Michaelsbruderschaft, zu der neben Theologen auch Laien gehörten,35 und die weniger bekannte Sydower Bruderschaft traten in Theorie und Praxis für die persönliche Beichte ein. Auch Dietrich Bonhoeffer gehörte in den 1930er Jahren zu den Pionieren der evangelischen Beichte im 20. Jh. Das Neue seines Ansatzes gegenüber den beiden genannten Bruderschaften bestand darin, dass es ihm darum ging, die Beichte für die gesamte Kirche wie-

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solution als Zentralanliegen der lutherischen Erneuerung bei Theodor Kliefoth im 19. Jh. In: Rittner, Reinhard (Hrsg.), Was heißt hier lutherisch! Aktuelle Perspektiven aus Theologie und Kirche (Bekenntnis. Schriften des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses, Band 37), 2. Auflage, Hannover 2005, S. 87–103. Vgl.: Blumhardt d.Ä., Johann Chr., Evang. Kirchenblatt, Mitteilungen, 1845. In: ders., Gesammelte Werke I/1, Göttingen 1979, S. 97–102. In ähnliche Richtung denkt Josuttis, Manfred, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, 2. Auflage, Gütersloh 2002, bes. S. 181–194. Löhes Schriften liegen vor in: Löhe, Willhelm, Gesammelte Werke, Ganzert, Klaus (Hrsg.), Neuendettelsau 1951–1986; zur Beichte vgl. bes.: ders., Der evangelische Geistliche. 2. Band, 2. Auflage 1866 (1. Auflage 1858). In: ders., Gesammelte Werke. Band III/2, Neuendettelsau 1958, S. 275–286. Vgl. dazu Ritter, Karl Bernhard, Die Ordnung der Beichte, im Auftrag der Evang. Michaelsbruderschaft Ritter, Karl Bernhard, Stählin, Wilhelm (Hrsg.), 3. Auflage, Kassel 1952.

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derzugewinnen.36 Als Direktor des Predigerseminars der Bekennenden Kirche und als Leiter des damit verbundenen Bruderhauses in Finkenwalde bei Stettin (1935– 1937) ermunterte Bonhoeffer die Vikare zur persönlichen Beichte untereinander und beichtete selber bei einem von ihnen.37 Theologisch reflektierte er diese Bemühungen in seinem Buch „Gemeinsames Leben“.38 Neben Bonhoeffer traten damals auch andere Vertreter der Bekennenden Kirche wie Hans Asmussen für die Erneuerung der Einzelbeichte ein.39 Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkten sich diese Ansätze durch den Sieg der Bekennenden Kirche und die Vorherrschaft der dialektischen Theologie. Besonders die lutherischen Landeskirchen in Deutschland versuchten, durch ihre Ordnungen die Einzelbeichte wiederzubeleben.40 Die Beicht-Agende der VELKD von 1993 will eine Brücke von der gesellschaftlichen Situation zur traditionellen Beichte schlagen.41 Dabei steht der Gedanke im Zentrum, dass die Beichte, als Akt menschlicher Reife und Verantwortungsübernahme interpretiert, eine immer noch gültige Antwort auf das Problem des menschlichen Schuldigwerdens darstellt. Die Agende knüpft mit ihrer Deutung der Beichte als reditus ad baptismum, als Rückkehr zur Taufe, an reformatorische Auffassungen an und hebt Freiheit und Freude als Konsequenzen der Beichte hervor. Darüber hinaus bemüht sie sich um einen weiteren Brückenschlag: von der Allgemeinen Beichte im Gottesdienst, die in der evangelischen Kirche fast ausschließlich noch praktiziert wird, zur Einzelbeichte. Beide Formen werden als gleichwertig verstanden. Sie hätten die Aufgabe, sich zu ergänzen, wobei jedoch die gemeinsame Beichte die Einzelbeichte nicht ersetzen könne. Die Allgemeine Beichte habe vielmehr die Aufgabe, die Einzelbeichte in Erinnerung zu halten und zu ihr hinzuführen. Der Blick in die protestantische Kirchengeschichte zeigt allerdings, dass die Praxis der Allgemeinen Beichte nicht zur Erneuerung der Einzelbeichte führte, sondern umgekehrt diese sukzessive ersetzt hat. 36

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Vgl.: Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel (Dietrich Bonhoeffer Werke Band 5 (= DBW 5)), Müller, Gerhard Ludwig, Schönherr, Albrecht (Hrsg.), München 1987, S. 14. Vgl.: Bethge, Eberhard, Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, 4. Auflage, München 1978, S. 532f; vgl. dazu auch: Zimmerling, Peter, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, S. 176–182. Vgl.: DBW 5. Vgl.: Asmussen, Hans, Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung, München 1935, S. 226–230; Vgl. dazu auch das Beichtuntersuchung des BonhoefferSchülers Schönherr, Albrecht, Lutherische Privatbeichte, Göttingen 1938. Vgl.: Klein, Beichte (s. Anm. 27), 230f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Künneth, FriedrichWilhelm (Hrsg.), Vergebung als Lebenshilfe. Zur Frage der Einzelbeichte heute. Studiendokument des Lutherischen Weltbundes (Kommission für Gottesdienst und Geistliches Leben), Berlin/Hamburg 1970. Vgl.: Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden (Die Beichte, Band III/3), Kirchleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Hrsg.), neue bearbeitete Ausgabe, Hannover 1993, S. 10–15.85f.

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Maßgeblichen Anteil an der Erneuerung der Einzelbeichte nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der damals gegründete Deutsche Evangelische Kirchentag. Eines der Themen des Frankfurter Kirchentages von 1956 lautete: „Evangelische beichten“.42 Aus den Kirchentagsprotokollen der Nachkriegszeit wird ersichtlich, dass viele Kriegsheimkehrer die Möglichkeit zur persönlichen Beichte nutzten.43 Neben den Kirchentagen sind gegenwärtig vor allem die verschiedenen, seit dem Zweiten Weltkrieg entstandenen evangelischen Kommunitäten Orte, an denen die Einzelbeichte angeboten und von einer größeren Anzahl evangelischer Christen praktiziert wird. Bei Taizé-Besuchen fällt nach dem Abendgebet auf, dass sich in der Kirche junge Menschen in langen Schlangen bei einzelnen Taizé-Brüdern zu Aussprache und Beichte anstellen. Aus meiner eigenen Tätigkeit als Pfarrer einer evangelischen Kommunität weiß ich, dass eine Reihe von Freunden und Tagungsgästen regelmäßig bei einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft beichtete.44 Insgesamt konnte der weitgehende Verlust der Einzelbeichte im Protestantismus seit dem 18. Jh. durch deren Wiederentdeckung im 19. Jh. im Gefolge der Erweckungsbewegung und im 20. Jh. im Rahmen der Bekennenden Kirche und der neu entstandenen geistlichen Bruder- und Schwesternschaften und Kommunitäten zwar nicht rückgängig gemacht werden. Die Praxis der Privatbeichte ist bis heute auf einzelne Gruppen und Kreise der evangelischen Kirche beschränkt geblieben. Aber auch wenn diese Ansätze nicht zu einer Verankerung der Privatbeichte in der gesamten Kirche führten, hielten sie doch in der Kirche das Bewusstsein wach, dass die Beichte eine – wenn auch weithin außer Gebrauch gekommene – Form evangelischer Spiritualität darstellt.

7. Ein Blick in die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche Die Beichte erlebte nach der Reformation nicht nur in den protestantischen Kirchen eine wechselvolle Geschichte. Sie war auch in den vorreformatorischen Konfessionen aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zeiten umstritten. Gleichzeitig kam es immer wieder zur Erneuerung der Beichte, wobei sich bisweilen regelrechte Beichtaufbrüche und -bewegungen ereigneten. Dabei scheinen in den vorreformatorischen Konfessionen die Verankerung der Beichte in der Kirchenlehre sowie das sakramentale Verständnis Bestrebungen zu ihrer Wiedergewinnung erleichtert zu haben.

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Vgl.: Bräumer, Hansjörg, Das Sakrament der Beichte. Überlegungen zu seiner Entstehung und seinem Gebrauch, Breklum 1977, S. 31. Vgl. dazu Böhme, Wolfgang, Der Weg. Weltverantwortung und Gottesliebe. Aufsätze und Predigten, Hamburg 1987, S. 14. Vgl.: Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, 2. Auflage, Göttingen 2010, S. 167.

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Auf dem Konzil von Trient (1545–1563) wurde die Verschiedenheit der Beichte gegenüber der Taufe gegen Infragestellungen von Seiten der Reformation vehement verteidigt und ihr sakramentaler Charakter festgeschrieben. Das konnte jedoch nicht verhindern, dass im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution die Beichte auch im Katholizismus in eine Krise geriet. Für die orthodoxe Kirche gilt das gleiche für die Zeit nach der Oktoberrevolution 1917. Dennoch kam es sowohl in Frankreich als auch in der Sowjetunion nach den Revolutionszeiten zur Erneuerung der Beichte, vor allem ausgelöst durch das Auftreten großer Beichtväter. Johannes Maria Vianney (1786–1859), der Pfarrer von Ars (in der Nähe von Lyon), ist wohl der bekannteste Beichtvater, den der Katholizismus im 19. Jh. hervorgebracht hat.45 In Ars entstand eine Beichtbewegung, die im Lauf der Zeit auf ganz Frankreich ausstrahlte. Schließlich mussten Sonderzüge eingesetzt werden, um Menschen zur Beichte nach Ars zu bringen. Pfarrer Vianney hörte zwölf bis achtzehn Stunden pro Tag Beichte. Einer der bedeutenden russisch-orthodoxen Beichtväter im 20. Jh. war Igumen Nikon (1894–1963).46 Nikon gehörte in die Tradition des russischen Starzentums (Starez, wörtl. Greis), das durch Dostojewskij und Tolstoj literarisch bekannt wurde.47 Auch heute noch gibt es in Russland Starzen.48 Menschen suchen sie auf, um Rat und Heilung zu erbitten und die Beichte abzulegen. Im Unterschied zur römisch-katholischen Beichtauffassung dominiert im Raum der Orthodoxie ein therapeutisches Beichtverständnis bei gleichzeitiger Ablehnung bzw. zumindest Zurückdrängung juridischer Kategorien.49 Die Beichte kann deshalb als „Heilmittel“, ja als „Brechmittel“ gegen die Sünde bezeichnet werden. Für dieses Verständnis beruft die orthodoxe Theologie sich auf die Alte Kirche und deren Über45

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Originalquellen liegen vor in: Vianney, Jean-Marie, Der heilige Pfarrer von Ars in seinen Gesprächen und Predigten, Nodet, Bernard (Hrsg.), Salzburg 1959; Goldkörner aus den Reden und Katechesen des seligen Johannes Baptista Vianney, Pfarrers von Ars, gesammelt von Leonz Niderberger, Limburg 1916. Vgl.: Nigg, Walter, Der Pfarrer von Ars, mit einem Essay von Heinrich Spaemann, Freiburg, Basel, Wien 1992; weitere größere Biographien sind: de Saint-Pierre, Michel, Der Pfarrer von Ars. Das Leben des Johannes Maria Vianney, 2. Auflage, Freiburg u.a. 1976; Christiani, Louis, Der heilige Pfarrer von Ars. Johannes Maria Vianney. Wie er wirklich war, 8. Auflage, Leutesdorf 1985. Nikon, Igumen, Briefe eines russischen Starzen an seine geistlichen Kinder, mit einem Vorwort von Goritschewa, Tatjana, Freiburg, Basel, Wien 1988. Igumen ist eigentlich der Vorsteher eines Klosters, was Nikon nie gewesen ist. So besitzt die Bezeichnung hier die Bedeutung eines Ehrentitels. So hat Feodor Dostojewskij in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ in der Gestalt Zosimas das Bild eines Starzen gezeichnet. Zosima liegt eine historische Persönlichkeit zugrunde, nämlich Starez Ambrosij (1812–1891), der bekannteste geistliche Vater des Klosters von Optina. Vgl. dazu Kaißling, Maria, Goritschewa, Tatjana, Russisch-orthodoxe Seelsorger/Starzen. In: Möller, Christian (Hrsg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts. Band 3. Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner, Göttingen, Zürich 1996, S. 359–375. Vgl.: Felmy, Karl Christian, Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt 1990, S. 218–223.

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zeugung, dass der Gerechtigkeit Gottes durch das Opfer Jesu Christi am Kreuz ein für allemal genug getan wurde. Aus dem therapeutischen Ansatz der orthodoxen Beichtauffassung ergibt sich die seelsorgerliche Ausrichtung des Bußsakraments. Gleichzeitig wird verständlich, wieso bis heute in den orthodoxen Kirchen die Starzen als Beichtväter besonders geschätzt sind.

8. Ausblick: Eine Renaissance der Beichte heute? Die Situation der Beichte stellt sich heute ambivalent dar. Einerseits lässt sich – mit guten Gründen – ein „Abschied von der Schuld“ in der Gesellschaft, ja selbst in der Kirche, diagnostizieren,50 andererseits ist eine große Sehnsucht nach Aussprache und Entlastung (manche sprechen kritisch von einer regelrechten „Entschuldigungsseuche“51) und eine vorsichtige Renaissance der Beichte zu beobachten.52 So lässt sich am Beispiel der „Daily Talkshows“ zeigen, wie sich das Bedürfnis nach Eingeständnis und Entlastung von Schuld im säkularen Raum der Medien heute wieder Gehör verschafft.53 Ich sehe gute Chancen zu einer Wiedergewinnung der Beichte. Die traditionelle Form der Einzelbeichte vermag durch das mit ihr verbundene Beichtgeheimnis die Intimität des Einzelnen besonders gut zu schützen. Auf dem Weg zu ihrer Erneuerung ist es allerdings notwendig, sie aus einer einseitig juridischen Interpretation zu befreien, denn das Beichtgeschehen beinhaltet unterschiedliche Aspekte: z.B. gemeinschaftliche, therapeutische, exorzistische und sakramentale Dimensionen. Es geht darum, unterschiedliche alte und neue Formen im Raum der christlichen Gemeinde zu fördern und in das öffentliche Gespräch zu bringen. Dazu gehören Formen der Einzelbeichte im Gottesdienst: Die Thomasmesse hat hier viel versprechende Riten entwickelt. Neuere meditative Beichtformen bieten gerade im Hinblick auf Jugendliche und junge Erwachsene die Chance, Beichte im Vollzug kennen zu lernen. Obwohl Papst Pius X. 1910 alle Katholiken zur wöchentlichen Beichte verpflichtete, steckt die Beichte in der römisch-katholischen Kirche seit den 1970er Jahren in einer Krise. Immer weniger Katholiken erfüllen ihre Beichtpflicht. Lösungsversuche von Seiten der Amtskirche wirken reichlich hilflos. Das Apostolische Schreiben „Reconciliatio et paenitentia“ von Johannes Paul II. von 198454 50 51

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Vgl.: Riess, Richard (Hrsg.), Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie von Schuldbewußtsein, Opfer und Versöhnung (Theologische Akzente 1), Stuttgart u.a. 1996. Dahlgrün, Corinna, „Sorry, du, dumm gelaufen!“ Beobachtungen zur Kultur des Beichtrituals. In: Pastoraltheologie 91 (2002), S. 308–321, 308. 52 Darauf deutet hin die vielfach nachgefragte kirchliche Handreichung von Herztsch, KlausPeter, Wie mein Leben wieder hell werden kann. Eine Einladung zur Beichte in der evangelischlutherischen Kirche, hrsg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, Hannover 2002. Vgl.: Zimmerling, Beichte. Gottes vergessenes Angebot (s. Anm. 1), 25–35. Fast zwanzig Jahre später hat der Vatikan gewissermaßen noch einmal nachgelegt mit dem Apostolischen Schreiben „Misericordia Dei. Über einige Aspekte der Feier des Sakramentes der Buße“, herausgegeben als „Motu proprio“ von Johannes Paul II. vom Mai 2002.

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wurde im Anschluss an eine Bischofssynode zum gleichen Thema herausgegeben. Die theologische Deutung der Beichte geschieht darin ganz in den Bahnen traditioneller katholischer Positionen. So wird der sakramentale Charakter und entsprechend die Bedeutung der Rolle des Priesters hervorgehoben. Immer wieder betont das Schreiben, dass die sakramentale Beichte vor einem Priester der einzige „ordentliche“ Weg zur Vergebung darstellt. Als entscheidend für die Erneuerung der Beichte gilt die Pflege des geistlichen Lebens des Priesters, wozu vor allem dessen eigene regelmäßige Inanspruchnahme des Bußsakraments gehört. Auch die Teilaspekte des Bußsakraments werden ganz traditionell bestimmt. Es umfasst Gewissenserforschung, Reue und Bekehrung, Bekenntnis der Sünden, Lossprechung und Werke der Genugtuung. Am Ende werden schließlich zwei aktuelle drängende Problemkreise direkt angesprochen: die Frage nach der Bedeutung der vom 2. Vatikanischen Konzil ermöglichten allgemeinen Buße und der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen bzw. mit in eheähnlichen Verhältnissen lebenden Katholiken. Das Schreiben versucht, die Feier der Buße mit Generalabsolution als absolute Ausnahme zu interpretieren und auf diese Weise zurückzudrängen. Sie sei nur in äußersten Notfällen möglich. Jede schwere Sünde müsse in der persönlichen Beichte bekannt werden, um vergeben werden zu können. Für wiederverheiratete Geschiedene und in eheähnlichen Verhältnissen Lebenden gilt weiterhin uneingeschränkt der Ausschluss von den Sakramenten und damit auch das Verbot, das Bußsakrament zu empfangen. Ausdrücklich wird dabei auf die Inanspruchnahme anderer nicht-sakramentaler Formen der Frömmigkeit verwiesen, wobei der letzte Satz für Betroffene wie eine zynische Vertröstung klingen muss: Eine Veränderung der skizzierten amtskirchlichen Position sei denkbar „in einer Stunde, die nur der göttlichen Vorsehung bekannt ist.“ Es fällt schwer, angesichts eines solchen Papiers an eine Erneuerung der Beichte im Raum der katholischen Kirche zu glauben.

Seelsorge und Beichte Michael Herbst

1. Es war einmal … Als Arnaud de Pallières Kleists Drama „Michael Kohlhaas“ im Jahr 2013 mit Mads Mikkelsen verfilmte, platzierte er an einer zentralen Stelle des Films eine misslungene Beichte.1 Kohlhaas zieht nach dem Tod seiner Frau mit einer marodierenden Meute durch die kahle Landschaft der Cevennen. Er hat gerade einen seiner eigenen Leute wegen Plünderei hängen lassen. Da begegnet ihm ein (namenloser) Theologe (in Kleists Original ist es Martin Luther, den Kohlhaas verehrte) und konfrontiert ihn mit seiner eigenen Selbstgerechtigkeit und mit der unangemessenen Gewalt, die er ausübt. Er fordert von ihm, im Sinne Christi das Unrecht, das ihm widerfuhr, zu ertragen und dem Baron, der seine Pferde misshandelte und seinen Knecht schwer verletzte, zu vergeben. Kohlhaas hört zu, reagiert kaum. Ist er getroffen, zeigt er Einsicht? Als der Theologe weiterziehen will, geht Kohlhaas ihm nach und bittet darum, beichten zu dürfen. Er kniet nieder. Der Theologe fragt ihn: Bist Du bereit dem zu vergeben, der Dir Unrecht tat? Kohlhaas verneint verbissen. Da verweigert ihm der Theologe die Absolution. Kohlhaas geht weiter auf seinem Weg, der ihn am Ende Recht bekommen, aber alles andere verlieren lässt. Es ist auch in seelsorglicher Hinsicht ein Blick ins 16. Jahrhundert: Selbstverständlich weiß der Pferdehändler Kohlhaas von der Beichte. Er weiß, dass er vor Gottes Gericht stehen wird. Er weiß, dass er der Vergebung seiner Schuld bedarf. Er weiß, dass er dazu auf die Knie gehen und Schuld bekennen soll. Er weiß, dass er mit dem befreienden Zuspruch der Vergebung wieder auf die Füße kommen könnte. Zugleich ist die Absolution ein kostbares Gut: Der Theologe verteilt keine „billige Gnade“. Auch wenn für die Reformatoren nicht die vollkommene Qualität des Bekenntnisses (z.B. durch Vollständigkeit der Aufzählung oder Tiefe der Reue) im Zentrum stand, sondern der Zuspruch der Gnade, hieß dies nicht, dass unter allen Umständen Vergebung zugesprochen wurde. Die Bereitschaft des Beichtenden, seinerseits zu vergeben, hängt auf das Engste mit der Möglichkeit zusammen, selbst Vergebung zu erlangen. Umgekehrt wäre es undenkbar, selbst Vergebung zu erfahren und zugleich unversöhnlich dem Nächsten die Vergebung zu verwehren. Die Beichte ist kein Automatismus, sie kann also auch scheitern – und in Kleists Drama wie in de Pallières’ Film misslingt sie. Aber sie hat noch ihren Ort. Davon kann heute kaum noch die Rede sein.

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Vgl.: http://www.textezumfilm.de/sub_detail.php?id=1294 [17. Mai 2015]

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2. Zwei alte Freunde, die sich aus den Augen verloren haben … Seelsorge und Beichte erscheinen heute wie zwei alte Freunde, die früher einmal in enger Verbindung zueinander standen, sich dann aber aus den Augen verloren haben.2 Kaum eine Darstellung der Geschichte der Seelsorge kommt ohne ein Kapitel aus, das ausführlich über den hohen Stellenwert der Beichte in der Vergangenheitsform berichtet. So erwähnt Dietrich Rössler in seinem Grundriss der Praktischen Theologie im Blick auf die Seelsorge im Mittelalter ausschließlich die Beichte.3 Ein Seelsorger ist ein Beichtvater. Beichte als Ohrenbeichte, also als persönliches Bekenntnis vor dem Beichtvater wird erst für die Mönche im klösterlichen Leben, mit dem 4. Laterankonzil (1215) für jeden Christenmenschen verbindlich. Beichte als Seelsorge erscheint dabei in einem herben Gewand: Sie dient nach Rössler der strengen Kontrolle des Lebens, das umfassend nach den Vorgaben religiöser Regeln gestaltet werden soll. Ja, der Beichtiger ist hier eher so etwas wie ein „Untersuchungsrichter“, der jeden Fall betrachtet, analysiert und beurteilt. Martin Luther kritisierte zwar die „Ohrenbeichte“, wollte sie aber keineswegs abschaffen. Er schätzte und übte sie, und er akzentuierte sie neu: Bekenntnis der Sünde (confessio) und Vergebung Gottes (absolutio, einem Menschen in den Mund gelegt) konstituieren die freiwillige Übung der Einzelbeichte – und das Entscheidende ist die zugesprochene Gnade. Freilich blieb davon nicht viel: Schon in der Reformationszeit beginnt der Trend zur Beichte als verpflichtendem Verhör vor dem Abendmahlsgang. Rössler schließt mit dem Hinweis, dass spätestens mit Pietismus und Aufklärung die Einzelbeichte, also das Ensemble von persönlichem Sündenbekenntnis des Beichtenden vor einem Beichtiger mit folgender persönlich zugesprochener Absolution, im evangelischen Raum weitgehend aus dem Blick geriet.4 Es blieb allenfalls die gottesdienstliche Beichte, also beichtverwandte liturgische Stücke wie das Confiteor, die Offene Schuld oder ein gemeinsames Sündenbekenntnis der Gemeinde mit folgender Absolution durch den Liturgen. Aber auch diese beicht-

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4

Vgl. ausführlicher bei Herbst, Michael, beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, 2. Auflage, Neukirchen-Vluyn 2013, S. 367–374. Vgl.: Rössler, Dietrich, Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin, New York 1986, S. 156– 159. Die wichtigsten kirchengeschichtlichen Stationen zählt auch auf: Dahlgrün, Corinna, Die Beichte als christliche Kultur der Auseinandersetzung mit sich selbst coram Deo. In: Engemann, Wilfried (Hrsg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2007, S. 494–501. Die Kritik an der (als veräußerlicht bewerteten) Beichtpraxis in den lutherischen Kirchen (im Wesentlichen als Abendmahlsverhör mit Zahlung eines „Beichtpfennigs“) geht bis ins 17. Jahrhundert zurück. „Der offensichtliche Verfall der Privatbeichte beginnt nach dem Dreißigjährigen Krieg. Massive innerkirchliche Kritik setzt ein.“ Siehe Obst, Helmut, Beichte IV, Neuzeit. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 5, Berlin, New York 1980, S. 426. Oder: „Um 1900 war die traditionelle Form der Privatbeichte nur noch in wenigen Gemeinden lebendig.“ Siehe a.a.O., 427.

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verwandten liturgischen Stücke sind, wenn man die gängige gottesdienstliche Praxis betrachtet, eher auf dem Rückzug. Eine Theologiestudentin zeigt sich im Seminar sehr überrascht, dass Sünde/Beichte ein Thema der gegenwärtigen Praktischen Theologie sei. Sie meint, sie hätte schon lange keine Predigt mehr gehört, in der es um „Sünde“ gegangen sei. Und ihre Oma, die sehr kirchlich sei, sei völlig überrascht gewesen, dass es in der evangelischen Kirche auch so etwas wie die Beichte gegeben habe. Einzelne Versuche der Belebung hat es immer wieder gegeben. „Seit dem 19. Jahrhundert sind immer wieder Versuche unternommen worden, die Privatbeichte erneut in der kirchlichen Praxis zu verankern, doch blieb der Erfolg auf kleine Kreise beschränkt.“5 Die Erweckungsbewegungen etwa waren auch Beichtbewegungen. Das Neuluthertum suchte Anschluss an die Praxis des Reformators und empfahl die Einzelbeichte.6 Berühmt ist Dietrich Bonhoeffers Werbung für die brüderliche Beichte in den Predigerseminaren der Bekennenden Kirche.7 Und dann und wann gab es Bemühungen um die Beichte auch in jüngerer Zeit, etwa auf Kirchentagen, in missionarischen Bewegungen oder in den Publikationen einzelner Theologen, die oft aus persönlicher Erfahrung und seelsorglicher Haltung für eine Wiederentdeckung der Einzelbeichte plädierten.8 Insbesondere Corinna Dahlgrün9 und Peter Zimmerling10 haben wiederholt mit ihren Publikationen die Beichte nicht nur thematisiert, sondern auch empfohlen. Peter Zimmerlings jüngste Publikation fasst aber schon im Untertitel die realistische Einschätzung des Autors zusammen: „Gottes vergessenes Angebot“. Heute muss man wohl konstatieren: Die Beichte hat, jedenfalls im Protestantismus, ihren Ort nur noch an den Rändern, in evangelischen Kommunitäten oder in geistlichen Gemeinschaften wie dem Marburger Kreis, in Teilen der charismatischen Erneuerungsbewegung sowie einzelnen, durch eine kontinuierliche Präsentation und Praxis geprägten Kirchengemeinden. Gelegentlich kann man Nachrichten lesen wie diese: Die pommersche Kirchengemeinde Gingst auf Rügen hat 2014 mit Hilfe der Bugenhagen-Stiftung einen ihrer beiden Beichtstühle aus schwedischer Zeit (1730) wieder hergerichtet und der Gemeindepfarrer bietet eine monat-

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Dahlgrün, Beichte (s. Anm. 3), 500. Vgl. a.a.O. Vgl.: Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel (DBW 5), München 2002. Vgl.: Mezger, Manfred, Artikel Beichte V, Praktisch-theologisch. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 5, Berlin, New York 1980, S. 434. Vgl.: Dahlgrün, Corinna, „Sorry, Du, dumm gelaufen.“ Beobachtungen zur Kultur des Beichtrituals. In: Pastoraltheologie 91 (2002), S. 308–321. Dies., Beichte (s. Anm. 3), 493–507. Vgl.: Zimmerling, Peter, Studienbuch Beichte, Göttingen 2009. Ders., Beichte. Gottes vergessenes Angebot, Leipzig 2014.

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liche Beichtzeit an.11 Aufs Ganze gesehen aber ist sie ein Randphänomen der evangelischen Seelsorge, und das schon seit langem. Und auch in der katholischen Kirche ist seit langem ein starker Rückgang zu registrieren, auf den schon Manfred Mezger 1980 hinwies: „Fest steht, dass die Zahl der Beichtenden, in der katholischen Kirche auch bei der österlichen Pflichtbeichte, rückläufig ist.“12 Sieht man nämlich als nächstes auf die gängigen Lehrbücher und großen Konzeptionen der Seelsorge, so stößt man zwar noch auf die Einzelbeichte, aber mit einer gewissen Verlegenheit und Ratlosigkeit: (1.) Versteht man Seelsorge wie Martin Nicol als ein Gespräch über existenzielle Fragen im Horizont des christlichen Glaubens, so wird kaum je die Beichte als eine mögliche Konkretion eines solchen Gespräches erwähnt.13 (2.) Jürgen Ziemer spricht darum von der Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Beichte vielleicht (!) wieder aus „ihrem gegenwärtigen Winkeldasein“ herauskommen könne.14 (3.) Gar nicht verlegen, sondern entschieden äußert sich Joachim Scharfenberg, der jede Wiederbelebung der Beichtpraxis für eine „romantisch-pathetische Forderung ohne jeden Wirklichkeitsgehalt“ hält.15 Viele Beichtgespräche seien zum Scheitern verurteilt, weil der Zuspruch der Vergebung nicht das eigentliche, tiefere Problem löse: nämlich die unbewältigten, verdrängten traumatischen Szenen eines Lebens. Ihnen komme man durch psychotherapeutische Bearbeitung und gerade nicht durch rituellen Zuspruch bei. (4.) Beichte als Einzelbeichte erscheint häufig vorwiegend in einer historischen Perspektive.16 Christoph Morgenthaler etwa beschreibt beim aktuellen Thema „Schuld und Vergebung“ eine Verschiebung: „Heilung der Schuldgefühle bringt nicht zuerst der liturgisch abgestützte Zuspruch, sondern Heilung (und Heil) geschieht in einer tragenden Beziehung, die durchgehalten wird und in welcher Themen zur Sprache kommen können, die schuldbesetzt sind, und die Menschen umtreiben, sogar wenn objektiv keine Schuld vorliegen sollte.“17 Kurzum: Die Entwicklung führt „von der Beichte zur Heilung als Sprachgeschehen“18, auch wenn Morgenthaler später ergänzt, die rituelle Gestalt der 11 12 13 14 15 16 17 18

Vgl.: Senkbeil, Christine, Zur Beichte bitte. In: Mecklenburgische & Pommersche Kirchenzeitung 69 (2014), Nr. 21 (25. Mai 2014), S. 5. Mezger, Beichte (s. Anm. 8), 431. Vgl. zu dieser Definition von Seelsorge: Nicol, Martin, Gespräch als Seelsorge. Theologische Fragmente zu einer Kultur des Gesprächs, Göttingen 1990, S. 162. Vgl.: Ziemer, Jürgen, Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen 2000, S. 236. Scharfenberg, Joachim, Seelsorge und Beichte heute (1972). In: Zimmerling, Studienbuch (s. Anm. 10), S. 118–126, 121. So etwa bei z.B. Morgenthaler, Christoph, Seelsorge (Lehrbuch Praktische Theologie, Band 3), Gütersloh 2009, S. 37f. A.a.O., 108. A.a.O., 107.

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Beichte könne im Kontext dieses „Sprachgeschehens“ auch wieder zur seelsorglichen Ressource werden.19 Aber im Vordergrund stehe sie gewiss nicht mehr. (5.) Die Wiederentdeckung für die Seelsorge hält auch Manfred Josuttis für ein wenig aussichtsreiches Unternehmen: „Eine Erneuerung der Beichte ist in einer solchen Situation wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt.“20 (6.) Als ein wesentliches Medium christlicher Seelsorge ist die Beichte also nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Theorie weitgehend aus dem Blick geraten. Natürlich gehören Fragen von Schuld und Vergebung zu den Grundthemen christlicher Seelsorge. Aber die Bewältigung der Schuld wird eher selten von der Beichte her erhofft, auch wenn einzelne Praktische Theologen wie Michael Klessmann gerade den rituellen Charakter der Beichte schätzen.21 Aus nächster Nähe von Seelsorge und Beichte ist also eine gewisse Entfremdung geworden, ein Verhältnis auf Distanz, das auch durch regelmäßig wiederholte Bemühungen um Auffrischung der ehemals nahen Beziehung nicht zu alter Vertrautheit zurückgefunden hat.

3. Oder hat die Beichte nur den Standort gewechselt? Mit mehr oder weniger großer Sympathie wird gelegentlich auf die „Auswanderung“ der Beichte in säkulare, oft medial präsentierte Selbstbezichtigungen verwiesen.22 Der Beichtstuhl werde zwar seltener aufgesucht, er sei aber aufs Neue in den Fernsehstudios aufgestellt worden, nicht zuletzt in den NachmittagsTalkshows der privaten Fernsehsender. Oder: Der evangelische Pfarrer sei zwar nicht mehr der gesuchte Gesprächspartner, in dessen Studierzimmer oder Sakristei persönliches Versagen gebeichtet werde, dafür diene nun aber das Internet als (freilich mit nahezu ewigem Gedächtnis begabtes) Gegenüber der Konfessionen. In der Tat finden sich hier Konfessionen: Menschen bekennen sich zu dem, was sie taten. Es sind zuweilen sogar extrem offenherzige Bekenntnisse, auf die man dort stößt. Aber es ist doch wichtig, sich hier nicht zu früh mit einer Auswanderung der Beichte in säkulare Nachfolge-Instanzen zufrieden zu geben. Zum einen ist das, was wir hier vorfinden, Konfession ohne Absolution. Und zum anderen darf bei den bekanntesten Formen der medialen Selbstbezichtigung davon ausgegangen werden, dass die Betreiber der einschlägigen Homepages wie deren (in vielen Tausenden zählenden) Nutzer sehr genau wissen, dass es nicht allzu ernst zugeht.

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Vgl.: a.a.O., 110. Josuttis, Manfred, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000, S. 189. Vgl.: Klessmann, Michael, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, 2. Auflage, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 243. So z.B. Dahlgrün, Sorry (s. Anm. 9), 309f.

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Dabei sind es gar nicht so wenige Anbieter, die zur digitalen Beichte einladen. Natürlich verzichten z.B. die Nutzer von facebook keineswegs auf diese Möglichkeit. Unter https://de-de.facebook.com/ConfessionsBeichte kann man die eigenen Vergehen posten. Eine reale Beichte ohne Priester, aber mit Vaterunser, Avemaria und Rosenkranz bietet als App http://www.beichte.de/app.php für € 1,79 an und kommt damit der traditionellen Beichte noch am nächsten. Zu den „Marktführern“ gehört aber sicher www.beichthaus.com. Dort geht es um möglichst originelle Beichten, die dann auch in einem Ranking platziert werden. Da kann man auch des „Geistes“ dieser Seiten ansichtig werden, wenn es z.B. heißt: „Fremdgehen tut weh, produziert aber auch die aufregendsten Geschichten – und die gibt’s im Beichthaus.“23 Die „besten“ dieser Geschichten wurden dann inzwischen auch als Buch veröffentlicht.24 Gehört zur Beichte Vertraulichkeit und Verschwiegenheit, so wird hier genau das Gegenteil zelebriert (auch wenn die Namen erfunden sind oder das Posting anonym erfolgt). Ob die Beichten sich überhaupt auf reale Geschehnisse beziehen oder nur mediales Prahlen durch frei erfundene „Großtaten“ darstellen, muss wohl offen bleiben. Ganz ähnlich sieht es (bis hin zu „Top Neuaufsteigern“) bei www.onlinebeichte.net aus. Will man es vornehm ausdrücken, könnte man von einer postmodernen Ironisierung sprechen. Nicht ganz so vornehm ausgedrückt, begegnet besonders in den häufigen freizügigen sexuellen „Beichten“ eine Art pubertärer Stolz auf das, was man angerichtet hat, ein Drang zur öffentlichen Selbstdarstellung von Potenz und Lust. Auch wenn es nicht um Sexualität geht, dominiert doch ein augenzwinkerndes „gut gemacht“: „Ich war Telefonjoker bei ‚Wer wird Millionär’ und habe absichtlich falsch geantwortet!“25 Gehört zur Beichte so etwas wie Bedauern oder Reue, so wird man dies hier kaum finden. Von der „Betreiberseite“ her geht es unverhohlen um: Unterhaltung! Religiöse Absichten wird man bei ihnen in der Regel vergeblich suchen. Im Gegenteil, bei www.beichtstuhl-online.de warnen zwei virtuelle Mönche diejenigen User, die mit einer ernsten Beichte online gehen: „Hast du nicht mitbekommen, dass das hier eine reine Spaßveranstaltung ist???“ In seelsorglicher Perspektive ist hier kaum etwas zu gewinnen. Weder bildet sich eine Brücke zur kirchlichen Beichte noch ist das, was wir hier finden, aufs Ganze gesehen eine säkulare Schuldbewältigung. Die beschriebenen Phänomene zeigen eher den weitgehenden Verlust der Beichte an als deren Übersiedlung in neue Gefilde.

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Vgl. http://www.beichthaus.com/index.php?h=index [17. Mai 2015] Vgl.: Neuendorf, Robert, Ich war Telefonjoker bei „Wer wird Millionär“ und habe absichtlich falsch geantwortet: und andere großartige Beichten …, München 2012. Vgl.: a.a.O.

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4. Zwischenfazit Sollte man also einräumen: In der Vergangenheit gab es Menschen, die ihre Schuld vor anderen Menschen offen aussprachen, weil sie diese bereuten und Vergebung suchten? In der Vergangenheit gab es Menschen, die solche Bekenntnisse hörten und in der Regel im Auftrag Gottes auch Vergebung zusprachen? In der Vergangenheit gab es das, aber heute ist es nur noch eine verborgene religiöse Übung weniger hochreligiöser Menschen? Und wird man dann auch sagen müssen, dass sich daran auch nichts mehr grundlegend ändern wird? Andererseits fällt auch die Hartnäckigkeit auf, mit der sich die Beichte doch immer wieder zu Worte meldet. Sie ist so oft totgesagt worden, dass man nur staunen kann, dass immer wieder Menschen von ihrer wohltuenden Wirkung berichten und sie eifrig empfehlen. Auch werden nach wie vor in schmalem, aber stetem Strom theologische Texte produziert, die von der Bedeutung der Beichte in allen ihren Formen überzeugt sind. Also verschwindet die Beichte nicht, sie bleibt, wenn auch nur als ein Geheimtipp der Seelsorge. Ob sie damit wie ein Innovationskeimling26 in einer Nische wartet, bis ihre Zeit kommt und sie (wieder) allgemeine Aufmerksamkeit findet, oder ob sie bleibt, was sie ist, nämlich ein wertvolles, aber vielen verborgenes Remedium gegen große Not, das lässt sich schwer einschätzen. Als Geheimtipp in der Seelsorge lassen sich zahlreiche Szenarien entfalten, die die Potenziale der Beichte und deren angemessene Praxis in seelsorglichen Beziehungen demonstrieren können.

5. Beichte als Geheimtipp der Seelsorge 5.1 Johannas Erfahrung im Studium Johanna27 kommt aus der kirchlichen Jugendarbeit, in der sie einen intensiven Bezug zum christlichen Glauben gewonnen hat. Sie entschließt sich, Theologie zu studieren. Im Laufe ihres Studiums geraten manche Überzeugungen ins Wanken, manches wird aufs Neue, manches auf andere Weise gewiss. Im Gemeindepraktikum lernt sie ein Pfarrersehepaar kennen, das regelmäßig in der Sakristei seelsorgliche Gespräche und auch die Einzelbeichte anbietet. Johanna fühlt sich während des Praktikums sehr wohl im Pfarrhaus und fasst Vertrauen zu ihrer Mentorin. Gegen Ende der sechs Wochen traut sie sich zu fragen: „Was tut Ihr da eigentlich?“ Die Pfarrerin erzählt, wie schwer es manchem falle, von eigenem Versagen zu reden, wie erleichtert und froh die meisten aber nach der Beichte nach Hause 26

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Vgl. zu diesem Begriff: Fleßa, Steffen, Innovative Theologie – Theologie der Innovation. In: Bartels, Matthias, Reppenhagen, Martin (Hrsg.), Gemeindepflanzung – ein Modell für die Kirche der Zukunft?, Neukirchen-Vluyn 2006, S. 154–183, bes. 158–164. Alle Namen und Geschichten in diesem Beitrag (bis auf die Passage über Uli Hoeneß) sind frei erfunden.

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gingen. Die Beichte, so sagt sie, sei aber nichts Dunkles, nichts, das uns in die Tiefe zieht, im Gegenteil, sie mache frei und mutig, das Leben neu in Angriff zu nehmen. Johanna fragt, ob sie denn auch… „Natürlich“, entgegnet die Pfarrerin. Sie verabreden sich für den nächsten Tag in der Sakristei. Johanna macht einen langen Spaziergang. Da ist so vieles ungeklärt, eine zerbrochene Beziehung zur ehemals besten Freundin, eine Unehrlichkeit bei den Abiturprüfungen, ein Kommilitone, den sie im Stich gelassen hat, als er sie gebraucht hätte. Johanna schreibt alles auf. Am nächsten Tag geht sie mit etwas mulmigem Gefühl zum ersten Mal zur Beichte. Aber bald ist alle Sorge verflogen. Die Pfarrerin hört zu, fragt nach, sorgt für eine gute Atmosphäre. Am Ende beten sie und die Mentorin legt ihr die Hände auf und spricht ihr Gottes Vergebung zu. Johanna spürt eine große Ruhe und Freude – wie noch nie zuvor in ihrem Leben als Christin. Eine Erneuerung der Beichte in der Praxis gemeindlicher Seelsorge wird kaum ohne Seelsorgerinnen und Seelsorger gelingen, die selbst (gute) Erfahrungen mit Seelsorge und Beichte gemacht haben. Zu Recht wird seit längerem in der Reflexion über das Theologiestudium auf bestimmte Defizite aufmerksam gemacht. Theologische Kompetenz als zentrales Ziel der theologischen Ausbildung muss im Blick auf die spätere pastorale Verantwortung einen stärkeren Praxisbezug haben. Sie muss auch zu einer persönlich angeeigneten Gestalt geistlichen Lebens anregen. Und sie muss jungen Theologinnen und Theologen auch Erfahrungsräume anbieten, die sie eben häufig nicht schon in Kindheit und Jugend, in Familie und Gemeinde kennen lernen konnten.28 Dazu gehört auch die Erfahrung, selbst Seelsorge wahrnehmen zu dürfen, einschließlich der Beichte. Dafür eignen sich vor allem Mentorinnen und Mentoren, die wiederum selbst entsprechende Übung mitbringen. Mancherorts wird auch die Beichte angeboten, wenn sich junge Pastorinnen und Pastoren auf Ordinandenrüsten auf die Ordination vorbereiten. In der Regel „funktioniert“ es auch so: Wer selbst nicht die Beichte übt, wird kaum gefragt werden, die Beichte zu hören. Und wer sie selbst nicht kennen gelernt hat, wird sie in einem seelsorglichen Kontakt auch kaum vorschlagen können. Die pure Kenntnis einer kirchlichen Übung, die vor Jahrhunderten im Schwange war, ersetzt nicht die eigene Erfahrung, wie schwer und wie wohltuend zugleich der Gang zur Beichte ist. Hier ist so etwas wie das Nadelöhr, durch das jede erneuerte Praxis der Beichte hindurch muss. Jürgen Ziemer kann diesen Aspekt ein gutes Stück über die Beichtthematik hinaus plausibilisieren, wenn er schreibt: „Vor allem dann ist es schwer, ja schier unmöglich davon zu reden, wenn der Seelsorger selbst eigentlich gar nichts von dem, was Schuld ist, wirklich weiß oder nichts wissen will. … Es ist wichtig, in den Abgrund geschaut zu haben und der eigenen Ignoranz und Selbstgerechtigkeit, der eigenen Selbstsucht und Gottlosigkeit gewahr worden zu sein. Der Seelsorger 28

Vgl. z.B. Grethlein, Christian, Pfarrer – ein theologischer Beruf, Frankfurt a. M. 2009, S. 115f.

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muss nicht die gleichen Schulderfahrungen gemacht haben wie seine Gesprächspartner. Das wäre eine absurde Forderung. Aber wirklich zu wissen, was Schuld ist, das ist eine Voraussetzung, erst sie macht barmherzig und hörbereit.“29 Freilich soll damit nicht aufs Neue die seelsorgliche Praxis nur auf Pfarrerinnen und Pfarrer reduziert werden.30 Die Praxis der Beichte lebt auch, wo es sie überhaupt noch gibt, durch Ehrenamtliche, die sie als hilfreich erlebt haben und nun ihre Erfahrung weitergeben. Gleichwohl ist es sicher eine Schlüsselaufgabe von Pfarrerinnen und Pfarrern, Seelsorge zu üben – und damit auch um die Beichte und ihre Praxis zu wissen. Dann kann die Beichte bekannt gemacht werden. Wer um sie in diesem Sinne persönlicher Aneignung weiß, wird eher einmal in der Predigt von der Beichte reden, Konfirmanden die Beichte nahebringen, regelmäßige Beichtangebote in der Sakristei machen oder im Zuge eines seelsorglichen Gesprächs die Beichte anbieten, wenn sich dieses Gespräch in eine Richtung hin entwickelt, die nach Befreiung von Schuld rufen lässt. Johanna jedenfalls wird ihre Erfahrung aus dem Praktikum mitnehmen und in ihr Leben und ihren Dienst integrieren können. 5.2 Davids ausgefallene Beichte David ist wegen einer Weiterbildung bei einem großen Logistikkonzern vor einiger Zeit von zu Hause ausgezogen. Er lebt nun 300 Kilometer von seinem Heimatort entfernt und kommt höchstens monatlich zurück, um seine Mutter zu besuchen. Mutter und Sohn hatten 15 Jahre lang allein in einem kleinen Haus am Rand einer Siedlung gelebt. Der Vater war früh verstorben und Geschwister gab es nicht. Der „kleine David“ hatte früh eine wichtige Rolle übernehmen müssen, in vielem war er Ersatz für den „Mann im Haus“. Manche Krankheit der Mutter verlangte einen besonderen Einsatz des Heranwachsenden. Die Mutter umsorgte ihn ihrerseits und versuchte, ihm alles zu ermöglichen, was er sich wünschte. Den Führerschein, den Tauchurlaub in Thailand, das erste Auto. Sie wünschte sich aber auch etwas, nämlich dass David nach der Lehre eine Berufstätigkeit vor Ort wählen möge, bei der Stadtverwaltung oder bei einem der ortsansässigen Unternehmen. Sie würde weiter für ihn sorgen, und er solle doch bedenken, dass sie ja niemanden mehr habe, wenn er jetzt „auch noch“ gehe. David war lange hin- und hergerissen, aber dann entschied er sich doch für das spannende Angebot der großen Firma in der Ferne. Seither war es schwierig mit der Mutter. Sie ließ ihn spüren, wie sehr sie enttäuscht war. Noch öfter als früher war sie nun krank und beschwerte sich, dass sie allein mit dem Haus und dem Garten nicht klarkäme. Immer wenn er nach einem Besuch bei der Mutter wieder heimfuhr (heim?), klagte sie am Tag danach über Migräne. David geht das sehr nah. War seine Wahl 29 30

Ziemer, Seelsorgelehre (s. Anm. 14), 232. Vgl.: Hauschildt, Eberhard, Auf dem Weg zu einer Praktischen Theologie der EhrenamtlichenSeelsorge. Eine Skizze. In: Pastoraltheologie 99 (2010), S. 116–136.

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falsch? Hat er sich schuldig gemacht? In der Großstadt hatte er durch einen netten Kollegen Kontakt zur Kirchengemeinde gefunden. Als der Pfarrer in der Predigt über Vergebung und über die Beichte sprach, entschloss sich David, das Gespräch mit dem Pfarrer zu suchen. Ob er wohl seine Beichte hören würde, fragte er. Der Pfarrer ließ ihn berichten – ausführlich. Er fragte nach, und dann sagte er: „Wissen Sie, das ist kein Fall für die Beichte. Lassen Sie uns noch einmal über Ihre familiäre Situation nachdenken …“. Wie jemand Schuld empfindet, ist geprägt durch Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hat. Daraus kann sich eine gesunde, erwachsene und adäquate oder eine ungesunde, nicht-erwachsene und unangemessene Art des Umgangs mit Schuld ergeben. Bei manchem ist nach einer strengen Erziehung das eigene Gewisse „überernährt“, bei manchem ist es nach einer gewissen Vernachlässigung auch „unterernährt“. Die Vorbereitung auf eine Beichte kann helfen, „Pegelstände“ auszugleichen, in dem Schuld unterschieden wird von unangemessenen Schuldfantasien, zugleich aber auch Schuld ernst genommen wird als gefährlicher Bruch im Beziehungssystem eines Menschen.31 In Davids Familiensystem entwickelte sich eine starke Bindung zwischen Mutter und Sohn. Dabei wurde David „parentifiziert“32, er musste früh in die Rolle des Vaters schlüpfen und in mancher Hinsicht den Partner für die Mutter ersetzen. Jetzt hat er sich weitgehend aus dieser Rolle gelöst, aber er empfindet Schuld, dass er seiner Mutter jetzt nicht mehr so nah ist wie früher. Das Gefühl, schuldig geworden zu sein, ist zunächst neutral. Es kann auf eine reale Schuld bezogen sein, dann ist es der Reflex des Gewissens auf eine anerkannte Norm. Das Gefühl kann aber auch bei fantasierter Schuld entstehen. „Schuldfantasie entwickelt sich im Gegensatz zur Schuld unabhängig von einer normgebenden Instanz bei unsicheren und im Selbstwertgefühl beeinträchtigten Menschen.“33 Matthias Hirsch zählt das „Trennungsschuldgefühl“ zu den Schuldfantasien, die der Entfaltung des Lebens im Wege stehen können.34 Die Herauslösung aus der Herkunftsfamilie, besonders wenn es zuvor zu solchen „Parentifizierungen“ gekommen ist, erzeugt starke, aber letztlich unangemessene Schuldgefühle. „Gerade bei verwitweten Elternteilen kann nun der Eindruck des Verlassenseins dazu führen, dem erwachsen gewordenen Kind ein schlechtes Gewissen zu machen, weil es nun fröhlich sein eigenes Leben lebt, sich aber viel zu wenig z.B. um die zurückgebliebene Mutter kümmert.“35

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Vgl.: Herbst, beziehungsweise (s. Anm. 2), 356f. Vgl.: Morgenthaler, Christoph, Systemische Seelsorge, 4. Auflage, Stuttgart 2005, S. 59.103f. Lemke, Helga, Seelsorgerliche Gesprächsführung. Gespräche über Glauben, Schuld und Leiden, Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 100. Vgl.: Hirsch, Matthias, Schuld und Schuldgefühl, 2. Auflage, Göttingen 1999, S. 75f. Herbst, beziehungsweise (s. Anm. 2), 358f.

