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German Pages 302 [304] Year 1955
ARNOLD METZGER
FREIHEIT UND TOD
„ I C H HABE MICH SELBST G E S U C H T " (Heraklit, Β
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MAX NIEMEYER VERLAG · TÜBINGEN
Alle Rcchte vorbehalten Printed in Germany Druck und Sa(2: Allgäuer Heimatverlag G m b H . , Kempten I Allgäu
ILSE M E T Z G E R zugeeignet
INHALT Seite
Vorwort
IX Erstes Kapitel Einleitende Betrachtungen über den Tod
§ 1. Tod als Grenze und Maßstab
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§ 2. Wir sind des Sterbens inne § 3. Der Doppelsinn des Sterbens § 4. Das Altern
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Zweites Kapitel Die Antwort auf den Tod. Der Gegenzug (Studien über Wahrnehmung, Erinnerung [Hoffnung] und den Seinsbegriff) Einleitung § 5. Wahrnehmung als Wille zur Dauer § 6. Über Identifizierung und Iterierung § 7. Über Assoziation § 8. Die Exzentrizität der Wahrnehmung § 9. Exkurs über den Begriff des Gegenzugs (Anmerkung zur Theorie der Wahrnehmung) a) Die Macht der Gegenwart. Der horror vacui . . b) Die Intentionalität zu dem Einen Gegenstand... c) Gegenzug und Gegenstand
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§ 1 0 . Die Exzentrizität des Gegenstandes a) Das Offenbare und das Verschlossene b) Sein und Seins Verständnis c) Seiendes und Sein
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Drittes Kapitel Zur Geschichte der Seinsidee oder des Permanenten Einleitung § 11. Das Permanente in der platonischen Erörterung. . § 12. Kant's Entdeckung des Subjekts (Über Kant's Lehre von der transzendentalen Apperzeption als Illustration für die Exzentrizität des Permanenten) § 13. Kommentar zu Kant's Entdeckung a) „Der Grund der Möglichkeit" b) Die reale und die irreale Wirklichkeit c) Die Kategorie der „Einheit in der Mannigfaltigkeit" und die Kategorie der Ordnung in dem neueren Wissenschaftsbegriff. Die Zerstörung der traditionellen Substanzenmetaphysik § 1 4 . Der Dialog Kant-Hume a) Freiheit und Ordnung (Erste Stufe der Betrachtung des Begriffs des freien Willens) b) Freiheit und Empirie
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Viertes Kapitel Die Freiheit und der Tod § 15. Das Problem 148 § 1 6 . Studien über das Sterben und den Tod Vorbemerkung I. Existieren. Essenz und Existenz 159 Vorbemerkung II. Der Tod bei Platon als Ausgangspunkt der Untersuchung. Todeserinnerung 163 VI
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a) Untersuchungen über das Sterben α) Typen des Sterbens. Mors corporis - mors animae ß) Der metaphysische Sinn des Sterbens. Materie als die Grenze des Lebens γ) Die Transzendenz des menschlichen Sterbens Exkurs: Über Symbolik b) Untersuchungen über den Tod α) Die Unanschaulichkeit des Todes. Der Tod als das Transzendente ß) Der Tod und die Zeit γ) Das „Nichts" des Todes. Die drei Typen des Nichts
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182 187 188
17. Der Tod und die Freiheit (Studien über Todesbegegnung) a) Der Tod als die Vernichtungsmacht des „Alles und Einen" (Unterschiedslosen). Anmerkungen zu HerakJit. Schlußbemerkungen über Todeserinnerung 194 Zusatz: Bemerkungen zu dem Problem der Todesbegegnung in der neueren Existentialmetaphysik 201 b) Die infinite Fülle und die transfinite (transzendente) Leere. Verneinung. Zur Metaphysik der Formalisierung (Form) oder der symbolischen Konstruktion 209 c) Der Tod — das Urbild (Paradigma) der Identität von Sein (Form) und Nichts. Das Sein — das Schema (Bild) des Todes 221 18. Die Mäontologie der Freiheit
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19. Über die Modi der Freiheit a) Über Sehnsucht b) Über den freien Willen (Zweite Stufe der Betrachtung)
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VII
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Seite
Zusatz I :
Die Triebe und der freie Wille. Anmerkung zu Sigmund Freud's Triebund Todeslehre. Die Traumwelt und der Tod 240 Zusatz II : Über den Begriff des freien und des unfreien Willens 256 Zusatz III: Über den freien Willen und das menschliche Martyrium. Metaphysische Anmerkung zum Tode Jesu.. 261 Zusatz IV: Zu dem Problem der Freiheitstypen 265 § 20. Über das Determinismus- und Indeterminismusproblem a) Der Begriff des exakten Kausal276 gesetzes b) Das Kausalgesetz und der freie, 279 denkende Wille § 21. Über das Problem der Wahrheit des Denkens 285
VIII
F R E I H E I T UND
TOD
Nichts ist dieser Arbeit vorausgesetzt als die seiende Welt und die unerschöpfliche Fülle ihrer Vorgänge. Wissenschaften und Philosophie bemühen sich um die Erfassung dieser Welt. Der Gegenstand ist für beide derselbe. Das Interesse, das sie an diesem Gegenstande, dem Seienden, nehmen, ist verschieden. Wissenschaften bilden Methoden aus, Seiendes zu beschreiben, zu systematisieren und aus Prinzipien die Einheit seiner unermeßlichen Fülle abzuleiten. Sie gehen in das Weltmaterial hinein. Wissenschaft ordnet das Mannigfaltige. Sie klassifiziert es zunächst nach den der sinnlichen Anschauung vorliegenden Seinsgebieten. Sie spezialisiert sich. Zuletzt ordnet sie es als die Eine Wissenschaft, die Eine Theorie, Begriffen, Gesetzen oder Symbolen der Einheit zu. Nach dem Realen fragend, ist Wissenschaft der Prozeß der Zuordnung des Mannigfaltigen zur Einheit der Theorie. Das Sein des Seienden ist der Name für das X dieser Zuordnung. Der Prozeß geschieht als die Geschichte des Prozesses — als der infinite, fortschreitende Weg der Ausbildung von „rechten" Methoden, „rechten" Systemen der sich in der zufälligen, nach der Zukunft offenen Mannigfaltigkeit in dem Gegebenen verifizierenden, „rechten" Symbole. Philosophische Reflexion beschäftigt sich mit dem X des Realen. Sie beschäftigt sich mit dem Problem, daß diese Welt als geordnete oder vielmehr zu ordnende Welt da ist — mit dem Problem, daß das Mannigfaltige in der Einheit aufgegeben und dergestalt offenbar wird. Welt ist für die wissenschaftliche Forschung als der durchgehende Zusammenhang des Geschehens immerfort aufgegeben. Wissenschaft, wie der common sense, ist naiv. Philosophie reflektiert auf die Gründe der Möglichkeit der Einheit in dem Mannigfaltigen. Dergestalt ist ihre Frage nach dem Sein, was auch immer die Mannigfaltigkeit der SeinsIX
gebiete sein mag, die Frage nach den Gründen und dem Grunde der Möglichkeit der Zuordnung des Einen zu dem mannigfaltigen anderen — die Frage nach dem „Wesen" des Seins, die, seitdem die Philosophie in der platonischen Reflexion zu dem Bewußtsein ihrer Aufgabe im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Forschung gekommen ist, als die Frage nach dem Grunde der Zuordnung des unerschöpflichen Geschehens zu den Symbolen der Einheit gemeint wird. Dergestalt ist die Frage der Philosophie immer dieselbe. Ihre Geschichte — die Geschichte der Philosophie - tritt sozusagen ständig auf der Stelle. Sie schreitet nicht fort, wie die der Wissenschaften, die es in ihrer Grenzenlosigkeit mit der Fülle des Seienden, mit der Verifizierung ihrer je erworbenen Begriffe und Theorien zu tun hat. Sie geht in die Elemente, d. h. in die Dimensionen oder Implikationen hinein, die in dem Begriffe Sein liegen, darin, daß alles Seiende in der Fülle seiner Gestalten in den es umschließenden und es zur Einheit bringenden Horizont des Seins (X) hineinweist: darin, daß dem Seienden die Beschaffenheit Sein untrennbar zukommt. Sie ist die ewige, d. h. die ewig sich wiederholende, nimmer endende Reflexion, auf die in der „Idee" Sein verborgen umschlossenen, transzendentalen Elemente. In diesem Horizont der Frage nach den Seinselementen stoßen wir auf die Freiheit und den Tod. Die vorliegende Arbeit ist in langen Jahren der Forschung und der Not erwachsen, letztlich aus Untersuchungen, die der Verfasser bereits in „Phänomenologie und Metaphysik" (Niemeyer 1933) angestellt hatte. Das Problem war dort schon formuliert : die Frage nach dem Sein zu erkennen — frei von den mythologischen Deutungen, die dieser Begriff in der Tradition erfahren hat. Die Existentialmetaphysik unserer Tage ist in diesem Lichte zu sehen. Es ist nicht so, daß hier an die Stelle der Metaphysik, der philosophia perennis, eine philosophische Anthropologie oder eine Art von neuem Humanismus getreten sei, als ob das Philosophieren um seine es ewig richtende Frage nach dem Sein des Universums gekommen wäre, in deren Horizont allein von Welt und Sein des Menschen in der Welt gesprochen werden kann. Aber es ist das Entscheidende unseres gegen-
X
wärtigen, geschichtlichen Schicksals, daß das Ewige von der Generation nicht mehr in den alten Formen seiner Hypostasierung gesucht wird und gesucht werden kann, eine Entwicklung der Seinsgeschichte, die sich in der Geschichte der neueren Wissenschaft im Zuge der Gaülei'schen Forschung seit der Zerstörung der traditionellen Metaphysik von Substanzen ankündigt, die in dem Denken von Kant zu Hegel sich ahnend fortsetzte und dann in der neueren Gesellschafts- und Geistesgeschichte seit dem Zusammenbruch des Hegel'schen Absolutismus ihren Fortgang nahm - eine Entwicklung freilich, die auf dem Boden eines empiristisch-positivistischen Jahrhunderts noch nicht verstanden wurde, wenn dieses an die Stelle der Hypostasierung des Seins (des Zeitlosen, Bleibenden, Übersinnlichen) den ebenso hypostasierenden Absolutismus der Tatsachen setzte. Unserer Generation ist es aufgegeben, die ewig menschliche, den Menschen zum Menschen machende Frage nach dem Sein des Seienden erneut zu stellen. Sie sieht sich gegenüber dem die Tatsachen hypostasierenden Positivismus (und Materialismus) wie gegenüber der Verdinglichung des Göttlichen. Wir stehen zwischen dem Verfall des Mythos des Transzendenten und dem Verfall des Mythos der Absolutheit der Tatsachen. Nichts ist für die Seinsgeschichte des Menschen und demgemäß für die Philosophie, die der reflektierend-metaphysische Ausdruck dieser Geschichte ist, mehr entscheidend als die im Inneren dieser Geschichte sich vollziehende Verwandlung des Menschen- und Weltbegriffs unserer Zeit - eine Verwandlung, hinter der sich in der empirischen Vielgestaltung ihrer Kundgebungen verbirgt, daß wir in der Frage nach der Neuoffenbarung des Ewigen im Universum wieder auf dem Wege sind. Es ist diese Frage, in deren Lichte die folgenden Analysen über den Tod, das Sein und die Freiheit ihren geschichtlichen Ort haben. — Das erste Kapitel möge als eine Art Auftakt zu den Betrachtungen verstanden werden. Die eigentlichen Analysen beginnen mit dem zweiten Kapitel. Der Autor appelliert an die Geduld des Lesers, wenn dieselben Probleme in verschiedenen Kapiteln wiederholt zur Behandlung kommen. Es hängt mit der XI
Eigenart philosophischer Arbeit zusammen, daß dasselbe in verschiedenen Dimensionen der Reflexion wiederkehrt. Der Leser möge entschuldigen, wenn einige Zitate vielleicht nach Seitenzahl und Wortlaut nicht genau stimmen. Infolge des noch unfertigen Zustandes unserer Bibliotheken war es dem Verfasser oft nicht möglich, alles noch einmal nachzuprüfen. Griechische Zitate wurden, wo es nötig war, in griechischen, sonst in lateinischen Buchstaben gegeben. München, Weihnachten 1954.
XII
ERSTES KAPITEL
EINLEITENDE BETRACHTUNGEN ÜBER DEN T O D
§ 1 T O D ALS G R E N Z E UND MASSTAB
Der Tod ist der Bezirk, in dem das Sein und das nicht-mehrSein zusammentreffen. Leben ist gewesen. Die Gestalt geht über in die Ungestalt. Das Gewesene zerfällt. Es ist das Eigentümliche dieses Bezirks, daß er die Grenze des Lebens ist in einem doppelten Sinne: das Leben kommt durch den Tod zu seinem Abschluß, aber es erhält durch den Abschluß zugleich seine Bestimmung. Der Tod determiniert; er setzt dem Leben die Grenze und, Grenze setzend, gibt er ihm Maß. Der Tod bestimmt das Leben. Die Grenze ist der Maßstab der Bestimmung. Was macht die Grenze zum Maßstab ? Wir messen das Leben an dem Tode, denn wir erkennen im Tode das Leben als Ganzes. Der Tod gibt die Maßeinheit, an der wir das Leben, es in seiner Ganzheit antizipierend, messen. Die Tatsache, daß im Tode das Ganze des Geschehens, das wir Leben nennen, als Abgeschlossenes und Definitives erscheint, macht ihn, das Abschließende, zur Maßeinheit, zum Definierenden des Lebens. Das Leben wird durch den Tod zum Definiendum. Am Ende wird es begriffen. In seinem Tode erkennen wir das Leben als Ganzes. Wir antizipieren es als Ganzes. Der Tod gibt dem Leben seinen Begriff oder sein Wesen. Im Sterben erkennen wir, was das Leben ist. Wir erkennen seine Essenz. Denn das, was ist, die Essenz oder das Wesen, hat Bezug hier, wie grundsätzlich, auf das abgelaufene Ganze des Geschehens. Der Ort oder der Augenblick, in dem das Ganze in das antizipierend rückschauende Auge tritt, ist zugleich der Ort der Wahrheit des Lebens. Das Ganze ist das Wahre. 2
Da, wo wir das Leben, über seine Partikularität und jeweiligen zufälligen Aktualitäten hinausgreifend, als Ganzes, das in der Grenze erscheint, antizipieren, erscheint es in seinem Wesen. Das ist das Eigentümliche: das Leben offenbart sich in der Ganzheit seines Wesens da, wo es in den Tod versinkt. An der Grenze des Versinkens in das nicht-mehr-Sein erfassen wir das Sein. Was gibt dem letzten Augenblick die Helle?
§ 2 W I R SIND DES STERBENS
INNE
Wir sterben. Aber wir sterben nicht nur. Wir sind des Sterbens inne. Menschliches Existieren ist nicht nur Existieren. Es ist aktuelles oder potentielles Innesein: inneres Bewußtsein des Existierens. Und so geartet ist das Innesein unseres Existierens, daß es, bewußt oder unbewußt, hinausgreift über die jeweilige Aktualität, die jeweiligen Inhalte des Existierens. Und nicht nur dies : wir greifen hinaus zur letzten Grenze — zur Grenzmöglichkeit des Existierens. Wir verstehen uns immer von der Grenze her. Unserer inneseiend, sind wir immer über uns hinweg. Die letzte Ferne, der letzte Blick gehört zum inneren Horizont der ihrer selbst inneseienden Existenz. Wir wissen von dem Sterben als unserem Ende. Wir wissen es antizipatorisch. Aber diese Antizipation des Endes läuft gleichzeitig zurück, und zwar so, daß sie determinierend mitgegeben ist in dem jeweiligen Innesein des jeweiligen Existierens. Alle Begebenheiten des Lebens (Existenz) erhalten im Innesein des Sterbens das Vorzeichen des Ganzen (der Wahrheit), oder besser: alle seine Begebenheiten bleiben kontingentes, empirisches, statistisches Material ohne die Antizipation auf die Grenze, den Tod. Wir leiden, wir erinnern, wir erwarten, wir gehen von Station zu Station. Den Jugenderlebnissen folgen 3
Manneserlebnisse, Altersreife. Wir bleiben im einzelnen, wir bleiben im Material. Des Endes antizipatorisch inneseiend, wissen wir das Ganze. Was wir gewöhnlich „Lebenserfahrung" nennen, ist nicht Wissen. Erfahrungen vom Jugendalter, Mannesalter und Greisenalter sammelnd, wissen wir nicht. Wissen, sagten die Alten, ist Erinnerung. Das ist nur ein anderer Ausdruck für die Urkorrelation von Wissen und Grenzbewußtsein. Um zu wissen, bedarf es, daß wir den Stand nehmen am Ende des Geschehens, „hinter der Zeit". Das gilt für jedes Wissen. Jedes wissenschaftliche Begreifen nimmt antizipatorisch das Ende des Geschehens vorweg. Das Geschehen als Ganzes, aktuelles und mögliches Geschehen, wird so prädikabel, d. i. es wird unter die Kategorie der Einheit der Gesetzgebung gestellt. Und wie es für das physikalisch-mathematische Begreifen gilt, daß es immer dem aktuellen Geschehen voraus ist und sich auf die Möglichkeit des Geschehens „voraussagend" bezieht, so gilt von unserem Leben : was es wirklich ist, ist das, was es in seiner Möglichkeit ist, der letzten Möglichkeit, die wir erfahren in seiner Grenze. Wissen ist Grenzbewußtsein. Im Sterben erinnern wir das Leben. Daher sehnt sich Sokrates nach dem Tode. Er sehnt sich nach „ungetrübtem" Wissen. Im Sterben emanzipiert er sich von der Partikularität, der Macht der zerstreuten Empirie, der Macht der Stationen. Das Sterben ist ihm der Weg zur Wahrheit des Ganzen. Existenz ist ihrer selbst inne: wir leben nicht nur zu der Grenze hin, wir leben von ihr her. Wir leben erwartend zu der Grenze hin und leben in der Erwartung erinnernd von der Grenze her. Weil zu Existenz als menschlicher das Innesein ihrer selbst gehört und dieses Innesein als seine äußerste Möglichkeit das Ende miteinbeschließt, ist unser ganzes Leben erinnerndes Wissen von dem Ende her. Unsere Erinnerungen übersteigen eine die andere. In ihrer letzten Möglichkeit sind sie, wie die große Einsicht des „Phaidon" lautet, „angesichts des Todes" Erinnerungen vom Ende her. Ebenso greifen unsere Erwartungen über das nächst und übernächst Liegende hinaus. Wir greifen immer in das Letzte. Wir stehen immer im Ende. Existenz als solche steht immer, ob wir es wissen oder nicht, 4
in dem ihre Aktualität übergreifenden, eschatologischen Horizont. Wir leben vom Todeswissen her, und so wird das Gewesene und das Zukünftige unseres empirischen Lebens wesentlich. Leben wird wesentlich: es weiß (was keineswegs identisch ist mit explizitem Wissen) aus der Grenze her, daß es „mehr" ist als bloße Sukzession, „mehr" ist als das Beisammensein und der Inbegriff seiner Inhalte und Akzidenzen. Das Ende verwandelt. Verwandlung durch das Ende oder die Grenze des Geschehens konstituiert die Vereinigung dieses Geschehens. Todeswissen vereinsamt. Aber vereinsamend sammelt es. Es sammelt den Lebensinhalt zum Einen. Es entleert das Leben von dem Versinken in seine Inhalte: das zerstreute Mannigfaltige, die Zufälle, die Tatsachen. In der Antizipation der letzten Möglichkeit konfrontieren wir das Variable der Lebensinhalte mit der stehenden, invariablen und notwendigen Möglichkeit. Im Tode erscheint die stehende, invariable und notwendige Möglichkeit des Lebens, aber so, daß das Invariable, der Tod, in unser aktuelles, von dem Alltäglichen bedrängtes, aufgezehrtes Dasein, in das Variable unseres Leidens und Tuns, hineingreift, es formt und prägt. In jedem Augenblick unseres Daseins fragen wir, seine Ganzheit immer vorwegnehmend: „Was ist das Leben?", und diese Frage gehört mit zu dem Horizont des je augenblicklichen und mannigfaltigen Existierens. Unser zeitliches Leben in seiner Unbefriedigtheit, seinem Verlangen, seiner Melancholie, ja in dem höchsten Punkte seiner Vollendung und seines Friedens, trägt, vorweisend und rückweisend, den Horizont und die Last der Ganzheit mit sich, man könnte sagen : den Gehorsam für die letzte, es über seinen augenblicklichen Stand hinaustreibende Möglichkeit. Es steht immer vor dem Ganzen. Zu seinem Wesen gehört, wie auch immer sie sich äußern mag, sehnsüchtige Intentionalität. Das heißt: wir bleiben nicht stehen bei dem, was wir tun oder leiden oder lieben oder erkennen. Wir leben exzentrisch in das hinaus, was wir nicht in actu sind. Wir sind ständig über uns hinweg, ständig transzendierend, ständig in Sehnsucht nach dem Ganzen verlangend. Wir verstehen uns in dem, was wir sind, aus dem, wohin wir verlangen. 5
Wir verstehen uns vom Tode her, ständig im bewußten oder unbewußten antizipatorischen Rückblick von ihm her auf die unser Leben übersteigende Idee des Ganzen. Existenz wird ihrer inne von ihrem sie ständig bedrohenden, zuletzt sie durchbrechenden und sie vernichtenden Ende her, auf das hin wir dem aktuellen, wahrgenommenen Geschehen seine Orientierung geben. Existenz wird antizipatorisch gewußt. In der Antizipation der Sterbestunde, wenn das Leben in das Dunkel starrt, leuchtet es in seinem reinen Licht. Der antizipatorische Glanz — der Glanz in der Situation der Grenze des Daseins — ist der hellste. Es ist der Glanz des Ganzen — des Seins als Ganzen des Seienden —, der in der Grenze des versinkenden Lebens liegt.
§ 3 D E R DOPPELSINN DES STERBENS
Wir sterben vom Beginn unseres Lebens an. In unserer Geburt liegt bereits der Tod. Der Tod ist die Krankheit des in-das-Leben-Tretens. Wir kranken an ihm. Das heißt: der Tod ist nicht dunkles Schicksal, das in das Leben als Fremdes von außen eindringt und es vernichtet. Der Knochenmann, der das Aufhören des Seins bestimmt, ist nicht das rechte Paradigma des Todes. So mechanisch geht es im Leben nicht zu, daß uns an einer bestimmten Stelle der Tod zu-fällt. Tod ist nicht zu-Fall. Leben ist von Anfang an unzertrennlich mit dem Tode verknüpft. Er ist die Krankheit, das kranke Wesen, das im Innesein des Lebens als sterbenden Lebens liegt. Tod ist nicht wie die antike Moira, die an den Menschen von außen herantritt. Das Leben erhält sein Wesen dadurch, daß der Tod in es hineingenommen ist. Heidegger sagt, daß das Leben „in den Tod hineinsteht". Aber ebenso: der Tod steht in das Leben hinein. Er prägt seine Triebe, seine Lüste, das Ganze seines emotionellintellektuellen Daseins. Das vorlaufend-rücklaufende Wissen 6
vom Sterben reicht in die Zerstreuung des Lebens hinein und richtet es auf Ganzheit und Einheit. Bevor der Tod, das einmalige Ereignis, da ist, ist er bereits gegenwärtig. Der Tod lebt zu uns her. Wir sterben zu dem Tode hin. Oder vielmehr, wir können den Ausdruck: „Wir leben zu dem Tode hin" nur verstehen, wenn wir mitbegreifen, daß das Leben, das im Tode endet, in sich in jedem seiner Augenblicke sterbendes Leben ist. Der Tod ist ständig vorweggenommen. Wir leben sterbend, und sterbend leben wir. Schelling spricht in diesem Zusammenhang (in seiner Freiheitsuntersuchung von 1809) von dem „Schmerz, der auf dem Antlitz der ganzen Natur liegt: dem Schmerz des Seins im Nichtsein, des Nichtseins im Sein". Das ist ein anderer Ausdruck für das Faktum, daß der Tod zu uns herlebt, oder anders gesprochen: Existenz ist vom Tode her der Ganzheit ihres Existierens inne. „Existieren ist auf den Tod angelegt" (Georg Simmel). Genauer gesagt: indem wir unseres Existierens inne sind, ist der Tod bereits da. Unser Leben wird vom Tode nicht verlassen. Wir sagen: das Leben zerrinnt unter den Händen. Wir sprechen vom Leben in der Zeit und meinen dies in dem Sinne, daß wir der Zeit ausgeliefert sind. Wir werden vom Vergehen und Verlassen aufgezehrt. Wir sind dem Vergehen, dem Werden, dem Prozeß, in dem sich Geburt und Tod verschlingen, ausgeliefert. Der Tod oder das Fremde durchzieht das Leben, und : das Leben ist in der Zeit, bedeutet dasselbe - der Zeit, von der die Alten sagten, daß sie, der Vater Chronos, ihre eigenen Kinder verschlingt. Was besagt es näher, in phänomenologischer Konkretion, daß der Tod sich von Anfang an in der Existenz ankündigt? Was besagt: wir leben sterbend? Der Tod determiniert das Leben, nicht nur organisch, daß wir dem Untergang zustreben, sondern dergestalt, daß das Leben selbst in sich ständig untergeht. Es hört ständig, in jedem Augenblick, auf. Gegenwart bricht ständig ein, um in dem Augenblick, in dem sie ist, nicht mehr zu sein. Wir leben nicht mehr lebend. Es ist sterbende Gegenwart, die das Leben kontinuierlich begleitet. Leben ist sterbende Gegenwart, aber derart, daß dieses kontinuierliche Begleiten des Lebens durch den Tod am Ende 7
selbst seinen Tod findet. Der lebendige Tod hört auf, und: das Leben hört auf, bedeutet ein und dasselbe. Der Tod determiniert so zweifach das Leben. Wir sagen: Leben dauert. Es erstreckt sich über die Zeit. Es setzt sich über die Gegenwart fort und setzt das Vergangene in die Zukunft hinein. Aber in diesen Vergangenes und Zukünftiges fließend verbindenden Prozeß bricht das Jetzt ständig ein : das sterbende Jetzt, der verwesende Augenblick. Wir sterben ständig, aber sterbend stehen wir auf, und, was wir das lebendige Kontinuum nennen, das Kontinuum der Zeit, ist in Wahrheit das Kontinuum von Tod und Auferstehung, derart, daß das auferstehende Leben sich dessen erinnert, was es vor dem Sterben gewesen ist, und erwartend und hoffend in die zukünftige Dauer hineinschreitet. Die Zeit ist, ursprünglich gesehen — und jede Analyse der Zeit hat hier ihren Anfang — das dialektische Ineinander von Tod und Auferstehung. Die Auferstehung selbst ist pures Jetzt. An ihr klebt der Tod. Leben steht auf und stirbt. Aber Auferstehung ist doch mehr als das pure Jetzt, Jetzt ist erinnernd und hoffend. Es ist der Horizont der Erinnerung und Hoffnung, der, in beiden Richtungen der Zeit in das Unendliche führend, mit der sterbenden Auferstehung mitversinkt und sich mit dem auferstehenden Jetzt miterhebt. Es ist, als ob das Jetzt, mit Aristoteles zu sprechen, an dem Universum „hinge", dem Universum der Zeit — eine dauernde involutio praeteritorum et futurorum (Chr. Wolf). Dauernd verschlingt der Tod das Jetzt. Dauernd klebt an dem Jetzt das nicht-Mehr. Aber ebenso klebt an dem nichtMehr der Horizont ewiger Wiederkunft. Aber Wiederkunft ist mehr als Wiederkommen, mehr als wiederkommendes Jetzt. Sie ist erinnernd und hoffend. Jedes Jetzt steht im Zeithorizont. Dieser Horizont gehört zu ihm im Innesein seiner. Was gestorben ist, ist nicht vergessen. Es lebt wieder und wieder in den Modifikationen der Wiedererinnerung und lebt über seine Erinnerung hinaus, sozusagen die Hoffnung auf sein Wiederkommen mit in seinen Tod hinunterziehend. Aber einmal kommt das Ende. Das Jetzt erstarrt. Das Urbild des Todes ist das erstarrte Jetzt. Es ist die Erstarrung, die in dem verwesenden Jetzt des Lebens sich dauernd ankündigt. 8
Am Ende wird das Jetzt von der Verwesung überkommen. Am Ende steht unüberholbares Vergessen. Vergessenheit meint eine Qualität (Beschaffenheit) des Jetzt: das Jetzt ohne die Dimension der Erinnerung und Hoffnung, oder das Jetzt, das nicht mehr seiner selbst inne ist. Die Toten sind ohne Erinnerung und Hoffnung. Sie sind aus dem Universum der erinnernd-hoffenden Zeit herausgeworfen. Das Jetzt steht in der Isolation — die erstarrte, aus dem Kontinuum der Auferstehung entlassene Partikularität, der heimatlose Augenblick. Wir könnten auch sagen : die Zeit wird im Tode zum Raum. Einmal geht der Fluß, in den wir niemals zweimal steigen, in das erstarrte Eis über. Das Leben steht still. Das Jetzt ist fest geworden. Das Jetzt dehnt sich aus. Die Zeit wird zum Raum. Im Tode wird die Zeit zum Raum oder zur Raumzeit. Der Raum ist das Jetzt ohne die Wiederholung der Auferstehung : das endlos ausgedehnte, erinnerungslose und hoffnungslose Jetzt, die Sphäre bloßen Geschehens, der Tatsachen, endloser Vergessenheit. Der Gegensatz zum Leben, sagt Piaton im „Phaidon", ist Vergessenheit. Die Toten sind ohne Erinnerung. Im „Gorgias" werden Vergessenheit — Triebe — Tod in Zusammenhang gebracht. Der Tod, das ist die Existenz, die ihrer selbst nicht mehr inne ist, Existenz ohne Erinnerung und Hoffnung und ohne den intentionalen Gegenstand dieser beiden Weisen sehnsüchtigen Inneseins: das Ganze und Eine. Tod, das ist der Stillstand der über das versinkende Jetzt hinausweisenden Intentionalität. Die Toten wiederholen nicht „den Preis des Herrn". „Denn die Hölle lobet dich nicht; so rühmet dich der Tod nicht; und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Wahrheit" (Jes. 38, 18).
Wenn wir von Desintegration der Existenz sprechen, so meinen wir: Existenz kommt um ihr Innesein. Der Augenblick wird ohne Sprache. Die Sinne werden stumm. Nicht daß die Augen erblinden und die Ohren nicht mehr hören, ist das Wesentliche des Dahinsterbens, sondern daß wir vergessen. Existenz wird aus der Synthesis des Ganzen gerissen, welche sich dem lebendigen Jetzt dauernd verbindet. Leben ist Kon9
tinuum dieser Synthesis, dauernder Syndesmos, dauernd in Erinnerung, Erwartung und Hoffnung zusammenschließende Verbindung des Versinkenden, dauerndes Innesein des Ganzen — sterbende Gegenwart verwandelnd bewahrende Einheit. Leben ist der Gegenzug gegen Vergessenheit. Es ist der Gegensatz von Erinnerung und Vergessenheit, der hinter dem Gegensatz von Leben und Tod steht und den wir überall in der Philosophie antreffen, wo dieser Gegensatz verstanden worden ist — ein Gegensatz, der in der Existenz wurzelt, insofern sie ihrer selbst als sterbender inne ist.
