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German Pages 103 [111] Year 2023
Bernd Pröschold
Im Kosmos zu Hause Wie astronomische Fotografien unsere Sicht auf die Welt verändern
Im Kosmos zu Hause
Bernd Pröschold
Im Kosmos zu Hause Wie astronomische Fotografien unsere Sicht auf die Welt verändern
Bernd Pröschold Köln, Deutschland
ISBN 978-3-662-67218-1 ISBN 978-3-662-67219-8 https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8
(eBook)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlaggestaltung: deblik Berlin unter Verwendung eines Fotos von © Bernd Pröschold Planung/Lektorat: Caroline Strunz Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhalt
Vorwort
VI
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Ein neues Weltbild
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Der Overview-Effekt
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Entgrenzungsdenken
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Entgrenzungskräfte
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Kosmische Landschaften
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Der Underview-Effekt
72
7
Lichter der Nacht
86
Literatur
2
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Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, das Bundesprogramm Neustart Kultur und die VG Wort.
Fr e md e rPl a ne t : Ei nSa nd s t ur mf e g tüb e rd i eMe s q ui t eSa ndDune si mDe a t hVa l l e yi nd e nUSA. Fo t o : Ad r i a nRo h nf e l d e r
Vorwort
D
as Fremde, schreibt der Philosoph Bernhard Waldenfels, beginnt in uns selbst. Die Ge-
burt wirft uns in eine Welt, die wir nicht selbst erschaffen haben; unser Name ertönt als fremde Lautfolge, die wir gezwungen sind, uns zu eigen zu machen. Der Prozess der Aneignung ist nie abgeschlossen und wurde in der Neuzeit in nie dagewesenem Maße professionalisiert. Die Wissenschaft hat die Grenzen der bekannten Welt in immer weitere Ferne verschoben und macht die Phänomene, die sie dort beobachtet, handhabbar, indem sie sie benennt: Sterne, Galaxien, schwarze Löcher. Sie transformiert den Blick in ein Chaos aus Himmelsfeuer und Sternenstaub in eine beherrschbare mathematische Ordnung. Die Kunst beschreitet quasi den umgekehrten Weg, indem sie die uns bekannte Welt verfremdet. Vertrautes unvertraut erscheinen zu lassen, die Dinge aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen, kann dem Betrachter die Augen öffnen, ihn die Welt mit neuen Augen erfahren lassen. Abstrakte Fotografien von organischen Strukturen, mäandrierenden Wasserläufen und Mustern im Sand verwehren dem Betrachter die Einordnung in bekannte Wahrnehmungsschemata und lassen die Farben- und Formenvielfalt der Natur umso deutlicher hervortreten. Die vielleicht radikalste Form der landschaftsfotografischen Verfremdung ist der außerirdische Blick auf die Erde. Eine wüstenähnlichen Landschaft, umweht von Dunst und Staub, so dicht, dass sich die Existenz einer Sonne nur in Form einer fahlen Scheibe andeutet: Eine solche Fotografie könnte auch in einer fernen Galaxie entstanden sein. Nicht irdische Landschaften, sondern planetare Oberflächen beginnen sich vor unseren Augen zu entfalten. Das Zeitalter der Raumfahrt hat die orbitale Perspektive zur realen Erfahrung werden lassen. Indem wir die Erde von außen betrachten, werden wir selber zu Außer-Irdischen: Wir werden uns ein Stück weit selber fremd. Die Faszination, die astronomische Objekte und astronautische Abenteuer ausstrahlen, wurzelt nicht zuletzt in der Aura des Geheimnisvollen. In einer von der Wissenschaft entzauberten Welt, die alle Geheimnisse preisgegeben hat, in der alle weißen Flächen von der Landkarte getilgt, alle Naturphänomene erklärt worden sind, halten die Weiten des Alls ein unerschöpfliches Reservoir an Mysterien bereit: Welche Welten mögen sich in der Nähe ferner
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Vorwort
Sonnen verbergen, welche physikalischen Gesetze gelten im Inneren von schwarzen Löchern? Wie hat alles begonnen und wie wird es enden? In den Tiefen des Alls, wo nichts mehr auf bekannte Weise funktioniert, wo nichts mehr vertraut ist, begegnen wir derart exotischen Phänomenen, dass sie unsere Wahrnehmung überfordern. An interstellaren Gasen, ionisiert durch die Strahlung junger heißer Sonnen, kann unser Auge keinen Halt finden. Um galaktische Objekte als schön empfinden zu können, müssen sie in irdische Farben, Formen und Kontraste überführt werden. Erst durch ihre Transformation in Bekanntes, in irdische Landschaften, werden kosmische Phänomene einer ästhetischen Betrachtung überhaupt zugänglich. Der vorliegende Band möchte das Spannungsfeld zwischen Fremdem und Vertrautem, zwischen Mysterium und Erkenntnis, zwischen Kunst und Wissenschaft aus interdisziplinärer Perspektive beleuchten. Um zu verstehen, wie astronomische Fotografien unsere Sicht auf die Welt verändern, werden philosophische, physikalische und kunstgeschichtliche Aspekte aufgegriffen und zu einer hoffentlich stimmigen Gesamtschau auf Mensch und Kosmos verwoben. Der manchmal neugierige, manchmal ungewohnte und manchmal provokante Blick auf die Welt soll dabei mehr als eine intellektuelle Übung sein; er soll in Form von großformatigen Fotografien zur sinnlichen Erfahrung werden.
Titelbild: Das Licht des oberhalb des Bildausschnitts stehenden Mondes spiegelt sich im Atlantischen Ozean. Die Aufnahme vom Pico de Malpaso auf der Kanareninsel El Hierro ist Teil einer Belichtungsserie, in deren Verlauf die Sterne Spuren über den Himmel ziehen. Foto: Bernd Pröschold
Folgeseite: Das Delta des Mississippi ist seit Urzeiten in permanenter Bewegung. Neuerdings wird es auch vom Menschen geformt. Foto: NASA, Jesse Allen
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Ein neues Weltbild
U
nser zu Hause ist in Bewegung geraten. Unser Planet, unsere Sonne, unsere Galaxie stür-
zen durch Raum und Zeit und mit ihnen stürzen unsere Gedanken. Wir haben erfahren, dass das Universum vor 13,8 Milliarden Jahren entstanden ist, dass es sich mit zunehmender Geschwindigkeit ausdehnt und dass die Milchstraße nur eine Galaxie von Milliarden anderen ist. Wir haben erfahren, dass ferne Sonnen von Planeten umkreist werden und dass die Erde nur eine von vielen Milliarden Welten ist. Und wir haben erfahren, dass der Mensch wohl nur eine flüchtige Kuriosität in einer Hunderte von Millionen Jahre alten Evolutionsgeschichte darstellt und nicht länger als Krone der Schöpfung gelten kann. Die weltanschauliche Entdeckungsreise ist anscheinend noch längst nicht zu Ende: Exotische Phänomene wie die Dunkle Materie und die Ungeheuerlichkeiten der Quantenphysik deuten darauf hin, dass sich hinter der beobachtbaren Welt in Zukunft noch weitere, rätselhafte Abgründe öffnen werden. Unsere Erfahrungswelt könnte sich als bloße Kräuselung des Windes auf der Oberfläche eines Ozeans erweisen, unter der sich eine tiefer liegende Wirklichkeit verbirgt. Trotz dieser schwindelerregenden Erkenntnisse ist unsere Alltagswelt seltsam geerdet. Astronomische Phänomene spielen allenfalls eine Nebenrolle und bekommen den Status von touristischen Attraktionen zugewiesen: Sonnenuntergänge, Sternschnuppen, Finsternisse – idealerweise instagramtauglich in Szene gesetzt. Gefühlt befinden wir uns noch immer in der Welt der Antike mit der Erde im Mittelpunkt und den Gestirnen um sie kreisend. Und das
bedeutet zugleich: mit dem Menschen im Mittelpunkt und allem anderen um ihn kreisend. Die hochfliegenden Theorien der modernen Physik scheinen sich immer weiter von unseren gewohnten Sinneseindrücken zu entfernen. Noch vor 500 Jahren waren die Dinge wohl geordnet; die Welt und ihre Anschauung befanden sich in perfekter Harmonie. Bis der neue Zeitgeist der Renaissance die jahrtausendealte Ordnung ins Wanken geraten ließ. Die kopernikanische Revolution Im Jahr 1543 veröffentliche der preußische Domherr Nicolaus Kopernikus sein Hauptwerk „Über die Umwälzungen der Himmelssphären“ („De revolutionibus orbium coelestium“). Die Umwälzungen, von denen Kopernikus sprach, sollten später zum Sinnbild für Umwälzungen, für Revolutionen, schlechthin werden. Unter seinen Zeitgenossen fand das © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Pröschold, Im Kosmos zu Hause, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8_1
Urknall (13,8 Mrd. Jahre)
1. Ein neues Weltbild
Kopernikanische Weltbild, dem zufolge die Sonne im Mittelpunkt des Kosmos steht, allerdings wenig Zustimmung. Vielleicht würde man besser vom Cusanischen Weltbild sprechen, denn an der Neuordnung des Kosmos zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert wirkten neben Kopernikus eine ganze Reihe anderer Gelehrter mit, wie zum Beispiel Giordano Bruno, Galileo Galilei und Johannes Kepler. Allen voran aber war es der Geistliche und Gelehrte Nikolaus von Kues, lateinisch Nicolaus Cusanus, der in seiner Schrift „De docta ignorantia“ bereits 100 Jahre vor Kopernikus ein Universum ohne Mittelpunkt ersann. Die Erde war seiner Vorstellung nach nur ein Himmelskörper unter vielen und der Kosmos von fast unendlichen Ausmaßen. Damit sprengte von Kues die seit der Antike überlieferte Annahme einer Fixsternsphäre, die das System der Himmelskörper nach außen begrenzt. Kopernikus ruderte gegenüber von Kues einen bedeutenden Schritt zurück, indem er an der Fixsternsphäre festhielt und von einem räumlich begrenzten Kosmos ausging. Erst der italienische Naturphilosoph Giordano Bruno riss die Schranken des antiken Weltbildes endgültig ein und formulierte die moderne Vorstellung, dass alle Sterne ferne Sonnen seien. Seine Entstehung verdankte das neue Weltbild nicht etwa genaueren Beobachtungen, sondern dem revolutionären Zeitgeist der Renaissance, der völlig neue philosophische, wissenschaftliche und literarische Denkansätze möglich machte.1 Giordano Bruno war seiner Zeit weit voraus und erkannte, dass die Größe des Kosmos das menschliche Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigt. Für ihn war es selbstverständlich, dass auch auf anderen Himmelskörpern Leben existiert und dass diese fremden Lebensformen durchaus ‚göttlicher’ sein könnten als der Mensch.2 Kraft seiner Phantasie versuchte er, die Grenzen seines Körpers zu überwinden und entwickelte die vielleicht erste moderne Vision der Raumfahrt: Sag nun, wenn Du nach oben fliegst – wenn man noch von 'oben' sprechen kann – wird dann nicht ein größerer Teil der Erde sichtbar, und erstreckt sich der Horizont nicht immer weiter? (...) Denn in einer Entfernung von wenigstens sechstausend Fuß siehst Du keine Bäume mehr oder Berge, sondern Du siehst dir gegenüber nur mehr einen Globus oder einen Kreis,
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1. Ein neues Weltbild
in dem du dunkle Flecken unterscheiden kannst, die mit den hellen Strahlen der Sonne Farben bilden.
Galaxienbildung setzt ein
(Giordano Bruno im Jahre 1591, zitiert nach Bruno 2017, 3. Buch, II. Kapitel)
(13,2 Mrd. Jahre)
Brunos freier Geist war den Machthabern seiner Zeit ein Dorn im Auge. Während die Werke von von Kues und Kopernikus bei den Zeitgenossen noch den Status kurioser Ideen hatten, erregten Brunos Schriften bei der Obrigkeit den Verdacht, dass sein Modell des Kosmos vielleicht zutreffen könnte. Ihr gottgegebener Herrschaftsanspruch war in ernsthafter Gefahr. Nach achtjähriger Kerkerhaft wurde Giordano Bruno am 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Anders als später Galilei widerrief Bruno seine Ansichten nicht und kommentierte sein Todesurteil mit den Worten: „Mit größerer Furcht verkündet ihr vielleicht das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme.“ Giordano Bruno sollte Recht behalten. Wenige Jahrzehnte nach seinem Tod legten Kepler und Newton die Grundlagen der modernen Physik und verbannten die Vorstellung von um die Erde kreisenden Kristallsphären in das von gottberufenen Machthabern diktierte Denken des Mittelalters. Die astronautische Revolution Mit der Dezentrierung der Erde haben die Gelehrten der frühen Neuzeit nicht nur die Erde, sondern auch den Menschen aus dem Zentrum des Kosmos verbannt. Aus der Ferne betrachtet ist der Mensch ein zufälliges Geschöpf auf einem zufälligen Himmelskörper. Unser Planet erscheint nicht länger als konfektionierbarer Freizeitpark, sondern als sensibles Ökosystem, in dem der Mensch eine eher fragwürdige Rolle spielt. Wäre da nicht der himmelweite Unterschied zwischen weltanschaulicher Theorie und gelebter Praxis: Im Alltag dreht sich alles auf der Erde um den Menschen. Zu wissen, dass die Erde nur eine von Milliarden von Welten ist, ist etwas völlig anderes, als es mit den eigenen Sinnen zu erfahren. Für den irdischen Betrachter wirkt die Welt fein säuberlich unterteilt in Oben und Unten, in Himmel und Erde, in Tag und Nacht. Wie die Menschen im Mittelalter sehen wir Sonne und Mond über uns hinwegwandern. Ohne Unterlass erleben wir uns als Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns. Die Schwerkraft zieht uns unerbittlich nach unten, als wolle sie uns sagen, dass wir auf die Erde gehören und unsere Phantasie nicht allzu weit gen Himmel schweifen lassen sollten. Höchste Zeit also für eine weitere Revolution: Mit Heraufdämmern der Industrialisierung hat eine technologische Entwicklung eingesetzt, die es uns erlaubt, die Fesseln der Gravitation zu überwinden. Die ersten Menschen, die aus großer Höhe auf das irdische Geschehen hinabblicken konnten, waren die Ballonfahrer. Danach folgten Piloten und schließlich Astronauten.
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Di eVi s i o nd e sGi o r d a noBr uno : „ Fl e c k e n, d i emi td e nh e l l e nSt r a h l e nd e rSo nneFa r b e nb i l d e n" , a uf g e no mme nv o nd e rI nt e r na t i o na l e nRa ums t a t i o nüb e rGua t e ma l a . Fo t o : NASAJ o h ns o nSp a c eCe nt e rmi tf r e und l i c h e rGe ne h mi g ungd e rEa r t h Sc i e nc ea ndRe mo t eSe ns i ngUni t
Ga l i l e oGa l i l e ib e o b a c ht e t ea l se r s t e rMe ns c hdi ePha s e nge s t a l tde rVe nusunds c hl o s s ,da s ss i ewi ea l l ePl a ne t e numdi eSo nne k r e i s e nmüs s e .Da sBi l dz e i gte i nee ngeBe ge gnungde rSi c he l nvo nMo ndundVe nusa mMo r ge nhi mme lde s19.J uni2020. Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
1. Ein neues Weltbild
Vom ersten Heißluftballon bis zur Mondrakete vergingen weniger als 200 Jahre. Bislang haben erst 600 Menschen das Schwerefeld der Erde verlassen. Erst 600 Menschen haben mit all ihren Sinnen erfahren, dass dem Menschen wohl nur eine Nebenrolle in einem viel größeren kosmischen Schauspiel zukommt. Die astronautische Revolution hat gerade erst begonnen. Die Erfindung des Louis Daguerre Mindestens so wichtig wie der Raketenantrieb war für die Erkundung des Weltraums eine andere technische Neuheit, die inzwischen so alltäglich ist, dass wir ihr kaum noch eine besondere Bedeutung beimessen. In den 1830er Jahren experimentierte der französische Erfinder Louis Daguerre mit versilberten Kupferplatten. Die mit Joddämpfen behandelten Flächen reagierten äußerst empfindlich auf den Einfall von Licht. Als Daguerre vor seinen Platten ein System aus optischen Linsen anbrachte, begann sich ein Abbild der Umgebung auf ihnen abzuzeichnen. Durch die Behandlung mit speziellen Chemikalien gelang es ihm, das Bild zu konservieren. Louis Daguerre hatte die Fotografie erfunden. 130 Jahre später sollten wir mit unseren künstlichen Augen vom Mond zurück zur Erde blicken. Die Bedeutung der neuen Erfindung blieb den Zeitgenossen nicht verborgen. Der Schriftsteller Edgar Allan Poe sprach vom vielleicht außergewöhnlichsten Triumph moderner Wissenschaft, und es war kein geringerer als François Arago, der Direktor der Pariser Sternwarte, der dafür sorgte, dass die Rechte an der neuen Erfindung sogleich vom französischen Staat erworben wurden. Nur 11 Jahre später gelang es Astronomen in Cambridge, das erste Sternenlicht einzufangen. Genauer gesagt war es das Licht des 25 Lichtjahre entfernten Sterns Wega in der Leier. Als der Stern sein Licht aussandte, welches sich später auf die Emulsion der englischen Pioniere brennen sollte, war die Fotografie noch nicht erfunden worden. In den nachfolgenden Jahrzehnten löste die Fotografie das menschliche Auge als wichtigstes Arbeitsinstrument der Astronomie ab. Fotografische Platten erlaubten eine genaue Durchmusterung des Sternenhimmels und die Katalogisierung von Millionen von Sternen. Im 20. Jahrhundert gelangen mit Hilfe von Großteleskopen Aufnahmen von farbenprächtigen Gasnebeln, die fortan unsere Vorstellung vom Weltraum prägen sollten. Moderne Bildsensoren verleihen uns übermenschliche Sehkraft und sind in der Lage, aus interstellaren Staubwolken Details jenseits unserer Wahrnehmungsschwelle herauszuarbeiten.