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Solche Menschen kommen in die Seelsorge mit ihrem übermäßig gut ausgeprägten „Appell-Ohr“.36 Sie stellen das eigene Leben hintenan und empfinden Schuld, wenn sie das einmal nicht getan haben. Oftmals wird diese Weltsicht durch christliche Normen eher verschärft. Die Beichte wäre in diesem Fall eine massive Verstärkung dieser Problematik. Sie würde David ja darin bestärken, dass seine Entscheidung schuldhaft war und nicht etwa der überfällige Schritt hinaus in die Welt zur eigenen Reifung als erwachsener Mensch. Das Denksystem, das David entwickelt hat, würde noch einmal bestätigt und stabilisiert. Geholfen wäre damit niemandem. David nicht, der es weiterhin schwer hätte, unabhängig von der Zustimmung der Mutter sein Lebenshaus zu bauen, der Mutter aber auch nicht, weil es für sie weiterhin keinen Anlass gäbe, sich nach dem Auszug des Sohnes selbst neu zu orientieren und zu organisieren und ein neues, gutes Verhältnis zum erwachsenen Sohn anzustreben. Darum muss behutsam, aber klar, über diese symbiotische Beziehung gesprochen werden. David braucht Ermutigung, sein Leben zu leben und dabei wieder ein gutes Verhältnis zur Mutter auf Abstand aufzubauen. Seelsorge, die Beichte wieder neu integrieren will, braucht also neben der Kenntnis der Beichte auch eine gute, psychologisch geschulte „Unterscheidungsfähigkeit“37. Dabei geht es auch um die Frage: Woran bin ich nicht schuld? Wo wird Unmögliches von mir verlangt, oder werden mir Normen zugemutet, die über das, was Gott will, weit hinausreichen und in den Grenzen meiner Möglichkeiten nicht zu erfüllen wären? Und wo muss ich erkennen und eingestehen, dass ich hinter dem, was Gott tatsächlich von mir will, zurückgeblieben bin? Vielleicht kommt es dann gar nicht zur Beichte, oder die Beichte wird auf bestimmte Aspekte fokussiert und damit „definiert“, also begrenzt. Vielleicht gibt es also noch andere Gründe als bei Michael Kohlhaas, dass eine Beichte ausfällt – allerdings würde man hier seelsorglich keineswegs vom Misslingen der Beichte sprechen. 5.3 Esthers sinnvoll verzögerte Beichte Esther hat erhebliche Probleme. Nach einer gescheiterten Beziehung lebt sie allein in ihrer Wohnung. Sie „erwischt“ sich immer wieder dabei, in Gedanken Streitsituationen mit ihrem ehemaligen Lebenspartner nachzuspielen – und sich dabei immer mehr in wütende Anklagen zu steigern. Manchmal, vor allem in den vielen schlaflosen Nächten, kommt noch etwas anderes in ihren Sinn: ihr eigener Anteil am Zerbrechen dieser Liebe. Aber sie übertönt diese leisere Stimme in sich selbst mit harten Hinweisen auf das schwierige und untragbare Verhalten ihres Ex. Eine Zeit lang funktioniert das – ähnlich wie bei Friedrich Nietzsches Diktum: „,Das 36

37

Der Begriff stammt aus der Kommunikationspsychologie von Schulz von Thun, Friedemann, Miteinander reden. Störungen und Klärungen (Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Band 1), Reinbek 1992. Morgenthaler, Seelsorge (s. Anm. 16), 109.

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habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“38 Esther gehört zu einem Hauskreis in ihrer Gemeinde, der von einem älteren Ehepaar geleitet wird. Sie ist dankbar, dass die Menschen in ihrem Hauskreis mitfühlend und ohne Verurteilung auf ihre Trennung reagiert haben und „normal“ mit ihr umgehen. Sie vertraut sich der Leiterin eines Tages an. Gemeinsam besprechen sie die partnerschaftlichen Teufelskreise. Hier kann Esther besser sortieren als in ihren inneren nächtlichen Debatten, was ihr Anteil war und wo sie zum Opfer wurde. Sie sieht auch allmählich, dass es auch ihr eigenes Versagen ist, das ihr so schwer auf der Seele liegt. Sie kann die Weggabelungen betrachten und betrauern, an denen sie sich gegen das entschieden hat, was zu konstruktiven Klärungen hätte führen können und der Liebe eine neue Chance gegeben hätte. Die Seelsorgerin erzählt ihr von der Beichte, was Esther zunächst befremdet. Ist das nicht katholisch? Dann aber findet sie, es wäre doch eine gute Sache, die Dinge auszusprechen und hinter sich zu lassen. Die Seelsorgerin stimmt zu, meint aber, sie solle sich Zeit damit lassen. Sie solle warten, bis sie bereit sei, und bis ihre Gefühle mit ihrer Einsicht mitgekommen wären. Monate später kommt es zu einem Beichtgespräch. Es war ein langer Weg. Esther steht zu ihrem Anteil am Zerbrechen der langjährigen Beziehung; auch hat sie erkannt, dass sie ihrerseits nicht frei wird, wenn sie dem ehemaligen Partner die Schuld „nachträgt“. Sie sucht Vergebung und gewährt Vergebung. Das wäre nicht möglich gewesen gleichsam „am Zorn vorbei“, aber es ist jetzt möglich, denn sie ist „durch den Zorn hindurch“.39 Jetzt ist es der „Kairos“ für das Beichtgespräch. Danach geht es Esther spürbar besser, auch wenn die inneren Gefechte immer wieder einmal aufflammen. Sie weiß, dass sie nicht einfach wieder „dieselbe wie vorher“ ist. Es ist auch nach der Beichte für die eigene Seele nicht so, als wäre nichts geschehen. Die Wunde heilt, aber eine Narbe bleibt. Nur muss sie das Alte nicht mehr hindern, das Leben neu in Angriff zu nehmen, freilich mit dieser Erfahrung von Schuld und Vergebung. An diesem Beispiel ist zunächst zu bemerken, dass es keine Pastorin ist, sondern eine erfahrene ehrenamtliche Mitarbeiterin, die seelsorglich begleitet und die Beichte hört. Es gibt keinen Grund, die Beichte auf ordnungsgemäß Berufene (also Ordinierte) zu beschränken. Ebenso beachtlich ist der lange Weg vom ersten seelsorglichen Kontakt bis zum Beichtgespräch. Zwar wächst hier das Angebot der Beichte aus einem seelsorglichen Gespräch heraus (wie es wohl häufig der Fall ist), aber dieses Angebot wird mit Verzögerung in Anspruch genommen. Und diese Verzögerung erweist sich als sinnvoll. Käme die Beichte zu früh, so würde der notwendige innere Prozess abgebrochen, der zur Schuldeinsicht gehört. Es braucht „Einsicht in die 38 39

Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse. Zitiert bei Klessmann, Michael, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, 4. Auflage, Neukirchen-Vluyn 2009, S. 617. So beschreibt es Alice Miller. Zitiert bei Klessmann, Pastoralpsychologie (s. Anm. 38), 619.

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Schuld und Auseinandersetzung mit ihr“.40 Rituale haben eine potenzielle Schwäche, wenn sie diesen „schmerzhaften und schwierigen Prozess“41 abkürzen, weil z.B. in der gottesdienstlichen Beichte ohne eine Zeit der Stille und Besinnung auf das Sündenbekenntnis der Freispruch folgt. Der Sinn der „contritio cordis“, also der „Schmerz der Sünde“ (Martin Luther)42, kommt so nicht zur Entfaltung. Das mag für die Gültigkeit der Vergebung bedeutungslos sein, nicht aber für den seelischen Versöhnungsprozess. Michael Klessmann bringt diesen Aspekt einer neuen Integration der rituellen Beichte in die Seelsorge treffend auf den Punkt: „Das Verschwinden der Beichte im Protestantismus hat m.E. mit dieser Einsicht zu tun: Eigene Schuld in einem einmaligen Akt zu bekennen und sie dann rituell als vergeben deklariert zu bekommen, kann m.E. aus psychologischen Gründen häufig nicht mehr glücken: Ich kann es nicht glauben, dass mir schon wirklich vergeben sein sollte. Erst die Schwere oder Härte der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld bereitet darauf vor, nun auch Vergebung wirklich anzunehmen. Nicht zufällig sprechen Psychologen in diesem Zusammenhang auch von Schuld- und Vergebungs- bzw. Versöhnungsarbeit.“43 5.4 Maik lernt in der Beichte „ich“ zu sagen Maik ist ein 22jähriger junger Mann, der über verschlungene Wege und Umwege zu einer lebendigen christlichen Gemeinde fand und hier auch nach einiger Zeit getauft wurde. Maik hat das hinter sich, was man wohl nur eine schwierige Kindheit nennen kann. Er hat keinen Schulabschluss und lebt im betreuten Wohnen. Der Kontakt zur Mutter ist kompliziert. Eines Abends erzählt Maik, dass er der Mutter € 1.000 gestohlen hat und erwischt wurde. Sozialstunden muss er jetzt leisten. Maiks Darstellung schwankt zwischen Stolz auf seine „Chuzpe“ und Scham – über das Erwischtwerden. Auch habe er das Geld doch gebraucht! Der Jugendmitarbeiter, der ihn ein wenig betreut, fasst sich ein Herz und spricht mit einfachen Worten von Schuld, vom Bruch des Vertrauens und der Beziehung. Das Gespräch ist nicht lang, aber irgendwann dämmert es Maik, und er sagt es auch: „Da habe ich wohl Mist gebaut, das war wohl nix!“ „Nein, das war nichts“, bekräftigt der Mitarbeiter und dann sagt er zu Maik, wie gut es ist, dass er nun dazu stehe. Wie ein Erwachsener eben! Das leuchtet Maik ein. Aber, so der Mitarbeiter, es gebe einen Ort, wo Maik das alles niederlegen könne: „Du musst das nicht mit Dir herumschleppen.“ Er benutzt nicht das Wort Beichte. Aber er geht mit Maik in den Kirchraum. Dort sagt er Maik, worum es geht: „Wir können alles, was wir verbockt haben, zu Jesus bringen und unter dem Kreuz ablegen. Möchtest Du jetzt 40 41 42 43

A.a.O. A.a.O. Zitiert a.a.O., 618. A.a.O., 619.

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vor Gott sagen, was Du getan hast und dass es Dir Leid tut?“ „Ja“, sagt Maik. Und so geschieht es, und der Mitarbeiter spricht Maik zu, was nun wahr ist: „Jesus vergibt Dir Deine Schuld. Und ich bin sein Bote, der Dir jetzt sagen soll: Es ist alles wieder o.k. Es steht nichts mehr zwischen Ihm und Dir.“ Es ist wohl ein entscheidender Schritt menschlicher und geistlicher Reifung, sich selbst wahrzunehmen. Im Haus der Beziehungen geht es ja nicht nur um die Beziehungen zu anderen, zu Gott, den Mitmenschen, der geschaffenen Welt und anderen Lebewesen.44 Das spezifisch Menschliche besteht ja auch darin, in einem Verhältnis zu sich selbst zu stehen. Es ist nicht nur, wie Corinna Dahlgrün schreibt45, eine Voraussetzung der Beichte in der Seelsorge, sondern eine Gabe der Beichte, dass ein Ich in ein erwachsenes Verhältnis zu sich selbst tritt. Dadurch lernt ein Mensch, sich als Subjekt seiner Wünsche, Pläne, Entscheidungen und Taten zu sehen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Vor sich selbst, vor Gott und vor anderen Menschen sagt ein Mensch nun „Ich“ und erfährt dabei, dass ihn dieses Eingeständnis stärker und nicht schwächer macht. Maiks Gefährdung bestand sicher weniger in überzogenen, unrealistischen Schuldfantasien als in einer durch seine Sozialisation mangelhaft angelegten Schuldfähigkeit, einer fast dissozialen Naivität gegenüber dem eigenen Tun.46 Seelsorge einschließlich der Beichte, wird bei ihm zu einer „Hilfe zur Schuldfähigkeit“47. Jetzt Schuld als das zu erkennen, was sie ist, zu ihr zu stehen, sie auszusprechen und ihre Folgen zu tragen, ist ein enormer Reifungs-, fast mehr noch, ein Heilungsschritt für Maik. Er wird möglich und für sein weiteres Leben fruchtbar im beschützenden Raum einer Gemeinde, die um Absolution weiß und sie zuspricht. 5.5 Eriks regelmäßige Bilanz Erik ist Chemiker bei einem großen Chemiekonzern. Er arbeitet als promovierter Naturwissenschaftler in der Forschungsabteilung und leitet dort eine wichtige Arbeitsgruppe. Die Aufgabe ist reizvoll und herausfordernd zugleich. Erik ist mit einer Lehrerin verheiratet, die beiden haben 3 heranwachsende Töchter. Erik ist außerdem seit langem in seiner Kirchengemeinde aktiv, engagiert sich im Presbyterium und arbeitet im Kindergottesdienst mit. Im Studium hat er in einem Bibelkreis der SMD48 auch die Beichte kennen gelernt. Heute hält er es so, dass er in jedem Jahr kurz vor Ostern „Inventur“ hält. Er hält Rückschau auf das Jahr, er nimmt in Augenschein, wie sich seine wichtigsten Beziehungen entwickelt haben 44 45 46 47 48

Vgl.: ausführlich bei Herbst, beziehungsweise (s. Anm. 2), 192–216. Vgl.: Dahlgrün, Beichte als Kultur (s. Anm. 3), 502. Vgl.: Ziemer, Seelsorgelehre (s. Anm. 14), 230. Klessmann, Pastoralpsychologie (s. Anm. 38), 620. SMD steht für die „Studentenmission in Deutschland“, eine missionarische Bewegung unter Schülern, Studenten und Akademikern.

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und er prüft sein Leben an Hand eines einfachen Beichtspiegels. Dann ruft er seinen Pastor an und bittet um „unseren jährlichen Termin“. Das Gespräch mit dem Pastor ist kurz. Beide wissen, worum es geht. Erik nennt die Dinge, die ihm deutlich wurden. Manchmal reden sie ein wenig darüber, wie Erik manches besser gestalten könnte, aber im Zentrum steht der Wunsch, wieder „reinen Tisch“ zu machen und abzugeben, was Erik als schuldhaft bewusst wurde. Der Pastor hört die Beichte, sie beten zusammen, dann legt der Pastor Erik die Hand auf und spricht die Worte der Vergebung Gottes. „Jetzt kann Ostern kommen“, denkt Erik, während er vom Pfarrhaus wieder in sein Labor geht. Für Erik erwächst die Beichte nicht aus einem seelsorglichen Gespräch. Sie ist selbst Seelsorge. Es ist zunächst ein Stück Seelsorge an der eigenen Seele. Erik nimmt sich diese Zeit der Selbstprüfung. Dabei geht es gar nicht nur um Schuld. Es ist auch eine Gelegenheit, Gelungenes anzuschauen, Wachstum zu erkennen, sich an Bewahrungen zu erinnern und für wertvolle Zeiten, Begegnungen und Erlebnisse zu danken. Aber es ist auch wichtig, sich dem zu stellen, wo Erik hinter dem zurückgeblieben ist, was er als Gottes Willen für sich erkannt und anerkannt hatte. Es ist alles zusammen Seelsorge an der eigenen Seele. Erik hat einen Pastor, der die Beichte kennt und nicht „ins Schleudern“ kam, als Erik ihn erstmals ansprach (auch das kommt vor!). Jetzt ist es „unser Termin“. Der Pastor nimmt diese jährliche Frage ernst; ihm würde auffallen, wenn Erik irgendwann nicht mehr zwischen Laetare und Palmarum anriefe. Auch für ihn ist es bedeutsam: Er spürt, dass er hier etwas tut, was seinem Auftrag als Pastor ganz nah kommt. Und zugleich erinnert es ihn daran, wieder einmal Bilanz zu ziehen und seinen Mentor als Beichtiger aufzusuchen. Es gibt so etwas wie einen Staffellauf der Beichtgespräche. 5.6 Prominente Täter Selten wurde das Versagen einer Person des öffentlichen Interesses so intensiv diskutiert wie im Falle des ehemaligen Fußballprofis und Managers Uli Hoeneß. Dazu trug natürlich auch das ausführliche, sehr persönlich gehaltene Interview bei, das Hoeneß der „ZEIT“ gab.49 Er bekennt sich darin rückhaltlos schuldig, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, als er Einnahmen, die er in der Schweiz erzielte, in Deutschland nicht versteuerte. Zugleich schildert er schonungslos die suchtartigen Verhaltensweisen, die ihn über Jahre selbst bei wichtigen Spielen des FC Bayern permanent auf seinen Pager mit den neuesten Börsenkursen starren ließen. Die Reaktion der Öffentlichkeit war zwiespältig: auf der einen Seite Bedauern für den prominenten Fußballmanager, auf der anderen Seite

49

Gilbert, Catrin, Kilz, Hans-Werner, Lebert, Stephan, Uli Hoeneß – „Es war der Kick, pures Adrenalin“. In: DIE ZEIT, Nr. 19 (2.5.2013), S. 13–16.

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aber auch Häme über den Sturz eines Mannes, der gerne öffentlich den Moralisten und Wohltäter darstellte. Die öffentliche Debatte über das Versagen von Prominenten offenbart aber auch so etwas wie eine Unfähigkeit, mit Schuld umzugehen. Bei Uli Hoeneß, aber auch bei dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff oder dem ehemaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg addierten sich mediale Verfolgung und öffentliche Erregung zu einer Skandalisierung der betroffenen Täter (deren unterschiedliches Versagen hier nicht zur Debatte steht). Empörung wurde das vorherrschende Gefühl in dieser Angelegenheit. Odo Marquardt sprach einmal in anderem Zusammenhang von „Übertribunalisierung“.50 Die (medien-)politischen Aspekte sollen hier keine Rolle spielen. Aber zwei Fragen stellen sich im Zusammenhang unseres Themas: Wie wäre es (erstens), wenn einem prominenten Täter ein Seelsorger begegnete, der um die Beichte wüsste, die mit ihren beiden Aspekten hilft, mit der Schuld umzugehen? Mit beiden Aspekten heißt: mit dem rückhaltlosen Eingeständnis des eigenen Versagens einerseits, einschließlich der Bereitschaft, die irdische Verantwortung für die Konsequenzen zu tragen, aber mit der bedingungslosen Befreiung von der Verschuldung andererseits, weil ein anderer sich diese Last schon längst hatte aufs Kreuz heben lassen. Das beträfe dann die individuelle Seite, von der hoffentlich keine Öffentlichkeit je erführe. Wie wäre es (zweitens), wenn eine Gesellschaft diese Seelsorge durch die Beichte im Sinn hätte? Es wäre eine Seelsorge an der Gesellschaft, weil die Beichte lehrt, Schuld ernst zu nehmen. Sie lehrt aber auch, dass wir immer als Schuldige „unter uns“ sind, weil sich niemand vor Gott für unschuldig erklären könnte. Und sie lehrt, dass die Schuld eines Menschen nicht das letzte Wort über sein Leben sprechen darf. Wenn es Vergebung gibt, ist zwar jeder Hochmut ausgeschlossen, aber zugleich auch jede Niedergeschlagenheit zu heilen. Eine so in ihrer Seele umsorgte Gesellschaft könnte wohl maßvoller mit den Schuldigen umgehen, wahrscheinlich auch deutlich weniger moralisch entrüstet. Wir sprechen hier im Konjunktiv, fast schon im „Irrealis“. Die Beichte im Speziellen und die christliche Sicht von Schuld und Vergebung im Allgemeinen können dieses Potenzial zur Seelsorge zurzeit kaum entfalten. Zu sehr gilt die Beichte selbst als Ort moralistischer Empörung und unnötiger Gewissenspein. Dabei böte die Beichte – schon wieder im Irrealis oder doch im Potentialis? – die Chance zum gesünderen Umgang auch mit der Schuld von öffentlich präsenten Persönlichkeiten.

50

Vgl.: Marquardt, Odo, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 49.

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5.8 Ein Vater, zwei Söhne Petra ist schon lange eine „Säule“ ihrer Gemeinde. Sie gehört zur Gemeindeleitung, ist für einen Hausbibelkreis verantwortlich und bereitet sich auf die Aufgabe einer Prädikantin vor. Sie hat ein solides Wissen über die Bibel und die Grundlagen des christlichen Glaubens. Manchmal wirkt sie auf die Pastorin etwas unglücklich, immer etwas zu „bemüht“ und angestrengt. Aber das deuten alle als Charakterzug dieser ernsthaften Frau, die auch in Familie und Beruf als die Verlässlichkeit in Person gilt. Eines Tages liest Petra, die als Englischlehrerin gerne erbauliche Literatur aus den USA liest, das Buch von Timothy Keller „The Prodigal God“, auf Deutsch „Der verschwenderische Gott“51 – über den Vater und die zwei verlorenen Söhne in Lk 15. Als sie zum Kapitel über den älteren Sohn kommt, kann sie gar nicht mehr aufhören zu lesen. Ihr geht zum ersten Mal etwas auf: Der ältere Sohn ist ja am Ende ebenso „draußen“ wie es der jüngere „bei den Schweinen“ war. Er steht vor der Tür. Er merkt nicht, dass der Vater ihn ebenso liebt und ihm alles zu eigen gibt, während er versucht, durch seinen Fleiß und seine Rechtschaffenheit dem Vater zu beweisen, dass er es wert ist, der Sohn im Hause zu sein. Keller zeigt, wie auch der ältere Sohn sich als Sünder erweist, der auf keinen Fall von der Gnade leben will, sondern durch seinen Einsatz den Vater zu seinem Schuldner machen möchte. Er scheitert, weil er nicht begreift, dass keine seiner Taten ihn näher zum Herzen des Vaters bringt. Es wird deutlich, dass er nicht aus Liebe handelt, sondern aus dem Wunsch, sich selbst zu rechtfertigen. Er ist religiös, aber er zeigt durch sein Verhalten dem Vater gegenüber und durch seine Überheblichkeit dem Bruder gegenüber, wie es in ihm aussieht. Auf seine religiöse Weise lässt er den gnädigen Gott nicht Gott sein. Flannery O’Connor bringt diese Eigenart des frommen Herzens in ihrem Südstaaten-Roman „Wise Blood“ so auf den Punkt: In der Hauptfigur des Romans „steckte die tiefe, schwarze, wortlose Überzeugung, dass man Jesus am besten aus dem Weg gehen konnte, indem man der Sünde aus dem Weg ging.“52 Das alles wirkt auf Petra, als würde der Vorhang weggezogen. Sie sieht ihr Leben in dem älteren Sohn reflektiert. Sie erkennt die Triebfeder hinter ihrem angestrengten Dasein. Sie durchschaut die Ambivalenz auch ihres gesamten „frommen“ Einsatzes. Sie entdeckt die stille Verachtung für die, die nicht so gut klar kommen und sich nicht so einsetzen. Ihr wird deutlich, dass sie selbst auf eine Weise in Sünde verstrickt ist, die ihr noch nie klar war. Nicht Sünden der moralischen Art: nicht die fleischlichen, aber die spirituellen Sünden leuchten auf. Petra sieht erstmals in dieser Klarheit, worum es bei der Sünde geht: dieses tiefe Misstrauen gegen des Vaters Gnade, dieser Versuch, sich selbst vor Gott zu rechtfertigen und bloß nicht vollständig von seiner unverdienten Zuneigung abhängig zu 51 52

Vgl.: Keller, Timothy, The Prodigal God, New York 2008; dt.:. Der verschwenderische Gott, Basel 2012. Zitiert a.a.O., 44.

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sein, letztlich dieser Wunsch, Gott möge ihr etwas schuldig sein, wo sie sich doch so viel Mühe gibt und nicht so daher lebt wie viele andere. Es ist hier tatsächlich ein Buch, das zum Seelsorger wird. In der Lektüre einer Auslegung von Lk 15 sieht sich eine Christin plötzlich mit einer ungeahnten Klarheit selbst. Sie „ist“ der ältere Sohn. Ihre ganze Frömmigkeit wird als religiöse Variante des Ausweichens vor Gott sichtbar. Es passiert in dieser literarischen Seelsorge etwas Entscheidendes, ohne dass die Tiefe des Themas nicht ausgelotet werden kann. Sünde wird ansichtig (soweit das uns Menschen möglich ist und zugemutet wird) als tiefer Bruch der Beziehung zu Gott. Dabei ist Petra ein Muster von Anständigkeit und eine Zierde ihrer Gemeinde. Nur froh oder gewiss wurde sie nicht, Frieden fand sie nicht. Es war etwas Getriebenes in ihrer Erscheinung. Aber jetzt wird ihr deutlich, dass es bei der Sünde nicht zuerst oder ausschließlich um ein Tun oder Versagen geht, sondern um diese letzte Frage, die das erste Gebot stellt – ob wir Gott lieben. Dramatik und Ernst der Sünde werden erst hier deutlich. Petra wird durch diese Erkenntnis aber nicht in die Verzweiflung getrieben. Sie möchte das alles nicht mit Menschen in ihrer Gemeinde besprechen, aber von Zeit zu Zeit verbringt sie ein Wochenende bei einer evangelischen Kommunität. Dort spricht sie mit einer Seelsorgerin. Sie möchte beichten. Die Seelsorgerin spricht lange mit ihr: Damit nicht die Beichte nun der nächst „höhere“ Akt der Selbstrechtfertigung wird. Es gehe vielmehr, so sagt sie zu Petra, darum, sich Gott einfach auszuliefern und hinzuhalten, zu bekennen, dass noch im besten Streben der böse Stachel steckt und nun vollständig darauf zu verzichten, vor Gott irgendetwas demonstrieren, vorhalten, als eigenes Recht behaupten zu können. Petra geht noch einmal in die Stille. Am frühen Sonntagmorgen, bevor sich die Kommunität zur Eucharistie sammelt, hat sie sich mit der Seelsorgerin verabredet. Die Beichte ist nun kurz und streng in ihrer liturgischen Fassung. Petra spricht noch einmal aus, was ihr klar wurde. „Nichts“, so sagt sie, „habe ich Dir, Gott, anzubieten.“ Die Seelsorgerin spricht ihr die Vergebung zu und fügt Worte aus Röm 8 hinzu: „Nichts kann Dich trennen von der Liebe Gottes.“ Da rutscht es zum ersten Mal in Petras Herz. Sie kann nicht nur nichts Eigenes vor Gott in Anschlag bringen, sie muss es auch nicht. Gottes Gnade gilt ihr ohne Wenn und Aber. Gewissheit und Frieden erfassen Petra in einer Weise, die sie noch nie erlebt hatte. Letztlich geht es darum: dass auch in seelsorglichen Gesprächen, in denen es zunächst „nur“ um das Leiden an eigenen moralischen Verfehlungen geht, diese Verfehlungen durchsichtig werden für den tiefen Schaden einer zerbrochenen Beziehung zu Gott. Dann kann die Beichte als Zuspruch der Vergebung ihre Kraft entfalten.

Schuld und Versöhnung Zur Bedeutung interpersonaler Prozesse Gunter Prüller-Jagenteufel Die „Krise des Bußsakramentes“ wird seit jeher als „Krise der Moral“ und damit als Krise des Menschen insgesamt gedeutet. Die „Menschen von heute“, so ein gängiger Vorwurf, haben sich von der Schuld „verabschiedet“, indem sie komplexe Schulderfahrungen auf rein subjektive Schuldgefühle reduzieren, auf eine seelische Befindlichkeit, die primär aufgearbeitet und bewältigt werden muss.1 Doch die Rede von Schuld und Sünde ist keineswegs aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Vielmehr wird nach Jahrzehnten, in denen man sich hauptsächlich auf Konflikte und Konfliktlösungsstrategien konzentriert hat, wieder klar, dass Konfliktlösung nicht alles ist und dass das Problem mitunter genau darin besteht, dass es eben nicht zum Konflikt kommt und sich dadurch eine Menge Druck aufbaut. Und darüber hinaus macht sich die Erkenntnis breit, dass es im Blick auf die Vergangenheit mehr braucht als bloße „Bewältigung“. Nach den Gewaltorgien verschiedener Bürgerkriege seit den 1990er Jahren und nach der Aufdeckung von Missbrauchs- und Gewaltexzessen im familiären und kirchlichen Raum stellt sich die Frage mit neuer Schärfe: Welcher Umgang mit Schuld ist der Sache angemessen und hilft nicht nur zur Bewältigung, sondern noch mehr zur Überwindung? Dabei geht es nicht nur um die offene, sondern auch um die unsichtbare Schuld durch Nichts-Tun, die heute nicht weniger aktuell ist als in der traumatischen Zeit des Nazi-Terrors. Das folgende Gedicht von Peter Maiwald kann man nicht nur auf Auschwitz, sondern ebenso auf Lampedusa beziehen. Übertitelt ist es: „Grabinschrift“2. War kein Mörder. Sah ihnen zu. Hob keine Hand. Kam nicht dazu. Maiwalds Text spiegelt deutlich die Komplexität heutiger Schulderfahrung wider. Es geht offensichtlich nicht bloß um offene Verstöße gegen Normen und Gebote, sondern um die Frage, ob man seiner Verantwortung gerecht geworden ist – oder 1

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Vgl.: Riess, Richard (Hrsg.), Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie vom Schuldbewußtsein, Opfer und Versöhnung, Stuttgart 1996; Schlemmer, Karl (Hrsg.), Krise der Beichte – Krise des Menschen. Ökumenische Beiträge zur Feier der Versöhnung, Würzburg 1998. Maiwald, Peter, Guter Dinge. Gedichte, Stuttgart 1987, zit. n. Fraling, Bernhard, Moralpraktische Aspekte von Schuld und Vergebung. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 72–79, 72.

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eben nicht. Aus dieser verantwortungsethischen Perspektive soll im Folgenden auch eine Relecture der klassischen Rede von Schuld und Sünde, Buße und Vergebung vorgenommen werden. Dies erscheint umso notwendiger, als die Psychoanalyse die verbreiteten Schuldgefühle vergangener Zeiten (zu recht!) als die internalisierte „Angst vor der äußeren Autorität“3 entlarvt hat und von daher auch weiterhin die Gefahr besteht, Schuld nicht als authentische Erfahrung des verantwortlichen Subjekts, sondern als pathologische Erscheinung, eben als „Komplex“ abzutun.

1. Freiheit und Verantwortung – Schuld und Sünde als Beziehungskategorien Die Frage, wie mit Schulderfahrungen adäquat umzugehen ist, entscheidet sich daran, welches Verständnis von Schuld zugrunde liegt. Im kirchlichen Bereich wirken sich hier jene „Defizite und Einseitigkeiten des Sündenverständnisses der traditionellen Moral“4 aus, die sich im Lauf der Geschichte der traditionellen Bußpraxis eingeschlichen haben. Denn während von der Antike bis ins Hochmittelalter die Ethik als Tugendlehre entfaltet wurde, wanderte in der Neuzeit der Blick vom Menschen als dem handelnden Subjekt zum „Objekt“ der Handlung. Seither haben wir es mit einer vorwiegend objektivistischen Ethik zu tun, in der es vor allem um Pflicht und Gebotserfüllung geht.5 1.1 Was ist Schuld? – Anthropologische Zugänge zum Phänomen Aber Schuld ist eine komplexe und abgründige Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die auch eine ethische Sichtweise nur zum Teil erfassen kann, so dass die Konzentration – oder sogar Reduktion – auf die ethische Dimension die Vielschichtigkeit der Schulderfahrung geradezu verstellt. Wenn es also stimmt, dass „der blinde Fleck der Ethik … die Schuld in ihrer umfassenden Form“6 ist, dann ist gerade die Ethik – und insbesondere die theologische Ethik – aufgefordert, sich dem Phänomen in seiner ganzen Breite und Vielschichtigkeit zu stellen. Nach den Erfahrungen des Nazi-Terrors versuchte Karl Jaspers die Schuldfrage aus dem „Scheitern der Existenz“7 herzuleiten, d.h. aus der Erfahrung, dass die 3 4

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7

Freud, Sigmund, Werke, Band 14, 5. Auflage, Frankfurt a. M. 1972, S. 496. Ragaisis, Mindaugas, Umkehr ins Gespräch bringen. Der Beitrag von „kommunikativen Glaubensmilieus“ zur Erneuerung der Bußpraxis (Erfurter Theologische Studien 91), Würzburg 2006, S. 15. Vgl.: Ragaisis, Umkehr (s. Anm. 4), 16–20 Grätzel, Stefan, Schuld – der blinde Fleck der Ethik. Dimensionen des Schuldbegriffs. In: Beyerle, Stefan, Roth, Michael, Schmidt, Jochen (Hrsg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen (Theologie – Kultur – Hermeneutik 11), Leipzig 2009, S. 29–41, 29 Jaspers, Karl, Philosophie (Existenzerhellung, Band 2), 4. Auflage, Berlin 1973.

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menschliche Existenz immer hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. In diesem Zusammenhang unterscheidet er vier Dimensionen der Schuld. Zunächst – und das ist wohl die allgemein verbreitete Sichtweise – (1.) die kriminelle Schuld, die sich aus objektiv nachweisbaren Verstößen gegen Gesetze ergibt. Davon unterscheidet Jaspers (2.) die moralische Schuld, die sich an der persönlichen Verantwortung bemisst und auch dann gegeben ist, wenn keine objektiven Gesetzesverstöße vorliegen. Damit weist Jaspers darauf hin, dass die Berufung auf Befehlsnotstand auch dann, wenn sie vor Gericht entschuldigt und also keine kriminelle Schuld vorliegt, dennoch nicht von moralischer Schuld befreit. Als weitere Dimension ist (3.) die politische Schuld zu nennen, die in Handlungen von „Staatsmännern“ (also den Vertretern einer Gemeinschaft) besteht, an denen die Mitglieder dieser Gemeinschaft aber (gestufte) Mitverantwortung tragen. Zuletzt und umfassend spricht Jaspers (4.) von metaphysischer Schuld, d.h. die Mitverantwortung an allem Unrecht und aller Ungerechtigkeit, aber auch an allem Ungenügen dieser Welt: Wer nicht tut, was er kann, um es zu verhindern oder zu beseitigen, macht sich mitschuldig. Das Hauptproblem der neuzeitlichen Ethik besteht nun eben darin, dass sie Ethik in Analogie zur Rechtswissenschaft konstruiert, also möglichst objektive Sachverhalte durch möglichst objektive Normen zu regeln versucht, und damit aber auch die persönliche Schulderfahrung auf die Dimension der kriminellen Schuld engführt. Damit bleibt aber die originäre Erfahrung der weiteren Dimensionen im Diffusen; rational werden sie nicht erkannt oder geleugnet („Dafür bin ich nicht verantwortlich!“) und bleiben so auf der emotionalen Ebene als rational nicht weiter auflösbares „Schuldgefühl“ bestehen. Aus ethischer Perspektive gilt es daher, alle vier Dimensionen des Schuldbegriffs in den Blick zu nehmen. Die ersten drei sind insofern ethisch relevant, als sie konkrete Verantwortungsdimensionen benennen. Im Unterschied dazu ist die metaphysische Schuld ethisch nicht adäquat fassbar, weil sie eine jedes menschliche Maß übersteigende Verantwortung bezeichnet, der weder der einzelne noch eine Gemeinschaft zu entsprechen vermag. Es ist aber dennoch wichtig, diesen Aspekt im Blick zu behalten: Er ist der Stachel im Fleisch, den man sich nicht vorschnell ziehen lassen darf. Dennoch ist die Konzentration auf die ethischen Schulddimensionen berechtigt und notwendig; denn hier geht es um die menschliche Freiheit – die Freiheit des Handelns (oder Unterlassens) ebenso wie die Freiheit zur persönlichen Stellungnahme. In diesem Sinne stellt „Schuld“ ein Synonym für „Ursache“ dar, nur eben „übertragen von Natur auf Kultur“.8 Die Frage nach der Schuld zu stellen bedeutet also, einen Kommunikationsprozess anzustoßen, in dem man sich mit einer leidvoll erlebten Wirklichkeit auseinandersetzt und eine ‚Wahrheit‘ konstruiert die intersubjektiv als Antwort auf 8

Bader, Günter, Von dem zum Denken von Schuld erforderlichen Aufwand. In: Beyerle, Stefan, Roth, Michael, Schmidt, Jochen (Hrsg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen (Theologie – Kultur – Hermeneutik 11), Leipzig 2009, S. 19–28, 19.

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die Schuldfrage anerkannt wird.9 Somit erweist sich Schuld als kommunikative und relationale Wirklichkeit: Es geht nicht um ein bloß subjektives Gefühl, sondern um eine kommunikative Realität, die erkannt und anerkannt werden muss.10 Insofern ist es auch nicht damit getan, jemandem Schuld „objektiv“ zuzuweisen, denn die Schuldfrage fragt immer zugleich nach den praktisch gegebenen Möglichkeiten und Alternativen des Handelns, sie setzt also reale Freiheit voraus. Gerade in diesem Bereich ist aber immer auch das Moment der strukturellen Schuldverstrickung mitzubedenken. 1.2 Schuld und Verantwortung als personale und relationale Kategorien In diesem komplexen Zueinander unterschiedlicher personaler, interpersonaler und struktureller Dimensionen, von Fremd- und Selbstwahrnehmung und diskursiver Deutung spielen Schuldgefühle eine ambivalente Rolle. Einerseits sind sie stets subjektiv und entsprechen daher nicht notwendig der realen Verantwortung, zugleich sind sie aber jene Seismographen, die auf mögliche Verwerfungen hinweisen. Der Umgang mit Schuldgefühlen in ihrer Ambivalenz erweist sich also als komplexe Herausforderung.11 Inwiefern reale Schuld vorliegt, lässt sich oft nur in einem therapeutischen Prozess klären, der ein hohes Maß an Unterscheidungsfähigkeit bei allen Beteiligten verlangt. Heute besteht die Herausforderung für die Seelsorge allerdings weniger in der Auseinandersetzung mit den Schuldgefühlen einer rigorosen Über-Ich-Moral, sondern in der Hinführung zu Eigenverantwortung und Gewissenhaftigkeit. Darüber hinaus müssen bewusst die überindividuellen Dimensionen der Schuld – soziale und strukturelle Sünde – in den Blick genommen werden. Seelsorger stehen also vor der Aufgabe, die Gemengelage von eigener Verantwortung und struktureller Schuldverstrickung aufzudröseln und die Menschen zu befähigen, in realistischer Selbsteinschätzung die eigene Verantwortlichkeit wahrzunehmen. In einem personalen Verständnis liegt die Schulddimension also nicht primär im normwidrigen Verhalten, sondern entspringt der Verweigerung der Verantwortung für die anderen: „Cor incurvatum in se ipsum“ nennt es Augustinus, „das in sich verkrümmte Herz“, was man heute wohl am besten mit Egozentrik übersetzt. Der Mensch, der sich und nur sich ins Zentrum seines Denkens, Planens und Handelns stellt, betrachtet alles andere – Menschen und Dinge – als bloßes Mittel zum Zweck: Er benützt die, die ihm nützlich sein können, und beseitigt die, die 9

10 11

Dass solche Diskurse immer auch bestehende Machtverhältnisse spiegeln und nicht einfach der objektiven Wahrheitsfindung dienen, sie nur nebenbei erwähnt. Vgl. Fischer, Peter, Die Schuld und ihre Ermittlung als Charakteristika einer Kultur. In: Beyerle, Stefan, Roth, Michael, Schmidt, Jochen (Hrsg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen (Theologie – Kultur – Hermeneutik 11), Leipzig 2009, S. 43–58. Vgl.: Schall, Traugott U., Vom christlichen Umgang mit Schuld, Hochaltingen [o.J.], S. 28–29. Vgl.: Müller, Jörg Franz, Schuld und Unschuldswahn. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 102– 109.

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ihm hinderlich sind. Es ist diese verkehrte Fundamentaloption, die zu konkreter Schuld führt.12 In einem solchen personalen Verständnis, das Schuld von der Verantwortung her definiert, die wir anderen schon aufgrund unseres gemeinsamen Menschseins schulden, wird auch deutlich, dass sich Gut und Böse nicht aus abstrakten Vorschriften, sondern aus den jeweiligen konkreten Beziehungsverhältnissen heraus ergeben. Gut ist, was menschlichem Leben und Zusammenleben – in seiner personalen und interpersonalen, in der materiellen, geistigen und seelischen Dimension – dient; böse ist, was es zerstört.13 Theologisch gewendet: Gott will, dass das Leben des Menschen gelingt: „Gloria Dei vivens homo“, formuliert Iräneus von Lyon.14 In der Frage des geglückten Lebens sind wir nun aber nicht nur für uns selbst, sondern füreinander verantwortlich. Entweder wir stellen uns in den Dienst für die anderen und werden damit selbst zu Mittlern des Heils, das von Gott her uns allen zukommt, oder aber wir verweigern uns und werden zu Urhebern bzw. Vermittlern von Unheil. In biblischer Ausdrucksweise: Entweder wir lieben unsere Nächsten, oder aber wir verweigern diese Liebe und werden damit an anderen schuldig. Ein Dazwischen gibt es nicht. Wenn Jesus also apodiktisch festhält: „Was ihr für eine/n meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40), so ist das nicht eine willkürliche Sympathiebezeugung Jesu, sondern die unwiderrufliche Option Gottes, die der christlichen Ethik eine inkarnatorische Struktur verleiht. Diese inkarnatorische Struktur ist es auch, die deutlich macht, dass es nicht primär um Forderungen geht, sondern dass christliche Ethik einen responsorischen Charakter hat. Im Wort „Verantwortung“ steckt ja „Antwort“ – die Antwort, die wir nach christlicher Überzeugung nicht einfach einem Richter geben, der uns über unsere Taten befragt, sondern die Antwort, die unser Leben selbst darstellt, die Antwort auf Gottes absolutes und konkretes Heilshandeln. Mit einem zentralen Satz des Ersten Johannesbriefs ausgedrückt: „Wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.“ (1 Joh 4,11) Dann bedeutet aber Schuld nicht erst, dem anderen zu schaden, sondern ebenso jede Verweigerung der geschuldeten Liebe und Solidarität, also die „Unterlassung“, die Schaden für den anderen nicht verhindert bzw. sich dem Dienst am anderen verweigert. Das weitgehende Ausblenden der Schuld durch Unterlassung entspringt der objektivistischen Sichtweise der Moderne. Mit der Verrechtlichung der ethischen Begriffe wurde auch die traditionelle Sündenlehre auf die aktive Tat hin enggeführt – eine Schieflage, die auch heute noch nicht ganz überwunden ist. Natürlich 12

13 14

Vgl.: Demmer, Klaus, Optionalismus – Entscheidung und Grundentscheidung. In: Mieth, Dietmar (Hrsg.), Moraltheologie im Abseits? Antwort auf die Enzyklika „Veritatis splendor“ (Qaestiones Disputatae 153), Freiburg i. Br. 1994, S. 69–87. Vgl.: Gründel, Johannes, Art. Sünde, in: Lexikon der christlichen Ethik, Freiburg i. Br. 2003, S. 1760–1764. Irenäus v. Lyon, Adversus haereses, IV, 20, 7.

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ist die Unterlassung nicht so leicht zu fassen wie die Tatschuld und letztere wiegt punktuell auch meist schwerer. Doch da die Unterlassung langfristig gerade in ihrer Unauffälligkeit schwerwiegendere Folgen zeitigt als die offen zutage liegende Tat, der ja auch von Seiten Dritter rascher entgegengetreten werden kann, ist sie als Verweigerung der geschuldeten Verantwortung mit ebensolcher Sorgfalt in den Blick zu nehmen wie die aktive Handlung.15 1.3 Sünde als theologische Wirklichkeit Wie hängen nun zwischenmenschliche Schuld und Sünde vor Gott zusammen? Personal-relational verstanden bedeuten beide den Bruch einer Beziehung und zugleich wurzeln beide in derselben Grunddynamik, dass man sich nämlich selbst als Zentrum der Welt betrachtet und alles andere als bloßes Mittel zum (egoistischen) Zweck. Die augustinische Curvatio-cordis-Theologie umfasst also beides und so zeigt sich, dass Schuld und Sünde derselben verkehrten Fundamentaloption des Menschen entspringen. Martin Luther bezeichnet das als „Unglaube“ und sieht darin die Wurzel aller (Tat-)Sünden: Schuldig werden wir deshalb, weil wir Gott gegenüber Sünder sind,16 und deshalb alle unsere Relationen pervertiert sind.17 Corinna Dahlgrün formuliert das so: „Sünde ist nicht einzelnes moralisches Fehlverhalten, sondern eine tief greifende Störung, die den Menschen in seinem Sein vor Gott, in seinem Verhältnis zu den Mitmenschen und in seinem Selbst tangiert. Sie besteht zuerst in der Verletzung des Liebesgebotes, gegenüber Gott und gegenüber den Mitmenschen, in welche Gestalt sich diese Verletzung auch immer kleidet.“18 Die Sünde besteht also zunächst in einem falschen, nämlich ego-zentrischen Verhältnis gegenüber Gott, der Welt, den anderen und letztlich auch zu sich selbst. Daraus entspringen jene konkreten Handlungen, die dieses Sünder-Sein realisieren. „In der Schuld vergehen wir uns an den Menschen und der Welt, weil wir in einem unrealistischen Egoismus meinen, von ihnen absehen zu können; wir versündigen uns an ihnen, weil es Gott immer gerade um seine Menschen und seine Welt geht“,19 so Guido Bausenhart.

15 16

17 18 19

Vgl.: Fonk, Peter, Schuldigwerden durch Unterlassung des Guten. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 123–127, 124. Vgl.: Joest, Wilfried, Schuld erkennen – Schuld bekennen. In: Riess, Richard (Hrsg.), Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie von Schuldbekenntnis, Opfer und Versöhnung (Theologische Akzente 1), Stuttgart 1996, S. 14–25, 15–-16. Vgl.: Busch Nielsen, Kirsten, Sünde. In: Grünwaldt, Klaus, Tietz, Christiane, Hahn, Udo (Hrsg.), Bonhoeffer und Luther. Zentrale Themen ihrer Theologie, Hannover 2007, S. 105–121, 114. Dahlgrün, Corinna, „Sorry, du, dumm gelaufen!“ Beobachtungen zur Kultur des Beichtrituals. In: Zimmerling, Peter, Studienbuch Beichte, Göttingen 2009, S. 209–229, 217. Bausenhart, Guido, Schuld – Versöhnung – Heil. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 97–102, 102.

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Aufgrund dieser Perichorese von ethischer und theologischer Dimension ist die Frage nach der Erkenntnis von Schuld und Sünde nicht trivial. Denn der Blick auf unser Tun reicht nicht aus – schon gar nicht zur Erkenntnis der theologischen Tiefendimension, aber auch nicht zur adäquaten Einsicht in die ethische Dimension. Denn auf dieser Ebene ist die Frage, wie weit meine konkrete Verantwortung tatsächlich reicht, und ob ich wirklich hinter dem Gesollten zurückgeblieben bin, immer diskutierbar. Dieser Aporie entkommt man mit reformatorischer Radikalität nur durch einen epistemologischen Sprung in die Glaubensdimension: „Daß wir vor Gott ganz und gar Sünder und in Schuld sind, das sagt uns nicht eigene Einsicht, sondern Gottes Wort“; allein der radikale Anspruch des Glaubens vermag „die ganz unspektakuläre und alltägliche Selbstbezogenheit“ unseres Handelns aufzudecken.20 So zeigt zwar das Gesetz objektiv die Sünde auf; doch um uns selbst als Sünder erkennen und bekennen können, dazu bedarf es eines radikal anderen Standpunktes. Hätten wir nur das Gesetz, bliebe uns nichts übrig, als Schuld und Sünde zu verdrängen und auf andere zu projizieren (Pharisäer!). Die Sünde als eigene zu erkennen, das vermag jedoch nur der Glaube. Denn erst, wo die Sünde (von Gott her) schon überwunden ist, gibt es eine Perspektive, aus der der Mensch sich selbst unverstellt in den Blick nehmen kann. Die Selbsterkenntnis als Sünder erfolgt „sola fide“. Allerdings gehören Gesetz und Evangelium untrennbar zusammen, denn „ohne vermittels des Gesetzes auf diese Sünde angesprochen zu werden, die seine Wirklichkeit ist, kann der Mensch das Evangelium nur als Selbstbestätigung hören, damit bleibt er in seiner Sünde, wirft sich nicht, wie Luther es nennt, Christus immer neu in die Arme, und verfehlt sein Heil.“21 1.4 Zum Verhältnis von Person und Werk Aber steht nicht gegen die These, dass Sein und Tun der Person einander durchdringen und so das eine vom anderen her bestimmt ist, die reformatorische Erkenntnis, dass der Mensch nicht mehr durch das Gesetz und damit nicht mehr durch sein Tun bestimmt wird? Ist nicht der gerechtfertigte Mensch freigesprochen von der Sünde? Es ist ja, so eberhard Jüngel, gerade die große Entdeckung der Reformation, dass es „die Rechtfertigung des Sünders verbietet …, die beste Tat, aber auch die schlimmste Untat, mit dem Ich zu identifizieren, das sie tat“22? Andererseits ist aber vom Neuen Testament her zu betonen, dass „menschliche Aktivität und Passivität gegenüber Gott … miteinander verschränkt“23 sind. Daher 20 21 22 23

Joest, Schuld erkennen (s. Anm. 16), 17. Dahlgrün, „Sorry, du, dumm gelaufen!“ (s. Anm. 18), 219. Jüngel, Eberhard, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, S. 227. Löhr, Helmut, Kennt das Neue Testament die Unterscheidung von „Person“ und „Werk“? Ein exegetischer Klärungsversuch. In: Beyerle, Stefan, Roth, Michael, Schmidt, Jochen (Hrsg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen (Theologie – Kultur – Hermeneutik 11), Leipzig 2009, S. 213–229, 221.

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ist auch im Glauben an die rein gnadenhafte Rechtfertigung der Sünder an der „relativen“ Willensfreiheit festzuhalten, die ihrerseits vom Geist Gottes bestimmt ist. Die guten Werke sind als „Früchte des Geistes“ und „Früchte des Glaubens“ zu verstehen, aber sie sind nicht nebensächlich. Die Rechtfertigung des Sünders und damit die Überwindung der Sünde ist also weder juristisch, noch psychologisch oder moralisch zu verstehen, sondern strikt theologisch: Als Heilung der Gottesbeziehung. Aus dieser heraus wird aber das gesamte Beziehungsgeflecht – zu sich selbst, zu anderen und zur Welt – neu bestimmt. 1.5 Dimensionen der Verantwortung – Dimensionen von Schuld und Sünde In Entsprechung zu den verschiedenen Dimensionen menschlicher Freiheit und Verantwortung ergeben sich auch für die Sünde verschiedene Dimensionen, in denen sie sich auswirkt. Sich dieser Dimensionen bewusst zu sein und sie differenziert in den Blick zu nehmen, ist für die Frage von Vergebung und Versöhnung – und damit für eine adäquate Gestaltung der Beichte – unerlässlich. In der (1.) interpersonalen Dimension wird die incurvatio in seipsum am unmittelbarsten wahrgenommen, indem die anderen nicht als im direkten Gottbezug stehende und damit dem Zugriff des Ich absolut entzogenes Du wahrgenommen werden, sondern als bloßes Mittel zur Sicherung des eigenen Ego. Aus der interpersonalen ergibt sich in der Folge (2.) die soziale bzw. strukturelle Dimension der Sünde, die Entzweiung von der Gemeinschaft und Gesellschaft. Aufgrund der umfassenden Relationalität menschlicher Freiheit betrifft die aktuell schuldhafte Tat andere Menschen nicht nur in ihrer Vereinzelung, sondern in ihren gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungsnetzen, sodass eine von Schuld geprägte Sozialstruktur entsteht, die ihrerseits wieder die Entscheidungen der einzelnen negativ beeinflusst. Aufgrund dieses wechselseitigen Bedingungsverhältnisses erscheint jede Trennung von individueller und sozialer/ struktureller Dimension der Sünde als bloße Abstraktion; vielmehr ist in jeder 24 25 schuldhaften Tat auch das Element der sündigen Situiertheit und Struktur zu berücksichtigen. Nicht zuletzt ist (3.) die kosmische Dimension der Sünde mitzubedenken. Christen stehen heute vor der Herausforderung, nicht nur die Menschen, sondern die ganze Schöpfung in ihrer Gottbezogenheit zu erkennen. Wo sich dagegen der 24

25

Vgl.: Schoonenberg, Piet, Der Mensch in der Sünde. In: Feiner, Johannes, Löhrer, Magnus (Hrsg.), Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik (Die Heilsgeschichte vor Christus, Band 2), Einsiedeln 1967, S. 845–941. Vgl. z.B. Karl Rahners Begriff der „Objektivationen“ von Sündentaten (z.B. in: Rahner, Karl, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, 2. Auflage, Freiburg i. Br. 1984, S. 113–115). Die strukturelle Sünde ist zudem ein Zentralbegriff der Befreiungstheologie, der auch in kirchenamtliche Texte der Katholischen Orts- und Gesamtkirche Eingang gefunden hat, so z.B. in das Apostolische Schreiben Papst Johannes Pauls II.: Reconciliatio et paenitentia (1984).