§ 4 DAS
ALTERN
Im letzten Jetzt steht erinnert das Ganze. Es gibt eine Geschichte der Erinnerung. In jedem neuen Jetzt ist das unmittelbar Vergangene deutlicher. Das weiter Zurückliegende ist undeutlicher, vager, wird mehr und mehr verschwommen. Zuletzt bleibt ein grauer, aber nie leerer Horizont, „ein Märchen aus uralten Zeiten". Aber das „Wesentliche", sagen wir, bleibt länger als das „Unwesentliche", welche konkreten Inhalte auch immer in die graduellen Abstufungen, d. h. Klarheitsfüllen (Evidenzen), der Erinnerung eingehen. Das Jetzt in seinen Erfahrungen, seiner gelebten und gefüllten Aktualität modifiziert das, was festgehalten wird. Jede Erinnerung (und damit auch das, was erinnert wird) ist mit jedem neuen Jetzt in sich modifiziert. Was das Alter von der Kindheit, der Jugend, dem Mannestum an „Wesentlichem" festhält, wird von dem modifiziert, was es augenblicklich „durchmacht". In der Vereinsamung bleiben die alten Freunde ; der Glanz der Vereinsamung bestrahlt die Kindheit und Jugend. Gewisse Inhalte der Kindheit und der Jugend werden herausgehoben. Sie strahlen zurück in die Vereinsamung. Zuletzt modifiziert das Todeswissen das Vergangene grund10
sätzlich. Das Ganze entleert sich von den Akzidenzen. „Angesichts des Todes" erinnern wir das Allgemeine. Die letzten Quartette Beethoven's verlieren an Kolorit, an Frohlocken der Töne und der Harmonien, an sinnlichem Reichtum, was sie an Symbolik gewinnen. Sie werden symbola, Zeichen, in dem Sinne, wie die späten SelbstbildnisseRembrandt's unkörperlicher, transzendenter, sozusagen absehend von der Zufälligkeit der Farbe und Gestalt, Farbe und Gestalt gewissermaßen sprengend, nur noch verteiltes Licht und verteilter Schatten sind. Und selbst diese abstrahierende Verteilung ist, wie die Verteilung der Töne in der Alterskomposition, nur noch als Zeichen des „Unsichtbaren", das in ihnen erscheint, gemeint. Kunst wird angesichts des Todes zur Meditation. Erinnerung wird zur Meditation. Piaton in seinem letzten Vortrage spricht über das Gute. Das Gute meinend, spricht er von der abstrakten Eins und den Formen (Ideen) als ihren Symbolen. Die Erinnerung hat ihre Geschichte. Sie altert. Zuletzt spricht sie vom Allgemeinen. An dem einzelnen, das wir zuletzt erinnern, haftet der Charakter dessen, was sich in dem zurückliegenden Ganzen des gelebten mannigfaltigen Lebens durchgehalten hat und in der Hoflnung des um sein nahes Sterben Wissenden als ewig Bleibendes gemeint wird. Durch das Einzelne scheint das Allgemeine, durch das Variable das Invariable. „Mehr Licht" ist, der Überlieferung gemäß, das letzte vernehmbare Wort Goethe's. Es ist nicht die konkrete Erleuchtung des Sterbezimmers, was er nur meint. In dem konkreten Licht meint er „das" Licht. Aus diesem Zusammenhange der Erinnerung im letzten Jetzt her, dem Jetzt, das in den Abgrund des Todes schaut, müssen wir den Begriff der Anamnese verstehen, über den Sokrates in der Todeszelle spricht. Die jungen Schüler, den vereinsamten Greis kaum begreifend, wagen auf seine Ermahnung hin nicht mehr, ihn an seine „konkrete" Pflicht, die Flucht, zu erinnern. Das klagende Weib und die Kinder werden von ihm aus der Todeszelle verwiesen. Das Gefängnis wird transparent. Das Weinen der Jünger hört auf. Der Glanz des unsterblich-Allgemeinen liegt über dem Sterbenden : Sokrates spricht über das Invariable, über das, was das Mannigfaltige durchhält, es zu 11
„Einem" zusammenbindet. Der Sterbende, heißt es, steht vor Gott. Neben dem Todesschrei Jesu: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" steht sein: „In deine Hände, Vater, empfehle ich meinen Geist". Neben seiner Todesangst, der Angst vor dem Abgerissenwerden von dem Ganzen, steht seine Gewißheit des Ganzen, die Seinsgewißheit : die Gewißheit der ihn mit dem ewigen „Vater" einigenden Verbindung. Wir müssen die christliche und die sokratische Erfahrung von dem „letzten Jetzt" in die alltägliche Erfahrung hineinnehmen. Vom Standort der alltäglichen Erfahrung müssen wir den Phänomenen, die hier aufbrechen, den Puls fühlen. Alle Erlebnisse gehören der Zeit an. Sie gehören der in dem Kontinuum von Erinnerung und Erwartung verbundenen Erlebniswelt an, einer Welt, in der nicht nur die Erlebnisse enthalten, sondern ebenso die von den Erlebnissen getrennten, aber intentional gemeinten, erinnerten und gehofften Gegenstände mitenthalten sind. Leben ist Kontinuum, ein dreidimensionales, Vergangenheit und Zukunft in der fließenden Gegenwart fließend verwandelndes Kontinuum. Es gibt keine leere Hoffnung oder leere Erwartung oder leere Enttäuschung. Was auch immer eintritt, erhofft oder enttäuschend, gewollt oder widerständig, es tritt ein und schaltet sich in die Kette der Zeit. Was auch immer eintritt, Gegenwärtiges, Schicksal, ist das das Kontinuum des Ganzen durchbrechende Einzelne, Abgelöste, aber darüber bauen sich Erinnerung, Erwartung und Hoffnung. Sie richten sich über dem Grabe der Gegenwart auf und nehmen sie in das Ganze hinein. Das Verschiedene bildet eine Kontinuität in sich. Leben macht keine Sprünge. Wir knüpfen immer an Gewesenes an. In jedem Produzieren (Jetzt) steckt Reproduzieren (Gewesenes, Zukünftiges, freie phantasierte Möglichkeit). In jeder leibhaft machenden Gegenwärtigung steckt reproduzierende Vergegenwärtigung. Neues begegnet^ Unvorhergesehenes begegnet, aber das Geschehnis aufnehmend, sind wir auf Erwartetes gerichtet, und die zurückgelegten Spuren des Erlebten sind mitgegeben. So ist alle Erwartung, in die wir hineinleben, motivierte Erwartung. Alle Hoffnung, die kleinste bis zur letzten Utopie, ist in den vergangenen Erfahrungen, Erfüllungen oder Ent12
täuschungen motivierte Hofïhung. Zuletzt führen alle Erinnerungen, Erwartungen, Hoffnungen, Phantasien, alle reproduzierenden Vergegenwärtigungen auf die Urquelle des Lebens: die sinnliche Wahrnehmung. Erinnerungen und Erwartungen, die freiesten phantasierten Schöpfungen sind Reproduktionen, gebunden oder freischöpferisch, dessen, was einmal dem Jetzt leibhaft vor Augen gestanden hat. Leben macht keine Sprünge. Wir knüpfen an gewesene Wahrnehmungen an und jede gewesene Wahrnehmung an die vorhergehende in infinitum. Im letzten Jetzt ist Erinnerung an Frühestes lebendig. In der Hoffnung auf das kommende Reich lebt die Erinnerung an früheste Kindheit. Die Hoffnung auf das kommende Reich ist die Wiederholung des Paradieses. Das Letzte, was wir hoffen oder auch fürchten, von dem wir uns mit Schrecken abwenden oder dem wir uns liebend zuwenden, ist angelegt in der frühesten Erfahrung. Daher ist der utopische Gegenstand der Hoffnung identisch mit dem Gegenstande frühester Erinnerung: in dem Reiche der Seligen steht das nach unsäglichem Leben und Leiden gebrochene Kinderreich wieder auf. Die Todesangst ist die Wiederholung des Geburtsschreis. Wir tragen das Vergangene durch alle Gebrochenheit der Existenz mit uns. Wir wechseln ständig unsere Lebensinhalte. Aber mitgegeben, der Jugend in verschiedener Weise wie dem Mannesalter, dem Mannesalter in verschiedener Weise wie dem Greisenalter — mitgegeben ist jedem lebendigen Jetzt der ganze bewußte, unbewußte oder unterbewußte Horizont dessen, was von Kindheit, Elternhaus, Schule, von Traditionen der Gruppen bewahrt ist. Jedes Jetzt ist belastet, jede Hoffnung ist von der Erinnerung belastete Hoffnung. Das Belastende ist bewahrt in unseren Entscheidungen, in dem, was wir hoffen, und in dem, gegen das wir uns rebellisch wenden. Revolutionen, auch in ihrer höchsten Radikalität — „in ihrem Bruch mit der Vergangenheit" - sind Evolutionen der Vergangenheit. In jeder Wendung gegen die gewordene geschichtliche Gestalt liegt der Prozeß der Auflösung derselben, dergestalt, daß aus dem, was und wie wir auflösen, aus dem, wogegen und wie sich Jugend auflehnt, der revolutionäre Wille schöpft. In den Proklamationen des 13
französischen Jakobinismus lebt der bekämpfte Feudalismus verwandelt fort. Die Parolen der liberté, égalité, fraternité meinen nichts jenseits der Aufhebung der Privilegien des Kirchenund Landadels. Der Appell an die Gleichheit „von allem, was Menschenantlitz trägt", an die allgemeine Vernunft, meint nichts als die Aufhebung der politischen Privilegien — von Locke bis Montesquieu und Rousseau. Aber in dem kommunistischen Manifest von 1848 leben die ökonomischen, in der französischen Revolution noch nicht erlebten Privilegien der befreiten Bürgerklasse — die mit neuen Erinnerungen belastete, nach Freiheit verlangende Kontinuität. In alledem weiß Leben von dem kommenden Tode. Der Tod, bevor er kommt, ist bereits gegenwärtig. Er ist nicht nur gegenwärtig im antizipatorischen Wissen. Er ist leibhaft da als die in das Lebenskontinuum kontinuierlich eingreifende und zugleich den Grund seiner Ganzheit legende Macht. Das Wissen von dem: „das Leben hört auf", offenbart sich in seiner Mächtigkeit durch alle Lebensalter hindurch. Etwas erlebend, in den Geschehnissen aufgehend, sie bewältigend, organisierend, meisternd oder nicht meisternd, wissen wir, bewußt, unbewußt oder unterbewußt, daß wir sterben. Und dieses Wissen ist nicht nur ein antizipatorisches Wissen vom Tode. Es geht in sich, wie jede Arbeit, jeder Genuß, dem Tode entgegen. Erinnernd und hoffend gehen wir in der Lebensaktivität dem Tode entgegen. Wir altern. Und dieses Altern ist nicht äußeres Schicksal, sondern die Möglichkeit des Absterbens gehört notwendigerweise zu dem Leben in den Gegenständen. Lebend, d. h. in dem Geschehen aufgehend und es verarbeitend, altern wir. In allem, was wir sind und tun, sind wir vom Ende her bestimmt. „Der Tod wirkt ständig vor" (Georg Simmel). Das Leben würde anders aussehen ohne ihn. Er ist die Essenz des Lebens, nicht nur in dem Sinne, daß wir, das Leben lebend, wissen, daß es aufhört, sondern in dem wesentlicheren Sinne, daß wir immer über das augenblickliche Leben und seine Inhalte hinweg sind. Wir haben nie Zeit. Wir nehmen ständig Abschied. Wir sind ständig auf dem Sprung, ständig in Bewegung. Wir überschreiten immer, was wir haben, nicht nur, weil das, was wir
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haben, in dem Augenblick, in dem wir es haben, stirbt und als Fremdes, Gestorbenes uns entgegentritt, sondern weil wir über das, worin wir leben und womit wir uns abgeben, immer hinaus sind. Leben ist nicht nur das sich in Erinnerung, Erwartung und Hoffnung bewahrende Kontinuum der Zeit. Der Tod rast in diesem Kontinuum. Das Kontinuum altert. Der Tod reicht in den Erlebnisstrom hinein. Er reicht in die einzelnen Erlebnisse hinein. Nicht nur wir altern, sondern jedes Erlebnis (cogitatio) altert und stirbt ab. Wir verbrauchen unser Leben. Leben wird vom Tode verbraucht. Jedes Erlebnis verbraucht sich. Jedes Erlebnis wird vom Altern und Sterben aufgezehrt. In seiner Dauer liegt zugleich sein Verbrauch. Aber es dauert. Es erstreckt sich in der Zeit. Dauernd ist es determiniert durch Gradualitäten der Kindheit, der Jugend, des Alters — Gradualitäten, die unter sich ein Kontinuum alternder Verwandlung bilden. Die alternde Verwandlung ist nicht nur für jedes einzelne Erlebnis charakteristisch, sondern für das Leben selbst, das als Ganzes mehr als das bloß quantitative Aggregat seiner einzelnen Erlebnisinhalte ist. Wir sprechen vom Lebenstriebe. Wir können ebenso von dem den Tod abwehrenden Triebe in jeder cogitatio sprechen. Trieb, das meint: Trachten nach Dauer. Trachten nach Dauer und Trachten gegen das Sterben sind komplementäre Ausdrücke. Der im Leben rasende Tod altert das Leben ebenso, zehrt es auf, wie es gegen ihn den Willen zur Dauer aufruft. Die Geschichte des Willens zur Dauer ist verbunden mit der Geschichte des Alterns. Jugend altert in verschiedener Weise wie das Mannesalter und das Greisenalter. Jugend ist nicht bekümmert um den Tod. Ihr Wille zur Dauer ist der Wille zur Zukunft - Wille in der Hoffnung. Die Hoffnung hat in ihr einen Primat über die Erinnerung. Mit der graduellen Annäherung an den Tod wird die Erinnerung mehr und mehr das Medium des Willens zur Dauer. Kindheit und Jugend, sagt man, haben keine Erinnerung. Alte Völker entwickeln Erinnerung. In jungen Völkern macht der Tod und die Erinnerung noch keine „Epoche". Vielleicht liegt hier der entscheidende Gegensatz, der den amerikanischen Kontinent von Europa trennt.
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Aber wie es auch mit der Verteilung von Hoffnung und Erinnerung in dem Leben des menschlichen Individuums und der menschlichen Gruppen bei der doppelten Weise unseres Alterns und bei den differenten Formen des Willens zur Dauer bestellt sei - der Tod geht in uns um. Wir kämpfen ständig gegen ihn. Ob unser Leben von der Hoffnung oder von der Erinnerung primär bestimmt wird, wir sind in ständiger Frontstellung gegen ihn; wir fliehen ihn; wir organisieren, wir denken das Zeitlose. Ständig liegen wir in der Auseinandersetzung mit dem Tode, und zwar so, daß das Leben in progredientem Wissen von dem Sterben zu sich selber, d. h. zu dem Wissen von dem Ganzen des Seienden, reift. Der Tod, das „grauenhafteste aller Schicksale", prägt dem Leben zugleich seinen edelsten Sinn auf, den der Reife. Gott ist, sagt man, ohne Tod. Piaton, im „Symposion", spricht von der Differenz der göttlichen und der menschlichen Unsterblichkeit, oder vielmehr, er spricht von der „Unsterblichkeit" des menschlichen Lebens, das den Tod involviert: immer neu stehe es auf, immer neu breche es aus dem Toten hervor, immer neu werde es. Das unsterbliche Leben Gottes versinke nicht in sich dauernd in den Tod. Es sei schicksallos. Es sei nicht die Unsterblichkeit der Erneuerung und der Wiederholung, sondern das zeitlos Beharrende. Wir haben das Analoge im christlichen Gedanken. Gottes höchste Qualität ist im Christlichen die Freiheit, der freie, von dem Schicksal nicht beherrschte, von dem Tode nicht bedrohte Wille. Menschliche Freiheit ist analogia entis, bedrohte Freiheit. Sie hat ihre Geschichte der Bedrohtheit und des Versinkens, ihre Geschichte der Schuld. Die Geschichte des Menschen ist immerfort die Geschichte gegen das, was seinen Willen zur Dauer bedroht : die Geschichte des Willens zur Freiheit gegen das Einbrechende, das Diskontinuierliche, den Tod. Wir erfahren das Sterbende, aber wir begegnen ihm in dem Willen zur Freiheit von ihm. Jede Episode unseres Lebens zeugt davon, daß es sich erstreckt zwischen dem einbrechenden Faktum und dem Willen, seiner Herr zu werden — zwischen dem Endlichen und dem Willen über es hinaus,
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der in seinem Zielgegenstand unendlich ist. Jugend, jugendliche Zeitalter, jugendliche Völker stellen sich dem Tode entgegen mit Entwürfen des kommenden Reiches; das Alter, endende Epochen, endende Kontinente mit Meditationen und mit Beschwörungen des Ewigen. Aber immer steht versinkende Gegenwart als das fremde Faktum in das Lebenskontinuum hinein, es verwandelnd und zugleich erneuernd, aufrufend zu Entwürfen, Postulaten, zu Gesolltem und zuletzt zu dem die Zeit überwindenden Gegenstande, dem Einen. „Denn hier strebt wie dort die sterbliche Natur, soweit wie möglich ewig zu sein und unsterblich. Sie vermag es allein durch . . . Zeugung, weil sie immer ein anderes Junges anstatt des Alten zurückläßt. Die Denkweise, die Sitten, Meinungen, Begierden, Lüste, Schmerzen, Ängste, dies alles bleibt in keinem jemals dasselbe, sondern das eine entsteht, das andere verschwindet. Noch viel wunderlicher als dies ist, daß . . . auch jeder einzelnen Kenntnis dasselbe geschieht. Denn was man Nachsinnen nennt, geschieht, weil die Kenntnis entweicht. Vergessen ist nämlich Ausgehen der Kenntnis. Nachsinnen aber bildet eine neue Erinnerung statt der fortgegangenen und erhält die Erkenntnis, so daß sie dieselbe zu sein scheint... So wird auf diese Weise alles Sterbliche erhalten, nicht dadurch, daß es . . . immer dasselbe bleibt, wie das Göttliche, sondern indem das Verschwindende und Alternde ein anderes Neues von der Art, wie es selbst war, zurückläßt... Denn der Unsterblichkeit zuliebe ist jedem der Trieb und der Eros eigen" (Piaton, Symp. 207/208). Jede cogitatio altert. Aber jede neue cogitatio trägt einen höheren Grad des Alters in sich, einen höheren Grad der Erinnerung und Hoffnung. Der Wille gegen den Tod trägt mit sich die Geschichte dieses Willens, die Geschichte des Alterns oder der Todesnähe, mit der parallel Geschichte und Wachstum der Erinnerung und Hoffnung gehen. Der Tod wiegt mit seiner ankommenden Nähe schwerer. Der Wille gegen ihn wird schwerer. Die Gegenmächte, die sich mit dem Willen integrierend verbinden, werden schwerere Bürden. Das Bewahren gewinnt im Alter einen Primat gegen die Erneuerung. Es ist der Primat der Bewahrung, der das Altern kennzeichnet, die 2
Metzger: Freiheit
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Schwere der Erinnerung, die mit der höheren Mächtigkeit des Inneseins des Endes die Kraft des erneuernden Lebens in Schranken hält. Wie die Kindheit die Lust und das Spiel ist, die cogitatio in der Fülle ihres Verschwendens, gewissermaßen noch vor der Erinnerung, aber auch noch vor der Hoffnung, noch vor dem Willen zur Bewahrung, noch diesseits des Todeswissens, naiv, in der Gegenwart aufgehend, und wie die Mitte des Mannesalters das Equilibrium des Todes und des Lebens ist, so kündigt sich in dem Altersprimat der Erinnerung die Todesnähe an. Man kann sagen, Kindheit, Reife und Alter sind transzendentale Phänomene, oder vielmehr : die natürliche Geschichte des Menschen ist Symbol der transzendentalen Geschichte der Existenz. Allemal liegt die ihrer Endlichkeit inneseiende Existenz und der mit dieser Endlichkeit verbundene Wille nach Dauer zu Grunde.
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ZWEITES KAPITEL 1 )
D I E ANTWORT AUF DEN TOD. D E R GEGENZUG
(Studien über Wahrnehmung, Erinnerung [Hoffnung] und den Seinsbegriff)
x ) 2. T. englisch erschienen in „The Review of Metaphysics", Yale University, Sept. 1950.
EINLEITUNG
Wissen vom Tode gehört zum Existieren. Existieren ist ständiges Zeugnis von der rücklaufenden Macht des Todes. Aber wenn der Tod die unser Existieren determinierende Macht ist, so gilt ebenso: Existieren ist in sich Macht. Existieren stellt sich dem Tode entgegen. Existenz, als um sich selbst wissende, menschliche, ist Dialog mit dem Sterben. Unbewußt oder bewußt antworten wir auf das Sterben. Leben antwortet auf den Tod. Antworten auf den Tod meint Antworten gegen ihn. Leben ist Gegenzug gegen den Tod. Leben — Existieren — ist Wille zum Sein, dem Nichtsein sich entgegenstellender Wille zum Sein. Wie zeigt sich der Wille in seiner urphänomenalen Bedeutung als Antwort auf den Tod?
δ 5 WAHRNEHMUNG ALS W I L L E ZUR DAUER
In einer Studie über Wahrnehmung sagt Husserl, Brentano's Zeitlehre kommentierend: „Jeder Ton hat eine zeitliche Extension. Beim Anschlagen höre ich ihn als Jetzt, beim Forttönen hat er aber immer ein neues Jetzt, und der jeweils vorangehende wandelt sich in ein Vergangenes. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem weiteren Teil Erwartung ist" 20
(E. Husserl, Vorl. ζ. Phänomenologie d. inneren Zeitbewußtseins; Halle 1928, S. 385). In jeder Wahrnehmung von Zeitobjekten (alle Objekte von Wahrnehmungen sind Zeitobjekte sie erstrecken sich in der Zeit) „gehen Wahrnehmungen und Nichtwahrnehmungen kontinuierlich ineinander ü b e r . . . In dem Bewußtsein einer Melodie ist wahrgenommen der jetzt gehörte Ton oder Tonteil und nicht wahrgenommen das momentan als vergangen Angeschaute. Die Auffassungen gehen hier kontinuierlich ineinander über. Sie terminieren in einer Auffassung, die das Jetzt konstituiert, die aber nur eine ideale Grenze ist. Es ist ein Steigerungskontinuum gegen eine ideale Grenze hin" (1. c. S. 399). Verstehen wir: die Wahrnehmung konstituiert sich als kontinuierliches Ineinander von Wahrgenommenem und nichtWahrgenommenem, von Aktualität und nicht-Aktualität. Das Eigentümliche ist, daß in dieser Ineinanderverflochtenheit das aktuelle, erfüllte, lebendige Jetzt, das sich an das Kontinuum des nicht-Wahrgenommenen ansetzt und es am Leben erhält, selbst mit dem Tode koinzidiert, daß in dieser Koinzidenz von Leben und Tod die primäre Erinnerung im Leben der Wahrnehmung aufbricht: der Wille zur Erhaltung des sterbenden Augenblicks. Wahrnehmung lebt zwar aus Gnaden des Augenblicks, aber der Augenblick konstituiert nicht ihr Leben. Wahrnehmung als Leben — als Erlebnis — ist Dauer. Leben heißt: sich in der Zeit erstrecken. Leben ist Transzendieren des Augenblicks, kontinuierlicher Gegenzug gegen das Versinken des Augenblicks in das Nichts. Der Augenblick ist die „ideale Grenze", Quelle des Lebens, Quelle seiner Evidenzen, seiner originären Gewißheiten, aber zugleich doch dasjenige, das in der über ihn hinaus sich erstreckenden, ihn ersäufenden Dauer untergeht. Nicht das Jetzt des Augenblicks bildet das Sein der Wahrnehmung, sondern das Kontinuum der aufbauenden, zusammenhaltenden Erinnerungen, Erwartungen undHofïhungen, die ständig das neue, in das Kontinuum einbrechende Jetzt begleiten und, es aufnehmend, zum Sein, d. i. zum Leben, erheben. Wahrnehmung ist Wille zur Kontinuität, Wille zur Dauer im Nichts des Augenblicks. Jede Wahrnehmung (cogitatio) ist in sich selbst eine Einheit 21
der Dauer, etwas in sich Abgeschlossenes, Wahrnehmung von diesem Baume vor mir usw. Aber nun sehen wir: diese abgeschlossene Einheit ist selbst versinkend in das Nichts, in das nicht-Mehr. Und doch wieder versinkt sie nicht in das Nichts. Angelangt bei dem letzten Jetzt, versinkt dieses Jetzt in das „Innere". Das sterbende Jetzt treibt im „Inneren" sein verwandeltes Wesen und mit ihm die ganze Kette der in ihm bewahrten primären Erinnerungen (Retentionen) und Erwartungen (Protentionen) : gewesen seiend überdauert es seinen Tod. Sterbend steht es sozusagen erneuert auf. Unser nach Dauer verlangendes Leben (wir sprechen von Selbstbewußtsein oder dem seiner selbst inneseienden Existieren) fängt den sterbenden Augenblick auf : ihn reproduzierend in dem, was wir eigentlich den Akt der Erinnerung nennen, erfüllt mit dieser inneren Habe, geht es erwartend dem Kommenden entgegen. Die letzte Note oder die letzte Halbnote oder Viertelnote in dem Liede erklingt. Während sie noch klingt und abstirbt, steht sie erinnert auf, lebt sie fort und vorwärts — dieses Fortleben in die Ferne, das faktisch das doppelhorizontal-dreispaltige, mit ständigem Tode verwobene Ineinander (Zeitkontinuum) von Erinnerung und Erwartung ist. Erinnerung und Erwartung, das ist das über dem Grabe des Augenblicks errichtete Leben, aber doch so, daß dieses Leben sich an den Augenblick klammert. Leben klammert sich an den Augenblick. In ihm richten sich seine Hoffnungen auf. In ihm lebt das Vergangene fort. In ihm faßt die Sehnsucht zur Dauer Mut und gibt vom Ewigen Kunde. Versinkend in das Nichts, ist das Jetzt (Gegenwart) der Konzentrationspunkt von ineinanderlaufenden, ständig modifizierten Zeit-Horizonten, Konzentrationspunkt der dreifach-horizontalen, fließenden Ewigkeit. In der Wahrnehmung triumphiert die Sehnsucht oder der Wille zur Dauer über das unheimliche Sterben des Augenblicks : das Partikulare. Sie ist in ihrer über die Zeit sich erstreckenden Dauer das primäre Medium, in dem sich das sehnsüchtige Existieren in seinem Leben erhält. Was wahrgenommen ist, wird zum Bekannten. Das Bekannte geht die Zukünftigkeit an. Das Wahrgenommene wird zu dem, 22
was ich kenne, d. h. wiedererkennen werde. Wahrgenommen wird es zum alten Bekannten. Im Inneren leben die alten Bekannten. Das eben Wahrgenommene geht in das Innere ein. Es hat die Möglichkeit des Er-innerns in sich. Im Innesein finde ich wieder, was ich „einmal" wahrgenommen habe. Wahrnehmung ist mögliche Erinnerung. Aber was da in das Innere der Erinnerung geht, ist nicht nur das Ganze dessen, was ich eben wahrgenommen habe — die Gestalt, die vor meinen Augen eben vorübergezogen ist —, sondern es ist der von primären Erwartungen und Erinnerungen (Retentionen) selbst durchwobene Strom „wieder", in dem sich das Ganze ursprünglich aufgebaut hat. In der Erinnerung reproduziere ich das retentionalprotentionale Kontinuum des das Versinken in das Nichts kontinuierlich übersteigenden Seins. Das Sein im ursprünglichen Sinne ist das Kontinuum des das einbrechende Nichts der Gegenwart niederhaltend-übersteigenden Lebens. Alle Anstrengungen des Lebens (Willens) richten sich auf die Erhaltung seines den ständigen Tod (mors immortalis) übersteigenden Kontinuums.
§ 6 Ü B E R IDENTIFIZIERUNG U N D
ITERIERUNG
Im „Inneren" finde ich, was gestorben ist, wieder, d. h. ich finde es wieder und wieder in unendlicher Iterierbarkeit des erinnernd-erwartenden Lebens. Die Unendlichkeit des Wiederholens dieser beiden Modi der Dauer gehört zum Wesen des mit dem Tode verschlungenen Augenblicks. Was meint die Iterierbarkeit der Erinnerung und Erwartung hinsichtlich der im Willen zum Sein sich aufbauenden Dauer? Wahrgenommen werdend wird der eben erlebte Inhalt zum Gegenstand. Inhalt wird zum Gegenstand - d. h. er wird in der Erinnerung als derselbe wiedererkannt. Er wird identifiziert. Sterbend verwandelt sich der Augenblick zu dem Identifizier23
baren. Wahrgenommen werdend verwandelt sich das einmalige und einzige Jetzt zu „immer-demselben". Das Gestorbene dauert als Identisches. Was sich, soeben oder einmal erlebt, in der Wahrnehmung aufgebaut hat, lebt fort. Es lebt fort in den Akten erinnernder Identifizierung und Reidentifizierung. Es baut sich in diesen Akten eine Dauer zweiter, höherer Ordnung auf. Über der primären Dauer, dem primären Erlebnisinhalt, baut sich die Sphäre wiederholender und unzählig oft wiederholbarer Identifizierung auf. Wahrnehmungen werden erinnert, und zwar so, daß jeder Akt der Erinnerung — als ob das Leben mit dem einmaligen Aufgehobensein des Gewesenen nicht befriedigt wäre — vor sich her einen Horizont der Erwartung immer neuer Erinnerung desselben herausstellte. Was einmal erinnert wird, kommt wieder und wieder. Und es ist wohl diese Wiederholung desselben, diese merkwürdige iterierende Verflochtenheit von Erinnerung und Erwartung, worin sich das seiner selbst inneseiende Leben (Wille) gegenüber dem verfallenden Geschehen primär manifestiert. Der versinkende Augenblick dauert. Er dauert ewig. Denn das Gewesene ist nicht nur das faktisch Erinnerte, sondern das ewig Erinnetbare. In der Möglichkeit der unendlichen Iterierbarkeit der Erinnerung, die nichts anderes ist als ein Name für die mit ihr verknüpfte Erwartung ihrer Wiederholung, besteht der Ewigkeitshorizont der Dauer. Die Gegenwart der Ewigkeit liegt im Grunde jeder sinnlichen Gegenwart. Der Horizont bleibender Dauer ist dem Sinnlichen assoziiert, d. h. er ist der mit dem sterbenden Augenblick verknüpften Reproduktion seiner Identität assoziiert. Augenblick — sinnliche Gegenwart — ist nicht pure Impression. Sein Inhalt ist nicht pures impressionales Datum. Das Problem des sinnlichen Datums ist in der naturalistischen (positivistischen) Psychologie immer wieder falsch gestellt worden. Die Frage ist nicht: was ist Sinnlichkeit?, was ist gegeben? Die Frage ist: was liegt in dem sinnlichen (empirischen) Sehen, dem Tasten, dem Schmecken, den Kinästhesen, in dem, was wir empfinden und wahrnehmen, als Phänomen für uns — für uns als Existierende und Wollende? Wie erscheint das, was gegeben ist, dem, für den es gegeben ist? 24
Menschliches Leben ist nicht ein Apparat, in dem atomisierte oder auch zu Einheiten von „Gestalt" verbundene Daten nach bestimmten Gesetzen der Mechanik miteinander verknüpft sind. Leben wird von Daten — vom Geschehen — getroffen. Aber es wird nicht nur getroffen, wie ein physikalisches Ereignis von einem anderen getroffen oder kausiert wird. Leben antwortet auf das, was ihm geschieht. Es antwortet auf das, was ihm zufällt. Ein physikalisches Ereignis wird verursacht. Was aber in dem von sich wissenden Existieren verursacht wird, ist nicht nur verursacht. Existieren antwortet auf das Verursachte. Das sich als sterbend wissende Existieren antwortet auf Geschehen. Das impressionale Datum tritt in das System intentionaler Bewegtheit der sich auf dieses Datum als auf dasselbe beziehenden Funktionen ein — Funktionen, die es zum Gegenstand machen und in denen unser von Reizen, von Umständen oder Verhältnissen verursachtes Leben über den Reiz-Reaktion-Mechanismus hinaus mit der gegenständlich-identischen Welt in Beziehung tritt. Das Empfundene oder Wahrgenommene ist identisch dasselbe. Es gliedert sich ein in das Universum des erinnernd-hoffenden, auf Dauer gerichteten, intentionalen Lebens. Wir können den Sachverhalt so ausdrücken: in jeder Wahrnehmung (cogitatio) springt die Urquelle allen Existierens, der Wille zur Dauer. Was in die Erinnerung eingeht, sind Dauereinheiten, Einheiten von einmal erlittenen, einmal eingebrochenen Geschehnissen und Schicksalen. Das Einmalige verliert in seinem Untergang den Charakter der Einmaligkeit. In seinem Untergang vollzieht sich das fundamentale, das großartigste aller Phänomene: der Übergang zu dem, was dem Geschehen entgegen ist, der Übergang zum Allgemeinen. Im Abgrund des Vergessens bildet sich das erneuernde und wiederholende Leben: wiederholende Erinnerung. Geschehen verliert seinen Charakter als Geschehen. Schicksal verliert seinen Charakter als Schicksal. Der Schmerz, den ich erlitten habe, die Not, die ich ausgestanden habe, die Angst, die mich überwältigt hat, verlieren den Charakter des Impressionalen. Jede Erinnerung ist der „Gott, der mir zu sagen gab, was ich leide". Darin zeigt sich die Eigenheit menschlichen Lebens, daß es über das Impressionale (und die Mechanik der Impressionen) ständig hinweg ist. 25
Der Schmerz, den ich empfinde, ist nicht nur der Schmerz, den ich empfinde. Ihn empfindend, bin ich seiner inne. Erinnerndes Innesein gehört zu seiner Empfindung. Empfindung steht nicht allein. Indem ich des Schmerzes inne werde, ist er in die Totalität eingegangen. Er ist das vertraute Phänomen, auf das ich immer wieder zurückkomme oder zurückkommen kann, das mit allem und jedem in Kommunikation steht, mit allem und jedem sozusagen zu Hause ist. Empfunden ist dieser Schmerz bereits in das Universum der reproduzierbaren Welt eingegangen. Wir sind ständig über das Partikulare hinaus. Der Gegenwart wird „im Augenblick" der Charakter der hereinbrechenden Diskontinuität genommen. Erlebt verwandelt die Dämonie ihr unheimliches Wesen. Inhalt wird zum Gegenstand. Alle Einmaligkeit trägt mit sich den Horizont möglicher Gegenständlichkeit. Gegenwärtiges verwandelt sich in Vergegenwärtigtes. Vergegenwärtigen bezeichnet beides: Erinnerung des Identischen und Erinnertes wiederholende Erwartung. Dergestalt vergegenwärtigend, geht das Leben dem Kommenden, dem Irrationalen entgegen. Leben antwortet sozusagen aus einem Koordinatensystem heraus auf das Geschehen. Menschliche Existenz ist keine tabula rasa. Sie ist nicht in den kommenden Tod hineingestellt. Sie ist nicht dem Draußen ausgeliefert. Sie ist nicht den „Umständen" ausgeliefert. Sie ist nicht in das Geschehen „geworfen". Bevor das Kommende da ist, ist es bereits antizipatorisch eingespannt in die ihm intentional antwortenden, es aufnehmenden und ihm seine Irrationalität nehmenden Wiederholungen und Antizipationen. Freiheit von Schicksal und Vergegenwärtigung sind korrekte Ausdrücke. Im Innesein des Sterbens entspringt Freiheit von ihm. Die Einsicht in das horizontale, Erinnerung und Erwartung umspannende Zeitwesen des versinkenden Jetzt ist von fundamentaler Bedeutung für den Ursprung des Freiheitsbegriffes. Was auch immer von Freiheit zu sagen ist und von den Varianten, die sich um diesen Begriff gebildet haben und bilden werden, ihre Geschichte des Aufstiegs und des Niederganges wurzelt in dem Wissen des Lebens um den Tod und in dem sich in diesem Wissen aufbauenden Gegenwillen zur Dauer. 26
Der Wille zur Freiheit und der Wille zur Dauer sind miteinander verbunden. Erinnerung und Erwartung sind seine primären Elemente. Die Wahrnehmung, d. h. die Antwort, in der das Leben seine originäre erste Stimme gegen das Sterben erhebt, ist ein integrierender Teil jeder Metaphysik der Freiheit.
