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German Pages [305] Year 2012
Josef Franz Thiel
FR E M D – ZU HAUS E Eine donauschwäbische Kindheit 1932–1947
Mit einer CD : Probe der Sprache der Filipowaer
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Gedruckt mit der Unterstützung durch:
Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien
Zukunftsfonds der Republik Österreich
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Meinen Eltern Balthasar und Eva Thiel in Dankbarkeit und Verehrung
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Filipowa – zwanzig Jahre danach . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Die Katastrophe – warum nur ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3. Filipowa – ein Dorf in der Batschka . . . . . . . . . . . . . . 39 4. Volksreligion in Filipowa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5. Kindheit im Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 6. Geschichtliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 91 7. Jahre der Zwietracht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 8. Schreckensherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 9. Fastenzeit und Ostern 1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 10. Konzentrationslager Gakovo . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 11. Besuch in Filipowa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 12. Zwischenspiel in Karbok . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
8 : Inhaltsverzeichnis
13. Maschinist in Miltitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 14. Die große Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Bibliografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Orts- und Flussnamen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Sprachproben aus Filipowa zu Fremd – zu Hause . . . . . . . . 300
Vorwort
Über die Volksdeutschen Südosteuropas ist schon viel und aus verschiedenen Perspektiven geschrieben worden. Besonders reichlich ist die Literatur über die deutschsprachigen Bewohner der Wojwodina, d. h. der Batschka, des westlichen Banats und der Südbaranya im Donau-DrauEck. Prinzipiell lassen sich drei große Stränge von Berichten unterscheiden. Da sind einmal die der Donauschwaben, die der Jugoslawen, und zwar besonders jene der Serben, und die der Wissenschaftler der Ost-Institute, vornehmlich jener aus Deutschland. Die Schriften der Donauschwaben sind bei Weitem die zahlreichsten. Es gab nach ihrer Flucht und Vertreibung jahrzehntelang Wochenzeitungen wie »Neuland« oder »Der Donauschwabe«, mehrere Zeitschriften, Kalender, Berichte, viele Dorfmonografien und Heimatbriefe. Es gibt aber auch eine Reihe von Werken, die nicht die Heimatpflege zum Ziel haben, sondern sich bisweilen auch kritisch mit der Geschichte der Donauschwaben auseinandersetzen. Allerdings gewinnt man bei einigen dieser Arbeiten den Eindruck, dass sie in der Wolle »braun« eingefärbt sind und eine vorgefasste Meinung kolportieren. Um parteiisch zu sein, braucht man gar nicht die Unwahrheit zu sagen, man muss nur jene Fakten und Aussagen, die der eigenen Überzeugung widersprechen, weglassen. Zu dieser Art von Autoren zähle ich Johann Wüscht, Josef Beer, Sepp Janko und andere. Sie waren exponierte Anhänger des Nationalsozialismus und suchen ihr damaliges Tun und ihre Gesinnung zu rechtfertigen.1 1 Wüscht, auch Wuescht, schreibt in seiner autobiografischen Notiz 1969 : 350 : »Die
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Die donauschwäbischen Berichte handeln vielfach von den Ereignissen ab 1944/45, die serbischen vom Jahrzehnt davor. In kommunistischer Zeit galt es jugoslawischen Autoren als Dogma, dass alle Donauschwaben im Krieg eine Kollektivschuld auf sich geladen hätten und deshalb zu Recht von Haus und Hof vertrieben oder gar liquidiert worden seien. Wenn die serbischen Autoren die Zeit nach 1944/45 überhaupt aufgreifen, dann nicht um Fakten zu recherchieren, ob es rechtens war, die Donauschwaben aufgrund ihres deutschen Ursprungs zu vertreiben, sondern um fast nur Negatives über sie zusammenzutragen, um darzutun, dass ihre Bestrafung zu Recht erfolgt ist. So konnte Marschall Tito im Sommer 1945 in einer Radiosendung erklären : »In Jugoslawien besteht das Problem der deutschen Minderheit nicht mehr !« Lässt sich so leicht ein Schlussstrich unter Tod und Vertreibung Hunderttausender ziehen, die seit 200 Jahren im Lande lebten und es zu einer Kornkammer gemacht hatten ? Milovan Djilas erwähnt in seinen Memoiren (deutsch 1983), dass es bei der Konstituierung des kommunistischen Staates nur mehr um die Minderheit der Magyaren und Kosovaren ging ; die Frage der deutschen Minderheit taucht dabei überhaupt nicht mehr auf. Ähnlich äußerte er sich auch schon in seinem Buch »Der Krieg der Partisanen« (deutsch 1978 : »… das Schicksal der deutschen Bevölkerung war sozusagen vorbestimmt …«). Am 21. November 1944 hatte der AVNOJ (Antifaschistischer Rat der nationalen Befreiung Jugoslawiens) in seiner ersten Sitzung in Belgrad als ersten Beschluss gefasst, »daß sämtlichen Menschen deutscher Volkszugehörigkeit in Jugoslawien die Bürgerrechte genommen werden«2 (DoGegensätze zogen ihn an, und er begann jede Unterdrückung zu hassen.« Er glaubt, dass sein nationales Bewusstsein in den späteren Jahren auch nur eine Spielart der Reaktion auf die Unterdrückung war. Er gibt aber nicht an, von welcher Seite diese Unterdrückung kam. Im April 1942 wurde er »von der VOMI [›Volksdeutsche Mittelstelle‹ in Berlin, ›Hitlers SS-Organisation‹, so H. Sundhaussen] zum Volksbund Budapest beordert …« 2 »Aufgrund dieses ersten Beschlusses über die Ausbürgerung der Deutschen wurde
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kumente zur Geschichte der Donauschwaben 1944–1954, Salzburg 1954 : 9). Die von jugoslawischen Autoren gebetsmühlenhaft wiederholte Kollektivschuld der Donauschwaben hat durch die Ereignisse in Jugoslawien im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts viel von ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Massaker und Vertreibungen im ausgehenden 20. Jahrhundert im Kosovo und in Bosnien zeigen, dass neben der vorgeschützten Kollektivschuld der Deutschen noch andere Gründe, die von jugoslawischer Seite wohlweislich verschwiegen werden, bei der Vernichtung und Vertreibung der Donauschwaben eine Rolle gespielt haben müssen. Der Hunger nach fruchtbarem Ackerland und die Vertreibung der Minderheiten vom reklamiert »historischen serbischen Staatsgebiet« haben serbische Politiker bereits umgetrieben, als das Staatsgebilde Jugoslawien noch gar nicht existierte.3 Die Idee vom Reich der Südslawen war eine Utopie, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat. Kenner der heterogenen Aspirationen der Völker auf dem Balkan sagten diesem Gebilde schon vor seiner Entstehung keine Lebensfülle voraus. Gut sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Dezimierung und Vertreibung der deutschen Minderheit sollte es vielleicht möglich sein, objektiver als bisher über das »dunkle Jahrzehnt« von Mitte der 1930er-Jahre bis zur Auslöschung der Präsenz der Donauschwaben in Jugoslawien zu berichten. Die Akteure, die dieses Jahrzehnt aktiv mitgestaltet haben, leben nicht mehr. Jene, die heute darüber schreiben, haben diese Jahre höchstens noch als Kinder oder Jugendliche erlebt, und sie haben damals keine politischen Weichen gestellt. Die katastrophalen gleich darauf und am nämlichen Tage ein Gesetz erbracht, durch welches die Konfiskation des gesamten beweglichen und unbeweglichen Vermögens der Menschen deutscher Nationalität angeordnet worden ist« (Dokumente 1954 : 9). 3 Der berühmte Vuk Karadžić hat für die Massaker an Muslimen in Belgrad bereits 1807 »das Verb ›säubern‹/očistiti (ethnische Säuberungen)« verwendet (Prof. Dr. E. von Erdmann 2005 : 8, in : FAZ, Leserbrief ).
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Geschehnisse dieses »dunklen Jahrzehnts« sollten von Augenzeugen für die Nachwelt festgehalten werden, auch wenn sie von persönlichen Erlebnissen und bisweilen von Emotionen geprägt sind ; man darf diese Zeitläufte nicht den Ideologen der einen oder anderen Seite oder gar der Vergessenheit überlassen ! Es liegen über diese Jahre zwar viele Berichte vor, aber oft waren ihre Autoren derart in die Ereignisse verstrickt, dass es ihnen gar nicht möglich sein konnte, darüber unvoreingenommen zu schreiben. Ihr Ziel war es, ihr Tun und ihren Standpunkt als den allein richtigen darzustellen. Sie verschleierten und beschönigten ihre Taten, um sich vor der Nachwelt zu exkulpieren. Wer sich ihrer Darstellungen bedient, sollte nach allen Seiten Vorsicht, ja sogar Misstrauen, walten lassen. Der Großteil des nach der Vertreibung verfassten Schrifttums der Donauschwaben hat jedoch vor allem folkloristischen Charakter ; darin fehlt die politische Diskussion fast ganz. Eine geschichtliche Darstellung der Katastrophe der Donauschwaben muss aber die ganze Wahrheit in ihre Untersuchung einbeziehen : sowohl die Jahre vor 1944 als auch jene danach. Aus meinem persönlichen Erleben ergibt sich weder eine Kollektivschuld, noch kann ich jener Behauptung zustimmen, Donauschwaben wie deutsche Besatzer hätten sich dem jugoslawischen Staat wie seinen staatstragenden Völkern gegenüber immer rechtlich korrekt verhalten. Die vom Nationalsozialismus des Deutschen Reiches infizierten »Erneuerer« hatten nach 1935 die donauschwäbischen Gemeinden für ihre Ideen zu gewinnen gesucht. Damit trieben sie einen Keil in die Dorfgemeinschaften : Ein Teil neigte dem Nationalsozialismus, der andere dem kirchlich konservativen Block zu, der gerne als »Magyaroner« oder »Schwarze« apostrophiert wurde. Beide Lager standen sich mit der Zeit so unversöhnlich gegenüber, dass sogar engste Verwandte nicht mehr miteinander redeten. Wenn man einander im Dorf begegnete, wechselte man die Straßenseite. Da alle Donauschwaben das gleiche Schicksal der Entrechtung und Vertreibung erlitten hatten, suchten sie in der neuen Heimat ihre alten
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Antagonismen zu vergessen und zu überdecken. Jetzt erinnerte man sich mit Wehmut an die frühere Zeit und verklärte sie. Die meisten wollten scheinbar gar nicht mehr wissen, wie das dunkle Jahrzehnt (1935–1945) die Dorfgemeinschaften zerrissen hatte. Man suchte nach Jahren der Zwietracht die Harmonie und wollte den Riss, der bis zur Katastrophe 1944 durch die Gemeinden ging, aus der Erinnerung tilgen. Die Frage nach der Schuld für den Verlust der Heimat wird in dieser Literatur, wenn überhaupt, nur ganz zurückhaltend gestellt und meist einseitig beantwortet, d. h. man sieht sich ausschließlich als Opfer. Sollten jene, die in die Geschehnisse involviert waren, doch einmal auf die Schuldfrage zu sprechen kommen, dann bieten sie alle Kunstgriffe auf, um sich als Verführte oder Unwissende darzustellen. Sogar die Rädelsführer empfinden sich als verführte Opfer des Nationalsozialismus – ein Musterbeispiel hierfür liefert der Volksgruppenführer Sepp Janko in seinem Buch von 1983. Es ist menschlich verständlich, dass sich niemand gerne als Schuldigen bloßstellt. Reue über vergangenes Tun zu empfinden und das vor der Öffentlichkeit zuzugeben, verlangt charakterliche Größe. Dass nicht jeder diese Kraft aufbringt, ist begreiflich, wenn auch nicht zu entschuldigen. Unverständlich ist mir aber, dass intelligente Menschen, die den Tod von Abertausenden gesehen, die Katastrophe miterlebt, ihr vielleicht sogar aktiv zugearbeitet und Schuld auf sich geladen haben, indem sie andere zur Waffen-SS trieben, bis zu ihrem Ende noch immer der Ideologie des Nationalsozialismus anhingen. Aus Fehlern, eigenen wie fremden, nicht zu lernen, zeugt von Dummheit und Borniertheit. Man kann die Ursachen einer Tragödie nicht immer nur bei den anderen suchen. Wir Donauschwaben müssen auch bereit sein, einzugestehen, dass wir ein gerüttelt Maß an Schuld an unserer eigenen Tragödie mitzuverantworten haben. Nur immer wegzusehen und sich zu ducken, wenn es um die Ursachen der Katastrophe geht, zeugt, weiß Gott, nicht von charakterlicher Größe. Oft gewinne ich bei der Lektüre mancher donauschwäbischer Autoren den Eindruck, dass sie Filter zwischen ihre
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Aussagen einbauen, um ihre wahre Gesinnung zu verschleiern. Aber bereits an ihrer Diktion und Wortwahl ebenso wie an den Themen, die sie ansprechen oder unterdrücken, drängt ihre alte »braune« Ideologie ans Tageslicht4. Manche hängen auch heute noch der Chimäre an, zur Herrenrasse zu gehören ! Es gibt weder Herren- noch Sklavenrassen ! Beliebt ist auch die Aussage, dass man von den Gräueltaten der deutschen Besatzungsmacht im Krieg auf dem Balkan nichts mitbekommen habe. Johann Wüscht sucht sogar zu beweisen, dass die deutschen Besatzer (1941–1944) immer rechtlich korrekt gehandelt hätten. Man liest deshalb auch mit einer gewissen Verwunderung bei Wendelin Gruber, einem Jesuitenpater aus Filipowa, der im kroatischen Raum ausgebildet worden ist, was er zur Ursache der donauschwäbischen Katastrophe zu sagen hat. In seinem Buch »In den Fängen des roten Drachen« (1986) legt er seine Aussage in den Mund des Lagerseelsorgers von Gakewa, Matthias Johler. Aus dem ganzen Kontext geht hervor, dass sie zumindest auch seine Überzeugung ist. Gruber schreibt (S. 43) : »Nun bat ich Matthias, noch weiter auszuholen und mir zu erklären, wieso
es überhaupt so weit kommen konnte. War dieser offensichtliche Versuch
einer systematischen Ausrottung der Donauschwaben vorauszusehen gewesen ?
›Wenn wir gewußt hätten, was zwischen der Besatzung und unseren
Nachbarvölkern während des Krieges alles geschehen ist, wenn wir bloß eine Ahnung gehabt hätten, was für ein Haß in den Herzen der slawischen
4 Eine typische Kleinigkeit ist z. B., dass manche Autoren meinen, einem jeden Ort unseres ehemaligen Wohngebietes und darüber hinaus einen deutschen Namen verpassen zu müssen, egal, ob er früher gebräuchlich war oder nicht. Manchmal weiß man auch als Einheimischer nicht, welcher Ort oder welche Gegend gemeint sein soll. Diese Namen sind auch auf keiner offiziellen Karte verzeichnet. Als ich zum ersten Male »Batschgau« und »Branau« las, musste ich noch nachfragen, ob es sich um Batschka und Baranya handelt, oder wenn statt Temeschwar/Temesvar »Tümmelburg« geschrieben wird.
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Völker auf dem Balkan entfacht wurde, dann hätte niemand von unserm Volk in der Heimat zurückbleiben dürfen. … Und schließlich, was hatte
unser Schwabenvolk mit dem Bürgerkrieg zu tun, der südlich der Sawe
und der Donau zwischen Nationalisten und Kommunisten, zwischen Serben und Kroaten, zwischen Tschetniks und Partisanen, zwischen Nedić-5
und Ljotić-Anhängern einerseits und den bulgarischen, ungarischen, italienischen und deutschen Okkupationsmächten andererseits ausgetragen
wurde ?‹«
Mich wundert, wie ahnungslos sich P. Gruber SJ gibt. Er hat seine ganze Ausbildung im slawischen Raum erfahren, er hat 1942 in Filipowa seine erste Messe gefeiert. Es kann gar nicht sein, dass er von den Machenschaften der »Erneuerer«, der »Deutschen Mannschaft« und den Bruta litäten der SS auf dem Balkan nichts gehört hatte. Allerdings konnte er nicht wissen, dass die Donauschwaben alle insgesamt dafür würden büßen müssen. Jene, die sich vom Nationalsozialismus distanzierten, waren der irrigen Meinung, dass man einmal nur die Schuldigen würde zur Rechenschaft ziehen. Über diese dunkle Dekade unserer donauschwäbischen Geschichte möchte ich ohne Scheuklappen erzählen, wie ich als Kind und Jugendlicher sie erlebt und überlebt habe. Ich kann keine »Geschichte der Donauschwaben« schreiben, dafür fehlt mir das fachliche Rüstzeug. Ich will nur meine Geschichte, die meiner Familie und die meines Heimatdorfes Filipowa in der Batschka erzählen, und zwar aus meiner ganz persönlichen Sicht und wie meine Eltern und nächsten Verwandten sie uns Kindern weitergegeben haben.6 5 Milan Nedić, serbischer General ; er war während der deutschen Besatzungszeit (1941–1944) Chef der von Deutschland eingesetzten Regierung. Dimitrije Ljotić war Führer der serbisch-nationalen Zbor-Bewegung. 6 Wenn man nach Jahrzehnten wieder in jene Zeit eintaucht, fällt es einem bisweilen schwer, jene Emotionen, die man damals empfunden hat, ganz beiseitezuschieben. Man durchlebt sie aufs Neue.
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Um meine Erlebnisse verständlicher zu machen, werde ich sie mit einschlägiger Literatur konfrontieren und sie in ihren damaligen Kontext stellen. Gelegentlich ziehe ich auch Erlebnisse anderer Filipowaer ergänzend heran, sei es, weil sie das Ereignis aus der Nähe erlebt haben, sei es, weil sie damals erwachsen waren und ein reiferes Urteil hatten als ich. Dennoch möchte ich betonen, dass meine vorgelegte Arbeit nicht als »wissenschaftliche Studie« gewertet werden sollte. Ich lege den Nachdruck auf das Erzählen von selbst Erlebtem. Meine Schrift will eine Dokumentation über jene unruhigen Jahre sein. Ich wurde im September 1932 in Filipowa/Batschka geboren. Weder ich noch meine Eltern waren aktiv in die politischen Ereignisse jener Jahre involviert, außer in jene, in die wir hineingestoßen wurden. Im Juni 1947 war meiner Mutter mit uns Kindern die Flucht aus dem Lager Gakovo über Ungarn nach Österreich geglückt ; mein Vater war damals als Zivilinternierter in einem sowjetischen Arbeitslager. Er wurde nach fast fünf Jahren im Dezember 1949 zu uns nach Österreich entlassen. Für Hinweise und Vorschläge zu meinem Manuskript danke ich Herrn Dr. Hans Voges, Frau Sylvia Schopf und Frau Prof. Dr. Monika Boehm-Tettelbach.
1. Filipowa – zwanzig Jahre danach
Als ich im August 1964 aus dem Kongo zurückkam, besuchte ich mit meinen Eltern meine Schwester Eva in der Batschka. Sie war in Bezdan an der Donau mit einem Ungarndeutschen, einem Tierarzt, verheiratet, der sich als Ungar ausgab. Wir wollten mit Eva und ihrem Mann Dénes [im Ungarischen wird »s« wie »sch« gesprochen] noch einmal unser ehemaliges Heimatdorf Filipowa besuchen. Mein Schwager fuhr uns in seinem Auto dorthin. Auf diese Weise verursachten wir weniger Aufsehen. Zunächst durchfuhren wir den Ort langsam kreuz und quer, um möglichst das ganze Dorf in Augenschein zu nehmen. Gelegentlich stiegen wir aus und betrachteten die Schulen, ehemalige Hanffabriken, die ausgetrockneten Teiche, Häuser von Verwandten, die Mühle usw. Meine Eltern waren dabei sehr angespannt. Als sie die Ruine der Dorfkirche sahen, bekam mein Vater wässerige Augen ; er wollte nicht aussteigen und sie näher anschauen. Während der Fahrt kommentierten sie immer wieder ihre Eindrücke. Da die neuen Bewohner die Häuser kaum pflegten, machte unser Dorf einen verwahrlosten Eindruck. Im ehemaligen Gasthof Engert stiegen wir ab und aßen eine Kleinigkeit. Hier hatten meine Eltern 1929 ihre Hochzeit gefeiert. Es war jetzt ein verstaatlichtes Gasthaus, eine Art Krčma, ein einfaches Trinklokal. Entsprechend bescheiden war auch die ganze Ausstattung. Es gab ein Gericht zu essen, dazu wurden Bier, Schnaps und Rotwein mit Sodawasser angeboten. Nach dem Essen fuhren wir zum Friedhof, um unsere Familiengräber zu besuchen. Friedhofskirche, Kalvarienberg mit Kreuzigungsgruppe und Kreuzwegstationen waren eine einzige Ruine, ja, der ganze Friedhof war ein Trümmerfeld. Fast alle Grabsteine waren umgeworfen, teilweise hatte man sie zu Bauzwecken abtransportiert. Wir konnten die Gräber
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meiner Großeltern dennoch ausfindig machen. Meine Mutter hatte Blumen und Kerzen mitgenommen und verteilte sie auf die verwahrlosten Grabhügel. Es war Brauch bei uns, dass man bei jedem Friedhofsbesuch die Gräber mit Blumen schmückte, eine Kerze anzündete und für die armen Seelen betete. Als wir uns nach einem stillen Gedenken anschickten, den Friedhof zu verlassen, kam uns ein alter Bekannter, der »Zigeuner Sava«, entgegen. Vor allem meine Eltern waren sehr erfreut, wenigstens einen Bekannten aus der alten Zeit anzutreffen. Meine Mutter war zu Tränen gerührt, als sie Sava auf uns zukommen sah. Aber auch Sava verschlug es die Stimme. Meine Mutter hatte viele Fragen an ihn, denn in den donauschwäbischen Haushalten hatten ausschließlich die Frauen mit den bettelnden Zigeunern, meist Zigeunerinnen, zu tun. Den Frauen oblag nämlich der gesamte Haushalt mit dem Kleinvieh, dem Garten und natürlich auch der Küche ; deshalb waren auch sie für die Bettler zuständig. Mutter fragte auch gleich nach der »Zigeuner-Res«, der Kathi und einigen anderen, die unser Haus jede Woche besucht und immer etwas Essbares bekommen hatten. Sava antwortete in seinem gebrochenen Deutsch : »Die Res is mei Weib, is sie awwr stark krank.« Er erzählte uns, dass er Totengräber sei und das Haus am Friedhof bewohne, aber kaum Arbeit habe, weil die neuen Bewohner des Dorfes ihre eigenen Begräbnissitten hätten, ihre Gräber selbst schaufelten und ihn höchstens bei ihrem Umtrunk am Grabe beteiligten. Man dürfe nicht mehr betteln gehen, das hätten die Kommunisten verboten. Und wenn die Res doch einmal verbotenerweise betteln gehe, erhalte sie von den neuen Bewohnern nichts Essbares. »Aber die Res hat doch in Deranje7 Feld gehabt«, warf meine Mutter ein, »warum seid ihr nicht dort geblieben und habt es bearbeitet ?« »Haben sie uns alles weggenommen«, so Sava, »alles is 7 Deronje, so der offizielle Name, ist eine Gemeinde, ca. 12 km von Filipowa entfernt, von wo die meisten Zigeuner, die Filipowa besuchten, herkamen.
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Kolchos.« Meine Mutter wollte wissen, wo die Res jetzt sei. Und Sava : »Komm sie schauen !« Sava führte uns zum Haus des Totengräbers. Meine Eltern gingen mit ihm hinein. Meine Mutter erzählte nachher, wie die Res ausgemergelt und in Lumpen gehüllt auf dem Bette gelegen sei. Sie hatte offensichtlich eine unheilbare Krankheit. Wohl zum ersten Male gab meine Mutter Res eine Summe Geld – Bettlern gab man nur Naturalien – und sagte zu Sava, er solle ihr damit Arzneien kaufen, um ihre Schmerzen zu lindern. Dann verließen wir den Friedhofsbereich und Sava. Er winkte uns noch lange nach, und wir winkten zurück. So waren jene, die früher die unterste Stufe der Gesellschaft einnahmen, als einzige Zeugen des alten Filipowa übrig geblieben ! Das wichtigste Vorhaben unserer Fahrt stand aber noch bevor : der Besuch des Elternhauses. Meiner Mutter war sehr viel daran gelegen, das Haus noch einmal von innen zu sehen. Vater hatte bereits von anderen Besuchern des Dorfes erfahren, dass seine Werkstatt zu einem Schweinestall umgewidmet worden war. Er war wohl deshalb nicht sehr begierig, sein Elternhaus noch einmal zu sehen. Ich hatte ein wesentlich distanzierteres Verhältnis zum Haus wie zum Dorf überhaupt, obgleich ich hier geboren und aufgewachsen war. Wahrscheinlich rührte mein unterkühltes Verhältnis daher, dass ich mich nicht wie meine Eltern mit diesem Haus verbunden fühlte. Wir Kinder hatten zwar auf dem Anwesen gelebt, aber aufgebaut hatten es Eltern und Großeltern. Als wir dann in den Hof unseres ehemaligen Hauses traten, empfand ich geradezu eine abstoßende Kälte : Ich sah nur mehr das kahle Gemäuer meiner Erinnerungen, aber was mein Zuhause und meine Geborgenheit ausgemacht und meine Erinnerung vielfach verklärt hatte, war nicht mehr da. Mein Geburtshaus war für mich zu einem leeren Gemäuer geworden. Nachdem mein Schwager mehrere Male auf Serbisch gerufen hatte, kam eine Frau mittleren Alters aus dem Garten. Sie nahm uns sehr freundlich auf. Meine Eltern stellten sich als die ehemaligen Besitzer des Hauses vor. Die Frau entschuldigte sich, dass das Haus in keinem
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guten Zustand sei. Ihr Mann sei als Partisan im Krieg gefallen und ihr Sohn gehe in Novi Sad in die Schule. Er komme nur gelegentlich auf Besuch und habe überhaupt kein Interesse hierzubleiben. Auch sie wisse nicht, ob sie einmal hierbleiben werde. Man habe ihr das Haus zugewiesen, weil sie Kriegerwitwe sei. Wahrscheinlich werde sie später zu ihrem Sohn ziehen. Dann führte sie meine Eltern durch das ganze Haus. Meine Mutter schluchzte, und sogar meinem Vater kamen die Tränen, als er die Schweine in seiner ehemaligen Tischlerwerkstatt sah. Ich blieb mit meinem Schwager und meiner Schwester im Hof stehen und suchte mich an die Zeit vor gut zwanzig Jahren zu erinnern. Vielleicht war ich durch mein unstetes Leben bereits zu entwurzelt, um ein nostalgisches Heimatgefühl hochkommen zu lassen. Nachdem meine Eltern ausgiebig Haus und Garten besucht hatten, brachte die Frau eine Flasche Sliwowitz und zwei Gläschen. Mein Schwager und ich tranken, aber meine Eltern lehnten dankend ab, da sie auch sonst nie scharfe Sachen trinken würden. Meine Mutter bat noch um ein Säckchen Erde aus dem Garten. Dann dankten wir der Frau für ihre Freundlichkeit und verabschiedeten uns. Wir setzten uns wortlos ins Auto und fuhren über Odžaci, Srpski Miletić, vorbei an der Mühle, nach Doroslovo.8 Hier wollten wir einen Großcousin meines Vaters besuchen ; er war zuletzt Lehrer in Doroslo gewesen und jetzt in Pension. Uns Kindern war er als »Miskabácsi« [Mischkabatschi] bekannt, denn er hatte sich magyarisieren lassen und war damit Ungar geworden. Doch bevor wir zu ihm fuhren, stiegen wir an der Wallfahrtskirche in Doroslo ab. Das Dorf ist in der gesamten Batschka zuallererst als Marienwallfahrtsort bekannt. Vor unserer Vertreibung sind alle organisierten Stände wie Bauern, Handwerker, Jugendgruppen wenigstens einmal im Jahr nach Doroslo gepilgert. Wenn irgendwie möglich zog man in Prozessionen zu Fuß zum Marienheiligtum. Jetzt lag der Wallfahrtsort still da, wie man ihn sonst kaum kannte. Die Ungarn, Kroaten, Schokatzen 8 In unserer Dorfsprache sagte man Odschag, Miltitsch und Doroslo.
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und Bunjewatzen9 kamen zwar noch, aber die deutschsprachigen Pilger fehlten, und das bekam der Ort sehr zu spüren. Doroslo war eine fast rein ungarische Gemeinde. Früher gab es hier nur wenige Donauschwaben. Vaters Großcousin hatte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg magyarisieren lassen, weil er als Lehrer in Ungarn bleiben wollte. Als die Batschka nach der Kapitulation Jugoslawiens im April 1941 wieder zu Ungarn kam, schickte man möglichst viele zweisprachige Lehrer in das Gebiet der Donauschwaben. Obgleich Miskabácsi und seine Frau innerlich Ungarn geworden waren, sprachen sie unseren Dorfdialekt noch so sauber wie wir selbst. Er war schon seit Jahren pensioniert, aber der jugoslawische Staat zeigte wenig Neigung, den ungarischen Lehrern regelmäßig ihre Pension auszuzahlen. Sie betrieben deshalb einen intensiven Gartenbau, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. »Als es euch noch hier gab«, sagte der Cousin zu meinem Vater, »wart ihr die benachteiligte Minderheit ; jetzt sind es die Ungarn. Bald werden es die Kosovaren, die Kroaten und andere sein. Mein Eindruck ist, dass man hier nur Serben haben will.« Tito hat ja schon 1945 verkündet, dass es eine deutsche Minderheit nicht mehr gebe. »Welche Minderheit wird als nächste dran glauben müssen ?«, sagte Miskabácsi nachdenklich. So gastfreundlich dieses ältere Ehepaar uns aufgenommen und fürstlich bewirtet hatte, so sehr erzeugte dieser Besuch doch eine melancholische Stimmung in mir. War die Lage der Minderheiten in Jugoslawien wirklich so ernst, wie Miskabácsi erzählte ? Ich musste mit meinem Vater sprechen. Er kannte die Serben und ihre politischen Ambitionen viel besser als ich. Bisher war ich immer der Meinung, wir Donauschwaben seien vertrieben und liquidiert worden, weil ein Teil von uns mit dem Dritten Reich kollaboriert hatte. Sollte es doch das Bestreben des kommunistischen Staates sein, sich nach und nach aller Minderheiten zu 9 Schokatzen und Bunjewatzen sind katholische Untergruppen der Kroaten. Sie siedeln vornehmlich in der Umgebung von Sombor.
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entledigen, um wieder das alte Großreich Serbien aus den Zeiten des heiligen Sava zu errichten ? Hatten etwa die irregeleiteten nazistischen »Erneuerer« den Kommunisten nur einen Vorwand geboten, um uns zu vertreiben und die Batschka möglichst ganz serbisch zu machen ? Sollten die Ungarn als Nächste unterdrückt und aus Jugoslawien hinausgedrängt werden ? Auf dem Rückweg über Stapar10 und Sombor nach Bezdan ging mir vieles durch den Kopf. Die Vorkommnisse des Tages machten mich sehr nachdenklich ; meine Eltern offensichtlich noch mehr als mich, denn sie blieben ruhig und waren mit sich und ihren Gedanken beschäftigt. Meinen Schwager hatte der ganze Tag nicht berührt. Obwohl Ungar mit deutschem Vater hatte er sich mit dem Kommunismus arrangiert. Politik interessierte ihn nicht. Als Tierarzt ging er zu allen und war der Freund aller. Er verkehrte mit dem Pfarrer genauso wie mit den Kommunisten oder Zigeunern. Wenn ich abends mit ihm ins Wirtshaus ging, prosteten ihm alle zu, denn er hatte in allen Schichten seine Freunde. Ich fragte mich oft, ob es seine Art war, die ethnischen Konflikte Jugoslawiens zu meistern, indem er mit allen befreundet war und keinen Unterschied in Sprache und Herkunft kannte. Er war ein geselliger und aufgeschlossener Mensch und musste zum Glück nie eine definitive persönliche Entscheidung für oder gegen das Tito-Regime treffen. Er starb leider sehr früh, wie auch seine Frau, meine Schwester Eva ; sie starben beide innerhalb einer Woche 1984. Ich hätte noch gerne mit meinem Vater am Abend über unsere Erlebnisse gesprochen, aber meine Eltern waren müde und gingen bald zu Bett. Mein Schwager und ich setzten uns in den Garten und tranken von seinem Wein aus der Baranya. Es war schon spät, als ein alter serbischer Bauer zum Tor hereinkam. Er bat meinen Schwager, doch möglichst umgehend zu ihm zu kommen, denn seine Kuh könne nicht kalben. Er habe schon den ganzen Nachmittag auf ihn gewartet. Als Dénes ihn 10 Im Dorfidiom sagten wir »Stapari«.
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fragte, warum er nicht zu seinem Kollegen im Nachbardorf gegangen sei, erwiderte der Alte, der verlange Bargeld und er habe keins. Dénes hatte zwar bereits etwas getrunken, aber er setzte sich ans Steuer und nahm den Bauern und mich mit. Der Weg zum Anwesen ging über holprige Feldwege in Richtung Alte Donau. Das Gelände lag tief, war von großen Entwässerungsgräben durchzogen, und doch standen die Felder im Frühjahr häufig unter Wasser. In Filipowa nannte man solches Land »Kiebitzenfeld«, weil in diesen feuchten und grasigen Auen die Kiebitze gerne brüten. Solche Felder bewirtschafteten meist arme Kleinbauern ; das Kiebitzenfeld warf gewöhnlich nur Heu ab. Getreide brachte man nur in guten Jahren durch. Dagegen hatten diese »Grasbauern« viel Viehfutter. Bei guter Düngung gediehen auch Sonnenblumen. Die Körnerbauern waren aber die reicheren. Der serbische Bauer konnte recht gut Deutsch, da er früher den Sallasch11 (Meierhof ) eines deutschen Großbauern als Birescher12 bestellt hatte. Als ich ihn fragte, wie er zu seinem eigenen Hof gekommen sei, erzählte er, dass er als Birescher meist in Naturalien, d. h. in Vieh und Korn, entlohnt worden sei ; so konnte er sich mit der Zeit etwas Feld ankaufen. Als nach dem Krieg in Jugoslawien die Landwirtschaft kollektiviert wurde, wollten die Kolchosen die minderwertigen Äcker an der Donau nicht bebauen, denn es gab genug besseres Land. So konnte er mit relativ wenig Geld das Kiebitzenfeld an der Donau in Dauerpacht nehmen. Ich wollte noch wissen, wie er denn seinen Hof mit dem Vieh 11 »Meierhof« auf den Feldern eines reicheren Bauern. Sallasch ist von dem ungarischen Wort szállás – Quartier abgeleitet. 12 Der Bauer Josef Eichinger bezeichnet den Biresch oder Biresch’r als L andarbeiter, der mit seiner Familie auf dem Sallasch wohnt. »Der Mann arbeitete mit den Pferden auf den Feldern, während die Frau das Vieh und das Geflügel betreute.« (Bd. 1,1978 : 138). Biresch ist wahrscheinlich von dem ungarischen Wort béres – Knecht, Tagelöhner – abgeleitet. Es könnte aber auch mit dem Wort birtok – Landgut – zusammenhängen.
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durch die Kriegsjahre 1944/45 gebracht hätte. Hier an der Donau wimmelte es doch monatelang von russischen Soldaten ? Er erzählte, dass er als junger Mann aufseiten der Kaiserlichen gekämpft habe und in russische Gefangenschaft geraten sei. Da er Serbe ist, habe man ihn bald entlassen. Er blieb aber in der Sowjetunion und arbeitete auf einer Kolchose ; dort lernte er ein russisches Mädchen kennen, seine heutige Frau. Sie arbeiteten mehrere Jahre in der Landwirtschaft. Kinder bekamen sie leider keine, aber irgendwann hatten sie es satt, ständig ohne ein kleines, eigenes Zuhause zu sein. So übersiedelten sie in das damalige Königreich Jugoslawien. Sie fanden auch bald auf einem Sallasch eine Anstellung. Da sie beide in der Landwirtschaft und in der Kleintierzucht viel Erfahrung hatten, konnten sie sich durch den Verkauf von Tieren und Getreide das Land an der Donau mit einem kleinen Häuschen kaufen. Mit den sowjetischen Soldaten seien sie gut zurechtgekommen. Diese freuten sich, hier an der Donau Russen vorzufinden. Seine Frau kochte ihnen bisweilen etwas, dann aßen und tranken sie kräftig und zogen wieder weiter, ohne ihnen etwas wegzunehmen. Nach einer etwa halbstündigen Fahrt kamen wir bei dem bescheidenen Anwesen an. Die Frau wartete schon voller Ungeduld auf den Tierarzt. Elektrisches Licht gab es nicht auf dem Hof, aber Dénes war mit zwei großen Stalllaternen und Petroleum ausgerüstet. Der Kuhstall war niedrig und kaum belüftet, dazu voller Gelsen (Stechmücken). Die Kuh war von den Wehen schon recht ermattet. Mein Schwager stellte nach einer kurzen Untersuchung fest, dass das Kalb gedreht werden müsse. Eine andere Chance, das Kalb herauszuholen, gebe es hier vor Ort nicht. Zunächst wurden an den Füßen der Kuh Stricke festgemacht und das Tier auf den Rücken gedreht. Auf der einen Seite der Kuh postierte sich an den Stricken der Bauer und an der anderen Seite ich. Dénes suchte das Kalb festzuhalten und die Frau bediente die Laterne. Dénes gab uns immer wieder Anweisung, die Kuh auf die eine oder andere Seite zu drehen, er suchte entsprechend das Kalb festzuhalten oder zu wenden. Im Stall war es fürchterlich heiß. Dénes strengte
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sich ungemein an. Er war schon patschnass geschwitzt. Seine Anweisungen klangen aber immer optimistischer. Es mochte eine gute halbe Stunde gedauert haben, bis er eine Vorderpfote des Kalbs in den Geburtskanal brachte ; bald darauf auch die zweite. Er band zwei dünne, glatte Hanfseile an die Vorderbeine des Kalbs und gab sie der Bäuerin und mir : Wir sollten auf sein Kommando ziehen. Der Bauer kümmerte sich um das Muttertier. Nach einer weiteren Viertelstunde zogen wir ein riesiges und gesundes Stierlein aus der Kuh. Was waren die alten Leute, aber auch mein Schwager, glücklich : Sie umarmten einander, und die Frau weinte vor Freude ! Als ich 1947 in Österreich Kleinknecht war, habe ich öfter beim Kalben geholfen. Aber Menschen, die so glücklich über die Geburt eines Kalbes waren, hatte ich sonst nie gesehen. Ich glaube, es war nicht nur die Freude über das gesunde Kalb, sondern auch darüber, dass die Kuh, die den ganzen Tag über gelitten hatte, jetzt friedlich ihr Kalb ableckte. Die alten Leute redeten mit der Kuh und streichelten sie wie ein Mitglied der Familie. Als mein Schwager nicht mehr vonnöten war, packten wir unsere Sachen zusammen. Der Bauer fragte ihn, was er denn schuldig sei. Dénes sagte, er solle ihm etwas geben, von dem er genug habe und das er leichten Herzens weggeben könne. Einen Barack-pálinka (Aprikosenschnaps) mussten wir doch noch trinken. Dann fuhren wir zurück nach Bezdan. – Am nächsten Tag brachte der Bauer einen großen Truthahn und einen jungen Gänserich, dazu einen ganzen Korb voll frischer Hühnereier. Der alte Herr war noch immer voller Freude über die geglückte Geburt und bedankte sich überschwänglich.
2. Die Katastrophe – warum nur ?
Am Tag nach dem Besuch in Filipowa fuhren mein Vater und ich an die Donau, die von Bezdan nur sechs Kilometer entfernt ist. Mein Schwager besaß an einem alten Donauarm ein kleines Sommerhaus. Da der Fluss in jener Region so gut wie nicht reguliert ist, gibt es mehrere Nebenarme und fast jedes Frühjahr Überschwemmungen. Aus diesem Grunde war das Sommerhaus auf hohen Stelzen erbaut. Es hatte einen Balkon zur Donau hin mit Blick auf Batina am Westufer und auf das große Sowjet-Denkmal, das man im Volksmund »Julka« nannte. Batina hatte im Herbst 1944 Berühmtheit erlangt. Man sprach auf serbischer Seite gerne vom »zweiten« oder »kleinen Stalingrad«, weil hier wochenlang die entscheidende Schlacht tobte, die den Sowjettruppen auf ihrer Südachse den Weg bis Österreich freimachte. Die deutsche Armee, meist SS-Einheiten, hatte im Oktober 1944, als die Sowjets zur Theiß vorstießen, die Batschka geräumt und sich in den Hügeln um Batina verschanzt. Eine Brücke über die Donau gab es damals noch nicht. Da das Donauufer auf der Ostseite, also Bezdan zu, ganz flach ist, säumt ein breiter Streifen von morastigem Auwald dieses Ufer. Nur an wenigen Stellen konnte man damals mit Fuhrwerken bis an den Fluss heranfahren. Als Vater und ich auf der Veranda saßen und auf Batina am jenseitigen Ufer schauten, kamen in uns viele beklemmende Erinnerungen hoch, die mit dieser Gegend und der Schlacht um diesen Brückenkopf zu tun hatten. Vater war im Herbst 1944 als Zivilist verpflichtet worden, hinter der Front bei Bezdan Robot13 zu leisten. Ich war im Frühsommer 1945 13 Das slawische Wort für Frondienst. Früher war es auch im Deutschen geläufig. In Filipowa sagte man »Rówrt«.
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am Rande des Auwaldes in dieser Gegend Aprikosen pflücken, denn die Pflegefamilie meiner Schwester Eva hatte hier Ländereien mit einem Sallasch und einem großen Obstgarten. Der Sallasch war bei den Kampfhandlungen ganz zusammengeschossen worden, und im Obstgarten hatte das sowjetische Militär die großen Bäume umgehackt, um damit den Untergrund der Straßen zu befestigen, damit das schwere Kampfgerät zum Fluss gebracht werden konnte. Jetzt, nach fast zwanzig Jahren, schauten Vater und ich auf einen ruhigen Fluss und eine friedvolle Landschaft : Kanonen, Panzer und Stalinorgeln waren verstummt ; es gab keine Flugzeuge mehr, die immer wieder die Pontonbrücken bombardierten ; und im Auwald drängten sich nicht mehr Hunderttausende Soldaten wie im Herbst 1944. Eine feste Brücke über die Donau gab es zwar noch immer nicht, aber eine Fähre verband zuverlässig beide Ufer. Auf dem Fluss waren wieder mehrere schwimmende »Donaumühlen« in Betrieb, und die Alte Donau wimmelte von Fischen jeder Größe. Vater und ich erzählten uns jene Erlebnisse, die wir vor zwanzig Jahren in dieser Gegend hatten. Vater wies mit dem Arm nach Süden in Richtung Apatin und sagte :14 »Siehst du dort im Wald auf unserer Seite eine Art Schneise, wo die Bäume
in der Mitte kleiner sind als jene rechts und links ? Dort haben Tausende
Donauschwaben, vor allem junge Frauen und Mädchen – die Männer waren beim Militär oder von den Partisanen liquidiert worden –, Ende
14 Zum besseren Verständnis des folgenden Gesprächs zwischen meinem Vater und mir möchte ich anmerken, dass wir nicht in Hochdeutsch, sondern in unserem Dorfidiom sprachen. Dieses ist nicht immer einfach ins moderne Hochdeutsch zu übersetzen. Ich lasse bisweilen auch bewusst alte lokale Ausdrücke stehen. Eine Besonderheit unserer Sprache ist, dass wir unsere Eltern ihrzten. Das Du verwendete man nur in der eigenen oder einer jüngeren Generation gegenüber. Unser Gespräch wurde nicht auf Band aufgenommen. Den Inhalt habe ich so häufig mit meinem Vater besprochen, bisweilen auch aufgenommen, dass die hier gemachten Aussagen mit Recht als die meines Vaters gelten können.
28 : Die Katastrophe – warum nur ? Oktober und im November 1944 Robot machen müssen. Einige hatten Unterstände zu graben und sie mit dicken Baumstämmen, Balken und
Erde abzudecken, denn die Rote Armee richtete sich auf längere Kampfhandlungen ein. Andere hatten mit Pferdefuhrwerken Stämme und Balken, Steine und Ziegel jeder Art herbeizufahren, um eine feste Straße zum
Fluss zu bauen. An jener Stelle gibt es nämlich im Fluss eine Insel, wo
die Sowjets hofften, die Pontonbrücke verankern und ein Zwischenlager
einrichten zu können. Doch die deutschen Truppen hatten dieses Vorhaben vorausgeahnt und einen Großteil ihrer Geschütze auf diesen Über-
gang gerichtet. Ihnen war auch klar, dass die Rotarmisten eine befestigte
Straße durch den Sumpfwald brauchten, um die schweren Waffen und die
Pontons an den Fluss zu bringen. Sie bombardierten deshalb bis weit ins
Hinterland, um die Arbeiten an der Straße zu unterbinden.
Durch das Kanonenfeuer und die Bombardements der Flugzeuge
lebten auch wir Zivilisten recht gefährlich. Wir standen den ganzen Tag
in Regen und Schlamm. Nachts durfte kein Feuer gemacht werden. Wir konnten wochenlang unsere Kleider nicht wechseln, und warmes Essen
gab es nur gelegentlich, wenn wir in die Dörfer im Hinterland kamen. So
manche von uns sind an Erschöpfung gestorben ; besonders Frauen fielen
den Strapazen zum Opfer. Andere sind durch Einschläge der Geschütze und Bomben der Deutschen umgekommen. Wir waren richtig froh, als es
den sowjetischen Pionieren nach etwa sechs Wochen gelang, eine Brücke
ans jenseitige Ufer zu schlagen. Danach wurden wir hier abgezogen und
wieder an den Flugplatz nach Sombor verlegt, um dann einige Wochen
später nach Russland in die Kohlengruben abkommandiert zu werden.«
Vater meinte, man könne sich heute kaum noch vorstellen, wie damals die Dörfer an der Donau, aber auch jene entlang der befestigten Straße, auf der anderthalb Millionen Sowjetsoldaten mit schwerem Gerät zur Donau vorrückten, ausgesehen hätten. Die Ortschaften waren ausgeplündert, viele Häuser zerstört, Essen und Wein hatte das Militär requiriert, die Tiere beschlagnahmt. Frauen mussten in Verstecken bleiben,
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um Vergewaltigungen zu entgehen, oder sich in Gegenden abseits der großen Straße flüchten. Auch slawische und ungarische Dorfbewohner hatten unter den Sowjetsoldaten zu leiden. Ich war erst im Frühsommer 1945 in diese Gegend an der Donau gekommen. Damals gab es sogar noch die Pontonbrücke in der Donau. Marisnéni, Evas Pflegemutter, nahm mich, als ich in Bezdan weilte, mit nach Vörösmarth in die Baranya. Wir wollten im Garten ihres Elternhauses Kirschen pflücken. Die Pontonbrücke wurde von Sowjetsoldaten bewacht, aber Zivilisten konnten sie zu Fuß überqueren. Als ich einige Wochen später wieder einmal nach Bezdan kam, um zu betteln und Eva zu besuchen, fragte mich Marisnéni, ob ich nicht zwei bis drei Tage bleiben könne, denn sie hatten vor, in ihren Obstgarten an der Donau zu fahren. Es sollten angeblich noch einige Aprikosenbäume stehen, und die Früchte müssten gerade reif sein. Ich könne beim Pflücken sehr behilflich sein. Ich habe mich dazu gerne überreden lassen. Am nächsten Tag kam in aller Früh Péterbácsi, ihr ehemaliger Birescher, der Bauer des Meierhofs, mit seinem Pferdewagen vorgefahren. Neben Marisnéni und ihrem Mann, dem Gyulabácsi, kamen noch ihre Nichte Illusch sowie Eva und ich mit. Gyulabácsi hielt uns an, das Gelände sehr vorsichtig zu betreten, da wahrscheinlich noch Munition und Blindgänger herumliegen würden. Minen sollte es aber keine geben, weil die Deutschen keine Zeit mehr gehabt hätten, das Gelände zu verminen, und die Russen dazu keine Notwendigkeit sahen. Im Obstgarten gab es tatsächlich noch zahlreiche kleinere Bäume mit Früchten. Es waren vor allem Aprikosen, aber auch Frühäpfel und Birnen. Meine Aufgabe war es, die Früchte in den Wipfeln zu pflücken. Nach dem gemeinsamen Mittagessen verließ ich die Gruppe und ging ins Gelände, das der Donau zu etwas abfiel. Ich war neugierig geworden, da ich beim Pflücken von oben aus zahlreiches zerstörtes Kriegsgerät herumliegen gesehen hatte : Panzer, ausgebrannte Lastwagen, Geschütze, Pferdefuhrwerke etc. Ich ging vorsichtig durch die Wildnis, denn es lag noch viel Munition herum. In einem Wasserlauf sah ich ein schon
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verwestes Pferd, das noch in seinem Ledergeschirr stak ; es stank noch immer. Als ich mir durchs Gestrüpp einen Weg suchte, kam ich auf einen fast freien Platz. Es gab nur wenige Grasbüschel darauf. Durch den Frühjahrsregen war das Erdreich stark eingesunken. Als ich näher kam und genauer hinschaute, packten mich Angst und Grausen : Da lag eine ganze Reihe vermoderter Menschen halb mit Erde bedeckt. Manche staken noch in Uniformen, andere in Zivilkleidern. Es müssen deutsche Frauen darunter gewesen sein, denn ich machte typische Stoffe donauschwäbischer Trachten aus. Als mir nach dem ersten Schrecken klar wurde, was ich entdeckt hatte, rannte ich zu der Gruppe zurück. Ich muss sehr bleich gewesen sein, denn Marisnéni fragte gleich, was ich denn entdeckt hätte. Sie schimpfte mit mir, weil ich mich entfernt hatte ; mir hätte etwas zustoßen können. Péterbácsi meinte allerdings, er habe schon mehrere solcher Gräber gefunden und beim Ackern würde man noch lange Menschenknochen finden. Gyulabácsi wollte den Fund in der Gemeinde melden, damit die Leichen geborgen würden. Aber noch hatte der Bergungstrupp alle Hände voll zu tun, denn an der Donau gab es viele solcher Behelfsgräber. Auf Menschen und Tiere nahm die Rote Armee beim Vormarsch keine Rücksicht ; die meisten Tiere wurden zu Tode geschunden. In den Dörfern gab es kaum noch Pferde. Zuerst hatten sich die deutschen Truppen bedient, danach kamen die Sowjets. Bisweilen haben die Rotarmisten ihre ausgemergelten Klepper gegen frische Pferde eingetauscht. Wenn die Militärpferde in die Ställe kamen, fraßen sie ihre Streu auf ; sie waren eben nicht wählerisch. Lange konnten sich die Pferde aber nie erholen, denn in wenigen Tagen schon kam ein neuer Trupp Soldaten vorbei und nahm sie wieder mit. Sogar in Miltitsch, das über 40 Kilometer vom Kampfgeschehen entfernt lag, hörte man Tag und Nacht die Detonationen der Stalinorgeln und der Bomben. Die Bezdaner erzählten, dass es den Sowjets erst beim neunten Versuch gelungen sei, eine Pontonbrücke am jenseitigen Ufer festzumachen. Alle atmeten auf, als sie in die Baranya weiterzogen !
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Die Mühle in Miltitsch – ich machte dort seit Herbst 1944 bei meinem Onkel eine Schlosserlehre – hatte damals ausschließlich für die Rote Armee zu arbeiten. Sie wurde von mehreren Militärpolizisten bewacht, damit sie ungestört arbeiten konnte. Jeden Tag kamen Lastwagen vorbei, luden das Mehl auf und brachten es an die Front. TitoPartisanen requirierten in den donauschwäbischen Dörfern das benötigte Getreide und deutsche Frauen hatten es mit Pferdefuhrwerken in die Mühle zu fahren. Damals war die Mühle der wohl sicherste Ort der Region. Die sowjetische Militärpolizei hatte jede Vollmacht, die Mühle und das Mehl zu sichern. Auch Partisanen hatten sich den Anordnungen der Militärpolizei zu fügen. Ich erlebte mehrere Male, wie wachhabende Militärpolizisten auf Rotarmisten wie auf Partisanen brutal einschlugen, wenn diese sich Übergriffe erlauben wollten. Nüchterne Sowjetsoldaten waren uns in der Mühle allemal lieber als die meisten Partisanen. Die Sowjets hassten uns nicht, obgleich sie wussten, dass wir Deutsche waren. Das wenige, was sie hatten, waren sie immer bereit, mit uns zu teilen. Fast immer hatten sie in einer Hosentasche geröstete Sonnenblumenkerne und in der anderen Tabak und Zeitungspapier. Gerne boten sie uns beides an. Dazu waren die Partisanen nie bereit. Als die sowjetischen Wachen nach etlichen Wochen abgezogen wurden und wieder zu ihren Einheiten nachrücken mussten, gingen sie mit Wehmut fort. Sie hatten den Krieg wohl schon längst satt gehabt. Fanatiker hatten wir unter ihnen nicht erlebt. Als mein Vater hörte, dass ich positiv über die russischen Wachen sprach, pflichtete er mir sofort bei. Er war nach fünf Jahren Zwangsarbeit im Süden der Ukraine mit sehr positiven Erfahrungen im Umgang mit der Bevölkerung zurückgekommen. Schlecht zu sprechen war er nur auf die korrupten Parteibonzen, die das einfache Volk genauso schlecht behandelten wie die donauschwäbischen Zwangsarbeiter. »Und doch habe ich auch unter den Parteileuten gute Menschen kennengelernt«, sagte Vater. »Ich habe häufig für unseren politischen Offizier ge-
32 : Die Katastrophe – warum nur ? arbeitet ; ich habe ihm Möbel gemacht : einen Schreibtisch für sein privates
Arbeitszimmer, Regale für sein Büro und anderes. Wenn ich mit ihm allein
war und er etwas getrunken hatte, schimpfte er auf das vom Volk abgehobene Verhalten der Partei und erzählte, dass er seine Kinder verbotener-
weise taufen lasse. Korrupt war er allerdings auch. Das Material für die
Möbel besorgte er durch Bestechung anderer Parteifreunde. ›Würde ich es nicht tun‹, pflegte er zu sagen, ›müsste ich so leben wie die einfachen
Arbeiter ; und das will ich nicht !‹ – So getraute er sich nur vor mir zu reden, weil er wusste, dass ich ihm niemals würde gefährlich werden können.«
Da wir so am Erzählen waren, fragte ich meinen Vater, ob er denn wieder nach Jugoslawien zurückkehren würde, wenn es hier keinen Kommunismus mehr gäbe. »Die Mutter hat noch gestern Abend gesagt, und früher habe ich es oft von ihr gehört, sie wolle am liebsten wieder zurück in unsere alte Heimat. Meint Ihr, das sei ihr Ernst ?« Mein Vater schaute mich überrascht an, denn offensichtlich hatte er diese Frage nicht erwartet. Er überlegte einige Augenblicke, dann sagte er : »Unsere alte Heimat gibt es nicht mehr ; Vergangenes lässt sich nicht zurückholen. Heimat ist viel mehr als das alte Dorf, das Geburtshaus, der
Friedhof … Wir sind weder Ungarn noch Slawen ; uns will hier niemand
haben. Sogar die Ungarn der Batschka sind froh, dass sie wirtschaftlich keine Konkurrenten mehr haben, und die Serben freuen sich, dass sie eine
Minderheit los sind und unsere Häuser und Güter in Besitz nehmen können. Die Ungarn tolerierten uns früher nur, wenn wir uns magyarisieren
ließen, und die Serben haben auf ihrem Staatsgebiet seit jeher keine Min-
derheiten haben wollen. Sie suchten nur nach einer günstigen Gelegenheit, diese loszuwerden.
Als es hier in der Zeit der Türken und in den Jahrzehnten danach nur
Weideland gab, das jedes Frühjahr von Donau und Theiß überflutet worden ist, hatte niemand rechte Lust, weder Ungarn noch Slawen, sich hier
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dauerhaft niederzulassen. Die Bewohner der wenigen Weiler, die es damals
hier gab, betrieben kleine Landwirtschaften und weideten ihr Vieh. Zum
fruchtbaren Ackerland wurde die Batschka erst durch die Arbeit der Kolonisten aus dem Habsburgerreich. Die städtischen Siedlungen der Batschka konnte man an einer Hand zählen.«
»Ist es denn wirklich nur der Futterneid der anderen Ethnien, dass man uns hier nicht mehr haben will«, fragte ich weiter ? »Es gibt viele Gründe, dass wir Donauschwaben in diesem Gebiet kein Zuhause mehr finden können. Der Hauptgrund dafür ist der Nationalismus,
der im 19. Jahrhundert aufkam. Als die Doppelmonarchie Österreich-
Ungarn etabliert wurde und der Kaiser uns Donauschwaben 1867 ganz
den Ungarn überließ, hätte den deutschen Siedlern klar werden müssen, dass sie sich entweder den Ungarn anzupassen oder aber auszuwandern
hatten. Deutsch als zweite Staatssprache kam für die Ungarn niemals infrage ; das hätte ihr Nationalstolz nicht ertragen. Du hast doch selbst erlebt, wie nationalistisch die Ungarn eingestellt sind, selbst jetzt in der Zeit des
Kommunismus !
Nach 1867 gestatteten die Ungarn kaum noch, dass in rein deutschspra-
chigen Gemeinden in der Volksschule Deutsch als Unterrichtssprache, ja,
nicht einmal als Fremdsprache gelehrt wurde. Wer im ungarischen König-
reich etwas werden wollte, musste Ungar werden. Viele Donauschwaben, vor allem die Intellektuellen, haben sich mit dieser Doktrin abgefunden und sind Ungarn geworden. Sie hatten ja schließlich auch nur ungarische
Lehranstalten besucht. In den Dörfern lebten wir trotz allem recht gut,
auch wenn uns die Magyaren als Menschen zweiter Klasse behandel-
ten. Allzu oft mussten wir uns das Schimpfwort büdös svába – stinken-
der Schwabe – gefallen lassen. Alle Beamtenposten wurden, selbst in rein deutschen Dörfern, mit ihren Leuten besetzt. Nur im kirchlichen Bereich
konnten wir unsere Muttersprache verwenden. So kam es von selbst dazu,
dass die Kirche das Zentrum unseres gesellschaftlichen Lebens wurde und
34 : Die Katastrophe – warum nur ? der Pfarrer – wir sprachen früher vielfach noch vom ›Pfarrherrn‹ – die
wichtigste Autoritätsperson im Ort war. Auch die Priester sind ausschließlich durch ungarische Seminare gegangen !«
Ich warf ein, dass man bei älteren Priestern noch deutlich ihre durch und durch ungarische Ausbildung und Einstellung spüren konnte. »Unser Filipowaer Pfarrer«, sagte ich, »war zwar Deutscher, schließlich hieß er Peter Müller, aber innerlich war er Ungar. Genauso war der große Nazi-Gegner und Herausgeber der Wochenzeitung ›Die Donau‹, Pfarrer Adam Berenz, ein überzeugter Vertreter der alten ungarischen Stephans idee, nach der man Fremde im Land brauche, um es voranzubringen. Die Ungarn selbst hatten doch längst diese Idee aufgegeben und die Magyarisierung der Fremden im Lande forciert.« Vater fuhr in seiner Darlegung fort : »Als die Batschka nach dem Ersten Weltkrieg dem ›Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen‹ zugeschlagen wurde, später [1929] ›Jugoslawien‹
genannt, hat man uns Deutsche einige Jahre hofiert, um unsere langjährigen Verbindungen mit Ungarn vergessen zu machen. Aber gleichzeitig
hatte die neue Regierung des Königreichs uns jahrelang ins politische
Abseits gestellt : Wir bekamen mehrere Jahre lang kein Wahlrecht und durften keine eigenen politischen Parteien gründen. Deutsche Vereine
und Organisationen, wie z. B. der Schwäbisch-Deutsche Kulturbund, der
Katholische Jünglingsverein u. a. wurden verboten, das Vereinsvermögen eingezogen, unsere Bauern konnten kein Land hinzukaufen, wohl aber die
Slawen. In Jugoslawien waren wir nicht nur Menschen zweiter, sondern sogar nur dritter Klasse.
Diese schlechte Behandlung durch die slawischen Staatsvölker führte
auch dazu, dass in den 1930er-Jahren viele junge Deutsche sich sowohl
gegen das Magyarentum als auch gegen das Serbentum auflehnten und
die nationalsozialistischen ›Erneuerer‹ Zulauf erhielten. Erschwerend kam
hinzu, dass die Serben der Ostkirche, die Deutschen, Kroaten und Slowe-
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nen der Westkirche angehörten. Gerade in nationalen Bewegungen spielen
religiöse Überzeugungen auf dem Balkan seit jeher eine wichtige Rolle
oder werden als Vehikel für nationalistische Vorhaben genutzt. Bei den
Pravoslaven, den Orthodoxen, ist die Kirche sogar bis heute die treibende Kraft des Nationalismus. Es waren früher vor allem die Klöster und die
Dorfpopen, die den serbischen Nationalismus und die Idee vom alten Zarenreich während der osmanischen Zeit hochhielten.
Wanderungen von Serben gab es bereits in osmanischer Zeit, aber sie
ließen sich nicht unbedingt zwischen Donau und Theiß nieder, denn sie
wollten ja der türkischen Herrschaft entfliehen.«
Ich bemerkte dazwischen : »Der Filipowaer Priester Anton Zollitsch hat doch nachgewiesen, dass seine Ururahnen bereits im 16. Jahrhundert aus Serbien bis nach Tirschenreuth in der Oberpfalz ausgewandert waren und Anfang des 19. Jahrhunderts von dort nach Filipowa gekommen sind. Von dieser Zollitsch-Sippe stammt wohl auch unsere Mutter ab.« Vater ging weiter in seiner geschichtlichen Belehrung : »Als die Osmanen bis weit in den Süden des Balkans zurückgedrängt waren, sahen die Serben ihre Stunde für gekommen, wieder die führende
Macht auf dem Balkan zu werden. Ihre hohe Geburtenrate und die ärmlichen Verhältnisse im Süden des Reiches zwangen sie dazu, im Süden
der ungarischen Monarchie ihr Auskommen zu suchen. Dort wurden in der intensiv betriebenen Landwirtschaft immer mehr billige Arbeitskräfte
benötigt, denn die deutschen Tagelöhner bevorzugten es zunehmend, in
der stark wachsenden Hanfindustrie zu arbeiten. So stieg die Anzahl der Serben an Donau und Theiß. Gegenwärtig kann man von serbischer Seite
häufig hören, die Donauschwaben hätten sie bei ihrer Ansiedlung aus ihrem angestammten Ahnenland vertrieben.«15
15 Der Historiker E. Hösch schreibt in seiner »Geschichte der Balkanländer« : »Im Schutze einer immer erfolgreicher operierenden habsburgischen Kriegsmacht hatten
36 : Die Katastrophe – warum nur ? »Als ich in den Zwanzigerjahren meinen Militärdienst in Südserbien absolvierte«, fuhr mein Vater fort, »war ich in Niš, Skopje und Bitol stationiert. Bisweilen war ich mit Rekruten aus der Region in ihre Heimatdörfer
gekommen. Ich war erstaunt, als ich diese einfachen Verhältnisse sah. Aber gastfreundlich waren diese Menschen über die Maßen ! Alle boten einem
ihr Bestes an. Elektrisches Licht gab es in keinem Dorf. Lesen und schreiben konnte nur hin und wieder jemand. Die Leute lebten von kleinen Her-
den und hatten kaum Ackerland. Dazu hatten sie sicher so viele Kinder wie wir in Filipowa. Sie mussten notgedrungen ihre Dörfer verlassen, da das
Land sie nicht alle ernähren konnte. Oft haben mich Rekruten gefragt, ob
ich ihnen nicht bei einem Bauern bei uns eine Stelle als Knecht vermitteln
könnte. Ich habe viele Briefe für sie geschrieben, da sie fast alle Analphabeten16 waren.
Meiner Ansicht nach waren die wirtschaftlichen Gründe für unsere
Vertreibung die entscheidendsten. Im Süden gab es den großen Geburten
überschuss und wenig fruchtbares Land. Jugoslawien aber war ein ausge
sprochener Agrarstaat, der vor allem im Süden auf einem technisch niedrigen Niveau produzierte. Im Norden dagegen gab es den fruchtbaren Boden
und die Bevölkerungszahl stagnierte in den meisten deutschsprachigen
Dörfern oder ging sogar zurück. Filipowa hatte mehr Kinder unter fünfzehn Jahren als alle deutschen Dörfer des Odschager Bezirks zusammen.
Die Südserben waren Titos engagierte Partisanen geworden. Deshalb
konnte Tito sie nach dem Sieg nicht in ihrer Armut belassen, wenn er sie [die Serben] jenseits von Save und Donau eine neue Heimat gefunden, die ihnen im Verbund der habsburgischen Länder erfolgreiche wirtschaftliche Betätigungen und Anteil an der westeuropäischen Kulturentwicklung bot« (2002 : 146). – Beim Aufbau der Militärgrenze zum Osmanischen Reich hin wurden orthodoxe Serben schon frühzeitig als Wehrsoldaten herangezogen. Nach dem Frieden von Karlowitz (1699) wurden Serben in größerer Anzahl im Ostteil Slawoniens angesiedelt (ibid.). 16 Nach Hösch (2002 : 210) betrug das »Analphabetentum in Jugoslawien 1921 noch durchschnittlich 51,5 % – wenn auch mit erheblichen regionalen Differenzierungen. Zwischen 8,8 % in Slowenien und 83,8 % in Mazedonien«. Ähnlich waren die Verhältnisse im ganzen Süden außer in den Städten an der Adria.
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einen stabilen und prosperierenden Staat aufbauen wollte. Durch die nationalsozialistischen Umtriebe der ›Erneuerer‹ und der freiwillig zur SS Eingerückten konnte er uns eine Kollektivschuld anlasten und unsere Dörfer und Ländereien an seine Getreuen verteilen.«
»Wenn diese Gründe zutreffend sind, die Ihr für unsere Situation in Jugoslawien anführt«, resümierte ich die Aussagen meines Vaters, »dann waren unsere Nazis gar nicht die Alleinschuldigen an unserer Katastrophe.« »Nein, das waren sie nicht. Die großserbischen Bestrebungen existierten
schon vor der Gründung Jugoslawiens nach dem Ersten Weltkrieg. Was man
aber unseren ›Erneuerern‹ vorwerfen muss, ist, dass sie den Tito-Partisanen
erstklassige Argumente für unsere Vernichtung und Vertreibung geliefert haben. Das arrogante und großdeutsche Verhalten unserer Nazis hat den
Hass vieler Slawen auf uns Deutsche erst so richtig angestachelt. Zehntausende Donauschwaben haben sich freiwillig zur SS gemeldet und gegen die
Slawen gekämpft. Die Serben haben deshalb von uns als von der ›fünften
Kolonne‹ Hitlers gesprochen. – All das sind Gründe, weshalb Jugoslawien für uns keine Heimat mehr sein kann. Im Grunde sind alle froh, Slawen wie
Ungarn, dass wir fort sind, und selbst wir sind es inzwischen auch.«
***
Knapp drei Jahre nach diesem Gespräch an der Donau weilte ich bei meinen Eltern in der Steiermark. Ich erfuhr, dass an Pfingsten ein großes Filipowaer-Treffen in Wien stattfinden sollte. Meine Eltern wollten gerne daran teilnehmen, um Landsleute zu treffen. So fuhren wir zusammen nach Wien. Nach Gottesdienst und Mittagessen gab es am Nachmittag, wie bei solchen Treffen üblich, zahlreiche Reden, die meist markige Sprüche ohne nennenswerten Inhalt kolportieren. Meine Mutter zog es vor, mit alten Freundinnen zu plauschen, aber Vater und ich hörten uns die Festreden an.
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So richtig aufmerksam wurden wir aber erst, als unser Landsmann Philipp Teppert »als Vertreter des Bundesvorstandes der Landsmannschaft der Donauschwaben in der Bundesrepublik Deutschland« mit einem Grußwort angekündigt wurde. Philipp Teppert (1909–1969) war einer der führenden Nationalsozia listen und Helfershelfer der »Erneuerer« der ersten Stunde in Filipowa. Er trug entscheidend dazu bei, dass sich die Bildungsarbeit der männlichen Jugend in einen nationalsozialistisch orientierten und einen konservativ-christlichen Flügel aufspaltete und die beiden Gruppen sich immer mehr befehdeten. Doch jetzt stand Teppert am Rednerpult, machte zu Beginn einige witzige Bemerkungen, dann fuhr er ernst fort : »Ich danke dem Herrgott, dass ich kein Engel bin ; ich danke dem Herrgott, dass ich ein Sünder bin ; ich danke dem Herrgott, dass er mir verziehen hat, und bitte, dass die, die noch nicht vergeben haben, vergeben mögen« (HB, 9, 1967 : 19). Er dankte also dem Herrgott für seine früheren Untaten. Was hätten wohl jene gesagt, die auf seinen Druck hin »freiwillig« zur SS einrücken »mussten« und nicht wiedergekommen sind ; die zusammengeschlagen wurden, deren Fensterscheiben er einschlagen und deren Häuser er mit dem Judenstern beschmieren ließ ? Dankte er dafür, dass er dies tun durfte ? Mein Vater neben mir war wütend über die offensichtlich als Entschuldigung gedachte Rede. Die meisten Zuhörer spendeten ihm Beifall, einige, wie auch wir beide, nicht. – Als wir nachts nach Hause fuhren, versuchte mein Vater mich zu überzeugen, dass ich etwas als Reaktion darauf schreiben müsse, um die Wahrheit zurechtzurücken. Ich jedoch machte ihm klar, dass ich augenblicklich mit einer Arbeit an der Universität beschäftigt war und mich nicht mit einem ganz neuen Thema befassen konnte. In den Tagen danach nahm ich einige Ausführungen meines Vaters auf Band auf, aber leider blieben diese Aufzeichnungen bis nach meiner Pensionierung ungenutzt liegen.
3. Filipowa – ein Dorf in der Batschka
Nachdem die Donauschwaben 1944/45 von den Tito-Partisanen aus ihren Wohngebieten vertrieben worden waren und die Überlebenden im Westen eine neue Heimat gefunden hatten, entstanden über jedes größere deutschsprachige Dorf der Batschka Heimatbücher und diverse andere Schriften. In ihnen wurden das frühere Leben in den Dörfern, das wirtschaftliche und religiöse Brauchtum sowie der soziale Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft eingehend beschrieben, und zwar fast immer in einer idealisierenden Rückschau. Soziale Spannungen und Benachteiligungen, Ausgrenzen von Andersnationalen, politische Kontroversen, die es früher durchaus gegeben hatte, wurden darin meist nur am Rande erwähnt. Über Filipowa sind mehrere Heimatbücher erschienen. Das jüngste umfasst sogar acht Bände (1978–1999). Es sind auch eine Reihe weiterer Bücher zu Filipowa erschienen. Dazu gibt der Filipowaer Heimatverein in Wien jährlich zwei umfassende Heimatbriefe heraus. Das politische Leben von ca. 1935 bis 1944 spielt in allen diesen Publikationen – außer in Band acht von 1999 – nur eine marginale Rolle. Bis Mitte der 30erJahre des vergangenen Jahrhunderts trat Politik in Filipowa auch wenig in Erscheinung. In den Heimatbüchern anderer donauschwäbischer Gemeinden wird dem genannten Jahrzehnt noch weniger Beachtung geschenkt als in Filipowaer Publikationen, obgleich seit Mitte der Dreißigerjahre die Agitation der nationalsozialistisch orientierten »Erneuerer« die Dorfgemeinschaften zu politisieren und in zwei antagonistische Lager zu spalten begann. Nicht nur die politischen, sondern auch die kulturellen Aktivitäten hielten sich in den donauschwäbischen Bauerndörfern der Batschka in
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einem bescheidenen Rahmen. Der Donauschwabe und gute Kenner seiner Landsleute Adalbert Karl Gauß sagt von ihnen : »Natürlich waren sie nicht gerade ausersehen, durch geistige und kulturelle Spitzenleistungen von sich hören zu lassen.«17 Die Donauschwaben waren nach den Siegen über die Türken durch den Prinzen Eugen von Savoyen bei Zenta (1697) und Belgrad (1717) in ein Land gekommen, das sie durch große Opfer erst urbar machen mussten. Der Filipowaer Priesterdichter und Politiker Stephan Augsburger18 (1840–1893) hatte für seine Landsleute das Motto geprägt : »Nicht mit dem Schwert,
Mit der Pflugschar erobert :
Kinder des Friedens, Helden der Arbeit.«
Anfangs arbeiteten die Ansiedler, um zu überleben. Es blieb ihnen verständlicherweise wenig Zeit für Kultur. Als sie ihr Überleben gesichert hatten, gab es wieder wenig Zeit für Kultur, weil man den Wohlstand mehren wollte. Es waren vor allem die Bauern, die rackerten und schufteten, um ihren Landbesitz zu vergrößern. Man sagte dem donauschwäbischen Bauern nicht umsonst nach, dass er unersättlich gewesen sei und unermüdlich gearbeitet habe. Er stellte seinen Reichtum in rassigen Pferden, kostspieligem Zaumzeug, prunkvollen Wagen und in »Paradestuben«, die nie bewohnt wurden, gerne zur Schau. So richtig konnte er ihn aber nicht genießen. Dazu hatte er gar keine Zeit. Da man über17 Adalbert Karl Gauß, Ein donauschwäbischer Publizist, Salzburg 1983 : 11. Gauß war jahrzehntelang Chefredakteur der donauschwäbischen Wochenzeitung »Neuland«. Er war ein unermüdlicher Kämpfer für die Sache der Donauschwaben in ihrer neuen Heimat und für ihre wahre Vergangenheit. Ihre Romantisierung lehnte er strikte ab. 18 Augsburger war Domherr und Abgeordneter im ungarischen Parlament. Er hatte sich, wie damals üblich, magyarisieren lassen und nannte sich Rónay István.
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dies in Filipowa bei der Erbfolge die Realteilung praktizierte und meist zahlreiche Kinder hatte, kam es niemals zu ganz großen Bauernhöfen. Junge Bauernfamilien gründeten sogar jenseits der Donau in Slawonien eine Tochtersiedlung, Tomaschanzi, denn dort konnte man noch Land erwerben. Filipowa gehörte zu den großen deutschsprachigen Dörfern der West-Batschka. Kurz vor der Vertreibung 1945 zählte es über 5.300 Seelen. Fast alle Bewohner bezeichneten sich als Deutsche, außer einigen Beamten wie der Gemeindenotar, der Amtsarzt, der Postmeister, der Bahnhofsvorsteher und einige Lehrerinnen und Lehrer, dazu das Dienstpersonal in großen Haushalten und auf den Meierhöfen, den sogenannten Sallaschen. In ungarischer Zeit wurden die Beamtenstellen mit Ungarn, in jugoslawischer mit Serben und gelegentlich mit Kroaten besetzt. Den Donauschwaben wurde das Recht, sich selbst zu verwalten, weder von den Ungarn noch von den Jugoslawen zugestanden.19 Obgleich sie eine große Minorität bildeten, war Ungarisch bzw. Serbisch jeweils die einzige Amtssprache. In jugoslawischer Zeit galt sogar die kyrillische Schrift für die Deutschsprachigen als verbindlich, nicht jedoch für Kroaten und Slowenen. Unter dem Lehrpersonal gab es Donauschwaben, aber auch sie hatten in der Amtssprache zu unterrichten. Wenn es in der Grundschule das Fach Deutsch überhaupt gab, galt es als Fremdsprache, und zwar besonders in ungarischer Zeit bis 1918. Vielfach sprach das nicht-deutsche Lehrpersonal nur gebrochen deutsch. Wie der Name meines Heimatdorfes korrekterweise lautet, ist nicht einfach auszumachen, denn der Name tritt in mehreren Varianten auf. Die rezenten Autoren schreiben fast alle »Filipowa« und beziehen sich dabei u. a. auf ein Schreiben des Ansiedlungskommissars Anton von Cothmann an Kaiserin Maria Theresia. Darin heißt es, dass zurzeit – wahrscheinlich ist das Jahr 1761/62 gemeint – das »alleinige Praedium 19 In Ungarn lebten zur Zeit der Monarchie ca. 2 Millionen Deutsche, in Jugoslawien Ende der 1930er-Jahre ca. 500.000 und in der Wojwodina ca. 330.000.
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Philippova« zur Besiedlung frei sei.20 Die übrigen kaiserlichen Praedien (Ländereien) der Region waren damals noch verpachtet. – In der Dorfsprache sagten die Bewohner aber niemals »Filipowa«, sondern »Filpwa«. Man hat nur Fremden gegenüber von Filipowa gesprochen. Man wollte sich damit etwas vornehmer geben. Das »Praedium Philippowa« war ursprünglich der Besitz der Benediktiner- oder Zisterzienserabtei Sankt Philippus. Anton Zollitsch, der zu dieser Frage zahlreiche Archivstudien gemacht hat, schreibt in seinem Heimatbuch von 1957 (S.19) : »Im 11. Jahrhundert wurden an der Marosch, der nördlichen Grenze des
Banats, einige Klöster gegründet, eines von ihnen unter dem Namen und
zu Ehren des hl. Philipp. … Das Kloster des hl. Philipp war eine könig-
liche Stiftung und wurde vom König mit verschiedenen Gütern versehen.
Eine Vermögensgruppe lag auch im Zwischenstromland, in der späteren
Batschka. Von diesem Besitz des Klosters zu Ehren des hl. Philipp heißt es in einer Urkunde von König Béla III. im Jahre 1173 usque ad terram sti
Philippi, also bis zum Gebiet von Sankt Philipp.«
Damit ist sehr wahrscheinlich das Gebiet von Filipowa gemeint. Die Abtei21 selbst wurde 1282 im Kumanenaufstand22, der an Marosch und Theiß wütete, niedergebrannt. Von der Schlacht bei Mohács (1526) bis zur Schlacht bei Zenta (1697) war das Gebiet von Türken besetzt. Merkwürdig klingt, dass der ungarische König während dieser Zeit das Gebiet 20 Nach einem Faksimile aus dem Hofkammerarchiv in Wien (nach Zollitsch 1957) »Filipowa« (Vorblatt). 21 Im Schematismus der Erzdiözese Kalocsa, zu der Filipowa in ungarischer Zeit gehörte, heißt es 1942 hierzu : anno 1173 jam certe existens, d. h. das Klostergut existierte damals bereits. Ob es sich allerdings um ein benediktinisches oder um ein zisterziensisches Gut handelte, lasse sich nach Eichinger (Heimatbrief Nr. 18 : 6–7) nicht mehr ausmachen, da beide Orden damals in der Gegend verbreitet waren. 22 Die Kumanen waren ein Turkvolk, das sich im 13. Jahrhundert in der ungarischen Tiefebene niederließ. Zunächst besaßen sie eigene Rechte und sind erst später in die allgemeine Verwaltung eingegliedert worden.