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1. Ein neues Weltbild
Fotografie und Wirklichkeit Das Wort Fotografie leitet sich ab vom Griechischen photós (Licht) und graphein (zeichnen); es bedeutet also Lichtzeichnung. Dieser Begriff hat zu einem folgenschweren Missverständnis geführt, denn er erweckt den Eindruck, die Natur erzeuge mittels des unbestechlichen Mediums des Lichtes ein originalgetreues Abbild ihrer selbst. Mit der Kamera hätten wir demnach ein objektives Instrument in der Hand, welches einen direkten Zugriff auf die Natur und ihre Phänomene erlaube. Einer Maschine objektive, quasi gottgleiche Fähigkeiten zuzuschreiben, ist aber nichts weiter als der Mythos einer technologieverliebten Zivilisation. Bevor das Licht das Kameragehäuse erreicht, muss es eine Optik passieren, die durch Definition von Bildausschnitt, Bildwinkel, Schärfentiefe und Verzeichnung maßgeblichen Einfluss auf den Charakter des von ihr projizierten Bildes nimmt. Anschließend registriert der Bildsensor, der sich oft hinter einer mehrlagigen Schicht aus Filtern verbirgt, für eine bestimmte Zeitspanne Farben und Helligkeitsabstufungen in einem bestimmten Spektralbereich. Und schließlich verarbeiten die Algorithmen der kamerainternen Software die Informationen des Sensors auf spezifische Art und Weise zu einem Bild. Kameras bilden die Wirklichkeit also nicht einfach ab, sondern sie erschaffen Repräsentationen der Wirklichkeit. Ganz ähnlich wie die Sprache oder auch die Malerei stellt die Fotografie einen Gegenstand auf eine bestimmte Art und Weise dar. Sie kann ihn dramatisieren, romantisieren oder abstrahieren und auf diese Weise über ihn hinausgehen. Der Philosoph Walter Benjamin spricht vom Optisch-Unbewussten, welches neue Wirklichkeiten entstehen lässt: „So wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man 'ohnehin' undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, sowenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte“ (Benjamin 20162, S.405).
Altmeister Ansel Adams hat die Fotografie einmal mit der Interpretation von Musiknoten verglichen: Zwar seien die Töne objektiv vorgegeben, aber erst die Musiker hauchten den Werken der Komponisten Leben ein, indem sie sie auf eine bestimmte Weise spielten. Genauso verhalte es sich mit der Fotografie, die auf dem präzisen Sammeln von Licht beruhe, dem Künstler aber bei der Darstellung des Bildes einen gewissen Interpretationsspielraum lasse. Wer hingegen erwartet, mit seinen Augen interstellare Gasnebel genauso farbig und
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Li t hi umBe r gb a ui nde rAt a c a ma Wüs t e ,a uf ge no mme nvo nTho ma sPe s q ue ta nBo r dde rI nt e r na t i o na l e nRa ums t a t i o n.Pe s q ue t s i e hti nde rAuf na hmee i neRe mi ni s z e nza nde nde nni e de r l ä ndi s c he nMa l e rPi e tMo ndr i a a n.Fo t o :ESA/ NASA–Tho ma sPe s q ue t
Ko l l i s i o nz we i e rGa l a x i e n, f o t o g r a fie r tv o mHub b l e We l t r a umt e l e s k o p . Di er o tl e uc h t e nd e nWa s s e r s t o ffr e g i o ne nwür d e ne i ne m me ns c h l i c h e nBe t r a c h t e ra l sb l a s s eg r a ueNe b e l fle c k e ne r s c h e i ne n. Fo t o : NASA, ESAundd a sHub b l e He r i t a g e Te a m
1. Ein neues Weltbild
kontrastreich wahrnehmen zu können, wie sie uns in den hochgradig inszenierten Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops begegnen, wird sich verwundert die Augen reiben: Selbst ein Blick durch große Teleskope zeigt kaum mehr als kontrastarme graue Nebelflecken. Unser Wahrnehmungsapparat ist evolutionär an die Bedingungen auf dem Planeten Erde angepasst. Wären wir galaktische Wale, die sich von interstellarem Staub ernähren, würden wir vielleicht genau jene farbenprächtigen Wolkentürme sehen, die uns in den Bildern des Hubble-Weltraumteleskops begegnen. Erschüttertes Vertrauen Neben allzu mechanistischen Vorstellungen vom Medium der Fotografie hat ein allgemeiner Vertrauensverlust in soziale Institutionen die Glaubwürdigkeit von Bildern untergraben. Am 21. Juli 1969 um 03:56 Uhr mitteleuropäischer Zeit betrat Neil Armstrong als erster Mensch die Oberfläche des Mondes. Politisch und philosophisch mag man davon halten, was man will. Man mag die Mondlandung als Propagandaerfolge im Kalten Krieg betrachten, als Hochamt einer technologieverliebten Zivilisation oder als Symbol für menschlichen Größenwahn. Evolutionsgeschichtlich handelt es sich aber zweifelsfrei um eines der bemerkenswertesten Ereignisse in der Geschichte des Sonnensystems: Eine hochkomplexe biologische Entität hat ihr natürliches Habitat verlassen und einen fremden Himmelskörper betreten. Kraft ihrer eigenen Phantasie hat sie sich über die natürliche Ordnung hinweggesetzt und die Fesseln der Schwerkraft überwunden. Dieses epochale Ereignis fand nicht im Geheimen statt, sondern wurde fotografisch und videografisch minutiös begleitet, so dass die gesamte Menschheit daran teilhaben konnte. Mehr als 500 Millionen Menschen verfolgten die Geschehnisse live an den Bildschirmen. Dennoch ist heute ein nennenswerter Anteil der US-Amerikaner davon überzeugt, dass die Mondlandung nie stattgefunden habe. Der dringend benötigte Propagandaerfolg der USA im Kalten Krieg sei in Filmstudios inszeniert worden. Nicht authentische Bilder von einem fremden Himmelskörper wurden demnach in die Wohnzimmer der Welt gestrahlt, sondern sorgfältig arrangierte Montagen, die Schauspieler vor Filmkulissen zeigen. Als Beleg führen die Verfechter derartiger Behauptungen scheinbare Unstimmigkeiten im Bildmaterial an, wie etwa überraschende Schattenwürfe, das Fehlen von Sternen und das scheinbare Wehen der amerikanischen Flagge im Vakuum des Alls. Zwar lassen sich entsprechende Argumente leicht entkräften; sie werden einen Verschwörungstheoretiker aber niemals davon abhalten zu glauben, was er glauben will: dass die Eliten korrupt und dass sie ihre Interessen mit allen Mitteln der Geschichts- und Bildmanipulation durchzusetzen bereit sind. Dem Vertrauens-
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1. Ein neues Weltbild
verlust in Bilder liegt ein Vertrauensverlust in die soziale Ordnung zu Grunde. Dieser Mangel an Vertrauen ist wohl älter als die Geschichte der Fotografie; er ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Versatzstücke von Landschaften Authentischen Bildern zu misstrauen ist paranoid; Fotomontagen zu vertrauen ist naiv. Bei Fotomontagen handelt es sich um Versatzstücke von mindestens zwei Bildern, die zu einer auf den ersten Blick oft stimmig wirkenden Komposition zusammengesetzt werden. Sie begegnen uns mittlerweile immer häufiger in den sozialen Netzwerken. Die Aufmerksamkeitsökonomie von Facebook und Instagram verlangt nach lauten, klick-mich-schreienden Bildern, die in Sekundenschnelle geliked und geteilt werden – unabhängig von ihrer Authentizität. Fotomontagen untergraben das Vertrauen in die Fotografie, denn oftmals ist selbst für den Fachmann kaum zu erkennen, ob ein Bild aus mehreren Versatzstücken zusammengesetzt ist.3 Das Problem liegt dabei weniger in der Fotomontage als solcher als in ihrer unaufrichtigen Publikation. Wie ein Bild zu lesen ist, ergibt sich aus dem Veröffentlichungszusammenhang: Die Landschaften in einer Naturdokumentation wird man anders betrachten als diejenigen in einem Fantasyfilm. Im Umgang mit Sprache sind wir seit jeher damit vertraut, von der Textgattung auf den Inhalt zu schließen: Wer über Krieg und Frieden Bescheid wissen will, muss wissen, ob er einen Roman liest oder einen Nachrichtentext.4 Von einem Zeitungsartikel erwarten wir ein höheres Maß an Authentizität als von einer Erzählung; von einem Marsrover erwarten wir authentischere Bilder als von einem Science-Fiction-Film. Nun ist die Kunst nicht verpflichtet, einen wie auch immer gearteten Realitätsanspruch zu erfüllen. Ganz im Gegenteil: Fast die gesamte zeitgenössische Kunst bewegt sich in einem fiktionalen Universum. Im Falle von astronomischen Fotografien haben wir es allerdings mit einer sehr speziellen Ästhetik zu tun: mit der Ästhetik des Erhabenen, die beim Betrachten einer natürlichen Urgewalt entsteht.5 Aufgrund ihres artifiziellen Charakters können Fotomontagen die lustvolle Spannung, die beim Betrachten majestätischer Landschaften aufkommt, nicht erzeugen. Fotomontagen zerstören die Magie des Mondes, indem sie ihn übergroß in Weitwinkelaufnahmen kopieren. Sie zerstören die Anmut der Nacht, indem sie das Licht der Dämmerung mit dem Sternenhimmel vermischen. Sie zerstören die Aura von Naturdenkmälern, indem sie ihnen fremde Himmel überstülpen.6 Nirgends finden sich so viele Fotomontagen wie in den sozialen Netzwerken, wo unberührte Nachtlandschaften beharrlich mit aufdringlicher Stilistik entheiligt werden.
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Ra uc h f a h ned e sVul k a nsKa r y ms k ii nKa mt s c h a t k a , a uf g e no mme nv o ne i ne mSa t e l l i t e na m2 0 . Ma i2 0 1. Li nk si mBi l d d e rmi tSä ur ef ül l t eKr a t e r s e ed e sVul k a nsMa l y Se ma t s c h i k . Fo t oNASA, Ro b e r tSi mmo n
Wa l d b r ä nd ea nd e ra us t r a l i s c h e n s t k üs t e , a uf g e no mme nv o ne i ne mWee r -undUmwe l t s a t e l l i t e nd e rNASA
1. Ein neues Weltbild
Augen im All Anders als Fotomontagen eröffnen authentische astronomische Fotografien den Zugang zu bislang verborgenen Welten. Wer sie mit der gebotenen Vorsicht zu lesen weiß, kann mit ihnen Phänomene jenseits der mit unseren Augen zugänglichen Wirklichkeit entdecken. Wir entsenden unsere künstlichen Augen an lebensfeindliche Orte, die kein Mensch je erreichen oder dauerhaft betreten könnte: in die Tiefen des Ozeans, in die Hochatmosphäre und zu fernen Planeten. Von dort senden sie uns Bilder zurück, die unbekannte Welten zeigen und oft über eine überraschend subtile Ästhetik verfügen. Besonders eindrucksvoll sind Aufnahmen aus dem Erdorbit, die unsere Lebenswelt aus ungewohntem Blickwinkel zeigen. Wir sehen grüne Oasen des Ackerbaus im Wüstenboden. Wir sehen tiefe Narben, die Bergwerke in die Oberfläche des Planeten gerissen haben. Wir sehen glitzernde Städte im Licht der Morgensonne und wir sehen graue Teppiche aus Smog, aus denen Schornsteine dunkle Asche spucken. Aus größerer Distanz sehen wir einen blauen Planeten mit einer hauchdünnen Atmosphäre, der sich als winzige Perle des Lebens vor den dunklen Weiten des Alls abzeichnet. Der Aufbruch ins All stand von Anfang an unter dem Narrativ der Entdeckung fremder Welten und hat dem Blick zurück zur Erde zunächst nur wenig Beachtung geschenkt. Der kulturwissenschaftliche Fokus ist bis heute auf die Zukunftsvisionen der Space-Art und des Science-Fiction-Genres gerichtet. Dass die Fotografien des Raumfahrtzeitalters den Menschen in einer planetaren Umwelt verorten, dass er vom Bewohner eines Landes zum Bewohner eines Planeten wird, wurde von diesem in die Ferne gerichteten Blick viel zu oft übersehen.
Vgl. Heuser 2008, S.57. Der naturwissenschaftliche Beweis, dass die Fixsterne nicht zu einer Schale am Rande des Sonnensystems gehören, wurde erst Jahrhunderte später erbracht: Im Jahr 1838 konnte der deutsche Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel anhand von Messungen belegen, dass sich die Sterne über gigantische Entfernungen im All verteilen. 2 Vgl. Bruno 2018, S.468 3 Die Auswüchse der Bildmanipulation reichen zurück bis in die Urzeiten der Fotografie. Bereits im Jahr 1931 beklagte Walter Benjamin: „Als dann späterhin die Negativretusche [...] allgemein üblich wurde, setzte ein allgemeiner Verfall des Geschmacks ein" (Benjamin 20161, S.359). 4 Im Krieg, so zeigt nicht zuletzt die jüngere Geschichte, stirbt zuerst die Wahrheit. Wenn es um die Abgründe der menschlichen Existenz geht, gibt es also gute Gründe, dem Roman als Medium den Vorzug zu geben. 5 Wir werden diesen Gedanken im fünften Kapitel vertiefen. 6 Die Philosophin Barbara Savedoff erläutert die naturästhetische Kompetenz authentischer Fotografien anhand einer Landschaftsaufnahme von Ansel Adams: „If the moon […] had been ’photo shopped’ […] it would be a delight in the creative composition of the artist, rather than a delight in the majesty of nature“ (Savedoff 2010, S.112). 1
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Di eS t adtadDu’ ai ni mS üdwe s t e nde sS udan, auf ge nomme nv onde rI nt e r nat i onal e nRaums t at i on. F ot o: ES A/ NAS A–T . Pe s que t
Augei mAl l :e i neRa umk a ps e lde rFi r maSpa c e X,a uf ge no mme nvo nde rI nt e r na t i o na l e nRa ums t a t i o n.Fo t o :NASA
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Der Overview-Effekt
M
ilitärpiloten gelten nicht unbedingt als zartbesaitete Charaktere. Emotionaler Kontrollverlust kann im Cockpit eines Kampfjets lebensbedrohlich sein. Der Funkverkehr zur Basis folgt einem strengen Protokoll und lässt keinen Raum für individuelle Befindlichkeiten. Ein
besonderes Maß an Kaltblütigkeit wird von speziell geschulten Testpiloten erwartet, die neu entwickelte Flugzeugtypen mit gewagten Manövern in die Nähe eines Absturzes führen. Wenn diese Elitesoldaten einer Luftstreitmacht beinahe zu Tränen gerührt von einem Spezialeinsatz zurückkehren, klingt das nach dem Auftakt eines epischen Science-Fiction-Dramas. Tatsächlich haben sich die Dinge in ganz ähnlicher Weise zugetragen, doch es vergingen Jahrzehnte, bis die Welt davon erfahren sollte. Die Betroffenen waren die ersten amerikanischen Astronauten, fast ausnahmslos Testpiloten der Airforce und der Navy, einige davon mit Kampferfahrung im Koreakrieg. Als sie in den 1960er Jahren von ihren Missionen zurückkehrten, interessierten sich die Medien für die technischen Herausforderungen der Raumfahrt und feierten die Protagonisten als nationale Helden. Zeitgenössische Kommentatoren deuteten den Aufbruch zum Mond vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und sahen in ihm ein prestigeträchtiges Projekt im Kampf der politischen Systeme. Erst in den 1980er Jahren begann den Chronisten zu dämmern, dass das astronautische Schlüsselmoment der Missionen vielleicht gar nicht in der Eroberung des Weltalls gelegen hatte: Die Besatzungen von Mercury, Gemini und Apollo zählten zu den ersten Menschen, die die Erde von außen gesehen hatten. Und ganz offensichtlich hatte diese Erfahrung bei einigen von ihnen tiefe Spuren hinterlassen, besonders bei denjenigen, die den Erdorbit verlassen hatten und bis zum Mond vorgedrungen waren. „When I first looked back at the Earth, standing on the moon, I cried” gestand Alan Shepard, der mit einem Alter von 47 Jahren als bislang ältester Mensch den Mond betreten hat (Nardo 2014, S.46). Spurensuche Noch bevor der Mensch ins All vorgedrungen war, ahnte die Philosophie, dass die astronautische Erweiterung des menschlichen Aktionsradius nicht ohne weltanschauliche Konsequenzen bleiben würde. Die Entgrenzungserfahrung, mit der uns die Raumfahrt konfrontieren sollte, hatte Helmuth Plessner bereits in den 1940er Jahren heraufdämmern sehen: © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Pröschold, Im Kosmos zu Hause, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8_2
Di ehi s t o r i s c he r s t eFo t o gr a fiede rEr dk uge ls t a mmtvo ne i ne mWee r s a t e l l i t e n.Da sBi l da usde mJ a hr19 wur dea usme hr e r e nEi nz e l a uf na hme nz us a mme nge s et .Fo t o :NASA
Vo mAnb l i c kde rüb e r de rk a r ge nMo ndo b e r flä c hea uf ge he nde nEr de e r gr i ffe n,hi e l tde r Apo l l o As t r o na utWi l l i a m„Bi l l “Ande r sde n Anb l i c ks po nt a nmi tde r Ka me r af e s t .Di eAuf na hme„Ea r t hr i s e " wur dez ue i ne rde rb e k a nnt e s t e nFo t o gr a fie n a l l e rZe i t e n.Fo t o :Wi l l i a mAnde r s ,NASA
2. Der Overview-Effekt
„In dieser neuen Welt wird dem Menschen die Einheit der Erde zum ersten Male erfahrbar, weil er sich von ihr lösen kann. […] In den ersten Weltraumraketen […] brauchen wir nicht nur verderbenbringende Waffen eines neuen Krieges um die Erdherrschaft zu fürchten. Sie sind zugleich die Vorboten einer kommenden planetarischen Einheit der Völker“ (Plessner 2014, S.200).