§ 7 ÜBER ASSOZIATION
Die Wahrnehmung von diesem Baume ist nicht nur Wahrnehmung von diesem Baume. Sie ist ebenso Wahrnehmung von dem nicht-Wahrgenommenen : von dem, was das Wahrgenommene verdeckt oder verhüllt oder verschweigt. Der wahrgenommene Inhalt steht nicht allein. Er ist „vergesellschaftet", assoziiert. „Mit dem längsten Tage assoziiert ist das Land mit Früchten" (Kant). Genau genommen ist der Wahrnehmungsinhalt vergesellschaftet mit allem und jedem: mit dem Rufe einer menschlichen Stimme ist menschliche Gestalt assoziiert, aber nicht nur mit dieser Stimme diese Gestalt, mit dem bestimmten Geruch einer Pflanze diese Pflanze — sondern es ist die grenzenlose Mannigfaltigkeit von Inhalten, die mit in die Wiedererinnerung eingeht. Der Schmerz, den ich erlebe, ist nicht nur dieser Schmerz. Was ich erinnere, ist nicht nur der wahrgenommene Baum oder die erlebte Liebe, niemals nur der Freund, von dem ich gestern Abschied genommen habe. Was in das Erleben des Diesda eingeht, ist die unerschöpfliche Welt. Nicht nur in der Sterbestunde steht das Ganze vor dem Blick des Sterbenden. Die Melodie versinkt. Was ich erinnere, ist nicht nur das Ganze oder ein Teil der Melodie. Was in das Gewesensein versinkt, ist das Ganze meines subjektiven und intersubjektiven gewesenen Lebens. Vergessenes, einmal Wahrgenommenes, einmal Erwartetes oder Gehofftes oder Gefürchtetes steigt auf. Es ist immer das ganze Universum, das mit jeder Wahrnehmung
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wächst, sich verwandelt und altert, mein Universum, meine ganze gelebte und erwartete Welt, die in die aktuelle Wahrnehmung einsteigt. Jeder sinnliche (akustische, visuelle usw.) Moment assoziiert sich mit der ganzen sinnlichen Welt oder mit der quasi-sinnlichen Welt phantasierter Möglichkeiten. Jede Wahrnehmung reicht in die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der von allen Sinnen und quasi-Sinnen (Phantasien) erreichbaren Welt. Jede Empfindung ist eine Monade, jede Wahrnehmung ist Empfindungen zur Einheit der Dauer vereinigende Monade. Jeder Augenblick ist in sich assoziativ belastet. Er trägt mit sich den nach vorwärts und rückwärts gehenden Horizont der gelebten Zeit (und des Raumes) — mein ganzes nach vorwärts und rückwärts belastetes Leben. Nicht nur verbinden wir Gewohntes miteinander, was David Hume meinte, sondern wir verbinden den bestimmten Geruch einer Blume oder den bestimmten Geschmack einer Speise mit Ungewohntem. Es ist die Belastetheit des Augenblicks mit dem Unterbewußten, Unbewußten, auf die Freud, in Fortführung Hume's, den Finger gelegt hat. Das Jetzt der ihrer selbst inneseienden Existenz ist mit dem abgelebten Universum belastet, in dem die Einheit bewußter Ideen-Assoziationen nur den kleinsten Oberflächen-Ausschnitt bildet. Man sagt, daß jedes Hier und Jetzt, das Gleichgültige und Unscheinbare ebenso wie das Bedeutende, der Aktualisationsboden oder die Illustrationsstätte seines Wesens ist. Jedes Diesda, sagt Husserl, hat sein Wesen. Gewiß. Aber was in das Wesen des Diesda zunächst eingeht, sind nicht allgemeine, mathematische Wesenheiten, sondern die nahen und weiteren Horizonte, die in meinem Diesda miterlebt und mitgemeint oder nicht gemeint sind und die in infinitum führen: in infinitum, aber nicht in das Unbestimmte. Der Horizont, in dem das Diesda wahrgenommen wird, ist ein von Verschiedenheiten und Gleichheiten, Gegensätzen und Widersprüchen artikulierter Horizont. Jedes Diesda steht für alles. Essentia est infinitum. Der Satz reicht in seiner Geltung über die mathematisch-rationale Bestimmung hinaus, die ihm Cusanus gegeben hat. Das Unendliche ist der Charakter des Identischen — des in der Erinnerung Identifizierbaren. Was in dem sterbenden Augen28
blick versinkt, ist die ganze mir tradierte Welt, die an dem lebendigen Jetzt hängt und durch das Jetzt in impressionaler Bewegung gehalten wird — die Last meines tradierten Erbes, auf dessen Tiefendimension Sigmund Freud hingewiesen hat. Sehend dieses bestimmte Grün an diesem bestimmten Baum, erkenne ich nicht nur den Wasgehalt (quale) dieses Grüns, darauf zurückkommend, wieder. Was in die innere Welt eingeht und was wir als das Wesen des Erlebten meinen, reicht über den Gehalt, in dem wir es in actu erlebt haben, unendlich hinaus. Was der Erinnerung den von dem Diesda befreienden Charakter verleiht, ist primär nicht, daß das einzelne in den Zusammenhang zeitloser Allgemeinheiten, an ihnen teilnehmend, hineinreicht, sondern daß es in das Universum von Relationen, wie geartet auch immer diese sein mögen, zufällig oder rationalallgemein, hineingezogen wird. Das Diesda verliert in der Erinnerung die Fremdheit des Vereinzelten. Jede Assoziation, die uns belastende und quälende ebenso wie die beglückende und befreiende, ist jenseits dieser Wertdifferenzierung Gegenzug des Willens gegen das Fremde, das einzelne, das Diskontinuierliche. Erinnerung hebt in einem zwiefachen Sinne das Schicksal auf als das in das Kontinuum unseres Zeitlebens von außen einbrechende Faktum. Sie erhebt den Inhalt zum Gegenstand. Sie macht ihn zu demselben. Sie befreit ihn darüber hinaus aus seiner Isoliertheit. Inhalte (Ereignisse, Schicksale) sind in der Erinnerung vergesellschaftet. In dieser zwiefachen Funktion bricht Reproduktion die Macht des Schicksals. In ihr wird nicht nur das Leibhafte ersäuft. Die mit jedem Diesda mitpräsenten Diesheiten, unzählige Schicksale, in die die Assoziationen hineinführen und die es verursachen, daß in jeder DiesdaWahrnehmung die ganzen Tag- und Nachtwelten unseres Lebens aufsteigen, jeden Genuß des Einmaligen heimsuchen und selbst den höchsten Genuß zum Grenzerlebnis unbewußten oder unterbewußten Leidens machen, verwandeln sich in der reproduzierenden Tätigkeit des Willens zur Einheit des Ganzen.
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δ 8 D I E EXZENTRIZITÄT DER W A H R N E H M U N G
Gehen wir einen Schritt weitet in der Hermeneutik der mit der Wahrnehmung verknüpften Erinnerung. Wahrnehmung ist von dem inneren Bewußtsein ihrer selbst begleitet. Wir nehmen nicht nur wahr. Wir wissen, ausgesprochen oder nicht, von unserem Wahrnehmen. Dies ist der Charakter ihres doppelspaltigen Lebens, daß es sich bei sich selbst nicht beruhigt. Wahrnehmung geht über den immanenten Strom wahrnehmenden Lebens hinaus. Sie transzendiert das in der Wahrnehmung Gegebene. Sie transzendiert die Wahrnehmungsinhalte. Sie ist gerichtet auf etwas, was sie nicht selber ist. Wahrnehmend leben wir in etwas, was die reellen Lebensinhalte überschreitet. Es ist das eigentümliche, man könnte sagen : dialektische Wesen des wahrnehmenden Lebens, daß das, was wir leben, der Strom unserer Erlebnisse, nicht das ist, was wir erlebend meinen. Wahrnehmung ist Wahrnehmen von Gegenständen. Der Transzendenzcharakter gehört zum Wesen ihres inneren, vom Innesein und der Erinnerung begleiteten Wesens. Was meint in Wahrheit die Transzendenz der Wahrnehmung? Was ist der Gegenstand, der terminus ad quem ihrer Transzendenz? Im „Sophist" setzt Piaton auseinander, daß Erinnerung (Denken, Urteil) Erinnerung des Einen in dem vielen und des vielen in dem Einen ist (252a-e). Im „Menon" (98) heißt es: „Die wahren Meinungen haben erst dann Wert, wenn man sie festbindet durch denkende Erkenntnis des Grundes. Das aber ist Wiedererinnerung." Wohin Erinnerung führt, reicht in tiefere Schichten hinein als die Assoziationszusammenhänge, von denen wir zuletzt gesprochen haben. Am Ende erinnern wir uns dessen, was alle faktischen Zusammenhänge übersteigt. Es ist, als ob der Wille zur Dauer in immer gesteigerten Wendungen seiner Sehnsucht nach dem Ziel, Freiheit von dem Sterbenden, einzelnen und Losgerissenen, dem Nichtseienden, zu gewinnen, erst da endet, 30
wo er über unser durch selig oder unselig machende Assoziationen belastetes Zeitleben hinaus in der Erinnerung jenes Gegenstandes ruht, der alles Geschehen hinter sich hat und es in dem alles umschließenden Grunde miteinander verbindet. Wir erinnern uns der Eins: im Verschiedenen erinnern wir uns der Verschiedenheit, im Gleichen und Ähnlichen erinnern wir uns der Gleichheit und Ähnlichkeit, im Zählen erinnern wir uns der Zahl. In der Wahrnehmung des je partikularen Seienden erinnern wir uns des allgemeinen Einen Seins. Wir greifen in der Erinnerung über alle Aktualität hinaus in das Reich des Möglichen. Wir antizipieren in ihr das, was Aktualität möglich macht. Der Wille zur Dauer in seinen Handlungen der Reproduktion erschöpft sich nicht in der Reproduktion dessen, was wir faktisch, bewußt oder unbewußt oder unterbewußt, erlebt haben oder erleben werden. Jedes Innesein des sukzedierenden Jetzt nimmt sozusagen das letzte potentielle Jetzt der Sterbestunde vorweg und greift hinein in die alles aktuelle Geschehen hinter sich lassende und über alles mögliche Geschehen vorgreifende und es zusammenbindende Totalität — den Seinsgrund, dasjenige, was Piaton mit dem Gegenstand der Anamnese meint. Machen wir uns zunächst im einzelnen den Begriff der platonischen Anamnese klar. Erinnern, heißt es im „Menon", meint Wiederentdecken, was wir verloren haben. Erinnern ist ein Prozeß des Wiederhervorrufens des Vergessenen (Anamnese). Wir haben es einmal gehabt, aber wir haben es vergessen. Beim Anblick des Hauses, in dem der abwesende Freund gewohnt hat, erinnern wir den Freund. Was der Erinnerungslehre Platon's die über allen Mythos hinausreichende, sagen wir : systematische Bedeutung gibt, sind nicht die orphischen Erzählungen über die Präexistenz der Seele, auch nicht die Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Erinnerung und dem Identischen, sondern die Einsicht in den Zusammenhang, der zwischen der mit dem Makrokosmos der universalen, identischen Möglichkeiten verbundenen Erinnerung und dem sinnlichen Jetzt besteht. Der ungelehrte Sklave, der nicht-Mathematiker wird im „Menon" zu den Besprechungen über mathematische Gegenstände von Sokrates hereingerufen. Der Knabe weiß nichts von 31
Geometrie, abet et kann zu geometrischen Einsichten gebracht werden. Sokrates zeichnet Diagramme (Vierecke) in den Sand. Et gibt dem Knaben über technische Andeutungen hinaus keine Information. Der Ungelehrte soll dahin gebracht werden, geometrische Wahrheiten (über gewisse Proportionsverhältnisse zwischen der Diagonale und den Seiten des Vierecks) „von sich selbst" aus zudenken. Nut Fragen werden gestellt. Der Lernende wird auf die Spur gebracht. Nach anfänglichen Irrtümern, die er von selbst korrigiert, kommt er zum rechten Resultat. Hier wird die Erinnerung, der von außen her keine Inhalte zugeführt werden, von Sokrates rekognosziert — die von außen uniformierte, aber durch den Anblick eines sinnlichen Inhalts von außen erweckte Erinnerung. Funktionen der Erinnerung werden angesichts von Sinnesdaten in Bewegung gebracht. Die Sinne sind trächtig von vergessenen Wahrheiten. Das sinnliche Datum ist mehr als sinnliches Datum. Diese Figur im Sande wahrnehmend, erinnert sich der Knabe „von innen" gewisser Proportionen. Dieselben oder die gleichen Sinneserfahrungen suggerieren gewissermaßen ideale — besser: identische — standards, denen die Erfahrungsinhalte adäquat nicht entsprechen. Wir wissen angesichts zweier geraden Strecken über „die" Gerade, aber doch so, daß wir zugleich wissen, daß „die" Gerade in der Anschauung nicht gegeben, sondern nur illustriert ist. Wir messen sinnliche Erfahrung an Begriffen, die sie enthält, aber nicht selber ist. Sinnliche Erfahrung impliziert „intelligible" Anordnung, aber doch nur so, mit Leibniz zu reden, daß diese Ordnung konfus in dem Wahrnehmungsinhalt enthalten ist. Der Begriff der Assoziation, der hier vorliegt, ist von anderer Qualität als der, den wir im letzten Abschnitt erörtert haben. Es ist nicht die Erinnerung an mein empirisches, angesammeltes Zeitleben, die sich mit der Wahrnehmung hier vergesellschaftet. Was bei Piaton in der Form theologisch-altpythagoräischer Reminiszenzen von der göttlichen Abkunft der Seele vorgetragen wird, ist dieses, daß Perzeptionen und nicht nur Perzeptionen, die dem Studium mathematischer Objekte zugrunde liegen, in den Horizont von idealen Zusammenhängen hineinführen. Nicht nur identifizieren wir das eben Wahrgenommene, sondern wir 32
stellen die reproduzierte Identität in einen (den) invariablen Zusammenhang hinein. Wir antworten auf Variables mit Möglichkeitszusammenhängen, d. h. mit Zusammenhängen, die nicht nur für dieses Variable, sondern für jeden möglichen (zukünftigen) individuellen (und quasi-individuellen, phantasierten) Inhalt desselben Typus gelten. Wir übersteigen die Zeit und das Geschehen in der Zeit (und quasi-Zeit) in der Wahrnehmung selbst. Wahrnehmen heißt zuletzt Erinnerung dessen, was die Zeit, Geschehen, Schicksal übersteigt. Dieser Baum draußen, den wir so und so qualifiziert sehen, ist in der Erinnerung nicht nur dieser Baum, nicht nur verknüpft mit kontingenten Schicksalen, die sich mit seinem Erlebnis verbinden; er ist auch nicht nur das Identische, dasjenige, das wir als dasselbe Quale in unendlicher Iterierbarkeit des Zurückkommens erinnern. Er fungiert in dieser seiner erinnerten Beständigkeit als Maßstab: als Beständiges ist er Einheitspunkt für eine allgemeine, wiederholbare Anordnung von untereinander in Beziehung stehenden Teilinhalten — identisch dieselbe Anordnung, in Hinsicht auf welche wir Individuelles von dem gleichen „Typus" vergleichend messen. Wir sagen, dies ist „ein" Baum. Es ist, als ob an diesem Baume hier vor mir vorzeitige, vor aller Zeit liegende Möglichkeiten hafteten. In diese Wahrnehmung des Grüns seiner Blätter, in diesen Aufstieg und Niedergang seines Lebens, in diese speziell gefärbte Form seiner Rinde ragen sozusagen die invariablen Kategorien der Antwort der nach Einheit sehnsüchtigen Existenz hinein. Diese Antwort schöpfen wir aus dem unerschöpflichen Reservoir in der Erinnerung „zurückrufbarer" Möglichkeiten und ihrer idealen Zusammenhänge, die es machen, daß wir beim Sehen dieses Variablen, Wachsenden und Sterbenden über es prädizieren, d. h. es aus dem Kategorienreservoir der Einheitsmöglichkeiten ansprechen. Wir nehmen wahr. Wir erinnern das Wahrgenommene, aber das Erinnerte ist nicht nur der zum Stillstand und zur Begrenzung gebrachte Inhalt; das Erinnerte ist nicht nur Gegenstand, sondern Gegenstand „worüber", Subjekt möglicher, d. i. zur Einheit des Ganzen verbundener Prädikabilien. Der Augenblick versinkt. Er dauert in der Erinnerung. Was 3
Met2ger: Freiheit
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in ihm lebt und versinkt, ist zunächst, wie wir gesehen haben, die konkrete Welt, die ich mit ihm assoziiere, mein kontinuierlich wandelndes und sich verwandelndes subjektives und intersubjektives Universum, das ich in jedem Augenblicke erinnernd und hoffend, fürchtend, verzweifelt oder selig mit mir herumtrage. Aber nun sehen wir: es baut sich über diesen Akten des Inneseins eine neue Dimension des Inneseins. Der Sklave erinnert sich der Regeln, der Proportionen. In der Vielheit der Erscheinungen erinnert er sich dessen, was Erscheinungen „zur Einheit zusammenbindet". Er erinnert sich dessen, was alle Aktualität überschreitet, was über alle wirklichen oder möglichen „Zeichnungen" in dem Sand hinaus diese zu Beispielen oder Illustrationen eines in den Einzelheiten wiederholbaren Allgemeinen macht. Das ist das Erstaunliche: Wahrnehmung vergesellschaftet sich mit der Erinnerung. Aber das Wort Erinnerung ist äquivok. Erinnerung durchläuft Dimensionen. Der Erinnerungsprozeß trägt eine Dynamik in sich. Erinnerung geht nicht nur in den Zeithorizont, in die Welt der vergangenen Ereignisse, hinein und reproduziert sie. Reproduktion geht nicht nur antizipierend in die Zeiten hinauf, in naher Zukunft das Kommende erwartend oder auf die Gegenstände am Ende der Zeit chiliastisch hoffend. In ihrer letzten Dimension durchbricht Erinnerung oder Antizipation die ganze Zeit. Wessen der Sklave inne ist, sind zeitlose Proportionen, die bezogen sind auf das Ganze der Zeit. „Wo auch immer", würde er sagen, „ich diese Figuren des Sokrates antreffe, die Seiten des Vierecks verhalten sich zu der Diagonalen in einer invariablen Proportion." Erinnerung durchbricht die Kontingenz der Wahrnehmung. Zwischen der Melodie, die ich gehört habe, der Zeichnung, die ich sah und deren ich mich erinnere, einerseits und dem Invariablen andererseits liegt ihr über alle Inhalte hinausgehendes und sie durchbrechendes, gewaltiges, dynamisches Reich. Am Ende erinnern wir uns der Einheit des Ganzen. Es ist, als ob die Erinnerung zuletzt ihren Stand nähme hinter der Zeit in ihrer Tendenz nach Einheit, Ordnung, Proportion — nach Dauer. Der primären Reproduktion einer Beschaffenheit, eines zufälligen Inhalts ist sozusagen ein Horizont mitgegeben, an
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dessen Grenze wir den Kosmos invariabler Relationen entdecken. Piaton spricht von der Erinnerung „von innen". Kant spricht von dem Apriori oder er spricht in seiner Inauguraldissertation 1770 von dem menti insitum. Descartes spricht in der zweiten Meditation von dem, was sich durch die „unend-r liehen Variationen" der Wahrnehmungen als Bleibendes durchhält („permanet"). Das sind alles Paraphrasierungen desselben Phänomens. Ich sage Phänomen. Wir müssen hier alle Anthropomorphismen und Psychologismen fernhalten. Es handelt sich in dem Ausdruck „von innen" nicht um ein dem Menschen angeborenes Besitztum, sondern um etwas, das wir in dem Wahrnehmungsbefund entdecken. Der ungelehrte Sklave, befragt von Sokrates, entdeckt in dem variablen Wahrnehmungsbefund Invariables. Er enthüllt verborgene Wahrheiten. Die Enthüllung des Invariablen im Variablen, das meint zuletzt die Erinnerung. Aber dieses Invariable ist hier nicht nur gemeint als der Name für identische Qualia, zu dem sich der Wahrnehmungsinhalt in der Reproduktion verwandelt, sondern es ist darüber hinaus gemeint als der Name des Relationssystems dieser Qualia, des zeitlosen Makrokosmos, in den das versinkende Jetzt in der Dynamik des reproduktiven Prozesses eintritt. Nur wenn wir das Erinnerte als den jeder Wahrnehmung eines Diesda mitgegebenen, immanenten Befund verstehen, verstehen wir ihren lebendigen, treibenden, alles Vorhandene übersteigenden Prozeß, ihre intentionale Sehnsucht nach Bewahrung und Dauer, einen Prozeß, der da zu seinem Ende kommt, wo die Erinnerung in ihrem Gegenstand, der alles zu Einem zusammenbindet, ruht. Wahrnehmung und das Eine Sein sind Korrelate. Genauer müssen wir sagen: Wahrnehmung als mögliche Erinnerung (Erwartung und Hoffnung) ist korrelativ auf die Exzentrizität des Einen bezogen — oder aber auf dessen Symbol, das System von Invarianten als den terminis invarianter Relationen, die sich mit jedem wahrgenommenen Diesda verbinden. Wahrgenommenes steht nicht allein. Aber nicht nur ist es assoziiert mit erlittenen Schicksalen, nicht nur greift es in „unbewußte Unterwelten und Träume" hinein. Es ist assoziiert mit dem, was „vor der Erschafiiing der Welt" liegt, d. h. mit dem in 35
jedem möglichen Geschehen Wiederholbaren. In dem Diesda ist die Irrealität des Ganzen aller Möglichkeiten vertreten — das Eine Sein. Es gibt vielleicht nichts Erstaunlicheres in dem griechischen Denken als die sokratisch-platonische Einsicht in die Verbindung der Anamnese mit der Gemeinschaft „zeitloser Gestalten". Das Universum der Invariablen liegt in jedem Diesda. Jedes Diesda „hängt", wie es Aristoteles ausdrückt, „in Gott". Daher ist die Definition eines Individuellen nach Piaton erst da erreicht oder vollendet, wo das definiendum, zuvörderst die unterste Gattung, von dem obersten, alle Gattungen umspannenden ens universalissimum her begriffen wird. Daher heißt Definieren für Piaton Deduzieren. Daher involviert für ihn Definition das All der vermittelnden Arten und Gattungen bis hinauf in das universalissimum der Eins. Aristoteles hat bekanntlich gegenüber diesem platonischen Begriff der Definition den Einwand erhoben1), daß hierbei die Qualitätenfülle oder die materiale Qualifikation der Gestalten verloren gehe. „Alle Dinge werden zur Eins", wirft er gegen Piaton ein (vgl. die betreffenden Stellen bei J. Stenzel, „Zahl *) Hier ist der Punkt, an dem die Differenz Platon-Aristoteles zu erörtern wäre und nicht daran, daß Piaton die allgemeinen Gegenstände von den sinnlichen Gegenständen als etwas von ihnen Verschiedenes getrennt hätte. Wie sollte das möglich sein angesichts seiner Zentralthese, daß die „Elemente" der Zahl die Elemente von allen Dingen sind? Was Aristoteles unter der „Trennung", die er Piaton vorwirft, meint, bezieht sich nicht auf das Verhältnis des Allgemeinen zum Individuellen, sondern bezieht sich auf Fragen innerhalb der Sphäre der allgemeinen Gattungen selbst: Aristoteles wirft Piaton vor, daß er die höheren Gattungen, die Aristoteles γένη nennt, von der niedersten Gattung (ατομον είδος) getrennt und als ein davon Verschiedenes dargestellt habe. Genau gesprochen, es liegt eine verschiedene Auffassung über den Begriff der Definition vor. Für Aristoteles genügt zur Definition die Angabe des genus proximum und der spezifischen Differenz. Für Piaton (siehe „Sophist") bedarf die Definition des Durchlaufens aller vermittelnden Arten und Gattungen bis hinauf zur höchsten Gattung, der Eins, und zwar dergestalt, daß die Arten und Gattungen formalisierte, in Zahlen ausdrückbare Formen (Abwandlungen) der Eins werden. Daher sind für Piaton Deduktion und Definition ein und dasselbe. Das definiendum kommt zur Bestimmung in dem deduktiven System der „Gattungen". Diese Differenz ist natürlich von höchster Bedeutung, hat aber nichts mit der Trennung der „Ideen" von den sinnlichen Gegenständen zu tun. (Die entsprechende Stelle der Kritik des Aristoteles ist in Met. Ζ 1037 b 8 - 1038 a 35; vgl. Α. E. Taylor, Plato, p. 515f.)
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und Gestalt"). Jenseits dieser Differenz, so wichtig sie geschichtlich sein mag, steht indessen das entscheidende Gemeinsame der beiden großen Metaphysiker: die verborgene, „vergessene", über Tod und Schicksal der Einzelheit erhabene Wahrheit offenbart sich erst da, wo wir uns „von innen" erinnern. Wessen wir uns von innen erinnern, ist das System wiederholbarer Möglichkeiten (logoi). In ihrer reproduktiven Möglichkeit durchbricht Wahrnehmung die ganze wahrgenommene Welt, die wahrgenommene und sinnlich, resp. quasisinnlich wahrnehmbare, aber doch so, daß sie in diesem Durchbrechen das ideale Reich „nachahmt". Wir messen das Wahrgenommene an Einheitssymbolen, die es durchbrechen — an etwas, dem es nicht oder nur inadäquat korrespondiert. Jede Prädikation eines Gegenstandes führt in infinitum in neue Prädikationen, aber doch so, daß dieser infinite Prozeß definiert ist durch Symbole des die Totalität invariabel (morphologisch, bzw. quantitativ) umspannenden Zusammenhangs - durch den Einen Gegenstand, dessen wir uns erinnern. Was ist der Grund der Möglichkeit der exzentrischen Intentionalität der Wahrnehmung ? Was ist der Grund der Möglichkeit der Beziehung der Wahrnehmung auf die zeitlosen Symbole der Einheit? Was steht als Grund der Möglichkeit hinter dem Hineinragen von Einheitssymbolen in die kontingenten, abfließenden, veränderlichen Inhalte der Wahrnehmung? Machen wir das Problem deutlich! Wahrnehmungen sind Dauereinheiten. Was wir das „wahre", wahrnehmende Leben nennen, ist das Kontinuum dieser Einheiten, ein Kontinuum von ineinandergreifenden, aktuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen. Wir sagten: Wahrnehmungen sukzedieren nicht nur eine der anderen, sondern bilden mit allen gewesenen und allen kommenden Wahrnehmungen in sich bewegliche Einheiten, in denen die eigentliche Wahrnehmung (wir sprechen von Empfindung) den Nullpunkt des Augenblicks bildet, ein Kontinuum also, in das das Dauerlose, das Fremde, das Ereignis - die „irrende Ursache", wie es im „Timaeus" heißt, das Reich des Vergessens — ständig einbricht und in dem es ständig überholt wird. Es ist die Zeit, die in der Wahrnehmung originär zur Bildung kommt - in ihrem Willen zur Dauer, 37
in ihrem Willen zum Überholen des Augenblicks, das Doppelwesen der Zeit: ein Kontinuum von ineinander verwobenen Erinnerungen und Erwartungen, aber ebenso der Ort des in das Kontinuum einbrechenden Jetzt. Die Wahrnehmung enthält die beiden aufeinander bezogenen Zeitbegriffe — die geschichtliche Zeit der Erinnerung und Hoffnung und die Zeit als den Vater Chronos, den Ort des Diskontinuierlichen. Sie enthält beides als Akt des Grundnehmens in dem Diskontinuum einbrechenden Geschehens. Hier nun ist das Eigentümliche: Wahrnehmungen sind nicht nur Dauereinheiten inmitten der Diskontinuität einbrechenden Geschehens. Sie sind Wahrnehmungen von etwas, sie sind „gerichtet auf". Leben stößt auf etwas, was ihm „dawider ist" (Kant). Und dergestalt ist diese Intentionaütät, daß es nicht nur Gegenstände sind, konkrete Diesheiten, gewissermaßen in sich abgeschlossen, die den einzelnen Wahrnehmungen je und je entsprechen, sondern daß die Intentionalität in jedem einzelnen Falle über die Mannigfaltigkeit der Gegenstände hinausgeht zu dem Einen Gegenstande. Mit jeder Wahrnehmung ist assoziiert die Erinnerung an die Interdependenz oder die Einheit oder die Totalität der Gegenstände. Leben ist nicht nur intentional. Es ist exzentrisch. Es überschreitet seine Gegenstände. Die Transzendenz zu dem Einen Sein und der Einen Wahrheit ist als Möglichkeit jeder Wahrnehmung, jedem menschlichen Erleben, mitgegeben und nicht nur akzidentell mitgegeben. Jedes Leben ist von dem das Eine repräsentierenden Hofe der Exzentrizität umgeben. Darin ruht es. Machen wir das Problem der Exzentrizität, in dem jede Analyse der Wahrnehmung gipfelt, wieder in Anknüpfung an Husserl deutlicher. „Wir sagen, daß das intentionale Objekt in kontinuierlichem oder synthetischem Fortgang des Bewußtseins immerfort bewußt ist, aber sich in demselben immer wieder ,anders gibt': es sei .dasselbe', es sei nur in anderen Prädikaten, mit einem anderen Bestimmungsgehalt gegeben, ,es' zeige sich nur von verschiedenen Seiten, wobei sich die unbestimmt gebüebenen Prädikate näher bestimmt hätten: oder ,das' Objekt sei in dieser Strecke der Gegebenheit unverändert geblieben, nun aber verändere ,es', das Identische, sich, es nehme durch diese Ver38
änderung an Schönheit zu, es büße an Nutzwert ein usw. Wird dies immerfort als noematische [auf den Gegebenheitsgehalt bezogene1)] Beschreibung des jeweilig Vermeinten als solchen verstanden und ist diese Beschreibung, wie es jederzeit möglich ist, in reiner Adäquation vollzogen, dann scheidet sich evident der identische intentionale ,Gegenstand' von den wechselnden und veränderlichen .Prädikaten' " (Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomen. Philos., Halle 1913, p. 271). „Was eigentlich wahrgenommen wird, scheidet sich von dem ,Verknüpfungspunkt' oder ,Träger' der Prädikate, aber keineswegs (als) Einheit derselben in dem Sinne, in dem irgendein Komplex, irgendwelche Verbindung der Prädikate Einheit zu nennen wäre. Es ist von ihnen notwendig zu unterscheiden, obschon nicht neben sie zu stellen und von ihnen zu trennen, so wie umgekehrt sie selbst seine Prädikate sind, . . . ohne ihn undenkbar und doch von ihm unterscheidbar" (Husserl, a. a. O. p. 270, 271). Husserl spezifiziert den Ausdruck „in keiner abgeschlossenen Erscheinung" in Hinsicht auf die Dingwahrnehmung. In einem endlosen „Kontinuum" von Erscheinungen „erscheint" das Ding, das ich wahrnehme. „Dieses Kontinuum bestimmt sich näher als allseitig unendliches, in allen seinen Phasen aus Erscheinungen desselben bestimmbaren X bestehend, derart .zusammenhängend geordnet und dem Wesensgehalt nach bestimmt, daß jede beliebige Linie desselben in der stetigen Durchlaufung einen einstimmigen Erscheinungszusammenhang ergibt (der selbst als eine Einheit beweglicher Erscheinung zu bezeichnen ist), in welchem das eine und selbe immerfort gegebene X sich kontinuierlich-einstimmig ,näher' und niemals ,anders' bestimmt" (Husserl, a. a. Ο. p. 297, 298). In dieser Illustration ist das Problem der Wahrnehmung angezeigt und nicht nur das Problem, in dem alle Hermeneutik (Metaphysik) der Wahrnehmung gipfelt, sondern das Problem der Metaphysik menschlichen Existierens überhaupt. Nicht nur, daß wir innerhalb der Dingwahrnehmung zwischen Inhalt und Gegenstand zu unterscheiden haben. Grundsätzlich gilt diese Unterscheidung für die Gesamtheit des Erlebens, d. h. des l)
Einschub des Autors.
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seiner selbst inneseienden Lebens oder Existierens. In jedem Werten, Wollen und Handeln weist das Gewertete, Gewollte, Gehandelte über sich hinaus. In allen diesen Akten liegt Erinnerung und Hoffnung auf das Fernste. In jedem Lieben erscheint das fernst Geliebte oder die „unendlich geliebte" Person. Nicht nur in der sinnlichen Wahrnehmung ist die Erinnerung auf die umfassende Totalität angelegt. In jeder Erwartung eines Kommenden liegt Hoffnung und am Ende letzte Hoffnung auf Einheit. In jedem Werten, in jedem Bejahen und Verneinen liegt das „wahre Gute" (und das wahre Böse), der ideale Maßstab, der alle unendlichen erscheinenden Variablen unseres emotionalintellektuellen Lebens auf Einheit ausrichtet und uns zum „Verräter" macht an dem, was wir haben. Wir können sagen: Dingwahrnehmung ist exemplarisch für die exzentrische Gerichtetheit unseres von seiner Endlichkeit wissenden Existierens. Leben durchbricht das, was es hat oder besitzt. Jedem Erleben ist der Horizont der Erinnerung und Erwartung mitgegeben — der unendliche Horizont der Zeit —, unendlich, aber doch so, daß das infinitum des Horizonts durch den „idealen" Maßstab des Einen begrenzt ist. Wahrnehmung ist der Fundamentalakt, in dem der Wille zum Sein auf das dauerlose Jetzt antwortet : ständiges Gegenziehen gegen das ständige Sterben. In der Wahrnehmung faßt das Leben Grund in dem Diskontinuum einbrechenden Geschehens. In ihr erhebt die sich erinnernde und hoffende Existenz ihre Stimme gegen das ewige Sterben. Leben aktualisiert sich im Wissen um Endlichkeit. Heimat aktualisiert sich im Heimatlosen. Alles Leben ist in gewisser Weise Wahrnehmung. Wir dehnten den Ausdruck über den üblichen Sinn hinaus, über das übliche Hören, Sehen, Fühlen, also über den Begriff sinnlicher Wahrnehmung. Alles Leben ist Wahrnehmen in dem Sinne: Leben ist nicht nur fließendes Kontinuum, wie Bergson meint, sondern in ihm aktualisiert sich Dauer, gleichgültig, ob wir von emotionalen oder intellektuellen Erlebnissen sprechen, ob wir verzweifeln oder ob wir denken, ob wir werten oder ob wir wahrnehmen in dem engeren Sinne des Wortes — alle Erlebnisse sind Einheiten der Dauer, Einheiten von der den Augenblick überschreitenden Dauer, und in diesem sich-Bilden als Einheiten
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sind unsere Erlebnisse apperzipierend gerichtet: das Lieben auf das Geliebte, das Fühlen auf das Gefühlte, das Werten auf das Gewertete, und derart ist unser Leben gerichtet, daß es in dem Wissen um sich selbst als wertendes oder fühlendes oder handelndes usw. sich über das jeweilig Gewertete oder Geliebte hinaus erinnert, aktuell oder potentiell erinnert des fernen Einheitspunktes. Das im Hoffen Gehoffte, die im Lieben geliebte Person oder der geliebte Gegenstand ist selbst etwas Dynamisches. Es hat in sich selbst sozusagen den Charakter noematischer Intentionalität, das Hinausweisen über das je Geliebte, je Gehabte, ganz analog wie der Wahrnehmungssinn auf den Gegenstand weist als den Einheitspunkt aller Stationen, die die Wahrnehmung des Dinges durchläuft. Leben überschreitet das je Erlebte in infinitum. Wir sind ständig hinaus über das, was wir haben. Leben ist Sehnsucht nach dem letzten, sammelnden Einen Objekt. In diesem Sinne spricht Kant von dem „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können", von der Synthesis des Mannigfaltigen in Hinsicht auf den Gegenstand = X der Apperzeption. Denken ist der Grenzbegriff der Wahrnehmung in dem kantischen Wort, in dem Sinne, daß der gedachte Gegenstand der Name ist für die im Denken gemeinte Totalität der Kategorien (Invarianten) — die Idee des Einen Seins, die in der Wahrnehmung, in ihren erinnernden und erwartenden Antizipationen, angelegt (impliziert) ist. In der Wahrnehmung liegt die Erinnerung an das letzte Sein, auf Grund deren sie ihre Inhalte je und je durchbricht. Jedes Urteil, das wir auf Grund der Wahrnehmung fällen (jedes „S ist P"), ist sozusagen ein unendliches Urteil. Jede Relation von terminis impliziert eine dialektische Unendlichkeit von Relationen, weil sie als solche in der Erinnerung an das totale Eine Sein fundiert ist, der Erinnerung an oder der Hoffnung auf das vereinigende Objekt, die mit jedem sinnlichen Datum assoziiert sind1). l ) Das Pathologische ist das von den Gegenständen, d. h. der Intentionalität des Hineingehens in den Horizont der Welt, abgespaltene Leben. Man könnte sagen: was wir das psychisch Krankhafte nennen, hat seinen Ursprung in der Abgespaltenheit des Patienten nicht so sehr von der Umwelt als von der alle partikulare Umweltlichkeit überschreitenden Einen Weltidee. Freud's Psychologie hat hier ihren Ort. Sie bleibt im Pathologischen und selbst da, wo sie von
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In der Wahrnehmung, sagten wir, faßt das Leben Grund in der Diskontinuität. Jedes Erlebnis ist grundnehmende Einheit der Dauer. Wahrnehmung nimmt Grund und gibt Grund den folgenden Wahrnehmungen. Jedes kommende Erlebnis ist mitbegriindet in dem vorangegangenen, aber doch so, daß das aktuelle Erlebnis die Quelle der Evidenz ist, in der die Totalität vergangenen und künftigen Erlebens springt. Wir können den Sachverhalt auch so ausdrücken: alles Erleben macht das Verschlossene offenbar. Wahrnehmung ist wahr-Nehmen, Offenbarmachung des nicht-Offenbaren. Inmitten des Grenzenlosen und Verschlossenen und Dämonischen — und es ist das Verschlossene, sozusagen vor dem Akt der Wahrnehmung des wachen Lebens Liegende und gegen dieses Stehende, was wir als Dämonisches oder Schicksal bezeichnen — inmitten der in das Kontinuum der Zeit einbrechenden Schicksale nehmen wir Stand. dem Ich (dem wachen Bewußtsein) spricht, wird dieses zu einer Form des Pathologischen. Insofern ist diese Psychologie interessant, als sie die Krankheit unserer in das psychologisch Zuständliche, Relativistische zurückgeworfenen Epoche zum Ausdruck bringt. Der Patient ist gewissermaßen weltlos. In dieser von der Intentionalität (Exzentrizität) abgespaltenen, in pure Leib- Umwelt-Zuständlichkeit versinkenden Existenz wird allerdings die Angst die fundamentale Kategorie, jedoch nur in diesem Modus der Weltabgespaltenheit der Existenz. Der Biologismus Freud's (analog wie der Soziologismus) hat seinen Ursprung in dem Verlust des Gegenstandes. Freud's Subjekt ist ohne Gegenstand. Es ist seinen Zuständen ausgeliefert, und, was der Therapeutiker als Heilmittel vorschlägt, ist, in tiefere Dimensionen der Zuständlichkeit hineinzugehen, von denen die „bewußten" Zustände ihre prätendierte Aufhellung erhalten. Der Patient ist den „Tatsachen" ausgeliefert, und die psychoanalytische Hermeneutik teilt diese Ausgeliefertheit. Das Subjekt ist um den Charakter der Intentionalität gekommen. Seine Umwelt hat die horizontale Beziehung zur Welt (Weltidee) verloren. Die Exzentrizität menschlicher Existenz ist nicht begriffen. In dem Subjekt ohne Gegenstand gewinnt die Angst eine Priorität über Sehnsucht (desiderium). Angst ist deutlich getrennt von Verzweiflung, zu deren charakteristischem Wesen es noch gehört, daß die Welt offen ist. Die Bedingung der Möglichkeit der Angst ist Weltverschlossenheit oder Abgetrenntheit von den weltkonstituierenden, elementaren Prozessen der synthetischen Erinnerung und Hoffnung, die die Existenz mit dem Universum verbinden. Daher ist in der psychoanalytischen Forschung nicht so sehr von Erinnerung, sondern von Gedächtnis zu sprechen, das in die unbewußten Gründe psychischer Zuständlichkeit hinabreicht, aber von den Prozessen der Erinnerung und Hoffnung zu unterscheiden ist, deren apperzipierendes Wesen gerade darin besteht, die Zuständlichkeit psychischen Geschehens zu überschreiten: das Geschehen auf das unum zu beziehen, dem aus seiner Weltlosigkeit geängstigten Subjekt (der geängstigten Existenz) den Weg zu der Einen Welt zu öffnen.