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um Filipowa an ungarische Adelige als Lehen geben konnte. So hat der Vizekönig Graf Eszterházy 1635 im Namen des Königs das Land an Gefolgsleute verliehen. Diese siedelten böhmische Protestanten auf dem Gut an, die es Filipovo Selo – zu Deutsch »Philippsdorf« – nannten. Es soll sieben Häuser umfasst haben. Als das Gut 1652 dem ungarischen Grafen Wesselényi verliehen wurde, hieß es Fülöpfalu – zu Deutsch Philippsdorf. Später tauchen in den Registern mehrere Pächter der »Puszta Filipowa« auf, so z. B. wird als Pächter ein Viehhändler aus Esseg (Osijek) in Slawonien an der Drau genannt.23 Man kann aus der Viehhaltung schließen, dass es sich um reines Weideland handelte. Der aus Filipowa gebürtige Kantorlehrer Jakob Leh stellte in den 1930er-Jahren intensive Archivstudien zu seinem Heimatbuch über Filipowa von 1937 an. Darin zitiert er alte Beschreibungen der Gegend aus der Zeit nach der Schlacht bei Zenta (1697) : »… Tagelange Reisen mußte man machen, um ein menschliches Obdach oder Spuren von menschlicher Tätigkeit zu finden. Nur hie und da fand
man die Rohrhütte eines Hirten oder den unterirdischen Schlupfwinkel
eines Menschen. Wo einstmals dichtbevölkerte Dörfer und Städte standen, dort gab es in dem unwegsamen, weiten Gesichtskreis nichts als hie und da rauchgraue Ruinen der Kirchen und Häuser als traurige Wegweiser des alles vernichtenden Krieges.«24
23 Die Pachtgebühren für die Puszta Filipowa betrugen »zwei Paar Tschismen [Stiefel] aus rotem Karmesinleder, Pantoffeln, Socken und vier Halben Butter« ; das war für über 4.000 Joch, ca. 2.230 ha, (nach Leh 1937 : 21). 24 Filipovo. Bilder aus meiner Heimat. Novi Sad 1937 : 21. Bei den »unterirdischen Schlupfwinkeln« handelt es sich wohl um Häuser, wie sie in alter Zeit in der Puszta üblich waren. Sie wurden ein bis zwei Meter in die Erde gegraben. Das dicke Rohrdach reichte oft bis auf den Boden. Solche Häuser schützten vor Wind, Kälte und Hitze. Abkömmlinge dieser Bauweise waren die sogenannten »Eisgruben« in Filipowa. In sie wurden im Winter Eisschollen für den Sommer eingelagert, die auch an heißen Sommertagen nicht schmolzen. Solche Eisgruben existierten noch in meiner Kindheit in Filipowa.
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Solange der Ort zum Kaiserreich gehörte, schrieb man ihn seit der Ansiedlung 1763 »Filipowa«. Mit der Errichtung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn im sogenannten »Ausgleich« von 1867 wurde der Name magyarisiert und lautete bis 1918 »Szentfülöp« – St. Philipp. Im Königreich Jugoslawien (von 1918 bis 1941) hieß der Ort »Filipovo«. Während der ungarischen Besetzung der Batschka von 1941 bis 1944 nannte man den Ort wieder »Szentfülöp«. Nach der Vertreibung der Donauschwaben im März 1945 wurde das Dorf mit Personen aus Südkroatien (der Lika) besiedelt. Sie brachten ihren Dorfnamen Bački Gračac mit ; so heißt der Ort bis heute. Vor der Vertreibung waren ein Drittel der Bewohner Filipowas Bauern, ein weiteres knappes Drittel Handwerker und Händler, an die 40 % waren Tagelöhner, Hechler und Fabrikarbeiter/-innen. Das Dienstpersonal, vor allem Mägde und Knechte, waren vielfach slawischer Herkunft. Im Ganzen gesehen, bildeten die größeren Bauern die wohlhabende Schicht. Der Hanfanbau wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts enorm gesteigert ;25 es entstanden acht Hanfverarbeitungsbetriebe in der Umgebung des Ortes mit je 150 bis 200 Arbeiter/-innen. Hinzu kamen zahllose Hecheleien – Ende der 1930er-Jahre sollen es über 60 gewesen sein. Der Hanf und seine Verarbeitung brachten dem Ort sehr viel Geld ein. Am meisten profitierten davon die Hanfhändler und Fabrikbesitzer, aber auch die übrige Bevölkerung ging dabei nicht leer aus. Bei der Ansiedlung 1763 war jedem Bauern ein bestimmtes Quantum an Ackerland und Wiesen zugeteilt worden. Handwerkerfamilien wurden in einem kalkulierten Verhältnis zur Anzahl der Bauern im Ort angesiedelt. Auch sie erhielten ein kleines Stück Land, um Gemüse oder Futter für das Kleinvieh anzubauen. Die Ansiedlungspolitik zielte vor allem auf den Ackerbau ab. Man suchte offenbar die Region im Norden 25 Filipowa war eine Hochburg des Hanfanbaus. An die 2.000 Joch waren mit Hanf, 3.000 mit Weizen bebaut. Ein Katastraljoch hat 5.575 m2. Selten rechnete man mit dem kleinen oder ungarischen Joch. Dieses hatte 4.241 m2.
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der Militärgrenze, die das Reich im Süden gegen die Osmanen aufbaute, wirtschaftlich zu beleben und zu festigen. Deshalb ließ man in dieser frühen Zeit auch slawische Familien, vor allem serbische – erklärte Gegner der Türken –, sich in den Grenzdörfern, die als Wehrdörfer ausgestaltet wurden, ansiedeln. Die Serben galten als die entschiedensten Gegner der Türken. Die deutschen Handwerker, die man in die Dörfer der Batschka holte, hatten die Aufgabe, die Landwirtschaft zu unterstützen. Deshalb tauchen anfangs in den Einwanderungsregistern vor allem Wagner, Schmiede, Riemer (Sattler), Seiler, Tischler und ähnliche Berufe auf. Wichtig war, dass ihre Erzeugnisse von den Bauern auch benötigt wurden. Die Ansiedlung verfolgte im Grunde recht hegemoniale Ziele und war durchaus kein Werk der Menschenfreundlichkeit. Während der Türkenkriege von Prinz Eugen ist öfter von Unruhen der Bauern die Rede. Da sich das Militär meist vor Ort, also auf Kosten der Bevölkerung, verproviantierte und viele Monate, wenn nicht Jahre, stationär war, litten die Bauern unter der Anwesenheit der Truppen. In alten Berichten heißt es, die Menschen hätten die Türken wieder zurückgewünscht, da diese sie weniger ausbeuteten als die kaiserlichen Truppen26. Für die auf lange Zeit anvisierte Militärgrenze gegen die Türken musste eine bessere Versorgung der Region aufgebaut werden. Die meist slawischen Siedler der Grenzdörfer sowie die deutschen Siedler der nördlichen Region waren hierzu die probaten Helfer. In Filipowa hatten auch Familien ohne Landwirtschaft, also Handwerker und Tagelöhner, immer einen Geflügelhof, Schweine für den eigenen Bedarf und in alter Zeit auch Ziegen. Es kam häufig vor, dass solche Familien mit einem Bauern eine Abmachung hatten, dass sie zur Erntezeit um den zehnten Teil bei ihm Erntearbeit leisteten : so vor allem beim Weizenschnitt, Dreschen, Hanfschneiden, Kukruzbrechen27 und biswei26 Siehe Mazower, Der Balkan, 2002 : 68 ff. 27 Es war eine Arbeit zu Beginn des Herbstes : Man brach die Maiskolben samt dem
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len auch bei der Weinlese. Der Zehnt bezog sich auf die Gesamternte, die der Riisar, der Tagelöhner in Akkordarbeit, zu leisten hatte : Beim Schnitt z. B. umfasste seine Leistung das Bändermachen, Mähen, Binden, Dreschen. So hatte jede Seite ihre Vorteile : Der Bauer konnte mit zuverlässigen Erntearbeitern rechnen, die er mit Naturalien entlohnte. Der Riisar mit seiner Familie wiederum verdiente im Sommer in einigen Wochen harter Arbeit Brot und Mehl für das ganze Jahr. Beim Hanf fiel neben Geld auch noch Brennmaterial an, die sogenannten »Brechhaagle« (die gebrochenen Hanfstängel) und beim Mais Futter für das Kleinvieh sowie Brennmaterial. Jedes Dorf verfügte von der Ansiedlung her über große Gemeindewiesen, die sogenannten Hutweiden, auf denen das Vieh der Dorfbewohner weiden durfte. Für Schweine und Kühe gab es eigene Hüter, die von »Jurgi« (Fest des hl. Georg am 24. 4.) bis Micheli (St. Michael, 29. 9.) jeden Werktag das Vieh auf die Hutweide trieben, es beaufsichtigten und am Abend zu den Besitzern zurückbrachten. Auf die »Sauhalt« wurden immer einige Zuchteber mitgetrieben, sodass für den Nachwuchs gesorgt war. Den Enten und Gänsen stand ebenfalls die Hutweide zur Verfügung, aber die Dorfbewohner hatten selbst den Hütedienst zu übernehmen. Das war gewöhnlich die Aufgabe der Kinder. Mit der Gründung des Ortes 1763 wurde in der Mitte des Dorfes eine Kirche mit einem Pfarrhaus erbaut, gegenüber der Kirche ein Gemeindehaus, daneben ein Dorfgasthof für Durchreisende, »Herrschtwertshaus« genannt, und das Schulgebäude hinter der Kirche. Die Pfarrei wurde mit reichlich Ackerland ausgestattet, sodass Pfarrer und Kirche gut überleben konnten und nicht auf Beiträge der Siedler angewiesen waren. Die Pfarrer in den donauschwäbischen Dörfern gehörten nicht selten zu den reichen Bauern. Sie hatten allerdings ihre Felder verpachtet. sie umhüllenden Laub von den Stängeln. Später wurden die Kolben auf dem Hof von Hand geschält. Die belaubten Stängel dienten zunächst als Viehfutter und später die abgeschälten als Brennmaterial.
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Es gab Dörfer, die nicht so ausgestattet waren und deshalb den Zehnt erhoben. Auch dem Kantorlehrer stand ein Stück Ackerland zur Verfügung, denn er hatte neben dem Unterricht für Musik und Gesang im Gottesdienst zu sorgen. Da es im Herbst und besonders im Frühjahr häufig zu Überschwemmungen kam, war der Filipowaer Hotter28 mit der Zeit von zahlreichen Entwässerungsgräben durchzogen worden, die in die beiden großen Kanäle mündeten, die mit Donau und Theiß verbunden waren. Die Kanäle waren in der Ansiedlungszeit angelegt worden. In Gräben und Kanälen gab es reichlich Fische. Bei Überschwemmungen gelangten sie bis in die Dörfer. In all diesen Gräben war das Fischen frei, meist aber wurde dieses Recht nur von Jugendlichen wahrgenommen. Im Frühsommer vor der Erntezeit feierte man gerne Dorffeste. Dazu gingen dann die jungen Männer eines Viertels (»Eck« genannt) in die Gräben fischen, denn zu einem ordentlichen Viertelfest gehörte ein Fischpaprikaasch, das in Kesseln gekocht wurde. Es war dies die Übernahme eines ungarischen Brauchtums von den Dörfern an der Donau, wo man von halpaprikás sprach. Mit der Spaltung der Dorfbewohner in Schwarze und Braune Ende der 1930er-Jahre wurden derartige Dorffeste nicht mehr gefeiert. Im Juni 1939 fand das letzte in unserem Eck (Viertel) statt. – Hier eine Beschreibung dieses letzten »Eckfestes« : Es war Pfingstmontag Anfang Juni. Der Tag war schön und sommerlich heiß ; der »Schnitt« (des Weizens = »dr Frucht«) stand bevor. Meine Eltern waren bereits von unserem Bauern benachrichtigt worden, dass in den nächsten Tagen der Roggen (»das Korn«) zu mähen wäre, damit wir Bänder für die Weizengarben machten.29 28 Als »Hotter« (in Filipowa »Hutt’r« genannt) bezeichnet man das Gesamtareal einer ländlichen Gemeinde. 29 Für Bänder, mit denen Weizengarben gebunden wurden, nahm man Roggenstroh, da diese Halme länger waren als Weizenhalme und die Garben daher dicker gemacht werden konnten.
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Mein Vater war ins Hochamt gegangen. Nach dem Gottesdienst machte er den Heimweg mit unserem Nachbarn, dem Hansvetter. Dieser meinte zu meinem Vater, ob er denn nicht »glischtich« (»gelüstig«) darauf wäre, ein ordentliches Fischpaprikaasch zu essen. Mein Vater war als passionierter Fischesser bekannt. Er aß alles, was Fisch hieß, wenn’s nur ein Schwänzchen hatte. Hansvetter sinnierte weiter : Man könnte ja heute Nachmittag im großen Teichgraben fischen gehen und am Abend ein großes Kessel-Paprikaasch veranstalten. Es sei sicher die letzte Möglichkeit vor dem Schnitt. Und wenn der erst mal begonnen habe, gibt’s bis Spätherbst keine Ruhe mehr, denn danach komme gleich der Drusch, das Hanfschneiden, das Hanfreeze (Rösten), das Kukruzbrechen und -schälen. Und dann sei auch schon der Sommer vorbei. Über solchen Gesprächen kamen sie zum Wirtshaus Graugans. Mein Vater ging selten ins Wirtshaus, aber der Hansvetter meinte, an so einem schönen Tag würden zwei, drei Spritzer guttun. Also gingen sie hinein und stießen dort auf eine ganze Gruppe jüngerer Männer unseres Viertels : den Tonivetter, den Mischkevetter, den Valtivetter und noch andere. Als unser Nachbar ihnen seine Idee vom Fischpaprikaasch dargelegt hatte, waren sie Feuer und Flamme. Sie organisierten gleich unter den Wirtshausgästen ein Fuhrwerk, Netze und zwei Tschickekörbe30, um gleich nach dem Mittagessen zum großen Teichgraben zu fahren. Die Frauen könnten in der Zwischenzeit Zwiebeln schälen und alle Zutaten für das Paprikaasch zusammentragen. Hansvetter und mein Vater sollten zu Hause bleiben und hier alles vorbereiten, damit man dann nur mehr die Fische zu putzen und zu kochen hätte. Sie wären sicher so gegen fünf mit dem Fang zurück. Hansvetter lud noch zu einer Spritzer-Runde ein, dann ging’s schnell nach Hause zum Mittagessen. Als mein Vater bei Tisch von dem bevorstehenden Fest erzählte, war meine Mutter sehr angetan von der Idee, vor den schweren Arbeitstagen 30 Es sind dies geflochtene Körbe, um Sumpfaale (Tschicke – möglicherweise vom ungarischen Wort csik – Streifen) zu fangen.
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nochmals zu feiern. Die Frauen im Eck haben es wohl ähnlich gesehen und erst recht wir Kinder, wir waren vollauf begeistert. Die Kunde vom Fischessen ging wie ein Lauffeuer durchs Viertel. Die älteren Frauen setzten sich zwar wie üblich in ihren Rohrstühlen zusammen auf die Gass, aber lang hielt es die meisten dort nicht. Es war ein Kommen und Gehen. Die Frauen trugen aus den Häusern Zwiebeln, Paprika, Schmalz, Salz und Brot zusammen ; andere machten Nudeln. Die größeren Buben halfen meinem Vater Tische und Stühle herbeizutragen, denn die Kochkessel sollten am Straßenrand abseits der Maulbeerbäume aufgestellt werden. Auch Feuerholz musste herbeigeschafft werden. Der Mattesejergl, der Sohn des größten Bauern im Viertel, trug mit anderen Buben Wagenstangen (»Neewrtstange«) herbei und mein Vater baute damit ein Gerüst, an dem die Kessel hängen sollten. Der Hansvetter kümmerte sich um den Wein und die Kessel. Er ging mit Korbflaschen zu den Bauern mit Weingärten und bat um einen Beitrag. Er sagte aber auch gleich : »Laabschneiderwein« (gewässerten Wein für die Feldarbeit) wolle er nicht. An jede Korbflasche komme ein Namensschild, damit man den Spender und die Qualität seines Weines erkenne. Natürlich füllte ihm jeder Bauer eine Korbflasche voll mit seinem besten Wein, denn er wollte doch zeigen, was er hatte. Hätte einer nichts oder nur schlechten Wein gegeben, wäre sein Ruf im Viertel ruiniert und er als Geizhals verschrien gewesen. Als vier Kessel beisammen waren, ging mein Vater zur Frauenrunde (der sogenannten »Weiwerraaj«) und fragte die Kathibesl, ob die vier Kessel wohl ausreichen werden. Sie meinte : »Aber Balzer, so viele Fische, um vier Kessel zu füllen, fangen die niemals.« Als die Lissibesl das hörte, ging sie nach Hause und sagte ihrem Mann, dem Seppvetter, er solle einige Karpfen aus seinem Fischwasser beisteuern. So geschah’s auch. Er fuhr mit seinem Knecht hinaus und kam noch vor den Fischern im Teichgraben mit etlichen kapitalen Spiegelkarpfen und einigen Schaadln (Welsen) zurück. Bald darauf kamen die Fischer. Sie hatten in den paar Stunden mehr gefangen, als man erwarten konnte. Allerdings waren die meisten Fische
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etwas klein, und mager waren sie obendrein. Sie brachten : Karpfen, Goreisle (Garauschen), Schaadle (Welse) und Weißfische. Die Fischer hatten allerdings auch einen ganzen Eimer voll Tschicke mitgebracht. Ich hörte, wie mein Vater seinen Cousin, den Valtivetter, fragte, wie sie so schnell an die Tschicke gekommen seien. Dieser flüsterte ihm zu, sie hätten sie von einem Birescher aus Lalitsch (einem serbisches Nachbardorf ), der dort Tschicke-Körbe aussetzte, für fünf Liter Wein abgekauft. Den Wein komme er morgen abholen. Männer und Frauen machten sich gleich ans Fischputzen ; Hunde und Katzen liefen bald herbei und warteten auf die Innereien. Als die Frauen die Tschicke sahen, protestierten gleich einige – meine Mutter übrigens am lautesten –, dass diese nicht mit den anderen Fischen gekocht werden dürften, denn »Schlangen« wollten sie keine essen, wie sie sich ausdrückten. Man kam ihnen entgegen und kochte die Tschicke in einem Kessel separat. Während noch wegen der Tschicke hin und her diskutiert wurde, hörte man von hinter dem Haus den Tonivetter schreien, als ob ihm etwas passiert wäre. Er hatte wegen des heißen Wetters noch immer seine lange nasse Hose vom Fischen angehabt. Da es aber gegen Abend ging und kühler wurde, hatte ihm seine Frau eine trockene Hose gebracht. Er ging damit hinters Haus, um sich umzuziehen. Kaum war er dort, begann er zu hüpfen und wie am Spieß zu schreien. Alles rannte hin, um zu sehen, was passiert war. Da stand der Tonivetter ganz nackt, und an seinen Schenkeln hingen mehrere dicke Blutegel (»Blutzuckl«). Er schrie noch immer, als ob er von einer Giftschlange gebissen worden wäre. Er hatte die Egel während der Fahrt gar nicht gespürt. Jemand rannte schnell, um Salz zu holen. Man streute es auf die Sauger der Egel ; diese ließen los und fielen zu Boden. Als man Jod auf die Wunden gab, jammerte er wieder ; seine couragierte Frau aber, die Vickibesl, herrschte ihn an, er solle wegen solcher Kleinigkeiten doch nicht wie ein kleines Kind schreien. Sie klebte ihm Pflaster auf die Wunden, denn sie bluteten, wie bei Egelbissen üblich, stark nach.
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Frauen und Männer nahmen die Fische aus und putzten sie. Vater und Valtivetter verteilten die Fische auf die Kessel, denn die Sorten müssen gut gemischt werden, damit sie eine feine Brühe ergeben. Die beiden waren auch die Hauptköche. – Wenn jemand ein Fischlein beiseite legte, weil es ihm zu klein vorkam, rief der Mischkevetter gleich : »Alles, was größer ist als eine Bohne, kommt in die Kessel !« Bekanntlich haben kleine Fische auch viele Gräten, aber einen echten Fischesser stören Gräten nicht : Er steckt an einem Mundwinkel die Fischlein hinein und spuckt am anderen Ende die Gräten wieder aus. Paprikaasch im Kessel zu kochen, war in Filipowa Sache der Männer. Das haben die Donauschwaben wohl von den Hirten der ungarischen Puszta übernommen. Diese Arbeitsteilung hat sich auch in den Dörfern entlang der Donau bis heute erhalten : Für Kesselgulasch sind die Männer zuständig, obgleich sie sonst nur selten kochen. Das echte Fischpaprikaasch befolgt in den Donaudörfern einen ziemlich strengen Kodex : Nur bestimmte Fische werden dafür verwendet ; die Zwiebeln werden sehr fein geschnitten oder sogar gerieben ; das Wasser im Kessel überragt zu Beginn die Fische um wenigstens zwei Fingerbreit ; wird das Paprikaasch mit Nudeln gegessen, gibt es mehr Suppe, als wenn es mit Weißbrot gegessen wird. Wenn der Inhalt zu kochen beginnt, kommen Salz, rotes Paprikapulver und noch ein bis zwei große scharfe Peperoni hinein. Das Kochgut im Kessel darf niemals gerührt werden, sondern der ganze Kessel wird hin und her geschwenkt, damit nichts anbrennen kann. Die Meisterschaft eines Kochs zeigt sich darin, dass er das Feuer so zu regulieren weiß, dass er kein Wasser nachschütten muss und der Fisch gar ist, sobald die Soße ihre richtige Konsistenz erreicht hat und möglichst kein Wasser über den Fischen steht. Nachdem das Paprikaasch gekocht und von einigen Köchinnen abgeschmeckt und für gut befunden worden war, hoben die Männer die Kessel vom Feuer und klemmten sie auf der Erde zwischen Ziegel und Hölzer, damit sie nicht umkippen konnten. An jeden Kessel postierte sich eine Frau mit einem großen Schöpflöffel und teilte jedem Fischsuppe
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und ein Stück Fisch zu. Die meisten Kinder, aber auch etliche Frauen aßen nur Suppe mit Nudeln oder Brot, da ihnen die Gräten zuwider waren. Unter dem Motto »Ein Fisch muss schwimmen« wurde dem Wein tüchtig zugesprochen. Die Stimmung stieg, und es wurde immer lauter. Wahrscheinlich vom Duft und dem Lärm angezogen, stellten sich bald zwei Musikanten von der unteren Kirchengasse ein und spielten auf. Zunächst begannen die kleinen Mädchen zu tanzen, dann folgten ihnen auch mehrere Erwachsene. Wir Buben besorgten uns einige Bündel trockenes Rebenreisig und warfen die Stängel nach und nach in die Glut, sodass es hohe Flammen und eine romantische Beleuchtung gab. Da der nächste Tag ein Werktag war und er für die Bauern in den Stallungen zeitig begann, wurde gegen Mitternacht zusammengepackt. Die Frauen sammelten ihr Geschirr und ihre Mitbringsel ein und gingen mit den Kindern nach Hause. Die meisten Männer blieben noch. Einige gaben in Gegenwart ihrer Frauen vor, sie kämen, sobald die Kessel leer gegessen seien. Die Vickibesl schien allerdings ihren Toni zu kennen, denn sie schärfte ihm ein : Er solle ja nicht glauben, er müsse auch noch alle Flaschen leer trinken, denn dann käme er mit einem »Rausch mit Ärmeln« nach Hause. Die Flaschen wurden nicht alle ausgetrunken, denn der Hansvetter hatte eine Korbflasche zu fünf Litern für den Lalitscher Birescher versteckt. – Man erzählte sich aber in den Tagen danach, dass es doch einige »Räusche mit Ärmeln« gegeben hätte. Aber niemand regte sich deshalb auf. Offensichtlich gehörte es zu so einem Fest dazu. – Das Jahr über wurde immer wieder von dieser spontanen Nachbarschaftsfeier erzählt, und alle versprachen, sie im kommenden Frühsommer zu wiederholen. Dazu ist es aufgrund der politischen Ereignisse nicht mehr gekommen.
4. Volksreligion in Filipowa
Wie bereits erwähnt, waren die deutschsprachigen Dörfer der Batschka, wie auch Filipowa, von ihrer Gründung her als Bauerndörfer angelegt worden. Deshalb war der jahreszeitliche Rhythmus des Ortes von der Arbeit in der Landwirtschaft abhängig. Dies war auch noch während des Zweiten Weltkriegs der Fall, wenn auch die Bauern nur mehr gut ein Drittel der Dorfbevölkerung ausmachten. Denn auch die übrigen Bewohner Filipowas, Handwerker und Tagelöhner, hingen weitestgehend vom Erfolg der Landwirtschaft ab. Nur wenn die Ernten reich ausfielen, ging es der gesamten Dorfbevölkerung gut. Da die Feldwirtschaft viele unkalkulierbare Risiken in sich birgt, neigt der Bauer mehr als andere Stände dazu, bei jedem Unwetter zu jammern, dass er eine Missernte einfahren würde. Dieses Risikos wegen ist er auch bestrebt, sich mithilfe von Riten und übermenschlichen Mächten den Ertrag seiner Ernten zu sichern. Je weniger der Mensch auf das Naturgeschehen Einfluss nehmen kann, desto offener ist er für die Hilfe transzendenter Mächte. Städter schauen gerne mit Verwunderung, wenn nicht gar Verachtung auf solches Verhalten und bezeichnen Bauern der vorindustriellen Zeit oft als abergläubisch. Freilich bedenken sie dabei nicht die prekäre Situation der Landwirte jener früheren Zeit. Bleibt in einem Jahr durch widrige Ereignisse wie Trockenheit, Überschwemmung, Hagelschlag, Schädlinge usw. die Ernte aus, spürt der Städter es heute kaum, weil er deswegen nicht hungern muss. In einem abgelegenen Bauerndorf wie Filipowa aber spürte das ganze Dorf die Missernte. Da es in Filipowa so gut wie keine Krankenoder Arbeitslosenversicherung gab, wurden die Bewohner besonders hart von Missernten getroffen. Arme konnten sich dann kaum einen
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Arzt leisten. Für viele galt : »Man geht erst zum Arzt, wenn man den Kopf unter dem Arm trägt.« Diese labile Situation der Landwirte hat in Filipowa noch im 20. Jahrhundert weitgehend bestanden, wenn auch nicht in dem Umfang, wie wir sie aus Berichten in der Frühzeit der Ansiedlung und gegenwärtig aus der »Dritten Welt« kennen. Dieses den Naturmächten Ausgeliefertsein ist u. a. mit ein Grund, dass Religion in ihrer traditionellen Form eine so zentrale Rolle spielte ; sie war mit ihren zahlreichen Riten und Heiligen im Alltagsleben der Dörfler zutiefst verankert. Man übte die religiösen Riten und Bräuche nicht aus rational-theologischen Überlegungen, sondern aus der Tradition und dem Bedürfnis nach Sicherheit heraus : Man hatte seit Generationen gelernt, auf die Religion in der Absicherung der Existenz zu vertrauen. Die Filipowaer praktizierten eine verinnerlichte Volksreligion, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zur offiziellen Hochreligion gesehen werden kann. Dies schließt freilich nicht aus, dass die Menschen bis auf die Knochen religiös, und zwar katholisch waren. Die Gläubigen orientierten sich dabei weniger an kirchlichen Verlautbarungen als vielmehr an den Bedürfnissen des Alltags. In gewissen Lebensverhältnissen, Notlagen, Umbruchsituationen usw. lieferte die Religion für die Betroffenen oft die einzige Sicherheit und letzte Sinngebung ; deshalb war für sie das absolute Vertrauen in die jenseitigen Mächte kein Luxus, sondern diese Mächte garantierten ihre Sicherheit. Es wäre allerdings verkehrt, wollte man die Religion der Filipowaer ausschließlich aus wirtschaftlicher Unsicherheit erklären. Religion war ihnen mehr als nur Trost in Notlagen, sie war dem ganzen Menschen inhärent ! Sicher ist auch, dass ihre Religion entscheidend von Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft geprägt war ; sie erhielt von diesen Faktoren ihre spezifische Form, wurde aber nicht durch sie verursacht. Volksreligionen sind gelebte und nicht von Theologen gelehrte Religionen. Das Volk verinnerlicht und schätzt sie, weil sie sich seit Generationen im Alltag bewährt haben. Die Religion der Filipowaer hatte die Dimensio-
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nen des geografischen Raumes wie der Zeit im Lebens- wie im Jahreszyklus bis in letzte Details durchdrungen. Der Mensch war von seiner Geburt an bis zum Tode, und noch jenseits des Grabes, ständig religiösen Riten und Bräuchen unterworfen. Die offiziellen Vertreter der Religion, also Priester, Mönche und Nonnen, sahen mit Befriedigung die Allgegenwart des Religiösen im wirtschaftlichen und sozialen Leben der Dorfbewohner. Obwohl Filipowa über 5.000 Einwohner zählte, war man aufgrund der geringen Aus- und Einheirat in andere Gemeinden und Stände doch sehr unter sich geblieben, sodass man alle erwachsenen Bewohner des Ortes persönlich kannte. Dies brachte es mit sich, dass jeder Einzelne einer kritischen Beobachtung durch die Gesellschaft unterworfen war. Wer sich nicht den herrschenden sozio-religiösen Normen unterwarf, wurde leicht zum Außenseiter. Nur wenige Filipowaer riskierten einen solchen Schritt, da sie damit ihr Ansehen in der Bevölkerung verloren hätten. Erst mit dem Aufkommen der »Erneuerer« Mitte der 1930er-Jahre – ihnen gehörten vor allem junge Männer an – wurde es üblich, die traditionelle Ordnung infrage zu stellen oder sie gar zu bekämpfen. Da die »Erneuerer« die nationalsozialistische Ideologie vertraten und vehement Rechte für die deutsche Minderheit einforderten, gerieten anfangs viele reformerisch Denkende in ihr geistiges Umfeld. Das alte Korsett der Bevormundung und Überwachung durch Gesellschaft und Kirche war gerade jungen Menschen zu eng geworden. Sie suchten nach neuen Wegen und gelangten dabei an verantwortungslose nationalsozialistische Verführer. Religionsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass schwache Menschen eine straffe Führung ersehnen, ja, geradezu entscheidungsfreudige Führergestalten suchen, die ihnen sagen, wo es langzugehen hat. Sie scheuen sich, Verantwortung zu übernehmen. Sie vertrauen ihrem »charismatischen Führer« ganz und gar. Die strikte Gefolgschaft enthebt Entscheidungsschwache des Nachdenkens ! Dieses Prinzip wirkte in Filipowa ebenso zuverlässig im Religiösen wie im aufkeimenden Nationalsozialismus der »Erneuerer«.
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Einfache Dorfburschen, von denen die meisten kaum über Filipowa hinausgekommen waren, spürten die Enge und Repression der traditionellen Dorfgemeinschaft. Sie waren eine leichte Beute für die Emissäre des Nationalsozialismus. Man redete ihnen ein, dass ihr eigentliches Vaterland das Dritte Reich sei, denn sie gehörten zum Herrenvolk des Reiches. Ihr Blut sei das reinste und höchste ! Der Pfarrer in Filipowa klagte damals, dass er immer wieder Ahnenpässe auszustellen habe. Man wollte doch beweisen, dass man aus dem Reich abstamme. Nach Aussage des Pfarrers waren viele von ihrer Ahnentafel enttäuscht, weil häufig slawische Namen darin auftauchten. Wenn aber die »Erneuerer« das Reich als ihr Vaterland erachteten, dann mussten sie als SS-Soldaten gegen Juden, Kommunisten, Serben usw. kämpfen und ihr reines Blut dafür opfern ! Es gilt zu vermerken, dass damals kein Filipowaer – weder seine Eltern noch Großeltern – je Bürger Deutschlands gewesen war. Als unsere Ahnen aus allen möglichen Ländern im 18. Jahrhundert einwanderten, gab es Deutschland als Staat noch gar nicht. Es bot sich den jungen Männern im dunklen Jahrzehnt die Gelegenheit, durch freiwilligen Kriegsdienst einer relativ geschlossenen und zum Teil auch repressiven Gesellschaft zu entkommen. Doch ihr neues Zuhause, die SS, in die sie gerieten, war bei näherem Hinsehen viel repressiver als ihr altes Dorf ! In kleinen vorindustriellen Gesellschaften lässt sich die Erfahrung machen, dass es leicht zu gewaltsamen Ausbrüchen kommen kann, wenn der Druck zur Anpassung und Unterordnung zu groß wird. Rebellionen, aber auch Anklagen der Hexerei oder der Verkauf Rebellierender als Sklaven können in derartigen sozialen Konflikten ihre Ursache haben. Erstaunlich ist, dass Menschen, die gegen sozio-religiösen Druck rebellieren, vielfach wieder Gruppen gründen oder in solche Gruppen eintreten, in denen der Gruppenzwang noch stärker zum Tragen kommt. Es ließen sich sozio-politische und religiöse Rebellen benennen, die ihre Herrschaft auf derartige Strukturen gegründet haben. Wichtig für sie ist nur, dass sie solch willensschwache Gefolgsleute finden, die ihnen, in quasi religiöser Devotion, die disziplinierende Drecksarbeit abnehmen !
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Filipowa war im religiösen Vollzug katholischer Prägung eine Mustergemeinde für die ganze Batschka. Die Teilnahme am kirchlichen Leben betrug bis in die Mitte der 1930er-Jahre praktisch hundert Prozent. Man möchte natürlich auch gerne wissen, wie es in einer großen Ortschaft zu einer umfassenden Teilnahme am religiösen Leben kommt. Machten alle aus innerer Überzeugung mit oder war der gesellschaftliche Druck so groß, dass man nicht anders konnte als mitzumachen ? Wären z. B. alle Erwachsenen zu den Ostersakramenten (Beichte und Kommunion) gegangen, wenn der Pfarrer nicht persönlich und öffentlich nach Ostern die Beichtzettel, von Haus zu Haus gehend, eingesammelt hätte ? Oder hätte es im Dorf vielleicht doch auch Ehescheidungen gegeben, wenn der Druck der Gesellschaft nicht so groß gewesen wäre ? Wie aussagekräftig und verdienstvoll sind religiöse Akte, wenn sie nicht aus innerer Überzeugung und Freiheit gesetzt werden ? Andere deutschsprachige Orte klagten, dass sie zu wenig Nachwuchs hätten.31 In Filipowa war der Kindersegen reichlich, weshalb die Nationalsozialisten das Dorf in »Kindlingen« umbenennen wollten. In zahlreichen Familien, besonders bei Bauern und Handwerkern, gab es immer wieder Kinder, die einen geistlichen Stand erwählt haben. Da man bei der Erbschaft die Realteilung praktizierte, war dies eine Erleichterung bei der Aufteilung, denn Priester und Nonnen hatten kein Anrecht auf ein Erbteil an Land, denn sie hatten ihr Studium bezahlt bekommen. Bis 1980 gingen über 50 Priester und über 150 Nonnen aus der Gemeinde hervor. – Doch kommen wir auf einzelne religiöse Strukturen und Bräuche in Filipowa zu sprechen.
31 Sepp Janko, ehemaliger Führer des Kulturbundes, schreibt : »… Denn wir waren ein sterbendes Volk geworden« (1983 : 130).
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In der Ansiedlungszeit wurden die Dörfer schachbrettartig angelegt mit einer Kirche in der Mitte des Dorfes und dem Friedhof um die Kirche. Da die Gegend absolut flach und unbewaldet war, sah man schon aus großer Entfernung die Kirchtürme. In Filipowa stand da, wo sich die beiden Hauptgassen in Richtung Nord-Süd und West-Ost kreuzten, eine Dreifaltigkeitssäule. Wer diesen Platz passierte, zog seinen Hut ; wer keinen trug, bekreuzigte sich und sagte still : »Gelobt sei Jesus Christus !« An einem Ende der großen Kreuzgasse befand sich in späterer Zeit der neue Friedhof mit einem künstlich angelegten Kalvarienberg mit einer fast lebensgroßen Kreuzigungsgruppe und den Kreuzwegstationen. Die relativ große Friedhofskirche war dem Viehpatron Wendelin und eine angebaute Kapelle dem Pestpatron Rochus geweiht. Beide wurden vom Volke innig verehrt und ihre Patrozinien, vor allem das des heiligen Rochus, da es in den Sommer fiel, feierlich begangen. An den Ausfahrtstraßen, die zu den Nachbargemeinden führten, gab es jeweils ein großes Steinkreuz mit den dazugehörigen Statuen der Heiligen Maria, Magdalena, Johannes und anderer Heiliger. Diese Kreuze galten als Orientierungspunkte. Am Markustag (25. 4.) und an den Bitttagen vor Pfingsten zog eine Prozession jeden Tag an ein anderes Feldkreuz, um das Gedeihen der Saat zu erflehen. An Marienfesten im Sommer wie auch an Festen anderer Heiliger, z. B. des heiligen Antonius von Padua, gingen Fußprozessionen zu den entsprechenden Wallfahrtsorten. Wenn große Prozessionen von weither zurückkamen, wurden sie vom Priester unter Assistenz und mit vielen Gläubigen an den Flurkreuzen feierlich empfangen und unter Gesängen und Glockengeläute in die Dorfkirche geleitet. Wallfahrern wurde großer Respekt entgegengebracht ; nicht so sehr, weil sie viele Stunden in der Sommerhitze zu Fuß gegangen waren, sondern weil sie von einem Gnadenort kamen und noch irgendwie mit der Kraft des heiligen Ortes behaftet waren. Da die Prozessionen mit Kreu-
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zen und Fahnen unter Gebet und Gesang durch die Flure zogen, sah man in den Prozessionen immer eine Segnung der zukünftigen Ernte. Man achtete deshalb darauf, besonders bei den Bauern, dass wenigstens eine Person pro Haushalt an einer Wallfahrt teilnahm. Sie brachte den Segen stellvertretend für die ganze Familie in den Haushalt. Die Flurkreuze an den Ortsausgängen suggerierten den Bewohnern, dass sie sich beim Verlassen des Dorfes in eine weniger geschützte Welt begaben. Die Männer zogen den Hut, wenn sie am Kreuz vorbeifuhren, die Frauen bekreuzigten sich. Oft hielt man an und sprach ein kurzes Stoßgebet oder man bat, dass der Tag gut verlaufen möge, die Arbeit auf den Feldern oder der Einkauf oder Handel in den anderen Ortschaften erfolgreich sein möge. Die gleiche Reverenz erwies man den Kreuzen, wenn man wieder ins Dorf zurückkam. Man kehrte gewissermaßen aus der Fremde, aus einem weniger sakralen Raum zurück. Gleichzeitig waren die Kreuze auch Wächter, die verhüteten, dass Übel ins Dorf eindrangen. Man könnte sagen : Filipowa war als geheiligter Raum konzipiert. Wahrscheinlich waren viele Filipowaer überzeugt, im Mittelpunkt der Batschka zu leben.
Die sakrale Zeit
Die Gemeindefeiertage (Gmôfeiertäg) In Filipowa gab es offiziell keine Urlaubszeit ; es gab aber Zeiten großer körperlicher Anspannung – so von Frühjahr bis Spätherbst – und eine Zeit der Entspannung im Winter. Das ganze Jahr über gab es zahlreiche Feiertage, die auch der Erholung dienten. Da waren zunächst die großen kirchlichen Feste, die in Filipowa viel zahlreicher waren, als es heute in der katholischen Kirche der Fall ist. Man kannte neben ganzen auch halbe Feiertage, wie z. B. Mariä Lichtmess (2. 2.). Man ging morgens in die Kirche, anschließend verrichtete man nur Hausarbeiten, fuhr aber nicht aufs Feld. Dann gab es fünf Gemeindefeiertage, die zwar mit dem
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Kirchenjahr zu tun hatten, aber nur in Filipowa als arbeitsfreie Tage galten. In ungarischer und jugoslawischer Zeit gab es zusätzlich staatliche Feiertage, aber die waren im Dorf wenig beliebt, wenn auch die Polizei ihre Einhaltung überprüfte und bei Verstoß Strafen verhängte. Den Ursprung der Gemeindefeiertage (»Gmôfeiertäg«) kennt man nicht mehr : Waren es Gelöbnistage32 aus der Ansiedlungszeit oder brachten die Siedler sie bereits aus ihrer alten Heimat mit ? Diese Tage haben sich jedenfalls optimal in das bäuerliche Leben des Dorfes eingepasst. Sie hatten u. a. die Aufgabe, Bedrohungen von der Gemeinde und den Fluren fernzuhalten. Im Brauchtum, das diesen Tagen eigen war, ging es nicht um rein kirchlich-religiöse Riten, sondern die Gemeindeleitung, als weltliche Instanz des Dorfes, war in den Ablauf des Festes mit einbezogen. Dies zeigte sich z. B. darin, dass der Richter und die Geschworenen (»Gschwanner«) an den Zeremonien geschlossen teilnahmen und die benötigten Kerzen für die Prozession zu spendieren hatten. Der erste Gemeindefeiertag im Jahr war das Fest der Heiligen Fabian und Sebastian am 20. Januar. Der heilige Fabian war Papst von 236 bis 250. Er wurde unter Kaiser Decius enthauptet. Sebastian war der Legende nach Offizier der kaiserlichen Leibgarde und wurde Anfang des dritten Jahrhunderts wegen seines christlichen Zeugnisses mit Pfeilen erschossen. Der Pfeil galt als Symbol einer plötzlich auftretenden Krankheit. So wurde Sebastian zu einem Pestpatron. Später gesellte sich in Filipowa der heilige Rochus als zweiter Pestpatron hinzu. Beide gelten auch als Patrone gegen Viehseuchen. In Filipowa war es Brauch, am Fest von Fabian und Sebastian Krapfen33 in Schmalz zu backen und wenigstens einen über das Hausdach 32 Darunter versteht man, dass sich eine Gemeinde oder eine Person durch ein Gelübde/Gelöbnis vor Gott gebunden hat, z. B. einen bestimmten Tag zu heiligen, einen geistlichen Stand zu wählen oder dergleichen. 33 In Filipowa sagte man nicht der Krapfen, sondern »die Krapf«.
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zu werfen, damit es nicht vom Sturm fortgeweht werde. In den Legenden der beiden Heiligen taucht dieser Brauch allerdings nicht auf. Jakob Eichinger berichtet, dass in Südwestdeutschland an diesem Tag Krapfen gebacken werden und in einem eine Bohne versteckt sei. Wer den Krapfen mit der Bohne bekomme, gelte als »Bohnenkönig« und Glückstagskind. Da die Bohne auf Lateinisch faba heißt, könnte der Bohnenkrapfen mit Fabian in Zusammenhang gebracht worden sein (Filipowaer Heimatbriefe Nr.12, 1969 : 9). Ein Spruch zu den Tagesheiligen lautete in Filipowa : »Zu Fabian und Sebastian – fängt der Baum zu saften an.« Den Brauch mit den Schmalzkrapfen gab es noch in meiner Kindheit. Als Bub schaute ich einmal meiner Mutter an Fabiani beim Krapfenbacken zu und fragte sie, warum es heute Krapfen gebe ? Sie antwortete mir, ich solle einen über das Dach werfen, damit es vom Wind nicht fortgeweht werde. Ich war wohl noch klein, denn ich brachte ihn nicht über das Werkstattdach. Als ich meiner Mutter sagte, ich könne ihn immerhin über das Saustalldach werfen, meinte sie, das sei auch schon gut, dann bleibe uns immerhin ein Dach über dem Kopf erhalten. Der zweite Gemeindefeiertag im Jahr war der erste Mai. In den 1930er-Jahren feierte man an diesem Tag das Fest der heiligen Apostel Philipp und Jakob, der Patrone der Filipowaer Kirche. Erst seit dem letzten Konzil (1962–1965) wird an diesem Tag das Fest des heiligen Josef des Arbeiters begangen. Das Patrozinium von Philipp und Jakob wurde in Filipowa nicht am ersten Mai, sondern am darauffolgenden Sonntag feierlich begangen. Es gehörte zu den größten Festtagen des Jahres. Der Vormittag galt der Kirche, der Nachmittag und Abend der Geselligkeit. Den ersten Mai als arbeitsfreien Tag der Arbeit kannte man in Filipowa erst in jugoslawischer Zeit. In der Nacht zum ersten Mai kam noch vorchristliches Brauchtum zum Tragen. Die Kinder zogen am Vortag in die Umgebung und suchten belaubte Zweige, mit denen sie die Häuser zur Straße hin schmückten. Die Nacht zum ersten Mai war für uns Kinder geheimnisvoll. Wir
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durften lange aufbleiben und konnten abends durch die Gassen ziehen. Die großen Burschen rotteten sich schon am Abend zusammen, um Maibäume aufzustellen. Solche bekamen : der Pfarrer, der Richter, der Notar und der Arzt. Die einzelnen Kameradschaften34 stellten ihrem Wirt einen Baum auf. Als der Nationalsozialismus sich im Ort noch nicht breitgemacht hatte, stellte auch unser Straßenviertel einen Baum auf. An seinen grünen Zweigen hingen bunte Bänder und gefüllte Flaschen. Beim »Werfen des Baumes« ging es mit Musik und Tanz immer recht lustig zu : Kinder und Erwachsene tanzten um den Baum ; dabei gab es zu trinken und Kuchen zu essen. Der dritte Gemeindefeiertag war das Fest der Heiligen Johannes und Paul am 26. Juni. Beide waren römische Märtyrer im dritten Jahrhundert und galten als Wetterpatrone oder »Wetterherren«, wie man sagte. Diese Bezeichnung erhielten sie wohl wegen der Nähe ihres Festes zur Sommersonnenwende. In der Zeit unmittelbar vor der Weizenernte, dem Schnitt – er begann nach Peter und Paul (29.6.) –, gab es in Filipowa häufig schwere Gewitter mit Schloßen (Hagelschlag). Am Festtag der beiden Wetterherren wurden große Kerzen, die vom Gemeinderichter gestiftet worden waren, vor ihren Statuen angezündet. Sie mussten auch bei jedem herannahenden großen Gewitter während des Jahres angezündet werden. Das Fest des heiligen Rochus am 16. August war der vierte Gemeindefeiertag. Rochus war um 1295 in Montpellier geboren worden. Er schenkte sein großes Vermögen den Armen und pilgerte nach Rom – der Papst hatte sich damals in Avignon niedergelassen. Als er von der Pest befallen wurde, versorgte ihn ein Hund mit Brot und leckte seine 34 Filipowa war ständisch gegliedert. Es gab den Stand der Bauern, der Handwerker und den Stand der Tagelöhner (später Hechler). Die älteren Jugendlichen bildeten Kameradschaften innerhalb ihres Standes. Jede Kameradschaft hatte ihr Wirtshaus. Man heiratete möglichst in seinem überkommenen Stand. Jene, die ein Studium machten, verloren ihren Stand und wurden »Herreleit«. Sie bildeten die Oberschicht.
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Pestbeulen. Rochus gilt deshalb als Pestpatron. Er wird gewöhnlich als Pilger mit Stab und Wasserflasche dargestellt ; dabei bringt ihm ein Hund Brot oder leckt seine Wunden. In Filipowa gab es eine kleine Rochuskapelle, die an die Wendelinkirche im Friedhof angebaut worden war. In den Jahren 1836 und 1873 hatten zwei Choleraepidemien in Filipowa zahlreiche Opfer gefordert. Da man den Epidemien weitgehend hilflos ausgeliefert war, hatte man umso stärker auf die Hilfe der Schutzpatrone gezählt. Das Fest des heiligen Rochus fiel mitten in die Schwerstarbeit des Hanfschnitts. Um möglichst glatte Fasern zu erhalten, schnitt man den Hanf in gebückter Haltung mit einem Hanfmesser. Der Monat August galt als die heißeste Zeit des Jahres. Am Rochustag ging eine große Prozession von der Hauptkirche zur Friedhofskirche, wo nach dem Hochamt mit Predigt im Freien die »Kukruzkerwei« stattfand. Am Rochustag aß man gewöhnlich zum ersten Male im Jahr jungen, gekochten Mais am Kolben. Die »Kerwei« wurde vor allem von Kindern und der Jugend besucht. Die Erwachsenen ruhten sich an den beiden Feiertagen Mariä Himmelfahrt (15. August) und am Rochustag lieber aus, denn danach gab es bis zum 8. September keinen Feiertag mehr ; dafür aber schwerste Arbeit mit dem Hanf. Das Fest des heiligen Wendelin am 20. Oktober war der fünfte Gemeindefeiertag. Wendelin lebte im 6./7. Jahrhundert als fränkischer Einsiedler im Waldgebirge Ostfrankreichs. Der Legende nach soll er Hirten zum Christentum bekehrt haben. Er wird im Schäferkleid mit Hirtenstab dargestellt und gilt als Viehpatron. In Filipowa war bereits 1790 eine Wendelinkapelle erbaut worden, die 1890 zu einer Barockkirche erweitert worden war. Am Wendelinstag zog eine Prozession zu seiner Kirche, in der ein Hochamt gefeiert wurde. Rinder- und Schweinehirten trieben ihre Herden zur Wendelinkirche, wo sie nach der Messe feierlich gesegnet wurden. Die Verehrung von Rochus und Wendelin hatten sehr wahrscheinlich bereits die ersten Ansiedler aus Südwestdeutschland nach Filipowa mit-
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gebracht, denn diese Heiligen werden in der Pfalz in bäuerlichen Regionen bis heute verehrt. Kirchliche Feiertage Neben den Gemeindefeiertagen gab es noch zahlreiche kirchlich gebotene Feiertage wie z. B. Dreikönig oder Fronleichnam. Arbeitsfrei waren auch die Feste des heiligen Josef (19. 3.), der Apostel Peter und Paul (29. 6.), Allerheiligen (1. 11.), die meisten Marienfeste wie Mariä Verkündigung (25. 3.), Mariä Himmelfahrt oder Mariä Kräuterweih (15. 8.), Mariä Geburt (8. 9.), Maria Immaculata (8. 12.). Aber auch nicht gebotene Feiertage wurden von zahlreichen Menschen mit einer gewissen Feierlichkeit begangen, besonders von Älteren, die nicht mehr im vollen Arbeitsleben standen. Sie gingen morgens zur Messe und verrichteten tagsüber nur leichte Hausarbeiten. Solche Feste waren z. B. Maria vom Berge Karmel (16. 7.), Mariä Namen (12. 9.), Mariä Rosenkranzfest (7. 10.) u. a. Hinzu kamen die Feste des heiligen Johannes des Täufers, der Apostel, der Erzengel, des eigenen Namenspatrons usw. So gab es zwar in Filipowa keine eigentliche Urlaubszeit, aber es gab zahlreiche Feste, an denen überhaupt nicht oder nur zum Teil gearbeitet wurde. Sie boten Raum für Erholung. Vieh und Haushalt mussten freilich dennoch immer versorgt werden. Die Landwirtschaft diktierte eben den Rhythmus der Arbeit. Sonn- und Feiertage waren aber auch bei dringender Arbeit tabu.35 Zu zahlreichen Festen gab es ein reiches Brauchtum ; so z. B. am Vorabend von Pfingsten, am Fest des hl. Apostels Johannes, Johannes des Täufers, der hl. Barbara usw. Es würde zu weit führen, wollte ich auch nur annähernd auf das gesamte Brauchtum hier eingehen. Viele Bräuche 35 Ein reicher, aber geiziger Bauer war z. B. am Kirchweihtag in aller Früh mit seiner Tochter aufs Feld gefahren, um wichtige Arbeiten zu erledigen. Als die Dörfler davon erfuhren, wurde er zum Gespött und erhielt einen Spitznamen ; man sprach vom »Kerweihvetter«.
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sind in den Heimatbriefen, z. B. von J. Eichinger, ausführlich beschrieben worden. Eine besondere Herausforderung für uns Kinder war die Blumensuche für den Weihbusch zu Mariä Himmelfahrt bzw. »Kräuterweih« (15. 8.). Man machte einen Strauß aus bestimmten Feldblumen. Um alle zusammenzubekommen, mussten wir Kinder oft weite Wege an den Feldrainen zurücklegen. Besonders die Kardendistel, wir sagten dazu »Streel«, fand man nicht leicht. Ging man zu früh auf die Suche, waren die Feldblumen bis zum Gottesdienst verwelkt ; ging man zu spät, fand man vielleicht keine Streel mehr. Dazu musste der Griff des Straußes mit frischem Hanfschleiß (»Hanffaser«) umwickelt werden. Nach der Weihe in der Kirche kam der Buschen in ein Dachgespärre auf den Boden. Er hatte vor Blitzschlag und Feuer zu schützen. Wie eng die Beziehung zwischen Landwirtschaft und Religion in Filipowa war, das zeigen u. a. die zahlreichen Lostage, die fast immer eine praktische Erfahrung aus der Landwirtschaft mit dem Tagesheiligen in Verbindung bringen. Die Bauern haben sich zwar nicht sklavisch an die Vorgaben der Lostage gehalten, aber ein Gerüst für ihre Arbeit gaben sie allemal ab. Für den 2. Februar z. B. hieß es : »Mariä Lichtmess, spinn vergess, bei Tag z’Nacht gess.« D. h. in den Spinnstuben hörte man auf zu arbeiten und das Abendessen wurde bei Tageslicht eingenommen.36 Am 29. Juni sagte man : »Petr und Paul mache dr Frucht die Worzle faul.« In Filipowa begann der Weizenschnitt unmittelbar nach dem Fest Peter und Paul. Am 11. Juni hieß es : »Sankt Barnabas – schneidet das Gras.« D. h. die Heuernte begann und musste bis Peter und Paul beendet sein, denn dann ging es in den Schnitt. Von Jurgi (heiliger Georg, 24. 4.) an trieben die Viehhalter bis Micheli (Erzengel Michael, 29. 9.) aus. Wann immer das Dienstpersonal wechselte, die Weinfässer zugeschlagen wurden, die Rübenernte be36 In Filipowa galt wie in Ungarn und Jugoslawien die MEZ (Mitteleuropäische Zeit). Im Vergleich zu Frankfurt beginnt das Tageslicht eine knappe Stunde früher.
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gann usw. boten die Tagesheiligen eine Richtschnur. Das katholische Christentum mit seinen zahlreichen Festen hatte das ganze Jahr durchdrungen. Dabei richteten sich die meisten Losungen auf die Wettervorhersage, so z. B. »Weihnacht im Klee – Ostern im Schnee« oder am 24. Februar : »Matteis brech Eis – hosch kôôns, mach ôôns«, das heißt : Ist es an Matthias eisfrei, kommt noch Frost usw. Die Dimensionen von Raum und Zeit bieten die bevorzugten Kristallisationspunkte, wo sich Religion mit ihrem Brauchtum ansiedelt. Man kann sagen, dass immer jene Religion die bodenständige ist, die am intensivsten Raum und Zeit besetzt. Sie mag vielleicht schon lange ihre Bedeutung im Alltag der Menschen einer Region eingebüßt haben, aber es braucht lange Zeit, um sie aus diesen beiden Dimensionen zu verdrängen. *** Als Beispiel wie religiöse Feste in Kirche und Haus gefeiert wurden, möchte ich das Brauchtum um Dreikönig (Epiphanie) schildern. Ich beschreibe das Fest, wie wir es 1943 zum letzten Male gemeinsam in meinem Elternhaus gefeiert haben. Vorbemerkung Für die orthodoxe Kirche ist das Fest »Erscheinung des Herrn« nach Ostern das größte Fest des Jahres. Da die Serben der orthodoxen Kirche an-
gehören, gingen bei uns in jugoslawischer Zeit die Weihnachtsferien bis
Dreikönig. Im Dorf sagte man daher : Die Ferien dauern bis zur »raazische
Weihnachte37«.
Bei uns in der Familie wurde Dreikönig besonders festlich begangen,
da mein Vater Balthasar hieß, also wie einer der Drei Könige. In Filipowa feierte man gewöhnlich nur die »runden« Geburtstage, wohl aber jedes
37 Zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia oder Josephs II. nannte man die Serben Rayzen, in Filipowa sagte man Raaze.
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Jahr die Namenstage. Der Vorname war mehr als nur ein Name. Bei der
Taufe erhielt man einen Heiligen/eine Heilige als Schutzpatron/Schutzpatronin. Die Namenstage der Eltern und Großeltern waren bei Kindern sehr beliebt, denn sie wurden von den Feiernden beschenkt. Wenn aber die
Kinder Namenstag hatten, erhielten sie von den Erwachsenen Geschenke.
Am Tag vor Dreikönig 1943 gab es für Mutter besonders viel Arbeit. Da sich der Bruder meines Vaters, Onkel Sándor – er war Pfarrer in Karbok –, zum Namenstag angesagt hatte, waren diesmal die Vorbereitungen besonders intensiv. Vater hatte am Vortag noch bei einem Kunden einen Schrank herzurichten, deshalb hatten meine ältere Schwester Wawi und ich unserer Mutter zu helfen. Zunächst sollte nach dem Frühstück eine Gans geschlachtet werden. Da Vater nicht zu Hause war, musste ich der Gans den Kopf abschneiden. Mutter und Wawi haben niemals Tiere geschlachtet. Das Blut von Gänsen und Enten wurde bei uns in einer Schüssel aufgefangen, mit etwas Milch vermengt und im »kleinen Paprikaasch« gekocht. Hühnerblut und Hühnerfedern wurden auf den Misthaufen geworfen. Enten und Gänse wurden nach dem Schlachten »gerupft«, d. h. man hat die weichen Federn am Unterleib und unter den Flügeln eingesammelt ; sie waren für die Bettfüllung und die Aussteuer der Töchter wichtig. Die Arbeit von uns Kindern bestand z. B. darin, dem geschlachteten Federvieh, sobald es gebrüht war, Federn und Stoppeln zu ziehen. Wenn dies geschehen war und die Enten oder Gänse ausgenommen waren, wurden das Fett und die fette Haut in Stücke geschnitten, mit etwas Milch vermengt und auf dem Herd ausgelassen. Die warmen Grieben galten als Delikatesse und standen deshalb den Kindern zu. Wir tauchten sie in Salz und aßen sie mit etwas Weißbrot. Wenn das Griebenschmalz fest geworden war, schmierte man sich gerne noch eine Scheibe Brot damit, gab Salz und Paprika drauf und ließ es sich schmecken. Da gleich morgens geschlachtet und erst danach der Kuchen gebacken wurde, brauchten wir Kinder vor Festtagen kein Mittagessen. Va-
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ter pflegte vor großen kirchlichen Festen ohnehin zu fasten, und Mutter hatte derart viel zu tun, dass sie nur zwischendurch einige »Mocken« (essbare Reste) zu sich nehmen konnte. So gab es vor solchen Tagen meist kein warmes Mittagessen. Wir Kinder hatten uns auf das Kuchenbacken eingestellt, denn dabei fiel auch allerhand Leckeres ab : Schüsseln ausschlecken, Endstücke essen, verunglückte »Kiechle« verputzen und dergleichen. Den Gästen wurde immer nur der schönste und beste Kuchen vorgesetzt, und zwar im Übermaß auf einer großen Platte. Das gehörte zum Prestige einer guten Hausfrau. Man zeigte, was man besaß und wessen man fähig war ! Wenn man bei jemandem auf Besuch war und nur einen kleinen Teller mit Kiechle angeboten bekam, auch wenn es x-mal mehr waren, als man essen wollte und konnte, wurde darüber im Nachhinein gelästert. Wurde nur wenig aufgetischt, bedeutete dies, dass die Leute geizig waren oder die Hausfrau faul war, vielleicht sogar unfähig, guten Kuchen zu backen. Da man damals noch keinen Mixer hatte, mussten Teig, Rahm und Schnee von Hand geschlagen werden. Zum Glück kam Vater gegen Mittag nach Hause und konnte Wawi und mich ablösen. Wir hatten uns zwar abgemüht, aber Mutter war, jedenfalls mit meiner Arbeit, nicht so recht zufrieden. Ich hatte beim Schlagen manchmal abgesetzt, um zu schlecken, und das hat sie gar nicht leiden mögen. – Beim Schlachten war ich willkommen, aber beim Backen weniger. Schließlich gab mir Mutter Geld und schickte mich weg, ich solle beim »Eelkaal« – so wurde die große Gemischtwarenhandlung im Dorf genannt – Tafelkreide und Weihrauch kaufen gehen. Ich glaube nicht, dass sie mich nur los sein wollte, sondern, was ich zu tun hatte, war Aufgabe der Buben. Am Abend nämlich gab es in der Kirche im Andenken an die Taufe Jesu im Jordanfluss durch Johannes den Täufer die Wasserweihe ; dabei wurden auch Kreide, Weihrauch, Salz und Brot geweiht. An diesem Abend gingen nur Vater und ich in die Kirche ; er zu den Sängern auf den Chor. Mir hatte Mutter in ein schön besticktes weißes Tuch Kreide, Weihrauch, Salz und einige Brotschnitten eingepackt
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und dazu eine leere Flasche für das Dreikönigswasser mitgegeben. Jedes Haus schickte mit den gleichen Ingredienzien einen Buben zur Weihe. Wenn ein Nachbarhaus keinen kleinen Buben hatte, nahm ich gerne deren »Bingili« mit, denn dafür fiel nachher immer ein kleiner Lohn ab. Dieses Jahr nahm ich wie schon öfter s’Bingili und die Flasche von Simons mit, denn ihre beiden Söhne waren schon erwachsen. Da wir bei Simons jedes Jahr in Schnitt und zum Hanfschneiden um den Zehnten gegangen sind, gab es ein gewisses Arbeitsverhältnis zwischen unserer Familie und der ihren. Am Gottesdienst am Vorabend von Dreikönig nahmen nicht viele Leute teil : In den Bänken saßen meist nur alte Leute und vor den Bänken standen viele Buben mit ihren Bingilin und jeder mit wenigstens einer Flasche für das Dreikönigswasser. Wenn der Gottesdienst begann, setzte sich der Syndikus – er verwaltete die Einnahmen der Kirche – in die kleine Bank an der Seite, die normalerweise dem »Maadleschippler« gehörte. Dieser hatte in den laufenden Gottesdiensten die Aufgabe, die unartigen Mädchen zu »schippeln«, d. h. sie zurechtzuweisen, indem er sie an den Haaren schippelte. Heute passte der Syndikus auf uns Buben auf, denn Mädchen gab es bei diesem Gottesdienst nicht. Sobald die Weihe begann, kam Unruhe in die Gruppe der Buben. Jeder drängte in die Nähe des Geschehens. Wir waren nämlich der Meinung, dass je mehr Weihwassertropfen und Weihrauchwolken auf das Bingili fallen, desto kräftiger sei ihr Inhalt geweiht. Ich hatte mich dieses Jahr um zwei Bingilin und zwei Flaschen zu kümmern. Entsprechend trachtete ich viel Segen zu ergattern ! Die nächste Auseinandersetzung spielte sich dann am Schluss beim Füllen der Flaschen mit Dreikönigswasser ab. Am großen Bottich standen zwei Männer, die uns Buben zu bändigen suchten. Viel Erfolg hatten sie nicht. Die beiden Bingilin in der Linken und die leeren Flaschen in der Rechten drängte ich wie alle anderen auch nach vorn. Dabei stieß ich meinen Vorderleuten die Flaschen in den Rücken und in die Seite. Wenn sie gar nicht Platz machen wollten, schlug ich schon mal sanft
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die Flasche auf einen Kopf. Das war nichts Außergewöhnliches, denn ich bekam im Gedränge immer meine blauen Flecken ab. Dreikönigswasser war eben besonders kräftig und verlangte nach Kraftanstrengung. Ob dies vielleicht ein Grund dafür war, dass Dreikönigswasser so viele Kräfte in sich hatte ? Als ich auf dem Heimweg das Bingili zu Simons brachte, fragte mich die Nannibeesl : »Joschi, hot dr Pharr aa unsr Bingili gut mit Weihwasser ôgspritzt ?« »Freilich«, sagte ich, »ich hab mich so stark vordrengt un drbei die Bingilin hochkhalte, daß dr Pharr mr n Spritzr (Weihwasserwedel) uf n Khopp gschlage hot.« Das hat sie wohl sehr zufriedengestellt, denn sie gab mir dafür ein sehr großes Stück Kuchen. Bis ich nach Hause kam, war Vater schon aus der Kirche zurück. Mutter hatte mit dem Gänseklein – Kopf, Kragen, Flügel, Füße, Magen, Herz und Blut – ein »kleines Paprikaasch« zubereitet ; die Leber hatte sie für Leberknödel in der morgigen Festsuppe zurückgehalten. Gedärme und Lunge bekamen immer die Katzen. Mutter und die Mädchen aßen nichts vom Paprikaasch. Das Hirn der Gans musste allerdings geteilt werden, weil jedes Kind gescheit werden wollte. Wir glaubten, die Fertigkeiten der Tiere würden sich mit dem Essen ihres Hirns auf uns übertragen. Wir kannten ja die Tiere, die wir aßen, wussten um ihre Eigenschaften und Fähigkeiten. Manche Tiere sind pfiffig, um sich »Sonderrationen« zu erschleichen, andere fast dumm. Wenn wir Gänse und Enten am Fischwasser hüteten, machten sich immer dieselben in die Weingärten auf ; und wenn der Feldhüter sie einfangen wollte, flogen sie ihm meist davon. Die intelligenteste aller Gänse war unsere alte Leitgans. Sie wurde nie geschlachtet. Bei der Vertreibung haben wir sie allerdings zurücklassen müssen. Gleich in der Früh am Dreikönigstag hat Vater den großen Ofen in der »Vorder Stubb« geheizt. Hier standen ein großer Ausziehtisch, ein Kleiderschrank und zwei Paradebetten ; benutzt wurden sie nur selten. – Mutter ging an diesem Morgen in die Frühmesse, die Mädchen in die Jugendmesse und Vater und ich ins Hochamt.
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Vor der Kirche gab es einen etwa 50 cm hohen Stein. Auf den stieg nach dem Hochamt der Gemeindediener, den man »Klôôrichtr« nannte, und verlas die Gemeindenachrichten der Woche. Alle Männer blieben nach dem Hochamt stehen und hörten sich die »Vermeldungen« an. Frauen und Jugendliche blieben nicht dabei. Dies war Männersache. Anschließend gingen viele Männer für einige »Dezi«(liter) Rotwein, meist »Spritzer« genannt, ins Wirtshaus. Es war die beste Gelegenheit, um mit Partnern über Geschäfte zu reden. An Dreikönig kam Vater nach dem Hochamt gleich nach Hause, denn nun fand noch vor dem Mittagessen die große Weihezeremonie statt. Wawi trug das Glas mit dem Dreikönigswasser und einem Buchsbaumzweig darin, Eva hatte die Kreide und ich einige Scheiben geweihtes Brot und Salz. Vater nahm aus dem Herd Glut, gab sie auf die Kehrichtschaufel, »s’Scheifili«, wie man sagte, und streute darauf die Weihrauchkörner. Jetzt bewegte sich der ganze Zug – nur Mutter blieb in der Küche – durch alle Räume und Ställe des Hauses. Vater schwenkte den Weihrauch und besprengte jeden Raum und Stall mit dem heiligen Wasser ; er betete leise dabei. An jede Tür des Hauses schrieb er mit der Kreide die Jahreszahl und die Buchstaben K+M+B. Im Volksmund stehen sie für die Namen der drei Könige, die angeblich Kaspar, Melchior und Balthasar hießen. Wahrscheinlicher ist, dass sie bedeuten : Christus Mansionem Benedicat – Christus möge das Haus segnen. – Für das Federvieh wurden einige Scheiben Brot zerkrümelt. Auch meine Kaninchen bekamen geweihtes Brot. Die Schweine erhielten Salz und Brot in ihre Tränke. Als die Zeremonie zu Ende war, stellten wir uns alle in der »Vorder Stubb« auf und Vater begann das Tischgebet. Es bestand aus dem »Vater unser«, dem »Gegrüßet seist du Maria« und dem »Ehre sei«. Dann setzten sich alle. Bei uns hatte jeder seinen festen Platz bei Tisch. Vater saß am Kopfende, rechts daneben die Mutter ; der Gast saß Vater gegenüber am anderen Tischende. In jedem Teller lag zunächst ein Stückchen geweihtes Brot. In einem kleinen Teller war das Salz. Man tunkte das Brot
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hinein und aß es. Als alle damit fertig waren, trug Mutter die Suppe mit Leberknödeln auf. Die Speisenfolge war an Festtagen immer die gleiche : Suppe mit Einlage, gesottenes Fleisch, das mit Soße und Weißbrot gegessen wurde, danach Gebratenes oder Ausgebackenes mit Kartoffeln, Reis oder Knödeln und Salat. Zum Schluss gab es »Dunscht« (eingemachtes Obst) und Kuchen. – Die Verteilung des Fleisches war festgelegt. Vater teilte jedem sein Stück zu. Er schnitt auch jeden Laib Brot an und machte vorher drei Kreuzzeichen darauf. Dabei sprach er : »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Vater erhielt die Knochen, den Rücken, den Kragen, das fette Fleisch und die Haut, die Mutter die Flügel und den Bürzel (»Boorze«), Wawi und Eva weißes Brustfleisch, die anderen Kinder Keulen oder was sie haben wollten. Meist waren wir Kinder schon nach der Suppe und dem Gesottenen satt. Es hieß oft, wir sollten uns noch einen Platz im Bauch für Dunscht und Kuchen freihalten, denn das liebten wir Kinder sehr. Das Gebratene mit Salat und Reis wurde meist erst abends gegessen. Die Erwachsenen tranken an Festtagen öfter Wein, selten Bier, wir Kinder Wasser ; die Kleinen bekamen Milch. Onkel Sándor (Alexander) kam im Laufe des Nachmittags. Wir Kinder gingen spielen. Am Abend aß er bei uns. Danach ging er ins Pfarrhaus, weil er dort übernachten wollte. Der Pfarrer hätte es auch gar nicht gerne gesehen, wenn einer »seiner« jungen Priester ins Dorf gekommen wäre und bei ihm nicht vorbeigeschaut hätte. Er war nämlich, so streng er sein konnte, sehr hilfsbereit und gastfreundlich. Bereits als kleiner Student bekam ich beim Besuch im Pfarrhaus fast immer etwas zu essen angeboten. Er pflegte dann zu sagen : »Geh zur Res [seine Köchin], sie soll dir Kuchen geben !« So habe ich den letzten gemütlichen Dreikönigstag in Filipowa erlebt. Das Jahr darauf fuhr ich ins Internat zurück, und Vater war noch in der Kirche. Am 6. Januar 1945 war Vater bereits mit Hunderten anderen Männern und Frauen aus Filipowa im Zug, der sie für fünf Jahre in die Sowjetunion ins Internierungslager brachte.
5. Kindheit im Dorf
In diesem Dorf namens Filipowa kam ich 1932 in einer jungen Handwerkerfamilie als zweites Kind zur Welt. Mein Vater betrieb eine kleine Tischlerei mit ein bis zwei Angestellten. Da es im Ort kein Krankenhaus gab, wurden die Kinder mit dem Beistand einer Hebamme, Großmutter und/oder erfahrener Nachbarinnen geboren. Bei der Geburt muss ich einen ganz gesunden Eindruck gemacht haben. Mein Vater hatte mich auf seiner Werkstattwaage gewogen und voller Stolz verkündet, dass ich über vier Kilo wog. Ich fing aber schon bald an zu kränkeln und bekam dazu am ganzen Körper Psoriasis (Schuppenflechte) – im Dorf sagte man dazu »Vierziger«. Diese Hautkrankheit sollte mich mein ganzes Leben – mal mehr, mal weniger intensiv – begleiten. Mein gesundheitlicher Zustand verschlimmerte sich derart, dass meine Eltern täglich mit meinem Ableben rechneten. Vater machte einen Kindersarg und strich ihn, wie in Filipowa für Kinder und Jugendliche üblich, weiß an. Er hat den Sarg vorsorglich gemacht, um nicht daran arbeiten zu müssen, wenn sein Sohn, wie man in Filipowa sagte, »uf dr Leicht ligt…« Bei einem Todesfall kam nämlich viel Besuch ins Haus, um sich vom Toten zu verabschieden, für seine Seele zu beten und um die Familie zu trösten. Jeder Besucher wollte auch alle Einzelheiten der Krankheit und des Sterbens erzählt bekommen. Sterben und Begräbnis waren im Brauchtum ein Spiegelbild der Geburt. Auch zu diesem Ereignis kamen alle Verwandten und Bekannten, um das Neugeborene zu begrüßen, ihm Glück und Segen zu wünschen und der Familie zum Nachwuchs zu gratulieren. Bei der Taufe mit anschließendem Festessen, man nannte es »Schlapputz«, wurde das Kind offiziell in die Gesellschaft eingeführt.
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Dass ich im Kindesalter nicht gestorben bin, hat wahrscheinlich mehrere Gründe. Auf einen aber möchte ich näher eingehen, weil er den Glauben der Dorfbewohner gut illustriert. Obwohl mein Vater mit mir wiederholt in die Stadt Sombor zu Ärzten gefahren ist, war es mit meiner Krankheit nicht besser geworden. Meine Mutter war verzweifelt, da mir seit zwei Jahren kein Arzt helfen konnte. So versuchte sie es auf traditionelle Weise. – Eine unserer alten Nachbarinnen stand im Rufe, eine »weise Frau« zu sein, die das »Brauchen« – das alte Heilwissen – beherrschte. Sie riet meiner Mutter, sie solle mir drei bis fünf Tropfen Jod geben, dann würde der Vierziger vergehen. Meine Mutter war aber auch eine gläubige Frau, deshalb machte sie noch dazu ein Gelübde zum heiligen Antonius von Padua, dass sie, sollte ich gesund werden, jedes Jahr am Antoniusfest (13. Juni) zu Fuß ins Franziskanerkloster nach Batsch wallfahren würde und dort eine große Kerze anzünden wolle. Eine Wegstrecke maß etwa 16 bis 18 Kilometer. Dazu hackte mein Vater über meinem Bettchen eine Nische in die Wand, und da hinein wurde eine Antoniusstatue mit einem Kunstblumenkranz gestellt. Meine Mutter ging dennoch in die Dorfapotheke, um Jod zu kaufen. Als der Apotheker meine Mutter fragte, wofür sie das Jod haben wolle, hat sie ihm die ganze Geschichte von meiner Krankheit und der weisen Frau erzählt. Daraufhin verweigerte er meiner Mutter das Jod mit der Bemerkung, er wolle nicht der Mörder ihres Sohnes werden. Meine Mutter ließ sich aber nicht entmutigen, ging zu Fuß ins zehn Kilometer entfernte Nachbardorf Miltitsch, wo der Apotheker sie nicht kannte, kaufte das Jod und gab mir mehrmals Tropfen. Der Schorf fiel nach und nach ab und bald hatte ich nur mehr einige kleine Flecken an verdeckten Stellen. War es das Jod oder das eingelöste Gelübde ? Auf jeden Fall wurde ich ein gesundes Kind. Meine Mutter pilgerte jedes Jahr in aller Herrgottsfrühe mit einem Strauß weißer Lilien in der Hand – es ist die Blume von St. Antonius – zu Fuß ins Franziskanerkloster nach Batsch. Als ich später im Kongo Missionar war, schrieb sie mir jedes Jahr, ich solle nicht auf das Fest des heiligen Antonius vergessen, er hätte mich doch gesund gemacht !