Der einflussreiche britische Astronom Fred Hoyle sah im Blick aus dem All zurück zur Erde sogar ein Ereignis von historischer Tragweite: „Once a photograph of the Earth, taken from the outside, is available... a new idea as powerful as any in history will be let loose” (Hoyle 1948 zitiert nach Brand 1982, S.430). Sir Fred Hoyle sollte Recht behalten. Am 10. November 1967 übermittelte der Wettersatellit ATS-3 ein Mosaik aus mehreren Aufnahmen, welche zusammengesetzt ein Bild der gesamten Erdkugel zeigten. Bereits ein Jahr danach folgten die ersten Fotografien von Astronauten, darunter das berühmte Bild „Earthrise“ von Bill Anders, welche den Aufgang der Erde über der kargen Mondoberfläche festhielt. Kurze Zeit später, am 22. April 1970, begingen die Menschen den ersten „Earth Day“, mit dem sie für den Schutz der natürlichen Umwelt demonstrierten. Im Jahr 1972 gelang der Crew von Apollo 17 – der vorerst letzten Mondmission – eine besonders detailreiche Darstellung der Erdkugel. Sie sollte unter dem Namen „The Blue Marble“ bekannt und zur Bildikone der neuen Umwelt- und Friedensbewegung werden. Obwohl Fotografien nur einen medial vermittelten Eindruck der orbitalen Perspektive wiedergeben, haben sich die Bilder der Erdkugel als hinreichend wirkmächtig erwiesen, um eine globale politische Bewegung anzustoßen. Dass das Aufkeimen der Umweltbewegung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Auftauchen der ersten Erdfotografien steht, gilt mittlerweile als hinreichend belegt.1 Die Entdeckung des Frank White Den Zeitgenossen der 1960er und 1970er Jahre stellte sich die Situation allerdings völlig anders dar. Während des Vietnamkriegs schien die Idee einer natürlichen Partnerschaft zwischen Raumfahrern und Umweltaktivisten politisch abwegig: dort oben der militärisch-industrielle Komplex, dort unten die friedensbewegten Menschen. Es dauerte bis zum Jahr 1987, bis die Bedeutung der Wahrnehmung der Erde aus dem All erstmals in ihrer psychologischen, philosophischen und politischen Tragweite erfasst und benannt wurde. In seinem gleichnami-
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2. Der Overview-Effekt
gen Buch prägte der australische Autor Frank White für die Entgrenzungserfahrung, mit der uns der Anblick der Erde aus dem All konfrontiert, den Begriff „Overview Effect“. Um herauszufinden, was der Blick vom All auf die Erde in Menschen auslöst, interviewte White zahlreiche Astronauten, darunter einige amerikanische und russische Raumfahrer der ersten Stunde. Viele – wenn auch nicht alle – zeigten sich tief beeindruckt und sprachen von einer Erfahrung, die ihr weiteres Leben prägen sollte. Der Challenger-Astronaut Don Lind machte aus seiner emotionalen Betroffenheit keinen Hehl: „There was no intellectual preparation I hadn´t made. But there is no way that you can be prepared for the emotional impact. […] It was a moving enough experience that it brought tears to my eyes“ (Lind zitiert nach White 2021, S.314). Eine wichtige Rolle spielt anscheinend der Kontrast- und Detailreichtum der im schwarzen Nichts hängenden Erdkugel. Astronauten berichten, dass die Atmosphäre regelrecht zu glühen scheint und dass sie nicht für möglich gehaltene Details wie fahrende Züge und rauchende Schornsteine erkennen konnten. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Erfahrung der Schwerelosigkeit. Erst im All sei ihr bewusst geworden, von welch schrecklicher zu Boden drückender Kraft sie plötzlich befreit worden sei, berichtet die Astronautin Sandra Miller. Hinzu kommt eine völlig aus dem Takt geratene Zeitbindung: 16 Sonnenaufgänge erlebt ein Astronaut auf der Internationalen Raumstation (ISS) in 24 Erdstunden. Einen Sonnenaufgang pro Erdmonat erlebt ein Astronaut auf dem Mond. Möglicherweise ist es die Summe dieser Sinneseindrücke, die Gefühle wie Euphorie und Ehrfurcht in den Astronauten aufsteigen lässt. Die individuellen Schilderungen der orbitalen Eindrücke variieren dabei beträchtlich. Einige Astronauten scheinen unempfänglich für den Overview-Effekt zu sein und führen ihr Leben nach dem Raumflug weiter wie zuvor. Viele berichten hingegen von einem nachhaltigen Bewusstseinswandel und wurden zu Botschaftern ökologischer und politischer Anliegen. Wieder andere gehen noch einen Schritt weiter und deuten ihre Erlebnisse religiös-spirituell. Die Mondreisenden Edgar Mitchell, Gene
erste lebensfreundliche
Cernan und James Irwin sind – wenn man ihren Darstellungen folgt – dem Göttlichen näher
Planetensysteme
gekommen.
(ca. 10, 4 Mrd. Jahre)
Overview extreme Besonders intensive Erfahrungen haben diejenigen Astronauten gemacht, die auf ihrem Flug das Raumschiff verlassen haben und frei durchs All geschwebt sind. Mit der Außenwand des Raumschiffs fällt die letzte Barriere zwischen Mensch und Kosmos; mit dem Fensterrahmen verschwindet die letzte Orientierungsmarke. Von den Geräuschen der Maschinen an Bord
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De r v e r vi e wEffe k tb e r uhtunt e ra nde r e ma ufde me no r me nKo nt r a s t -undDe t a i l r e i c ht umde rEr dk uge lvo rde mt i e f s c hwa r z e nHi nt e r gr undde sAl l s .Fo t o :Tho ma sPe s q ue t ,ESA
I mLi c htde rt i e fs t e he nde nSo nnewe r f e nWo l k e nl a ngeSc ha e ndur c hdi eAt mo s phä r e .Da r üb e ri s tde rvo l lb e l e uc ht e t e Mo ndz us e he n.Fo t o :J e ffWi l l i a ms ,NASA
2. Der Overview-Effekt
entkoppelt tritt absolute Stille ein; die Aufmerksamkeit richtet sich voll und ganz auf die visuellen Eindrücke. Räumliche Orientierungsmuster wie Oben und Unten lösen sich auf. Astronauten glaubten, zur Raumstation empor zu schauen und im nächsten Augenblick – ohne sich bewegt zu haben – auf die Raumstation hinabzuschauen. Möglicherweise fördert das Verschwinden fast aller räumlicher und zeitlicher Referenzpunkte die Einnahme einer philosophischen Perspektive: Man werde selber zum Satelliten und fühle sich als Teil des Universums, erläutert Edward Gibson, der drei Außenbordeinsätze an der Raumstation Skylab absolvierte. Die bislang extremste Overview-Erfahrung haben diejenigen Menschen gemacht, die den Erdorbit verlassen haben und bis zum Mond vorgedrungen sind. Mit jedem weiteren Reisetag haben sie die Erde schrumpfen sehen, bis ihre Heimat nur noch eine einsame blaue Kugel in den Weiten des Kosmos war. 12 von bislang 24 Mondreisenden haben den schützenden Raum der Kapsel verlassen und einen fremden, lebensfeindlichen Himmelskörper betreten. Wie niemand sonst haben sie mit eigenen Sinnen erfahren, welch wundersame Oase des Lebens die Erde darstellt. Nicht Testpiloten, sondern Politiker und Poeten solle man zum Mond schicken, sagte der vom Anblick der Erde gerührte Pilot der Apollo-11-Kommandokapsel, Michael Collins. Der bislang letzte Mensch auf dem Mond, Eugene Cernan, sah im Blick zurück zur Erde den eigentlichen Erfolg der Mondmission: „We went to explore the Moon, and in fact discovered the Earth.“ Noch weiter als der Mensch sind seine Maschinen in den Raum vorgedrungen. Allen voran die beiden Sonden Voyager 1 und Voyager 2, die in den 1980er Jahren die Außenbereiche des Sonnensystems erkundeten. Von dort übermittelten sie Messdaten und Fotografien der Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun.2 Aufnahmen der fernen Erde waren im ursprünglichen Missionsplan nicht vorgesehen, das Wort „Overview-Effekt“ beim Start der Sonden noch nicht bekannt. Als Voyager 1 Anfang der 1990er Jahre sämtliche Missionsziele erreicht hatte und jenseits der Neptunbahn dem interstellaren Raum entgegenflog, hatte sich dies geändert. Die Erde in ihrer Gesamtheit war zum Politikum geworden. Auf Anregung des missionsbegleitenden Astronomen Carl Sagan wurde Voyager um 180° gedreht und schaute zurück nach Hause. Auf ihrem Foto ist die Erde so winzig, dass sie noch nicht einmal einen einzigen Pixel des Bildsensors ausfüllt. Es sollte nicht die einzige Aufnahme dieser Art bleiben. Am 19. Juli 2013 richteten sich die Sensoren der Saturnsonde Cassini zurück zur Erde und nahmen ein Mosaik aus zahlreichen Einzelbildern auf. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Sonde im Schatten des Saturns. Im Gegenlicht der Sonne leuchtet die Silhouette des Ringplaneten auf; rechts unterhalb ist als
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2. Der Overview-Effekt
winziger Lichtpunkt die Erde zu sehen. Carl Sagan erlebte die Aufnahme nicht mehr. Seine Worte aber hallen durch den kleinen blauen Punkt auf der Cassini-Fotografie noch immer zu uns hinüber: „To me, it underscores our responsibility to deal more kindly with one another, and to preserve and cherish the pale blue dot, the only home we´ve ever known“ (Sagan 1994, S. 7). Astronauten und Terranauten Carl Sagans Begeisterung für die Raumfahrt ging weit über unbemannte Missionen hinaus und zielte auf die Kolonisierung des Alls durch den Menschen. Diese Begeisterung wurde nicht überall geteilt, insbesondere nicht unter den Intellektuellen. Der US-amerikanische Autor Lewis Mumford nannte Raketen „Pyramiden mit Klimaanlage“. Er sah in ihnen Instrumente eines sich in den Weltraum ausdehnenden militärischen Machtapparates, dessen Ziel die Unterdrückung menschlicher Anliegen sei: „Sind denn die großartigen ägyptischen Pyramiden etwas anderes als statische Äquivalente unserer eigenen Weltraumraketen? Diese wie jene sind extrem teure Vorrichtungen, um einer privilegierten Minderheit den Flug in den Himmel zu ermöglichen“ (Mumford 1974, S.24). Der Overview-Effekt setzt dieser kulturpessimistischen Sichtweise ein positives Narrativ entgegen, welches Astronauten nicht als Privilegierte, sondern als Stellvertreter der gesamten Menschheit begreift. Das moderne Projekt der Raumfahrt oszilliert zwischen Utopie und Dystopie, zwischen wahr gewordenem Menschheitstraum und auf die Spitze getriebenem Individualismus. Milliardäre wie Richard Branson, Jeff Bezos und Elon Musk bieten private Weltraumflüge an, dekadente Extrakicks für Superreiche mit einer mehr als fragwürdigen Ökobilanz.3 Und doch sieht der Overview-Autor Frank White in genau diesen Unternehmen die Chance für eine Demokratisierung des Overview-Effektes, das Versprechen, dass in Zukunft jeder die Erde aus dem All betrachten kann.4 Ist der Overview-Effekt ein exotisches Reiseerlebnis oder ist er eine philosophische Idee? Gemeint ist die Idee von einem ganz besonderen Planeten, der zusammen mit seinem Zentralgestirn durch die Weiten der Milchstraße driftet; die Idee von einem Raumschiff, dessen Bewohner sich ihrer Rolle als Raumreisende bewusst geworden sind. Wer diese Idee bejaht, ist ein Terranaut, ein Wesen also, welches sich um das Wohl seines Heimatplaneten sorgt und mit neugierigen Blicken den Kosmos erkundet. Terranauten sind Gärtner der Erde und Weltraumwesen zugleich, sie haben erkannt, dass die Grenze zwischen Erde und All das willkürliche Konstrukt eines Beobachters ist. Es sind Wesen, die nicht mit ihrem Körper, sondern wie einst Giordano Bruno mit ihrem Geist in den Kosmos streben.
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Di eSi l ho ueede sSa t ur nsl e uc ht e ti mLi c htde rhi nt e rde mRi ngpl a ne t e nv e r b o r ge ne nSo nne .Re c ht sunt e r ha l bde rPl a ne t e nk uge li s ta l swi nz i ge rLi c ht fle c kdi eEr dez us e he n.We i t e rl i nk sz i e he ndi eSa t ur nmo ndeTe t hysundEnc e l a dusi hr eBa hne n. Fo t o :NASA,J PLCa l t e c h,Spa c eSc i e nc eI ns t i t ut e
2. Der Overview-Effekt
Die Raumfahrt ist ein widersprüchliches Projekt, dessen Ausgang ebenso offen zu sein scheint wie dasjenige der Menschheitsentwicklung. In kaum einer anderen Fotografie verdichten sich die großen Menschheitsfragen so eindrücklich wie in derjenigen des US-amerikanischen Astronauten Bruce McCandless, frei schwebend in der schwarzen Unendlichkeit: ein Trockennasenaffe mit Düsenrucksack, ein moderner Ikarus, zwei Jahre vor der ChallengerKatastrophe, Vertreter einer gleichermaßen genialen wie größenwahnsinnigen Gattung, ein komplett unvernünftiges Wesen, ausgebrütet und ausgespuckt von der blauen Erdkugel. Vielleicht ist es das, was uns von den Robotern unterscheidet: dass wir über unsere Grenzen hinausgehen und an unserem Scheitern wachsen können.
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Vgl. White 2021, S.101 und Fischer 2014, S.35f Jede der beiden Sonden führt eine goldene Platte mit sich, die kodierte Informationen über den Menschen und seinen Heimatplaneten enthält: Landschaftsfotografien, Sprachbotschaften, Walgesang. Projektleiter Carl Sagan erläutert die Idee mit bewegenden Worten: „In five billion years, all humans will have become extinct or evolved to other beings, none of our artifacts will have survived on Earth, […] the Sun will have burned the Earth to a crisp or reduced it to a whirl of atoms. Far from home, untouched by these remote events, the Voyagers, bearing memories of a word that is no more, will fly on“ (Sagan 1994, S. 125). 3 Die Erderwärmung geht neben einer Zunahme des Kohlendioxids in der Atmosphäre auf einen steigenden Rußgehalt zurück. Einer aktuellen Studie zufolge ist die Raumfahrt bereits heute für sechs Prozent des rußbedingten Klimawandels verantwortlich. Zudem würde bereits ein moderates Wachstum des Weltraumtourismus die Erholung der Ozonschicht gefährden (Ryan et al 2022). 4 Vgl. White 2021, S.91f 2
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Mo ndl i c hte r he l l tdi eunb e r ühr t eSc hne e l a nds c ha f ti mfinni s c he nRi i s i t unt ur iNa t i o na l pa r k .Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
3
Entgrenzungsdenken
S
chnee, der über Nacht fällt, ist heilig. Er verwandelt die Welt in einen unberührten Ort, den nie zu vor ein Mensch betreten hat. Die Narben der Zivilisation sind unter einer Schicht aus Zauberpulver verschüttet. Millionen sternförmiger Kristalle, ein jedes von anderer Form,
bilden eine Schicht aus reinem Weiß. Die magische Substanz absorbiert alle Geräusche: kein ferner Straßenverkehr, kein Rauschen des Windes in den Baumkronen, nur das hauchzarte Knistern einzelner Flocken, die zu Boden fallen. Ansonsten ist alles still, fast so, als schwebe man im Weltraum. Ein Moment für die Ewigkeit, der schon in wenigen Minuten vom Nachbarn zerstört werden wird, der den paradiesischen Zustand mit seinen Fußspuren entweihen wird. Frisch gefallener Schnee macht die Erde zu einem heiligen Ort, ganz so als befände man sich im Himmel.1 Entheiligung des Raumes Jahrtausendelang galt die Grenze zwischen Himmel und Erde als unpassierbar. Es war die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, hier die Welt der Menschen, dort die Sphäre der Götter. Nach der Vorarbeit von Kopernikus hat die Raumfahrt die brüchig gewordene Grenze endgültig eingerissen. Gott habe er nicht gesehen, berichtete der russische Kosmonaut Yuri Gagarin nach seinem historischen Raumflug im Jahr 1961. Das entsprach wohl den Wünschen der kommunistischen Propaganda. Ganz sicher entsprach es aber der weltanschaulichen Entwicklung der Neuzeit. Wenige Jahrhunderte, nachdem der Mensch die Beschaffenheit des Raumes jenseits der Erde kognitiv erfasst hatte, hat er diesen Raum physisch in Besitz genommen. Bereits im Jahre 1949 hatte der Philosoph Helmuth Plessner die Entheiligung des Himmels vorausgesehen: „Der Einbruch in die dem menschlichen Zugriff bisher entzogenen Räume, die […] der sinnenden Betrachtung seit unerdenklichen Zeiten vorbehalten waren, vollendet die Entheiligung der Anschauungswelt, die auf dem Boden der kopernikanischen These bereits begann“ (Plessner 2014: 201).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Pröschold, Im Kosmos zu Hause, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8_3
3. Entgrenzungsdenken
Was sich Helmuth Plessner vermutlich nicht vorstellen konnte, war die Geschwindigkeit, mit der der Mensch den vormals heiligen Raum vermüllen würde. Mittlerweile kreisen etwa 2000 konventionelle Satelliten um die Erde. Hinzu kommen zehntausende unbrauchbar gewordener Teile wie ausgebrannte Raketenstufen, Sprengbolzen, Abdeckungen und außer Dienst gestellte Satelliten. Die Anzahl dieser Objekte ist so groß geworden, dass sie miteinander kollidieren und immer kleinere Bruchstücke erzeugen. Inzwischen kreisen etwa eine Million Teile mit einer Größe von über einem Zentimeter um die Erde. Ihre Bezeichnung als ‚Müll’ haben sich diese Fragmente redlich verdient, denn sie rasen mit Geschwindigkeiten von mehr als 25.000 Kilometern pro Stunde durch den Raum und stellen eine wachsende Gefahr für derzeitige und künftige Raumfahrtmissionen dar. Himmel der Maschinen Für das menschliche Auge sind die meisten dieser Trabanten unsichtbar. Wer aktuell einen Blick in den nächtlichen Himmel wirft, sieht dort überwiegend natürliche Objekte: Sterne, Planeten, Meteore, unter guten Bedingungen die Milchstraße. Nur gelegentlich leuchtet ein künstlicher Körper im Licht der Sonne auf und zeugt davon, dass der Mensch mit der Kolonisierung des Weltraums begonnen hat. Für den sinnlichen Betrachter ist der Sternenhimmel mit seinen dem menschlichen Zugriff entzogenen Welten noch immer ein weitgehend heiliger Ort. Dies könnte sich aber in den kommenden Jahren auf dramatische Weise ändern. Im Jahr 2018 hat die US-amerikanische Firma SpaceX des Milliardärs Elon Musk damit begonnen, Tausende Minisatelliten in den Orbit zu schießen. Geplant sind bis zu 40.000 Satelliten, deren Aufgabe darin bestehen soll, auch in entlegenen Regionen des Globus schnelles Internet verfügbar zu machen. Die ersten Exemplare der etwa 250 Kilogramm schweren Apparaturen leuchteten am nächtlichen Himmel wesentlich heller als angenommen und beeinträchtigten die Arbeit von Amateur- und Berufsastronomen. Nach heftigen Protesten modifizierte SpaceX das Design der Satelliten, um sie zumindest für das bloße Auge unsichtbar zu machen. Ob der nächtliche Sternenhimmel dauerhaft als Kulturerbe der Menschheit bewahrt werden kann, ist allerdings ungewiss: Mittlerweile haben zahlreiche Firmen – unter anderem aus China – Pläne für Megakonstellationen aus Tausenden von Satelliten vorgelegt. Möglicherweise wird in nicht allzu ferner Zukunft dort, wo einst der nächtliche Sternenhimmel die Phantasie der Menschen beflügelte, ein Raster aus Maschinen über den Himmel ziehen. Im schlimmsten Fall werden diese Maschinen den sehnsuchtsvollen menschlichen Blick mit dem eiskalten Auge eines Überwachungsroboters erwidern.