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Wahrnehmung ist Heimatnehmen im Exil, im Fremden, aber so ist das Erinnerung und Erwartung in sich enthaltende Kontinuum identifizierender Dauereinheiten geartet, daß jeder Akt wahrnehmender Identifizierung selbst die Implikation der Totalität in sich enthält. Diese Nuance Grün, welche in die Wahrnehmung als über die Zeit sich erstreckende Dauereinheit eingeht und als dieselbe wieder erinnert und wieder erwartet wird, ist mit allem und jedem im Augenblick ihrer Konstitution als Dauereinheit, wie wir gesehen haben, verbunden. Was wahrgenommen wird, ist nicht nur das, was ich eigentlich sehe, was ich faktisch fühle und liebe und was als mein aktuelles Leben in die Inaktualität übergeht, es ist mehr als dieses. Welt ist mehr als meine Vorstellung. Mein je Wahrgenommenes und Vorgestelltes weist über mein Bewußtseinsfeld hinaus in das All miteinander kommunizierender zeitloser Möglichkeiten. In jeder Wahrnehmung, in dem gleichgültigsten Fühlen, in jedem geliebten Gegenstand steht immer neu das Universum der Möglichkeiten auf. „Jedes Hier und Jetzt hängt in Gott." Wahrnehmung ist nicht nur Quellpunkt aller Evidenzen, von dem her alle Erinnerungen und Erwartungen den ursprünglichen Rechtfertigungsgrund ihrer Wahrheit erhalten. Mit ihr nimmt der nach Dauer verlangende Wille Grund im Universum des Einen Seins. Etwas Geheimnisvolles ist das wahrnehmende Leben. Vor ihm Hegt der andrängende Stoff: das unendlich Mannigfaltige. Wir sprechen von Geschehen. Was wir Geschehen nennen, meint im Grunde den Prozeß ständigen Versinkens in das Nichts. Heraklit gebraucht das Bild von der gejagten Sibylle, die unzusammenhängende, in rasender Hast einander folgende Laute von sich gibt. Was dem Geschehen den ängstigenden Charakter gibt, ist die Identität von Tod und Geburt, das Symbol des Nichts — sein Wesen als Prozeß von Ereignissen, für die Kommen und Vergehen ein und dasselbe sind. Triebe, die sterben, geschehen. Der Tod geschieht. Das Diskontinuierliche bricht in die Kontinuität wahrnehmenden Lebens ein. Was wir das Sterben des Menschen in diesem vorläufigen Sinne nennen, besagt, daß diese Identität von Geburt und Tod nicht mehr vom Innesein seiner selbst aufgefangen wird. Der Mensch stirbt, 43
das heißt: das Existieren in ihm hört auf, von sich selbst zu wissen. Es wird eindimensionales Existieren: pures Geschehen. Wir sprachen von dem erinnerungs- und hoffnungslosen, diskontinuierlichen Jetzt. Kierkegaard spricht einmal davon, daß in der Erinnerung „die Angst vertrieben ist". „Die erste Äußerung der Rettung ist die Kontinuität" (Kierkegaard, Der Begriff der Angst). Etwas Merkwürdiges: über der Sphäre, in der Sterblichkeit herrscht, errichtet sich ein Reich der Dauer. Aber dieses Reich ist in sich selbst, wiewohl auf Beharrliches gerichtet, Unruhe. Der Wille zur Dauer stabilisiert sich nicht, er kommt nicht zum Ende. Seine Sehnsucht transzendiert jede fixierte Stabilisierung, jedes opus operatum. Man könnte sagen : der Wille ist motiviert von etwas, was er nicht selber ist. Er ist motiviert von dem Gegenstand, auf den er gerichtet ist. Der Gegenstand wirkt auf ihn zurück. Der Wille ruht nicht vor dem unbekannten Gegenstand, „der am Ende aller Zeiten liegt" und der „all unseren Vorstellungen die notwendige Einheit gibt" (Kant). Damit kommen wir zur letzten Fassung der Erinnerung im Horizont wahrnehmenden Lebens. Erinnerung und Erwartung, sagten wir, sind Medien des Willens zur Dauer, Medien des Gegenzugs oder der Antwort auf das Dauerlose. Ihr Wesen besteht darin, daß sie für etwas stehen, das sie nicht selber sind, Sie sind Symbole für das, wofür sie stehen. Sie stehen für den Gegenstand, auf den sie gerichtet sind. Es ist der unbestimmbare Gegenstand des Einen, der das Wesen der Wiedererinnerung letztlich bestimmt. „Die wahren Meinungen haben erst dann Wert, . . . wenn man sie festbindet durch denkende Erkenntnis des Grundes, . . . das aber ist Wiedererinnerung." Daher auch ist die Zukunft, in die das erwartende und hoffende Leben hineingeht, zwar dunkel, aber nicht absolut dunkel. Das wache Leben geht in die Uberwindung des Verschlossenen hinein. Was immer unsere Zukunft sei, sie ist gerichtete Zukunft, gerichtet von dem Gegenstand her, wohin der Wille zur Dauer verlangt. Wir sagten oben: der Tod wirkt in unser Leben zurück. Wir können jetzt in Ergänzung sagen: der die Macht des Vergänglichen brechende Gegenstand wirkt in unser Leben zurück. Das, was hinter der Zeit liegt, ist nicht nur der ter44
minus ad quem, sondern ebenso der terminus a quo des seiner Endlichkeit inneseienden Existierens. Existenz als menschliche ist ihrer selbst inne. Zur Existenz gehört, daß sie begleitet ist, bewußt oder unbewußt, von dem Innesein ihrer selbst. Wissen um Dauerloses und Dauer gehört zu der Innenaffektion der Existenz. Menschliche Existenz ist gebrochene Existenz. Gebrochen steht Existenz sehnsüchtig bei dem Gegenstand. In dem Willen zur Freiheit, d. i. frei zu sein von der Dämonie des Geschehens, bricht sie ihre Gebrochenheit. Über die materialen Gegenstände hinaus, mit denen das jeweilige Leben aktuell beschäftigt ist, erheben sich weitere Gegenstände und zuletzt der identische Gegenstand, der inaktuell hinter jeder Aktualität liegt, inaktuell, aber doch im Horizont mitbeschlossen, mitgegeben als das, was wir sehnsüchtig meinen. Leben ist nicht trèu dem, was es hat oder besitzt. Es bleibt nicht bei dem opus operatum. Sein Gegenstand zieht es in die Ferne. Erkenntnis ist die Geschichte der Erkenntnis in infinitum, und die Kunst ist unendlich. Jede menschliche Verbindung reicht über den Stand, in dem sie sieh aktuell hält, hinaus und sprengt das Gegebene. Menschliche Assoziation ist unendliche Idee. Der Inhalt der Wahrnehmung ist nicht ihr Gegenstand. Wir sprachen von dem Willen zur Freiheit. Wir verstehen jetzt erst, was Sein besagt, die Idee, die zum „notwendigen Ingredienz" (Kant) jeden wahrnehmbaren Lebens gehört. Sein ist der Gegenbegriff des Geschehens — der Name für den das Geschehen übersteigenden Gegenstand. Essentia est infinitum: am Ende, d. h. in dem limes der Erinnerung und Hoffnung, ist die Sukzession aufgehoben. Anders gesprochen: die Gegenwart ist am „Ende", d. h. in dem antizipatorischen Gedanken des das Geschehen total umspannenden und zusammenfassenden Seins, ausgefüllt in dem von dem Willen zur Dauer aufgerichteten Kontinuum, d. h. an der idealen Stelle, in welcher der Gegenstand der Erinnerung und Hoffnung ein und dasselbe ist. Sein meint den Gegenbegriff zum „Schicksal". Es ist der Gegenbegriff des in die Kontinuität der Erinnerungs- und Hoffnungsganzheit ständig einbrechenden Nichtseins, der versinkenden Gegenwart. Daher meint Sein den Namen für den 45
exzentrischen Gegenstand, in dem die Macht der dauerlosen Präsenz gebrochen ist. Sein meint Dauer, Permanenz, Kontinuität, Vertrautheit, Heimat. Daher spricht die Tradition von ihm als dem Prinzip alles Existierenden (principium essendi), dem Prinzip der synthetischen (syndesmotischen) Uberwindung des Dauerlosen (Mannigfaltigen). Sein ist Gegenstand, d. h. dasjenige, was dem Willen zur Freiheit von dem Dauerlosen endlos entgegensteht. In ihm kommt der Wille zur Ruhe. Wie der Tod, der „ewig dauert", der Name ist für den Ort versunkener, um den Zeithorizont der Erinnerung und Erwartung gebrachter, stummer Augenblicke — das Schattenreich der Legende, so ist das Sein die Idee, in der der Gegenstand des Willens zur Übersteigung dieses Schattenreiches zur Erfüllung kommt. Sein ist der Name der Erfüllung dieses Willens zur Freiheit, d. i. des Willens zur Freiheit vom Geschehen. Es ist das Korrelat endlichen, sich in der Zeit, in der der Tod herrscht, aktualisierenden Willens. Nur aus dem Leben her, aus seinem intentional-exzentrischen Gegenstande, begreifen wir den Tod. Und aus dem Tode her, der Gestalt aufhebenden, zerstreuten Mannigfaltigkeit purer Data, begreifen wir das Leben. Sein ist die exzentrische Heimat des Lebens. Am Ende meint Heimat den idealen Gegenstand, der „allen meinen Vorstellungen notwendige Einheit verleiht". Wir leben wahrnehmend aus dem Unerfüllbaren her. Wahrnehmung hat einen Horizont in das Eschatologische, hinter der Zeit Liegende, und zwar so, daß ihr utopischer Gegenstand, die Einheit, selbst wieder zurückläuft in jeden Akt der Wahrnehmung und sie lebendig macht. Wir leben wahrnehmend von dem Unmöglichen her, von dem, was sich nicht in der Zeit realisieren kann, aber gerade in seiner Unmöglichkeit unserem Existieren in seinem gegen das Sterben anlaufenden Willen zur Dauer seine Möglichkeit gibt. Wir sagten: der Tod wirkt vor. Er wirkt vor in dem Willen gegen ihn. Unseres Lebens als endlichen inneseiend, leben wir aus dem heraus, was die Endlichkeit durchbricht. Leben in seiner Antwort auf den Tod wird durch sich selbst gesprengt, durch den Gegenstand, den es sich selber vorsetzt. Der Begriff Sein, der sich mit dem sinkenden Augenblick als die Urhandlung 46
der Existenz im Gegenzug gegen ihn bildet, ist der Begriff, in dem das Geschehen ebenso wie die Erinnerung und Erwartung als endlose Wiederholung seiner Uberwindung überflüssig wird. Das meint man wohl mit der Idee Gottes, wenn man sagt, daß Gott ohne Erinnerung und Hoffnung ist, d. h. von der Einheit adäquat erfüllte Gegenwart.
§ 9 EXKURS ÜBER DEN BEGRIFF DES GEGENZUGS. (ANMERKUNG ZUR THEORIE DER WAHRNEHMUNG)
a) Die M a c h t der G e g e n w a r t Der horror vacui Im Wahrnehmen, das wir für alle menschlichen Erlebnisse als exemplarisch genommen haben, liegt das auf-sich-Nehmen des Leidens am Geschehen im Willen zur Dauer. Wille (Urwille), sagten wir, ist Gegenzug gegen den versinkenden Augenblick, Gegenzug gegen den in die Kontinuität des Lebens ständig einbrechenden horror vacui: die Gegenwart. Das merkwürdigste aller Urphänomene ist die Gegenwart. In ihrem Wahrnehmen, ihrem Selbstwahrnehmen, gründen alle Evidenzen und Gewißheiten. Alle Gewißheiten, alle Modalitäten der Gewißheit: die Vermutung, der Zweifel, unser problematisches Fragen, die Weisen der Bekräftigung und Entkräftung, der Bewährung usw. gehen zuletzt zurück auf Gegenwarts-Wahrnehmung. Jede Erinnerungsevidenz hat die Quelle ihrer Rechtfertigung in dem, was einmal Gegenwart gewesen ist. Wir wissen, weil wir wahrgenommen haben. Unsere Antizipationen des Künftigen erhalten ihre Rechtfertigung in der Verifikation. Gegenwart ist Verifikation. Die Linien der Erinnerungsevidenz und Erwartungsevidenz laufen sozusagen zurück, oder sie laufen vor auf das „originär Gegebene", auf das „siehe da", dahin, wo uns das Seiende in seinem sinnlichen 47
oder auch nicht sinnlichen, allgemeinen oder auch quasi-sinnlichen, vielleicht halluzinierten Leibe aufgebrochen ist. Was der Mensch entwirft an Möglichkeiten, an realen oder idealen, was er erträumt an Utopien bis hinauf in die letzte Utopie eines Reiches des Friedens oder ewiger Harmonie, aber auch an negativen Utopien der Hölle, geht zurück auf Urerfahrung, ist von Gnaden oder Ungnaden des besessenen, urevidenten Augenblicks — jener Zeitstelle, wo uns die Gegenwart in ihrer Mächtigkeit besitzt und wir sie besitzen, einer Mächtigkeit, die nicht nur das „dies-da" in seiner Einzelheit meint, sondern in seiner konkreten, immer das ganze Universum präsentierenden Fülle. Gegenwart: das ist die Quelle, aus deren Reservoir wir schöpfen. Was wir wissen von der zeitlosen Ordnung der Dinge, aber ebenso, was wir wissen von dem Grauen des Sinnlosen, das die Welt durchzieht, einmal wurde es erfahren. Wenn der Sklave, von dem Sokrates im „Menon" spricht, die Zeichnungen in dem Sande wahrnimmt, dann erinnert er sich zeitloser Proportionen. Er erinnert sich auf dem Grunde dessen, was er sieht. Es ist die Gegenwartserfahrung, mit der er Erinnerungen assoziiert. Es ist Gegenwartserfahrung, auf deren Grunde er Gegenwart übersteigt. Wir werden zu fragen haben, worin dieser Überstieg seinen Grund der Möglichkeit hat. Wir betrachten zunächst das Mächtige der Gegenwart als solcher. Ein Erlebnis bricht ein — eine Freude, ein Liebeserlebnis, eine Erkenntnis, die Wahrnehmung eines Bildwerks, oder wir hören ein Konzertstück. Nicht nur, daß das nun nicht mehr Gegebene nachhallt — es, das Gegenwärtige, hat das Ganze unseres vergangenen und künftigen Lebens von Grund auf modifiziert. Wir sind minütlich andere. Wir können nicht mehr in die Vergangenheit zurück, und wir können auch nicht mehr in unsere vergangenen Hoffnungen zurück. Was Menschen oder Völker erleben, was sie an Großem vollbringen oder an Verbrechen begehen, ist prinzipiell nicht mehr rückgängig zu machen. Was Sokrates erfährt, wenn er das allgemeine Gute entdeckt, oder was Galilei entdeckt, wenn er fallende Körper und Himmelsbewegungen beobachtet, hat nicht nur die vor Sokrates-Platon oder die vor Galilei liegenden Erkenntnisse modifiziert. Die Präsenz dieser Entdeckungen reicht bis zum letzten Tag und 48
nicht nur ihre exemplarische Präsenz. Jede Art Erfahrung besitzt den Menschen und läßt ihn nicht los bis zum Jüngsten Tag. Menschen- und Weltuniversum wird durch die jeweilige Gegenwart bis in die letzte Zukunft verwandelt. Die Macht der Gegenwart besteht in der Verwandlung. Erinnerungen werden durch sie verwandelt, Hoffnungen erhalten einen anderen Prospekt. Das Universum erhält in der Endlosigkeit seiner Dauer durch sie ein alles modifizierendes rücklaufendes und vorlaufendes Gesicht. Das Samenkorn, in die Erde geworfen, verändert die ganze Welt — nicht erst, nachdem es aufgegangen. Gegenwart: das ist die Quelle der in das Kontinuum des Raumes und der Zeit einbrechenden Verwandlung. Wie das existierende Universum als solches, so gehen wir, die von seinem Existieren wissenden Existenzen, als neue Wesen aus jedem Augenblick hervor, mit neuen, sei es auch verschütteten oder nicht durchkommenden oder nicht erkannten Möglichkeiten des Fühlens, Wollens, Urteilens, Erkennens usw. Nicht der erste, sondern der letzte Blick entscheidet.
b) Die I n t e n t i o n a l i t ä t zu dem E i n e n G e g e n s t a n d Aber ist Gegenwart, dieses Vakuum, nur Quelle der Verwandlung? Gegenwart meint nicht nur Verwandlung. Seinsgewißheit bricht auf in der Gegenwart, Gewißheit von dem, was durch die Variabilität versinkender Augenblicke sich durchhält, was im Versinken nicht mitversinkt — Gewißheit von dem, was die Alten Parusia nannten, von dem immer An-wesenden. Auf dem Grunde dessen, auf dem wir in jedem Augenblick in den Abgrund blicken, dessen Kommen zugleich das Vergehen, Sterben meint, auf diesem mit dem Sterben koinzidierenden Grunde sind wir des Seins gewiß, nicht nur in dem beliebigen Sinne eines empirisch Gegebenen, sondern in dem Sinne dessen, das über allem Gegebenen, „jenseits" alles Gegebenen steht, des Seins nämlich, an dem, als alles Gegebene, alles je Gegenwärtige, je Verwandelnde, Vereinende und Sammelnde, das Universum, wie Aristoteles sagte, „hängt". 4
Metzger: Freiheit
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Und wir sind seiner in dieser fundamentalen Bedeutung gewiß, daß alle empirischen Gewißheiten, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten, alle Formen oder Gradualitäten der Gewißheit die Quelle ihres Rechts aus dieser Urgewißheit schöpfen. Augenblicke rollen ab. Geschehen, oder was dasselbe ist, Existieren rollt ab. Augenblicke sukzedieren sich und versinken in das Nichts. Inmitten dieses Geschehens, mit dem Geschehen oder besser gegen das Geschehen behauptet sich, was wir das Identische nennen, mit dem Geschehen irgendwie assoziiert. Wir sprechen von da-„Sein". Wir haben das in der Darstellung des wahrnehmenden Lebens klargemacht: Erinnerungen assoziieren sich mit sinnlicher Wahrnehmung (Empfindung), Erinnerungen nicht nur konkreter Universa und Hoffnungen nicht nur konkreter Universa, sondern Anamnese des exzentrischen, alle Konkretion überschreitenden, alles Geschehen hinter sich lassenden, aber aktuelles und mögliches Geschehen umfassenden Einen Objekts. Und dergestalt ist dieses assoziierte Objekt, daß die versinkende Gegenwart darauf exzentrisch gerichtet ist. Wir leben. Wir existieren „in" der Gegenwart. Nur „in" der Gegenwart existieren wir. „Nur die Gegenwart ist frisch, alles andere ist fahl und fahler" (Hegel). Aber wir existieren nicht aus der Gegen wart. Sterbend, kontinuierlich versinkend, leben wir aus dem, was sterbendes Leben überschreitet. Und so existieren wir aus dem, was nicht existiert, daß das Kondnuum dieses unseres wachen Lebens, unseres wahrnehmend-fühlend-wollend-denkenden Lebens, aus diesem Gegenstande als dem es orientierenden Grunde seiner Möglichkeit nach existiert. So weit geht die unheimliche Kraft exzentrischer Intentionaütät, daß wir unser sterbendes, in das Sinnlose versinkendes Existieren aus dem, was es in keinem Verstände ist, fühlend-handelnd-denkend wissen (verstehen). Wir wissen um Existieren aus dem Einen, Identischen, Wesenlosen heraus. Was wir Erlebnisse (Akte) oder Lebensformen oder Lebensgestalten nennen, um dasselbe ontologisch auszudrücken, sind „psychologische" oder „geschichtliche" Variable, bestimmt durch die Variabilität der Beziehung (der intentionalen Anziehung und Angezogenheit) durch die Ferne, den einenden Gegenstand. Für Piaton sind die „Ideen" 50
(Zahlen) Formen der Eins. Für Kant sind die Kategorien Formen der „Einheit der Apperzeption", die korrelativ auf das „Eine Objekt" (X) bezogen ist. Aber doch wieder: das Eine, einende Objekt wurzelt im Existieren. Es assoziiert sich, sagten wir, mit dem Existieren. Offenbar meint Existieren nicht nur je Gegenwärtiges, je Geschehendes, das in seinem Kommen zugleich Versinkende. Existieren, als das je Versinkende, ist keine Letztheit. Geschehen ist keine Letztheit. Sinnliche Data, das Hier und Jetzt, das, wie man sagt, in die Zeit einbrechende Geschehen, ist kein primum datum, so wenig wie dieses von dem Bleibenden, dem Invariablen, den Essenzen gesagt werden kann. Figuren im Sande sind nicht nur Figuren im Sande, und sinnlich Gegebenes ist nicht nur sinnlich Gegebenes. In ihrer Vergänglichkeit, in ihrer sozusagen hinwegwehenden Augenblicklichkeit sind die Gestalten, die wir sehen, die Töne, die verhallen, Aktualisationsstätten von bleibenden Proportionen dessen, was wir sehen oder hören oder imaginieren, und nicht nur dies : sondern von Proportionen oder Relationszusammenhängen, die ihren Ort in dem zeitlosen, alles wirkliche und mögliche Geschehen übersteigenden, aber es irgendwie (in einem näher noch zu beschreibenden Sinne) abbildenden All des Einen Seins haben. Die wesenlosen Symbole des Einen wurzeln im Existieren. In dem was zerfällt, wurzelt das Zeitlose. Im Sterblichen wurzelt das Unsterbliche. Mit dem, was nichts ist als eine Aufwallung im „leeren Raum", eine „irrende Ursache", ein Mannigfaltiges, eine ständige Andersheit, assoziiert sich, was „alles umfaßt". Und so besonders geartet ist Existieren im Menschen, dieser einzigartige Bereich innerhalb der nicht-organischen und organischen Existenzen, daß in seiner Zweidimensionalität, im Wissen von sich, d. h. Wissen vom eigenen und umweltlichen Existieren, Wissen von dem Grauen alles Da, die ureigenste aller Kategorien: die Sehnsucht (desiderium, Eros) aufsteigt, der Wille zur Dauer oder zum Sein, der Wille, mehr und mehr zu sein bis an die Stelle, wo alles Geschehen, alles Existieren zurückbleibt, aber doch so, daß das, wohin menschliches Verlangen zuletzt schreitet, die durchlaufenen Überschritte in infinitum wie in einem ständigen Rückblick „liebend umfaßt". 51
Das Wesenlose ist das alles Umfassende. Das Eine Sein ist dasjenige, woraus als dem allem Anwesenden und sich ihm zugleich Entziehenden das je Seiende in unendlicher Antizipation den Rechtsgrund seiner Wahrheit erhält.
c) Gegenzug und Gegenstand Wir haben bisher die Funktion oder die Stelle des sterbenden Augenblickes in dem Kontinuum der Lebensgestalten beschrieben und sind dabei auf das Wesen der Erinnerung und Hoffnung gestoßen, d. h. dessen, was wir die Wahrnehmung eines Dauernden nennen. Wir sprachen von dem Willen zur Dauer als Gegenzug gegen den sterbenden Augenblick, aber diese Erörterung blieb noch im Deskriptiven : wir haben noch nicht den Gegenzug begriffen, indem wir beschrieben, worin er besteht. Dieses eigentümliche exzentrische Wesen besteht ja nicht nur darin, daß sich mit dem je Gegenwärtigen ein konkretes Universum und zuletzt das abstrakte, formale Universum assoziiert, sondern darin, daß dieses ideale, zeitlose Relationssystem, genannt Universum, wahr ist, gültig ist für alles Geschehen, d. h. für das, von dem nichts gesagt werden kann, als daß es ein Kontinuum ständigen Versinkens in das Nichts bildet. Wir hören einen Ton, oder wir hören eine Tonskala, wir sehen das Grün an einem Baum. Was mit diesem Hören oder Sehen sich verbindet, sind nicht nur Zusammenhänge, die sich auf den jeweiligen Jetztpunkt beziehen, sondern mit diesem Gegebenen präsentiert sich der inhaltlich unendliche, aber von formalen Invarianten eingeschlossene Horizont des Alls. Wir sagen: jede Tatsache hat ihr Wesen. Wir sprechen von dem Zusammenhang, der Fundierungseinheit a priori von Essenz und Existenz. Der Physiker spricht davon, daß die mathematischen Symbole zu den Tatsachen in dem Verhältnis funktioneller Abbildung stehen. Das Merkwürdige dieses Sachverhalts besteht nicht in diesem Beieinander von zwei so gänzlich heterogenen Momenten, nicht in der Verbindung dessen, was je und je ein anderes ist, mit dem, was Bleibendes, zeitlos dasselbe ist, sondern darin, daß das System des Bleibenden, das System 52
idealer, d. h. irrealer Einheiten, zu dem versinkenden Geschehen in dem Verhältnis der „Wahrheit" steht: daß in diesem System das ewige Sterben, mors immortalis, in seinem Wesen offenbar wird. Und zwar ist dieses System erinnerter oder erwarteter, auf letzte Einheit bezogener idealer Einheiten oder Möglichkeiten „um so wahrer", je mehr es formalisiert, von aller Inhaltlichkeit, aller Materialität entleert ist. Nur in der Entleertheit von aller existentialen Kontingenz zeigt sich das Wahre — das Eine. Nur im Lichte des Wesenlosen zeigt sich das Seiende in seinem Wesen. Der Gegenzug ist auf den Gegenstand bezogen. Aber dieser Gegenstand ist nicht nur der terminus ad quem, zu dem hin als dem exzentrisch Einen das in jedem Augenblick aufbrechende, reproduktive Zeitbewußtsein (der Erinnerung, Hoffnung, der Phantasie, des Bildbewußtseins usw.) reicht. Es reicht gewissermaßen zurück. Das Kontinuum heimatlosen Geschehens, in das die Existenz geworfen ist, kommt in ihm nicht bloß zum Stillstand. Der Kosmos zeitloser Symbole ist nicht nur, was das sokratisch-platonische Denken in seinem beschwörenden Kampfe gegen die seinsverlassene, relativistische Sophistik von ihm sagte : Heimat, das Gute einer heimatlosen Welt. In dieser gegenständlichen Heimat „kommt" Existenz zum „Wahren". Bonum est verum. In dem, was Existieren in keiner Weise ist, kommt es zu dem, was es ist. In dem Reiche der unendlichen Fülle bleibender Möglichkeiten, einer Fülle aber, die, um den platonischen Ausdruck anzuwenden, in der Einheit zusammengebunden ist, kommt das Gegenwärtige, das nicht Feststehende, das in das Nichts Versinkende, zu seiner Offenbarkeit. Was kommt zur Offenbarkeit ? Was besagt es, daß das ewige Sterben in dem Einen Sein und in der Einen Wahrheit offenbar wird ? Und was besagt es, eine korrelative Sachlage, die zu dieser Problematik der Zusammengehörigkeit von Existenz und Essenz gehört, daß die existentielle, dem Tode anheimgefallene Welt in dem wesenlosen Einen nicht nur gründet, sondern daß, von der speziellen Tatsache des Menschen her gesehen, die um das eigene und das fremde Existieren wissenden Existenzen nicht von ihrem Existieren her leben, erkennen, fühlen, wollen, sondern von ihm weg und von dem her, was ihr Existieren nicht 53
ist, nämlich von dem Gegenstand und zuletzt von dem äußersten Gegenstand her, nach dem sie sich in ihrem Verlangen nach dauerndem Glück sehnen? Nichts ist geheimnisvoller — das Geheimnis, das in der großen Philosophie seit Piaton ständig umgeht — als dieses, daß der „Stoff", nach dem die Welt kategorial geordnet ist und den die Kosmologie und die Wissenschaften in seiner gesetzmäßigen Anordnung zu beobachten und zu erkennen suchen, derselbe ist, an dem sich menschliche Existenz sehnend orientiert, um gut oder glücklich zu sein, d. h. um Existenz auszuhalten. Sokrates, in seiner Frage nach dem wahrhaft Nützlichen oder dem Guten, nach der dauernden Eudaimonie, nannte das Bleibende das Gute. Piaton formulierte es als das Eine. Das Eine formulierte er als das Gestaltlose, das Wesenlose. Es ist dasselbe Gute, in das er in seinen Altersdialogen, vor allem in seiner letzten überlieferten Vorlesung „Über das Gute", den „Stoff, aus dem die Welt gemacht ist", die Formeln des mathematischen Logos, verlegt. Nicolaus Cusanus bringt die allen Weisen der Existenz, der sogenannten toten, belebten, beseelten oder geistigen Natur, inhärierende Kategorie des Hinausschreitens über das jeweilige Existieren auf diese Formel: „Als göttliches Geschenk wohnt in allen Dingen das natürliche Verlangen, auf bessere Weise zu sein, als dies der Zustand ihrer jeweiligen Natur zuläßt" (De docta I, 1). Wenn Existenz das je Seiende, das je Gegenwärtige meint und wenn das je Gegenwärtige das augenblicklich Vergängliche meint, so ist in dieser Charakterisierung kein primum datum bezeichnet. Empirie in diesem allem Empirismus (Positivismus), aber ebenso allem traditionellen Rationalismus (Apriorismus) zugrunde liegenden Sinne ist kein primum datum. Existieren meint das Überschreiten seiner selbst. Existenz richtet sich gegen sich selbst. Der gegenziehende Wille in der Existenz richtet sich gegen ihre Gegenwart. Gegenwart übersteigt sich, aber zu diesem übersteigenden Willen gehört zuletzt das in ihm intentional Gewollte: das Hinausgehen zu dem, woraufhin hinausgegangen wird. Das gegenständliche (ideale) Reich, das sich über dem sterbenden Augenblick aufrichtet, gehört zum Horizont der abgründigen Verwurzelung der Existenz. Existieren meint Geschehen, das immer andere, das immer neue, 54
aber ebenso Wegkommenwollen von dem immer anderen, zuletzt Wille zum Un-endlichen: Wille zum Überschritt der Endlichkeit. Auf der Stufe des um sich wissenden, wahrnehmenden Existierens zeigt sich der Wille zum Überstieg sozusagen in seinem limes in dem Willen, Gegenwart, das versinkende Unwesen, hinter sich zu bringen. Daher sind Erinnerung und Hoffnung nicht zufällige Ingredienzien der um Sterben wissenden Existenz, so wenig wie die Einheit der physikalischen Natur eine bloße „Arbeitshypothese" ist. Wäre der Augenblick nur Vergessenheit, so gäbe es kein Seiendes, kein Universum des Seienden. Das ist vielleicht die großartige Einsicht, die Piaton und Kant gleichermaßen zukommt, daß sie diesen alles Seiende „möglich machenden" Begriff der Erinnerung (Erwartung, Hoffnung) verstanden haben — Erinnerung als den Namen für die wiedererkennende Begegnung der wahrnehmenden Existenz mit dem alles vereinenden Gegenstande auf dem Boden dieser Existenz, die von dem Vakuum der Gegenwart, der zerreißendverwandelnden Andersheit, ständig getroffen wird. Jedes Existieren ist außer sich.