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Mensch selbst zur Mitte der Schöpfung macht, handelt er an den Geschöpfen ebenso ego-zentrisch wie an seinem menschlichen Gegenüber. Sünde als Entzweiung in all diesen Dimensionen bedeutet zugleich (4.) in der individuellen Dimension eine Selbstentfremdung. Ein relationaler Person- und Freiheitsbegriff erweist das Zerbrechen der Außenbeziehungen des Menschen als tiefste Desintegration des eigenen Selbst. Der Mensch, der seine wesenhafte Ausrichtung auf andere hin ignoriert, begibt sich ethisch und spirituell seiner Transzendenz und damit seiner Humanität. 1.6 Feministisch-theologische Beobachtungen: Patriarchatskritik und Mittäterschaft Um die angesprochene innere Einheit von Selbst- und Fremdbezug recht zu verstehen, ist es unerlässlich, die von Judith Plaskow formulierte und in der feministischen Theologie weithin aufgenommene Kritik an einem Sündenverständnis zu beachten, welches das Wesen der Sünde primär als Stolz und Eigenmächtigkeit interpretiert.26 Plaskow gelingt es aufzuzeigen, dass die spezifische Sünde der Frauen im Patriarchat nicht in stolzer Selbstüberhebung besteht, sondern vielmehr in der widerstandslosen Unterordnung unter patriarchale Herrschaftsverhältnisse. Beide Dimensionen hängen zusammen: Das zwanghafte Man-selbst-sein-Wollen (gegen die anderen) – die „männliche“ Sünde – und das erzwungene Nicht-manselbst-sein-Wollen (gegen das eigene Selbst) – die „weibliche“ Sünde – stellen zwei Seiten ein und derselben patriarchalen Dynamik dar. Da es sich hier um strukturelle Aussagen handelt, darf man das eben Gesagte keinesfalls moralisierend missverstehen: Es geht nicht darum, einzelnen die Verantwortung für das Gesamt der strukturellen Zusammenhänge aufzubürden. Vielmehr sind alle Beteiligten sowohl Opfer als auch (Mit-)Täter, damit sind sie nur – aber eben auch – partiell (mit-)verantwortlich. Anderseits sind Menschen als ethische Subjekte niemals nur Opfer und so in ihrer begrenzten Verantwortung auch befähigt, im konkreten Handeln sündige Strukturen aufzuarbeiten. So kann die Analyse der Mittäterschaft auch das Bewusstsein der partiellen und solidarischen Mitverantwortung erhöhen.27

26

27

Plaskow, Judith, Sex, Sin and Grace. Women’s Experience and the Theologies of Reinhold Niebuhr and Paul Tillich, Washington 1980; vgl. Scherzberg, Lucia, Sünde und Gnade in der Feministischen Theologie, Mainz 1991, S. 35–44. Vgl. u.a. Thürmer-Rohr, Christina, Aus der Täuschung in die Enttäuschung. Zur Mittäterschaft von Frauen. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 6 (1983), S. 11–25; Scherzberg, Lucia: „Schuld“ und „Sünde“ in der Feministischen Theologie. In: Una Sancta 46 (1991), S. 208– 213, 209–210.

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1.7 Verantwortung als Beziehungsrealität in der Spannung von Subjektivität und Objektivität Für die Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil stellte Bernhard Häring, einer der Väter der modernen katholischen Moraltheologie, treffend fest: „Kirchliche und staatliche Sanktionen sowie gesellschaftlicher Druck bestimmten weithin den Sündenbegriff der großen Massen. Die Sanktion war der bedeutendste Faktor in der Abgrenzung zwischen Todsünde und läßlicher Sünde.“28 So bewirkten die auf das Objekt fixierte Sichtweise der Moderne und die der tatsächlichen Schwere der Schuld möglichst exakt entsprechende Sanktion im kirchlich-sakramentalen Bußverfahren, dass sich ein verantwortungsethisches Verständnis von Schuld und Sünde kaum etablieren konnte. In Abhebung von diesem – verengten – Begriff haben wir Schuld und Sünde nicht als Normverstoß oder Ungehorsam, sondern als Verantwortungslosigkeit in den Blick genommen. Diese kann sich auf allen Ebenen des personalen, interpersonalen und strukturellen Lebens finden, und zwar jeweils als konkrete Tat (unverantwortliches Handeln) oder aber als Unterlassung (Verweigerung der Verantwortungsübernahme). In jedem Fall wird der Mensch seiner Verantwortung, die er für sich, für andere, für soziale Gebilde und die nichtmenschliche Umwelt trägt, nicht gerecht und schädigt damit sowohl sich selbst als auch andere. Die Folgen wirken dabei faktisch auf das gesamte Beziehungsnetz: An dem angerichteten Schaden (bzw. im Fall der Unterlassung am nicht getanen Guten) leiden letztlich alle, insbesondere jene, denen persönlich Schaden entstanden ist oder die, was oft schlimmer wirkt, vom „Täter“ persönlich enttäuscht sind, so dass konkrete zwischenmenschliche Beziehungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Beide Dimensionen sind nun in den Blick zu nehmen, wenn von der Überwindung der Schuld die Rede sein soll: Es geht sowohl darum, konkreten Schaden so weit wie möglich wiedergutzumachen, als auch in einem Prozess der Vergebung und Versöhnung ge- oder zerstörte Beziehungen neu aufzunehmen – auch das unter dem Vorbehalt, dass dies oft nicht oder nur teilweise möglich sein wird.

2. Vergebung als personaler Prozess Dem personal-relationalen Charakter von Schuld und Sünde korrespondierend gelten die folgenden Überlegungen einem dem entsprechenden Verständnis von Vergebung und Versöhnung mit der Absicht, daraus Konsequenzen für ein dem heutigen Erfahrungshorizont adäquate Beichttheologie zu ziehen. Wir haben

28

Häring, Bernhard, Sünde im Zeitalter der Säkularisation. Eine Orientierungshilfe, Graz 1974, S. 30.

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Schuld als Verantwortungslosigkeit charakterisiert, dem entspricht eine personalrelationale, verantwortungsbezogene Form von Vergebung.29 2.1 Zu einem personalen Verständnis von Vergebung Zunächst ist kurz zu klären, was in diesem Sinne Vergebung nicht bedeutet.30 Erstens: Vergebung darf nicht mit Toleranz oder Indifferenz gegenüber dem Bösen verwechselt werden. Das Böse wird also nicht einfach akzeptiert, so wie man ein Naturereignis hinnimmt; damit wäre nämlich das moralische Übel (malum morale) auf ein physisches Übel (malum physicum) reduziert, die Tat vom Täter losgelöst und zum unpersönlichen „Schicksal“ eingeebnet. Als solches bedürfte es keiner Vergebung, ja könnte gar nicht vergeben werden. Vielmehr spricht die Vergebung den Schuldcharakter des Geschehenen konkret an und macht im Loslassen klar, dass Unrecht mit persönlicher Schuld zusammenhängt. Vergebung bedeutet also nicht die Entschuldigung des Übels selbst; Vergebung macht das Unrecht nicht ungeschehen und bedeutet auch nicht, dass man den Wunsch nach Gerechtigkeit und/oder Sanktionen gegen den Täter aufgeben muss. Wer vergibt, der verzichtet auch nicht automatisch auf Wiedergutmachung; in der Vergebung entlasse ich den Täter zwar aus seiner moralischen Schuld (culpa), aber nicht aus seiner Verantwortung (debitum). Weiter: Vergeben bedeutet nicht Vergessen – das wäre doch bloß Verdrängung und würde sich an anderer Stelle umso mehr in den Vordergrund schieben. Vergebung bedeutet vielmehr eine Veränderung der Art und Weise, wie man sich zurückerinnert. Die Herausforderung besteht darin, die Erinnerung von negativen Emotionen zu reinigen und sich von diesen nicht mehr beherrschen zu lassen. So kann man sich anders zu seiner eigenen (Unheils-)Geschichte verhalten, ohne dabei den Täter zu weiteren Grenzüberschreitungen einzuladen. Vergebung ist also kein Zeichen von Schwäche, sondern vielmehr von Stärke und Selbstvertrauen: Ich bin fähig und bereit, mir die Deutung meiner Vergangenheit nicht mehr von anderen vorgeben zu lassen. Ich nehme meine Geschichte – und damit auch meine Zukunft – selbst in die Hand.31 Zuletzt: Vergebung bedeutet nicht eine automatische Entschuldigung (excuse) des Täters. „Es muss ein wirklicher Sinn des Übeltäters für die Realität des Übels und seine Verantwortung als Täter vorhanden sein, wenn Vergebung irgendwie

29

30 31

Vgl. zu den folgenden Überlegungen v.a.: Enright, Robert D., North, Joanna, Exploring Forgiveness, Madison/WI 1998, S. 15–34, 15–16; Wolfers, Melanie, Die Kraft des Vergebens. Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden, Freiburg i. Br. 2013. Vgl.: North, Joanna, The „Ideal“ of Forgiveness. A Philosopher’s Exploration. In: Enright, Robert D., North, Joanna, Exploring Forgiveness, Madison/WI 1998, S. 15–34, 15–16. Vgl.: Enright, Robert D., Freedman, Suzanne, Rique, Julo, The Psychology of Interpersonal Forgiveness. In: Enright, Robert D., North, Joanna, Exploring Forgiveness, Madison/WI 1998, S. 46–62, 49.

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sinnvoll sein soll“,32 betont Joanna North. Erst auf dieser Basis ist auch eine Entschuldigung des Täters durch das Opfer möglich. Vergebung ist also noch nicht Versöhnung,33 denn Versöhnung ist eine Beziehungskategorie, die beide Seiten umfasst. Vergebung ist dagegen auch einseitig möglich: Sie ist der Schritt des Opfers aus der Opferrolle hinaus und das Zurückgewinnen eigener Selbstmächtigkeit. Das ist auch möglich, wenn der Täter dadurch nicht erreicht wird – evtl. auch gar nicht erreicht werden kann. Ob dieser Schritt im Weiteren bis zur Versöhnung, also zum Aufnehmen neuer Beziehung führt, ist eine andere Frage. Aber auch wenn Vergebung zunächst auf der Seite des Opfers angesiedelt ist, ist sie doch keine rein selbstbezogene Größe. Es geht nicht bloß um die eigene Innenwelt, sondern um die Außenbeziehungen, die man in der Vergebung neu definiert.34 Daraus ergeben sich auch einige Minimalbedingungen, die gegeben sein müssen, damit Vergebung möglich ist.35 Zum einen dürfen Unrechts- und besonders Gewaltverhältnisse nicht weiter bestehen: Einem Täter zu vergeben, der weiter Unrecht tut, ist unverantwortlich. Des Weiteren bedarf es zur Vergebung auch hinreichender seelischer Kraft beim Opfer, und es ist nicht davon auszugehen, dass diese Kraft ‚einfach so‘ vorhanden ist. Hier spielen objektive und subjektive Faktoren zusammen; insbesondere im Fall von Traumatisierungen ist davon auszugehen, dass Vergebung erst dann möglich wird, wenn die Traumatisierung – auch therapeutisch – aufgearbeitet ist. Wer Vergebung fordert, das Opfer womöglich moralisch unter Druck setzt, handelt nicht nur kontraproduktiv, er macht das Opfer einmal mehr zum Opfer und setzt so einen weiteren Gewaltakt. Im Letzten bleibt Vergebung eine Tat der Freiheit – im vollen Sinne des Wortes ein „Gnadenakt“.36 2.2 Vergebung als Entscheidung für die Zukunft Zugleich muss auch der Boden für Vergebung emotional bereitet werden. Es gilt, die negativen Gefühle in Bezug auf die Geschichte loszulassen, Trauer muss ebenso zugelassen werden wie die Reue über eigene Fehler (z.B. wenn man sich zu sehr auf verletzende Beziehungen eingelassen hat), negative Emotionen müssen noch einmal zugelassen und verabschiedet werden. Robert Enright definiert Vergebung dem entsprechend als die „Bereitschaft, sein Recht auf Missgunst, negatives Urteil und distanziertes Verhalten gegenüber jemandem, der uns ungerechtfertigt verletzt hat, aufzugeben und die unverdienten Gaben von Mitgefühl, Großzügigkeit und sogar Liebe ihm oder ihr gegenüber zu hegen.“37 32 33 34 35 36 37

North, The „Ideal“ of Forgiveness (s. Anm. 30), 15–34. Vgl.: Wolfers, Die Kraft des Vergebens (s. Anm. 29), 45–47. Vgl.: North, The „Ideal“ of Forgiveness (s. Anm. 30), 19. Vgl.: Wolfers, Die Kraft des Vergebens (s. Anm. 29), 52–54. Enright et al., The Psychology (s. Anm. 31), 47. Enright et al., The Psychology (s. Anm. 31), 46–47.

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Das ist wiederum nur im Blick auf die Zukunft möglich. Wenn ich neu mein Vertrauen in das setzen kann, was auf mich zukommt, werde ich fähig, die Vergangenheit loszulassen. „Vergeben heißt nach vorne leben.“38 Somit erweist sich Vergebung für den, der vergibt – aber auch für den, der Vergebung annehmen kann – als Befreiung. Zwar wird die Tat nicht ungeschehen gemacht, aber „die Beeinträchtigungen, die dieses Unrecht auf die Beziehung mit dem Übeltäter und möglicherweise mit weiteren anderen hervorruft”,39 werden überwunden. So zielt Vergebung auf die Neudefinition von gebrochenen Beziehungen – im erfolgreichen Fall auf deren Wiederherstellung, also Versöhnung. Aber auch wo das nicht möglich ist, wird das Opfer freier und gewinnt neues Selbstbewusstsein. Die zentrale Rolle in diesem Prozess spielt das „Reframing“,40 d.h. eine neue Sicht auf den Täter als Person, wodurch sich die Fremdperspektive des Opfers wie auch das Selbstbild des Täters ändern. Im Prozess des Refraiming werden sowohl die Tat selbst kontextualisiert („putting the wrongdoer and his action in context“) als auch Täter und Tat bewusst unterschieden („separating the wrongdoer from the wrong“). So wird das Opfer fähig, im Täter mehr zu sehen als nur einen Täter; andere Persönlichkeitsdimensionen kommen neu in den Blick.41 Das ist ein Prozess, der auf verschiedenen Ebenen verläuft: kognitiv (z.B. durch einen bewussten Perspektivenwechsel), emotional (z.B. Loslassen negativer Gefühle) und auch spirituell (z.B. Übergeben der eigenen Rachewünsche an Gott). In seiner „multiperspektivischen Natur“ lässt sich dieser Prozess durchaus auch ins Bußsakrament eintragen. Um Missverständnisse zu vermeiden sei noch einmal betont, dass Vergebung nur dann möglich ist, wenn das Unrecht ein Ende hat. Eine reale Verhaltensänderung des Täters muss der Vergebung vorausgehen, denn „es ist unerlässlich, dass das Opfer nicht verwundbar bleibt.“42

3. Versöhnung als interpersonaler Prozess Hier stellt sich nun die Frage, wie der Weg von der Vergebung zur Versöhnung gelingen kann.43 Dabei ist zunächst zu beachten, dass die persönliche Dimension der Schuld nur im Modus des Bekenntnisses adäquat zur Sprache kommen kann. Denn obwohl konkretes Unrecht objektiv feststellbar und den jeweiligen Tätern 38 39 40 41 42 43

Wolfers, Die Kraft des Vergebens (s. Anm. 29), 164. North, Joanna, Wrongdoing and Forgiveness. In: Philosophy 62 (1987), S. 499–508, 500. North, The „Ideal“ of Forgiveness (s. Anm. 30), 24–28. North, The „Ideal“ of Forgiveness (s. Anm. 30), 26. Fizzgibbons, Richard, Anger and the Healing Power of Forgiveness. A Psychiatrist’s View. In: Enright, Robert D., North, Joanna, Exploring Forgiveness, Madison/WI 1998, S. 63–74, 67. Zum Folgenden vgl. Prüller-Jagenteufel, Gunter M., „Und vergib uns unsere Schuld ...“. Ein theologischer Blick auf die Phänomene von Schuld, Umkehr und Vergebung. In: Oehmichen, Manfred, v. Engelhardt, Dietrich (Hrsg.), Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe (Research in Legal Medicine 33, Leipzig 2005, S. 71–90, bes. 80–86.

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zurechenbar ist, kann die Frage, wie tief hier die persönliche Schuld reicht, jeder nur für sich selbst ausloten. So muss also, wer dem Wesen der (eigenen) Schuld auf die Spur kommen will, zwar von den konkreten Handlungen und Unterlassungen ausgehen, darf aber nicht auf dieser Ebene stehen bleiben, sondern muss in seine Tiefendimensionen vordringen. Schuld und Sünde werden dabei in einem doppelten Sinn als Selbstverfehlung erkannt: Nicht etwas in mir ist schuldig geworden, ich selbst bin das Subjekt dieser meiner Handlungen und daher voll verantwortlich. Zugleich verfehle ich darin mich selbst. Ein solcher ungeschminkter Blick auf die eigene Schuld ist aber nur möglich, wenn nicht die Verurteilung und die endgültige Festlegung auf die Schuld das letzte Wort haben, sondern die Vergebung; wenn also begründete Hoffnung besteht, dass die durch das schuldhafte Handeln zerstörten Beziehungen – zumindest teilweise – geheilt werden können. Da es um Beziehung geht, kreist der Prozess der Versöhnung um zwei Freiheiten: das Ich und das Du. Damit ist jede Automatik ausgeschlossen: Vergebung ist ein frei gewährtes Geschenk, das dennoch nicht voraussetzungslos ist. Sie ist ein Weg der „Lebensheilung“44, in dem die Macht der Schuld durch Liebe überwunden wird. Dieser Prozess verläuft mehrfach zirkulär, denn man kann sich nur deshalb auf den Weg machen, weil er von woanders her eröffnet ist, weil mir (im Modus der Verheißung) die Vergebung schon zugesichert ist und man (im Modus der Hoffnung) die Vergebung erwarten kann. Zwar steht der Weg noch an seinem Anfang, doch der Ausgriff auf ein gutes Ende ist aus der Hoffnung heraus möglich. So setzt die Wiederherstellung der geoder zerstörten Beziehung einerseits den Weg aus der Selbstverfallenheit in den ursprünglichen Bezug zum anderen voraus, anderseits gibt mir erst diese vom anderen her eröffnete, geschenkte Beziehung die Möglichkeit, mich einem solchen Geschehen zu öffnen. 3.1 Schritte im Prozess der Vergebung auf dem Weg zur Versöhnung Der erste und entscheidende Schritt in diesem Prozess ist die Einsicht: Einsicht in das Faktum der Schuld: Dass dies meine Schuld ist und dass dies meine Schuld ist. Diese Einsicht lässt sich nicht von außen herbeiführen, schon gar nicht durch Verurteilungen von anderen. Je größer der Druck von außen, desto eher reagiert der Beschuldigte mit Rationalisierungen und Gegenangriffen. Viel eher führt das Wahrnehmen der Konsequenzen des eigenen Handelns zur Einsicht in die eigenen Abgründe, die jeden Versuch der Selbstentschuldigung unmöglich macht. Wo dieses Wissen um die eigene Schuld klar vor Augen liegt, fordert es zur Stellungnahme heraus, zur bewussten Abwendung von der schuldhaften Tat bzw. Haltung. Was die Tradition Reue nennt, ist nun nicht nur ein bloßes Gefühl, son44

Eid, Volker, Sühne als Schuldbewältigung. Eine moraltheologische Skizze. In: Blanck, Josef, Werbick, Jürgen (Hrsg.), Sühne und Versöhnung (Theologie zur Zeit 1), Düsseldorf 1986, S. 157–172, 170.

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dern eine bewusste und persönliche Stellungnahme: Ich distanziere mich von meiner Schuld – nicht allein, ja nicht einmal primär von der einzelnen Tat, sondern von deren Tiefendimension, von meiner egozentrischen Grundhaltung, die zur konkreten Handlung geführt hat. In der Reue geht es also nicht bloß darum, dass mir eine „Verfehlung“ leid tut, sondern um ein echtes Sich-Lossagen von der Schuld. Zwar überwindet diese Reue allein noch nicht die Schuld, weil es ja um mindestens zwei Betroffene geht, aber diese Form Selbstdistanzierung ist für alle weiteren Schritte unabdingbar notwendig. Im Bekenntnis verdichtet sich dieser Prozess zum Symbol, indem man bezeugt, dass man sein Leben als Existenz in Bezogenheit anerkennt. Verbunden mit der Bitte um Vergebung ist das Bekenntnis das wirksame Zeichen der Einsicht und der Reue – und noch mehr als alles Bisherige ist es nur aufgrund der Hoffnung möglich, dass die erbetene Vergebung nicht verweigert, sondern gewährt wird. Denn letztlich kann sich niemand selbst ent-schuldigen, man kann immer nur um Entschuldigung bitten – und zwar grundsätzlich den Menschen, an dem man schuldig geworden ist. Zudem ist das Bekennen der Schuld auch deshalb notwendig, weil man erst im konkreten Aussprechen des Bekenntnisses jeden Selbstbetrug aufgibt und die Verantwortung für das eigene Handeln wahrnimmt. Daher soll man auch nicht bloß allgemeine Formeln gebrauchen, sondern die konkrete Schuld als solche benennen: „Dieses und jenes tut mir leid und ich bitte dich um Vergebung“. So eröffnet sich die Möglichkeit zu neuer Beziehung. Erst vom Bekenntnis her kann das Wort der Vergebung gesprochen und vernommen werden. Vergebung bedeutet ja, dass der schuldig gewordene Mensch nicht auf seine Vergangenheit festgelegt bleibt, weil man ihm die Reue und damit auch den Willen zur tatsächlichen Änderung seines Verhaltens glaubt. Der dialogische Prozess von Umkehr und Versöhnung geschieht also im Zusammenwirken beider Pole: Sich selbst aus der Selbstverkrümmung lösen und in diesem Prozess von außen her unterstützt werden – beides aufgrund der begründeten Hoffnung auf Vergebung und Versöhnung. Die erhoffte Vergebung führt zur Umkehr, die Umkehr wiederum ermöglicht erst echte Vergebung. So wird der Bruch der Beziehung zwar weder ungeschehen gemacht noch vergessen, aber die zerbrochene Beziehung kann aufs Neue geknüpft werden. Damit wird sie aber nicht einfach wieder die alte, sie erhält vielmehr eine neue Qualität. Wie diese aussieht, ob die Intensität der neuen Beziehung der früheren ähnlich ist, oder ob es insgesamt eine Neudefinition ist, wird von Fall zu Fall verschieden sein. So kann z.B. nach einer verletzungsreichen Trennung ein Paar auch dann zu einer gewissen Freundschaft finden, wenn eine gemeinsame Zukunft als Paar nicht mehr möglich ist. Zwar gibt es dafür keine Garantie, doch es bleibt zumindest die Hoffnung, aus der heraus der Versuch der Versöhnung gewagt werden kann. Damit schließt sich der Kreis: Vergebung und Versöhnung geschehen nicht aufgrund von Buße und Umkehr, sondern sind wesentlich Gnade und Geschenk. Zugleich sind sie im Modus der Verheißung deren Voraussetzung. Anderseits

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kann Vergebung zu ihrem eigentlichen Ziel, nämlich zur Versöhnung als Wiederherstellung der schuldhaft zerbrochenen Beziehung, nur dann kommen, wenn sie auch vom Schuldigen angenommen wird, was eben jenen Prozess der Buße und Umkehr voraussetzt. Die Erfahrung der Vergebung drängt nun von sich aus auf die Wiedergutmachung der Tat: Wiedergutmachung als „dankbares Tun“45, als direkte Konsequenz der Vergebung. Dabei kann es nicht darum gehen, Geschehenes ungeschehen zu machen; so wie es in der Vergebung nicht um ein Vergessen geht. Vielmehr ist die Wiedergutmachung ein Symbol für die Verantwortung, die ich für meine Schuld übernehme; und das bedeutet wesentlich, deren Folgen aufzuarbeiten, so gut es eben geht. Wo das nicht möglich ist, kann zumindest die strukturelle Dimension der Schuld in den Blick genommen werden. So kann Wiedergutmachung auch heißen, die „Strukturen der Sünde“, an denen man mitgebaut hat, ein Stück weit einzureißen – vorrangig an der „Baustelle“, an der man selbst mitgebaut hat. So wird Wiedergutmachung zum Symbol dafür, dass die Vergebung angekommen ist und die entsprechende Verantwortung wahrgenommen wird. 3.2 Versöhnung zwischen Tätern und Opfern Aus dem bisher Gesagten ist deutlich geworden, dass Versöhnung keineswegs billiges Appeasement bedeutet, sondern ein kommunikatives Geschehen, das nur dort glücken kann, wo die „konfliktverschleiernden Praktiken der Versöhnlichkeit“46, die in vielen Gemeinschaften herrschen, überwunden werden.47 Daher können Vergebung und Versöhnung auch nicht auf dem Rücken der Opfer erfolgen. Eine Vergebung, die nicht vom Opfer selbst oder zumindest zu Recht in dessen Namen ausgesprochen wird, wäre ein nichtssagender Freispruch: ein bloßes Nicht-Anrechnen der Schuld durch jene, die ohnehin nicht davon betroffen sind. Ein solcher „Freispruch“ wäre aber zynisch, er würde die Opfer weiterhin auf ihren Opferstatus festlegen, die Täter könnten „ein zweites Mal über ihre Opfer triumphieren“48. Andererseits kann es aber auch nicht darum gehen, dass der Täter die Vergebung „verdienen“ muss; das wäre aufgrund der Abgründigkeit der Schuld von vornherein zum Scheitern verurteilt. Da Vergebung sola gratia gewährt 45

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Gestrich, Christoph, Was bedeutet es, von der Sündenvergebung her die Sünde wahrzunehmen? In: Sigrid Brandt et al. (Hrsg.), Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, NeukirchenVluyn 1997, S. 57–68, 67. Dantine, Johannes, Versöhnung – Ein Herzstück des christlichen Glaubens. In: Karner, Peter (Hrsg.), Versöhnung: Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Texte – Impulse – Konkretionen (Zur Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung Graz), Innsbruck 1997, S. 53–62, 59. Vgl. zum Folgenden: Prüller-Jagenteufel, Gunter M., Befreit zur Verantwortung. Sünde und Versöhnung in der Ethik Dietrich Bonhoeffers (Ethik im Theologischen Diskurs 7), Münster 2004, S. 546–564. Körtner, Ulrich, Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Theologische Überlegungen auf dem Weg nach Graz. In: Diakonia 28 (1997), S. 10–21, 19.

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wird, liefert sich der um Vergebung Bittende dem Opfer aus und riskiert sich dabei im Letzten selbst, weil diese Bitte ja auch verweigert werden kann. Diese Erfahrung bleibt dem Täter nicht erspart und spiegelt ihm gewissermaßen noch einmal die Abgründigkeit der eigenen Schuld. Zugleich steht aber auch das Opfer unter dem Risiko des Scheiterns. Denn wenn Schuld das Zerbrechen von Beziehung bedeutet, dann stehen, solange Vergebung nicht gewährt und Versöhnung nicht vollzogen ist, beide Seiten unter den Folgen der Schuld. Vom Opfer ist zwar nur dann Vergebung zu erwarten, wenn es darauf vertrauen kann, dass der Täter authentisch den Weg der Bekehrung und der Verantwortung geht; als Vorleistung auf Seiten des Täters müssen aber die ehrliche Reue, das Bekenntnis und die Vergebungsbitte genügen. So weist der Versöhnungsprozess ein doppeltes Risiko und eine doppelte Hoffnungsdimension auf: Der Täter hofft auf Vergebung und riskiert in der Vergebungsbitte an das Opfer deren Verweigerung; das Opfer hofft auf die Wahrhaftigkeit und Ernsthaftigkeit der Umkehr und riskiert, neuerlich getäuscht und missbraucht zu werden. Beide Risiken sind real, solange Menschen in der realen Spannung von Sünde und Erlösung stehen. Insofern stehen Vergebung und Versöhnung unter dem Risiko des Scheiterns und sind nur im Modus der Hoffnung möglich und werden wohl auch immer nur im Fragment realisiert.

4. Eröffnung neuer Zukunft in Freiheit und Verantwortung Die Erfahrung von Vergebung – die, die man selber gewährt, wie auch die, die einem gewährt wird – eröffnet so neue Zukunft; sie stärkt die Freiheit und die Verantwortung aller Beteiligten. Dafür braucht es aber Räume der Ermutigung und Unterstützung, denn die einzelnen sind hier oftmals überfordert. Diese Aufgabe könnte und sollte die christliche Gemeinde wahrnehmen, ist doch Vergebung nicht nur ihr Auftrag, sondern ihr konstituierendes Element. Pastoral gewendet: Die konkrete kirchliche Gemeinde ist aufgerufen, aus der Erfahrung von Gottes geschenkter Vergebung selbst zu einem Raum zu werden, wo Vergebung geübt wird. So kann die Erfahrung der Vergebung in der Gemeinde zum ermöglichenden Grund von Versöhnung über ihre Grenzen hinaus werden. Allerdings muss die konkreten Schritte zur Versöhnung jeder Mensch selbst gehen, denn „Vergebung ersetzt nicht die Aufarbeitung des schuldhaften Geschehens bei allen Beteiligten und Betroffenen.“49 Aber immerhin ist der erste Schritt schon getan, denn „wer vergibt, gibt das Recht auf, den anderen so zu verletzen, wie er selbst verletzt wurde.“50 Mit dem freiwilligen Verzicht auf Vergeltung gewinnt das Opfer seine Souveränität zurück, ist es nicht mehr gezwungen, Schuld 49 50

Riedl, Alfons, Vergib uns unsere Schuld – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 110–113, 112. Herbst, Michael, Beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 389.

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nachzutragen. Die Opfer entkommen der Opfer-Falle und die Täter erhalten die Möglichkeit, sich ihrer Verantwortung zu stellen und so aus der Täter-Falle befreit zu werden. So kann die konkrete Erfahrung der Vergebung den Boden bereiten für eine neue Kultur der Versöhnung. Es bleibt aber in jedem Fall ein eschatologischer Überschuss, denn wo sich konkrete Versöhnung als unmöglich erweist, eröffnet die Erfahrung der „Verzeihung des Unverzeihlichen“ (Jacques Derrida) die Sphäre absoluter Gratuität. Um diese Gnade nicht „billig“ zu machen, kann und darf Vergebung nicht zu einem „allgemeinen Postulat“ werden, sondern muss ihren Geschenkcharakter bewahren. Insofern ist aber auch die „bloß“ zwischenmenschliche Vergebung bereits ein „sakramentales Zeichen“ der göttlichen Vergebung, die die Möglichkeiten des Menschen transzendiert, ein symbolisches Kommunikationsgeschehen, das weit über das Gesetz hinausreicht und somit eine reale Inkarnation des Evangeliums darstellt.51 Schuldbekenntnis, Vergebung und Versöhnung erweisen sich so als zentrale Dimensionen des Humanum: Im ungeschminkten Blick auf die Verantwortung der Vergangenheit eröffnen sie die Freiheit aller beteiligten Subjekte auf Zukunft hin. So gelingt nicht nur der Durchbruch zur Wahrheit und zur Gemeinschaft, sondern mehr noch zur Zukunft in Freiheit und Verantwortung.

51

Vgl.: Zehner, Joachim, Das Forum der Vergebung in der Kirche. Studien zum Verhältnis von Sündenvergebung und Recht (Öffentliche Theologie 10), Gütersloh 1998, S. 334–346.

Thesen und Beobachtungen zum Beichtverständnis der Confessio Augustana Ralf K. Wüstenberg Im Augsburger Bekenntnis, der Confessio Augustana (CA)1 haben die jungen evangelischen Gemeinden unter Federführung von Philipp Melanchthon vor dem Kaiser 1530 in knapper Form ihren Glauben in 28 Artikeln darlegen können. Das Bekenntnis dient zu Recht immer wieder als Referenzpunkt, wo es um Standortbestimmungen im evangelischen Glauben geht. Die ersten 21 Artikel umschließen Fundamentalartikel u.a. zum Verständnis von Sünde (CA 2), Jesus Christus (CA 3), Rechtfertigung (CA 4), Neuem Gehorsam (CA 6), Kirche (CA 7–8), den Sakramenten und eben auch Beichte und Buße. Die hinteren Artikel (CA 22–28) behandeln kritisch die Praxis der römisch-katholischen Kirche der Zeit.2 Angemerkt sei auch, dass die CA immer wieder auch Grundlage von ökumenischen Gesprächen wurde, aus denen auch gemeinsame Kommentare entstanden sind.3

1. Quelle XI. De confessione docent, quod absolutio privata in Ecclesiis retinenda sit, quamquam in confessione non sit necessaria omnium delictorum enumeratio. Est enim impossibilis iuxta Psalmum (19,13): Delicta quis intelligit?4 Der 11. Artikel Von der Beichte lehren sie, dass an der Privatabsolution festzuhalten sei, obwohl eine Aufzählung aller Verfehlungen bei der Beichte nicht notwendig ist. Solches ist nämlich unmöglich gemäß Psalm 19,13: Wer kennt seine Verfehlungen? 1 2

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Text in den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition (= BSELK), Göttingen 2014, S. 65–225. Historisch ist die Confessio Augustana (invariata) von 1530 durch die katholische Seite in der Confutatio in großen Teilen abgelehnt worden; besonders heftig hatte man sich an CA 27 gestoßen, der als Empfehlung zur Auflösung der Klöster gelesen wurde. Melanchthon hatte dann einige Jahre später eine große Apologie der CA verfasst; schließlich entstand 1540 noch eine weitere, veränderte Fassung, die sog. CA variata. Die Lutheraner hatten sich aber am Ausgang von vielen internen Streitigkeiten schließlich darauf verständigt, die unveränderte Variante von 1530, also die sog. CA invariata als maßgebliches Dokument für den lutherischen Glauben zu betrachten. Vgl. etwa die gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen Meyer, Harding, Schütte, Heinz, Confessio Augustana. Bekenntnis des einen Glaubens, Paderborn, Frankfurt 1980. BSELK, 105. Nachfolgende Übersetzung: Ralf K. Wüstenberg

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XII. De poenitentia docent, quod lapsis post Baptistum contingere possit remissio peccatorum quocunque tempore, cum convertuntur, Et quod Ecclesia talibus redeuntibus ad poenitentiam absolutionem impartiri debeat. Constat autem poenitentia proprie his duabus partibus: Altera est contritio seu terrores incussi conscientiae agnito peccato. Altera est fides, quae concipitur ex Evangelio seu absolutione et credit propter Christum remitti peccata et consolatur conscientiam et ex terroribus liberat. Deinde sequi debent bona opera, quae sunt fructus poenitentiae.5 Der 12. Artikel Von der Buße lehren sie, dass für die nach der Taufe Gefallenen eine Vergebung der Sünden zuteilwerden kann, zu welcher Zeit auch immer, jedes Mal wenn sie umkehren, und dass die Kirche den auf diese Weise zur Buße Umkehrenden die Absolution zuteilwerden lassen muss. Die Buße besteht im eigentlichen Sinne aus diesen beiden Teilen: Der eine ist die Zerknirschung oder die dem Gewissen durch die erkannte Sünde eingejagten Schrecken; der andere ist der Glaube, der empfangen wird aus dem Evangelium oder aus der Absolution, der glaubt, dass die Sünden vergeben werden um Christi willen, der das Gewissen tröstet und aus den Schrecken befreit. Darauf müssen die guten Werke folgen, die die Früchte der Buße sind.

2. Thesen Im Anschluss an die einschlägigen Artikel des Augsburger Bekenntnisses aus der Reformationszeit folgen dogmatische Beobachtungen; vorab eine Systematisierung der Beobachtungen in drei Thesen: (1.) Die christlichen Buße umfasst nach CA 11 und 12 vier Merkmale, nämlich Reue und Glauben (CA 12) sowie Lossprechung und Bekenntnis (CA 11). Durch die Bedeutung, die die Reformatoren der Lossprechung zuerkennen, wird der Buße sakramentaler Charakter zugeschrieben. (2.) Buße und Beichte sind für den evangelischen Glauben in doppeltem Rahmen interpretationsstark, nämlich einerseits im Hinblick auf Lossprechung und Glauben (im Licht der Rechtfertigungslehre) und andererseits im Hinblick auf die Reue und das Bekenntnis (im Licht der Leitunterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium.) (3.) Voraussetzungen der Sündenvergebung sind Reue und Glaube. Reue und Glaube sind keine eigenverdienstlichen Werke, sondern Werke Gottes im Menschen (opera Dei in hominibus; Apol CA12,53). Deshalb geschieht die Sün5

BSELK, 107. Nachfolgende Übersetzung: Ralf K. Wüstenberg

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denvergebung auch nicht ex opere operato aufgrund der Reue, sondern durch jenen besonderen Glauben (als Beziehungs- und Vertrauensgeschehen), durch den ein jeder glaubt, dass ihm die Sünden vergeben sind (Apol. CA 12, 59).

3. Textbeobachtungen zu CA 11 Zwei Einzelbeobachtungen sind m.E. zu diesem kurzen Artikel festzuhalten, nämlich strukturell zur Stellung der Beichtartikel innerhalb der CA sowie zum „Bekenntnis“ (confessio). (1.) Zur Stellung innerhalb der CA: Im Hinblick auf den gesamten Textkorpus der CA erschließt sich die Bedeutung des Artikels über Beichte und dann Buße formal bereits aus der Stellung: Auf die Artikel über die Kirche (CA 7 und 8) folgen die über die Sakramente Taufe und Abendmahl (CA 9 und 10) sowie Beichte und Buße (11 und 12), um dann abschließend im Artikel CA 13 zu münden. Dann, in CA 25, wird noch einmal unterstrichen, dass man an der Beichte festhalten möchte. Die Begründung ist eine doppelte: „einmal wegen der außerordentlichen Wohltat, die in der Absolution liegt; dann aber auch wegen sonstigen Nutzens, den sie für die Gewissen hat.“6 (2.) Zur „confessio“: Die Aufzählung aller Verfehlungen ist nicht nötig. Hierzu wird in CA 25, 9 erläutert: „Die elende menschliche natur stickt so tieff inn sunden, das sie dieselben nicht alle sehen odder kennen kan, und solten wir allein von denen absolvirt werden, die wir zelen können, wer uns wenig geholffen“.7 Ob es sich hier direkt um eine Reaktion auf die dogmatischen Festlegungen des 4. Laterankonzils von 1215 handelt oder eher um die Praxis, also eine Kasuistik kanonistischer Beichtbücher, bleibt an dieser Stelle offen. Die Apologie zu CA 11,7 spricht indirekt eher die Beichtpraxis an. „Es ist leider allzuklar am tage und rüchtig durch alle kirchen inn gantz Europa (…), da es gebeut, man solle schuldig sein, alle sunde zu beichten, die gewissen inn elend, jammer und verstrickung bracht hat“ 8. Es sind zwei Gesichtspunkte, die für die reformatorische Sicht gegen eine(n) Vollständigkeit des Bekenntnisses sprechen: Hielte man an der Vollständigkeit des Bekenntnisses fest, dann könnte auch die Sündenvergebung nur bedingt bleiben, weil sie von der Vollständigkeit des Bekenntnisses abhängig wäre. Des Weiteren stünde nicht die Lossprechung im Mittelpunkt, sondern das Bekenntnis des Menschen, was wiederum zum Gewissenzwang und zur Werkgerechtigkeit führen würde. Wir erhalten bereits hier einen ersten Hinweis darauf, dass die reformatorische Bewegung die tröstende, aufrichtende und befreiende Botschaft von Gottes gnädiger Vergebung um Christi willen in den Mittelpunkt der Beich6 7 8

CA 25,13 (BSELK, 149, 11f.). CA 25, 9 (BSELK, 148, 19f.). Apol. CA 11,7 (BSELK, 430, 19f.).

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te rücken möchte und dass sich ihr Protest wesentlich gegen Fehlhaltungen und Missbräuche der Bußpraxis – wie die Verrechtlichung und Veräußerlichung – richtet.

4. Textbeobachtungen zu CA 12 Drei Beobachtungen sind m.E. zu diesem Textabschnitt einschlägig, nämlich zum Glauben, zur Reue und zu den guten Werken. (1.) Die erste Beobachtung führt gleich in die Mitte des Textes und ist bezogen auf die Stellung des Glaubens. Bereits quantitativ wird in CA 12 viel über den Glauben gesprochen, verhältnismäßig wenig über die contritio, gar nicht über die confessio und explizit ebenfalls nicht über die satisfactio. Doch ordnen wir zunächst die Beobachtung über die zentrale Stellung des Glaubens in den Duktus lutherischer Theologie ein. Glauben ist als fiducia vor allem ein Vertrauens- und Beziehungsgeschehen, es geht um das Vertrauen auf die wirksame Zuschreibung der von Christus erbrachten Gerechtigkeit. Das Verheißungswort von Mt. 16,19 ist dem Gläubigen wirksam zugesprochenes Vergebungswort: „Was Du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein.“ Nach der Verheißung „Wer Euch hört, hört mich“ (Apol. CA 12,40) ist die Absolution vera vox evangelii. Wörtlich heißt es in CA 25, 3, dass dieser Stimme, „Gottes wort, der die sunde vergibt“ zu glauben sei, „nicht weniger, denn 9 man Gottes stimme vom himmel höret“ . Für die Reformatoren liegt das Gewicht von Buße und Beichte nicht auf der menschlichen Aktivität der Reue (wie in den Deklarationstheorien im Anschluss an Petrus Lombardus – dort „steckt“ die Vergebung bereits im Akt der Reue und die Absolution „deklariert“ lediglich die Sündenvergebung), sondern auf Gottes Wirken in der Lossprechung. Mit dem Neuverständnis der Absolution als wirksam zugesprochenes Vergebungswort Gottes geht die innere Verbindung von Verheißung und Glauben einher. Im Glauben nämlich wird die Vergebung empfangen, und zugleich wird der Glaube gestärkt durch den Zuspruch der Sündenvergebung. 10 Hier „erstrahlt die Wohltat Christi hell“, wie es in der Apologie heißt. Auf dem Hintergrund des Ausgeführten ist nun verständlich, warum Evangelium und Absolution geradezu parallelisiert werden können. Im Text heißt es: „Glaube (fides), der empfangen wird aus dem Evangelium oder aus der Absolution.“ Ebenfalls unmittelbar verständlich wird die zweite Aussage über den Glauben, „der glaubt, dass die Sünden vergeben werden um Christi willen“. Das doppelte „propter Christum“ aus CA 4 taucht hier in CA 12 wieder auf und verweist auf die enge Verbindung mit der Rechtfertigungslehre.11 Schließ9 10 11

CA 25 ,3 (BSELK, 148, 3f). Apol. CA 12,42f. (BSELK, 449, 8f.). Interessant in diesen Zusammenhang eine Beobachtung am lateinischen Text: „propter Christum“ ist grammatikalisch nicht genau zuzuordnen. Entweder auf den Glauben bezogen oder auf

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lich verschränkt die dritte Aussage über den Glauben, nämlich dass er die Gewissen tröstet und aus Schrecken befreit, mit dem, was zuvor über die contritio gesagt wurde. (2.) „Im eigentlichen Sinne“ – so heißt es – bestehe die Buße aus zwei Teilen: contritio und fides; in Verbindung mit CA 11 wäre auf vier Merkmale zu erweitern: confessio, contritio, absolutio privata und fides. An dieser Stelle erhalten wir einen ersten, zentralen Hinweis darauf, dass die satisfactio im römischen Bußverständnis durch die fides in der reformatorischen Theologie ersetzt wird. Dieser Gedankenschub könnte allerdings gebremst werden durch eine andere Beobachtung, nämlich dass die „guten Werke“ am Ende auch in CA 12 auftauchen. Zudem ist grundsätzlich zu fragen, ob CA 12 überhaupt an die institutionelle Ordnung des Sakraments dachte oder nicht viel eher den theologischen Gehalt der Buße akzentuieren wollte. Solche Akzentuierung würde allerdings eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber dem römisch-katholischen Bußsakrament erkennen lassen: von der Vollständigkeit des Bekenntnisses und der menschlichen Aktivität in der Reue zur göttlichen Absolution; der Akzent liegt jetzt ganz auf der so verstandenen Absolution: Als im Glauben empfangenes und den Glauben stärkendes Vergebungswort Gottes. Da die Absolution den Glauben stärkt – das gilt als ein Merkmal für ein Sakrament nach CA 13 – und in ihr die Schlüsselgewalt wirksam ist – sie also auf eine in der Schrift bezeugte Einsetzung durch Jesus Christus zurückgeht (als weiteres Merkmal), kann vom Sakrament der 12 Buße gesprochen werden (sacramentum poenitentiae) . Trotz der deutlich betonten Rede vom Glauben und dem Gefälle hin zur Absolution (Vergebungszusage), bleibt die contritio als Teil des Bußgeschehens auch im evangelischen Glauben bestehen. Auch die confessio, wenn auch in CA 12 nicht explizit erwähnt, wird (sie) jedoch nicht ausgeschlossen; manches spricht dafür, dass sie in Anschluss an CA 11 in lockerer Weise mitgedacht wird, wenn auch die „vollständige Aufzählung unnötig“13 ist. Doch jetzt zur „contritio“. Zerknirschung, Reue wird erläutert als „der dem Gewissen durch die erkannte Sünde eingejagte Schrecken“. Erhalten wir einen Hinweis auf die Passivität des Vorgangs im Sinne der contritio passiva als Gottes uneigentliches Werk (opus alienum), das den Menschen zum Evangelium führen soll (opus proprium)? Andererseits wird das Subjekt nicht explizit genannt. Die Zerknirsching wird gewirkt. Von wem? Der Mensch kann diese contritio nicht herstellen. Wird sie von Gott gewirkt, damit der Mensch zum Evangelium geführt wird? Interessant im Sinne eines argumentum e silentio ist,

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die Vergebung der Sünden. In CA 4 taucht „propter Christum“ in zwei Bezügen auf: Einmal heißt es, dass die Menschen umsonst (gratis) gerechtfertigt werden um Christi willen durch den Glauben (propter Christum per fidem), und – so heißt es zwei Zeilen weiter – wenn sie glauben an die Sündenvergebung um Christi willen (peccata remitti propter Christum). Apol. CA 13 (BSELK, 513). CA 11,1 (BSELK, 105, 11).

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dass das alles so gar nicht explizit gesagt wird. Vorausgesetzt scheint die Einsicht, dass die Reue reformatorisch-theologisch eine Sache zwischen Gott und dem Beichtenden ist, ein Vorgang coram deo. Der systematische Referenzrahmen ist hier die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. In dieser reformatorischen Leitunterscheidung geht es um die Beschreibung von zwei existentiellen Grunderfahrungen: „Gesetz“ meint die Begegnung mit einer Forderung oder Norm, an der gemessen ein Mensch erkennt: So sollte, ja, so möchte ich sein, aber so bin ich gerade nicht. „Evangelium“ meint die andere Erfahrung, nämlich angenommen, geliebt, akzeptiert zu werden, ohne Vorleistung – und das, obwohl das liebende Gegenüber erkennt, wie es um den Menschen steht. In Analogie zur reformatorischen Leitunterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium wirkt Gott, der wahre Richter, in der Buße die aufrichtige Reue. Da der Pfarrer keine richterliche Befugnis hat, braucht er auch nicht alle Sünden zu kennen, um die Absolution aussprechen zu können.14 Die Reue als von Gott – wenn auch uneigentlich – gewirktes Geschehen soll den Menschen zum Evangelium, der guten Nachricht von der erlösenden Liebe Gottes, treiben. Wieder ist der Zielpunkt des Bußgeschehens nicht Bekenntnis, nicht Reue, sondern die Lossprechung! Vor dem Hintergrund der Leitunterscheidung von Gesetz und Evangelium ist die Reue gewissermaßen notwendiges Durchgangsstadium. Denn der Weg zur Neuwerdung führt über Scham, Reue und Schmerz. Dabei ist das Gesetz selbst nicht der Ausweg. Es kann dazu antreiben, einen solchen Weg zu suchen; aber es kann auch in Resignation und Verzweiflung stürzen. Das war bekanntlich Luthers Situation im Kloster. Er machte als Mönch die Erfahrung, dass das Gesetz zum Richter und Ankläger wird, weil es die richtige Herzenseinstellung gegenüber einem strafenden Gott fordert. Es fordert nämlich Glauben von ganzen Herzen, obwohl der Mensch, weil Sünder, außerstande ist, diese Forderung zu erfüllen. Das Gesetz Gottes fordert: „Du sollst lieben den Herrn deinen Gott von ganzem Herzen“15, und klagt damit etwas ein, was der Mensch aus eigenem Vermögen nicht vollbringen kann. Die Funktion des Gesetzes ist die der Gewissensanklage angesichts des nicht erfüllten Gesetzes. Das Evangelium legt aber den Menschen nicht auf das fest, was er ist, sondern spricht ihn auf das hin an, wozu er von Jesus Christus her bestimmt ist, nämlich als vor Gott gerechtfertigten Menschen. Im Ergebnis nimmt die befreiende Kraft des Evangeliums nur wahr, wer sich als Sünder erkennt. Und wer sich als Sünder bekennt – und damit das Scheitern am Gesetz annimmt –, dem wird die befreiende Kraft des Evangeliums zuteil. Diese Dynamik von Gesetz und Evangelium durchzieht aber das ganze christliche Leben. Dafür steht die reformatorische Neuentdeckung des Begriffs Buße als 14 15

CA 25,10 (BSELK, 149,16). Dtn. 6,5.