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3. Entgrenzungsdenken
Gesprengte Sphären Der Dystopie eines Roboterhimmels steht die positive Vision des Overview-Effektes gegenüber, der erhabene Blick aus dem All zurück auf die Erde. Es ist der Blick auf einen Planeten mit weltumspannenden Ozeanen und inselartigen Kontinenten, deren immergrüne Regenwälder vom Kreislauf des Lebens zeugen. Dem Biophysiker James Lovelock zufolge ist die Erde ein selbstregulierendes System aus Atmosphäre, Gewässern, Mikroorganismen und höher entwickelten Daseinsformen; sie ist ein lebendiger Organismus. Der blaue Planet bildet ein Netzwerk höchster Komplexität, in dem alles mit allem verbunden ist. Der Mensch ist in diesem System nur eine Daseinsform unter vielen, eine Daseinsform allerdings, die die Erde verlassen und zu ihr zurückschauen kann. Im gleichen Maße, wie die Raumfahrt das All entheiligt hat, hat sie die Erde geheiligt. Nicht ohne Grund hat James Lovelock jenem Planeten den Namen einer griechischen Göttin gegeben: Gaia.2 Die Entweihung des Himmels und die Heiligsprechung der Erde sind Symptome der Überwindung der Grenze zwischen zwei Sphären, die seit Jahrtausenden getrennt waren. Mit Ausdehnung des menschlichen Aktionsradius in den Weltraum ist die Erde zu einem Himmelskörper unter vielen anderen geworden. Wir haben Mondlandschaften auf der Erde ausgemacht und Gebirge auf dem Mond nach denjenigen der Erde benannt. Science-FictionFilme haben die irdische Landschaftsvielfalt in weit entfernte Planetensysteme exportiert und irdische Drehorte zu außerirdischen Landschaften gemacht. Während uns das Weltall vertraut zu werden beginnt, beginnt uns die Erde fremd zu werden. Der Blick von außen auf die Erde ist der Blick eines Außer-Irdischen.3 Extraterrestrik in der Landschaftsfotografie Das Verschmelzen der vormals getrennten Sphären hat frische Spuren in der Landschaftsfotografie hinterlassen. Inspiriert von der Bilderwelt des Science-Fiction-Genres zeigen moderne Nightscape-Fotografien außerirdisch anmutende Landschaftsentwürfe: Staubige Ebenen schimmern im fahlen Schein des Mondes; erstarrte Eiswüsten leuchten im bläulichen Licht der Dämmerung. Einige dieser Bilder entstehen genau in jenen Wüstenregionen, in denen zuvor die großen Weltraumepen gedreht wurden: in der Felskulisse des jordanischen Wadi Rum (der Marsianer), in der Lavalandschaft Lanzarotes (Enemy Mine) oder in den Gletscherregionen des hohen Nordens (Interstellar). Inspiriert von Weltraum-Phantasien wird die Erde auf diese Weise zu genau jenem außerirdischen Ort, den wir eigentlich in den Tiefen des Alls zu finden glauben. Die abstrakte astronomische Landschaftsfotografie verstrickt den Betrach-
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Al l e sa nde r ea l si r di s c hwi r k tdi evo mKr a t e rvo nDe r we z eb e l e uc ht e t eLa nds c ha f ti nde rWüs t eKa r a k umi nTur k me ni s t a n. Fo t o : Adr i a nRo hnf e l de r
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3. Entgrenzungsdenken
ter in eine Paradoxie: Er mag wissen, dass die Aufnahme aus einer bestimmten Wüste der Erde stammt, ihrer Anmutung nach erinnert die Szenerie aber an einen fernen Planeten. Gibt sich der Betrachter aber der Illusion hin und versetzt sich gedanklich in die Weiten des Alls, weiß er dennoch insgeheim, dass das Foto irgendwo auf Erden entstanden sein muss.4 Abstrakte Fotografien, die alles Erdtypische aus dem Bildausschnitt verbannen, sind landschaftsfotografisches Portrait und Science-Fiction-Phantasie zugleich. Sie überwinden die Grenze zwischen Realität und Fiktion und erschaffen eine planetare Vision. Auf diese Weise befriedigen sie die uralte romantische Sehnsucht nach Einheit: nach der Einheit von Himmel und Erde, von Tag und Nacht, von Mensch und Kosmos. In den Künsten wird die Grenze zwischen Himmel und Erde traditionell durch die Wolken symbolisiert, eine Grenze, die leicht überwunden werden kann. Bei Bodennebel genügt bereits ein Standort auf einem Hügel von wenigen Metern Höhe, um eine Landschaft jenseitig entrückt wirken zu lassen. Wenn die Horizontlinie im bodennahen Dunst verschwindet, verschmilzt der landschaftliche Vordergrund mit dem Firmament und lässt einen surreal wirkenden Raum entstehen. Erklimmt der Betrachter einen Gebirgsgipfel, so kann er manchmal auf ein regelrechtes Meer aus Wolken hinabschauen – die Perspektive ähnelt jener eines Betrachters im erdnahen Weltraum. Besonders astronautisch wirkt der über die Wolken schweifende Gipfelblick in Vollmondnächten, wenn das Blau des Himmels einem orbitalen Dunkel gewichen ist und nur noch das leise Geräusch des Windes und die Schwerkraft von der nahen Erde zeugen. Das Medium der Fotografie – von der Last der unmittelbaren körperlichen Wahrnehmung befreit – kann jenseits der Wolken bereits von den Weiten des Alls erzählen. Ein konsequenter Wechsel zur kopernikanischen Perspektive wurde in Landschaftsfotografie und -malerei bislang allerdings noch nicht vollzogen. Auch im Zeitalter der Raumfahrt werden Bilder fast immer so gerahmt, dass der Himmel oben und die Landschaft unten liegt. Eine sorgfältig ausbalancierte Horizontlinie gilt als kaum verhandelbare gestalterische Konvention. Nimmt man die Idee von der Erde als Raumschiff ernst, so müsste die klassische Unterteilung der Welt in Oben und Unten hinfällig werden. Im Lichte des Mondes Das beliebteste Motiv, um eine Landschaft in einen astronomischen Kontext zu setzen, ist vielleicht der Mond – als Sichel, bei halber Phase oder als voll erleuchtete Kugel. Doch der Erdbegleiter ist ein wankelmütiger Geselle. Anstatt den Betrachter in ferne Welten zu entführen, unterstreicht er oftmals den irdischen Charakter einer Landschaft. Über Wäldern,
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3. Entgrenzungsdenken
Bergen und Seen schrumpft er in vielen Fällen zur romantischen Dekoration. Auf diese Weise wird der Erdtrabant Teil einer gezähmten Idylle, die ganz und gar irdisch anmutet. Als einer der Urväter der Romantik gilt der Landschaftsmaler Caspar David Friedrich, in dessen Gemälden der Mond ein wiederkehrendes Motiv darstellt. Die Gestirne haben bei Friedrich etwas Unerreichbares, um nicht zu sagen Heiliges, und verleihen dadurch dem irdischen Hauptmotiv eine besondere Aura. Die Idee vom romantischen Mond wirkt bis heute fort und findet sich in zahlreichen Fotografien von Nachtlandschaften wieder. Einer
Milchstraße bildet Spiralarme aus
Auflösung des Kosmos in einen transzendierbaren Raum steht die romantische Rahmung des
(ca. 8 Mrd. Jahre)
irdischen Geschehens allerdings diametral entgegen. Spitzzüngige Zeitgenossen würden so manche mondgezierte Landschaftsfotografie jüngeren Datums als Kitsch bezeichnen. Besser als der Mond ist vielleicht sein Licht geeignet, um eine Landschaft in einen außerirdischen Ort zu verwandeln. Viel schwächer und kontrastärmer als dasjenige der Sonne taucht es die Welt in einen surrealen Dämmerzustand, ganz so, als befände man sich auf einem fernen Himmelskörper jenseits der Neptunbahn. Der Philosoph Walter Benjamin schildert den fremdartigen Charakter des Mondlichtes mit poetischen Worten: „Das Licht, welches vom Mond herunterfließt, gilt nicht dem Schauplatz unseres Tagesdaseins. Der Umkreis, der beirrend von ihm erhellt wird, scheint einer Gegen- oder Nebenerde zu gehören. Sie ist nicht die, welcher der Mond als Satellit folgt, sondern die selbst in einen Mondtrabanten verwandelte“ (Benjamin 20163, S.429).
Das Gegenteil von Schnee, der über Nacht fällt, ist Schnee aus Kanonen, der zu Vergnügungszwecken auf Flächen verteilt wird, wo früher einmal Wald stand. 2 Die Gaia-Hypothese besagt, dass die Biosphäre mit der physischen Umwelt ein selbstregulierendes System bildet. Demnach tragen biologische Prozesse dazu bei, Temperatur, Salzgehalt und Zusammensetzung der Atmosphäre zu stabilisieren, was sich wiederum begünstigend auf die Lebensbedingungen auswirkt. 3 Der Philosoph Helmuth Plessner nannte den Menschen ein exzentrisches Wesen, ein Wesen also, welches aus sich selbst heraustreten kann. Diese Dezentrierung erfährt durch die fotografisch vermittelte Perspektive der Raumfahrt eine ungeahnte Radikalisierung. Aus dem All betrachtet schrumpft unser Dasein zu einem reinen Zufallsprodukt auf einem fernen Himmelskörper. 4 Formal betrachtet, haben wir es mit der logischen Operation des Re-entry zu tun, wie sie vom britischen Mathematiker und Universalgenie George Spencer-Brown beschrieben wurde. Die Unterscheidung Erde/Weltraum wird auf einer Seite der Entscheidung wieder eingeführt: Ich befinde mich auf der Erde und doch im Weltraum (weil mich eine irdische Landschaft an einen fernen Planeten erinnert). Oder aber: Ich befinde mich im Weltraum und doch auf der Erde (weil mich eine planetare Oberfläche 1
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andi eEr dee r i nne r t ) .Ent gr e nzungs e r f ahr unge n,s okönnt emanve r al l ge me i ne r n,be r uhe naufUnt e r s c he i dunge n( Er de / We l t r aum,Me ns c h/ Kos mos ,Wi r kl i c hke i t / Fi kt i on)undde r e nWi e de r au e bung.
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Entgrenzungskräfte
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enn ein Jazzmusiker behauptet, er habe auf dem Dach seines Hauses Sternenstaub gefunden, sollte man annehmen, es handele sich um ein Zitat aus seinen Songtexten oder um einen Marketing-Gag. Nicht so im Falle des norwegischen Gittaristen Jon Larsen, der sich auf den Dächern Oslos ganz leibhaftig auf die Suche nach Partikeln aus dem All begeben hat. Für dieses Unterfangen wurde er von Astronomen und Geologen mitleidig belächelt, denn unter den Abermillionen Staubteilchen einer Großstadt eine Hinterlassenschaft aus dem All zu finden, sei vollkommen unmöglich; schließlich könne niemand genau sagen, wie ein solch winziger Meteorit überhaupt aussehe. Sternenstaub Dass Teilchen aus dem All auf die Erde herabregnen, ist der Wissenschaft seit längerem
bekannt. Die meist weniger als einen Millimeter großen Partikel treffen mit Geschwindigkeiten von 40.000 bis 250.000 Kilometern pro Stunde auf die äußeren Bereiche der Erdatmosphäre, wo sie als Sternschnuppe sichtbar werden können. Je nach Geschwindigkeit und Eintrittswinkel erwartet die kleinen Himmelskörper ein unterschiedliches Schicksal. Einige Teilchen kristallisieren, andere schmelzen zu Glas und wieder andere bleiben beim Abbremsen unverändert. Die leichteren Teilchen sammeln sich in etwas mehr als 80 Kilometern Höhe. Im Frühsommer kann es passieren, dass Eiskristalle das Material zu regelrechten Wolken anwachsen lassen. Wenn die Sonne im richtigen Winkel steht und den Sternenstaub über die Erdkrümmung hinweg beleuchtet, kann er als filigrane Struktur am Nachthimmel sichtbar werden; Astronomen sprechen vom Phänomen der Leuchtenden Nachtwolken. Die etwas schwereren Partikel sinken im Laufe der Zeit zum Erdboden. Etwa ein Mikrometeorit fällt in jedem Jahr pro Quadratmeter, was bedeutet, dass Menschen, die sich viel im Freien aufhalten, irgendwann in ihrem Leben von einem Mikrometeoriten berieselt werden. Bloß finden könne man die kosmischen Botschafter nicht, glaubte die Wissenschaft lange Zeit. Nur an Orten, die nicht mit menschlichen Hinterlassenschaften kontaminiert seien, lohne es sich überhaupt, nach ihnen suchen: am Boden der Ozeane und im ewigen Eis der Antarktis. Tatsächlich ist man dort fündig geworden und hat stark verwitterte Exemplare des kosmischen Materials gefunden. Inmitten der Zivilisation oder gar inmitten einer Großstadt hatte © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Pröschold, Im Kosmos zu Hause, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8_4
Er s tunt e rde mMi k r o s k o po ffe nb a r e nMi k r o me t e o r i t e ni hr ewa hr ePr a c ht .Di e s e sExe mpl a rs c hmo l zb e i mEi nt r ii ndi e Er da t mo s phä r ez uGl a se i nePe r l ea usMe t a l lwur deda b e ina c ha ue nge dr üc k t .Fo t ode sMi k r o me t e o r i t e n:Sc o Pe t e r s o n, gr a fis c heGe s t a l t ung:Be r ndPr ö s c ho l d,i St o c k . c o m,La di s l a vKub e
I r di s c h,a ue r i r di s c ho de rk o s mi s c h Be i mZus a mme npr a l le i ne s1,Ki l o me t e rdur c hme s s e nde nAs t e r o i de nmi tde mPl a ne t e n Er dewur dei r di s c he sGe s t e i nge s c hmo l z e nundhunde r t eKi l o me t e rdur c hdi eAt mo s phä r ege wi r b e l t .De ri mhe ut i ge nTs c he c hi e nge f unde neTe k t i ts t a mmta usde mI mpa k t k r a t e ri mNö r dl i nge rRi e s .Fo t o :i St o c k . c o m,La di s l a vKub e
4. Entgrenzungskräfte
sich noch niemand die Mühe gemacht zu suchen, bis der norwegische Gittarist Jon Larsen auf den Plan trat. Ausgerüstet mit nichts anderem als einem Sieb und einem Magneten filterte Larsen jahrelang den Dreck auf Straßen und Dächern europäischer Großstädte. Wonach er eigentlich suchen sollte, wusste er selber nicht so genau, denn die wenigen Schwarzweiß-Abbildungen von verwitterten Exemplaren aus der Antarktis waren ihm keine große Hilfe. Immer wieder war er voller Hoffnung einen Mikrometeoriten gefunden zu haben und immer wieder wurde er enttäuscht. Seine Funde entpuppten sich als Feuerwerksreste, Bremsabrieb und Mineralpartikel irdischen Ursprungs. Bis er begann, mit dem Mineralogen und Mikrofotografen Jan Kihle zusammenzuarbeiten. Der außergewöhnliche Detailreichtum von Kihles Aufnahmen machte es möglich, Muster in den Proben zu erkennen und irdisches Material herauszufiltern. Unter einem mit variablem Fokus ausgestatteten Foto-Mikroskop offenbarten einige Exemplare eine wundersame Ästhetik, ganz so als würden sie einer anderen Welt entstammen. Als Larsen eines dieser Bilder dem britischen Geologen Matthew Genge vorlegte, war der Bann gebrochen. Genge war sofort davon überzeugt, was sich im Labor bestätigte: Jon Larsen hatte einen Mikrometeoriten gefunden. Anhand des Musters und beflügelt durch seinen Erfolg gab es für Larsen kein Halten mehr. Die Reisen mit seiner Band führten ihn quer durch Europa und wohin er auch kam: Überall fand er Mikrometeoriten. Mittlerweile umfasst seine Sammlung über Tausend Exemplare. Fast alle sind in den vergangenen Jahren zur Erde gefallen und damit viel jünger als das bislang bekannte Material. Jon Larsen hat das theoretische Wissen um Mikrometeoriten zu einer realen Erfahrung werden lassen: Wir stehen in einem Regen aus Sternenstaub. Sternenwind Verändern wir den Maßstab und schauen auf noch kleinere Teilchen, auf Teilchen, die so winzig sind, dass sie selbst mit einem Mikroskop nicht beobachtet werden können, geraten wir in einen regelrechten Teilchensturm. Im All, wo unsere Sinne nur Stille und Dunkelheit empfinden, herrscht in Wahrheit ein Inferno aus extrem energiereichen Protonen und Heliumkernen. Einige dieser Teilchen stammen von der Sonne und werden vom Magnetfeld der Erde in die Polarregionen gelenkt, wo sie als Nordlichter und Südlichter sichtbar werden. Andere Teilchen stammen von Sternenexplosionen in fernen Galaxien und von so exotischen Orten wie schwarzen Löchern. Von der Existenz dieser Strahlung kann sich jeder selbst überzeugen, indem er in einer sternenklaren Nacht einen Teil des Himmels mit seiner Hand verdeckt. Die Umrisse der Hand werden sich schwarz vom viel helleren Himmelshin-
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tergrund abzeichnen. Das Hintergrundleuchten des Sternenhimmels – Astronomen sprechen von Airglow – entsteht in der Hochatmosphäre vor allem unter dem Einfluss der Sonne, aber auch durch galaktische Strahlung. Von hochenergetischen Teilchen aus den Tiefen des Alls getroffen beginnt in großer Höhe eine Kettenreaktion, deren Endprodukte bis zur Erdoberfläche vordringen können. Etwa 150 Myonen – so nennen Physiker die Teilchen, die den Erdboden erreichen – treten pro Sekunde und Quadratmeter auf. Myonen sind so winzig, dass sie in der Regel einfach durch normale Materie hindurchströmen; alles wird von ihnen durchdrungen, auch Menschen, die gerade ein Buch lesen. Erst mehrere Meter dicke Bleiwände können die Teilchen stoppen. Wir würden uns diesen Exkurs in die Teilchenphysik sparen, wenn er nicht so gravierende Konsequenzen für unser Leben und für unser Verständnis von der Welt hätte. Gelegentlich kann es passieren, dass Myonen Einfluss auf die Umgebung ausüben. Anfällig für kosmische Strahlung und ihre Zerfallsprodukte sind beispielsweise Computer. Ändert ein vorbeifliegendes Myon den Ladungszustand eines Bits, kann es zu Fehlfunktionen von Programmen kommen. In harmlosen Fällen werden dabei die Ergebnisse elektronischer Wahlen verfälscht, so wie im Falle der belgischen Politikerin Maria Vindevoghel, die durch einen Bit-Flip 4096 zusätzliche Stimmen erhielt. In schwerwiegenderen Fällen kann kritische Infrastruktur von kosmischer Strahlung in Mitleidenschaft gezogen werden und so zum Beispiel die Flugsicherheit gefährden.1 Flugzeugabstürze sind aber bloß eine flüchtige Randerscheinung verglichen mit der erdgeschichtlichen Bedeutung der kosmischen Strahlung. Bereits seit längerem wird vermutet, dass Blitze eine zentrale Rolle bei der Entstehung des Lebens gespielt haben könnten. Und die Anzahl von Blitzen wiederum steht in engem Zusammenhang mit der Intensität der kosmischen Strahlung.2 Ob kosmische Strahlung und Blitze tatsächlich eine Rolle bei der Entstehung des Lebens gespielt haben, kann niemand mit Sicherheit sagen. Als gesichert dürfte aber gelten, dass die Zerfallsprodukte kosmischer Strahlung ein bedeutender Treiber der Evolution gewesen sind. Myonen und Neutronen können den energetischen Zustand von Molekülen verändern und Mutationen im Erbgut hervorrufen. Auf diese Weise begünstigen die Teilchen aus dem All die Entstehung neuer Arten. Explodiert ein Stern in der galaktischen Nachbarschaft, kann seine Strahlung sogar epochale Ereignisse wie Massenaussterben herbeiführen und Platz für neue Spezies schaffen.3 Apropos Sternenexplosion: Im jungen Universum gab es nur drei Elemente, nämlich Wasserstoff, Helium und Lithium. Aus diesen Elementen lassen sich nur schwer Gesteinsplaneten formen, von Leben ganz zu schweigen. Komplexere Elemente, allen voran der Koh-