§ 10 D I E E X Z E N T R I Z I T Ä T DES G E G E N S T A N D E S
a) D a s O f f e n b a r e u n d das V e r s c h l o s s e n e Der Exzentrizität der Wahrnehmung entspricht auf der gegenständlichen Seite die Exzentrizität des Seins. Die Metaphysik wird in der Tradition, in der wir aufgewachsen sind, als Lehre von dem Sein, dem Prädikat alles Seienden, dargestellt. Aber das Sein ist ein komplexer Begriff. Wie das Atom, der Mikrokosmos des Seienden, zurückweist in seine nuclei, die es möglich machen, so weist die Kategorie Sein, die jedes Seiende begleitet, d. h. als oberste Bestimmtheit oder Attribut in jedem Seienden mitpräsent ist, zurück in ihre Elemente („στοιχεία"), die sie 55
möglich machen. Metaphysik ist die Reflexion auf die in der Idee Sein mitanwesenden Gründe ihrer Möglichkeit. Sie ist zurückgehende, mehr und mehr zurückgehende Reflexion auf diese konstituierenden Gründe. Wie die Physik, d. h. letztlich jede Wissenschaft, bei dem Seienden, den Dingen der omnitudo realitatis, stehenbleibt, doch zurückgeht auf seine sich in der Beobachtung verifizierenden Prinzipien und die mit diesen Prinzipien verbundenen oder von ihnen derivierten Gesetze, wie sie sich nicht genügen läßt an der bloßen Beschreibung und Morphologie der Dinge, sondern zurückgeht zur „exakten" Erklärung der Dinge aus obersten Prinzipien, so bleibt Metaphysik bei dem Sein als dem Prädikat alles Seienden stehen, aber nicht als „Doktrin" von den Bereichen und den Ordnungen, in denen sich das Sein in dem Reichtum der Gestalten offenbart und entfaltet, nicht als Ontologie oder Kategorienlehre, sondern als reflektierende Hermeneutik - die Hermeneutik des allumfassenden Prädikats, deren Organon, wie Sokrates meinte, der nicht aufhörende Dialog ist, d. h. die unendliche Reflexion auf die in dem Sein verborgenen Dimensionen (implicata) seiner Wahrheit. Nur wenn wir den Willen zur Dauer in seiner Arbeit verstehen, wie er in seiner Geschichte in der Welt am Werke ist, nur wenn wir diesen Willen in seinem Ursprung als Gegenzug gegen das Dauerlose verstehen und nur wenn wir verstehen, daß zu ihm der identische Gegenstand, das sich dem intentionalen Zugriff ewig entziehende Unum gehört, wird uns der Begriff Sein zugänglich — der ideale limes, in dem die Vergessenheit überstiegen ist: die alle Existenzen und alle Essenzen umfassende totale Einheit. Und umgekehrt: nur im Lichte der Realität dieses utopischen limes wird es klar, was das ewige Versinken in das Dauerlose, das Sterben und der Tod meinen. Das „Absolute", dasjenige, was relativ zu allem ist und zu dem alles andere relativ ist, dasjenige, auf das die Frage nach dem „Wesen" hinzielt, d. h. die Frage nach dem Wesen der Dinge und des Menschen in der Welt der Dinge wie die Frage nach dem Wesen des Einen Objekts, auf das menschliche Emotionen und kognitive Akte zuletzt gerichtet sind — das Absolute ist weder dieses Eine Objekt noch Geburt und Sterben noch 56
der gegenziehende Wille, es ist also weder die Gottheit noch das Geschehen noch die gegenziehende Existenz, sondern das Gesetz, das diese drei Urphänomene unabtrennbar zueinanderhält. Die Metaphysik des Seins ist die explizierende Hermeneutik dieses Zusammenhanges. Ihr Begriff ist uns aus dem Vorhergehenden in einem ersten Blick aufgegangen. Das Urphänomen des identischen Gegenstandes, das Sein, ist der schwierigste Begriff, mit dem das Denken sich befassen kann. Er ist der schwierigste, weil seine Erfassung der Entfernung von ihm gleichkommt. Seine Exzentrizität läßt keine Erfassung zu. Er ist, was Cusanus von der Gottheit sagte: supra omnia opposita. In seinem Charakter der Exzentrizität liegt der Grund der Hegel'schen These von der Identität von Sein und Nichts, der Grund der (Hegel'schen ebenso wie Marx'schen) Dialektik wie auch, alledem vorausgehend, aber immer dieselbe Exzentrizität der Wesenheit meinend, der Grund der platonischen These von der Transzendenz des Guten. Wir können also von einer gewissermaßen noëmatischen Exzentrizität (Transzendenz) des identischen Gegenstandes sprechen, die der noëtischen Exzentrizität der Wahrnehmung korrespondiert. Die entscheidenden Versuche, die bei Piaton und Kant vorliegen, diesen Begriff zu fassen, und zwar in Platon's Lehre von der Erinnerung und in Kant's Lehre von dem X der transzendentalen Apperzeption, sind sich in der Fundamentalansicht einig: Sein ist kein Gegenstand im Sinne der formalen Logik. Sein ist kein Etwas, kein „Subjekt möglicher Prädikabiüen". Sein ist kein praedicabile. Den Einen, alle Prädikabilität überschreitenden Gegenstand nennen wir Sein. Sein ist kein Seiendes. Es (die Beschaffenheit alles Seienden) hat weder da-Sein (Existenz) noch hat es so-Sein (Essenz). Die Unterscheidung von Sein und Seiendem ist fundamental, um den Begriff Sein zu fassen, und daher fundamental für jede Seinserörterung. Was Seiendem den Charakter des Seienden (Soseienden oder Daseienden) gibt, ist nicht selbst ein Seiendes — ist „jenseits des Seienden". Sein kann deshalb auch nicht als anschaubares „Wesen" beschrieben werden. Es ist kein Gegenstand der Intuition oder der Wesenserfassung. Es ist weder Substanz, noch ist es 57
Subjekt. Es kann nicht hypostasiert werden. Es ist kein Fetisch. Es hat keinen „überhimmlischen Ort", weil es überhaupt keinen Ort hat. Daher sagt Aristoteles (Met. A 986a, 19, 20) von der Einheit bei Piaton, daß sie keine Zahl sei, sondern das Prinzip der Zahl. Sein ist das in dem Seienden — es exzentrisch definierende — Anwesende. Ousia ist Parousia. Aber anwesend ist es nicht da oder vorhanden. Auf das Sein trifft der Satz des Cusanus zu, den er in Hinsicht auf das Verhältnis Gottes zu der Kreatur gemeint hat: „Du verlässest die Kreatur nicht, aber du begleitest sie nicht." Das nicht Vorhandene ist überall. „Clamitat in plateis" (Cusanus). Sein ist der auf dem Boden jeder empirisch-partikularen Erfahrung (Wahrnehmung), jeder Erfahrung eines Datums oder eines Geschehens mitgegebene, aber exzentrisch mitgegebene limes, in dem das Seiende zu seiner „durchgängigen Bestimmtheit" (Kant) kommt. Welt wird offenbar, indem wir, was in ihr geschieht, als Seiendes „ansprechen". Sein meint Offenbarkeit. Indem wir ein Geschehen mit dem Sein verbinden, z. B. indem wir es mit einem anderen Geschehen in Zusammenhang bringen oder es als ein da-Seiendes oder quasi da-Seiendes, als ein so-Seiendes erfahren, tritt das Nichts dieses Geschehens oder des versinkenden Vorgangs in einen Horizont der Offenbarkeit ein — einen Horizont, der sich nicht schließt oder nur im Unendlichen schließt: einen Horizont in infinitum. Aber ebenso gilt: was auch immer da „ist", d. h. vom Sein getroffen, ist in dieser Teilnahme am Sein Substrat verborgener oder nicht verborgener Offenbarkeit: „Subjekt möglicher Prädikabilien". Jedes Daseiende ist je und je die Aktualisationsstätte der Offenbarung. Es offenbart sich zunächst als ein Diesda, ferner als ein so - oder was-Seiendes, als ein Identifizierbares. Doch so geartet ist dieser Charakter des Dies-da identifizierbar zu sein, dieser zufallige, kontingente, wie man sagt, individuelle Bedeutungsgehalt, daß er in einen Horizont in infinitum des Kosmos der Offenbarung von Bedeutungsgehalten hineinweist, die untereinander einen je „typisch" gearteten Zusammenhang bilden. Das Seiende ist der Ort der Offenbarung, auch wenn das Offenbare verborgen ist oder immer verborgen bleibt. Das Verborgene ist nicht das Verschlossene. Von einem Geschehen 58
zu sagen : „es ist da", ist dasselbe, als zu sagen : „es ist so da" — das kategorial Umgreifbare. Das sind alles Paraphrasierungen des Satzes: dem Seienden kommt die Beschaffenheit Sein zu, wie dem Liebenden die Beschaffenheit Lieben - die Beschaffenheit, die, hier wie überall, jedes so und so „geartete" Individuelle in einen Prozeß zunehmender Bestimmung eines vorgängig Unbestimmten hineinzieht und ihm in diesem Kosmos der Bestimmbarkeit einen Ort anweist — einen Prozeß, der für uns Menschen ein unendlicher ist oder vielleicht in Domänen hineinweist, von denen Kant sagte, daß sie als „übersinnlich" alle endliche Erfahrbarkeit überschreiten. Aber ob wir es mit sinnlich erfahrbarem Material zu tun haben (mit unlebendiger, lebendiger oder beseelter „Materie") oder mit „Geistern in einer anderen Welt", Seiendes ist das Subjekt möglicher Bedeutung. Und dieser ¿ein Substratcharakter der Prädikabilität ist unberührt davon, ob ein göttlicher oder menschlicher Intellekt, ein intellectus infinitus oder finitus, mit dieser Welt des Seienden in irgendeiner Weise zu tun hat; auch unabhängig davon, ob wir mit der Welt, den Dingen dieser Welt, praktisch umgehen oder sie theoretisch traktieren; ebenso unabhängig davon, daß wir, entsprechend den differenten Seinsweisen, in denen sich Seiendes darstellt — als physikalisches, biologisches oder menschliches — verschiedene Methoden der Beschreibung ausbilden, in denen wir versuchen, dieses Seiende, die Stätte der Seinsoffenbarung, in den Modus aktueller Offenbarkeit überzufuhren. Denn was den unendlichen von dem endlichen Verstand unterscheidet, betrifft nicht das fundamentale Wesen alles Seienden, am Sein „teilzunehmen", d. h. sein Wesen, Aktualisationsstätte durchgängiger Bestimmbarkeit oder kategorialer Betroffenheit zu sein, sondern betrifft, vorausgesetzt, daß diese Differenz überhaupt ausweisbar ist, die Verwirklichung seiner Offenbarkeit, d. i. die Überführung von der Verborgenheit in die offenbare Wahrheit. Kant, der von den unerkennbaren „Dingen an sich" („res sicuti sunt") spricht, hat niemals bestritten, daß sie sich dem Herrschaftsbereich der Kategorien entziehen. Er hat behauptet, daß die Kategorien „für uns", in dem theoretischen, auf sinnliche Rezeptivität angewiesenen Ver59
stand, nicht anwendbar sind. Wohl aber werden sie, „das Ubersinnliche", ihm in der „Praxis des Herzens" offenbar. Das Verborgene ist nicht das Verschlossene. Verschlossen ist das nicht-Seiende, dasjenige, was Piaton unter dem Begriff des Maeon zusammenfaßte und was die biblische Legende als das „Wüste und Leere" bezeichnete, die „irrende Ursache" des platonischen Mythos. Verschlossen ist der versinkende Augenblick, die Gegenwart, die in die Kontinuität des Offenbaren, der Seinsversammlung, ständig einbricht, das die Kontinuität oder die Dauer des Seienden bedrohende Geschehen. Verschlossen ist das Mannigfaltige, das Diskontinuierliche, das Isolierte, das erinnerungs- und erwartungslose Jetzt und der Tod als die sich ewig ausdehnende Dämonie dieses Jetzt. Dies ist das Wunder, an das alle Seinsforschung, d. h. alle erdenkliche Metaphysik, anzuknüpfen hat: daß das Geschehen oder das Existieren, dieses Datum, an dem menschliche wie göttliche Welt hängt, als daSeiendes gegeben ist —, daß wir das Geschehen „in der Welt" (als physikalisches oder biologisches oder als Geschehen im Menschen) derart erfahren, daß wir darüber qualifizierte Aussagen machen können, die es zuletzt an den limes des Einen alles Seiende zusammenfassenden Seins binden. Geschehen offenbart sich in der nimmerendenden Sprache (logos, Dialog). Sprache ist die Zuordnungsbeziehung des Variablen zum Invariablen. Hier in diesem Können der Zuordnung liegt das Urfaktum, an dem das denkende Sichwundern sich letztlich entzündet. Was ist der Grund seiner Möglichkeit? Darüber hinaus aber steigt das Geheimnis aller Geheimnisse auf: das Geschehen antwortet auf die Kategorien der Seinsbetroffenheit. Geschehen antwortet auf Sein. Nicht nur, daß wir das Geschehen ordnen, wenn wir es morphologisch oder mathematisch oder hermeneutisch darstellen, das Geschehen korrespondiert dieser Ordnung. Das Variable ist in invarianten Symbolen darstellbar. Das Geschehen, das Kontinuum des Diskontinuierlichen, antwortet auf Symbole der Kontinuität. Immer stoßen wir in der Frage nach dem, was Sein „ist", auf dieses urkategoriale Phänomen : das ewig Versinkende, das Verschlossene öffnet sich in Symbolen der Dauer. Geschehen 60
kann beschrieben, erklärt, gedeutet werden, und zwar nicht nur so, daß die Symbole oder Koordinaten (Begriffe) der Beschreibung, der Erklärung oder der Deutung dem Geschehen als etwas ihm Fremdes gegenübertreten, wie es in den Theorien geschieht, in denen die Begriffe pragmatistisch oder konventionell gedeutet werden. Vergängliches stellt sich uns in Symbolen der Kontinuität, der Dauer und zuletzt des Unvergänglichen dar. Wir beziehen uns in unseren Aussagen und in unserem Sagen auf die Kontinuität des Seienden. Die Kategorien der Sprache und der ihnen zugeordneten Sachverhalte setzen die Kontinuität voraus. Aber sie verifizieren sich in etwas, was durchaus nicht Kontinuität ist — in „etwas", was nicht ist, sondern geschieht. Sein verifiziert sich im Nichtsein — dieses Sein, das weder ein sinnliches phaenomenon, noch ein geistiges noumenon ist, weil es sich jeder Charakteristik, auch der eines geistigen Wesens, eines geistigen Seienden entzieht, aber so geartet ist, daß es das Universum des Seienden als dessen Seinsgrund möglich macht. Und es ist nichts als der Grund dieser Möglichkeit der Zuordnungsbeziehung eines ständig Versinkenden und Sterbenden zu einem nicht Versinkenden, worin sich das Versinkende ausspricht, worauf Metaphysik reflektiert.
b) Sein und Seinsverständnis Die Grundform, in der sich Sein originär darstellt, ist die Dauer. Wir haben die Dauer als die in Erinnerung und Erwartung (Hoffnung) konstituierte Kontinuität in der Diskontinuität des sterbenden Jetzt analysiert. In der Konstitution der Dauer sind Erinnerung und Hoffnung als ihre Elemente involviert. Das prädikatlose Sein, das Prädikat (Attribut) alles Seienden, ist konstituiert. Aber Konstitution besagt nicht, daß wir Sein auf Subjektivität „relativieren". Jeder „Subjektivismus", jeder idealistische, materialistische, positivistische oder sonstwie geartete „Standpunkt" würde sich am Sein vergreifen, weshalb es auch immer abwegig war, von einer materialistischen oder idealistischen oder irgendwie standpunktlichen Metaphysik zu sprechen. Metaphysik reflektiert auf die Seinselemente. Kon61
stitution besagt, daß der Begriff Sein in sich Erinnerung und Hoffnung als seine Elemente trägt. Wir verstehen jetzt, was dieses Wort „Seinselemente" zu besagen hat. Sein meint zunächst Weltverständnis. Oder besser: Welt, das, was in ihr geschieht, wird im Lichte des Seins verstanden. Geschehen verliert seine Dämonie. So gerichtet nun ist dieses Sein, daß es in Akten des Willens zur Dauer, d. h. in Akten der Erinnerung und der Hoffnung, zwar zur Konstitution kommt, aber daß der Gegenstand, der in diesen Akten in das Licht tritt, das durch alle Zeit dauernde, bestehende, kosmogone Prinzip der seienden Welt abgibt. Wir gehen nicht nur seinsverstehend mit den Geschehnissen, d. h. sie ständig übersteigend, im Alltag unseres bedrohten Daseins um, derart, daß wir vielmehr aus der Zukünftigkeit als aus der Gegenwart leben — die Wissenschaft (und gerade in ihrer vollendeten Form als mathematische Theorie) bestätigt die Realität des alles Geschehen übersteigenden unum, aus welcher Antizipation her sie sich in ihren Experimenten und Theorien von den präsumierten Invariablen ihres Koordinatensystems leiten läßt. Es gibt kein erdenkliches Dasein in der Welt ohne die Voraussetzung, daß der „Raum" des Geschehens und der „Raum", worin wir leiden und handeln, die Entfaltungsstätte ist von etwas, was mehr ist als chaotische Mannigfaltigkeit, nämlich die Aktualisationsstätte von Einheiten der Dauer. Nicht nur in dem auf menschliches Dasein in der Welt bezogenen Sinne ist die Realität einer sich entfaltenden, wie auch immer charakterisierbaren Ordnung im Geschehen unaufhebbar, sondern in dem ontologischen Sinne, daß das Geschehen in Symbolen der Ordnung sich in seiner Wahrheit vorstellt. Nicht nur der „Rationalismus" Platon's und Kant's basiert auf der apodiktischen Gewißheit der Realität des Kosmos. Auch da, wo diese Realität in den nominalistisch-empiristischen Untersuchungen, die in David Hume ihren erleuchteten Vertreter fanden, geleugnet wird, betrifft diese Leugnung nicht die Realität, sondern das Problem des Zugangs zu ihr. Der auf der Basis von Sinneserfahrungen sich aktualisierende, theoretische Zugang zu ihr wird geleugnet — eine Leugnung, hinter der sich weit mehr verbirgt als „nihilistischer Skeptizismus". 62
Sein meint also nicht nur Prinzip von Verständnis der Welt, sondern ontologisches Prinzip der Ordnung ihres Variablen. Daher spricht der Idealismus von ihm als dem „Absoluten" — dem Grunde der Möglichkeit des Wissens ebenso wie des „Realen". Daher sprach Kant von ihm als dem ens realissimum (der Gottheit) und konnte es gleichzeitig wagen, die Invariablen, in denen sich dieses Absolute (der Gegenstand = X) in der Welt manifestiert, aus den „subjektiven Quellen" der Erfahrung (dem Zeitbewußtsein) zu „deduzieren". Denn dies muß immer festgehalten werden: Sein ist ebenso kosmogonisches Prinzip (principium essendi), wie es Prinzip des Weltverständnisses ist. Als das letztere Prinzip weist es hinein in den Grund des Zeitbewußtseins, den Willen zur Dauer. Wir verstehen jetzt diesen Ausdruck besser. Sein stellt sich in alter Redeweise dem Nichtsein gegenüber. Diese polare Dualität gehört zu seinem Wesen. Es gibt kein Sein ohne den sterbenden Augenblick, d. h. ohne die in diesem ewigen Versinken des Geschehens sich dokumentierende Macht des Todes. Aber ebenso: es gibt kein Sein ohne den Urwillen, dieses absolute Sterben zu übersteigen. Sein konstituiert sich im Gegenzug gegen das Dauerlose. Es ist gewissermaßen begleitet von dem versinkenden Augenblick, aber es weist ebenso zurück auf den Willen zu seiner Erhaltung. Seine synthetische Mächtigkeit manifestiert sich im vielen. Schelling sagt von der Gottheit, daß zu ihrem Wesen der Wille zur Selbstoffenbarung in dem irregulären Grunde gehöre. Gott, sagt er, hat „Grund", „Natur". Er trägt den Grund mit sich, d. h. das Grundlose, das Abgründige, das Verschlossene als das Element seiner Selbstmanifestation. Sein, können wir ohne die theologische Ausdrucksweise sagen, ist der Name für die Begegnung des Grundlosen mit der es übersteigenden Transzendenz, der Existenz mit der Essenz, wenn wir diese scholastischen Ausdrücke für das anwenden wollen, was sie meinen: das Abgründige, die Nacht, und das dieses Abgründige, Gestaltlose ordnende oder begrenzende, in das Licht erhebende, offenbarende Prinzip. Und es ist wieder diese Begegnung in der Mannigfaltigkeit ihrer Seinsweise, was Philosophie als metaphysica specialis im Auge hat, wenn sie auf das „Wesen" der Welt, des Menschen oder 63
das „Wesen" der Gesellschaft usw. reflektiert, dergestalt, daß es ihr eigentlich nicht um den Menschen oder die Natur oder um das Begreifen der gesellschaftlichen Assoziation geht, sondern darum, die essentialen Formen zu erkennen, in denen sich die Transzendenz des Seins manifestiert - innerhalb des abgründigen Geschehens, in das alles Daseiende hineingeboren ist. Es ist ein Thema, das die Metaphysik als Seinslehre beherrscht: die Begegnung der unitas mit der alteritas. Sein konstituiert sich in der Zeit, in Prozessen der Erinnerung und der Erwartung (Hoffnung). Niemals ist Falscheres behauptet worden, als daß durch den Hinweis auf die Zeitkonstitution das Unum - der Ursprung alles Seienden - „psychologisiert" werde. Darin besteht vielleicht das eigentliche Weltgeheimnis, daß in den Prozessen der ihres Existierens inneseienden menschlichen Existenz, d. h. in den Prozessen des Willens zur Dauer, der identische Gegenstand in den Blick kommt, auf den nicht nur alle menschlichen Aktionen als auf den Gegenstand ihrer letzten Sehnsucht gerichtet sind, sondern an dem ebenso das in Seinssymbolen darstellbare Wesen der gestalteten Welt hängt. Was der Grund der Möglichkeit dieser Koinzidenz ist, daß das Sein, das wir als Transzendenz, als den immerwährenden Prozeß des Überstiege über das Dauerlose erfahren, die Wahrheit dieses Dauerlosen „abbildet", das zu begreifen scheint mir die höchste Aufgabe menschlichen Anliegens, die Aufgabe der philosophia perennis zu sein.
c) Seiendes und Sein Wir sprachen von der Korrelation von Wahrnehmung und Sein - nicht, weil wir den Begriff Sein „idealistisch" deuteten, sondern weil die Wahrnehmung - und zwar der in ihr vorliegende Befund — der exemplarische Boden ist, auf dem Sein «eine ursprüngliche Konstitution als Dauer in dem Dauerlosen verrät. Erinnerung und Erwartung (Hoffnung) sind nicht etwas „Subjektives" oder „Psychologisches", sondern sie gehören zur Grundkonstitution der Welt als dauernder und seiender. 64
Weil Sein, die bleibende Beschaffenheit des Seienden, die Erinnerung und Antizipation als seine Elemente in sich trägt, daher ist Wissenschaft als die Lehre vom Seienden und die Erforschung von Seinsgebieten zugleich Lehre von der aus letzten Prinzipien der synthetischen Dauer derivierten Weltidee. In jedem sinnlichen Datum, das wir wahrnehmen und dessen konstante Zusammenhänge mit anderen Daten wir beobachten, ist der Horizont erinnerter und erwarteter Einheit mitgegeben. Und wenn die Welt auf Symbole antwortet oder genauer, wenn es Symbole der Dauer sind, die sich im Dauerlosen verifizieren, ja, wenn seiende Welt nichts ist als Antwort auf Symbole in dem Strom wesenlosen Geschehens, so heißt dies zunächst: in den Dingen und Vorgängen und Umständen der Welt ist der diesen Strom versammelnde Seinsgrund anwesend, die in jeder Explikation, in jeder Welt- und Menschendeutung erinnerte und erwartete Einheit, zuletzt die alles umfassende, alles Seiende übersteigende Einheit, die mit dem Wesenlosen purer Qualitäts- und Inhaltslosigkeit koinzidiert. Logisch gesehen, können wir die Wesenlosigkeit des Seins vorläufig so beschreiben : Sein ist ein Relationsbegriff, der Name für die Relation von termini (relata), aber derart, daß jede explizierende, z. B. jede S mit Ρ verbindende Relation, jede Copula den Anfang eines Systems transzendierender Relationen bildet. Aber doch wieder : Sein, der Relationsbegriff, geht nicht in den Relationen auf, wie der Idealismus behauptet, der Sein mit dem System von Beziehungen identifiziert, mit den Kategorien, die dieses System in Invarianten ausdrücken. Sein ist der limes, gegen den der das Mannigfaltige vereinigende Prozeß konvergiert. Aber das, worauf der Prozeß konvergiert, ist nicht identisch mit dem Prozeß selbst. Sein, heißt es im „Sophist" (247 b), ist Mächtigkeit (δύναμις). Es ist die jede Beschaffenheit oder Relation richtende, exzentrisch ausrichtende Mächtigkeit. Es ist das definiens jedes definiendum. Es ist die das je und je Seiende zwar je und je Bestimmende, aber in infinitum sich hinausschiebende Grenze — die in der erinnernden Erwartung antizipierte Möglichkeit alles Seienden. Das Sein (die Wirklichkeit oder Wahrheit) eines Seienden besteht in der transzendierenden Totalität aufeinander bezogener Bestimmungen. Die Al5
Metzger: Freiheit
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ten sprachen von der possibilitas, die sie realitas nannten. Wahrer ist das Umgekehrte: realitas est possibilitas. Denn wir sagen: alles, was geschieht oder existiert, hat ein so-Sein (quidditas, Essenz). Es hat da-Sein (irgendwo und irgendwann) und so-Sein. Alles Seiende ist, wie wir sahen, der Name für die Begegnung von beiden, denn jedes Daß hat ein Was. Aber das Was, in welcher Allgemeinheitsstufe auch immer, definiert nicht das Daß. Eine merkwürdige Sachlage: das Daß trägt in jeder Bestimmung einen Horizont der Unbestimmtheit mit sich. Es ruht gewissermaßen in keiner Bestimmung, in keinem begrenzten Zusammenhang, in welchen auch immer es gestellt sei. Die Macht des unendlichen Seins erstreckt gewissermaßen ihren Herrschaftsbereich auf jedes Endliche, auch das minimalste Faktum. In jeder Washeit ist eine höhere Mächtigkeit, in jedem Naturgesetz ein umfassenderes Gesetz impliziert. In jedem Eidos lebt die Ousia, in jeder Gestalt west die Übergestalt. Hinter der Differenz von Essenz und Existenz, die so vielfach und oft fruchtlos das Denken beschäftigt hat, steht die Differenz von Sein und Seiendem, die durch den Grund des Geschehens geht. Aber doch: was wir erfahren, sind endliche, abgegrenzte, anschauliche Dauereinheiten (Permanenzen, Gesetze, Regeln), in denen wir das Dauerlose darstellen oder von denen wir in unseren Emotionen betroffen sind. Wir erfahren nicht Dauerloses. Wir erkennen nicht Tatsachen. Tatsachen sind kein mögliches Thema der Wissenschaft. Was wir erfahren, sind Zusammenhänge - zuletzt Tatsachen als Variable eines invariablen Systems. "To be is to be the value of a variable" (W. O. Quine, Designation and Existence, Journal of Philosophy, No. 26, 1939, p. 708). Wir fügen (nach Carnap) hinzu: "the value of a variable in a certain system". So kommen wir immer zurück auf das konkrete da-Seiende. Wir können über Sein nur aus der Möglichkeit des Zugangs zu ihm auf dem „Bathos" der anschaulichen Erfahrung sprechen, doch so, daß wir dieses Anschauliche, das Gegebene, nicht nur als den Ausgangspunkt für dauernde Einheiten und Zusammenhänge verstehen, zu denen sich die Erfahrungs- oder Wahrnehmungsinhalte in der Reproduktion verwandeln, sondern
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darüber hinaus als die Aktualisationsstätte für ein Relationssystem dieser Einheiten - ein System, das zuletzt darauf angelegt ist, uns die Wissenschaft in Form einer abstrakten, vierdimensionalen Mannigfaltigkeitsordnung darzustellen, einer Ordnung, deren invariable Koordinaten jeder anschaulichen Repräsentation entzogen sind. Das Sein bestätigt sein Wesen der Exzentrizität — sein altes Wesen der Seiendes begründenden, aber alle Gestalten übersteigenden Transzendenz. In alledem bleibt die Frage offen: Was ist der Grund der Möglichkeit dieser Zuordnungsbeziehung des Dauerlosen zu dem Dauernden ? Es ist klar, daß wir uns bei den positivistischpragmatistischen Antworten nicht beruhigen können. Gesetzt, daß es wahr ist, daß wir die dauerlose Empirie „zu unserem Nutzen" ordnen, so bleibt die Frage nach dem Grunde offen, daß die „Tatsachen" auf die Symbole der Ordnung antworten. Gesetzt, daß es wahr ist, daß wir als endliche Wesen in den regellosen Strom der Empirie geworfen sind, den der kalvinistische Pragmatist William James „dämonisch" nennt, es bleibt das Problem, daß diese Dämonie einem zeitlosen Koordinatensystem zugeordnet ist, das sich in ihm verifiziert. Daß das Chaos mit der Ordnung verbunden ist und in ihr seine Wahrheit findet, das ist das Problem. Was auch immer die Typen sein mögen, in denen Ordnung sich darstellt, Typen, die in den verschiedenen Seinsgebieten variieren und demgemäß nach verschiedenen Methoden ihrer Darstellung verlangen — Welt, in der wir sind, ist in den Variablen des Zeitgeschehens entfaltete Ordnung. Worauf weist dieses Urfaktum, daß das Geschehen draußen und drinnen im Menschen überstiegen wird — daß es sich als Seiendes darstellt ? Was sind die Quellen, aus denen her wir das Geschehen, den Strom versinkender Augenblicke, übersteigen, d. h. seine Macht in den Symbolen der Transzendenz (Unum) brechen? Und wie begreifen wir die Transzendenz zugleich als die die Wahrheit dieses Stromes enthüllende Macht?
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DRITTES KAPITEL
ZUR GESCHICHTE DER SEINSIDEE ODER DES PERMANENTEN
EINLEITUNG
Die Idee ist vorhanden und wirklich, nicht etwas da drüben und hinten (Hegel).
Die Frage, die uns in diesem historischen Kapitel beschäftigt, ist folgende: Wie stellt sich im Laufe der abendländischen Geschichte das Sein dar? Anders gesprochen: wie stellt sich der Prozeß der Antwort dar, in dem das Geschehen in die Symbole der Permanenz aufgenommen wird ? Wir wollen den Fortgang der Seinserkenntnis in seinen Ansätzen verfolgen — von der Erkenntnis des Seins als kosmogonen Prinzips zu der Erkenntnis des Seins als des in dem Willen zur Dauer konstituierten Prinzips — eine Geschichte nicht nur der menschlichen Grundgewißheit von der Realität des Permanenten (Invariablen), sondern ebensosehr des immer erneuerten, immer verwandelten Versuchs, die Zuordnungsbeziehung des variablen Geschehens zu dem es übersteigenden Invariablen auf ihren wahren Begriff zu bringen. Der Dialog, über die Jahrtausende hinweg, Kant's mit Piaton ist das Thema dieser Geschichte. Piaton und Kant haben die Wege bestimmt, auf denen die Generationen — in Weiterführung oder Vertiefung ihrer Ansätze — gegangen sind. Worum es uns aber in dieser geschichtlichen Betrachtung letztlich geht, ist, daß wir das Seinsproblem in der Gestalt zu ergreifen suchen, in der es in der gegenwärtigen Generation lebendig ist. Was der freie Wille ist, welches die Dimensionen sind, in die dieser Begriff hineinfuhrt, dies zu enthüllen, hat sich diese Arbeit vorgesetzt. So viel ist uns bisher gewiß geworden: Wille und
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Transzendenz sind aneinander gebunden. Alle Untersuchungen über Willen und Freiheit hängen von der Einsicht in das Wesen der Transzendenz ab. Aber dieses Wesen ist ein geschichtliches. Jeder Generation ist neu aufgegeben es zu ergreifen, nicht bloß in dem Sinne, daß wir es in seiner Kraft erkennen, menschliches Dasein zu richten und zu bilden, sondern ebenso in dem Sinne seiner Funktion, die Dinge in ihrer wissenschaftlichen Bezogenheit zu bestimmen.
§ « D A S PERMANENTE IN DER PLATONISCHEN ERÖRTERUNG 1 )
Die Frage nach dem Wesen dessen, was wir das Identische oder das im Geschehen sich als dasselbe Durchhaltende nennen, hat an uralte Probleme anzuknüpfen. Die Frage ist von Piaton gesehen worden. Im Zusammenhang seines Hauptproblems, der Beziehung des Einen zum vielen, und, diese Relation überschneidend, des Begrenzenden (πέρας) zum Unbegrenzten (άπειρον), kommt sie zum Durchbruch2). Das Problem wird im Philebos (18b) erörtert: „Nachdem ein Gott oder ein göttlicher Mensch die Stimme in ihrer Unbegrenztheit erfaßt hatte - wie denn in Ägypten eine Sage geht, welche sagt, es sei dies ein gewisser Theut gewesen, welcher zuerst die Selbstlauter in diesem Unendlichen nicht als Eines, sondern als mehrere erkannte, und dann wiederum andere, die zwar nicht am Laut, sondern nur an einem Geräusch teilhaben, von denen es gleichfalls eine bestimmte Zahl gäbe, und der endlich 1 ) Dieser Paragraph ist ein Abriß aus einer breiteren, unveröffentlichten Platon-Analyse. 2 ) Dieser Problemkomplex geht um die Zentralbegriffe seiner Philosophie, Dihairesis und Syndesmos, von denen her wir auch den höchst interessanten Aufschluß über die Provenienz des aristotelischen Syllogismus-Begriffs erhalten, wie überhaupt nun von dieser Sphäre des Beständigen und Bleibenden das maßgebende Licht auf das Wesen des Apeiron fällt: des „Maßlosen" und der „Mutter" (Materie).