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tägliche Hinkehr zu Gott in Reue und Glauben gemäß Mk. 1,15: „Tut Buße, und glaubt an das Evangelium.“ „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße!, so hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei“ – so Luther bereits 1517 in der ersten der 95 Thesen.16 (3.) Schließlich noch eine kurze Bemerkung zum letzten Satz von CA 12: „Darauf müssen die guten Werke folgen, die die Früchte der Buße sind.“17 Eine Satisfaktion, die Werke in den Zusammenhang der Rechtfertigung vor Gott rückten, ist bereits in CA 3 und 4 ausgeschlossen worden. „Satisfecit“ ist in CA 4 auf Christus als Subjekt bezogen. Dort werden wir aufgefordert zu glauben, dass Christus durch seinen Tod Genugtuung für unsere Sünden geleistet hat (lat. satisfecit). Diesen Glauben – und darin kulminiert der bekannte Artikel 4 – rechnet Gott zu als Gerechtigkeit vor sich (imputativ). Immer wenn wir glauben, dass Christus die Gerechtigkeit, die eigentlich wir erbringen müssen, durch seinen Gehorsam geleistet hat, wird uns diese zugeschrieben und werden wir als vor Gott Gerechte betrachtet. Satisfaktion coram deo durch den Pönitenten ist in evangelischer Hinsicht ausgeschlossen und wird durch den Glaubensbegriff der Reformation ersetzt. In einer anderen Hinsicht, nämlich im Blick auf gute Werke vor den Menschen, liegt die Sachlage anders. Gute Werke gehen aus dem so gerechtfertigten Christen wie Früchte von einem Baum hervor, ja sie müssen hervorgehen. Eine parallele Konstruktion zu CA 12 findet sich in der Abfolge von Artikel 4 (über die Rechtfertigung) und Artikel 6 (über den neuen Gehorsam). Auch hier fordert Melanchthon die guten Werke, die aus dem Glauben folgen. Lu18 ther hat bekanntlich die Metapher vom Baum und den guten Früchten benutzt; er war allerdings nicht der Meinung, dass man die guten Werke fordern müsse. So wie 7 plus 3 die Zahl 10 ergibt (und nicht ergeben muss), so würden auch die guten Werke aus dem Glauben fließen (und nicht gefordert werden müssen).

5. Zusammenführung von CA 11 und 12 Beginnen wir mit der schlichten Beobachtung, dass es zwei und nicht einen Artikel gibt, und der sich anschließenden Frage: Warum haben die Reformatoren überhaupt zwei Artikel formuliert und nicht einen, den Melanchthon dann „Zum Bußsakrament“ überschrieben hätte? Systematisch-theologisch gefragt: Wie stehen Reue und Glaube aus CA 12 zu den beiden anderen Merkmalen Bekenntnis und Lossprechung (absolutio privata) aus CA 11? Sind die vier Merkmale, ähnlich dem katholischen Bußsakrament in eine geordnete Reihenfolge zu bringen? Will man 16 17 18

WA 1, 233. CA 12,6 (BSELK, 107, 8). WA 7, 32, 10–15.

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hier weiterkommen, wird man sicher darauf achten müssen, dass man die CA nicht systematisch presst. Es ist ein Bekenntnis und keine Dogmatik. Auf der anderen Seite wird man vermuten dürfen, dass schon mit Umsicht formuliert wurde. Ich möchte in dieser Skizze in aller Vorläufigkeit folgenden Vorschlag machen: CA 12 ist konstitutiv und beschreibt theologisch das Wesen der Buße. Es fehlt allerdings der konkrete Sitz im kirchlichen Leben. CA 11 nährt die visuelle Vorstellung von dieser konkreten Situation, der die contritio vorausgegangen ist, die confessio ihren Ort bekommt und gehört wird und die absolutio privata zugesprochen und im Glauben angenommen wird. Der Doppelartikel CA 11 und 12 schafft Freiheit für die Praxis der Beichte auch in der Evangelischen Kirche; das Gefälle zu Art. 12 als dem Wesen der Buße schafft zugleich die Freiheit von einem Zwang zur Beichte als dem einzigen Ort, wo Sündenvergebung stattfinden würde. Buße und Sündenvergebung gibt es innerhalb und außerhalb der konkreten Vergebungszusage in der Privatabsolution. Ausschlaggebend in beiden Fällen ist der Glaube an das Evangelium als der guten Nachricht von der erlösenden Liebe Gottes, die den Menschen zu dem macht, zu dem er sich selbst nicht machen kann, nämlich zu einem von Gott geliebten Menschen.

Absolution als Richterspruch? Beobachtungen zur tridentinisch-katholischen Bußtheologie Gunter Prüller-Jagenteufel Der obige Beitrag von Ralf Wüstenberg zum Verständnis von Buße und Beichte gemäß der Confessio Augustana zeigt deutlich, wo in der Reformationszeit die Konfliktlinien verliefen und welche Kritikpunkte die Reformatoren an der zeitgenössischen Bußpraxis anzubringen hatten.1 Die Berechtigung dieser Kritik wird weithin auch in der katholischen Theologie anerkannt; theologische Gespräche und auch Konsense sind möglich und wurden zum Teil auch erreicht. Dennoch bleiben Differenzen, die letztlich auf das Konzil von Trient zurückgehen. Diese sind nicht leicht zu überwinden, weil auch heute noch maßgebliche Lehramtstexte der katholischen Kirche direkt auf die Formulierungen und Regelungen des Tridentinums zurückgreifen, oft ohne die aktuellen theologischen Entwicklungen – sowohl die innerkatholischen als auch die ökumenischen – zu berücksichtigen. Im Folgenden geht es also um den Traditionsstrang, der auf das Konzil von Trient zurückgeht und der damit auf einer kontroverstheologischen Zuspitzung aufbaut, die zwar historisch wirkmächtig geworden ist, aber in ihrer Engführung nicht zwingend wäre. Zu beachten ist nämlich, dass die Konzilsteilnehmer von Trient die Lehre der Reformatoren im allgemeinen nicht aus den originalen Schriften kannten, sondern sich auf Irrtumslisten und Häresienkataloge stützten, die von Theologen oder Kanonisten zusammengestellt worden waren. Die Absicht war jedenfalls nicht eine theologische Verständigung, dazu war der Konflikt schon zu weit gediehen, sondern eine möglichst klare Zurückweisung der reformatorischen Positionen. Trient bietet also keineswegs, wie in der katholischen Theologie der folgenden Jahrhunderte oft vorgestellt, die katholische Lehre in systematischer Entfaltung, sondern vor allem eine kontroverstheologisch zugespitzte Antwort auf die Reformation.

1. Die Wende von der altkirchlichen Buße zur Beichte als historischer Hintergrund der tridentinischen Bußtheologie Nachdem sich im 12. Jahrhundert die von iro-schottischen Missionaren verbreitete Beichtpraxis in weiten Teilen (West-)Europas durchgesetzt hatte, legte das Vierte 1

Vgl. in diesem Band den Beitrag von Ralf Wüstenberg „Thesen und Beobachtungen zum Beichtverständnis der Confessio Augustana“.

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Laterankonzil (1215) fest, dass jeder Katholik zur jährlichen Beichte verpflichtet sei, und zwar in zeitlichem Zusammenhang mit der jährlichen Osterkommunion.2 Durch das Verschwinden der öffentlichen Rekonziliationsbuße3 wurde nun die kirchliche Bußpraxis nicht nur privatisiert, sie veränderte auch theologisch ihren Charakter: Der ekklesial-disziplinäre Verstehenshorizont wurden durch einen monastisch-spirituellen überformt. Nun war aber die Mönchsbeichte nicht primär auf schwerwiegendes moralisches Fehlverhalten ausgerichtet als vielmehr auf das Wachstum in der geistlichen Vollkommenheit. Für schwere Sünden schien es daher geboten, ein Tarifsystem einzuführen, um die Objektivität und den disziplinären Charakter des Bußverfahrens sicherzustellen. Den Hintergrund dafür bildet die Satisfaktionslehre des Anselm v. Canterbury, welche nicht so sehr die moralische Dimension der culpa ins Zentrum der Sündentheologie stellte, als vielmehr das debitum, also die geschuldete Wiedergutmachung. Während nun die Reformatoren die debita der Menschheit durch Christus hinreichend gesühnt sahen, beharrten die Gegner der Reformation und das Konzil von Trient darauf, dass darüber hinaus eine gewisse satisfactio von den Sündern selbst zu leisten sei. Nun hatte aber schon Petrus Abaelard (1079–1142)4 das Wesen der Sünde nicht in der Handlung an sich festgemacht, sondern im Willensakt5; dem entsprechend bestimmte er das Wesen der Buße nicht in einer Satisfaktionshandlung, sondern in der Reue, d.h. der willentlichen Abwendung von der Sünde. Der Objektivismus der Scholastik muss daher wohl schon für diese Zeit als „massiver Rückschritt“6 gewertet werden. Zudem führte der „private“ Charakter der Beichte zu einer „Interiorisierung“7 der Buße. Damit wurde aber auch die Sünde selbst „privatisiert“, d.h. das Verständnis der Sünde als Beziehungskategorie,8 die wesentlich andere Menschen betrifft, ging mehr und mehr verloren; Sünde wurde auf ein Geschehen zwischen Gott und dem einzelnen reduziert. Dem entsprechend erschien die Beichte als das Sakrament, welches das Verhältnis zwischen Gott und dem Sünder wieder zurechtrückte. Die satisfactio diente eben dieser Versöhnung von Gott und Mensch; der horizontale Aspekt des Zwischenmenschlichen geriet weitgehend aus dem Blick. 2

3 4 5 6 7

8

Vgl.: Meßner, Reinhard, Zur heutigen Problematik von Buße und Beichte vor dem Hintergrund der Bußgeschichte. Vortrag zur Thomas-Akademie am 27. Januar 1992 an der PhilosophischTheologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos in Benediktbeuren (Benediktbeurer Hochschulschriften 3), München 1992, S. 10–13. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Peter Zimmerling „Zur Geschichte der Beichte“. Vgl.: Scheule, Rupert M., Beichte und Selbstreflexion. Eine Sozialgeschichte katholischer Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2001, S. 64–65. „Hoc vero consensum propria peccatum nominamus.“ (Ethica c.3) Weber, Helmut, Allgemeine Moraltheologie. Ruf und Antwort, Graz–Wien 1991, S. 287. Meßner, Reinhard, Feiern der Umkehr und Versöhnung. Mit einem Beitrag von Robert Oberforcher. In: ders., Kaczyniski, Reiner, Sakramentliche Feiern I/2 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Band 7,2), Regensburg 1992, S. 10–240, 172. Vgl.: Prüller-Jagenteufel, Gunter, Schuld als Beziehungsgeschehen. Eine verantwortungsethische Perspektive. In: Diakonia 37 (2006), S. 90–96.

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In der Folge wurde die theologische Bestimmung des Bußsakraments durch Thomas v. Aquin wirkmächtig: Die drei Elemente contritio, confessio und satisfactio wurden als quasi materia, die absolutio als forma sacramenti gedeutet. Im Zentrum steht die indikativische Formel „ego te absolvo“, die der Priester in persona Christi autoritativ ausspricht. Während aber Thomas die Sünde noch in ihrer doppelten Dimensionalität wahrnahm – moralisch als „Tat, Wort oder Begehren gegen das ewige Gesetz“9; theologisch als „Abkehr vom letzten Ziel, das Gott ist“10 und „Hinwendung zum unbeständigen Gut“11 – konzentrierte sich die Spätscholastik in ihrem Sündenverständnis zunehmend auf die objektive Handlungsdimension; folgerichtig wurde die Absolution zum „richterlichen Akt“ (actus iudicalis).

2. Das Gerichtsparadigma der Bußtheologie von Trient Die Reformatoren wandten sich gegen diese Veräußerlichung der Buße – vor allem im Ablasswesen, wo die Konzentration auf die satisfactio zu einer so radikalen Ökonomisierung geführt hatte, dass man es wohl nur als ‚Korruption‘ (im ursprünglichen Wortsinn) bezeichnen kann –, aber auch in der Beichte. Konkret wandten sie sich gegen drei Charakteristika der scholastischen Bußtheologie: (1.) Sie stellten sich gegen die Beichtverpflichtung, also gegen die Beichte als „Zwang“ oder „Werk“;12 (2.) sie lehnten die dreiteilige quasi-materia (contritio–confessio–satisfactio) ab und stellten stattdessen den Glauben ins Zentrum. Dieser konnte und musste an die Stelle der satisfactio treten, weil die Genugtuung streng gnadentheologischchristologisch verstanden wurde: Wenn Genugtuung durch Christus ein für allemal geschehen ist, dann ist kein menschliches Werk nötig – geschweige denn geeignet –, Gott zu versöhnen. Allein der Glaube gibt Anteil an der durch Christus gewirkten Rechtfertigung.13 (3.) Dem entsprechend konnte die Absolution auch nicht als actus iudicalis verstanden werden; stattdessen trat das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein ins Zentrum. Auf dieser Basis kommt der Beichte kein richterlicher, sondern befreiender Charakter zu: Die Absolution ist Evangelium, sie dient der Verkündigung der Vergebung, um ein neues Leben zu gewinnen.14 In der Apologie der Confessio Augustana bringt es Melanchton auf den Punkt: Weil der Dienst der Absolution „Stimme des Evangeliums“ ist, also reine Gnade und nicht „ein Urteil oder Gesetz“, ist eine detaillierte Kenntnis der Sünden auf Seiten 9 10 11 12 13 14

STh I–II 71,6. STh I–II 77,8. STh I–II 75,1. Vgl.: CA 12; BSELK, 107. Vgl.: CA 12. Vgl. den Sermon am Gründonnerstag (1523), WA 12, 476–493, bes. 491–493.

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des Beichtpriesters nicht nötig.15 Das Aufgeben des richterlichen Charakters macht also auch das Beharren auf der Vollständigkeit des Bekenntnisses obsolet. Insbesondere die damit gegebene Gewissensnot führte Luther zur Position, dass ein ernsthaftes exemplarisches Bekenntnis besser sei als die skrupulöse Jagd nach eventuell übersehenen oder vergessenen Sünden.16 Die Konzilsväter von Trient stellten sich gegen diese Position, die ihnen auf der Basis ihrer Bußtheologie als Auflösung des Sakraments erscheinen musste, und bekräftigten sowohl im Rechtfertigungsdekret als auch im Dekret über das Bußsakrament das traditionelle Bußverständnis und die Vollmacht der Kirche zur Sündenvergebung sowie zur Festlegung ihrer konkreten Formen und Bedingungen.17 Im Rechtfertigungsdekret bekräftigte das Tridentinum die Notwendigkeit des Bußsakraments als „zweite Rettungsplanke nach dem Schiffbruch der verlorenen Gnade“18 und wies die Position zurück, der Glaube allein sei rechtfertigend und die Beichte somit nicht heilsnotwendig. Der lehrmäßige Teil über das Bußsakrament19 legte in neun Kapiteln folgendes fest: (1.) Kap. 1: Die Sakramentalität der Buße, ihre Notwendigkeit zur Vergebung von nach der Taufe begangenen Sünden sowie die Einsetzung durch Christus (mit Verweis auf Joh 20,22f.) in all ihren charakteristischen Teilen. Offensichtlich nahmen die Konzilsväter an, dass die konkrete Gestalt der privaten Beichte bereits in der Urkirche im Gebrauch war und in Kontinuität auf die Apostel zurückging. (2.) Kap. 2: Die Unterschiedenheit der Buße von der Taufe nicht nur in der Form, sondern auch in der Wirkung. (3.) Kap. 3–6;8–9: Die Bestandteile der Buße: Die Reue (Kap. 4) wird verstanden als „der Seelenschmerz und der Abscheu über die begangene Sünde, verbunden mit dem Vorsatz, fortan nicht zu sündigen“20. In Verbindung mit dem „Verlangen nach dem Sakrament“ (votum sacramenti) bewirkt die contritio als „vollkommene Reue“ (d.h. aus Liebe zu Gott) selbst schon die Vergebung der Sünden; für den Empfang des Bußsakramen-

15 16 17

18 19 20

Vgl.: BSELK, 472–474. Vgl. die Kapitel zur Beichte im Kleinen Katechismus (BSELK, 885–890, bes. 887–889) und im Großen Katechismus (BSELK, 1154–1162, bes. 1160). Die Texte des Konzils von Trient werden zitiert nach: Denzinger, Heinrich, Hünermann, Peter, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum (Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen) (=DH), 37. Auflage, Freiburg i.Br. 1991. Das Rechtfertigungsdekret findet sich DH 1520–1583, das Dekret über das Bußsakrament DH 1667–1693 (lehrmäßiger Teil) und 1701–1715 (canones, d.h. disziplinärer Teil). DH 1542: „secunda post naufragium deperditae gratiae tabula“. DH 1667–1693. DH 1676: „animi dolor ac detestatio de peccato commisso cum proposito non peccandi de cetero“.

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tes ist aber schon die attritio also die „unvollkommene Reue“ (aus Furcht vor der Strafe) ausreichend.21 Das Bekenntnis (Kap. 5) erachtet das Tridentinum als von Christus selbst gefordert und zwar als konkretes und umfassendes. Begründet wird dies mit dem richterlichen Charakter der Schlüsselgewalt: „Es steht nämlich fest, dass die Priester dieses Gericht ohne Kenntnis des Tatbestandes nicht ausüben können.“22 Daher schärft das Konzil ein, dass alle Todsünden, derer man sich bewusst ist, unbedingt bekannt werden müssen; das Bekenntnis der lässlichen Sünden sei zwar nicht zwingend notwendig, wird aber empfohlen.23 Die Auffassung der Confessio Augustana, dass ein vollständiges Bekenntnis unmöglich sei,24 wird dagegen explizit verworfen.25 Zur Absolution (Kap. 6) betont Trient, dass das „Schlüsselamt“ (ministerium clavium) den Bischöfen und Priestern vorbehalten ist, dass also nichtordinierte Laien das Sakrament nicht spenden können. Zudem ist die Absolution nicht nur Verkündigung des Evangeliums (annuntiandi Evangelium), sondern autoritativer Urteilsspruch „nach Art eines richterlichen Aktes“ (ad instar actus iudicalis).26 Da durch Absolution zwar die Sünde selbst vergeben wird, nicht aber die „zeitlichen Sündenstrafen“, ist eine angemessene Genugtuungsleistung (Kap. 8–9) erforderlich. Sie hat Strafcharakter (poena) und dient sowohl der Prävention als auch der Läuterung. Zudem gelten die Bußwerke als „würdige Früchte der Buße“ (fructus dignos paenitentiae), die Christus dem Vater zur Tilgung der Sündenstrafen darbringt.27 Die Bußwerke sollen zwar der Schwere der Sünden angemessen und daher nicht zu leicht sein, aber auch maßvoll, denn die Beichte ist nicht „ein Ort des Zornes oder der Strafe“28, sondern der Gnade und Vergebung. Insofern aber das auferlegte Bußwerk (poena temporalis) einen integralen Teil der Binde- und Lösegewalt ausmacht, muss sie auch tatsächlich abgeleistet werden, auch wenn die „ewige Strafe“ (poena aeterna) schon vergeben ist.29 (4.) Kap. 7: Die Vollmacht zur Sakramentenspendung und das Recht von Bischöfen oder Päpsten, sich bestimmte Delikte vorzubehalten (Reservationsrecht), begründet Trient mit dem gerichtlichen Charakter der Beichte: Um gültig Sünden vergeben zu können, muss der Priester über die rechtmäßige Jurisdik21 22 23 24 25 26 27 28 29

DH 1677–1678.. DH 1679: „Constat enim, sacerdotes iudicium hoc incognita causa exercere non potuisse“. Hier wird nun nicht nur das Gerichtsparadigma herangezogen, sondern auch das der Medizin, wenn Trient formuliert: „quod [medicus] ignorat medicina non curat“ (DH 1680). CA 11. DH 1682. DH 1684–1685. Vgl.: DH 1690–1693. DH 1692: „forum irae vel poenarum“. DH 1715.

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tion über den Pönitenten verfügen eine Beschränkung, die nur in Todesgefahr aufgehoben ist. Was das Konzil von Trient in der Zurückweisung der reformatorischen Positionen festhalten wollte, war zum einen, dass die Kirche in ihrer hierarchisch geordneten Form über das Schlüsselamt verfügt, also die Vollmacht hat, Sünden zu vergeben oder zu behalten und dazu auch entsprechende Auflagen und Reservationen festzulegen. Wenn die Absolution nun eine „sententia iudicalis“ darstellt, also einen Richterspruch, so kommt dem Beichtpriester die Freiheit zu, die Absolution zu verweigern und autoritativ Bußwerke festzulegen. Die Differenzen zur reformatorischen Position sind offensichtlich. Trient legt Wert darauf, dass die Rechtfertigung des Sünders effektiv verstanden wird; das gilt auch für die Beichte, die als Sakrament die Gnade Gottes „real“ vermittelt. Dem entsprechend ist die Absolution nicht nur Verkündigung des Evangeliums, sondern ein Richterspruch: Autoritativ wird Schuld vergeben und Strafe auferlegt. Da die Vollmacht der Sündenvergebung als Teil der kirchlichen Schlüsselgewalt gilt, kann das nur durch einen kirchlichen Amtsträger, also einen geweihten Priester, geschehen. Zwar betont Trient explizit, dass das aktive Handeln der Menschen in der Reue, im Bekenntnis und in der Genugtuung die Gnade Gottes nicht schmälere, dass also die eigentliche Vergebung immer Gottes Gnadenhandeln sei, aber dieses bleibt doch an das Tun der Menschen gebunden. Das sakramentale Handeln beider Seiten, des Pönitenten wie des Beichtpriesters, ist also unverzichtbar.

3. Weitere Entwicklungen 3.1 Die Bußtheologie des 19./20. Jahrhunderts vor dem Zweiten Vatikanum In der weiteren Folge blieben die Bestimmungen des Konzils von Trient – und damit auch eine gewisse kontroverstheologische Fixierung – wirkmächtig.30 Auch die Entwicklung der Pastoraltheologie zur eigenständigen Disziplin im 19. Jahrhundert änderte hier zunächst nur wenig, der Beichtvater stand weiterhin in seiner Rolle als Richter im Zentrum. Er hat einen „Richterspruch“ zu fällen, „der entweder Lossprechung oder Vorenthaltung ist“.31 Um ein vollständiges Bild zu erhalten, hat er daher das Recht und die Pflicht, den Pönitenten näher zu befragen. So konzentrierten sich die pastoraltheologischen Überlegungen zunächst auf die Frage, auf welche Weise der Beichtpriester nachfragen sollte, wie detailliert und in welchen Bereichen. In den 1860er-Jahren trat neben die Richterfunktion der Priester als „geistlicher Führer“, dessen Funktion sowohl im forum externum der kirchen30

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Vgl.: Szymański, Marek, Die heilende Dimension des Sakraments der Versöhnung. Zum Verständnis und zur Pastoral des Bußsakramentes (Pastoralpsychologie und Spiritualität 9), Frankfurt a.M. 2005, S. 114–126. Ricker, Anselm, Leitfaden der Pastoral-Theologie, Wien 1874, S. 352.

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amtlichen Sakramentenspendung als auch im forum internum der individuellen Seelenführung angesiedelt ist. Durch das von den Volksmissionen geförderte Anwachsen der eucharistischen Frömmigkeit im 19. Jahrhundert und die Kommuniondekrete Papst Pius’ X. (1905, 1910) rückte die Beichte noch mehr ins Zentrum der Pastoral (Seelsorge). Die Andachtsbeichte, die früher primär im Ordensleben beheimatet war, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als „Mittel der Seelsorge“32 entdeckt, wobei es nun nicht primär um die Vergebung von Schuld ging, sondern um die „Mehrung der Gnade“ und die „Vervollkommnung“ auf dem Weg der Nachfolge. Gleichsam quer zu dieser individualpastoralen Linie lag daher die Wiederentdeckung der ekklesialen Dimension der Beichte, erstmals formuliert durch den spanischen Theologen Bartolomé Xiberta, der 1922 in seiner Dissertation33 die These vertrat, der Angelpunkt des Bußsakraments sei die Versöhnung mit der Kirche: „reconciliatio cum ecclesia est res et sacramentum sacramenti paenitentiae“34. Die These, dass die Versöhnung mit der Kirche die Versöhnung mit Gott bezeichne und bewirke, wurde zunächst jedoch mehrheitlich abgelehnt, weil sie der scholastisch-tridentinischen Tradition zu widersprechen schien. Erst als Karl Rahner in den 1950er- und 1960er-Jahren in umfangreichen bußtheologischen Studien, die v.a. die Theologie der Kirchenväter neu in den Blick nahmen, zum selben Schluss kam35 und das Bußsakrament breiter als Aktualisierung des „Ursakraments Kirche“ vorstellte, änderte sich die Perspektive.36 Der innere Zusammenhang mit der Taufe kam neu in den Blick und damit auch die gemeinschaftliche Dimension von Schuld und Vergebung. So war es nur folgerichtig, dass Rahner die „zeitlichen Sündenstrafen“ nicht als vindikative Aktion Gottes, sondern als „innere und konnaturale Sündenfolge aus der Natur der Verfehlung heraus“37 verstehen konnte und damit ein neues Verständnis der satisfactio erschloss: Als innerweltliche Wiedergutmachung, die zur Überwindung der Schuldfolgen beiträgt, gewann sie neue Plausibilität. Damit rückten auch Vergebung und Versöhnung näher zueinander. 3.2 Das Zweite Vatikanische Konzil: Leitmotiv Versöhnung So vorbereitet bestimmte das Zweite Vatikanische Konzil in der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ das Bußsakrament wie folgt:

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Szymański, Die heilende Dimension (s. Anm. 30), 122. Xiberta, Bartolomé Maria, Clavis Ecclesiae. De ordine absolutionis sacramentalis ad redonciliationem cum ecclesia. Dissertatio inauguralis, Rom 1922. A.a.O, 12. Vgl. z.B. Rahner, Karl, Das Sakrament der Buße als Wiederversöhnung mit der Kirche (1967). In: ders., Sämtliche Werke (=SW) 11, S. 530–550, 534. Vgl.: Szymański, Die heilende Dimension (s. Anm. 30), 126. Rahner, Karl, Die Bußlehre des Origenes (1950). In: ders., SW 11, S. 80–190, 119.

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„Die aber zum Sakrament der Buße hinzutreten, erhalten für ihre Gott zugefügten Beleidigungen von seiner Barmherzigkeit Verzeihung und werden zugleich mit der Kirche versöhnt, die sie durch die Sünde verwundet haben und die zu ihrer Bekehrung durch Liebe, Beispiel und Gebet mitwirkt.“38 Da die sakramentale Ekklesiologie des Konzils39 konsequent den ekklesialen Charakter der Sakramente entfaltete, konnten auch die individualistische Engführung der Buße und das tridentinische Gerichtsparadigma überwunden werden, welche das Bußsakrament auf einen actus iudicalis enggeführt hatten. Nunmehr bildet das „Leitmotiv Versöhnung“40 in seinem trinitarischen Ursprung, seiner christologischen Dramatik und seiner ekklesialen Ausgestaltung den Verstehenshorizont der katholischen Bußtheologie, wie sie der Ordo Paenitentiae (1973) in der erneuerten Absolutionsformel auch rituell zum Ausdruck bringt: „Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Gott ergreift also die Initiative – durch das Christusereignis und die Sendung des Geistes. Michael Sievernich bringt es auf den Punkt: „Weil Gott aus Gratuität versöhnt, ist auch Versöhnung unter den Menschen möglich.“41 Genau das ist nun die Aufgabe der Kirche: Ihre Versöhnungspraxis soll dem einzelnen helfen, seine Sünden zu erkennen, sie coram Deo zu bekennen und coram homines im Handeln zu verantworten, d.h. konkret auf Gottes Vergebungs- und Versöhnungsangebot zu antworten – durch zwischenmenschliche Versöhnung, die das rechte Verhältnis in der Welt wiederherstellt. 3.3 Der Ritus der Beichte: Der Ordo paenitentiae (1973) Trotz dieser theologisch bedeutenden Entwicklungen, die die Rückbesinnung auf die Bibel und die alte Kirche ermöglicht hatte, blieben die konkret fassbaren Veränderungen in der kirchlichen Bußpraxis im überschaubaren Rahmen. In der Ausarbeitung des neuen Ordo paenitentiae hatte die Vorbereitungskommission einen Vorschlag erarbeitet, der drei mögliche Formeln zur Absolution vorsah: die klassisch indikativische („ego te absolvo“), eine deprekativ-optativische (d.h. betend-

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40 41

Zweites Vatikanisches Konzil. Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Nr.11. Vgl.: Lumen gentium Nr.1: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ Sievernich, Michael, Kirchliche Praxis der Versöhnung. In: Lebendige Seelsorge 58 (2007), S. 2– 6, 3. Sievernich, Kirchliche Praxis (s. Anm. 40), 3.

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bittende) und eine annuntiatorische (d.h. verkündigende).42 Damit hätte eine weitere Brücke zum reformatorischen Verständnis geschlagen werden können; der Vorschlag wurde aber, nachdem er die Liturgiekongregation schon passiert hatte, von der Glaubenskongregation zurückgewiesen. Als einzig legitime Absolutionsformel wurde ausschließlich die indikativische zugelassen; annuntiatorische und deprekative Elemente finden sich nur noch in der „Umrahmung“ der „eigentlichen“ Absolution, sie gelten als sakramententheologisch nicht essentiell, sind also quasi schmückendes Beiwerk. Ebenso ist die ekklesiale Einbettung nur als Rudiment vorhanden, nämlich im Sinne der Kirche als Heilsvermittlungsanstalt: nicht Versöhnung mit der Kirche, sondern Versöhnung durch deren Dienst. Die Kirche erscheint also nicht als Ort der Gnade, sondern ausschließlich als deren Mittlerin. Was damit im Endeffekt vorgestellt wird, ist eine reduzierte Ekklesiologie mit 43 Engführung der kirchlichen Dimension auf den priesterlichen Mittlerdienst. 3.4 Das katholische Kirchenrecht (Codex iuris canonici) von 1983 und neuere Lehraussagen Als 1983 das neue Rechtsbuch der katholischen Kirche veröffentlicht wurde, hatte sich das theologische Klima dramatisch gewandelt. Der neue Codex, der eigentlich das Kirchenrecht im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils neu gestalten hätte sollen, stellt in vielem eher eine Mittelposition zwischen dem Konzil und dem alten Codex von 1917 dar. So wird im neuen Kirchenrecht der Gerichtscharakter der Buße zwar deutlich zurückgenommen, insgesamt kommt aber doch weniger die Theologie des Zweiten Vatikanums zum Tragen als das Tridentinum: Die jährliche Beichtpflicht44 wird beibehalten, das „persönliche und vollständige Bekenntnis und die Absolution“45 „nach Art und Zahl“46 gilt weiterhin als die einzige ordentliche Form des Bußsakraments und die übrigen rechtlichen Regelungen entfalten im Wesentlichen die Normen des Konzils von Trient. Es ist also keineswegs so, dass nach dem Zweiten Vatikanum das Tridentium obsolet wäre; es wird zwar zum Teil mit einer neuen theologischen Brille gelesen, aber mit zunehmender Uneinigkeit über das, was das Zweite Vatikanum wirklich besagt, eben nur zum Teil. Das gilt auch für neuere kirchliche Lehraussagen. Das Apostolische Schreiben Papst Johannes Pauls II. Reconciliatio et paenitentia (1984), das sich insgesamt der Frage der Versöhnung und der Buße widmet, betont zwar die Ganzheitlichkeit des Umkehrprozesses und entfaltet sowohl die Sünden- als auch die Bußtheologie auf der Basis einer personalen Anthropologie, zugleich hält es aber weiterhin am Ge42 43 44 45 46

Vgl.: Meßner, Feiern der Umkehr (s. Anm. 7), 211 (dort auch die Zitate!). Vgl.: Meßner, Feiern der Umkehr (s. Anm. 7), 208–229. Can. 989 CIC 1983. Can. 960 CIC 1983. Can. 988 CIC 1983.

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richtsparadigma der Beichte fest.47 Ebenso verfährt der Katechismus der Katholischen Kirche (1993), der weithin dem tridentischen Schema folgt.48 Das neueste gesamtkirchliche Dokument wiederum, das Apostolische Schreiben Misericordia Dei (2002), stellt in all seiner Kürze und seiner apologetischen Diktion eine radikale Rückkehr – um nicht zu sagen: einen Rückfall – zum tridentinischen Paradigma dar: Von neuem bekräftigt es die Einzelbeichte als einzig „ordentlichen“ Weg und schränkt andere Formen der Buße deutlich ein; es betont die Verpflichtung zur jährlichen Beichte und mahnt in juridischem Sprachduktus49 primär äußerliche Vorschriften ein, insbesondere die Verpflichtung auf das Sündenbekenntnis „nach Art und Zahl“50. Verschärfend wird noch betont, dass es dem Priester obliegt, entsprechend der Disposition des Pönitenten autoritativ die Absolution zu gewähren oder zu verweigern.51 Damit wird nach einer Phase der theologischen Vertiefung des Sündenverständnisses dieses wieder ganz zur Oberflächendimension zurückgeführt und nur noch die objektive Handlungsebene in den Blick genommen. So muss man wohl dem Urteil Reinhard Meßners zustimmen: „Auch die Beichtreform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbleibt im Rahmen des scholastisch-tridentinischen Bußsystems.“52

4. Fazit: tridentinisch oder post-tridentinisch? Somit stellt sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die katholische Bußdisziplin zwiespältig dar; sie changiert zwischen der vom Tridentinum her entwickelten juridischen und der vom Zweiten Vatikanum her entfalteten pastoralen Dimension und scheint sich nicht entscheiden zu können, welchem der beiden Konzilien sie mehr verpflichtet ist. Während man sich praktisch-theologisch auf die personalrelationale Dimension konzentriert, womit neu der geistliche und der therapeutische Charakter der Beichte in den Vordergrund treten, mahnt die lehramtliche Seite wieder verstärkt die „traditionelle“, d.h. tridentinische Sicht ein. Aus der Angst heraus, jede Berücksichtigung der subjektiven und sozialen Dimensionen von Schuld und Sünde sowie Vergebung und Versöhnung öffne „dem Relativismus“ Tür und Tor, wird apologetisch der Rückzug ins „Objektive“ angetreten.53 47 48 49

50 51 52 53

Vgl.: Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben „Reconciliatio et paenitentia“ (1984) Nr.31. Vgl.: KKK Nr. 1420–1498. Von 28 Fußnoten sind allein 17 auf den Codex iuris canonici bezogen, viermal wird Trient zitiert, zweimal der Katechismus der Katholischen Kirche. Auf die Heilige Schrift wird kein einziges Mal Bezug genommen. Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben „Misericordia Dei“ (2002) Nr.3, unter Zitation von Can. 988 § 1 CIC 1983. Vgl. „Misericordia Die“, Einleitung. Meßner, Zur heutigen Problematik (s. Anm. 2), 22. Dass damit die alte Tradition der „fontes moralitatis“, die mit der Berücksichtigung von Intention (intentio) und Umständen (circumstantiae) eben diese beiden Dimensionen in den Blick nimmt, praktisch aufgegeben wird, wird offensichtlich in Kauf genommen.

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Dieselbe Spannung findet sich auch im Katholischen ErwachsenenKatechismus der deutschen Bischöfe.54 Zum einen stellt er ganz auf dem Boden des Tridentinums fest, dass die Absolution „nicht nur eine Verkündigung des Evangeliums von der Vergebung der Sünden oder eine Erklärung, dass Gott die Sünden vergeben hat [ist]; sie ist als Wiederaufnahme in die volle kirchliche Gemeinschaft ... ein richterlicher Akt, der allein dem zukommt, der im Namen Jesu Christi für die ganze kirchliche Gemeinschaft handeln kann.“55 Andererseits vertritt er aber doch auch eine pastorale Ausrichtung, wenn er vom Beichtvater fordert, er solle in der Repräsentation Christi „die Botschaft von der Vergebung verkünden und auslegen, ihm [= dem Pönitenten] durch seinen Rat zu einem neuen Leben helfen, für ihn beten und stellvertretend für ihn Buße tun und ihm schließlich in der Lossprechung im Namen Jesu Christi die Vergebung seiner Sünden schenken.“56 Die merkbare Spannung zwischen pastoraler und dogmatischer Perspektive ist offenbar nicht zu glätten. Analoges gilt für das Bußwerk. Die katholische Position ist mittlerweile hinreichend differenziert, so dass sich ökumenischen Probleme nicht mehr zwangsläufig ergeben müssten.57 Der Katholische Erwachsenen-Katechismus hält fest, dass die satisfactio „keine eigenmächtige Leistung, durch die wir Vergebung verdienen“, ist, sondern „vielmehr eine Frucht und ein Zeichen der vom Geist Gottes gewirkten und geschenkten Buße“.58 Allerdings ist diese Konsequenz nicht bloß freiwillig, sondern aus der Logik der Sache heraus verpflichtend, denn „die Lossprechung nimmt die Sünde weg, behebt aber nicht alles Unrecht, das durch die Sünde verursacht wurde.“59 Dass hier nicht mehr von Strafe die Rede ist und insgesamt die Rahner’sche Bußtheologie vertreten wird, ist sicher hilfreich; dennoch bleibt der Befund spannungsreich und uneindeutig. Zieht man nun die pastoralen Neuaufbrüche in der katholischen Kirche in Betracht, so zeigt sich, dass die Wiederentdeckung der Beichte gerade dort gelingt, wo nicht das verrechtlichte tridentinische Denken vorherrscht, sondern der personal-pastorale Zugang, die sich dem Zweiten Vatikanum verdankt. So ist wohl Reinhard Meßner recht zu geben, der darauf hinweist, dass der Rückgang der Beichten im katholischen Bereich hausgemacht ist: Dieser offenbare nichts anderes als „die Schwächen des alten ,Beichtsystems‘, seine existentielle Bedeutungslosig-

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58 59

Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Katholischer Erwachsenen-Katechismus. 2 Bde., Freiburg i.Br. 1985–1995. Katholischer Erwachsenen-Katechismus Bd.1, 371. A.a.O. Vgl.: Sattler, Dorothea, Folgen der Tat erleiden – Buße leben. Ökumenische Annäherungen im Verständnis der „Sündenstrafen“ und des „Bußwerks“. In: Schlemmer, Karl (Hrsg.), Krise der Beichte – Krise des Menschen? Ökumenische Beiträge zur Feier der Versöhnung (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 36), Würzburg 1998, S. 86–111. Katholischer Erwachsenen-Katechismus Bd.1, 370. Katechismus der Katholischen Kirche. Deutsche Ausgabe, München 1993, Nr. 1459.

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keit, seine Überforderung“60. Notwendig wäre hier die praktisch-theologische Weiterentwicklung jener Ansätze, die seit dem Zweiten Vatikanum in der katholischen Theologie entwickelt wurden. Dass man dabei auch das tridentinische Denkmuster hinter sich lassen müsste, wäre angesichts der vielfältigen Ausformungen, die das kirchliche Bußwesen im Lauf der Jahrhunderte erfahren hat, nicht weiter problematisch. Viel schlimmer wäre es, aus einer aufs Doktrinäre fixierten Angst heraus an einer Denkform festzuhalten, die sich aufgrund ihrer historischen Kontextgebundenheit überlebt hat, und dabei zu übersehen, dass man so die sakramentale und pastorale Bedeutung einer lebendigen Beichtpraxis verspielt – eigentlich ja längst verspielt hat. Nun ist Angst immer ein schlechter Ratgeber, und so scheint es geraten, nicht länger an Vergangenem festzuhalten, als vielmehr auf den Mut derer zu setzen, die in der Beichtpraxis Neues versuchen und wagen. Die ersten Erfolge geben ihnen recht.61

60 61

Vgl.: Meßner, Feiern der Umkehr (s. Anm. 7), 231. Vgl. in diesem Band die Beiträge von Hermann Glettler „Die Katholische Beichte - Verlustanzeige oder Neuentdeckung?“ und von Johann Pock „Versöhnungsweg, Laienbeichte und Pilgerbuße“.

Teil III: Ökumenische Ermutigungen

Die Bedeutung der Beichte im Rahmen der Praktischen Theologie seit dem Ende des Ersten Weltkriegs Peter Zimmerling In den vergangenen 100 Jahren seit dem Ersten Weltkrieg hat sich die Bedeutung der Beichte im Rahmen der Praktischen Theologie mehrfach radikal gewandelt, wobei der Begriff Beichte weit zu fassen ist und neben der Privat- oder Einzelbeichte auch andere Formen wie die Herzensbeichte oder die allgemeine Beichte im Gottesdienst umfasst.1 Bildete die Beichte seit den 1920er Jahren für die kerygmatische Seelsorge das Herz der Seelsorge, wurde sie nach der sogenannten empirischen Wende Anfang der 1970er Jahre von wichtigen Vertretern der humanwissenschaftlich orientierten Seelsorge in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht sogar radikal abgelehnt. Verstärkt seit den 1990er Jahren lässt sich eine langsame Rehabilitierung der Beichte in der evangelischen Seelsorgediskussion beobachten, wenn sie auch nicht die überragende Bedeutung wiedergewonnen hat, die sie für die kerygmatische Seelsorgekonzeption besaß. Aus der skizzierten Entwicklung ergeben sich die drei ersten Gliederungspunkte der folgenden Überlegungen. In einem abschließenden Punkt möchte ich Potentiale der Beichte im Hinblick auf die Zukunft der kirchlichen Seelsorge entfalten.

1. Die Rolle der Beichte für die kerygmatische Seelsorge Für die kerygmatisch orientierte Seelsorge, die maßgeblich von der dialektischen Theologie Karl Barths bestimmt war, bildete die Beichte den Fluchtpunkt des gesamten seelsorgerlichen Handelns. Verantwortlich dafür war eine theozentrische Sicht des Menschen. Für die Theologie des Wortes war, mit Martin Luther gesprochen, der Mensch der von Gott zu rechtfertigende Sünder. Alle drei Hauptvertreter der kerygmatischen Seelsorge – Eduard Thurneysen, Hans Asmussen und Dietrich Bonhoeffer – waren von diesem theologischen Ansatz geprägt, wobei sie gleichzeitig je eigene Akzentsetzungen erkennen lassen. Die Beichte als theologische Mitte der dialektischen Seelsorgekonzeption verschaffte ihr ein klares theologisches Profil und erlaubte, kirchliche Seelsorge und säkulare Beratung theologisch begründet voneinander zu unterscheiden.

1

Eine Reihe der folgenden Überlegungen habe ich vorgetragen in: Zimmerling, Peter, Studienbuch Beichte (UTB 3230), Göttingen 2009; ders., Beichte. Gottes vergessenes Angebot, Leipzig 2014.

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Das inhaltliche Proprium der Seelsorge Eduard Thurneysens (1888–1974) bildete die Verkündigung der Botschaft von der Vergebung an den Seelsorgesuchenden. Das lässt sich bereits in seinem frühen programmatischen Artikel „Rechtfertigung und Seelsorge“2 erkennen, erst Recht in seinem erst nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Buch „Die Lehre von der Seelsorge“.3 Dessen §14 ist überschrieben mit „Seelsorge als Beichte“. Seine einleitenden Thesen lauten: „Darin besteht die Buße, daß ich mir meine Sünde durch Gottes Wort aufdecken lasse und sie vor Gott hinlege, damit er sie von mir nehme. Dieses Hinlegen meiner Sünde vor Gott heißt und ist meine Beichte. Sie vollzieht sich im Gebet jedes Einzelnen für sich und Aller miteinander im Gottesdienst der Gemeinde. Der Herbeiführung solcher Buße vor Gott und Jesus Christus gegen alle Widerstände der Sündenmacht dient die Beichtaussprache, in der Einer dem Andern seine Sünde bekennt und Einer dem Andern die Vergebung verkündigt …“4 Gegenüber der Beichte sind Psychologie und Psychotherapie von sekundärer Bedeutung, auch wenn sie für die Seelsorge unverzichtbare „Hilfswissenschaften“ darstellen, um den Raum für die Verkündigung der Vergebung im seelsorgerlichen Gespräch vorzubereiten. Hans Asmussen (1898–1968)5 war der führende lutherische Theologe der Bekennenden Kirche, der maßgeblichen Anteil an der Verabschiedung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 hatte. Seine Monographie „Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung“6 stellt das wichtigste Werk zur Seelsorge aus dem Raum der Bekennenden Kirche dar, das während des Dritten Reiches erschienen ist. Asmussens Überlegungen zur Beichte erweisen die von Karl Barth geprägte Theologie der Bekennenden Kirche gleichermaßen als Aufnahme und Radikalisierung von reformatorischen Überzeugungen. Für Asmussen ist die Beichte das Zentrum der Seelsorge; sie wird von den beiden Akten der confessio und der absolutio bestimmt. Wichtig ist ihm die klare Unterscheidung zwischen der Beichte und einem seelsorgerlichen (Beratungs-)Gespräch. In letzterem geht es für ihn um Dinge, die im Raum des Menschlich-Alltäglichen angesiedelt sind. Bei der Beichte jedoch kommt „das Andere“, der Bereich des Göttlichen ins Spiel. Dieser Bereich muss vor jeder Überfremdung durch das MenschlichAlltägliche geschützt werden – darum seine strikte Unterscheidung zwischen Beratungsgespräch und Beichte. Obwohl Asmussen dem Ortspastor die Funktion des 2 3 4 5 6

Thurneysen, Eduard, Rechtfertigung und Seelsorge. In: Zwischen den Zeiten 6, München 1928, S. 208–218. Ders., Die Lehre von der Seelsorge, München 1948. A.a.O., 251. Goltzen, Herbert, Schmidt, Johann, Schröer Henning, Asmussen, Hans (1898–1968). In: Theologische Realenzyklopädie. Band 4, Berlin/New York 1979, S. 259–265. Asmussen, Hans, Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung, 1. Auflage, München 1934. „Seelsorge ist die Verkündigung des Wortes Gottes an den einzelnen“; „Seelsorge geschieht von Mann zu Mann“ lauten darin die prägnanten Bestimmungen über das Wesen der Seelsorge (a.a.O., 15).

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Beichthörers zuweist, soll damit keine hierarchische Über- und Unterordnung begründet werden. Beide – Beichtender und Beichthörer – befinden sich vielmehr auf einer Ebene, unter Gottes Wort. Wahrscheinlich ist kein evangelischer Text zur Einzelbeichte neben dem Abschnitt aus Martin Luthers „Kleinem Katechismus“ so bekannt geworden wie Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) Ausführungen zum Thema aus dessen „Gemeinsamem Leben“.7 Dabei erweisen sich die theologischen Erkenntnisse Karl Barths als der theoretische und das Predigerseminar bzw. Bruderhaus in Finkenwalde bei Stettin, deren Direktor Bonhoeffer war, als der praktische Wurzelboden für die Wiederentdeckung der Einzelbeichte.8 Beichtgespräche fanden in Finkenwalde nicht in der Seminarkirche, sondern am profanen Ort statt.9 Am Ende des Gesprächs stand ein einfaches Gebet um Vergebung. Im Finkenwalder Bruderhaus, das nach dem ersten Vikarskurs entstand, wurde in bestimmten Fällen darüber hinaus auch eine liturgische Form der Zusage der Vergebung praktiziert. Vorbedingung war, dass der Beichthörer ein ordinierter Theologe war, der expressis verbis die Vergebung zusprach. Wie wichtig für Bonhoeffers Seelsorge die Beichte ist, zeigt sich an folgendem Gedanken: Seit dem Verlust der Einzelbeichte in der evangelischen Kirche – so Bonhoeffers Auffassung – hat die „billige Gnade“ in ihr Einzug gehalten;10 gelingt es, die Beichte wieder zu gewinnen, bedeutet das automatisch auch eine Wiederentdeckung des Evangeliums von der „teuren Gnade“. Bonhoeffer führt im „Gemeinsamen Leben“ drei theologische Gründe für die Notwendigkeit der Beichte an: 1. Die Kirche ist ohne Privatbeichte durch das Missverständnis gefährdet, als sei die christliche Gemeinschaft eine Gemeinschaft der Frommen und nicht der Sünder. 2. Die Beichte ist durch Jesus Christus selbst ermöglicht und aufgetragen. 3. Der Beichthörer hört das Sündenbekenntnis sowohl an Christi Statt als auch an Stelle der Gemeinde. Die Wirkungen der Beichte macht Bonhoeffer an einer vierfachen Durchbruchserfahrung fest: dem Durchbruch zur Gemeinschaft, zum Kreuz, zum neuen Leben und zur Gewissheit des Glaubens. Die Qualität von Bonhoeffers Überlegungen beruht nicht zuletzt auf ihrer Praxisorientierung. Obwohl Bonhoeffer für die Beichte wirbt, verschweigt er die mit ihr verbundenen 7

8 9 10

Bonhoeffer hat sich auch noch an anderen Stellen zur Beichte geäußert, jedoch nie in der Geschlossenheit und Präzision wie in „Gemeinsames Leben“; so im Abschnitt über die Beichte in seiner Finkenwalder Seelsorgevorlesung: Bonhoeffer, Dietrich, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde (1935–1937) (Dietrich Bonhoeffer Werke 14 (DBW 14)), Dudzus, Otto, Henkys, Jürgen (Hrsg.), Gütersloh 1996, S. 589–591; in den Mitschriften zu gesonderten Lehrveranstaltungen über die Beichte: „Beichte und Abendmahl (Thesen)“; „Die Beichte (Nach dem Großen Katechismus)“, a.a.O., 749–755. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Christine Schliesser „Beichte als ‚Angebot göttlicher Hilfe‘. Ökumenische Ermutigungen auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers“. Vgl. dazu im Einzelnen: Zimmerling, Peter, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, S. 176–182. Die folgenden Kenntnisse verdanke ich einem Brief des Bonhoefferschülers und -biographen Wolf-Dieter Zimmermann vom 25.3.2004. DBW 14, 751f.