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Ai r gl o wüb e rde mPa r a na l -b s e r v a t o r i umi nChi l e .Ve r ur s a c htwi r dda sPhä no me ndur c he ne r gi e r e i c heSt r a hl ungi nde r Ho c ha t mo s phä r e .Fo t o :Yur iBe l e t s k y,ES
Esl i e gti mAugede sBe t r a c ht e r s :I s tdi eEr devo mWe l t a l lge t r e nnto de ri s ts i eTe i le i ne sk o s mi s c he nGa nz e n Di eAuf na hmez e i gtdi evo mMo ndb e l e uc ht e t eEr dez us a mme nmi te i ne mPo l a r l i c ht .Fo t o :ESA
4. Entgrenzungskräfte
lenstoff, mussten zunächst in früheren Sternengenerationen erbrütet und durch SupernovaeExplosionen im All verteilt werden. Unser Planet ist aus dieser fruchtbaren ‚Erde’ geformt; er trägt seinen Namen also vollkommen zu Recht. Den passenden Dünger für das Leben auf der Erde liefert die kosmische Strahlung, die die Entwicklung des Lebens zu immer höher entwickelten Arten vorantreibt. Magie des Mondes Besonders eindrücklich führt uns der Mond den Einfluss des Kosmos auf das irdische Geschehen vor Augen. Wenn Erde und Mond um ihren gemeinsamen Schwerpunkt kreisen, entsteht eine Fliehkraft, die die Erde vom Mond forttreibt. Gleichzeitig zieht die Schwerkraft des Mondes die Erde an. Im Erdmittelpunkt heben sich beide Kräfte auf. Auf der mondzugewandten Seite der Erde überwiegt die Anziehungskraft; auf der mondabgewandten Seite überwiegt die Fliehkraft. Dadurch bilden sich auf beiden Seiten der Erde Wasserberge und zwei Mal täglich Ebbe und Flut. Wie stark die Gezeiten ausgeprägt sind, hängt vom Verlauf der Küstenlinien ab. Das Spiel der Gezeiten dauert bereits seit 4,4 Milliarden Jahren an und ist nicht ohne Folgen geblieben. Die gigantischen Wassermassen, die jeden Tag angehoben und abgesenkt werden, verursachen Reibung und entziehen dem Erde-Mond-System Energie. Dadurch entfernt sich der Mond nach und nach von der Erde und bremst die Erddrehung aus. Vor Urzeiten stand der Mond viermal größer am Himmel als heute und ein Erdtag dauerte nur sechs Stunden. In ferner Zukunft wird der Erdbegleiter deutlich kleiner am Himmel erscheinen und ein Erdtag über 26 Stunden dauern. Die Gezeiten haben eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Lebens gespielt. Komplexere Tierarten waren lange Zeit nur in den Ozeanen zu finden und Gezeitentümpel ein idealer Ort für Fische, um sich langsam an das Leben an Land anzupassen. In den für einige Stunden trocken liegenden Bereichen lernten sie, Luft zu atmen und der Schwerkraft zu trotzen. Tatsächlich finden sich die ältesten Fossilien von Lebewesen, die Lungen und Beine entwickelten, in Gegenden mit besonders großem Tidenhub.4 Der Mond hat das Leben im
Alpha Centauri entsteht (ca. 6,5 Mrd. Jahre)
wahrsten Sinne des Wortes an Land gezogen. Im Rhythmus der Sonne Anders als die verborgene Kraft des Mondes ist der Einfluss der Sonne auf das irdische Leben kaum zu übersehen. Ihre Wärme und ihr Licht sind Quell allen Lebens – abgesehen vielleicht von einigen skurrilen Kreaturen, die an Vulkanschloten der Tiefsee ein exotisches Dasein fris-
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ten. In allen anderen Habitaten gibt die Sonne den Takt des Lebens vor. Alles wächst, frisst, balzt, blüht und ruht in ihrem Rhythmus. Mit einer besonderen Entgrenzungserfahrung konfrontiert uns unser Zentralgestirn allerdings nicht. Wie die meisten anderen Dinge nehmen wir die Sonne als ganz normalen Bestandteil unserer Alltagswelt wahr. Die Traditionen der nordischen Mittwinter- und Mittsommerfeste erinnern noch daran, dass die Sonne in früheren Zeiten Gegenstand kultischer Verehrung war, dass ihr also eine über das Alltägliche hinausgehende Bedeutung beigemessen wurde. Das All-Tägliche – was für ein Wort! Das sich alle Tage Wiederholende ist zum Symbol für das Gewöhnliche geworden. Der Rhythmus des Kosmos ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Dabei ist das, was sich im Sonne-Erde-System abspielt, alles andere als gewöhnlich. Man schaue sich zum Beispiel die Laubbäume an. Im Sommerhalbjahr bilden sie Blätter aus und transportieren auf diese Weise Material Richtung Himmel, welches im Herbst wieder zu Boden fällt. Gemäß Drehimpulserhaltungssatz verändern die Bäume auf diese Weise das Tempo der Erddrehung: im Sommer langsamer, im Winter schneller. Die umgekehrten Jahreszeiten auf der Südhalbkugel können diesen Mechanismus nicht neutralisieren, denn im Süden gibt es viel weniger Laubbäume als auf der Nordhalbkugel. Der resultierende Effekt beträgt nur eine Tausendstel Sekunde pro Halbjahr und wird durch andere Einflüsse überlagert, aber er ist messbar. Sobald die Kraft der Sonne die Vegetation gen Himmel sprießen lässt, hält die Erde ein wenig inne: Gaia tanzt. Universelles Denken Das Wissen um astronomische und erdgeschichtliche Zusammenhänge lässt die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwimmen. Kosmologisch betrachtet erscheint das All nicht länger als ferner, lebensfeindlicher Ort, sondern als Teil unserer Existenz. Die exotischsten Orte im Universum sind vielleicht nicht ferne, alles verschlingende schwarze Löcher, sondern menschliche Gehirne, vom Kosmos in jahrmilliardenlanger Arbeit erbrütete SinneseindrucksVerarbeitungsorgane, die in der Lage sind, Modelle des Kosmos einschließlich ihrer selbst zu entwerfen. In der alltäglichen Erfahrung nennen wir dieses Phänomen Bewusstsein; Carl Sagan formulierte es so: „We're made of star-stuff. We are a way for the cosmos to know itself.“5 Die Entgrenzungserfahrung, mit der uns das moderne astronomische Weltbild konfrontiert, lässt nicht nur Himmel und Erde verschmelzen, sondern auch Mensch und Kosmos.
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Vo nGe z e i t e nk r ä f t e nge f o r mt eLa nds c ha f ta ufde rdä ni s c he nI ns e lRø mø ,r e c ht sde ra uf ge he ndeMo nd.Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
4. Entgrenzungskräfte
Das abendländische Denken tut sich traditionell schwer damit, den Menschen als Teil eines größeren Zusammenhangs zu begreifen. Wir haben das Metaphysische aus unserer Erfahrungswelt verbannt und in eine jenseitige Sphäre verschoben: „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde“ heißt es bereits in den Zehn Geboten. Man könnte den Bibeltext als Warnung an alle Astro-, und Naturfotografinnen verstehen, die in der Farbenund Formenvielfalt ihrer Motive das Wirken einer höheren Instanz erkennen. Ganz anders in pantheistischen Denktraditionen, wie im fernöstlichen Taoismus oder im Glauben der SiouxIndianer. Hier gilt es als selbstverständlich, dass sich das Göttliche in allen möglichen Dingen offenbart: in fernen Sternen, in der irdischen Artenvielfalt und im menschlichen Dasein. Entgrenzungsdenken führt zu Einsichten, die innerhalb einzelner Disziplinen nicht erlangt werden können. Das Wort Universum bedeutet wörtlich das ‚In-Eins-Gewendete’, also das All-Umfassende. Prinzipiell greift auch die Vokabel ‚Universität’ diesen Gedanken auf: den Gedanken grenzenlosen Wissens. In der real existierenden Wissenschaft hat sich die Idee universeller Bildung allerdings in ihr Gegenteil verkehrt und zu voneinander unabhängigen Wissensinseln geführt, die den Kontakt zueinander weitgehend verloren haben. Wie im All versprengte Sterne driften die einzelnen Fachbereiche auseinander, unfähig miteinander in Kontakt zu treten.6 Das zunehmend aus dem Takt geratene Raumschiff namens Erde scheint aber mehr denn je auf die Vernetzung des Wissens seiner Crew-Mitglieder angewiesen.
Vgl. Australian Transport Saftey Bureau 2008, S.XVII. Bereits das berühmte Miller-Urey-Experiment, welches die Entstehungsbedingungen des Lebens auf der jungen Erde im Labor simulierte, arbeitete mit elektrischen Entladungen. Zum Zusammenhang zwischen kosmischer Strahlung und der Entstehung von Blitzen siehe Gurevich et al 1999. 3 Eine jüngere Studie sieht eine nahe Sternenexplosion als Ursache für das Hangenbergereignis, einem großen Massensterben der Erdgeschichte (Fields et al 2020). 4 Vgl. Byrne et al 2020. 5 Das Zitat stammt aus der von Sagan präsentierten TV-Dokumentation „Cosmos: A Personal Voyage“. Eine bewusstseinsphilosophische Ausarbeitung der Idee einer Synthese von Geist und Kosmos findet sich bei Thomas Nagel, der in Betracht zieht, dass das Universum gezielt darauf hinsteuert, seine eigenen geistigen Prinzipien zu entfalten (Nagel 2022, S.176ff). 6 Die Soziologie scheint bereits mit der Vokabel ‚Overview-Effekt’ überfordert. Zumindest taucht der Begriff im durchaus lesenswerten Beitrag zur Soziologie der Weltraumfahrt von Joachim Fischer nicht auf (Fischer 2014). 1 2
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Vo nde rSo nnee mpo r ge z o ge nundvo mMo ndb e s c hi e ne n,e r r e i c he nBi r k e nz wa rni c htdi eSt e r ne ,b r e ms e na b e rdi eEr ddr e hungge r i ngf ügi ga us .Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
Da sHub b l e We l t r a umt e l e s k o pna c he i ne rWa r t ungs mi s s i o ni mFe b r ua r199.Fo t o :NASA
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Kosmische Landschaften
B
evor der Himmel von Außerirdischen bewohnt wurde, waren die Götter dort zu Hause. Sieben bewegte Lichter beobachteten die Menschen am Himmel und unterteilten die Zeit entsprechend in sieben Tage. Jeder Tag wurde nach einem der Himmelsgötter benannt. In der deutschen Sprache zeugen der Donnergott, die Göttin Freya sowie Mond- und Sonnengott von jener Zeit. Die französische Sprache kennt noch den Mars- und den Merkurtag, die englische den Saturntag. Neben den sieben bewegten Lichtern standen tausende unbewegte, ewige Lichter. Es waren die Lichter der großen Helden und ihrer unsterblichen Taten: die Geschichte des umtriebigen Jägers Orion, der schönen Andromeda und des Superhelden Herkules. Kulturen kamen und gingen, doch sie alle schrieben ihre Erzählungen an den Himmel. Auf der Nordhalbkugel erkannte man entsprechende Muster in der Anordnung besonders auffälliger Sterne. Auf der Südhalbkugel, wo sich Wolken aus Gas und Staub vor dem Hintergrund der Milchstraße abzeichnen, sah man Schattenspiele. Das Lama und die Schlange der Inkas sowie das Emu der Aborigines bestehen aus galaktischen Dunkelwolken. Der Sternenhimmel ist dem unmittelbaren Zugriff des Menschen entzogen und wird dadurch zur idealen Projektionsfläche für seine Phantasie. Bis zum heutigen Tage hat sich daran nicht viel geändert; selbst die Bilder des Hubble-Weltraumteleskops projizieren menschliche Vorstellungen in den Himmel. Die Fotografien des weltberühmten Teleskops
bilden kosmische Phänomene nicht einfach ab, sondern entwerfen Landschaftsbilder, deren Darstellungsweise an die romantische Landschaftsmalerei erinnert und die Begegnung des Menschen mit dem Erhabenen thematisiert. Das Hubble-Weltraumteleskop Am 24. April 1990 wurde das Weltraumteleskop an Bord des Space-Shuttles Discovery in den Erdorbit geschossen und wenig später aus dem Frachtraum freigesetzt. Allerdings entsprach die Bildqualität nicht den Erwartungen. Als Ursache stellte sich ein Fehler des Hauptspiegels
Solare Staubwolke
heraus, dessen äußere Bereiche um den winzigen Betrag von 1/450 Millimeter zu flach
verdichtet sich
geschliffen waren. Nachdem der Fehler auf einer Wartungsmission im Jahr 1993 durch Einset-
(ca. 5,5 Mrd. Jahre)
zen einer Korrekturoptik behoben wurde, lieferte Hubble Daten von bislang unerreichter © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Pröschold, Im Kosmos zu Hause, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8_5
5. Kosmische Landschaften
Qualität, die zu zahlreichen astronomischen Entdeckungen und neuen kosmologischen Fragestellungen führten. Hubble fotografierte die Kollision des Kometen Shoemaker-Levy 9 mit dem Planeten Jupiter, entdeckte schwarze Löcher in den Zentren von Galaxien und half bei der genauen Bestimmung des Alters des Universums. Mehr als 15.000 wissenschaftliche Publikationen widmeten sich den von Hubble gewonnenen Daten. Der breiten Öffentlichkeit ist das Teleskop aber nicht aus Fachveröffentlichungen bekannt, sondern durch seine ikonischen Fotografien, die kosmische Phänomene in nie gekanntem Kontrast- und Detailreichtum zeigen. Die Entstehung derartiger Aufnahmen war zu Beginn der Mission nicht abzusehen, denn ästhetische Darstellungen gelten in der Astronomie als schöngeistiges Beiwerk, welches von der nüchternen Analyse der Daten ablenkt. Oft werden sie abfällig als ‚Pretty Pictures’ bezeichnet, als Almosen für den astronomischen Laien, der bei der Analyse der Daten nicht mitreden kann. Feine Helligkeitsabstufungen in den Details astronomischer Objekte lassen sich numerisch viel exakter erfassen als in bildlichen Darstellungen. Aus Sicht eines Astronomen machen Kameras keine Fotos, sondern sie messen Licht. Bilder sind für sie nichts weiter als aus den Messdaten gewonnene Derivate. Dass das Hubble-Weltraumteleskop dennoch seine sinnliche Seite entdeckte, liegt wohl am Rechtfertigungsdruck, den amerikanische Forschungseinrichtungen gegenüber dem Steuerzahler verspüren. Neue Forschungsgelder gibt es nur dann, wenn die Öffentlichkeit den Eindruck hat, dass sich die Forschung auch lohnt. Farbenprächtige Bilder führen den Erfolg einer Raumfahrtmission wesentlich eindrücklicher vor Augen als eine Liste von Fachpublikationen und deren Zitationsrate. Auf einer Pressekonferenz im November 1995 veröffentlichte die NASA die erste nach allen Regeln der Kunst bearbeitete Fotografie des Weltraumteleskops: Die „Pillars of Creation“, die „Säulen der Schöpfung“, gelten bis zum heutigen Tage als Ikone der Astrofotografie. Bei der Bearbeitung des Bildes hatte der junge und damals kaum bekannte Astronom Jeff Hester eine Neukodierung der Farbkanäle vorgenommen.1 Die resultierende Falschfarbenaufnahme überzeugte durch eine ganz besondere Ästhetik, die stilbildend für die Astrofotografie werden sollte. In Erdfarben und Blautönen schimmernde Bilder wurden zum Markenzeichen des Weltraumteleskops und fanden zahlreiche Nachahmer in der Amateurastronomie. In den Wochen nach ihrem Erscheinen brachten alle großen US-Tageszeitungen eine Story über die „Pillars of Creation“ und feierten das Weltraumteleskop als bahnbrechenden wissenschaftlichen Erfolg. Selbst Skeptikern bei der NASA blieb die Bedeutung epischer Bilder nicht länger verborgen, eine Entwicklung, die zwei Jahre später in der Gründung des Hubble-HeritageProjektes mündete. Fortan veröffentliche ein Team von Spezialisten in regelmäßigen Abstän-
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Di e„Sä ul e nde rSc hö pf ung“ a uf ge no mme ni mJ a hr2014. Ande r sa l sb e ide rur s pr üngl i c he nVe r s i o na usde mJ a hr 199 we i s tda sBi l dk e i nea us ge s pa r t e nBe r e i c hei nde r o b e r e nr e c ht e nBi l de c k ea uf . Fo t o :NASA,ESAundda s Hub b l e He r i t a ge Te a m
Fi l t e r t e c hni kundFa r b ge b ungde sHub b l e We l t r a umt e l e s k o psha e npr ä ge nde nEi nflus sa ufdi eAma t e ur a s t r o no mi e .Di e Fo t o gr a fiee i ne rNe b e l r e gi o ni mSt e r nb i l dAl t a re nt s t a nda ne i ne rpr i v a t e nSt e r nwa r t ei nChi l e .Fo t o :Te a mCi e l Aus t r a l
5. Kosmische Landschaften
den imposante Fotografien aktueller Beobachtungsziele des Teleskops. Das Team bekam sogar eigene Aufnahmezeit zur Verfügung gestellt; die Produktion von ‚Pretty Pictures’ war vom Stiefkind zum genuinen Bestandteil des Forschungsprojektes geworden. Schwebende Landschaften Die Formenvielfalt astronomischer Objekte ist groß: Es gibt strudelförmige Spiralgalaxien, pusteblumenartige Kugelsternhaufen, teililluminierte Planetensphären und chaotische Dunkelwolken. Als besonders charakteristisch für den Bildstil des Weltraumteleskops gelten aber Fotografien ausgedehnter Gasnebel, deren erster Vertreter die „Säulen der Schöpfung“ waren. Seinen Namen hat sich das Bild im doppelten Sinne verdient, denn es zeigt nicht nur die Geburtsstätten junger Sonnen, sondern es hat auch einen neuen Bildstil erschaffen. Man muss kein Kunsthistoriker sein, um zu erkennen, dass die in Erdfarben schimmernden Nebel vor blauem Hintergrund an irdische Landschaften erinnern. Oftmals sind die Bilder so ausgerichtet, dass die dichteren und dunkleren Nebelmassen im unteren Teil des Bildes liegen. Einzelne Partien ragen daraus empor und zeichnen sich markant von einem blauen, himmelsartigen Hintergrund ab. Die an Felsnadeln erinnernden Strukturen scheinen in der Strahlung junger, heißer Sterne regelrecht aufzuleuchten – ganz ähnlich wie Felsformationen im Licht der untergehenden Sonne. Im Bereich ihrer Gipfel weisen die „Säulen der Schöpfung“ eine besonders intensive Illumination auf – eine Reminiszenz an das Alpenglühen irdischer Gebirgslandschaften. Die „Säulen der Schöpfung“ und ihre zahlreichen Nachfolger wecken aber nicht nur Assoziationen zu Landschaften, sondern erinnern ihrer Gestalt nach mindestens ebenso an Wolken. Nicht ohne Grund sprechen Astronomen von interstellaren Gaswolken. Ganz ähnlich wie Cumuluswolken an gewittrigen Sommertagen bilden die interstellaren Nebelgebilde blasenförmige Oberflächenstrukturen aus, was ihnen eine schwebende, schwerelose Anmutung verleiht. Wolken repräsentieren eine jenseitige Welt, die sich dem Zugriff des Menschen entzieht. Aus Gemälden der Renaissance kennen wir auf Wolken posierende Engel und Heiligenfiguren – ein klarer Hinweis auf den transzendentalen Charakter der Darstellungen. Damit werden die Hubble-Bilder zu perfekten Hybriden aus Himmel und Erde. Sie verschmelzen die Formen von Wolken und Landschaft in ein und demselben Motiv, sprengen die Horizontlinie und vereinen auf diese Weise die Sphären des Irdischen und des Himmlischen. Genau wie der Overview-Effekt und außerirdisch anmutende Fotografien von Nachtlandschaften zeigen auch die Bilder des Weltraumteleskops irdische Landschaftsmotive als Teil eines