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noch eine dritte Art (είδος) von Buchstaben unterschied, die von uns stumme genannt werden, da trennte (διήρει) er die laut- und geräuschlosen bis zu jedem einzelnen und die Selbstlauter und die stummen auf dieselbe Weise, bis er die Zahl fand für jeden einzelnen und für alle und sie „Buchstaben" (Elemente) nannte. Da er sah, daß keiner von uns auch nur einen für sich besonders ohne sie alle verstehen könnte, so erfaßte er denkend dieses Band (δεσμός) als eines und zugleich als alle diese irgendwie zur Einheit Bringendes und nannte die eine, diesen Gegenständen zugeordnete Wissenschaft (τέχνη) Grammatik." Die gegliederte (mathematische) Ordnung des vielen steht bei Piaton für das, was er das Seiende (τά δντα) nennt. Oder in unserer Sprache : wenn wir unter Sein die Beschaffenheit verstehen, die allen Gebilden zukommt, welche wir seiend nennen oder, was das Äquivalente ist, in Beziehungszusammenhänge stellen, wenn wir diese allgemeine (wiederholbare) Beschaffenheit des Seienden das Sein nennen, so ist dieses Seiende Eines, und zwar ein solches, das sich in einer zählbaren, gegliederten und verbundenen Ordnung darstellt — in einer Ordnung von Gestalten, von Arten und Gattungen, zuletzt in obersten Gattungen, denen in der Teilung (διαίρεσις) unterste Einheiten, die „unzerlegbaren Gestalten", die „Atome" (,,άτομον είδος"), die „Elemente" entsprechen. Das Sein ist also für Piaton der Name für die gegliederte Ordnung des Mannigfaltigen oder die Einheit in dem Mannigfaltigen, dem Verschiedenen. Anders gesprochen: das Eine, „die Eine Idee, die wir immer voraussetzend suchen", zerlegt sich in endliche, zählbare Einheiten. Diese Einheiten sind unter sich durch ein „Band" verbunden. „Denn keines ist für sich und kann ohne sie alle begriffen werden." Das Eine ist Band. Insofern ist „in dem Einen alles enthalten". Insofern ist es der Grund (άρχή) alles Seienden. Es ist der Eine Kosmos oder besser der Kosmos des Einen, der das Sein (oder das Wesen) der Dinge ausmacht. Kosmos meint Relationssystematik. Die einzelnen Gestalten, in aller ihrer Konkretion, können nur als relata (termini) einer Relationssystematik begriffen werden. Was das einzelne „ist", ist es nicht durch seine Besonderheit, sondern durch das System, 72
das Ganze, in dem es demonstrierbar, d. h. dihairetisch darstellbar ist. Es ist definiert durch seine Stelle in der Mannigfaltigkeitsordnung. „Die Einheit ist ebenso das Eine wie das viele, wie das Unendliche, Unzählbare" (16d). In den Kosmos des meßbaren, geordneten, also endlichen vielen geht das unterliegende Unnennbare, die mütterliche Materie, das Apeiron, ein: den Kosmos, dem die Eine Wissenschaft, d. h. die Grammatik (Mathematik), zugeordnet ist. Bekanntlich hat Aristoteles an die Darlegungen des Philebos von der Einheit, die das Eine und das viele und das Unbegrenzte ist, in seiner Polemik gegen Piaton angeknüpft. Der Schwerpunkt liegt bei Aristoteles auf der materialen, gattungsmäßigen Besonderung (διαφορά) der Dinge. Die Dinge sind das, was sie sind, durch ihre Besonderung. Aber die Besonderung der Dinge (der eide) ist nach ihm nicht von Gnaden eines übergeordneten Ganzen, d. h. nicht von Gnaden eines sie formenden Allgemeinen. Im Wesen — im Reiche der ousia - gibt es kein Vorher und Nachher (Met. 1038a, 29). Wenn man die allgemeinen Gattungen und Arten dihairetisch teilt, dann kommen wir zu der letzten Unterscheidung, dem besonderen, konkreten, „unteilbaren Eidos". Dieses concretum ist für Aristoteles das „Wesen" des Seienden. Für Piaton ist das concretum der Relationspunkt eines Relationsgefüges, das die Einzelheiten „unter sich und mit allem verbindet". In dem System des Ganzen, innerhalb dessen sich die Einheit in dem vielen entfaltet, besteht fur Platon das Wesen der Dinge. Die Definition des einzelnen liegt im System, in das es eingeordnet ist, nicht, wie für Aristoteles, in der Herausstellung der Besonderheit, d. h. der spezifischen Differenz seines ihm zugehörigen nächsten Genus (genus proximum). Die Differenz Piaton—Aristoteles besteht also keineswegs, wie oft behauptet wird, in der „Trennung von Idee und Tatsache". Das ist eine moderne Erfindung, von der wir später im Zusammenhang des Nominalismus zu sprechen haben werden. Nur durch das Bestimmtsein als eidos können Aristoteles ebenso wie Piaton von dem, was ist, sprechen. Das, worin alles Seiende oder, wenn man will, das Sein als die gemeinsame Beschaffenheit alles Seienden gründet, ist für beide Philosophen das Ineinandersein 73
von Form und Materie, das Bestimmtsein des Individuellen durch das allgemeine eidos. So verschieden jene Materie von beiden gefaßt sein mag, immer doch ist sie nur als das der allgemeinen Form zugrunde liegende, individuierende, stoffliche Material gemeint. Die Differenz der beiden geht zurück auf eine verschiedene Interpretation der geformten Materie, also des „unzerlegbaren eidos". Wenn Aristoteles den Schwerpunkt auf die Besonderung der Gestalten legt, wenn er die Besonderung zur Grundlage seiner morphologischen Typenlehre macht, so liegt bei Piaton der Schwerpunkt auf der „Teilnahme" des Besonderen, der geformten Materie, an der Einheit und ihrem entfalteten, zählbaren Ordnungsgefüge. D. h. der Schwerpunkt seines Gedankens liegt nicht eigentlich auf der ousia, dem Reichtum ihrer Gestalten, sondern auf dem Werden der ousia (γένεσις είς ούσίαν, Phileb. 26d), d. h. dem Ubergang von dem Unmeßbaren zu dem Meßbaren, was nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß die Dinge „nicht sind", bevor sie in das sie begrenzende und umschließende System des unum eingegangen sind. Daher ist Welt, der Kosmos, für Piaton nicht durch morphologische Qualitätenfülle charakterisiert, sondern dadurch, daß sie Aktualisationsstätte der Teilnahme an dem Einen ist, an den „Ideen" als den Formen der Einheit, den Formen der Anordnung des vielen, den Zahlen. Das ist also ein durchaus verschiedener Aspekt desselben Ausgangsphänomens. Daher gipfelt für Piaton die Weltbetrachtung in der Grammatik oder besser in der Mathematik (mathesis), während für Aristoteles Morphologie, Klassifikation, Strukturlehre der Dinge das Element ist, in dem er sich bewegt. Was aber auch immer die Differenz zwischen den beiden Philosophen bildet, entscheidend ist doch hier ihr Gemeinsames : die Welt, das Seiende als solches, ist beiden der Name für ein artikuliertes, sei es mathematisch, dialektisch oder morphologisch gegliedertes Ganzes, und das heißt: die letzten, unauflösbaren, atomalen Einheiten (monadischen Gestalten) „hängen" für beide an „dem Einen", der Gottheit. Wir müssen Piaton in seinem unruhigen Interesse für das Bleibende noch weiter verfolgen. Wir sahen: Sein ist erstens 74
der Name für das System der Dinge, für die Welt als artikuliertes, im Logos darstellbares Wesen. Die Frage erhebt sich: was ist der Grund dieses Wesens, Grund in Hinsicht auf Wesen, in Hinsicht auf das Wesen des Bleibenden, die gegliederte Ordnung der Gestalten ? Sein meint also zweitens Grund der Weltwesenheit, das unum als solches, aber so, daß dieses jetzt im Verhältnis des Grundes zum Gegründeten der Welt steht — das unum im Verhältnis zu seiner artikulierten Vielheit. (Ousia meint also immer das Welt-Wesenhafte oder die gegliederte Einheit. Nur der Einheit, dem Guten, dem Schönen, dem Wahren und den Zahlen als Formen der Einheit und - in diesem abgeleiteten Sinne — den Gattungen und Arten wird der Charakter der Ideen zugesprochen.) Die Differenz des Seienden und des Seins hat also hier ihren Ort. Es ist die Differenz der Welt als Universum oder Kosmos des Seienden zu der ratio essendi, dem Grunde der Möglichkeit des Seienden, dem Grunde des Universums. In der Frage nach dem Grunde kommt zum Ausdruck, daß das Seiende Gründungs- oder Beziehungszusammenhang ist. Die Frage nach dem ersten Grunde ist die Frage nach dem Grunde der Mächtigkeit (Möglichkeit) des Seienden als Beziehungszusammenhangs — des Seienden als Ganzen. Die Frage weist also in eine Sphäre hinein, die „der Sache nach" vor dem Universum liegt, die noch nicht Universum ist. Piaton spricht von dem Maßlosen. Die Welt als geordnete und versammelte hat ihren ursprünglichen Sitz in dem Unverbundenen, dem Unversammelten. Das unum, als Grund der versammelten Welt, weist seinerseits zurück auf eine ursprünglichere arche. Der Kosmos hat eine „mütterliche" arche. Die Frage nach dem Grunde des Seienden ist zuletzt die Frage nach dem Prinzip des Übergangs von dem Grenzenlosen, dem Nichtseienden zu dem Seienden: von dem Apeiron zu der Welt der Grenzen, des Meßbaren, der Anordnung, der Herrschaft der Zahlen. Es ist die Frage nach dem Maßstab des „Werdens zur ousia". Der Maßstab ist das unum. Das unum, das „Band" des vielen, „macht" aus dem Ungeordneten das Geordnete. Es ist die Bedingung der Möglichkeit der Welt. Aber das unum hat seinen „mütterlichen" Sitz in dem Maßlosen. 75
Etwas Merkwürdiges kommt in den Blick mit diesem Vorstoß in die „mütterliche" Welt des Maßlosen, dem Vorstoß in eine Sphäre, die nicht von Gnaden des Seins ist. Das Merkwürdige besteht darin: die Frage nach dem Grunde des Bleibenden - des Seienden als gegliederter Ordnung, der ousia führt einmal auf die Einheit, die „jenseits der ousia" ist. Gott ist, heißt es in den Gesetzen (716c), der Maßstab aller meßbaren Dinge. Der Maßstab geht nicht in das Meßbare ein. Andererseits: dieser Maßstab weist auch wieder in einer bestimmten Weise zurück auf den mütterlichen Ungrund des Maßlosen, von dem er doch wieder weit entfernt ist. Die in der Seinsidee angelegte Urproblematik erscheint zum ersten Male an dieser Stelle. Die Einheit als solche erscheint in der gestalteten Welt, aber sie ist nicht von dieser Welt. Sie gehört nicht zu dem gegliederten Reich der ousia. Das unum ist nicht meßbar. Es ist nicht bestimmbar. Es hat keine Gestalt. Es ist „unberührbar" (Phaedros). Die „Teilnahme" an dem Maßstab „macht" den Ubergang von dem Grenzenlosen in das Reich der Grenzen : „macht", daß wir die Welt messen, in Eins ordnen, das Seiende klassifizieren, in der Einheit des Systems entfalten, morphologisch oder mathematisch darstellen können. Sie macht „techne", d. h. Wissenschaft, Handwerk und Kunst, möglich. Welt ist, so heißt es im Vortrag über das Gute, entfaltete „entzweite Einheit", d. h. geordnete Vielheit in dem Grenzenlosen. Was jenseits der Entfaltung der Einheit in die Vielheit der Gestalten liegt, aber aller geordneten Vielheit des Seienden als ihr Grund ständig anwesend ist, nennt Piaton „Idee". Die Einheit als arche ist Idee: die Idee des Guten und ihre dem Maßlosen Grenzen gebenden Formen, das System der Grenzen oder der Zahlen. Etwas Merkwürdiges, sagte ich, wird hier zum ersten Male ausgesprochen. Die „Idee" ist kein Gegenstand im Sinne der Logik. Sie ist kein „Subjekt möglicher Prädikabilien". Der Grund der Welt gehört nicht in das Ordnungssystem der Welt hinein. Die „Idee" Sein ist nicht von dieser Welt, aber sie ist dasjenige, was Welt konstituiert. Sie bringt das Seiende zur Bestimmung; sie liegt dem Bestimmtsein alles Seienden, aller Tatsachen zugrunde, aber sie ist selbst nicht bestimmbar. Der 76
Weltgrund entzieht sich der Bestimmbarkeit. Insofern können wir sagen: Sein ist das sich dem Seienden Entziehende. Als solches ist es also bereits in Piaton eindeutig erkannt. Daher ist die Einheit bei ihm keine Zahl, sondern Prinzip der Zahl. Sie hat keinen materialen (kontingenten) Inhalt. Sie ist Form, die von aller Inhaltlichkeit entleerte Form, aber alle Inhalte „in die Einheit zusammenbindend" (Philebos). Darin besteht das Ungeheuerliche dieses Seinsansatzes : Welt ist bestimmbare Welt. Die Dinge „sind nicht" außerhalb der Bestimmbarkeit. Außerhalb der „Teilnahme" am Sein liegt das Nichtsein — das Chaos. Jedoch nur in der Konfrontierung mit dem Chaos (dem Nichtseienden) kommt die „Idee" Sein in den Blick, der Grund der geordneten Welt, der sich aber in anderer Hinsicht selbst wieder ebenso aller Bestimmbarkeit entzieht. Diese Sphäre jenseits gegenständlicher Bestimmbarkeit ragt als gegenstandgründende, weltgründende, weltbestimmende, als „ewig präsente" „Ursache" in die Welt der Bestimmungen hinein. Ja, sie ragt gerade in ihrer Eigenschaft der Uberweltlichkeit, also darin, daß sie nicht in das determinierte System des Seienden gehört, in das Seiende hinein. Es ist, als ob, was wir Menschen Welt nennen, sich zwischen zwei Nichtsen erstreckte — intra nihil et esse — zwischen dem Bestimmungslosen und dem über aller Bestimmung Liegenden. Die platonische Problematik der Seinsidee zeigt sich erst dann in ihrem vollen Licht, wenn wir sehen, daß in den Symbolen des „unberührbaren" Seins die gestaltete Welt, die Welt, in der wir leben, offenbar wird, daß die Sphäre der Maße zu dem maßlosen Chaos in einem Verhältnis der Darstellung steht. „Inmitten des Ungegliederten wird die Welt als gegliederte erkannt." Nicht dies macht das Wesen des Seinsbegriffes aus, daß dieser Begriff als gestaltlose idea erkannt wird und daß in dem Gestaltlosen das System der Ideen gründet, sondern daß von diesem logisch einsichtigen, rationalen Ideensystem gesagt wird, daß in ihm das unterliegende Chaos zur Wahrheit kommt. Erst wenn wir den Anspruch des unum erkennen, das verum zu sein, also nicht nur das an sich Seiende, das sich dem an sich Nichtseienden entgegensetzt, sondern ebenso dasjenige, das die Welt 77
dieses an sich Nichtseienden zu enthüllen prätendiert, verstehen wir den platonischen Ideenbegriff, in dem neben dem sokratisch-Apollinischen so viel Orphisches und Dionysisches mitgegeben ist. An der Hand dieses Begriffs der Wahrheit des Einen wollen wjr nun in die Dimension der Erörterung eindringen, die dem kantischen Ansatz des Seinsproblems zugrunde liegt.
§ 12 KANT'S ENTDECKUNG DES SUBJEKTS
(Über Kant's Lehre von der transzendentalen Apperzeption als Illustration für die Exzentrizität des Permanenten) Zur Existenz gehört Intentionalität, Bezogenheit auf die Idee des „unbeschränkten", totalen Seins. Das totale Sein ist das in allem Existierenden Anwesende: in der Welt als Inbegriff des Naturgeschehens wie in der Welt, die meine und unsere ist, unserem menschlichen, von seinem endlichen Existieren wissenden Weltleben. Wie Sein in der Welt des Naturgeschehens anwesend ist in der Form der Einheit der Gesetzgebung oder besser: in ihrer Bezogenheit auf eruierte oder eruierbare Raum-Zeit-Koordinaten, die in sich notwendig ein System bilden, so weiß die menschliche Existenz in jedem Augenblick, in jedem von dem Wissen um ihr Sterben heimgesuchten Augenblick von dem Sein. Lebend wissen wir von dem Einen. Wir wissen gerade dann und am deutlichsten von ihm im Prozeß seines Zerfallens, der Krankheit, des Niedergangs, der Auflösung und des Sterbens. Wir wissen von dem Guten im Bösen. In seiner Bedrohtheit und seinem Versinken in den Tod zeigt sich Sein am nächsten. Im Ab-wesenden zeigt sich das An-wesende; wo wir am weitesten von ihm entfernt sind, zeigt sich das Fernste am nächsten. Judas ist neben Johannes der liebste Sohn des Heilands. 78
Aber so ist das Sein in unserer bedrohten, alternden und zerfallenden Existenz genuin gegeben, daß es sich ständig entfernt. Es zeigt sich in der Attraktion, in der es in unser endliches Wesen hineinsteht, und es gehört integrierend zu diesem als anziehendes, gerade in dessen Verrat und versinkenden Not. Sein ist gegeben in der Sehnsucht, die sich jeden Augenblick wiederholt — in der Verneinung oder Bejahung, der Verzweiflung, der Todesangst oder der Seligkeit der Seinsgewißheit — wiederholt auf dem Wege der Reproduktion dessen, was die Sehnsucht weiß, und dessen, was sie sich erinnert gewußt zu haben. Die Hoffnung im Niedersinken ständig reproduzierend, sind wir zwar ständig abgebrochen, doch ständig von dem Ganzen und dem Unterschiedslosen bewegt. „Hinc motus ille numquam cessabit et est motus summe delectabilis, quia est vita mentis. Et hinc in se habet hic motus quietem, movendo enim non fatigatur, sed admodum inflammatur" (Cusanus, Complementum theologicum II). Sein ist das Anwesende in den Gegenständen, die wir in unserer täglichen Umwelt wahrnehmen. Genauer gesprochen: es ist anwesend in der Urstruktur alles Gegenständlichen, dem Dies-da, dem Urgegenstand, als Begegnung des Einen mit dem vielen. Und wie sich die dingliche Natur, das Objekt der Wissenschaft als Einheit der Gesetzgebung, als Prozeß darstellt, in dem das viele mit dem Einen ständig zusammentrifft, derart, daß der Prozeß da seine Grenze findet, wo alles in dem Einen umgriffen ist, so zeigt sich die Idee des Seins analog in der Begegnung von Personen, der Begegnung von Existenzen, die des Sterbens inne sind, von Mensch zu Mensch, was wir Vergesellschaftung der Menschen untereinander nennen. Jede menschliche Assoziation steht im Zeichen der Zuwendung oder der Abwendung von dem fernsten Ziel, wie jedes Ding, jeder Vorgang sozusagen eine metaphysische Sprache der Seinsbezogenheit hat. Nicht nur, daß die Existenzen da sind, in ihren Verderb, wie man sagt, „geworfen", sondern sie haben, wie früher gezeigt, ein so-Sein, aber nicht nur ein partikulares soSein, sondern sie sprechen die Sprache der „letzten Dinge": des letzten, alles umgreifenden Seins. In jedem Gegenstand, als Begegnung von da-Sein und so-
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Sein, liegt der Schmerz der Kreatur verborgen. Aber ebenso wird der Schmerz, merischlich gesprochen, in dem Augenblick der Hoffnung oder Erinnerung antizipierter Identifizierung mit dem Sein überholt und ausgelöscht. Das Seiende ist bewegt von dem letzten Gegenstand. „Alteritas dicitur a non esse", heißt der scholastische Ausdruck. Aber ebenso gilt: im Untergehen des Verschiedenen spricht das Seiende die Sprache des Seins, da, wo es seine Verschiedenheit in den Symbolen der Ordnung und Harmonie übersteigt. Kant hat das Problem des Überstiegs in seiner Lehre von der transzendentalen Apperzeption in den Mittelpunkt seiner Betrachtung gestellt (vgl. dazu meine Erörterung in „Der Gegenstand der Erkenntnis", 1925, ebenso „Phänomenologie und Metaphysik", die betr. Abschnitte, 1933). An Hand einer Interpretation seiner Lehre soll das Problem hier beleuchtet werden. Wir nehmen wahr. Wir machen Aussagen über Wahrgenommenes. Wir suchen es zu identifizieren. Worüber wir, Wahrgenommenes identifizierend, Aussagen machen, ist nicht das, was wir aktuell wahrnehmen. Das ist die grundlegende Tatsache, von der wir immer auszugehen haben. Kant fragt: Was ist der Grund der Möglichkeit der „Begegnung" des Mannigfaltigen und des Einen? Er reflektiert auf das Faktum der „Erfahrung". Er fragt: was „liegt in der Erfahrung"? Er fragt nicht nach dem, was in der Erfahrung gegeben ist. Philosophie ist nicht an der Erforschung dessen, was erfahren wird, interessiert—mag dieses Seiende Individuelles oder morphologisch Wiederholbares (Allgemeines) sein oder mathematisch in Zahlensymbolen ausdrückbare Systeme. Kant ist an dem im Begriffe der Erfahrbarkeit involvierten Problem interessiert. Er sieht: Seiendes ist gegeben, Seiendes wird erfahren, nur Seiendes kann erfahren werden. Sein wird inmitten des Gegebenen erfahren — als Beschaffenheit des erfahrbar Gegebenen. Das im Begriff der Gegenstände der (erinnerten) Wahrnehmungen liegende Problem — die Frage nach dem Möglichkeitsgrund der über ihre Vielheit, Variabilität, aposteriorische Mannigfaltigkeit hinausgehenden Kategorien—ist sein Problem. Dieses Problem gehört integral zu der Lehre von der Wahrnehmung. Es „liegt" in der Erfahrung von Gegenständen. 80
Was liegt vor, daß Tatsachen, das pure Mannigfaltige, a priori bestimmbar sind, d. h. daß sie relativ sind zu einem identischen Bezugssystem, zu dem sie gehören ? Kant's Frage ist die Frage nach der prima causa der Begegnung des Einen mit dem vielen. Es gibt kein größeres Ereignis in der Geschichte dieses (metaphysischen) Problems aller Probleme, als die Meditation, die Kant auf wenigen Seiten der „Kritik der reinen Vernunft", 1. Aufl. vom Jahre 1781, angestellt hat. Sie sind überschrieben: „Der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 2. und 3. Abschnitt" (p. 95-130). Die Untersuchung ist meist mißverstanden worden. Man hat von dem „Subjektivismus" Kant's gesprochen. Vielleicht hat Kant selbst den Grund zu den Mißverständnissen gelegt, wenn er in der Vorrede zur 1. Auflage diese Betrachtung, „die etwas tief angelegt ist", nämlich „den Grund der Möglichkeit zu betrachten" der „vor aller Erfahrung liegenden, aber in der Erfahrung angelegten" „Beziehung auf Objekte" (A 97), als eine Untersuchung in „subjektiver Beziehung" bezeichnet. Aber was Kant mit „in subjektiver Beziehung" meint, ist nichts als die Reflexion auf den Grund, auf dem diese „Beziehung a priori" beruht (A XVII). Gerade das Umgekehrte ist richtig: was Kant interessiert, ist nicht das Subjekt in seinem subjektiven Leben, sondern das Überschreiten dieses seinen Lebens. Kant untersucht die intentionale Gegenständlichkeit der Subjektivität. Er fragt nach den Gründen der Gegenständlichkeit (Objektivität) der Natur, die dem Subjekt als Eine entgegensteht. „Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstande redet?" Immer ist es dasselbe Thema. Wenn Kant von der Synthesis des Mannigfaltigen in der Anschauung spricht (Apprehension), oder wenn er von dem „Gesetz der Verknüpfung" dieses Mannigfaltigen in der Reproduktion spricht, daß nämlich diese Verknüpfung oder Assoziation nicht eine beliebige, sondern eine „gewissen Regeln gemäße", an der Idee durchgängiger Regelmäßigkeit orientierte Verknüpfung sei, wenn er endlich davon spricht, daß „das Mannigfaltige als zu einem Objekt gehörig gedacht" werden müsse — so ist deutlich, was seine Absicht ist: nämlich die Elemente zu erfassen des 6
Metzger: Freiheit
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unserem subjektiven Leben „korrespondierenden, aber davon unterscheidbaren" Begriffs des Einen Objekts. Wir gehen in unseren Erfahrungen in das Unendliche, d. h. das „Unbeschränkte", hinein. Wir durchlaufen Variables. Aber wir finden: in das „Mannigfaltige der Empfindungen" ragt das sich durchhaltende, sie vereinigende Identische hinein. „Das Gemüt hat das Identische seiner Handlung ständig vor Augen" (A 108). Wir sind uns des exzentrischen Identischen wahrnehmend ständig „bewußt" 1 ). Was ist nun der Gegenstand gleich X, den unser Gemüt vor Augen hat? Was ist „unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand" anderes „als dasjenige .. was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sein?" (A 104). Zunächst umschreibt er den terminus „Beziehung auf den Gegenstand". „Diese Beziehung aber ist nichts anders als die notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche (unendlich oft wiederholbare, allgemeine) Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden" (A 109). Sie ist der „a priori einzusehende Grund, worauf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle Erscheinungen sich erstreckenden Gesetzes beruht" (A 122). Man muß das Eigentümliche der Untersuchung des großen Metaphysikers verstehen. Piaton spricht von dem Guten als dem Seinsgrund der Formen. Er spricht von der mit der Wahrnehmung assoziierten Wiedererinnerung, die zu ihrem Gegenstand die Arche (das Gute) hat: die Eine Welt ist aus dem Stoff der (mathematischen) Ausdehnung geschaffen. Kant ist im Dialog mit Piaton. Die „Kritik der reinen Vernunft" ist der Dialog Kant's mit Piaton. Nichts ist falscher, als zu sagen, daß Kant 1 ) Kant hat es also mit einem zentralen Problem des wissenschaftlichen Verfahrens zu tun. Ihn interessiert, wie auch Descartes, das invariable, sich in dem Variablen der Erfahrungen durchhaltende Eine - das Problem, daß den Kategorien, den Formen des Einen, objektive Gültigkeit zukommt. Darüber hinaus sieht er, daß wir in unseren „freien" (spontanen) Handlungen auf dieses selbe, von der Sinnlichkeit befreite Eine - das Übersinnliche, wie er es nennt - gerichtet und von ihm bestimmt sind. Der Systemgedanke der Wissenschaft und das „moralisch" Verbindliche des Willens fuhren auf denselben Gegenstand = X .
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Platon subjektiviert hat. Kant reflektiert auf die Elemente der platonischen idea. Seine Reflexion liegt eine Dimension tiefer als die Platon's. Piaton beruhigt sich bei der Wahrheit der idea bzw. ousia. Kant reflektiert auf die Gründe dieser Wahrheit. Er beruhigt sich nicht bei der Hypostasierung des Identischen. Hypostase ist keine Lösung für die Tatsache, daß wir die Welt als identische erfahren. In der Hypostase, d. h. in der Verdinglichung des Seins, bleibt seiende Welt in mythologischer Stummheit. Als Angeschautes steht Seiendes und Sein uns fremd gegenüber, wie eine andere Form des Schicksals oder der Ananke. Was das kantische Denken von dem antiken und dem antikisierenden — antikisierend-ontologischen — Denken trennt, besteht genau darin, daß dem Seinsprinzip (das für Kant und Piaton gleichermaßen das Gute oder der Heilsgrund oder summum bonum ist) der „dogmatische" Charakter der Fremdheit des an sich Seienden genommen wird 1 ). Sein ist für Kant Problem. Was die Welt ist, was der Mensch ist, was Gott ist, ist nicht sein primäres Anliegen. Philosophie bedeutet ihm nicht Morphologie und Klassifikation. Sie bedeutet ihm in keinem Sinne Ontologie — weder ontologia gene*) Ich spreche hier von dem „Ding an sich" (Singular), nicht von den „Dingen an sich". In letzterer Hinsicht bleibt Kant Dogmatiker. Aber nicht das Problem der Dinge an sich ist in seiner kritizistischen Untersuchung entscheidend, sondern das Wahrheitsproblem : das Faktum des Einen identischen Seins als des obersten, den Gesetzeszusammenhang möglich machenden Bestimmungsgrundes. Die Unterscheidung von Dingen an sich (Plural) und Ding an sich (Singular) geht bei Kant zusammen mit der Unterscheidung von transzendent und transzendental. Transzendent sind die Dinge an sich, die Gegenstände der alten metaphysica specialis, die „übersinnlichen Gegenstände": Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Transzendental bezieht sich als Attribut auf das Sein des Seienden im Ganzen, das unum als solches, das in der Kritik der reinen Vernunft als das Eine Objekt, „das allen unseren Vorstellungen Einheit gibt", auftritt und in der Morallehre als das Unbedingte, die Idee des Guten bei Piaton. Kant's Untersuchungen sind transzendental, insofern sie sich mit dem Möglichkeitsgrunde dieses Gegenstandes befassen. Daher sind Spontaneität und Apperzeption transzendentale Begriffe. Aber auch sein Begriff der Pflicht („Du kannst, denn Du sollst") ist ein transzendentaler Begriff, in dem das handelnde Subjekt über alle materiale Inhaltlichkeit („Bestimmungsgründe") seiner Handlungen hinaus vor das alles opus opeiatum überschreitende, aber es richtende Unbedingte als das exzentrische Objekt gestellt wird. Für Piaton wie für Kant ist die Seele (Subjekt) mit dem „Einen Objekt" verbunden. Das ist nur ein anderer Ausdruck für den Sachverhalt: es gibt kein Seiendes, das nicht ein Seiendes für ein aktuelles oder mögliches Subjekt ist,
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ralis noch ontologia specialis. Er ist nicht Rationalist in dem Sinne, daß er die Rationalität der Welt als eine gegebene Tatsache hinnimmt. Andererseits besteht seine Auseinandersetzung mit dem Empiristen David Hume auch nicht wesentlich darin, daß er sich mit ihm über den erkenntnistheoretischen (apriorischen oder empirischen) Charakter der Kausalität streitet. Sein Thema ist nicht unsere oder irgendeine Welt, und der Mensch in der Welt. Es war bereits in der Frage des Briefes an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 festgelegt als das Problem der „Beziehung a priori unserer Vorstellungen" zu dem Gegenstand = X. Kant ist nicht Kosmologe, so wenig es Piaton primär ist, auch wenn er über die Welt spricht. Er ist nicht Theologe, auch wenn er über das ens realissimum spricht. Er ist nicht philosophierender Anthropologe, auch wenn er über Sinnlichkeit, Seelenvermögen und dergleichen spricht. Worauf er reflektiert, ist das Problem der Zugehörigkeit aller Objekte zu dem Einen Objekt. Was sind die Gründe (Elemente) dieser Zugehörigkeit ? Piaton hatte das Sein, „den Maßstab von allen Dingen", als den Gegenbegriff des vielen erkannt1). Kant „leitet" die Kategorien derart „ab", daß die Beziehungsstelle (terminus a quo), wovon er ableitet, das Eine Objekt, „das Korrelatum und es gibt kein Sein ohne diese Relativität - die Relativität der allem Seienden gemeinsamen und es je und je überschreitenden Semsbeschaffenheit auf das denkende Subjekt (die Seele im zentralen Sinne). Die „Idee" Sein ist für Piaton das in der Anamnesis Gedachte. Anamnesis ist das Prädikat der daher „überhimmlischen" oder unsterblichen, d. i. mit dem allumfassenden Sein untrennbar verbundenen Seele. Immer geht es um die Beziehung von Sein und Seele. Der Unterschied gegenüber den Alten ist, daß bei Kant aus christologischen Einsichten die Seele nicht als der Spiegel, dem Seienden als dem Gegenüberstehenden hingegeben oder es anschauend, gemeint ist, sondern als der Name für die mit dem Begriffe des Seins ingredient verbundene Spontaneität des Willens. Sein und freier Wille sind aufeinander wechselseitig bezogen. x ) Daher wird bei Piaton die Einheit mit der Selbstbewegung der Seele, d. h. mit dem von der Einheit bewegten Prinzip, zusammengebracht. Selbstbewegt ist die Seele, weil sie von dem, worin sie „zu Hause ist", dem Guten, bewegt wird; und weil sie von nichts Fremdem (Außen) bewegt ist, ist sie „unsterblich". Unsterblichkeit ist der Charakter der mit dem Unwandelbaren identifizierten, von ihm bewegten Mächtigkeit der Seele. Als Seele im Menschen ist sie, christlich gesprochen, die unbegrenzte Möglichkeit (potentia infinita, vis creativa) des „Mitteilens des Seins an das Nichts" des vielen.
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unserer Vorstellungen" ist. Die Ableitung führt bei ihm in einen Prozeß des Durchlaufens und des miteinander-in-Beziehung-Setzens des Mannigfaltigen hinein - einen Prozeß, in dem das „Spiel der Vorstellungen insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht wird" (A 99). Das meint also: Sein ist bei Kant relativ zu einem Prozeß. Oder vielmehr der Prozeß und das Sein stehen in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis. In alledem geht es darum, die Macht des Mannigfaltigen zu brechen. Die Macht des „Fremden" wird gebrochen durch das „tätige Vermögen der Einheit". Sein, der Maßstab von allen Dingen, hat zu seinem Implikatum das „Vermögen der Einheit". Es hat zu seinem konstitutiven Ingrediens den Willen, wie umgekehrt der freie Wille nichts ist als dieses transzendentale Ingrediens im Aufbau der Welt. Wille („Vermögen der Spontaneität") ist also die Gegenmacht gegen das Mannigfaltige. Wille, Mannigfaltigkeit, das X des Gegenstandes sind die drei Elemente dessen, was wir die Eine, in Gesetzen (Invarianten, Kategorien) artikulierte Welt der Erfahrung nennen. In der „Beziehung a priori" zu dem Gegenstand1), die „das notwendige Ingrediens der Wahrnehmung" (A 121, Fußnote) ist, steht der Wille als Gegenmacht gegen das Mannigfaltige — der Wille zur Freiheit von ihm, der da zu seinem idealen Ende kommt, wo das Mannigfaltige überstiegen, d. h. die Freiheit erfüllt ist. Das geschieht in der moralischen Praxis (der „Einfalt des Herzens"), d. h. in der gewissermaßen von dem „Gehorsam gegen das Höchste" (Nietzsche) erfüllten Handlung. Die Dreiheit der Elemente kommt in dem Begriff der „reinen (produktiven) Einbildungskraft" zu ihrer letzten Formulierung. „Einbildungskraft" ist das allen Prozessen des Durchlaufens (der „Apprehension") und des reproduktiven und assoziativen in-Beziehung-Setzens des Mannigfaltigen, d. h. allen Prozessen des das einbrechende Jetzt übersteigenden Kontinuums zugrunde liegende „tätige Vermögen der Synthesis in dem Manx ) Für die „Beziehung a priori" aller unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen auf den Einen Gegenstand gebraucht Kant äquivalent den terminus „numerische Identität des Selbstbewußtseins" oder auch „transzendentale Einheit der Apperzeption".