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Als ich vier oder fünf Jahre alt war, wurde unsere alte Nachbarin sterbenskrank. Meine Mutter ging, wie es sich gehörte, zu der Sterbenden, um sich zu verabschieden, und nahm mich mit. Im Sterbezimmer waren viele schwarz gekleidete Frauen. Es wurde gemeinsam der Schmerzhafte Rosenkranz gebetet. Eine Frau nach der anderen trat ans Bett der Sterbenden und sprach ihr Mut und Gottes Hilfe für den Gang ins Jenseits zu. Als meine Mutter ans Bett trat, folgte ich ihr und hielt sie am Rockzipfel fest. Die alte Frau, die schon mit dem Tode rang, bemerkte mich und machte Zeichen, dass ich ans Bett kommen solle. Meine Mutter schob mich zu ihr hin. Dann legte sie mir ihre zittrige Hand auf den Kopf, lispelte etwas und machte mir eine Art Kreuzzeichen auf die Stirn. So erhielt ich ihren letzten Segen. Nach dieser Begegnung ging Mutter wieder in den Hintergrund des Zimmers und betete den Rosenkranz mit. Mir wurde mit der Zeit langweilig. Ich zupfte meine Mutter am Rock und sagte, dass ich nach Hause gehen wolle. Sie vertröstete mich bis zum Ende des Rosenkranzes. Kurz darauf kam Unruhe in die Versammlung, denn die Sterbende machte ihre letzten Atemzüge. Als sie den letzten getan hatte, brach im Zimmer ein richtiger Tumult los : Einige stürzten ans Sterbebett, andere begannen zu wehklagen und zu weinen, eine scheuchte die Leute vom Fenster und riss es auf, »damit die Seele der Verstorbenen in den Himmel fahren könne«. Da meine Mutter zu den jungen Frauen in der Runde gehörte, kam ihr noch keine weitere Funktion in den folgenden Ereignissen zu. So gingen wir nach Hause. – Später einmal erwähnte sie so nebenbei, ich hätte den letzten Segen der alten Nachbarin erhalten. Der sei voller Kraft und im Leben sehr viel wert. Er werde mir sicher viel Glück bringen und ein langes Leben bescheren ! Ich entwickelte mich zu einem stämmigen, fast pummeligen Buben, trotz der vielen Bewegung, die wir Kinder im Dorfe machten. Oft begegnete ich meinem weißen Sarg, der jetzt auf unserem Hausboden stand. Als Kinder haben wir damit bisweilen Begräbnis gespielt : Einer musste sich hineinlegen und andere trugen den Sarg. Dahinter kamen
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die weinenden Frauen. Dass ich frühzeitig sterben könnte, daran dachte niemand mehr. Im Gegenteil : Wenn ich den um zwei Jahre älteren Nachbarbuben verdrosch, rief mir seine Mutter bisweilen nach, dass ich ruhig hätte sterben können, dann hätte ihr Franzl jetzt Ruhe vor mir ! – Zart besaitet war man offensichtlich nicht im Dorf ! Meine Eltern nahmen aber auch keinen Anstoß an solchem Gerede. Im Herbst wurde in jedem Haus Kraut eingeschnitten, das man in großen Zubern zu Sauerkraut bereitete. Es wurde gesalzen, mit Lorbeerblättern, Kümmel und Wacholderbeeren gewürzt und festgetreten. Zum Schluss kamen ein weißes Tuch und Bretter darauf, und dann wurde es mit einer Zwinge oder einem großen Stein gepresst. Ich war ob meiner Konstitution ein gesuchter Krauttreter. Wenn im Herbst die Krautzeit herankam, musste ich einige Tage vorher immer Strümpfe und Schuhe tragen, und das nicht nur, damit meine Füße sauber waren, sondern um keine Schrunden an den Füßen zu haben ; das Treten wäre durch das Salz schmerzhaft geworden. – Als ich größer war und schon zur Schule ging, durfte ich bei unserem Vertragsbauern zur Weinlese die Trauben eintreten. Dabei gab es zwar kein Salz, aber die süßen Trauben zogen im Herbst viele Wespen an. Wenn man nicht aufpasste, war man schnell gestochen. Filipowa war der geburtenfreudigste Ort der Batschka. So war es selbstverständlich, dass es in jedem Haus Kinder gab, und an Spielkameraden fehlte es nie. – Bis zu etwa zwei bis drei Jahren trugen bei uns die Buben Mädchenkleider. Wenn man als Bub die ersten Hosen bekam, war das ein Zeichen, dass sich die Trennung vom anderen Geschlecht anbahnte. Es war etwa die Zeit, da die Kinder ihre Eltern zu ihrzen begannen. Anfangs schlüpfte den Kleinen immer noch das Du heraus. Dann konnte man von den Eltern hören : »Haben wir zwei schon einmal miteinander Säue gehütet ? !« Geduzt hat man nur Personen der eigenen oder der nachfolgenden Generation, alle anderen hat man geihrzt. Unbekannte Erwachsene hat man als »Vetter« oder »Beesl« angesprochen, bekannte Personen wurden nicht mit dem Familiennamen angeredet,
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sondern mit dem Taufnamen. Man sagte z. B. Balzervetter oder Evebeesl. Die Anrede »Herr« oder »Frau« wurde nur »Herreleit« gegenüber verwendet. Der Mann nannte seine Frau »Weib« und sie ihn »Mann«. Auf korrekte Anrede und anständiges Verhalten der Kinder Erwachsenen gegenüber wurde in der Erziehung schon früh große Sorgfalt verwendet. Es galt für eine Familie als sehr beschämend, wenn ein Kind als ungezogen bezeichnet wurde. Ein dummes Kind war für Eltern weniger ein Problem als ein Kind ohne gutes Benehmen. Ein Bub, der zu lange mit Mädchen spielte, wurde gerne von den anderen Buben gehänselt. Ich glaube nicht, dass die Erwachsenen irgendeinen Druck bei der Trennung der Geschlechter ausübten. Meine Schwester Eva z. B. war ein etwas verträumtes Kind. Ähnlich war ein gleichaltriger Nachbarjunge veranlagt. Sie spielten oft viele Stunden zusammen im Garten. Da sie gerne ein kleines Gärtchen anlegten und darin Blumen pflanzten, nannten wir ihren Kameraden »Blumenhansi«, Eva bekam aber keinen Spitznamen. Ihr Verhalten war für ein Mädchen akzeptabel, aber scheinbar nicht für einen Knaben. Kleine Gärtchen anzulegen, war aber nicht nur Sache der Mädchen ; auch Buben legten welche an. In unserer Familie, wie in vielen anderen auch, hatte jedes Kind ein kleines Gärtchen, das es selbst zu versorgen hatte. Zunächst begann man mit dem Anbau von Radieschen, Zuckererbsen und Bohnen, weil diese Pflanzen schnell keimen und wachsen. Wenn man älter wurde, hat man auch anderes gepflanzt wie z. B. Zierkürbisse. Diese wachsen zwar schnell, aber man muss lange warten, bis man die Früchte ernten kann. Wer sein Gärtchen nicht in Ordnung hielt, d. h. wenn das Unkraut darin überhandnahm, wenn man im Sommer die Pflanzen nicht goss und dgl., wurde man von den Eltern zurechtgewiesen und in der Familie an den Pranger gestellt. Pflanzen vertrocknen zu lassen, galt als schlimmes Vergehen, da man ein Lebewesen hatte verdursten lassen. Unser Vater hat uns schon früh eingeschärft, man solle nicht aus Mitleid kleine oder verkrüppelte Pflanzen stecken, sondern nur die kräftigsten und besten nehmen, denn nur sie brächten guten Erfolg.
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Das Kindergärtchen im Sommer war eine Art Weiterführung des »Fruchtgärtchens« aus der Winterzeit. Zu Beginn des Advents hat fast jedes Kind eine Handvoll Weizenkörner in einen kleinen Teller gegeben, sie jeden Tag befeuchtet und warm gestellt. Wenn man alles richtig gemacht hatte, war der Weizen zu Weihnachten 10 bis 20 cm hoch gewachsen. An Heiligabend wurde eine bunte Schleife darum gebunden und neben den Christbaum gestellt. Natürlich wetteiferten die Kinder miteinander, wessen Weizen am schönsten und höchsten gewachsen war. – Dieses Fruchtgärtchen38 war übrigens nicht nur eine Angelegenheit der Kinder, denn an Weihnachten war auch der Altar in der Kirche mit solchen Weizentellern geschmückt, und die waren von Erwachsenen gezogen worden. Das Fruchtgärtchen soll ein Überbleibsel aus einem alten Fruchtbarkeitsbrauch der Körnerbauern sein. Seine ursprüngliche Heimat liege nach einschlägigen Forschungen im Vorderen Orient. Mädchen spielten vorzugsweise innerhalb des Dorfes, meist mit selbst gemachten Puppen, die man im Dorfjargon »Fetzepoppe« nannte. Im Sommer machten sich die Mädchen Puppen aus Maiskolben, wobei sie das Laub in Streifen zu Haaren zogen. Wir nannten sie »Kukruzpopp«. Aus Gurken machte man Kühe, aus großen Kürbissen »Geisterlarve« oder »Kerbselarve«.39 Den Kleinen waren Mütter oder Großmütter bei der Herstellung der Fetzepopp behilflich. Großmütter gab es in fast jedem Haus, da gewöhnlich drei Generationen unter einem Dach lebten. Großeltern hatten eine wichtige Funktion bei der Kindererziehung. Sie ergriffen gewöhnlich Partei für die Kinder und hielten den Eltern vor, sie 38 Von Kreta bis Pakistan ist das Fruchtgärtchen als Adonisgärtchen weit verbreitet. Nach Walter Dostal (Ein Beitrag zur Frage des religiösen Weltbildes der frühesten Bodenbauer Vorderasiens. In : Archiv für Völkerkunde XII : 54–109, Wien 1957) ist es bereits in vorchristlicher Zeit in diesem Gebiet bekannt (Thiel 1984 : 55–56). 39 Im Herbst zogen wir Kinder abends mit ausgehöhlten Kürbissen mit einem Licht darin durch die Gassen, um die Leute zu erschrecken. Bisweilen gingen wir auch in Häuser. Manche Hausfrauen gaben uns dann ein Stück Kuchen oder Süßigkeiten. Der Ausdruck »Halloween« war unbekannt. Dieser Brauch war bei uns alt.
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wären in diesem Alter noch schlimmer gewesen als die Kinder. Bisweilen lief man auch, wenn Strafe drohte, zu einer Tante und beschwerte sich über die Eltern. Größere Mädchen nähten unter Anleitung Kleider und Bettwäsche für ihre Puppen selbst. Sie wuchsen auf diese Weise in die Rolle der Hausfrau hinein. Wie die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau genau geregelt war, so war das Spiel zwischen den Geschlechtern der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen verschieden. Man war in den Spielen seines Geschlechts Experte. Um sich nicht zu blamieren, versuchte man sich erst gar nicht in den Spielen des anderen Geschlechts. Verglichen mit heute hatten wir wenige Spielsachen und noch seltener waren Kinder- und Märchenbücher. Die meisten Spielsachen machten sich die Kinder selbst. Da mein Vater Tischler war, hat er mir einmal zu Weihnachten ein schönes Schaukelpferd mit echtem Rosshaarschweif gemacht ; meine Schwestern erhielten kleine Bettchen, Wiegen und Tischchen für ihre Puppen. Wie zu uns die Nachbarskinder kamen, um auf dem Pferd zu schaukeln, so gingen wir zu anderen den »Struwwelpeter« zu lesen oder Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen. Einige Märchenbücher hatten wir von unserem Onkel Sándor erhalten. Es war auch üblich, dass man sich für einige Tage von Freunden Spielsachen oder ein Kinderbuch auslieh. Kinderfahrräder oder Roller gab es nur bei »Herreleit«. Wir Kinder empfanden uns aber überhaupt nicht als arm, wir hatten genug Spielsachen. Eine andere Quelle unseres Spielvergnügens waren die Haustiere. In jedem Haus gab es Tiere mit Jungen. Was war es für eine Aufregung für uns Kinder, wenn die jungen Gänschen schlüpften ! Wenn die Nächte noch kalt waren, wurden die Erstschlüpfer in die Küche genommen, bis das ganze Gelege ausgebrütet war. Das konnte manchmal drei bis vier Tage dauern. Ähnlich war es bei den Entlein und Küken. Gewöhnlich hatte sich jedes Kind unter den Jungen einen Liebling ausgesucht, ihm einen Namen gegeben und ihn mit den besten Häppchen gefüttert ; so entstand bald eine innige Beziehung zwischen beiden. Noch engere Freund-
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schaften wurden mit Ferkeln, Kätzchen und Welpen geschlossen. Die Eltern sahen solche enge Verbindungen nicht gerne, da es immer wieder zu großen Tränenausbrüchen kam, wenn Jungtiere verkauft, weggegeben oder später geschlachtet werden mussten. Dann konnte man bei Tisch hören : »Ich esse kein Fleisch von Peter !« und es war der Gänserich gemeint. Einmal spielte sich bei uns wegen eines jungen Katers eine für uns Kinder schmerzliche Geschichte ab. Unsere alte Katze hatte mal wieder im Verborgenen einen großen Wurf gehabt. Eines Tages schleppte sie sieben halbwüchsige Kätzchen an. Sie noch zu beseitigen, brachte mein Vater nicht über sich, da sie schon zu groß waren. Also mussten sie weggegeben werden. Eines der Kätzchen hatte ein weißes Gesicht und einen schwarzen Schnurrbart. Da es ein Käterchen war, nannten wir es Bärtl. Wir Kinder bestürmten unsere Eltern, dass Bärtl bei uns bleiben dürfe. Schließlich gaben sie klein bei. Wenige Monate später kam ein Großbauer, Melchior-Vetter mit Namen, ein vehementer Nazi-Gegner und Freund meines Vaters, zu Besuch. Er klagte, dass es auf seinem Sallasch eine Mäuseplage gebe und er nicht genügend Katzen habe. Als er den jungen, kräftigen Bärtl sah, begann er unseren Vater zu beschwatzen, dass er ihm diesen Kater überlassen möge. Wir machten unserem Vater Zeichen, dass er Bärtl nicht weggeben solle. – Wenn nämlich Gäste anwesend waren, durften wir Kinder uns nicht unaufgefordert in die Unterhaltung einmischen. – Vater suchte den Melchior-Vetter von seinem Wunsche abzubringen, doch der ließ nicht locker. Vater wand ein, dass der Kater fast sechs Monate alt sei und sehr wahrscheinlich vom Sallasch wieder nach Hause finden würde. Der Melchior-Vetter wollte das nicht wahrhaben. Schließlich sagte er : »Gut, wenn er zurückfindet, soll er hier bleiben !« – Es wurde ein dichter Sack geholt, damit er nicht sehen könne, wo es langgeht ; Bärtl wurde hineingesteckt und der Sack zugebunden. Wir Kinder waren sehr traurig, und einige weinten sogar. Wir warteten jeden Tag, dass Bärtl wiederkomme. Als zwei Wochen vorüber waren, gaben wir die Hoffnung auf. Da Sommer war, standen
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auch nachts Fenster und Türen offen. Als wir eines Morgens aufwachten, lag Bärtl wie gewöhnlich bei uns im Bett. Wir weckten einander und tanzten vor Freude. Bärtl blieb bei uns bis zu unserer Vertreibung ; dann musste er wohl Straßenkater werden, wie auch alle übrigen Haustiere sich selbst überlassen blieben. An Sommertagen spielten wir Buben fast immer draußen, außer die Reihe war an mir, Gänse und Enten auf die Hutweide bei den großen Dorfteichen zu treiben und sie dort zu hüten. An freien Tagen zog ich mit meinen Kameraden durchs Gelände. Das gemeinsame Mittag- und Abendessen waren bei uns zu Hause fast heilige Termine : Vater verlangte, dass wir alle anwesend seien. Da auch immer ein bis zwei Angestellte bei Tisch saßen, redeten die Erwachsenen. Wir durften uns aber auch mit unseren Anliegen melden. Während der Schulzeit kam nach dem gemeinsamen Tischgebet oft zuerst die Schule zur Sprache. Wenn es irgendwelche Probleme gab, musste man nach dem Essen zu Vater in die Werkstatt kommen. Manchmal gab es diese Aussprache aber auch erst am Abend. In der Ferienzeit war Vater großzügiger : Ich durfte öfter bis zum Abendessen wegbleiben. Bei den meisten Nachbarskindern war die Hausordnung nicht so streng wie bei uns, vor allem dann, wenn deren Väter außer Haus arbeiteten. Die etwa gleichaltrigen Buben unseres Ecks bildeten eine »Kameradschaft«. Normalerweise gehörten zu unserer Clique im Viertel so sieben bis zehn Buben. Wir waren sehr viel zusammen. Wenn man mit der Bande eines anderen Ecks in eine Rauferei verwickelt wurde, hatte man immer seine Gruppe hinter sich. Dies bedeutete natürlich auch, dass man sich für die Kameraden einzusetzen hatte und somit häufig in Händel verstrickt war. Bei Großeinsätzen gegen verfeindete Cliquen brachten wir auch 15 bis 20 Buben zusammen. In unserer Gruppe gab es immer einen Anführer. Wenn Peter dabei war – er war der Älteste von uns –, führte er an. Wenn er verhindert war, war Valti unser Anführer ; wenn er ausfiel, war ich es. Valti war ein Jahr älter als ich. Anführer wurde nur, wer mutig und stark war ; in brenzligen Si-
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tuationen musste er einen guten Ausweg finden. Wer sich wiederholt bei Auseinandersetzungen feige verhielt, wurde nicht mehr auf unsere Streifzüge mitgenommen. Wenn wir in den Ferien eine große Tour machten, nahmen wir bisweilen eine alte Pfanne und ein Brennglas mit ; ein Taschenmesser hatte ohnehin jeder von uns bei sich. Irgendwo fanden wir immer Vogeleier, die wir braten konnten, oder flügge Jungkrähen, Atzeln (Elstern) oder Tauben. Wir hatten aber auch einige feste Tabus einzuhalten, denen wir Buben des Dorfes verpflichtet waren und an die wir uns auch tatsächlich hielten. Wir durften uns niemals an einem Storchen- oder Schwalbennest vergreifen ; es war verboten, Igel zu töten oder Eidechsen zu fangen bzw. ihnen den Schwanz abzuschlagen. Wer einen Storch tötet, hieß die Sentenz, in dessen Stall wird ein Pferd oder eine Kuh verenden ; wer einer Eidechse den Schwanz abschlägt, dessen Kühe werden rote Milch geben usw. Bisweilen stibitzten wir auch einige Karpfen aus einem Fischteich, die wir nach Zigeunerart in Lehm oder an einem Spieß zubereiteten. Wenn wir es eilig hatten, versorgten wir uns in einem Weingarten mit Obst. Wir mussten dann nur aufpassen, dass wir von den Feldhütern nicht erwischt wurden. Fangen konnten sie uns nie, da wir viel schneller laufen konnten als sie. Aber manche hatten speziell für Banden, wie wir eine waren, ihre Patronen mit Bohnen und/oder Sauborsten gefüllt, die sie uns hinterherschossen. Da wir gewöhnlich nur mit einem kleinen Hemdchen und einer kurzen Klodthose (schwarzer Futtersatin-Stoff ) bekleidet waren, konnte so ein Geschoss ganz schön Striemen machen. Zu Hause durfte man nicht einmal erwähnen, dass man Striemen hatte ; das hätte dann noch zusätzlich eine Tracht Prügel eingebracht. Mit der Bande von der unteren Böhmengasse lagen wir, die Bande von der unteren Raazengasse, in Dauerfehde. Sie beanspruchten nämlich das neue Fischwasser und das alte, das jetzt Hanfwasser war, als ihr Terrain, und das nur, weil sie einige Hundert Meter näher an den Teichen wohnten als wir von der Raazengasse. Damit waren wir absolut nicht
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einverstanden. Zumindest das Fischwasser betrachteten wir als unsere Domäne. Wie oft schlugen wir uns um die Vorherrschaft ! Einmal wurde ich bei so einem Kampf am Kopf von einem Dachziegelstück verwundet, sodass die Haut herunterhing. Zu Hause konnte ich nicht den wahren Grund nennen, sonst hätte es noch ein Donnerwetter obendrein gegeben. Meine Mutter richtete die Haut wieder zurecht, gab gehackte Zwiebel und Breitwegerich auf die Wunde und verband sie. Nach einigen Tagen konnte ich wieder mitmachen. Ein andermal bekamen wir in unserer eigenen Gruppe großen Krach, und zwar wegen des Fells eines Fischotters. Im Dorf wurde erzählt, dass sich im Neuen Fischwasser ein Fischotter, offensichtlich vom Kanal her eingewandert, niedergelassen habe. Valti wusste von seinem Vater, der Kürschner war, dass ein gutes Fell bis zu 10.000 Dinar wert sein konnte. Dazu war auch bekannt, dass die Fischer über die Anwesenheit des Otters gar nicht glücklich waren. Sie fürchteten um den Fischbestand. Da kam uns die Idee, dass dies eine Sache für unsere Gruppe wäre : Wir fangen den Otter und kassieren einen Haufen Geld. Dabei tun wir den Fischern noch einen Gefallen, die sonst nicht gut auf uns zu sprechen waren, weil wir häufig ihre Tschinakl 40 klauten. Je mehr wir von dem Geld träumten, desto überzeugter wurden wir, dass der Otter uns gehörte und wir ihn demnächst fangen würden. Wie aber sollten wir das viele Geld aufteilen ? ! Bevor wir am Abend auseinandergingen, zogen wir uns in unseren Hauseingang zurück, um die Verteilung des Geldes zu besprechen. Valti war der Anführer. Er beanspruchte mit Recht am meisten. Franz und Martin waren ein Jahr jünger als Sepp und ich. Sie begnügten sich mit weniger Geld als wir beide. Baschtl aber, der zwei Jahre jünger war als wir, wollte die gleiche Summe wie wir. Dem stimmten wir Älteren absolut nicht zu. Wir wurden immer 40 Kleiner Kahn für seichtes Wasser. Er wurde meist mit einer langen Stange fortbewegt. Tschinakl ist wohl von dem ungarischen Wort csónak für Kahn abgeleitet. Ein größeres Boot nannte man »Zille«.
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lauter und schließlich kam es zu einer Rauferei. Meine Mutter hörte im Haus den Tumult und kam heraus. Wir erzählten ihr, weshalb wir stritten. Sie lachte und sagte : »Aber Buben, fangt doch zuerst den Otter. Wenn ihr das Fell verkauft habt, findet sich sicher ein alter Großvater, der euer Geld gerecht verteilt.« Wir gingen verärgert auseinander. Ein, zwei Tage traf ich mich nur mit Sepp. Als wir wieder alle beisammen waren, war vom Otter nicht mehr die Rede. Man hat auch nie wieder einen Otter im Fischwasser gesehen. Nach dem Abendessen durften die meisten Kinder im Sommer, bis es dunkel wurde, auf der Straße spielen. Oft saßen auch die Eltern mit Nachbarn auf der Gasse und »dischkurierten« miteinander. Buben machten vielfach Ball- oder Wurfspiele, Mädchen Hüpf- oder Reigenspiele. Da unser »Eck« nur durch zwei Straßenlaternen beleuchtet war, zogen wir uns, wenn es spät wurde und die Kleinen schlafen gehen mussten, in einen beleuchteten Hauseingang zurück und erzählten uns Geschichten oder sangen Lieder. Die Mädchen waren beim Singen und Erzählen vielfach besser als wir Buben. Je nach Jahreszeit kamen die Rufe der Eltern zum Schlafengehen früher oder später. Da wir tagsüber fast immer barfuß liefen, fanden wir an heißen Sommertagen das Fußbad besonders kalt und unangenehm. Ohne Fußbad ins Bett zu kommen, war für mich schwer, weil meist eine kleine Schwester mich verriet. Dann wurde ich noch aus dem Bett geholt und ins kalte Wasser gesteckt. Im Winter verbrachte man die Abende zu Hause. 1935 hatte Filipowa elektrisches Licht bekommen. Es war aber zunächst nicht selten, dass der Strom ausfiel. Man hatte deshalb immer Petroleumlampen und Kerzen in Reichweite. Auf unserem Hausboden lagen noch mehrere »Schmalzlichter«, wie man Tranlampen nannte, von meiner Großmutter. Wenn Vater in der Werkstatt viel zu tun hatte, warteten wir mit dem Abendessen auf ihn und den Gehilfen. Unsere Lehrlinge kamen immer aus dem Dorf und aßen deshalb zu Hause. Wenn Mutter vor dem Abendessen Zeit hatte, saßen wir im Dunkeln um sie herum und
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sie erzählte uns Geschichten oder sang Lieder. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass sie uns auch lustige Geschichten erzählt hätte. Ihre Darbietungen waren immer von einem Hauch Melancholie durchzogen. Oft war darin vom Tod die Rede oder wie es einmal sein wird, wenn sie gestorben sei. Dabei siedelte sie ihren Tod gar nicht in einem hohen Alter an – schließlich ist sie erst im 86. Lebensjahr gestorben. Mutter war beileibe nicht depressiv, aber ausgelassener Freude konnte sie sich nicht hingeben. Vater mochte überhaupt nicht, wenn sie uns solche Geschichten erzählte. Er war zwar kein ausgesprochen lustiger Mensch, aber sehr positiv eingestellt. Als Vater Ende 1944 in die UdSSR verschleppt wurde und Mutter mit sechs Kindern ins Lager kam, hat sie viel Lebensmut bewiesen und uns alle bis auf ihren kleinen Liebling, meinen Bruder Franz, durch die 26 Monate Lagerzeit gebracht und schließlich in die Freiheit nach Österreich. Und doch schien ihr irgendwie die intime Herzlichkeit zu uns Kindern zu fehlen. Sie liebte uns alle und opferte sich ganz und gar für uns auf, aber eine gewisse scheue Distanz war immer zu spüren. Ich habe mich oft gefragt : Kam die Distanz von der Filipowaer Art, mit Kindern umzugehen, oder aus ihrer Seelenlage ? Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich einmal in den Arm genommen hätte. Das war in Filipowa bei größeren Kindern auch nicht üblich, wohl aber bei kleinen. Und doch weiß ich, dass sie oft um mich geweint hat, als ich 1961 für Jahre als Missionar in den unruhigen Kongo ging oder 1966/67 für Monate durch die Sahara in den Kongo fuhr. Vater war ein mehr rational gesteuerter Mensch. Er hatte Prinzipien, und wenn er einmal von ihrer Richtigkeit überzeugt war, ging er davon kaum noch einmal ab. Er konnte stur sein. Und doch sind meine frühesten Erinnerungen an ihn die an seinen Stoppelbart, den ich in meinem Kindergesicht spürte. Er hat uns Kinder sehr geliebt ; er hat aber auch klare Anordnungen getroffen, die wir einzuhalten hatten. Er war bis in sein hohes Alter – er starb in seinem 94. Lebensjahr – der Patriarch. Wir respektierten und verehrten ihn. Es kam nicht häufig vor, dass wir – auch
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als Erwachsene, als Kinder erst gar nicht – ihm in fundamentalen Fragen widersprachen. Die gelegentlichen, auch heftigen Diskussionen tauchten bei politischen und kirchlichen Themen auf. Er erzählte häufig die Geschichte, wie er mich mit einem ganz grindigen Psoriasis-Kopf wiederholt zu den Ärzten in die Kreisstadt Sombor gebracht und wie sich die Leute in der Bahn von ihm weggesetzt hätten, aus Angst, sie könnten sich mit Aussatz anstecken. Ich erlaubte mir in späteren Jahren die Bemerkung : »Was hättet Ihr denn gemacht, wenn ich Lepra gehabt hätte ?« Er schaute mich durchdringend an und sagte : »Nichts anderes !« – Das Wichtigste an meinem Elternhaus war für mich immer, dass es eine ganz sichere Bank in meinem Leben war, die ich und meine Geschwister in jeder Notsituation ansteuern konnten. Ich hatte nie im Leben das Gefühl, allein oder einsam zu sein. Diese Verwurzelung in der Familie gab mir immer und überall Sicherheit. Nach dem Abendessen gab es in der vorweihnachtlichen Zeit immer sehr viel zu tun. Vater schnitzte jahrelang an Krippenfiguren. Er hatte den Ehrgeiz, das größte »Bethlehem«, so nannte man bei uns das Krippenensemble, im Dorf zu besitzen. Da er auch im Kirchenchor engagiert war, brachte er viel Zeit bei den Proben zu. Mutter hatte für die Festtage vorzubereiten und Kuchen zu backen. Nach Weihnachten kam auch bald das Hochfest Dreikönig mit Vaters Namenstag. Im Advent hatten wir Kinder Weihnachtslieder zu lernen, den Christbaum herzurichten und zu schmücken, Walnüsse zu vergolden, Bonbons in Fransenpapier einzuwickeln, Schlaufen dranzumachen, das Bethlehem mit Vater aufzubauen usw. Hinzu kam, dass wir früh zu Bett gehen mussten, wenn wir am nächsten Morgen die Rorate, die Frühmesse, nicht versäumen wollten. Und da gingen wir gerne hin. Oft sah man am frühen Morgen alte Leute mit Laternen in die Kirche gehen, weil es finster und kalt war. Geheizte Kirchen kannte man bei uns nicht. Alte Leute brachten sich deshalb auch heiße Ziegelsteine mit. An den Abenden nach Weihnachten lasen Vater oder Mutter uns häufig aus Missionszeitschriften Geschichten vor oder wir spielten
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Mühle, Domino, Mensch-ärgere-dich-nicht oder dgl. Häufig sangen wir auch ganze Abende Volks- und Kirchenlieder. Wenn der Gehilfe Johann im Hause war, brachte er seine Violine, Vater seine selbst gebaute Zither, und dann gab es Musik und Gesang. Johann war ein sehr geschickter Handtischler ; er baute sich seine Geigen selbst. Oft arbeitete er daran bis tief in die Nacht hinein. Vater hatte von ihm gelernt, Zithern zu bauen. Die Thiels waren seit mehreren Generationen Handwerker und Musiker. Mein Großvater war Balwierer (Friseur) und Dorftrompeter ; von meinem Urgroßvater heißt es in den Pfarrmatrikeln, er sei Weber und Tambour gewesen, ebenso von einem anderen Thiel. Vater spielte in der Kapelle der Deportierten in Russland die große Trommel. Musik und Gesang waren deshalb in unserer Familie sehr hoch angesiedelt und wurden eifrig gepflegt. Mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften war man in Filipowa nicht gut ausgestattet. Viele Familien hatten wenig Bedürfnis sich weiterzubilden oder hatten auch keine Zeit dafür. Herreleit, Kaufleute und Handwerker brachten noch am ehesten Interesse für Lektüre auf. Bücher liehen sich unsere Eltern in der Pfarrbibliothek aus. Sie bezogen auch mehrere kirchliche Zeitschriften und die Wochenzeitung »Die Donau« und den »Jugendruf«. Die »Stadt Gottes« und »Der Jesusknabe« waren vor allem auf die Mission ausgerichtet. Die bisweilen schönschaurigen Geschichten dieser Zeitschriften haben mir den Blick auf fremde Völker und Kulturen vermittelt. Mein späterer Beruf als Missionar und Ethnologe geht sicher zu einem Gutteil auf den frühen Einfluss dieser Missionszeitschriften zurück. Alles in allem habe ich bis zu meiner Einschulung 1939 eine sehr glückliche Kindheit gehabt. Es zeigten sich allerdings bereits dunkle Wolken, die auf die kommenden unruhigen Jahre hinwiesen. Wir Kinder nahmen sie natürlich noch nicht als solche wahr. Da gab es in Jugoslawien damals die ultranationalistische Gruppe der Tschetniks. Sie kämpften für ein rein national-serbisches Königreich und waren gegen alle Minoritäten, besonders gegen uns Deutsche, eingestellt. Die andere
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Bedrohung ging von den nationalsozialistisch orientierten »Erneuerern« aus. Es waren zumeist junge Donauschwaben, häufig Studenten, die sich seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland oder Österreich von deren Ideen infizieren ließen und sie zu uns nach Südosteuropa brachten. Sie wollten die unpolitische donauschwäbische Gesellschaft erneuern, indem sie sie dem Nationalsozialismus zuführten. Radikale Strömungen hatten damals in Jugoslawien Hochkonjunktur. Neben den Tschetniks und »Erneuerern« gab es auf kroatischer Seite die Ustascha und die kommunistischen Tito-Partisanen. Alle diese Gruppierungen waren sich spinnefeind und suchten sich zu eliminieren. Heute gehören zwar alle der Vergangenheit an, aber die Minoritäten sind noch immer ein Problem. Es war im Frühsommer 1938. An einem späten Abend saßen wir, etwa ein halbes Dutzend Kinder, im Hauseingang unseres Nachbarn, vor dem eine Straßenlaterne brannte. Zirka hundert Meter weiter wurde das Haus von Tischler Kämpf gebaut. Serbische Arbeiter aus dem Süden stampften die Lehmmauern. Nach Feierabend waren etwa sechs Arbeiter ins Dorf gegangen und hatten in einem Wirtshaus etwas getrunken, aber, wie es später hieß, nicht viel. Auf ihrem Heimweg kamen sie an uns Kindern vorbei. Wir erzählten uns gerade Geschichten und lachten. Einer der Arbeiter hatte offensichtlich den Eindruck, wir würden über sie lachen. Er verließ seine Gruppe, kam über die Straße zu uns und fragte uns auf Serbisch, warum wir sie auslachten. Wir verstanden ihn nicht. Schneider Peter war der Älteste und verstand schon etwas. Er versuchte dem Arbeiter klarzumachen, dass wir über eine Geschichte lachten, die wir gerade erzählt hatten. Der Serbe hat Peter offensichtlich nicht verstanden. Er packte Peter und haute ihm rechts und links an die Ohren, dass es schallte. Wir Kinder schrieen auf und rannten aus dem »Ganghäusel«. Mein Vater war gerade im Hof und hörte uns schreien. Er kam herbeigelaufen. Als er sah, wie der Serbe Peter traktierte, stellte er ihn zur Rede. Jetzt erst ließ dieser von Peter ab, ging auf meinen Vater zu, zog
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blitzschnell sein Messer und stach auf Vater ein. Der konnte gerade noch seinen Arm fassen und den Stoß abwehren, sodass er ins Leere ging. Nun hatte auch der nächstliegende Nachbar, ein Cousin meines Vaters, unser Schreien gehört. Er kam herbeigelaufen, und als er sah, was da vor sich ging, griff er nach der Torstange und schlug sie dem Angreifer über den Rücken, sodass der abließ und zu seinen Kumpanen lief. Da immer mehr Bewohner aus den Häusern herbeieilten, zogen sich die Serben zurück. Als ich sah, wie der Serbe meinem Vater das Messer in die Brust zu rammen suchte, bekam ich solche Angst, dass ich nach Hause rannte, mich in ein Zimmer einschloss und hinter dem Ofen versteckte. Licht getraute ich mich nicht anzumachen, da ich fürchtete, der Serbe könnte mir gefolgt sein. Ich hatte auch gar nicht mehr mitbekommen, dass mein Vater nicht verletzt worden war. – Als nach längerer Zeit alles ruhig blieb, wagte ich mich aus meinem Versteck. Vorsichtig schlich ich mich auf die Straße : Hier war es laut, das ganze Eck war zusammengelaufen. Jetzt erst sah ich, dass meinem Vater nichts passiert war. Am nächsten Tag gingen mein Vater und sein Cousin auf die Gemeinde und erstatteten Anzeige gegen den Serben. Der Serbe wurde von der Polizei ins Gemeindehaus geholt. Da es sich bei dem Angeklagten um einen Serben handelte, hatte nicht der donauschwäbische Richter den Vorsitz, sondern GliŠa, der serbische Militärreferent. Zunächst haben mein Vater und sein Cousin den Vorgang geschildert. Als der Angeklagte an die Reihe kam, knüpfte er seine Jacke auf und zeigte Herrn Klischa den Totenkopf, das Symbol der Tschetniks. Der Vorsitzende sagte noch einige nichtssagende Worte, dann schloss er die Verhandlung mit der Bemerkung, er könne kein Urteil fällen, da hier Aussage gegen Aussage stünde. Als mein Vater den Raum verließ, zischte der Tschetnik ihm zu : »Mit den Schädeln von euch Schwaben werden wir noch unsere Straßen pflastern !« – In gewissem Sinne ist diese Prophezeiung auch wahr geworden. Allerdings sind auch die Tschetniks von den TitoPartisanen aufgerieben worden.
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Ein Schockerlebnis ähnlicher Art hatte unsere Familie ein Jahr später, nur wurde es jetzt nicht von Tschetniks, sondern von »Erneuerern« aus dem eigenen Dorf ausgeführt. Mein Vater hatte an einem Samstagnachmittag einem Bauern Möbel geliefert und sie aufgebaut. Da es länger dauerte als geplant, schickte er den Lehrling mit dem Wagen nach Hause ; er wollte die Arbeit allein vollenden. Da es ein größerer Auftrag war, gingen der Kunde und mein Vater nach der Arbeit ins Wirtshaus Ott, um zusammen etwas zu trinken. Dieser Gasthof diente als Clublokal des Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes. Die »Erneuerer« hatten zwar noch nicht offiziell die Leitung des Kulturbundes in der Hand, aber ihn bereits unterwandert und auf nazistische Ideen und Parolen ausgerichtet. Da mein Vater sonst nie in dieses Gasthaus ging, war er überrascht, wie sehr sich der Nationalsozialismus hier schon breitgemacht hatte. Da mehrere junge Männer beim Tanzen immer wieder durch den Saal laut »Heil Hitler !« riefen, stellte mein Vater sie zur Rede und drohte ihnen mit einer Anzeige, wenn sie es nicht unterließen. Schließlich gehörten wir zu Jugoslawien und nicht zum Deutschen Reich. Um Mitternacht verließ er das Lokal, bemerkte aber nicht, dass ihm mehrere junge Männer folgten. Vor dem Haus des Hanfhändlers Baumgärtner in der Kirchengasse überfielen ihn die »Erneuerer« und schlugen ihn von hinten nieder. Da er benommen war und stark blutete, zerrten sie ihn ins Ganghäusl und ließen ihn liegen. Als er wieder zu sich kam, schleppte er sich nach Hause. Als meine Mutter ihn sah, schrie sie laut auf. Meine ältere Schwester und ich sind davon wach geworden und auf den Hof hinausgelaufen. Vater saß auf dem Gangsturz und war von oben bis unten voll Blut. Mutter meinte zunächst, er hätte zu viel getrunken und wäre gestürzt, aber dann erzählte er, dass er wohl von »Erneuerern« niedergeschlagen worden war. Seine Mütze hatte er in Baumgärtners Ganghäusl liegen lassen. – Anzeige konnte keine gemacht werden, da man nicht wusste, wer ihn niedergeschlagen hatte. Sie hätte auch nichts gebracht, denn die »Erneuerer« hätten genug Freunde in ihrem Clubhaus gehabt, die geschworen hätten, dass die Täter das Lokal nicht verlassen hatten.
6. Geschichtliche Voraussetzungen
Das Kaiserreich und der ungarische Nationalstaat
Um den gesamten Hintergrund der Vorkommnisse mit den Tschetniks und ihren serbophilen Agitationen und den »Erneuerern« mit ihren magyarophoben und antikirchlichen Ideen zu verstehen, ist es nützlich, sich etwas mit der ethnischen, geschichtlichen und politischen Situation, in der die Donauschwaben um 1935 lebten, vertraut zu machen. Erst aus den nationalen Aspirationen und der Geschichte der Völker, mit denen wir in Symbiose lebten, lassen sich das Verhalten und die Handlungen der Beteiligten verstehen. Nach den Siegen von Prinz Eugen von Savoyen über die osmanischen Heere bei Zenta und 1716/18 bei Peterwardein, Temeschwar und Belgrad und den folgenden Friedensverträgen von Karlowitz 1699 und Passarowitz 1718 waren Südungarn und Nordserbien von osmanischer Herrschaft frei geworden. Das Gebiet zwischen der mittleren Donau und der Theiß, die Batschka, war nach dem Rückzug der Türken zum größten Teil im Zustand einer Puszta, also Weideland, mit einigen wenigen Ortschaften darin. Die meisten Ländereien der Region gehörten der Reichskrone. Da die Flüsse Donau und Theiß nicht reguliert waren und die heutigen Entwässerungskanäle noch nicht existierten, wurden große Gebiete regelmäßig überschwemmt oder waren ständiges Sumpfland mit Mückenplage und Malaria. Um dieses Gebiet zu fruchtbarem Ackerland zu machen, waren Dämme, Kanäle und Entwässerungsgräben erforderlich. Nordungarn und Ofen waren bereits 1686 von kaiserlichen Truppen von den Türken befreit worden. Ungarn war durch die lange Besatzungs-
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zeit in weiten Teilen entvölkert. So kam es, dass auf dem ungarischen Reichstag in Pressburg von 1723, auf dem die »Pragmatische Sanktion« zum Gesetz erhoben wurde – es geht um die weibliche Erbfolge in der Habsburger-Dynastie –, die ungarischen Stände den Kaiser ersuchten, er möge »aus seinen österreichischen Erbländern und aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Ansiedler nach Ungarn bringen …« (nach Diplich und Hockl 1950 : 48). Der ungarische Landtag sicherte den Siedlern für sechs Jahre Steuerfreiheit, Freizügigkeit und Erbeigentum zu. Im »Ansiedlungspatent« von Kaiserin Maria Theresia (1740–1780) von 1763 verspricht sie den Siedlern unter anderem : • Ihnen werden Wälder, Äcker und Weiden angewiesen, »damit sie solches für immer in vollständiger Ruhe bebauen mögen«, frei von Grundzins und Grundbuch-Abgaben … • In jedem Ort werden eine Kirche und ein Pfarrhaus errichtet. • Jeder soll als »freier kaiserlich-königlicher Untertan gehalten und angesehen werden«. • Es »wird jedem, der einen Weingarten anlegen wolle, nicht nur der hierzu bequeme Ort ohne Entgelt angewiesen, sondern überdies auch eine sechsjährige Freiheit von allem … verwilliget …«. • Jeder Ansässige erhält so viele Joch Äcker und Wiesen, wie er bebauen kann, und jede Gemeinde Land, »welches zu Weidung ihres Zug- und Melkviehs … hinreichend sein solle«. • Für das Wohn- und Wirtschaftsgebäude wird das Bauholz gratis gestellt. • Nach den steuerfreien Jahren wird Steuer auf die Häuser fällig – jährlich sechs Rheinische Gulden für ein großes Bauernhaus, drei für ein kleines Haus ; »im übrigen sollen sie aber von allen Roboten frei« sein. Dagegen aber sind sie gehalten, »von Früchten und Vieh-Sorten den neunten Teil der Herrschaft … und das Zehende … der Clerisey … zu entrechten …«.
Geschichtliche Voraussetzungen :
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• Es wird der jährliche freie Ausschank vom 1. Oktober bis Ende März gewährt. • Den Familien werden die nötigen Körner für den Unterhalt und die Aussaat entweder gegen Bares verkauft oder sie können nach »der ersten oder zweiten Fechsung« zurückgegeben werden (Diplich und Hockl 1950 : 58/59). Dem Aufruf der Kaiserin sind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Menschen aus dem Reich gefolgt. Viele von ihnen waren Leibeigene, andere wollten dem Militärdienst entfliehen, wiederum andere waren derart verarmt, dass sie durch eine Auswanderung nur gewinnen konnten. Es gab aber auch einige wenige »wohlhabende« Einwanderer mit Pferden und Großvieh – offensichtlich waren sie auf der Suche nach mehr Land. Es existieren Quellen, nach denen in Wien Dirnen und »streunende Frauenzimmer« eingefangen und in die Siedlungsgebiete verfrachtet wurden, da dort Frauenmangel herrschte. Angeblich sollen solche Frauen unter Maria Theresia ins Banat geschickt worden sein. – Es gab also auch hier das wiederholt beobachtete Phänomen bei Landnahmen und Ansiedlungen durch Großmächte. Man denke nur an Australien ! – Aus den »streunenden Frauenzimmern« sind wohl tüchtige Bäuerinnen und gute Mütter geworden, so man den Erfolg der Banater Bauern und ihrer Nachkommen in Betracht ziehen darf. Auch für diese Frauen bot sich mit der Auswanderung die Möglichkeit, der Abhängigkeit und Armut zu entrinnen. In den Akten über Filipowa habe ich bezüglich »Frauenimport« keine Andeutung gefunden. Es heißt im Gegenteil : Unverheiratete Frauen dürfen nicht einwandern, außer sie seien Witwen mit Kindern. Die »Dirnen von Wien« werden gerne von serbischen Autoren angeführt, um die Donauschwaben und ihre Herkunft zu diskreditieren. Donauschwäbische Autoren wiederum erwähnen diese Fakten kaum. Etlichen Autoren zufolge »sind es immer nur die Kühnsten und Tüchtigsten, die den Entschluß fassen, die Sicherheit der Heimat mit der Unsicher-
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heit der Fremde einzutauschen« (Beer 1987 : 15). Obgleich viele Einwanderer nachweislich nicht deutscher Sprache waren, werden sie von Autoren, die dem Nationalsozialismus nahestehen, für das »donauschwäbische Deutschtum« vereinnahmt. Da man in den 1930er-Jahren begann, auf sein Ahnenerbe aus dem Reich stolz zu sein, hätten Nachrichten über fremdländische Wurzeln zahlreicher Ansiedler ihren großen »vaterländischen Stolz« beeinträchtigt ! Betrachtet man die Auswanderer der europäischen Kolonialzeit, so stellt man fest, dass nur ausnahmsweise Personen der wohlhabenden, alteingesessenen Schicht unter ihnen zu finden sind. Meist handelte es sich bei den Auswanderern um Arme, Abenteurer, aber meist um dynamische Menschen, die bereit waren, hart zu arbeiten, um zu reüssieren. Man sollte dabei auch sehen, dass für viele Auswanderer an die mittlere Donau ihre alte Heimat durch kriegerische und/oder wirtschaftliche Not unsicher geworden war, sonst hätten sie sie nicht verlassen. Gerade der Süden und der Südwesten des Reiches hatten seit der Reformation mehr durch Kriege gelitten als andere Reichsgebiete. Die meisten Siedler für das damalige Südungarn kamen aus dem südwestdeutschen Raum, aber auch aus dem Elsass, und viele kamen aus Böhmen.41 In Filipowa z. B. fanden zahlreiche böhmische Veteranen aus dem kaiserlichen Heer eine Heimat. Unter Maria Theresia wurden fast ausschließlich katholische Familien angesiedelt, unter ihrem Sohn Kaiser Joseph II. (1780–1790) auch protestantische. Die beiden Konfessionen siedelten aber durchweg in getrennten Ortschaften. Die ersten Jahrzehnte waren für die Ansiedler extrem hart. Das zeigt schon ein Blick in die Pfarrmatrikeln. Die Kindersterblichkeit lag bei 40–50 %, das ist in etwa auch der Prozentsatz im Hinterland Af41 In Filipowa gab es noch bis zum letzten Krieg eine Böhmengasse, eine Raazengasse (Rayzen = Serben) und ein Juttegässl. Es wohnten aber in meiner Kindheit weder Böhmen, Serben noch Juden in diesen Gassen. Die Chronik vermerkt, dass 1777 56 böhmische Familien im Dorf wohnten. Sie richteten ein Gesuch an den Erzbischof, dass »Gottesdienste und Predigten in ihrer Muttersprache« gehalten würden. »Der Bitte wurde stattgegeben« (Sebastian Wildmann 2000 : 17/18).
Geschichtliche Voraussetzungen :
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rikas. Entsprechend hoch war die Geburtenrate. Mein Urahn aus der Ansiedlungszeit hatte von zwei Frauen 19 Kinder ! Aus meiner gesamten Verwandtschaft von der Gründung Filipowas an (1763) war meine Großtante, eine Klosterfrau, die Erste, die über 80 Jahre alt geworden ist. Sie starb 1974. 60- bis 65-Jährige galten noch in meiner Kindheit als sehr alte Leute. Übrigens befinden sich unter meinen Urahnen mehrere mit slawischen Namen wie Csolics (Zollitsch), Hlavati, Heniš (Hönisch), Csermak (Tschermak), Raindl (Reindl). Da die Mehrheit der Dorfbewohner deutscher Sprache war, haben sie nach und nach ihre böhmische Sprache aufgegeben. Als die Jahre der Steuerfreiheit für die Siedler vorüber waren und die Äcker Erträge abzuwerfen begannen, meldeten sich auch die ungarischen Magnaten, um ihren Anteil von den Bauern abzukassieren. Die Bauern waren zwar keine Leibeigenen mehr, aber die Abgabenlast war dennoch drückend. Die großzügigen Versprechungen im Ansiedlungspatent haben der späteren Wirklichkeit nicht standgehalten. Der zahlreiche ungarische Landadel verstand es, sich auf Kosten der Ansiedler ein Schlemmerleben zu leisten, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen. Es gab auch viele Ansiedlungen auf privater Basis, d. h. Großgrundbesitzer warben für ihre Ländereien Kolonisten an. Diesen ging es meist viel schlechter als jenen, die über die kaiserliche Behörde angesiedelt wurden. Es ist aus der Sicht der Adeligen nur folgerichtig gewesen, dass sie sich fleißige Bauern auf ihr Land holten. Viele der Siedler wurden praktisch wieder zu Leibeigenen. Aus den Pachterträgen für ihr Puszta-Land hätten sich die Adeligen vielleicht einige Paar Stiefel leisten können, mehr nicht !42 Jetzt verwandelten die Kolonisten ihre Puszten in fruchtbares Ackerland. 42 Adalbert K. Gauß charakterisiert den »ungarisch-pannonischen Landadel« folgendermaßen : »Etwas leichtlebig-unbeschwert im Lebensstil und in seiner sozialen Verantwortung für die Unterprivilegierten von wenig Skrupeln geplagt, konnte er sich, gesellschaftlich durch Privilegien abgesichert, auch über wirtschaftliche Rückschläge aus der historisch zugewachsenen Einsicht leichter hinwegsetzen …« (1983 : 24).
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Der Filipowaer Bauer Sebastian König (1827–1909) hat über seine Zeit eine Art Tagebuch geführt, was für damals eine große Ausnahme war, dazu noch für einen donauschwäbischen Bauern ! Über seine Jugendzeit berichtet er Folgendes : »Vor 1836 hat man den Bauern wie einen Sklaven auf der Robot durch
Schläge traktiert, so daß es oft zu Zwistigkeiten gekommen ist. Nachher, als ich schon auf die Robot gegangen bin, da hat man den Schlägen schon
Einhalt getan. Meine erste Robot war 1839 [er war also zwölf Jahre alt]
auf dem Kula Puszta [Kula ist ein Nachbarort von Filipowa] : Ackertreiben.
Später mußte ich dann Heu auffangen, Raps treten auf dem Bregey, und
in den älteren Jahren : Gras mähen, Heu führen, dann im Schnitt einführen, treten, pressen, anbauen und was die Herrschaft benötigte, immer auf
drei Tage. Im Winter mußte ich Holz führen aus der Gay nach Sombor und Kleinstapar [etwa 30 km von Filipowa entfernt], wo es die Herrschaft benötigte.«
»Dann mußte man drei Tage auf die Somborer Ordinanz [Dienstwache]. Nur die Edelleute waren von diesen Abgaben befreit und hatten nur allein Stimmrecht beim Landtag und im Komitat [Provinz]. Und diese mußten
wir bei jeder Wahl oder Versammlung mit Wagen führen, und dafür bekamen wir eine Quittung, und die wurde uns dann beim herrschaftlichen
Kassier an der Portion [Steuer] angerechnet. Denn bis zum Jahre 1848 hat
man in Portionen gezahlt und Robot gemacht. Meine letzte Robot war :
Holz führen aus der Gay nach Sombor. Den letzten Zehent habe ich 1847 vom Turnacker auf den Herrschaftstretplatz [Dreschplatz] geführt.«
»Die Revolution 1848 brachte uns die Freiheit. Volle 76 Jahre plagten sich
unsere Ahnen unter den Lasten des Zehents und der Roboten. Wer z. B.
eine halbe Session43 Feld hatte, mußte den siebenten Teil der Fechsung 43 Eine Session waren 40 Joch, das sind 23 ha, ein Katastraljoch hatte 0,575 ha.
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in Natura der Herrschaft übergeben, darauf noch Portion [Steuer] zahlen und 26 Tage Zug- oder 52 Tage Handrobot leisten« (in : Filipowa – Bild
einer donauschwäbischen Gemeinde, Bd.1, Wien 1978 : 35/36).
Am Anfang des 19. Jahrhunderts stellten die Deutschsprachigen in Ungarn eine gewichtige Minderheit dar. Besonders in den Städten bestand das wohlhabende Bürgertum vielfach aus Deutschen. Budapest hatte noch 1880 über 123.000 deutsche Einwohner ; das waren über 34 % der Bevölkerung (nach Valjavec 1950 : 169). So konnte Kossuth Lajos44 (1802–1894), der Führer des Magyarentums und der ungarischen Revolution von 1848, bereits 1842 in seiner Zeitung »Pesti Hírlap« schreiben : »Unsere Städte sind dem größten Teile nach noch deutsch, und zwar so deutsch, daß sie kaum noch ein Merkmal der Magyarisierung verraten. Die
Industrie in unserem Vaterlande ist deutsch, der Handel seinem Wesen
nach deutsch und muß es durch den Anschluß an den deutschen Zollverband natürlicher Weise noch mehr werden ; und so würde dann aus die-
sem Anschluß unausweichlich folgen, daß unsere deutschen Städte, unsere
deutsche Industrie, unser deutscher Handel nie und nimmer magyarisch würden …« (nach Galambos-Göller 1984 : 11).
Kossuth drückte die Sorgen der Ungarn aus, die sie besonders nach dem »Ausgleich« von 1867 und bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 beschäftigen sollten : die Magyarisierung der Minderheiten in ihrem Lande, in dem die Magyaren nicht einmal die Hälfte der Bewohner ausmachten. Je mehr Druck sie aber diesbezüglich auf die rumänischen, slawischen und deutschen Minderheiten ausübten, desto stärker wuchs deren Selbstbewusstsein, vor allem bei Rumänen, Serben, Kroaten und selbst bei den Donauschwaben in den Dörfern. Dennoch schrumpfte 44 Im älteren ungarischen Schrifttum wird durchweg der Familienname zuerst genannt und dann erst der Taufname.
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nach dem Ausgleich der Anteil der Deutschen in den Städten um ein Vielfaches. In Budapest war ihr Anteil zu Beginn des Ersten Weltkrieges von ehemals 34 auf 6,5 % gesunken.45 Die Donauschwaben verloren auf diese Weise das städtische deutsche Bürgertum und damit ein wichtiges geistig-kulturelles Element. Bei der 1848er-Revolution machte ein Teil der Donauschwaben aufseiten der Magyaren mit. Auch die Bauern sympathisierten mit Kossuth und seinen Ideen. Seine Hauptforderungen lauteten : Steuerpflicht auch für den Adel, Bauernbefreiung, Pressefreiheit, allgemeines Wahlrecht und ein spezielles Ungarn-Ministerium in der kaiserlichen Regierung. Auch beim Kampf gegen die Kaiserlichen haben zahlreiche »ungarische Schwaben«, wie Kossuth mit befriedigendem Dank feststellte, tapfer mitgemacht. Die Revolution wurde zwar durch kaiserliche Truppen niedergeschlagen, unter tatkräftiger Mithilfe der Kroaten und besonders der Serben, aber es wurden dennoch wichtige Reformen auf den Weg gebracht. So wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, die Bauern erhielten die von ihnen bebauten Felder als Eigentum und die adligen Grundbesitzer wurden dafür entschädigt. Alle Abgaben und Frondienste gegenüber den Grundherren hörten auf. Die Einführung eines Grundbuches hielt die neuen Besitzverhältnisse rechtlich fest. Als aber das Kaiserreich durch Niederlagen in Oberitalien und gegen Preußen geschwächt war, hat sich Ungarn mit seinen nationalistischen Ideen gegen den Kaiser durchgesetzt und ihm 1867 den »Ausgleich« abgerungen, der zur Doppelmonarchie führte und Ungarn zum souveränen Staat machte. 45 M. Annabring, ein guter Kenner des Deutschtums in Ungarn, berichtet, dass sich nach der amtlichen Volkszählung von 1910 in Ungarn knapp 12 % als Deutsche ausgaben. Während ihr Anteil bei den selbstständigen Industriellen, Kaufleuten, Hausbesitzern etc. 24 % betrug, sank ihr Anteil bei den Beamten auf 6 %. Dies ist sicher darauf zurückzuführen, dass man fast nur über die Magyarisierung ein öffentliches Amt erreichen konnte (1954 : 21).
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Deák Ferenc (1803–1876), der wohl wichtigste ungarische Politiker der damaligen Zeit, definierte den ungarischen Nationsbegriff folgendermaßen : »Sämtliche Staatsbürger Ungarns bilden in politischer Hinsicht eine einzige Nation, deren gleichberechtigte Glieder alle Bürger des Vaterlandes sind, ohne Rücksicht darauf, welcher Nationalität sie angehören« (nach Annabring 1954 : 35). Die ungarische Sprache wurde als wichtiges Mittel zur Nationwerdung erachtet und damit kam auch den Schulen eine zentrale Rolle zu. 1868 waren über 95 % der Schulen in kirchlicher Hand. Die orthodoxen Kirchen der Rumänen und Serben wurden für autonom erklärt. Sie konnten die Unterrichtssprache selbst wählen, denn ihre Schulen wurden fast ausschließlich von Rumänisch bzw. Serbisch sprechenden Kindern besucht. In der protestantischen Kirche gab es Deutsche und Slowaken. So war die Sprachregelung schwieriger. Die katholische Kirche erhielt das Privileg der Autonomie nicht, da sie aus der Tradition heraus als Staatskirche galt und deshalb eng mit der Regierung verbunden war. Sie konnte sich deshalb nicht mit einer einzigen Sprache der Minderheiten identifizieren. Da die Bischöfe meist Ungarn oder auch magyarisierte Donauschwaben waren, kam in den katholischen Schulen auch gar nicht die Frage auf, Deutsch als Unterrichtssprache zu wählen. Der größte Teil der Donauschwaben war nämlich katholisch. Matthias Annabring schreibt hierzu (1954 : 31) : » … die römisch-katholische Kirche [blieb] übernational. Es fiel ihr schwer,
sich mit den Bestrebungen der einzelnen Nationalitäten zu identifizieren. …
Sie trat deshalb für die von den jeweiligen ungarischen Regierungen als
staatsfördernd vorgeschützten Maßnahmen auf dem Gebiete des Schulwesens ein, sofern diese kirchliche Interessen unmittelbar nicht gefährdeten, und leistete dadurch der Magyarisierung weitgehendst Vorschub.«
Adalbert K. Gauß, beileibe kein Sympathisant der Ideologie des Dritten Reiches, schreibt : »In Ungarn freilich zeigte sich weiterhin der Wille, uns langsam zu entvolken« (1950 : 401). In einem Leitartikel von »Neu-
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land« (4. 5. 1968) kam Gauß auf die Magyarisierung der Donauschwaben zu sprechen. Er schrieb damals : »Es war in der kurzen, kaum 250-jährigen Geschichte der Donauschwaben
nicht möglich, vor allem den Magyaren gegenüber, ein gesundes donau
schwäbisches Selbstbewußtsein zu entwickeln und zu festigen. Das magyarische Leitbild vom ›Herrenmenschen‹ wurde durch eine sehr geschickte, um nicht zu sagen raffinierte Erziehung so herausgestellt, daß es für den
Schwaben als erstrebenswert erschien, womöglich bald den ›schwäbischen
Provinzialismus‹ abzustreifen. Das muß kein Werturteil über die charakterlichen Qualitäten des Menschen, der diesen Abfall vollzog, bedeuten.
Aber es stimmt nachdenklich« (zitiert nach Gauß 1983 : 61).
Johann Weidlein macht in seinem von Ressentiments gegen Ungarn gespickten Artikel »Grundsätzliches zur Frage der Magyarisierung« (1950) einen Rundumschlag und sieht mal die Jesuiten und die Piaristen, dann wieder die Kalvinisten unter Regierungschef Tisza Kálmán (1830–1902) für die Magyarisierung verantwortlich. Warum sich die Donauschwaben aber magyarisieren ließen und nicht Deutsche bleiben wollten, kümmert ihn nicht weiter. Es kam zwar nach dem Ausgleich 1867 noch zum sogenannten Nationalitätengesetz, das die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Ungarn betonte. Aber um dessen Einhaltung hat sich später niemand mehr gekümmert. – In Wien sprachen böse Zungen vom »Ausgleich« (1867) als vom »Gleich-aus« ; sie meinten damit das Kaiserreich. So unrecht hatten sie nicht.46 46 Josef Senz gibt in seiner »Geschichte der Donauschwaben« von 1987 vor allem dem Reichskanzler der Monarchie Baron Ferdinand Beust die Schuld am Zustandekommen des Ausgleichs. Er schreibt : »… der Ausgleich [wurde] überhastet und ohne Berücksichtigung der gesamtstaatlichen und übervölkischen Interessen durchgeführt.« Dem Baron hätte es »an genügender Kenntnis der Verhältnisse des Staates und wohl auch an Verantwortungsgefühl [gefehlt]« (1987 : 144).
Geschichtliche Voraussetzungen :
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Bereits nach der Belagerung Wiens 1683 durch die Osmanen hatte man begonnen, eine Art Limes, einen Grenzschutz, im Süden gegen die Türken und ihre Beutezüge nach Janitscharen-Rekruten aufzubauen. Diese Militärgrenze, wie der Schutzgürtel genannt wurde, dehnte sich in späterer Zeit von der dalmatinischen Adria in weitem Bogen bis in die Bukowina aus. Die Militärgrenze war ein breiter Landstreifen und galt als besonderes Verwaltungsgebiet, das unter militärischer Verwaltung stand. In Zeiten der Gefahr, durch Krieg, Pest, Schmuggel, wurde sie besonders dicht gemacht. Sie war bis zu 2.000 km lang. Sie wurde nicht durch Berufssoldaten, sondern durch Wehrdörfer gesichert. Die meist slawischen Männer zählten zu den Eliteeinheiten. Auch wirtschaftlich und schulisch waren die Wehrdörfer mustergültig organisiert. – Die Enttäuschung der slawischen Wehrsoldaten war umso größer als nach 350 Jahren »im Jahre 1872 die Militärgrenze, nachdem sie nach der Achtundvierziger Revolution zu einem eigenen Kronland erklärt worden war, aufgelöst und ihr Gebiet und Besitz Ungarn einverleibt wurden« (Czibulka 1950 : 95). Der Kaiser hatte alles auf die Ungarnkarte gesetzt, zum Nachteil der slawischen Völker. Er habe nach Conte Corti (1952 : 386) gegen den Rat seines Staatsministers Graf Richard Belcredi (1823–1902) dem Ausgleich zugestimmt, weil er, wie er ihm erklärte, »sich auf diejenigen stützen [müsse], die am meisten Lebenskraft besitzen … und das sind die Deutschen und die Ungarn«. Belcredi soll geantwortet haben, »er müsse die vollkommen entgegengesetzte Ansicht vertreten. Nach seiner Überzeugung solle die Regierung über den Nationalitäten stehen«. Belcredi wurde im Februar 1867 entlassen, um den Ausgleich zu ermöglichen.47 47 Durch ihren extremen Nationalismus, bisweilen ließe sich sogar von Chauvinismus sprechen, haben die Ungarn die Minderheiten in ihrem Land – vor allem Walachen, Serben und Kroaten – in ihrem Selbstbewusstsein angestachelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Ungarn im Frieden von Trianon etwa die Hälfte seiner Volksgenossen an die neuen Nachbarländer verloren hat. Außer einem Teil der Donauschwaben wollte niemand mit ihnen zusammenwohnen.
102 : Geschichtliche Voraussetzungen Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen
Als nach dem Ersten Weltkrieg das »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen« mit dem Segen der westlichen Großmächte ins Leben gerufen wurde – ab 1929 hieß es »Königreich Jugoslawien« –, wurden ihm Teile Südungarns wie auch andere Gebiete aus dem alten Kaiserreich zugeschlagen, in denen zum Teil große Kontingente deutschsprachiger Siedler neben anderen Nationalitäten lebten. Nach der Volkszählung von 1921 lebten in der Wojwodina – sie umfasst das Westbanat, die Batschka und den Südzipfel der Baranya – 328.173 Deutsche gegenüber 514.124 Serben und Kroaten. Bei der letzten Volkszählung (1910) vor dem Ersten Weltkrieg lebten in demselben Gebiet 312.507 Deutsche und 403.148 Serben und Kroaten. Die Magyaren stellten in der Batschka die größte Minderheit, in der Baranya und im Banat die Deutschen. Das relativ geringe Wachstum der Deutschen von 1910 bis 1921 ist teils auf eine niedrige Geburtenrate, teils auf den Krieg und vor allem auf die staatlich geförderte Magyarisierung zurückzuführen, die bis Kriegsende anhielt. Viele Intellektuelle, die ihre Ausbildung in Ungarn erhalten hatten, zogen es vor, sich nach dem Krieg in Ungarn niederzulassen. Das starke Anwachsen der Slawen in diesem Zeitraum um 110.000 Seelen ist einerseits auf ihre hohe Geburtenrate, andererseits auf einen staatlich geförderten Zuzug, vor allem aus Südserbien, zurückzuführen. In den 1920er-Jahren wurde die slawische, vor allem serbische, Bevölkerung durch Landzuteilungen bei der Landreform berücksichtigt und dadurch ihre Zahl stark vermehrt. In der Batschka, aber auch in Slowenien waren in diesen Jahren Großgrundbesitzer, wie auch die Kirche, enteignet worden. Dieses Land war sogenannten Dobrowolzen48, in der Regel 48 Als Dobrowolzen bezeichnet man Kriegsgefangene der kaiserlichen Armee, die sich als Freiwillige zur serbischen Armee gemeldet haben und gegen die Kriegsgegner Serbiens kämpften. In Filipowa z. B. gab es einen deutschen Dobrovoljac. Er spielte ab 1944 eine wichtige politische Rolle im Dorf.
Geschichtliche Voraussetzungen :
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waren es Slawen, zugeteilt worden ; deutsche oder magyarische Landlose wurden bei dieser Aktion nicht berücksichtigt. Da donauschwäbische Bauern eine fortschrittliche Landwirtschaft betrieben, hatten sie häufig auch Felder von Großgrundbesitzern gepachtet, die ihnen nach der Landreform nun nicht mehr zur Verfügung standen. Es war donauschwäbischen Bauern von den serbischen Beamten auch praktisch unmöglich gemacht worden, Land von Slawen anzukaufen. Angeblich sollte damit vermieden werden, dass Minderheiten im Grenzgebiet über große Ländereien verfügten, was Ungarn vielleicht zu Forderungen an den jugoslawischen Staat hätte veranlassen können. Man durchsetzte deshalb die Minderheiten gezielt mit slawischen Gefolgsleuten. Da alle Beamtenstellen mit Slawen besetzt waren, wurde man bei Rechtsstreitigkeiten oft jahrelang hingehalten, selbst wenn man das Gesetz auf seiner Seite hatte. Ungarn wie Deutsche waren keine Bürger gleichen Rechts. Aus der Benennung des neuen Staates »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen« geht bereits hervor, dass die diversen Minoritäten wie Ungarn, Deutsche, Kosovaren, Bosniaken etc. im neuen Staat, nicht mitgedacht waren. Man wollte einen rein slawischen Staat und Minderheiten, die man notgedrungen mit dem Gebietszuwachs übernahm, waren im Grunde eine lästige Begleiterscheinung. Ein Blick in die Geschichte der Balkanstaaten zeigt denn auch, dass sich die neu entstandenen Staaten im 19./20. Jahrhundert als ethnische Staaten definierten und dazu eine möglichst einheitliche Religionsform postulierten. H. Sundhausen schreibt 2001 : »Früher oder später begriffen sich alle neuen Balkanstaaten als Staaten einer Titularnation – einer Titularnation, die ethnisch und (pseudo-)histo-
risch begründet wurde. Daran hat sich bis heute nichts geändert : Auch die
postsozialistischen Verfassungen definieren die Staaten zumeist als Staaten
einer Ethnonation« (2001 : 194).
Alle neuen Balkanstaaten hatten auf ihren Territorien große Kontingente von Minderheiten, und zwar besonders das »Königreich der Ser-
104 : Geschichtliche Voraussetzungen
ben, Kroaten und Slowenen«. Wie war mit den Minderheiten umzugehen ? Die Ungarn hatten bei ihrem Werdegang zum Nationalstaat ganz auf Inklusion der Minoritäten gesetzt, d. h. die Eliten wurden magyarisiert und die Dörfler konnten ihre Muttersprache nur mehr im privaten und kirchlichen Bereich verwenden. Diese Methode hatte großen Erfolg, denn die Zahl der Deutschsprachigen im Staate sank rapide. Der Trianon-Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg tat ein Übriges, denn im restlichen Rumpfungarn verblieben außer 280.000 Deutschen kaum noch weitere Minoritäten. Das Königreich Serbien setzte seit der Befreiung von den Osmanen im 18. Jahrhundert vor allem auf Exklusion seiner Minoritäten. Da es außer muslimischen Türken, Kosovaren und Bosniaken in Serbien kaum größere Minoritäten gab – 1874 zählte man nur 2.000 Konfessionsjuden –, richtete sich das Augenmerk ausschließlich auf die Muslime, und man wählte die Religion als Kriterium für die Staatszugehörigkeit. In den Berliner Kongressakten von 1878 haben die Großmächte für die neuen Balkanstaaten die Gewährung der Religionsfreiheit fest mit der Proklamation ihrer Unabhängigkeit verknüpft. In der Praxis wurden diese Bestimmungen aber so gut wie nie durchgesetzt. Es kam noch vor dem Ersten Weltkrieg zur Aussiedlung unerwünschter Staatsangerhöriger. Hunderttausende von ihnen wurden zu Opfern von erzwungener Flucht, Vertreibung und Massenmord. H. Sundhausen schreibt : »Zwar mußten alle Balkanregierungen nach dem Ersten Weltkrieg die auf
ihren Territorien wohnhaften oder beheimateten Personen ›fremder‹ ethnischer Zugehörigkeit – sofern sie nicht vorher vertrieben, ermordet oder
auf Grundlage bilateraler Abkommen ausgetauscht wurden oder geflüchtet waren – als Staatsangehörige annehmen. Aber alle Staaten waren nur
unter massivem internationalen Druck bereit, die Minderheitenschutzver-
träge zu unterzeichnen« (2001 : 207).
Geschichtliche Voraussetzungen :
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Der südslawische Staat anerkannte nach 1918 nur die neu erworbenen Minderheiten aus Südungarn als solche, obgleich der Minderheitenschutzvertrag von Saint Germain von 1919 sich auf alle Minderheiten bezog. Noch schwerer tat sich das Königreich der Südslawen, den Minderheiten neben dem individuellen Schutzrecht auch das Recht auf gemeinschaftliches Leben zu gewähren, also das Recht auf Pflege der eigenen Kultur, Sprache, Religion etc. Da die Einhaltung des Vertrages von den Großmächten niemals kontrolliert wurde, verfuhr das Königreich nach eigenem Gutdünken. Ein Gesetz aber, dessen Übertretung nicht sanktioniert wird, ist praktisch tot. Die Konvention von Lausanne von 1923 hat denn auch die »Kollektivausbürgerungen als ultima ratio zur Lösung ethnischer Konflikte immer wieder hingenommen …« (Sundhausen 2001 : 208). Dies lässt sich für das Ende des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs sagen. H. Sundhausen fasst seine Ausführungen zusammen : »Die Balkanstaaten verstehen sich nicht als ethnisch neutrale oder trans ethnische Herrschaftsräume zum Schutz des Allgemeinwohls der Bürger, sondern als Staaten einer ethnisch (nach dem ius sanguinis) definierten
Titularnation. Dessen ungeachtet sahen sie sich im Zuge der Staatsgründung und -expansion genötigt, eine Vielzahl von Menschen als Staatsangehörige (gemäß ius soli) zu akzeptieren, die sie lieber heute als morgen losgeworden wären« (2001 : 208/209).
Die britische Regierung fand noch 1944 Vertreibung als optimale Vorgehensweise, um sich unliebsamer Bewohner auf dem eigenen Staatsgebilde zu entledigen. Nach Stefan Troebst hat »Premierminister Churchill 1944 im Parlament über die Nachkriegsordnung in Ostmitteleuropa [gesagt] : ›Vertreibung ist die Methode, welche
nach allem, was wir bislang gesehen haben, die befriedigendste und dauer-
hafteste sein wird. Es wird dann keine Mischung von Bevölkerungen ge-
106 : Geschichtliche Voraussetzungen ben, die endlosen Ärger bereitet. Es wird reiner Tisch gemacht‹« (Troebst
2009 : 7).
Man muss diese Einstellung Jugoslawiens zu seinen Minderheiten immer im Auge behalten, wenn man die Reaktionen der Minderheiten auf dieses Verhalten des Staates in Betracht zieht. Jugoslawien wollte zwar sein neu erworbenes Territorium, aber nicht seine darauf lebenden Minderheiten übernehmen. Man hat sie nur zeitweise, gleich nach der Gründung des Reiches und gegen Ende der 1930er-Jahre, als Bürger mit teilweise gleichen Rechten erachtet. Den Slawen ganz gleichgestellt waren sie aber nie ! Beim Anschluss der Batschka an Jugoslawien (1918) waren die Donauschwaben gegen die Loslösung von Ungarn. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte sich mit der Situation in Ungarn abgefunden ; die Eliten waren ohnehin bereits weitgehend magyarisiert. Ein politisches Selbstbewusstsein hatte die donauschwäbische Landbevölkerung aber bisher kaum entwickelt. In den ersten Jahren nach dem Anschluss an Jugoslawien kam der neue Staat der deutschen Bevölkerung der Batschka kulturpolitisch entgegen, und zwar besonders in Bezug auf das Schulwesen. Er suchte die Donauschwaben von Ungarn loszulösen, um sie für das eigene Staatswesen zu gewinnen. So wurde an den Schulen Deutsch als Unterrichtssprache eingeführt, was es in Ungarn seit dem Ausgleich 1867 kaum noch gegeben hatte. Die Deutschen durften Vereine und deutsche Schulen gründen. Nach dem Minderheitenschutzvertrag von 1919 war den Deutschen und Ungarn der Batschka eine Optionsfrist zur Auswanderung nach Ungarn von zwei Jahren eingeräumt worden, während der sie kein Wahlrecht zu Parlamentswahlen besaßen. Um sie von den Wahlen fernzuhalten, hatte die Regierung diese Zeit bis Mitte 1922 verlängert. 1923 traten die Deutschen zum ersten Male mit der »Partei der Deutschen« zu den Parlamentswahlen an. Sie erlangten acht Sitze. Als im August
Geschichtliche Voraussetzungen :
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1928 der kroatische Parteiführer Stjepan Radić und einige andere kroatische Abgeordnete in der Skupština, dem Parlament in Belgrad, ermordet wurden, weigerten sich die Kroaten ins Parlament zurückzukehren. »Um diesem verhängnisvollen Chaos ein Ende zu bereiten und die ›nationale staatliche Einheit‹ zu retten, setzte König Alexander am 6. Januar 1929 die Verfassung außer Kraft, löste das Parlament auf und schränkte die politischen Rechte des Volkes weitestgehend ein …« (Wüscht 1969 : 31). Als Folge dieser Ereignisse hob er auch alle Parteien auf, die sich auf eine Nationalität beriefen. Es sollten damit an erster Stelle die Kroaten getroffen werden, aber es traf auch die Partei der Deutschen. Dies ist die Zeit der »Königsdiktatur«. In dem Maße, wie sich Jugoslawien als Staat international etablierte, distanzierte es sich von seinen Minderheiten, da es sie nicht mehr benötigte und sie am liebsten losgeworden wäre. 1922 wurden sämtliche Schulen, auch die kirchlichen, verstaatlicht. Zu den deutschsprachigen Schulen wurden nur mehr Kinder mit deutschen Namen zugelassen. Da es, z. B. in Filipowa, auch Bewohner mit böhmischen Namen gab, die aber inzwischen die Sprache der Bevölkerungsmehrheit angenommen hatten, mussten Kinder mit slawischen Namen in serbokroatische Schulen gehen, auch wenn sie dieser Sprache nicht mächtig waren. Es sollte damit eine »Reslawisierung« betrieben werden, da angenommen wurde, sie seien ursprünglich germanisiert oder magyarisiert worden. Deutsche Vereine, wie z. B. der 1920 gegründete »Schwäbisch-Deutsche Kulturbund«, wurden verboten und ihr Vermögen eingezogen. Da es gegen zahlreiche Schikanen keine Gesetzesgrundlage gab, konnte dagegen auch nicht gerichtlich vorgegangen werden und wenn, wäre das Recht doch zugunsten der Mehrheit interpretiert worden. Die eigentlichen Probleme hatte die Regierung aber zunächst nicht mit den Deutschen, sondern mit den Kroaten, denn die drei südslawischen Völker – Serben, Kroaten und Slowenen – waren niemals zu einem einheitlichen Staatsvolk geworden. Die Kroaten forderten vehement einen föderativen Staat, was die Serben mit allen Mitteln zu verhindern
108 : Geschichtliche Voraussetzungen
suchten. In dieser gespannten Situation lebte die alte Idee von den serbischen Tschetniks wieder auf. Ursprünglich waren sie serbische Freischärler, die zum Schutze der Serben im Süden des Landes gegen Türken und makedonische Revolutionäre kämpften. Als sich das serbische Königreich als Staat Jugoslawien etabliert hatte, kämpften die Tschetniks als ultranationalistische Gruppe gegen die Feinde des Königreichs. Mit dem Erstarken der nationalsozialistischen Ideen unter den Donauschwaben seit Mitte der 1930er-Jahre bezogen sie Stellung gegen die deutsche Minderheit. Es kam immer häufiger zu Überfällen auf deutsche Bauern, die auf den Feldern arbeiteten. In Mischsiedlungen wurden auch ganze Ortschaften angegriffen, die Menschen getötet, die Siedlungen vernichtet. Als Deutschland im April 1941 Jugoslawien besetzte, organisierte Oberst Draža Mihailović die Tschetniks als Freischärler gegen die deutsche Besatzung und gegen die Kroaten. Zu Gegnern der Tschetniks wurden neben den deutschen Soldaten die ultranationalen Ustaša der Kroaten – diese waren ursprünglich gegen die serbische Königsdiktatur 1929 ins Leben gerufen worden – und die kommunistischen Partisanen Titos. Solange das serbische Königreich bestand, genossen die Tschetniks den Schutz der Staatsmacht. Gerichtlich konnte man so gut wie nicht gegen sie vorgehen. Während der deutschen Besatzungszeit wurden sie mehr und mehr zu Gejagten, teils von den Ustaša und später vor allem von den Tito-Partisanen. Es war auf allen Seiten immer ein grausames Abschlachten von Menschen. Der Führer der Tschetniks, Mihailović, wurde 1949 wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet. Überblickt man die Situation der Donauschwaben im ungarischen Nationalstaat sowie im Königreich Jugoslawien, kann man nachempfinden, wenn auch nicht gutheißen, dass gerade junge Donauschwaben nationalsozialistischen Emissären auf den Leim gingen. Man machte sie glauben, das Dritte Reich sei ihr Vaterland, das es zu verteidigen gelte. Das Verhalten der Rädelsführer ist weitgehend ihrer Unkenntnis der Geschichte der Balkanstaaten zuzuschreiben. Sie hätten die Aspiratio-
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nen dieser Völker kennen sollen. Die Donauschwaben waren im Reich der Südslawen nur Geduldete. Die Führer hätten auch wissen können oder gar müssen, dass führende Nationalsozialisten in Berlin bei einem eventuellen Sieg eher an eine Aussiedlung der Donauschwaben aus ihrem damaligen Gebiet als an eine Errichtung eines eigenen »Prinz-Eugen-Staates« dachten.49
49 Sepp Janko, einer der Führer der Nationalsozialisten der Donauschwaben, geht auf die Frage der Umsiedlung der Donauschwaben ein, spielt sie aber herunter, weil »dies ein unlogischer Gedankengang [des Führers] gewesen [wäre], der ihm nicht zuzutrauen war« (1983 : 61). Janko ist wohl der Meinung, dass das Denken des Führers sonst immer logisch war ! Nach Janko wäre auch in den »Erneuerer«-Kreisen nie ernsthaft über einen »Prinz-Eugen-Staat« nachgedacht worden.
7. Jahre der Zwietracht
Als ich mit fast sieben Jahren 1939 eingeschult wurde, war ich froh und stolz, endlich ein Schüler zu sein ! Den Kindergarten, bei uns Oboda (ungarisch óboda) genannt, den ich das Jahr vor der Einschulung besuchen musste, fand ich stinklangweilig. Wir waren mehr als Hundert Mädchen und Buben meines Jahrgangs in einem Raum. Nach meiner Erinnerung gab es jeden Tag etwas Serbisch-Unterricht und Ringelreihspiele. Nachmittags mussten wir einen Arm und den Kopf auf die Banklehne geben und schlafen. Wenn man sich aufrichtete, weil man nicht schlafen konnte oder wollte, wurde mit einem Rohr auf den Kopf getippt und es hieß : Kopf runter und schlafen. Das war für uns Kinder, die wir gewohnt waren, den Tag über im Freien zu spielen, eine Tortur. An einem Nachmittag wurde mir die Oboda derart langweilig, dass ich durchs offene Fenster abhaute und nach Hause lief. Als Vater herausfand, dass ich getürmt war, bekam ich einige auf den Hintern, und am nächsten Morgen brachte mich Mutter in den Kindergarten zurück. Sie entschuldigte sich bei der Schwester Kindergärtnerin, einer Verwandten von ihr, für mein »ungebührliches Betragen«. Als ich 1939 in die erste Klasse kam, waren wir 66 Buben meines Jahrgangs. Mein Lehrer Hugo Kreuzer war ein deutschnationaler Donauschwabe und Freund der Musik. Ich mochte ihn und er offensichtlich auch mich, denn er machte mich schon bald zum Märchenerzähler der Klasse, d. h. ich hatte Geschichten zu erzählen, wenn er für längere Zeit den Klassenraum verließ. Ich muss spannend erzählt haben, denn es war immer still, wenn er wiederkam. Dafür lobte er mich.