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Gefährdungen nicht. Indem er für die Abendmahlsvorbereitung als Zeitpunkt der Beichte eintritt, knüpft er an alte Traditionen an, die in vielen evangelischen Gemeinden zumindest in den 1930er Jahren noch vorhanden waren. Bonhoeffers Hochschätzung der Beichte ist eine Konsequenz seiner von Luther geprägten Inkarnationstheologie. Wie das Evangelium den Jüngern an Jesus Christus anschaulich geworden ist, wird es heute in der christlichen Gemeinschaft durch den Bruder erfahrbar. Im gemeinschaftlichen Zusammenleben offenbaren sich unweigerlich die Schwächen und Sünden des einzelnen Menschen. Die Finkenwalder Erfahrung lehrte, dass es dabei keine Rückzugsmöglichkeiten und kein Ausweichen gab. Da die christliche Gemeinschaft keine Blut- oder Neigungsgemeinschaft ist, bildet die Beichte den praktischen Ermöglichungsgrund, dennoch beieinander zu bleiben. „Der Bruder steht vor mir an Gottes Statt. Wenn ich zum Bruder gehe, gehe ich zu Gott. Er vergibt mir an Christi Statt, indem er mir die Sünde abnimmt. Er trägt sie selbst und legt sie damit auf Christus. Einer wird dem andern ein Christus.“11 Die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren geprägt vom Siegeszug der Bekennenden Kirche und der mit ihr verbundenen dialektischen Theologie. Vor allem in den 1950er Jahren schien sich eine Renaissance der Beichte anzukündigen – und zwar in dreifacher Hinsicht: Die neuen Ordnungen der evangelischen Landeskirchen stellten die liturgischen Voraussetzungen bereit;12 mit den neuen geistlichen Bruder- und Schwesternschaften und Kommunitäten und dem Deutschen Evangelischen Kirchentag waren Beichtorte entstanden, die es vorher in der evangelischen Kirche nicht gegeben hatte;13 eine Reihe von Publikationen trieb die wissenschaftlich-theologische Reflexion zur Beichte voran.14 Wolfgang Böhme (geb. 1919)15 gehört zu den prominenten Vertretern einer Erneuerung der Beichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine „Beichtlehre für evangelische Christen“ (1. Auflage 1956) erwuchs nicht zuletzt aus Erfahrungen mit der Beichte auf den Deutschen Evangelischen Kirchentagen der Nachkriegszeit. Unter Aufnahme von Überlegungen Luthers und der reformatorischen Bekenntnisschriften geht Böhme von der zentralen Bedeutung des Glaubens für die evangelische Beichte aus. Er sieht diese in vierfacher Hinsicht gegeben: 1. Der Glaube ist zu11 12 13

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DBW 14, 750. Vgl. dazu im Einzelnen: Klein, Laurentius, Evangelisch-Lutherische Beichte. Lehre und Praxis, Paderborn 1961, S. 230–248. Vgl. Verbindlich leben. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Votum des Rates der EKD zur Stärkung evangelischer Spiritualität, Januar 2007, EKD-Texte 88, Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Hannover. Z.B. Lackmann, Max, Wie beichten wir? Ein Handbuch zur Unterweisung über die lutherische Einzelbeichte für Pfarrer und Gemeinden, Gütersloh 1948; Planck, Oskar, Evangelisches Beichtbüchlein, Stuttgart 1956; Uhsadel, Walter, Evangelische Beichte in Vergangenheit und Gegenwart, Gütersloh 1961; Thurian, Max, Evangelische Beichte, München 1958. Zur Person vgl. seine Autobiographie: Böhme, Wolfgang, Der Weg. Weltverantwortung und Gottesliebe, Aufsätze und Predigten, Hamburg 1987.

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gleich Voraussetzung und Wirkung der Absolution. 2. Allein der Glaube ermöglicht echte Reue. 3. Die „guten Taten“ nach der Absolution sind durch den Glauben motiviert. 4. Die Beichte darf nicht bloß als quasi privates Geschehen zwischen dem einzelnen Menschen und Gott verstanden werden. Sie beinhaltet vielmehr darüber hinaus eine sozialethische Dimension, da sie dem wiederkommenden Christus den Weg bahnt und auf diese Weise eine wesentliche Voraussetzung für die nachhaltige Erneuerung der Welt und ihrer Unrechtsstrukturen darstellt.

2. Ablehnung und Vernachlässigung der Beichte im Gefolge der sogenannten empirischen Wende Im Gefolge der sogenannten empirischen Wende in der Theologie, die das Ende der Vorherrschaft der kerygmatisch geprägten Seelsorge bedeutete, gewannen in den 1970er Jahren die Kritiker der Beichte die Oberhand. Einer der Hauptvertreter der humanwissenschaftlich orientierten Seelsorgebewegung war Joachim Scharfenberg (1927–1996), der seinen Ansatz primär im Gespräch mit der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds entwickelt hat. 1972 stellte er in einem Artikel die Beichte radikal in Frage – und damit gleichzeitig die kerygmatische Seelsorgekonzeption insgesamt.16 In der Beichte kulminiert für ihn das vom sogenannten Bruch gekennzeichnete Gesprächsparadigma der kerygmatischen Seelsorge. Dieses Paradigma sei aufgrund neuer Einsichten aus den Humanwissenschaften überholt. Im Seelsorgegespräch gehe es um die wertschätzende Annahme des Ratsuchenden. Darüber hinaus verlange die veränderte gesellschaftliche Situation, den traditionellen Seelsorgeansatz mit der Beichte als Zentrum hinter sich zu lassen. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Beichte ist nach Scharfenbergs Überzeugung die Übertragung der Schuld des Beichtenden auf den Beichthörer. In einer freiheitlichdemokratisch verfassten Gesellschaft funktioniere jedoch ein solcher Übertragungsmodus auf fraglos anerkannte Autoritäten nicht mehr. Darum müsse es in der Seelsorge in Zukunft darum gehen, die Probleme der Seelsorgesuchenden im Gespräch zu bearbeiten mit dem Ziel, diesen ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Höchstens in kommunitätsähnlichen Gemeinschaften ist für Scharfenberg die Beichte noch denkbar – allerdings auch hier in einer tief greifend veränderten Gestalt: nämlich in Form einer selbstkritischen Gruppenaussprache, in der Scharfenberg das Öffentlichkeitsmoment der urchristlichen Beichtpraxis wieder zu entdecken meint. Auslöser für die radikale Ablehnung der Beichte scheint eine Erfahrung Scharfenbergs während seiner Tätigkeit als Krankenhausseelsorger in Göttingen gewesen zu sein. In der Folge davon kam es bei ihm zu einer Abkehr von spirituellen Methoden in der Seelsorge. Scharfenberg erzählt in dem bereits erwähnten 16

Vgl.: Scharfenberg, Joachim, Seelsorge und Beichte heute. In: Wege zum Menschen 24 (1972), S. 80–90.

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Artikel von einer Frau, die trotz zahlreicher Beichten (schließlich auch bei ihm selbst) nicht von quälenden Schuldgefühlen befreit werden konnte.17 Daraus zieht er nicht den – durchaus berechtigten – Schluss, dass in bestimmten Fällen statt einer Beichte ein psychologisch orientiertes Beratungsgespräch sinnvoll ist, sondern lehnt die Beichte als Mittel der Seelsorge überhaupt ab. Erst in späteren Veröffentlichungen formulierte Scharfenberg vorsichtiger: Ein Schuldbekenntnis könne in der Seelsorge sinnvoll sein, um Schuld nicht länger verdrängen zu müssen; denn Verdrängtes nötige zur Wiederholung.18

3. Der lange Weg zu einer Rehabilitierung der Beichte Nach den virulenten Auseinandersetzungen in den 1970er Jahren zwischen der kerygmatischen und der therapeutisch orientierten Seelsorge und zwischen Befürwortern und Ablehnern der Beichte hat sich der Pulverdampf inzwischen verzogen. Damit ist eine nüchternere und realistischere Wahrnehmung der Chancen und Grenzen der Beichte möglich geworden. Ernst Bezzel, zuletzt Regionalbischof der bayerischen Evangelisch-lutherischen Kirche in Ansbach, war der erste, der in Aufnahme, Kritik und Weiterführung von Anliegen der empirischen Seelsorgebewegung versuchte, die Beichte neu zu begründen.19 In seiner 1982 publizierten Dissertation setzte er sich – zehn Jahre nach dem Artikel von Scharfenberg – nicht zuletzt mit dessen Ablehnung der Beichte auseinander. Im Zentrum von Bezzels Überlegungen steht die Frage, warum die Beichte für die Seelsorge theologisch unerlässlich ist. Zwei Gründe sind für ihn maßgeblich: Die Beichte halte die Bedeutung des Glaubens für die Seelsorge im Bewusstsein, wobei der Glaube gleichzeitig Wirkfaktor und Ziel der evangelischen Seelsorge sei. Zudem sei die Beichte auch im Hinblick auf die Rolle und das Selbstverständnis des Seelsorgers unerlässlich. Denn dieser dürfe eben nicht nur als einfühlsamer Berater, sondern müsse auch als Zeuge verstanden werden. Der Zuspruch der Vergebung in der Beichte sei deshalb „transempirisch“ zu interpretieren; er ergehe unabhängig von der psychologischen Qualifikation des Seelsorgers. Nötig sei dessen religiöse Sprachfähigkeit. Dass Bezzel eine theologische Vermittlungsposition einnimmt, zeigt sich an der Tatsache, dass er keine einfache Repristination der traditionellen Beichte und ihres Settings intendiert. Nur wenn die veränderte gesellschaftliche Bewusstseinslage berücksichtigt werde, habe die Beichte als Mittel der Seelsorge eine Zukunft. Entscheidend auf dem Weg dahin sei die Überwindung der hierarchischen Über- und Unterordnung von 17 18

19

A.a.O., 88. Vgl.: Scharfenberg, Joachim, Welchen Sinn hat es von Schuld zu sprechen? Wunden, die die Zeit nicht heilt. In: Evangelische Kommentare 22 (1989), S. 5.40; ders., Pastoralpsychologie als Remythologisierung?. In: Wege zum Menschen 40 (1988), S. 141. Vgl.: Bezzel, Ernst, Frei zum Eingeständnis. Geschichte und Praxis der evangelischen Einzelbeichte, Stuttgart 1982.

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Beichtvater und Beichtkind durch die Reintegration des Beichthörers in die Gemeinde und die Überwindung des Formalismus und Mechanismus im Beichtgespräch. Seit der Dissertation von Bezzel ist die Diskussion um Seelsorge und Beichte weitergegangen. Die derzeitige Situation stellt sich ambivalent dar. Einerseits lässt sich – mit guten Gründen – ein „Abschied von der Schuld“ in Kirche und Gesellschaft diagnostizieren,20 andererseits ist eine regelrechte „Entschuldigungsseuche“21 und eine langsame Neuentdeckung der Beichte zu beobachten.22 Die Praktische Theologin Corinna Dahlgrün stellte 2002 die These auf, dass die Frage nach Schuld und Vergebung seit einigen Jahren wieder Thema öffentlicher Diskussionen sei, während die Kirchen hier noch Nachholbedarf erkennen ließen.23 Dahlgrün zog den Schluss, dass Beichte und Vergebung nicht nur theologisch geboten, sondern auch anthropologisch notwendig seien. Sie plädierte deshalb dafür, den Kirchengemeinden die vielfältigen Möglichkeiten der Beichte wieder ins Bewusstsein zu rufen und ohne Sorge zu sein im Hinblick auf eine mangelnde Zeitgemäßheit des Beichtrituals.24 Unterstützung für ihre Analyse erhielt Corinna Dahlgrün von dem Medienwissenschaftler Thomas Henke. In einem Artikel über das Phänomen der „Daily Talkshows“ versuchte er zu zeigen, dass die Talkshows Themen und Formen aufgreifen, die ursprünglich aus religiösen Traditionen stammten.25 Die in den Talkshows inszenierten Geschichten von Schuld und Vergebung stellten Symbolangebote dar, die Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer zur Lebensgestaltung nutzen

20 21 22

23

24 25

Vgl.: Riess, Richard, (Hrsg.), Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie von Schuldbewußtsein, Opfer und Versöhnung (Theologische Akzente 1), Stuttgart u.a. 1996. So die Formulierung von Dahlgrün, Corinna, „Sorry, du, dumm gelaufen!“ Beobachtungen zur Kultur des Beichtrituals. In: Pastoraltheologie 91 (2002), S. 308–321, hier 308. Darauf deutet z.B. hin die vielfach nachgefragte kirchliche Handreichung von Herztsch, KlausPeter, Wie mein Leben wieder hell werden kann. Eine Einladung zur Beichte in der evangelischlutherischen Kirche, hrsg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, Hannover 2002. Dahlgrün, „Sorry, du, dumm gelaufen!“ (s. Anm. 21); zur kritischen Auseinandersetzung mit Dahlgrün vgl. Beuscher, Bernd, Naumann, Wiepke, Schroeter, Britta, Weltschelte? Von der Last und Lust, als Christen Mensch in der Welt zu sein. Anmerkungen zum Aufsatz von Corinna Dahlgrün. In: Pastoraltheologie 91 (2002), S. 322–327; Kunz, Ralph, Beichte nachgefragt. Zum Aufsatz von Corinna Dahlgrün und den Anmerkungen von Bernd Beuscher, Wiebke Naumann und Britta Schroeter. In: Pastoraltheologie 91 (2002), S. 520–524. Corinna Dahlgrün hat inzwischen ihre Überlegungen weiterentwickelt: vgl. dazu dies., Zum Profil einer lutherischen Praktischen Theologie – an den Beispielen Kirchenmusik und Beichte, in: Was heißt hier lutherisch! Aktuelle Perspektiven aus Theologie und Kirche (Bekenntnis. Schriften des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses, Band 37), Rittner, Reinhard (Hrsg.), 2. Auflage, Hannover 2005, S. 211–233; dies., Die Beichte als christliche Kultur der Auseinandersetzung mit sich selbst coram Deo. In: Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Engemann, Wilfried (Hrsg.), Leipzig 2007, S. 493–507. Vgl.: Dahlgrün, „Sorry, du, dumm gelaufen!“ (s. Anm. 21), 321. Vgl.: Henke, Thomas, Schuldbekenntnisse vor Millionen: Anmerkungen zum TalkshowPhänomen. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 119–123.

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könnten. Eine derartige kulturhermeneutische Betrachtungsweise hielte zur Weiterentwicklung der kirchlichen Bußtheorie und -praxis wichtige Impulse bereit. Der Theologe und Literaturwissenschaftler Frank Hiddemann kam vor einigen Jahren bei der Analyse der nächtlichen Talk-Sendung von Jürgen Domian auf WDR 3 zu ähnlichen Ergebnissen.26 Er ging davon aus, dass die Preisgabe von Intimität im Rahmen der genannten Talk-Sendung den Anrufenden einen höheren Grad von Selbstvergewisserung ermöglicht. Im Hinblick auf eine solche Sendung sei deshalb weniger die Klage über Tabu-Durchbrechungen angesagt als vielmehr die Erkenntnis, dass sich hier Identitätsarbeit ereigne, die als vagabundierendes religiöses Bedürfnis interpretierbar sei.27

4. Ausblick in die Zukunft: Beichte als Zeichen menschlicher Würde Die humanwissenschaftlich geprägte Seelsorgebewegung führte in der Seelsorge seit dem Ende der 1960er Jahre zu einer breiten Rezeption psychologischer Erkenntnisse und therapeutischer Methoden. Das gilt – mit Zeitverzögerung – auch für die meisten pietistisch oder evangelikal geprägten Seelsorgeinitiativen. Bestimmte in den ersten Jahren aufgrund der neuen Möglichkeiten für die Seelsorge die Faszination durch Psychologie und Therapie das Bild, sind Theorie und Praxis der kirchlichen Seelsorge heute von einer realistischeren Einschätzung der therapeutischen Möglichkeiten geprägt.28 Überdies wurden die Chancen der Spiritualität für die Seelsorge wiederentdeckt,29 nachdem schon vorher eine Reihe – säkularer – therapeutischer Richtungen die Spiritualität für das eigene Handeln nutzbar zu machen begonnen hatte. Heute ist es deshalb möglich, die Chancen und Grenzen des therapeutischen bzw. des seelsorgerlichen Umgangs mit Sünde und Schuld vorurteilsfreier und nüchterner als früher wahrzunehmen und auf diese Weise voneinander zu lernen. Das Beichtgespräch hat humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verdanken, dass es professioneller als früher geführt werden kann. Psychologische Kenntnisse bewahren den Beichthörer z.B. vor einem kasuistischen Vorgehen und helfen ihm, 26

27

28 29

Vgl.: Hiddemann, Frank, Talk als säkulare Beichte. Jürgen Domian mit Eins Live Talk Radio in WDR 3. In: Medien praktisch 4 (1996), S. 29–32; vgl. die kritische Würdigung des Ansatzes von Frank Hiddemann bei Gehring, Hans-Ulrich, Seelsorge in der Mediengesellschaft. Theologische Aspekte medialer Praxis, Neukirchen-Vluyn 2002, S. 135–142. Zu wesentlich kritischeren Ergebnissen als Henke und Hiddemann kommen: Schieder, Rolf, Die Talkshow als „säkularisierte Beichte“? Jürgen Flieges Seelsorge und der Wille zum Wissen. In: medien praktisch 22 (1998), S. 51–56; Steinkamp, Hermann, Die Erben der Beichtväter. Psychokultur und Fernsehshows als säkulare Seelsorge?. In: Wege zum Menschen 56 (2004), S. 266–278. Z.B. Karle, Isolde, Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, Neukirchen-Vluyn 1996. Vgl. z.B. Josuttis, Manfred, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, 2. Auflage, Gütersloh 2002.

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den Beichtenden besser in dessen besonderer Notlage wahrzunehmen. Sie lassen ihn auch wachsam sein gegenüber Übertragungsmechanismen, die sich in jedem Seelsorgegespräch einstellen. Die Psychotherapie fand heraus, dass es krankhafte Formen der Schulderfahrung gibt. Daraus lernte die Seelsorge, dass zwischen Schuld und Schuldkomplex, d.h. zwischen echten und pathologischen Formen von Schulderfahrung und Schuldgefühl unterschieden werden muss. Das Schuldgefühl als Zwangsneurose und Selbstbestrafungswahn kann therapiert werden. Die Beichte bleibt hier wirkungslos, wenn sie nicht sogar zur Verfestigung der Neurose führt. Auf der anderen Seite gibt es Formen von wirklicher Sünde und Schuld, die durch keine Therapie behandelt werden können. Davon legen nicht nur die biblischen Schriften, sondern auch die heutige Literatur,30 der Film, aber auch philosophische und politische Diskurse an vielen Stellen Zeugnis ab.31 Wirkliche Sünde und Schuld gehören in die Beichte! Im Bewusstwerden und Aussprechen von Sünde und Schuld in der Beichte liegt eine Parallele zum Bewusstwerden und Aussprechen von traumatischen Erfahrungen im Rahmen der Psychoanalyse. Immer sollte es dabei sowohl das Ziel der therapeutischen Intervention als auch der Beichte sein, Menschen ihre Verantwortlichkeit zurückzugeben und so zur Stärkung ihres Selbstwertgefühls beizutragen. Im Gegensatz dazu haben in der Vergangenheit allerdings sowohl Therapie als auch Beichte häufig dahin geführt, Menschen in Abhängigkeit zu halten. Im Hinblick auf die Zukunft ist zu wünschen, dass sich die Beziehung zwischen Seelsorge und Therapie noch stärker zu einer Lerngemeinschaft entwickelt. In zahlreichen Fällen habe ich Menschen, die ich in der Vergangenheit seelsorgerlich begleitete, nahegelegt, sich in eine therapeutische Behandlung zu begeben. Nur selten ist mir dagegen umgekehrt der Fall begegnet, dass Menschen von ihrer Therapeutin zu mir zur Beichte geschickt wurden. Die Beichte wird nicht von heute auf morgen für die kirchliche Seelsorge wiedergewonnen werden. Dazu ist eine Reihe von Maßnahmen notwendig. In theolo30

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Dazu gehören z.B. Camus, Albert, La Chute, worin Schuld in Form von nicht wahrgenommener Gleichgültigkeit gegenüber fremder Not thematisiert wird, Broch, Hermann, Die Schlafwandler, worin es um Orientierungslosigkeit und Unfähigkeit zu kritischem Verhalten geht, Hochhuth, Rolf, Der Stellvertreter, der den Selbstfreispruch und die Leugnung von Mitschuld thematisiert, Frisch, Max, Andorra, worin es um Nicht-wahrhaben-Wollen vorhandener Schuld und um Sündenbockdenken geht, Lenz, Siegfried, Zeit der Schuldlosen, das das Schuldigwerdenmüssen in einem totalitären Staatsgefüge zum Inhalt hat (so Gründel, Johannes, Art. Sünde V. Theologischethisch. In: Lexikon für Theologie und Kirche (Band 9), Kasper, Walter (Hrsg.) 3. Auflage, Freiburg, Basel, Rom, Wien 2000, S. 1129f). Zur Thematisierung von Schuld und Sünde im Film „Wie im Himmel“. Vgl.: Gräb, Wilhelm, Der menschliche Makel. Von der sprachlosen Wiederkehr der Sünde. In: Pastoraltheologie 97 (2008), S. 238–253, bes. 240–242; zum Umgang mit Schuld in gesellschaftlichen Zusammenhängen vgl. Frettlöh, Magdalena, Vergebung oder „Vernarbung der Schuld“? Theologische und philosophische Notizen zu einer frag-würdigen Alternative im gesellschaftlichen Umgang mit Schuld. In: Evangelische Theologie 70 (2010), S. 116–129.

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gischer Hinsicht ist es unerlässlich, sich klarzumachen, dass zwischen der Beichte einerseits und der Rechtfertigungslehre andererseits ein unhintergehbares Interdependenzverhältnis besteht: Beichte und Rechtfertigungslehre bedingen einander. Keine reformatorisch verstandene Beichte ohne Rechtfertigungslehre, auf Dauer aber auch keine reformatorische Rechtfertigungslehre ohne die Praxis der Beichte! Die Beichte bildet den Lackmustest für die evangelische Rede von Schuld und Vergebung. Wenn es stimmt, dass der Kern des evangelischen Glaubens in der Rechtfertigung des Gottlosen besteht, dann sind spirituelle Formen nötig, die diesen Kern des Glaubens konkret erfahrbar machen. Ansonsten verkommt die Rechtfertigungslehre zu einer protestantischen Ideologie. Eine besonders gute Möglichkeit, die Rechtfertigungslehre im Glaubens- und Lebensvollzug zu erfahren, stellt die Einzelbeichte dar. Vor allem darf das Sündersein des Menschen – anders als eine Jahrhunderte lange Tradition der Beichte es suggerierte – nicht länger als Ausdruck einer entmündigenden Erfahrung missverstanden werden. Vielmehr muss es als heilsam rettende Erfahrung begriffen werden. Das Stehen zu meinem Sündersein in der Beichte ermöglicht mir die Einkehr in eine Selbstbegrenzung, die mir letztlich zugute kommt. Ich muss nicht länger mehr sein „als ein heilsam vor Gott und von Gott begrenzter Mensch“ (Christian Möller). Das Eingeständnis des Sünderseins wahrt den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Schuldbekenntnis und Vergebungszusage stellen ein Zeichen menschlicher Würde dar, da Schuldigwerden zum Humanum gehört. Ich nehme mein Leben dadurch ernst, dass ich meine Schuld eingestehe. Eine Leugnung, Bagatellisierung oder Verdrängung meiner Schuld würde demgegenüber eine Missachtung meines Menschseins bedeuten. Eine weitere theologische Voraussetzung zur Wiedergewinnung der Beichte besteht darin, das Sündenverständnis sowohl aus moralistischer Verflachung als auch aus Erfahrungsferne zu befreien. Einerseits greift das biblische Schuldverständnis tiefer als die landläufige Brandmarkung von menschlichem Fehlverhalten etwa in ökologischer, ökonomischer oder sittlicher Hinsicht: Die biblischen Texte stellen den Menschen in die Verantwortung vor Gott. Andererseits werden Sünde und Schuld nur dann für den einzelnen Menschen wieder konkrete Erfahrung und lebendige Anschauung erhalten, wenn auch alltägliche Verfehlungen – wie z.B. Geiz und sexuelles Fehlverhalten – als Sünde erkannt und bekannt werden. Die Sünde umfasst die ganze Breite der Entfremdung des Menschen von Gott, vom Mitmenschen, von seiner Mitwelt und von sich selbst. Darüber hinaus ist die Beichte aus einer einseitig juridischen Interpretation zu befreien. Das Beichtgeschehen beinhaltet unterschiedliche Aspekte: Dazu gehören – neben juridischen – gleichermaßen gemeinschaftsfördernde, therapeutische, exorzistische und sakramentale Dimensionen. Da Sünde und Schuld immer auch soziale Auswirkungen haben, besitzt deren Bereinigung ein gemeinschaftsförderndes Potential. Die Beichte ist ein wesentliches Mittel auf dem Weg zur aktiven Mitgliedschaft in der Kirche, dem Leib Jesu

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Christi: Einerseits führt die Beichte zu echter christlicher Geschwisterschaft, zu Vertrauen und Offenheit voreinander. Ich darf Sünder sein, kann ohne Maske vor den anderen leben.32 Andererseits brauche ich nicht länger allein mit meinem Versagen zu ringen, sondern habe im Beichthörer einen Mitkämpfer gefunden. Die therapeutische Wirkung der Beichte besteht darin, dass sie zu einer Stärkung der Persönlichkeit führt. Als Weg zu größerer Wahrhaftigkeit bietet sie die Möglichkeit, sich mit den eigenen Realitäten auszusöhnen. In der Beichte kann ich die untragbar gewordenen eigenen Lasten auf Gott werfen, um Entlastung zu erfahren. Johannes Tauler hat diesen Vorgang unnachahmlich zum Ausdruck gebracht: „Das Pferd macht den Mist in dem Stall, und obgleich der Mist Unsauberkeit und üblen Geruch an sich hat, so zieht doch dasselbe Pferd denselben Mist mit großer Mühe auf das Feld; und daraus wächst der edle schöne Weizen und der edle süße Wein, der niemals so wüchse, wäre der Mist nicht da. Nun, dein Mist, das sind deine eigenen Mängel, die du nicht beseitigen, nicht überwinden, noch ablegen kannst, die trage mit Mühe und Fleiß auf den Acker des liebreichen Willens Gottes in rechter Gelassenheit deiner selbst. Streue deinen Mist auf dieses edle Feld, daraus sprießt ohne allen Zweifel in demütiger Gelassenheit edle wonnigliche Frucht auf.“33 Exorzistisch wirkt die Beichte dadurch, dass in ihr die Herrschaft der Sünde über mein Leben gebrochen wird.34 Indem ich im Bekenntnis der Schuld das Geheimnis mit meiner Sünde breche, verliert sie ihre Macht. Die sakramentale Dimension der Beichte schließlich besteht darin, dass im Absolutionswort des Beichthörers Gottes eigenes Wort, sein Evangelium, an mich ergeht.35 Als Wort Gottes hat es performative Wirkung, bewirkt, was es sagt. Dadurch, dass in der Beichte ein Perspektivwechsel vollzogen wird, wird sie zum Hoffnungselixier. Als Einbruchsstelle der Ewigkeit ermöglicht sie eine Vorwegerfahrung der Ewigkeit. Zur Wiedergewinnung der Beichte ist es außerdem unerlässlich, unterschiedliche alte und neue Formen im Raum der christlichen Gemeinde zu fördern und in das öffentliche Gespräch zu bringen. Seit jeher werden in der evangelischen Christenheit verschiedene Formen der Beichte praktiziert. Die Agende der VELKD von 199336 weist zu Recht darauf hin, dass die einzelnen Formen der Beichte einander 32

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So schon Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel (Dietrich Bonhoeffer Werke 5 (DBW 5)), Müller, Gerhard Ludwig, Schönherr, Albrecht (Hrsg.), München 1987, S. 93. Tauler, Johann, Predigt 6. In: Predigten (Band 1), übertragen und hrsg. von Hofmann, Georg, Einsiedeln 1979, S. 43ff. Thurneysen, Eduard, Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 1994, S. 280 (§ 15 Seelsorge als Exorzismus). DBW 5, 94. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden (Die Beichte, Band III/3), hrsg. von der Kirchleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, neu bearbeitete Ausgabe, Hannover 1993.

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Peter Zimmerling

ergänzen. Neben den traditionellen Beichtformen gibt es inzwischen eine Reihe neuerer Ansätze. Die Thomasmesse etwa hat vielversprechende Riten der Einzelbeichte während des Gottesdienstes entwickelt.37 Die gottesdienstliche Rede von Schuld und Vergebung hat die Aufgabe, den Verweischarakter der unterschiedlichen Formen der Beichte aufeinander wiederzuentdecken und den Gottesdienstteilnehmern nahezubringen. Die gemeinsame Beichte im Gottesdienst, die leicht zur toten Form wird, kann das Angebot der Einzelbeichte nicht ersetzen. „Deshalb will auch die Gemeinsame Beichte die Einzelbeichte in Erinnerung halten. Davon soll in den Predigten über die Beichte gesprochen werden“.38 Allerdings ist auch die Einzelbeichte nicht vor Schematismus und Gewöhnung gefeit. Darum sollten in den Gemeinden nicht nur unterschiedliche Beichtformen angeboten, sondern von den Beichtenden auch zwischen den unterschiedlichen Beichtformen gewechselt werden. Die Privatbeichte vermag durch das mit ihr verbundene Beichtgeheimnis die Intimität des Einzelnen besonders gut zu schützen. Das ist gerade im Hinblick auf die in den vergangenen Jahren etablierten öffentlichen, medial vermittelten Angebote hervorzuheben, in denen Menschen Entlastung von ihrer Schuld suchen. Letztlich erwarten die Gäste in Talkshows und Talkradios angesichts von Fehlverhalten vom Publikum Entlastung nach dem Motto „Du bist – trotzdem – o.k.“, die ihnen allerdings nicht immer gewährt wird. Untersuchungen belegen, dass Talkshowgäste keine wirkliche Entlastung von Schuld erfahren. Im Gegenteil ist die auf suggestivem Wege bewirkte Preisgabe intimster Geständnisse bei vielen mit schweren psychischen Folgeschäden verbunden.39 Gerade die Einzelbeichte sollte angesichts dieser Situation als Kontrastangebot in das öffentliche Gespräch eingebracht werden. Die Wiedergewinnung der Beichte stellt nicht zuletzt eine gemeindepädagogische Aufgabe dar. Bereits im Kindesalter können Angebote einer kindgemäßen Hinführung zu Bekenntnis und Vergebung gemacht werden. Kommen solche Angebote bei Kindern an, sind sie die beste Voraussetzung dafür, dass diese auch im Erwachsenenalter einen Zugang zur Beichte finden. Entscheidend ist dabei, dass im Kindesalter die Begleitung auf dem Weg zur Beichte primär durch die nächststehenden Menschen, also die Eltern, erfolgt.40 Es fällt auf, dass das Thema „Schuld bei Kindern“ in Theologie und Kirche bisher fast nirgends thematisiert wird. Das gilt für die theologische Literatur genauso wie für Kindergottesdienstund Unterrichtspläne (für Christenlehre und Religionsunterricht gleichermaßen). 37 38 39 40

Haberer, Tilmann, Die Thomasmesse. Ein Gottesdienst für Ungläubige, Zweifler und andere gute Christen, München 2000. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Band III/3 (S. Anm. 36), 13. Goldner, Colin, Meiser, Fliege & Co. Ersatztherapeuten ohne Ethik. In: Psychologie heute 23 (1996), S. 20–27. Vgl. dazu im Einzelnen: Mahlke, Hans Peter, Schuld und Vergebung bei Kindern. In: Klän, Werner, Barnbrock, Christoph (Hrsg.), Heilvolle Wende. Buße und Beichte in der evangelischlutherischen Kirche, Göttingen 2009, S. 99–113.

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Entsprechenden Unterrichtseinheiten in Konfirmandenunterricht und Christenlehre käme eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Wiedergewinnung der Beichte zu. Sie sollten die Möglichkeit einschließen, Beichte im Vollzug kennenzulernen. Gerade jugendgemäße meditative Beichtformen können helfen, die Hemmschwelle gegenüber der Einzelbeichte abzubauen.41 Es gibt inzwischen eine große Anzahl unterschiedlicher meditativer Beichtformen. Folgende Formen sind in der jüngsten Vergangenheit – vor allem im Rahmen von Konfirmandenrüstzeiten und Jugendgottesdiensten – erprobt worden: einen Nagel als Sinnbild der eigenen Sünden unter einem Holzkreuz ablegen; Beichtzettel verbrennen, auf denen vorher persönliche Sünden notiert werden konnten; Steine in einen See werfen, die zuvor mit einer besonders drückenden Sünde beschriftet wurden. Da in den meisten Kirchgemeinden die Einzelbeichte unbekannt ist, muss sie auch unter den erwachsenen Kirchenmitgliedern erst wieder ins Bewusstsein gerufen werden. Dafür bieten sich auch Gemeindeabende und Predigtreihen zum Thema an, ebenso das Bekanntmachen des Angebots der Beichte im Gemeindebrief. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Einrichtung eigener Bußgottesdienste (etwa als abendlicher Vespergottesdienst) mit vorangehender oder anschließender Möglichkeit zur Einzelbeichte.42 Im Anhang des Evangelischen Gesangbuchs finden sich – je nach Landeskirche unterschiedlich lange – Anleitungen zur Beichte. Eine dauerhafte Wiedergewinnung der Privatbeichte wird nur möglich sein, wenn in Theologie und Kirche kontinuierlich über deren Chancen und Möglichkeiten gesprochen und sie regelmäßig angeboten wird.

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Braun, Reiner, Impulse zur Erneuerung der Beichte durch meditative Formen. In: Neef, HeinzDieter (Hrsg.), Theologie und Gemeinde. Beiträge zu Bibel, Gottesdienst, Predigt und Seelsorge, Stuttgart 2006, S. 155–166. Ruhbach, Gerhard, Das ganze Leben eine Buße. Sünde und Sündenvergebung im Alltag und als gottesdienstliche Handlung. In: Böhme, Wolfgang (Hrsg.), Sündigen wir noch? Über Schuld, Buße und Vergebung (Herrenalber Texte 65), S. 50.

Versöhnungsweg, Laienbeichte und Pilgerbuße Pastoraltheologische Analyse neuer Entwicklungen des „ungeliebten Sakraments“ in der katholischen Kirche Johann Pock Angebote zur Lebensbewältigung, gerade in schwierigen Situationen, zu bieten, das gehört zum innersten Kern von Religionen. Habermas gesteht zu, dass gerade religiöse Weltbilder „hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge“1 bewahrten. Nun stimmt es ja, dass die Sorge um das „verfehlte Leben“ zu den Kernpunkten christlicher Seelsorge im Verlauf der Jahrhunderte gehört hat – so sehr, dass Seelsorge und Beichtsorge beinahe deckungsgleich verstanden wurden. In den Jahrzehnten seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde jedoch aus dem Kernpunkt der Seelsorge immer mehr das Sorgenkind, ja „das ungeliebte“2 oder auch „vergessene“3 Sakrament. Man braucht keine empirischen Studien bemühen, um das massive Verschwinden der Einzelbeichte aus dem Vollzug christlichen Lebens und aus dem gemeindlichen Handeln festzustellen – und es gibt auch meines Wissens keine aktuellen empirischen Untersuchungen zur Beichte, weder zur Beichthäufigkeit der KatholikInnen noch zu den Inhalten, die in Beichtgesprächen thematisiert werden.4 Im folgenden Beitrag soll die aktuelle Praxis von Buße und Beichte im katholischen Raum sowie die pastoraltheologische Literatur zur Thematik untersucht werden, wobei sich der Beitrag im Wesentlichen aus den persönlichen Zugängen des Autors sowie dem Material speist, das wissenschaftlich zugänglich ist.5

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Habermas, Jürgen, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, S. 115. Vgl.: Grom, Bernhard, Kirchschläger, Walter, Koch, Kurt, Das ungeliebte Sakrament. Grundriß einer neuen Bußpraxis, Müller, Joachim (Hrsg.), Freiburg 1995. Vgl.: Demmer, Klaus, Das vergessene Sakrament. Umkehr und Buße in der Kirche, Paderborn 2005. Dies wäre ein Desiderat, das jedoch aufgrund des Beichtgeheimnisses und der damit verbundenen Scheu, über dieses Sakrament zu sprechen, schwer durchzuführen ist. Die Anzahl von Pönitenten wird heute auch nicht mehr flächendeckend gezählt, wie es noch in meiner Kindheit anhand der ausgeteilten Beichtzettel über die vollzogene Osterbeichte üblich und möglich war. Ich kann dabei jedoch nur auf den mir zugänglichen Bereich in Österreich und Deutschland Bezug nehmen. Generelle Aussagen sind hier nicht möglich, vielmehr sollen Tendenzen aufgezeigt werden.

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1. Die Beichte – das pastoral(theologisch)e Stiefkind Die Bußpraxis der KatholikInnen wird von verschiedensten Seiten als prekär eingestuft. Die Beichte ist sicherlich das Sakrament mit dem geringsten „Beliebtheitsfaktor“. Die Beichthäufigkeit unter KatholikInnen hat in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen: Dies zeigen die fehlenden Schlangen vor den Beichtstühlen, wie sie unmittelbar vor Gottesdiensten oder vor allem in der Advents- und Fastenzeit noch in den 1970er und 1980er Jahren (zumindest in Österreich) in den meisten Pfarrkirchen üblich waren. Und dies zeigen die Aussagen vieler Priester, die immer seltener bestimmte Beichtzeiten anbieten, sondern eher ein Beichtgespräch nach vorheriger Terminvereinbarung vorschlagen. Und es gibt auch nur Vermutungen, weshalb es zu diesem Rückgang der klassischen Einzelbeichte gekommen ist. Genannt werden u.a. der „Zeitgeist“, die frühere Praxis der Beichte, negative Beichterfahrungen, die Inkompetenz der „Beichtväter“, das gewandelte Sündenbewusstsein, das Überschreiten der Intimsphäre oder auch die Missbrauchsfälle.6 Interessant ist dazu die These von Rupert Scheule: „Der drastische Rückgang der Beichtpraxis dürfte aber … nicht allein äußere (exogene) Ursachen im gesellschaftlichen oder kirchlichen Transformationsprozeß haben. … [Es ist] gerade die gesteigerte Beichthäufigkeit selbst, die aus sich heraus (endogen) ihr eigenes Ende mitverursachte.“7 Zugleich stellt aber die Erstbeichte immer noch einen vorgeschriebenen Teil in der Erstkommunionvorbereitung dar, wird dann jedoch nicht von einer Alltagspraxis aufgegriffen – nicht zuletzt deshalb, weil viele der Kinder, die zur Erstbeichte gehen, im Familienumfeld mit ihrer Beichte alleingelassen sind. Wurde vor einigen Jahren die Erstbeichte zumindest noch gefolgt von Schülerbeichten bis hin zur Firmung, hat sich diese Praxis einer jahrgangsmäßigen Hinführung zur Beichte längst überholt – einzelne Ausnahmen in Schulen in kirchlicher Trägerschaft mag es noch geben, der Trend ist jedoch deutlich: Die Erstbeichte ist für viele Kinder eine Feier, die in der Luft hängt und durch keine familiäre oder gemeindliche Praxis gedeckt ist. Neben dieser feststellbaren Beichtmüdigkeit finden sich zugleich Orte und Gelegenheiten, an denen noch intensiv gebeichtet wird: an Wallfahrtsorten oder im Rahmen von Großveranstaltungen wie dem Weltjugendtag. Und es entwickeln sich unterschiedliche Formen von Buß- und Versöhnungsfeiern, in denen versucht wird, das Anliegen von Umkehr und Neuanfang, von Versöhnung und Vergebung aufzugreifen und gemeindlich zu verankern. Arnold meint zu recht, dass die Krise nicht zuletzt darin wurzelt, „dass es die Kirche immer noch nicht geschafft hat, 6

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Ob Kröger mit seiner Meinung recht hat, sei jedoch dahingestellt: „Offensichtlich haben zahlreiche fortschrittliche Theologen den gläubigen Christen das Beichten verleidet, sowohl in Predigten wie mit privaten Ratschlägen.“ – Kröger, Athanasius, Theologie der Beichte und Bußordnung. In: Una-Voce-Korrespondenz 39 (2009), S. 328–338, 331. Scheule, Rupert Maria (Hrsg.), Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2001, S. 38f.

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jene Fülle an vielfältigen Formen von Buße und Versöhnung, die auch in der Kirchengeschichte bezeugt sind, erneut zu pflegen und zu kultivieren.“8 Die Beichte ist aber nicht nur im Volk Gottes ein ungeliebtes, ja verschwindendes Sakrament, es wurde auch pastoraltheologisch in den letzten Jahren stiefmütterlich behandelt. Im Vergleich zur Fülle an Literatur über Schuld und Sünde aus moraltheologischer oder ethischer Sicht gibt es von pastoraltheologischer Seite nur wenig. Im Fokus stehen dabei am ehesten die Frage der Erstbeichte9 oder auch die Analyse von Beichterfahrungen, wie sie Scheule anhand von autobiographischen Zeugnissen darlegt.10 Die letzte große pastoraltheologische Studie zum Bußsakrament stammt von Konrad Baumgartner aus dem Jahr 1978.11 Bei ihm ist schon nachzulesen, dass die Beichthäufigkeit bereits in den 1960er Jahren rasch abgesunken ist. In die Jahre gekommen ist auch das Buch von Paul Zulehner, der 1979 ebenfalls vom „Verfall des Beichtinstituts“12 spricht und vorausblickend feststellt, „daß auch die Erneuerung des Rituals oder die Neubenennung als ‚Feier der Versöhnung‘ die Krise der Beichte nicht an der Wurzel getroffen haben“13. 1998 veröffentlichte Karl Schlemmer unter dem Titel „Krise der Beichte – Krise des Menschen?“ ökumenische Zugänge zum Bußsakrament.14 Eine systematische pastoraltheologische Analyse bleibt jedoch ein Desiderat. Ein Blick auf die zentralen Lehr- und Handbücher für Praktische Theologie zeigt ebenfalls, dass in den letzten Jahrzehnten die Beichte kaum mehr eine Rolle spielt. So gibt es im zweibändigen Handbuch für Praktische Theologie von Herbert Haslinger (1998) keinen eigenen Artikel, der sich mit Buße und Versöhnung beschäftigt; es gibt nur einen grundsätzlichen Beitrag zur Sakramentenpastoral. Darin spricht Haslinger von den Sakramenten als „befreiende Deutung von Lebenswirklichkeit“15; er entfaltet (ausgehend von Karl Rahner) einen mystagogi8

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Arnold, Markus, Wege der Versöhnung. Grundlagen und Modelle der Bußpraxis in Kinder-, Familien- und Gemeindekatechese (Feiern mit der Bibel, Band 19), Stuttgart 2004, S. 7. Vgl.: ders., Die Bussfeier. Theologie – Modelle – Meditationen, Luzern 1998, S. 7: „Kein Sakrament hat in der Geschichte der katholischen Kirche eine solche Vielfalt an liturgischen Formen entwickelt wie das Busssakrament.“ Vgl. dazu die Dissertation von Juliane Reus, die eine „pastoralgeschichtliche Untersuchung“ im Blick auf die Erstbeichtvorbereitung in Deutschland anstellt: Reus, Juliane, Kinderbeichte im 20. Jahrhundert. Pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Wandel der Erstbeichtvorbereitung in Deutschland (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, Band 78), Würzburg 2009. Vgl. Scheule, Beichten (s. Anm. 7). Baumgartner, Konrad, Erfahrungen mit dem Bußsakrament, 2 Bände, München 1978. Zulehner, Paul M., Umkehr: Prinzip und Verwirklichung. Am Beispiel Beichte, Frankfurt a. M. 1979, S. 6. A.a.O.. Schlemmer, Karl (Hrsg.), Krise der Beichte – Krise des Menschen? Ökumenische Beiträge zur Feier der Versöhnung (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, Band 36), Würzburg 1998. Haslinger, Herbert, Sakramente – befreiende Deutung von Lebenswirklichkeit. In: ders. (Hrsg.), Handbuch Praktische Theologie (Durchführungen, Band 2), Mainz 2000, S. 164–184.

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schen Zugang zu den Sakramenten mit den pastoralen Handlungsprinzipien Wertschätzung, Echtheit, Empathie, Alltäglichkeit, Befreiung und universale Solidarität.16 Zentral ist dabei, dass „das Sakrament kein einlineares Geschehen der Gnaden-‚Vermittlung‘ von Gott her ist, sondern daß sich hier … göttliche und menschliche Wirklichkeit begegnen.“17 Gerade der anthropologische Ansatz öffnet aber auch das Verständnis von Buße und Versöhnung weit über die Einzelbeichte hinaus. „Wenn etwa im Sakrament der Buße Schuld bekannt und Vergebung zugesprochen wird, dann ist das kein isolierter Akt, sondern nur deshalb als Buße identifizierbar, weil und insofern im alltäglichen Leben Schuld eingestanden und Versöhnung praktiziert wird.“18 In eine ähnliche Richtung geht die Sakramententheologie von Heribert Wahl, der ebenfalls nicht explizit auf das Bußsakrament eingeht.19 Wahl gibt als Zeitdiagnose „sinkende Nachfrage nach Sakramenten und das ungebrochene Verlangen nach gelingendem Leben“20 an. Er nennt als Grund für die Abnahme (nicht zuletzt der Beichte) die veränderte Haltung der Menschen zur Kirche: „Die Mehrheit der Katholiken hierzulande ist inzwischen nicht mehr gewillt, sich eine Rolle zuweisen, nicht nachvollziehbare Normen und Sanktionen vorgeben zu lassen und das für ‚schwere Sünde‘ zu halten, was kirchlich als solche deklariert wird.“21 Wahl plädiert für eine diakonische und mystagogische (Sakramenten)Pastoral. Mystagogie sei aber nicht nur ein Element der Katechese, sondern „ist angewiesen auf eine gemeinschaftliche Lebensbegleitung“22. Die Stoßrichtung dieses Ansatzes geht somit auf die Einbindung von Buße und Versöhnung in eine diakonisch ausgerichtete Pastoral, die den Menschen nicht isoliert, sondern in seinen vielfältigen Bezügen sieht. Schließlich zeigt die aktuellste Monographie zur Seelsorge aus dem katholischen Bereich, wie sehr die Beichte, die ursprünglich das Herzstück der Seelsorge ausmachte, aus dem Zentrum katholischen pastoralen Handelns verschwunden ist: Doris Nauer23 geht in ihrer Monographie auf die Beichte nur peripher ein. Der „konstruktive Umgang mit Sünde und Schuld [sei] eine unverzichtbare Dimension glaubwürdiger Seelsorge“24 – und sie plädiert dafür, dass Seelsorge nicht immer auf das Sündenthema zu sprechen kommen muss, um gute Seelsorge zu sein. Vor allem unterscheidet sie zwischen dem, was (psycho-)therapeutisch zu behandeln ist, und dem, was in der Beichte erfolgen kann. Der Vorteil der SeelsorgerInnen 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Vgl.: Haslinger, Sakramente (s. Anm. 15), 172f. Haslinger, Sakramente (s. Anm. 15), 178. Haslinger, Sakramente (s. Anm. 15), 179. Wahl, Heribert, LebensZeichen von Gott – für uns. Analysen und Impulse für eine zeitgemäße Sakramentenpastoral (Kommunikative Theologie – interdisziplinär, Band 9), Berlin 2008. Wahl, LebensZeichen (s. Anm. 19), 58–62. Wahl, LebensZeichen (s. Anm. 19), 60. Wahl, LebensZeichen (s. Anm. 19), 280. Nauer, Doris, Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart 2010. Nauer, Seelsorge (s. Anm. 23), 165.

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sei dabei: „Sie können Menschen im Namen Gottes macht-voll deren Schuld vergeben, d.h. sie macht-voll von ihrer Schuld befreien.“25 Beichte wird hier als eine von mehreren Umgangsmöglichkeiten mit der Schuld der Menschen angesehen und zu Recht deutlich von der Therapie abgegrenzt. Seelsorge sei hingegen ganzheitlich zu sehen und nicht auf einen einzelnen Moment des Lebens zu reduzieren.

2. Ansätze und Modelle zwischen Beichte und Versöhnungsfeier Im Folgenden werden unterschiedliche aktuelle Ansätze dargestellt und analysiert, die versuchen, eine Antwort auf die geänderte Situation der Beichte zu geben. Ich gehe dabei nicht auf Pseudo-Beichtformen ein, wie sie in diversen Internetangeboten oder auch in Talkshows zu finden sind.26 Vielmehr greife ich jene Ansätze auf, bei denen ich Potential sehe, das Bußsakrament in der aktuellen gesellschaftlichen und kirchlichen Situation weiterzuentwickeln. 2.1 Die Entwicklung des Bußverständnisses zwischen dem Gotteslob 1975 und 201327 Das Gotteslob stellt das wichtigste Gebets- und Gesangbuch der katholischen Kirche in den deutschsprachigen Diözesen dar. Es ist aber nicht nur normativ, sondern spiegelt auch den Stand der liturgischen Tradition bzw. der Gebetstradition wider. Das Gotteslob von 1975 war eine Antwort auf die liturgischen Erneuerungen im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils. Nun ist 2013 das Gotteslob nach fast vierzig Jahren überarbeitet und neu ediert worden. Mit dem Erscheinen des neuen Gotteslobs ist auch eine neue Handreichung für die Feier der Sakramente mitgegeben. Dies betrifft nicht zuletzt die Feier des Bußsakraments. Im neuen „Ordo paenitentiae“ von 197428 fällt auf, dass nur drei Seiten der Einzelbeichte, hingegen gleich 90 Seiten der (neuen) Bußfeier gewidmet sind. Das 1975 erschienene Gotteslob geht dann auch auf „Buße und Beichte“ ein (Nr. 54– 67), und ebenfalls vornehmlich auf den „Bußgottesdienst“: „Wie andere Formen 25 26

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Nauer, Seelsorge (s. Anm. 23), 168. Vgl. dazu auch meinen Beitrag: Pock, Johann, Beichte zwischen Ignoranz und Boom. Die Bedeutung einer differenzierten Bußpastoral für den Umgang mit der Schuld. In: Gruber, Franz, Niemand, Christoph, Reisinger, Ferdinand (Hrsg.), Geistes-Gegenwart. Vom Lesen, Denken und Sagen des Glaubens (FS Hofer/Hubmann/Sauer) (Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge, Band 17), Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 427–440. Vgl. dazu die beiden Ausgaben: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Diözese GrazSeckau, hrsg. von den Bischöfen Deutschlands u.a., Stuttgart 1975; Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für die (Erz-)Diözesen Österreichs, hrsg. von den (Erz-)Bischöfen Deutschlands und Österreichs und dem Bischof von Bozen-Brixen, Stuttgart-Wien 2013. Zitiert wird das Gotteslob nicht nach Seiten, sondern nach den Nummern der Lieder und Gebete. Feier der Buße, hrsg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier, Zürich 1974.