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nigfaltigen" (A 120). Sie ist die „unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung" (A 120) der Einheit. Sie ist, wie es heißt, „die Bedingung a priori der Möglichkeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer Erkenntnis" (A 118).
Halten wir hier inne. Was ist mit alledem geleistet? Kant „reduziert" die Kategorien, die Formen der Identität (des Tautologischen), auf ihre Elemente. Er sucht dann im Schematismuskapitel, das „Rätsel der Begegnung" des Mannigfaltigen mit den Gegenständen und am Ende mit dem Einen Gegenstand in die aufbauenden, begreiflich machenden Elemente aufzulösen. Was besagt das Koordinatensystem von Willen, Mannigfaltigem und Gegenstand? Zunächst: was heißt denn überhaupt „Mannigfaltiges" ? Man sagt, Kant sei ein Anhänger der englischen atomistischen Psychologie gewesen, und daher beruhe sein System auf falschen psychologischen Voraussetzungen. Eine solche Argumentation trifft nicht das in Frage stehende Problem. Jede anthropologisierende Interpretation ist ein Mißgriff. Es mag sein, daß Kant ein Anhänger der Assoziationspsychologie gewesen ist, aber in seiner Reflexion ist das Mannigfaltige kein psychologischer Begriff. Dieser Begriff ist orientiert an dem Einen Objekt. Als solcher hat er eine lange Geschichte hinter sich. Sie läuft von dem pythagoreischen Apeiron zu dem platonischen „Nichtseienden" und geht von hier zu den scholastischen Reflexionen über die Korrelation von Nichts und Andersheit. Erinnert sei an Platon's Definition der Formen (Zahlen) als Grenzen des Grenzenlosen; seine Einsicht über das Wesen der Formen (Zahlen) als begrenzender (syndesmotischer) Einheiten, d. i. als „Grenzen" dessen, was grenzenlos, unmeßbar ist, dessen, „was kein Ziel und kein Ende hat" (Phil. 24d), spielt hier herein. Das Eine wird verstanden als der Grenzen gebende Gegenbegriff des Vielen. Sein ist das Prinzip des Meßbaren, aber dergestalt, daß dieses Prinzip hineinweist in den „mütterlichen" (Gorgias) Grund des Unmeßbaren und Mannigfaltigen. „Wenn eine einzelne Vorstellung der anderen ganz fremd, gleichsam isoliert und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntnis ist, entspringen, welches ein 86
Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist." So beginnt Kant seine „Deduktion". Schelling, der in Kant's Problematik mehr als irgendeiner der Kant nachfolgenden Denker eingedrungen ist, hat den (transzendentalen) Sinn des Satzes verstanden. Er hat das nihilistische Element der kantischen Reflexion erkannt: „Aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es wieder einmal durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfangs Regelloses zur Ordnung gebracht worden" (VII, 1, 359). Sein ist ein Relationsbegriff. Es ist der Name für das System der Ordnung des Regellosen. Diese Idee meint eine Relation zum Mannigfaltigen. Sein ist ein bedeutungsloses Wort außerhalb dieser Relation. Aber diese Relation fällt nicht vom Himmel. Sie ist kein theologisches Geschenk. Sie ist kein Geschenk des Himmels, was sie für die Sokratik ist. Es muß, mit Kant zu sprechen, eine „Bedingung zugrunde liegen, welche sie möglich macht". Sein weist zurück auf das Nichtsein. Der Gegenstand = X weist zurück auf das Mannigfaltige. Aber auf das Nichts des „Gewühles" oder des „blinden Spieles" der Vorstellungen zurückweisend, weist diese Idee zugleich auf den dieses Spiel überwindenden Willen. Sein meint Synthesis. Weil Sein Synthesis des Mannigfaltigen, nichts anderes als die „Eine Erfahrung" meint, „in welcher alle Wahrnehmungen als die durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhänge vorgestellt werden" (A110) — deshalb liegt im Sein das Nichts des Zusammenhanglosen, aber ebenso der alle Wahrnehmungen in endloser Kontinuität überschreitende Wille zur Freiheit „von" ihm, dem dauerlosen, sterbenden Augenblick des „Gewühles der Empfindungen", der Wille zur Freiheit zu dem alles bestimmenden und begrenzenden, „unbeschränkten" Gegenstande. Das Unbeschränkte (Kr. d. rein. Vern., S. 400, Cassirer) ist das Erinnerte. Wir erinnern uns des Einen, auf das die sehnsüchtige, im Heimatlosen des Hier und Jetzt gründende Existenz gerichtet ist. Am Ende erinnern wir uns des Identischen. „Das Gemüt hat das Identische seiner Handlung ständig vor Augen." Aber das Wesen des Erinnerten oder auch des als ens realissimum Gehofften oder Postulierten taucht erst auf, wo wir 87
es begreifen als die Möglichkeit, die einbrechende Macht der sterbenden Gegenwart zu brechen. Wenn in der Synthesis die Natur als Totalität und Ordnung der Phänomene wurzelt, dann liegt in ihr ebenso als ihr Grund die in das vorzeitliche Geschehen zurücklaufende Seinserinnerung wie die über das Geschehen in der Zeit hinauslaufende und es bewältigende Antizipation. In der Wahrnehmung als Wille zur Dauer liegt Erinnerung und Hoffnung. Sich des Einen erinnernd, liegt das wahrnehmend-erfahrende Leben im Kampfe mit dem Fremden. Was Kant in seiner Deduktion der Kategorien gibt, ist die Metaphysik der Wahrnehmung. „Apprehension", „Reproduktion", „Rekognition im Begriffe" werden als Komponenten aufgezählt. Die Kategorien, heißt es, sind Formen der „Beziehung zum Gegenstande". Sie sind die Formen der Macht der Freiheit, in denen der Wille an seiner Grenze der erfüllten, exzentrischen Freiheit über das Sterben und die Vergessenheit triumphiert. Freiheit triumphiert in der Erinnerung des Unbeschränkten — der Gegenmacht zu geschehender Gegenwart, der Macht über das, was in die Kontinuität des Seienden einbricht. Kant hat nicht das Sein subjektiviert, sondern er hat den Willen (die Spontaneität) objektiviert. Er hat das Subjekt in dem Grunde der Dinge erkannt. Er hat „die Freiheit über das Universum ausgebreitet" (Schelling). Er hat das Seiende, die omnitudo realitatis, seines mythologischen Charakters als eines Fetische, eines — man weiß nicht wie — vom Himmel herabgefallenen Wunders entkleidet. Er hat das pure Mannigfaltige, das existierende Reich sterbender Augenblicke und seine Gegenmacht, die Spontaneität des Willens, als Ingredienzien in dem Begriffe des zeitlosen, aber alles, was in der Zeit vor sich geht, möglich machenden „Einen Objekts" erkannt. Seine Größe liegt nicht darin, daß er die Idee Sein anthropologisiert hat, sondern daß er in seiner „kopernikanischen" Drehung die wahrnehmende Existenz entanthropologisiert, entmenschlicht hat, und zwar so, daß er die Elemente dieser Existenz: Willen, Mannigfaltiges und den unbeschränkten, aber alles bestimmenden Gegenstand als Ingredienzien des Universums des Seienden entdeckt hat — jenes in Zahlen gegliederten Seienden, von dem Piaton ge88
sprachen hatte. Das Universum, „die Gegenstände möglicher Erfahrung", ist für ihn eine Trias von Mannigfaltigem, Willen (Spontaneität) und Ewigkeit. Man kann in Weiterführung des kantischen Gedankens sagen: das Universum ist in sich dialektisch, ein Zusammengesetztes von „Inhalt" und „Form", von ewigem Sterben und ewigem Leben, aber derart, daß die in sich widerstrebende Einheit dieser beiden Elemente in dem ineinanderlaufenden Prozeß des exzentrischen Gegenstandes ständig gebrochen und überholt wird. Der Wille zur Freiheit von dem Grenzen- und Gestaltlosen, „der Materie der Empfindung", ist der Wille zur Ordnung. Freiheit und Ordnung1) sind die „obersten Prinzipien", in denen die Kategorien, die Formen der Einheit des Universums, gründen. Freiheit „erscheint" in der Welt der Ordnung. Ordnung ist das erscheinende Medium ihrer Aktualisation. Aber doch wieder: Freiheit ist eine „übersinnliche Idee". Denn zuletzt, an dem idealen Ziele, meint Freiheit Erfüllung: Freiheit von der Natur. Aber doch wieder ist sie manifest in der Natur. Sie erscheint in der Natur in der Form der Verbindung des Mannigfaltigen. Sie erscheint als „Einheit der Gesetzgebung". Freiheit und Notwendigkeit sind wechselseitig miteinander verbunden - Notwendigkeit im Sinne der Stoa als Vernunft, Rationalität, Gesetz, Bestimmtheit. Aber ebenso weist diese Notwendigkeit als Gegenbegriff hinein in die andere schicksalhafte, dämonische Notwendigkeit — die als Mannigfaltiges, als Gegenwart in die synthetische, rationale Kontinuität ständig hineinbricht. Aber derart ist das Gesetz, das die Erscheinungen „notwendig und allgemein" verbindet, in den Erscheinungen manifest, daß es in der Exzentrizität des unbeschränkten Gegenstandes ruht. Natur als „phänomenale" Einheit der Gesetzgebung ruht in diesem Gegenstand. Kausalität hat ihre Wurzel in der apperzipierten Einheit (Identität) des Gegenstandes. Natur als Gesetzgebung gründet in der freien Mächtigkeit der Spontaneität, des Mannigfaltigen Herr zu werden. Daher ist es eines und dasselbe, zu sagen, daß der synthetische Prozeß des Naturerkennens in den invarianten, von x ) Es ist die Einheit dieser beiden Momente, die mit „der Einheit der transzendentalen Apperzeption" gemeint ist.
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allen Inhalten entleerten, formalen, tautologischen, an der Identität des Gegenstandes orientierten Symbolen zum Ausdruck gebracht wird, wie daß er in infinitum offen oder nicht abschließbar ist = X. Oder, wie wir es sagten : das Identische ist exzentrisch. Daher haben erst die Postulate der „praktischen Vernunft" bei Kant einen metaphysischen, das unbeschränkte Identische „offenbar machenden" Charakter. „Allererst nachdem die moralischen Gesetze das Übersinnliche im Menschen, die Freiheit, deren Möglichkeit keine Vernunft erkennen kann, entschleiert haben, so hat die Vernunft gerechten Anspruch auf die Erkenntnis des Übersinnlichen" (V, 3, 142f.; Cassirer). Sie haben einen metaphysischen, in den Grund der Dinge hineinweisenden Charakter. Denn zu jedem wahrgenommenen Ding gehört der Horizont, an dessen Grenze die „wahre Unendlichkeit", d. i. die „Totalität der durchgängigen Bestimmtheit" (Rationalität), liegt. Sie ist die Grenze (limes) der vollendeten Freiheit von der Natur, dem „sterbenden Augenblick", die in dieser Totalität erreicht und in der Einfalt des moralischen Handelns offenbar wird. Es bedarf ja keiner Diskussion, daß die theoretische und praktische Vernunft bei Kant eine spekulative Einheit bilden (die nicht erst von Fichte „hineininterpretiert" worden ist). Sie bilden diese Einheit, weil das wahrgenommene Ding oder die Eine durchgängig bestimmbare Erfahrung den Mittelpunkt seiner hermeneutischen, auf das ens realissimum gerichteten Reflexionen darstellt. Sein meint bei Kant theoretisch und praktisch dasselbe: den „Gegenstand überhaupt", der unseren „Vorstellungen notwendige Einheit verleiht". Es meint dasjenige, was alle unsere Vorstellungen übersteigt und übersteigend ordnet, „den höchsten Punkt, an den man alle Vorstellungen, selbst die ganze Logik heften muß" (B 137). Es ist das Identische, a = a, aber so, daß dieses a von keinem non-a unterscheidbar ist, das Unterschiedslose also, weil diese Identität („Einheit der Apperzeption") den Grund jeder Unterscheidung, d. h. jeder Verbindung abgibt1). *) Um mit der neueren Logik zu sprechen: das tautologische a = a ist das Grundprinzip der Logik. In diesem Prinzip gründen ihre formalen Gesetze.
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Kant sagt: „Das ,Ich denke' muß alle meine Vorstellungen begleiten können" (B 132). Wir verstehen nach dem Gesagten, was mit dem „muß können" gemeint ist. Alles Mannigfaltige hat eine notwendige Beziehung auf das „Ich denke". Im Denken ist die Beziehung zu dem möglichen (erinnerten und antizipierten) Gegenstand, der allem Variablen „notwendige Einheit verleiht", involviert. Denken meint in die Erinnerung (Vergangenheit) unendlich zurücklaufende und in die Zukunft unendlich vorlaufende Antizipation der möglichen, unterschiedslosen Einheit. Denken meint die Transzendenz unserer vom Sterben heimgesuchten und wissenden Existenz (Gemüt, vis unitatis), und zwar so, daß dieses Vermögen wahrnehmender, auf Einheit gerichteter Existenz seinen Stand am Ende der Zeit, am Ende des zeitlich und räumlich Variablen nimmt, es in dem Einen möglichen Objekt („der Einen möglichen Erfahrung") vereinigend. Also dieser Gegenstand „muß alle unsere Vorstellungen begleiten können", damit sie die mögliche, Eine Erfahrung bilden. Sein ist dergestalt hier das „oberste Prinzip" für alle Werte des Variablen (Mannigfaltigen), aber so, daß diese Werte eine identische Einheit des Systems bilden, die an dem „höchsten Punkt" der „synthetischen Apperzeption" oder des X des Gegenstandes „hängen". Es ist auch hier nicht, so wenig wie bei Piaton, species oder genus, ein Allgemeines, aber alle Allgemeinheiten jeder Stufe umfassend und möglich machend. Wissenschaft ist der Prozeß der Anwendung des Allgemeinen (Invariablen) auf die Variablen (Tatsachen), aber so, daß dieser Prozeß nach der Zukunft hin für alle „Zufälligkeit, „Freiheit", „Unberechenbarkeit" und „Wahrscheinlichkeit" unbegrenzt Das Thema der Logik sind die Invariablen, auf die alles (wirkliche und mögliche) Variable bezogen ist, oder, anders gesprochen, die Invariablen als Werte des Variablen sind Werte, die in dem analytischen System des Identischen ihren Ort haben. Daher ist jede Logik formal, inhaltslos, frei von aller Kontingenz. Logik ist die Wissenschaft von dem Tautologischen, dem a = a, aber dem a, das alles, d. h. alle Kontingenzen, formal umfaßt, daher exzentrisch überschreitet. Logik ist die Lehre von zeitlosen Sätzen, zeitlosen, konsistenten Sachverhalten, zeitlosen Relationen. E s ist das formale Identische, das Kant meint, wenn er den Gegenstand X nennt als den Namen „durchgängiger Bestimmtheit": das ens realissimum, das gerade in seiner Formalität und Entleertheit den Seinsgrund abgibt und das bei Hegel zu Recht mit dem Nichts identifiziert wird, wodurch er die platonische Tradition von der Transzendenz des Seins (des Guten) bestätigt.
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offen ist, denn das Identische ist X, d. h. Form. Der Prozeß ist offen nach der Zukunft hin, aber konvergierend zu dem alle zukünftige Variabilität Überschreitenden. Daher spricht Kant von dem denkenden Selbst als „zeitlos". Denn Denken meint : die Dinge vorstellen sub specie identitatis oder aeternitatis, wie Spinoza äquivalent meint. Denken und Sein, meint Hegel - in etwas gewagtem Ausdruck nach dem Vorbilde des Parmenides —, sind ein und dasselbe. Denn wir meinen mit dem Denken dieses unbestimmbare X des vereinigenden, alles „durchgängig bestimmenden" Gegenstandes. Abwechselnd wird in der Geschichte dieses Identische Gott, Substanz, Geist, Subjekt usw. genannt. Wir stehen, theologisch gesprochen, im Denken vor Gott, und Denken im Menschen ist analogia entis: das Bild göttlicher Substanz („imago divinae substantiae"). Wir denken die Dinge im Lichte dessen, was sie in ihrer das Variable durchbrechenden Grenze sind. Es ist die exzentrische Grenze der Dinge, die wir als das Wahre — den Grund der Dinge — bezeichnen. „Das Denken muß alle unsere Vorstellungen begleiten können", heißt auch dies: alle Vorstellungen wie alle Emotionen sind von dem exzentrischen Horizont der Antizipation des Identischen begleitet. In ihm wurzelt die Welt, die wir das Seiende nennen und in der wir leben.
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§ 13 KOMMENTAR ZU K A N T ' S ENTDECKUNG
Das Prinzip der Kontinuität steht bei mir außer allem Zweifel, und es könnte da^u dienen, eine Reihe wichtiger Wahrheiten jener echten Philosophie, die sich über die Erscheinungen und die Einbildung erhebt und den Ursprung der Erscheinungen in den intellektuellen Regionen sucht, begreifen. Leibni^, Brief an Varignott, ed. Cassirer, II, 78
a) „ D e r G r u n d der M ö g l i c h k e i t " Kant hat in dem Einen Objekt den freien Willen entdeckt. Darin liegt seine Leistung. Darin liegt seine Antwort auf Piaton, für den, wie für die Antike überhaupt, die Welt des identischen Seins eine bleibende, an sich bestehende Welt, eine Welt fixierter Notwendigkeit (Ananke), war-ein Schicksal zwar höherer Art, aber doch Schicksal, ein an sich bestehendes, rationales Reich von Wesen und Wesenszusammenhängen, an das der Weise, es anschauend und es in seinen invariablen Gestalten offenbar machend, gebunden ist, um von dem anderen gewissermaßen irrationalen Schicksal frei zu sein, dem die Unwissenden verfallen, die Nichtsehenden, die Blinden, wie in der jüdischen Theologie die Unwissenden („Am Ha-arez") der Sünde verfallen, weil sie das geoffenbarte Gesetz nicht erkennen und nicht beobachten oder wie die blinden Helden der antiken Tragödie, wie Ödipus, dem Schicksal (der Heimarmene) verfallen und, von Verhängnis zu Verhängnis getrieben, zum schrecklichen Ende schreiten. Kant fragt : Was ist der Grund der Möglichkeit der rationalen, durch Invarianten (Kategorien) definierten Ordnung der Dinge ? Was ist der Grund der Realität dieser Ordnung - Realität in dem doppelten Sinne, daß die Invarianten sich durch die Totalität des Geschehens durchhalten („a priori gültig sind"), und ferner 93
in dem Sinne, daß das Geschehen (das „Mannigfaltige") in diesen Kategorien zur Wahrheit oder Darstellbarkeit kommt ? Kant (und das nachkantische spekulative Denken bis Hegel, das wir im Zusammenhang dieser Erwägungen mit Kant in eins nehmen) teilt mit Platon den Glauben an die Realität der Ordnung. (Vgl. die Bemerkungen I. G. Fichtes über „Glauben" in „Die Bestimmung des Menschen"). So wenig wie Piaton zweifelt Kant an der Geltung der Mathematik, an der Realität der Wissenschaft, an der „Wirklichkeit der Vernunft", wie wir mit Hegel sagen können. Dies ist unumstößlich gewiß: Seiende Welt setzt die Wirklichkeit der Vernunft, der alles Seiende umfassenden Seins-Idee, voraus. An der gemeinsamen Stelle zeigt sich zugleich die Differenz. Hier greift der Dialog Kant—Piaton ein. Kant stößt in eine Fragestellung tieferer Dimension. Die Frage nach dem Grunde der Möglichkeit der Realität des Permanenten steht auf. Kant reflektiert auf die „Quellen" dieser Realität. Nicht in der Permanenz als solcher, dem Logischen als solchem, dem Invariablen als solchem, sondern in der Realität des Invariablen liegt das Problem. Kant fragt nach dem Grunde ihrer Möglichkeit. Hier steht seine einzigartige, die Metaphysik seit Piaton einen Schritt weiterführende Antwort : daß die Kategorien wahr sind, daß diese unsere Welt des Geschehens in Seins-Symbolen „allgemeingültig" ausdrückbar ist, hat seinen „Ursprung" in der das Mannigfaltige, das Geschehen, übersteigenden Spontaneität — in dem das Mannigfaltige übersteigenden Gegenzug, dem freien Willen, der sich in dem Denken, d. h. der denkenden Apperzeption des Einen Objekts, aktualisiert, dem Willen zum Identischen. Was heißt „Grund der Möglichkeit" ? Kant fragt nach dem Grunde der Möglichkeit der „Einen" Erfahrung, d. h. der Geltung von Invarianten, die sich durch alle mögliche Erfahrung durchhalten, sie als die Eine Erfahrung aufbauen oder konstituieren. Er fragt nach dem Grunde der „Bedingungen der Möglichkeit" aller möglichen Erfahrung — der Erfahrung, die ebenso äußerste Zukunft antizipiert, wie sie sich äußerster Vergangenheit „erinnert". Die Invarianten sind also zunächst nur Möglichkeiten, reine Phantasiegebilde. Es handelt sich also in 94
dem kantischen Problem darum, das Urfaktum zu begreifen, daß in der Welt, die wir alltäglich erfahren und die zumal die Wissenschaft bis hinauf in ihre abstraktesten Symbole erfährt, reine Fiktionen konstitutive Bedeutung, also objektive Realität haben. Erinnerungs- und Erwartungs- (Hoffnungs-) Gebilde sind Möglichkeiten. Wir laufen vor oder zurück auf dem Grunde des Gegebenen, und wir können das Gegebene frei umbilden. Kant spricht der „produktiven Einbildungskraft", der freien fiktiven Umbildung von Möglichkeiten, eine fundamentale Bedeutung zu gegenüber den Akten der Apprehension, Assoziation und Rekognition, so daß die letzteren, also die Erinnerung und die Erwartung, als Modifikationen der freien „ursprünglichen" Phantasie bei ihm auftreten. Man kann sagen, daß sich bei Kant primär die freie Einbildungskraft in der Zeit aktualisiert, der synthetischen Einheit der Zeit, die sich ihrerseits als Gegenzug gegen das Mannigfaltige konstituiert - auf dem Grunde des Wissens von und des Leidens an dem Mannigfaltigen. Dies ist die gemeinsame Grundüberzeugung der fundamentalen Tradition von Parmenides bis Hegel: wenn ihr der Begriff der Einen Welt, des Universums, ständig vorgegeben ist, dann haben Phantasie- oder Denkmöglichkeiten, die unter sich eine Einheit, einen Fundierungszusammenhang, ein morphologisches oder mathematisch beschreibbares System (Ganzes) bilden, Realität, d. h. sachverhaltsmäßige, über die Sphäre des Denkens oder des Imaginären hinausgehenden Bestand, ja es kommt ihnen über die rein mathematische (ideale) Realität hinausgehende Wirklichkeit in dem Sinne zu, daß dem, was wir das Existieren, das Vergängliche, das Kommende und zumal das Sterbende nennen, ein System invarianter Denkmöglichkeiten zugeordnet ist. Bei dem Interesse, das alle Metaphysik der „Wirklichkeit der Vernunft" zuwendet, handelt es sich nicht um beliebige, vereinzelte Möglichkeiten unseres freien phantasierenden Spiels überhaupt, sondern um diese Möglichkeiten als termini (relata) eines systematischen Ordnungs- oder Relationsgefüges, eines Syndesmos. „Wirklichkeit" kommt also in der Tradition, aus der die Metaphysik, die Wissenschaft und die große Kunst er95
wachsen sind, als Attribut oder Prädikat nicht dem geschehenden Existieren zu, dem Hier und Jetzt, dem Partikularen, sondern diesem als Aktualisationsstätte eines zeitlosen Koordinatensystems. Diesem zeitlosen System, dem das Geschehen oder das ewige Diskontinuum des Werdens und Sterbens zugeordnet ist oder das sich in diesem Geschehen aktualisiert, schreiben wir Wirklichkeit zu. In diesem Sinne spricht Piaton von der Wirklichkeit der Ideen (Syndesmos), wenn es bei ihm heißt, daß die Welt aus dem „Stoffe der mathematischen Ausdehnung" gebaut ist. In diesem Sinne spricht Kant von der Wirklichkeit1) der empirischen Vorkommnisse, der „Erscheinungen", insofern sie nach den „Grundsätzen der empirischen Verknüpfung" „geordnet" sind und „zusammenhängen". Wirklichkeit kommt also allein dem System der Invarianz zu und innerhalb seiner dem einzelnen in der Stellenordnung des Systems, wobei der Begriff des Systems keineswegs wie bei Kant mit dem Gegenstand der mathematischen Physik zusammenzufallen braucht, wie das Beispiel der Logik Hegel's lehrt, wo ja das mathematisch ausweis- und ausdrückbare Ganze lediglich einen Spezialfall in der dialektischen Gesamtordnung der Einen Wirklichkeit bildet. Gemeinsam, bei aller Variation, ist also Piaton und Kant (und Hegel) der Glaube an die Verwirklichung und die Wirkl ) In scharfem Gegensatz zu seinem Begriff des „Daseins" als „absoluter Position" (in den Frühschriften) und auch im Gegensatz zu seiner Kategorie des Realen in der Kategorienlehre („Real ist, was einer Empfindung korrespondiert") oder auch dem Begriff des Realen in den „Antizipationen der Wahrnehmung". „Das Ganze ist das Wahre", d. h. das Wirkliche - dieser Hegel'sche Satz trifft ebenso für Kant wie für Piaton zu. Diesem Begriff der systematisch (vernünftig) geordneten Wirklichkeit entspricht der von Kant außerhalb seiner Kategorienlehre angewandte Begriff der Realität, ζ. B. in seinem Ausdruck „empirische Realität" oder „objektive Realität" (Gültigkeit). In diesem Falle bedeutet Realität soviel wie Sachheit und wird dann als Attribut den kategorialen Möglichkeiten zugesprochen gemäß dem alten Ausdruck : possibilitas est realitas. Realität ist dann der Gegensatz zu Idealität. Den Kategorien kommt nach Kant „empirische Realität" zu, nämlich in Hinsicht auf die empirisch gegebene Wirklichkeit und „transzendentale Idealität", nämlich in Hinsicht auf die alle Empirie übersteigende Wirklichkeit, und zwar für endliche Wesen, keineswegs für den intuitus originarius der Gottheit, für welche dieselben Kategorien eine die Beschränktheit ihres endlich-empirischen Gebrauchs durchbrechende Realität haben. Das will besagen: die Wirklichkeit, das systematisch geordnete Seiende, ist der Gottheit „an sich" gegeben.
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lichkeit (Mächtigkeit) des idealen Systems von Möglichkeiten (Kategorien, Ideen). Welt als wirkliche ist Universum, Kosmos, was auch immer die erkenntniskritischen (oder auch theologischen) Differenzen hinsichtlich des Zugangs zu dieser Wirklichkeit oder Seinsordnung sein mögen. In diesem Sinne der wirklichen Welt spricht Hegel von der „Wirklichkeit der Vernunft", nämlich in dem Sinne, daß die Welt, die wir in irgendeiner Seinsweise erfahren, Aktualisationsstätte eines systematischen Ganzen ist und sich als solche darstellt. Die Varianten interessieren uns hier nicht, da ja, bei aller Unterscheidung, die ζ. B. Kant zwischen phänomenaler (empirischer) und noumenaler Wirklichkeit statuiert, beiden Typen des Wirklichen das gemeinsame Prädikat zukommt, ein nach Invarianten (Möglichkeitszusammenhängen) geordnetes Relationsgefüge zu sein. Wenn also Kant von dem Grunde der Möglichkeit der Wahrheit (objektiven Realität) der Kategorien und, im Verlaufe seiner Untersuchung, der „Ideen" spricht, so stellt er die Frage nach dem Grunde davon, daß die Welt als Universum wirklich ist, anders gesprochen, daß inmitten des vielen das Eine mächtig ist — die Frage nach dem Grunde der Mächtigkeit des Invariablen „im" Variablen, der Einheit „in" der Mannigfaltigkeit, dem Grunde der Zuordnung des Vergänglichen zum Unvergänglichen, derart, daß das Vergängliche in dem Unvergänglichen (in den Symbolen, Kategorien) seine „notwendige und allgemeine" Wahrheit erfährt. Es ist die Frage nach dem Grunde der Möglichkeit, daß die Zuordnung der Einheit (Ganzheit) zu dem Mannigfaltigen (und umgekehrt) als Prädikat der Wirklichkeit zu Recht besteht. Denn dies ist gewiß : Welt ist seiende Welt. Da-seiend ist sie so-seiend. Geschehende Welt „ist" seiend. Seiende Welt hat die Beschaffenheit Sein - die Beschaffenheit, die es macht, daß alles mit allem Einen Zusammenhang bildet. Was ist der Grund des Seins als Weltbeschaffenheit ? Leibniz sagte in seinem Traktat „Primae veritates" (Opuscules et Fragments inédits de Leibniz, cd. L. Couturat, 1903): „Nihil est sine ratione." Einer Aussage kommt Wahrheit zu, wenn sie als wahre, als wahr gemeinte oder ausgesagte Prädikation in dem Subjekt — in dem weiten Sinne als subjectum von möglichen Prädikabilien - enthalten 7
Metzger: Freiheit
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ist („inest"). „Semper igitur praedicatum seu consequens (!) inest subjecto seu antecedenti: et in hoc ipso consistit natura veritatis." Wir können sagen: Was auch immer gemeint, bedeutet, charakterisiert, als wahr gedacht wird, in welcher Form auch immer (morphologisch, mathematisch oder hermeneutisch) eine Explikation erfolgt und als was auch immer sich das zu Explizierende darstellt, worüber die möglichen oder aktuellen „Prädikationen" erfolgen, ob über ein einzelnes oder ein allgemeines, ein menschliches oder außermenschliches Subjekt (praecedens) : die Aussage 1 ) ist wahr, weil sie auf Grund dessen erfolgt, daß sie eine Manifestation dieses subjectum darstellt, weil sie das in dem Subjekt Implizierte (Verborgene) expliziert oder zur Erhellung bringt. Das P-Sein eines S in dem weiten, über die pure Aussage der Form „S ist P " hinausreichenden Sinne erweist sich als wahr, insofern die Wahrheit als gerechtfertigt, legitimiert, gegründet auftritt, d. h. auf ein praecedens (Subjekt) zurückweist ,und zwar derart, daß sie eine Explikation des im Subjekt Implizierten darstellt. Jede Wahrheit ist Identifikation eines Identifizierbaren. Das eigentlich und wahrhaft Großartige der Leibniz'schen Einsicht besteht nicht darin, daß er, wie gewöhnlich gesagt wird, Wahrheiten oder wahre (bzw. falsche) Aussagen in Tautologien der Form a = a aufgelöst hat (deren Gesetze zu formulieren die Logik oder, exakter, die Logistik sich zur Aufgabe gemacht hat). Leibniz gründet alles Sein, d. i. wahr-Sein, wahre Beschaffenheiten, wahres so-Sein, in der Explikation eines vordem Gegebenen, Implizierenden. Seine These des Enthaltenseins (inesse) des Prädikats (consequens) in dem Subjekt bedeutet nicht die Zurückführung der Wahrheiten auf Tautologien. Identität besagt für ihn nicht Tautologie, sondern meint, daß überall da, wo wir einem Sachverhalt (Urteil) das Prädikat der Wahrheit zusprechen, dieses Recht des Zusprechens auf eine ursprüngliche Identität zurückgeht oder sich in ihr ausweist. Identität bedeutet nicht die „leere Selbigkeit eines Etwas mit sich selbst, sondern ursprüngliche Einheit des Zusammengehörigen" (vgl. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, p. 75). l ) Die Unterscheidung von Aussage und korrespondierendem Sachverhalt geschieht nicht bei Leibniz.
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So hatte bereits Schelling (in seinen „Vorlesungen zum akademischen Studium") den kantischen Begriff des Subjekts als „ursprüngliche Identität" der „Apperzeption" verstanden — in dem Zusammenhang der Zurückführung des Seins als Beschaffenheit des Universums auf ein präzedierendes, implizierendes Subjekt als den Grund der Möglichkeit dieser Beschaffenheit. Er hat das Subjekt so ganz in Übereinstimmung mit Leibniz' Begriff der Monade und ebenso mit dem johanneischen Begriff des Geistes bei Hegel gefaßt, der Monade, die das Universum implicite in sich enthält : dasselbe Universum, das sich gewissermaßen prädikativ als rationale, (kausal) determinierte Welt entfaltet, in der Mathesis zur Darstellung kommt, die „entfaltete Faust" Hegel's. Seiende Welt ist System „ewiger Wahrheiten". Sie ist prästabiliert, „prästabilierte Harmonie", d. h. angelegt in dem Grunde ihrer Möglichkeit, dem Subjekt, dem sie implicit ist - wie jedes wahre so-Sein, jeder in der Aussage als wahr prädizierte Sachverhalt seinen Wahrheitsgrund in dem je implizierenden Subjekt, gewissermaßen einem parvus mundus, hat. Das wahre Sein bekundet sich als Prozeß von Identitäten, d. h. von identifizierbare (individuelle) Subjekte explizierenden Identifikationen. Sein, als die alles Seiende umgreifende, universale Weltbeschaffenheit, Universum als die Wahrheit des Seienden bekundet sich als Prozeß der Identifikation des Einen, als alle Subjekte (Monaden) umfassenden Prozeß. Der Satz vom Grunde des Seins als Weltbeschaffenheit führt auf die Frage nach dem Wesen dieses zentralen, die Kontinuität des Seienden umfassenden Subjekts1). Man sieht, wohin das Gespräch mit Leibniz Kant geführt hat. Aber man sieht vor allem die Stelle, wo er Leibniz überstiegen hat. Das Subjekt, das den Grund der Möglichkeit des Univer*) Vgl. Leibniz, Nouveaux Essais, Liber 2, 17. Kap., Par. 3: „Der Gedanke des Unendlichen stammt also aus dem Gedanken der Ähnlichkeit oder der Identität des Grundes, und sein Ursprung ist derselbe wie der der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten. Hieraus geht hervor, daß das, was diesem Gedanken erst seinen Abschluß gibt, in ihm selbst liegt und nicht in sinnlichen Erfahrungen, ganz so auch die notwendigen Wahrheiten weder durch die Induktion noch durch die Sinne bewiesen werden können. Die Idee des Absoluten ist innerlich in uns wie die des Seins, und die verschiedenen Formen des Absoluten sind nichts anderes als die Attribute Gottes. Von ihnen kann man sagen, daß sie die Quelle der Ideen sind, wie Gott selbst das Prinzip der Wesenheit ist."