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5. Kosmische Landschaften
größeren kosmischen Zusammenhangs. Die Macher der Hubble-Bilder waren sich dieser Entgrenzung durchaus bewusst, wie aus einer Bemerkung Zolt Levays hervorgeht, einem prominenten Mitglied des Heritage-Teams: „Can you really seperate the landscape of the earth from a landscape on Mars or a landscape that´s a million light-years away? It´s all the same thing […] it´s not seperate from us“ (Levay zitiert nach Kessler 2012, S.61). Ästhetik des Erhabenen Die Idee, traditionelle Grenzen zu überwinden und in magische Traumwelten vorzudringen, greift zentrale Motive der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik auf. Die Maler Thomas Moran und Albert Bierstadt zählten zu den ersten Menschen, die die Landschaften des amerikanischen Westens künstlerisch verarbeiteten. Ihre Gemälde hängen heute im Smithsonian American Art Museum in Washington und zeigen Landschaften des Grand Canyons und der Rocky Mountains unter dramatischen Wolkenformationen. Genau wie die Bilder des Weltraumteleskops erzählen diese Gemälde von der Entdeckung einer neuen, unbekannten Welt, so zumindest die These der Kunsthistorikerin Elizabeth Kessler.2 Farbgebung und Perspektiven der Hubble-Fotografien sind demnach der romantischen Landschaftsmalerei entlehnt, insbesondere derjenigen im Amerika des späten 19. Jahrhunderts. Tatsächlich zogen Mitglieder des Hubble-Heritage-Projektes in Interviews Parallelen zwischen den Fotografien des Weltraumteleskops und den Arbeiten Albert Bierstadts, nannten aber auch Caspar David Friedrich als Gewährsmann.3 Die stilistischen Anleihen der Hubble-Fotografien bei der romantischen Malerei sind kein Zufall. Eines der zentralen Motive der Romantik ist die Darstellung von Naturgewalten als dem menschlichen Zugriff entzogene Phänomene. Viele Gemälde Caspar David Friedrichs zeigen menschliche Gestalten, die die entfesselten Kräfte der Natur ehrfurchtsvoll betrachten. Es ist die gleiche Ehrfurcht, die wir auch vor den „Säulen der Schöpfung“ verspüren, die Ehrfurcht vor den unermesslichen Dimensionen des Alls, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Genau wie in der romantischen Malerei so handelt es sich auch bei Bildern kosmischer Phänomene um Darstellungen archaischer Urgewalten, denen der Mensch ohnmächtig gegenübersteht. Um die eigentümliche Lust zu erklären, die wir beim Betrachten unbändiger Naturkräfte empfinden, hat Immanuel Kant den Begriff des Erhabenen geprägt. In seiner „Kritik der Urteilskraft“, in der sich Kant unter anderem mit Geschmacksurteilen beschäftigt, unterscheidet er das Schöne vom Erhabenen. Während sich das Schöne unmittelbar auf einen Gegenstand bezieht, entspringt das Erhabene einer vernunftgeleiteten Bewältigung von Eindrücken,
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Sonne und Erde entstehen (ca. 4,6 Mrd. Jahre)
Di eI nf r a r o t a uf na hmede sPf e r de k o pf ne b e l si mSt e r nb i l d r i o nv e r mie l tde nEi ndr uc k e i ne rz e r b r e c hl i c he nSt r uk t ur a usLi c htundGa s . hnl i c hwi e b e ide nSä ul e nde rSc hö pf ung e nt s t e hte i nei nde nGi pf e l r e gi o ne nb e l e uc ht e t eWo l k e nl a nds c ha f t .Fo t o :NASA,ESA undda sHub b l e He r i t a ge Te a m
Kuns t ,ni c htWi s s e ns c ha f t :Wi ee i nea r t i fiz i e l l eSt r uk t urhä ngtdi eSo mb r e r o Ga l a xi ez wi s c he nde nSt e r ne n. Ande r sa l si nde n me i s t e na nde r e nAuf na hme nde sWe l t r a umTe l e s k o psl ä s s tda sunt e rLe i t ungde sHub b l e He r i t a ge Te a msa uf ge no mme neBi l d Pl az wi s c he nde nSpi r a l a r me nundde mBi l dr a nd.Fo t o :NASAundda sHub b l e He r i t a ge Te a m
5. Kosmische Landschaften
die unsere Sinne überfordern. Wir fühlen uns vom Erhabenen abgestoßen und angezogen zugleich; wir erschaudern vor den Kräften der Natur und berauschen uns an der Leistung unseres Verstandes, unsere eigene Winzigkeit zu erkennen. Kant schreibt: „Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich aufthürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulcane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der gränzenlose Ocean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Muth macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können“ (Kant 1790, S.104).
Die lustvolle Spannung des Erhabenen entspringt demnach einem Konflikt zwischen Gefühl und Verstand, einem Gefühl der körperlichen Ohnmacht und einer Idee kognitiver Allmacht. Als reine Farbkleckse wären die Hubble-Fotografien uninteressant; erst ihr Bezug zu den Geheimnissen des Weltalls verleiht den Bildern ihre Strahlkraft. Vom Standpunkt der menschlichen Wahrnehmung sind diese Repräsentationen bis zum Äußersten verfremdet. Nicht blasse Nebelflecken, sondern lebhafte Farben und Kontraste entführen uns in genau diejenige Welt, die wir in den Tiefen des Kosmos zu finden hoffen: in eine Welt des Erhabenen, Phantastischen und Numinosen. Kaum ein anderes Motiv symbolisiert den Sitz des Mystischen so eindrucksvoll wie heraufziehende Nebelschwaden. Die am Abend und in der Nacht scheinbar aus dem Nichts auftauchenden Wasserdämpfe können jede Wiese, jede Baumgruppe und jeden Flusslauf in einen geheimnisumwitterten Ort verwandeln. Zahlreiche Hollywood-Streifen nutzen die magische Wirkung des Nebels, um Drehorten eine mystische Aura einzuhauchen. Insgeheim weiß der Betrachter natürlich, dass er sich einer Illusion hingibt: Nicht Wassergeister, sondern Temperatur und Feuchtigkeit lassen Wasserdampf in Bodennähe kondensieren. In den Tiefen des Alls, wo Gas- und Spiralnebel von den ungelösten Geheimnissen des Kosmos zeugen, findet die mystische Aura, die wir dem Nebel zuschreiben, ihre letzte Zuflucht. Das Naturmagische, so könnte man verallgemeinern, hat sich mit der Ausdehnung des menschlichen Aktionsradius in das Sonnensystem in den interstellaren Raum zurückgezogen.
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5. Kosmische Landschaften
Die Vorstellung einer beseelten Natur ist abstrakten mathematischen Formeln gewichen. Nicht mehr Felsen, Bäume und Gewässer sind Sitz des Mystischen, sondern die ungelösten Rätsel der Physik, vom Urknall über dunkle Materie bis hin zu schwarzen Löchern. Traditionelle Wald- und Wiesenmotive können die Magie der Natur nicht mehr glaubhaft verkörpern. Stattdessen zeugen Darstellungen von Sternenspuren, planetaren Oberflächen und interstellaren Gasnebeln von jenem Zaubergarten, den die Romantik noch auf Erden heraufzubeschwören versuchte.
Datengrundlage des Bildes waren drei separate Aufnahmeserien, die jeweils leuchtendes Gas einer ganz bestimmten Wellenlänge zeigten. Dem rötlichen Leuchten ionisierten Wasserstoffs ordnete Hester die Farbe Grün zu. Das grünliche Leuchten von doppelt ionisiertem Sauerstoff definierte er als Blau. Das dunkelrot leuchtende ionisierte Schwefelgas durfte seine natürliche Anmutung annähernd behalten und wurde als Rot festgelegt. Die „Pillars of Creation“ sind aus mehreren auf diese Weise kombinierten Bildern zu einem Mosaik zusammengesetzt. 2 Kessler sieht im Eintauchen in unbekannte Welten vor allem einen Prozess der Aneignung: „The Hubble images make the alien familiar while […] promising the thrill of new discoveries“ (Kessler 2012, S.181). An anderer Stelle heißt es: „The cosmic neighborhood gains familiarity through its resemblance to the earthly landscape“ (Kessler 2012, S.221). Und weiter: „[The images] visually promise that we can come to know such distant realms“ (Kessler 2012, S.227). Es muss die Frage erlaubt sein, ob Kesslers Akzent nicht zu stark auf der Beherrschbarkeit der Natur liegt und ob die Ehrfurcht vor den Urgewalten, also gerade vor ihrer Nichtbeherrschbarkeit, in ihrer Deutung nicht etwas zu kurz kommt. 3 Vgl. Kessler 2012, S.51ff. 1
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Ans i c ht s s a c he :Re pr ä s e nt i e r e nFo t o gr a fie nvo ni nt e r s t e l l a r e nGa s ne b e l nuns e r Wi s s e nüb e rde nKo s mo so de rs pi e ge l t s i c hi ni hne nuns e rNi c ht Wi s s e n Er we i t e r ns i eda sRe i c hde sBe k a nnt e no de r ö ffne ns i ee i nFe ns t e ri nsUnb e k a nnt e Di eAuf na hmede sHe r z ne b e l si mSt e r nb i l dKa s s i o pe i ae nt s t a nda ne i ne ri t a l i e ni s c he nPr i v a t s t e r nwa r t e .Fo t o :Ni c c o l ò Co l i
St e r ne nüb e r s ä t e r Hi mme lüb e rde rBa l o s l a gunea ufKr e t a . b e r ha l bde sunt e r ge he nde nMo nde si s tda s Ba ndde sZo di a k a l l i c ht e s z us e he n,r e c ht sdi e Mi l c hs t r ae .Sä mt l i c he St e r na b b i l dunge ne nt s t e he ndur c hBe ugungde s Li c ht e sa nde rBl e ndede s be k t i vs .Fo t o :Be r nd Pr ö s c ho l d
6
Der Underview-Effekt
E
igentlich sollten wir am Nachthimmel überhaupt keine Sterne beobachten können. Dazu
sind sie nämlich viel zu weit entfernt. Selbst der rote Riesenstern Betelgeuse im Sternbild Orion, dessen Durchmesser denjenigen der Sonne um das 800-fache übertrifft, misst am Himmel bloß winzige 0,05 Bogensekunden. Dies entspricht der Größe einer Cent-Münze in 70 Kilometern Entfernung – viel zu klein für das menschliche Auge, und sogar zu klein für die allermeisten Großteleskope. Dass wir die Sterne trotzdem sehen, liegt daran, dass ihr Licht an der Pupille unseres Auges gebeugt wird. Wir sehen also nicht den Stern selbst, sondern das Ergebnis eines wellenoptischen Effektes. Wir sehen ein Beugungsartefakt, eine optische Täuschung, eine Art Fata Morgana des Sterns, wenn man so will. Unseren Kameras ergeht es nicht anders, denn auch ihre Blenden beugen das Sternenlicht und machen die fernen Sonnen auf diese Weise überhaupt erst sichtbar. Es ist also eine bemerkenswerte Eigenschaft des Lichtes, die es uns erlaubt, Kunde von
ältestes nachgewiesenes
den fernen Welten zu erlangen. Schon ein einzelner Stern am Nachthimmel wäre ein beson-
Leben auf der Erde
deres Faszinosum; bekanntlich sind es einige mehr. In einer klaren mondlosen Nacht, weit
(ca. 3,7 Mrd. Jahre)
entfernt vom Licht der Städte, sind Tausende dieser Lichtinseln zu erkennen und vermitteln eine leise Ahnung von der Größe des Kosmos. In Wahrheit sehen wir bloß die nahe gelegensten und hellsten von ihnen. Tatsächlich gibt es mehr Sterne im Universum als Sandkörner an allen Stränden der Erde; konservativ geschätzt sind es etwa 40 Trilliarden. Eine entsprechende Anzahl von 0,5 mm großen Sandkörnern würde einen eine Million Kilometer langen Sandstrand bedecken, 10 m hoch und 500 m breit. In einem Universum solcher Ausmaße ist die Erde leicht zu übersehen. Der Overview-Effekt, der uns vor Augen führt, dass die Erde eine blaue Perle in einer schwarzen Wüste ist, findet sein Gegenstück im Anblick des nächtlichen Sternenhimmels, in dem die Unermesslichkeit dieser Wüste eine vorsichtige Andeutung erfährt. Das Erstaunen, welches wir an einem dunklen Ort fernab vom Licht der Städte beim Betrachten des sternenübersäten Himmels empfinden, könnte man entsprechend als Underview-Effekt bezeichnen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Pröschold, Im Kosmos zu Hause, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8_6
De rRo q uedeLo sMuc ha c ho sa ufLaPa l mai mLi c htde sunt e r ge he nde nMo nde s .Di eKuppe lde sGr a nTe l e s c o pi oCa na r i a s , e i ne mde rgr öt e no pt i s c he nTe l e s k o pede rEr de ,wi r k ti mVe r gl e i c hz umBe r gundz umHi mme l s z e l twi nz i g. Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
6. Der Underview-Effekt
Neuzeitliche Identitätskrise Bei einem Wesen, welches sich für die Krone der Schöpfung hält, können die Dimensionen des Kosmos gewisse Selbstzweifel auslösen. Sollte es einen Schöpfer (w, m, x) geben, wäre er vielleicht fasziniert von jenen zweibeinigen Wesen, die für kurze Zeit den dritten Planeten eines Sandkorns unter 40 Trilliarden anderen bevölkern. Wenig spricht aber dafür, dass der eine Million Kilometer lange und 13 Milliarden Jahre alte Sandstrand seine Bestimmung darin findet, in der Nähe eines einzelnen Sandkorns für kurze Zeit eine bestimmte Form von Leben hervorzubringen. Aus kosmischer Perspektive erscheint der Mensch nicht länger als gottgewollter Herrscher über die Natur, sondern er wird zu ihrem Bestandteil. Neueren Erkenntnissen zu Folge ist der Mensch nicht mal mehr Herr seiner selbst, sondern einer biologischen und sozialen Dynamik unterworfen, auf die er nur beschränkten Einfluss hat. Einer der Ersten, der die Dezentrierung des Menschen in ihren verschiedenen Facetten erkannt und benannt hat, war der Psychoanalytiker Sigmund Freud.1 Freud hat drei Kränkungen ausgemacht, die der Mensch in der Neuzeit erfahren hat. Zunächst hat Kopernikus ihn aus dem Zentrum des Universums verbannt. Wenige Jahrhunderte später verlegte Charles Darwin seine Herkunft aus den Händen Gottes ins Tierreich. Und schließlich war es Freud höchstpersönlich, der den Menschen durch die Entdeckung des Unbewussten seiner Souveränität beraubte. Freuds Annahme, dass der menschliche Geist nicht Herr im eigenen Hause ist, wurde durch die moderne Hirnforschung bestätigt: Noch bevor Probanden wissen, welche Wahl sie in einem Experiment treffen werden, haben elektrische Reizmuster in den Nervenzellen des Gehirns längst entschieden.2 Gerät der Mensch derart in Bedrängnis, eilen normalerweise die Kulturwissenschaften zur Hilfe und versichern, dass der Mensch ein Geisteswesen sei und viel mehr als ein bloßer Organismus, mehr als ein bloßer Haufen von Nervenzellen. Umso schmerzhafter, dass eine weitere Demütigung ausgerechnet von einem Soziologen stammt: Ende des 20. Jahrhunderts hat der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann den Menschen aus der Gesellschaft verbannt. Das klingt zunächst paradox – eigentlich besteht die Gesellschaft ja aus Menschen –, ist aber wirklich so: Luhmanns äußerst einflussreicher Theorie zu Folge lässt sich Gesellschaft am besten als unendliche Abfolge von Kommunikation beschreiben, auf die der Mensch keinen direkten Einfluss nehmen kann. Gesellschaften sind demnach als selbst reproduzierende Systeme einer vom Handeln einzelner Personen unabhängigen Dynamik unterworfen. Luhmann degradiert den Menschen von einer Hauptfigur zum Zuschauer im eigenen Film. Eine weitere Kränkung ist jüngeren Datums und entstammt dem neuen Fachgebiet der Metaorganismus-Forschung. Der menschliche Organismus wird von Billionen von Mikro-
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6. Der Underview-Effekt
organismen bevölkert, ohne die er nicht lebensfähig wäre. Bereits seit längerem weiß man, dass deren Anzahl in etwa genauso hoch ist wie diejenige der körpereigenen Zellen. Neu ist hingegen die Erkenntnis, dass Bakterien kognitive Prozesse, Sozialverhalten und Psyche des Menschen direkt beeinflussen.3 Damit wird die Grenze zwischen Mensch und Natur weiter eingerissen, der Mensch zum Spielball von Kleinstlebewesen und die eigene Souveränität zu einer nützlichen Illusion. Wundersame Winzigkeit Da steht er nun, der von fremden Mächten gesteuerte Trockennasenaffe und fühlt sich ganz nackt im grellen Licht der Wissenschaft. Zumindest hat er im Groben verstanden, wie die Welt und er selbst entstanden sind. Keine schlechte Leistung für ein so limitiertes Wesen. Als vor Hunderttausenden von Jahren die ersten Zweibeiner durch die afrikanischen Savannen streiften, war es noch unwahrscheinlich, dass ihre Nachfahren das Modell eines expandierenden Universums mit 40 Trilliarden Sonnen entwickeln würden. In der Einsicht in die eigene Bedeutungslosigkeit zeigt sich vielleicht die wahre Größe des Menschen. Nicht die Pferdestärken seiner Raketen machen ihn demnach zu etwas Besonderem, sondern die Vorstellungskraft seines Geistes. Das Wissen um die Größe des Alls hat für den von Alltagssorgen geplagten Menschen eine entlastende Wirkung. Sich selbst als Teil eines größeren Schauspiels begreifend, kann er sein eigenes Dasein vergessen und völlig im Naturerleben aufgehen. Befreit von irdischen Zwängen mutiert er vom betrachtenden Subjekt zum Bestandteil eines größeren Ganzen. Der Publizist Richard David Precht findet im Anblick des nächtlichen Sternenhimmels sogar Trost vor der Sterblichkeit: „Ich erlebe [...] ein Aufgehen im Augenblick, in dem die Trennung zwischen einem selber als beseeltem Wesen und der Natur [...] aufgehoben ist und in dem auch die Bedeutung, die man sich selber beimisst, [...] plötzlich auf eine lustvolle Weise schwindet, also fast wie Ballast von einem fällt. [...] Ist das nicht schön, winzig und klein zu sein, kleiner als jeder dieser Sterne, geborgen in diesem Naturschauspiel, in diesem Zauber, in dem wir für eine ganz, ganz kurze Zeit [...] als ein bisschen Sternenstaub dabei sein dürfen. [...] Ich glaube, das sind die Momente, die gegen die Angst vor dem Tod am allermeisten helfen“ (Lanz und Precht 2021, Podcast, 47:06 – 49:00).