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der Buße führt auch die rechte Teilnahme an einem Bußgottesdienst zur Vergebung der alltäglichen Fehler“ (Nr. 55). Das heißt, dass hier bereits davon ausgegangen wurde, dass es nicht für alle Sünden eine sakramentale Form der Buße braucht. Dem Bußgottesdienst wurde sündenvergebender Charakter zugestanden. Die Beichte wurde hauptsächlich auf die Todsünden bezogen: „Die Vergebung von Todsünden … findet ihre notwendige Vollendung im sichtbaren Zeichen der sakramentalen Lossprechung. Nach den Weisungen der Kirche sind daher Todsünden vor dem nächsten Empfang der Eucharistie in der Einzelbeichte zu bekennen. Denn Todsünden schließen von der Kommuniongemeinschaft aus.“ (Nr. 55). Hier wird vorausgesetzt, dass der Beter bzw. Pönitent weiß, was eine Todsünde ist – was der pastorale Alltag und die Gespräche mit „Normalchristen“ jedoch stark bezweifeln lassen. In Nr. 58 wird präzisiert: „Alle, die sich einer schweren Schuld bewusst sind, sind zum Empfang des Bußsakramentes verpflichtet.“ Diese frühen Modelle von Bußgottesdiensten im Gotteslob zeigen jedoch schon eine wichtige Tendenz nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil an: Die Buße ist nun nicht mehr nur eine Sache zwischen dem Sünder und dem Priester, sondern hat gemeindlichen Charakter. So wird in Nr. 57,5 die „gegenseitige Vergebung“ hervorgehoben. Und die Bußgottesdienste verbinden die Gewissenserforschung stark mit biblischen Texten (wie z.B. Mt 22,34–40; Ps 51; Jes 59) und weniger mit kirchlichen Geboten. Den Abschluss bildet jedoch keine Lossprechung, sondern die Bitte, dass Gott das gegenseitige Verzeihen fördern möge (Nr. 57,8). Es werden hier einerseits die „vielfältigen Arten der Buße im Alltag, das Schuldbekenntnis in der Eucharistiefeier und die Bußgottesdienste genannt“, aber nur als „Vorstufen auf dem Weg zur sakramentalen Beichte und Lossprechung, die ohne sie verkümmern würde“ (Nr. 58). Das Gotteslob 1975 hat zudem einen katechetischen Anspruch und widmet daher eigene Abschnitte für die Beichte der Kinder und der Schüler (Nr. 64 und 65). Damit wird auf das unterschiedliche Verständnis von Sünde in den unterschiedlichen Lebensaltern Rücksicht genommen. Für die Erwachsenen werden mehrere Gewissensspiegel angeboten, die nochmals das Verständnis der Bußmaterie deutlich machen: Die Zehn Gebote (Nr. 61), ein „Allgemeiner Gewissensspiegel“ (Nr. 62), der das Verhältnis zu Gott, das Leben in Gemeinschaft, in der Familie, das Verhältnis zu Mitmenschen, Beruf, Arbeit und Besitz, zum Leben, zur Geschlechtlichkeit und zur Wahrheit anspricht. Ein dritter (Nr. 63) geht auf die Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe ein; ein vierter (Nr. 64) auf das Leben mit anderen. Im Gotteslob von 2013 ist ebenfalls ein eigener Abschnitt (Nr. 593–601) dem „Sakrament der Buße und der Versöhnung“ gewidmet. Die Entwicklung im Verständnis zeigt sich schon in der Einleitung, indem man hier vom biblischen Umkehrruf und vom Glauben an einen barmherzigen Gott ausgeht. Es wird nun nicht mehr von „Todsünden“ gesprochen, sondern die alltäglichen („lässlichen“) von den

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schweren Sünden unterschieden, die durch Entscheidungsfreiheit, Bewusstsein und Gewichtigkeit der Sache charakterisiert sind (Nr. 593,2). Hier wird jedoch kein spezifisches Modell einer Bußfeier mehr angeboten, sondern nur allgemein die „gemeinschaftliche Feier der Versöhnung (mit Bekenntnis und Lossprechung der Einzelnen)“ kurz genannt (Nr. 595) und ein schematischer Ablauf angeboten (596,2). Auch die Schülerbeichte ist hier nicht mehr eigens ausgeführt, nur in den Hilfen zur Gewissenserforschung für Kinder kommt der Alltag von Schülern vor (Nr. 598). Somit zeigt sich in der Entwicklung des Gotteslobs, dass in der Praxis der Kirche die Bußgottesdienste keine zentrale Rolle mehr spielen und dass die Schülerbeichte aus dem Alltag der Schule bzw. des gemeindlichen Lebens immer mehr verschwindet. 2.2 Versöhnung im Gottesdienst und in den Sakramenten Das Bußsakrament wurde lange Zeit auf die Einzelbeichte hin enggeführt.29 Gerade die liturgischen Erneuerungen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben aber deutlich gemacht, dass es versöhnende Elemente in allen Gottesdiensten und Sakramenten gibt30 – nur wird dies in den jeweiligen Feiern meist zu wenig deutlich. Hier ist nicht der Ort, alle liturgischen Möglichkeiten für Versöhnung auszufalten. Wichtig scheint mir zu sein, dass die unterschiedlichen VersöhnungsElemente nicht als reine Vorbereitung auf das „eigentliche“ Bußsakrament angesehen werden. Genau diese Diktion hat meines Erachtens vielen Menschen die „Lust“ auf die Buß- und Versöhnungsgottesdienste genommen, da ihnen suggeriert wurde: Was wir hier feiern, zählt noch nicht wirklich; ihr müsst erst noch zur Einzelbeichte. Hingegen gibt es sowohl in der Eucharistiefeier wie auch in anderen Feiern Elemente von Versöhnung, die es ernstzunehmen gilt: Das Schuldbekenntnis am Beginn der Eucharistiefeier; das Vaterunser mit der Vergebungsbitte etc. Dazu kommen die verschiedenen Möglichkeiten des Kirchenjahres, die ebenfalls für Versöhnungsfeiern genützt werden können.31

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Vgl. dazu u.a. Arnold, Wege der Versöhnung (s. Anm. 8), 65–70; Schlögel, Herbert, Und vergib uns meine Schuld. Wie auch wir … Theologisch-ethische Skizzen zu Versöhnung und Sünde (Feiern mit der Bibel, Band 25), Stuttgart 2007, bes. Kap. 5: Orte der Versöhnung, S. 99–119. Vgl. dazu vor allem den Sammelband der 8. Trierer Sommerakademie: Vollger, Ewald, Urban, Albert (Hrsg.), Liturgie und Versöhnung. Wege des Heils, Trier 2011. Vgl. dazu schon Weger, Reinhard, Bußpraxis in der Gemeinde. Theologische Reflexionen und Modelle für Bußgottesdienste, Ansprachen und Besinnungstage, München 1992.

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2.3 Die Erst- bzw. Kinderbeichte als letzter Rest der Beichttradition? Die Erstbeichte stellt in der katholischen Kirche kirchenrechtlich immer noch eine Pflicht dar, die in Verbindung mit der Erstkommunion steht. Juliane Reus hat den Wandel der Erstbeichtvorbereitung in Deutschland im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Frage nach deren Sinnhaftigkeit ausführlich dargestellt: „Vielfach scheint es so, dass mit mehr oder weniger großem katechetischem Aufwand die Erstkommunionkinder, die jahrgangsmäßig gut zu erfassen sind, auf ein Sakrament vorbereitet werden, das sie vielleicht nur einmal im Leben … empfangen, obwohl sie es genau in diesem Augenblick wohl kaum ‚benötigen‘.“32 Sie versucht aber nicht nur die Geschichte aufzuarbeiten, sondern sucht nach Aspekten, „damit Kinder heute das Bußsakrament gewinnbringend empfangen können.“33 Besonderer Wert wird im Rahmen der Erstbeicht-Vorbereitung auf die Bußerziehung mit dem Fokus auf die Gewissensbildung gelegt.34 Und die jüngsten Beiträge zur Thematik streichen hervor, dass nicht eine punktuelle Einführung, sondern „ein langer gemeinsamer Weg des Kennenlernens und Vertrautwerdens der Kinder und der Katecheten, also intensive Beziehungsarbeit vonnöten ist“35. Konsequenterweise plädiert Reus für die Erstbeichtvorbereitung als Beziehungskatechese und sieht die grundsätzliche Beziehungsfähigkeit als Voraussetzung für Umkehr und Versöhnung an.36 Dies kann aber nicht primär in der Schule oder in der Beichtkatechese erfolgen, sondern ist von den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten zu leisten. Versöhnungspastoral hat somit ein wesentlicher Aspekt der Kinder- und Familienpastoral zu sein, nicht nur der Sakramentenkatechese. 2.4 Bußfeiern – die Lösung? „Bussfeiern mit sakramentaler Lossprechung sind eine Lösung37. Für viele waren sie vor allem vor zwanzig bis dreißig Jahren eine Erlösung.“38 So formuliert es Markus Arnold im Jahr 1998 aus Schweizer Perspektive – und er fügt an: „Ob sie auch für eine weitere Zukunft die Lösung darstellen, steht in den Sternen.“39 32 33 34 35 36 37

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Reus, Kinderbeichte (s. Anm. 9), 15. A.a.O., 16. Vgl. z.B. Emeis, Dieter, Grundriß der Gemeinde- und Sakramentenkatechese, München 2001. Reus, Kinderbeichte (s. Anm. 9), 232; vgl. Meyer, Evi, Kinder. In: Haslinger, Herbert (Hrsg.), Handbuch Praktische Theologie, Band 2, Würzburg 2000, S. 47–60, 58. Vgl.: Reus, Kinderbeichte (s. Anm. 9), 337–355. Vgl. dazu exemplarisch einige Bücher, die Modelle von Bußfeiern anbieten: Tripp, Wolfgang (Hrsg.), Deine Sünden sind dir vergeben. Bußgottesdienste, Ostfildern 1991; Nuener, Christian, Lesky, Martin (Hrsg.), Vergib mir, wie auch ich vergebe. Bußfeiern und Versöhnungsgottesdienste. Modelle – Texte – Symbole, Innsbruck, Wien 2008; Maierhof, Jens (Hrsg.), Bußgottesdienste. Versöhnungsfeiern im Jahreskreis und zu besonderen Anlässen, Regensburg 2013. Arnold, Die Bussfeier (s. Anm. 8), 7. Mittlerweile hat auch die Schweizer Bischofskonferenz am 1.1.2009 per Dekret die Ausnahmeregelung einer Generalabsolution wieder zurückgenommen, da „die eine schwere Notlage begründenden Voraussetzungen für die Erteilung der Generalabsolution nicht gegeben sind“ – Revisi-

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Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Blick auf die Sakramente den gemeinschaftlichen Aspekt der Feiern gestärkt. Die Sakramente sollten wieder stärker als Feiern einer Gemeinschaft von Glaubenden wahrgenommen werden – sowohl, was die Vielfalt der liturgischen Dienste und die verantwortliche Mitfeier und Mitgestaltung von Laien betraf, als auch die Verankerung der Feiern (wie z.B. der Taufe) im gemeindlichen Leben. Dies bedeutete für die Beichte, dass es nun nicht mehr nur die Form der Einzelbeichte („Ohrenbeichte“) gab, sondern auch gemeinschaftlichen Bußfeiern, die in Ausnahmefällen auch mit Generalabsolution gefeiert werden konnten. Nach Arnold hatten diese Feiern gewissermaßen eine „Ventilfunktion“40 bis in die 1990er Jahre: Man musste sich zum Erlangen der Absolution nun nicht mehr dem – für viele peinlichen – Aussprechen von Sünden vor einem Priester stellen, sondern konnte sich in einer gemeinschaftlichen Feier lossprechen lassen. Der Boom der Bußfeiern dauerte aber nicht lange an – zum einen, weil von bischöflicher Seite immer stärker eingefordert wurde, dass die Bußfeiern die Beichten nicht ersetzen dürfen, sondern nur darauf vorbereiten; daher wurde auch im Anschluss an Bußfeiern die Möglichkeit zur Einzelbeichte angeboten. Meine eigene Erfahrung als Kaplan in den 1990er Jahren zeigte, dass dieses Angebot immer seltener angenommen wurde – und dass die Menschen auch die Lust an der Bußfeier verloren, da ihnen ja unterschwellig vermittelt wurde: Das, was ihr hier feiert, zählt ja letztlich doch nicht. Verbunden mit dieser fatalen Doppelbotschaft (feiert die Bußfeiern – aber geht dann auch brav beichten) ist aber auch ein stark geänderter Zugang zum Kirchen- und Sündenverständnis unter KatholikInnen. War früher das Wort der Kirche (zumeist vermittelt durch den Pfarrer) Gesetz und daher ein Fehler gegenüber den Lehren der Kirchen auch beichtwürdig, so leben heute viele KatholikInnen offen gegen die Lehren der Kirche, ohne deshalb ein schlechtes Gewissen oder das Bedürfnis nach der Beichte zu haben. Dies gilt z.B. für die Sexuallehre der Kirche (in früheren Jahren einer der wichtigsten Punkte für die Beichten), aber auch im Blick auf die „fünf Gebote der Kirche“, die meines Wissens nicht einmal mehr allen TheologInnen bekannt sind – geschweige denn einem Großteil der Menschen, die kaum mehr eine versäumte Sonntagspflicht oder ein gebrochenes Fastengebot als mögliche Beichtmaterie ansehen.41 Bußfeiern haben aber dennoch ihren Wert nicht verloren, sondern dienen mittlerweile in vielen Pfarren und Gemeinschaften der gemeinschaftlichen Vorbe-

40 41

on der Partikularnormen der Schweizer Bischofskonferenz zum neuen Kirchenrecht. Serie VI, Dekret zu Can. 961 CIC, Freiburg i. Ü. 2009. Arnold, Wege der Versöhnung (s. Anm. 8), 90. Im Gotteslob 1975 sind diese Gebote der Kirche als Abschluss des Abschnittes über Buße und Beichte unter „Weisungen der Kirche“ (Nr. 67) abgedruckt: 1. Feiere den Sonntag als ‚Tag des Herrn‘. 2. An Sonn- und Feiertagen nimm regelmäßig an der Eucharistiefeier teil. 3. Am Freitag bring ein Opfer. 4. Empfange regelmäßig, wenigstens aber in der österlichen Zeit, die Sakramente der Buße und des Altares. 5. Hilf der Kirche und deiner Gemeinde.

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reitung in der Advents- und Fastenzeit. Sie verwirklichen dabei den altkirchlichen Aspekt der gemeinschaftlichen Buße, ohne jedoch das Moment des öffentlichen Aussprechens persönlicher Verfehlungen. Wohl aber sind die zumeist didaktisch/katechetisch ausgefeilten Feiern ein wichtiger Beitrag zur Katharsis einer Gemeinschaft, zur Besinnung auf gemeinschaftliche Aufgaben und Fehler.

3. Beichten neu? 3.1 Nightfever und Beichtpraxis Eine spezifische Form von Gottesdiensten hat sich nach dem Papstbesuch beim XX. Weltjugendtag in Köln 2005 entwickelt.42 Die Form der „Nightfever“Veranstaltungen43 entstand mit dem Anliegen, die Erfahrungen des Weltjugendtreffens weiterzuführen, und hat sich mittlerweile auf viele Städte in Deutschland und Österreich ausgebreitet. Peter van Briel bezeichnet diese NightfeverVeranstaltungen als „Begegnung mit der Barmherzigkeit des Vaters“44. Das Setting von Nightfever beschreibt er als einen Raum, der den Menschen die Freiheit lässt, zu kommen und zu gehen, wie und wann sie möchten; und gerade deshalb werde eine „Begegnung von Mensch und Gott“ möglich. Wichtig ist dabei die „mystische“ Gestaltung des Kirchenraums mit vielen Kerzen und mit dem zur Anbetung ausgesetzten Allerheiligsten (d.h. die in der Monastranz sichtbar präsentierte konkretisierte Hostie als reale Gegenwart Christi), das wirkungsvoll mit Kerzen, Blumen und Tüchern in Szene gesetzt wird. Menschen auf der Straße, die an diesen Kirchen vorbeigehen, werden angesprochen und eingeladen, diesen Raum zu betreten. Dort gibt es kein Programm, sondern Gegenwart – Gegenwart des Allerheiligsten, aber auch Gegenwart von Personen. Und hier, in diesem Raum, entsteht dann auch der Wunsch nach Versöhnung: „Obwohl der Blick von sich selbst weg auf Gottes Gegenwart gerichtet ist, spiegelt sich darin das bisherige Leben – wie im Rückspiegel. Und auch das vergebliche Bemühen der Evangelisation, aus dem Erkennen von Defiziten die Sehnsucht nach Erlösung zu extrahieren, wird hier gespiegelt: Mit der Erfahrung, die Erfüllung aller Sehnsucht gefunden zu haben, stellt sich das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit ein. Und sucht nach Versöhnung.“45 Es werde hier auch nicht sofort 42

43

44 45

Vgl. http://koeln.nightfever.org/?i=404 [20.5.2015]; vgl. auch Nissing, Hanns-Gregor, Süß, Andreas, „Wir sind gekommen, um Ihn anzubeten.“ Die Initiative Nightfever – Theologische Grundlegungen – Zur Einleitung. In: dies. (Hrsg.), Nightfever. Theologische Grundlegungen, München 2013, S. 11–40. Vgl.: van Briel, Peter, Der Barmherzigkeit des Vaters begegnen. Beichte und Gespräch. In: Nissing, Hanns-Gregor, Süß, Andreas (Hrsg.)., Nightfever, Theologische Grundlegungen, München 2013, S. 113–130. van Briel, Barmherzigkeit (s. Anm. 42), 120. A.a.O., 124.

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die Beichte angezielt, sondern ein offenes Gespräch – und manchmal einfach ein Segen eines Priesters: „Nicht selten wird um Segen für eine brüchige Liebesbeziehung gebeten; für den Ehepartner oder Familienangehörige, mit denen man im Unfrieden ist; für Kranke, Schwerkranke oder Sterbende; schließlich – schon fast in eine Beichte übergehend – für diejenigen, denen man nicht genügend Zuneigung, Aufmerksamkeit oder Liebe geschenkt hat.“46 Der Wunsch nach einer Beichte wird hier als langsames Erkennen der Besucher angesehen, „daß vieles von dem, was im Alltag unfertig und leidvoll ist, durch eigenes Unvermögen verschuldet wurde.“47 Andreas Süß, einer der Initiatoren und geistlicher Leiter von Nightfever, beschreibt die Beichten so: „Bei jedem Nightfever-Abend sitzen acht bis zehn Priester offen sichtbar (und in ausreichender Entfernung, damit man nichts hören kann) in den Seitenschiffen. Vor ihnen brennt eine Kerze, und ein Schild weist darauf hin, was sie anzubieten haben: ‚Gespräch, Segen, Sakrament der Versöhnung‘. Vor diesen Schildern bilden sich recht schnell lange Schlangen.“48 Die These von Peter van Briel lautet: „Anscheinend hat die Beichtkrise ihren Grund in der schwindenden Sündenerkenntnis. Vielleicht liegt die zurückgehende Beichtpraxis aber auch daran, daß die Mechanismen der Verdrängung gut funktionieren, oder daß eine mangelnde Gottesbeziehung die religiöse Wirklichkeit des Sakraments als eine Illusion erscheinen läßt.“49 Das Problem ist für ihn das „Bekenntnis der Sünden dem gegenüber, den wir lieben“50. Natürlich ist es so, dass diese Form nur eine bestimmte Gruppe von Menschen anspricht und als Ergänzung zu den gemeindlichen Gottesdiensten angesehen wird. Und es wird wohl nicht von allen, die Nightfever in den unterschiedlichen Städten anbieten, mit denselben Intentionen verbunden sein. Doch es gibt hier die Erfahrung, dass Menschen zur Beichte gehen, die es sonst vielleicht nicht tun. Und van Briel meint sogar: „Die Beichte zu suchen – nicht, um Vergebung zu erlangen, sondern um das auszusprechen, was ich immer von mir gewiesen habe: Das mag eine seltene Hochform der Versöhnung sein. Im Nightfever-Kontext (also im Zusammenhang der lebendigen Gottesbegegnung) ist sie üblich.“51 Bei Nightfever handelt es sich um eine von mehreren Erneuerungsbewegungen, die sehr stark auf die Anbetung abheben: „Erst die Umarmung, erfahren in der Begegnung mit dem Herrn im Sakrament des Altares, ermöglicht das angstfreie Bekenntnis, vollzogen in der Beichte.“52 Und bei aller Betonung, dass es freie Gottesdienste sind, zum Großteil von Jugendlichen, von Laien veranstaltet, wird 46 47 48 49 50 51 52

A.a.O., 125. A.a.O., 125f. Youcat, Deutsch., Update! Beichten!, Dick, Klaus, Gehrig, Rudolf, Meuser, Bernhard, Süß, Andreas (Hrsg.), Augsburg 2013, S. 7. van Briel, Barmherzigkeit (s. Anm. 42), 127. A.a.O., 128. A.a.O., 129. A.a.O., 130.

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die Autorität und die Weihevollmacht des Priesters doch auch für wesentlich angesehen – und van Briel wird hier sogar ironisch gegenüber den vielen Priestern, die kaum noch zum „Beichthören“ kommen: „Wenn dann – fast schon unerwartet – der Priester seinem Amt nachkommt und die Worte der Lossprechung spricht, fließen nicht selten Tränen. (Ein unverzichtbares Hilfsmittel für Beichtväter ist – neben seiner Stola – ein Päckchen Papiertaschentücher.)“53 Festzuhalten ist, dass es hier eine erneuerte Praxis von Einzelbeichten gibt – jedoch eingeschränkt auf einen ganz bestimmten Rahmen, der stark emotional bespielt wird. 3.2 Die Suche nach jugendgemäßen Ausdrucksformen: Youcat-Beichte? Das Anliegen, zentrale Glaubensinhalte jugendgemäß darzulegen, führte 2011 zur Publikation des „Youcat“ – also gewissermaßen eines „Jugendkatechismus“, der mittlerweile in viele Sprachen übersetzt worden ist.54 Im Gefolge dessen erschien 2013 ein Büchlein unter dem Titel „Youcat deutsch. Update! Beichten!“. Hier wird versucht, die Aspekte von Versöhnung, Umkehr, Buße und Beichte in einer möglichst jugendgemäßen Form darzulegen: sowohl, was die Zeichnungen, Bilder und das Design als auch was die Sprache betrifft. Die Beichte wird umschrieben als: „das regelmäßige Update von Software“, die „Wartung beim Auto“, die „Dusche nach einer anstrengenden Wanderung“, das „glückliche Ende einer Geisterfahrt“.55 Der „etwas andere Beichtspiegel“ geht jetzt nicht mehr von den 10 Geboten aus (diese werden jedoch am Ende des Buches angeführt), sondern von einer „In & Out Liste“, in der weniger von den Sünden als vielmehr von den positiven Dingen ausgegangen wird, die man als Christ tun sollte. Dennoch bleibt diese bemüht zeitgeistig und jugendlich aufgemachte Broschüre in ihrer Grundausrichtung traditionell: Beichte wird primär als Einzelbeichte vor einem Priester aufgefasst. 3.3 Beichte im Umfeld von Wallfahrten (z.B. Medjugorje) In allen Beiträgen, die auf die Situation der Beichte eingehen, werden Wallfahrtsorte als jene Orte genannt, an denen noch am meisten in der Form von Einzelbeichten gebeichtet wird. Mittlerweile wird Medjugorje, ein Dorf in Bosnien/Herzegowina, gar als „größter Beichtstuhl der Welt“ bezeichnet.56 Doch auch hier gibt es keine empirischen Studien zu den dahinterliegenden Gründe. Mögliche Thesen dazu sind, dass jene Personen, die z.B. Marienwallfahrtsorte aufsuchen, eine traditionellere Form der Frömmigkeit aufweisen – und 53 54 55 56

A.a.O., 130. Vgl. dazu Näheres unter: http://www.youcat.org/de/home/ [5.6.2015] Youcat, Update! (s. Anm. 48), 18f. Vgl.: http://www.medjugorje.de/kirche/beichte.html [5.6.2015]

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damit auch noch eher das Beichtgebot akzeptieren. Gleichzeitig ist das Beichten in der Heimatpfarre unattraktiver geworden – auch dazu eine These: Neben dem geänderten Sündenverständnis liegt dies auch in der geänderten Position des Pfarrers. Er ist nicht mehr der im Altarraum, im Zölibat, in einer fast mystischen Verehrung entrückte „Hochwürden“, dessen geweihte Hände man küsst; vielmehr ist er mittlerweile der Gemeindeleiter auf Augenhöhe, mit dem man häufig per Du ist, dessen Stärken und Schwächen man kennt – und zu dem man zwar zu einem Seelsorge- oder Beratungsgespräch kommt, ihm aber nicht die persönlichsten und intimsten Geheimnisse anvertrauen möchte. Daher garantiert der fremde Priester an einem nicht alltäglichen Ort eine Anonymität, die manchen für diese Form der Ohrenbeichte wichtig ist. Eine weitere These bezieht sich nicht auf den Ort selbst, sondern auf die Weise, wie man hinkommt: nämlich pilgernd, langsam, auf einem oft tagelangen und mühsamen Weg. Und gerade dieser Weg, der aus dem Alltag hinausführt, ermöglicht es so manchem, das eigene Leben anzuschauen, in Ruhe sich auch Fehler einzugestehen und Mut zu einem Neuanfang zu fassen. Meine Erfahrung ist, dass dann gar nicht so sehr die Beichte am Zielort der wesentliche Moment der Versöhnung ist, sondern die Gespräche auf dem Weg – sei es mit einem Priester, sei es (und das viel häufiger) mit unterschiedlichsten WegbegleiterInnen. Hier wird ein Versöhnungsprozess angestoßen, der in eine Beichte münden kann, aber nicht muss. Und für viele ist dann die „Absolution“ durch das Erreichen des Ziels gegeben.

4. Das Schweizer Modell des „Versöhnungswegs“ Unter dem Motto des „Versöhnungswegs“57 wurde in der Schweiz in den 1990erJahren eine Form gemeinschaftlicher Bußfeier entwickelt, die nicht nur eine (katechetische) Hinführung zum Bußsakrament darstellt, sondern auch eine Offenheit für verschiedene Formen der Versöhnungsfeier gewährleistet. Es ist eine Form, die sowohl Kindern und Jugendlichen wie auch Erwachsenen offensteht. Da sie viele zentrale Elemente verbindet, welche sich im katholischen Raum in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, soll diese Form im Folgenden ausführlicher zu Wort kommen. Als Ziele formuliert Toni Schmid, einer der Initiatoren, im Jahr 1996: „1. Die Schüler sollen nach dem Weg durch das Versöhnungshaus … die Kirche als Ort der Versöhnung erleben können. 2. Sie sollen die Form und den Wert eines persönlichen Versöhnungsgesprächs erleben. 3. Den pastoralen Gegebenheiten (Priestermangel, Probleme der Erwachsenen mit der Beichte...) soll Rechnung getragen

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Vgl.: Arnold, Markus, Graf, Karl, Lottaz, Angelo, Zosso, Beat, Bußwege und Versöhnungsfeiern (Praxis Gemeindekatechese), Luzern 2010.

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werden.“58 Für den Versöhnungsweg sind die sechs „B“ der Beichte strukturgebend: Beten, Besinnen, Bereuen, Bekennen, Bessern, Bedanken. Die Rede vom „Weg“ ist dabei nicht nur eine Metapher, sondern stellt einen konkreten zu gehenden Weg dar. Der Startpunkt ist dabei zumeist außerhalb der Kirchenmauern, und der Weg führt mit dem bewussten Eintreten hinein in den Raum aus Stein, in eine Gemeinschaft.59 Hier werden den Teilnehmenden einige Fragen auf den Weg mitgegeben, die sie mehrere Wochen beschäftigen sollen, verbunden mit einem Schrifttext. „In dieser Zeit sollen sie darüber nachdenken, sich untereinander austauschen, das Gespräch mit Menschen suchen, die ihnen auf ihre Fragen authentisch Auskunft geben können. Am Ende des Weges steht ein Versöhnungsgottesdienst mit sakramentaler Lossprechung bzw. ein persönlich zugesprochenes fürbittendes Gebet als Höhepunkt.“60 Es gibt mittlerweile unterschiedliche Modelle von Versöhnungswegen.61 Ein zentraler Ausgangspunkt ist jedoch der Ansatz bei der eigenen Biographie. Der eigene Lebensweg wird auf Gelungenes bzw. auch Misslungenes hin angefragt. Der Ablauf dieses Versöhnungsweges entspricht aber nicht der klassischen Gewissenserforschung, sondern versucht mit allen Sinnen zu arbeiten. Der bisherige Lebensweg wird z.B. durch Bilder, Musik oder Gedichte kreativ gestaltet; in Auseinandersetzung mit biblischen Texten wird die eigene Geschichte in den Zusammenhang der Heilsgeschichte Gottes gestellt. Der Versöhnungsweg ist mit konkretem Gehen, Spazieren verbunden – und auch mit der Möglichkeit, diesen Weg mit einem spirituellen Begleiter bzw. einer Begleiterin zu gehen und ins Gespräch zu kommen, um eigene Lebensperspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Häufig leiten Fußspuren am Boden die Teilnehmenden von einem Ort zum nächsten. Ein neues „Amt“ wird hier gewissermaßen geschaffen: neben dem Tauf- und dem Firmpaten gibt es nun auch jemanden, der bei diesem Versöhnungsweg, z.B. im Zugehen auf die Erstbeichte, der Begleiter ist. Am Ende steht auch nicht ein „Bußwerk“, sondern eine kreative Gestaltung der möglichen Neuausrichtung, indem ein Symbol gestaltet oder ein Brief an sich selbst geschrieben wird. Dieser Abschluss wird somit kreativ offen gelassen: „Wer möchte, kann eintreten und ein Gespräch mit dem Priester führen, auch die Begleitperson ist eingeladen. Sie kann aber auch vor der Sakristei warten und ein Gebet für das Kind gestalten. ‚Einmal wollten die Begleitpersonen nach dem Versöhnungsweg selbst mit dem Priester ein Beichtgespräch führen‘, erzählt Eduard Ludigs. ‚Solche Erfahrungen zeigen den Seelsorgenden, dass das Sakrament der Beichte – verstan58 59 60 61

http://www.kathaargau.ch/_download_pdf/katechese-medien/katechese/VersoehnungswegGrundlagen.pdf [9.6.2015]. Vgl. dazu Eduard Nagel. In: http://www.liturgie.ch/liturgiepraxis/lebenslauf/heilung-und-versoehnung/ 258-versoehnungsweg-mit-jugendlichen [30.1.2015] Ebd. Eine Fülle von Material findet sich z.B. auf der Website der römisch-katholischen Kirche im Aargau: http://www.kathaargau.ch/katechese-medien/schatztruhe/index.php [9.6.2015]

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den als eine Verbindung von Umkehr, Reue und Versöhnung – heute sehr großen Anklang finden kann.‘“62 Diese Versöhnungswege leben von einer intensiven Vorbereitung: „Die Eltern werden im Vorfeld informiert und angehalten, ihre Kinder auf dem Weg zu begleiten. Im Religionsunterricht wird der Weg vorbereitet, im Gemeindezentrum werden die Räume gestaltet. Und schließlich wird ein Programm ausgetüftelt, wann welche Klassen während der ‚Woche des Versöhnungswegs‘ in die Kirche kommen.“63 Zudem stellt der Versöhnungsweg eine mögliche Form ökumenischen Versöhnungsgottesdienstes dar: Denn das Beichtgespräch am Ende des Weges ist optional; der Weg selbst ist somit unabhängig von der Konfession eine Möglichkeit, sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen. Als Kritikpunkt wird häufig angeführt, dass diese Form des Versöhnungsweges eine gewisse „Selbsterlösung“ fördert, da die Beichte am Schluss nicht vorgeschrieben ist. Andererseits stellt die Beichte ja auch im Kontext der Bußmöglichkeiten der katholischen Kirche nicht das einzige sündenvergebende Mittel dar. Die Erfahrungen aus der Schweiz zeigen jedoch, dass mit dem Versöhnungsweg die Bedeutung von Versöhnung und Vergebung im schulischen, familiären und gemeindlichen Kontext wieder gestärkt werden kann.

5. Beichte und Versöhnung im Kontext der Kranken(haus)pastoral Die Versöhnung in Form einer Beichte ist nach katholischem Verständnis vor allem an einem Punkt des Lebens unumgänglich: in Verbindung mit der Krankensalbung, und hier vor allem in Todesnähe. Diese enge Verbindung von Beichte und Sterben bzw. Krankensalbung führt zu der pastoral schwierigen Situation für jene KrankenhausseelsorgerInnen, die nicht zum Priester geweiht sind, nämlich dass sie PatientInnen zwar begleiten, mit ihnen oft viele Gespräche führen – aber für den sakramentalen Akt einen Priester holen müssen. Der folgende Erfahrungsbericht eines Krankenhausseelsorgers bringt die Situation aus Sicht eines Priesters auf den Punkt:64 „Die Bußpastoral im Krankenhaus liegt im Minusbereich. Manchmal kommt jemand nach der Messe, manchmal möchte jemand vor der Krankensalbung beichten, manchmal lehnt jemand den Empfang der hl. Kommunion ab, weil er gewohnt ist, vor dem Empfang zu beichten. Das Problem ist auch, dass es für bettlägerige Patienten keinen Raum zum Ausweichen gibt, und Mitpatienten, die

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http://www.forumkirche.ch/archiv/artikel-460.html [30.5.2015] A.a.O. Ich danke hier dem Krankenhausseelsorger P. Leo Thenner SDS (Graz), der mir seine langjährigen Erfahrungen zur Verfügung gestellt hat.

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zuhören, sind hinderlich. Manchmal führt eine Aussprache durch meine Hinführung zu einer Beichte. Bei den meisten Krankensalbungen gebe ich eine Lossprechung, außer der Patient ist noch fähig, klar zu denken und zu reden. Da nehme ich den Zuspruch vom Bußakt der hl. Messe. Vielleicht dreimal in den sieben Jahren hat mich jemand um eine Lebensbeichte gebeten, zwei Patienten habe ich wieder in die Kirche aufgenommen. In der Fastenzeit bieten wir auch einen ökumenischen Versöhnungsgottesdienst an, im Advent und in der Fastenzeit erweitere ich den Bußakt der Messe.“

Eine (nicht repräsentative) Umfrage unter KrankenhausseelsorgerInnen zeigt, dass diese Erfahrung von vielen geteilt wird: Eine explizite Beichte gibt es in Einzelfällen als kurze Andachtsbeichte (vor dem Kommunionempfang) oder als Lebensbeichte, z.B. vor Operationen oder in Todesnähe. Die Beichte in Kombination mit der Krankensalbung ist jedoch selten. Die häufigste Form einer „Versöhnungsfeier“ im weiteren Sinn sind sogenannte „informelle Beichtgespräche“, die durch ein Gebet, einen Segen oder eine Kommunionfeier abgerundet werden. In diesem Fall kann man in den meisten Fällen von einer Art Laienbeichte sprechen.

6. Laienbeichte – auch etwas für die katholische Kirche? Nicht erst durch den Rückgang der Priesterzahlen stellt sich in der katholischen Kirche die Frage, welche seelsorglichen Tätigkeiten dem Priester reserviert bleiben sollen. Die Beichte in der Form der Einzelbeichte mit Absolution gehört jedenfalls dazu. Dennoch zeigt die Praxis, dass ein Großteil von seelsorglichen Gesprächen mittlerweile durch Laien erfolgt – sei es in der Krankenhausseelsorge, durch haupt- und ehrenamtliche pastorale MitarbeiterInnen, oder einfach „unprofessionell“ durch Menschen des Vertrauens. Gerade im Umfeld der Krankenkommunionen, die es nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in vielen Gemeinden gibt, sind es vor allem Laien, welche die Kranken besuchen, ihnen die Kommunion bringen und mit den Kranken ins Gespräch kommen. Eine persönliche Erfahrung zeigt hier, dass das Verständnis von Buße und Versöhnung im Kirchenvolk häufig schon weiter ist als in der theologischen Wahrnehmung: In einer ehemaligen Pfarre, die von zwei Ordensschwestern geleitet und von mir als Priester betreut wurde, waren es die beiden Schwestern, die einmal im Monat Krankenkommunionen in die Häuser brachten. Einer alten, gläubigen Frau wollte die Schwester nun etwas Gutes tun und vor Ostern den Priester bringen für eine Osterbeichte. Doch die alte Frau wehrte unter Verweis auf die vielen persönlichen Gespräche mit den Schwestern ab mit den Worten: ‚Ja zählt denn das nichts?“ Für sie waren diese Gespräche im Sinne einer „Laienbeichte“ genug, und sie fühlte sich mit ihrem Herrgott versöhnt.

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Hier zeigt sich deutlich, dass für viele Menschen heute für die Beichte bzw. für Versöhnungsgespräche die persönliche Beziehung und das Vertrauen wichtig sind. Und es zählt die Begleitung mehr als das Abarbeiten eines Bußkatalogs.

7. Konsequenzen aus den Praxiserfahrungen für ein aktuelles Verständnis von Beichte und Versöhnung Die verschiedenen Ansätze von Bußpastoral zeigen, dass es einen Wandel im Verständnis des Sakramentes gegeben hat, der nicht ein stetes Abnehmen und mögliches Verschwinden der (Ohren-)Beichte als letzte Konsequenz nach sich zieht, sondern auch ein vertieftes, erneuertes Verständnis von Schuld und Versöhnung. Zu recht meint Monika Jakobs: „Das Sakrament der Buße und Versöhnung kann dann sein reiches Potenzial wieder entfalten, wenn der Anschluss an echte Schuld und an biografische Herausforderungen gelingt. Es geht darum, überzeugende sprachliche Möglichkeiten zu finden: das ‚eine Wort‘, das ‚meine Seele gesund‘ macht, wie wir vor der Kommunion beten. Es geht darum, bedeutungsvolle Zeichen und Symbole zu finden. Dieses Unternehmen kann nur dann gelingen, wenn der Mensch in seinen positiven Ressourcen wahrgenommen und die biblische Zusage im Ritual erlebbar wird.“65 Die Zukunft des Bußsakraments liegt somit darin, die soziologischen und anthropologischen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit wahrzunehmen und entsprechende Formen von Versöhnung auf allen Ebenen zu fördern und einzuüben: Sei es in den Familien, in den diversen Bildungseinrichtungen (angefangen bei den Kindergärten), in gemeindlichen und gemeinschaftlichen Kontexten. Denn die Menschen sind nicht dem viel zitierten „Unschuldswahn“ verfallen, sondern suchen nach Möglichkeiten des Umgangs mit der persönlich erfahrenen Schuld. Jedoch gilt für viele das, was Wunibald Müller ausdrückt: „Meine Erfahrung ist, daß viele Menschen in der Beratung und Therapie mit ihrer Schuld eher in Berührung kommen als in der gängigen Beichtpraxis. Zudem machen sie dort oft auf einer tieferen Ebene die Erfahrung von Vergebung als bei der Beichte. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass in der Feier der Versöhnung, wie sie im Rahmen der Beichte möglich ist, Gottes Vergebung tatsächlich stattfindet. Doch selbst wenn Gott ihm vergeben hat, heißt das nicht, daß auch der Mensch, dem vergeben worden ist, das spürt.“66 Die Beichte ist kein Selbstläufer mehr, der einmal im Jahr selbstverständlich von KatholikInnen vollzogen wird. Vielmehr wird Versöhnung auf ganz unterschiedliche Weise gesucht – und dabei ist die Einzelbeichte im Beichtstuhl eben nur mehr ein spezifisches Angebot. Die diversen anderen Formen stellen nun nicht 65 66

Jakobs, Monika, Heilende Zumutung. Buße und Versöhnung. In: Katechetische Blätter 37 (2012), S. 9–22, 22. Müller, Wunibald, Schuld und Vergebung. Befreit leben, Freiburg 2010, S. 70f.

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bloß eine Vorstufe zur „eigentlichen“ Versöhnung in der sakramentalen Einzelbeichte dar, sondern sind in ihrem Eigenwert ernst zu nehmen: Als ebenfalls mit Gott, den Mitmenschen, der Schöpfung und sich selbst versöhnende Momente und Feiern. Buße wird des Weiteren verstärkt als Prozess, als Weg verstanden, und weniger als einmaliger Akt, wo man sich beim Priester die Absolution holt. Dabei nimmt man auch die Erkenntnisse aus therapeutischen Prozessen ernst.67 Dennoch gibt es weiterhin ein Bedürfnis nach der Zusage der Sündenvergebung. Diese wird jedoch zumeist nicht mehr im alltäglichen Umfeld der Pfarre gesucht, sondern entweder bei einem fremden Priester (z.B. an einem Wallfahrtsort) oder bei einem bewusst gewählten geistlichen Begleiter bzw. einer Begleiterin, die häufig Laien sind. Eine Besonderheit stellt die Form des Schweizer Versöhnungsweges dar. Denn hier wird eine gemeinsame Erfahrung von Kindern und Jugendlichen mit Erwachsenen geschaffen, die sie auf diesem Weg begleiten, der sie sachte einführt in das Verständnis von persönlicher und gemeinschaftlicher Schuld – und dann aber auch unterschiedliche Formen des Umgangs damit anbietet, zu denen auch das persönliche Gespräch mit einem Priester gehören kann, aber nicht muss. Damit erleben Kinder, dass sie auch im Umgang mit persönlicher Schuld nicht allein sind – und dass die Erwachsenen, ihre Eltern und Freunde, ebenfalls nicht schuldlos sind und denselben Weg gehen wie sie. Jene, die diese Versöhnungswege seit mittlerweile fast zwanzig Jahren gestalten, benennen als deren großen Stärken (1.) die Nachhaltigkeit (durch die Verwendung von alltagstauglichen Symbolen), (2.) die Offenheit (da man den Weg im eigenen Tempo, mit eigenen Schwerpunktsetzungen gehen kann) und (3.) dass sie wenig bis gar nicht angstbesetzt sind. Zugleich wird hier (4.) die ekklesiale Dimension von Versöhnung deutlicher – Versöhnung als Anliegen und Feier einer ganzen Gemeinde, nicht nur als ein Geschehen zwischen Priester und Pönitent.68 Aus pastoraltheologischer Sicht bleibt als Desiderat eine genauere empirische Studie zu den unterschiedlichen Formen von Versöhnung, im Speziellen auch der Einzelbeichte, um von den Argumentationsweisen aus der je eigenen (und damit keinesfalls repräsentativen) Erfahrung mit dem Bußsakrament zu einer allgemein gültigeren Einschätzung zu kommen. Keinesfalls jedoch wird das Bußsakrament durch Appelle zu höherer Beichtfrequenz erneuert werden können, mögen sie

67 68

Vgl. z.B. Stauss, Konrad, Die heilende Kraft der Vergebung. Die sieben Phasen spirituelltherapeutischer Vergebungs- und Versöhnungsarbeit, München 2010. Sehr gut fasst Gunter Prüller-Jagenteufel die wichtigen spirituellen Aspekte des Versöhnungsgeschehens zusammen: Spiritualität der Bußfertigkeit, beziehungsvolle Spiritualität der Begleitung, eschatologische Spiritualität der Wegbereitung, ekklesiale Spiritualität der Gemeinschaft, diakonische Spiritualität des Für-andere-Daseins. – Vgl.: Prüller-Jagenteufel, Gunter M., Befreit zur Verantwortung. Sünde und Versöhnung in der Ethik Dietrich Bonhoeffers (Ethik im Theologischen Diskurs 7), Münster 2004, bes. S. 564–573.

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auch von höchster lehramtlicher Seite kommen.69 Vielmehr braucht es Orte und Feiern, an denen Menschen jeglichen Alters die Erfahrung des befreienden Handelns der Kirche erleben können. Die Beichtkatechese – nicht nur im Zugang auf die Erstbeichte – muss verstärkt eingebunden werden in das Fördern einer echten Versöhnungskultur.70

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So z.B. Papst Benedikt XVI. in einem Angelusgebet (im Newsletter zum L’Osservatore Romano vom 15.2.2009): „der Wert und die Bedeutung des Sakraments der Vergebung für das christliche Leben müsse heute neu entdeckt werden.“ Hier schließe ich mich dem Plädoyer von Bernd Lutz an: Lutz, Bernd, Buße und Beichte für Kinder und Erwachsene positiv motivieren. In: Kaupp, Angela (Hrsg.), Handbuch der Katechese, Freiburg i. Br. u.a. 2011, S. 390–402.

Beichte als „Angebot göttlicher Hilfe“ Ökumenische Ermutigungen auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers Christine Schliesser „… großer Beichttag, alle Beichtstühle besetzt und von Betenden umdrängt. Man sieht hier so erfreulich viele ernste Gesichter, bei denen alles, was man gegen den Katholizismus sagt, nicht zutrifft. … Die Beichte ist für viele von diesen Leuten kein ‚Muss‘ mehr, sondern Bedürfnis geworden.“1 Was Dietrich Bonhoeffer hier als junger Student in seinem Tagebuch bei einem Besuch in Rom während einer Italienreise von April bis Juni 1924 festhält, hat ihn nachhaltig beeindruckt. Die Beichte wird ihn hinfort sein Leben lang begleiten und, mit wechselnder Intensität, immer wieder zum Thema bei ihm werden. Das Denken und Wirken des protestantischen Pastors Dietrich Bonhoeffer – aufgrund seines Widerstandes gegen das Nazi-Regime von Hitler 1945 zu Tode verurteilt und gehängt – eignet sich in ganz besonderer Weise als Ausgangspunkt für das ökumenisch orientierte Nachdenken. So stellte Bonhoeffer immer wieder unter Beweis, dass er gerne einen „tapferen, kräftigen Griff in die alte und neue katholische Weisheit“ zu tätigen pflegte.2 Dass sich insbesondere bezüglich der Buße, der Beichte und der Sündenvergebung mit Bonhoeffer etliche Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen entdecken lassen, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Nach einer kurzen Einführung wird Bonhoeffers Verständnis von Beichte, das bei ihm fest in der Praxis verwurzelt ist, in vier Punkten skizziert.3 Jeder dieser 1

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„Die Beichte muss nicht zur ‚Skrupulosität‘ führen, so oft das vorkommen mag und gerade bei den Ernstesten immer wieder wird. Sie ist auch nicht nur Pädagogium, sondern für primitive Menschen die einzige Möglichkeit, mit Gott sprechen zu können, für religiös Weiterblickende die Vergegenständlichung der Idee der Kirche, die sich in Beichte und Absolution vollzieht.“ Dietrich Bonhoeffer, Jugend und Studium 1918–1927, Dietrich Bonhoeffer Werke 9 (DBW 9), Hans Pfeifer (Hrsg.), München 1986, S. 89f. Notiz auf dem „Ethik“-Zettel (Kalenderblatt) Nr. 76. Zitiert in: Dietrich Bonhoeffer, Ethik, Dietrich Bonhoeffer Werke 6 (= DBW 6), Ilse Tödt et al. (Hrsg.), München 1992, Nachwort der Herausgeber, S. 424. Dabei beziehe ich mich überwiegend auf Bonhoeffers Äußerungen zur Beichte in seinem Werk „Gemeinsames Leben“. Zwar hat Bonhoeffer auch in anderen Kontexten auf die Beichte Bezug genommen, etwa in Predigten, der Finkenwalder Seelsorgevorlesung oder in anderen Lehrveranstaltungen, die uns z.T. nur über Mitschriften zugänglich sind, doch enthält „Gemeinsames Leben“ die systematischste Erörterung dieses Themas. Zu Beichte als Thema in Bonhoeffers Predigten vgl. Braun, Reiner, „Nur in Buße und Umkehr kann uns geholfen werden“ (Dietrich Bonhoeffer). Anmerkungen zu Beichte und Buße heute. In: Theologische Beiträge 44 (2013), S. 230–240. Bonhoeffers Äußerungen zur Beichte in seiner Fin-

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vier Aspekte wird dabei zum Ausgangspunkt für einen kurzen ökumenischen Impuls. Im Anschluss daran werden zwei Gefahren benannt, die nach Bonhoeffer mit der Beichte verbunden sind, sowie nochmals zusammenfassend die ökumenische Produktivität von Bonhoeffers Ansatz dargestellt.

1. Warum überhaupt Beichte? „Wir dürfen nicht Sünder sein. Unausdenkbar das Entsetzen vieler Christen, wenn auf einmal ein wirklicher Sünder unter die Frommen geraten wäre. Darum bleiben wir mit unserer Sünde allein, in der Lüge und der Heuchelei; denn wir sind nun einmal Sünder“.4 So schreibt es Dietrich Bonhoeffer 1937 in seinem Buch „Gemeinsames Leben“, das einen Einblick in die Gemeinschaft des Predigerseminars Finkenwalde vermittelt. Bonhoeffer leitete dieses illegale, von der offiziellen Reichskirche nicht genehmigte Predigerseminar von 1935 bis zu dessen Schließung durch die Gestapo 1937. Er war sich bewusst, dass er im protestantischen Kontext mit seiner Art, ein Predigerseminar zu führen, aneckte. Die von ihm eingeführte Einzelbeichte vor dem gemeinsamen Abendmahl beispielsweise war manchen zu wenig „protestantisch“, andere hielten solche Übungen schlichtweg für Zeitverschwendung, gelte es doch angesichts der zunehmenden Bedrohungen durch die Nationalsozialisten ganz andere Herausforderungen zu meistern als Beichte, Meditationen und feste Gebetszeiten. Auf diese Weise kritisiert, antwortet Bonhoeffer dem Rat der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union: „Nicht klösterliche Abgeschiedenheit, sondern innerste Konzentration für den Dienst nach außen ist das Ziel.“5 Um seine Kandidaten für den „Dienst nach außen“ mit seinen Herausforderungen zu rüsten, war Bonhoeffer vor allem eins wichtig: die Gemeinschaft. Doch diese Gemeinschaft sieht Bonhoeffer bedroht. Und zwar bemerkenswerterweise nicht in erster Linie durch die Sünder, sondern durch die Frommen. Denn diese „Frommen“ erlauben es keinem, Sünder zu sein. So lange aber jeder mit seiner Sünde allein ist, kann keine echte Gemeinschaft entstehen. Bonhoeffer ist es daher ein Anliegen, auf die für den Erhalt der Gemeinschaft lebensnotwendige Bedeutung von Beichte und Sündenvergebung näher einzugehen. In seinen Ausführungen fällt dabei auf, dass er sich kaum explizit auf kirchliche Bekennt-

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kenwalder Seelsorgevorlesung finden sich in: Bonhoeffer, Dietrich, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde (1935–1937) (Dietrich Bonhoeffer Werke 14 (DBW 14)), Dudzus, Otto, Henkys, Jürgen (Hrsg.), Gütersloh 1996, S. 589–591; zur Beichte als Thema von anderen Lehrveranstaltungen vgl.: „Beichte und Abendmahl (Thesen)“; „Die Beichte (Nach dem Großen Katechismus)“, a.a.O., 749–755. Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 5 (= DBW 5), Gerhard Ludwig Müller/Albrecht Schönherr (Hrsg.), München 1987, S. 93. 06. September 1935. Dietrich Bonhoeffer, Zingst und Finkenwalde 1935–1937, Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 14 (= DBW 14), Otto Dudzus et al. (Hrsg.), Gütersloh 1996, S. 77.