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Geschichten erzählen hatte ich zu Hause gelernt ; ebenso die Freude an Singen und Musik. Wir hatten zwar elektrisches Licht im Hause, aber Mutter zündete abends gerne die Petroleumlampe an, um Strom zu sparen. Das machte die Geschichten noch lebendiger und heimeliger. Meinen Fundus an Märchen bezog ich aber vor allem von meiner älteren Schwester Wawi. Sie las mir vor oder erzählte mir Geschichten, die sie gelesen oder gehört hatte ; ich gab sie dann meiner Klasse weiter. Mein Lehrer stellte einen Knabenchor auf, in dem ich mitmachen durfte. Bisweilen traten wir sogar bei einem Fest oder im Gottesdienst auf. Als engagiertes Mitglied des Männergesangvereins sah Vater meine Freude am Chorgesang gerne. Die Einrichtung unseres Klassenzimmers war mit heutigen Augen betrachtet spartanisch, doch wir kannten damals nichts anderes und waren zufrieden. Es gab darin einen Tisch mit Stuhl für den Lehrer, eine schwarze Tafel und einen Schrank. Rechts und links eines Mittelgangs standen Holzbänke, die mit einem Pult, das vier Löcher für Tintenfässer hatte, fest verbunden waren. Wir begannen aber erst in der zweiten Klasse mit Tinte zu schreiben. In der ersten gab es nur Schiefertafeln ; in der zweiten Klasse kamen Hefte, Bleistift und Tinte hinzu. In jede Bank wurden so viele Kinder gesteckt, bis alle 66 Buben untergekommen waren. Merkwürdig war die Sitzordnung, denn die Besten saßen vorne und die Schwächsten hinten. Man wurde von Leuten oft gefragt, in welcher Bank man sitze. Der Erste in der ersten Bank galt als der Gescheiteste und der Letzte in der letzten Bank als der Dümmste. Was natürlich längst nicht immer stimmte und vom pädagogischen Standpunkt aus sicherlich keine intelligente Sitzordnung war. Man muss aber auch sagen, dass in vielen Familien Schulbildung nicht sehr angesehen war. Gewiss, die Kinder sollten lesen, schreiben und etwas rechnen lernen, aber wichtiger war, dass sie tüchtig arbeiten lernten : Die Buben sollten mit Pferden umzugehen wissen und die Mädchen einen Haushalt führen können. Die Klagen von Priestern und Lehrpersonen von
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Filipowa waren alt und wohlbekannt : dass die meisten der Weiterbildung ihrer Kinder wenig Wert beimaßen, obgleich sie finanziell dazu in der Lage gewesen wären. Das sei etwas für jene, die in die Stadt zum Studium gehen, konnte man hören. Diese Einstellung änderte sich erst allmählich in der Zwischenkriegszeit. Da ich in der Schule gut aufpasste, musste ich zu Hause wenig tun. Unser Vater erkundigte sich aber jeden Tag nach unseren Hausaufgaben und kontrollierte sie, bevor wir morgens zur Schule gingen. Im Winter 1939/40 bekam ich die Masern – bei uns sagte man »Frissl« dazu. Nach wenigen Tagen lag ich meiner Mutter in den Ohren, dass ich wieder in die Schule gehen wolle. Schließlich gab sie nach und begleitete mich dorthin. Der Lehrer schickte uns aber wieder nach Hause ; ich solle erst wiederkommen, wenn der Ausschlag abgeheilt wäre. Am Ende des Schuljahres fragte der Lehrer, ob jemand noch keine Schläge bekommen habe. Ich war der Einzige. Er gab mir dann symbolisch einige Streiche. Wenn aber die Schule zu Ende war, gab es häufig Raufereien zwischen den einzelnen Banden, und da war ich oft involviert. Viele Bubengruppen waren nämlich nach Wohnvierteln organisiert. Wir in unserem Viertel lagen fast immer mit Banden einiger anderer Viertel in Fehde. Es war nicht ratsam, sich allein in deren Viertel zu wagen. Nach der Schule traf man aber unweigerlich zusammen. Ich habe in den beiden ersten Schuljahren 19 Schiefertafeln auf den Köpfen von Gegnern kaputt geschlagen. Hierauf bekam ich die Tafel meiner Schwester, aber auch die ging bei einer Rauferei zu Bruch. Zu Beginn der 1940er-Jahre wurde die Situation komplizierter, weil nun auch weltanschauliche Gründe zu wirken begannen. Manche Eltern schickten ihre Kinder ins Jugendheim des Kulturbundes, andere in das der Kirche. Dazu kam, dass es im Ort an die 60 Ministranten gab. Es war praktisch Tradition, dass wenigstens ein Sohn Ministrant wurde, wenn schon der Vater Messdiener war. Dies ist wohl der Grund, dass die Messdiener aus beiden Jugendgruppen kamen. Pfarrjugend und Kulturbundjugend waren sich zwar prinzipiell feindlich gesinnt, aber Minist-
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ranten durften sich nicht prügeln. Es gab bei uns einen Ministrantenführer, Hans Jack, der sehr aufmerksam darauf achtete. Wenn man zur Schule, Kirche oder zu einer Veranstaltung ins Heim ging, überlegte man sich, welche Gassen man am besten nehmen sollte, um ohne Haue durchzukommen. Je stärker die Polarisierung zwischen Kulturbündlern, sogenannten Deutschen und Magyaronen wurde, desto schwieriger hatten wir Buben es. Aber auch für unsere Eltern war es oft nicht angenehm, sich durch das Dorf zu bewegen. Offizieller Schulschluss war damals in Jugoslawien an Vidovdan ; das war ein Staatsfeiertag am 28. Juni. Es ist der Tag der Schlacht der Serben gegen die Osmanen auf dem Amselfeld 1389. Das kleine Serbien zahlte damals einen hohen Blutzoll. Die Feindschaft der Serben gegen den Islam ist bis heute geblieben. Die Schlacht fand am Tag (serbisch dan) des hl. Veit (Vitus, serbisch Vid/Vidov) statt. An Vidovdan wurden die Zeugnisse verteilt, es gab Ansprachen und Aufführungen. Mein zweites Schuljahr war recht kurz, denn mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Jugoslawien Anfang April 1941 war der Unterricht praktisch zu Ende. Alle Lehrerinnen und Lehrer, außer den Nonnen, verließen das Dorf. Ebenso zogen mit dem jugoslawischen Militär alle serbischen Amtspersonen wie Notar, Postmeister, Amtsarzt und Bahnhofsvorstand ab, nachdem sie vorher ca. zwei Wochen von den Kulturbündlern festgehalten worden waren. Nach einigen Wochen der Unsicherheit versuchten die Nonnen uns einen Notunterricht zu bieten. Buben und Mädchen meines Jahrgangs wurden zusammengelegt und eine Nonne unterrichtete uns. Aber mit ca. 140 Halbwüchsigen war dies sicher keine leichte Aufgabe. Ich habe auch meine Zweifel, ob dabei viel herausgekommen ist. Das eigentliche Schuljahr begann erst wieder im September, jetzt mit ungarischen Lehrern und Lehrerinnen. Die meisten von ihnen sprachen nur gebrochen Deutsch. Noch negativer wirkte sich aus, dass die Lehrpersonen häufig wechselten. In der vierten Klasse wurde es besser, denn wir bekamen eine deutschsprachige Lehrerin aus Baja. Doch auch sie
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hatte ausschließlich ungarische Schulen besucht. War der Unterricht in den beiden ersten Jahren ganz auf das Königreich Jugoslawien, genauer Serbien, ausgerichtet, so standen die beiden folgenden Jahre ganz im Banne der Geschichte Großungarns, d. h. es ging um die Zeit vor dem Trianon-Friedensvertrag von 1920. Lehrer und Pfarrer hatten meinem Vater, als ich in der vierten Klasse war, nahegelegt, mich auf ein Gymnasium zu schicken. Da es in Filipowa nur eine sechsklassige Volksschule und keine weiterführende Schule gab, kam nur ein Internat in der Stadt infrage. Ich war sehr stolz, aufs Gymnasium gehen zu dürfen. Von verschiedener Seite riet man meinem Vater, mich auf das neue Gymnasium der Piaristen in Szabadka (heute Subotica) zu schicken. Die Schulen der Piaristen haben in Ungarn einen ähnlichen Ruf wie die der Jesuiten. Von meiner Klasse gingen noch zwei andere Buben aufs Gymnasium. Sie gingen aufs deutsche, ich aufs ungarische. Ich war zehn Jahre alt, als mein Vater mich Anfang September 1943 ins Internat Paulinum nach Szabadka brachte. – Im Grunde war dies der Abschied von meinem Elternhaus, denn fortan habe ich höchstens noch einige Wochen im Jahr bei Eltern und Geschwistern verbracht.
Die »Erneuerer«
Mehrere donauschwäbische Autoren – vor allem die mit nationalsozialistischer Vergangenheit – stellen die »Erneuerungs«bewegung so dar, als sei sie unabhängig und losgelöst vom Dritten Reich entstanden. Zum Teil hätten die »Erneuerer« sogar gegen die Vorgaben des Dritten Reiches gehandelt, da die reichsdeutschen Stellen den Staatsvölkern des Balkans mehr Aufmerksamkeit schenkten als der »Erneuerungs«bewegung. J. Wüscht schreibt 1966 auf Seite 22 : »Trotz aller Begeisterung [für den Führer und seine Erfolge] betonten ihre [der Erneuerer] Führer die Eigenständigkeit ihrer Bewegung und daß ›nichts falscher wäre, als fremde Ziele zu uns verpflanzen zu wollen‹«[so Gustav Halwax, ihr pro-
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minenter Wortführer, 1937]. Als Zeugen für die Selbstständigkeit der »Erneuerungs«bewegung führt Wüscht dann den »Erneuerer« und Volksgruppenführer Sepp Janko mit den Worten an : Es sei »seine jahrelange Einstellung gewesen, sich nicht [in finanziellen Dingen] vom Reich erhalten zu lassen« (Reden und Aufsätze ; ibid.). Janko schreibt 1983 : »Unsere Interessen deckten sich eben nicht immer mit jenen des Reiches, obwohl wir uns diesem unlösbar verbunden fühlten und uns als natürlichen Teil des ganzen deutschen Volkes begriffen« (1983 : 34). Josef Beer, langjähriger Generalsekretär des Kulturbundes, geht noch weiter und schreibt, dass bis Ende 1939 die »Erneuerungsbewegung nicht nur keine »finanziellen Zuwendungen aus dem Reich erhalten« habe, sondern »auf sich allein gestellt, eigene Wege zu gehen und sich ein eigenes, mehr oder weniger auch im Gegensatz zur offiziellen Politik des Dritten Reiches stehendes Konzept zu entwickeln« hatte (1987 : 61).50 Wenn nun die »Erneuerungs«bewegung wenigstens im Anfang eine eigenständige donauschwäbische Bewegung war, was waren dann ihre Ziele ? Wüscht schreibt dazu (1966 : 22/23) : »Die Gruppe der Erneuerer [stützte] sich vorwiegend auf die volksdeutsche Jugend, richtete ihren Kampf mehr auf die inneren Gefahren (wie Materialismus, Geburtenrückgang, soziale Aufsplitterung und Entfremdung usw.) als gegen jene, die ihrem Volke von Seiten des Staates drohten … Mitte 1939 an die Macht gelangt, versuchten die Erneuerer, die gesamte deutsche Volksgruppe nach nationalsozialistischem Muster umzugestalten.« 50 Merkwürdig ist, dass sich diese drei Autoren – Wüscht, Janko, Beer – immer wieder gegenseitig zitieren, um ihren Ausführungen Nachdruck und Objektivität zu verleihen. Wüscht gilt als »ihr« Historiker, der die Wahrheit kennt und schreibt. Seinen Nachlass vermachte der »Lehrmeister« seinem Schüler Beer (1987 : 9). Janko ist der oberste Chef des Kulturbundes und wird später Volksgruppenführer des Banats. Beer ist der Generalsekretär und spätere Offizier in der SS-Division Prinz Eugen. Er sagt von sich : »Seit dem Jugendtag am 28. Juli 1935 stand ich eindeutig im Lager der Erneuerungsbewegung und gehörte recht bald zum engsten Führungskreis« (1987 : 60).
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Nach Beer ist es das erste Ziel der »Erneuerungs«bewegung, die »politisch uninteressierten, im wirtschaftlich Rackern aufgehenden Donauschwaben mit neuem Geist für den schweren Abwehrkampf … zu erfüllen. … Es ging uns dabei immer nur um die Verteidigung unseres Volkstums, niemals um einen Angriff …« (1987 : 61/62). Auch er sieht in der »Erneuerungs«bewegung »in ihren Anfängen ein leidenschaftliches Sich-Aufbäumen einer Jugend, die nicht tatenlos mitansehen wollte, wie wir im Volkstumskampf Schritt für Schritt Boden unter den Füßen verloren« (S. 61). Die Beschreibung der »Erneuerungs«bewegung von Josef V. Senz fällt nuancierter aus, obschon auch er ihr geistig nahestand. Er schreibt : »Der Einfluß des Mutterlandes auf die deutschen Volksgruppen in den
Südoststaaten war inzwischen mächtig gestiegen, vor allem der geistig-propagandistische, der sich ja über Rundfunk und Presse ungehemmt ausbreiten konnte. Die in den zwanziger und dreißiger Jahren durch den Heimat-
staat herbeigeführte Benachteiligung und Unterdrückung konnte jetzt, im
Aufwind der Erfolge des Deutschen Reiches, … von der deutschen Volksgruppe weitgehend aus eigener Kraft und trotz der innervölkischen Auseinandersetzung in eine einzigartige Aufbauleistung geistig-moralischer und
politischer Art umgewandelt werden. Es entstanden in allen drei Heimatstaaten der Donauschwaben von der Jugend getragene völkische Erneuerungsbewegungen, die sich als Ganzes gesehen auf dem Boden der Loyalität dem Heimatstaate gegenüber bewegten« (1987 : 214/215).
Etwas weiter schreibt er dann : »Die bisherigen Grundlagen der Arbeit : volkstreu und staatstreu für Muttersprache, Heimat und Väterglaube einzutreten, wurde durch neue Parolen
wie ›Ehre, Blut und Boden‹ angesprochen, die konkreter und zeitgemäßer
faßten, was man auch bisher erstrebte, wenn es nur richtig verdeutlicht wurde« (1987 : 215).51
51 Was will Senz hier eigentlich sagen ? Dass die zugegeben etwas schwammige Parole
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Gewinnt man bei etlichen Autoren den Eindruck, die donauschwäbische Jugend beginne aus sich heraus eine Bewegung gegen die traditionellen Strukturen der Gesellschaft und der Kirche, so benennt Senz immerhin noch den »Einfluß des Mutterlandes«. Der Slogan »Ehre, Blut und Boden« verdeutlicht des Weiteren, dass es sich um den Nationalsozialismus handelt, der hinter der Bewegung steht. Mehrere Protagonisten der »Erneuerungs«bewegung weilten zu Beginn der 1930er-Jahre als Studenten im deutschsprachigen Ausland, wo sie die Aufmärsche der Nationalsozialisten erlebten und mitmachten. Beer rühmt sich dessen sogar in seinem Buch – er war Anfang der 1930er-Jahre Student in Berlin –, wenn er schreibt : »Beeindruckt hat mich sicher am meisten der Ruf ›Deutschland erwache !‹ sowie die mit viel Schwung und Begeisterung gesungenen Kampflieder« (1987 : 64). Ein weiteres Indiz für ihren nationalsozialistischen Ursprung ist, dass die »Erneuerungs«bewegung in Jugoslawien nach der Machtergreifung Hitlers beginnt und ab 1935 so recht virulent wird. Diese Gleichzeitigkeit ist kaum zufällig. Wäre die »Erneuerungs«bewegung wirklich aus der Unterdrückung des deutschen Volkstums durch den jugoslawischen Staat hervorgegangen, wie immer wieder behauptet wird, hätte sie vernünftigerweise zur Zeit der Königsdiktatur (1929) entstehen müssen, als Parteien und Kulturbund verboten waren. Doch damals war Hitler noch nicht an der Macht, und es gab noch nicht die VOMI (Volksdeutsche Mittelstelle) mit einem SS-Vorstand.52 des Kulturbunds »staatstreu und volkstreu« in »zeitgemäßerer« Formulierung mit der Nazi-Parole »Ehre, Blut und Boden« ersetzt werden könnte ? ! Hat Senz die rassistische Komponente in der Nazi-Parole nicht erkannt oder hing er auch noch 1987 der Nazi-Ideologie an ? Dies wirft natürlich einen Schatten auf den »Landesschulrat«, der während des Krieges für die deutschen Volksschulen in Ungarn zuständig war ! Der serbische Historiker Josip Mirnics nennt ihn nicht umsonst den »einstigen Volksbundfunktionär« (1972 : 350). Wer während des Krieges eine herausgehobene Stelle beim Volksbund in Budapest erhielt, muss sich in jener Geisteshaltung schon als treuer Gefolgsmann erwiesen haben, d. h. Nationalsozialist gewesen sein ! 52 Die VOMI wurde 1936 von der NSDAP errichtet. Am 1. 1. 1937 wurde SS-Ober-
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Man sieht, wie nationalsozialistische Autoren Meister sind im Umdeuten von Fakten, die nicht so recht in ihr Konzept passen. Liest man zu diesem Thema beim ehemaligen Volksgruppenführer Janko nach, kann man den Eindruck gewinnen, bei der »Erneuerungs«bewegung handele es sich um eine Weiterentwicklung des Wandervogels. Dass die »Erneuerer« keine so harmlose Truppe waren, geht schon aus den Klagen von Beer hervor, dass die »Erneuerer« teils gegen die Berliner Stellen tätig werden mussten. Hätten sie sich wirklich, wie Wüscht schreibt, »auf die inneren Gefahren (wie Materialismus, Geburtenrückgang …)« konzentriert und nicht politisch agitiert, hätten die Berliner Stellen keinen Grund gehabt, sie an die kurze Leine zu nehmen. Die Berliner wollten nicht, dass unerfahrene volksdeutsche Agitatoren die Pläne ihrer Außenpolitik durchkreuzten. Erst als durch den Jugoslawienkrieg die Würfel gefallen waren, lockerte man ihnen, leider, die Leine. Matthias Annabring fügt einen weiteren, sehr triftigen Hinweis für den nationalsozialistischen Ursprung der »Erneuerungs«bewegung hinzu. Er geht in seiner Untersuchung auf Ungarn, Rumänien und Jugoslawien ein, denn auf diese drei Länder waren die Donauschwaben nach dem Ersten Weltkrieg aufgeteilt worden. Er schreibt (1954 : 100) : »Auffallend war, daß die ›volksdeutschen Vorkämpfer‹ oder ›Erneuerer‹ in allen Ländern, in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien, haargenau die
gleichen Schlagworte gebrauchten, dieselben Programme verkündeten und nach ein und denselben Methoden an die Verwirklichung ihrer Ziele
herantraten. Dementsprechend konnte es nicht ausbleiben, daß die süd-
osteuropäischen Staatsvölker hinter den volksdeutschen Bewegungen das
nationalsozialistische Deutschland vermuteten, von wo aus das künftige
Leben der deutschen Minderheiten – jetzt offiziell Volksgruppen genannt
– zentral gestaltet und gelenkt werden sollte.«
gruppenführer Werner Lorenz ihr Leiter. Sie ersetzte den bereits früher bestehenden »Verein für das Deutschtum im Ausland« (VDA), der 1933 in den »Volksbund für das Deutschtum im Ausland« umgewandelt worden war.
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Diese Vermutung wurde auch immer wieder von ranghohen Nationalsozialisten im Reich in Reden und Aufsätzen bestätigt. In einem Schrei ben des Stuttgarter Auslands-Instituts heißt es (in : »Deutschtum im Ausland«, Jg. 22,H. 1), dass die regierenden Kreise der staatsführenden Völker sich nicht mehr vor der Notwendigkeit verschließen dürften, das »Dasein ihres deutschen Bevölkerungsteiles im Sinne einer Verständigung mit Deutschland in eine klar umrissene Lebensform zu bringen« (zitiert nach Annabring 1954 : 101). Das Nazireich sah sich als »Schutzpatron« aller Volksdeutschen. Und im Programm der »Volksdeutschen Kameradschaft« in Ungarn steht : »Wir bejahen die Volksgemeinschaft. Sie ist jene überstaatliche Zusammenfassung von Menschen, die eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Kultur und eine blutgebundene Volksgeschichte auf das engste verbindet. … Für unsere Weltanschauung gehen wir in den Kampf. Wir ringen
um unser Werk, das wir und nicht die anderen geschaffen haben. Deshalb
stehen wir in einer Gesinnungsgemeinschaft?« (in : »Deutscher Volksbote«,
1935 (?), nach Annabring 1954 : 101).
Die »Erneuerer« verwendeten Begriffe wie »blutgebundene Volksgeschichte«, »Weltanschauung«, »Gesinnungsgemeinschaft« u. a., die man bis dahin im Schwäbisch-Deutschen Kulturbund nicht gebraucht hatte. Es genügt, einen Artikel in ihrem donauschwäbischen Organ »Volksruf« oder eines ihrer Pamphlete zu lesen, um die Diktion des Nationalsozialismus mitzubekommen. So z. B. schreibt Jakob Awender, einer der »Erneuerer«-Führer, 1938 im »Volksruf« vom 13. Mai : »… Wir [d. h. die ›Erneuerer‹] bekennen uns zum Mythos des Blutes.« Etwas weiter dann : »Für uns ist das Blut, das uns allen gemeinsam ist, das
Höchste. Unserem Blute verdanken wir unsere Fähigkeiten, unsere Gedanken, unsere Arbeit und alles, was uns eigentlich zu Menschen macht«
(nach Merkl 1968 : 80).
120 : Jahre der Zwietracht
Zum ersten großen Eklat mit den »Erneuerern« kam es in Filipowa im Dezember 1935. Zum besseren Verständnis soll kurz auf die Geschichte eingegangen werden. 1920 war in Jugoslawien der Kulturbund mit einer Ortsgruppe in Filipowa gegründet worden. Seine Ziele waren der Erhalt der deutschen Sprache und Kultur mit ihrer Verankerung im traditionell christlichen Weltbild. Praktisch waren alle geistig interessierten Personen des Ortes Mitglieder des Kulturbunds geworden, denn nach der massiven Unterdrückung des Deutschtums in ungarischer Zeit wollten auch die Konservativsten an ihrer Muttersprache und Religion festhalten. Nach einer anfangs toleranten Periode des neuen Staates Jugoslawien seinen Minderheiten gegenüber wurden sie unter Druck gesetzt. Anfang der 1930er-Jahre wurde der »Schwäbisch-Deutsche Kulturbund« wieder zugelassen. In Filipowa wurde sein neuer Obmann der Bauer und Ziegeleibesitzer Martin Lepold, der damals auch in der kirchlichen Arbeit engagiert war. Die »Erneuerer« drängten immer stärker in die Leitung des Kulturbunds sowohl im Land wie in Filipowa. Jetzt wurde z. B. großer Wert auf die Jugendarbeit gelegt. Da die kirchliche Seite dem Programm der »Erneuerer« nicht immer folgen wollte, organisierte auch sie die Jugendarbeit mit Schulungen, wie man sie bisher noch nicht kannte. Noch waren aber alle Gruppen im Kulturbund vereint. Im Winter gab es abends ausgedehnte Bildungsprogramme, die von Lehrern und Priestern gestaltet wurden. Von kirchlicher Seite ist vor allem Kaplan Jakob Busch zu erwähnen. Er gründete später auch die Zeitschrift »Jugendruf« als Organ der christlichen Jugend. Da die Umtriebe der »Erneuerer« immer heftiger wurden, hat die Kulturbundleitung des Landes unter Bundesobmann Johann Keks diese von 1935 bis 1938 aus dem Kulturbund ausgeschlossen. Es folgten Schmutzkampagnen und falsche Verdächtigungen vonseiten der »Erneuerer« gegen den Vorstand. Schließlich haben die »Erneuerer« nach Intervention nationalsozialistischer Stellen im Reich die Leitung des Kulturbundes übernommen. Neuer Bundesobmann für Jugosla-
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wien wurde der Banater »Erneuerer« Dr. Sepp Janko. Für den Volksbund in Ungarn wurde Dr. Franz Basch Obmann, für Kroatien Branimir Altgayer und für Rumänien Andreas Schmidt. Letzterer wurde vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, nach germanischem Ritus getraut (Haltmayer 1984 : 42). Spätestens zu diesem Zeitpunkt verließen die Gegner der »Erneuerer« den Kulturbund.53 In Filipowa war dies schon 1935 der Fall. Im Dezember 1935 hatte Kaplan Busch Heimabend im großen Saal des Gasthauses Ott, wo der Kulturbund bis 1944 seine Versammlungen abhielt. Er unterwies ca. 200 Jungmänner aller Richtungen in christlichen Lebensfragen. Philipp Teppert (1908–1969), Faktotum des Kulturbunds, stand auf und verlas eine Schmähschrift gegen Kirche und Klerus. Teppert war Ausschussmitglied des Kulturbundes und Sprachrohr der »Erneuerer«. Auch sonst ist er immer wieder als Agitator des Nationalsozialismus aufgetreten. Er hatte sein Pamphlet nicht mit der Leitung des Kulturbunds abgesprochen. Als auch noch Buhrufe auf Kaplan Busch und die Kirche aus den Reihen der Zuhörer laut wurden, verließ Busch mit seinen Anhängern den Saal. Damit war die Jugendarbeit für die kommenden Jahre im Dorf zweigeteilt. Die positive Folge war, dass im Pfarrgarten ein großes Jugendheim gebaut wurde (Näheres bei G. Wildmann 1999 : 170). Als Anfang 1936 der Lehrer Martin Braun, ein überzeugter »Erneuerer«, nach Filipowa kam, wurden die Tiraden gegen Christentum, Klerus 53 Die Filipowaer hatten zwar anfangs ihre Aufnahme in den Kulturbund beantragt, aber nach dem Eklat 1935 traten viele wieder aus. Ihre Namen wurden jedoch nicht aus der Mitgliederkartei gelöscht. Dies erklärt wohl auch zum Teil, wie Mirnics schreiben kann : »Der Schwäbisch-Deutsche Kulturbund in Jugoslawien zählte Anfang 1941 insgesamt 305.000 Mitglieder« (1972 : 319, FN 2). Es wären demnach damals in Jugoslawien weit mehr als die Hälfte aller Deutschen, die Kinder eingeschlossen, Kulturbundmitglieder gewesen. Wenn ein Hausvorstand Mitglied wurde, zählte man wahrscheinlich alle Bewohner des Hauses als Mitglieder dazu. Wollten sich die »Erneuerer« mit ihren Statistiken bei ihren Oberen im Reich in ein gutes Licht setzen ?
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und alle Gegner des Nationalsozialismus immer schärfer. Sein Leitbuch war »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« von Alfred Rosenberg.54 Die »Erneuerer« führten aber nicht nur verbale Kampagnen in Aufrufen und Presse, sondern sie hatten auch Schlägertrupps, die Gegner im Dunkeln überfielen und blutig schlugen ; sie beschmierten deren Häuser mit Parolen wie »Volksverräter«, »Magyarone«, »Jude«, schlugen deren Fensterscheiben ein oder schmierten Judensterne an die Frontmauern u. dgl. Und bei all diesen Aktionen standen Teppert und Obmann Lepold Pate. Einen weiteren, noch größeren Eklat gab es bei der 175-Jahr-Feier der Dorfgründung. Im Jahre 1937 hatte man zur Vorbereitung auf das Ereignis eine Art Zeitschrift herausgegeben. Philipp Teppert war ihr verantwortlicher Schriftleiter. Beide Lager, Schwarze und Braune, suchten die schwierige Zusammenarbeit. Bezüglich des zu errichtenden Denkmals und des Ablaufs der Festfeier gab es große Meinungsverschiedenheiten, doch man einigte sich. Am Sonntag, dem 31. Juli 1938 war der Hauptfesttag. Teppert war der Sekretär des Festausschusses. Es kamen viele ehemalige Filipowaer aus Slawonien, Syrmien55 und den USA zu Besuch. Zum Festakt selbst in einem riesigen Zelt auf der Hutweide kamen Regierungsvertreter Jugoslawiens und der Administration, Vertreter der deutschen Botschaft in Belgrad und des Auslandsdeutschen Instituts sowie Persönlichkeiten der Jugoslawiendeutschen. Zu einem »skandalösen Vorfall« kam es, denn »die Erneuerer schickten nämlich einen der Ihren, den aus Palanka stammenden, damals in Odschag lebenden Juristen Franz Reith, außer Programm auf die Bühne. Dieser attackierte Kirche und Klerus in gröblichster Weise. Die Provo54 G. Wildmann weiß zu berichten, dass Braun unter anderem »auch für den Austritt aus der Kirche und das Nicht-Taufen der Kinder unter Kulturbundmitgliedern geworben habe« (1999 : 164). 55 Syrmien ist das Gebiet zwischen Save und Donau ; westlich schließt sich Slawonien an. In diese Region waren Filipowaer ausgewandert, weil es dort noch Land zu kaufen gab.
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kation wurde indes nicht hingenommen. Berichten zufolge entstand ein Tumult. Die Leute standen auf und protestierten, ›Raus‹-Rufe wurden laut, und die Ordner im Festzelt hatten die Leute zu beschwichtigen« (Wildmann 1999 : 244). Ich war mit meinem Vater im Festzelt und erinnere mich, dass er einmal aufsprang und schrie ; ich habe aber mit meinen sechs Jahren nicht verstanden, worum es ging. Erst als ich älter war, hat Vater oft von diesen Auseinandersetzungen mit den »Erneuerern« erzählt. Der Vorfall bekam ein breites Echo in der deutschsprachigen Presse Jugoslawiens. Die »Batschkaer Zeitung« aus Apatin, ein Organ der Nationalsozialisten, schrieb nach Wildmann (1999 : 244) : »Wie begeistert waren die Massen, als Volksgenosse Reith aus Odžaci, um
zu sprechen, auf der Bühne erschien ! Er warf alles bisherige Gerede über
den Haufen. Da sprach ein Mann, der in die Zukunft sieht ! Immer wieder, als er klar sagte, daß wir Priester, aber keine Dunkelmänner des politischen
Katholizismus haben wollen, unterbrach ihn die vor Begeisterung tobende
Volksmenge. Keine Rede wurde so jubelnd aufgenommen. Selbst nicht
jene von Führerlingen des politischen Katholizismus gesprochenen. Zeigt
das nicht so sonnenklar, wenn selbst jene offen begeistert zustimmen, die bisher am politischen Katholizismus hangen ?«
Die katholische Wochenzeitung »Die Donau« von Pfarrer Adam Berenz aus Apatin fühlte sich durch den Bericht provoziert und griff den Vorfall auf. Es kam zu einem heftigen Schlagabtausch (so in Nr. 34/1938). Berenz rügte vor allem, dass es von Reith, einem ehemaligen Jesuitenzögling und Stipendiaten des Bischofs, eine »unerhörte Taktlosigkeit« sei, so in einer katholischen Gemeinde zu sprechen. Weiters heißt es, hätten die »Erneuerer« ihre Claqueure von auswärts mitgebracht, die vor allem auf Bestellung geklatscht hätten. »Eine Handvoll Filipovaer waren schon dabei«, konzediert Berenz (nach Merkl 1968 : 85/86). Es würde zu weit führen, wollte man auf die zumeist polemisch gehaltenen Artikel dieser Blätter eingehen. Wer sich aber für die nationalsozi-
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alistische Grundeinstellung der »Erneuerer« in der Batschka interessiert, sollte das Buch »Weitblick eines Donauschwaben« von M. Merkl (1968) zur Hand nehmen. Berenz hat bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo am 22. Mai 1944 unerschrocken gegen die »Erneuerer« und Nationalsozialisten gekämpft. Der serbische Historiker J. Mirnics schreibt über Berenz : »Der Apatiner Pfarrer Adám Berencz meldete sich offen zu Wort und übte in seiner Zeitung ›Die Donau‹ fast an allen Maßnahmen des Volksbundes
[das Pendant in Ungarn zum Kulturbund] scharfe Kritik. Er war ein überzeugter Antifaschist und hielt Christentum und Nationalsozialismus für
unvereinbar. Außerdem war er begeisterter Anhänger der Idee Großun-
garns im Sinne der ›Sankt-Stephans-Krone‹ und ließ sich über die Haltung des Gebietsführers Spreitzer gegenüber dem ›tausendjährigen recht-
mäßigen Besitzer‹ der Batschka, gegenüber Ungarn, mit ätzendem Spott aus« (1972 : 333).
Schließlich hat Berenz sein Leben auch im Erzbistum Kalocsa in Ungarn beendet. Adalbert K. Gauß zeigt am Beispiel von Adam Berenz auf, mit welch einem braunen Zungenschlag Donauschwaben noch lange nach dem Krieg in Deutschland reden und schreiben konnten. Er führt aus : »Dieser Plan, Berenz zur Übersiedlung [in die Bundesrepublik] zu bewegen, stieß bei den Sprechern der Landsmannschaften auf wenig Verständnis, ja auf wüste Ablehnung, Haß und Panik ! Der Kronzeuge der donau
schwäbischen Widerstandsbewegung sollte nicht in die Lage versetzt werden, Zusammenhänge zu enthüllen, an die inzwischen zu Demokraten
ausgewachsene Sprecher nicht gerne erinnert werden wollen. Bezeichnend
dafür war etwa die Stellungnahme eines Landsmannschaftspolitikers, der auf einer Tagung in Stuttgart erklärte, daß die Landsmannschaft auch
einem vom Vatikan heiliggesprochenen Adam Berenz, sollte er in der BRD
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erscheinen, die Deutschtumseigenschaft absprechen werde. Noch 20 Jahre
nach der Katastrophe glaubte ein kleiner Führer aus der eingebildeten
Machtfülle nationaler Omnipotenz, die ›Deutschtumseigenschaft‹ zuerkennen oder absprechen zu können !«
Die Ankunft der Honvéds in Filipowa
Nach dem Zusammenbruch des Königreichs Jugoslawien im April 1941 hieß es eines Nachmittags im Dorf, die deutschen Soldaten kämen von Odschag und marschierten in Filipowa ein. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Viele Männer waren auf der Arbeit und konnten sich nicht so schnell freimachen. Es waren deshalb vor allem Frauen und Kinder, die sich zum Empfang der Soldaten zum »Odschager Tor« aufmachten. Echte Nazis beflaggten ihre Häuser mit Hakenkreuzfahnen. In unserem Eck gab es zwar einige Nazis, aber erst einer oder zwei hatten zu diesem frühen Zeitpunkt eine deutsche Fahne. – Auch die Kirche war mit einer Hakenkreuzfahne beflaggt. Lehrer Braun und Spengler Hill hatten ohne Wissen des Pfarrers den Kirchturm beflaggt. Ich kann mich an dieses Ereignis recht gut erinnern, weil Vater mich partout nicht zum Empfang der deutschen Soldaten gehen lassen wollte, obschon das Odschager Tor nur 200 bis 300 Meter von unserem Haus entfernt war. Erst auf die Bitte meiner Mutter ließ er mich schließlich doch gehen. Erstaunt war ich, dass viele Frauen und Kinder Hakenkreuzfähnchen schwenkten, die alle gleich aussahen. Also musste der Kulturbund vorgesorgt haben, um sie im Bedarfsfalle an seine Mitglieder verteilen zu können. Es gab aber auch viele Kinder wie mich und die meisten meiner Kameraden, die kein Fähnchen hatten. Es blies ein kalter Wind, und wir hatten mehrere Stunden zu warten. Erst gegen Abend kam Bewegung in die Wartenden, denn es zeigte sich in der Ferne ein Trupp Soldaten. Die Fähnchen wurden kräftig ge-
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schwenkt. Als die Truppe näher kam, waren es keine deutschen Uniformen, sondern ungarische. Die Enttäuschung der Wartenden war riesig groß. Die Fähnchen wurden weggesteckt und einige Frauen schrien : »Geht hoom, mir welle eich net doo ! – Geht nach Hause, wir wollen euch nicht hier !« Es wagte aber niemand, die Honvéds zu bewerfen oder zu bespucken. Ein alter Mann mit einer großen, langen Pfeife saß beim »Endfranz« auf der Gasse. Als die Soldaten an ihm vorbeimarschierten, rief er : Élyen, élyen ! – »Hoch, hoch !«, doch die Enttäuschten überschrien den Alten und sagten, er solle sein Maul halten.56 Als ich nach Hause kam und Vater berichtete, lachte er. Er war froh, dass wir nicht den Nazi-Truppen, sondern den Honvéds unterstellt worden waren. Er hoffte, die Ungarn würden die Nazis in Schach halten. Obwohl wir fortan zu Ungarn gehörten, wuchs der Einfluss der »Erneuerer« im Dorf wie in der gesamten Batschka. In unserem Eck gab es einen Bauern, der zwar kein echter Nazi, aber braun angehaucht war und ein großes Radio besaß. Vom Militärsender in Belgrad wurden alle Führerreden und Sondermeldungen übertragen. Am Abend kam dann das Lied von der Lili Marleen : »Vor der Kaserne …« Der Bauer stellte oft sein Radio ins offene Fenster und beschallte die ganze Gasse. Es fanden sich, vor allem abends zum Lied, von Lale Andersen gesungen, viele Zuhörer ein, denn es gab damals nur wenige Radios im Dorf. Vater ging bisweilen am Abend zu einem befreundeten Bauern, der wie Vater ein »Schwarzer« war. Mich nahm er oft mit, damit ich Schmiere stand und sie bei Gefahr warnte, denn es war verboten, ausländische Sender zu hören. Sie hörten aber immer einen Schweizer oder den britischen Sender in deutscher Sprache. 56 Josip Mirnics, der sonst meist gut informiert ist, berichtet, dass nach dem Einmarsch der Ungarn in die Batschka »die deutsche Jugend von Szilberek [Brestovac], Odžaci, Filipovo und Červenka massenweise ins Banat flüchtete …« (1972 : 320, FN 7). Von Filipowa waren es einige wenige, die ins Banat gingen, um eher bei der SS dienen zu können. Von »massenweise« kann in Filipowa keine Rede sein !
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Vater machte seine Einkäufe für die Tischlerei wie Beschläge, Lacke, Furniere usw. bei einem Grossisten namens Domus in Neusatz (Novi Sad, ungarisch Ujvidék). Der Inhaber des Geschäfts war Jude. Im Winter 1941/42 fuhr mein Vater mal wieder mit dem Frühzug nach Neusatz, um bei Domus einzukaufen. Wie immer kam er mit dem Spätzug abends nach Hause. Da er uns Kindern von seinen Reisen immer etwas mitbrachte, versuchten wir wach zu bleiben, aber meist schliefen wir schon vor seiner Rückkehr ein. So war es auch diesmal. Als Vater zurückkam, schliefen wir Kinder bereits. Meine Mutter muss laut gerufen haben, als er ohne Gepäck zur Tür hereinkam. Sie fragte, wo er denn sein Material gelassen habe. Ich war dabei aufgewacht. Meine Eltern bemerkten es allerdings nicht, und so habe ich einiges von ihrer leisen Unterhaltung mitbekommen. Vater sagte, das Geschäft Domus gebe es nicht mehr. Die Eingangstür sei mit Brettern verschlagen, und an den Auslagescheiben klebten große Plakate mit einem Judenstern und der Aufschrift Zsidó – Jude. Vater wollte sich damit nicht abfinden und erkundigte sich bei anderen, nicht-jüdischen Geschäftsleuten, bei denen er gelegentlich auch einkaufte, was denn mit dem Domus-Inhaber passiert sei. Ein ihm vertrauter deutscher Geschäftsmann erzählte ihm, dass die ungarischen Gendarmen die Juden der Stadt zusammengetrieben hätten, und als die Donau zugefroren war, habe man das Eis aufgehackt und die Juden lebendig unter das Eis gesteckt. Mein Vater hat diese Nachricht meiner Mutter nur zugeflüstert, damit wir Kinder sie nicht mitbekämen.57 57 Johann Wüscht weiß, gestützt auf serbische Quellen, zu berichten, dass ungarischen Truppen in blutigen Vergeltungsaktionen im Januar 1942 »3.985 Serben und 810 Juden ohne Unterschied des Geschlechts und Alters zum Opfer fielen«. Er verwehrt sich nur gegen »die Unterstellung, daß die ›Groß-Razzia‹ mit Wissen, Zustimmung oder sogar auf Anregung Berlins durchgeführt wurde …« (1969 : 59), was ganz dem Duktus von Wüschts Gesinnung entspricht. In das gleiche Horn stößt auch Dr. Sepp Janko, letzter Obmann des »Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes«. Janko stützt seine Aussage auf Wüscht, der sein »Mitarbeiter« war.
128 : Jahre der Zwietracht
In den Monaten danach konnte man im Dorfe öfter von der Tragödie der Neusatzer Juden hören. Ich erinnere mich u. a. deshalb daran, weil meine Schwester Wawi seither keine Fische aß, obwohl unsere Fische nicht aus dem Süden, sondern aus Apatin im Norden von Novi Sad kamen. In Filipowa gab es außer einem Polizisten aus jugoslawischer Zeit keine Juden. Dieser hat sich zu Beginn der ungarischen Zeit 1941 vor den Zug geworfen und kam dabei zu Tode. Er war wohl kein getaufter Jude, denn sein Grab befand sich in einem vom allgemeinen Friedhof abgeteilten Viertel, wo Nicht-Christen beerdigt wurden. Über den Tod des Polizisten wurde im Dorf kaum gesprochen. Ich kann mir vorstellen, dass er für sich keine Zukunft mehr sah und sich das Leben nahm. Bewusst sah ich zum ersten Male einen Juden 1943 in Szabadka (Subotica), wo ich in die Schule ging. Wenn wir Schüler morgens vom Internat zur Schule fuhren, stand an der Straßenbahnhaltestelle immer ein alter Mann mit einem großen gelben Judenstern auf der Jacke und bettelte. Einige ungarische Kollegen zischten im Vorbeigehen »zsidó« ! Die donauschwäbischen Schüler kamen nicht aus deutschnationalen Elternhäusern. Diese hätten damals ihre Kinder auf das deutsche Gymnasium in Apatin oder Werbaß geschickt. Es gab aber immer auch Leute, die dem alten Juden etwas gaben. Irgendwann, Anfang 1944, war der Alte aus dem Straßenbild verschwunden. Unter uns Jugendlichen wurde nie darüber gesprochen, wo der Alte geblieben sein könnte. »Zsidó« war übrigens damals ein häufig gehörtes Schimpfwort unter den Schülern. Wenn man einen beleidigen wollte, titulierte man ihn »te zsidó – du Jude« ! Bei uns in Filipowa wurden die Häuser der »Schwarzen« nachts häufig mit einem Davidstern und »Jude« beschmiert. Mein Elternhaus war wiederholt solchen Attacken ausgesetzt. Zu Beginn von Hitlers Kriegserfolgen zogen Männer mit schwarzer Farbe und einer Viktoria-Schablone von Haus zu Haus, um an prominenter Stelle ein deutsches Siegeszeichen aufzupinseln. Es bestand aus einem großen »V« in einem Eichenlaubkranz ; darüber thronte ein Ha-
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kenkreuz und darunter stand : »Der deutsche Sieg«. Als sie auch an unser Haus den »deutschen Sieg« anschmieren wollten, hat Vater sie abgewiesen. Der naive Schablonenmaler meinte : »Euer Haus wird eines der wenigen sein, das keinen deutschen Sieg hat !« Und Vater drauf : »Dann gehöre ich auch zu den wenigen, die später den Sieg nicht übermalen müssen.« – Es gab nur neun Häuser im Dorf ohne »deutschen Sieg«. Es wurden aber zusehends mehr. Die Euphorie über Hitlers militärische Erfolge bewirkte auch, dass bei deutschen Großereignissen immer mehr Häuser mit Hakenkreuzfahnen beflaggt wurden. Bei einem solchen Ereignis meinte meine Mutter, wir sollten doch auch eine Hakenkreuzfahne hinaushängen. Mein Vater war strikt dagegen. – Es wurde damals der Fall der Festung Sewastopol auf der Krim gefeiert (2. Juli 1942). Meine Mutter setzte Vater jedoch weiter zu : Fast alle Häuser hätten eine Fahne draußen ; schließlich wären wir doch auch Deutsche und keine Ungarn. Um des Friedens willen gab mein Vater schließlich nach. Er stellte aber die Bedingung, dass für die »Hitler-Fahne« kein Geld ausgegeben werde. Meine Mutter hatte rotes Krepppapier zu Hause. Darauf nähte sie einen weißen Kreis aus Papier und Vater malte mit schwarzem Eisenlack ein Hakenkreuz in den weißen Kreis. Dann wurde die Fahne aus dem Bodenloch auf die Gasse gehängt. Die ganze Familie ging auf die Gasse und bestaunte unsere Hakenkreuzfahne. Es war schon gegen Abend, als Nazis bei uns vorbeikamen und über unsere Fahne lachten. Der Cousin meines Vaters, ein Mitglied der Sportmannschaft, machte Vater aufmerksam, dass die Haken des Kreuzes verkehrt herum seien. Vater ging hinaus, um die anderen Fahnen in Augenschein zu nehmen, und stellte fest, dass er tatsächlich das verkehrte Hakenkreuz gemalt hatte. Jetzt wurde er wütend, holte die Fahne ein, zerriss sie und steckte sie in den Sparherd. Es war die einzige Hakenkreuzfahne, die je unser Haus »geschmückt« hat !
130 : Jahre der Zwietracht Die SS-Division Prinz Eugen
Was die spätere jugoslawische (kommunistische) Regierung uns Donauschwaben am meisten verübelte, war, dass unsere SS-Soldaten als Landsleute gegen sie kämpften. Dies kommt in ihren Anschuldigungen immer wieder zum Ausdruck. Man nannte die Donauschwaben deshalb »Landesverräter«. Josip Mirnics, Historiker aus Novi Sad, vermerkt am Ende seines Artikels (1972) : »Das bedeutet also, daß in der blutigsten Schlacht der Partisanenkämpfe in der Vojvodina, in der Schlacht von Batina (Mitte November 1944) … der 7., 8. und 12. Vojvodina-Brigade der Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens eigentlich ihre Landsleute, die Donauschwaben, gegenüberstanden« (1972 : 350). Auch der serbische Arzt Dr. Dragomir Stevanović war entsetzt, als er im Juli 1942 ins KZ in Semlin bei Belgrad gebracht und dort von einer Horde Prügelnder empfangen wurde. Er schreibt : »Alle sprachen Serbisch, und als ich sie musterte, erkannte ich einige aus den GestapoZellen. Es handelte sich durchwegs um einheimische Deutsche, unsere Volksdeutschen, die in nazistische SS-Einheiten eintraten, als SSler bestimmter Ausfälle überführt, dafür verurteilt und zur Verbüßung der Strafe ins Lager gebracht wurden, um nun ihre Arbeit für das große Reich fortzusetzen !« (Nach K. Gauss 1983 : 43). Der Gipfel der Enttäuschung für die Serben war aber, dass die Donauschwaben, vor allem die aus dem Westbanat, die SS-Division Prinz Eugen aufgestellt hatten. Ihr Gruppenführer war anfangs der Siebenbürger Sachse Phleps. Josef Beer aus der Kulturbundführung war als Offizier dabei und in einer herausgehobenen Position Johann Keks. Letzterer musste für die Serben die größte Enttäuschung sein, denn Keks vertrat viele Jahre die Interessen der Donauschwaben im Belgrader Parlament. Als langjähriger Obmann des Schwäbisch-Deutschen Kulturbunds lancierte er die Parole »Volkstreu und staatstreu«. Er hatte für Jahre die »Erneuerer« aus dem Kulturbund verbannt. Den Serben galt er als ein »sattelfester christlicher Antifaschist« (Gauß 1983 : 42/43).
Jahre der Zwietracht :
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Dieser Johann Keks, Hauptmann a. D., stellte sich den Nationalsozialisten zur Verfügung und übernahm als Leiter die Erfassungs- und Ergänzungsstelle, d. h. er wurde für die Einberufungen in die SS-Division Prinz Eugen zuständig und für den Volksgruppenführer Janko wurde er in gewisser Weise ein Gegenspieler. So sah es jedenfalls Janko (1983 : 221–237). Ursprünglich war diese Truppe angeblich für den Schutz der Donauschwaben vor den Angriffen der Tschetniks und Partisanen gedacht, aber dann mutierte sie zu einer Kampfeinheit, die in Südserbien, Bosnien und Kroatien bis zur Kapitulation am 15. Mai 1945 kämpfte. Vielen Serben, nicht nur Kommunisten, diente das Verhalten von Keks als Beispiel dafür, dass es den Donauschwaben nicht nur um ihre Sprache und Kultur ging, sondern um großdeutsche Ziele. Im entscheidenden Moment wurden diese Donauschwaben zu »Vaterlandsverrätern«. Dieses Verhalten hat sicher viel dazu beigetragen, uns eine Kollektivschuld anzulasten.58
Die »Deutsche Mannschaft« oder die »Sportmannschaft«
In Filipowa kam mir der Ausdruck »Deutsche Mannschaft« nie zu Ohren. Man sprach gewöhnlich von der »Sportmannschaft« oder den »Sportmännern«.59 Mirnics meint, dass die »Deutsche Mannschaft« bereits im Sommer 1941 gegründet worden sei, denn »zur Zeit der Besetzung der Batschka [durch die Ungarn] verfügte der Kulturbund über 58 Keks sah in seinem Tun offensichtlich nichts Unrechtes ; er blieb im Lande, wurde misshandelt und starb im Elend. 59 Man konnte auch Ausdrücke wie »Tschischmemänner«, »Erikasinger« oder »Braunhemder« hören. Wenn sie marschierten, sangen sie häufig das Lied »Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein …«. Daher der Name Erikasinger. Georg Wildmann gebraucht in seiner Beschreibung der Kriegsjahre in Filipowa »Deutsche Mannschaft« und »Sportmannschaft« unterschiedslos (1999 : 290).
132 : Jahre der Zwietracht
bewaffnete Einheiten« (1972 : 324). Er will damit wohl ausdrücken, dass es für den Kulturbund damals Tradition war, bewaffnete Mannschaften zu unterhalten.60 Es mag sein, dass die Sportmannschaft bereits Ende 1941 in Filipowa gegründet wurde, aber uniformiert trat sie erst 1942 auf. Ihre Uniform bestand aus schwarzen Stiefeln, schwarzer Reiterhose, breitem Gürtel mit Schnalle und Überschwung, dazu ein langärmeliges braunes Hemd und eine schwarze Schirmmütze und bisweilen eine schwarze Krawatte. G. Wildmann schreibt zu diesem Thema : »Die Männer zwischen 21 und 50 Jahren, die sich dem Volksbund [vormals
Kulturbund] anschlossen, gehörten zur Deutschen Mannschaft. Sie war auf körperliche und weltanschauliche Ertüchtigung sowie auf politischen
und sozialen Einsatz ihrer Mitglieder ausgerichtet. Diejenigen, die ehrgeizig waren und zum ›Dienst‹ kamen, so etwa bei Festfeiern und öffentlichen
Aufmärschen, trugen eine SA-ähnliche Uniform …« (1999 : 273).
Die Sportmänner versammelten sich gewöhnlich sonntagnachmittags im Hause Hess, machten im Hof sportliche Übungen, erhielten auch eine gewisse nationalsozialistische Indoktrination, lernten marschieren und zogen abends in Formation singend durch den Ortskern. Man konnte dann die ironische Bemerkung hören : »Die Tschismemänner maschiere widder.« Ich habe niemals einen Sportmann in Waffen gesehen. Auch Mirnics weiß, dass die »Deutsche Mannschaft« in Ungarn keine Waffen tragen durfte. Er vermutet, dass sie aus der Wachmannschaft der Felder, die wegen 60 Mirnics schreibt : »Johann Wüscht will in seinen Arbeiten nachweisen, der Kulturbund habe vor dem Krieg [von 1941] keine bewaffneten Einheiten gehabt …« Tatsächlich wurden »am Sitz des Kulturbundes in Novi Sad« zahlreiche Waffen gefunden. In »zeitgenössischen Berichten der Kulturbundführer nach Berlin« ist »von den besonderen bewaffneten Einheiten des Kulturbundes, Selbstschutz genannt, die Rede« (1972 : 320, FN 4 und 5).
Jahre der Zwietracht :
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der Partisanenübergriffe aufgestellt wurde, hervorgegangen sei (1972 : 324). In Filipowa war dies aber sicher nicht ihr Ursprung, denn im Sommer wurden alle jüngeren Männer, ob »schwarz« oder »braun«, zur Brandüberwachung der Ernte eingeteilt. Sogar mein Vater, ein »Erzschwarzer«, nahm daran teil. Einige Männer waren im Kirchturm postiert, andere durchstreiften, bisweilen mit Jagdgewehren bewaffnet, die Erntefelder. Diese Maßnahmen waren gegen die Überfälle der Partisanen wie gegen die Brandkapseln der britischen und amerikanischen Flieger gerichtet. Wir Buben haben auf Wegen und Feldern immer wieder solche Brandsätze gefunden, die teils nicht gezündet hatten oder auch ausgebrannt waren, ohne ein Weizenfeld in Brand zu stecken. Man hat uns in der Schule auf Abwürfe verschiedenster Art der Flugzeuge vorbereitet und uns angewiesen, sie nicht aufzulesen, sondern in der Gemeinde zu melden. Unser Nachbarjunge hat durch einen abgeworfenen Füller, den er auflas und öffnete, seinen Arm verloren. Ein größeres Weizenfeld ist aber meines Wissens in Filipowa nie in Brand geraten. Die Hoch-Zeit der Sportmannschaft waren die Jahre 1942/43 und vor allem der März 1944. Offensichtlich war der harte Kern dieser Truppe auch 1944 noch nicht zur Einsicht gelangt, dass es mit dem Dritten Reich zu Ende ging ! Es mögen der Mannschaft in Filipowa etwa 60 bis 80 Aktive angehört haben. Durch die Rekrutierung zur SS wurden es immer weniger. In den Jahren 1942, 1943 und 1944 fanden die Rekrutierungen zur Waffen-SS statt. Die Aktionen waren offiziell freiwillig und doch waren sie illegal. Denn wer sich nicht »freiwillig« meldete, wurde von den Sportmännern auf Weisung der Leitung des Volksbundes in Filipowa unter Druck gesetzt. Heinrich Himmler hatte Anweisung gegeben, »diejenigen, die sich nicht freiwillig melden, bekommen eben die Häuser zusammengeschlagen !« ( Janko 1983 : 226).61 Volksgruppenführer Janko findet für »ehe61 Volksgruppenführer Sepp Janko zitiert Briefe von H. Himmler an Obergruppen-
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malige« Nationalsozialisten eine typische Formulierung :62 »Es soll nicht geleugnet werden, daß gelegentlich seitens unserer Volksgenossen ein moralischer Druck, der stärker war als geschriebene Gesetze, auf jene Männer ausgeübt wurde, die einer Einberufung nicht Folge leisteten« (1983 : 230). Gegen die Exzesse ihrer Parteigänger hat aber die Führung nie etwas unternommen. In Filipowa wie in einigen anderen deutschsprachigen Ortschaften der Westbatschka hat der Gebietsführer Sepp Spreitzer die Übergriffe geradezu befohlen ! Es mutet bisweilen grotesk an, wenn nationalsozialistische Autoren zu beweisen suchen, dass die Führer des Kulturbundes bzw. des Volksbundes unabhängig von den Institutionen des Reiches, bisweilen sogar gegen die Vorgaben dieser Ämter und ihrer Leiter handelten. Man soll wohl den Eindruck bekommen, sie hätten sich zum Schutz der Donauschwaben geradezu gegen die Anordnungen des Dritten Reiches gestellt. Dabei waren sie dessen Lakaien ! So z. B. Janko 1983 : 217, Wüscht 1966 : 33 ; 1969 : 253 ff. Vor Ort war von diesem Mannesmut der Volksbund- bzw. Kulturbundführer nichts zu spüren. Es sind eher Versuche der Entschuldung post factum !
führer W. Lorenz, Chef der VOMI. Darin heißt es u. a. (3. 7. 1942) : »Die deutschen Volksgruppen im gesamten Südosten müssen sich darüber klar sein, daß für sie zwar nicht gesetzlich, aber aus dem ehernen Gesetze ihres Volkstums heraus Wehrpflicht besteht, und zwar vom 17. bis 50., im Notfall 55. Lebensjahr. So ist es bei den Ahnen und Vorfahren der deutschen Volksgruppen gehalten worden, und ich bitte, den Herren Volksgruppenführern zu sagen, daß ich annehme, daß die Urenkel nicht um so viel schlechter sind« ( Janko 1983 : 216). In einem anderen Schreiben vom 10. 8. 1942 legt Himmler dar, »daß sich die Volksdeutschen nicht nur beschützen lassen könnten und nicht verlangen dürften, daß allein reichsdeutsche Bataillone für sie zu verbluten hätten, sondern daß sie – da es letzten Endes auch um sie, weil um das Gesamtdeutschtum, gehe – ihren Blutzoll mitzuentrichten hätten« ( Janko 1983 : 217). 62 J. Wüscht verwendet diese Formulierung wiederholt, so z. B. 1966 : 22 : »Es ist nicht wegzuleugnen, daß die Erneuerer …«
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Der Höhepunkt des Nazi-Tterrors fand in Filipowa im März 1944 statt. Ich war damals in Szabadka in der Schule ; ich habe die Ereignisse in Filipowa also nicht gesehen, aber sie wurden im Dorf immer wieder erzählt. Paul Mesli, der wichtigste »Archivar« Filipowas, hat oft davon gesprochen. Am 19. März 1944 hatte die deutsche Armee Ungarn besetzt. Als mittags der Unterricht in Szabadka zu Ende war, wollte ich die Straßenbahn nehmen, um ins Internat zu fahren. Die Hauptstraße vor unserer Schule zum Internat war derart mit deutschen Militärfahrzeugen vollgestopft, dass die Straßenbahn nicht fahren konnte und wir Schüler zu Fuß gehen mussten. Ich war aber sehr erstaunt, als ich sah, wie viele Menschen an den offenen Fenstern und am Straßenrand standen und »Élyen, Heil Hitler !« riefen. Ich dachte mir immer, die Ungarn wären keine Nationalsozialisten, aber da bekam ich doch den Eindruck, dass sehr viele von ihnen Pfeilkreuzler63 waren. Aus meinem Elternhaus hätte niemals jemand das Wort »Heil Hitler !« in den Mund genommen. Als ich ins Internat kam, wartete mein Vater auf mich. Ich war erstaunt über seinen Besuch, weil er nicht vorgesehen war. Er sagte mir nur, dass es in Filipowa drunter und drüber gehe und er sich davongemacht habe, um nicht zur SS eingezogen zu werden. Er blieb über Nacht in Szabadka und fuhr erst am nächsten Abend zurück. Er stieg aber nicht am Filipowaer Bahnhof aus, sondern wählte, wie schon auf der Hinfahrt, das »Miltitscher Wächterhäusl« (ein kleiner Halt im Gelände), weil er dabei nicht durch den Ort gehen musste. Georg Wildmann hat aufgrund von Tagebuchnotizen von Paul Mesli und Erlebnisberichten eine gute Schilderung der Ereignisse vom 19. und 20. März gegeben. Ich will einige Auszüge daraus übernehmen (1999 : 289/290) : 63 Parteigänger der Nationalsozialistischen Partei Ungarns. Der Name bezieht sich auf ihr Parteizeichen : ein gleichschenkeliges Kreuz, dessen Arme in Pfeilspitzen aus laufen.
136 : Jahre der Zwietracht »Zu einem brutalen Vorkommnis kam es am 19. und 20. März 1944. Es
war der Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Par-
teien in Filipowa …«
»Zwischendurch gab es noch eine völlig illegale SS-Aktion, die sich allerdings nur auf einige Gemeinden im Raume Sombor beschränkte … Sie wurde von der 8. SS-Reiterdivision ›Florian Geyer‹ durchgeführt. Die
Führung der Division ›Florian Geyer‹ vereinbarte mit dem Gebietsführer
des VDU [Volksbund], Ing. Sepp Spreitzer, eine Blitzaktion in der Westbatschka, um bisherige wehrfähige Dienstverweigerer auszuheben und ihre
in Rußland stark gelichteten Mannschaftsbestände aufzufüllen … Der
Ortsleitung des Volksbundes wurde eröffnet, ›daß am 20. März laut Befehl des SS-Hauptamtes eine Zwangsmusterung durchzuführen sei‹.«
»In Filipowa versuchte an den besagten beiden Tagen im Rahmen dieser illegalen ›Blitz-Freiwilligen-Aktion‹ Ortsleiter Martin Lepold mit Hilfe
der Deutschen Mannschaft, möglichst viele der ›Rückständigen‹ und die
Angehörigen des Jahrgangs 1926 zur Meldung zu veranlassen. Da sich
aber von den ›Rückständigen‹ der vorigen Aktionen nur wenige meldeten,
nahm die ›Sportmannschaft‹ am 20. März drei der führenden Repräsentanten der ›Schwarzen‹ fest und mißhandelte sie öffentlich. Es handelte
sich um Jakob Manz, Gregor Eichinger und Georg König. Jakob Manz
war Gemeindebediensteter und befand sich gerade in seiner Amtsstube.
Er wurde im Hof des Gemeindehauses zusammengeschlagen, in das Gasthaus Ott geschleppt und dort in den im hinteren Hof gelegenen Schweinestall geworfen. Georg König war gerade im Gasthaus Engert, dem Sitz des
Bauernvereins, dessen Kassier er war. Er wurde von Sportmännern herausgezerrt, zusammengeschlagen und ebenfalls in das Gasthaus Ott gebracht.
Den Bauer Gregor Eichinger holten sie von seinem Hause, eskortierten ihn
zum Gasthaus Georg Ott, traktierten ihn in der Hauseinfahrt mit Fäusten
und Gewehrkolben und warfen ihn bewußtlos und blutend in den dortigen
Schweinestall zu seinen Leidensgenossen. Wer die Mißhandelten sehen
Jahre der Zwietracht :
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wollte, mußte zwei Pengö zahlen [ungarische Währung]. [Den] aus ihren
Häusern herbeigeholten Männern, die sich nicht mustern lassen wollten, zeigte man die Zusammengeschlagenen. Man stellte sie vor die Alternative,
entweder zu unterschreiben oder dasselbe Schicksal zu erleiden.«
»Auch dieses Mal mußten, wie schon 1942, die ungarischen Sicherheitsorgane eingreifen.« Die Tochter von Manz machte von den Vorgängen dem
Stuhlrichter in Odschag Meldung. »Dieser entsandte umgehend 30–40
ungarische Gendarmen nach Filipowa. Als sie im Gasthaus Ott erschie-
nen, richteten sie ihre Gewehre so lange auf Obmann Martin Lepold, bis
die Gefangenen herbeigebracht waren. Die Sportmänner räumten schleunigst das Feld und die Mißhandelten waren befreit. Es war am Abend des
20. März 1944. Keiner der Akteure wurde je zur Verantwortung gezogen.«
Die Zeit danach
Nach den Ereignissen des März ging der Nationalsozialismus in der Batschka zwar sichtlich seinem Ende entgegen, aber Freude darüber wollte sich bei meinem Vater doch nicht so recht einstellen, denn der Krieg näherte sich uns. Alle jene, die nicht an des Führers Wunderwaffen glaubten, wussten, dass das Reich den Krieg verlieren würde. In größeren Städten wie Szabadka gab es immer häufiger Fliegeralarm, meist gegen Mittag. Wenn die Sirenen zu heulen begannen, war der Unterricht zu Ende. Luftschutzbunker gab es keine, so schickte man die Schüler einfach nach Hause. Mit den Osterferien endete das Schuljahr und so blieb ich bei meiner Familie in Filipowa. Hier herrschte eine gedrückte Stimmung. Radios mit Sondermeldungen wurden schon lange nicht mehr in die Gassenfenster gestellt. Viele Frauen und Eltern, deren Männer bzw. Söhne freiwillig zur SS eingerückt waren, machten den zu Hause Gebliebenen Vorwürfe, weil sie sich nicht am Kampf gegen »unsere Feinde« beteiligen wollten. Es kam wohl
138 : Jahre der Zwietracht
ein Neidgefühl auf, weil meist die Frauen allein die schwere Erntearbeit verrichten mussten. Slawische oder ungarische Knechte hatten sie aus Prinzip nicht eingestellt, und volksdeutsche Männer für die Arbeit gab es nicht mehr. Eines Tages machte eine ältere Frau aus unserer Nachbarschaft meiner Mutter auf offener Straße Vorwürfe. Man sehe doch, dass wir keine echten Deutschen seien, wir beteiligten uns überhaupt nicht am Krieg gegen Tschetniks, Partisanen und Russen. Da die Vorhaltungen laut über die Straße vorgetragen wurden, kamen die Nachbarn aus Neugierde auf die Straße. Meine Mutter entgegnete der älteren Frau, dass unser Vater nicht freiwillig in den Krieg ziehe und auch nicht einsehe, dass Hitlers Deutschland sein Vaterland sein solle, für das er zu kämpfen habe. Der psychologische Auslöser dieses Disputs war, dass der Schwiegersohn der Frau gerade gefallen war und sie von ihren beiden Söhnen bei der Waffen-SS schon lange keine Nachricht mehr erhalten hatte. Einer kam aus dem Krieg zurück, der andere blieb vermisst. Meine Mutter kam mitten im Weizenschnitt, also Anfang Juli 1944, mit meinem Bruder Franz nieder. So musste meine ältere Schwester, sie war 14, meine Mutter bei der Ernte vertreten. Vater mähte mit der Sense den Weizen, und Wawi nahm die Büschel, die sogenannten Klecken, auf. Meine Aufgabe war es, die Bänder aus Roggenstroh zu legen. Zwei Klecken wurden zu einer Garbe gebunden, von denen ich je neun auf einen Haufen zu ziehen hatte. Die »Kreuze« (Garbenschober) wurden am Abend von Vater gestellt. Nach etwa zwei Wochen ging meine Mutter wieder zeitweise aufs Feld, weil die Arbeit für Wawi noch zu schwer war. Wenn Mutter aufs Feld ging, blieb ich zu Hause, dann hatte ich den kleinen Franz zu versorgen. Als der Schnitt gerade zu Ende war, aber noch nicht der Drusch, erhielt mein Vater seine Einberufung zur Waffen-SS.64 Die Musterung 64 In einem Abkommen zwischen Ungarn und dem Deutschen Reich vom April 1944 wurde dem Reich die Wehrhoheit über die Ungarndeutschen übertragen. Die deut-
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war nur eine Farce, denn man akzeptierte alles von 17 bis 50, wenn es sich nur bewegen konnte. Der Befehl für meinen Vater lautete, er solle sich Anfang September bei seiner Einheit in Budapest melden. Eine gewisse Genugtuung war es, als sich im Dorf herumsprach, dass auch der selbstherrlich agierende Kulturbundobmann Martin Lepold eingezogen wurde. Einen üblen Dienst hat er dennoch allen Dorfbewohnern erwiesen : Er ließ die gesamte Mitgliederkartei des Kulturbundes (Volksbundes) im Vereinsschrank zurück. Die Namen der längst ausgetretenen Mitglieder waren nicht getilgt worden. Zur Zeit der Partisanen hatten deshalb viele Ortsbewohner große Schwierigkeiten, obschon sie sich schon viele Jahre zuvor vom Kulturbund losgesagt hatten. Die Kartei war in die Hände der Partisanen gefallen. Als der Weizen gedroschen war, machten sich meine Eltern ans Hanfschneiden. Da Mutter nicht ganz zufrieden war, wie ich Franz versorgt hatte, blieb jetzt auch meine große Schwester zu Hause. Wir hatten aber Weisung, mit dem kleinen Handwagen im Laufe des Vormittags aufs Feld zu kommen, damit Mutter dem Kleinen die Brust geben könne. Da es immer häufiger Überfälle von Partisanen und Tschetniks auf Feldarbeiter gab, patrouillierten ungarische Gendarmen auch bei Tag im Gelände. Auf unserem Weg ins Feld begegneten wir einmal einer solchen Einheit. Sie hatten ihre helle Freude, als sie uns sechs Kinder mit dem Handkarren sahen. Franz und Burgl lagen bzw. saßen im Wägelchen, Wawi und ich zogen es, Hedwig und Eva durften sich daran festhalten. Als sie hörten, dass wir zu den Eltern aufs Feld gingen, ließen sie uns laufen, schärften uns aber ein, wir sollten wegen der Überfälle vorsichtig sein. Aber was hätten wir schon tun können, wenn uns die Partisanen überfallen hätten, etwa davonlaufen ? !
schen Männer in Ungarn konnten somit von Juli bis Oktober 1944 mit ordentlichen Stellungsbefehlen zur Waffen-SS eingezogen werden (Dokumente V, 1984 : 175E– 176E).
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Als Ende August auch der Hanf versorgt war, musste mein Vater ans Einrücken denken. Unser Geselle aus Kroatien war schon vor der Ernte nach Hause gegangen und der Lehrling hatte ebenfalls die Arbeit aufgegeben. In der Werkstatt stand also alles still und kam nie wieder in Gang. Alle wehrtauglichen Männer zwischen 17 und 50 Jahren hatten sich Anfang September bei ihren Einheiten zu melden. Für die meisten lagen ihre Meldeorte in der Batschka oder in Südungarn, nur einige wenige hatten sich in Budapest einzufinden, so auch mein Vater und ein jüngerer Großbauer. Vater nahm meinen Holzkoffer, mit dem ich ins Internat gegangen war, und einen Sack mit Lebensmitteln und ging gegen Mittag in Begleitung von Mutter zu diesem Bauern. Dessen serbischer Knecht, so hieß es, solle sie zu einer Bahnstation fahren, wo sie eine bessere Verbindung nach Budapest haben würden. In Wirklichkeit fuhr er aufs Feld, die beiden versteckten sich im Mais und der Knecht mähte Grünfutter, bis es finster wurde. Zur Heimfahrt legten sich Vater und der Bauer unten in den Wagen, der Serbe machte mit Brettern einen Hohlraum und gab eine Fuhre Klee darauf. Als er zurück in den Hof fuhr, war es schon spät ; er lud ab und die beiden begaben sich in ihr vorbereitetes Versteck. Es war ein schmaler Streifen zwischen zwei Giebeln auf dem Heuboden. Das Eingangsloch wurde vom Knecht mit Heu zugesetzt. Nur er brachte ihnen jeden Tag zu essen und räumte die Kloake weg, denn niemand im Haus, außer der Ehefrau, durfte um das Versteck wissen. Auch bei uns hatte zunächst nur Mutter davon gewusst. Da sie aber öfter Lebensmittel zu dem Bauernhaus brachte, erzählte sie meiner älteren Schwester davon. Sie musste ihr aber versichern, dass sie mir und den anderen Geschwistern nichts verraten würde. Wawi hat auch dichtgehalten. Offensichtlich hatten sich mehrere Filipowaer nicht bei ihren Einheiten eingefunden. Ungefähr zwei Wochen später kamen SS-Soldaten in den Ort, um die Untergetauchten zu suchen. Sie drangen nachts in die Häuser ein, um sie zu überraschen. Wen sie erwischten, nahmen sie sofort mit. Die meisten hatten sich aber nicht zu Hause, sondern bei sla-
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wischen Freunden in umliegenden Dörfern versteckt. Bei Tag holten die SS-Soldaten die Frauen oder Mütter derjenigen, derer sie nicht habhaft werden konnten, und sperrten sie einen Tag und eine Nacht im Gemeindehaus ein. Es waren etwa 30 bis 40 Frauen. Als sich der Suchtrupp der SS unserem Hause näherte, raffte Mutter schnell einige Windeln und Kleidungstücke sowie etwas Essen zusammen und gab es in eine Umhängtasche. Ich war ganz verdutzt über das Tun meiner Mutter und sagte ihr, die Soldaten kämen sicher nicht zu uns, denn Vater sei doch bei seiner Einheit in Budapest. – Schließlich standen die Soldaten doch in unserem Hof, angeführt von einem Filipowaer SS-Mann. Mutter wartete mit Franz im Arm und ihrem Bündel bereits im Hof. Wir fünf Kinder standen um sie herum. Wawi weinte, denn sie wusste um Vaters Versteck. Der Anführer des Trupps wollte seine Liste abhaken, aber er fand darauf nicht den Namen meines Vaters. Sie drehten ab und gingen weiter. Später haben wir darüber gerätselt, warum sie Mutter nicht mitgenommen hatten. Hatte die Einheit in Budapest noch nicht gemeldet, dass Vater nicht angekommen war ? Wahrscheinlich hatte sich der Filipowaer SS-Mann nicht vorstellen können, dass der »schwarze Briezetischtler« zur SS gegangen sei, deshalb führte er den Suchtrupp selbstverständlich in unser Haus. Als die Soldaten das Dorf wieder verlassen hatten, atmeten viele auf, denn sie dachten, sie würden die SS nie wieder zu sehen bekommen. Unser Vater verließ das Versteck und kam nachts durch die Gärten nach Hause. Am Sonntag, dem 15. Oktober war ich auf dem Weg zur Frühmesse, da sah ich, dass von Odschag her ein großer Trupp SS-Soldaten kam. Ich lief schnell nach Hause, um Vater zu warnen. Unser Haus war zu klein, um sich darin sicher verstecken zu können. Da es bereits hell war, konnte er auch nicht zum Bauern ins Versteck zurück. Da fiel meiner Mutter ein, dass eine Nachbarin mit ihren beiden Kindern zu ihrer Mutter gegangen war. Ihr Mann hatte sich schon vor zwei Jahren freiwillig zur SS gemeldet ; bei ihr würden sie sicher nicht suchen. Durch die Gärten konnte man praktisch ungesehen von
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hinten in ihr Haus gelangen. Vater schlich sich in den Schuppen ihres Anwesens. Mutter schickte mich in die Ortsmitte, um auszukundschaften, was passiert. Ich bin mehreren Trupps Soldaten nachgegangen und stellte fest, dass sie Serbisch miteinander redeten. Es waren aber SS-Soldaten. Ich beobachtete, dass sie fast nur in große Bauernhäuser gingen und öfter mit Pferden herauskamen. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie auch Männer oder Frauen mitgenommen hätten. Sie haben tags darauf das Dorf mit den Pferden wieder verlassen. Später erfuhr man, dass es Bosniaken von der SS-Division Handschar waren. Parallel zur Suchaktion der SS verlief auch die Auswanderung ins Reich. Da wir Jugendlichen wenig zu tun hatten, strolchte ich mit meinem Freund Sepp durchs Dorf, um zu sehen, wer auswanderte. Es herrschte damals eine ungeheuer traurige Stimmung im Dorf. Man traf immer wieder Grüppchen von Frauen beisammen, die beratschlagten, ob sie auswandern oder bleiben sollten. In Filipowa sind nur die größten Nationalsozialisten ausgewandert : von 5.300 Seelen waren es 567 Personen. Die schwer beladenen Pferdewagen trafen sich vor dem Gemeindehaus. Dann ging es Richtung Sombor, von dort nach Baja, wo die Donau überquert wurde, dann Richtung Österreich. Wenn die Menschen den Platz vor der Kirche verließen, weinten die meisten. In anderen Dörfern der Batschka sind sehr viel mehr ausgewandert als in Filipowa. In Miltitsch war es fast die Hälfte der Bewohner. Auf den Hauptstraßen Richtung Westen gab es Wagenkolonnen von bis zu 100 km Länge. Erschwerend war auch, dass die Reise in den Spätherbst und Winter fiel. Wenn meine Tante, die mit ihrer Familie ausgewandert war, später von ihren Leiden erzählte, war ich erstaunt, wie schwer es auch die Auswanderer getroffen hatte ! Am 21. Oktober zogen die Partisanen in Filipowa ein. Damit begann eine Schreckensherrschaft, die mit der Deportation fast aller Bewohner in Arbeits- und Konzentrationslager endete.
8. Schreckensherrschaft
Seit dem Einzug der Tito-Partisanen am 21. Oktober 1944 bis zu unserer Vertreibung am 30. März 1945 gab es in Filipowa eine Schreckensherrschaft. Über diese Zeit sind viele Erlebnisberichte publiziert worden65, deshalb will ich nur auf einige Vorkommnisse eingehen, die mir für das Verständnis der Situation der Menschen im Dorfe besonders aussagekräftig erscheinen. In Filipowa wurde zwar wenige Tage nach dem Einzug der Partisanen eine zivile Gemeindeverwaltung eingerichtet, aber bis Februar 1945 existierte eine Militärverwaltung. D. h. die Partisanen konnten die Dienste der zivilen Verwaltung in Anspruch nehmen, hatten aber auch das Recht, sie jederzeit zu übergehen und frei zu entscheiden. Als Precednik (Bürgermeister) war der Filipowaer Dobrovoljac (Freiwilliger) Josef Held, genannt »Schuster Joschi«, als Polizeikommandant der ehemalige Polizist und Sauhirt aus dem Nachbardorf Lalitsch, Djoko Lasič und als Gemeindesekretär Joco ( Jozo) Tatamir, ebenfalls aus Lalitsch, bestellt worden. Da die Deutschen bereits in der Konferenz von Jajce im November 1943 vom »Antifaschistischen Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens«, AVNOJ, zu »Volksfeinden« und »Vaterlandsverrätern« deklariert worden waren, galten sie praktisch als Vogelfreie. Es gab keinen irgendwie gearteten Rechtsschutz für sie. Wenn Serben damals irgendetwas gegen Donauschwaben unternahmen, wurden sie nicht zur Rechenschaft gezogen. Ich kannte in Miltitsch einen serbischen Knecht 65 Hier wären vor allem der 6. Band der Dorfmonografie von 1985 zu erwähnen sowie die Filipowaer Heimatbriefe ab 1962, das Heimatbuch von Anton Zollitsch von 1957 und die Dokumentation Bd. V von 1984.