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Hi nt e rde rSpi r a l ga l a xi emi tde ms c hmuc k l o s e nNa me nNGC44 i s tda sWe l t a l lni c htz uEnde .St a de s s e nz e uge n Du e ndewe i t e re nt f e r nt e rGa l a xi e nvo ns e i ne rune r me s s l i c he nGr öe ,Fo t o :NASA,ESA,Mi c ha e lGr e gg
Be r e i t sk ur zna c hs e i ne r I nb e t r i e b na hmes c ha ut e da sJ a me s We b b We l t r a umt e l e s k o pa n de nRa ndvo nRa um undZe i t .Da sLi c ht f e r ne rGa l a xi e ni s t dur c hde nwe i t e nWe g z uunsge k r ümmtund i nsRo t ev e r s c ho b e n. Di e we ni ge nVo r de r gr unds t e r neuns e r e re i ge ne n Ga l a xi ev e r r a t e ns i c h dur c hi hrs e c hs e c k i ge s Be ugungs mus t e r .Fo t o : NASA,ESA,CSAund STSc I
6. Der Underview-Effekt
Wimpernschlag der Erdgeschichte Wem in Anbetracht der Dimensionen des Sternenhimmels schwindelig wird, sollte auf gar keinen Fall durch ein Teleskop blicken und schon gar nicht durch das James-Webb-Weltraumteleskop. Denn hinter dem Vorhang der Vordergrundsterne unserer eigenen Milchstraße verbirgt sich der noch viel tiefere Abgrund der Galaxien. Je größer das Teleskop, desto mehr der fernen Welteninseln werden sichtbar, bis schließlich fast alle Vordergrundsterne aus dem Bildausschnitt verschwunden sind und der Himmel nur noch mit Galaxien übersät ist. Die ersten dieser kosmischen Tiefenbohrungen stammen vom Hubble-Weltraumteleskop. Die ‚Deep Fields’ getauften Aufnahmen zeigen Himmelsausschnitte, in denen nur wenige Vordergrundsterne den Blick auf die dahinter liegende Galaxienlandschaft versperren. Im Juli des Jahres 2022 veröffentlichte die NASA das erste ‚Deep Field’ des James-Webb-Weltraumteleskops. Es zeigt ferne Galaxien, deren Licht auf dem weiten Weg zu uns gekrümmt und verfärbt wurde, in ungeahntem Detailreichtum. Die am weitesten entfernten Objekte auf den Aufnahmen haben ihr Licht vor 13 Milliarden ausgesandt, was bedeutet, dass die ‚Deep Fields’ fast zurück bis zum Urknall schauen. Der Sternenhimmel ist in gewissem Sinne eine Zeitmaschine, da das Licht astronomischer Objekte sehr lange braucht, um uns zu erreichen und Sterne und Galaxien so zeigt, wie sie vor langer Zeit aussahen. Das am weitesten entfernte Objekt, welches wir mit bloßem Auge erkennen können, der 2,5 Millionen Lichtjahre entfernte Andromedanebel, stammt aus einer Zeit, in der es noch keine aufrecht gehenden Menschen gab. Die Winzigkeit des Menschen in den Dimensionen des Raumes findet ihre Entsprechung in seiner Flüchtigkeit in der Zeit. Würde man die Geschichte des Kosmos auf ein Kalenderjahr komprimieren, so wäre die Erde am 1. September entstanden und die ersten Tiere mit Skelett am 17. Dezember. Die erste aufrecht gehende Menschenart wäre am 31. Dezember um 23:00 Uhr aufgetaucht und der Entwurf des heliozentrischen Weltbildes durch Nicolaus Kopernikus wäre eine Sekunde vor Mitternacht erschienen. Im Unterschied zur gemächlich voranschreitenden biologischen Evolution verläuft die kulturelle Entwicklung mit exponentieller Geschwindigkeit. Bahnbrechende technische und soziale Veränderungen treten in immer kürzeren Zeitabständen auf. Mittlerweile können Menschen Menschen designen und Computer selbständig lernen. Wohin auch immer diese Entwicklungen den Menschen katapultieren werden: Es scheint abzusehen, dass er in seiner heutigen Daseinsform nicht lange überdauern wird. Über diesen irdischen Turbulenzen steht schweigend der Sternenhimmel und umhüllt den Menschen mit einem wohligen Mantel der Ewigkeit.
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6. Der Underview-Effekt
Sind wir allein? Viele Geheimnisse haben wir dem Sternenhimmel bereits entlockt vom Urknall über die Galaxienentwicklung bis zur Entstehung von Sonne und Erde. Jedem, der in einer klaren, mondlosen Nacht in den sternenübersäten Himmel schaut, drängt sich aber ein noch ungelöstes Mysterium auf: Sind wir allein? In Anbetracht unseres Bildes vom eine Millionen Kilometer langen Sandstrand mit 40 Trilliarden Sandkörnern, die potenziell intelligentes Leben beheimaten könnten, spricht vieles dafür, dass wir es nicht sind. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft herrscht jedenfalls weitestgehend Konsens darüber, dass Leben höchstwahrscheinlich auch an anderen Orten im Universum entstanden ist und dass prinzipiell nichts gegen die Entwicklung von intelligentem Leben spricht. Dieser Konsens endet aber schlagartig, wenn es um die Frage geht, weshalb wir noch keinen belastbaren Hinweis auf eine außerirdische Intelligenz entdeckt haben. Weil es solche Hinweise nicht gebe, sagen die einen; weil wir noch nicht richtig geschaut haben, sagen die anderen. Besonders stark erhitzen sich die Gemüter, wenn zur Debatte steht, ob intelligentes Leben wohlmöglich bereits das Sonnensystem oder gar die Erde erreicht haben könnte. Nachdem das Thema jahrzehntelang allenfalls für Schlagzeilen in der Boulevardpresse taugte, ist es mittlerweile zum Politikum geworden. Im Nachgang zu Enthüllungen des US-Militärs um unerklärte Phänomene im Luftraum hat die Möglichkeit der Entdeckung einer außerirdischen Intelligenz Eingang in die deutschen Feuilletons gefunden.4 An der Harvard University hat man im Rahmen des Galileo-Projektes sogar schon aktiv mit der Suche nach außerirdischen Artefakten im Sonnensystem begonnen. Ähnliche Bestrebungen gibt es am Interdisziplinären Forschungszentrum für Extraterrestrik der Universität Würzburg, wo man mit Hilfe Künstlicher Intelligenz nach Hinweisen auf eine außerirdische Intelligenz sucht. Skeptiker halten solche Initiativen hingegen für Geldverschwendung oder sehen gar die Errungenschaften der Aufklärung in Gefahr. Die Beschäftigung mit fremdartigen Phänomenen gehört in der Astronomie zum Alltag. Wer in der Hochatmosphäre oder im Eis der Antarktis nach exotischen Elementarteilchen sucht, zählt zur Avantgarde seiner Zunft. Warum also die Aufregung, wenn es um die Frage nach intelligentem Leben geht? In gewissem Sinne stellen intelligente Lebensformen und ihre möglichen Hinterlassenschaften ja ebenso eine exotische Form von Materie dar wie geisterhafte Elementarteilchen. Dass Artefakte intelligenter Lebewesen interstellare Distanzen überwinden können, ist sogar schon belegt – anhand unserer Voyager-Sonden.
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6. Der Underview-Effekt
Das radikal Fremde Ein möglicher Grund für die Skepsis gegenüber der Suche nach außerirdischer Intelligenz und ihren Artefakten ist, dass wir uns vor ihr fürchten. Gemeint ist nicht die Furcht vor Laserkanonen, sondern die Furcht vor dem Fremden. Alleine schon das Wort ‚Außerirdische’ könnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, zumindest dann, wenn es nicht fiktional benutzt wird: Sie sind da. Bereits in irdischen Gesellschaften werden Fremde schnell zum Problem, insbesondere dann, wenn es sich nicht bloß um Unbekannte handelt, sondern um Fremdartige.5 Der Soziologe Zygmunt Bauman schildert die Verunsicherung, die uns im Angesicht des Fremden begegnet, mit dramatischen Worten: „Einige Fremde sind […] nicht einfach unklassifiziert, sondern unklassifizierbar. […] Sie verwandeln das zeitweilige Unbehagen des 'nicht mehr Weiterwissens' in eine endgültige Paralyse. Sie müssen tabuisiert, entwaffnet, unterdrückt, physisch oder geistig exiliert werden – oder die Welt könnte zu Grunde gehen“ (Bauman 1995, S. 80).
Das Gefühl des Unheimlichen, welches die Begegnung mit fremden Daseinsformen in sich
älteste nachgewiesene
birgt, weiß man in Hollywood seit jeher zu nutzen. Um besonders gruselig zu wirken, müssen
Zellen mit Kern
Figuren ein gewisses Maß an Fremdartigkeit aufweisen, dürfen aber – und das ist entschei-
(ca. 2,1 Mrd. Jahre)
dend – nicht allzu fremdartig erscheinen. In hohem Maße unheimlich wirken Gestalten dann, wenn sie zwar andersartig sind, aber noch eine humanoide Form haben. Neben kleinen grauen Aliens trifft dies zum Beispiel auf Zombies und humanoide Roboter wie den Terminator zu. Cineasten sprechen vom ‚Uncanny Valley’, vom Tal des maximalen Gruselns, welches bei einem bestimmten Grad an Fremdartigkeit erreicht wird. Ein bloßes Monster wie das Alien aus dem gleichnamigen Film kann zwar Angst und Schrecken verbreiten, verliert aber das Schauerlich-Mysteriöse, welches uns in humanoiden Wesen begegnet. Das Fremde kann uns nur dann verunsichern, wenn es uns noch so ähnlich ist, dass wir einen Bezug zu ihm herstellen können. Die intensivste Form der Fremdheit ist für den Philosophen Bernhard Waldenfels das radikal Fremde, welches uns in Grenzphänomenen wie dem Tod begegnet. Eine weitere Steigerung würde jeden Bezug zu uns verlieren: „Ein völlig Fremdes gliche einer völlig fremden Sprache, diese würde aufhören eine Sprache zu sein und zu einem bloßen Geräusch herabsinken“ (Waldenfels 1997, S. 73). Ob eine extraterrestrische Intelligenz eine radikal fremde wäre, die uns erschaudern ließe, oder eine völlig fremde, die uns rätseln ließe, wissen wir nicht. Vieles spricht in Anbetracht der potenziell unendlichen Vielfalt an Daseinsformen, die der Kosmos hervorbringen kann, für eine Andersartigkeit jen-
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Ne b e nMe ns c he na ffe n,De l fine nundKr ä he nv e r f üge na uc hTi nt e nfis c heüb e re i nge wi s s e sMa a nI nt e l l i ge nz .Ei ne rUSa me r i k a ni s c he nExpe di t i o ni nde nGe wä s s e r nno r dö s t l i c hvo nHa wa i ige l a ngi n400Me t e r nTi e f edi eAuf na hmee i ne rb i s l a ngunb e k a nnt e nAr t . Ans e i ne mGr us e l po t e nz i a lmus sda sk l e i neTi e f s e e Ge s pe ns ta b e rwo hlno c ha r b e i t e n.Fo t o :N AA c e a nExpl o r a t i o nPr o gr a m
6. Der Underview-Effekt
seits unseres Vorstellungsraums. Die Antwort auf die Frage, weshalb wir trotz Milliarden potenziell lebensfreundlicher Planeten in der Milchstraße noch keinen Hinweis auf extraterrestrische Intelligenz gefunden haben, könnte in ihrer phänomenologischen Unbestimmtheit liegen: Hinreichend fremde Daseinsformen nutzen weder Radiosignale noch Raumschiffe; sie rauschen im wahrsten Sinne des Wortes an uns vorbei. Die Vokabel ‚Außerirdische’ ruft hingegen von Hollywood geprägte Assoziationen von Gruselgestalten hervor und schadet dem – zumindest im deutschsprachigen Raum – noch immer tabubehafteten Forschungsbereich mehr als sie nützt. Hilfreicher wäre es wohl, ganz abstrakt von Systemen zu sprechen.6 Wer in der Hochatmosphäre, auf dem Mond und an anderen Orten des Sonnensystems nach einer komplexen Art von Systemen sucht, macht sich weniger der Häresie verdächtig als ein Alien-Jäger. Zudem kann niemand sagen, ob wir auf eine biologische Daseinsform oder auf eine Maschinenintelligenz treffen werden. Wer nicht von Außerirdischen, sondern von Systemen spricht, schließt beide Möglichkeiten ein. Wie fremdartig auch immer eine extraterrestrische Intelligenz sein mag: Sollten wir im Sonnensystem Hinweise auf eine solche Intelligenz finden, dürfte sie eine technologische Entwicklungsstufe jenseits unserer Vorstellungskraft erreicht haben. Eine derartige Entdeckung würde mit einer existenziellen Verunsicherung einhergehen und wäre die bislang schwerste der Freudschen Kränkungen. In der Konfrontation mit dem Fremden liegt aber auch die Chance, eine neue Perspektive auf uns selbst zu gewinnen. Durch die Augen einer anderen Daseinsform betrachtet, könnte so manche vermeintliche Selbstverständlichkeit unserer Lebensweise als Absurdität entlarvt werden. Auf dem Weg, unsere eigene Winzigkeit zu erkennen, würde uns die Begegnung mit dem außerirdisch Fremden wohl wieder ein Stück voranbringen.
Vgl. Freud 1917, S.4-7. Vgl. Libet 1985. 3 Vgl. Rees et al 2018. 4 Entsprechende Artikel erschienen unter anderem in der Zeit (Setz 2021) und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Rauchhaupt 2021). 5 Kern unserer Aversion gegen das Fremde ist unsere biologische Verfasstheit als Mängelwesen. Da wir nicht in gleichem Maße mit Instinkten ausgestattet sind wie Tiere, sind wir gezwungen, kulturelle Programme zu erfinden, an denen wir uns orientieren. Begegnungen mit dem Fremden führen uns vor Augen, dass diese Programme letzten Endes willkürlicher Natur (d.h. kontingent) sind und unterminieren auf diese Weise unsere Weltordnung: Wir werden uns selber fremd. 1 2
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⁶J ena c hOr g a ni s a t i ons f or m ka nnma nz wi s c he nbi ol og i s c he n, ma s c hi ne l l e nundkog ni t i v e n S y s t e me nunt e r s c he i de n. I nt e l l i g e nt eS y s t e mewä r e ni nde rLa g e , di eEl e me nt e , a usde ne ns i e be s t e he n, s e l be rhe r z us t e l l e nundwür de nda r übe rhi na usg e nüg e ndFr e i he i t s g r a dea uf we i s e n, um mi ta nde r e ni nt e l l i g e nt e nS y s t e me nkommuni z i e r e nz ukönne n( v g l . Pr ös c hol d2021) .