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nisse und Dokumente wie etwa das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) bezieht – auch wenn er inhaltlich ganz in ihrem Sinne spricht.6 Auch theologische Autoritäten wie Luther werden nur am Rande erwähnt. Stattdessen wählt Bonhoeffer hier einen biblisch-theologischen Zugang.7 1.1 Beichte als Durchbruch zur Gemeinschaft In der Beichte geschieht der Durchbruch zur Gemeinschaft. Die Sünde entzieht den Menschen der Gemeinschaft. Die Sünde will mit dem Menschen allein sein, sie will unerkannt bleiben, im Dunkeln. Indem die Sünde nun vor dem Angesicht des Mitchristen – Bonhoeffer redet seiner Zeit entsprechend vom „Bruder“, zu dem wir uns aber die „Schwester“ natürlich dazu denken können – bekannt wird, kommt die Sünde ans Tageslicht. Hier wird jegliche Selbstrechtfertigung, jeglicher selbstgefertigte „Heiligenschein“ zerbrochen: „Aller Schein hatte vor Christus ein Ende.“8 Indem der Sünder sich ausliefert, die Sünde bekennt, bricht er zur Vergebung und zur Gemeinschaft durch. Charakteristisch für Bonhoeffer ist seine stark christologisch geprägte Ausrichtung. Weil in Christus die Liebe Gottes zu dem Sünder kam, dürfen auch wir Sünder sein und uns so helfen lassen: „Das Elend des Sünders und die Barmherzigkeit Gottes, das war die Wahrheit des Evangeliums in Jesus Christus.“9 In Bezug auf die Beichte ist dies für Bonhoeffer eng mit dem Gedanken der Stellvertretung verbunden: Die Gemeinde und in ihr der Bruder bzw. die Schwester stehen stellvertretend an Christi Statt. Bonhoeffer kann daher auch formulieren: „Gehe ich zur brüderlichen Beichte, so gehe ich zu Gott.“10 Für Bonhoeffer ist das Sündenbekenntnis vor der ganzen Gemeinde nicht nötig, da mir die Gemeinde in dem einen Bruder, der einen Schwester begegnet. Der Ruf zur Beichte und zur Vergebung ist der Ruf zur großen Gnade Gottes. Ökumenischer Impuls Für das ökumenische Gespräch ist hier zum einen der Stellvertretergedanke von Bedeutung. Der Beichthörende spricht die Vergebung zu als Christi Stellvertreter 6 7

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„De confessione docant, quod absolutio privata in ecclesiis retinenda sit“ („Von der Beichte lehren sie, dass an der Privatabsolution in der Kirche festzuhalten sei“). CA 11. Außer in „Gemeinsames Leben“ setzt sich Bonhoeffer sonst nur sporadisch mit der Beichte auseinander. Ebenfalls aus der Finkenwalder Zeit sind einige Thesen zu Beichte und Abendmahl (DBW 14, 749–750) erhalten, sowie eine Mitschrift der Lehrveranstaltung „Die Beichte (nach dem Großen Katechismus)“ (DBW 14, 751–755). In beiden Beiträgen finden sich ähnliche Gedanken wie in „Gemeinsames Leben“. Dies lässt sich wohl vor allem darauf zurückführen, dass Bonhoeffer für seine Schrift „Gemeinsames Leben“ auf Ausarbeitungen zurückgriff, die er während seiner Finkenwalder Zeit erarbeitet hatte. DBW 5, 93. DBW 5, 93. DBW 5, 94.

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und als Repräsentant der Kirche – in Bonhoeffers Terminologie: „Christus als Gemeinde existierend.“11 Auch Bonhoeffers Betonung der Gemeinschaft, ihrer Zerstörung durch die Sünde und ihrer Wiederherstellung durch Beichte und Vergebung ist hier von Interesse, lässt es sich doch in Verbindung mit einem Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils bringen. In Art. 11 der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ wird ebenfalls die gemeinschaftsschädigende Wirkung der Sünde hervorgehoben. „Die aber zum Sakrament der Buße hinzutreten, erhalten für ihre Gott zugefügten Beleidigungen von seiner Barmherzigkeit Verzeihung und werden zugleich mit der Kirche versöhnt, die sie durch die Sünde verwundet haben und die zu ihrer Bekehrung durch Liebe, Beispiel und Gebet mitwirkt.“12 Die Kirche wird „durch die Sünde verwundet“. Zwar ist das katholische Kirchenverständnis nicht mit Bonhoeffers sehr viel weiter gefasstem Kirchenbegriff gleichzusetzen.13 Dennoch ist hier zumindest ein gemeinsames Grundanliegen zu entdecken: Nämlich, dass durch Beichte und Absolution die durch die Sünde zerstörte, „wahre Gemeinschaft“14 wiederhergestellt wird. Des Weiteren ist in „Lumen gentium“ von den Hilfestellungen die Rede, die die Kirche dem Bußwilligen geben kann, nämlich „Liebe, Beispiel und Gebet“. Auch hier lässt sich eine Parallele zu Bonhoeffer ziehen, nämlich im Anliegen einer gegenseitigen geschwisterlichen Unterstützung. In einem Brief an Karl Barth betont er die Notwendigkeit der geschwisterlichen Hilfestellung untereinander: „Ich weise die Brüder aneinander, und das scheint mir das Allerwichtigste.“15 1.2 Beichte als Durchbruch zum Kreuz Die Wurzel allen Übels, der Keim der Sünde liegt in der superbia, dem Hochmut. In der Beichte nun wird dieser Hochmut in der für den Beichtenden im wahrsten Sinne des Wortes peinlichen Erfahrung der Erniedrigung niedergeschlagen. „Im Bekenntnis konkreter Sünden stirbt der alte Mensch unter Schmerzen einen schmachvollen Tod vor den Augen des Bruders“.16 Auch hier wird wieder der christologische Bezug deutlich. Jesus Christus selbst hat den schmachvollen Tod des Sünders in aller Öffentlichkeit erlitten. Es ist unsere Gemeinschaft mit Jesus Christus, die auch uns solche Erfahrungen nicht erspart und „die uns in das

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Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio (Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 1, (=DBW 1)), Gütersloh 1986, S. 127. Zweites Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 11. Auf die Kirche bezogen kann der frühe Bonhoeffer auch sagen, dass sich „in Beichte und Absolution … die Vergegenständlichung der Idee der Kirche“ vollzieht. (DBW 9, 90.) DBW 5, 95. Zitiert in: DBW 5, 135 (Nachwort der Herausgeber). DBW 5, 96.

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schmachvolle Sterben der Beichte hineinführt“.17 In seiner „Nachfolge“ spricht Bonhoeffer davon, wie die Nachfolger Christi immer mehr in das Bild Christi hineingestaltet werden, das heißt auch in seinen Tod, aber eben auch in seine Auferstehung.18 Bonhoeffer kann daher auch von dem „tiefen geistlich-leiblichen Schmerz der Demütigung“ reden.19 Denn nur indem der alte Mensch stirbt, hat er Anteil an der Auferstehung Christi und am ewigen Leben. Die Verbindung zwischen der demütigenden Erfahrung in der Beichte und einem kreuzestheologischen Ansatz ist auch bei Martin Luther zu finden, wenn er die erniedrigende Beichterfahrung als Kreuzeserfahrung deutet. „Dass wir aber willig und gerne beichten, dazu sollen uns zwei Ursachen reizen. Die erste, das heilige Kreuz, das ist die Schande und Scham, dass der Mensch sich willig entblößet vor einem anderen Menschen, und sich selbst verklagt und erniedrigt. Das ist ein köstlich Stück von dem heiligen Kreuz.“20 Ökumenischer Impuls Für das ökumenische Gespräch von Bedeutung ist hier nicht nur das, was Bonhoeffer sagt, sondern auch das, was er nicht sagt. Bonhoeffer fokussiert hier primär auf die Scham, weniger auf die Reue. Überhaupt ist die contritio, die Reue, die ja für das katholische Denken eine wichtige Rolle spielt, in diesem Kontext erstaunlich abwesend, weniger als Phänomen, das ja durchaus in der skizzierten Kreuzeserfahrung Gestalt gewinnt,21 als vielmehr terminologisch. Einige Jahre später in seiner „Ethik“ differenziert Bonhoeffer zwischen Scham einerseits, die sich auf das eigene Ich und dessen Unvollkommenheit konzentriert, und Reue andererseits, die sich auf die am anderen begangene Schuld bezieht. „Scham und Reue sind nicht zu verwechseln. Reue empfindet der Mensch wo er sich verfehlt hat, Scham, weil ihm etwas fehlt. Scham ist ursprünglicher als Reue.“22 Gunter Prüller-Jagenteufel

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DBW 5, 96. Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge, Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 4 (= DBW 4), Martin Kuske und Ilse Tödt (Hrsg.), München 1989, S. 301f. DBW 5, 96. Martin Luther, Von der Beichte, ob die der Papst Macht habe zu gebieten, 1521. Sprachlich bereinigt. WA 8, 138–185, 176. Vgl. auch 177: „Ich weiß auch nicht, ob der einen rechten lebendigen Glauben habe, der nicht so viel leiden, oder sich zu leiden begeben will, dass er für einen Menschen zu Schanden wird, und ein solch kleines Stück von dem heiligen Kreuz nicht tragen will; allzumal ein jeglicher Christ ein Kreuz tragen muss, soll er selig und sein Glaube bewährt werden.“ Für die Interpretation der Kreuzeserfahrung als auch die contritio miteinschließend vgl. auch die Apologie der Confessio Augustana (Apol. CA 12,170). In einem Chrysostomos zugeschriebenen Zitat wird ebenfalls auf die Einheit von contritio und tota humilitas verwiesen: „Im Herzen: Reue (contritio), im Munde: Bekenntnis (confessio), im Werk: völlige Erniedrigung (tota humilitas)“. Auch wenn Bonhoeffer die Erniedrigung der Kreuzeserfahrung nicht nur auf das Werk bezieht, kommt bei Chrysostomos gut die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Elemente zum Ausdruck. DBW 6, 305.

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deutet Scham entsprechend als ichbezogen und Reue als relational.23 Dieses Schema leuchtet grundsätzlich ein. Doch gilt es dabei zu bedenken, dass Scham für Bonhoeffer ebenfalls eine relationale Dimension beinhaltet, indem er Scham als Konsequenz der Entzweiung des Menschen mit Gott und seinen Mitmenschen versteht.24 „Überwindung der Scham gibt es nur im Ertragen eines Aktes letzter Beschämung, nämlich des Offenbarwerdenmüssens vor Gott“.25 Nur in der Vergebung der Sünden wird die Gemeinschaft mit Gott und Menschen wiederhergestellt. Hier zeigt sich wieder die Verbindung zur Beichte, in deren Kontext Bonhoeffer die Scham – im Gegensatz zur Reue – betont. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Zuordnung von contritio und attritio, von vollkommener und unvollkommener Reue. Bonhoeffer lässt sich auf diese Unterteilung allerdings gar nicht ein. Stattdessen geht die Tiefe der hier beschriebenen Erfahrungen, die Teilhabe am Kreuz, am Tod Christi über eine solche Schematisierung hinaus. Die Frage, inwieweit es sich bei dem hier Beschriebenen um echte contritio oder doch nur um attritio handelt, liegt hier nicht in Bonhoeffers Fokus, da alles – Scham und Reue, attritio und contritio – umfasst ist in unserer Teilhabe am Kreuz Christi.26 Dass die Sünden aus tiefstem Herzen bereut werden, ist für Bonhoeffer dabei selbstverständlich, spricht er doch auch davon, dass die Sünde „gehasst“ wird.27 1.3 Beichte als Durchbruch zum neuen Leben Beichte ist metanoia (Umdenken), ist Umkehr, ist Bekehrung. Das, was in der Taufe an uns geschehen ist, wird uns in der Beichte auf ein Neues geschenkt. Luther drückt dies so aus: Die Buße ist ein „Wiederhineinkriechen“ in die Taufe (via ac reditus ad baptismum).28 Auch für Bonhoeffer ist die Beichte eine Erneuerung der Tauffreude. Denn in der Beichte lässt der Christ seine Sünden hinter sich, und ein Neuanfang, ein Durchbruch zum neuen Leben geschieht. Auch hier ist der christo23 24 25 26

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Gunter Prüller-Jagenteufel, Befreit zur Verantwortung. Sünde und Versöhnung in der Ethik Dietrich Bonhoeffers (Ethik im Theologischen Diskurs 7), Münster 2004, S. 536. DBW 6, 306. DBW 6, 308. Mit der contritio setzt sich Bonhoeffer detaillierter in einer Seminararbeit über den heiligen Geist bei Luther auseinander. DBW 9, 355–410. In diesem Zusammenhang weist er mit Luther darauf hin, dass die contritio nicht selbst- sondern gottgewirkt ist: „Nos non possumus nos conterere, ut docebant monachi, sed conterente Deo conterimur (176), zitiert in DBW 9, 367 („Wir können uns [selbst] nicht zerknirschen, wie die Mönche lehrten, sondern wir werden zerknirscht, indem Gott uns zerknirscht.“) Bonhoeffer argumentiert: „Denn contritio aus Sündenerkenntnis, Sündenerkenntnis nur durch das Gesetz, Gesetz nur durch den Geist, so auch contritio nur durch den Geist. Sonst wird sie aus einer passio [Erleiden] zu einer actio [Handlung].“ DBW 9, 367. Ebenso wenig, wie der Mensch die contritio wirken kann, kann er mit ihr etwas bewirken, gar etwas vor Gott verdienen. Vgl.: DBW 5, 96. WA 6, 572,16f.

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logische Bezug deutlich: Christus macht einen neuen Anfang mit uns. So wie die Jünger auf Jesu Ruf hin alles hinter sich ließen und ihm nachfolgten, so ruft er auch uns in die Nachfolge. Bonhoeffer kann daher auch sagen: „Beichte ist Nachfolge.“29 Wo die „Sünde gehasst, bekannt und vergeben ist“,30 macht Christus einen Neuanfang. Ein kurzer Seitenblick in die Literaturgeschichte mag dies auf andere Weise nochmals verdeutlichen. So ist das Motiv des Neuanfangs in der Literatur bekannt und verbreitet, etwa in Hermann Hesses Gedicht „Stufen“. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Auch wenn es in unserem Zusammenhang freilich nicht der „Weltgeist“ ist, der hier wirkt, sondern Christus, so ist doch auch für Bonhoeffer etwas von diesem „Zauber“ zu spüren. Kommt es doch einem Wunder gleich, wenn in „der Beichte … der Christ an[fängt], seine Sünde zu lassen. Ihre Herrschaft ist gebrochen.“31 In diesem Sinne lässt sich auch das Ende des Gedichtes verstehen: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ Während Hesses lyrisches Ich sich jedoch gleichsam selbst Stufe um Stufe empor schwingen muss, so ist das Ich bei Bonhoeffer ganz auf Christus geworfen, der uns ein neues Leben eröffnet. Ökumenischer Impuls Dieser in der Beichte geschehene Durchbruch zum neuen Leben manifestiert sich konkret im Leben jedes Einzelnen. Auch hier lassen sich einige Impulse für den ökumenischen Diskurs gewinnen. Was Bonhoeffer unter Nachfolge versteht, hat er in seinem gleichnamigen Buch detailliert ausgeführt. Bekannt geworden ist darin vor allem seine Unterscheidung zwischen „billiger“ und „teurer“ Gnade. „Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche.“32 „Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders.“33 „Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus.“34 So verstanden, kann mit einer leichten Akzentverschiebung das reformatorische Verständnis der Gnade zum „gefährlichste[n] und verderblichste[n] Werk“35 werden. Teure Gnade hingegen ruft in die Nachfolge. Bonhoeffer kann hart formulieren: „Jeder Ruf Christi führt in den Tod.“36 Teure Gnade hat Konsequenzen und führt über den guten Vorsatz hinaus zur guten Tat. Teure Gnade macht sich im 29 30 31 32 33 34 35 36

DBW 5, 96. DBW 5, 96. DBW 5, 97. DBW 4, 29. DBW 4, 29. DBW 4, 30. DBW 4, 36. DBW 4, 81.

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Leben der Christen bemerkbar, im „Durchbruch zum neuen Leben“, in dem der Christ die Sünden lassen kann. Die Bedeutung, die dabei die Beichte spielt, hatte neben Bonhoeffer auch Johannes Paul II. hervorgehoben: „Ich bin überzeugt, dass ein Aufschwung des sittlichen Bewusstseins und christlichen Lebens eng, ja unlöslich an eine Bedingung gebunden ist: an die Belebung der persönlichen Beichte.“37 Auch im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe „Christus Dominus“, Artikel 30, wird der Zusammenhang von christlichem Leben und Beichte unterstrichen: „Die Pfarrer sollen auch bedenken, dass das Bußsakrament sehr viel dazu beiträgt, das christliche Leben zu fördern.“ Die Bedeutung der guten Werke im Zusammenhang der Beichte und Buße ist damit unbestritten. Unterschiede bleiben hinsichtlich der Motivation und Deutung. Für Bonhoeffer haben sie weniger den Charakter einer Strafe, Sühne oder Zurechtweisung. Für ihn sind sie Ausdruck und Konsequenz der Nachfolge Christi. Dies ist auch ganz im Sinne der Augsburger Konfession, wenn dort auf den Glauben zugespitzt formuliert wird: „Auf den Glauben müssen die guten Früchte folgen.“38 Auch im Kontext der Buße werden dort die guten Werke explizit hervorgehoben und zwar wiederum als Konsequenz, gleichsam als Früchte, die natürlicherweise erwachsen. „Dann aber müssen die guten Werke folgen, die die Früchte der Buße sind.“39 1.4 Beichte als Durchbruch zur Gewissheit Wie kommt es aber, dass die Beichte vor Gott oftmals so viel leichter fällt als die Beichte vor einem anderen Menschen? Müsste es nicht umgekehrt sein? Schließlich ist der andere Mensch sündig wie ich, ein Mensch, der die Sünde aus eigener Erfahrung kennt, während Gott heilig und sündlos ist. Für Bonhoeffer sind diese Überlegungen der Ausgangspunkt, um sich kritisch zu hinterfragen, ob man sich nicht letztlich die Sünden nur selbst bekannt und daher auch nur selbst vergeben hat. Selbstbekenntnis und Selbstvergebung40 können jedoch niemals zum Bruch mit der Sünde führen; dies kann nur das Wort Gottes. Wie aber kann ich Gewissheit erhalten, dass ich bei der Vergebung meiner Sünden nicht genau in jene Falle stolpere, die Bonhoeffer mit der „billigen Gnade“ umschrieben hat? Damit stellt sich die Frage nach der Gewissheit, mit der Gottesvergebung von Selbstvergebung unterschieden werden kann. Für Bonhoeffer wird uns diese Gewissheit durch den Bruder bzw. durch die Schwester geschenkt. In der Wirklichkeit des Anderen erfahre ich die Gegenwart Gottes. Gegenüber dem 37 38 39 40

Anlässlich eines Besuchs in Fulda am 17.11.1980. „Fides illa debeat bonos fructus parere.“ (CA 6). „Deinde sequi debent bona opera, quae sunt fructus poenitentiae.“ (CA 12). Zur Methode der radikalen Selbstvergebung vgl. beispielsweise den populär therapeutischen Ratgeber von Colin C. Tipping, Radikale Selbstvergebung. Liebe dich so, wie du bist, egal was passiert, München 2009.

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Anderen kommt die Sünde ans Licht; Selbsttäuschung und Selbstbetrug wird der Boden entzogen. „Um der Gewissheit der göttlichen Vergebung willen ist uns die brüderliche Beichte von Gott geschenkt.“41 Einen direkten christologischen Bezug, wie bei den ersten drei Punkten, ist hier nicht explizit gegeben. Dieser seelsorgerliche Aspekt des „habhaften Anderen“, der mich vor Selbsttäuschung und Selbstvergebung bewahrt, ist, macht daher auch in evangelischer Perspektive den Beichtspender als denjenigen wichtig, der mir die Sündenvergebung als verbum externum, als von außen kommendes Wort zuspricht. Ökumenischer Impuls Im Unterschied zur katholischen Lehre kann nach Bonhoeffer neben der Person des Priesters auch „jeder christliche Bruder“42, und natürlich auch jede christliche Schwester, zum Beichthörer bzw. zur Beichthörerin werden. Die einzige Voraussetzung ist, dass es sich um einen Mitchristen handelt. Der begabteste und erfahrenste Psychologe kann in der Beichte den christlichen Bruder nicht ersetzen. „Vor dem Psychologen darf ich nur krank sein, vor dem christlichen Bruder darf ich Sünder sein.“43 Um der Gewissheit willen betont Bonhoeffer des Weiteren die Notwendigkeit, konkrete Sünden zu beichten und sich nicht hinter dem Allgemeinen zu verstecken, was schnell zur Selbstrechtfertigung führen könne. Als Vorbereitung empfiehlt er die Prüfung an den Zehn Geboten – ganz ähnlich wie es die mittelalterlichen Beichtspiegel vorsahen und ganz im Sinne der katholischen Gewissenserforschung. Im Anschluss an die Augsburger Konfession – „Wer kennt seine Verfehlungen?“44 – hält auch Bonhoeffer eine Vollständigkeit in der Aufzählung der einzelnen Sünden weder für möglich noch für notwendig. Damit setzt er sich vom Vierten Laterankonzil (1215) ab, das noch verlangte, alle Sünden (omnia sua peccata) zu beichten. Allerdings hatte ja bereits Thomas von Aquin diese Aufforderung präzisiert, nämlich als „alle Sünden, deren man sich erinnert“.45

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DBW 5, 98. DBW 5, 99. DBW 5, 100. „Delicta quis intelligit?“ (CA 11). Zitiert in: Harding Meyer et al., Confessio Augustana. Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen, Paderborn 1980, S. 248. Auch die Confutatio der Confessio Augustana verlangt eine vollständige Beichte („confessio integra“). Gegen diese Forderung als unmöglich setzt sich Melanchthon in der Apologie vehement zur Wehr: „Hoc certe falsissimum est, quod adversarii posuerunt in Confutatione, quod confessio integra sit necessaria ad salutem. Est enim impossibilis“ (Apol. CA 12,110f.).

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3. Zwei Gefahren der Beichte Abschließend soll noch auf zwei Gefahren hingewiesen werden, die nach Bonhoeffer mit der Beichtpraxis verbunden sind. Zum einen warnt er davor, dass nicht eine einzige Person Beichthörer für alle anderen ist. Damit unterscheidet er sich von der katholischen Lehre. Für Bonhoeffer liegt darin nicht nur die Gefahr der Überlastung für diese Person, sondern vor allem die Gefahr eines Missbrauchs der Beichte „zur Ausübung geistlicher Gewaltherrschaft über die Seelen“.46 Um dem vorzubeugen, empfiehlt er daher auch, dass keiner die Beichte hört, der sie nicht selbst übt; eine Empfehlung, die wiederum konfessionsübergreifend ist. Die zweite Gefahr bezieht sich nicht auf den Beichtspender, sondern auf den Beichtenden. Der Beichtende darf seine Beichte nicht zu einem frommen Werk, d.h. als Werk um seiner selbst willen, verkommen lassen. Die Beichte ist ausschließlich auf die Gnade hin gerichtet, niemals auf sich selbst: „Ganz allein auf das Angebot der Gnade Gottes, der Hilfe und Vergebung hin dürfen wir uns in den Abgrund der Beichte hineinwagen, allein um der Verheißung der Absolution willen dürfen wir beichten. Beichte als Werk ist der geistliche Tod, Beichte auf Verheißung hin ist Leben.“47 Auch hier zeigt sich die Anschlussfähigkeit zum katholischen Verständnis, wenn beispielsweise in der katholischen Lossprechungsformel der Absolution die Verheißungen von „Versöhnung“, von „Vergebung der Sünden“ und von „Verzeihung und Frieden“ explizit zugesprochen werden.

4. Beichte als „Angebot göttlicher Hilfe“ – ein reformatorisches Anliegen mit ökumenischer Perspektive Nach allem, was nun über die Bedeutung von Beichte und Sündenvergebung für Bonhoeffer gesagt wurde, stellt sich die Frage, ob die Beichte damit zur christlichen Pflicht, ja zu einem Gesetz wird. Nach Dietrich Bonhoeffer ist dies ausgeschlossen, nicht zuletzt da sich im reformatorischen Referenzrahmen von Gesetz und Evangelium der Christ der Konfrontation mit dem Gesetz, der Norm, die unbedingt zu erfüllen ist, längst gestellt hat und sein Scheitern an jenem Gesetz ihn erst frei gemacht hat, das Angebot der Sündenvergebung anzunehmen. Deshalb gilt: „Die Beichte ist kein Gesetz, sondern sie ist ein Angebot göttlicher Hilfe für den Sünder.“48 Aber, so fügt Bonhoeffer hinzu, wer würde schon eine Hilfe, deren Angebot Gott für nötig befindet, ohne Schaden ausschlagen wollen? In dieser Frage schwingt zum einen ein reformatorisches Grundanliegen mit: Die Tür zur Beichte soll offengehalten werden. Zum anderen beinhaltet eben dieses Anliegen eine weite Perspektive für das ökumenische Gespräch.

46 47 48

DBW 5, 100. DBW 5, 101. DBW 5, 98.

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Einleitend wurde bereits gezeigt,49 dass es den Reformatoren wichtig war, an der Einzelbeichte festzuhalten. Mit dieser Feststellung wäre es nun für die Reformatoren auch durchaus denkbar gewesen, CA 11 ganz zu streichen, denn alles Notwendige zur Buße schien bereits mit CA 12 erfasst. Dass dies nicht geschehen ist, unterstreicht die anhaltende Bedeutung der Einzelbeichte auch aus evangelischer Perspektive. Die Buße als Umkehr zu Gott hat damals wie heute ihren Platz im alltäglichen Leben wie in der kirchlichen Praxis. Martin Luther brachte die Alltagstauglichkeit der Buße in der ersten seiner 95 Thesen auf den Punkt: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ‚Tut Buße‘ usw. (Mt 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ Im Großen Katechismus formuliert Luther noch pointierter: „Darum, wenn ich zur Beichte vermahne, so vermahne ich dazu, ein Christ zu sein.“50 Mit seinen Überlegungen zur Beichte, insbesondere in „Gemeinsames Leben“, öffnet nun Dietrich Bonhoeffer diese Tür, die durch CA 11 und 12 immer schon offengehalten wurde, noch weiter und lädt ein, Beichte wieder in den Alltag von uns Christen – evangelisch wie katholisch – zu integrieren. Oftmals ohne explizit auf die Lehre der Reformatoren oder die Bekenntnisschriften Bezug zu nehmen, gelingt Bonhoeffer auf diese Weise eine produktive Verarbeitung reformatorischer Theologie, ohne dabei in eine fruchtlose kontroverstheologische Debatte abzugleiten. Beichte als Durchbruch zur Gemeinschaft, zum Kreuz, zum neuen Leben sowie zur Gewissheit – in allem ist Beichte für uns ein „Angebot göttlicher Hilfe“.

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Vgl. den Beitrag in diesem Band von Ralf K. Wüstenberg „Thesen und Beobachtungen zum Beichtverständnis der Confessio Augustana“. Martin Luther, Der große Katechismus, Vermahnung zur Beicht. 1529. BSELK 732.

Neu anfangen können Ökumenische Anstiftungen zur Beichte Gunter Prüller-Jagenteufel, Christine Schliesser, Ralf K. Wüstenberg1 „Es gibt theologische Begriffe, die an Tiefkühlkost erinnern: eingefroren sind sie ungenießbar, nur in aufgetautem Zustand haben sie Nährwert.“2 Das gilt wohl auch für so zentrale theologische Begriffe wie „Rechtfertigung des Sünders“, „Sünde“ und „Sündenvergebung“. Was TheologInnen und Kirchenvertreter für die zentralen Glaubensartikel halten – und die Lehre von der Rechtfertigung aus Gnaden allein gilt nicht nur den reformatorischen Kirchen als zentraler Glaubensartikel – das spielt im echten Leben der Gläubigen jedoch offensichtlich kaum noch eine Rolle. Und ob Begriffe wie „Beichte“ und „Absolution“ überhaupt noch im Tiefkühlfach aufbewahrt werden, oder nicht überhaupt schon im Mülleimer für theologisch Ungenießbares gelandet sind, ist eben die Frage. In diesem Buch, das zu einer Neuentdeckung der Beichte beitragen will, geht es also nicht nur darum, den Begriff aufzutauen, sondern auch so zuzubereiten und anzurichten, dass er wirklich genießbar ist und seinen Nährwert voll entfalten kann. So wollen wir nun auf der Basis der bisherigen Überlegungen die Beichte als Ort in den Blick nehmen, wo Vergebung erfahren und das Potential der Versöhnung gestärkt werden kann. Als den Ort also, an dem wir neu anfangen können.

1. Beichte als Ort der wahren Lebensgeschichte „Warum soll ich die heimliche Beichte brauchen? Damit ich mich nicht selbst betrüge, damit ich meinen Stolz breche, damit ich ganz gewiß sein kann, daß mir alle Sünden vergeben sind.“3 Dieser Hinweis von Dietrich Bonhoeffer für seine Konfirmanden sieht die Chance und Herausforderung der Beichte darin, sich seiner eigenen Lebenswahrheit zu stellen. Im Zentrum steht dabei weniger das, was man getan hat, sondern was man hätte tun können – und damit auch: wer man eigentlich ist und wer man sein kann. Es geht also darum, aus den „Diskontinuitätser1

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Dieser Beitrag wurden aus katholischer Perspektive von Gunter Prüller-Jagenteufel verfasst und aus evangelischer Perspektive von Christine Schliesser und Ralf K. Wüstenberg überarbeitet und ergänzt. Für den Endtext zeichnen alle drei Autoren verantwortlich. Petsch, Hans-Joachim, Absolution als Lernprozeß. Erwägungen zu einer theologischen Lerntheorie. In: Riess, Richard (Hrsg.), Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie von Schuldbekenntnis, Opfer und Versöhnung (Theologische Akzente 1), Stuttgart 1996, S. 225–236, 225. Aus dem Konfirmandenunterrichtsplan Dietrich Bonhoeffers (1936) in: Bonhoeffer, Dietrich, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937 (Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 14 (=DBW 14)), Dudzus, Otto, Henkys, Jürgen (Hrsg.), Gütersloh 1996, S. 786–819, 818.

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fahrungen“4, die im Rückblick deutlich werden, eine Zukunft neuer Möglichkeiten zu erschließen. Dabei kommt der Absolution eine zentrale Bedeutung zu: „Sie trennt den Beichtenden per Urteilsspruch von seinen verlorenen Möglichkeiten und verspielten Chancen, seiner Sünde also, und entwirft ihn als mit Möglichkeiten und Chancen neu begnadetes Wesen.“5 In der Beichte hat so die gesamte Lebensgeschichte ihren Ort als Erfahrungsraum nicht nur eigener Schuld, sondern ebenso eigener Möglichkeiten; und die Beichte hat in der Lebensgeschichte ihren Ort als möglicher Wendepunkt, an dem sich neue Zukunft eröffnet. So ist es auch nicht verwunderlich, dass heute sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche die Beichte vor allem dort ihren festen Platz zurückgewinnt, wo es um eine – neue oder kontinuierliche – Ausrichtung des Lebens am Evangelium geht, vor allem also im Rahmen von Exerzitien oder in christlichen Gemeinden bzw. Gemeinschaften mit besonders intensivem Glaubensleben.6 „Die Frage nach der Beichte“ ist an solchen Orten und zu solchen Zeiten „im Grunde genommen die Frage nach einem ernsthaften Leben vor Gott“.7 Im „Normalbereich“ des christlichen Gemeindelebens jedoch spielt die Beichte weder im katholischen noch im evangelischen Bereich eine große Rolle. Um die Chancen einer erneuerten Beicht- und Bußpraxis auszuloten, empfiehlt es sich, von jenen Elementen auszugehen, die im Wesentlichen ökumenisch unstrittig sind. (1.) Schulderkenntnis, Reue (contritio): Zunächst geht es darum, anhand von konkreten Erfahrungen die durch Schuld und Sünde gegebene Selbstentfremdung wahrzunehmen und schonungslos anzuerkennen: Ich bin nicht der/die, der/die ich sein könnte und sein möchte, darin verfehle ich mich selbst in meinem Wesen und in meinen Beziehungen. Wenn hier die Gottesbeziehung mit in den Blick genommen wird, dann wird die Schuld zugleich als konkreter Ausdruck der Sünde offenbar. (2.) Schuldbekenntnis (confessio): Schuld darf vor Gott und vor der Kirche – d.h. der Gemeinschaft der Glaubenden, konkret repräsentiert durch den Beichthö-

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Vgl.: Lüking, Melanie, Brüche und Diskontinuitätserfahrungen als Thema von Biographien. In: Münchener Theologische Zeitschrift 55 (2004), S. 56–66, 65. Lüking, Diskontinuitätserfahrungen (s. Anm. 4), 62. Diese Gemeinden und Gemeinschaften umfassen christliche Erneuerungsbewegungen (im katholischen Bereich oft „Movimenti“ genannt), Basisgemeinden, Personalgemeinden etc., die sich sowohl im konservativen als auch im progressiven Sektor der Kirchen finden. Halkenhäuser, Johannes, Aus der Versöhnung leben – Plädoyer für eine neue Beichtpraxis. In: Schlemmer, Karl (Hrsg.), Krise der Beichte – Krise des Menschen? Ökumenische Beiträge zur Feier der Versöhnung (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 36), Würzburg 1998, S. 112–120, 114. Vgl. auch Braun, Reiner, „Nur in Buße und Umkehr kann uns geholfen werden“ (Dietrich Bonhoeffer). Anmerkungen zu Beichte und Buße heute. In: Theologische Beiträge 44 (2013), S. 230–240.

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renden/die Beichthörende8 – bekannt und ausgesprochen werden; und zwar nicht nur als Fehler und Schwäche, sondern als Sünde. Das Sündenbekenntnis ist eine „Auslieferung“ des Menschen an Gott, und zwar insbesondere auch der „dunklen Aspekte“ der Person; es geht also auch darum, „ein Stück weit geistlich [zu] sterben“, also um Teilhabe am Kreuz.9 Andererseits erfolgt das Bekenntnis in der Hoffnung, dass ihm die Zusage der Vergebung folgt. (3.) Lossprechung (absolutio): Das konkrete und aktuelle Wort der Vergebung ist die Zusage, dass die gebrochene Beziehung – von Gott her, d.h. sola gratia! – wiederhergestellt wird. (4.) Wiedergutmachung (satisfactio): Da sich das Beichtgeschehen konkret auswirken soll, ist die Wiedergutmachung zugefügten Schadens – wo möglich real und konkret, wo das nicht möglich ist, zumindest symbolisch – eine unverzichtbare Folge der Absolution und somit auch ein wesentliches Element im Bußgeschehen. Schuld und Vergebung betreffen nicht nur die Einzelnen in ihrer Gottesbeziehung, sie wirken sich vielmehr in die konkreten mitmenschlichen Beziehungen hinein aus. Insofern sie damit auch die Gemeinschaft der Kirche mitbetreffen, haben sie „ekklesiale Qualität“10; deshalb ist der Prozess der Beichte insgesamt als kirchliches Handeln zu verstehen. Die katholische Kirche bezeichnet daher das Gesamtgeschehen als „Sakrament der Versöhnung“.

2. Schulderkenntnis und Reue (contritio) – Wahrheit und Neuorientierung Wenn wir nach der Bedeutung der Reue fragen, so ist vorauszuschicken, dass Schulderkenntnis etwas wesentlich anderes ist als Schuldgefühle. Letztere überfallen uns und bleiben diffus, während Schulderkenntnis das klare Wahrnehmen und Wissen bedeutet, dass man selbst verantwortlich ist, dass man also auch in Situationen mit komplexer Gemengelage von Schuld und Verstrickung, die Täterdimension von der Opferdimension zu unterscheiden vermag und für den eigenen Beitrag Verantwortung übernimmt.11 Auf dieser Basis ist dann in einem weiteren Prozess auch Versöhnung möglich. Schon dieser erste Schritt ist aber nur möglich, wenn Hoffnung auf Vergebung besteht. Wo diese nicht gegeben ist und die Angst vor möglichen Konsequenzen die Oberhand behält, wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung behindert. Schuld wird dann nicht bearbeitet, 8

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Aus evangelischer Perspektive sind hier und im Folgenden Beichthörer und Beichthörerinnen gemeint. Aus katholischer Perspektive findet das Hören der Beichte traditionell durch den Priester statt. Halkenhäuser, Aus der Versöhnung leben (s. Anm. 7), 116. Halkenhäuser, Aus der Versöhnung leben (s. Anm. 7), 117. Vgl.: Dahlgrün, Corinna, Wie neugeboren. Gedanken zur Beichte in der evangelischen Kirche. In: Psychotherapie und Seelsorge 1 (2005), S. 25–29, 25f.

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sondern verdrängt.12 Da aber verdrängte Schuld zwar nicht gesehen wird, aber immer noch da ist und reale Auswirkungen hat, wird sie – weil ja irgendjemand Schuld haben muss – bei anderen gesucht; sie wird projiziert und in anderen bekämpft. Odo Marquard nennt das die „Tribunalisierung unserer Lebenswirklichkeit“13. Dagegen kann der ungeschminkte Blick auf sich selbst dazu führen, dass Schuld nicht mehr auf andere abgeschoben und auch nicht gegeneinander aufgerechnet wird. Ist so der Zwang zur Selbstrechtfertigung überwunden, kann auch der Moralismus, der sich gerne gerade auch im religiösen Bereich breit macht, der Bereitschaft zur Vergebung weichen. So wie sich Schulderkenntnis wesentlich vom bloßen Schuldgefühl unterscheidet, indem sie sich nicht nur auf das Subjekt rückbezieht, sondern die relationale Dimension menschlicher Verantwortung ins Auge fasst, so ist auch Reue nicht allein eine affektive Reaktion, sondern ein bewusstes und vor allem auf den Willen bezogenes Sich-Distanzieren von der Schuld. Reue bezieht sich im Unterschied zur Scham nicht nur auf die eigene Unvollkommenheit, sondern auch darauf, dass man an anderen schuldig geworden ist. So ist Reue nicht nur ein Gefühl, sondern das Bewusstsein dafür, seine Verantwortung für andere nicht wahrgenommen zu haben. Karl Rahner sieht in der Reue daher wesentlich die „Selbstdistanzierung“14 von der eigenen Sünde in der bedingungslosen Übergabe an Gott. Die contritio als „radikale Exzentrizität auf Christus hin“15 ist demnach weder ein Gefühl, das man selbst „erwecken“, noch ein Werk, das man aus Eigenem setzen könnte, sondern ein personal-dialogischer Prozess. Dieser weist auch eine praktische Dimension auf: die Bereitschaft, die in der Sünde gebrochenen Beziehungen wiederaufzunehmen und neu zu gestalten – nicht nur, aber auch in konkreten Taten. „Auch der Gläubige kann das Geschehene nicht ungeschehen machen. Aber … er glaubt an die Vergebung, die die Fehlentwicklungen der Geschichte einholen kann. Das Kreuz der Erlösung ist koextensiv mit der Geschichte dieser Welt.“16 Dem entsprechend definiert das Konzil von Trient Reue als Abkehr von der Sünde „verbunden mit dem Vorsatz, fortan nicht zu sündigen“17. Die Reue hat also wesentlich einen Zukunftsbezug, der als Ausdruck einer neuen „inneren Gesinnung“ ebenso konkret sein muss wie die Schuld die Realisierung einer verkehrten Fundamentaloption darstellt. Damit ist vom Wesen der Reue her bereits die innere 12 13 14

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Vgl.: Dahlgrün, Wie neugeboren (s. Anm. 11), 26. Marquard, Odo, Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit. Erfahrungen mit der Wissenschaftsethik. In: Spiegel der Forschung 10 (1993), S. 2–4. Rahner, Karl, Schuld, Vergebung und Umkehr im christlichen Glauben. In: Görres, Albert, Rahner, Karl, Das Böse. Wege zu seiner Bewältigung in Psychotherapie und Christentum, Freiburg i. Br. 1982, S. 199–229, 221. Peters, Albrecht, Buße – Beichte – Schuldvergebung. Schuldvergebung in evangelischer Theologie und Praxis. In: Kerygma und Dogma 28 (1982), S. 42–72, 61. Fraling, Bernhard, Moralpraktische Aspekte von Schuld und Vergebung. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 72–79, 78. Konzil von Trient, Lehre über das Bußsakrament, Kap.4 (DH 1676).

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Verbindung zur Wiedergutmachung gegeben. Die evangelische Perspektive im Anschluss etwa an die Confessio Augustana18 betont dabei auch das passive Moment der Reue, indem die heilvolle Zukunft aus der Kapitulation vor dem selbstgewählten Weg möglich gemacht wird.19 Wer das Scheitern eingesteht, wird im Evangelium aufgerichtet als der guten Nachricht von der erlösenden Liebe Gottes, die den Menschen zu dem macht, zu dem er sich selbst nicht machen kann, nämlich einen vor Gott gerechtfertigten Menschen.

3. Schuldbekenntnis (confessio) – Einstehen für die eigene Verantwortung Der adäquate Modus, Schuld ins Wort zu bringen, ist das Bekenntnis; nur so wird Schuld in ihrer Eigenart als persönliche erkannt und anerkannt. Dementsprechend ist das Bekenntnis – und zwar das konkrete Bekenntnis, in dem die enge Verbindung von Handlungs- und Beziehungsebene deutlich wird – unverzichtbar für jeden Prozess der Vergebung und Versöhnung. Es gehört ja zu den allgemein anerkannten Erkenntnissen der Psychologie, dass Schuld nur dann bearbeitet werden kann, wenn man aufgehört hat, sie zu verleugnen, zu verdrängen oder zu rationalisieren, wenn man sie also als persönliche Schuld angenommen und ausgesprochen hat.20 Allerdings ist gerade in der Beichte wesentlich zwischen psychischer und geistlicher Dimension zu unterscheiden: „Vor dem Psychologen darf ich nur krank sein, vor dem christlichen Bruder darf ich Sünder sein“,21 bemerkt Dietrich Bonhoeffer. Zwar kann das Bekenntnis durchaus auch „Schwäche“, „Unzulänglichkeit“ und „Versagen“ beinhalten, womit der Beichte auch eine gewisse therapeutische Funktion zukommt, aber im Grunde gehört diese Dimensionen in den Bereich der seelsorglichen Begleitung. Sie kann wohl in Verbindung mit der Beichte sichtbar werden, doch das Wesentliche der Beichte geht darüber hinaus: Es ist das Bekenntnis der eigenen Schuld, die nicht aus Schwäche und unbewusst, sondern aus freiem Willen und bewusst begangen wurde. Drei Elemente sind dem Bekenntnis inhärent: die Konkretheit, die Bezogenheit auf ein Extra-me (außerhalb meiner selbst) und die Erfahrung der Demütigung.22

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Vgl.: CA 12, BSELK, S. 107 sowie den Beitrag von Ralf Wüstenberg, „Thesen und Beobachtungen zum Beichtverständnis der Confessio Augustana“ in diesem Band. Vgl. zum befreienden Charakter der Beichte Härle, Wilfried, Dogmatik, Berlin 2007, S. 567–569. Vgl.: Struck, Elmar, Einige Aspekte zum Problem der Schuld aus anthropologischpsychologischer Sicht. In: Evangelische Theologie 36 (1976), S. 72–85, 82–83. Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel (Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 5 (= DBW 5)), Müller, Gerhard Ludwig, Schönherr, Albrecht, Gütersloh 1987, S. 100. Vgl.: DBW 5, 94–99.

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Im Bekenntnis wird die Sünde beim Namen genannt. Dass sie nicht hinter allgemeinen Floskeln verborgen bleibt, sondern als in dieser konkreten Tat manifestiert und als meine ureigene Tat anerkannt wird, und dass diese Tat konkret als persönliche Schuld und Sünde benannt wird, ist unerlässlich. Dabei geht es nicht um ein bloß äußerliches Aufzählen der Sünden – womöglich noch „nach Art und Zahl“ –, sondern darum, in der Konkretheit der schuldhaften Tat die Tiefendimension der Sünde zu erkennen: die incurvatio cordis in se ipsum (das „Verkrümmtsein in sich selbst“, d.h. der radikale Egoismus), die sich in konkret benennbaren Lebensbereichen zerstörerisch für das gesamte Beziehungsnetz des Menschen auswirkt. Um den Charakter der Schuld als je-eigene ins Wort zu bringen, ist es notwendig, das Bekenntnis „ohne Seitenblicke auf die Mitschuldigen“23 abzulegen. Das bedeutet nun nicht ein wirklichkeitsfremdes Absehen von den strukturellen Vorgegebenheiten; deren Berücksichtigung ist vielmehr unerlässlich, wenn praktikable Wege aus der Schuldverstrickung gesucht werden sollen. Es ist aber notwendig, den eigenen schuldhaften Anteil zu erkennen, anzuerkennen und ins Wort zu bringen, um alle Selbsttäuschung zu überwinden. Somit kommt dem Bekenntnis auch eine wesentlich Erkenntnis fördernde, wenn nicht sogar erkenntnisermöglichende Funktion zu.24 Dass das Bekenntnis nicht vor Gott allein erfolgt, sondern vor einem konkreten menschlichen Gegenüber, symbolisiert dabei den dialogischen Charakter ethischer Verantwortung. Sowohl das Woraufhin des Bekenntnisses, also des SichVerantwortens, als auch das Vonwoher des Vergebungswortes liegen extra nos (außerhalb unserer selbst); weder Selbst-Verantwortung noch Selbst-Vergebung werden dem relationalen Wesen personaler Verantwortung gerecht. Denn da sich ethisch relevante menschliche Handlungen und damit die ethische Verantwortung stets auf ein unverfügbares Gegenüber beziehen, weist die menschliche Schuld immer auch eine Transzendenzdimension auf. Damit führt an der Vergebung, d.h. an der von außen zugesagten Loslösung von der Schuld, kein Weg vorbei.25 Die damit verbundene Demütigung führt konsequenterweise dazu, alle Versuche der Selbstrechtfertigung als gescheitert zu erkennen und den „Durchbruch zum Kreuz“26 an sich geschehen zu lassen. 23 24

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Bonhoeffer, Dietrich, Ethik (Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 6 (= DBW 6)), Bethge, Eberhard (Hrsg.), Gütersloh 1998, S. 126. Konrad Baumgartner stellt daher die klassische Deutung des Bekenntnisses im Sinne eines Gerichtsaktes in Frage und betont dagegen den Bezug auf die „Bekenntnis-Existenz“ der Christen vom Glauben her: Im Bekenntnis des Sünder-Seins liegt implizit schon ein Glaubensbekenntnis vor, weil dieses immer nur im Horizont der aufgrund der Verheißung geglaubten und erhofften Vergebung Gottes erfolgt. (Vgl.: Baumgartner, Konrad, Aus der Versöhnung leben. Theologische Reflexionen – Impulse für die Praxis, München 1990, S. 51–59, 57). Vgl.: Auer, Alfons, Ist die Sünde eine Beleidigung Gottes? Überlegungen zur theologischen Dimension der Sünde. In: Theologische Quartalsschrift 155 (1975), S. 53–68, 65–66. DBW 5, 95. Der Erniedrigungscharakter der Beichte wird auch von Martin Luther betont, der ihn ebenfalls kreuzestheologisch deutet. „Dass wir aber willig und gerne beichten, dazu sollen uns zwei Ursachen reizen. Die erste, das heilige Kreuz, das ist die Schande und Scham, dass der

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Um in diesem Geschehen nicht der Versuchung zum Selbsthass zu erliegen, ist es wesentlich, dass beiden Beteiligten klar ist, dass auch der oder die Beichthörende selbst ein Sünder vor Gott ist, der ebenso der Vergebung bedarf; und dass es daher seine primäre Aufgabe ist, den Beichtenden aufzurichten und ihm so zu helfen, neu den „aufrechten Gang“ zu lernen und die eigene Verantwortung wahrzunehmen. Dass diese Rolle von den Repräsentanten einer Kirche, die deutlich patriarchale Züge trägt, oftmals nicht entsprechend wahrgenommen und mitunter sogar ins Gegenteil verkehrt wird, ist unleugbar richtig, wie zahlreiche literarische und wissenschaftliche Zeugnisse belegen.27 Für die Kirchen bedeutet der ungeschminkte Blick auf diese Realität die Herausforderung, sich dem Reformbedarf bei der Ausbildung von Beichthörenden wie auch bei der liturgischen Gestaltung der Beichte zu stellen. Dies gilt für die katholische wie für die evangelische Kirche gleichermaßen.

4. Lossprechung (absolutio) – Erfahrung der Vergebung „Kann vielleicht darum nicht mehr von Schuld gesprochen werden, weil wir sie nicht mehr zu vergeben wissen?“28 Eine berechtigte Anfrage an die Kirchen, denn im Bewusstsein der Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein ist ja die adäquate Antwort auf das Bekenntnis das Wort der Vergebung, das dem Sünder von Gott her durch Christus zugesagt ist. Hier vollzieht sich der endgültige „Durchbruch zur Gewissheit“29, der im Bekenntnis begonnen hat. Vom Vergebungswort her erkennt sich der Sünder als das, was er von Gott her ist: nämlich gerechtfertigter Sünder. Um diese Erfahrung wirkmächtig ins Symbol zu bringen, wird das Wort der Vergebung dem Menschen, der zuvor seine Sünde bekannt hat, konkret zugesagt. Damit sollen keineswegs kollektive Formen des Bekenntnisses und der Vergebungszusage gering geschätzt werden; sie haben im Rahmen des Gottesdienstes unverzichtbare Bedeutung.30 Was allerdings festgehalten werden soll: Die Konkretheit des Sündenbewusstseins und die Erfahrung der Reue bedarf des Ortes, wo sie auch konkret zur Erfahrung der Vergebung durchstoßen kann; und diese Erfahrung vermittelt vorzugsweise das persönlich zugesprochene Wort.31

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Mensch sich willig entblößet vor einem anderen Menschen, und sich selbst verklagt und erniedrigt. Das ist ein köstlich Stück von dem heiligen Kreuz.“ Martin Luther, Von der Beichte, ob die der Papst Macht habe zu gebieten, 1521. Sprachlich bereinigt. WA 8, 138–185, 176. Vgl. u.a. Cornwell, John, Die Beichte. Eine dunkle Geschichte, Berlin 2014. Dahlgrün, Corinna, „Sorry, du, dumm gelaufen!“ Beobachtungen zur Kultur des Beichtrituals. In: Zimmerling, Peter, Studienbuch Beichte, Göttingen 2009, S. 209–229, 224. DBW 5, 97. Vgl.: Deutsche Bischofskonferenz, Umkehr und Versöhnung im Leben der Kirche. Orientierungen zur Bußpastoral (1997) (DDB 58), S. 44. Vgl.: Fraling, Bernhard, Moralpraktische Aspekte von Schuld und Vergebung. In: Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 72–79, 73 (Autorschaft korrigiert nach Lebendige Seelsorge 53 (2002), S. 157; beim Artikel selbst fälschlich mit Eberhard Schockenhoff angegeben).

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Während die evangelische Tradition mit Martin Luther die Absolution als besondere Form der Verkündigung des Evangeliums versteht, hält die katholische Tradition – in bewusster Abhebung davon – am „richterlichen Charakter“32 der Absolution fest. Der Graben zwischen beiden Positionen erweist sich auf den zweiten Blick aber als nicht ganz so tief, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn man sich nämlich bewusst macht, dass nach evangelischer Auffassung das Wort Gottes selbst stets wirksames Wort ist und daher die Absolutionsformel tatsächlich mit Autorität die Vergebung der Sünde feststellt, und wenn man zugleich anerkennt, dass auch nach katholischem Verständnis der Beichthörende nicht willkürlich darüber bestimmen kann, ob Sünden nachgelassen oder behalten werden, weil im „Gericht“ des Bußsakramentes kein anderes als das freisprechende Gnadengericht Gottes vergegenwärtigt wird,33 erkennt man eine grundlegende Konvergenz: Im Wort der Vergebung wird Gottes Gnadengericht über den Sünder wirkmächtig gegenwärtig. Von einem relationalen Personenbegriff her zeigt sich in diesem Prozess die umfassende Bedeutung des Realsymbols: Der Disput, ob in der Absolution „nur“ eine Proklamation oder „darüber hinaus“ eine Transformation vorliege, entpuppt sich vor diesem Hintergrund als verkürzte Alternative, schafft doch gerade der Zuspruch der Vergebung eine neue Realität – allerdings nicht ontologischer, sondern personaler Art. So macht Dietrich Bonhoeffer aus lutherischer Tradition deutlich, dass das Vergebungswort zwar zuallererst Verkündigung des Wortes Gottes, d.h. seiner vergebenden Gnade ist; aber gerade darin liegt der Transformationscharakter beschlossen, weil es sich niemals um „billige“, sondern immer um „teure Gnade“ handelt, die den Ruf in die Nachfolge – d.h. in die Neuorientierung des Lebens – beinhaltet. Dazu muss das Wort konkret sein, es muss im „Heute und Hier“ ankommen; dann kann das von außen kommende Wort innerlich wirksam werden. Die Effektivität der Absolution bedeutet also keine Selbsterlösung, sondern die von Gott ermöglichte „Ab-lösung von der Last dessen, was war, damit Zukunft sich eröffnet.“34 Vergebung bedeutet damit nicht bloß, dass die vergangene Tat nicht angerechnet wird, sondern dass die Lebenszusammenhänge des Menschen real verändert werden: „Die … geschehene Tat wirkt sich auf den Täter künftig nicht mehr aus.“35

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Vgl.: Konzil von Trient, Lehre über das Bußsakrament, Cap. 5 (DH 1685): „ad instar actus iudicalis“. Schneider, Michael, Umkehr zum neuen Leben. Wege der Versöhnung und Buße heute, Freiburg i.Br. 1991, S. 25–27. Petsch, Absolution als Lernprozeß (s. Anm. 2), 236. Löhr, Helmut, Kennt das Neue Testament die Unterscheidung von „Person“ und „Werk“? Ein exegetischer Klärungsversuch. In: Beyerle, Stefan, Roth, Michael, Schmidt, Jochen (Hrsg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen (Theologie – Kultur – Hermeneutik 11), Leipzig 2009, S. 213–229, 222.