144 : Schreckensherrschaft
namens Djoko, der mit einem Donauschwaben wegen dessen Frau in Streit geraten war. Djoko steckte mithilfe eines Freundes den Ehemann in den brennenden Kessel der Hanffabrik. Seine Tat war bekannt geworden, aber niemand hat gegen Djoko ermittelt. Es kam in diesen Monaten nach dem Einzug der Partisanen häufig vor, dass Slawen aus den Nachbardörfern mit Pferdewagen vorfuhren und die Häuser der Ausgewanderten ausräumten. Dies war zwar offiziell verboten, aber man ließ sie gewähren. Partisanen wiederum drangen vornehmlich nachts in die bewohnten Häuser und holten heraus, was ihnen passte, vor allem Wein und Schnaps. Es sind aber auch Personen auf diese Weise verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Filipowa lag zwar an keiner befestigten Durchgangsstraße, doch es kamen immer wieder Sowjetsoldaten auf ihrem Weg zur Front an der Donau ins Dorf. Sie requirierten vornehmlich frische Pferde, waren hinter Wein und Schnaps her und vor allem hinter Mädchen und jungen Frauen. Diese machten schwere Zeiten durch. Sie mussten, wenn sie nicht auf Robot waren, in Verstecken schlafen, um nachts nicht von Soldaten überrascht und vergewaltigt zu werden. Ein besonders tragischer Fall wurde erzählt. Sechs Sowjetsoldaten überraschten ein älteres Ehepaar mit ihrer erwachsenen Tochter. Die Soldaten vergewaltigten die junge Frau und ihre Eltern mussten zusehen. Ein großer Schock war es für die Dorfbewohner, als am 10. November 1944 eine 38-jährige Bäuerin, deren Mann beim Militär war, an der Gartenmauer des Pfarrhauses standrechtlich erschossen wurde. Es hieß, man habe auf ihrem Anwesen Waffen und Munition gefunden. Im Dorf wurde erzählt, die Frau habe aus Rache sterben müssen. Da ihr großes Haus neben dem Gemeindehaus lag, wurden bei ihr wiederholt Partisanen einquartiert. In der Nacht vor der Erschießung übernachtete bei ihr ein Partisanenoffizier. Hatte sie sich ihm verweigert ? Einige Patronen im Haus zu deponieren, war für ihn eine Kleinigkeit. Schon wenige Tage nach Errichtung der neuen Verwaltung musste der Kleinrichter (Austrommler) alle Arbeitsfähigen zusammentrommeln,
Schreckensherrschaft :
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um auf der »Heuwiese« Robot zu machen. Die Heuwiese war eine große Grasfläche, die in der Mitte zwischen Odschag und Filipowa lag. Sie diente gelegentlich als Flugplatz.66 Deutsche Truppen hatten den »Flugplatz« vor ihrem Abzug zerstört. Da es im Herbst sehr viel regnete, war der Platz für die sowjetischen Transportflugzeuge nicht brauchbar. So dirigierte man alle deutschen Robot-Kräfte an den Flugplatz in Sombor, denn dieser verfügte über eine feste Landebahn. Er diente fortan den Sowjets als Nachschubbasis für die Front in Bezdan/Batina. Vom Flughafen zur Front waren es nur knapp 30 Kilometer. Der Kleinrichter hatte fast täglich Arbeitskräfte für die Robot zusammenzurufen. Mal war es für den Flughafen in Sombor, dann für die Zuckerrübenernte, für Erdarbeiten und den Transport hinter der Front im Auwald der Donau, später in der Baranya hinter den Truppen. Mein Vater war selten zu Hause. Er kam gelegentlich, um Essen zu fassen und Kleider zu waschen, denn auf der Robot musste man sich fast immer selbst verpflegen. Anfang November kam die Verordnung heraus, dass alle Fahrräder, Radios, Schreibmaschinen, Motorräder und jegliche Uniform abgegeben werden müssen. Ich hatte im Sommer aus einem abgeschossenen Nachtjäger ein Funkgerät ausgebaut und mit nach Hause geschleppt. Zunächst haben wir es vergraben, aber meine Mutter bekam große Angst, da man schon für ein Stück Kabel aus einem Flugzeug große Scherereien mit den Partisanen bekam. Als mein Vater einmal nach Hause kam, zerschlug er das Funkgerät in kleine Stücke und Mutter trug es abends unter meinem kleinen Bruder Franz versteckt zum großen Fischwasser und warf alles hinein. Filipowa war von der Außenwelt vollkommen abgeschnitten : Es gab weder Radios noch Zeitungen, und den Ort durfte man nur mit 66 Während des Krieges wurden hier etwa 30 Stukas stationiert. Als diese mit den schnellen Jagdflugzeugen der Alliierten nicht mehr mithalten konnten, hatte man vier Nachtjäger auf die Heuwiese verlegt. Sie wurden aber alle vier an einem Nachmittag im Sommer 1944 von feindlichen Jägern abgeschossen.
146 : Schreckensherrschaft
schriftlicher Erlaubnis des Kommandanten verlassen. Nur wenige Bauern konnten noch eine Wintersaat ausbringen, denn die Pferde wurden ständig auf der Robot benötigt. Am 23. November kam mein Onkel, Seppvetter genannt, aus Miltitsch zu uns auf Besuch. Er hatte die Erlaubnis bekommen, seine kranke Mutter in Filipowa zu besuchen. Er war in Miltitsch Schlosser in der Motormühle und wurde deshalb nicht zu Militärdienst oder Robot verpflichtet. Er erzählte, dass Tag und Nacht sowjetisches Militär vor der Mühle Richtung Sombor und zur Front an der Donau vorbeiziehe. Die Mühle solle jetzt zwölf Stunden am Tag laufen, da sie für die Front arbeiten müsse. Sein Sohn Hans könne ihm nicht helfen, da er ständig auf Robot sei – Hans war damals sechzehn Jahre alt. Er fragte meine Mutter, ob er nicht mich mitnehmen könne, denn er hätte viel Arbeit für mich im Maschinenhaus. Ich war begeistert von dem Vorschlag, und Mutter war auch einverstanden, da sie mich los sein würde ; sie hatte oft Angst um mich, weil ich überall herumstrolchte. So z. B. war sie ganz entsetzt, als sie erfuhr, dass ich mit meinem Freund Sepp die Kugeln nach der standrechtlichen Erschießung an der Gartenmauer des Pfarrhauses ausgekratzt hatte. Mutter schnürte mein Bündel, und ich ging am 24. November nach dem Mittagessen mit Seppvetter zu Fuß nach Miltitsch. Der kommende Tag, der 25. November 1944, sollte als schwarzer und grausamer Tag in die Geschichte Filipowas eingehen. Da es zu diesem Ereignis viele Einzelheiten und lange Interpretationsgeschichten gibt, will ich kurz die wichtigsten Fakten darlegen und dann versuchen, eventuelle Hintergründe aufzudecken, die bisher noch wenig beleuchtet worden sind.67 1. Am Abend des 24. November rückt in Filipowa eine Brigade Partisanen und Partisaninnen ein (ca. 200 Personen), die offensichtlich aus 67 Wildmann Bd. 6, 1985 : 43 ff. Paul Pfuhl und Paul Mesli in den Heimatbriefen ab 1962, Anton Zollitsch 1972 : 180–182.
Schreckensherrschaft :
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der Gegend um Niš in Südserbien stammt. Noch am Abend trommelt der Kleinrichter aus, alle Robot entfällt am kommenden Tag, und die Leute haben zu Hause zu bleiben. 2. Bereits am frühen Morgen ist das ganze Dorf von Partisanen umstellt. Kein Mensch darf das Dorf verlassen. Morgens vermeldet der Trommler, dass sich alle Männer von 16 bis 60 unter Todesstrafe vor dem Gemeindehaus einzufinden haben, auch die Priester des Ortes. Um 9 Uhr sind etwa 350 Männer versammelt. Mehr gibt es nicht mehr im Ort ; sie sind entweder im Krieg oder auf entfernter Robot wie auch mein Vater. 3. Die Partisanen gehen ungemein rüde mit den Versammelten um. Alle sind mit Maschinenpistolen bewaffnet. Sie bauen sogar ein Maschinengewehr auf. Es wird bewusst ein Klima der Angst erzeugt. Die Männer haben sich in den umzäunten Kirchhof zu begeben und in Viererreihen aufzustellen. An einem Tisch werden die Personalien von serbischen Schreibern notiert. Es gibt zwei Kommandanten : einer wird Slavko genannt, der andere ist ein Ungar. Dorfkommandant Djoko aus Lalitsch schickt die Priester ans Ende der Reihe. 4. Jene, deren Personalien aufgenommen sind, werden zunächst in zwei Gruppen geteilt. Nach welchem Kriterium geteilt wird, ist nicht plausibel. Die besser Angezogenen, wie die beiden Ärzte, der Lehrer, der Apotheker, kommen zur größeren Gruppe. Später wird noch eine dritte, kleinere Gruppe gebildet. 5. Der Priester Anton Zollitsch, der gerade in seinem Heimatdorf weilt, sonst aber in Serbien stationiert ist, erkennt im Kommandanten Slavko seinen früheren Friseur in Serbien ; auch Slavko erkennt seinen ehemaligen Kunden. Er kommt zu Zollitsch und sagt ihm, er solle schleunigst im Pfarrhaus verschwinden. Dieser bittet, dass auch die beiden anderen Priester ihn begleiten dürfen. Slavko erlaubt es. Als Slavko hört, dass ein junger Bursche angibt, er sei Friseur, schickt er ihn nach Hause zu seiner Mutter ; auch einen anderen Jungen schickt er zu seiner Mutter.
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6. Als sich in der großen Gruppe 202 Personen befinden, sagen die Partisanen, sie brauchten nicht mehr viele. Die Partisanen legen es offensichtlich darauf an, wenigstens 200 Männer zu liquidieren. Die Männer der kleinen Gruppen waren der Meinung, dass sich in der großen Gruppe 240 Personen befänden, aber in Wirklichkeit sind es 212. 7. Als die Partisanen feststellen, dass die Zahl erfüllt ist, lassen sie die Männer in Viererreihen antreten ; dazwischen und an der Seite postieren sich Partisanen. Vorneweg reitet ein Anführer. Den Schluss des Zuges bilden Partisanen mit einer Tragbahre und Spaten. Der Zug setzt sich um 15 Uhr Richtung Odschag in Bewegung. Im Ort wird immer wieder über die Köpfe der Männer geschossen. Kein Mensch darf aus dem Haus kommen. Als der Reiter eine Salve abfeuert, scheut sein Pferd, und er erschießt sich selbst. 8. Die Männer der beiden anderen Gruppen werden in der Kirche eingesperrt. In der Nacht kommt ein Sowjetoffizier mit Schuster Joschi in die Kirche. Er sucht nach Funktionären des Kulturbunds und ehemaligen deutschen Soldaten. Auch andere Partisanen kommen und befragen die Männer. Um 5 Uhr in der Früh lässt man alle nach Hause gehen. 9. Die Gruppe der 212 macht auf der Heuwiese in der Nähe des RothSallaschs halt. Hier wurden die Männer sicher geschlagen und gefoltert, denn die Fahrer, die die Kleider abholen mussten, sagten alle aus, dass diese blutig waren. Dann mussten sie sich wahrscheinlich nackt ausziehen wie auch die tags zuvor Exekutierten aus der Gemeinde Odschag. Die Fahrer berichteten, dass sie auch frische Erdhaufen gesehen hätten. Ein Fahrer und sein Beifahrer waren Filipowaer. Monate später findet man zwei große Massengräber und ein kleines. Je nach Version sollen im kleinen vier oder sechs Personen gelegen haben, und es soll nur oberflächlich mit Erde bedeckt gewesen sein. Deshalb nimmt man an, dass diese vier bis sechs Personen die großen Gräber zuschaufeln mussten und erst dann liquidiert worden sind.
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Zu diesen Fakten kamen im Laufe der Monate und Jahre zahlreiche Aussagen und Gerüchte in Umlauf, die meist nicht der Wahrheit entsprachen. Mal hatte man einen der verschleppten Männer da, mal dort gesehen. Immer ging das Gerücht um mehrere Ecken, sodass die Aussage nicht nachprüfbar war. Man klammerte sich im Dorf an derartige »Legenden«, weil man sich nicht getraute, der grausigen Wahrheit ins Gesicht zu schauen ! Georg Wildmann schreibt in Band 6 (1985 : 46) : »Das Exekutionskommando … mußte bei den Ermordungen der Hodschager Männer vom 23. November 1944 [Verweis auf Pfuhl in Dok. V : 269 f.] zur Auffassung gelangt sein, daß es mannschaftsmäßig zu schwach sei. Es forderte daher von der Somborer Kaserne weitere 50 Mann an, die sich sämtliche aus Wojwodiner Serben, Slowaken, Bunjewatzen und Ungarn rekrutierten. Diese Wojwodiner wußten offenbar zunächst nicht, um was es eigentlich ging.« Die meisten dieser Wojwodiner Gruppe hätten sich auch geweigert mitzumachen. Gerade von ihnen stammen zahlreiche Nachrichten über das grausige Geschehen jener Nacht. Ich frage mich, wie schnell damals eine Gruppe von 50 Mann in Sombor angefordert und bis zur Exekution in der Nacht vom 25. auf den 26. November auf der Heuwiese sein konnte. Selbst wenn zwei Lkws in Sombor in Bereitschaft gestanden hätten, wären die nur bis Odschag gefahren (35 km) und die Mannschaft hätte zu Fuß auf der aufgeweichten, tiefen Lehmstraße bis zum Roth-Sallasch laufen müssen.68 Es wird auch erwähnt (S. 47), dass »ein Slowake aus Selentscha … noch in der Nacht auf der Heuwiese mit dem Wagen vorfahren [mußte], um die Kleider aufzuladen«. Andererseits wird gesagt, die Kleider wurden morgens von Lagerkutschern abgeholt. Die Aussagen der Wojwodiner mögen wahr sein, aber manches scheint hier nicht so recht zusammenzupassen. Es 68 Die Partisanen verfügten damals kaum über die nötigen Lkws. Eine plausible Erklärung könnte sein, dass die an die Front ziehenden Sowjets ihnen welche zur Verfügung gestellt haben.
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fällt auf, dass alle Wojwodiner, die eine Aussage machen, beteuern, weder am Foltern noch am Töten beteiligt gewesen zu sein. Wenn sie aber nachts auf die Heuwiese beordert worden sind, konnten sie nicht ahnungslos gewesen sein über das, was sie dort erwartete. In Filipowa fand schließlich das letzte und größte Massaker statt (Wildmann 1985 : 46), das in den deutschen Dörfern der Batschka verübt worden ist. Sie hatten sicher bereits von den anderen Massakern gehört.69 In Karbok war angeblich ebenfalls ein Massaker geplant. Zunächst präsentierten die Partisanen dem Precednik von Karbok eine Liste von 170 Personen, die sie wegführen wollten. Er weigerte sich, dies zuzulassen. Sie hätten sich dann mit einer Streichliste von 30 Personen zufriedengegeben, aber auch die lehnte er ab. Schließlich seien sie abgezogen. Ich kann mich nicht erinnern, diese Geschichte gehört zu haben, als ich 1945/46 bei meinem Onkel in Karbok lebte. Mein Onkel als Pfarrer von Karbok hätte sie sicher gekannt. In den Berichten über Filipowa wird wiederholt die Frage gestellt, ob die Exekution, so wie in Karbok, nicht hätte verhindert werden können.70 Man scheint sich darin einig zu sein, dass die Hauptschuld dafür beim damaligen Bürgermeister Schuster Joschi liege. Der damals 16-jährige 69 In einem nicht gezeichneten Bericht in Bd. 6, S. 88 wird gesagt, dass »im Laufe des Vormittags [des 26. 11. 1944] in Filipowa an die 50 Kutscher vom Gemeindeamt verständigt [wurden]. Sie mußten mit ihren Wagen nach Hodschag fahren, von wo sie jenen Teil der Partisanen, der als Verstärkung dem Liquidationskommando der ›Kraijiska Brigada‹ beigegeben worden war, wieder nach Sombor zurückbringen mußten.« Hat man denn schon am Morgen des 26. November wieder 50 Gespanne mit Kutschern in Filipowa auftreiben können ? Oder hat man alle Männer, die nachts über in der Kirche waren und um fünf Uhr entlassen worden sind, gleich wieder auf Robot geschickt ? Ich frage mich auch, wieso man für 50 Wojwodiner 50 Wagen benötigte ? Haben sie vielleicht das Liquidationskommando selbst nach Sombor gefahren ? Dies hatte sich offensichtlich in der Nacht nach Odschag zurückgezogen. Nach meiner Meinung sind diese Gerüchte in sich nicht stimmig. 70 Ich frage mich auch, weshalb die Brigade in Karbok eine Liste verlangt und, als der Precednik keine aufstellt, unverrichteter Dinge wieder abzieht. In Filipowa macht sie sich doch selbst eine Liste.
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Paul Wildmann – er war die Nacht über in der Kirche eingesperrt – machte folgende Aussage : »Um drei Uhr früh kam dann der Polizeichef [Djoko] und lief dann paarmal zwischen den Bänken [der Kirche] hin und her … und er sagte dann
auf Deutsch : ›Daß die 242 fort mußten, ist der Joco [Schuster Joschi] schuld. Und warum ? Nur wegen solcher‹ er zeigte dann auf die zwei, die
er vorn hatte. Die waren große Sportmänner. Er sagte : ›Da, eure Bunda-
schi [Kulturbundmitglieder] !‹ Er ließ die beiden vor allen niederknien …« (Dok. V : 268, FN 5).
Nach den Tagebuchaufzeichnungen von Katharina Binder, »Johler Kathi«, hatte in den späteren Jahren Georg (Gregor) Eichinger (er war als Antifaschist nicht ins Lager gekommen) »in Neusatz beim Kriegsgericht Nachforschungen unternommen. Er konnte die Liste der Verschleppten [Liquidierten] ausfindig machen und zur Einsicht bekommen. Die Liste war von Josef Held [Schuster Joschi] und Lazitsch Djoko unterzeichnet, womit sie bezeugen, daß alle Hingerichteten Faschisten gewesen wären …« (HB 2, 1962 : 6/7). Etwas weiter heißt es : »Auf dem Rückweg [von Hodschag] ging Eichinger auf den Roth-Salasch, konnte aber nur noch Fußspuren wahrnehmen.«71 Dass Djoko und Joschi die Liste unterschrieben haben, ist nicht verwunderlich. Djoko war fast Analphabet und wusste wahrscheinlich gar nicht genau, was er unterschrieb. Er war nicht gut auf die Sportmänner und die führenden Bundaschi (Kulturbündler) zu sprechen. Man hat aber oft gehört, dass er bei wichtigen Anliegen uns Deutschen entgegengekommen ist.72 71 Ich habe große Zweifel, dass dieser Text aus Binders Tagebuch stammt. Er beschreibt Ereignisse aus einer Zeit, als Frau Binder bereits außer Landes war. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass es sich um Gregor und nicht um Georg Eichinger handeln muss. Wie man nach Jahren auf der Heuwiese oder auf dem Roth-Sallasch »noch Fußspuren wahrnehmen« konnte – ich nehme an, der Liquidierten –, ist mir ein Rätsel. 72 Paul Mesli schreibt in seinem Tagebuch vom 6. April 1945 : Ein Kollege berich-
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Schuster Joschi war ein Überläufer – er ist am Ende des Ersten Weltkriegs zu den Serben übergelaufen ; deshalb wurde er von Serben wie von Deutschen kritisch beäugt. Er hatte bei keiner Seite eine wirkliche Autorität. Hätte er sich intensiv für uns eingesetzt, wäre er bald dort gelandet, wo wir waren. Jene, die die Seite wechseln, müssen immer mehr als nur 100 Prozent bringen, sonst geraten sie in Verdacht.73 Ein Vergleich mit dem Precednik von Karbok ist unangebracht. Bei Katharina Binder heißt es : »In Karawukowo ist diese mörderische Aktion an der unerschrockenen Haltung des Gemeinderichters und Notars gescheitert …« (HB 2, 1962 : 6). – Dieser Herr in Karbok war ein gebildeter Serbe, der auf Gesetz und Ordnung schaute. Ich habe lange Zeit in seinem Haus jeden Tag die Milch für uns geholt. Der Mann hatte Autorität, er konnte sich Partisanen entgegenstellen, aber nicht Schuster Joschi. Umsonst heißt es nicht im Volksmund : »Jeder Verräter wird auch mal verratzt !« Doch diese Detailfragen sind in dem Zusammenhang nicht so wichtig. Dass die Männer gefoltert worden sind, scheint sicher zu sein. Ein Knecht des Roth-Sallaschs erzählte – er hieß angeblich Michael Sücs (wohl Szücs) und stammte aus Gombos/Bogojevo (also ein Ungar) –, er habe die Filipowaer nachts schreien gehört. Von der Odschager Exekution der 170 oder 180 Männer konnte ein Herr Mai splitternackt in finsterer Nacht entkommen. Er erzählte 1945, wie die Odschager Männer von derselben Partisanen-Brigade zu Tode geprügelt oder erschossen worden sind. Kaplan Josef Pleli aus Odschag hat davon meinem Onkel in Karbok erzählt. tet, dass »Dioko Lasić, unser bisheriger Partisanenkommandant, Serbe aus Lalitsch, zum Kommandanten über die Kutscher und die Arbeiterbrigade bestellt worden sei. Er ist ein langjähriger Kommunist mit falschem und hinterlistigem Charakter. Von Beruf war er zunächst Schweinehirt, später, etwa 1936, meldete er sich zur Ortspolizei von Filipowa« (Band 6 : 103). 73 Schuster Joschi war zeitlebens eine tragische Gestalt. Widrige Umstände hatten ihn dazu gemacht. Wahrscheinlich hätten viele Filipowaer, wären sie in eine gleiche Situation geraten wie er, nicht anders gehandelt. Eine kurze Vita und eine Angabe zu seinem Tod gibt es in Band 6 (1985 : 124/125). Mir war er bekannt, weil er jeden Monat den Stromverbrauch ablesen gekommen ist.
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Dr. Wildmann widmet den Hintergründen der Exekution in Band 6 breiten Raum. Er schreibt : »Die tieferen Ursachen für den partiellen Völkermord an den Donauschwaben Jugoslawiens … liegen im großserbischen Nationalismus« (1985 : 50). Dies mag durchaus ein Grund unter anderen gewesen sein, um gegen die Donauschwaben vorzugehen. Doch in jüngster Zeit werden immer mehr große Massaker aus der damaligen Zeit aufgedeckt, die nicht Minderheiten gegolten haben, sondern Gegnern des kommunistischen Regimes. Die Partisanen haben auf Befehl von oben die Säuberungen durchgeführt. Am 15. April 2009 erschien in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein Artikel, in dem Karl-Peter Schwarz über Massaker in Slowenien an Gegnern des Regimes berichtete. Abertausende Slowenen und Kroaten wurden von Partisanen liquidiert ; zum Teil auch mithilfe der Briten in Kärnten. Schwarz schreibt in dem Artikel : Die britischen Truppen, die Kärnten besetzt hatten, »übergaben [den Partisanenverbänden] … die geflüchteten und entwaffneten Kroaten und Slowenen. Die Kosaken wurden an Stalin ausgeliefert« (Nr. 87 : 7). Da die Deutschen pauschal zu »Landesfeinden« und »Volksverrätern« erklärt worden waren, war eine Einzelfallprüfung ihrer Schuld überflüssig, denn sie besaßen keine Rechte mehr in Jugoslawien. Milovan Djilas schreibt in seinem Buch »Der Krieg der Partisanen« (Wien 1978), dass es nach der Befreiung der Wojwodina nur mehr um die Minderheit der Magyaren ging, »da das Schicksal der deutschen Bevölkerung sozusagen vorbestimmt war« (nach Wildmann, Bd. 6, 1985 : 50). Ein weiterer, nicht unwesentlicher Grund für die Vertreibung und Liquidierung der Deutschen war wirtschaftlicher Natur. Die Donauschwaben besaßen die weitaus ertragreichsten Felder Jugoslawiens. Dass sie diese Felder erst aus häufig überschwemmtem Weideland gewonnen hatten, interessierte die Serben nicht. Sie reklamierten diesen Boden als ihr angestammtes Land. Bei der Landreform nach dem Zweiten Weltkrieg ging es vor allem um das Ackerland der Donauschwaben. Auch jene Donauschwaben, die wegen ihrer antinationalsozialistischen Haltung und Aktivitäten nicht in die Lager gekommen waren, gingen ihrer
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Häuser und Ländereien verlustig. Die nationalsozialistische Weltanschauung zahlreicher Donauschwaben war wohl nur eine der Ursachen ihrer Vertreibung und der Konfiskation ihrer Güter. Autoren von Dokumentation V äußern die Vermutung, »daß es förmliche Exekutionseinheiten der Partisanen gab, die von einer donauschwäbischen Ortschaft zur anderen zogen, um dort ihre Sonderaufträge zu erfüllen« (92E). Diese Vermutung stützt sich auf zahlreiche Fälle von Exekutionen im Banat und in der Batschka,74 die alle nach gleichem Muster abliefen. Die Meinung, die in Dok. V (92E) in Fußnote 9 geäußert wird, dass »Zigeuner als Handlanger ausgenützt« worden sein sollen, kann ich nicht teilen ; ich habe nie davon gehört. Es brauchte keine Zigeuner für die Drecksarbeit ! Ich sehe in solchen Andeutungen ein rassistisches Vorurteil. Ich habe zwar keine Exekution persönlich gesehen, aber etliche Zigeuner-Partisanen kennengelernt. Sie waren nicht gehässiger oder grausamer als die anderen. Dass meine Familie nachts aus dem Lager Gakovo entfliehen konnte, verdankt sie dem Wohlwollen eines Zigeuner-Postens.75 Gegen Ende der Diskussion über die 212 Verschleppten stellt Wildmann die Frage, ob nicht vielleicht auch »Wachsoldaten aus Filipowa bei ihrem Dienst im jugoslawischen Raum Grausamkeiten an Zivilisten begangen hätten …« (Bd. 6, 1985 : 53). Er verweist dann auf die Andeutung bei Anton Zollitsch (1957 : 175), wo es heißt : »Die Begeisterung über den deutschen Vormarsch blieb unvermindert. Es
gab Burschen, die nach Belgrad flüchteten, um sich dort den deutschen
74 Es hat auch unter Ungarn und Slawen solche Massaker gegeben. 75 Bei der Lektüre von Dokumentation V habe ich wiederholt den Eindruck, dass etliche Autoren ihre nationalsozialistischen Überzeugungen noch nicht abgelegt haben. Das kann auch nicht verwundern, wenn man weiß, dass Fritz Valjavec und Johann Wüscht daran maßgeblich beteiligt waren ! Ich frage mich bisweilen, in welchem Umfang von diesen Autoren Berichte zurechtgebogen wurden, um sie für ihre natio nalsozialistische Idee »passend zu machen«.
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Stellen freiwillig zur Verfügung zu stellen. Zwei von ihnen (aus Filipowa) hatten sich besonders hervorgetan, und ihre Taten wurden damals von den
Serben registriert ; 1944 kam dafür die Rückzahlung.«
Ich bin wahrscheinlich einem dieser Burschen ganz zufällig bei meinem Onkel Franz, dem »Damenschneider« in Filipowa, begegnet. Als 1943 feststand, dass ich im Herbst in Szabadka ins ungarische Gymnasium gehen würde, nahm mich meine Mutter mit zu ihrem Bruder, damit er mir für die Stadt die nötigen Kleider mache. Mein Onkel Franz hatte einen guten Ruf als Schneider. Als wir an einem Nachmittag zu ihm in die Werkstatt kamen, war gerade ein junger SS-Soldat in Uniform bei ihm, um sich einen Anzug anmessen zu lassen. Während wir warteten, bis mein Onkel mit dem Soldaten fertig war, wurden wir Zeugen, wie dieser junge Mann über seine »Heldentaten« schwadronierte. Er nahm seine Pistole aus dem Halfter, zeigte sie meinem Onkel und prahlte, dass er im Lager mit dieser Waffe soundso viele Menschen erschossen habe.76 Meine Mutter und ich waren darüber sehr erschrocken. Als der Soldat gegangen war, sagte meine Mutter zu ihrem Bruder : »Solche Leute kommen zu dir ins Haus ?« Und mein Onkel darauf : »Oh, es gibt noch mehrere von dieser Sorte. Unlängst war der Sohn von XY [er nannte einen Namen] hier, der auch in einem Lager stationiert ist. Der sagte : ›Wir haben sie [die Lagerinsassen] mit Ketten totgeschlagen.‹«77 76 Die von ihm genannte Zahl ging in die Tausende ; das war sicher gewaltig übertrieben. Aber wenn dieser Bauernbursche auch nur einen oder zwei Menschen erschossen hat, ist es schon ungeheuerlich ! 77 Die Familiennamen der beiden Soldaten sind mir bekannt. Da diese Namen in Filipowa häufig vorkamen, konnte ich sie nicht bestimmten Personen zuordnen. Mein Vater kannte die Familien der beiden. Er konnte mir aber nicht sagen, wo sich die beiden Soldaten nach dem Krieg aufgehalten haben. Meines Wissens konnte auch nie in Erfahrung gebracht werden, wo sie nach dem Krieg geblieben sind. Eine intensive Suche nach ihnen hat aber, soviel ich weiß, nie stattgefunden. Hatte man vielleicht Angst vor einer eventuell unangenehmen Wahrheit ? Einmal hörte ich, der eine sei gefallen und der andere vermisst.
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Wie man später erfuhr, haben diese beiden Soldaten auch sonst mit ihren Taten im Dorf geprahlt. Die meisten Leute, und dazu gehörte auch mein Vater, haben den beiden die hohen Zahlen nicht geglaubt, aber mein Vater war überzeugt, dass sie Lagerinsassen umgebracht haben. Es könnte sein, dass er seine feste Überzeugung aus einer Erzählung seines Freundes Paul Mesli hatte. Herr Mesli war von Beruf Friseur und hat ein Tagebuch geführt. Er erzählte mehreren Personen folgende Geschichte : Als er 1945 in Odschag im Lager war, hatte er einem Partisanenoffizier die Haare zu schneiden. Als dieser erfuhr, dass Mesli aus Filipowa stammte, fragte er, ob er auch den XY kenne. Als er bejahte, sagte der Partisan, dann wisse er auch, weshalb das Massaker in Filipowa von den Partisanen verübt worden sei. Der Offizier hatte den Namen jenes Soldaten genannt, den ich bei meinem Onkel kennengelernt hatte. Einen interessanten Beitrag zu dieser Frage steuert der langjährige Chefredakteur der Wochenzeitung »Neuland«, Adalbert Karl Gauß, bei. Er stützt sich auf die Publikation des bereits erwähnten serbischen Arztes Dr. Dragomir S. Stevanović, eines »liberalen Intellektuellen«, der 1942 von der Gestapo verhaftet und über Belgrad ins Konzentrationslager nach Semlin gebracht worden war.78 »Es war, wie er schreibt, eigentlich üblich, daß die Neueingewiesenen ›von einer Horde mit Prügeln‹ empfangen wurden … Dann bemerkte er : ›Alle sprachen Serbisch … Es handelte sich durchwegs um einheimische Deutsche.‹« Stevanović schildert dann, dass 7.500 Juden sowie 600 Zigeuner und Serben ins Lager eingeliefert worden sind. Hierauf fährt er fort : »Auf diese zerschlagene Masse stürzte sich die Meute der Volksdeutschen, prügelte drauflos und hinterließ in den Tümpeln auf dem Gelände einen Haufen zerschmetterter Schädel und Leichen.« – »Konsterniert und 78 Ich zitiere die Ausführungen von Stevanović aus dem Essay von A. K. Gauß, »Eine apokalyptische Prophezeiung«, in : A. K. Gauß, Ein donauschwäbischer Publizist, 1983 : 41–44. Angaben zum Büchlein von Dr. Dragomir S. Stevanović : Sura Grobnica (Die braune Gruft), London 1967 : 13/14.
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entgeistert fragt sich Stevanović : ›Ist es möglich, daß die Deutschen, geboren und aufgewachsen unter uns … mit derartigem Haß durchtränkt und so blutrünstig waren ? Ist es denn möglich, daß der zahme Gewerbetreibende und der gutmütige Landwirt, der Nationalität nach Germanen, in solchem Ausmaß verwildern, daß sie sich in blutrünstige Bestien verwandeln konnten ?‹« »Dann räsoniert Stevanović darüber, daß diese Verbrechen nicht ohne Folgen bleiben werden … ›viele besonnene und ehrliche Deutsche, die Hitler
ebenso verabscheuten wie wir‹«, werden sich beunruhigen. »›Aber nichts wird sie vor dem Sturm der Vergeltung retten, wenn Hitler fällt …‹ Eine
apokalyptische Prophezeiung« (Gauß 1983 : 43/44).79
Betrachtet man die Prahlerei der beiden Filipowaer SS-Soldaten vor dem eben geschilderten Hintergrund, dann handelt es sich wahrscheinlich nicht nur um Prahlerei, sondern um Taten mit einem realen Hintergrund. Ich vermute, dass die beiden gleich nach der Besetzung der Batschka durch die Ungarn 1941 nach Belgrad geflohen sind und sich freiwillig zur SS gemeldet haben. Als mir Paul Mesli gegen Ende der 1950er-Jahre in Wien seine Pläne für eine umfangreiche Ortsmonografie vortrug – ich war damals noch Student –, antwortete ich ihm : »Paulvetter, wenn es sich um eine Ortsgeschichte handeln soll, dann muss auch der Zerfall der Ortsgemeinschaft durch die Einwirkungen des Nationalsozialismus eingehend zur Sprache kommen.« Paulvetter war ein friedvoller Mensch und weiß Gott kein Nazi. Er antwortete mir : »Joschi, das können wir nicht tun, denn wir 79 Dass es während der deutschen Besetzung Jugoslawiens solche Lager gab, wusste ich bereits als zehnjähriger Bub. Aber welcher unserer viel zitierten donauschwäbischen Autoren, angefangen von Beer, Janko, Senz bis Wüscht, hat diese Zustände auch nur mit einem Wort erwähnt ? Keiner ! Sie haben sich ausschließlich auf die Übergriffe der anderen konzentriert. Oder waren diese selbst ernannten »Historiker« derart uninformiert und wussten von diesen Lagern nichts ?
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würden alte Wunden aufreißen und die Hälfte des Dorfes wäre gegen so ein Buch.« – So hat man um der Harmonie in der Dorfgemeinschaft willen einige Vorkommnisse ausgeklammert und Namen verschwiegen. Eine solche Haltung trägt freilich nicht dazu bei, das »dunkle Jahrzehnt« heller zu machen. Eine »Volks- und Heimatgeschichte« ergibt sich aus einer solchen Einstellung nur schwerlich. Die Sache mit den beiden SS-Soldaten wurde in Filipowa in keiner Publikation weiterverfolgt, auch nicht in Band 8 der großen Dorfmonografie, die vom Zeitraum von 1914 bis 1944 handelt (1999). Es waren zwar die angeblichen Untaten der beiden den meisten Erwachsenen mehr oder weniger bekannt, aber Nachforschungen über ihren Wahrheitsgehalt hat man wohl nie angestellt. Es scheint, dass beide SS-Soldaten nicht aus dem Krieg zurückgekommen sind. Jener, dem wir bei meinem Onkel begegnet sind, gilt angeblich als vermisst. Einer der wenigen Filipowaer, die es wagten, öffentlich nach der Schuld der Donauschwaben an ihrer Katastrophe zu fragen, war der Filipowaer Jesuitenpater Philipp Johler, jüngerer Bruder von Matthias Johler, dem Lagerseelsorger von Gakovo. Er hatte sein gesamtes Studium in Kroatien absolviert und war 1948 zum Priester geweiht worden. Er war der Letzte, der in der Kirche zu Filipowa 1948 seine erste heilige Messe gefeiert hat. In einem Vortrag in Stuttgart führte Pater Johler Anfang der 1960erJahre aus : »Es zeigt sich eine Tendenz, die Verantwortung einfach abzustreiten oder
abzuwälzen. Diese Schuld zur Gänze auf den ›kommunistischen Erbfeind‹ abzuwälzen, ist wohl nicht schwer ; den restlos Unschuldigen zu spielen, ist
einem jeden angeboren …
Man ist gerührt von dem Aufbäumen einiger unserer Landsleute ge-
gen das Einbekenntnis wenigstens eines Teiles der eigenen Verantwortung.
Man fürchtet gerichtet zu werden, wo wir doch so geschlagen sind. Als in dem Heimatbuche (Zollitsch : Filipowa, 1957) ohne persönliche Angriffe
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die Vermutung aufgestellt wurde, daß wir Schwaben nicht ganz unschuldig
an unserem Schicksal seien, entgegneten einige mit Entrüstung, der Verfasser setze sich über ein ganzes Volk und seine Traditionen, Vergangenheit
und Ehre zu Gericht und bedenke nicht, daß er mit seinen Zeugenaussa-
gen und seinem priesterlichen Wort eine fürchterliche Waffe in die Hände
der Gegner spiele …
Eine andere Art von Schuldabwälzung ist der Ruf nach Vergessen,
Begraben, Überbrücken. Man dürfe nur das Heldenhafte und Große
hervorheben und müsse das elende menschliche Versagen verschweigen.
Menschen, die früher das Trennende anpriesen, sind heute bedacht, das
Bindende gelten zu lassen. Das Schicksal der Hunderttausend ist so blutig, daß niemand mitschuldig sein will …
Tatsächlich verfiel ein Teil von uns in jene heillose Begeisterung, die sie
dann zu einem äußeren Benehmen, Reden und Auftreten hinriß, dessen
sie sich heute schämen. Die ganze Art war ein unglücklicher Import …
Eine restlose Bejahung von roher Gewalt, die Rechtfertigung von Rassenhaß und Massenmord, das gegenseitige Beschmutzen und die Bezeichnung der politischen Gegner als ›Juden‹ – das alles war nicht nur artfremd,
sondern glatte Absage an Geist und Tradition unseres Donauschwabentums« (HB 5, 1965 : 17–19).
Da im Oktober und November 1944 in zahlreichen Ortschaften des Banats und der Batschka Massaker verübt worden sind, ist jenes von Filipowa sicher nicht an erster Stelle auf die Untaten dieser beiden Burschen zurückzuführen, so sie diese überhaupt begangen haben. Sollten sie aber in den Lagern tatsächlich Menschen gefoltert oder gar getötet haben, könnte die Schwere des Massakers von Filipowa dadurch beeinflusst worden sein. Man muss sich auch fragen, warum das Kommando gerade in Filipowa auf wenigstens 200 Männern bestanden hat. Mein Vater war dem Massaker nur deshalb entronnen, weil er am 25. November hinter der Front an der Donau auf Robot war. Als er kurz vor Weihnachten wieder nach Filipowa kam, erfuhr er, dass er an Weih-
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nachten auf eine weit entfernte Robot gehen müsse. Er solle Essen und Kleidung für zwei Wochen mitnehmen. Da auch alle Mädchen und jungen Frauen ab 18 Jahren, die keine Kleinkinder hatten, diese »Einberufung« bekamen, war klar, dass es eine weite Reise sein würde. Sie dauerte für meinen Vater fünf Jahre und begann zunächst in den Kohlengruben im Donezk-Becken, in Woroschilowgrad, der Sowjetunion. Fast ein Viertel der Deportierten ist nie wieder zurückgekommen. Da Vater die lange Reise ahnte, kam er am Tag vor Weihnachten nach Miltitsch, um sich zu verabschieden und mich nach Hause zu holen. Weihnachten feierten wir noch alle zusammen, so gut es ging. Am dritten Weihnachtstag nahm er den Holzkoffer und einen Sack mit Essen und ging zum Zug. Am 8. Dezember 1949, nach fast fünf Jahren, kam er wieder zu uns. Inzwischen hatten wir uns in der Steiermark (Österreich) niedergelassen.
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1 Die Kirche von Filipowa mit Dreifaltigkeitssäule. Kirche und Kreuze existieren seit den 1960er-Jahren nicht mehr.
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2 Der Autor als Gymnasiast
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3 Vater Balthasar Thiel (links) mit Nachbar Johann Gruber (»Hansvetter«) im Mai 1948 in einem sowjetischen Arbeitslager bei Woroschilowgrad. Beide sind nach fünf Jahren nach Österreich entlassen worden.
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4 Die gesamte Familie traf sich zum ersten Male im Spätherbst 1954. Die kleine Schwester war in Fürstenfeld (Stmk.) geboren worden. Der Autor war damals Student der Theologie und Ethnologie.
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5 Cousin Robert Zollitsch im Juni 1960 als junger Student der Theologie mit Hedwig und Notburga Thiel in Fürstenfeld
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6 Die Eltern im Juni 1989 am Tag ihrer Eisernen Hochzeit. Mutter starb 1993 und Vater 2000.
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7 Prälat Alexander Thiel, »Onkel Sándor«, ehemaliger Pfarrer von Karbok im Juni 1989. Er starb am 1. Oktober 1989. 8 Der Autor J. F. Thiel kurz vor seiner Pensionierung 1998
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9 Unter großer Anteilnahme kirchlicher, staatlicher und Filipowaer Repräsentanten wurde im Juni 2011 auf den Massengräbern der 212 liquidierten Männer aus Filipowa dieses Denkmal von Erzbischof Robert Zollitsch eingeweiht. (Foto: Agnes Kupferschmidt)
9. Fastenzeit und Ostern 1945
Seit mein Vater mit dem Transport zum Arbeitseinsatz in die Kohlengruben der Sowjetunion gebracht worden war, ließ mich Mutter nicht mehr für längere Zeit nach Miltitsch, wo ich im Herbst 1944 bei Seppvetter in der Mühle gewesen war. Ich hatte in ihrer Nähe zu bleiben, denn sie spürte, dass unsere Situation in Filipowa immer prekärer wurde. Zu Beginn des Jahres 1945 wurde das Dorfleben von Filipowa immer gespenstischer : Die arbeitsfähigen Männer waren praktisch alle verschwunden und ebenso die jüngeren Frauen und Mädchen, sofern sie nicht schwanger waren oder Säuglinge an der Brust hatten. Arbeitskräfte für die Robot konnten im Dorf kaum noch ausgehoben werden, außer einigen Deserteuren, die sich bis nach Hause durchschlagen konnten. Da dennoch Bedarf an Arbeitern bestand, wurde auf immer jüngere und ältere Jahrgänge zurückgegriffen. In vielem glich die Vorgehensweise den Aushebungen des Volkssturms in den letzten Kriegstagen. Der Kleinrichter ging jede Woche mehrmals durch den Ort, um Arbeitskräfte für die Robot zu mobilisieren. Es lag eine ungemein traurige und angespannte Stimmung über dem Dorf. Ein Gerücht jagte das andere über die 212 verschleppten Männer vom 25. November des vergangenen Jahres. Noch war nicht durchgesickert, dass sie in der Nacht zum 26. November auf bestialische Weise auf der Heuwiese nahe dem Roth-Sallasch umgebracht und in Massengräbern verscharrt worden waren. Auch über den Aufenthalt der zwei Weihnachtstransporte in die Sowjetunion kursierten täglich neue Falschmeldungen. Man hörte zwar die Nachricht, die Deportierten seien nach Russland gebracht worden, aber diese Schreckensmeldung wollte niemand glauben. Man wandte sich lieber angenehmeren Gerüchten zu,
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die besagten, dass sie irgendwo in Südserbien oder in Westungarn hinter der Front einen Flugplatz instand setzen müssten. Oft kamen Frauen, deren Töchter mit im Transport meines Vaters waren, um sich zu erkundigen, ob meine Mutter nicht mehr wüsste über den Verbleib unseres Vaters, denn schließlich hatte sein Bruder, mein Sándor-Onkel, durch sein Studium in Kroatien und Bosnien viele Freunde und ehemalige Klassenkameraden unter den zur Zeit Herrschenden. Einmal sprach mich im Dorf eine Frau an, deren Tochter im Transport meines Vaters war, und sagte : Ihr einziger Trost sei, dass verantwortungsvolle Männer wie mein Vater bei der Gruppe ihrer Tochter seien ; die würden die jungen Frauen und Mädchen sicher vor den Russen beschützen. Als ich meiner Mutter von dieser Begegnung erzählte, fragte sie nach, ob ich mich nicht in der Person täusche und es wirklich jene Frau war, die ich ihr genannt hatte. Als ich bei meiner Meinung blieb, meinte sie : »Komisch, die hot mr doch schun jôôrelang nimmi die Zeit botte [d. h. nicht mehr guten Tag gesagt], und ihre Tochter spielte eine führende Rolle beim ›Bund Deutscher Mädchen‹.« Die Fastenzeit begann in Filipowa am Aschermittwoch mit dem Aschenkreuz, Äschetippili genannt. Es wurde morgens nach dem Gottesdienst ausgeteilt. Am Faschingdienstag nachmittags und abends fanden in früheren Jahren immer Tanzveranstaltungen und ein Ball statt. 1945 dachte niemand an solche Lustbarkeiten ; es gab ja nur mehr Kinder, Alte und Frauen mit Kleinkindern im Dorf. Selbst der Brauch, dass am Aschermittwoch die Burschen die Mädchen mit schwarzer Paste einschmierten, fand in diesem Jahr keine Teilnehmer. Alle Welt spürte, dass eine Katastrophe großen Ausmaßes bevorstand, aber niemand wusste, wie und wann sie eintreten würde. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie es in einem großen Dorf zugeht, das fast ganz von der Außenwelt abgeschnitten ist, das man nur mit schriftlicher Erlaubnis der Behörden verlassen darf, wo weder Radio noch Zeitungen zur Verfügung stehen, in dem fast täglich von einer
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feindseligen Macht restriktive und vielfach unerfüllbare Forderungen verlautbart und irreführende Gerüchte gestreut werden. Man holt nachts Menschen aus ihren Häusern und sie verschwinden ohne Angabe von Gründen, andere wiederum werden arretiert und wegen angeblicher Vergehen standrechtlich im Dorfzentrum erschossen. Schlimmer als der Terror selbst war vielleicht noch das bange Warten auf eine endgültige Entscheidung. Alle Welt spürte, dass etwas Schlimmes bevorstand, aber wie sollte man Gerüchte von realen Informationen unterscheiden ? Von oben wurden nicht selten falsche, auch positive Informationen gestreut, die dann nicht eintrafen. Auf diese Weise verunsicherte man die Menschen. Es war im Grunde Psychoterror. Die Herrschenden waren geradezu bemüht, den Menschen eine Balance zwischen Untergang und Hoffnung vorzugaukeln. Das zermürbte sie. Wer die Hoffnung aufgibt, verfällt in Apathie und stirbt ; doch dies war damals nicht im Sinne des Tito-Regimes. Die Menschen sollten weitervegetieren und leiden, bevor sie in den Lagern zugrunde gingen. Wenn es in einem Haushalt keine Großeltern mehr gab, hatten vor allem junge Frauen mit Kindern Angst, nachts allein zu bleiben. Sie gingen häufig zu Bekannten oder Verwandten schlafen. Andererseits war es nicht ratsam, die Häuser nachts unbeaufsichtigt zu lassen, denn es trieben sich immer wieder Serben aus Nachbardörfern im Ort herum, die leer stehende Häuser ausplünderten. – Mägde und Knechte waren weggezogen ; die slawischen hatten schon längst den Ort verlassen. Einige von ihnen hatten jetzt hohe Positionen in der Gemeindeverwaltung inne. So z. B. war der ehemalige Sauhirt und Hilfspolizist Djoko Lasić oberster Kommandant von Filipowa geworden. Viele Serben der näheren Umgebung, die zu Beginn des Umbruchs die Herren waren, hatten immerhin eine »fruchtbare« Zeit, denn sie konnten sich mit den Gütern ihrer ehemaligen Nachbarn eindecken. Meine Mutter verbreitete in diesen Wochen des Übergangs viel Ruhe und Gelassenheit. Ich sah sie in dieser Zeit niemals weinen. Viele Frauen kamen zu ihr und fragten sie um Rat. Oft schickte sie meine
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ältere Schwester und mich abends zu anderen Leuten, weil sie wusste, dass sie große Angst hatten, allein zu schlafen. Bisweilen kamen andere Leute zu uns schlafen. Da meine Schwester Wawi ängstlich war, wurde ich öfter in Haushalte geschickt, wo es nur eine Mutter mit Kleinkindern gab. Wenn nachts russische Soldaten oder Partisanen kamen, hatte ich ihnen zu öffnen. Meine Mutter öffnete furchtlos russischen Soldaten oder Partisanen nachts das Haus. Sie nahm dann immer meinen kleinen Bruder aus der Wiege auf den Arm und zeigte ihnen das Zimmer, wo wir Kinder lagen. Wenn sie die Kinderschar sahen, zogen sie bald wieder friedlich ab ; offensichtlich sahen sie, dass es hier weder junge Frauen noch Wein oder Schnaps gab. Die älteren Männer, die nicht mehr zur Robot eingezogen wurden, rückten in dieser »männerlosen« Zeit hoch in der Wertschätzung der Frauen : Ihr Rat und ihre Hilfe waren sehr gefragt. Es war erstaunlich, welche Energien die alten Leute, Männer wie Frauen, die schon im Ausgedinge (Altenteil) lebten, wieder entwickelten. Gerade die alten Männer wurden gebraucht. Wir zu Hause hatten z. B. noch ein Schlachtschwein im Stall. Normalerweise schlachtete mein Vater unsere Schweine. Er zog mich schon früh zur Mitarbeit heran, nicht so sehr wegen meiner Hilfe, sondern weil ich als ältester Sohn frühzeitig das »Handwerk« erlernen sollte. Meine Mutter wollte dennoch nicht mir – ich war gut zwölf Jahre alt – das Schlachten anvertrauen, sondern bat den Onkel meines Vaters, er war Fassbinder, unser Schwein zu schlachten ; ich assistierte ihm. Ich hatte den Eindruck, dass ihm die Arbeit fast leichter von der Hand ging als meinem Vater. – Dieser Großonkel starb leider schon ein Jahr später im Lager in Gakewa. Auch sonst sah man, gerade in Bauernfamilien, dass die Großväter und Großmütter wieder verstärkt ins Wirtschaftsleben einbezogen wurden. Pferde gab es kaum noch im Dorf, deshalb versuchten einige mit Kühen die Felder zu bestellen. Meist ohne großen Erfolg, denn seit Menschengedenken hat man in Filipowa keine Ochsen- oder Kuhgespanne mehr gesehen. Die gesamte Feldarbeit war auf Pferde abge-
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stimmt. Die schweren Traktoren hatte man nicht zum Ackern, sondern hauptsächlich zum Dreschen verwendet. Die stählernen Kolosse wären im Herbst bei den schweren Regen in der Erde versunken und hätten in den Äckern mehr Schaden als Nutzen gebracht. Zu Beginn des Frühjahrs 1945 mussten die Weingärten für das neue Jahr hergerichtet werden. Die Winter konnten in der Batschka sehr kalt sein, deshalb bedeckte man die Rebstöcke im Herbst mit Erde und befreite sie im Frühjahr davon. Dann stand der Reben- und Baumschnitt an. Da ich einer der größeren Buben war, die noch im Dorf verblieben waren, wurde ich öfter von älteren Männern angesprochen, ihnen bei der Arbeit zu helfen. Den Rebenschnitt nahmen sie zwar selbst vor – den gibt ein Winzer meist als Letztes aus der Hand –, aber ich konnte Rebstöcke freilegen, auf Leitern klettern, Abfälle zusammentragen, bündeln u. a. mehr. Dabei habe ich den Alten noch viel Nützliches abgeschaut. Als Ende Februar Eis und Schnee geschmolzen waren, lag ich meiner Mutter immer wieder in den Ohren, um nach Miltitsch gehen zu dürfen. Ich musste ihr versprechen, dass ich nicht länger als zwei Tage bleiben würde. Offensichtlich hatte sie Angst, dass wir auseinandergerissen werden könnten. Ich beobachtete schon seit Längerem, dass Mutter Rucksäcke nähte, Lebensmittel und Kleider auf Häufchen zusammentrug, Schmalz im Brunnen versenkte und Speck, Schinken und Würste verpackte und unterm Brennmaterial im Schuppen vergrub. Geld und Goldschmuck wurden in Wollknäuel gewickelt. Sie hatte mehrere kleine Stoffsäckchen genäht, die sie bei Gefahr mit Geld füllte und meinen jüngsten Geschwistern um den Hals hängte. In alle diese Maßnahmen hatte sie nicht mich, sondern nur meine ältere Schwester eingeweiht, aber mitbekommen habe ich es trotzdem. Wawi aber musste strengstes Stillschweigen geloben. Ich wollte nach Miltitsch, weil ich wusste, dass das Dackelpaar in der Mühle inzwischen Junge haben musste, und Seppvetter hatte mir ein Junges versprochen. Um eine dozvola – einen Passierschein – suchte ich nicht an. Ich verließ einfach das Dorf ohne Erlaubnis. Wenn ich mal
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angehalten wurde, gab ich mich als Ungar von einem nahe gelegenen Sallasch aus, dann ließ man mich laufen. Als ich zu meiner Tante nach Miltitsch kam, war diese sehr deprimiert, sie weinte fast immer. Vom Mann ihrer ältesten Tochter Marjan hatte man seit einem halben Jahr nichts mehr gehört. Zuletzt war er als SS-Soldat bei Budapest stationiert. Ihre zweite Tochter war wie mein Vater an Weihnachten deportiert worden. Jetzt sollte auf Umwegen Nachricht nach Miltitsch gelangt sein, dass die Miltitscher Gruppe in einer Kohlengrube bei Charkow (Ukraine) arbeiten würde. Als meine Tante mich zum Einkaufen schickte, erkannte mich das Ehepaar des Geschäfts. Wir waren von der Vaterseite her mit ihnen weitschichtig verwandt. Die älteren Leute hatten ganz verweinte Augen, denn auch sie hatten gehört, dass ihre einzige Tochter in Charkow sein sollte. Ihre Heirat war schon für den nächsten Urlaub ihres Bräutigams geplant gewesen. »Die beiden«, sagten sie, »sollten doch einmal das Geschäft übernehmen.« Sie erkundigten sich nach meinem Vater, aber ich konnte ihnen nur sagen, dass wir bisher nichts von ihm gehört hätten. – Als ich gut ein Jahr später wieder nach Miltitsch kam, diesmal in die Mühle, erzählte mir meine Tante, dass die Tochter unserer Verwandten in Russland gestorben sei und ihre Eltern einige Wochen später im Lager Gakewa. Sie haben die Nachricht vom Tod ihrer Tochter nicht verkraftet. Auch meine Tante hat ihre Tochter niemals wieder gesehen. Als diese nach fünf Jahren aus der Sowjetunion zurückkehrte, war meine Tante bereits verstorben. In der Mühle durfte ich mir zwar den allerschönsten Welpen aussuchen, aber so ganz glücklich kam ich von meiner Reise doch nicht zurück. Als ich meiner Mutter erzählte, dass der Miltitscher Transport nach Charkow gekommen sei, meinte sie, sehr wahrscheinlich sei auch der Filipowaer in der Sowjetunion gelandet. In den darauffolgenden Tagen war ich viel mit meinem »Meppi« beschäftigt. Alle meine Kameraden kamen und sogar die Freundinnen meiner Schwestern wollten mit dem kleinen Dackel spielen. Er heiterte
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die gedrückte Stimmung in unserem Eck ein wenig auf. Mitten in diese Zeit fiel der Tod einer Großtante meines Vaters. Ihr Mann und ihre Kinder waren bis auf einen Sohn bereits verstorben. Ihr Sohn war in den letzten Jahren der Friseur meines Vaters. Er musste »freiwillig« zur SS einrücken, war aber in Budapest desertiert und auf vielen Umwegen nach Hause gekommen. Zum Glück war er beim Russlandtransport noch nicht im Dorf, so kam er in ein Arbeitslager bei Karbok (Karavukovo). Ein alter Mann war zu meiner Mutter gekommen und bat sie, dass ich ihn nach Karbok begleite zu meinem Sándor-Onkel. Es war bekannt, dass der dortige Gemeindevorsteher ein ehemaliger Schulkamerad meines Onkels war. Ich sollte sozusagen meinen Onkel bitten helfen, dass er sich beim Gemeindevorsteher einsetze, damit er den Sohn zum Begräbnis seiner Mutter gehen lasse. Es hat dann auch alles geklappt. Gegen Abend war der Friseur aus dem Arbeitslager herbeigeschafft. Es wurde bereits dunkel, als wir uns zu Fuß auf den Heimweg machten ; gegen Mitternacht kamen wir unbehelligt zu Hause in Filipowa an. Während wir im Pfarrhaus auf den Mann aus dem Lager warteten, sagte mir Onkel : »Richte deiner Mutter aus, dass es schlecht steht ; sie soll alles vorbereiten. Es könnte sein, dass die Karboker demnächst nach Filipowa ausgewiesen würden. Möglich ist aber auch, dass die Filipowaer ebenfalls wegziehen müssen. Mein Schulkamerad ist nicht in der Partei. Er weiß nicht genau, was dort ausgebrütet wird, aber etwas Schlimmes ist in Vorbereitung.« Die Aussage meines Onkels schreckte mich schon irgendwie auf, erschütterte mich aber nicht. Ich war noch zu jung, um ihre ganze Tragweite zu begreifen. Hinzu kam, dass in den letzten Monaten fast täglich Hiobsbotschaften kolportiert wurden. Mit der Zeit stumpft man gegen Leid ab. Man will es nicht mehr hören und muss es doch erleiden. Man lässt so wenig wie möglich an sich heran, um nicht darin unterzugehen. Auch meine Mutter war inzwischen schlechten Nachrichten gegenüber abgebrüht. Jedenfalls zeigte sie kaum Emotionen, als ich ihr die Nach-
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richt von Onkel mitteilte. Mir schien, als suchte sie einen möglichst klaren Kopf zu behalten, indem sie das Unangenehme von sich fernhielt und sich nicht damit identifizierte. Ich lernte im Lager Menschen, besonders Frauen, kennen, die sich vom Leid und Elend überwältigen ließen. Solche Menschen überlebten nicht lange, und ihre kleinen Kinder nahmen sie vielfach mit in den Tod. Im Lager sprang eine junge Frau, die im Nachbarhaus wohnte und mehrere Kinder hatte, in den Brunnen und ertrank. Das älteste Kind war ein Schulkamerad von mir. Die Kinder hatten niemanden mehr. Der Vater war im Krieg gefallen. In späteren Jahren habe ich mich oft gefragt, warum sich unsere Mutter in jener Zeit immer so robust gegeben hat. In Wirklichkeit war sie gar nicht so. Wollte sie vielleicht uns Kindern nur jede Angst und Aufregung ersparen ? Es waren kaum zwei Wochen seit meinem Besuch in Karbok vergangen, da zogen an einem sonnigen Märznachmittag Vertriebene aus Sent iwan (Prigrevica Sveti Ivan) in unser Dorf ein. Eine ältere Frau mit ihrer Enkelin wurde bei uns einquartiert. Tags darauf kam mein Onkel mit den Bewohnern Karboks in Filipowa an. Mein Onkel hätte in Karbok bleiben können, aber er wollte seine Leute nach Filipowa begleiten. Der Gemeindevorsteher ließ das Pfarrhaus sichern, damit nichts gestohlen würde. – Jetzt war allen Filipowaern klar geworden, dass auch sie demnächst ihre Häuser würden verlassen müssen. Onkel fand im Pfarrhaus Unterschlupf. Er schaute fast täglich bei uns vorbei und kümmerte sich um meine Erziehung. Er hatte den Eindruck, dass ich in der vaterlosen Zeit etwas zu »eigenmächtig« geworden war und gelegentlich meine Schwestern drangsalierte. Wenn er dies mal wieder feststellte, musste ich zur Strafe im Garten ein Stück Land umgraben. Unter dem Einfluss der vielen Kriegsereignisse war ich der Meinung, wir brauchten auf unserem Gelände einen guten Bunker, um gegen Kugeln und Granaten geschützt zu sein. Ich grub im Garten ein riesiges Loch und überdeckte es mit Balken, Brettern und einer dicken Erdschicht. Den Eingang habe ich den Schützengräben der Soldaten abge-
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schaut : Er war in Zickzack-Form angelegt und der Einstieg durch einen Strauch verdeckt. Meine Mutter ließ mich gewähren, denn im Garten wurde nichts mehr angebaut. Sie dachte wohl, auf diese Weise sei ich wenigstens beschäftigt. Inzwischen lebten fast 8.000 Personen in Filipowa. Zwischenzeitlich hatte man auch einige Hundert Südserben in jene Häuser einquartiert, deren Besitzer vor Ankunft der Partisanen ausgewandert waren. Man hatte die Serben aber am Tage vor unserer Vertreibung aus Filipowa wieder ausquartiert und nach Odschag gefahren. Sie sollen gerufen haben : »Heute gehen wir, und morgen seid ihr dran !« An Palmsonntag fand der letzte große und feierliche Gottesdienst mit Prozession in Filipowa statt. Er war, wie in den letzten Monaten immer, sehr gut besucht. Es war, als ob die Gläubigen mit ihren Gebeten das drohende Unheil abwenden wollten. In den Häusern rüstete man sich trotz aller schlechten Vorzeichen für das Osterfest. Ich hatte zu Hause einem Hahn und einer Ente den Hals abzuschneiden, und Schwester Wawi half Mutter beim Kuchenbacken. Wie üblich gab es an Karfreitag keine warme Mahlzeit, sondern nur Zopfkuchen und Platzkukuruz (Popcorn). Am Karsamstagmorgen richtete ich unser Weihholz her, eine etwa armstarke Eichenlatte von ca. 80 cm Länge, weil ich in den Gottesdienst gehen wollte, um es ins neu geschlagene Osterfeuer zu stecken.80 Ich machte mich schon etwas früher auf den Weg, weil ich noch bei Simons vorbeischauen wollte, um auch ihr Holz mitzunehmen. Das Weihholz in das heilige Feuer zu halten, war ausschließlich Aufgabe der Buben. Man steckte diese geweihten Hölzer gegen Feuersbrunst in ein Dachgespärre, und bei einem drohenden Gewitter schob man es eine Zeit lang in den brennenden Sparherd, damit der Blitz nicht einschlage. 80 In Filipowa sprach man statt von der »Feuerweihe« von der »Holzweihe«. Offensichtlich war die Funktion des Weihholzes den Filipowaern verständlicher und naheliegender als die tiefe Symbolik des neuen Osterfeuers.
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Als ich gegen halb acht mit dem Weihholz auf die Gasse ging, kam mir ein Partisan mit dem Gewehr in der Hand entgegen und schrie mir immer wieder zu : »Pet minuta ! – fünf Minuten !« Ich lief zu meiner Mutter und sagte ihr, dass draußen ein Partisan herumschreie, dass wir in fünf Minuten das Haus zu verlassen hätten. Da wir am Dorfende Richtung Odschag wohnten, von woher die Partisanen am Morgen einmarschiert waren, hatten wir als Erste unsere Häuser zu verlassen. Meine Mutter vergewisserte sich, ob dem auch wirklich so sei. Dann lief sie schnell und holte meine kleinen Geschwister aus den Betten ; Wawi zog die drei kleinen Schwestern an. Mein Bruder Franz war erst neun Monate alt ; er schlief noch in der Wiege weiter. Meine Mutter wies mir meinen Rucksack zu, in dem Kleider und Lebensmittel waren. Sie hieß mich, in der Kammer einen großen Schinken zu holen, ihn in einen soliden Weizensack zu stecken und mitzunehmen. Inzwischen stand der Partisan schon auf unserem Gang und schrie immer wieder : »Pet minuta !« Als er sah, wie Mutter sechs Kinder zu versorgen hatte, wurde er ruhig und ging wieder auf die Straße, wo er weiterschrie. Nachdem meine Mutter sich versichert hatte, dass jedes Kind seinen Rucksack hatte und Wawi neben ihrem Rucksack auch die große Tasche mit Lebensmitteln und einigen Töpfen trug, hängte sie sich zwei Säcke mit Kleidern und Windeln um und nahm Franz aus der Wiege. Meine jüngste Schwester Notburga, sie war fast vier Jahre alt, trug einen kleinen Rucksack mit ihrer Puppe und etwas Kleidung. Hedwig war schon sechs Jahre alt ; sie musste alle ihre Kleider selbst tragen. Eva war neun Jahre, aber sie war ein schwächliches Kind. Mutter hatte ihr nicht mehr als ihre Kleidung zugemutet. Jetzt verließen wir gemeinsam für immer unser Haus. Zwei Häuser weiter unten gab es große Aufregung, weil der alte Johlervater – die beiden Johler-Priester waren seine Söhne – krank war und nicht gehen konnte. Frau und Kinder mussten ihn zurücklassen. Er starb wenige Tage später im Notspital der Nonnen. Als der Partisan uns und die Nachbarn schon ca. 50 Meter Richtung Hutweide am anderen Ende des Dorfes getrieben hatte, fiel mir ein, dass
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ich meinen kleinen Dackel vergessen hatte. Als ich sah, dass der Partisan in ein Haus ging, lief ich schnell zurück und suchte meinen Hund. Ich fand ihn, wie er sich gerade an der gerupften Ente gütlich tat. Ich nahm ihn auf den Arm. Nun entdeckte ich im Kleiderschrank meiner Eltern einen ganzen Stapel Fotos. Ich nahm sie an mich und lief wieder auf die Straße. Fast hätte ich den Partisan umgerannt. Er fluchte und schlug mit dem Gewehrkolben nach mir. Er traf aber nur den Rucksack, sodass ich kaum etwas abbekam. Ich mischte mich schnell unter die Vertriebenen, um nicht mehr aufzufallen. Der Zug kam nur schleppend voran. Immer wieder gab es in Häusern alte und kranke Leute, die gar nicht oder kaum gehen konnten. Fast alle mussten dennoch von den Angehörigen mitgenommen werden. Dann gab es auch hochschwangere Frauen oder solche mit mehreren Kleinkindern. Manche Mütter waren mit zwei Kindern bepackt und konnten kaum noch Essen oder etwas Wäsche tragen. Wieder andere Menschen reagierten ganz irrational auf die Vertreibung : Sie weinten und schrien, warfen sich auf den Boden und wollten ihre Häuser nicht verlassen. Sie waren nicht in der Lage, für sich und ihre Angehörigen etwas Kleidung und Nahrung zusammenzuraffen. Die Partisanen aber waren brutal : Sie prügelten sie mit den Gewehren zu den anderen auf die Straße und weiter auf die Hutweide. Erschossen wurde in unserer Straße bei der Austreibung niemand, obschon ein Menschenleben damals für die meisten Partisanen wenig zählte. Wir benötigten etwa vier Stunden, bis wir auf der Hutweide ankamen. Unsere Habseligkeiten wurden uns mit der Zeit zu schwer. Da ich den Hund in einem Arm hatte, konnte ich den Sack mit dem Schinken nicht mehr tragen ; so zog ich ihn hinter mir her. Als wir einige Tage später im Lager Gakewa den Sack öffneten, war er durchgewetzt und der Hüftknochen des Schinkens ganz abgeschliffen. Bisweilen stellte Wawi ihr Handgepäck ab und übernahm von Mutter den kleinen Franz, damit sie etwas verschnaufen konnte. Obwohl Mutter mehr verzweifelt hätte sein müssen als wir, suchte sie uns Kindern Mut zuzusprechen. »Umbringen
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werden sie uns schon nicht«, sagte sie wiederholt, »und einen Platz zum Schlafen werden wir irgendwo finden.« Nur Wawi ließ sich von dem allgemeinen Wehklagen der Menschen um uns anstecken und weinte ständig vor sich hin. Eva suchte einmal ihre große Schwester zu trösten und sagte : »Awr Waawi, die Moddr greint doch aa net !« Wir anderen Kinder nahmen die Vertreibung einfach hin. In meinem Leben bin ich oft mit Leid und Tod konfrontiert worden, aber in meiner Erinnerung war kein Erlebnis derart von Trauer und Hoffnungslosigkeit geprägt wie unser Zug der Ausgetriebenen von Filipowa. Es gab für uns keine Aussicht, dass wir irgendwo noch einmal ein Leben in Frieden würden führen können. Vor uns gab es nur einen tiefen schwarzen Abgrund. Mutter hatte unsere Erwartungen tief gehängt, wenn sie sagte, sie werden uns nicht totschlagen und ein Plätzchen zum Schlafen werden wir schon finden. Dass wir auch essen wollten, hat sie dabei gar nicht erwähnt. Sie hat uns schon als Kinder viel vom Sterben erzählt – zum Leidwesen unseres Vaters. Vielleicht dachte sie dabei auch an ein Einschlafen für immer. Im Nachhinein könnte ich ihr diesen Gedanken durchaus zutrauen. In späteren Jahren, als wir in Österreich schon wieder ein Zuhause gefunden hatten, hat sie wiederholt geäußert, dass sie genug im Leben gesehen habe. Sollte sie mal schwer krank werden, dann wolle sie, dass wir sie sterben lassen und nicht versuchen, ihr Leben noch zu verlängern. Wenn ich nach Jahrzehnten über das damalige Verhalten meiner Mutter nachdenke, kommt mir der Gedanke, dass sie in den Tagen der Vertreibung und beim Transport ins Lager Gakewa gelassener und selbstbewusster wirkte als in den Tagen und Wochen davor. Das lange Starren auf die Katastrophe hatte sie irgendwie geschwächt. Sie konnte in der Wartezeit nichts tun, als Vorbereitungen treffen. Jetzt, da die Katastrophe so richtig hereingebrochen war, wurde sie gefordert, ihre sechs Kinder so gut wie möglich durch die Fährnisse zu bringen. Endlich waren für sie die Würfel gefallen und das Warten hatte ein Ende !
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Auf der Hutweide dauerte es noch mehrere Stunden, bis alle Evakuierten beisammen waren. Die Wiese war mit einer schier unüberschaubaren Menge von trauernden und weinenden Gestalten mit ihren Habseligkeiten bevölkert. Nach einer Weile kamen Partisanen und zwangen uns, Gassen zu bilden, sodass eine Art schachbrettartige Gliederung entstand. Als dies mit viel Geschrei und mittels zahlreicher Schläge mit Gewehrkolben durchgesetzt war, kam eine andere Gruppe von Partisanen unter Führung ihres gefürchteten Kommandanten Schakitsch aus Stapari, die aus jedem Geviert die Arbeitsfähigen ausmusterten. Da die einzelnen Familien Grüppchen bildeten, um beisammen zu bleiben, war es für die Partisanen relativ leicht, die Kinder einer jungen Mutter der Großmutter anzuvertrauen und die junge Frau den Arbeitsfähigen zuzuteilen. Das Zerreißen der Familien verursachte einen lauten Aufschrei und ein großes Wehklagen, aber die Trennung wurde von Schakitsch und seinen Leuten rücksichtslos durchgeführt. Die Bevölkerung hatte ja seit Monaten die Erfahrung machen müssen, dass solche Trennungen oft für immer waren. Als zwei Partisanen an unser Geviert kamen, machte sich meine Schwester Wawi klein, denn sie war zwar noch keine fünfzehn Jahre alt, aber hoch gewachsen. Dennoch wurde sie für die Arbeit herausgeholt. Sie war untröstlich und flehte die Partisanen an, bei der Familie bleiben zu dürfen. Sie war bisher noch nie für längere Zeit von zu Hause weg gewesen. Selbst ein Schulausflug von mehreren Tagen nach Budapest war für sie zum Problem geworden, da sie jeden Abend Heimweh bekam und weinte. Und jetzt wurde sie in der sehr schwierigen Situation auch noch von Mutter und den Geschwistern getrennt ! Da Mutter Kroatisch konnte, machte sie den Partisanen klar, dass Wawi noch jung, wenn auch groß gewachsen sei. Aber die Partisanen stießen Mutter zurück und zerrten Wawi fort. Etwas später tauchte mein Onkel mit einem anderen Priester des Dorfes auf. Sie waren erst während des Gottesdienstes gewahr geworden, was im Dorf vor sich ging. Obgleich die Jüngeren unter den Pries-
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tern ihre Studien ausschließlich in Serbokroatisch gemacht und nicht selten ehemalige Studienkameraden in der jetzigen politischen Leitung hatten, war der Zeitpunkt der Vertreibung offensichtlich nur innerhalb der Partei bekannt. Priester und Nonnen wurden nicht wie die Dörfler vertrieben. Als Onkel sah, dass ich meinen Hund im Arm hatte, machte er mir klar, dass ich ihm den Hund geben solle, denn wir würden nicht in Filipowa bleiben. »Und wo ihr hinkommt, da könnt ihr keinen Hund gebrauchen«, sagte er mir. Er werde den Hund im Pfarrhaus gut versorgen. – Dann ging er von uns weg und besuchte andere Leute. Seine Karboker Gemeinde hatte mit uns Filipowaern das gleiche Schicksal erlitten. Nach einiger Zeit kam er mit einem Zivilisten, offensichtlich einem Organisator der Vertreibung, zu uns. Onkel stellte uns ihm in Serbisch als seine nächsten Verwandten vor. Der Serbe wandte sich Mutter zu und sagte auf Deutsch : »Sie gehen nur für einige Tage weg. Die Arbeiter, die wir heute hier auswählen, müssen das Dorf reinigen, dann kommt ihr wieder zusammen !« – So richtig geglaubt hat Mutter seine Aussage nicht, aber dass er gelogen haben könnte, wollte sie wohl noch weniger glauben, versprach er doch Hoffnung. Man wusste ja, dass die Bewohner einiger deutscher Ortschaften, z. B die Gakewaer, ihre Dörfer für einige Wochen verlassen mussten, während derer ihre Häuser ausgeräumt wurden Vielleicht sollte es auch bei uns so werden ? Als der Serbe weggegangen war, sagte Onkel, dass wir in den nächsten Tagen weggebracht würden ; wohin, konnte er nicht in Erfahrung bringen. Man habe ihm aber gesagt, dass man 500 Arbeitskräfte suche, die die Häuser leer räumen müssten, denn aus Südserbien kämen demnächst neue Bewohner in unsere Häuser. Mehr konnte oder wollte man ihm nicht sagen. Als Mutter hörte, dass Südserben in unsere Häuser einziehen würden, meinte sie nur : »Dann werden wir kaum noch einmal in unsere Häuser zurückkommen können !« Sie hat diese Nachricht in den kommenden Monaten aber niemandem erzählt, um die Leute nicht zu entmutigen. – Zum Abschied gab Onkel Mutter etwas Geld, das sie
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gleich meinem Bruder in den Brustbeutel steckte. Dann ging er mit dem Hund im Arm von uns. Am späteren Nachmittag wurde ein Geviert nach dem anderen Richtung Hatgasse in Marsch gesetzt ; diese liegt in der Nähe des Bahnhofs. Unser Geviert kam ziemlich früh an die Reihe. Bevor wir dort in die Häuser für die Nacht eingewiesen wurden, mussten wir durch ein Haus, in dem die Partisanen uns alles Geld und alle Wertsachen abnahmen. Als wir an die Reihe kamen, schickte Mutter mich zu den Partisanen, sie aber schmuggelte sich geschickt unter die bereits Ausgeplünderten. An einem Tisch saßen mehrere Partisanen und auf dem Boden standen drei Körbe : in einen warfen sie das Geld, in den zweiten den Schmuck, in den dritten Uhren und andere wertvolle Objekte. Viele Leute waren so unvorsichtig und hatten ihr Geld und ihre Wertsachen in Taschen bei sich, denn ich sah, dass die großen Körbe fast voll waren, als ich ins Zimmer kam. Die Partisanen hatten über ihren Erfolg gute Laune, denn sie lachten und scherzten, als ich an den Tisch trat. Ich musste meine Taschen leeren und alles auf den Tisch legen. Mein Taschenmesser warfen sie in einen Korb. Mein Brennglas und meine Bindfäden durfte ich wieder einstecken. Zu einem, der Deutsch sprach, sagte ich : »Wie soll ich jetzt Wurst und Brot essen, wo ich doch kein Messer mehr habe ?« Und er erwiderte : »Ein Messer wirst du nicht mehr so schnell brauchen !« – Nach meiner Mutter haben sie zum Glück nicht gefragt. Sie wartete vor einem Bauernhaus, in das wir einquartiert werden sollten. Es begann schon dunkel zu werden. Mit uns ins Zimmer wurde eine junge Frau aus unserer Nachbarschaft mit ihren zwei kleinen Kindern eingeteilt. Nachdem wir uns mit den vorhandenen Sachen Schlafstätten zurechtgemacht hatten, bekamen wir Kinder Hunger. Wir hatten den Tag über kaum etwas gegessen. Die Nachbarin und unsere Mutter waren von den Ereignissen des Tages derart erschöpft, dass sie sich erst mal hinsetzten und sich ausruhten. Ich machte mich schon mal auf, um das Haus zu durchstöbern. Ich fand
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Brot, Würste, Schinken und sogar Festtagskuchen. Ich langte kräftig zu und brachte das Essen in unsere Stube. Meine Mutter machte mir Vorwürfe über meine Beute : Ich solle anderer Leute Sachen in Ruhe lassen. Die junge Frau aber meinte : Wer weiß, wo die Hausbesitzer einquartiert sind, und auf den Gassen darf sich keiner mehr von uns blicken lassen. Also aßen wir uns alle ordentlich satt. Danach gingen beide Mütter in den Kuhstall und molken die Kühe. Die Milch reichte für alle, die im Haus einquartiert waren. Dieser Samstag war der schwärzeste Tag in der fast 200-jährigen Geschichte Filipowas. Vom Dorf standen nur mehr die Häuser, seine Seele war ausgezogen. Filipowa starb aber keinen plötzlichen Tod, sondern siechte seit Jahren dahin, ohne dass seine Bewohner und wohl auch nicht seine lautstarken Führer es so richtig gemerkt hatten. Heute frage ich mich, ob unsere Vertreibung hätte vermieden werden können. Nach den Ereignissen im »dunklen Jahrzehnt« musste sie wohl zwangsläufig kommen. Einerseits hatten die Donauschwaben selbst ihre Gemeinschaft zerrissen, andererseits hat die Titularnation, d. h. die Serben, in ihrer Abneigung gegen Minderheiten auf ihrem Territorium unsere Vertreibung besiegelt. Am folgenden Tag, dem Ostersonntag, gab es wieder aufregende Szenen. Da unser Quartier nur zwei oder drei Häuser von jener Stelle entfernt lag, wo man den Menschen Geld und Wertsachen abnahm, waren die ganze Zeit über, auch nachts, Gewehrschüsse zu hören. Sie dienten aber wohl »nur« der Einschüchterung der Menschen, damit sie ihre Habe herausrückten. Jedenfalls hörte man nicht, dass Menschen erschossen worden wären. Die Politik der neuen Machthaber war immer : einerseits einschüchtern, andererseits Hoffnung schüren. Man hatte es auf die Zermürbung der Menschen angelegt, sodass man sie erst gar nicht brutal töten musste. Am frühen Nachmittag kamen Partisanen und forderten uns auf, auf der Straße anzutreten. Da wir nicht weit vom Bahnhof entfernt waren, hatten manche Leute nachts gehört, dass ein langer Zug im Bahnhof
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eingefahren war und sehr wahrscheinlich dort noch immer stand. Meine Mutter ahnte, dass es der Zug war, der uns wegbringen sollte ; ich hatte zufällig mitbekommen, wie sie es der jungen Frau in unserem Zimmer zuflüsterte. Obwohl Mutter wusste, was uns bevorstand, gehörten wir zu den Ersten, die sich auf der Straße einfanden. Am späten Nachmittag schleppte sich eine lange Kolonne die dreibis vierhundert Meter bis zum Bahnhof. Da Wawi uns als Trägerin weggenommen worden war, wurden die Lasten auf uns alle verteilt. Zum Glück war der Weg nicht allzu lang ; ich hatte schließlich auch keinen Hund mehr. Ein Großaufgebot von Partisanen flankierte den Zug mit schießbereiten Maschinenpistolen im Anschlag. Sie schossen bei jeder Kleinigkeit über unsere Köpfe. Die Schar der Alten, Mütter und Kinder hätte nun wirklich nichts mehr anstellen können, das hat wohl auch der Dümmste der Partisanen gewusst. Das ganze Gehabe war nur Demonstration ihrer Macht, die man auch noch vor den Schwächsten der Donauschwaben ausspielen zu müssen glaubte. Trotz der Schießereien ist meines Wissens niemand beim ersten Konvoi zur Bahn erschossen worden, wohl aber mehrere beim zweiten, der einige Tage nach unserem abging ; der Grund : Die Leute waren nicht vorschriftsmäßig in der Reihe gegangen. Am Bahnhof stand ein langer Zug aus Viehwaggons. Eingeladen wurden wir erst, als der Abend hereinbrach. Man hat derart viele Menschen in einen Waggon gepfercht, dass wir nur übereinander liegen konnten. Meine Mutter drängte gleich beim Verladen zum Fenster, um meinem kleinen Bruder Luft zu verschaffen. Die Türen wurden von außen verriegelt. Das kleine Fenster war das einzige. Es befand sich ganz oben und war vergittert. Wir waren bereits seit Stunden im Wagen, als sich der Zug in Bewegung setzte. Wohin es ging, wussten wir nicht. Einige mutmaßten Richtung Subotica im Norden, andere Richtung Novi Sad im Süden und von dort über die Donau nach Südserbien. Gegen Mitternacht blieb der Zug in einer Station lange stehen. Mutter und eine andere Frau hoben mich
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hoch, sodass ich bis ans Fenstergitter gelangen konnte. Ich zog mich hoch und entzifferte mühsam »Sombor« auf dem Bahnhofsschild in kyrillischer Schrift. Die Frauen konnten sich nicht vorstellen, wohin man uns bringen wollte. Erst Stunden später fuhr der Zug weiter. Bei Morgengrauen blieb er in einer Station stehen. Als die Türen aufgerissen wurden, sahen wir, dass wir in Gakewa (Gakovo) angekommen waren : Es war der Ostermontag, der 2. April 1945. Erst am 10. Juni 1947 gelang uns nachts die Flucht aus dem berüchtigten Lager Gakewa nach Ungarn. Mein Bruder Franz und meine Schwester Eva waren nicht mehr bei uns.