Kr i e gde rS t e r ne : Mi tgr üne mLi c htl oc k e nFi s c he rnahede rhe l l e r l e uc ht e t e nS t adtBangk okPl ank t onan. Ge k öde r tv oni hr e nBe ut e t i e r e nge r at e nTi nt e ni s c hei ndi eaus ge wor f e ne nNe t z e . F ot o: I S S Ex pe di t i on53Cr e w, NAS A
St e r ne nl o spr ä s e nt i e r ts i c hdi ehe l le r l e uc ht e t eSk y l i nevo nFr a nk f ur t ,da r üb e rde rt e i l we i s ehi nt e rWo l k e nv e r b o r ge ne Mo nd.Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
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Lichter der Nacht
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ie ideale Form des Arbeitnehmers ist der sozialversicherungspflichtige Angestellte. Bei
diesem Typus Mensch handelt es sich um eine Erfindung von Reichskanzler Otto von Bismarck. Der gewiefte Staatsmann reformierte unter Kaiser Wilhelm I. das deutsche Berufswesen und führte Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung ein. Der preußische Prototyp der Arbeitskraft hat seit der Kaiserzeit einige Upgrades erfahren; er wurde fortgebildet, geschlechtlich flexibilisiert und finanziell aufgerüstet. Schließlich müssen die Unmengen an produzierten Waren und Dienstleistungen ja auch von irgendwem konsumiert werden. Heute trainiert der sozialversicherungspflichtige Angestellte seinen im Büroalltag unterforderten Körper auf SlimX-Fitnessgeräten, atmet Luft aus Aerosan-Luftfiltern und schläft auf Somnomat-Aktivschaummatratzen. Ein guter Staatsbürger ist ein guter Konsument, so das verbreitete Credo. Damit das eingespielte System reibungslos funktioniert, sollte der sozialversicherungspflichtige Angestellte auf keinen Fall von der Ausübung seiner Konsumpflichten abgelenkt werden. Eine besonders tückische Versuchung stellte bereits zu Zeiten Wilhem I. das Lustwandeln in der Natur dar, eine menschliche Schwäche, die nie therapiert, aber durch die Erfindung des Hiking-Sticks zumindest kommerzialisiert werden konnte. Als für die Gesellschaft weitestgehend verloren gelten hingegen Individuen, die sich in der Betrachtung des nächtlichen Sternenhimmels ergehen. Die Beschäftigung mit der Astronomie hat sich als ökonomisch kaum verwertbar erwiesen.1 Hinzu kommt, dass allzu intensives Nachdenken
über Mensch und Kosmos Gegenentwürfe zu konsumorientierten Gesellschaftsmodellen aufkeimen lassen könnte. Erst ein technologisches Großprojekt konnte das schöngeistige Aufbegehren stoppen: Millionen von künstlichen Leuchten erzeugen einen undurchdringlichen Lichtschleier, der den Blick auf das nächtliche Himmelsspektakel versperrt. Eine Sphäre aus leuchtendem Smog Was sich liest wie eine Glosse, ist frappierende Realität: Die meisten Menschen in Europa und Nordamerika leben inzwischen an Orten, an denen sie die Milchstraße nicht mehr sehen können. Unsere Städte sind so hell erleuchtet, dass sie den Sternenhimmel überstrahlen. Natürlich stellt niemand Straßenlaternen in der Absicht auf, anderen Personen den Blick in © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Pröschold, Im Kosmos zu Hause, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67219-8_7
7. Lichter der Nacht
die Sterne zu verleiden. Ein solches Maß an Machtgebaren wäre politisch auch nicht sonderlich geschickt. Die Auslöschung des nächtlichen Firmamentes war nur deshalb möglich, weil niemand dafür zur Verantwortung gezogen werden konnte. Das Verschwinden der Sterne vollzog sich ganz beiläufig, verteilt über mehrere Jahrzehnte, so dass viele Menschen überhaupt keine Notiz davon genommen haben. Nur in Form eines schleichenden, zufällig erscheinenden Prozesses ließ sich ein derart monumentales Projekt wie die Umgestaltung des Himmels überhaupt organisieren, ohne Aufsehen zu erregen: keine Bürgerinitiativen, keine Gerichtsentscheide, keine Bilder von an Straßenlaternen geketteten Demonstranten.2 Mittlerweile hat der größte Teil der entwickelten Welt seine visuelle Verbindung zum Kosmos verloren und sich in eine selbst geschaffene Sphäre aus künstlichem Licht zurückgezogen. Als es im Jahr 1994 in Los Angeles zu einem Stromausfall kam, gingen zahlreiche Anrufe besorgter Bürger bei den Behörden ein, die eine merkwürdige Wolke am Himmel meldeten. Die Bewohner von Los Angeles hatten zum ersten Mal in ihrem Leben die Milchstraße gesehen. Im rechten Lichte Nun ist Licht per se nichts Schlechtes; es hilft bei der Orientierung im Straßenverkehr, gibt Passanten ein Gefühl von Sicherheit und prägt das nächtliche Erscheinungsbild einer Stadt. Wie bei vielen anderen Dingen auch liegt die Kunst in der richtigen Dosierung, und hier zeigt sich ein Bild beispielloser Verschwendung. Die Gesamtmenge der nächtlichen Außenbeleuchtung steigt jährlich um etwa sechs Prozent, was einer Verdoppelung des weltweiten Lichtmülls alle 12 Jahre entspricht. Viele öffentliche und private Lichtquellen sind schlecht abgeschirmt. Anstatt den Boden zu beleuchten, strahlt ihr Licht kilometerweit in seitlicher Richtung und nach oben.3 Dort wird es von Partikeln der Erdatmosphäre gestreut und sorgt für eine Aufhellung des Himmels. In Zeiten, in denen Energiesparen zu einem zentralen politischen Anliegen geworden ist, sollte ein derart sorgloser Umgang mit Ressourcen eigentlich verpönt sein. Eine ordentlich abgeschirmte Leuchte könnte eine gegebene Bodenfläche mit viel weniger Energie erhellen als eine schlecht abgeschirmte Leuchte, die einen Teil ihres Lichtes in den Himmel strahlt. Mangels belastbarer Daten lässt sich das genaue Ausmaß der Energieverschwendung nur schwer beziffern. Für die USA schätzt die International Dark Sky Association den Anteil vergeudeter Außenbeleuchtung auf mindestens 30 Prozent. Dies entspricht 66 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr beziehungsweise dem Verbrauch von 9,5 Millionen Autos.4 Das Einsparpotenzial ist wohl noch erheblich höher, wenn man bedenkt, dass die meisten Leuchten Flä-
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Pl a ne tmi tFi e b e r fle c k e n:da snä c ht l i c heLi c ht e r me e rumde nPe r s i s c he nGo l f ,i mHi nt e r gr undde rGr oeWa ge n,f o t o gr a fie r tvo nde rI nt e r na t i o na l e nRa ums t a t i o n.Fo t o :I SSExpe di t i o n- Cr e w,NASA
0Gr a dPa no r a made she l le r l e uc ht e t e nRhe i nuf e r si nKö l n.Ei neme hr s t ündi geSe r i e nb e l i c ht ungl ä s s tdi eSt e r neundi hr e Ba hna mHi mme ls i c ht b a rwe r de n.Da si mMä r z2020wä hr e ndde se r s t e nCo vi d19Lo c k do wnse nt s t a nde neBi l di s tf r e ivo n Po s i t i o ns l i c ht e r nvo nFl ugz e uge n,di ez uno r ma l e nZe i t e ni ngr oe rZa hlüb e rde nKö l ne rNa c ht hi mme lz i e he n. Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
7. Lichter der Nacht
chen bestrahlen, an denen sich überhaupt keine Menschen aufhalten. Im Zeitalter mobiler Endgeräte wäre es längst möglich, dass sich Straßenlaternen nur dort einschalten, wo auch tatsächlich Passanten unterwegs sind. Entsprechende Anwendungen wurden bereits entwickelt, haben sich aber bislang nicht durchgesetzt. Datenschutzrechtliche Bedenken bremsen vernetzte Technologien immer wieder aus. Bereits in der Pandemiebekämpfung war der Eindruck entstanden, dass Datenschutz hierzulande ein wichtigeres Gut darstellen könnte als das Recht auf Leben. Apropos Leben: Die Folgen der Lichtverschmutzung für das Ökosystem sind desaströs. Nachtaktive Insekten sind es gewohnt, sich an natürlichen Himmelskörpern zu orientieren; sie sind also im Wortsinne Astronauten. Künstliche Lichtquellen werden von ihnen endlos umkreist und halten die kleinen Lebewesen von Nahrungssuche und Fortpflanzung ab. Erschöpft oder durch die Lampe geblendet werden sie von Raubfeinden gefressen oder verenden. Angaben des Schweizer Bundesamtes für Umwelt zu Folge sterben in Deutschland jährlich 150 Billionen Insekten an Straßenlaternen (ca. 1,8 Millionen pro Bundesbürger), darunter 150 Milliarden Nachtfalter (ca. 1800 pro Bundesbürger).5 Anders als der Volksmund nahelegt, handelt es sich nur bei den allerwenigsten Nachtfalterarten um Motten. Die große Mehrzahl sind Nützlinge in phantasievollem Flügelkleid. Das Massensterben der teils prächtig gemusterten Schmetterlinge hat weitreichende Folgen für andere Arten, unter anderem für Fledermäuse, Reptilien und nachtblühende Pflanzen. Abhilfe könnte eine Umrüstung von Leuchten auf warmweißes Licht schaffen, welches Insekten in geringerem Maße in ihrem natürlichen Verhalten beeinträchtigt. Umweltverbände empfehlen warme LED-Leuchten mit einer Farbtemperatur von maximal 2600 Kelvin – trotz ihres im Vergleich zu blauen LEDs um etwa 10–20 Prozent höheren Energieverbrauchs. Positiver Nebeneffekt: Warmes Licht wird von Menschen als angenehmer empfunden als LED-Licht mit hohem Blauanteil. Die Empfehlungen der Fachleute wurden vielerorts noch nicht umgesetzt; weder auf Bundesebene noch in der Europäischen Union existieren wirksame Regelungen zur Eindämmung der Lichtverschmutzung.6 Eine im Jahr 2007 in den Deutschen Bundestag eingebrachte Petition scheiterte am breiten Widerstand der vom Volk gewählten Vertreter. Naturverträgliche und ressourcenschonende Beleuchtungskonzepte finden sich bislang vorwiegend in Sternenparks. Dabei handelt es sich um regionale Projekte, die den Schutz der natürlichen Nacht als Treiber der ökologischen und touristischen Entwicklung begreifen. In Deutschland gibt es bislang eine handvoll derartiger Schutzzonen, unter anderem im Westhavelland und in der Rhön. Die Betreiber versuchen die Umrüstung auf stern- und insektenfreundliche Au-
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As t r o na ut i s c heLe b e ns f o r m:Wi ea nde r ena c ht a k t i v eI ns e k t e ns oo r i e nt i e r ts i c ha uc hde rSc hwa r z eBä ra mLi c htvo nHi mme l s k ö r pe r n.Fo t o :Wi l dl i f eMe di a ,Ge r ha r dRo t he ne de r
De rNa ge l fle c kge hö r tz urFa mi l i ede rPf a ue ns pi nne r ,t a xo no mi s c hSa t ur ni i da e ,mö gl i c he r we i s ee i neRe mi ni s z e nza ni hr e na c ht a k t i v eLe b e ns we i s e .Fo t o :Wi l dl i f eMe di a ,Ge r ha r dRo t he ne de r
De rI s a b e l l a s pi nne ri s te i nes e l t e nei nSpa ni e nundSüdf r a nk r e i c hb e he i ma t e t eAr tmi te i ne rFl üge l s pa nnwe i t evo nb i sz u 10Ze nt i me t e r n.Ei nek l e i nePo pul a t i o nde rna c ht a k t i v e nFa l t e rl e b ti nde nWa l l i s e rAl pe n.Fo t o :Wi l dl i f eMe di a , Ge r ha r dRo t he ne de r
7. Lichter der Nacht
ßenbeleuchtung mit Kommunikations- und Bildungsmaßnahmen zu flankieren. Auf diese Weise, so die Hoffnung, soll die Bevölkerung für die Problematik sensibilisiert werden. Der Mensch Die geschilderte Sachlage lässt den Betrachter fassungslos zurück: Wie kann es sein, dass jeder Bundesbürger für seine persönlichen nächtlichen Wegstrecken den Tod Abertausender höchst faszinierender Lebewesen in Kauf nimmt? Wie kann es sein, dass sich eine Spezies, die
kambrische Explosion der Artenvielfalt (ca. 541 Mio. Jahre)
soeben von einem Kosmos mit etwa 40000000000000000000 Sternen erfahren hat, in einen Schleier aus Lichtsmog zurückzieht? Wie kann es sein, dass eine Zivilisation, die sicher weiß, dass die Erderwärmung zu einem Massensterben von Tieren und eventuell auch von Menschen führen wird, Unmengen an CO2 freisetzt, nur um den Himmel zu beleuchten? Die Absurdität des menschlichen Daseins ist seit längerem Gegenstand philosophischer Diskussionen. Im Nachgang des Zweiten Weltkriegs beschäftigten sich insbesondere französische Denker mit dem Absurden. Albert Camus zufolge kann der Mensch nur Herr seines Schicksals werden, indem er die Absurdität akzeptiert und sich konstruktiv an ihr abarbeitet. Den tragischen Helden Sisyphos müsse man sich, so Camus, als glücklichen Menschen vorstellen, jene mythologische Figur also, die sich auf ewig vergeblich müht, einen Felsblock
ordovizisches Massenaussterben, ca. 85% der Arten (ca. 445 Mio. Jahre)
einen Berg empor zu rollen. Eine derartig leidenschaftliche Form der Schicksalsbejahung dürfte der modernen Insektenschützerin nicht fremd sein. Vielleicht erscheint uns die Welt so absurd, weil wir ein überhöhtes Bild von uns selbst entwickelt haben. Vielleicht sind wir überhaupt nicht die vernunftbegabten und mit freiem Willen ausgestatteten Wesen, als die wir uns selber gerne beschreiben. Unsere körperliche Verfasstheit könnte in unserem Dasein eine wichtigere Rolle spielen, als wir allgemein annehmen. Der Philosoph Arnold Gehlen spricht von einem instinktarmen Mängelwesen, welches Kultur und Technologie entwickeln muss, um sich in der Welt zurechtzufinden. Verunsicherungen über den Sinn und Zweck der auf diese Weise geschaffenen Artefakte gehören für ein
Fische gehen an Land
derart virtuell verfasstes Wesen zum festen Programm. Der Soziologe Niklas Luhmann geht
(ca. 365 Mio. Jahre)
noch einen Schritt weiter und sieht überhaupt keinen Menschen mehr, sondern bloß noch Systeme von Nervenzellen, Systeme von Gedanken und Systeme von Kommunikation, die ohne erkennbares Ziel mit sich selbst beschäftigt sind. Eine Entwicklung findet nur insofern statt, als dass diese Systeme zunehmend komplexe Formen der Organisation hervorbringen. Gott muss vor seinem Dasein als Schöpfer wohl Verwaltungsbeamter gewesen sein, um sich an einer derart abstrakten Beobachtung erfreuen zu können.
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7. Lichter der Nacht
In seiner Orientierungslosigkeit ist der Mensch vielleicht gar nicht unähnlich jenem Nachtfalter, der ohne erkennbares Motiv um das Licht einer Laterne kreist. Sein bodenverhaftetes Dasein als Raupe hat er hinter sich gelassen, ein Dasein dessen einziger Zweck darin bestand, im Sinnesrausch der Hochzeitsnacht die eigenen Gene zu reproduzieren. Angezogen vom Licht der Erkenntnis hat der Mensch den natürlichen Kreislauf des Lebens durchbrochen, strebend nach Weisheit, ohne dem Urgrund allen Seins auf die Schliche zu kommen. So
Perm-Trias-Massenausster-
schwirrt er umher mit all seinen Irrungen und Wirrungen, die Sterne vor Augen, die sich als
ben, ca. 80 % der Arten
ferne Laternen ohne erkennbaren Bestimmungsgrund entpuppt haben. Die kopernikanische Revolution hat den Menschen aus dem Zentrum des Kosmos
(252 Mio. Jahre)
vertrieben. Die astronautische Revolution macht diese Dezentrierung sinnlich erfahrbar, und zwar nicht nur für Raumfahrer, sondern vermittelt durch das Medium der Fotografie für jedermann. Der Blick aus dem All zurück zur Erde zeigt eine Oase des Lebens, ein sensibles
in Säugetieren beginnt sich
Ökosystem, in dem der Mensch nur eine Lebensform von vielen ist, eine Lebensform aller-
Bewusstsein zu entwickeln
dings, die sich an den vielfältigen Farben und Formen der Natur erfreuen kann. Erst durch seine Fähigkeit, sich als unabhängig von ihr zu erleben, besitzt der Mensch die Gabe, die
(ca. 200 Mio. Jahre)
Natur als schön zu empfinden. Gaia, so viel dürfte feststehen, würde wohl besser ohne den Menschen zurechtkommen. Allerdings gäbe es dann niemanden mehr, der ihre vergängliche Schönheit bewundern könnte. Sie betrachtet sich, so hat es den Anschein, durch unsere Augen selbst.
erste Schmetterlinge (ca. 135 Mio. Jahre)
Aussterben der Dinosaurier und von ca. 75 % der Arten (66 Mio. Jahre)
heutiges Massenaussterben, ca. 25 % der Arten bedroht (0 Jahre) 97
Mä c ht i gePfla nz e ns ä ume ndi eUf e r z o nee i ne s z e a ns ,i nde s s e nWa s s e rs i c hda sLi c hte i ne sa nde r e nPl a ne t e ns pi e ge l t .Di e Sz e ne r i ewi r dvo ne i ne mna he nMo ndb e s c hi e ne n,a mHi mme lda sLe uc ht e nde sSo nne nwi nde s .Fo t o :Be r ndPr ö s c ho l d
7. Lichter der Nacht
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Branchenkenner schätzen den Jahresumsatz für amateurastronomischen Bedarf in Deutschland auf etwa 25 Millionen Euro. Dies entspricht weniger als einem Hunderttausendstel der deutschen Wirtschaftsleistung. Zum Vergleich: Im Orgelbau werden deutschlandweit etwa 100 Millionen Euro pro Jahr umgesetzt, also immerhin das Vierfache. 2 Systeme operieren unabhängig vom intentionalen Handeln einzelner Akteure. Wir deuten das Verschwinden der Nacht also nicht verschwörungs-, sondern systemtheoretisch. 3 Einer Untersuchung des italienischen Forschers Fabio Falchi zufolge ist direkte Einstrahlung von Licht in die Atmosphäre für 50–90 Prozent der Lichtverschmutzung verantwortlich und ließe sich durch bessere Abschirmung von Leuchten vermeiden (vgl. Falchi 2011, S.44ff). Ein kleinerer Teil der Lichtverschmutzung entsteht unvermeidbar durch Rückstrahlung des Lichtes vom Boden. 4 Vgl. Gallaway 2009. 5 Schweizer Bundesamt für Umwelt 2021, S.67. Das Schweizer Bundesamt bezieht sich auf Zahlen aus dem Jahr 2000. Dem Lichtverschmutzungsexperten Andreas Hänel zufolge ist die Zahl der verendeten Insekten wohl etwas niedriger anzusetzen, unter anderem weil es inzwischen nicht mehr so viele Insekten gibt. 6 Vorschriften zur Eindämmung schädlicher Lichtemissionen existieren seit längerem, konnten die stetige Zunahme des Lichtmülls aber bislang nicht eindämmen. Der jüngst überarbeitete Paragraf 41a des Bundesnaturschutzgesetzes schreibt vor, dass Tiere und Pflanzen wild lebender Arten vor nachteiligen Auswirkungen durch neu errichtete und wesentlich geänderte Beleuchtungen zu schützen sind. Ob die Gesetzesnovelle zu einer Trendumkehr führen wird, bleibt abzuwarten.
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