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5. Der/die Beichthörende – Stellvertreter für Sünder und Kirche „Darum bekennt einander eure Sünden, und betet füreinander, damit ihr geheiligt werdet. Viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten.“ (Jak 5,16) Mit Rückbezug auf Jak 5,14, wo von den „Ältesten“ die Rede ist, wurde das Sündenbekenntnis und das Gebet traditionell mit den Amtsträgern der Gemeinde verbunden, was letztlich aber dazu führte, dass die „private“ Beichte zu einem „privaten“ Sakrament wurde, dessen ekklesiologischer Bezug kaum mehr deutlich wird. Um daher die kirchliche Dimension der Beichte wieder neu in Erinnerung zu rufen, unterstreicht beispielsweise die anglikanische Kirche Kanadas: „Die Spendung des Bußsakraments an einen Pönitenten ist, auch wenn sie privat erfolgt, ein öffentliches Handeln der Kirche, denn die Sünde betrifft die Einheit ihres Leibes.“36 Diese ekklesiologische Aufgabe nimmt im konkreten Fall des Bußsakraments der Beichthörende wahr – in persona ecclesiae (stellvertretend für die Kirche) und damit sowohl in persona Christi (stellvertretend für Christi) als auch in persona humanitatis (stellvertretend für die Menschheit). Wenn nun der Beichthörende als Repräsentant der Kirche und stellvertretend für Christus das Bekenntnis hört und die Vergebung zuspricht, so steht er – analog zur Stellvertretung Christi und der Kirche – als Mittler in einem doppelten Stellvertretungsverhältnis: Dem Beichtenden gegenüber vertritt er durch die Kirche Christus selbst und in ihm die Menschheit, konkret jenen Teil der Menschheit, an dem der Pönitent schuldig geworden ist. Er vertritt aber auch den Beichtenden gegenüber der Kirche und der Welt, so wie Christus gegenüber seinem Vater stellvertretend für die sündige Menschheit eintritt. Wenn nun der Beichthörende „durch den Dienst der Kirche“37 und im Namen Gottes dem Beichtenden die Sündenvergebung zuspricht, so erklärt er damit nicht nur, dass Gott und die Kirche die Schuld hinfort als inexistent betrachten. Da es um die Wirklichkeit des Menschen, also um Transformation geht, muss die Vergebung christologisch umfassender sein. So wie Christus in seinem Versöhnungshandeln stellvertretend für die Menschen die Schuld auf sich nimmt und bleibend trägt, so bedeutet die Absolution, dass die Kirche – „Christus als Gemeinde existierend“ (Dietrich Bonhoeffer)38 – die Schuld und die Sünde des Menschen stellvertretend auf sich nimmt und (er)trägt. Sie tut dies zum einen nach innen: Indem sie dem Sünder vergibt und ihn in die Gemeinschaft der Kirche wiedereingliedert, stellt sie die in der Sünde zerbro36 37 38

The Book of Alternate Services der Anglikanischen Kirche Kanadas (zit. n. Gatta, Julia, Schmith, Martin L., Go in Peace. The Art of Hearing Confession, London 2013, S. 32). Ordo Paenitentiae. Die Feier der Buße nach dem neuen Rituale Romanum, hrsg. v. den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier, Zürich, Einsiedeln 1974, S. 46. Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio (Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 1 (= DBW 1)), Joachim von Soosten (Hrsg.), Gütersloh 1986, S. 127.

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chene Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern wieder her, an denen der Pönitent schuldig geworden ist. Zugleich steht die Kirche wesentlich auch als Mittlerin nach außen, zu den Nichtchristen hin: Hier verwirklicht sie die Versöhnung, die sie dem Sünder zuspricht, indem sie sich für die Versöhnung aller Menschen einsetzt. Kirche realisiert so ihr Wesen als Gemeinschaft, in der die Sünde überwunden ist und die von daher die Sünde der Welt solidarisch überwindet, indem sie an der Aufarbeitung der Sündenfolgen mitwirkt und so auf Zukunft hin vergebend und versöhnend wirkt. Diese höchst anspruchsvolle Rolle der Kirche im Versöhnungsgeschehen ist keineswegs idealistisch oder gar moralisierend gemeint. Es geht nicht um eine Forderung, sondern um eine Wirklichkeit, wobei allerdings die hier skizzierte doppelte Verantwortungsübernahme der Kirche aus christologischen Gründen unter eschatologischem Vorbehalt steht. Zwar verwirklicht die Kirche in ihrer konkreten Gestalt ihr Wesen als communio sanctorum (Gemeinschaft der Heiligen), insofern sie diesem ihrem Stellvertretungsauftrag gerecht wird; aber da sie in der Geschichte immer simul auch communio peccatorum (zugleich auch eine Gemeinschaft der Sünder) ist, verwirklicht sie diese ihre primäre Aufgabe stets nur fragmentarisch.39 Das ist nun aber eben keine Entschuldigung, um sich mit dem vorläufig Erreichten zu begnügen, sondern muss in der Dynamik des magis verstanden werden, des Je-Mehr der Nachfolge.40 Ohne die letzte Vollendung erzwingen zu wollen, aber auch ohne sich mit dem Vorläufigen zu frieden zu geben, versteht sich Buße, Umkehr und Versöhnung als ermöglichende Begleitung auf diesem Weg der je größeren Verantwortungsübernahme. Der Beichthörende als Kristallisationspunkt dieses mehrdimensionalen Versöhnungsprozesses ist dabei in besonderer Weise gefordert. Zwar ist er nicht als Person der, der die Schuld solidarisch trägt und Versöhnung wirkt, denn damit wäre jede Einzelperson heillos überfordert. Nur in seiner ekklesialen Verortung und im bleibenden Bewusstsein um den eschatologischen Charakter des Versöhnungsgeschehens kann das kirchliche Versöhnungshandeln in der Welt wirksam und Wirklichkeit werden. Damit ist die gesamte Glaubensgemeinschaft in die Pflicht genommen, den Raum und die nötigen Hilfen zur Versöhnung bereitzustellen.41 An den Beichthörenden als ihren Repräsentanten stellt das einen doppelten Anspruch: Er muss als Person die entsprechende Bereitschaft und Kompetenz aufbringen und in der konkreten kirchlichen Gemeinschaft eine entsprechende

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Vgl.: Gestrich, Christoph, Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher Stellvertretung. Zur Präzisierung des Verständnisses des „wunderbaren Tausches“ und der „Sündenvergebung“. In: Una Sancta 46 (1991), S. 229–244, 239. Zur Dynamik des „magis“ und der Problematik eines moralisierenden Missverständnisses dieses Begriffs vgl. Fraling, Bernhard, Gott – Glaube – Moral. In: Homann, Karl, Riedel-Spangenberger, Ilona (Hrsg.), Welt – Heuristik des Glaubens (FS Ernst Feil), Gütersloh 1997, S. 47–63, 53–58. Vgl.: Arzt, Silvia, Pressler, Angelika, Vergebungsräume statt Beichtpflicht. Katechese der Versöhnung. In: Diakonia 32 (2001), S. 186–190, 188–190.

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Position innehaben, sodass er der sakramental ins Symbol gebrachten Versöhnung in all ihren Dimensionen den Weg zu bereiten vermag. Die Herausforderung besteht nun darin, gemeinsam mit dem Beichtenden zur theologischen Tiefendimension der Sünde vorzudringen: Die moralische Oberflächendimension bildet ja nur den Ausgangspunkt, um der Abgründigkeit der Sünde, der incurvatio (Selbstverkrümmung) gewahr zu werden. Wo diese Tiefendimension nicht erreicht wird, kann es leicht geschehen, dass die konkrete Sünde nur als leichte Verfehlung erscheint und der Beichthörende nicht aufdeckt und Vergebung zuspricht, sondern zudeckt und beschwichtigt. Damit wird aber weder der Beichtende ernst genommen, noch ist auf diese Weise der Durchbruch zur Versöhnung möglich – weder zur Versöhnung mit sich selbst, noch mit anderen. Zugleich ist die Gabe der Unterscheidung gefordert: Unangemessene Selbstbezichtigungen aus einem pathologischen Schuldgefühl heraus bedürfen einer grundsätzlich anderen Behandlung als echte Schulderfahrungen. Zu beachten ist hier, dass diese letztlich nur vom Subjekt selbst erkannt werden und nur im Modus des Bekennens adäquat ins Wort gebracht werden können. Insofern ist nicht der Beichthörende der Richter über das Gewissen des Beichtenden, der diesen – möglicherweise gar aufgrund erwiesener Unschuld oder der Geringfügigkeit des Delikts – freispricht, sondern er ist gleichsam der Zeuge des Gewissensspruchs, mit dem der Beichtende sich selbst als Sünder entlarvt, um ihm auf sein Bekenntnis hin die Vergebung Gottes zuzusprechen. Aber auch die gegenteilige Gefahr ist im Auge zu behalten: Angesichts der Sünde der anderen steht der Beichthörende in der Versuchung, sich selbst mit dem Beichtenden zu vergleichen, ihn womöglich zu verachten und sich zu überheben. Auch diese Tendenz hat ihre Ursache im Verbleiben an der ethischen Oberflächendimension. Nur wer die eigene Sünde genauso wie die Sünde des anderen in ihrer Tiefendimension wahrnimmt und darin sowohl bei sich selbst als auch beim anderen die abgründige Sünde gegen Gott erkennt, vermag die Beichte zu hören und Gottes Vergebung in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen. Dietrich Bonhoeffer mahnt deshalb eindringlich, dass der „Bruder“, der die Beichte des anderen hört, immer und radikal sich selbst als den größten Sünder zu betrachten hat.42 Zugleich hat der Beichthörende den Beichtenden als den anzusehen, dem Christus die Sünde schon vergeben hat, der schon jetzt in der Gnade Gottes steht. Es kommt dem Beichthörenden daher keinerlei Richterfunktion in dem Sinne zu, dass er ein anderes Urteil sprechen könnte als das, welches Christus durch sein Kreuz und seine Auferstehung schon gesprochen hat: die Rechtfertigung aus Gnade. Der Beichthörende hat sich also die doppelte Dialektik bewusst zu halten, dass er selbst und der Beichtende in gleicher Weise von Gott gerechtfertigte, also begnadigte Sünder sind, die jeweils den Weg der Umkehr beschreiten müssen, um den Weg der Nachfolge zu gehen. 42

Vgl.: DBW 5, 81.

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Wer kann nun Beichte hören und Vergebung wirksam zusprechen? Bis ins Mittelalter war die „Seelenführungsbeichte“ bei Laien durchaus üblich – allerdings nur für leichte Sünden, denn für Todsünden war die öffentliche Buße vorgesehen. Mit der Verdrängung der öffentlichen Buße durch die private Beichte und der damit einhergehenden tariflichen Festlegung der Bußwerke (bei gleichzeitiger Inflation des Begriffs der „Todsünde“) veränderte sich der Charakter der Beichte: Sie wandelte sich von der Seelenführung zum richterlichen Akt, den nur noch ein mit Vollmacht ausgestatteter Priester vollziehen konnte. Im Unterschied zur katholischen Tradition betonte Martin Luther – und mit ihm die evangelische Kirche bis heute –, dass die Beichte kraft des allgemeinen Priestertums bei jedem Mitchristen abgelegt werden kann.43 Aufgrund des Stellvertretungscharakters des Versöhnungsgeschehens scheint es allerdings angezeigt, deutlich zu machen, dass Beichthörende nicht als Privatpersonen, sondern im Namen der Kirche handeln. Indem sie ein Amt versehen, das der Kirche als ganzer von Christus her zukommt, handeln sie als Repräsentanten der Kirche. So sind es auch im evangelischen Bereich normalerweise die Pfarrer und Pfarrerinnen, die die Beichte hören, auch wenn das nicht zwingend ist. Aus katholischer Perspektive wiederum scheint es durchaus angemessen, dass die Kirche die Beichthörenden in einem öffentlichen Akt zu diesem Amt beauftragt. Ob das aber notwendig an die Priesterweihe gebunden sein muss, müsste diskutiert werden. Denn zum einen tritt in einem personalen Verständnis der Aspekt der Jurisdiktion in den Hintergrund, zum anderen ist „nicht der Blick auf Personen in bestimmten geistlichen Ständen … auf Zukunft hin entscheidend für das Bußsakrament, vielmehr die Begegnung mit Menschen, die das Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes anderen Menschen nahebringen.“44 Qualifikationen des Beichthörers Wesentlicher ist daher die persönliche Qualifikation: Wenn die Kirchenleitung die Verantwortung für das Bußsakrament sorgfältig wahrnehmen will, so bedeutet das auch, dass in jedem Fall überprüft werden muss, ob jemand die nötigen geistigen und geistlichen Qualitäten aufweist, um ohne Schaden für sich und andere die Beichte zu hören. Dazu bedarf es auf Seiten des Beichthörers nicht nur hinreichender theologischer Grundkenntnisse, sondern noch mehr der persönlichen und 43

44

Vgl. Luthers „Vermahnung zur Beicht“ aus dem Großen Katechismus (1529) (BSLK 728, S. 27– 729, 7). Von katholischer Seite wirbt Kurt Knobloch für die – allerdings nicht sakramental zu verstehende – „Lossprechungskompetenz“ der „Alltagschristen“ als eine vergessene und wiederzuentdeckende Dimension des Christseins in ekklesialer Verortung. (Vgl.: Knobloch, Kurt, Ich spreche dich los. Plädoyer für die Lossprechungskompetenz des Alltagschristen. In: Garhammer, Erich et al. (Hrsg.). … und führe uns in Versöhnung. Zur Theologie und Praxis einer christlichen Grunddimension. (FS Konrad Baumgartner), München 1990, S. 238–247). Deslaers, Paul, Sattler, Dorothea, Die beste Buße ist ein neues Leben. Ökumenische Annäherungen im Verständnis des Versöhnungssakramentes. In: Lebendige Seelsorge 58 (2007), S. 18–23, 23.

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spirituellen Reife, einer fundamentalen Bildung in geistlicher Begleitung und wohl auch einer gewissen psychologischen Kompetenz – zumindest in dem Ausmaß, dass er echte Schulderfahrung von pathologischen Schuldgefühlen zu unterscheiden vermag. So spricht bereits das „Common Book of Prayer“ der anglikanischen Kirche (1549) davon, dass der Beichthörer „a wise and learned priest“ sein soll; in der aktuellen revidierten Fassung heißt es „wise and understanding“. „Learned“ bedeutet also nicht bloß akademische Gelehrsamkeit, sondern im ganzheitlichen Sinn „gebildet“ und „lernfähig“, also sowohl persönlich als auch theologisch gebildet. Ebenso meint „understanding“ nicht bloß, auf einer persönlichen Ebene verständnisvoll zu sein, sondern mit Verständnis einen Sachverhalt beurteilen zu können. Der verstehende Beichthörende vermag zu unterscheiden, was wichtig ist und was zur Disposition steht. Welche Voraussetzungen muss der Beichthörer nun konkret erfüllen? Da die Beichte nicht auf die psychologische Ebene reduziert werden kann, ohne ihren eigentlichen Charakter aufzugeben, ist auch die Kompetenz des Beichthörers zunächst nicht im Psychologischen, sondern im spezifisch Christlichen zu suchen: „Nicht Lebenserfahrung, sondern Kreuzeserfahrung macht den Beichthörer,“ meint Dietrich Bonhoeffer.45 Denn so wie die eigene Sünde nicht aus der Tat an sich erkannt werden kann, so erwächst auch das Verstehen der Sünde des Pönitenten nicht aus dem Faktum der Tat, sondern aus der „Erkenntnis des Kreuzes Christi und der dort offenbarten tiefsten Sünde der Menschheit überhaupt“,46 meint Dietrich Bonhoeffer. Daher ist auch das konkrete Bekenntnis nicht „Bekenntnis meiner Not, sondern meiner Sünde“47, die der Beichthörende nicht nur als Bedrängnis oder Krankheit der Seele, sondern in ihrer Tiefe erkennen muss. Um in diesem Sinne die Sünde des Beichtenden stellvertretend tragen zu können, ist vor allem eines wichtig: dass sich der Beichthörende selbst als Sünder erkannt hat, dass er nicht vergleicht und nicht entschuldigt, weder sich noch den anderen, sondern den Abgrund der Sünde wahrnimmt und annimmt, selbst getragen von dem rechtfertigenden Wort der Vergebung, das diese Stellvertretung erst ermöglicht. „Wer unter dem Kreuze Jesu lebt, wer im Kreuze Jesu die tiefste Gottlosigkeit aller Menschen und des eignen Herzens erkannt hat, dem ist keine Sünde mehr fremd; wer vor der Furchtbarkeit der eignen Sünde, die Jesus ans Kreuz schlug, einmal erschrocken ist, der erschrickt auch vor der schwersten Sünde des Bruders nicht mehr.“48

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DBW 5, 99. Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologen-Ausbildung Finkenwalde 1935–1937 (Dietrich Bonhoeffer Werke 14, DBW 14), Gütersloh 1996, S. 590. DBW 14, 590. DBW 5, 99.

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Nur auf dieser Basis ist Beichthören möglich, ohne dessen spezifischer Gefahr zu erliegen, nämlich der Ausübung „geistlicher Gewaltherrschaft über die Seelen“.49 Aus diesen Überlegungen ergeben sich nun einige konkrete Anforderungen: (1.) Dass das Beichtgespräch ein Ort absoluter Verschwiegenheit ist, weil es um ein in seiner Tiefe nicht zu übertreffendes Vertrauensverhältnis geht, ist selbstverständlich und dem entsprechend auch kirchen- und staatskirchenrechtlich abgesichert. Es soll dennoch daran erinnert werden, dass es bei der Frage von Schuld, Sünde und Vergebung um den tiefsten Personkern des Menschen geht, den Intimraum des Gewissens, „wo er allein ist mit Gott“.50 Dies ist unbedingt zu achten. (2.) Der Beichthörer muss es verstehen, gut zuzuhören. „Es geht darum, die Person zu hören, nicht einen Sündenkatalog.“51 Das bedeutet konkret, sich in der Kunst des aktives Zuhörens und des diskreten Nachfragens zu üben. Die Fragen sollen zu größerer Konkretheit führen, sind dazu aber immer respektvoll zu stellen und keinesfalls inquisitorisch. Es geht nicht darum, dem Pönitenten mehr Sünden nachzuweisen, als er von sich aus vorlegt, sondern ihm durch klärendes Fragen einen Deutungsschlüssel für die eigenen, oft ja komplexen und nur teilweise durchschaubaren Erfahrungen anzubieten. Ob und wie er dieses Angebot annimmt, muss der Pönitent selber entscheiden. (3.) Der Beichthörer muss daher auch selbst beichten. Das ist nicht nur eine Frage der professionellen Integrität, sondern auch der spirituellen Reife. Denn nur wer die Zerbrochenheit des eigenen Lebens immer neu vor Augen hat, kann ohne die Gefahr der Überheblichkeit die Beichte anderer hören. Und nur so werden Perfektionismus und Härte – gegen sich selbst und gegen andere – vermieden. (4.) Der Beichthörer muss die innere Freiheit aufbringen, die Gewissensentscheidung des Pönitenten anzunehmen und bei ihm zu stehen; auch dann, wenn man als Beichthörender selber der Meinung ist, der Pönitent sähe etwas zu rigoros oder zu lax. Es geht also weder darum, Schuld auszureden, noch darum, ein schlechtes Gewissen zu machen, sondern dem Gewissensurteil des Pönitenten zu vertrauen und ihm auf eben jenes Gewissensurteil die Vergebung der Sünden zuzusprechen. (5.) Dabei muss der Beichthörer sich auch bewusst sein, dass die Beichte in ihrer Tradition immer auch als Instrument zur Sicherung der Konformität mit der Institution gedient hat. Viele Frauen haben die Beichte primär als patriarchale Institution zur Verhaltensnormierung erlebt, sie haben „die Erfahrung gemacht, dass sie in der Beichte eher zum Aushalten, Erdulden, Stillschweigen und Nachgeben angehalten wurden als zum offenen Austragen von Konflikten 49 50 51

DBW 5, 100. Zweites Vatikanisches Konzil: Pastorale Konstitution über die Kirchen in der Welt von heute „Gaudium et spes“ (1965), Nr. 16. Gatta, Julia, Schmith, Martin L., Go in Peace. The Art of Hearing Confession, London 2013, S. 90.

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oder gar zum Denunzieren von Unrecht.“52 Das wurde – und wird im katholischen Bereich bis heute – dadurch verstärkt, dass nur Männer die Beichte hören, was oftmals patriarchale Muster, besonders im Bereich der Sexualität, stabilisiert. So ist heute die Herausforderung an Beichthörer, so viel GenderSensibilität mitzubringen, dass z.B. weibliche Schuld- und Opfererfahrungen als solche ernst genommen und nicht an den einseitig „männlichen“ Konzepten von Sünde und Tugend gemessen werden. Zur Professionalität der Beichthörer gehört also auch ein hohes Maß an Gender-Kompetenz. (6.) Zu guter Letzt braucht der Beichthörer auch ein gutes Gespür und Erfahrung, um dem Pönitenten die richtigen Worte des Trostes und der Weisung mit auf den Weg zu geben. Insbesondere in der katholischen Tradition geht es hier auch um die „Genugtuung“, also die Aufgabe, sich den Folgen der Schuld zu stellen, diese aufzuarbeiten und sich neu in den Weg der Nachfolge Christi einzuüben.

6. Bußwerke (satisfactio) – Konkretisierung der Umkehr Damit ist bereits der letzte Schritt aufgezeigt, den Dietrich Bonhoeffer als „Durchbruch zum neuen Leben“53 bezeichnet. Die Frage nach der satisfactio bildet eines der originären ökumenischen Problemfelder im Zusammenhang mit der Beichte. Das berechtigte reformatorische Anliegen ist es, unmissverständlich am sola gratia festzuhalten, weshalb aus dieser Sicht der Pönitent auch nicht als „Mitsetzer des sakramentalen Zeichens“ und „Mitursache (sakramental-werkzeuglicher Art) der sakramentalen Gnade“ aufgefasst werden kann.54 Dabei sind zwei Problemfelder zu unterscheiden: Zum einen die Frage, ob satisfactio auch eine Wiedergutmachung gegenüber Gott einschließt. Hier sind die Reformatoren sehr klar: Diese Wiedergutmachung ist solo Christo, d.h. allein durch Christus, geschehen und in dieser Dimension tritt der Glaube (sola fide) an die Stelle der menschlichen satisfactio. Das andere Problemfeld bezieht sich auf die Frage nach der satisfactio als zwischenmenschlicher Wiedergutmachung. Auch hier erheben sich von protestantischer Seite kritische Stimmen,55 die sich gegen eine „Zweitteilung“ von Rechtfertigung einerseits und Heiligung anderseits aussprechen,56 und damit auch gegen eine Zweiteilung in Vergebung und wiedergutmachendes Handeln. Eine unzulässige Moralisierung des Glaubens wäre die Folge. 52 53 54 55

56

Silber, Ursula, Nur noch eine Persiflage? Die Frauen und das Sakrament der Versöhnung. In: Diakonia 32 (2001), S. 179–185, 182. Vgl.: DBW 5, 96–97. Peters, Buße – Beichte – Schuldvergebung (s. Anm. 15), 63–64. Vgl.: Hahn, Eberhard, „Ich glaube … die Vergebung der Sünden“. Studien zum Wahrnehmung der Vollmacht der Sündenvergebung durch die Kirche Jesu Christi (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 92), Göttingen 1999, S. 206. So bekanntlich in der reformierten Tradition bereits dezidiert bei Calvin, der im dritten Buch in seiner „Institutio“ die Abschnitte, die von der Heiligung handeln vor diejenigen platziert, die

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Berechtigt ist an diesem Einwand zweifellos, dass eine „Zweiteilung“ im Sinne einer Trennung von Vergebung und Bußwerk – und das hieße in der Konsequenz: von Glaube und Ethik – theologisch fatal wäre. Allerdings spricht gerade die Einheit des Glaubens nicht gegen, sondern vielmehr für eine dem Glauben inhärente praktisch-ethische Dimension, die sich als Konsequenz der Vergebung versteht. Hier hat Dietrich Bonhoeffer mit seiner Rede von der „teuren Gnade“ eine dialektische Denkfigur vorgestellt, die sowohl das „Billigwerden“ der Gnade, d.h. ihre Wertlosigkeit, als auch die „gesetzliche“ Moralisierung des Glaubens verhindert.57 Hinter diese Dialektik sollte man weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite zurückfallen. Versteht man nun Vergebung in diesem Sinne als teure Gnade, so folgt in der Konsequenz, dass deren praktische Umsetzung in der Nachfolge Christi und Wegbereitung des Reiches Gottes einen integralen Bestandteil des Versöhnungsgeschehens darstellt. Vergebung und Versöhnung sind somit weder rein emotional als „Gefühl“ der Befreiung, noch vindikativ (vergeltend) als deren „Abarbeiten“ zu deuten. Vielmehr ist jenseits dieser Alternativen die Versöhnung als relationale Wirklichkeit in konkreten Schritten zu realisieren. In diesem Sinn betont schon Martin Luther den personalen Aspekt und damit die Zukunftsdimension der Vergebung, wenn er die Buße als das neue Leben aus dem Glauben versteht.58 Anders gewendet: Weil die in der Beichte gewährte Vergebung nicht abstrakt, sondern konkret ist, deshalb ist auch das Leben aus dieser Erfahrung konkret, und zwar besonders in dem Bereich, auf den die Vergebung sich bezieht: auf die jene realen Verantwortungsbereiche, wo Sünde vergeben und neue Beziehung ermöglicht wurde. Somit ist das sogenannte „Bußwerk“ auch nicht als Leistung zur Selbstrechtfertigung zu verstehen, sondern als Konsequenz konkreter Bekehrung.59 In der Beichte ist daher darauf zu achten, dass jeder Anschein eines Vergeltungsdenkens vermieden und deutlich gemacht wird, dass der durch Reue, Bekenntnis und Vergebungsbitte begonnene Prozess der Aussöhnung in praktisches Tun münden muss – vorrangig in die konkrete Wiedergutmachung gegenüber direkt oder indirekt Betroffenen. Dabei steht nicht die Leistung, sondern die „Konstitution von Gemeinschaft“60 im Zentrum, wodurch sich die satisfactio als integraler Bestandteil

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von der Rechtfertigung handeln. Vgl. Inst. III, 6–10 und 12–18. Einführend zu Calvin: Plasger, Georg, Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen 2008. Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge (Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 4 (= DBW 4)), Kuske, Martin, Tödt, Ilse (Hrsg.), Gütersloh 1989, S. 29–43. Vgl.: Hahn, „Ich glaube … die Vergebung der Sünden“ (s. Anm. 55), 176–178. Vgl.: Schlemmer, Karl, Buße und christliche Existenz. In: ders. (Hrsg.), Krise der Beichte – Krise des Menschen? Ökumenische Beiträge zur Feier der Versöhnung (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 36), Würzburg 1998, S. 133–153, 137–138. Sauter, Gerhard, Versöhnung und Vergebung. Die Frage der Schuld im Horizont der Christologie. In: Evangelische Theologie 36 (1976), S. 34–51, 39.

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der Umkehr erweist.61 Dementsprechend betont ja auch das Augsburger Bekenntnis: „Hierauf müssen gute Werke folgen, die die Früchte der Buße sind“62 – es handelt sich also nicht um eine Voraussetzung der Vergebung, aber auch nicht um etwas Nebensächliches, wie das Verbum „debere verdeutlicht, das ja eine Verpflichtung ausdrückt. Die satisfactio als geschichtliches Handeln des Menschen weist nun eine Vergangenheits- und eine Zukunftsdimension auf, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Die Vergangenheitsdimension bezieht sich auf die Aufarbeitung der objektiven Sündenfolgen, d.h. der „durch Schuld bedingten Wirklichkeiten unseres eigenen geschichtlich sich formenden Daseins, die, der Schuld entsprungen, diese überleben.“63 Durch diese Deutung der „zeitlichen Sündenstrafen“ als „Objektivationen“ der Schuld bleibt der Vergangenheitsbezug der satisfactio gewahrt, ohne einem Vergeltungsdenken zu verfallen. Die Aufarbeitung der Sündenfolgen weist wiederum zwei Dimensionen auf: Zum einen muss sie – soweit möglich – real-kompensatorisch erfolgen, denn die Wiedergutmachung von Schaden ist eine wesentliche Konsequenz der Reue und damit integraler Bestandteil des Versöhnungsprozesses. Anderseits aber stößt jeder Versuch der Wiedergutmachung an Grenzen, weil Schuld stets auch ein Moment des Irreversiblen in sich trägt. Wo nun eine reale Wiedergutmachung nicht möglich ist, dort ist immerhin symbolisches Handeln angezeigt, das die Selbstdistanzierung von der Sünde zum Ausdruck bringt und zugleich an anderen Menschen – gleichsam stellvertretend – das Gute tut, das man den direkt Betroffenen verweigert hat. Es wird also auch die überindividuelle strukturelle Dimension der Schuld anerkannt und bearbeitet. Die Zukunftsdimension wiederum erschließt sich darin, dass „die wahre Buße (…) darin [besteht], Verkrümmung und Verschlossenheit aufzuheben.“64 Wo die incurvatio aufgehoben ist, dort ist verantwortliches Handeln in der Wegbereitung des Reiches Gottes die selbstverständliche Konsequenz – es eröffnet sich eine neue Zukunft mit eschatologischem Ausblick. Denn sowohl die Wiedergutmachung als auch das „neue Leben“ stehen unter eschatologischem Vorbehalt: Nicht alles kann wieder gut gemacht werden; vieles entzieht sich bleibend den Möglichkeiten menschlicher Praxis. Hier wird nun die Berechtigung – wie auch die Grenze – der im katholischen Raum noch verbreiteten „Gebetsbuße“65 erkennbar. Sie ist ver-

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Vgl.: Gestrich, Christoph, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, 2. Auflage, Tübingen 1996, S. 343. „Deinde sequi debent bona opera, quae sunt fructus poenitentiae“ (CA 12). Hervorhebung durch die Verfasser. Rahner, Karl, Kleiner theologischer Traktat über den Ablaß (1955). In: ders., Sämtliche Werke 11, Freiburg i. Br. 2005, S. 492–503, 494. Weber, Helmut, Allgemeine Moraltheologie. Ruf und Antwort, Graz 1991, S. 311. „Gebetsbuße“ bezeichnet die im katholischen Bereich verbreitete Praxis, als Bußwerk bestimmte Gebete zu verrichten. Traditionell sind das oft das „Vater unser“ oder das „Ave Maria“; in einem

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tretbar und sinnvoll, sofern hinreichend klar ist, dass das Gebet nicht einen „Ersatz“ für persönliches Tun darstellt, sondern „stellvertretend“ für das Handeln steht – d.h. als Ermöglichung und Vorbereitung für konkretes Tun, das als Konsequenz aus dem Gebet hervorgeht. Das Gebet verankert so das Handeln in Gott und macht dessen Transzendenzdimension bewusst; das Handeln wiederum erdet das Beten und macht es konkret. Das alles trifft sich durchaus mit Luthers Betonung der „Früchte der Buße“, also dem Leben nach dem Evangelium. Der reformatorische Widerspruch muss sich aber dort zu recht erheben, wo Bußwerke und Schuld nicht mehr in einem erkennbaren Zusammenhang stehen, wo es also nur darum geht, „etwas zu leisten“, um die Vergebung zu erlangen. Ein solches Verständnis widerspräche fundamental dem Prinzip der Rechtfertigung sola gratia, zu dem sich auch die katholische Kirche bekennt.

7. Neu anfangen können. Vergebung und Versöhnung als kirchlich-gemeindliches Handeln In der altkirchlichen Praxis, wo der Status des Büßers grundsätzlich öffentlich war – verbunden mit einem zeitweiligen Ausschluss von zentralen kirchlichen Vollzügen –, war auch die Feier von Buße und Versöhnung ein öffentliches liturgisches Geschehen unter der Leitung des Bischofs und unter Teilnahme der gesamten Gemeinde. Hier wurde im Vollzug deutlich, dass die Versöhnung mit der Gemeinde und die Versöhnung mit Gott eine Einheit darstellen. Dagegen ist mit der Privatisierung des Bußsakraments im Mittelalter auch die Rolle der Gemeinde in den Hintergrund getreten, was sich bis heute in den Kirchen auswirkt. Im katholischen Bereich hat auch die Neuordnung der Liturgie durch das Zweite Vatikanum wenig verändert. Zwar kennt der Ordo Paenitentiae von 1973 gemeindliche Formen der Buße und Versöhnung, aber dass die Gemeinde nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Versöhnung ist, wird liturgisch nicht hinreichend erfahrbar. Einen Schritt weiter geht die Enzyklika Papst Johannes Pauls II. Reconciliatio et paenitentia (1984), wenn sie festhält, dass die Versöhnung mit Gott durch die Kirche geschieht66 – aber auf welche Weise dieses Geschehen mit der Versöhnung in und mit der Kirche zusammenhängt, bleibt offen. So ist zwar die Kirche als Heilsmittlerin im Blick, der Bezug zur konkreten Gemeinde bleibt jedoch rudimentär. Es wäre also angezeigt, die Rolle der Kirche wieder umfassender in den Blick zu nehmen: Die Kirche als Gemeinschaft derer, die Christus nachfolgen und sein Heilshandeln in der Welt präsent halten, steht in Solidarität mit der Welt und

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erneuerten Bußverständnis geschieht dies oftmals in der Form der Fürbitte, etwa für einen bestimmten Menschen oder ein bestimmtes Anliegen. Johannes Paul II., Enzyklika Reconciliatio et paenitentia (1984), Nr.11.

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trägt daher solidarisch die Sünde der Welt mit.67 Als Zeichen und Werkzeug der Versöhnung kann und darf sich die Kirche also nicht heraushalten; sie ist ein Ort für jene „signifikante Erfahrung“68, aus deren Kraft das ganze Leben eine neue Orientierung gewinnen kann. Der Gemeinde kommt darin eine doppelte Aufgabe zu: Sie führt einerseits durch die Konfrontation mit einem alternativen Lebensmodell in die Krise, d.h. sie konfrontiert mit dem Gesetz; andererseits stellt sie lebbare Alternativen zur Verfügung, d.h. sie verkündet in Wort und Tat das Evangelium, und hilft so, die Krise einer Lösung zuzuführen. Dietrich Bonhoeffer bringt als weiteren ekklesiologischen Gedanken den der Stellvertretung ein. Die Kirche repräsentiert mit Christus „nicht die Verklärung hohen Menschentums, sondern das Ja Gottes zum wirklichen Menschen“69. Es geht ihr also nicht um moralische Perfektion, sondern vielmehr um die Vergebung der Sünden durch stellvertretendes (Er-)Tragen der Sünde des anderen.70 Und zwar wiederum nicht aufgrund eines ekklesiologischen Ideals, sondern allein aus „Liebe zum wirklichen Menschen“71. So und nur so wird die Kirche zum „Ort der persönlichen und gemeinschaftlichen Wiedergeburt und Erneuerung“72, und damit zu einem Ort, an dem jeder und jede neu anfangen kann.

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Vgl.: Ragaisis, Mindaugas, Umkehr ins Gespräch bringen. Der Beitrag von „kommunikativen Glaubensmilieus“ zur Erneuerung der Bußpraxis (Erfurter Theologische Studien 91), Würzburg 2006, S. 81–94. Ragaisis, Umkehr (s. Anm. 57), 113. DBW 6, 71. Vgl.: DBW 6, 136. DBW 6, 275. Hervorhebung durch die Verf. DBW 6, 126.

Die Autoren Glettler, Hermann (1965). Studium kath. Theologie und Kunstgeschichte. 1991 zum Priester geweiht. Pfarrer im Pfarrverband St. Andrä und Karlau in Graz, Österreich. Seit 1987 Mitglied in der katholischen Gemeinschaft Emmanuel. Hermann Glettler ist neben seiner Tätigkeit als Pfarrseelsorger auch im Bereich Asyl und Integration sowie als Kurator für zeitgenössische Kunst tätig. Herbst, Michael (1955). Professor für Praktische Theologie an der Ernst-MoritzArndt Universität Greifswald und Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) in Greifswald. Forschungsschwerpunkte sind Fragen der Kirchentheorie und des missionarischen Gemeindeaufbaus, der Homiletik und der Seelsorge. Er ist Mitherausgeber der „Theologische Beiträge“ und Mitglied im Theologischen Ausschuss der VELKD. Pock, Johann (1965). Professor für Pastoraltheologie und Kerygmatik an der Universität Wien. Veröffentlichungen zu Sakramenten- und Gemeindepastoral sowie zu Fragen der Verkündigung. Prüller-Jagenteufel, Gunter M. (1964). Ao. Professor für Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Schwerpunkte der Forschung und Publikation sind die Theologie und Ethik Dietrich Bonhoeffers sowie interkulturelle Theologie, vor allem die Theologien der Befreiung in den Philippinen und in Lateinamerika. Schaupp, Klemens (1952). Professor im Bereich Palliative Care an der Paracelsus medizinischen Privatuniversität Salzburg, Psychologischer Psychotherapeut, Geistlicher Begleiter und Exerzitienbegleiter. Schliesser, Christine (1977). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialethik/Ethik-Zentrum der Universität Zürich und Junior Research Fellow am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) der Universität Basel. Ihre Veröffentlichungen umfassen die Theologie und Ethik Dietrich Bonhoeffers, Bioethik, Konflikt- und Versöhnungsforschung sowie die Rolle von Religion in der Armutsbekämpfung. Wüstenberg, Ralf K. (1965). Professor für systematische und historische Theologie an der Europa-Universität Flensburg und Visiting Fellow an der Universität Cambridge. Ralf Wüstenberg ist Autor zahlreicher Fachbücher zu Dietrich Bonhoeffer und Themen politischer Versöhnung sowie zu Einführungen in die Theologie und Christologie.

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Die Autoren

Zehner, Joachim (1957). Privatdozent für systematische Theologie an der HumboldtUniversität zu Berlin, Superintendent im Kirchenkreis Potsdam, Kurator in der Stiftung Garnisonkirche – Versöhnungszentrum. Joachim Zehner ist Autor von Büchern zum Zweiten Vatikanischen Konzil und Ökumenischen Rat der Kirchen, zum interreligiösen Dialog, zur politischen Dimension der Vergebung und zur Methodik der systematischen Theologie. Zimmerling, Peter (1958). Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorge und Spiritualität an der Universität Leipzig. Peter Zimmerling hat zahlreiche Bücher zu Seelsorge, Spiritualität, charismatischen Bewegungen, Dietrich Bonhoeffer, theologischer Frauenforschung und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf veröffentlicht.

Personenregister Abaelard, Petrus 160 Albrecht, Peter-Alexis 62f. Anselm von Canterbury 160 Arnold, Markus 187f., 192f., 198 Asmussen, Hans 110, 173f. Assmann, Aleida 83f., 93 Augustinus 136 Barth, Karl 68, 73, 173–175, 208 Bataringaya, Pascal 89f., 95 Baumgartner, Konrad 188, 221, 227 Bebber, Werner v. 62 Bezzel, Ernst 99, 178f. Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela 61 Bloth, Peter 61 Blumhardt, Johann Chr. 108f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 67 Böhme, Wolfgang 111, 176, 185 Braun, Reiner 185, 205 Bugenhagen, Johannes 105 Calvin, Johannes 107, 230 Columban der Jüngere 102 Dahlgrün, Corinna 113, 116f., 119, 128, 138, 179, 218, 222 Derrida, Jacques 88, 150 Domian, Jürgen 180 Drehsen, Volker 61 Enns, Fernando 85f. Erikson, Erik H. 52 Falconer, Alan 88, 90, 95 Frehsee, Detlev 62, 64 Freud, Sigmund 50f., 59, 134 Gabriel, Karl 44 Gestrich, Christof 61, 64, 148, 225, 232 Häring, Bernhard 51, 142 Haslinger, Herbert 188, 193 Henke, Thomas 179 Hesse, Hermann 211 Hiddemann, Frank 180 Hirsch, Matthias 124 Honecker, Martin 68 Ignatius von Loyola 47, 54 Iräneus von Lyon 137 Jakobs, Monika 202 Jaspers, Karl 134f.

Johannes Paul II. 113, 140, 167, 212, 233 Josuttis, Manfred 109, 119, 180 Kaiser, Günther 62 Keller, Timothy 131 Klessmann, Michael 119, 126f., 128 Konstantin der Große 46, 100 Kuhn, Annemarie 62–64, 66 Laub, Dori 83, 87 Lellis, Camillo de 41f., 47, 54, 60 Löhe, Wilhelm 108f. Mandela, Nelson 12, 69 Marks, Erich 62 Melanchthon, Philipp 72, 79, 151, 157, 213 Metz, Johann B. 94 Mezger, Manfred 117f. Morgenthaler, Christoph 118, 124f. Mujawayo, Esther 82, 90, 92f. Müller, Wunibald 202 Nicol, Martin 118 Nikon, Igumen 112 O’Connor, Flannery 131 Orwell, George 84f. Pius X. 113, 165 Plaskow, Judith 141 Rahner, Karl 112, 140, 165, 169, 188, 219, 232 Reus, Juliane 188, 193 Ricœur, Paul 83f., 93f. Rössler, Dietrich 61, 116 Roxin, Claus 62, 64, 66 Scharfenberg, Joachim 22, 118, 177f. Scheule, Rupert 103, 160, 187f. Staupitz, Johannes v. 47 Tauler, Johannes 183 Tetzel, Johann 104 Thenner, Leo 200 Thomas von Aquin 161, 213 Thurneysen, Eduard 173f., 183 Tillich, Paul 45, 48, 141 Tutu, Desmond 88 Vianney, Johannes M. 112 Wahl, Heribert 189 Wiesnet, Eugen 68

238

Sachregister

Zehr, Howard 86

Ziemer, Jürgen 118, 122f., 128

Sachregister Abendmahl/Eucharistiefeier 66, 100, 109, 153, 175, 191f., 194, 206f., 211 Ablass 72, 104f. Absolution/Lossprechung 11, 23, 25– 28, 30, 38f., 65, 71, 74–76, 85, 101, 104–106, 109, 114–116, 119, 128, 152–157, 159, 161, 163f., 166–169, 177, 191–194, 197–199, 201, 203, 205, 208, 211, 214, 216–218, 222– 224 Amnestie 69f., 72, 77, 80 Amt der Schlüssel/Schlüsselgewalt 61, 155, 163f. Anbetung 195f. Angst 22, 42, 45–52, 59, 63, 92, 134, 168, 170, 218 Augsburger Bekenntnis/Confessio Augustana 12–14, 71f., 76, 79, 151, 159, 161, 163, 207, 209, 213, 215, 220, 232 Aussprache 30, 108, 111, 113, 201 Barmherzigkeit 16f., 28, 34, 72, 79, 166, 195f., 207f., 227 Begleitung 30, 33, 39, 44, 47, 53f., 56– 58, 92f., 106, 119, 184, 202f., 220, 225, 228 Beichtangebot 25, 123 Beichtformen 113, 184f., 190 Beichtgespräch/Gespräch 22, 26, 31, 37, 47, 56, 63–66, 80, 104, 106, 109, 113, 118, 123f., 126f., 129, 134, 174f., 177, 179f., 183f., 186f., 195f., 199–201, 203, 207, 209, 214, 229, 234 Beichtpflicht 103, 113, 167, 225 Beichtspiegel 34, 36, 129, 197, 213 Beichtstuhl 14, 25f., 31, 33, 37, 69, 104, 119, 197, 202 Beichtvater 26, 47, 105, 107, 112, 116, 164, 169, 179 Bekennende Kirche 24, 110f., 117, 174, 176 Bilanz 77, 128f.

Bußpraxis 33, 35f., 38, 49, 51, 103, 134, 154, 159f., 166, 186–188, 192, 217, 234 Bußwerk 80, 100, 163f., 169, 199, 227, 230–232 Confessio Augustana s. Augsburger Bekenntnis/Confessio Augustana coram deo 27, 156f. Durchbruch 24f., 60, 150, 175, 207f., 210–212, 215, 221f., 226, 230 Erinnerung 12, 71, 82–85, 89f., 93f., 110, 143, 184, 224 Erstbeichte 187f., 193, 199, 204 Ethik 13, 49, 68, 101, 134f., 137, 148, 184, 203, 205, 209f., 221, 231, 235 Eucharistiefeier s. Abendmahl/ Eucharistiefeier Evangelium 16, 22, 24, 35, 40, 56, 71, 78f., 81, 105–107, 139, 152, 154f., 158, 161, 163, 176, 183, 214, 217, 220, 227, 233f. Feindschaft gegen Gott 73 Fundamentaloption 137f., 219 Gemeinschaft 17, 32f., 39, 41, 60, 64–66, 68, 86f., 89f., 111, 135, 140, 150, 169, 175f., 191, 194f., 199, 203, 206–208, 210, 215, 217f., 224f., 231, 233, 235 Gerechtigkeit 75, 82f., 85f., 88, 91, 95, 104f., 113, 143, 154, 157 Gericht Christi 68 Gespräch s. Beichtgespräch/Gespräch Gesetz und Evangelium 81, 139, 156, 214 Gewissen 22, 25, 51, 71, 73, 102f., 105– 108, 124, 152f., 155, 194, 226, 229 Gewissheit 25, 60, 76, 103, 132, 175, 212f., 215, 222 Glaubenserfahrung 33, 57 Gnade 16f., 26, 28, 32, 42, 47, 57f., 72, 101, 104f., 115f., 131f., 141, 147, 150, 161f., 163–165, 167, 175, 207, 211f., 214, 223, 226, 230f. billige G. 115, 175, 211

Sachregister

teure G. 211, 223, 231 Heilmittel 102f., 112 Identität 39, 52f., 84 incurvatio 140, 221, 226, 232 Katechese 189, 204, 225 Katechismusprüfung 108 kerygmatischen Seelsorge 173, 177 Kirchenrecht 167, 193f. Kirchenzucht 107 kirchliches Lehramt 159, 168, 204 Kommunitäten 111, 117, 176 Konfirmandenunterricht 185 Konzil von Trient 47, 112, 159f., 164, 219, 223 Krankensalbung 200f. Kreuz 16, 24, 26, 42, 47, 113, 127, 130, 175, 208–211, 215, 218f., 221, 226, 228 Laienbeichte 186, 201 Lossprechung s. Absolution/Lossprechung Lumen gentium 165f., 208 Nachfolge 99f., 105, 119, 165, 209, 211f., 223, 225f., 230f. Neuschöpfung 68 Ohrenbeichte 14, 33, 116, 194, 198 Opfer 218 ordo paenitentiae 166, 190, 233 Person und Tat 71, 75 Pietismus 108, 116 Psychologie 61, 125, 174, 180, 184, 220 Rechtfertigung/Rechtfertigungslehre 22, 30, 104, 139, 151f., 154, 157, 161, 164, 174, 182, 211, 216, 222, 226, 230f., 233 Religionsunterricht 62, 184, 200 Säkularisierung 67, 87 Scham 11, 52, 73, 127, 156, 209f., 219, 221 Schlüsselgewalt s. Amt der Schlüssel/Schlüsselgewalt Schuldbekenntnis/Sündenbekenntnis 22, 24, 28, 32, 38, 56, 74, 91, 92f., 100, 109, 116, 127, 138, 150, 168, 175, 178, 182, 191f., 207, 216–218, 220, 224

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Schulderfahrung 30, 49–52, 123, 133– 135, 181, 226, 228 Schuldfähigkeit 128 Schuldgefühl 51, 124, 135, 181, 219, 226 Selbstvergewisserung 180 Skrupel 51 Spiritualität 15, 34, 54, 57, 111, 164, 176, 180, 203 Starzen 112 Stellvertretung 207, 224f., 228, 234 Strafgesetzbuch 62f. Strafprozessordnung 63 Subsidiaritätsprinzip 63 Sündenbekenntnis s. Schuldbekenntnis/Sündenbekenntnis Sühne 66, 80, 85, 145f., 212 Täter-Opfer-Ausgleich 62–68, 78 Taufe 27, 32, 37, 46, 57, 87, 110, 112, 152f., 162, 165, 194, 210f. Therapie 38, 52, 58, 180f., 190, 202 Todesstrafe 68 Umkehr 12, 31, 34f., 37, 41, 46, 54–56, 73, 102, 104, 134, 145, 147, 149, 160, 167, 170, 186–188, 193, 197, 200, 210, 215, 219, 222f., 225f., 230, 232, 234 Unterscheidungsfähigkeit 125, 136 Vaterunser 120, 192 Verantwortung 35, 43, 56, 61f., 95, 101, 122, 128, 130, 133–143, 147–150, 182, 203, 210, 218–222, 227, 232 Verantwortungsübernahme 110, 142, 225 Vergebung 61f., 64, 67f., 78, 150 Vergessen 83f., 93f., 143, 148 Verschwiegenheit 22, 66, 120, 229 Versöhnung/Versöhnungsfeier/ Versöhnungsweg 35f., 67f., 75f., 78, 81f., 94f., 140, 186, 190, 198–201 Völkermord 12, 82, 89, 95 Wahrheits- und Versöhnungskommission 12, 61f., 69f., 75, 77f. Wallfahrt 32 Werke 21f., 24, 42, 55, 60, 79f., 105– 109, 114, 140, 152, 155, 157, 175,

240

Sachregister

183, 205f., 208f., 212, 220f., 224, 228, 231, 232 gute W. 42, 79, 140, 152, 154f., 157, 212, 232 Wiedergutmachung 32, 63–65, 78–80, 86f., 143, 148, 160, 165, 218, 220, 230–232

Wort Gottes 38, 72, 183, 212, 223 Würde 23, 71 Zerknirschung 73, 152, 155 Zweites Vatikanum 164, 166–169, 208, 233