10. Konzentrationslager Gakovo
Gakovo, wir sagten Gakewa, war eines von mehreren Konzentrationslagern für Donauschwaben, wie jene in Kruševlje, Jarek, Rudolfsgnad, Mitrovica und andere. Sie waren angelegt worden, um jene aufzunehmen, die nicht mehr oder noch nicht arbeiten konnten, also Alte, Kranke, Kinder und deren Mütter. Von Regierungsseite hieß es zwar, dass es kein Problem mehr mit einer deutschen Minderheit gebe, obgleich noch immer trotz Flucht, Deportation und Massakern an die 200.000 Donauschwaben im Land lebten. Die Westmächte verschlossen offensichtlich ihre Augen vor den Ereignissen in Jugoslawien und ließen Tito und seine Partisanen als Massenmörder gewähren. Was soll man über ein Lager schreiben, dessen Sinn und Zweck es ist, eine Minderheit zu dezimieren ? Soll man all jene Morde und Erschießungen aufzählen, die vor allem im Herbst und Winter 1945/46 in Gakewa vorgekommen sind ? Oder soll man über jene Tausende Verhungerten, Alten, Waisenkinder schreiben ? Oder jene Tausende erwähnen, die der Typhus dahingerafft hat ? Oder .. ? Es wären viele, die man aufzuzählen hätte. Allein aus Filipowa sind 756 Personen in Gakewa gestorben und 76 in anderen Lagern. Werden Leser dessen nicht überdrüssig, wenn man eine Vielzahl solcher Ereignisse aneinanderreiht ? Bereits das alte lateinische Diktum hält fest : Quotidiana vilescunt – »Alltägliches stumpft ab«, und wenn es das Sterben ist. Da sind z. B. zwei junge Mütter, die sich im Winter 1945/46 aus dem Lager stehlen, um in einer nahe gelegenen Ortschaft für ihre Kinder Essen zu erbetteln, da es im Lager seit Tagen weder eine Krume Brot noch eine warme Suppe gibt. Sie werden erwischt und vor den Augen ihrer Kinder zur Abschreckung aller öffentlich erschossen. Die eine
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Mutter ist noch nicht ganz tot. Sie ruft ihr Kind zu sich und trägt ihm auf, brav zu bleiben. Der dabeistehende Partisan zieht seine Pistole und schießt ihr eine Kugel in den Kopf (Pfuhl in Dok. V, 1984 : 431). Da ist unser Nachbar aus Filipowa : Ein Vater von sieben Kindern wird nach einem Bettelgang erwischt und eingesperrt. Als er auf einen Anruf eines Partisanen nicht stehen bleibt, wird er von hinten erschossen. – Ein Dutzend Menschen suchen Ende Dezember 1945 aus dem Lager zu entkommen, um nach Ungarn zu fliehen, denn im Lager herrscht Typhus, und es gibt schon seit Tagen nichts zu essen. Sie werden erwischt, müssen sich in ein Massengrab legen und sterben in einem Kugelhagel (Pfuhl, Dok. V, 1984 : 426). – Man könnte noch und nöcher solche Berichte aus Gakewa anführen. Die meisten stammen vom Herbst und Winter 1945/46. Ganz aufgehört hat das Erschießen bis zur Aufhebung der Lager Ende 1947 nie, aber mit der Ersetzung der Partisanen durch Milizen wurde es merklich besser. Die allgemeine Geschichte zeigt uns seit jeher, dass Völker und Menschen nicht in einem Land oder an einem Ort warten, bis sie verhungern oder verdursten, sondern die Flucht ergreifen, und das selbst dann, wenn sie sich in Todesgefahr begeben. Das zeigen uns die afrikanischen Flüchtlinge, die nach Südeuropa kommen, fast täglich. Genauso verließen Menschen im Winter das Lager, um betteln zu gehen, obschon sie wussten, dass es bei Todesstrafe verboten war. Ende Dezember 1945 und im Januar 1946 hatten die Menschen im Lager nur die Wahl zu verhungern oder aus dem Lager auszubrechen. Dabei waren diese Hungerperioden, in denen es gar nichts zu essen gab, angeblich gar nicht von oben verordnet, sondern ein inkompetenter Lagerverwalter konnte seine Vorräte nicht richtig organisieren und ging in Weihnachtsferien. Nachdenklich macht allerdings, dass es solche »Hungerperioden« nicht nur in Gakewa, sondern auch in anderen Konzentrationslagern wie Rudolfsgnad, Kruševlje u. a. zeitweilig gegeben hat. Oft waren dabei Inkompetenz und Analphabetentum schuld, und zwar nicht nur bei der Lagerverwaltung.
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Man kann aber nicht immer ausschließlich der inkompetenten Lagerverwaltung die Schuld zuschieben, wenn die morgendliche Brennsuppe fast fettfrei war und die Nudelsuppe kaum Nudeln enthielt. Die Lagerleute wussten, dass man bei gewissen donauschwäbischen Köchinnen immer Schmalz, Mehl und Nudeln kaufen konnte. Mich hat schon als Zwölfjähriger gewundert, weshalb bestimmte Frauen nicht wie wir anderen auf den Feldern mitarbeiten mussten, dafür aber häufig mit den Partisanen im Maisfeld verschwanden. Noch schlimmer scheint es nur in den Waisenheimen zugegangen zu sein. Die dahinsiechenden Kinder interessierten so manche donauschwäbische Pflegerin weniger als ihr eigener Vorteil ; dafür bezahlte sie in Naturalien für ihre privilegierte Position ! Paul Pfuhls Anmerkungen dazu sind bedrückend (Dok. V, 1984 : 430) ! Das Betteln in den umliegenden slawischen oder ungarischen Ortschaften war zwar riskant, aber zum Überleben notwendig, da man von der Lagerkost allein nicht längere Zeit überleben konnte. Viele Lagerinsassen, vor allem ehemalige »Herreleit«, haben es nie über sich gebracht, betteln zu gehen. Meinen ersten Bettelgang machte ich im Frühsommer 1945 mit einem gleichaltrigen Mädchen aus Filipowa. Wir waren in aller Früh die 16 Kilometer nach Bezdan gegangen. Zunächst klapperten wir eine Gasse gemeinsam ab, dann trennten wir uns, um mehr Chancen zu haben. Am Abend trafen wir einander an einer vereinbarten Stelle am Dorfrand und tauschten unsere Erfahrungen aus. Ich hatte ein sehr kränkendes Erlebnis : In einem deutschen Haushalt – die Bezdaner Deutschen kamen erst später ins Lager – wies mich die Hausfrau mit der Bemerkung aus dem Haus : »Geht zu eurem Hitler, der soll euch was geben !« Diese ältere Frau kam später auch nach Gakewa ins Lager. Meine Begleiterin Lena sagte, sie hätte ähnliche Sprüche schon öfter gehört. Nachdem wir etwas gegessen hatten, gruben wir uns eine Kuhle in eine nahe Strohtriste. Wir schmiegten uns, da es kühl wurde und wir keine Zudecke hatten, aneinander. Obwohl wir sehr müde waren, schliefen wir nicht gleich ein. Wir flüsterten uns noch einige Tagesereignisse
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zu. Ich glaube, es war nicht der Information wegen, sondern weil wir es angenehm fanden, nebeneinander zu liegen. Wir hatten Freude an dem engen Kontakt. Nach einer Weile meinte Lena : »So waarm war’s mr noch nie uni Decki.« »Soll ich a bißl vun dr wegrucke, Lena«, habe ich gefragt ? »Nôô, nôô, Joschi«, hat sie gesagt, »’s is doch grad so schêê warm.« »Ich find’s aa schêê«, habe ich ihr beigepflichtet. Nach einer Weile meinte Lena : »Vrleicht is’s so, weil du a Buu bisch«, und ich habe drauf gesagt : »Un du a Maadl.« Wir kuschelten uns weiter zusammen und schliefen, bis es hell wurde. Am nächsten Tag war in Bezdan Wochenmarkt. Es sei günstig, sagte Lena, erst gegen Mittag auf den Markt zu gehen, denn dann gäben die Bauern oft das weg, was sie nicht verkaufen konnten. Und so war es auch. Gegen Abend machten wir uns voll beladen auf den Weg ins Lager. Wir wollten erst nach Mitternacht dort ankommen, denn diese Zeit war günstiger als vor Mitternacht. Wir hatten also genügend Zeit, um uns unterwegs gelegentlich auszuruhen. Lena kannte die nächtlichen Positionen der Wachposten ebenso gut wie ich. Uhrzeit kannten wir keine, aber es muss ca. drei Uhr gewesen sein, als wir unbehelligt ins Lager kamen. Einige Tage danach kam eine Filipowaer Frau, die ebenfalls in Bezdan betteln war, zu meiner Mutter. Sie erzählte, dass sie zu einer ungarischen Familie gekommen sei, die sich erkundigt habe, ob die Familie von Pfarrer Sándor Thiel ebenfalls im Lager sei. Als sie antwortete, dass sie uns gut kenne, bat die Frau, uns mitzuteilen, dass jemand von uns bei ihr vorbeischauen möge. Das Haus dieser Familie wäre sehr leicht zu finden, sagte sie. Es liege direkt am Markt und habe eine große blaue Einfahrt. Die Hausfrau heiße Marisnéni (Marischnéni). Ein paar Tage später machten Lena und ich uns wieder auf den Weg nach Bezdan. Besagtes Haus war leicht zu finden. Wir trafen Marisnéni an. Sie sprach perfekt Deutsch. Ihr Mann, der Gyulabácsi, nur gebrochen, er war Ungar. Sie hatten keine Kinder. Ich musste Marisnéni viel über unsere Familie erzählen, denn sie war früher einmal bei uns zu
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Hause gewesen. Sie fragte auch nach meinem Onkel Sándor, denn er war früher in Bezdan Kaplan, und die Bekanntschaft war über ihn zustande gekommen. Marisnéni hat uns sehr gut bewirtet. Tags darauf hat sie unsere Rucksäcke mit Lebensmitteln gefüllt und uns Süßigkeiten mitgegeben. Dann trug sie mir auf, Mutter zu bitten, dass ich das nächste Mal eine meiner kleinen Schwestern mitbringe, die sich dann einige Wochen bei ihr gut erholen könne. Als ich Mutter von Marisnéni und ihrem Angebot erzählte, überlegte sie einige Tage. Schließlich war sie mit dem Vorschlag einverstanden. Von uns fünf Kindern, die mit Mutter im Lager waren, kam eigentlich nur Eva infrage : Sie war ein schwächliches Kind, und mit neun Jahren – die anderen drei Geschwister waren jünger – war sie alt genug, um einige Wochen bei fremden Leuten bleiben zu können. Eva war einverstanden, mich beim nächsten Bettelgang nach Bezdan zu begleiten. Mutter hoffte, sie würde sich bei den Leuten gut erholen. Es kostete einige Mühe, Eva nachts an den Wachtposten vorbei aus dem Lager und nach Bezdan zu bringen, denn das Lager war rund um die Uhr von Partisanen bewacht. Nach einigen Wochen holte ich Eva wieder nach Gakewa zurück. Da es ihr bei Marisnéni ganz gut gefallen und sie sich mit dem Ungarischen schon angefreundet hatte, brachte ich sie einige Wochen später wieder nach Bezdan. Es war sicherlich eine Erleichterung für Mutter, dass sie ein Kind weniger zu versorgen hatte, wenn es ihr auch schwer fiel, sie wieder mit mir ziehen zu lassen. Als Eva im Herbst die ungarische Schule besuchen konnte, dachte Mutter nicht mehr daran, Eva alsbald wieder ins Lager zu holen, zumal der Winter 45/46 sich früh und streng ankündigte. Eva galt offiziell als die Nichte von Marisnéni. Sie gaben in der Gemeinde an, sie komme aus Vörösmarth in der Baranya, wo es zahlreiche ethnische Mischehen zwischen Ungarn und Deutschen gab. Ich besuchte Eva recht oft und bekam jedes Mal einen Rucksack voll Essen mit. Da ich mich meist in der zweiten Nachthälfte ins Lager einschlich und die bevorzugten Standplätze der Posten kannte,
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wurde ich relativ selten gefasst. Es war jedes Mal ein freudiges Ereignis, wenn ich gegen Tag mit einem Rucksack voll Essen – manchmal hatte ich sogar Süßigkeiten für die Kleinen dabei – ins Lager kam. Eva blieb in Bezdan, als wir 1947 über Ungarn nach Österreich flüchteten. Da mein Vater aus dem sowjetischen Internierungslager nach Österreich entlassen worden war, kam auch Eva für längere Zeit zu meinen Eltern nach Fürstenfeld in der Steiermark. Doch sie hatte sich sprachlich und in ihren sozialen Beziehungen bereits ganz auf Bezdan eingestellt. So kehrte sie wieder dorthin zurück und hat auch dort eine Familie gegründet. Unsere Beziehungen zu ihr rissen nie ab. Sie kam fast jeden Sommer mit ihrem Mann und ihren Kindern zu ihren Eltern, und wir besuchten sie jedes Jahr ein- bis zweimal. Die hygienischen Verhältnisse im Lager waren katastrophal. Die Häuser mit ihren Puszta- bzw. Ziehbrunnen, die Zimmer und Toiletten waren höchstens für einige Personen angelegt, aber jetzt hausten 70 bis 100 und mehr Insassen in diesen Räumlichkeiten. In einem Raum von 15 bis 20 Quadratmetern lagen an die 20 Menschen auf Stroh, das nicht jedes Jahr ausgetauscht wurde. Nach einigen Monaten lag man nur mehr auf Schnipseln und Staub : ein ideales Feld für Milben und Flöhe. Meist konnte man sich seine Zimmerkameraden nicht aussuchen. Manche hatten die Ruhr, andere die Malaria, später kam Typhus hinzu. Einen Lagerarzt gab es erst ab Herbst 1945, aber vielfach hatte er kaum Medikamente und noch seltener Verbandszeug. Von staatlicher Stelle erhielt er gar nichts. Im hinteren Teil eines jeden Hauses hatten die Insassen eine große Latrine mit Donnerbalken zu graben. Aber Alten, Kranken und Kindern war es kaum möglich, darauf zu sitzen, so machten sie ihr Geschäft, vor allem nachts, im Hof. Dazu wurde die Läuseplage im Herbst immer stärker. Man lauste sich möglichst täglich gegenseitig die Köpfe ab. Dabei saßen wir bei schönem Wetter wie Schwalben im September auf dem Gangsturz, zogen nach und nach unsere Habseligkeiten aus und entlausten sie. Einige waren zu faul dazu, Alte und Kranke konnten es nicht, also wollte man auch nicht mit ihnen in einem Raum schlafen. Es
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gab ständig Streitereien. Bei solchen Entlausungsaktionen war der alte Gruwl-Großvater häufig in meiner Nähe, denn wir schliefen lange Zeit in demselben Zimmer. Er sagte dabei öfter : »Joschi, du wirst das hier schon überleben, aber wir Alten nicht. Erzähl es dann den Leuten oder schreib es auf, wie sie uns hier umgebracht haben.« Brennmaterial oder eine Heizung gab es nicht. Heißes Wasser, um Wäsche zu waschen, war unbekannt. Verlauste Wäsche hätte man bügeln müssen, um auch die Nissen abzutöten, aber all das war in Gakewa nicht zu haben. Wir hatten im Lager den Standard eines afrikanischen Buschdorfes, nur lebten wir nicht in den Tropen, konnten uns niemals baden, aßen viel schlechter, durften unser Dorf nicht verlassen und waren noch täglich der Willkür der Partisanen ausgesetzt. In periodischen Abständen fanden in den Lagern Ausplünderungen statt, so im Herbst 1945 in Gakewa. Alle Lagerinsassen mussten mit ihren Habseligkeiten morgens auf der Hauptstraße Richtung Sombor antreten. Angeblich sollte ein Teil des Lagers verlegt werden. Also nahm man alle seine Habe mit. Es wurde aber niemand verlegt, sondern die Aktion diente der Ausplünderung der Lagerleute. Alles, was irgendwie wertvoll war, wurde uns abgenommen : Geld, Schmuck, Uhren, gute Kleidung. Bis die 20.000 Personen gefilzt waren, wurde es Abend. Damit niemand aus der Kolonne ausscheren konnte, gab es eine dichte Bewachung durch Partisanen. Man muss sich vorstellen : Die Lagerleute waren fast ausschließlich Alte, Kranke, Kinder und deren Mütter. Sie standen an die zwölf Stunden mit ihrem Gepäck auf der Straße, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Bei Dunkelheit ging es dann wieder zurück in die alte Unterkunft. Viele Alte und Kranke waren solchen Strapazen nicht gewachsen, sie starben. Einmal war in unserem Haus eine alte alleinstehende Frau – sie wohnte mit anderen Alten im ehemaligen Pferdestall – gestorben. Meine Mutter bat mich, ihr zu helfen, um sie in eine Decke einzunähen und auf den Schubkarren zu hieven. Dabei sah ich, wie die Frau am ganzen Leib von Ungeziefer zerfressen war, und über die Decke krochen
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Läuse. Wir fuhren die Frau auf der Schubkarre bis in den Friedhof. Die Totengräber zeigten uns, wo wir sie abladen sollten. Dort lagen schon eine Reihe Leichen. Wir legten sie dazu, als ob es sich um einen Strohballen handelte. Die Mutter meinte auf dem Heimweg : »Diese verlauste alte Decke werden sie der Toten nicht wegnehmen.« Man erzählte sich nämlich im Lager, dass die Totengräber den Toten gute Kleider und Decken wegnahmen und gegen Essen eintauschten. – Als die Sterberate im Dezember/Januar auf das Dreifache anstieg, also bis auf 70 bis 80, fuhr ein Leiterwagen durch die Gassen, und man warf die Verstorbenen drauf. Mit fast 13 Jahren gehörte ich zu den älteren Jugendlichen im Lager. Die 14-Jährigen, wie meine Schwester Wawi, waren in den Arbeitslagern. Sie mussten dort zwar hart arbeiten, oft wurden sie sogar richtig geschunden, aber sie hatten doch mehr Möglichkeiten an Essen zu kommen als wir in Gakewa. Ich musste fast jeden Tag auf Robot gehen. Ich hatte mich von Anfang an zur Gruppe der Mäher gemeldet. Hier gab es neben männlichen Jugendlichen vor allem junge Frauen, deren Kinder von ihren Großmüttern versorgt wurden. Unserer Gruppe waren auch immer ein oder zwei alte Männer zugeteilt, die uns in der Mittagspause die Sensen dengelten und bisweilen auch gut wetzten. Ich ging nicht ungern auf Robot, denn Mähen galt als Schwerarbeit. Manchmal bekamen wir eine zusätzliche Ration Maisbrot, und vor allem kam man leicht an Mais, Rüben, Obst usw. Da wir eine kleine Truppe waren, hat der uns begleitende Partisan oft die Augen zugedrückt, wenn wir uns in Weingärten an Früchten bedienten. Ich konnte auf diese Weise Mutter und meinen kleinen Geschwistern oft etwas Essen mitbringen. Als ich einmal abends vom Feld kam, liefen mir meine beiden Schwestern Hedwig und Notburga mit kahl geschorenen Köpfen entgegen. Man hatte allen Kindern und älteren Alleinstehenden wegen der Läuse eine Glatze geschoren. Auch mich haben sie eines Tages eingefangen und mir eine Vollglatze verpasst. Am nächsten Tag habe ich auf der Robot nicht nur Spott ertragen müssen, sondern ich bekam noch einen ordentlichen Sonnenbrand.
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Da es für uns Mäher nicht immer Arbeit gab, bin ich auch gerne zu den Waggonschiebern gegangen. Diese Arbeit machten nur Jugendliche. Ein oder zwei Erwachsene begleiteten uns als Aufpasser. Wir mussten morgens einen Güterwagen nach Staneschitz, Entfernung ca. 8 km, schieben, da die dortige Mühle noch normal arbeitete, zum Unterschied von der in Gakewa. Tagsüber wurde der Waggon mit Mehl beladen. Diese Zeit hatten wir frei, und gegen Abend schoben wir ihn wieder nach Gakewa zurück. In der Wartezeit schlich ich mich davon und besuchte eine Bekannte unserer Familie. Sie musste nicht ins Lager, weil sie einen gelähmten Sohn hatte, der nicht transportfähig war. Ich bekam bei ihr immer gut zu essen, und sie steckte mir immer noch etwas in meine Umhängetasche. Bisweilen ist auf dem Heimweg auch ganz »zufällig« ein Mehlsack aufgeplatzt, und die Pfiffigsten haben das Mehl in ihren Taschen, die man immer bei sich führte, vor dem »Verderb« gerettet. Es war erstaunlich, wie schnell einen die Not zum Überlebenskünstler machte. Wenn die Waggonschieber in Gakewa ankamen, wurden sie überhaupt nicht kontrolliert. Das habe ich mir wiederholt zunutze gemacht, aber nicht nur ich. Wenn ich hin und wieder von einer Betteltour zurückkam, lauerte ich in einem Versteck nahe der Bahnstrecke auf die Waggonschieber und mischte mich schnell und unauffällig unter sie. Und schon kam ich ohne Schwierigkeit ins Lager. Da ich von Oktober 1945 bis Ende März 1946 nicht im Lager Gakewa gelebt habe und meine Mutter mir über die Gesamtsituation im Lager wenig erzählen konnte, möchte ich einen Abschnitt aus dem Tagebuch von Lagerkaplan Matthias Johler zitieren. Im Anschluss daran werde ich ein Gespräch zwischen dem Kaplan und P. Wendelin Gruber S. J. übernehmen, der Matthias Johler 1946 für eine gewisse Zeit im Lager vertrat. Beide Autoren stammen aus Filipowa und sind mir sehr wohl bekannt. Kaplan Johler schreibt am 8. 1. 1946 in sein Tagebuch : »Heute sind es gerade vier Wochen, daß mich hohes Fieber in das Bett
zwang. Einige Tage nachher erkrankte auch der hiesige Pfarrer Dobler. Er
196 : Konzentrationslager Gakovo an Flecktyphus, ich an Bauchtyphus. Beide haben wir mit dem Tod gerun-
gen. Ihn rief heute der Herr des Lebens und des Todes in die Ewigkeit.«
Am 15. 1.: »Frühmorgens kamen der Kreiskommandant und der Ortskommandant und gaben uns bekannt, daß wir jedwede priesterliche Tätigkeit
einstellen müssen ; wir Priester dürfen jedoch im Pfarrhaus bleiben.« [Am
30.3. wird die Seelsorge wieder erlaubt.] »Die Umgruppierung des Lagers
hat begonnen.« [Man bildete Kategorien wie »Kranke«, »Arbeitsfähige«,
»Kinder« – sie ist aber nie konsequent durchgeführt worden.]
Am 31. 1.: »Die Zahl der täglich Sterbenden ist um 60.« [In den zehn Monaten sind in Gakewa] »um 4.500 gestorben«.
Am 9. 2.: »Die Grabkreuze werden von den Gräbern gerissen und zum
Brennholz geworfen ; die Grabhügel aber werden der Erde gleichgemacht.«
26. 2.: »P. Gruber S. J. aus Zagreb weilt hier ; er hätte mich gerne stellvertreten und auf Erholung geschickt. – Wir hatten vereinbart, daß ich am
Montag Gakova verlassen werde« (HB 5, 1965 : 9–16).
P. Gruber führt in seinem Buch »In den Fängen des roten Drachen« (1986) aus : »Aber zunächst wollte ich von ihm [M. Johler] wissen, wie die Zustände im Lager waren und wie ich mich verhalten sollte. Er begann zu erzählen« : »Die Schraube der Verfolgung wurde stufenweise immer mehr angezogen … Mein Freund richtete vorsichtig seinen Blick zum Fenster und
zeigte mit dem Finger : ›Hier hast du ihn, den abscheulichsten Henkers-
knecht unseres Volkes ! Vor diesem Mann mußt du dich hüten wie vor
dem Feuer !‹ Ich näherte mich dem Fenster, und hinter dem einfachen
Vorhang betrachtete ich den jungen, starken, hochgewachsenen Mann mit
knochigem Gesicht von etwa zwanzig Jahren. Eine Reitpeitsche hielt er
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in seiner rechten Hand, und mit der anderen stützte er sich auf die an seinem Soldatenkoppel befestigte Pistole. Er trug auf seinem Kopf eine weiße
russische Pelzmütze, an der über seiner Stirn ein fünfzackiger roter Stern
blinkte. Er unterhielt sich lächelnd mit seiner mörderischen Begleitschaft
und wedelte vergnügt mit seiner Reitpeitsche. Bei seinen aufgeblasenen
Gebärden mußte er meinen, es wären ihm alle fünf Kontinente untertan.
Seine Soldaten waren alle schwer bewaffnet. ›Das ist Schutzo, der Kom-
mandant der Wachtposten des Lagers !‹ flüsterte Matthias leise neben mir.
›Er verfügt über Leben und Tod dieser etwa 20.000 Lagermenschen ; und es scheint, daß er von niemandem zur Verantwortung gezogen wird.‹« …
»… ›Unsere Leute haben in der letzten Zeit genau festgestellt, daß die karge
Ration des ungenießbaren, schimmligen Maisbrotes von 300 Gramm jetzt
schon 40 Tage ausgeblieben ist. Die letzte Verantwortung an allen Greu-
eltaten, die hier verübt werden, hat der Schlosserlehrling Schutzo, Sohn
eines Dobrowoljatzen aus Subotiza, ein ungebildeter Grobian, der bei Ti-
tos Partisanen während der Revolution im Wald jedes menschliche Emp-
finden verloren hat. Der Blutdurst schaut ihm aus den Augen ! Alle Leute
weichen ihm im weiten Bogen aus. Auch ich habe mich niemals auf der
Straße gezeigt. Immer bin ich durch die Gärten aus dem Hinterhaus zu
den Kranken gegangen. Wenn du trotzdem einmal die Straße durchqueren
müßtest, laß durch jemanden erst nachforschen, ob die Luft rein ist.‹ …«
(1986 : 40/41).
Ich kam erst wieder kurz vor Ostern 1946 ins Lager Gakewa. Ich lebte damals für etliche Monate bei meinem Onkel in Karbok. Als ich mich entschloss, Mutter und Geschwister in Gakewa zu besuchen, ließ mir Onkel hübsch Lebensmittel einpacken und gab mir Geld für Mutter. Ich fuhr mit dem Bus bis Sombor und von dort ging ich zu Fuß die ca. zwölf Kilometer bis zum letzten großen Sallasch. Ich war sicher, dort würde ich Kutscher für Gakewa antreffen ; und so war es auch. Es waren sogar zwei Karboker Kutscher. Sie versteckten mich und meine Esswaren
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unter den Maisstängeln, die sie den Küchenbetrieben als Brennmaterial lieferten. Und so kam ich recht schnell ins Lager. Da Mutter und meine Geschwister nichts von meinem Kommen wussten, war die Freude sehr groß. Vor allem mein kleiner Bruder Franz freute sich über die Süßigkeiten, die ich mitbrachte. Mutter war mit meinen Geschwistern in ein kleines Haus am Dorfrand gezogen. Hier hatte sie ein kleines, aber separates Zimmerchen für sich und die Kinder. Ich begutachtete das Haus gleich strategisch : Es gefiel mir, weil dahinter kein Haus mehr kam, und im Nachbarhaus war ein halbes Dutzend Wachposten einquartiert. Eine ältere Donauschwäbin führte ihnen den Haushalt. Über sie erfuhren wir, wer wo wann Dienst tat. Ich hatte bald ausgekundschaftet, wann die Wachen wechselten und welche Wege sie gingen. Aus dem Lager zu kommen, war nicht allzu schwer. Unangenehm war nur, dass hinter dem Haus ein tiefer Graben war, der scheinbar das ganze Jahr über Wasser führte. Man musste ihn durchwaten. Mutter hatte mir viel zu erzählen. Sie war aus dem großen Bauernhaus weggezogen, weil es dort zu viele Leute gab. Sie war die ständigen Streitereien und Eifersüchteleien leid. Zum Glück war sie schon im Spätherbst ausgezogen. Das habe sicher geholfen, dass niemand aus der Familie Typhus bekam. In diesem Haus am Dorfrand lebten nur 15 Personen und keine Filipowaer. Die Pakete von Eva und Marisnéni, die sie mit dem Lagerkommandanten, dem Geliebten von Illusch, der Nichte von Marisnéni, geschickt haben, hätten ihnen doch sehr geholfen, Dezember und Januar zu überstehen. Postpakete und Briefe konnte man damals nicht ins Lager schicken, und wenn man jemandem etwas für Angehörige im Lager mitgegeben hatte, war es fraglich, ob es ankam. Dann wollte ich von Mutter wissen, wer denn alles aus der Verwandtschaft und aus dem früheren Haus verstorben sei. Sie zählte mir eine ganze Litanei auf. So waren von meinem Onkel Franz die Frau und der Sohn gestorben. Die alleinstehende Tochter Anna wurde von unserer Großtante, einer Klosterfrau, in einen ungarischen Haushalt als Dienst-
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mädchen vermittelt. Dass der alte Gruwl-Großvater gestorben war, dachte ich mir schon. Als sie aber sagte, die Karboker Resbeesl sei gestorben, war ich sehr erstaunt. Sie war eine gesunde und couragierte Frau. Als ich einmal ein verstecktes Fass Wein im Maislaub entdeckte und dies meiner Mutter sagte, setzte sie Resbeesl ins Vertrauen. Sie und ich, wir beide zapften öfter nachts einen großen Eimer voll ab und verteilten ihn an alle erwachsenen Hausbewohner. Was waren wir gern gesehene Leute im Haus ! Einen guten Rest ließen wir im Fass für jene zurück, die es versteckt hatten. Wie aber Resbeesl gestorben ist, ist traurig. Sie war mit ihren Kindern in die Nachbarschaft meiner Mutter gezogen. Eines Tages brachte sie meiner Mutter ein halbes Kaninchen als Geschenk. Mutter wurde misstrauisch, denn es war jene schlimme Zeit im Dezember, als es kaum etwas zu essen gab. Mutter hatte den Eindruck, dass es Hundefleisch war. Sie sagte den Kindern nichts, bereitete es zu und die aßen es mit Appetit. Etwa eine Woche später kam Resbeesl und sagte : Nicht weit draußen vor dem Lager liege ein totes Pferd, das von einem Partisanen zu Tode geritten worden sei. Da es gefroren ist, wäre das Fleisch noch immer genießbar. Meine Mutter war nicht bereit, mit Resbeesl mitzugehen, aber meine Schwester Hedwig schlich sich mit aus dem Lager ; sie war damals sieben Jahre alt. Sie kamen bald mit schönem Fleisch zurück. Mutter suchte Brennmaterial zusammen und briet das Fleisch gut durch. Die Kinder aßen es und es bekam ihnen gut. Resbeesl muss derart Hunger gehabt haben, dass sie wahrscheinlich zu viel Fleisch gegessen hat und vielleicht sogar noch halb roh. Ein, zwei Tage später sei sie unter fürchterlichen Krämpfen gestorben. Auch ich hatte Mutter einiges zu erzählen. Ich berichtete ihr, dass Wawi jetzt in einem Arbeitslager im Karboker Ried war. 400 bis 500 Frauen und Mädchen ziehen von einem Sallasch zum anderen, um die Felder zu bearbeiten. Ich soll ihr vom Onkel mitteilen, dass wir uns darauf einstellen müssen, Jugoslawien zu verlassen. Er habe sichere Informationen von seinem serbischen Freund im Gemeindehaus, dass
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die Deutschen nie wieder ihre alten Besitztümer bekämen. Auch sein Freund sei seiner Stellung nicht mehr sicher, denn die Südserben, die jetzt in unsere Häuser einziehen, würden nach und nach das Kommando in den ehemals deutschen Ortschaften übernehmen und die BatschkaSlawen ausbooten. Onkel wolle noch dieses Frühjahr eine Fahrt nach Slowenien machen, um eine Möglichkeit zu erkunden, direkt nach Österreich zu gelangen. Mutter war nicht erfreut über die Nachricht, dass wir Jugoslawien verlassen sollten. Sie wollte in ihrer Heimat bleiben. – Dann erzählte ich ihr, dass ich fast jede Woche von Wawi einen Brief erhalte, dass sie nach Gakewa kommen wolle, um bei der Familie zu sein. Mutter war zwar gerührt von der Anhänglichkeit ihrer Ältesten, aber sie meinte, ich solle Wawi ausreden, nach Gakewa zu kommen. Hier müsste sie auch jeden Tag auf Robot gehen, bekäme aber ein schlechteres Essen als im Arbeitslager. Vielleicht könnte man sie in einem ungarischen Haushalt in Bezdan unterbringen, dann wäre sie ja nicht so weit weg, meinte Mutter. Ich versprach ihr, Wawi zu treffen und mit ihr darüber zu reden, wenn ich wieder in Karbok war. Die Tage in Gakewa gingen schnell dahin. Ich wollte die mitgebrachten Lebensmittel nicht wieder aufessen, deshalb versuchte ich mich an die Lagerkost zu gewöhnen. Sie war etwas besser als im Herbst davor. Wer aber ausschließlich von dieser Kost lebte, setzte garantiert kein Fett an. Ich versprach Mutter, dass ich bald wiederkommen würde, aber aufgrund widriger Umstände dauerte es wieder länger, als ich dachte. – Der Weg aus dem Lager und die Fahrt nach Karbok stellten kein Problem dar. Als ich am Nachmittag im Pfarrhaus in Karbok ankam, war gerade Wawi bei Onkel zu Besuch, und ich konnte ihr alle Neuigkeiten aus Gakewa gleich erzählen. Als ich nach einem halben Jahr wieder nach Gakewa kam, war mein kleiner Bruder Franz gestorben. Meine Mutter war vom Tod des Kleinen sehr mitgenommen, denn er war ihr Liebling. Für keines ihrer Kinder hatte sie mehr Strapazen auf sich genommen als für ihn. Damit er
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nicht ins Massengrab kam, hatte sie die Totengräber bestochen. Im Herbst konnte ich sein Grab noch besuchen, aber bei meinem nächsten Besuch waren alle Gräber eingeebnet, und es war verboten, das Gelände des ehemaligen Friedhofs zu betreten. Ein Karboker Studienfreund, der Amerikaner geworden war, betrat dennoch in den 1970er-Jahren mit seiner Frau das Areal des ehemaligen Friedhofs. Sie wurden daraufhin für mehrere Tage eingesperrt !
11. Besuch in Filipowa
Nach sechs Monaten in Gakewa begann ich des Lagerlebens überdrüssig zu werden. Ich musste fast jeden Tag zur Robot und die Lagerkost war nicht mein Fall. Ich hatte zwar meine Bettelgänge nach Bezdan und Umgebung, aber ich fühlte mich doch sehr eingeengt und die Tage waren monoton. Ich machte deshalb Pläne, meine Schwester Wawi im Arbeitslager Filipowa zu besuchen. Gleichzeitig hatte ich vor, in der Mühle in Miltitsch vorbeizuschauen und eventuell noch meinem Onkel in Karbok einen Besuch abzustatten. Er war seit einigen Monaten wieder in seiner alten Pfarrei. Da es in Karbok eine ansehnliche ungarische Minderheit und mehrere Arbeitslager gab, hat der Bischof ihn nach Karbok zurückbeordert. Für das Lager Gakewa wurden später zwei andere Seelsorger, nämlich Paul Pfuhl, Kaplan in Filipowa, und der Filipowaer Matthias Johler bestimmt. Mutter war von meinem Vorhaben nicht begeistert. Sie hielt mein Unternehmen für unausgegoren und zu gefährlich. Ich könne mich doch nirgendwo legal aufhalten. Wahrscheinlich würde ich schon bald wieder ins Lager zurückgebracht werden. Das einzig Gute an meiner Reise sei, dass ich Wawi besuchen wolle, denn nach den Nachrichten, die wir gelegentlich von ihr erhielten, war sie sehr traurig, weil sie niemanden aus der Familie um sich hatte. Geld oder Proviant konnte Mutter mir nicht auf die Reise mitgeben. Doch ich war überzeugt, mich unterwegs ernähren zu können, schließlich war es Herbst, und die Weingärten waren voller Obst. In einem Monat, kalkulierte ich, könnte ich wieder zurück sein. Ich suchte gleichgesinnte Kameraden, die auch mal gerne ihr Heimatdorf wiedersehen wollten. Da gab es zunächst das in demselben Haus einquartierte Brüderpaar Richard und Karl (Karcsi) Wildmann,
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deren Großeltern noch in Filipowa wohnten. Beide waren etwas jünger als ich. Dazu konnte ich noch zwei ehemalige Schulkameraden von mir gewinnen, um mit nach Filipowa zu kommen. An meinem dreizehnten Geburtstag im September sollte unser Abreisetag sein. Als Reiseproviant hatte jeder seine Ration Maisbrot vom Vortag bei sich, mehr nicht. Wir erkundigten uns bei Kennern der Region, wo wir am besten gehen sollten, um die Ortschaften zu vermeiden. Uns war bewusst, dass man uns fünf Buben leicht als Lagerinsassen erkennen würde. Sollte man uns erwischen, dann würde man uns nach Gakewa zurückschaffen ; es würde eine ordentliche Tracht Prügel setzen und wir würden eine mehrtägige Strafe im Keller zu verbüßen haben. Den Straßen nach waren es bis Filipowa 60 Kilometer. Da wir die Orte umgehen wollten, besonders die Stadt Sombor, rechneten wir mit ca. 70 Kilometern. Wenn alles nach unseren Vorstellungen lief, könnten wir in zwei bis drei Tagen in Filipowa sein. Das größte Hindernis war der große Kanal hinter Sombor. Es gab wenige Brücken und die wurden von Milizen bewacht. Am Tag vor unserem Aufbruch haben wir uns bei den Führern der Robotbrigaden erkundigt, welche Kolonne am nächsten Tag auf dem Hotter von Sombor arbeiten werde. Man sagte uns, die Rübenhacker. Wir mussten in aller Frühe vor Ort sein, um uns in die Kolonne einzuschmuggeln. Karcsi war ein Problem, da er kaum elf Jahre und dazu noch von kleinem Wuchs war. Als ich morgens wie gewohnt zur Arbeit ging, schliefen meine Geschwister noch. Nur Mutter war wach und wünschte mir ein gutes Gelingen und Gottes Segen. Es war ein schöner, aber für meine kurzen Hosen und meine Tuchschuhe ein etwas kühler Morgen. Beim Kolonnenführer hatte sich jeder eine Hacke zu besorgen. Als sich Richard mit seinem kleinen Bruder das Arbeitsgerät abholte, gab er Karcsi keine Hacke, weil er noch zu klein sei. Aber Richard lamentierte, er müsse seinen kleinen Bruder mitnehmen, da sie keine Verwandten im Lager hätten. Tatsächlich hatten sie weder Eltern noch Großeltern im Lager, sie lebten bei Verwandten. Schließlich durfte Karcsi mit.
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Wir hatten ausgemacht, danach zu trachten, möglichst in der Nähe eines Maisfeldes arbeiten zu können. Sooft die Luft rein sei, wollten wir einer nach dem andern im Mais verschwinden. Dort würden wir warten, bis wir alle fünf beisammen seien. – Der Kolonnenführer war jeweils ein Donauschwabe ; er hatte darauf zu achten, dass die Arbeit richtig ausgeführt wurde. Auf die Arbeiter aufzupassen, war Aufgabe der Partisanen. Jeder Kolonne waren mehrere Partisanen zugeteilt. Bei 400 bis 500 Personen war es unmöglich, alle im Blickfeld zu behalten. Manchmal schäkerten sie mit Mädchen und jungen Frauen herum, dann war es besonders leicht, abzuhauen. Als wir alle fünf im Maisfeld waren, liefen wir im Mais, bis wir glaubten, aus dem Sichtfeld zu sein. Die Straße von Sombor nach Gakewa mieden wir, denn auf ihr gab es zu viel Verkehr. Die Strom- und Telegrafenleitungen entlang der Straße machten es uns leicht, einige Hundert Meter Abstand zu halten. Von Zeit zu Zeit kletterte ich auf einen Baum, um die Orientierung zu behalten. Als gegen Mittag Sombor vor uns auftauchte, gingen wir links um die Stadt herum, denn wir wussten, dass die Schotterstraße von Sombor nach Stapari über den großen Kanal führt ; und das war der kürzeste Weg, um nach Filipowa zu gelangen. Der Bahnlinie entlangzugehen, wäre für uns günstiger gewesen, aber dort hatten wir Angst, vom Bahnpersonal oder von Milizen aufgegriffen zu werden. Es war nicht einfach, Sombor bei Tag zu umgehen. Wir hatten immer wieder belebte Straßen zu überqueren, ebenso Wassergräben, oder es ging an einzelnen Gehöften vorbei. Wenn sich eine gefährliche Stelle ankündigte, gingen Richard oder ich voraus – wir sprachen am besten Ungarisch –, um die Lage auszuspähen ; wir konnten uns im Notfall als Ungarn ausgeben. Die anderen versteckten sich so lange, bis sie von uns das Zeichen bekamen zu folgen. Allmählich bekamen wir Sombor in den Rücken. Es mag zwei oder drei Uhr gewesen sein, als wir an Weingärten und großen Melonenfeldern vorbeikamen. Die Melonen von Sombor, auf Sandböden angebaut, galten in Filipowa als die besten. Als wir ein ruhiges Plätzchen in der
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Nähe eines Weingartens mit Obstbäumen und einem Melonenfeld fanden, ließen wir uns nieder. Wir waren müde und hungrig. Wir bedienten uns an allem, was es da an Essbarem gab. Wir müssen in unserem Überschwang etwas laut geworden sein, denn auf einmal tauchte vor uns ein Feldhüter auf, schrie wie am Spieß und fuchtelte mit seiner Flinte herum. Wir schreckten auf und ließen alles liegen, sogar unser Maisbrot. Zwei liefen in die eine, Richard, Karcsi und ich in die andere Richtung. Vielleicht liefen wir schneller als die anderen, jedenfalls verfolgte der Hüter die beiden anderen und wir entkamen. Erst Monate später erfuhr ich, dass er unsere Kameraden aufgriff und der Miliz übergab. Diese brachte sie bei nächster Gelegenheit ins Lager nach Gakewa zurück. Wir drei rannten so lange, bis Karcsi nicht mehr konnte. Alles Zureden half nichts. Es war nun schon am späteren Nachmittag. Wir hatten unsere Orientierung verloren. Als wir an einen frei stehenden Baum kamen, kletterte ich hinauf, um vielleicht irgendwo eine Straße, ein Dorf oder einen Kirchturm auszumachen. Die meisten Dörfer erkannte man schon von Weitem an der Form ihres Kirchturms, denn die Gegend um Sombor war flach wie eine Tischplatte. Ich sah aber weder Dorf noch Kirchturm. In der Ferne machte ich eine Reihe Bäume aus, vielleicht war es auch eine Baumallee, wie es sie vielfach an den Überlandstraßen gab. Es konnte entweder die Straße Sombor – Stapari oder Sombor – Sentiwan sein. Da wir den Kanal noch nicht überquert hatten, konnte er nicht mehr weit entfernt sein. Wir kalkulierten, dass er linker Hand liegen müsse. Nach etwa einer halben Stunde hatten wir den Kanal und die Straße mit der Brücke vor uns. Ich ließ die beiden zurück und schlenderte nonchalant, als ob ich in der Gegend zu Hause wäre, auf die Brücke zu. Unmittelbar vor der Brücke stand eine Krčma – ein Wirtshaus mit Garten. Dort saßen mehrere Milizen mit Zivilisten zusammen und zechten. An der Brücke stand niemand. Ich ging zu meinen Kameraden und sagte, dass ich zuerst allein über die Brücke gehen würde. Wenn ich auf der anderen Seite war, sollten sie folgen und so tun, als gehörten sie hierher.
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Am besten sollten sie miteinander Ungarisch reden. So machten sie es auch und wir kamen ungeschoren über den Kanal. Wir hatten am Wegweiser auch gesehen, dass es die Straße nach Stapari war. Wir mussten uns also rechts der Straße in die Felder schlagen, um dem serbischen Ort Stapari auszuweichen. Der grausame Partisanenkommandant Schakitsch, der seinerzeit in Filipowa gewütet hatte, kam aus diesem Dorf. Jetzt wurde es allmählich dunkel. Ich kletterte nochmals auf einen Baum, um den Horizont nach einem Dorf oder wenigstens einem Kirchturm abzusuchen. Ich sah aber nur ganz in der Ferne etwas wie einen Kirchturm ; gehörte er vielleicht zu Sentiwan ? Richard rief mir zu, ich solle nach einer Strohtriste Ausschau halten. Ich konnte eine in nicht allzu großer Entfernung ausfindig machen. Mit der Dunkelheit und der Ermüdung kam auch die Kälte ; mächtigen Hunger hatten wir obendrein. Die Strohtriste stand zum Glück auf freiem Feld und nicht bei einem Sallasch. Wir gruben uns, solange noch etwas zu sehen war, eine Höhle ins Stroh. Aber etwas Essbares hätten wir doch noch gerne gefunden. Wir versuchten grünen Mais zu essen, doch der schmeckte uns nicht. Nicht weit von unserem Nachtlager stand ein großer Maulbeerbaum, aber die Zeit der Maulbeeren war längst vorüber. Auf dem Boden lagen allerdings noch viele Früchte. Wer weiß, welches Getier schon darüber gekrochen war, aber die Beeren waren süß und füllten den Bauch. Zum Glück war es zu dunkel, um den Zustand der Früchte in Augenschein nehmen zu können. Dann krochen wir in unsere Höhle, schmiegten uns vor Kälte eng aneinander und schliefen, bis es hell wurde. Als wir bei Tageslicht sahen, was für Maulbeeren wir am Abend gegessen hatten, wollten wir am Morgen keine weiteren mehr zu uns nehmen. Feuer getrauten wir uns nicht zu machen, um vielleicht Mais zu braten. Mein Brennglas hatte ich in der Tasche. Der Rauch hätte uns wahrscheinlich schnell verraten. Wir machten uns also hungrig auf den Weg und hofften, irgendwo einen Obstbaum oder Tomaten zu finden. Der Morgen war sehr frisch ; wir mussten uns schleunigst bewegen, denn wir fröstelten.
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Nach gut einer Stunde konnten wir zu unserer Rechten ganz deutlich die Kirche von Sentiwan ausmachen. Jetzt mussten wir zwischen Sentiwan und Stapari Kurs auf Doroslo nehmen. Letzteres war ein fast reines Ungarndorf. Dort würde uns kaum etwas passieren. Wir könnten sogar betteln gehen und unseren Hunger stillen. Wir gingen auf keiner großen Straße, sondern auf Feldwegen. Sollte vielleicht ein ungarischer Bauer vorbeikommen, dann würde er uns auf seinem Wagen sicher bis Doroslo mitnehmen. Wir legten uns alles schön zurecht. Es muss so gegen zehn oder elf Uhr gewesen sein, als wir hinter uns einen leichten Wagen kommen hörten. Wir waren so überzeugt, dass es sich um einen ungarischen Bauern handelte, dass wir erst gar nicht in einem Maisfeld neben dem Weg Deckung suchten. Als wir den Wagen nach einer Biegung zu Gesicht bekamen, sahen wir zwei hochrangige Milizen mit einem Kutscher. Der Kutscher hielt an. Als die Offiziere hörten, dass wir nach Doroslo wollten, luden sie uns ein, mit ihnen mitzufahren. Die beiden waren freundlich ; der eine sprach sogar etwas Ungarisch. Sie verwickelten uns in Gespräche. Als sie Karcsi fragten, wohin er denn wolle, sagte er, zu den Großeltern nach Filipowa. Da wurde ihnen klar, dass wir deutsche Lagerkinder aus Gakewa waren. Wahrscheinlich hatten sie von Anfang an gemerkt, wer wir waren, sie wollten uns nur etwas zappeln lassen. Aber freundlich blieben sie trotzdem zu uns. In Doroslo übergaben sie uns der örtlichen Miliz. Die Polizei war gar nicht erfreut, dass sie uns in Gewahrsam nehmen musste. Ein Ungar, der sehr gut Deutsch sprach, sagte : »Euretwegen müssen wir jetzt einen Wagen ausrüsten, um euch nach Gakewa zu bringen. Warum seid ihr nicht in den Kukruz gelaufen, bevor der Wagen kam ? !« Sie gaben uns zu verstehen, dass sie uns nicht schon am nächsten Tag zurückbringen könnten. Der Chef der Miliz, ein Serbe, übergab uns einem älteren ungarischen Polizisten : Er solle uns ins Gefängnis bringen. So kam ich zum ersten Male in ein richtiges Gefängnis mit einem kleinen, vergitterten Fenster, einer schweren Tür mit drei Schlössern, einem Guckloch und einer großen Pritsche, aber ohne Toilette oder Hy-
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gieneeimer. Bevor der Polizist die Türe schloss, fragte er noch : Éhes vagytok ? – ob wir hungrig wären, und wir antworteten selbstverständlich : Nagyon éhes vagyunk – wir sind sehr hungrig. Wir legten uns zunächst mal auf die Pritsche, ruhten uns aus und erholten uns von der Enttäuschung. Einen Trost hatten wir doch : Der Alte würde uns sicher etwas zu essen bringen, denn er schien ein gutes Herz zu haben, und Hunger hatten wir, weiß Gott ! Karcsi weinte, weil er jetzt doch nicht zu seinen Großeltern käme. »Aber in Gakewa«, tröstete ich ihn, »sind wir noch lange nicht ! Die Ungarn würden niemals auf uns Buben schießen, wenn wir davonlaufen, und gefesselt werden sie uns nicht zurückbringen. Sogar ich wurde noch niemals von den Partisanen gefesselt, wenn sie mich nach einer Betteltour erwischt und in den Keller geworfen haben.« Karcsi war etwas getröstet, als er hörte, dass er vielleicht doch noch zu seinen Großeltern käme. »Schließlich«, sagte ich, »tun wir der Polizei von Doroslo geradezu einen Gefallen, wenn wir uns irgendwie aus dem Staub machen. Sie wollen uns doch gar nicht ins Lager zurückbringen. Wenn ihr serbischer Chef nicht wäre, würden die uns glatt laufen lassen.« Während wir noch so miteinander redeten, wurde unsere Tür aufgeschlossen. Eine junge, hübsche Ungarin in Dorosloer Tracht kam mit einem Henkelkorb in unsere Zelle. Der Korb war mit einem weißen Tuch zugedeckt. Der alte Polizist sagte, seine Tochter würde uns Essen bringen. Sie nahm das Tuch ab und packte den Korb aus : eine große Schüssel mit csirkepaprikás – Hähnchengulasch –, dazu für jeden ein großes Stück Weißbrot, Stritzkrapfen – in Fett ausgebackener Brandteig mit Eiern, und noch Weintrauben. Wenn wir fertig wären, sollten wir an die Tür klopfen, dann käme er und holte das Geschirr ab. Am Abend müssten wir schon um sechs Uhr essen, sagte er, weil ihn danach sein serbischer Kollege ablösen würde. Ich glaube, zum Schluss haben wir ihm gar nicht mehr so richtig zugehört, weil wir mit gierigen Augen das Essen anstierten. Kaum war die Tür geschlossen, schnappte sich jeder seinen Keil Brot und einen Löffel.
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Wir setzten uns um die Schüssel herum und aßen das ungarische scharfe csirkepaprikás. Als wir die Schüssel leer gelöffelt und mit den letzten Brotkrumen ausgeputzt hatten, meinte Richard : »Meinetwegen könnten wir auch länger in Doroslo im Gefängnis bleiben.« Dann kamen die Stritzkrapfen und die Trauben an die Reihe. Wir haben alles ratzeputz vertilgt. Jetzt war uns wesentlich wohler. Wir klopften an die Tür. Als die junge Dame das Geschirr abholte, bedankten wir uns recht artig bei ihr. Sie sagte uns a vacsora hat órakor – das Abendessen sei um sechs Uhr. Dann schloss ihr Vater wieder die Tür. Ein lateinisches Sprichwort sagt : Plenus venter non studet libenter – ein voller Bauch studiert nicht gern. Ich machte in diesem Moment die gegenteilige Erfahrung. Ich zog die Pritsche derart unters Fenster, dass ich bequem in den Hof schauen konnte. Etwa 20 bis 25 Meter von unserem Fenster entfernt wurde der Hof durch eine Mauer von ca. zwei Metern Höhe abgeschlossen. In dieser Ecke befanden sich auch die Plumpsklos und ein Urinal. Mehrere Pfosten unterschiedlicher Länge lehnten an der Mauer. Ich begann zu spekulieren : Mithilfe der Pfosten könnte es nicht zu schwer sein, auf die Mauer zu gelangen. Auf der anderen Seite der Mauer fiel das Gelände sicher stark ab, denn der seichte Fluss Mostong konnte nicht allzu weit entfernt sein. In Miltitsch kannte ich die Mostong sehr gut. Im Frühjahr konnte sie sehr breit werden. Aber jetzt im September und nahe beim Dorf war sie sicher eingedämmt und führte wenig Wasser. Bei Dunkelheit könnte eine Flucht über die Mauer wahrscheinlich glücken. Das Problem war, wie man bei einem Sprung von der Mauer auf der anderen Seite unten ankam. Ich rief Richard zu mir ans Fenster, zeigte und schilderte ihm unsere Möglichkeiten. »Riskant bleibt nur der Sprung von der Mauer, vor allem für Karcsi, weil wir nicht wissen, was sich auf der anderen Seite befindet : Abfall, Brennnesseln, Gestrüpp, Sträucher … jedenfalls keine Bäume, an denen wir hinunterklettern könnten.« »Und wenn wir einen Pfosten auf die andere Seite stellten, um daran hinunterzuklettern«, meinte Richard ? »Es würde sehr langwierig werden«, erwiderte ich ihm, »einen Pfosten
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hochzuziehen, wenn wir auf der Mauer stehen. Zum anderen könnte jedes ungewöhnliche Geräusch den Polizisten alarmieren.« Wir rückten die Pritsche wieder auf ihren Platz und planten weiter. Wir mussten die Pfosten bereits bei Tageslicht so stellen, dass wir bei Dunkelheit leicht daran und auf die Mauer kommen können. Bei Tag würde ein Geräusch auch gar nicht weiter auffallen. – Die Polizeistube hatte zwar, wie unsere Zelle, ihr Hauptfenster auf den Hof. Wir überlegten weiter : Wir müssten dem Alten am Nachmittag klopfen, dass er uns austreten lasse, denn zum Glück gab es ja keinen Eimer in der Zelle. Zwei pinkelten an der Wand, und einer richtete die Pfosten her ; dann käme der andere dran, und langsam gingen wir alle drei wieder in die Zelle zurück. Wir könnten ja auch noch über Bauchweh klagen, weil wir so viel gegessen haben. Vielleicht erzählte der Alte es seinem serbischen Kollegen weiter, dann würde er uns am Abend selbstverständlich hinauslassen und nicht mit auf die Toiletten kommen wollen. Morgen würden sie uns noch nicht ins Lager zurückbringen, aber wir wussten nicht, wer morgen Abend Dienst haben würde, und während der Dienstzeit des Alten wollten wir nicht durchbrennen. Dem Serben würde man viel weniger Scherereien machen, wenn wir verschwanden, als dem Ungarn. Also müssten wir unseren Plan heute Abend durchführen. Wir hatten ausgemacht, dass ich als Erster von der Mauer springen sollte. Wenn ich unten gut ankam, sollte Richard springen, und wir beide würden Karcsi unten auffangen. Wir würden schnell in verschiedene Richtungen laufen und jede große Straße meiden. Es war zu vermuten, dass sie wenige Minuten nach unserem Verschwinden eine Suchaktion starten würden, allerdings nicht zu Fuß. Deshalb waren wir im Vorteil. Sie würden glauben, dass wir nach Filipowa unterwegs waren, also müssten wir die breiten Wege dorthin meiden. Am Nachmittag klopften wir dem Alten, damit er uns zur Toilette lasse. Er schloss uns selbstverständlich auf. Er bat nur, ihm zu melden, wenn wir wieder alle in der Zelle seien, damit er abschließe, denn das wäre seine Order. – Er hielt uns offenbar für wohlerzogene Buben. Das
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waren wir auch mal, aber das Leben im Lager hat uns manche List und Bosheit beigebracht, die wir früher nicht einmal in Gedanken begangen hätten. Gegen Abend brachte uns die hübsche Ungarin Speck, Wurst und Schinken, dazu Weißbrot, Trauben und einen Krug Brunnenwasser. Wir aßen zwar wieder alles auf, aber so unbekümmert wie zu Mittag waren wir nicht mehr. Es stand uns ja auch eine turbulente Nacht bevor. Der Alte verabschiedete sich, und seine Tochter versprach, uns morgen früh wieder Essen vorbeizubringen. Wir lagen auf der Pritsche und sinnierten : Würde der Ausbruch gut gehen ? Richard fragte : »Und wenn er fehlschlägt, was dann ?« »Man wird uns beiden sicher eine ordentliche Abreibung verpassen, und die schöne Ungarin wird uns kein Essen mehr bringen dürfen. Aber wenn wir nicht wieder zurück ins Lager wollen, müssen wir etwas riskieren«, gab ich ihm zur Antwort. »Stell dir doch mal vor«, gab ich ihm zu verstehen, »wir würden nach Gakewa zurückgebracht werden, dann lachten doch unsere Lagerkameraden über uns. Die würden sagen : ›Sie künden einen großen Ausreiß an, dann werden sie ›per Schub‹ von der Miliz zurückgebracht !‹ Das willst du doch auch nicht ?« – Also warteten wir bis gegen halb acht oder acht Uhr. Alles lief wie geplant. Der Serbe ließ uns vor dem Einschlafen auf die Toilette und zog sich in seine Wachstube zurück. Ich kletterte auf die Mauer und sprang in ein dichtes Gestrüpp, das mich zwar arg zerkratzte, wie ich später feststellte, aber in dem Moment spürte ich überhaupt nichts. Richard folgte mir nach und Karcsi haben wir gut aufgefangen. Jetzt aber war Eile geboten, für eine Verabschiedung war keine Zeit. Die beiden liefen die Mostong entlang, ich entschloss mich, sie zu durchwaten. Ich war zwar bis zum Bauch nass, aber ich war sicher, dass mich in der nächsten Stunde niemand auffinden würde. Ich lief quer durch die Felder, so schnell ich konnte. Jedes ungewöhnliche Geräusch ließ mich aufhorchen. Ich muss sehr lange gelaufen sein, aber irgendwann hatte ich Seitenstechen. Ich wusste nicht, wo ich mich
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befand und in welche Richtung ich gelaufen war. Ich hatte zwar Doroslo hinter mir gelassen, aber weit war ich noch nicht weg, denn ich sah die Lichter des Dorfes. Als der Mond aufging, konnte ich in einiger Entfernung die Silhouette von zwei Barocktürmen ausmachen. Das musste die Wallfahrtskirche sein, die sich etwas außerhalb des Ortes befindet und an der Straße nach Miltitsch liegt. Sollte ich vielleicht doch zuerst die Mühle anpeilen und erst später Wawi in Filipowa besuchen ? Ich entschied mich für Miltitsch, das lag ja auch viel näher als Filipowa. Als ich die Schotterstraße erreichte, folgte ich ihr, blieb aber auf der Hut, denn ich hatte Angst, verfolgt zu werden. Die Mühle in Miltitsch lag damals am Dorfende Richtung Doroslo. Als ich dort ankam, lag das Gebäude ganz dunkel da, denn man arbeitete nur tagsüber. Offensichtlich gab es wenig Bedarf an Mehl : Die Deutschen waren weg, und die Südserben rückten erst nach und nach in deren Häuser ein. Die meisten Südserben verlangten auch nach Maismehl, da ihnen Weißbrot unbekannt war. Ich versuchte vom hinteren Eingang in den Hof zu gelangen, aber auch der war abgeschlossen. Ich wusste, dass es am Haustor eine Glocke gab. Aber wer würde mir aufmachen, wenn ich läutete ? Vielleicht der wachhabende Partisan oder gar der neue Verwalter ? Wenn nicht ein in der Mühle Internierter mir öffnete, konnte es für mich gefährlich werden. Sollte ich vielleicht versuchen, über ein Nachbarhaus in den Hof zu gelangen und in einem Schuppen bis zum Morgen warten ? Aber dann merkte ich, wie müde ich war. Bis zum Bauch war ich noch immer nass, und oben war ich vom Laufen und wohl auch aus Angst durchgeschwitzt. Hungrig war ich obendrein. Im oberen Stock leuchtete für kurze Zeit ein Licht auf. Ich wusste, es konnte nicht die Dienstwohnung des Verwalters sein, denn die lag im Erdgeschoss. Also mussten die Arbeiter der Mühle oben untergebracht sein. Ich fasste Mut und zog kräftig am Klingelknopf. Es dauerte eine Weile, dann erschien Obermüller Haas und öffnete das Tor. Als er mich sah, stellte er sich schnell vor mich und drängte mich ins Haus, damit mich weder die Wache noch der Verwalter sehen konnte. Seppvetter und Hans machten große Augen, als ich so herein-
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geschneit kam. Natürlich hatte ich ihnen viel zu erzählen. Ich merkte aber auch, dass ich für sie eine heiße Kartoffel war. Bleiben könne ich auf keinen Fall länger als einige Tage, hieß es. Den etwa zwanzig Arbeitern standen nur zwei Schlafräume zur Verfügung, und fast täglich kam der Lagerkommandant und machte Kontrolle. Die Frau des Obermüllers war die Köchin für die Internierten ; sie brachte mir gleich etwas zu essen. Es wurde spät an diesem Abend. Alle saßen um mich herum und wollten etwas über das Lager Gakewa erfahren, denn fast alle hatten Angehörige dort. Ich hörte ebenfalls Neuigkeiten, so z. B. dass die Miltitscher, wie auch Tante Eva mit ihrem jüngsten Sohn, in Filipowa im Sammellager seien. Man mutmaßte, dass es demnächst nach Gakewa verlegt werden solle. Hans erzählte, dass er vor einigen Wochen seine Mutter und seinen Bruder im Lager besuchen wollte. Er wurde aber von den Partisanen erwischt und windelweich geschlagen. Die Kommandantur befinde sich übrigens im Haus unseres ehemaligen Nachbarn. Hans erzählte weiter, dass er im Garten sein Grab zu schaufeln hatte, aber zum Glück habe man ihn nicht hineingeschossen, sondern mit weiteren Schlägen verabschiedet. Am nächsten Tag musste ich mich in den Räumen versteckt halten. Seppvetter wollte zwar den Úpravnik (Verwalter) der Mühle fragen, ob ich wenigstens vorübergehend bleiben dürfe, aber man hat mir von vornherein wenig Hoffnung eingeräumt. Mir hatte sich aber auch der Eindruck aufgedrängt, dass niemand an meiner Anwesenheit in der Mühle interessiert war : weder meine Verwandten noch die Verwaltung. Nachdem man meine Anwesenheit dem Lagerkommandanten gemeldet hatte, ließ dieser mich tags darauf durch zwei Partisanen abholen, die mich der örtlichen Miliz übergaben. Die befragten mich nicht weiter, woher ich käme, sondern gingen davon aus, dass ich Miltitscher sei und aus dem Lager Filipowa geflohen war. Ich wurde mit zwei anderen Burschen auf einen Wagen geladen und in die Kommandantur nach Filipowa gebracht. Ein junger Partisan, der kaum viel älter war als ich, übernahm uns. Zunächst mussten wir uns im
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Hof aufstellen, dann vermöbelte er uns der Reihe nach. Als wir anfangs nicht schrien, fühlte er sich herausgefordert, fester zuzuschlagen, bis wir aufheulten. Erst als wir kaum noch stehen konnten, warf er uns in den ehemaligen Gemischtwarenladen unserer Nachbarin, der jetzt als Gefängnis diente. Das »Gewölbe«, wie man zu Hause sagte, war ausgeräumt und finster. Es lagen darin einige halb leere Säcke mit Reis und Mehl und anderer Kram. Es war unser Tante-Emma-Laden, wohin uns Mutter fast täglich zum Einkaufen geschickt hatte. Als wir uns von den Schlägen ein wenig erholt hatten, stellten wir fest, dass es im Raum von Mäusen wimmelte. Eine Pritsche oder dergleichen gab es nicht. Seine Notdurft musste man in einer Ecke verrichten. Offensichtlich waren die Partisanen der Meinung, dass man nicht austreten müsse, wenn man nichts zu essen bekam. Die Mäuse wurden derart zudringlich, dass wir uns Ärmel und Hosenbeine zubinden mussten, damit sie nicht an uns hochkrochen. Die einzige Verbindung nach draußen war ein Innenfenster, vor dem die Partisanen ihre Mahlzeiten einnahmen. Sie hoben aber nicht einmal ihre Köpfe, wenn wir ans Fenster klopften und um Essen oder Trinken bettelten. Erst am dritten Tag kam einer und entließ uns ins Lager. Außer meiner Tante hatte ich niemanden im Sammellager. Also machte ich mich auf und fragte mich zu ihr durch. Sie war im ehemaligen Haus eines Hanfhändlers Teppert in der Böhmengasse einquartiert. Im Vergleich zu Gakewa war es ein fast beschauliches Lager. Mit etwas Pfiffigkeit konnte man es fast ungehindert verlassen, denn es wurden nur die Gassen kontrolliert und nicht die Gärten und Hinterausgänge. Tante Eva wusste, dass Wawi tagsüber auf dem Bauernhof von einem Schreiber nahe dem Saueloch arbeitete, wo sie mit anderen Frauen einige Hundert Schweine zu versorgen hatte. Über Nacht mussten sich alle Arbeiterinnen in ein zentrales Frauenlager begeben. Die Schweine blieben unbewacht. Gelegentlich wurden welche gestohlen, dann machte man den Lagerfrauen Vorwürfe. Am nächsten Tag machte ich mich auf, um Wawi zu besuchen. Aus Gewohnheit schlich ich mich vom Garten her in Schreibers Haus, da
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ich sichergehen wollte, dass nicht gerade eine Kontrolle oder eine unzuverlässige Person im Hause war. Ich versteckte mich bei den Stallungen und piekste mit einem spitzen Stock die Schweine so lange, bis sie unruhig wurden und zu schreien anfingen. Als eine Frau, die ich vom Gesicht her kannte, kam, um nach den Schweinen zu sehen, gab ich mich zu erkennen und fragte nach meiner Schwester. Sie sagte, dass sie im Haus sei und ich ruhig hineingehen könne. Als ich in der Tür erschien, war Wawi wie vom Schlag getroffen. Sie weinte vor Freude und konnte lange nicht sprechen. Ich musste ihr den ganzen Nachmittag von Mutter und unseren Geschwistern erzählen. Ich erwähnte auch, dass Eva zurzeit in Bezdan sei und es ihr dort gut gehe. Obwohl die andere Frau diesen Abend die Schweine allein fütterte, hatten wir nicht genügend Zeit, uns alles zu erzählen. Ich kam mehrere Tage zu ihr, um alle ihre Fragen zu beantworten. Ich erfuhr von Wawi, dass ein Wagen aus Doroslo im Arbeitslager nach drei entlaufenen Burschen aus Gakewa suchte. Man konnte aber trotz intensiver Suche niemanden finden. Als ich Wawi fragte, ob sie etwas von meinem Dackel gehört habe, wurde sie sehr verlegen und meinte nur : Im Pfarrhaus sei er nicht mehr. »Wo ist er dann ?«, fragte ich weiter. Ich musste ihr mehrmals zusetzen, bis sie mir sagte, dass er tot sei. Ich war natürlich traurig, aber mein Kummer hielt sich in Grenzen. Im letzten halben Jahr hatte ich derart viel menschliches Leid und so viele Tote gesehen, dass mir der Verlust meines Dackelwelpen nicht mehr in demselben Maße zu Herzen ging. Erst später hat mein Onkel mir die ganze Geschichte von seinem Tod erzählt : Er wurde erschlagen, weil er nachts in einem fort heulte. Im Pfarrhaus wollte ihn natürlich niemand in seinem Bett schlafen lassen, wie er es bei uns gewohnt war. In den dorfnahen Weingärten liefen noch immer halb verwilderte Hühner herum. Bisweilen konnte ich eines mit einem Wurfholz erlegen und meiner Tante ins Lager mitbringen. Auch Wawi konnte mir jedes Mal Lebensmittel fürs Lager mitgeben. Einmal bat sie mich, einen Sack mit Lebensmitteln durch die Gärten zu den Nonnen ins Kloster
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zu bringen. Ich konnte sie auch unbehelligt bei den Schwestern Lea und Anysia abliefern. Als sie hörten, wer ich war, musste ich viel über unsere Familie und Gakewa erzählen. Mein Vater war bereits Schüler bei Schwester Lea gewesen und Wawi Schülerin bei Schwester Anysia. Die Nonnen haben sich über meinen Besuch sehr gefreut. Als ich mich nach unserem Onkel Sándor in Karbok erkundigte, wussten sie zu berichten, dass gestern ein Filipowaer bei ihm in Karbok gewesen war. »Er ist übrigens ein Geschwisterkind von deinem Vater«, sagte Schwester Lea. »Dein Verwandter ist zwar nicht im Lager, aber er lebt in einem anderen Haus in der Raatzengasse.« Sie nannte mir den alten Eigentümer des Hauses. Nachdem ich die Schwestern verlassen hatte, suchte ich den angeblichen Cousin meines Vaters auf. Der Mann und die Söhne waren leider nicht zu Hause, aber seine Frau. Sie freute sich über meinen Besuch. »Ja, du hast recht gehört«, sagte sie, »der Jakobvetter war gestern in Karbok. Dein Sándor Bácsi hat nach dir gefragt. Ihm wurde zugetragen, dass du im Lager in Filipowa bist. Er sagte, er könnte dich gut als Kirchen- und Messdiener in Karbok gebrauchen.« Später erzählte ich Wawi von meinen Besuchen. Sie konnte mich auch näher über den Jakobvetter aufklären : Er und seine Familie seien nicht ins Lager gekommen, weil die Sportmänner ihn und seine beiden Söhne brutal zusammengeschlagen und im Gasthaus Ott eingesperrt hatten. Der Grund war, dass sie nicht »freiwillig« zur SS einrücken wollten. »Der Jakobvetter war halt in der Gemeinde beschäftigt und konnte nach dem Umsturz seine Feindschaft zu den ›Erneuerern‹ entsprechend darlegen.« Unseren genauen Verwandtschaftsgrad konnte aber auch Wawi nicht darlegen. Sie hatte gehört, dass der Jakobvetter vorhabe, nach Ungarn auszuwandern, denn unter lauter Serben wolle er nicht bleiben. Als ich am Abend zu meiner Tante ins Lager kam, hatte auch sie bereits gehört, dass Onkel Sándor mich gerne als Kirchen- und Messdiener in Karbok haben wollte. Sie meinte, ich solle das Angebot möglichst
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bald annehmen, da sich das Gerücht verdichte, dass das Lager von Filipowa aufgelöst und nach Gakewa überführt werde. Auch Wawi riet mir, nach Karbok zu gehen. »Von dort kannst du Mutter vielleicht eher etwas Geld oder Lebensmittel schicken ; eventuell kannst du es auch zu Eva schicken, damit sie es an Mutter weiterleite.« Ich war nun fast zwei Wochen in Filipowa. Es war schon Oktober. Das Wetter war noch immer schön, wenn es auch abends und morgens recht frisch wurde. Es war abzusehen, dass Wawi bald in ein anderes Arbeitslager verlegt würde, denn die Schweine wurden laufend mit Waggons abtransportiert. Bald würde Jugoslawien den Reichtum der Donauschwaben aufgezehrt haben. Dann würden auch die neuen Herren arbeiten müssen, erzählten die Leute im Lager. So entschloss ich mich, von Wawi und meiner Tante Abschied zu nehmen und meinen Onkel in Karbok aufzusuchen. Nach bewährtem Muster meldete ich mich zu einer Arbeitskolonne und verschwand in einem günstigen Augenblick in einem Maisfeld. Als die Luft rein war, suchte ich mir ein Versteck in einem Weingarten, wo es neben Trauben auch genügend Obstbäume gab. Ich wollte erst bei Dunkelheit nach Karbok kommen, denn ich wusste nicht, wie gefährlich es war, mich bei Tag in den Gassen Karboks blicken zu lassen. Ich erinnerte mich, dass man vom Gemeindehaus direkt den Haupteingang des Pfarrhauses beobachten konnte. Ich dachte mir, Onkel würde dankbar sein, wenn ich vorsichtig war. Am späten Nachmittag verließ ich mit vollem Bauch meine Weingartenhütte. Hier auf dem Filipowaer Hotter lief ich nicht Gefahr, von Partisanen geschnappt zu werden ; ich kannte jeden Feldweg. Ich brauchte gut drei Stunden bis Karbok, das der Straße nach etwa zehn Kilometer entfernt ist, aber ich wollte Odschag umgehen. Als ich Karbok erreichte, wich ich der spärlichen Straßenbeleuchtung aus, doch Gefahr bestand keine, denn die Gassen waren fast menschenleer. Onkel hatte in seinem Schlafzimmer noch Licht. Ich warf kleine Erdschollen an sein Fenster. Schließlich hörte er mich und machte mir auf.
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Er war sehr überrascht, als er mich in Empfang nahm. Als er nach meinem Rucksack fragte und ich ihm mitteilte, ich trage allen meinen Besitz bei mir, verzog er sein Gesicht und meinte : »Da werden wir zusehen müssen, um dich in Karbok vorzeigbar zu machen.« Ich hatte im Prinzip nichts dagegen einzuwenden !
12. Zwischenspiel in Karbok
Als ich Anfang Oktober 1945 zu meinem Onkel nach Karbok kam, besaß ich nur das, was ich am Leibe trug. In meiner Umhängetasche hatte ich ein Reservehemd, eine abgetragene Jacke und ein Paar Lederschuhe. Diese Kleidungsstücke hatte Wawi für mich organisiert, damit ich nicht ganz abgerissen bei Onkel auftauchte. Er war dennoch überrascht, mit welch »leichtem« Gepäck ich aufkreuzte. Im Pfarrhaus lebten damals noch meine Cousine Marjan, die Tochter von Seppvetter aus Miltitsch, sie war die Köchin, und eine Dienstmagd aus Karbok ; beide waren um die zehn Jahre älter als ich. Die beiden Damen schliefen im Kaplansgebäude und ich mit Onkel im Haupthaus. Da Karbok früher eine reiche Pfarrei mit einem Pfarr-Sallasch und viel Ackerland war, gehörte zum Pfarrhaus auch ein großes Wirtschaftsgebäude mit weitläufigem Garten und Wirtschaftshof. Nachdem Marjan mir bessere Kleider besorgt hatte, stellte mich Onkel seinen Bekannten vor und wies mich in meine Arbeit ein. An erster Stelle war ich für die Kirche da : Ich hatte zu läuten, jeden Tag die Turmuhr aufzuziehen, die Messgewänder auszulegen und wegzuräumen und zu ministrieren. Die übrige Zeit war ich das Faktotum im Haus : Holz sägen und hacken, Höfe kehren, im Garten helfen, einkaufen, Botengänge machen usw. Es blieb mir aber noch genug Zeit, mit zwei Burschen meines Alters, Peter Borić und Martin Auer, die nicht im Lager waren, herumzustromern. Das Problem dabei war nur das Mittagsläuten, denn ich brauchte öfter eine Vertretung. Onkel kümmerte sich außer beim Dienst in der Kirche wenig um mich. Er überließ mich der Obhut von Marjan. Ich machte die Arbeit in der Kirche gern. Etwas mühsam war nur das frühe Aufstehen, denn
220 : Zwischenspiel in Karbok
um fünf Uhr hatte ich zur ersten Betzeit zu läuten. Dafür musste ich mit der Laterne in den Turm steigen. Manchmal sagte Onkel zu mir, ich solle abends bei ihm Nachrichten hören. Damals wurde viel über den Abwurf der Atombomben über Japan diskutiert. Onkel erklärte mir, was für schreckliche Waffen das wären, denn ich hatte bis dahin niemals von Atombomben gehört. Er wollte mich offensichtlich etwas bilden und in die Zeitgeschichte einführen. Onkel war noch weitgehend ein Pfarrer alten Stils, d. h. er war ein »Pfarrherr«. Er hielt viel auf eine dezente äußere Erscheinung. Auch innerhalb des Hauses habe ich ihn fast nie in Hemd und Hose gesehen. Er aß auch immer allein im Esszimmer. Das Dienstmädchen brachte ihm das Essen hinauf. Danach aßen wir anderen in der Wohnküche. Marjan war eine gute Köchin ; wenn Onkel Gäste hatte, gab sie sich besonders große Mühe, denn Onkel wollte Eindruck machen und hielt auf Etikette. In Karbok gab es mehrere Arbeitslager ; das Hinterland war weiträumig und erstreckte sich bis zur Donau. Im Ort lebten etliche Familien mit serbischem oder ungarischem Ursprung, die nicht ins Lager kamen, aber im Grunde doch deutschsprachig waren. Daneben gab es eine ansehnliche ungarische Minderheit, die katholisch war, und einige katholische Kroaten und Bunjewatzen. Das war der Grund, weshalb das Sonntagsevangelium immer in drei Sprachen verlesen wurde. Die Predigt war auf Deutsch, aber Onkel gab auch immer eine Zusammenfassung in Ungarisch und Serbokroatisch. Wie Onkel, so sahen auch die anderen Deutschsprachigen, dass sie in Karbok keine Zukunft mehr hatten. Zunächst waren sie froh, nicht ins Lager gekommen zu sein, aber als sie merkten, dass sie nur mehr eine verschwindend kleine Minderheit in einem südserbischen Ort waren, wurde ihnen um ihre Zukunft bange. Die Familie Udvari fand z. B. für ihre heiratsfähige Tochter keinen ebenbürtigen Partner. Die Bäckerei Borić verlor mit dem Weggang der Deutschen ihre Kunden, denn die Litschaner (die eingewanderten Südserben) bevorzugten ihr eigenes Brot ;
Zwischenspiel in Karbok :
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der Chef des Landwirtschaftsverbandes verlor seine Existenzgrundlage, da kein Überschuss mehr produziert wurde ; und der Koordinator des Güterverkehrs der Bahn war arbeitslos geworden. Die Lage dieser Menschen hat sich mit der Zeit sehr schwierig gestaltet. Einige von ihnen sind als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, andere haben sich auf niedrigerem Niveau in ihre neue Umwelt integriert. Diese perspektivlose Zukunft war der Grund, dass Onkel im Frühjahr 1946 mit seinem Freund Pfarrer Moullion eine Reise nach Slowenien machte. Sie suchten einen Weg, um direkt nach Österreich zu gelangen. Als beide schon gut zwei Wochen weg waren und nichts von sich hören ließen, waren wir zu Hause unruhig geworden. Da Marjan und ich überzeugt waren, dass Onkel sich nicht nach Österreich abgesetzt hatte, musste er in Slowenien verhaftet worden sein. Mein Aufenthalt in Karbok war dadurch unsicher geworden, denn ich hielt mich illegal auf, wenn auch der Gemeindevorsteher von meiner Anwesenheit wusste. Mich beschlich das Gefühl, dass meine Zeit in Karbok bald zu Ende sein könnte. Wenn ich, wie mit Mutter ausgemacht, Wawi nach Bezdan bringen wollte, musste ich zupacken, denn, da gab mir auch Marjan recht, ich würde dazu wohl nicht mehr lange Zeit haben. So fasste ich den Plan, sie aus dem Arbeitslager zu schmuggeln und nach Bezdan zu bringen, wo wir unsere ungarischen Freunde hatten. In Bezdan würde sich wahrscheinlich eine Möglichkeit ergeben, dass sie unsere Mutter treffen könnte. Im Lager im Donauried arbeiteten 400 bis 500 Mädchen und Frauen, die von etwa 20 Partisanen Tag und Nacht bewacht wurden. Die Frauen lebten mit ihren Bewachern auf einem Sallasch. Sie hatten von morgens bis abends auf den Feldern zu arbeiten ; normalerweise sechs Tage in der Woche, in der Erntezeit auch sieben. Im Ried hatte es in vorkommunistischer Zeit große Gutshöfe mit ausgedehnten Ländereien gegeben, die in der Tito-Ära verstaatlicht worden waren. Ortschaften gab es in der näheren Umgebung keine, wahrscheinlich, weil die Donau im Frühjahr oft über die Ufer trat und die Häuser der
222 : Zwischenspiel in Karbok
nahen Dörfer überflutet und zerstört hätte. Sogar Karbok war einmal total zerstört worden, obgleich es zehn Kilometer von der Donau entfernt liegt. Später hat man es auf der höchsten Erhebung der Region wieder aufgebaut. In vorkommunistischer Zeit wurden die Sallasche von einem Birescher und seiner Familie bewohnt, die auch die dazugehörigen Ländereien bearbeiteten. Wenn eine Birescher-Familie fleißig und geschickt war, konnte sie ein gutes Auskommen haben. Dennoch übten in deutschsprachigen Bauerngemeinden fast ausschließlich Nicht-Deutsche, und zwar vor allem Slawen, den Beruf des Bireschers aus. Deutsche Familien wollten nicht gerne abseits der Siedlungen wohnen, wo sie am Dorfleben nicht teilnehmen und die Kinder nicht in die Schule schicken konnten. Als es in der Tito-Zeit die Birescher nicht mehr gab, bearbeiteten die Lagerfrauen die Ländereien mehrerer Sallasche. Wenn sie in zwei bis drei Wochen ein Gut abgearbeitet hatten – sie hackten Mais- und Sonnenblumenfelder, vereinzelt Rüben, jäteten das Unkraut im Weizen etc. –, dann zogen sie auf das nächste Gut. Mir waren die Namen der Sallasche bekannt, die zum Bereich der Lagerfrauen gehörten, aber die Wege dorthin kannte ich nicht ; nur so viel wusste ich, dass sie alle im Karboker Ried lagen. Eines Morgens, nachdem ich die Glocke zur Betzeit geläutet hatte, sagte ich zu meiner Cousine : »Ich gehe Wawi suchen.« Gleichzeitig bat ich sie, mittags zum Angelus zu läuten, da ich nicht zurück sein würde. Sie hielt mein waghalsiges Unternehmen für jugendlichen Leichtsinn und suchte es mir auszureden. »Wenn Onkel hier wäre«, hielt sie mir vor, »würde er es nie erlauben.« Ich erwiderte ihr, dass ich es gerade deshalb jetzt machte. Mir war auch klar, dass, sollte ich erwischt werden, die Partisanen wahrscheinlich herausfinden würden, dass ich illegal bei meinem Onkel lebte, und meine Cousine zur Rede gestellt würde. Vielleicht würde man sogar dem Gemeindevorsteher unangenehme Fragen stellen. Ich habe Marjan aber nichts von meinen Befürchtungen gesagt, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen. Wäre mein Unternehmen
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schlecht ausgegangen, hätte man mich in ein Lager abgeschoben. Da die Wojwodina-Slawen nach und nach aus ihren Positionen verdrängt wurden, war auch zu erwarten, dass eines Tages die Legitimationen von Marjan und meinem Onkel, die der Gemeindevorsteher ausgestellt hatte, nichts mehr wert sein würden. – Ich ließ mich von Marjans Vorhaltungen jedoch nicht umstimmen, nahm Onkels Fahrrad und fuhr ins Ried. Zu den Sallaschen an der Donau führten nur kleine Bauernwege, und selbstverständlich gab es keine Wegweiser. Auch früher fuhren nur einheimische Bauern dorthin. Der Mais stand Ende Mai schon so hoch, dass ich nicht drüberschauen konnte, um irgendwo einen Sallasch zu erspähen. Als ich Karbok einige Kilometer hinter mir hatte, bin ich auch keinem Menschen mehr begegnet. Hin und wieder gab es am Wegrand einen großen Baum, in dessen Schatten die Bauern früher ihre Feldmahlzeiten einnahmen. Ich bin auf Bäume geklettert und habe Ausschau gehalten. Wenn ich einen Sallasch sah, bin ich dorthin gefahren, aber sie waren alle nicht mehr bewohnt. Nach einigen Stunden stieß ich auf ein kleines Haus, das von einer ungarischen Familie bewohnt wurde. Sie konnten mir immerhin die Richtung angeben, wo sie vor einigen Wochen Lagerfrauen gesehen hatten. »Allzu weit können sie nicht weg sein«, meinten die Kleinbauern. Als sie fragten, woher ich käme, sagte ich aus Bogojevo (Gombos) ; ich wolle meinen Cousin besuchen, der im Frauenlager Wachsoldat sei. Mit meiner Aussage legte ich bewusst eine falsche Fährte für den Fall, dass man mich erwischen sollte. – Ich war über die Auskunft der Ungarn erleichtert und fuhr weiter. Als ich auf den nächsten Baum kletterte, sah ich in der Nähe einen großen Sallasch und vor dem Haus stiegen mehrere Rauchsäulen auf. Dem Sonnenstand nach musste es bald Mittag sein. Ich kombinierte : Hier wird in Kesseln Mittagessen gekocht, also kommen die Frauen zum Mittagessen auf den Sallasch. Ich fuhr bis in die Nähe des Sallaschs, versteckte das Fahrrad und näherte mich vorsichtig dem Haus. Aus sicherer Distanz beobachtete ich eine Weile die Szenerie vor dem Haus : Ich konnte die Köchinnen
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bei den Kesseln hantieren sehen, aber keinen Partisanen erblicken ; also, schloss ich, waren sie noch alle mit den Frauen im Feld. Vorsichtig näherte ich mich den Frauen und fragte sie nach meiner Schwester. Sie antworteten, dass sie auf dem Feld sei, aber alle bald zum Mittagessen kämen. Eine Köchin führte mich ins Haus und versteckte mich auf Wawis Schlafplatz. Ich musste mich in die Ecke setzen, sie warf eine Decke über mich und stellte Wawis Rucksack davor. Ich solle mich ja nicht rühren, sagte die Frau, selbst wenn ein Partisan ins Zimmer komme. Sie werde meine Schwester und ihre Zimmerkolleginnen gleich, wenn sie kommen, unterrichten, dass ich hinter dem Rucksack versteckt sei, damit sie sich entsprechend verhalten könnten. – Mir kam die Zeit unter der Decke wie eine Ewigkeit vor, dazu war es fürchterlich heiß. Endlich hörte ich Frauenstimmen. Bald darauf nahm Wawi mir die Decke vom Kopf. Wir haben uns sehr gefreut, als wir uns wiedersahen. Im Zimmer schliefen etwa ein Dutzend Frauen ; alle stammten aus Filipowa. Sie passten auf, dass Wawi und ich nicht von den Partisanen überrascht wurden. Als sich ein Partisan anschickte, ins Zimmer zu kommen, warfen sie mir schnell die Decke über den Kopf und setzten sich davor. Er schäkerte eine Weile mit einem Mädchen, dann ging er wieder. Die Frauen fragten nachher, ob ich denn Angst gehabt hätte, als der Partisan ins Zimmer kam. Ich verneinte, denn irgendwie war ich überzeugt, dass mein Unternehmen gut ausgehen würde. Ich hatte im Lagerleben gelernt, in brenzligen Situationen ganz ruhig zu bleiben und mich möglichst ahnungslos zu stellen. Meist kam ich auf diese Weise gut durch. Da die Mittagspause kurz war, machte ich mit Wawi einen Tag aus, an dem ich sie herausholen würde. Ich trug ihr auf, an diesem Tag fürchterliche Bauchschmerzen vorzutäuschen, sodass sie ständig auf die Latrine gehen müsse. Diese befand sich nämlich hinter dem Haus in der Nähe eines Maisfeldes. Sie solle wiederholt austreten und jedes Mal ein Gepäckstück mitnehmen und ins Maisfeld legen. Ich würde gegen elf Uhr im Maisfeld sein und auf sie warten.
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Wawis Zimmerkolleginnen wussten zwar, dass ich sie herausholen wollte, aber die Einzelheiten des Plans kannten sie nicht. So war es besser für sie, den Partisanen gegenüber. Sie konnten ihnen ruhig und überzeugend erklären, sie seien vom Verschwinden ihrer Zimmerkollegin ebenfalls überrascht worden. Wawis Freundin Rosl allerdings wusste mehr. Sie war couragiert und würde sich schon aus der Affäre zu ziehen wissen. Sie riet Wawi, mit mir zu fliehen, denn sie wusste, wie Wawi unter der Trennung von ihrer Familie litt und dass sie von sich aus niemals den Mut aufbringen würde zu fliehen. Am vereinbarten Tag brach ich in Karbok zeitig auf und lag schon früh im Maisfeld hinter dem Sallasch. Wawis Gepäckstücke, die sie im Mais deponiert hatte, sammelte ich ein und band sie aufs Fahrrad. Als sie endlich kam, fuhren wir, so schnell es ging, davon, denn beim Mittagessen würden die Partisanen sehr wahrscheinlich bemerken, dass sie nicht mehr krank in ihrem Zimmer lag, sondern verschwunden war. Bis sie sich aber zu einer Suchaktion entschlossen haben würden, wären wir schon weit weg, zumal sie wahrscheinlich zu Fuß wären. Sollten sie die ungarische Familie nach uns befragen, würde die aussagen, dass ich aus Bogojevo stamme ; also würden sie Wawi wahrscheinlich zuerst dort suchen. Ich hielt es aber dennoch für ratsam, nicht bei Tag in Karbok einzufahren. Es konnte ja gut sein, dass das Pfarrhaus beobachtet wurde. Ich setzte Wawi in der Nähe des Dorfes bei einem Hof ab, wo donauschwäbische Lagerfrauen Schweine mästeten ; hier fiel sie nicht weiter auf. Ich fuhr in den Ort zu Marjan und kündigte ihr unser Kommen bei Dunkelheit an. So gelangten wir am Abend ins Pfarrhaus, ohne Aufsehen zu erregen. Wawi konnte nicht lange in Karbok bleiben. Da Onkel sicher irgendwo im Gefängnis saß, musste man jeden Tag mit einer Hausdurchsuchung rechnen. Ohne meine Schwester konnte ich mich im Ernstfall schnell irgendwie in Sicherheit bringen, aber Wawi wäre bei so einer Aktion viel zu aufgeregt gewesen. Ich musste sie umgehend nach Bezdan
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bringen ; dort könnte sie sich einige Wochen ausruhen. Vielleicht würde sich auch eine Möglichkeit ergeben, nach Gakewa zu kommen. Ich riet ihr aber davon ab, denn sie könne im Lager unserer Mutter und den jüngeren Geschwistern nicht helfen. Mutter hätte nur eine zusätzliche Esserin zu versorgen. »Wir werden Marisnéni bitten«, sagte ich ihr, »eine ungarische Familie zu suchen, die dich als Dienstmädchen nimmt ; bei ihr könntest du dich satt essen, und vielleicht findet sich sogar eine Gelegenheit, dass du Mutter Lebensmittel ins Lager schicken kannst.« Pakete ins Lager zu schicken, war über Illusch und ihren Geliebten möglich. Da dieser sie in der Woche wenigstens einmal besuchte – ein Lagerkutscher fuhr ihn mit zwei Rappen nach Bezdan –, war Illusch immer bereit, dem Kutscher ihres Liebhabers ein Paket für unsere Mutter mitzugeben. Der Kutscher stammte aus Kernei und hat die Pakete auch immer unserer Mutter überbracht. Das war damals keine Selbstverständlichkeit. Einmal hatte der Kommandant sogar mich selbst ins Lager mitgenommen, weil Marisnéni mich ihm als ihren ungarischen Neffen vorgestellt hatte. Wir bedauerten es alle sehr, als Ende 1946 die Liebe Risse bekam und der Paketdienst nicht mehr funktionierte. Illusch litt sehr unter der gescheiterten Beziehung. Erst viele Jahre später hat sie einen Schneider aus Bezdan geheiratet. Wawi und ich konnten es nicht wagen, mit der Bahn nach Bezdan zu fahren, denn es gab an jedem Bahnhof, und sogar in den Zügen, Kontrollen, und wir hatten beide keine Papiere. Es gab damals aber einen Lastwagen, der mit Passagieren von Karbok über Odschag nach Sombor fuhr, und ein anderer Laster transportierte Menschen von Sombor nach Bezdan. Wawi musste ein Kleid von Marjan anziehen, denn ihre schwäbische Tracht hätte sie sofort verraten. Ihre Habseligkeiten steckte ich in einen alten Koffer unseres Onkels – mit einem Sack reisten damals nur die Lagerleute und die Litschaner ; sie reisten mit derben Säcken aus Ziegenhaar. Wawi und ich fuhren als Ungarn ohne serbische Sprachkenntnisse. Auf diese Weise konnten wir kaum in für uns gefährliche Gespräche verwickelt werden, denn die meisten Serben sprechen kein Ungarisch,
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vor allem nicht die Kolonisten aus dem Süden. Wawi hatte den Auftrag, recht freundlich dreinzuschauen, aber still zu sein und mich reden zu lassen. Der sogenannte Sombor-Bus ging schon sehr früh ab, aber der von Sombor nach Bezdan erst am späteren Nachmittag. Da sich der Busbahnhof in Sombor in der Nähe der Karmeliterkirche befand, setzte ich Wawi mit dem Koffer in eine Kirchenbank hinter eine Säule. Ich besuchte sie von Zeit zu Zeit und brachte ihr zu essen. Ich weiß nicht, wie viele Rosenkränze sie an diesem Tag gebetet hat, aber es waren sicher sehr viele, denn immer wenn ich in die Kirche kam, war sie ganz in ihr Gebet versunken. Kurz vor Abfahrt des Busses holte ich sie ab. Die Fahrt ging reibungslos. Gegen Abend waren wir bei unseren Freunden in Bezdan. Endlich war Wawi in Sicherheit. Wir waren beide erleichtert. Ich war mit meinen dreizehn Jahren noch zu jung, um die ganze Tragweite meines Tuns abschätzen zu können. Aber vielleicht hatte ich schon durch Krieg und Lagerleben zu viel durchgemacht, um noch große Angst zu haben. Als wir Marisnéni die Situation geschildert hatten, war sie überzeugt, dass sie eine Familie finden würde, die Wawi für Kost und Kleidung in Dienst nahm. An eine Bezahlung war damals nicht zu denken. Man war schon froh, wenn man sich satt essen konnte und nicht Gefahr lief, den Schikanen der Partisanen ausgeliefert zu sein. Ich fuhr tags darauf nach Karbok zurück, denn dort konnte sich schon bald eine Veränderung ergeben. Einige Tage nach meiner Rückkehr aus Bezdan kam Bewegung in unser beklemmendes Warten im Pfarrhaus. Seit Onkels Ausbleiben hatte ich immer einen kleinen Sack mit meinen wenigen Habseligkeiten griffbereit in meiner Nähe liegen : Socken, ein Hemd, eine Hose und ein Paar Schuhe. Mehr besaß ich nicht ; kleines Gepäck macht beweglich. Ein gutes Taschenmesser, ein Brennglas von einer Taschenlampe und ein Stück Schnur hatte ich aus Gewohnheit immer in meinen Hosentaschen. Meine Cousine Marjan kochte gerade für uns zu Mittag, als ganz stürmisch am Haustor geklingelt wurde. Wir wussten sofort, das konnten nur
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die Partisanen sein. Alle Militärs scheinen der Meinung zu sein, dass Türen für sie offen zu stehen hätten. Werden sie nicht schnell genug geöffnet, treten sie sie ein. Als es klingelte, griff ich gleich nach meinem Bündel und steckte ein Brot hinein. Da läutete es auch schon zum zweiten Male Sturm. Ich lief mit meinem Sack zum hinteren Tor im Wirtschaftshof und Marjan ging die Eingangstür öffnen. Ich wartete noch einen Augenblick, um mich zu vergewissern, ob es auch wirklich die Partisanen waren. Als ich sie von Weitem hörte, warf ich meinen Sack über das Tor und kletterte schnell darüber. Zunächst verzog ich mich ins nächste Quergässchen und wartete ab, ob mir jemand folgte. Dem war nicht so. Wohin sollte ich jetzt gehen ? In den letzten Tagen hatte ich mir oft die Frage gestellt, was ich machen würde, wenn ich aus Karbok verschwinden müsste. Doch es ist etwas anderes, ob man eine Frage theoretisch erörtert oder ob man sie urplötzlich beantworten muss. Sicher war, ich konnte mit meinen Habseligkeiten nicht in der Gasse stehen bleiben, ich musste das Dorf möglichst bald verlassen. Trotz meiner misslichen Lage überlegte ich recht ruhig und nüchtern : Für ein Arbeitslager war ich mit meinen dreizehn Jahren noch zu jung ; in das Lager Gakewa wollte ich nicht, ich war von dort vor zehn Monaten geflohen ; auch nach Bezdan konnte und wollte ich nicht. Was hätte ich dort auch schon machen sollen ? Bei einem ungarischen Bauern als Kleinknecht arbeiten ? Diese Aussicht behagte mir überhaupt nicht. Wahrscheinlich hätte ich nur auf einem abgelegenen Sallasch einen Platz finden können und dem Bauern wäre daran gelegen gewesen, dass ich möglichst nicht in der Öffentlichkeit gesehen werde. Ein geregeltes Essen bei einem Bauern konnte mich nicht reizen. Bisher hatte ich mich immer ganz gut durchgeschlagen. Auch in schwierigen Situationen stöberte ich meist etwas Essbares auf. Das Lotterleben, das ich gegen Ende des Krieges und in den Lagern führte, bot mir immer spannende und herausfordernde Tagesabläufe. Offensichtlich fand ich damals an dieser Art zu leben sogar Gefallen. Es war für mich auf jeden Fall schöner, als in Gakewa zu sein, wo man immer von Hunger, Elend und Sterben umgeben war.
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Am liebsten wäre ich nach Miltitsch in die Mühle gegangen. Als ich vergangenen Herbst in die Mühle kam, konnte ich zwar nicht dort bleiben, aber vielleicht war jetzt die Situation günstiger ? Es käme auf einen Versuch an. Fand ich dort keinen Platz, konnte ich immer noch nach Gakewa gehen. Führer aus dem Lager nach Ungarn waren dort zurzeit sehr gefragt. Mein Schulfreund Sepp war dort angeblich ein anerkannter Führer. Er würde mich sicher in sein »Handwerk« einweihen. Ich entschloss mich also, es wieder in Miltitsch zu versuchen. Seppvetter und Hans waren noch immer als Maschinisten in der Mühle tätig. Die Mühle wurde zwar Tag und Nacht von Partisanen bewacht, aber ich kannte die Hintertürchen, um mich bei Dunkelheit sicher einschleichen zu können. Ich würde dann Seppvetter fragen, ob es eine Möglichkeit gebe, dort zu bleiben. Wenn er meinte, es sei aussichtslos, würde ich das Weite suchen, um nicht wieder der Miliz ausgeliefert zu werden. Jetzt würden sie mich zudem nicht nach Filipowa, sondern nach Gakewa abschieben. Aber auch dort würde ich mein Auskommen finden. Da es gegen Mittag ging, als ich mich aus Karbok davonmachte, hatte ich noch etliche Stunden Zeit, denn Miltitsch liegt zu Fuß nur etwa fünf Kilometer von Karbok entfernt. Ich ging zum Fluss Mostong in Richtung Miltitsch. Im Sommer bilden sich vielfach große Inseln, Saliter genannt. Da das Gewässer sumpfig ist, ist es ein ideales Biotop für Sumpfaale (Tschicke) und Blutegel (Blutzuckel). Jedes Mal, wenn ich darin badete, hingen Blutegel an mir. Deshalb nahmen wir Buben uns zum Baden gerne Salz mit, um sie wieder loszubekommen. Als ich an der Mostong entlangging, kam mir der Kantorlehrer von Karbok mit der Flinte entgegen. Er kam von der Jagd, obgleich die Saison längst zu Ende war ; aber darum kümmerte sich damals niemand. Er hatte es verstanden, sich den neuen Behörden als Ungar auszugeben, deshalb wurde er mit seiner Familie nicht ins Lager gesteckt. Er stammte aus dem ungarischen Donaudorf Bogojevo (Gombos). Die Familie sprach zu Hause Ungarisch, denn das galt als vornehm. Sie waren allerdings nur magyarisiert, und auch das erst seit der Besetzung
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der Batschka durch Ungarn 1941. Vorher galten sie als Donauschwaben. In Karbok erzählte man sich, dass sie diesen Schritt schon manchmal bereuten, da sie seit der Vertreibung der Donauschwaben für ihre drei Töchter keine adäquaten Ehepartner fänden und es immer offensichtlicher würde, dass der Kantorlehrer seinen Beruf weder als Lehrer noch als Kantor fortan ausüben könne. Der Kantor war erstaunt, mich hier mit meinen Habseligkeiten anzutreffen. Ich erzählte ihm, was passiert war und dass ich auf dem Weg nach Miltitsch zu meinem Seppvetter sei. Er fragte, ob ich denn dort bleiben könne. Das wisse ich noch nicht, sagte ich ihm, vielleicht müsse ich auch wieder zurück nach Gakewa. Er hatte wohl Mitleid mit meiner misslichen Lage, denn er holte aus seinem Rucksack ein Rebhuhn heraus und schenkte es mir. Er meinte, damit ich heute wenigstens etwas Gutes zu essen hätte. Dann ging er weiter dem Dorf zu. Das Rebhuhn kam mir wie gerufen. Da ich noch mehrere Stunden Zeit hatte, bis ich mich in die Mühle einschleichen konnte, suchte ich mir am Fluss ein ruhiges Plätzchen, wo man mich nicht ohne Weiteres ausmachen konnte, denn ich hatte vor, mir das Rebhuhn nach Zigeuner art zuzubereiten. Ich nahm es aus, schnitt Kopf, Kragen und Füße ab und wickelte es samt den Federn in dicken Lehm. Ich suchte trockenes Holz, holte mein Brennglas heraus, leckte mit der Zunge darüber und richtete den Brennpunkt auf dürres Gras und Schilf, bis ich Feuer hatte. Als genügend Holzglut da war, legte ich den Lehmklumpen hinein und deckte ihn mit Glut zu. Nach etwa einer Stunde war der Lehm durch und durch trocken und bekam Risse. Ich holte ihn aus der Glut, ließ ihn etwas abkühlen und schlug ihn auf. Die Federn klebten am Lehm und das Rebhuhn lag fein geputzt und dampfend vor mir. Ich hatte zwar kein Salz, aber es schmeckte auch so ganz vorzüglich zu meinem Stück Brot. Nach dem Essen legte ich mich ins Gras und schaute den Wolken nach : Mal machte ich am Himmel Pferde aus, die dahingaloppierten, dann eine weidende Schafherde, eine fliegende Gänseschar usw. Schon als Bub legte ich mich beim Gänsehüten gerne auf den Rücken und be-
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obachtete die weißen Wolken, wie sie über den blauen Himmel huschten. Manchmal war ich derart in das Schauspiel vertieft, dass ich meine Gänse aus den Augen verlor. Sie waren inzwischen in einen Weingarten entwischt, auf der Suche nach schmackhafterem Futter als dem auf der Hutweide. Oft bekam ich Krach mit den Eigentümern der Weingärten oder den Feldhütern. Heute war ich allerdings nicht so vertieft wie damals als Hüterbub. Ich musste immer wieder daran denken, was ich wohl machen würde, wenn ich nicht in der Mühle bleiben konnte. Ich hatte die Überreste vom Rebhuhn an den Uferrand geworfen. Jetzt kam eine Stockente mit ihren Jungen vorbei ; sie sicherte, ob ihnen auch keine Gefahr drohte. Ich blieb unbeweglich liegen. Dann lockte sie ihre Entlein, und sie begannen, an den Knochen und der Haut zu knabbern. Den Tieren scheint es heutzutage besser zu gehen als uns Menschen, dachte ich mir. Wie oft wollten wir Kinder im Lager von unserer Mutter mehr zu essen haben, aber es gab einfach nicht mehr. Kinder mussten im Lager so oft sterben, weil sie zu wenig oder das Falsche zu essen bekamen, weil sie nicht ärztlich versorgt wurden oder weil ihnen ihre Mütter wegstarben. Es gab in Gakewa Tausende Waisenkinder, die von der Lagerleitung in serbische Erziehungsheime gebracht wurden und von ihrem Ursprung nichts mehr erfahren haben. Sie waren zu Serben umerzogen worden. Mir gingen an diesem Nachmittag viele Gedanken durch den Kopf : Wo mochte mein Vater sein ? Ob er wohl noch lebte ? Was mochte aus den vielen Frauen und Mädchen geworden sein, die man ebenfalls an Weihnachten 1944 in Viehwaggons abtransportiert hatte ? Die Leute erzählten, dass man sie in die Kohlengruben der Sowjetunion gebracht habe. Wahrscheinlich würde auch mein Vater, so er noch lebte, in einer sowjetischen Kohlengrube arbeiten. Das Nachdenken über all das Elend, das über unser Dorf und unsere Familie hereingebrochen war, machte mich traurig und mutlos. Doch eine solche Stimmung konnte ich heute überhaupt nicht gebrauchen. Ich sagte mir : Ich darf mich nicht hängen lassen und der Traurigkeit
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hingeben. Ich muss frisch und mutig auftreten, denn nur so habe ich eine Chance, in der Mühle bleiben zu dürfen. Als ich vor Wochen Seppvetter und Hans von Karbok aus in der Mühle besuchte, hatte ich auch ihren Verwalter Miloš Zdovz, Úpravnik genannt, kennengelernt ; er war Slowene. Er war freundlich zu mir, vor allem als er erfuhr, dass ich früher hier Lehrling gewesen war. Seppvetter sagte mir aber auch, dass Miloš nicht allzu viel entscheiden könne, weil die Partei ihm zwei Aufpasser zur Seite gestellt habe, und zwar eine Sekretärin aus Dalmatien und einen der Wachposten ; er komme aus Montenegro. Miloš betone zwar immer wieder, dass er unter Tito Freiheitskämpfer gewesen war, aber er weigere sich, in die Kommunistische Partei einzutreten. Man mache ihm auch zum Vorwurf, dass seine Frau an Festtagen in die katholische Kirche gehe. Wenn Seppvetter mit dem Úpravnik spräche, so spekulierte ich, hätte ich vielleicht eine Chance, dass er mich in der Mühle behielte. Ich machte mir schon Gedanken, was ich sagen und wie ich mich verhalten würde, wenn er mit mir reden sollte. Als ich noch in die Schule ging, hat Vater uns Kindern immer eingeschärft, man müsse an sich glauben und sich anstrengen, dann gelinge das meiste. Einem Verzagten und Ängstlichen traue man nicht viel zu. So sollten wir uns auch den Lehrern gegenüber verhalten. Ruhig zeigen, dass man etwas kann, aber nicht frech oder überheblich sein !
13. Maschinist in Miltitsch
Als sich die Sonne dem Horizont zuneigte, machte ich mich auf den Weg nach Miltitsch, denn ich wollte noch bei Tageslicht ankommen und dort, an der Mostong, die Dunkelheit abwarten. Als ich die Mühle von Weitem sah, war ich erstaunt, dass sie noch erleuchtet war. Als ich mich ihr näherte, merkte ich, dass noch gearbeitet wurde. Vor dem Haus stand ein großer Lastwagen, den mehrere Männer in abgetragenen deutschen Uniformen mit Mehlsäcken beluden. Ein bewaffneter Partisan und ein Kriegsgefangener verhandelten vor dem Eingang zur Mühle mit dem Obermüller Adam Haas. Er erkannte mich gleich und sagte, ich solle nur hineingehen, Hans sei im Maschinenhaus. Ich passte auf, dass ich dem Wachposten nicht in die Arme lief und eilte schnell zu Hans. Er machte große Augen, als er mich zu später Stunde mit meinem Bündel sah. Ich erzählte ihm kurz, was passiert war, und sagte, dass ich einen Unterschlupf suchte. Er meinte, die Zeit sei günstig für mich, denn die Mühle solle nächstens Tag und Nacht laufen. In Bogojevo werde von deutschen Kriegsgefangenen eine Eisenbahnbrücke über die Donau gebaut. Deshalb seien dort mehrere Tausend Kriegsgefangene stationiert ; sie sollen alle von der Miltitscher Mühle mit Mehl versorgt werden. Jetzt könne aber nur in zwei Schichten gearbeitet werden, weil ein dritter Maschinist fehle ; man suche nach einem dritten Schichtführer. Wenn ich hier bliebe und etwas eingearbeitet sei, könnte man auch drei Schichten fahren. Darüber wäre der Verwalter sicher erfreut. Hans sagte, dass Miloš noch diesen Abend bei ihm vorbeischauen würde, dann könnte er ihm erzählen, dass eventuell auch rund um die Uhr gearbeitet werden könnte. Er wollte versuchen, ihm die Sache schmackhaft zu machen. Es hätte sich zwar schon ein Maschinist aus Südserbien gemel-
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det, aber der habe bisher nur mit einer Dampfmaschine gearbeitet. Bei einer Probe sei er mit dem großen Gasmotor nicht zurechtgekommen. Im Übrigen vermute er, dass Miloš, der Verwalter, ihn nicht haben wolle, weil er ihm von der Partei geschickt und empfohlen worden war. Ich solle jetzt zu seinem Vater ins Wohnhaus der Lagerleute gehen ; dort würde ich auch etwas zu essen bekommen. Während ich Seppvetter die Entwicklung in Karbok schilderte, brachte mir die Frau des Obermüllers etwas zu essen. Sie war noch immer die Köchin für die Lagerleute. Ich erzählte Seppvetter auch, dass Hans noch heute Abend mit dem Úpravnik reden wolle. »Oh«, meinte er, »da gehe ich gleich nach vorne und gebe ihm einige Tipps, damit er ihm auch alle wichtigen Punkte unterbreitet.« Am nächsten Morgen ließ mich der Úpravnik in seine Privatwohnung rufen, um sich sein eigenes Bild von mir zu machen. Es war ungewöhnlich, dass er einen Lagerarbeiter in seine Privatwohnung rufen ließ. Er wollte wohl, dass Vera aus Dalmatien, seine von der Partei bestellte Aufpasserin und Sekretärin, nicht dabei sei. Er erkundigte sich nach meiner Herkunft, meiner Familie, was ich bisher gemacht habe usw. Er redete mit mir Deutsch, denn mein Serbisch war damals noch dürftig. Er sagte mir, ich solle drei Monate beim Meister – er meinte meinen Onkel – ordentlich aufpassen. Wenn ich fleißig lerne, dürfe ich auch eine eigene Schicht führen. In Zukunft gebe es viel Arbeit, weil hinter der Mühle eine Badeanstalt gebaut werden solle. Wenn ich mich gut anstelle, dann würde ich es hier nicht schlecht haben. Mit dem Lagerkommandanten werde er schon alles regeln. Ich könne jetzt gehen, sagte er unvermittelt. Ich war mit dem Gespräch sehr zufrieden. Ob Miloš mich wirklich dem Lagerkommandanten gemeldet hat, weiß ich nicht, denn mein Name wurde nie bei einem Appell aufgerufen. Der Lagerkommandant hat mich zwar immer wieder mal zu Gesicht bekommen, er hat mich aber nicht nach Namen und Herkunft gefragt. An meinem vierzehnten Geburtstag im September wurde ich zum Gesellen erklärt und ich bekam die Schicht von Mitternacht bis acht Uhr morgens zugeteilt. Es
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war die ruhigste Schicht, weil in ihr nur die Wartung des Motors und keine anderen Arbeiten anfielen. Ich war sehr stolz darauf, dass man mir diesen verantwortungsvollen Posten zutraute. Seppvetter schärfte mir nachdrücklich ein, dass ich seine Anweisungen genau befolgen müsse. Wenn der Motor kaputt gehe, falle die ganze Mühle aus und das würde uns als Sabotage ausgelegt werden. Ich wisse doch, dass in Filipowa zwei Männer wegen viel kleinerer Vergehen erschossen worden sind.81 Ein mulmiges Gefühl ob meiner Zuverlässigkeit hatten offensichtlich sowohl Seppvetter als auch der Úpravnik. Sie kamen wiederholt unverhofft nach Mitternacht ins Maschinenhaus. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass ich einschlafen könnte. Aber ich kam auch schon in jungen Jahren mit wenig Schlaf aus. Hans hatte von irgendwoher Bücher aufgetrieben. Ich erinnere mich an zahlreiche Bände von Karl May, Abenteuerromane von Friedrich Gerstäcker, »Nonni«-Bücher und andere Schmöker. Wenn ich die Maschinen versorgt hatte und alles gut lief, habe ich nachts viel gelesen. Für mich war diese Lektüre in der Nacht immer ein Fenster, durch das ich in eine mir unbekannte, fantastische Welt schaute. Ich freute mich geradezu auf die Nachtschicht, weil ich mir wie ein Erwachsener vorkam. Andererseits begann ich etwas von fremden Völkern und Kulturen zu erahnen, die mich mein Leben lang nicht mehr loslassen sollten. Miloš fand es gut, dass ich Bücher las ; er ermahnte mich aber auch, wenn er mich besuchte, meine Arbeit am Motor nicht zu vergessen. Den erwachsenen Lagerarbeitern war aufgefallen, dass Miloš mir gegenüber immer freundlich war im Unterschied zu ihnen. Er konnte ihnen gegenüber oft ruppig sein, besonders wenn er getrunken hatte. Er sprach mich mit »Joschko« an. Er kam wiederholt und schaute mir bei der Arbeit zu. Manchmal fragte er, warum ich etwas so und nicht anders 81 Seppvetter spielte damit auf zwei Filipowaer an, die für alle eingesammelten Kaninchen zuständig waren. Als aus irgendeinem Grunde zahlreiche Kaninchen verendeten, hat man beide Männer wegen Sabotage erschossen.
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mache. Wenn er auf die Jagd ging, nahm er mich mit als seinen Treiber und Träger – er hatte keinen Jagdhund. Danach gab er mir sein Jagdgewehr, damit ich es putze und pflege. Meist gab er mir dafür ein Trinkgeld. Er war kein guter Schütze. Er meinte immer, sein Gewehr trage schlecht, aber dem war nicht so. Ich vermute, er hat zu viel getrunken und hatte deshalb keine ruhige Hand. Aber meine Vermutung konnte ich ihm natürlich nicht mitteilen. Er hatte große Sorgen und wohl auch deshalb trank er viel. Sicher hatte er bemerkt, dass seine Position in der Mühle nicht von Dauer war. Die Tausenden Serben aus dem Süden, die in die Häuser der Donauschwaben einzogen, drängten die alteingesessenen Slawen aus ihren Pfründen. Bei der Machtübernahme im Herbst 1944 hatten die Wojwodina-Slawen weitgehend das Sagen, aber ihre Macht schmolz zusehends dahin. Da ihr Lebensstandard höher war als jener der zugewanderten Kolonisten, wurden Antipathie und Sozialneid zwischen beiden sichtbar. Einige Frauen im Lager waren der Ansicht, Miloš’ väterliches Verhalten mir gegenüber rühre daher, weil er selbst keine Kinder habe. Ich stand ihm immer, wenn es irgendwie ging, zu Diensten. Wenn er sicher sein wollte, dass eine Nachricht nicht in die Hände seiner Gegner fiel, schickte er mich als Boten los. Oder wenn er abends spät noch Wein haben wollte, lief ich ins Wirtshaus und holte welchen. Er konnte sicher sein, dass nicht einmal Ludmila, seine Frau, davon erfuhr. Auf Hans und mich konnte er sich immer absolut verlassen ! So war ich vollauf zufrieden mit meiner Veränderung. Hans war zwar vier Jahre älter als ich, aber dennoch wurden wir ein unzertrennliches Paar. Meine Arbeit machte mir Freude. Wenn ich den großen Kessel mit Eichenholz vollgestopft hatte und alle Maschinenteile geölt waren, blieb mir eine halbe Stunde zur Lektüre. Dann ging ich wieder die Öler füllen. Am liebsten las ich Bücher, die von außereuropäischen Kulturen handelten. Ich vergaß dabei, dass ich nur ein kleiner Lagerarbeiter war, dessen Schicksal sich jede Stunde zum Schlimmsten wenden konnte, ohne dass ich daran schuld war.
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Da ich nachts Schicht hatte, schlief ich nach dem Frühstück bis zum Mittagessen. Danach stand ich für andere Tätigkeiten zur Verfügung. Seppvetter hatte tagsüber viel zu tun, deshalb vertrat ich ihn häufig im Maschinenraum. Es gab immer irgendwo etwas zu reparieren : eine Wasserpumpe, dann lief ein Lager heiß und dgl. Eigentlich hatte er gar keine Zeit, um die Tagschicht zu führen. Er war mit der Mechanik der Mühle derart vertraut, dass er jedes fremde Geräusch selbst im Schlaf wahrnahm. Es brauchten nur ein paar Sichter (feine Mehlsiebe) in der Mühle auszufallen, und schon merkte er, dass der Motor zu leicht lief. Neben der Schichtarbeit in der Mühle standen noch eine ganze Reihe anderer Arbeiten an. Die erste, die auf mich zukam, war die Mitarbeit an der Installation im Badehaus. Dieses wurde mit Wannen, Duschen und einem Freibad im Hof ausgestattet. Das Haus befand sich hinter der Mühle und war mit ihr verbunden. Um die nötigen Materialien herbeischaffen zu können, kaufte Miloš einen alten Renault-Laster. Da er aber als Einziger einen Führerschein besaß, wurde Hans in einem Kurzlehrgang als Fahrer ausgebildet. Seppvetter wollte mit dem Lkw nichts zu tun haben, denn er ahnte, welche Aufgaben auf ihn zukommen und wie oft Hans und eventuell auch ich ihm fehlen würden. Es kam auch so, wie er es vorausgesehen hatte : Der Renault lag mehr in Panne als er fuhr. Hans und ich waren absolut in das Auto und in den Motor verliebt ; wir steckten alle freie Zeit in dieses Fahrzeug. Einen Automechaniker gab es damals nicht in Miltitsch. Maschinenschlosser arbeiteten außer in der Mühle noch in der großen Hanffabrik und in der Reparaturwerkstätte für Traktoren der landwirtschaftlichen Kolchose. Wir mussten sie öfter um ihre Mithilfe bitten. Ersatzteile für Fahrzeuge gab es keine. Alles wurde im Bedarfsfall von Hand angefertigt. In der Mühle gossen wir selbst die Lager der Motoren nach. Die wenigen noch verbliebenen donauschwäbischen Maschinenschlosser zogen sich mit der Zeit mehr und mehr zurück, ohne dass ihre Plätze gleich durch Kolonisten ausgefüllt werden konnten.
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Unter den einwandernden Südserben gab es nur wenige qualifizierte Handwerker. Viele von ihnen waren Hirten ; sie zogen mit ihren Ziegenund Schafherden, für die es nicht das nötige Weideland gab, ins Dorf ein. Häuser mit elektrischem Licht waren den meisten fremd. Doch sie waren bemüht zu lernen. Der Gemeinderat verfügte, dass auch die Mühle einige Lehrlinge und Arbeiter von ihnen aufzunehmen habe. Seppvetter bekam einen jungen Montenegriner namens Radomir als Lehrling zugeteilt ; er war einige Jahre älter als ich. Anfangs hatte ich etwas Scheu vor ihm. Er trug die typische derbe Kleidung seiner Heimat, gewebt aus Ziegenhaar und braun gefärbt, eine Partisanenmütze und echte Opanken. Im Hosenbund hatte er stets einen Trommelrevolver stecken. Mit der Zeit freundeten wir uns an und bekamen ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Allmählich muss er selbst gemerkt haben, dass er allein bei der Arbeit einen Revolver trug. Schließlich ließ er ihn zu Hause. Bisweilen kam sein Vater zu Seppvetter in die Mühle und erkundigte sich, wie er mit seinem Radomir zufrieden sei. Der Vater war eine imposante Erscheinung : Er war groß, kräftig, und die Haut seines Gesichtes war wie gegerbt. Dazu trug er die traditionelle Tracht seines Tales. Man merkte ihm seine harte Arbeit in den Bergen an. Er war ein freundlicher und höflicher Mensch. Radomir erzählte mir, dass er als Einziger der Familie eine Schule besucht habe. Seine Mutter koche auch weiterhin das Essen in einem Kessel über offenem Feuer, da sie mit dem Herd im Haus nicht zurechtkomme. Das elektrische Licht würden sie aber inzwischen doch anmachen. Ansonsten lebten sie aber noch ganz nach altem montenegrinischem Brauch. Er brachte sich z. B. täglich sein Fladenbrot aus Maismehl und Ziegenkäse mit. Radomir war der erste Mensch einer anderen Kultur- und Wirtschaftswelt, mit dem ich näher bekannt geworden bin. Die Südserben, die in die Batschka eingerückt sind, werden in den Veröffentlichungen der Donauschwaben kaum einmal positiv beschrieben. Sie sind schließlich in unsere Häuser eingezogen und haben unsere Felder übernommen. Aber richtig kennengelernt haben wir diese Menschen nie ! Sie führten
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in ihrer Heimat ein hartes Leben auf kargen Böden, die ihre großen Familien nicht ernähren konnten. Man kann verstehen, dass sie sich in die fruchtbare Batschka aufmachten, als ihnen diese Gelegenheit geboten wurde. Auch unsere Vorfahren waren vor 200 Jahren in ein verheißungsvolles Gebiet ausgewandert, weil es zu Hause keine ausreichende Entfaltung mehr gab. Sie haben sich freilich nicht in fertige Häuser gesetzt und auf fruchtbarem Kulturland niedergelassen, sondern sie mussten sich alles erst in großer Mühe erarbeiten. Mir fiel auf, dass die Mehrheit der Südslawen mit gutem Gewissen in unsere Häuser eingezogen ist. Tito und seine Leute haben uns Donauschwaben bei jeder Gelegenheit kumulativ als Faschisten und Kriegsverbrecher denunziert. Umgekehrt waren für unsere Nazis die Serben, und zumal die aus dem Süden, eine Art Untermenschen. Was schwafelten die »Erneuerer« nicht von ihrem reinen deutschen Blut ! Keine Seite hat auch nur den Versuch unternommen, die andere zu verstehen ! Hätte es zu unserer Katastrophe kommen müssen, wenn wir uns näher gekannt und vielleicht schätzen gelernt hätten ? An einem Samstagnachmittag kam der Lagerkommandant mit mehreren Milizen in die Mühle – wir hatten gerade aufgehört zu arbeiten. Er befahl, dass alle Lagerleute mit ihrem gesamten Gepäck sofort im Hof der Mühle zu erscheinen hätten. Nach etwa einer halben Stunde standen wir alle mit unseren Habseligkeiten im Hof. Die Milizen durchsuchten das gesamte Gepäck. Normalerweise hätten wir darüber nachgedacht, ob wir nach Gakewa abtransportiert werden sollten. Doch diesen Appell nahmen wir ganz gelassen, denn Milovan, der politische Wachmann, hatte Hans am Abend vorher gesagt, er habe in der Partei gehört, dass eine Razzia bevorstehe. Man wolle das Geld und den Schmuck der Lagerleute abkassieren. Milovan bat aber um größtmögliche Verschwiegenheit. Hans hatte die Lagerleute informiert, dass eine Razzia stattfinden werde ; die Leute sollten deshalb nur wenig Geld und wertlosen Schmuck bei sich tragen. Die Quelle der Information verriet er natürlich nicht. Dabei hatten wir in Milovan immer unseren
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eigentlichen Feind gesehen, denn er war der Spitzel der Partei in der Mühle. – Selbstverständlich wurde, dank Milovan, nur wenig Geld und wenige Wertgegenstände bei uns gefunden. Um uns aber nicht zu verraten, hatte jeder eine kleine Summe bei sich gehabt. Úpravnik Miloš hatte noch weitere Pläne für die Mühle : Er begann eine Schweinezucht. Es lag noch immer Weizen und Mais auf den Hausböden der Donauschwaben, sodass die Schweine billig zu halten waren. Da die meisten Menschen, die ihren Mais oder Weizen in die Mühle brachten, die Mahlgebühr nicht bar bezahlen konnten, wurde ein bestimmter Prozentsatz vom Mahlgut als Maut einbehalten. Das Getreide zu verkaufen, lohnte sich nicht, denn es gab davon genügend in den Häusern. Also wollte Miloš einen lukrativen Schweinehandel aufmachen. Dazu schaffte er ein Pferdefuhrwerk an und holte aus den Arbeitslagern der Umgebung ein Dutzend Arbeiterinnen, die für die Schweinezucht zuständig waren. Von einer Zucht in dem Ausmaß hatten die Frauen keine Ahnung. Da es keinen Tierarzt in Miltitsch gab, schaute von Zeit zu Zeit ein Sauschneider vorbei. Er kastrierte die Tiere und gab den Frauen Ratschläge, aber von Krankheiten der Schweine verstand er nicht viel. Einige Monate ging es mit der Mast ganz gut, aber im Spätherbst wurden einige Schweine krank. Der Sauschneider riet, die kränkelnden Tiere auszusondern und sofort abzuschlachten, damit sie die anderen nicht ansteckten. Es war Samstagnachmittag ; Miloš suchte einen Schlachter. Die Frauen hatten die Schweine zu brühen und zu putzen, aber Schweine zu stechen und zu tranchieren war absolute Männersache. Die Mühle hatte eine wichtige Lieferung zu leisten und die Leute mussten bis Sonntagmorgen arbeiten. Hans war mit dem Lkw unterwegs ; er verstand auch nichts vom Schlachten. So kam Miloš zu mir, ob ich nicht Schweine stechen und tranchieren könne, denn er wusste, dass ich seine Hasen von der Jagd immer für seine Frau abzog und zerlegte. Er meinte, ich hätte doch sicher schon öfter meinem Vater beim Schlachten geholfen. Den Speck sollten die Frauen zu Schmalz auslassen. Das Fleisch könnte man
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morgen früh salzen und in eine Knoblauch-Lake legen. Später würden wir es räuchern. Die Innereien sollten wir in ein Fass werfen. Was wir nicht brauchten, könnten die Zigeuner haben oder der Kutscher würde es zum Schinder fahren. Der Kutscher und ein Müllerbursche halfen mir beim Einfangen und Stechen der Schweine. In der Nacht zum Sonntag schlachteten wir ein Dutzend Schweine. Die meisten wogen noch keine hundert Kilogramm. Die noblen Innereien wie Leber, Nieren, Milzen etc. bewahrten wir auf. Die Lunge und die Gedärme warfen wir in einen Bottich. Da am Sonntagmorgen in der Mühle Arbeitsschluss war, halfen die Männer, das Fleisch einzupökeln. Da weder am Fleisch noch an den Innereien etwas Ungewöhnliches zu sehen und zu riechen war, machte unsere Köchin am Sonntag aus einigen Innereien Gulasch. Auch Ludmila sowie die beiden Wachen nahmen Stücke mit nach Hause. Alle aßen von den Schweinen und niemand wurde krank. Gegen Sonntagmittag ließ mich Miloš rufen : Er lobte meine Arbeit von vergangener Nacht. Er meinte, ich solle ins Zigeunerviertel an der Mostong gehen und Sava sagen, er könne mit seinen Leuten die Innereien abholen. Ich war seit meiner Kindheit mit Zigeunern in Berührung gekommen, aber um ihre Häuser oder Lager hatten wir Kinder immer einen großen Bogen gemacht. Was erzählte man sich nicht für Schauergeschichten über die Zigeuner ! Es hieß z. B. sie entführten oder töteten sogar kleine Kinder. Wenn wir im freien Gelände einen Zigeunerwagen sahen, liefen wir, was das Zeug hielt. Ich hatte deshalb etwas Angst, zu den Zigeunern zu gehen. Sie lebten in Häusern, die direkt an der Mostong lagen. Hier hausten einmal ganz arme donauschwäbische Familien, die sich keine besseren Bauplätze leisten konnten. Es war Schwemmland und im Frühjahr nicht selten überflutet. Als ich in das Viertel der Zigeuner kam, erregten die zahlreichen Hunde, die mich anbellten, meine größte Aufmerksamkeit. Die Kinder liefen zusammen ; schließlich riefen sie die Hunde zurück. Ich fragte nach
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Sava, und die Kinder wiesen auf ein Haus. Das Haus, wie alle übrigen, machte einen heruntergekommenen Eindruck : Die Holzzäune und die Toreingänge fehlten, viele Fensterscheiben waren kaputt und die Löcher waren mit Papier oder Tuch verhängt, einen Anstrich hatten die Häuser schon lange nicht mehr gesehen, die Gärten um die Häuser waren verschwunden. Als ich mich dem Haus von Sava näherte, kam mir eine alte Frau entgegen und fragte, was ich wolle. Ich sagte ihr, dass mich der Úpravnik der Mühle schicke ; ich solle dem Sava eine Nachricht überbringen. Sie erwiderte : »Sava nix do, ich sein Weib.« Ich konnte es nicht glauben, deshalb zögerte ich mit meiner Nachricht. Sava war damals vielleicht vierzig und die Alte, seine angebliche Frau, schien mir uralt zu sein. Aber bei der Heirat der Zigeuner konnte man nie sicher sein. Bei uns hieß es, sie würden nur unter einem Schattenbaum heiraten. Man wollte damit sagen, ihre Ehen seien nicht langlebig. Doch die Alte ging mich forsch an : »Was will Úpravnik von Sava, soll er ›Scheißheisl‹ leer machen ?« »Nein«, sagte ich, »wir haben vergangene Nacht viele Schweine geschlachtet, und Lunge, Magen und anderes ist übrig. Wenn ihr wollt, könnt ihr das abholen kommen !« Die Alte gab mir keine Antwort. Sie ging vor die Tür und rief laut einige Namen ; sie schien im Viertel etwas zu sagen haben. Zwei junge Frauen kamen herbei. Die jüngere mochte mein Alter haben, aber sie wirkte bereits sehr weiblich. Die andere war einige Jahre älter. Beide waren schöne Frauen ; sie trugen lange Röcke und bunte Blusen und ihre langen schwarzen Haare in Flechten. Obschon es bereits Spätherbst und kalt war, gingen alle barfuß. Die Alte redete auf die beiden in einer Sprache ein, die ich nicht verstand. Ich glaubte bisweilen serbische und deutsche Wörter herauszuhören, aber das war auch alles. Eines der Wörter, das ich verstand, war torwu. Wir gebrauchten in unserem Dorfdialekt dieses Wort ebenfalls, meist abschätzig für eine Umhängetasche oder einen Ranzen.82 82 Das Wort leitet sich von dem serbischen Wort tórba – Tasche, Ranzen ab. Bei uns hatte es meist einen negativen Beigeschmack. Man sprach z. B. vom Torwe eines Bettlers.
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Während die Frauen wieder verschwanden, ging die Alte ins Haus. Ich folgte ihr, weil ich von ihr noch keine Antwort erhalten hatte. Sie ging in ein Hinterzimmer und ließ mich allein im Wohn- oder Schlafzimmer oder der Küche. Ich konnte mich nicht entscheiden, wo ich mich befand. Über dem Herd hing ein Kessel. Die Herdplatten waren abgenommen und unter dem Kessel brannten Zaunlatten. Da es keinen echten Rauchabzug gab, war im Raum kaum noch etwas von seiner ehemaligen Farbe zu sehen. Der Wand entlang lagen auf dem Boden Strohsäcke, und in der Mitte des Zimmers stand ein Tisch ohne Stühle. Als ich mich anschickte, den Raum wieder zu verlassen, kam die Alte mit ihrem Torwe über der Schulter. Die beiden jungen Frauen erschienen auch bald wieder, eine jede mit ihrem Ranzen. Ich verstand : Alle drei wollten mich in die Mühle begleiten, um Innereien abzuholen. Die mittlere der drei Frauen fragte mich – sie sprach am besten Deutsch –, ob ich ein Schwaba sei. Ich bejahte. Sie meinte, die neuen Bewohner würden den Zigeunern nichts mehr geben, denn sie essen wie wir alles auf. Ich machte ihr klar, dass unser Úpravnik kein Schwaba, sondern ein Slowene sei. Und sie drauf : »Alter Raaz [Serbe] auch gut für uns, aber neuer Raaz Kommunist, will keine Zigeuner haben.« Als ich mit den drei Zigeunerinnen ankam, rief ich Miloš herbei. Ich gewann den Eindruck, es schmeichelte ihm, dass er den Zigeunern etwas schenken konnte. Sie hatten im Nu alles in ihren Säcken verstaut. Dann fragte die Alte : »Lungen und Därme wo ?« Ich führte sie zu dem Bottich, in den wir alles hineingeworfen hatten. Ich sagte ihr, der Kutscher wolle es morgen zum Schinder bringen. »Nix Schinder«, sagte die Alte, »haben Hunde und Tanzbär, muss viel fressen.« Sie füllten alles in ihre Ranzen und schickten sich an zu gehen. Die Alte drehte sich noch einmal um und sagte zu mir : »Sava kommt ›Scheißheisl‹ leer machen umsonst, sag Úpravnik.« Dann gingen sie sehr zufrieden nach Hause. Nach ungefähr sechs Wochen holten wir das Fleisch aus der Lake. Seppvetter hieß Radomir und mich aus Brettern eine große Kiste zim-
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mern, um darin das Fleisch zu räuchern. Die Schweinemästerinnen halfen mit, dass jedes Stück einen Henkel bekam. Wir suchten einen windgeschützten Platz aus und begannen mit dem Räuchern. Nach zwei Tagen und Nächten hängten wir das goldgelbe Fleisch unter das Dach vor dem Maschinenhaus. Verkauft hat Miloš davon nichts, aber gegen Ende des Winters war so gut wie alles verschwunden. Einiges davon ist sogar bis Gakewa gelangt. Ich hatte vergangene Ostern meiner Mutter versprochen, dass ich bald wiederkommen würde. Jetzt war schon Herbst und ich war noch immer nicht bei ihr gewesen ! Ich trug mich mit dem Gedanken, den Verwalter zu fragen, ob er mir eine dozvola – einen Passierschein – nach Gakewa ausstellen würde, um meine Mutter und meine Geschwister zu besuchen. Hans riet mir davon ab, denn es sei seiner Meinung nach fraglich, ob Miloš das tun würde ; er muss auf seine Aufpasser der Partei achten. Hans machte einen riskanten Vorschlag : Wir gehen nachts in die Kanzlei, stempeln auf dortiges Papier die für eine dozvola nötigen Stempel und schreiben uns die Erlaubnis je nach Bedarf selbst. Die Texte lehnen wir an die Passierscheine an, die Miloš uns wiederholt ausgestellt hat. Die Sache war verlockend, aber gefährlich. In den nächsten Tagen suchten wir die Kanzleischlüssel von Miloš für kurze Zeit zu bekommen. Das war nicht allzu schwer, denn er hat sie oft irgendwo liegen lassen, besonders dann, wenn er getrunken hatte. Der günstigste Zeitpunkt in die Kanzlei zu gelangen, war um Mitternacht. Hans und ich hatten um diese Zeit Schichtwechsel und der Wachposten musste zum rückwärtigen Tor, die Stechuhr bedienen. Miloš sollte abwesend sein oder schon schlafen. Wenn der Posten von der hinteren Stechuhr wieder nach vorne kam, schaute er gerne zu mir ins Maschinenhaus, um sich zu vergewissern, dass alles seine Ordnung hatte. Einer der beiden Posten war Milovan, der Parteispitzel. In der bewussten Nacht trat ich wie »zufällig« kurz nach Mitternacht vor die Tür und verwickelte Milovan in ein Gespräch, damit Hans in der Kanzlei mehr Zeit bleibe. Wir redeten noch immer über unser eigenes Stromag-
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gregat, das am Abend kurz ausgefallen war. Als Hans wieder auftauchte und dem Posten versicherte, dass das Aggregat jetzt in Ordnung sei, verabschiedete dieser sich und ging zu einer anderen Stechuhr. Hans hatte in der Kanzlei etwa ein Dutzend Blätter gestempelt. Jetzt war es an uns, Reisescheine auszustellen. Den ersten fertigte Hans für meine Reise nach Gakewa aus. Ich musste ein Wochenende abwarten, an dem der Úpravnik verreist war. An Wochenenden machte der Lagerkommandant zwar öfter einen Appell, aber ich stand ja nicht auf seiner Liste. Wenn man nur im Dorf unterwegs war und abends wiederkam, drückte der Kommandant meist ein Auge zu. Aber wenn man sich über Nacht entfernte, konnte es auch einige Tage Arrest geben. Fleisch, Schmalz und Mehl hatten wir in der Mühle genug. Ich packte einen Sack voll und fuhr an einem Freitagmittag nach Sombor. Von dort machte ich mich zu Fuß auf nach Gakewa. Damit ich nicht wie ein Lagerbub aussah, hatte ich Lederschuhe und einen Anzug angezogen. Ich besaß eine dozvola, und so konnte ich jeden Kutscher auf dem Weg nach Gakewa anhalten, dass er mich mitnehme. Ich wurde auch fast bis Gakewa mitgenommen. Lässig überreichte ich dem Wachposten meinen Passierschein. Als er ihn mir zurückgab, merkte ich, dass er ihn verkehrt herum gehalten hatte. Entweder reichte es ihm, die beiden Stempel zu sehen oder aber er war Analphabet. Er ließ mich anstandslos durch. Dass ich so unverhofft mit einem Sack voll Essen im Lager auftauchte, freute natürlich Mutter und meine beiden Schwestern. Mutter erzählte mir lang und breit über das Sterben von meinem Bruder Franz und sein Begräbnis. Am Samstagvormittag gingen wir alle zusammen zu seinem Grab. Mutter hatte eine Kerze mit, die wir anzündeten. Im Sommer gab es auch Blumen auf dem Grab und sie ist täglich gießen gegangen. Wenn ich mir heute nach Jahrzehnten ihr Verhalten durch den Kopf gehen lasse, bekomme ich den Eindruck, dass der Tod dieses Kindes meiner Mutter ein gutes Stück Lebenskraft genommen hat. Sie war
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nicht mehr so dynamisch wie früher. Eine gewisse Lethargie zeigte sich besonders Anfang Mai 1947, als ich ganz nach Gakewa übersiedelt war und vorhatte, auch meine Schwestern aus Bezdan zu holen, damit wir alle zusammen über Ungarn nach Österreich flüchteten. Ich musste ihr zureden, damit sie zur Flucht mitkomme. Sie meinte, wir Kinder sollten alleine gehen, sie wolle in ihrer Heimat bleiben. Mutter erzählte auch, dass sie schon in Bezdan gewesen sei und Wawi und Eva besucht habe. Wawi müsse viel arbeiten, aber es gehe ihr ganz gut. Die Kinder der Katzenberger – bei denen war sie im Dienst – seien so rechte Quälgeister, und die Frau fühle sich als etwas Besseres und lasse sich, wann immer es geht, bedienen. Mutter war froh, dass es mir in der Mühle gut ging. Ich versicherte ihr, dass sie sich um mich keine Sorgen machen müsse. Allerdings sei unser Bleiben in der Mühle nicht mehr von langer Dauer. Es drängten immer mehr Litschaner in die Mühle, und sobald die ohne uns auskämen, würden sie uns vor die Tür setzen. In Jugoslawien könnten wir dann nicht mehr bleiben, denn für immer möchte ich nicht als Knecht oder in einer Kohlengrube arbeiten, und eine andere Tätigkeit würde ich hier nie bekommen. Dann erzählte ich Mutter, dass Marjan in Karbok uns in der Mühle mitgeteilt habe, dass Onkel Sándor nach sechs Monaten aus dem Gefängnis in Neusatz entlassen worden sei. Er sei wieder in Karbok und einigermaßen gesund, er wirke aber sehr schwach und mitgenommen. Er war eingesperrt, weil man ihn in der Nähe der österreichischen Grenze angetroffen hatte. Onkel Sándor sei überzeugt, sagt Marjan, dass wir Jugoslawien verlassen müssten. Alles, was nicht serbisch ist, sei der Regierung verhasst. – Mutter hörte mein Gerede an, sagte aber kein Wort darauf. Diesmal konnte ich nicht lange in Gakewa bleiben. Ich musste zusehen, dass ich am Montag wieder in der Mühle war und um Mitternacht meine Schicht antrat. Ich versprach meiner Mutter, dass ich im Februar wiederkäme. Dann hätte ich auch schon Onkel besucht, und wir könnten unsere Flucht näher planen. Montagmorgen verließ ich recht
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früh das Lager. Der Posten schaute diesmal meine dozvola genauer an. Er wollte sogar wissen, was ich in der Mühle mache. Doch er ließ mich gehen. Am späteren Nachmittag war ich wieder in Miltitsch. Als ich Ende Februar 1947 wieder nach Gakewa fuhr, besuchte ich meinen alten Spielkameraden Schäffer Sepp. Er war ein bekannter Führer nach Ungarn. Ich wollte mich bei ihm über die Flucht nach Ungarn erkundigen. Er sagte mir, seit es »weiße« Großführungen gebe, seien seine besten Zeiten vorbei. Die »weißen« Führungen würden zwar von Volksdeutschen durchgeführt, aber im Auftrag der Lagerkommandantur. Es gebe sicher eine Absprache mit einer bestimmten Karaula, einer Grenzstation. Diese Transporte umfassten ca. 100 Personen und würden so gut wie nie erwischt. Wenn sie doch einmal durch einen Zufall aufgebracht würden, kämen sie zwar zurück ins Lager, würden aber nur pro forma eingesperrt. »Wenn ich führe«, sagte Sepp, »kann ich nur 20 bis 25 Personen mitnehmen. Ich bin zwar viel billiger als die Weißen, aber bei mir ist die Gefahr, erwischt zu werden, viel größer als bei den anderen. Es sieht aus, als ob sie jetzt uns Kleine besonders jagten. Der Hintergedanke ist wohl, dass die Menschen ihr letztes Geld der Kommandantur überlassen sollen.« – Die Lagerleitung war ganz gewiss daran interessiert, das Lager zu leeren. Man hatte schon Anfang 1947 im Sinne, gegen Ende des Jahres die großen Konzentrationslager ganz aufzulösen. Nachdem ich aus Gakewa wieder in Miltitsch war, schickte Seppvetter Hans und mich an einem Sonntag vor Ostern zu unserem Onkel nach Karbok. »Sagt ihm, dass unsere Zeit hier bald vorüber ist, und fragt ihn nach seinem Rat.« Ich sah voraus, was Onkel sagen würde : »Lasst euch ins Konzentrationslager überweisen und geht von dort über die Grenze nach Ungarn.« So ähnlich hat er sich dann auch ausgedrückt. Für Seppvetter war es natürlich schwer, »seine« Mühle zu verlassen. Er war über 30 Jahre für den Maschinenpark der Mühle zuständig. Vieles darin hatte er aufgebaut. So einen Ort zu verlassen, bedeutete für ihn, sein Lebenswerk aufzugeben.
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Onkel Sándor gab mir Geld für Mutter. Er trug mir auf : »Geht mit einem weißen Transport, damit ihr sicher nach Ungarn kommt. Ich werde drüben in Gara auf euch warten.« In der Mühle herrschte Aufbruchstimmung. Auch Miloš wusste, dass seine Zeit zu Ende ging. Es verließen ja nicht nur wir aus der Maschinenabteilung die Mühle, sondern auch fast alle Müller, denn sie waren ebenfalls Donauschwaben. Ludmila, die Frau von Miloš, erzählte, dass er sehr gereizt sei. Er könne nicht absehen, wann die Mühle wieder effektiv arbeiten werde, wenn die Donauschwaben sie jetzt verließen. Offiziell waren alle Serben, die bisher in der Mühle eine Stellung gefunden hatten, Kommunisten. Als aber das Osterfest 1947 näherrückte, wollten sie groß Ostern feiern. Da der Verwalter und Vera katholisch waren, wurde der Termin auf den 6. April, das Datum des westlichen Osterfestes, festgelegt. Miloš schenkte den orthodoxen Serben zum Fest ein mittelgroßes Schwein. Ich beobachtete mit Interesse, wie diese angeblichen Kommunisten das Schwein nach alten Riten schlachteten, ausnahmen und als Ganzes auf einen Spieß steckten. Immer wieder sprachen sie dabei Gebete und bekreuzigten sich. Als am Karsamstagabend der Spieß mit dem Schwein über das Holzfeuer gelegt wurde, fand sich gut ein Dutzend Personen ein. Sie saßen im Kreis um das Feuer. Wein und Sliwowitz zirkulierten. Von Zeit zu Zeit wurde ein Stamperl Sliwowitz ins Feuer gegossen, dabei bekreuzigte sich der »Opferer«. Als um Mitternacht das Schwein gar und ein Korb voll Fladenbrote herbeigebracht war, rief der Anführer des Abends : »Christus ist auferstanden !« und die Umstehenden antworteten : »Er ist wahrhaft auferstanden !« Dann umarmten einander alle der Reihe nach und klopften ihrem Gegenüber mit der rechten Hand auf den Rücken. Jetzt wurden die Fladenbrote in Stücke gerissen und in der Mitte gespalten. Der Anführer schnitt vom Schwein feine Scheiben ab und füllte damit einem jeden sein Brot. Manche hielten ihr Brot auch noch unter das Schwein, um die Fetttropfen aufzufangen. Wer immer vorbeikam, wurde herbei-
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gerufen, umarmt und mit »Christus ist auferstanden« begrüßt. Auch viele von uns Donauschwaben kamen vorbei und feierten mit. Hans und ich saßen stundenlang dabei. Alle erhielten Brot, Fleisch und zu trinken. So sei es Brauch bei ihnen zu Hause, erzählten sie. Das Fest ist wohl bis zum Morgen gegangen. Als wir uns am späteren Vormittag anschickten in die Kirche zu gehen, lagen einige Serben um das erloschene Feuer und schliefen. Ich war von ihnen tief beeindruckt : Sie waren gastfreundliche und genügsame Menschen. – Ludmila, die Frau des Úpravnik, mischte sich am Morgen unter die Lagerfrauen und ging mit ihnen zur Ostermesse. Dieser öffentliche Kirchgang mit Lagerfrauen war sicher der Position ihres Mannes nicht gerade förderlich. Nach Ostern bat ich Miloš, mich ins Lager nach Gakewa zu entlassen. Er hatte es offensichtlich schon erwartet. Er fragte : »Ihr wollt alle ins Ausland ?« »Ja«, antwortete ich ihm, »hier kann ich doch nicht mehr bleiben.« »Ja, so ist es«, erwiderte er. Ich müsse aber warten, bis ein größerer Transport nach Gakewa gehe. Am zweiten Mai war es dann so weit. Miloš gab mir ein Schreiben mit, in dem es hieß, ich habe vom 2. Mai 1946 bis zum 2. Mai 1947 als pomocnik mašinista – Maschinisten-Gehilfe – in der Državnom Mlinu Srpski Miletić gearbeitet. So verließ ich für immer die Mühle in Richtung Gakewa. Seppvetter und seine Familie verließen die Mühle erst ein bis zwei Wochen später, da sie aus persönlichen Gründen in das Lager Kruševlje wollten. Wir sollten uns erst zwei Jahre später in Österreich wieder begegnen.
14. Die große Flucht
Mit einer kleinen Umhängetasche war ich in die Mühle gekommen, mit einem großen Rucksack verließ ich sie. Im Lager habe ich »organisieren« gelernt. In unserem Lagerjargon bedeutete dies : sich auf vorteilhafte Weise durchzuschlagen. Mal brauchte in Miltitsch eine Nachbarin Feuerholz oder Hühnerfutter, mal benötigte eine andere einen Sack Mehl oder wollte ihr Torschloss repariert haben. So kam ich zu etwas Geld ; es war nicht viel, denn meine Dienste waren billig. Dennoch konnte ich in Doroslo – bei den Ungarn waren die dörflichen Strukturen noch intakt – Würste, Konserven, Süßigkeiten etc. einkaufen. Ich wollte doch nicht so arm wie eine Kirchenmaus im großen Lager auftauchen ! Es hatte sich auch herumgesprochen, dass frühere Transporte nach Gakewa dort nicht gefilzt wurden ; also konnte ich etwas mitnehmen. Jugoslawien begann im Frühjahr 1947 sich seiner Donauschwaben lautlos zu entledigen. Diejenigen, die in den gut zwei Jahren in den Lagern nicht umgekommen waren, sollten ohne Aufsehen das Land verlassen können. Man konnte vor der Weltöffentlichkeit erklären, dass man die Donauschwaben nicht fortgejagt habe, wie es die Ungarn, Tschechoslowaken oder Polen gemacht hatten, sondern dass sie von allein gegangen seien. – Man gab aber nicht den Grund dafür an : Wir nahmen Reißaus, weil wir in den Lagern nicht umkommen wollten ! Wir galten offiziell noch als Staatsbürger, nur war uns jede bürgerliche Zukunft verwehrt. Als mein Vater Anfang der 1950er-Jahre bei der jugoslawischen Botschaft ein Visum beantragte, verlangte die Botschaft Geld, damit Jugoslawien seine Staatsbürgerschaft zurücknehme. Nur so könne er ein Visum erhalten. Mein Vater erklärte der Botschaft, er verzichte lieber auf die Reise, denn Jugoslawien hätte ihn nicht wie seinen Bürger behandelt.
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Einige Jahre später war nicht mehr von einer Rücknahme der Staatsbürgerschaft die Rede. Der Abschied von der Mühle und den Menschen in ihr fiel mir nicht leicht. Ich wusste, dass ich die meisten nicht wiedersehen würde. Hier in der Mühle war ich zum ersten Mal wie ein »kleiner« Erwachsener behandelt worden. Ich hatte meine eigene Schicht wie die Großen. Das gab mir Selbstvertrauen und machte mich stolz. Mir war klar geworden, dass ich etwas erreichen konnte, wenn ich mich einer Sache ganz widmete. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, wie wichtig dieses knappe Jahr in der Mühle für meine persönliche Entwicklung und Reife war. Als ich später mit fünfzehn Jahren zum ersten Mal eine deutschsprachige Schule besuchte und sich bei mir große Defizite zeigten, habe ich mich immer damit angefeuert, dass ich etwas erreichen könne, wenn ich mich intensiv bemühe. »Gleiche Bildungschancen« einfordern zu wollen, wäre damals eine Illusion gewesen ! Frühmorgens am 3. Mai fuhren mehrere Pferdewagen bei der Mühle vor. Sie waren mit Donauschwaben aus diversen Arbeitslagern besetzt. Wir von der Mühle, etwa ein Dutzend Arbeiterinnen und Arbeiter, quetschten uns zwischen die anderen. Dann fuhren wir los in Richtung Doroslo, Stapari, Gakewa. Es waren über vierzig Kilometer. Wir kamen erst in der Nacht dort an. An eine Kontrolle unseres Gepäcks dachte niemand. Jene, die keine Verwandten im Lager hatten, wurden für die Nacht im Saal eines ehemaligen Wirtshauses untergebracht. Am Morgen sollten sie dann auf Häuser im Lager aufgeteilt werden. Ich schnappte mir schnell meinen Rucksack und verschwand zu meiner Mutter. Sie wusste zwar, dass ich kommen würde, aber den Zeitpunkt kannte sie nicht. In den nächsten Tagen sprachen wir über unsere Flucht nach Ungarn. Zunächst musste ich aber Wawi aus Bezdan holen. Mutter überlegte lange, ob ich auch Eva mitbringen solle. Sie wusste, dass Marisnéni sie gerne bei sich behalten würde, bis wir ein festes Zuhause gefunden hätten. Mutter meinte, Wawi und ich sollten Eva ohne Beisein von Maris-
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néni fragen : »Wenn sie mitkommen will, bringt sie mit, ohne Rücksicht auf Marisnénis Einwände.« Eva fiel die Entscheidung selbstverständlich schwer. Einerseits wollte sie mit uns gehen, andererseits hielten ihre Kameradschaften sie zurück. Als wir uns am Abend auf den Weg nach Gakewa aufmachten, begleitete uns Eva bis zum Ortsende. Sie weinte, doch sie blieb in Bezdan. Wir wollten in der zweiten Nachthälfte ins Lager kommen. Als es gegen Mitternacht zu regnen anfing, war ich erfreut, denn die Nacht war stockdunkel und bei Regen würden sich die Posten sicher irgendwo unterstellen, dachte ich mir. Ich hatte mich aber verspekuliert. Als wir uns zwischen einem Teich und einem großen Baum hindurchzwängen wollten, liefen wir einem Partisanen direkt vor den Gewehrlauf. Er hatte uns nicht gesehen, aber uns kommen gehört. Da er nicht wusste, mit wem er es zu tun haben würde, hat er sein Gewehr entsichert und uns entgegengehalten. Er führte uns in die Unterkunft der Wachmannschaft, wo bereits ein halbes Dutzend »Bettler« wie wir auf ihren Abtransport ins Gefängnis warteten. Den Rucksack mit den Lebensmitteln nahmen sie uns weg, aber geschlagen wurden wir nicht. Gegen Tag brachten sie uns ins zentrale Gefängnis. Es war ein ehemaliger Gasthof gegenüber der Kommandantur. Wawi kam zu den Frauen in den großen Saal, ich kam zu den Männern in den Keller. Ich glaube, ich war schon mal in jedem der Räume des Hauses eingesperrt gewesen, aber nie länger als ein bis zwei Tage. Das Schlimmste am Keller war, dass es darin fürchterlich stank. Man musste nämlich seine Notdurft in ein Metallfass in einer Ecke des Kellers verrichten. Papier oder Wasser gab es nicht. Bei dieser Ernährung hatten ohnehin die meisten einen »Durchmarsch«. Jeden Tag wurden zwei Personen bestimmt, das Fass in Begleitung eines Partisans in ein Loch im Garten zu entleeren. Mich hat das Los gleich am Morgen getroffen ; vielleicht, weil ich einen stämmigeren Eindruck machte als die anderen. Aber man weiß ja nie, wofür etwas gut sein kann. So lernte ich einen Weg in den Garten kennen. – Die Frauen ließ man im Laufe
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des Vormittags frei. Es hieß, die Männer müssten bis zum Vormittag des nächsten Tages bleiben. Ich habe äußerst selten meine ganze Strafe abgesessen, und das wollte ich auch diesmal nicht im stinkenden Keller tun. Zumal ich jetzt das Loch in der Gartenmauer kannte. Im Frühjahr 1947 waren die Wachen im Lager »menschenfreundlicher« geworden, denn am frühen Nachmittag kamen zwei Frauen mit einem großen Kessel voll Nudelsuppe. Der Kessel war zu groß, um ihn die steile Treppe in den Keller zu schaffen. Deshalb durfte jeder Insasse nach oben kommen und eine Konservendose voll Suppe fassen. Ein Partisan mit Gewehr stand dabei. Er sicherte vor allem das große Hoftor, damit niemand auf die Straße entwischen konnte. Da es nur eine bestimmte Anzahl von Dosen gab, warteten die Frauen, bis diese zurückgegeben wurden, um sie für die nächsten wieder zu füllen. Man stand also um den Kessel herum, trank die Suppe, gab die Dose ab und ging dann wieder in den Keller zurück. Als ich meine Suppe gefasst hatte, bemerkte ich, dass der Partisan intensiv auf die Straße schaute. Ich stellte flink meine Dose ab und schlenderte in den Hof. Flugs verschwand ich hinter einer breiten, gemauerten Säule, wie sie in besseren pannonischen Bauernhöfen üblich waren. Nachdem alle ihre Suppe gefasst hatten und wieder im Keller verschwunden waren, schloss der Partisan den Keller ab und nahm den Schlüssel an sich. Er begleitete die Frauen nach draußen und schloss auch das Tor ab. Jetzt lief ich schnell in den hinteren Hof, denn der Posten konnte jeden Moment zurückkommen und seiner Aufgabe nachgehen, das Gefängnis zu bewachen. Ich lief auf das Loch in der Mauer zu. Als ich hinter der Gartenmauer war, wusste ich, dass meine Flucht geglückt war. Der Weg zu Mutter durch die Gärten war nur mehr eine Kleinigkeit. – Unser Nachbar aus Filipowa war erschossen worden, als er vor einem Jahr aus diesem Gefängnis fliehen wollte. Er rannte unvorsichtigerweise über die Straße und blieb nicht stehen ; das war sein Fehler. Da jetzt auch Wawi bei uns war, konnten wir unsere Flucht nach Ungarn genauer planen. Mutter ging zu einem der »weißen« Führer, um
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sich nach dem Preis für uns zu erkundigen. Er war so hoch, dass wir unsere letzten Groschen dafür zusammenkratzen mussten. Aber diese offiziösen Führungen boten die optimale Sicherheit, um nach Ungarn zu gelangen. Wie sollten wir von Gara aus, dem ersten ungarischen Dorf nach der Grenze, weiterkommen ? Nur Wawi hatte noch ihre goldenen Ohrringe und eine Armbanduhr. Alle anderen Wertsachen waren längst konfisziert oder eingetauscht worden. Selbst wenn wir Wawis Schmuck gut verkaufen könnten, kämen wir damit nie durch Ungarn. Wir müssten in Baja mit der Fähre über die Donau und danach, vielleicht in Bátaszék, die Eisenbahn erreichen. Wir könnten nicht mit unserem Gepäck und den beiden kleinen Schwestern – sie waren sechs und acht Jahre alt – den Weg bis zur österreichischen Grenze zu Fuß zurücklegen. Überdies kamen in Gakewa immer wieder Flüchtlinge an, die von der ungarischen Gendarmerie aufgegriffen und zurückgeschickt worden waren. Man sagte, dass Baja gerade deshalb möglichst zu umgehen sei. Ins Lager zurückgeschickte Flüchtlinge berichteten viel über den Hass der Ungarn, vor allem ihrer Gendarmen, rendörök, auf uns Deutsche. Weshalb diese Feindschaft gegen uns Flüchtlinge ? Uns kam es vor, als stellten die Ungarn in ihre Gendarmerie nur mehr Kommunisten ein. Mutter hatte im Lager gehört, dass die Ungarn Flüchtlinge, die bereits bis zur österreichischen Grenze gelangt waren, wieder nach Jugoslawien zurückgeschickt hatten. Leute im Lager erzählten, dass die ungarischen Gendarmen sie in Tag- und Nachtmärschen wieder über die Grenze zurücktrieben. Häufig hätten dann die jugoslawischen Grenzer sie wieder nach Ungarn gejagt ; so jedenfalls 1947. Es wollte niemand die Flüchtlinge haben. Offensichtlich hielten die Ungarn uns für die Hauptschuldigen an den Gräueln des Krieges. Ihre zahlreichen Pfeilkreuzler hatten sie wohl »vergessen« ! Es war erstaunlich, wie schnell aus den Ungarn Antifaschisten geworden waren. Mir klang es noch in den Ohren, als sie am 19. März 1944 der Waffen-SS in Szabadka »Élyen, Heil Hitler« zujubelten. Mir war auch noch in Erinnerung, was mein Vater von Neusatz erzählte, dass
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ungarisches Militär zahlreiche Juden lebendig unter das Eis der Donau stieß, dass es Tausende Serben in der Batschka liquidierte oder aus dem Lande vertrieb. Und jetzt spuckte man donauschwäbische Flüchtlinge an, beschimpfte sie als Nazis und wollte sie nicht einmal durch das Land ziehen lassen. Die allermeisten hatten gar nicht vor, sich in Ungarn niederzulassen. Es waren aber nicht alle Ungarn so eingestellt. Ein mir bekannter Filipowaer erzählte, dass Menschen weinten, als sie sahen, wie die rendörök die Geschundenen durch Dreck und Schlamm wieder zur jugoslawischen Grenze trieben. Wir sollten auf unserer Reise durch Ungarn auch hilfsbereite Menschen erleben : Sie halfen uns mit Essen und Fuhrwerken aus, damit wir unsere Freiheit erlangen konnten. Nach den vielen schlimmen Nachrichten, die im Lager über Ungarn kursierten, gelangten wir zu der Meinung, dass wir Ungarn möglichst schnell durchqueren sollten. Doch dazu fehlte uns das nötige Geld. Uns wurde klar, dass Onkel Sándor der Einzige war, der uns in dieser Notlage helfen konnte. Ich machte den Vorschlag, dass ich nach Karbok gehen würde, um zu erfahren, wo und wann Onkel Sándor nach Ungarn gehen wolle. Wir müssten uns mit ihm absprechen, damit er uns helfe, von Gara nach Österreich zu gelangen. Unsere Mutter war durch all die Widrigkeiten, die sie in den vergangenen Jahren zu erdulden hatte, müde geworden. Doch jetzt war Wawi an ihrer Seite, und sie konnte Mutter von den täglichen Sorgen teilweise entlasten. Ich entschloss mich kurzfristig, nach Karbok zu reisen. – Unter den Wachhabenden, die sich im Nachbarhaus befanden, war ein Zigeuner-Partisan. Er war fast immer bereit, ein Auge zuzudrücken, wenn man sich in seiner Dienstzeit aus dem Lager entfernte. Von der Haushälterin der Wachmannschaft erfuhr Mutter, dass er von 18 bis 24 Uhr Wache habe. Die Zeit war günstig für mich. Ich stahl mich gegen Mitternacht aus dem Lager, lief in der Nacht die fünfzehn Kilometer bis Sombor, nahm dort den Bus bis Odschag und lief die vier Kilometer bis Karbok. Am späteren Nachmittag kam ich dort an.
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Onkel Sándor war froh, dass ich gekommen war. Er hatte schon nach einer Möglichkeit gesucht, mich rufen zu lassen. Nanni, seine Dienstmagd, hatte keine Verwandten mehr in Gakewa und sie wollte ebenfalls Jugoslawien verlassen. Onkel selbst wollte mit einem ungarischen Führer weiter im Norden, bei Bajmok, über die Grenze gehen. Dieser Mann sollte ihn bis nach Gara begleiten. Wir machten aus, dass er im Pfarrhaus in Gara auf uns warten würde. Marjan wollte mit ihren Eltern und Geschwistern von Kruševlje aus über die Grenze gehen. Dann kam der letzte Abend in Karbok. Onkel hatte sich von seinen engsten Freunden verabschiedet, auch vom Precednik. Dem Kantorlehrer hat er die Hausschlüssel übergeben und ihm gesagt, wenn er nicht mehr zurückkomme, solle er sich aus dem Haus holen, was er gebrauchen könne. Einen Nachfolger würde er wahrscheinlich doch nie wieder bekommen. Es kam bei unserem gemeinsamen Abendessen eine eigenartige Stimmung auf. Irgendwie waren alle froh, dass die Entscheidung gefallen war und es nun endlich an die Ausführung ging, aber es war auch eine Wehmut zu spüren, besonders bei meinem Onkel : Er verließ schließlich sein Amt und sein Zuhause. Dazu hatte er Angst, an der Grenze wieder erwischt zu werden. Am frühen Morgen verließen wir nacheinander das Haus : Nanni und ich gingen zu Fuß nach Odschag zum Bus, Marjan ging nach Miltitsch zu ihren Eltern und Onkel ging zum Bahnhof, denn er fuhr mit dem Zug bis Subotica. Dort hatte er noch einiges zu erledigen. Unter anderem wollte er sich bei seinem Bischof abmelden. Zwischen beiden hatte nie ein gutes Verhältnis bestanden. Meinem Onkel war der Bischof, ein Bunjewatze, zu slawophil. Mit Ungarn und Deutschen konnte er nie viel anfangen. Nachdem Nanni und ich im Lager angekommen waren, konnten wir unsere Vorbereitungen für die Flucht präzisieren. Inzwischen hatten wir die zweite Maihälfte. Onkel würde spätestens in einer Woche in Gara sein. Also sollten wir uns in der Woche darauf mit einem »wei-
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ßen« Transport nach Ungarn aufmachen. Mutter führte die Gespräche mit den Führern und handelte den Preis aus. Der Führer nannte uns den Abend des 25. Mai ; an diesem Tag hatten wir uns gegen 19 Uhr mit Sack und Pack in einem bestimmten Haus einzufinden. Das Gepäck müsse leicht sein, Kleinkinder seien ruhigzustellen. Alle Teilnehmer müssten gut zu Fuß sein, denn auf Nachzügler könne er nicht warten. Nun hatten wir noch einige Tage, um uns vorzubereiten. Alle bekamen von Mutter ihr Gepäck zugewiesen ; die Rucksäcke wurden ausprobiert. Auch Burgl und Hedwig bekamen Rucksäcke. Um in der Nacht nicht auseinandergerissen zu werden, sollte Mutter Burgl an die Hand nehmen und Wawi Hedwig. Ich wollte vorausgehen und die Verbindung mit der Gruppe halten. Es gab die Order, man solle unterwegs möglichst gar nicht oder nur leise sprechen. Am genannten Tag fanden wir uns in besagtem Haus ein. Zunächst wurde kassiert. Als es dunkel genug war – es mochte gegen 22 Uhr gewesen sein –, verließ die Gruppe von annähernd Hundert Personen das Lager. Von einem Wachposten war nichts zu sehen. Der Abend war ruhig und mild ; das Tempo konnten wir gut mitgehen. Uns war eine jüngere Frau im Zug aufgefallen, die ein etwa fünfjähriges Mädchen an der Hand führte und ein zwei- bis dreijähriges Kind auf dem Rücken trug. Das Kleine schlief so fest, dass es auf dem ganzen Weg nie einen Laut von sich gab. Unser Führer mied alle größeren Straßen und ging Feldwege oder auch querfeldein. Wir mochten drei Stunden gegangen sein, da hieß es zusammenrücken und sich niedersetzen. Unser Führer verkündete mit verhaltener Stimme, dass wir in der Nähe der Grenze seien. Rechter Hand von uns aus sah man in der Ferne ein schwaches Licht ; es musste die Karaula, die jugoslawische Grenzstation, sein. Dann zeigte er uns den Polarstern : Wir sollten immer auf diesen Stern zugehen und uns links von dem Licht halten, dann würden wir gegen Tagesanbruch in Gara ankommen. Der Führer war noch am Reden, als man ein Pferdegespann in schnellem Lauf auf uns zukommen hörte. Er verstummte sofort. Dann
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wurde in die Luft geschossen. Wir blieben ganz verdattert im Feld sitzen, denn mit so einem Zwischenfall hatte niemand gerechnet. Der Wagen hielt abrupt vor uns an. Drei oder vier Partisanen sprangen vom Wagen. Ihr Anführer schrie uns minutenlang an. Er fragte nach unserem Führer, aber der war längst verschwunden. Der Schreier redete viel davon, dass er uns eigentlich alle erschießen müsste, aber er wolle mit uns nachsichtig sein : Zwei seiner Milizen würden uns jetzt zurück ins Lager bringen. Man kann sich kaum vorstellen, wie groß bei uns allen die Enttäuschung war. Es fehlten nur mehr wenige Schritte und wir wären in Ungarn gewesen. Die Menschen um mich herum jammerten und weinten. Mit einem Male schienen sie alle Energie verloren zu haben. Auf dem Rückweg konnten viele nicht mehr gehen ; manche warfen Teile ihres Gepäcks weg, andere mussten von robusteren Naturen gestützt werden. Unser Zug bot einen jammervollen Anblick, als uns die Partisanen ins Lagergefängnis führten. Die Frauen kamen in den ehemaligen Tanzsaal und die Männer in den Keller. – Mutter erzählte später, dass das Kind der jungen Frau auch dann noch immer fest schlief. Die Frau war darüber bereits sehr besorgt. Sie erzählte unserer Mutter, sie habe aus frischen Mohnkapseln einen Tee gemacht und dem Kind zu trinken gegeben. Mutter hat sich später nach dem Kind erkundigt und erfuhr, dass es erst am nächsten Tag aufgewacht war. Diesmal dauerte der Aufenthalt im Gefängnis nicht lang. Nach circa zwei Stunden ließ man uns alle wieder laufen. Natürlich erfuhr man nichts darüber, wie es zum Fehlschlag unseres Zuges gekommen war. Gerieten wir in eine zufällige Grenzkontrolle, die von den Machenschaften der Lagerkommandantur nichts wusste ? Es könnte aber auch eine private Rivalität zwischen zwei Kommandanten gewesen sein, weil der eine dem anderen die Einnahmen neidete. Die Insassen des Pferdefuhrwerks an der Grenze hatten uns sicher weder gesehen noch gehört und doch kamen sie, wie bestellt, auf uns zugaloppiert. Sie mussten gewusst haben, dass ein Zug kommen und wo er die Grenze passieren würde.
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Als wir wieder in unserem alten Haus im Lager waren, saßen wir vor einem Scherbenhaufen. Wir waren die ganze Nacht gelaufen und all unser Geld war dahin. Was sollten wir jetzt machen ? Was uns an Mitteln verblieb, reichte nicht einmal aus, um einen »schwarzen« Transport zu bezahlen. Ich brachte meinen alten Schulfreund Schäffer Sepp ins Gespräch, aber Mutter winkte ab. Sie wolle überhaupt nicht mehr fliehen. Sie wolle mit Burgl und Hedwig im Lager bleiben. Wir anderen sollten gehen. Und wenn wir ein Plätzchen gefunden hätten, könnten wir sie holen kommen. Wir haben versucht unsere Mutter umzustimmen, aber vergeblich. Wawi verkaufte ihre Ohrgehänge, und Nanni hatte etwas Geld. Wir drei wollten versuchen, nach Gara zu kommen, denn Onkel wartete bereits auf uns. Er würde sicher eine Lösung finden, um Mutter und die Kleinen zu holen. Wir heuerten bei einem »schwarzen« Führer an. Am Abend des 31. Mai fanden wir uns wieder in einem Haus ein. Diesmal waren wir vorsichtiger geworden : Wir würden ihn erst bezahlen, wenn er uns über die Grenze gebracht hätte. Er willigte ein. Als wir bereits unsere Rucksäcke zum Aufbruch geschultert hatten, kam eine Frau und sagte zum Führer, dass der Wachposten uns nicht passieren lassen wolle, da die Gruppe größer sei, als mit ihm abgesprochen war. Das gegebene Geld reiche ihm nicht. Der Führer war auch noch mit einem anderen Posten in Verbindung, doch die Verhandlungen zogen sich derart in die Länge, dass wir gegen Mitternacht unsere Rucksäcke nahmen und wieder nach Hause gingen. Zwei Tage später scheiterte ein weiterer Versuch zur Flucht bereits im Vorfeld. Inzwischen hatte Onkel in Gara von unseren Fehlversuchen gehört. Er ließ uns durch einen Grenzgänger mitteilen, dass wir im Lager bleiben sollten, er werde uns den »Jacke Jure« (mit richtigem Namen hieß er Georg Jack) schicken. Als Mutter hörte, dass der Jacke Jure kommen würde, fasste sie wieder Mut. Sie sagte : »Wenn uns überhaupt jemand nach Ungarn bringen kann, dann ist es der Jure.« Jure war unser Nachbar in Filipowa und im Alter unseres Vaters. Man sagte in Filipowa, der
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Jure sei mit allen Wassern gewaschen, nur mit keinem guten. Als Kinder waren Vater und Onkel seine Spielkameraden. Jure war wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt geraten und stand deshalb ein wenig im sozialen Abseits, aber die Verbindung zu unseren Eltern war trotzdem immer intakt geblieben. Er zog durch die Welt, schlug aber nirgendwo Wurzeln. Er kam immer wieder zurück und unterhielt immer freundschaftliche Beziehungen zu unserem Vater. Die gegenseitige Hilfe blieb immer bestehen. Vater war eine der wenigen Personen, die auf ihn einen gewissen Einfluss hatten. Tatsächlich stand nach zwei Tagen der Jure mit dem »Hinkl Hans«83 ( Johann Hengl) im Hof. Auch Hinkl Hans war eine bekannte Person, aber nicht in dem Sinne wie Jure. Als Mutter Jure gegenüber ihre Bedenken hinsichtlich der Flucht vortrug, überfuhr dieser sie gleich in seiner forschen Art. Er meinte : Sein Jugendfreund Balzer (unser Vater) würde ihm nie verzeihen, wenn er sein Weib und seine Kinder im Lager bei den Raazen zurücklassen würde. Es folgte eine längere Diskussion mit zum Teil auch kräftigen Ausdrücken, die aber nur in unserer Dorfsprache richtig wirken. Mutter konnte Jures Argumenten immer weniger entgegensetzen. Zum Schluss sagte Jure : »Eeve, pack dich un deî Kindr zamm, morge Oowed geht’s uf Gaare. Ich hab’m Sándr vrsproche, dass ich eich alli mitbring !« Damit war die Diskussion beendet. Jure tauchte irgendwo im Lager unter und erschien erst am nächsten Abend wieder. Wir packten unsere Habseligkeiten zusammen, und am Abend des nächsten Tages, es war Sonntag, der 8. Juni 1947, verließen wir das Lager und unsere ehemalige Heimat Jugoslawien. Der Zigeuner-Partisan ließ uns am Abend passieren und bei Tagesanbruch kamen wir unbehelligt in Gara an. Mithilfe von Jure und Hans waren wir schneller vorangekommen als mit dem großen weißen Transport. Die beiden Männer halfen uns tra83 Über Hans Hengl gibt es einen Bericht im HB 20,1973 : 18–26, oder auch in der Monografie, Bd. 6, 1985 : 16/17.
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gen, und wenn Burgl müde war, trugen sie sie abwechselnd. Onkel hatte uns bei einem Bauern in Gara einen Platz reservieren lassen. Jure wusste davon und führte uns gleich dorthin. – Jure war mal wieder seinem Ruf gerecht geworden, dass man auch ohne Papiere durch die Welt kommen kann, wenn man es nur richtig anzustellen weiß. Wir waren Jure und Hans zu großem Dank verpflichtet. Sie verabschiedeten sich, denn sie wollten Onkel Bescheid geben, dass wir hier waren. Wir haben keinen der beiden jemals wiedergesehen. Die Bauersfrau unseres Quartiers brachte uns zu essen : Brot, Milch und Wurst, und zwar so viel wie jeder wollte. Bald darauf kam Onkel. Mutter und er hatten sich seit Karsamstag 1945 auf der Hutweide nicht mehr gesehen. Es war in diesen 26 Monaten sehr viel Schlimmes passiert. Sie hatten sich sehr viel zu erzählen. Aber jetzt überwog doch die Freude, dass wir heil dem Lager entkommen waren. Onkel sagte, wir sollten zwei Tage gut essen und uns erholen, dann gehe die Reise weiter nach Baja, über die Donau nach Österreich. Wir legten uns in der Scheune aufs Stroh und schliefen ausgiebig. Wir verbrachten drei Tage in Gara. Wir aßen und schliefen in dieser Zeit viel. Wir hatten wohl großen Nachholbedarf. Für den 12. Juni in der Früh hatte Onkel einen Pferdewagen bestellt, der unser Gepäck und unsere beiden Kleinen bis über die Donau, wenn möglich bis Bátaszék, bringen sollte. Wir Erwachsenen wollten hinter dem Wagen hergehen. Der Pfarrer von Gara hatte Onkel geraten, nicht in die Stadt Baja hineinzugehen, da dort öfter Flüchtlinge aufgegriffen würden. Gegen Mittag hatten wir die Donaufähre erreicht. Da es westlich der Donau eine befestigte Straße gab, durften sich dort auch die Erwachsenen auf den Wagen setzen ; andernfalls hätten wir bis zum Abend kaum Bátaszék erreichen können. Dort ließ uns der Bahnvorstand im Wartesaal übernachten. Onkel löste noch am Abend die Fahrkarten bis zur Grenzstation Szentgotthárd. Wir nahmen am nächsten Morgen den ersten Zug Richtung Westen : Dombovár, Kaposvár … Es war ein heißer Tag. An jeder Station stiegen
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viele Leute zu, auch Flüchtlinge aus Jugoslawien. Als wir an der Endstation ankamen, stiegen mehrere Hundert Flüchtlinge aus. Sie wollten alle nach Österreich. Onkel traf in der Menge einen Mitbruder aus Sentiwan mit seiner großen Verwandtschaft. Wir taten uns zusammen, um vielleicht ein Gefährt für unser Gepäck zu finden. Onkel ging in einen Gasthof an der Straße nach Österreich, um sich nach einem Führer und einem Wagen zu erkundigen. Im Raum saßen zwei ungarische Offiziere der Grenzwache. Sie sprachen Onkel an, ob er vielleicht nach Österreich wolle. Sie kamen ins Gespräch. Der eine Offizier erwähnte, er sei auch mehrere Jahre in Travnik (Bosnien) aufs Gymnasium gegangen wie mein Onkel. Als sie dann weiterredeten, stellten sie fest, dass sie auf dem gleichen Gymnasium gewesen waren und teils auch die gleichen Lehrer gehabt hatten. Nun war eine Art Freundschaft entstanden. Der Offizier bot meinem Onkel für diesen Abend einen Führer und zwei Pferdewagen für das Gepäck an. Die Wagen könnten aber nicht ganz bis zur Grenze fahren, da es dort nur mehr einen Fußweg gebe. Wir sollten uns im Hof des Gasthauses niederlassen, essen und ausruhen. Sobald es dunkel genug sei, würde der Führer mit den Pferdewagen vorfahren. Onkel kam heraus und teilte uns mit, dass wir uns im Hof niederlassen sollten. Es gehe erst los, wenn es ganz dunkel sei. Er ging wieder in die Wirtsstube und trank mit seinem neuen Bekannten einen Pálinka (Schnaps), dann trennten sie sich. Die Sentiwaner saßen mit uns zusammen im Hof und warteten. Es war schon dunkel geworden, aber von Wagen war nichts zu hören. Onkel war überzeugt, dass sein Bekannter Wort halten würde, denn sie hatten viele gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht und deswegen würde er auch die Wagen schicken, meinte er. Gegen 22 Uhr hörte man Wagen knattern. Es fuhren zwei Leiterwagen vor, und ein junger Mann fragte nach dem Sándor-úr (Herr Alexander). Er stellte sich als der Führer vor. Er dürfe uns allerdings nicht auf die andere Seite begleiten, aber an jener Stelle, wohin er uns bringen würde, gebe es keine Wachposten. Wir müssten nur geradeaus weitergehen, dann kämen wir nach Österreich.
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Die Sentiwaner hatten vor, nach Deutschland zu gehen, deshalb planten sie, sich in Österreich nach Norden zu orientieren. Wir hatten keine Bekannten in Deutschland, deshalb wollten wir uns dort niederlassen, wo wir Arbeit und ein Dach über dem Kopf fänden. Onkel wollte sich nicht allzu weit von Slowenien und Kroatien entfernen, deshalb richtete er seinen Blick nach Graz. Unter den kroatischen Priestern hatte er noch viele Bekannte aus der Studienzeit. Uns war nur wichtig, die sowjetische Besatzungszone zu verlassen. Als die Wagen beladen waren, setzte sich unser Zug mit nahezu 30 Personen in Bewegung. Alles lief wie abgesprochen. Wir nahmen vor der Grenze unser Gepäck und marschierten los. Nach gut einer Stunde kamen wir in eine kleine Ortschaft, durch die eine Betonstraße ging. Die Ortstafel war Deutsch, also waren wir in Österreich ! Hier trennten wir uns von den Sentiwanern ; sie zogen nach Norden, wir gingen geradeaus, mieden aber die große Straße. Als es bereits hell war, begegneten wir einem sowjetischen Posten, er aber nahm keine Notiz von uns. Da wir keine Landkarte hatten und ortsunkundig waren, wussten wir nicht, wo man am besten die Zonengrenze überschreiten konnte. Aber dieses Ziel, die Zonengrenze, konnten wir zurzeit auch gar nicht anpeilen, da wir alle sehr müde waren ; wir brauchten eine längere Pause. Sogar Onkel war müde ; er trug schon seit Längerem die kleine Burgl, die nicht mehr laufen konnte. Wir ließen uns an einem abgelegenen Feldrand nieder. Onkel meinte, ob ich nicht von einem Baum aus einen Kirchturm sehen könne. Ich kletterte hinauf und sah in nicht allzu großer Entfernung einen Zwiebelturm. Onkel vermutete, es müsse eine katholische Kirche sein. Wir wollten, wenn wir uns ausgeruht hatten, dorthin gehen und uns nach der Grenze zur englischen Zone erkundigen. Als wir uns wieder aufmachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel ; es war Mittag. Wir kamen auf eine kleine Straße, von der aus man den Kirchturm deutlich sehen konnte. Ein Wegweiser zeigte »Königsdorf« an. So gelangten wir an einem frühen Samstagnachmittag
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nach Königsdorf. Der Pfarrer war gerade beschäftigt, da es eine Hochzeit gab. Wir warteten im Pfarrhof. Die Hochzeit zog mit Musik durchs Dorf. Nach langer Zeit erlebten wir wieder Musik und Tanz. Vor allem unsere Mutter und die kleinen Schwestern konnten es gar nicht fassen, dass es so etwas gab ! Der Pfarrer war sehr freundlich und hilfsbereit. Er wies seine Köchin an, uns etwas zu essen zu geben. Zum Abendessen kochte sie uns einen Eintopf mit Fleischeinlage. Es sei überhaupt kein Problem, in die englische Zone zu gelangen, sagte der Pfarrer. Die Grenze verlaufe gleich hinter Königsdorf, das Flüsschen Lafnitz bilde die Grenze. An der Brücke stehe meist ein Rotarmist. Es gebe aber eine seichte Stelle, wo das Wasser zu dieser Jahreszeit nicht einmal bis zu den Knien reiche. Er würde uns einen Burschen mitgeben, der solle uns bis zu einem Bauern auf der anderen Seite in Gillersdorf bringen ; bei diesem Bauern könnten wir auch in der Scheune übernachten. Es war noch relativ hell, als der Bursche kam und uns zur Lafnitz und zu dem Bauern in Gillersdorf führte. Als dieser hörte, dass wir vom Königsdorfer Pfarrer kämen und nach Fürstenfeld wollten, nahm er uns freundlich auf. Er bot auch an, uns und unser Gepäck am nächsten Tag in der Früh bis nahe Fürstenfeld zu bringen. Da aber am nächsten Tag Sonntag sei, wolle er nicht mit seinem Ochsenwagen durch die Stadt fahren. Er schlug vor, zeitig loszufahren, da er noch nach Loipersdorf in die Messe gehen wolle. Der Sonntag, es war der 15. Juni, war ein frühsommerlicher Tag. Als wir am frühen Morgen in Fürstenfeld durch die Bahnhofsstraße in Richtung Kirche gingen, hörte man aus manchen Häusern Musik, die Glocken läuteten, die Menschen waren sonntäglich gekleidet. Das waren alles Bilder, die wir schon lange nicht mehr gesehen hatten. Unsere Angst war verflogen. Wenn wir uns Jahre später über diesen Einzug in Fürstenfeld unterhielten, haben wir uns immer wieder daran erinnert, wie damals alle Angst von uns abfiel. Wir spürten nach Jahren eine Befreiung und eine Zukunft. Wir gingen wie von einem Hochgefühl getra-
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gen durch die Stadt bis zum Pfarrhaus. Auch Mutter fasste wieder Mut und Hoffnung. Zunächst fanden wir eine Unterkunft auf dem Heuboden des Pfarrhauses in Fürstenfeld. Am Montagmorgen wurden wir im Gemeinde amt der Stadt Fürstenfeld mit DDT entlaust und anschließend mit Ochsenwagen ins Entlassungslager nach Groß Wilfersdorf gebracht. Am 17. Juni 1947 fanden wir auf dem Schladlhof, der damals zum Kloster St. Severin in Fürstenfeld gehörte, Arbeit und Unterkunft. Mutter hatte sich um Schweine und Kleinvieh zu kümmern, Wawi war zunächst in der Landwirtschaft, später in der Küche beschäftigt, ich war Kleinknecht geworden. Hedwig und Burgl sollten im Herbst mit der Schule beginnen. Onkel ging nach Graz, um sich dem Bischof vorzustellen. So endete unsere große Flucht. Trotz vieler Fährnisse gab es alles in allem einen guten Ausgang. Vater traf zwei Jahre später bei uns in Fürstenfeld ein.
Nachwort
Bei der Volkszählung vom 31. März 1931 in Jugoslawien gaben sich 500.000 Personen als der deutschen Sprache zugehörig aus – sehr wahrscheinlich waren es bis zu 200.000 mehr. Darunter befanden sich auch einige Tausend Juden. Zu dieser halben Million zählten auch die etwa 340.000 Donauschwaben der Wojwodina, d. h. die Deutschsprachigen des Westbanats, der Batschka und der Südbaranya. »Bei der ersten Nachkriegszählung von 1948 wurden lediglich 55.000 Deutsche in Jugoslawien registriert, eine Zahl, die mit Sicherheit zu
niedrig war. Nach einem vorübergehenden statistischen Anstieg bei der nächsten Volkszählung nahm die tatsächliche Zahl der Deutschen durch
Auswanderung seit Mitte der 1950er-Jahre kontinuierlich ab und belief
sich 1981 auf weniger als 9.000 Personen. Schätzungsweise 30.000 Männer waren im Verlauf des Zweiten Weltkrieges gefallen, und weitere 70.000
Zivilpersonen – Frauen, Männer und Kinder – kamen in Internierungslagern, auf der Flucht oder infolge von Gewaltakten bei Kriegsende ums
Leben« (Sundhaussen 1992 : 69).
Das Deutschtum hatte also in Jugoslawien aufgehört zu existieren. Die Mehrheit der Überlebenden siedelte sich während oder nach dem Krieg im Süden der damaligen Bundesrepublik Deutschland, ein geringerer Teil in Österreich und ein kleiner in den USA an. Die Filipowaer z. B. verteilten sich im Dezember 1987 auf 18 verschiedene Staaten, davon die Hälfte in Übersee. In der Bundesrepublik lebten 2.168 Filipowaer, in Österreich 1.078 und in den USA 308. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg taten die Landsmannschaften viel, um eine donauschwäbische Gemeinschaft aufrechtzuer-
Nachwort :
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halten. Aber je mehr die Alten wegstarben und mit ihnen das tradierte Wissen und die alten Verbindungen verloren gingen, desto mehr pflegten die Vereine eine romantische Folklore. Gerade im deutschsprachigen Raum, wo das Gros der Donauschwaben siedelt, sind die Dorfsprachen sehr schnell weggebrochen, und zwar selbst bei jenen, die sie in der alten Heimat noch gesprochen haben. So sind nicht nur typische Wörter für den Filipowaer Dialekt verschwunden, sondern es hat sich auch die Satzmelodie verändert. In fremdsprachiger Umgebung war dieser Verfall viel langsamer. Selbst meine Eltern haben im Laufe der Jahre in ihrem gemeinsamen Gespräch viel steirisches Sprachgut verwendet. Meine jüngeren Schwestern haben sich sprachlich fast ganz ihrer neuen Umgebung angepasst. Josef V. Senz, der ehemalige Lehrer aus Filipowa, »wollte, daß der jüngste deutsche Neustamm, die Donauschwaben, sich in die neuen Heimatländer eingliedern, integrieren, aber nicht einschmelzen, d. h. sich nicht vollständig an die Menschen ihrer neuen Heimat assimilieren. So propagierte er für seine Landsleute den Leitsatz : Deutsche, Österreicher, Amerikaner mit einem donauschwäbischen Einschlag ! (Bekanntlich lautet der Titel eines seiner Bücher : ›Bayerische Donauschwaben – donauschwäbische Bayern‹« (HB 42, 1992 : 27). Es ist aber eine große Ausnahme, wenn die Enkel der Auswanderer – oft auch schon die Kinder – noch etwas von der alten donauschwäbischen Heimat und ihrer Geschichte wissen oder gar wissen wollen. Es wäre aufschlussreich, zu hören, worin der »donauschwäbische Einschlag« nach Senz bestehen soll, wenn selbst die Sprache so schnell aufgegeben wird. Wir Donauschwaben waren vor allem ein Bauernvolk. In kleinen Handwerksbetrieben wurden Waren für die Dorfbewohner hergestellt. Exportiert wurden fast ausschließlich landwirtschaftliche Erzeugnisse : Hanf, Weizen, Vieh … Die Handeltreibenden waren meist Hanfhändler. Im Grunde lebte irgendwie das ganze Dorf von der Landwirtschaft. In unserer neuen Heimat hatten wir uns aber einer ganz anderen Wirtschaftsstruktur anzupassen, ganz abgesehen davon, dass uns die frucht-
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baren Böden der Batschka fehlten. Wir waren gezwungen uns zu verändern, um in der neuen Heimat mithalten zu können. Da wurden nicht selten die Söhne ehemaliger reicher Bauern Hilfsarbeiter auf dem Bau oder in der Fabrik. Umso erstaunlicher ist es, wie beherzt die meisten die neue Herausforderung anpackten und wirtschaftlich reüssierten. Ist es vielleicht diese »Kolonistenmentalität«, die den »donauschwäbischen Einschlag« ausmacht ? Der Donauschwabe, sagt man, schafft und rackert bis zum Umfallen, aber er gibt niemals auf. Wir Donauschwaben haben keine eigenständige Kultur oder Religion, Literatur oder Architektur hervorgebracht, wie z. B. Juden, Armenier oder andere alte Kulturvölker, die wir unseren Nachkommen vererben könnten. Wir heiraten auch nicht mehr innerhalb unseres »Stammes«, um unser »Ahnenerbe« zu tradieren. Die geschlossenen Gesellschaften von damals existieren nicht mehr. Und das ist auch gut so ! In Filipowa gaben viele Eheschließungen, besonders in der wohlhabenden Bauernschicht, Anlass zu Sorge. Um die Felder und den Reichtum zusammenzuhalten, heiratete man gerne unter seinesgleichen und möglichst in der weiteren Verwandtschaft. Man heiratete selten in ein anderes Dorf und viel seltener in eine andere Ethnie oder Konfession. Die Öffnung der Filipowaer Gesellschaft in der neuen Heimat auf andere Stämme und Ethnien ist für ihr Überleben sicher von Vorteil. Man kann sich sogar die Frage stellen, ob es klug war, sich früher wie eine Monade vor allem Fremden abzuschotten. Die Völkerkunde könnte viele Beispiele liefern, die zeigen, dass durchmischte Völker und Kulturen viel leichter überleben als solche, die auf die Reinerhaltung ihres Blutes Wert legen. Dabei sind Mischkulturen produktiver und dynamischer. Alle großen Weltkulturen und Weltreligionen sind anfangs synkretistische Gebilde. D. h. sie haben aus anderen Kulturen bzw. Religionen Elemente übernommen und daraus ein neues Ganzes gemacht. Das Christentum macht hierbei keine Ausnahme ! In der alten Heimat handelten wir nach Wertvorstellungen, die meist aus dem Christentum begründet wurden. Deshalb prägte die Religion alle
Nachwort :
269
Übergänge des Lebens eines jeden Einzelnen : Geburt, Taufe, Erwachsenwerden, Heirat usw. bis zum Sterben. Genauso präsent war die Religion im ganzen Jahresablauf und im gesamten Wirtschaftsleben. Die religiösen Riten nahmen im wirtschaftlichen wie im sozialen Leben eine zentrale Stellung ein. Damit war auch die im Gesellschaftsgefüge exponierte Position der Ritenmeister, also der Priester, gegeben. Ohne ihre Zustimmung konnte man in der Gesellschaft nicht aufsteigen. In Filipowa war der sozio-religiöse Druck auf den Einzelnen meist so stark, dass er sich diesen Riten unterwarf, um nicht ins soziale Abseits zu geraten. Diese typische Wertevorstellung der Filipowaer wurde erst mit dem Aufkommen der »Erneuerer« Mitte der 1930er-Jahre öffentlich infrage gestellt. Eine kritische Haltung einer derart einengenden Gesellschaft gegenüber ist an und für sich nicht falsch. Diese Kritik musste einmal kommen, denn religiöse Akte haben nur dann einen Sinn und Wert, wenn sie frei und aus Überzeugung gesetzt werden. Die »Erneuerer« haben aber nicht nur gegen die religiöse und gesellschaftliche Enge aufbegehrt, sondern sie haben sich einer intoleranten, nationalsozialistischen Ideologie verschrieben, und sie schreckten vor Gewalt nicht zurück, um sie anderen zu oktroyieren. Sie haben vielleicht zu Recht das alte Gefüge als Kerker empfunden. Aber jener Kerker, den sie aufgebaut haben und in den sie ihre Mitbürger hineinzwingen wollten, war viel intoleranter und brutaler als jener, den sie bekämpften. Sie suchten ihren Wertekodex auf ihr angeblich reines deutsches Blut zu gründen. Aber Blut haben alle Menschen, und es ist so rein oder so verderbt, wie das der »Erneuerer« war ! Wenn ich die Pfarrmatrikel von Filipowa seit der Zeit der Ansiedlung durchgehe, kommen mir bezüglich des »reinen deutschen Blutes« doch große Zweifel. Ein Mensch, der sich vom Blut her definiert, ist ein biologisches Zufallsprodukt : Er kann gut, aber auch ein verkommenes Subjekt sein. Ein Mensch muss von seinem Charakter, seiner Wertvorstellung, seinem Handeln usw. definiert werden. »Rasse« sagt über den Wert eines Menschen nichts aus, denn sie ist für die Werte oder Mängel eines Menschen nicht konstitutiv !
270 : Nachwort
Die Agitationen der »Erneuerer« und der Deutschen Mannschaft sowie das Ausheben von SS-Divisionen, die später gegen die jugoslawischen Befreiungstruppen eingesetzt wurden, haben das Verhältnis zwischen den Donauschwaben und den Südslawen endgültig zerstört. Die neuen Machthaber Jugoslawiens haben jedenfalls die Kollektivschuld aller Deutschen Jugoslawiens, die Aberkennung ihrer Bürgerrechte und ihre Enteignung am 21. November 1944 damit begründet. Man weiß aus der Geschichte, dass dies nicht die einzigen Gründe waren, die zu unserer Katastrophe führten. Serbische Politiker und Intellektuelle haben seit jeher alles Land für ihren Staat reklamiert, auf dem ein Teil ihrer Landsleute siedelte. Da die Südslawen – Serben, Kroaten und Slowenen – angeblich alle Serbisch sprechen, hat man sie konsequenterweise in das Reich unter serbischer Führung eingebunden. Die Idee von einem Großreich der Serben lebt seit der verlorenen Schlacht auf dem Amselfeld (1389) fort und wird in der orthodoxen Kirche immer gepflegt und hochgehalten. Noch 1992 schickte der Heilige Synod der orthodoxen Kirche Serbiens einen Protestbrief an Papst Johannes Paul II., weil er Kroatien und Slowenien anerkannte. Es sei Pflicht des Heiligen Synods, heißt es, sich für die Rechte des serbischen Volkes in Bosnien und allen anderen serbischen Siedlungsgebieten einzusetzen (HB 42, 1992 : 40). So wurde auch die Batschka als serbisches Kernland annektiert. Ende des 17. Jahrhunderts zogen serbische Siedler aus dem Osmanischen Reich über Donau und Sawe nach Norden. Die Donauschwaben kamen fast ein Jahrhundert später dorthin. Kaiser Joseph II. untersagte 1786 jede Benachteiligung der älteren Siedler vor Ort : »So nützlich auch die Ansiedlung der Deutschen an sich selbst in dem Batscher und Temeswarer District sein mag … so schädlich würde sie dennoch ausfallen, wenn man sie zum Nachteil der älteren Kolonisten, nämlich der Rayzen und Illyrier [Serben und katholischen Südslawen] begünstigen wollte« (nach Sundhaussen 1992 : 62). So wurde die Batschka als serbisches Ahnenland reklamiert ohne Rücksicht darauf, dass schon in früherer Zeit
Nachwort :
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Magyaren dort ansässig waren. Man siedelte deshalb die Donauschwaben auf freiem kaiserlichem Land oder auf ungarischen Ländereien an. Man wird mir vielleicht die Frage stellen : Warum noch ein Buch über Filipowa, obschon es über dieses Dorf mehr Literatur gibt als über die anderen deutschsprachigen Dörfer der Batschka ? Mein erstes Anliegen ist es, meine persönlichen Erlebnisse und die meiner Familie zu erzählen. Den Schwerpunkt des Buches bildet also persönlich Erlebtes. Ich komme mit dieser Veröffentlichung auch einem Wunsch meines Vaters nach. Er war mit einer Reihe von Darstellungen über uns Donauschwaben aus der Zeit von 1935 bis 1945 nicht einverstanden. Er forderte mich öfter auf, die Geschichte dieses »dunklen Jahrzehnts« so widerzugeben, wie wir sie vor Ort erlebt haben. Etliche meiner Notizen sind schon mehrere Jahrzehnte alt. Mein Onkel Sándor, langjähriger Flüchtlingsseelsorger der Steiermark, hinterließ mir seine reichhaltige Büchersammlung über Donauschwaben und Flüchtlingsfragen mit der Bitte, etwas damit anzufangen. Berufliche Aufgaben erlaubten es mir aber erst nach meiner Pensionierung, diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Bald merkte ich, dass man alte Erlebnisse nicht Jahrzehnte später einfach erzählen kann, ohne sie in ihren zeitlichen Kontext zu stellen. Ich musste also auch Literatur über jene Zeit heranziehen und auf diesem Hintergrund meine Erlebnisse verständlich machen. Bei der Ausarbeitung war es ein großer Nachteil für mich, dass ich die serbische und ungarische wissenschaftliche Literatur nicht in vollem Umfang lesen konnte. Ich habe zwar als junger Mensch beide Sprachen gelernt, aber ihre wissenschaftliche Sprache und Literatur blieben mir fremd. Es ist ein besonderes Anliegen meiner Arbeit, meine Erlebnisse und die Verstrickungen zahlreicher Mitmenschen im »dunklen Jahrzehnt« zu schildern. Deshalb beginnt mein Bericht nicht erst mit dem Herbst 1944. Ich glaube, es wird deutlich, dass die Schuld an unserer Katastrophe nicht nur auf einer Seite zu suchen ist. Ein friedliches Zusammenleben war nach dem Kriege nicht mehr möglich. Denn hier sind sich zwei Systeme begegnet, die beide zur Dominanz neigten. Ihre Vertre-
272 : Nachwort
ter waren von sich und ihrer Ideologie so überzeugt, dass sie glaubten, über die anderen Macht ausüben zu müssen. Sollte in so einem Falle die Vertreibung vielleicht doch die humanste und dauerhafteste Lösung des Konflikts sein ? – Ich kann’s nicht glauben ! Etwa 100.000 Menschen von uns Donauschwaben sollen im Krieg gefallen, in den Konzentrationslagern oder durch Exekutionen umgekommen sein. Aus Filipowa ist fast ein Drittel der Bewohner in dieser Zeit zu Tode gekommen – es waren 1.413. Wer miterlebt hat, auf wie unwürdige Weise Menschen gestorben sind oder einen grausamen Tod erlitten haben, der erleidet jene Zeit noch heute in seinen Erinnerungen. Ich war damals froh, dem Land meiner Geburt und Heimat entrinnen zu können, denn ich war dort immer nur ein Fremder, mal geduldet, oft verachtet und niemals ein gleichwertiger Bürger.
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Glossar Im Text verwendete spezielle Ausdrücke
Ansiedlungspatent Kaiserin Maria Theresia gewährte den Ansiedlern an der mittleren Donau 1763 etliche Privilegien. Äschetippili Aschenkreuz am Aschermittwoch Ausgedinge, Altenteil, Leibding Wenn alte Leute den Hof oder das Haus den Kindern übergeben hatten, »saßen sie auf dem Ausgedinge« oder »gingen in Leibding«. Ausgleich 1867 entstand mit dem Ausgleich die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Ungarn wurde ein souveräner Staat. Bácsi/Baatschi (ungar.) Wort für Onkel ; wird auch gerne für höfliche Anrede verwendet. Barack (pálinka) (ungar.) Ausspr.: barazk Aprikosenschnaps. Barack – Aprikose, pálinka – Schnaps Batschgau Deutschtümelnde Bezeichnung für Batschka, ungar. Bácska. »Batschkaer Zeitung« Organ der donauschwäbischen Nationalsozialisten, Erscheinungsort Apatin Biresch oder Bireschr Landarbeiter, der mit seiner Familie einen Sallasch/Meierhof bewirtschaftet, vom ungarischen Wort béres – Knecht, Tagelöhner, abgeleitet
Glossar :
281
Blutzuckl Blutegel Branau Deutschtümelnde Bezeichnung für die Baranya Brechhaagle Brennmaterial ; gebrochene Hanfstängel ohne ihre Fasern, den »Schleiß« Büdös svába (ungar.) Ausspr.: Büdösch schwaba Stinkiger Schwabe ; ungarisches Schimpfwort für die Donauschwaben Bundaschi (slaw.) Mitglieder des Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes bzw. des Volksbundes Csirkepaprikás (ungar.), Ausspr.: Tschirkepaprikasch Hähnchengulasch Damenschneider Beiname meines Onkels Franz Zollitsch. Frauen ließen normalerweise bei einer Näherin arbeiten. Er arbeitete auch für Damen der »Herreleit«. Dan (slaw.) Tag »Der Donauschwabe« Donauschwäbische Wochenzeitung, Erscheinungsort Aalen (ab 1958) ; vorher : »Donauschwäbische Rundschau« (Karlsruhe) Deutsche Mannschaft Eine Art paramilitärische, nationalsozialistisch orientierte Männervereinigung der Donauschwaben ; in Ungarn war sie bis 1944 nicht bewaffnet »Deutsches Volksblatt« »Tageszeitung der Deutschen des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen« (von 1919 bis 1944), Erscheinungsort Neusatz/Novi Sad/Ujvidék »Die Donau« Organ der kirchlich Konservativen (von 1935 bis 1944), Erscheinungsort Apatin, Chefredakteur Adam Berenz
282 : Glossar »Dirnen von Wien« In Wien wurden »streunende Frauenzimmer« aufgegriffen und an der mittleren Donau angesiedelt, da es dort Frauenmangel gab. Dobrowolaz (slaw.) – dobrovoljac »Freiwilliger« ; einer, der sich freiwillig zur serbischen Armee meldet. Im Ersten Weltkrieg gab es Überläufer von der kaiserlichen zur serbischen Armee. Dozvola (slaw.) Passierschein Eck Ein Wohnviertel des Dorfes in Filipowa, dessen Bewohner untereinander soziale Beziehungen pflegten Ehre, Blut und Boden Parole des Kulturbundes nach Übernahme der Leitung durch die »Erneuerer« Élyen ! (ungar.) Hoch ! von él – leben »Erneuerer« Gruppierung meist junger Donauschwaben mit nationalsozialistischer Ausrichtung Exklusion Die Titularnation schloss in den Balkanstaaten vielfach Minoritäten vom politischen Handeln aus. Bisweilen wurden sie ausgetauscht, vertrieben oder sogar liquidiert. Das Gegenstück dazu ist Inklusion : die Minoritäten werden vereinnahmt ; siehe Magyarisierung. Fischpaprikaasch Fischgulasch ; eine Art ungarische Fischsuppe, die mit Nudeln oder Weißbrot gegessen wird. Florian Geyer (1490–1525) Anführer im Großen Bauernkrieg. Er wurde erschlagen. Er war der Namenspatron der 8. SS-Reiterdivision ; in ihr dienten zahlreiche Donauschwaben. Frissl Masern
Glossar :
283
Gesinnungsgemeinschaft Von den »Erneuerern« eingeführter Slogan Gewölbe/»Kwelb« Tante-Emma-Laden Glischtich gelüstig, Esslust haben auf etwas Bestimmtes Goreisl (Fisch) Garausche Halpaprikás (ungar.), Ausspr.: halpaprikasch Fischgulasch, von hal – Fisch Herrschtwertshaus Gasthof der Gemeinde in Filipowa Heuwiese/»Haajwiis« Großes Grasfeld zwischen Filipowa und Odschag, diente zeitweise als Flugplatz Holzweihe/Feuerweihe Am Karsamstag wurde das neue Feuer vor der Kirche aus einem Stein geschlagen. Jedes Haus besaß eine Eichenlatte, die in das neue Feuer gesteckt wurde. Honvéd Bezeichnung der ungarischen Armee, eigentlich »Heimatschützer« ; hon – Heimat, véd – schützen Hotter/»Huttr« Das Gesamtareal einer Gemeinde Hutweide/»Hutwaad« Rasenfläche in der Nähe des Dorfes, auf der das Vieh der Bewohner weiden durfte Inklusion Die Minderheiten werden mehr oder weniger gezwungen, im Staatsvolk aufzugehen ; siehe Magyarisierung. Joch Die Bauern rechneten in Joch. Ein Normaljoch hatte 5.575 m2, das ungarische Joch hatte 4 .241 m2.
284 : Glossar »Jugendruf« Monatsschrift, Organ der christlichen Jugend (1934–1944), Erscheinungsort Sentiwan Jurgi/St. Georg Lostag (24. 4.) ; Beginn des Austriebs der Rinder und Schweine auf die Hutweide Kantorlehrer Lehrer, der auch für Musik und Gesang in der Kirche zuständig ist Karcsi Ungarische Verkleinerungsform von Károly, Karl Kiibitzefeld Feuchtes Land mit saurem Boden ; vielfach Grasland, auf dem Kiebitze nisten Kiihalt, die Die Gesamtheit der ausgetriebenen Rinder durch die »Kiihalter« (Kuhhirten) Kleck, die Ein Büschel gemähter Fruchtstängel ; zwei Klecken ergeben eine Garbe. Kleinrichter/Klôôrichtr Austrommler ; er verkündete die Gemeindenachrichten. Komitat, das Ungarischer Verwaltungsbezirk, der von einem »Gespan« geleitet wird Königsdiktatur 1929 hob König Alexander von Jugoslawien Parlament und Parteien auf. Er ernannte die Regierung. Korn/Roggen Das Wort Roggen war wenig gebräuchlich, man sagte Korn. Krčma (slaw.) Einfaches Wirtshaus Kreuz/Kreiz Garbenschober. Neun Garben werden in Kreuzform aufgebaut, damit sie trocknen können ; die oberste heißt Reiter.
Glossar :
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Kulturbund »Schwäbisch-Deutscher Kulturbund«, 1920 in Neusatz gegründet ; anfangs auf kultureller christlicher Basis, später nationalsozialistisch Kukruzbreche Die Maiskolben werden samt ihrem Laub von den Stängeln gebrochen. Kukruzschäle Das Abschälen der Samenfäden und des Laubes (»Scheelaab«) vom Maiskolben Laabschneidrweî Wein mit geringem Alkoholgehalt, der im Spätherbst beim Schneiden der Maisstängel getrunken wurde ; auch »Treewrweî« oder »Fixl« genannt Litschanr Südserben, die die Häuser der Donauschwaben übernahmen. Viele von ihnen kamen aus der Lika. Deshalb der Name ? Magnaten Ungarische Adelige ; bisweilen nur für den Hochadel verwendet. Die Adeligen besaßen bis 1848 viele Privilegien in Ungarn. Magyarisieren, Ausspr.: Madjarisieren Einen ungarischen Namen annehmen und sich als Ungar ausgeben, um in öffentliche Ämter aufsteigen zu können Magyaroner, Ausspr.: Madjaroner Schimpfwort der Nationalsozialisten für die Konservativen Micheli/St. Michael Lostag 29. 9., Ende des Austriebs der Rinder und Schweine Militärgrenze Mit Wehrdörfern durchsetzte Grenze, vom Kaiserreich gegen die Osmanen aufgebaut. Sie erstreckte sich von der Adria bis in den Karpatenraum (Bukowina). Néni Ungarisches Wort für Tante ; dient auch für eine höfliche Anrede. Wird meist an den Vornamen angehängt, z. B. Évanéni.
286 : Glossar »Neuland« Donauschwäbische Wochenzeitung, Erscheinungsort Salzburg Neewrtstange Zwei lange Rundhölzer am Wagen, um eine größere Fuhre laden zu können Oboda (ungar.) Kindergarten Pfeilkreuzler Die Parteimitglieder der nationalsozialistischen Partei Ungarns Piaristen Katholischer männlicher Schulorden Platzkukruz, Popcorn Er wurde oft an Karfreitag als Fastenspeise gegessen. Pragmatische Sanktion Gesetz, das die weibliche Erbnachfolge in der habsburgischen Dynastie regelte (1723) Pravoslaven (slaw.) Orthodoxe, Rechtgläubige Precednik (slaw.) Bürgermeister. Prinz-Eugen-Staat Die Nationalsozialisten träumten von einem eigenen Staat der Donauschwaben auf dem Balkan. Puszta (ungar.) »Einöde«, »Wüste« ; Weideland in der ungarischen Tiefebene (alföld) Riisar Tagelöhner in Akkordarbeit ; Riis – Naturallohn. Hat das Wort mit »Ries« zu tun, das nach Kluge »Paket, Ballen, Bündel« bedeutet ? Robot/Rówrt (slaw.) Slawisches Wort für Fronarbeit
Glossar :
287
Saliter Inseln in der Mostong, die sich im Sommer bilden ; meist spärlich bewachsen. Hat das Wort mit slaw. Sàlitra – Salpeter – zu tun ? Sallasch, ungar. Szállás – Quartier Meierhof eines größeren Bauern außerhalb des Ortes Saueloch Teich in Filipowa zwischen Dorf und Friedhof, wo die Schweine weideten und ein Bad nahmen Sauhalt Die Gesamtheit der ausgetriebenen Schweine durch die Sauhalter, ihre Hüter Schaadl (Fisch) Wels Schnitt Ernte des Weizens, der »Frucht« Session Eine Session sind 40 Joch oder 23 ha. Man sprach von »einem Viertel Feld«, das waren 10 Joch. Skupština Das Parlament in Belgrad Sliwowitz, (slaw.) Šlivovica Jugoslawischer Schnaps, der aus Zwetschken, šljiva, hergestellt wird Sportmannschaft Paramilitärische, nationalsozialistisch ausgerichtete Männergruppe ; siehe auch »Deutsche Mannschaft«. Spritzer Mit Sodawasser gespritzter Wein. Der Ausdruck ist im Ungarischen wie Serbischen geläufig. Anm.: auch im Deutschen ! SS-Division Prinz Eugen Donauschwäbische SS-Division, mehrheitlich mit Banater Schwaben
288 : Glossar SS-Division Handschar In ihr dienten mehrheitlich Bosnjaken. Stritzkrapfe Brandteig mit Eiern, in Fett ausgebacken Strohtriste/Schtrootrischte Großer Strohschober Titularnation Die Balkanstaaten verstehen sich als Staat einer Ethnie. Das Gesamtwohl aller auf ihrem Territorium Lebenden interessiert sie wenig oder gar nicht. Torwe (slaw.), torba Ranzen Tretplatz Um das Dorf gab es mehrere solcher Plätze, deren Boden fest gestampft und glatt war. Hier hat man in alter Zeit das Getreide gedroschen. Nach Einführung der Dreschmaschinen mit Dampfantrieb machte man diese Plätze zu Weingärten. Der Wein davon hieß »Treplätzer«. Tschetniks (slaw.), Četnici Nationalistische serbische Freischärler im Dienste des serbischen Königshauses Tschick (Sumpfaal) Wird bis 35 cm lang. Von dem ungar. Wort chik – Streifen abgeleitet ? Tümmelburg Deutschtümelnde Bezeichnung für Temeswar Úpravnik (slaw.) Vorsteher, Direktor Ustascha (slaw.), Ustaša »Aufrührer« ; kroatische Freischärler, die zur Zeit der Königsdiktatur 1929 gegründet wurden. Vid/Vidov Sankt Vitus, sein Fest ist am 28. Juni.
Glossar :
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Vidovdan Jugoslawischer Staatsfeiertag zur Erinnerung an die Schlacht auf dem Amselfeld am 28. 6. 1389 Volksbund Das Äquivalent in Ungarn zum Kulturbund Volksdeutsche Mittelstelle (VOMI) Sie wurde von der SS geleitet ; vorher hieß die Institution »Verein für das Deutschtum im Ausland«. Volksgeschichte, blutgebundene Aus dem Wortschatz der »Erneuerer« »Volksruf« Organ der »Erneuerer« Volkstreu und staatstreu Alte Parole des Kulturbundes Weltanschauung Aus dem Wortschatz der »Erneuerer« weitschichtig – weitläufig Mit jemandem weitschichtig verwandt sein Weiwrraaj »Reihe der Frauen«. Die Frauen trafen einander bei warmem Wetter sonntagnachmittags auf der Gasse zum Plausch.
Orts- und Flussnamen
Ortsnamen 1. Belgrad 2. Temeschwar 3. Filipowa 4. Gakewa 5. Bezdan 6. Batina 7. Deranje 8. Neusatz 9. Odschag 10. Doroslo 11. Miltitsch 12. Stapari 13. Apatin 14. Sombor 15. Senta 16. Karlowitz 17. Mohatsch 18. Kalotscha 19. Esseg 20. Lalitsch 21. Batsch 22. Peterwardein 23. Passarowitz 24. Kula 25. Baja 26. Szabadka (ung.) 27. Sentiwan 28. Palanka
Beograd Temesvár (ung.), Timisoara (rum.) Filipovo (Bački Gračac), Szentfülöp (ung.) Gakovo – – Deronje Novi Sad ; Ujvidék (ung.) Odžaci ; Hódság (ung.) Doroslovo Srpski Miletić Stapar – – Zenta (ung.) Sremski Karlovici Mohács (ung.) Kalocsa (ung.) Osijek Lalić Bač ; Bacs (ung.) Petrovaradin Požarevac – – Subotica Prigrevica (früher : Prigr. Sveti Ivan) Bačka Palanka
Orts- und Flussnamen :
29. Tscherwinke 30. Semlin 31. Selentsche 33. Gombosch 34. Jarek 35. Staneschitz 36. Werbaß 37. Mitrowitz 38. Kruschiwl 39. Rudolfsgnad 40. Karbok 41. Titel 42. Brestewatz 43. Kernei 44. Bajmok Gara (ung.) Bátaszék (ung.) Dombovár (ung.) Kaposvár (ung.) Fünfkirchen – Pécs (ung.) Szentgotthárd Szeged Arad Banja Luka Zagreb Vukovar Varaždin Nisch – Niš Skopje (Mazedonien) Bitol (Mazedonien) Travnik (Bosnien) Jajce (Bosnien) Königsdorf (Burgenland) Fürstenfeld (Stmk.) Graz
Červenka Zemun Selenča Bogojevo (Bogele) Bački Jarek Stanišić Vrbas Sremska Mitrovica Kruševlje Knićanin Karavukovo – Bački Brestovac ; Szilberek (ung.) Krnjeja –
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292 : Orts- und Flussnamen Flussnamen Donau Dunav Theiß Tisa Drau Drava Sawe Sava Drina – Marosch Mureş (rum.) Mostong Mostonga Morava – Plattensee Balaton (ung.)
Personen- und Ortsregister
Adria 36 Alexander, König 107 Altgayer, Branimir 121 Amselfeld 113 Andersen, Lale 126 Annabring, Matthias 98, 99, 118 Antonius von Padua, Heiliger 74 Anwender, Jakob 119 Anysia, Nonne 216 Apatin 27, 123, 128 Auer, Martin 219 Augsburger, Stephan (István Rónay) 40 Avignon 62 Bački Gračac/Filipovo 44 Baja 113, 142, 254, 261 Bajmok 256 Balkan 15, 35, 45 Banat, West- 9, 93, 115, 126, 154, 159, 266 Baranya, Süd 9, 22, 29, 30, 145, 191, 266 Barnabas, Heiliger 65 Basch, Franz 121 Baschtl, Sebastian Brenner 83 Bátaszék 254, 261 Batina 26, 130 145 Batsch/Bač 74 Batschgau/Batschka 14 Batschka 9, 14–17, 26, 32–34, 39, 45, 91, 106, 124, 150, 154, 157, 159, 173, 238, 239, 255, 266, 268, 270 Baumgärtner, Stefan 90 Beer, Josef 9, 94, 115–118, 130, 157 Béla III., König 42
Belcredi, Richard Graf von 101 Belgrad 10, 11, 40, 91, 126, 130, 154, 156, 157 Berenz, Adam 34, 123, 124 Berlin 109, 127, 132 Beust, Friedrich Ferdinand Graf von 100 Bezdan 17, 22, 25, 26, 29, 145, 189–192, 200, 202, 221, 225, 246, 251, 252 Binder, Katharina (»Johler Kathi«) 151, 152 Bitol 36 Boehm-Tettelbach, Monika 16 Bogojevo/Gombos 223, 229, 233 Böhmen 94 Borić, Peter 219 Bosnien 270 Branau/Baranya 14 Braun, Martin 121, 125 Brenner, Valentin (Valti) 83 Budapest 10, 97, 98, 139–141, 174, 175, 181 Bukowina 101 Busch, Jakob 120, 121 Červenka 126 Charkow 174 Churchill, Sir Winston 105 Conti Corte, Egon Caesar 101 Cothmann, Anton von 41 Czibulka, Alfons von 101 Deák, Ferenc 99 Decius, Kaiser 60
294 : Personen- und Ortsregister Deranje/Deronje 18 Dickmann, Melchior (Melchrvetter) 80 Diplich, Hans 92, 93 Djilas, Milovan 10, 153 Dobler, Pfarrer 195 Dombovár 261 Domus 127 Donau/Dunav 9, 15, 17 23, –30, 32, 36, 37, 47, 261, 270 Donezk 160 Doroslo/Doroslovo 20, 21, 207–209, 215, 250, 251 Dostal, Walter 78 Drau 9, 43 Eichinger, Gregor 136, 151 Eichinger, Jakob 42, 65 Eichinger, Josef 23 Engert (Gasthof ) 17, 136 Erdmann, Elisabeth von 11 Esseg, Osijek 43 Eszterházy, Graf von 43
Gauß, Adalbert Karl 40, 95, 99 100, 124 130 156, 157 Gillersdorf 264 Gombos/Bogojevo 152, 223 Graugans, Wirtshaus 48 Graz 265 Grenzstation/Karaula 257 Groß Wilfersdorf 265 Gruber, Martin 83 Gruber, Michael (Mischkevetter) 48, 51 Gruber, Wendelin SJ 14, 195, 196 Gruwl-Großvater 193, 199 Gyulabácsi Montaliom 29, 30 190 Haas, Adam 212, 233 Halwax, Gustav 114, 115 Hansvetter, Johann Gruber 48, 49 Held, Josef (»Schuster Joschi«) 143, 148, 150–152 Hengel, Johann (Hinkl Hans) 260 Heuwiese 145, 149, 151, 169 Hill, Martin 125 Himmler, Heinrich 121, 133, 134 Hitler, Adolf 10, 90, 117, 128, 129, 136, 157, 189, 254 Hockl, Hans Wolfram 92, 93 Hönisch, Elisabeth (Lissibesl) 49 Hönisch, Josef (Seppvetter) 49 Hönisch, Valentin (Valtivetter) 48, 50, 51 Hösch, Edgar 35, 36 Hutweide 178, 179, 181, 261
Fabian, Heiliger 60, 61 Flipovo Selo 43 Filipowa/Filipovo/Szentfülöp 39–45 Florian Geyer 136 Franz Schmidt 83 Franz Thiel 138, 139, 141, 145, 178, 198, 200, 245 Franz Zollitsch 155, 198 Fülöpfalu 43 Fürstenfeld 192, 264, 265
Illusch, Illus Montaliom 29, 198, 226
Gakewa/Gakovo 14, 154, 158, 172, 174, 179, 180, 186, 188–190, 193–195, 197, 200, 203, 205, 211, 214, 228, 230, 231, 244–259 Galambos-Göller, Franz 97 Gara 248, 254–261
Jack, Georg ( Jacke Jure) 259–261 Jack, Hans 113 Jakob, Apostel 61 Jaice 143 Janko, Sepp 9, 13, 57, 109, 115 118 121, 127, 131, 133, 134, 157
Personen- und Ortsregister :
Jarek 187 Johannes Paul II., Papst 270 Johannes der Täufer 68 Johler, Matthias 14, 158, 195, 202 Johler, Philipp SJ 158 Johlervater 178 Joschko 235 Josef, Heiliger 61, 64 Joseph II., Kaiser 66, 94, 270 Jurgi, St. Georg 46, 65 Kalocsa 42, 124 Kämpf, Anton 88 Kaposvár 261 Karadžić, Vuk 11 Karbok/Karavukovo 67, 150, 152, 175, 176 182, 197, 201, 219–228, 233, 255 Karcsi, Larl Wildmann 202, 205, 211 Karlowitz 36, 91 Kärnten 153 Kathi, Zigeuner 18 Katzenberger 246 Keks, Johann 120, 130, 131 Kernei 226 Kindlingen 57 König, Georg 136 König, Sebastian 96 Königsdorf 263, 264 Kossuth, Lajos 97, 98 Kreta 78 Kreuzer, Hugo 110 Krewenka, Eva 213, 214 Krewenka, Hans 146, 212, 213, 229, 232, 233–249 Krewenka, Josef (Seppvetter) 146, 169, 173, 212, 213, 229, 233–249 Krim 129 Kroatien 263 Kruševlje/Kruschiwl 187, 188, 249, 256 Kula 96
295
Kupferschmdt, Franz (»Endfranz«) 126 Lafnitz 264 Lalitsch/Lalić 50, 143, 147, 152 Láng, Dénes 17, 22–25 Lasič, Djoko (Dioko Lasitsch) 143, 144, 147, 151, 152, 171 Lausanne 105 Lea, Nonne 216 Leh, Jakob 43 Leichinger, Anton (Tonivetter) 48, 50, 52 Leichinger, Viktoria (Vickibesl) 50, 52 Lena 189, 190 Lepold, Martin 120, 122, 136, 137, 139 Lili Marlen 126 Ljotić, Dimitrije 15 Loipersdorf 264 London 156 Lorenz, Werner 118, 134 Mai aus Odschag 152 Manz, Jakob 136, 137 Maria Theresia, Kaiserin 41, 66, 92–94 Marisnéni Montaliom 29, 30, 190, 198, 226, 251 Marosch 42 Mazedonien 36 Mazower, Mark 45 Merkl, Maria (Marjan) 174, 219, 221–226, 246–256 Merkl, Michael 119, 123, 124 Mesli, Paul 135, 146, 151, 156, 157 Micheli/St. Michael 46, 65 Mihailović, Draža 108 Militärgrenze 36, 45, 101 Milla, Georg (Mattesejergl) 49 Milla, Katharina (Kathibesl) 49 Milovan 239, 244 Miltitsch/Srpski Miletić 20, 30, 31, 74,
296 : Personen- und Ortsregister 142, 143, 146, 160, 169, 173, 174, 209, 212, 219–230, 233–249, 256 Mirnics, Josip 117, 121, 126, 130–132 Miskabácsi 20, 21 Mitrovica 187 Mohács 42 Montpellier 62 Mostong 209, 211, 229 Moullion, Kolomann 221 Müller, Peter, Pfarrer 34 Nannibeesl/Simons 70 Nedić, Milan 15 Neusatz/Novi Sad 127, 151, 246, 254 Niš 36, 147 Novi Sad/Neusatz 20, 43, 127, 132, 185 Oberpfalz 35 Odschag 20, 36, 122, 125, 137, 141, 145, 148–152, 156, 177, 178, 217, 226, 255, 256 Odschager Tor 125 Odžaci/Odschag 20, 123, 126 Ott, Georg 90, 121, 136, 137, 216 Pakistan 78 Palanka 122 Passarowitz 91 Paul, Apostel 62, 64 Paulinum 114 Peter, Apostel 62, 64 Péterbácsi 29, 30 Peterwardein 91 Pfuhl, Paul 146, 149, 188, 189, 202 Philipp, Apostel 61 Philipp, St., Kloster 42 Philippowa 42 Phleps, Artur Martin 130 Pressburg/Bratislava 92 Pleli, Josef 152
Prinz Eugen, SS-Division 130, 131 Radić, Stjepan 107 Radomir 238, 243 Reith, Franz 122, 123 Res, Zigeuner- 18, 19 Ried, Karboker- 199, 221–223 Rochus, Heiliger 58, 60, 63 Rom 62 Rónay, István/Augsburger 40 Rosenberg, Alfred 122 Roth-Sallasch 148, 149, 151, 152, 169 Rudolfsgnad 187, 188 Saint-Germain 105 Salzburg 11, 40 Sava, Heiliger 22 Sava, Zigeuner 18, 19, 241–243 Savoyen, Prinz Eugen von 40, 45, 91, 109, 115 Sawe/Save 15, 36, 270 Schakitsch/Šakić 181, 206 Schäffer, Josef (Sepp) 83, 84, 142, 146, 229, 247, 259 Schmidt, Andreas 121 Schmidt, Franz (Schneider Franz) 83 Schmidt, Peter (Schneider Peter) 88 Schopf, Sylvia 16 Schutzo 197 Schwarz, Karl-Peter 153 Schwellinger, Theresia (Resbesl) 199 Schwob, Anna (Nanni) 256, 259 Sebastian, Heiliger 60, 61 Selentscha 149 Semlin 130, 156 Sentiwan 176, 205–207, 263 Senz, Josef 100, 116, 117, 157, 267 Sewastopol 129 Simons, Stefan Pertschy 69, 70, 177 Skopje 36
Personen- und Ortsregister :
Skupština 107 Slavko 147 Slawonien 36, 41 43 Slowenien 36, 122, 200, 221, 263 Sombor 21, 22, 28, 74, 96, 142, 146, 149, 150, 186, 193, 197, 203, 204, 226, 255 Spreitzer, Sepp 124, 134, 136 Srpski Miletić, Miltitsch 20 Stalin 153 Stalingrad 26 Staneschitz 195 Stapar/Stapari 22, 96, 205–207, 251 Steiermark 37, 160, 192, 271 Stevanović, Dragomir 130, 156, 157 Subotica/Szabadka 114, 185, 197, 256 Sücs, Michael (Szücs?) 152 Sundhausen, Holm 10, 103–105, 266, 270 Syrmien 122 Szabadka/Subotica 113, 128, 135, 137, 254 Szentfülöp/Filipovo 44 Szentgotthárd 261 Szilberek/Brestovac 126 Tatamir, Joco 143 Temeschwar/Tümmelburg 14, 91 Teppert, Johann 214 Teppert, Philipp 38, 121, 122 Theiß/Tisa 26, 32, 35, 42, 47 Thiel, Balzer (Balthasar) 260 Thiel, Barbara (Wawi) 67, 68, 71, 72, 111, 128, 138, 140, 141, 172, 180, 181, 185, 194, 199, 211, 214–216, 219, 221–226, 246, 251–255, 259, 265 Thiel, Burgl (Notburga) 139, 178, 194, 257, 259, 261, 263, 265 Thiel, Eva 17, 22, 27, 29, 71, 72, 139, 178, 180, 186, 192, 198, 217, 246, 251, 252 Thiel, Hedwig 139, 178, 194, 199, 257, 259, 265
297
Thiel, J.F. 78 Thiel, Sándor/Alexander 67, 72, 79, 170, 175, 190, 191, 216, 223, 246–265, 271 Tirschenreuth 35 Tisza, Kálmán 100 Tito, Marschall 10, 21, 22, 36, 37, 39, 88, 89, 108, 143, 171, 187, 197, 221, 232, 239 Tomaschanzi 49 Travnik 262 Trianon 101, 104, 114 Troebst, Stefan 105, 106 Tutunović, Gliša 89 Tümmelburg/Temeschwar 14 Ujvidék/Neusatz 127 Ukraine 31 Valjavec, Fritz 97 Vatikan 124 Vera, Sekretärin 234, 248 Voges, Hans 16 Vörösmarth 29, 191 Wehrdörfer 101 Weidlein, Johann 100 Wendelin, Heiliger 58, 63 Werbass/Vrbas 128 Wesselényi, Graf 43 Wien 37, 39, 42, 78, 93, 97, 100, 101, 153, 157 Wildmann, Georg 121, 122, 131, 132, 135, 146, 149, 150, 153, 154 Wildmann, Paul 151 Wildmann, Richard 202–205, 209, 211 Wildmann, Sebastian 94 Wojwodina/Vojvodina 9, 41, 102, 130, 149, 150, 153, 223, 236, 266 Woroschilowgrad 160
298 : Personen- und Ortsregister Wüscht, Johann 9, 14, 107, 114, 115, 118, 127, 132, 134, 157 Zagreb 196 Zdovz, Ludmila 236, 248, 249 Zdovz, Miloš (Úpravnik) 213, 232, 233–249
Zenta 40, 42 43, 91 Zigeuner-Partisan 255, 260 Zollitsch, Anna 198 Zollitsch, Anton 35, 42, 143, 146, 147, 154, 158 Zollitsch-Sippe 35
Bildnachweis Zahlreiches Bildmaterial über Filipowa und seine Bewohner wurde in der achtbändigen Dorfmonografie (1978–1999) publiziert. Aufnahmen vom Leben und Sterben in den Lagern existieren so gut wie keine. Massengräber, wie z. B. jene in Gakewa, wurden noch gegen Ende der Lagerzeit eingeebnet und bepflanzt. Bilder dieser Orte stammen erst aus den 1960er-Jahren.
Sprachproben aus Filipowa zu Fremd – zu Hause 1. G.E. Lessing : D’Nachtigall Hochdeutsch (HD) : Die Nachtigall
00:48 00:38
2. Josef F. Thiel : Dr Sauigl, die Kritsch un dr Atzl HD : Der Igel, der Feldhamster und die Elster
02:32 02:36
3. Josef F. Thiel : S Aajrwissili HD : Das Eierwiesel
04:08 04:05
4. Paul Mesli : D’Heirotsvrmittlung ufm Wochemark Heimatbrief (HB 16,1971:5-9) HD : Die Heiratsvermittlung auf dem Wochenmarkt
13:42 12:44
5. Maria Kupferschmidt : A Augeglas (HB 12, 1969:92) HD : Eine Brille
01:14 01:06
6. Maria Kupferschmidt : S Reegewassr (HB 12,1969:92) HD : Das Regenwasser
02:34 02:27
7. Hans Gillich : Di gstoolene Brootwerscht (HB : 12, 1969:90) 02:41 HD : Die gestohlenen Bratwürste 02:37 Gesamtzeit: 53:52 Gelesen von Josef F. Thiel Hochdeutsch von Sylvia Schopf
OLDRICH STRANSKY
ES GIBT KEINE GERECHTIGKEIT AUF ERDEN ERINNERUNGEN EINES TSCHECHISCHEN AUSCHWITZ-ÜBERLEBENDEN
Dieses Buch erzählt die Lebensgeschichte des Oldrich Stránský und damit auch ein Stück tschechischer Geschichte: Stránský kam 1921 in der nordböhmischen Stadt Most als Sohn einer jüdischen Familie zur Welt, seine Jugend bis zu seiner Deportation verlebte er in Ceský Brod in Südböhmen. Ab 1941 durchlief er insgesamt fünf Konzentrationslager. Während des Holocausts verlor er seine Eltern, seinen Bruder und viele Verwandte. Nach der Heimkehr musste er sich eine neue Heimstatt auf bauen und war dann als Soldat bei der Vertreibung der Deutschen eingesetzt. Politisch engagierte er sich in der Sozialdemokratie, lehnte aber nach dem Sieg der Kommunisten im Jahr 1948 einen Eintritt in die KPTsch ab. Nach 1989 bemühte sich Stránský um eine Entschädigung von NS-Opfern in Tschechien und anderswo. 2010. 229 S. 16 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-78430-2
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com
AnnA MAriA Grünfelder
ArbeitseinsAtz für die neuordnunG europAs zivil- und zwAnGsArbeiterinnen Aus JuGosl Awien in der „ostMArk“ 1938/41–1945
Thema dieser ersten Einzeluntersuchung sind die jugoslawischen »Fremdarbeiter« im Deutschen Reich. Die Studie umfasst die Arbeitsemigration vor dem deutschen Angriff auf Jugoslawien und während des Zweiten Weltkrieges, wie auch die gewaltsame Rekrutierung durch Besatzer und einheimische Kollaborateure. Die Quellen dazu mussten in den Archiven der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien erst identifiziert werden. Zusätzlich wurden Überlebende des Arbeitseinsatzes in Kroatien befragt. Das Ergebnis ist die erste Darstellung der (zumeist) gewaltsamen Umstände der Rekrutierung in Jugoslawien und ihres Einsatzes in Österreich. Dieser wird insbesondere vor dem Hintergrund des Luftkrieges und der Partisanentätigkeit in Südkärnten gewertet. 2010. 262 S. Br. 155 x 235 MM. ISBN 978-3-205-78453-1
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János Kornai
Kr aft des GedanKens UnGewöhnliche erinnerUnGen an eine intelleK tUelle reise aUs dem ameriK anischen übersetzt von hans-JürGen waGener
Vom überzeugten Marxisten zum kompetenten Kritiker des sozialistischen Wirtschaftssystems hat János Kornai die Nachkriegsgeschichte Ungarns miterlebt und miterlitten. An der ideologischen Vorbereitung der ungarischen Revolution von 1956 beteiligt, wurde er zu einem einflussreichen Theoretiker der Planwirtschaft, ihrer Reformunfähigkeit und der post-sozialistischen Transformation. Kornai arbeitete als Journalist und als Wirtschaftswissenschaftler. An der Budapester Universität durfte er nicht lehren, doch wurde er ordentlicher Professor an der Harvard Universität. Im halbjährlichen Rhythmus pendelte er viele Jahre zwischen Budapest und Harvard und vermittelte zwischen östlichem Sachwissen und westlichem Fachwissen. »Kraft des Gedankens« ist der Bericht seiner lebenslangen intellektuellen Reise – eine subjektive Ergänzung zu seinem akademischen Werk. 2011. 515 S., XL S. BiLdteiL. 121 S/w-ABB. GB. mit Su. 170 X 240 mm. iSBN 978-3-205-78715-0
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HOLM SUNDHAUSSEN
GESCHICHTE SERBIENS 19.–21. JAHRHUNDERT
Das Buch behandelt die zweihundert Jahre seit dem ersten serbischen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft 1804 bis zum Beginn der Nach-MiloševićÄra. Erstmals werden Politik- und Ereignisgeschichte mit Gesellschafts-, Kulturund Wirtschaftsgeschichte zu einer Symbiose verbunden. Und erstmals in einer Gesamtdarstellung der neueren Geschichte Serbiens wird kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Ansätzen breiter Raum gewidmet. Serbien, dem eine zentrale Bedeutung für die Stabilisierung des Balkanraumes im 21. Jahrhundert zukommt und wahrscheinlich eine der größten zukünftigen Herausforderungen an die Europäische Union darstellt, hat der Berliner Osteuropaexperte Holm Sundhaussen eine erste umfassende Geschichte gewidmet. 200 Jahre serbische Geschichte werden darin aufgerollt und die Zerreißprobe zwischen Tradition und Moderne in der Nach-Milošević-Ära verständlich gemacht. 2007, 514 S. GB. 67 S/W-ABB., 5 KARTEN, 5 TAB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-77660-4
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