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sums als verwirklichter Kontinuität enthält, wird bei Kant zur potentia oder vis unitatis (um die schönen Ausdrücke der Inauguraldissertation von 1770 zu verwenden) — zu dem in den Prozessen von synthetischen Handlungen sich offenbarenden unendlichen „Vermögen", dem infiniten Können („infinitas infinite unita" des Cusanus), einem Subjekt, das seine Bestimmung als Substanz, die es bei Leibniz noch hat, hinter sich läßt, ja gerade alle Dinglichkeit und dingliche Qualifizierbarkeit überschreitet. Es ist Tätigkeit (Spontaneität), intentionale, auf das eine Objekt gerichtete Apperzeption. Ja, derart verliert dieses Subjekt seinen in der Tradition vor Kant ständig bewahrten substantialen und monadologischen Charakter, daß es gerade bestimmt wird aus dem, was es nicht ist, nämlich aus dem unbekannten „Gegenstand = X", zuletzt und grundlegend gemeint aus dem Ideal des ens realissimum, in dem alle theoretischen und praktischen Handlungen vereinigt werden — dem einzigen und wahrhaft Wirklichen. In diesem ens realissimum oder vielmehr in der Beziehung zu ihm gründet die kategorial artikulierte Naturwirklichkeit ebenso wie vor allem die übersinnliche Wirklichkeit, die sich der Einfalt der moralischen Handlung offenbart. Es ist der freie, auf Einheit gerichtete „gute Wille", dem die Beschaffenheit der Wirklichkeit, nämlich die alles Weltgeschehen zur Einheit vereinigende Beschaffenheit, „einwohnt": die exzentrische, alles Seiende überschreitende, weil auf das Unum gerichtete und von daher bewegte Tätigkeit. Seinsgerichteter Wille, die Spontaneität des „Ich denke" der Grund der Möglichkeit der in gesetzmäßiger Determiniertheit verlaufenden Wirklichkeit — ist für Kant kein bestehendes Etwas, kein Seiendes, kein Ding, keine substantia, weder in dem Sinne, daß der Seinsgrund Substanz ist mit inhärierenden, sei es auch verborgenen Eigenschaften, noch in dem Sinne, daß sich dieser Grund in endlichen, morphologisch umgrenzten Gestalten darstellt. Der der Einheit zugewandte Wille — das Denken — expliziert sich darin, daß er in keinem opus operatum, in keinem Inhalt, in keinem Seienden ruhen kann. Das prädikative Universum ist Einheit (der identische Grund der Apperzeption) „in" der Mannigfaltigkeit, derart, daß das, was die Einheit „ist", 100
nut als Prozeß ständigen Überstiegs über alle Prädikationen, allen Gehalt, alle Aussage- und Sachverhaltswahrheiten, bestimmbar ist und sich zeigt. Der Grund des Universums hat den Charakter der Transzendenz. Kant und mit ihm die große, ihm nachfolgende Spekulation nennt diesen Grund in christlich-johanneischer Wendung das Selbst im Menschen, „das unter keinen Zeitbedingungen steht". Das Gebiet und die Grenze, innerhalb deren sich diese Spekulation bewegt, ist damit gekennzeichnet, daß sie nämlich ständige, sich immerfort wiederholende Reflexion auf dasselbe ist, auf die identische, im Universum sich offenbarende, aber den Reichtum seiner Gestalten übersteigende, unifizierende Tätigkeit — Tätigkeit des Grundes : des Subjekts, das als Subjekt inmitten der Objekte, aber v o r allen Objekten der menschlichen wie außermenschlichen wie übermenschlichen Objektwelt liegt, da die Frage nach dem Wesen des Subjekts die Frage nach dem Grunde ist, daß die Welt seiende Welt und das Universum (die Seinsordnung) ihre Wahrheit ist. Das Subjekt, von dem hier die kantische Metaphysik spricht, um deren Fragen und Sorgen sich unser anthropologisches, um den Menschen und seine Subjektivität angeblich so sehr bekümmertes Zeitalter gebracht hat, ist also nicht Gegenstand einer Anthropologie, auch nicht einer sogenannten philosophischen Anthropologie. Ja, es ist nicht einmal von der „Stellung des Menschen im Kosmos" (Max Scheler) her zu fassen, wenn es auch natürlichermaßen auf die Relation der unendlich mannigfachen Umwelten zu der Einen Welt bezogen ist. Wie sollte dies anders sein, da ja die Frage nach dem Grunde des Universums, in dem wir leben und leiden, zur Diskussion steht? Aber das Subjekt — das Selbst im Menschen - ist nicht von der Beziehung der Umwelten zur Einen Welt her zu fassen, da sein Wesen erst dann in das Licht tritt, wenn das in der fundamentaleren Frage nach dem Grunde der Einheit „in" der Mannigfaltigkeit aufgeworfene Problem erfaßt wird. Diese Einheit sieht sich bei Kant nicht mehr einer in substantial gestalteten Formen gegebenen, vorhandenen Ordnung gegenüber, über der die Gottheit ihre segnende Hand hält, sondern dem Objekt, dem schlechthin Mannigfaltigen, dem Strom versinkender Augenblicke, in 101
welchen sie, als die ihn auf die Eine Welt richtende Macht, mitten hineingestellt ist. Nur dann verstehen wir das Selbst, um das diese einsame Spekulation kreist, wenn uns gelingt, es als eine nach Einheit verlangende Mächtigkeit inmitten einer von substantialen Qualitäten entleerten Welt in das Licht zu rücken. Die Verwandlung des Weltgrundes zum Subjekt, d. h. seine Darstellung als Transzendenz oder Wille, und die Entleerung der Welt von Substanzen, d. h. ihre Darstellung als Empirie, gehören zusammen.
b) D i e reale und die i r r e a l e W i r k l i c h k e i t Was zeigen diese Reflexionen? Die Welt, diese unsere determinierte, in Symbolen (Kategorien) mathematischer Ordnung ausdrückbare Welt, wurzelt in dem das ewige Vergehen übersteigenden Willen. Rationalität wurzelt im freien Willen. „ E s gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ur-Sein, und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben : Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden." So ist der Gedanke bei Schelling formuliert. Aber dieser Wille kommt in der Welt nicht vor. Er kommt nicht in der Natur vor. Er kommt nicht vor als Untersuchungsfeld der objektiven Wissenschaft („science"). Der freie Wille ist kein physikalischer, kein biologischer Begriff, noch ein Begriff der empirischen Psychologie. Er manifestiert sich in dem Kosmos der Dinge. Er findet in dem Kosmos seine Stätte der Aktuaüsation - in der anorganischen oder organischen oder beseelten Natur — auf je verschiedenen Stufen. In je verschiedenen Seinsweisen findet er dort sein Medium der Verwirklichung, insofern sich in der Natur auf allen Stufen ihres wirklichen Daseins Einheit, Zusammenhang, Ordnung, Artikulation in irgendwelcher Typik zeigt. Wie diese Aktualisierung, die Beziehung des Geschehens auf Einheit, darstellbar ist, welches die Koordinaten sind, in denen sich das Geschehen als geordnetes darstellt, ob in Form teleologischer Finalität oder in Form 102
statistischer oder exakter Gesetzgebung - es ist die Beziehung des gegenziehenden Willens, die variable Entfaltung dieser Intentionalität zu dem Einen Objekt, die wir als seiende Welt bezeichnen. Kant hat das Sein, die sich durchhaltende, invariable Beschaffenheit alles Seienden, zu dem gemacht, was dem auf Einheit gerichteten (denkenden) Willen „korrespondiert". Das will natürlich nicht sagen, daß er es subjektiviert hätte, wie manche Reden immer wieder lauten. Er hat damit nicht die Wirklichkeit des bestehenden Kosmos relativiert, sondern er hat den Willen oder die tätige Transzendenz als das kosmogene Ingrediens dieser Wirklichkeit erkannt; als Ingrediens — das besagt, er hat das Sein: das unum (Einigung) und die unitas (das Einigende), das ens realissimum, seines mythologischen Charakters entkleidet. Er hat, um den theologischen Ausdruck zu verwenden, die Gottheit und ihr Universum im Lichte des Gegenzuges gegen das Mannigfaltige erkannt. Der freie Wille ist zwar in der Welt, in dem Universum der Objekte, nicht antreffbar, aber seine Irrealität reicht in deren Realität hinein, und zwar so, daß der unnennbare, alle Endlichkeit und Bestimmung überschreitende, aber alle Endlichkeit bestimmende unendliche Gegenstand (X) des Willens den Grund dieser seienden Welt abgibt. „ E s gibt keine wahre Freiheit als durch absolute Notwendigkeit" (Schelling, Zur Methode des akademischen Studiums, 1802, V, 222). Wir haben von der nihilistischen Basis des kantisch-idealistischen Freiheitsbegriffs gesprochen. Denn wie steht es genau mit diesem Begriff des freien Willens und der Freiheit? In der Sukzession versinkender Augenblicke, in der chaotischen Mannigfaltigkeit der Empirie schlägt er seine Wurzel. Daran ist kein Zweifel. Kant spricht, wie wir gesehen haben, von der Spontaneität des Denkens, die die Einheit „ i n " dem Mannigfaltigen „möglich" macht. Er meint die Spontaneität gegen das Mannigfaltige. Hinter dem in dieser Spontaneität sich aktualisierenden freien Willen, der integrierend in das Universum eingeht, verbirgt sich also eine „Welt", die in dem Willen und seinem rationalen Universum verschlossen ist: das Regellose nämlich, von dem, wie wir sagten, die platonische Mä-ontologie spricht„ein wogend-wallend Meer, der Materie des Piaton gleich" 103
(Schelling, VII, 360) —, das nihil, zwar nicht in dem Sinne eines wesenlosen, über aller Wesen- und Gestalthaftigkeit liegenden unprädizierbaren Seins, sondern in dem Sinne des urstofflichen Substrats, auf das die Seinsbesinnung als die Letztheit immer wieder mit immer neuen Ausdrücken gestoßen ist, seitdem (im „Sophist" Platon's) das Sein, die universale Beschaffenheit alles Seienden, als das Prinzip des Versammelnden gegenüber einem Unversammelten erkannt wurde. Beachten wir genau den Zusammenhang, in dem die Kategorie des nihil hier auftritt: der freie Wille ist „nicht von dieser Welt". Er kommt nicht in der Welt unter den Objekten vor — weder in dem Sinne einer an mathematischen (vierdimensionalen) Koordinaten orientierten Natur, noch in dem einer final (teleologisch) determinierten Natur, aber auch nicht in der vorwissenschaftlich-emotionalen Welt, mit der wir in unserer alltäglichen Praxis umgehen. Er kommt nicht in der Welt vor als immanenter oder reeller Teil oder als Stück dieser Welt, wie die Teile in einem Ganzen vorkommen, zu dem sie gehören oder in dem sie beisammen sind. Es ist der objektiv nicht bestimmbare Wille, der nicht von dieser Welt ist, der in diese Welt der Einheit als ihr Grund der Möglichkeit hineinragt, wobei es nicht von Belang ist, wie immer diese Einheit bestimmt wird. Es ist gänzlich belanglos, daß Kant diesen Begriff der Einheit des Universums an dem Raum- und Zeitbegriff der Newton'schen Physik orientiert. Sein Gedanke der apperzipierenden Tätigkeit bezieht sich grundsätzlich auf jedes das Mannigfaltige einigende Universum, was auch immer das Koordinatensystem sein mag, in dem wir es fassen. Welche auch immer die Symbole sind, in denen wir es deuten — zugrunde liegt dieser Welt die einigende, auf das Eine Objekt gerichtete Tätigkeit. Dies ist das eigentümliche, irreale Wesen des freien Willens, daß er in den Blick kommt oder sich zeigt auf dem Grunde einer Welt der Ordnung oder vielmehr von Ordnungssystemen, in der wir leben und handeln und die wir zuletzt, wunderbar genug, als eine in mathematischen, abstrakten Symbolen faßbare Welt erkennen. Dies ist das Einzigartige der Entdeckung, die in Kant ihren Interpreten fand: daß hier in seiner Lehre von einer realen, unfreien, kausal unfehlbar determinierten Weltordnung die 104
Rede ist, daß aber diese Ordnung als Manifestation einer irrealen, mit ihr nicht kollidierenden, jedoch mit ihr verknüpften Wirklichkeit erkannt wurde (weshalb es auch ganz irreführend ist zu glauben, daß der freie Wille irgend etwas zu tun habe mit dem „freien Spielraum" der Lichtquanten in der Quantenmechanik, da ja auch dieser Spielraum ein objektiver ist, d. h. sich in einem an invariablen Determinanten orientierten System aktualisiert). Wir wollen den über Kant's Bestimmungen hinausgehenden Begriff der korrelativen Zuordnung der determinierten Objektwirklichkeit und der irrealen Subjektwirklichkeit noch etwas deutlicher machen.
c) D i e K a t e g o r i e der „ E i n h e i t in der M a n n i g f a l t i g k e i t " und die K a t e g o r i e der O r d n u n g in dem n e u e r e n Wissenschaftsbegriff Die Zerstörung der t r a d i t i o n e l l e n S u b s t a n z e n - M e t a p h y s i k Es liegt ein Mißverständnis des idealistischen Systemgedankens vor, wenn man ihn, wie es zumeist geschieht, von dem historischen Ausgangspunkt des kantischen Weltbegriffes sieht. Gewiß kommt Kant von Newton her in dem Sinne zunächst, daß ihm der Raum als eine absolute, wenn auch ästhesiologische (euklidische) Größe erscheint; daneben steht ihm, wie bei Newton, die ebenso ruhende Größe der Zeit („quod fluit aequaliter"). Aber dieser Ausgangspunkt (terminus a quo) hat nichts mit der Absicht (dem terminus ad quem) seines Unternehmens zu tun. Die Absicht seines transzendentalen Unternehmens besteht darin, den Grund der Möglichkeit einzusehen, daß das, was wir die wirkliche Welt nennen, ein Zuordnungssystem ist — nämlich ein System, in dem das Variable, das Mannigfaltige, invariablen, kategorialen Determinanten notwendig zugeordnet ist. Es ist gerade dieses Problem der Zuordnung eines Variablen (Geschehens) zu einem Invariablen, das in der Forschung der modernen physikalischen Theorie zur Diskussion steht. 105
Im Verlauf dieses Forschungsprozesses werden allerdings der Newton'sche und der kantische Raum- und Zeitbegriff wie auch die traditionellen Bestimmungen („Grundsätze") der Substanz und der Kausalität überschritten. Aber das Axiom der Ordnung wird damit nicht suspendiert ; nur das System, dem das Variable zugeordnet wird, erhält in dem neueren Wissenschaftsbegriff eine verwandelte Bestimmung. Das System der Invarianz wird verwandelt. Wenn die spezielle Relativitätstheorie (um Einstein'sche Bestimmungen als Beispiele des modernen physikalischen Forschungsgangs und seiner Resultate zu nehmen) an die Stelle eines ruhenden Äthers, worin Raum und Zeit getrennt „liegen", ein vierdimensionales, kinematisches System (mit der Lichtgeschwindigkeit als Konstante c) setzt und wenn darüber hinaus in der allgemeinen Relativitätstheorie dieses Koordinatensystem (x y ζ t) so erweitert wird, daß die „vierdimensionale Weltgeometrie" zu einem Spezialfall wird „für die unendlich großen Bereiche der Freiheit aller möglichen dreidimensionalen Geometrien (Bernhard Bavink), derart, daß die Vorzugsstellung unserer räumlich-zeitlichen, planimetrischen Welt gebrochen, diese unsere Welt vielmehr zu einem Integral im unendlich Kleinen in dem Bereich koordinierter Weltsysteme wird 1 ) (ganz ähnlich, wie bei Riemann die euklidische Geometrie ein Spezialfall der unendlich vielen dreidimensionalen Geometrien mit dem Krümmungsmaß O ist) — so kann man im Ergebnis sagen, daß in der neueren Physik an die Stelle eines „toten Stoffes", einer „hyletischen" Materie ebenso wie eines „absoluten" Raumes oder einer „absoluten" Zeit, eines „absoluten" Äthers, „absoluter" Beschleunigungsgesetze usw. der rastlose Fluß des Geschehens von Billionen von „Wirkungskräften" tritt, die aber nicht ein Chaos bilden, nicht ordnungslos verlaufen, sondern einem invariablen vierdimensionalen Koordinatensystem zugeordnet werden. l ) „Welche Raum-Zeit-Metrik hier und jetzt gilt, das ist festgelegt dutch die Verteilung von Materie um diesen Raumpunkt herum Das Newton'sche Gesetz (Gravitationsgesetz) geht also in einem allgemeineren Ansatz auf, der den Zusammenhang zwischen Materieverteilung und Raumkrümmung formuliert." Vergi. Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften, 9.Aufl. (1949), S. 118/119. Ich verweise für den laufenden Abschnitt auf diesesWerk.
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Hier ist also, ebenso wie im kantischen System, von einer kategorialen Ordnung oder vielmehr von Ordnungssystemen, von einer gewissermaßen eleatischen „formalen Verfassung des Wirklichen" (Hermann Weyl) die Rede, wobei allerdings dieser Begriff der Ordnung, einer formalen vierdimensionalen „Mannigfaltigkeitsordnung", nicht mehr durch ein aristotelisches Klassensystem von Gattungen repräsentiert werden darf, ebensowenig durch raumerfullende Substanzen, nicht durch „primäre Qualitäten" (der res extensa) noch durch apriorische Zeit- und Raumformen. Sie kann überhaupt nicht durch etwas Beharrendes im Geschehen in irgendeinem Sinne dargestellt werden. Das scheint mir das Charakteristische dieses neueren Begriffs einer Weltordnung zu sein, daß er durch etwas Seiendes nicht repräsentiert werden kann, ja daß gerade im Lichte dieser Invarianz der Unterschied zwischen einem bestehenden, raumerfüllenden Etwas und einem dann die Zeit erfüllenden Vorgang (einer Veränderung) nicht gemacht werden kann. Das eigentlich Bestehende ist die „Wirkung" — die Feldstärken (Feldvektoren), wie es heißt, und die davon abgeleiteten Größen. Es sind die Wirkungsquanten (h), von denen nur ungenau gesagt werden kann, daß sie Raum und Zeit zugleich erfüllen, denn sie konstituieren erst Raum und Zeit. Aber selbst diese Quanten, auf die als Letztgegebenes die Wissenschaftsanalyse hinausläuft, „sind" nicht, sowenig die Elektronen oder die Atome „sind". Sie geschehen (Aloys Wenzl). (Nach Born kann man nur von einer rein formalen Bedeutung einer statistischen Wahrscheinlichkeit sprechen, daß ein Lichtquant an einem bestimmten Ort zu finden ist.) Das heißt: alle physikalischen Größen müssen als Symbole für etwas genommen werden, was überhaupt nicht (oder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht) anschaulich dargestellt werden kann. Aber dieses Geschehen ist geordnet, und diese Ordnung ist in Symbolen (Gleichungen) eines invariablen Systems darstellbar. Das meint der Prozeß der Formalisierung der neueren Wissenschaft, daß sie mit einem Weltbegriff operiert, der durch keine endlichen Inhalte, d. h. durch kein morphologisch fixiertes Seiendes, darstellbar ist, oder daß sie zu einem Begriff des Wirk107
lichen vorstößt, der zwar, wie der kantische Begriff der Wirklichkeit, durch Invarianten oder vielmehr durch den rationalen Zusammenhang (Fundierungszusammenhang) dieser Invarianten definiert ist, daß aber diesem System mathematischer Gleichungen nichts, d. h. „nicht-Seiendes", entspricht. „Die Naturwissenschaft hat", sagt Jeans (Festrede 1931 in New York, abgedruckt in „Unsere Welt", 1932, 6, 161), „nichts übriggelassen, worin Welten schwingen oder sich bewegen können... Die Wellen müssen also als rein mathematische Wellen angesehen werden... Wir dürfen uns die Welt nicht mehr vorstellen wie eine große, kunstvolle Maschinerie, die uns durch ihr Gewicht erdrückt, sondern nur noch als eine Welt des Gedankens, und zwar insonderheit jener besonderen Art von Gedanken, die wir mathematische nennen." Vielleicht kann man den Prozeß der Formalisierung so begreifen, daß in ihm eine Tendenz der exakten Darstellung des Wirklichen sub specie aeternitatis zur Vollendung kommt, d. h. des Wirklichen als frei, entleert von aller endlichen, „menschlich-allzumenschlichen" Charakterisierung. Dieser Prozeß der Emanzipation von der Endlichkeit begann frühzeitig in der platonischen Auseinandersetzung mit der Sophistik, als das Bleibende, das Invariable, das sich durch die Variabilität Durchhaltende, dem Nichtbleibenden, dem Variablen subjektiver Erscheinungen entgegengesetzt wurde, nahm dann seinen Fortgang, als in der galileischen Physik an Stelle der aristotelisch-scholastischen Definition des Invariablen in Gestalt „substantialer Formen" der Gedanke des Gesetzeszusammenhanges der Erscheinungen trat, und drängt schließlich in unserer Zeit in der Formalisierung (Entleerung) dieses Gesetzes- und Systemgedankens selbst zu seiner Vollendung — insofern, daß auf jede anschauliche (inhaltliche) Darstellbarkeit des Gesetzeszusammenhanges verzichtet wird, ja die Darstellbarkeit mathematischer Formeln (sei es selbst als Elektronen oder Korpuskeln oder Wellen usw.) als inkommensurabel erkannt wurde. Das Wirkliche ist vernünftig. Aber die Vernunft oder die Systematik des Wirklichen besteht darin, daß den termini (Beziehungspunkten) dieses Relationsgefüges nichts „entspricht", d. h. kein darstellbares Seiendes, das Nichts nämlich eines unfixierbaren, un108
identifizierbaren, wesenlosen „Flusses" von „Wellen" („periodischen Veränderungen"), denen also in diesem Sinne keine körperliche, sondern nur eine mathematische Bedeutung zukommt. Bis zu dieser Formulierung schreitet der idealistische Zentralgedanke der Einheit „in" der Mannigfaltigkeit, und nur dann, wenn wir ihn in dieser seiner alle historischen Anknüpfungspunkte, die bei Kant vorliegen, überschreitenden Extension begreifen, verstehen wir das Grundsätzliche der Frage, die in Kant und der ihm nachfolgenden großen idealistischen Spekulation aufgeworfen wurde: der Frage nach dem Grunde der Möglichkeit der Beziehung des Mannigfaltigen auf Einheit. Das Variable steht nicht allein. Es ist dem Invariablen zugeordnet. Vernunft ist wirklich (und das Wirkliche ist vernünftig). Das besagt: der in mathematischen Gleichungen zuletzt ausdrückbare Systemgedanke verifiziert sich in dem Mannigfaltigen. Daraufkommt es an. Es ist diese Zuordnungsbeziehung, die gleichmäßig im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung steht, wie sie seit je das Problem gewesen ist, das aller metaphysischen (philosophischen) Reflexion zugrunde liegt. Die Welt ist Eine. Ordnung, d. h. die in der Idee der Einheit in der Mannigfaltigkeit liegenden systematischen (ableitbaren) Formen (Determinanten, Symbole), sind wirklich, freilich nicht in dem Sinne, daß sie einen immanenten Teil des Geschehens bilden, des Geschehens der Billionen von Wirkungsquanten, von denen als dem Letztgegebenen die Physik spricht. Dieses Geschehen ist der Prozeß ständigen Vergehens, ständig versinkender Augenblicke. Aber der Prozeß steht in einer vierdimensionalen Ordnung. Das Variable, um den mathematischen Ausdruck zu gebrauchen, „bildet sich ab" in dem Funktionszusammenhang von Symbolen (Zeichen). Wissenschaft hat es mit dieser formalen Verfassung des Wirklichen zu tun. Es ist diese „formale Zuordnungsbeziehung" (Carnap), auf die nicht nur alle Physik, sondern jede Art theoretischen Verhaltens gerichtet ist, wobei es also, wie wir sehen, völlig gleichgültig ist, ob wir von Farbe, Empfindungen, Empfindungskomplexen oder von Elektronenvorgängen als Wirklichem sprechen. Der alte Streit um das, was wirklich ist, stellt sich als gegenstandslos heraus. Das Wirkliche ist weder das eine noch das 109
andere. Es ist weder Geist noch Materie, weder teleologisch gerichteter noch kausal determinierter Prozeß. Es ist Zuordnungsbeziehung eines Variablen zu einem Invariablen. Diese manifestiert sich in differenten Seins- oder Aktualisationsweisen, in differenten Formen oder Formsystemen, die sich zeitlich als relativ konstant erweisen, angefangen von den primitivsten dieser Formen, den Elektronen, Protonen, Neutronen usw., die sich ihrerseits zu komplexeren Formen, den Atomen und Molekülen, zusammensetzen, und die wir dann in ihren wieder komplexeren Gestalten als unlebendige oder als organismische oder als beseelte Materie kennen. Das aber besagt: was wir Unlebendiges, Lebendiges und Beseeltes nennen, sind differente Weisen der Aktuaüsation dieser fundamentalen Kategorie der Zuordnungsbeziehung, dergestalt, daß sich die Beziehung des Variablen zum Invariablen in der Sphäre des Unlebendigen als Gesetzeszusammenhang manifestiert, in dem die Variablen zu dem Ganzen eines mathematisch darstellbaren, determinierten Universums verbunden sind, während in der Sphäre der Lebewesen die Variablen (der variable Prozeß des Geschehens) eine organismische, je und je konkrete, unter sich verbundene Ganzheit bilden. Was wir die Seele, das Geschehen der beseelten Materie, nennen, ist der Name für jene Seinsweise der Zuordnung, in der die Intentionalität oder Gerichtetheit oder Sehnsucht der Variablen nach dem alle Variabilität übersteigenden Einen und Ganzen zum Vollzug kommt. Alle Male aber zeigt sich in den differenten, zeitlich relativ konstanten Systemen der Seinsaktualisation das Gemeinsame: ein Geschehen, ein Nichtversammeltes steht in einer Beziehung zu einem es Versammelnden, Vereinigenden; was wir von Anfang an das Sein oder das Permanente als die Beschaffenheit alles Seienden genannt haben, zeigt sich als die in differenten Weisen der Aktuaüsation zum Vollzug kommende Zuordnungsbeziehung der beiden heterogenen Grundelemente. Was also die moderne physikalische Theorie innerhalb dieser Problematik herausgestellt hat, ist, daß sie im Verlaufe der Forschung zu dem Urprozeß der Seinsaktualisation oder Zuordnungsbeziehung vorgestoßen ist. Dieses Ergebnis ist von im110
menser Wichtigkeit, nicht nur für die Einsicht in die physikalische oder chemische Struktur der Materie, der mikro- oder makrokosmischen Vorgänge, sondern auch für die Metaphysik als Seins- und Freiheitslehre. Die Physik hat die Metaphysik von dem in den kantischen Theorien noch maßgebenden Begriffe der Substanz befreit, des raumerfüllenden, unveränderlichen Quantums, das den zeitlichen Vorgängen als ontologisches Prius, als Bleibendes vorangesetzt wurde und so lange aufrechterhalten blieb, als der Unterschied von Seiendem und Werdendem (Geschehen) festgehalten wurde, eine Unterscheidung, die für die moderne physikalische Betrachtung (vor allem in der Relativitätstheorie) durch die Aufhebung der Differenz von Materie und Energie als prinzipiell aufgehoben anzusehen ist. Indem die Physik dergestalt zu einem nicht-seienden „Etwas" als dem ursprünglich Gegebenen vorstößt, das lediglich durch seine Zuordnung zu einem formalen invarianten System zur Bestimmung kommt, zu einem quantifizierbaren oder auch qualifizierbaren da- und so-Seienden wird, schreitet sie ebenfalls bezüglich der Einsicht in das Wesen oder vielmehr Unwesen dieser substanzlosen, sagen wir: irrationalen Empirie über die Legenden und Mystifikationen hinaus, die in tausendjähriger Tradition über sie im Umlauf waren. Die Forschung zieht gewissermaßen den alten, dunklen Begriff der stofflichen Materie an das Licht — des Nichts, von dem es in der jüdisch-christlichen Theologie heißt, daß Gott aus ihm die Welt geschaffen habe, und von dem Platon im Timaeus sagte, daß die Gottheit ihm die Ordnung „vorgezogen" habe. Die Forschung hat das nicht-Seiende der Tradition als einen in nahezu unendlicher Geschwindigkeit rasendem Prozeß isolierter „Lichtquanten" identifiziert. Wenn das Ergebnis der modernen physikalischen Theorie im Zusammenhange der vorliegenden Untersuchung richtig interpretiert wird, so kommt hier das die Metaphysik über die Jahrhunderte bewegende Grundproblem der Begegnung von Essenz und Existenz in seiner Urgestalt zur Darstellung. Dieses Beziehungsgefüge meint ja nicht nur das Zusammensein von den zwei heterogenen Elementen eines allgemeinen so-Seins und eines individuellen da-Seins als Urstruktur alles Seienden,
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sondern meint vor allem, daß Existierendes zur Bestimmbarkeit, Wahrheit und Offenbarkeit gebracht wird durch etwas, was es nicht selber ist, worauf es aber bezogen ist, wobei zunächst und ursprünglich ganz dahingestellt bleiben mag, ob das Bestimmende (das essentiale Element) durch ein qualitatives soSein (durch Washeit) ausdrückbar ist oder durch Zahlengesetze (wie Piaton von Anfang an gegen Aristoteles behauptete), oder, im Falle seelisch-geistiger Existenz, durch geschichtliche (zeitliche) Kategorien. Aber so geartet ist in allen Fällen dieses essentiale Element, daß es in einen Horizont in infinitum, d. h. in den Horizont der alles mit jedem verbindenden Bestimmung hineinweist. Die Zuordnung, in der die Existenz zu einem Invariablen steht, macht es, daß alle Existenzen (in typisch verschiedenen Weisen) mit dem Unendlichen — dem Unbeschränkten des Einen Objekts — verbunden sind. Wie also die physikalische Theorie die Urmaterie in den Griff gebracht hat, so hat sie auch das Urkoordinatensystem bezeichnet, dem die maeontische Wellenexistenz zugeordnet ist. Darin nämlich scheint mir die Bedeutung dieses Koordinatensystems der Ordnung (xyzt) zu liegen, daß es in sich selbst unbestimmt und unbestimmbar gelassen ist, und zwar dergestalt, daß es lediglich den formalen, aber invariablen, d. h. über alle inhaltliche Darstellung hinaus verlegten Rahmen abgibt, in dem jedes mögliche Individuelle oder Existierende seine Bestimmung erhält, daß also hier ein Standort der Bestimmung des Wirklichen gewonnen wurde, der über alle sinnlich anschauliche, aber auch alle substantiate, ja auch über alle eindeutig-kausale Qualifikation im Sinne der Laplace'schen Mechanik hinaus den Spielraum für jede mögliche Mannigfaltigkeitsordnung offen läßt. Diese Ordnung braucht keineswegs in den Proportionen mathematischer Gleichungen ausdrückbar zu sein, die ja die Kontinuität des Weltalls zur Voraussetzung haben: vielmehr bleibt innerhalb ihrer der Horizont frei, in dem isolierte Wirkungsquanten freie Formensysteme bilden, oder besser, in dem das Beziehungsgefüge des Variablen und Invariablen in typisch differenten Dimensionen unendlicher Möglichkeiten sich äußern kann. Aber dieser Spielraum der Mannigfaltigkeit ist ein freier Spielraum von Formensystemen, in denen sich das Eine Uni112
versum in dem Reichtum seiner Gestalten expliziert und entfaltet. Auf diesen Begriff der geordneten Mannigfaltigkeit muß also Kant's Fundamentalkategorie der Einheit in der Mannigfaltigkeit gebracht werden, wenn sein Problem in seiner grundsätzlichen Bedeutung verstanden werden soll. Es kommt hier wie überall darauf an, das Grundsätzliche zu ergreifen, statt es zu diskreditieren, weil das betreffende Problem in Inhalten repräsentiert wird, die im Laufe der empirischen Forschung nicht mehr seine adäquate Illustration darstellen. Es gehört zur Geschichte der kantischen Kategorienlehre (der Frage nach dem Grunde der Einheit in dem Mannigfaltigen), daß von seinem kategorialen System als einzige Kategorie die der Ordnung übriggeblieben ist, das Prinzip jeder möglichen (menschlichen und außermenschlichen) Wirklichkeit. Die Elemente (Kategorien) der Ordnung sind demnach weder auf „sinnliche Anschauungsformen" noch auf Kategorien der Substanz und Kausalität restringiert (denen in dem traditionellen naturalistischen Weltbegriff die eminente Bedeutung zugesprochen wird), sondern sie meinen lediglich die Möglichkeit (Mächtigkeit), die einzelnen Tatsachen in einem immer umfassenderen einheitlichen System darzustellen. Dieser Begriff der formalen, von aller sinnlichen Anschaulichkeit, wie dargestellt, abstrahierten Ordnung muß im Auge behalten werden, wenn die Frage nach dem Grunde der Möglichkeit der Zuordnungsbeziehung eines Variablen zu einem Invariablen gestellt wird, d. h. die Frage nach dem Grunde der Realität der Seinsidee. Um zusammenfassend den prinzipiellen (metaphysischen) Gehalt dieser transzendentalen Frage herauszustellen, die in Kant zu ihrer an den Weltbegriff der klassischen Physik gebundenen Formulierung kam, können wir sagen: Das traditionelle Weltbild, in dem die Kategorie der Kausalität eine führende Bedeutung hatte, wird durch den modernen Ordnungsbegriff erweitert. Das traditionelle Weltbild war durch drei Voraussetzungen charakterisiert. Die erste war Stetigkeit in Raum und Zeit, die zweite : gegenseitige, unbeschränkte Durchdringung aller Wirkungen, die dritte : strenger Determinismus. Der moderne Begriff der Ordnung geht über diese klassischen 8
Metzger: Freiheit
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Begriffsbestimmungen insofern hinaus, als es sich bei ihm lediglich um die Einordnung von Teilerfahrungen in einen logischen, widerspruchslosen Zusammenhang handelt. Mit diesem Begriff der Ordnung geht eine Auffassung von der physikalischen Wirklichkeit als Titel für isolierte Wirkungsquanten zusammen, die in einem vierdimensionalen Koordinatensystem verteilt sind. An Stelle eines Universalgesetzes und eines durchgehenden Determinismus tritt also der Begriff der „Einheit in der Mannigfaltigkeit", der über die Gesetzmäßigkeit der Natur hinausgeht oder diese vielmehr in weiterem Umfange durch die bloße statistische Betrachtungsweise zu begründen sucht. Natur wird kausal „berechenbar", insofern, als sie oft wiederholte und wiederholbare „Elementarprozesse" (Quanten) enthält. Die makrokosmische Welt enthält Billionen solcher Elementarprozesse. Es gibt also kein dynamisches Grundgesetz, sondern ein „Gesetz der großen Zahlen". Mit alledem wird aber die Grundkategorie der Ordnung nicht, wie Bavink und andere meinen, kontingent oder zufällig, sondern sie ist vorausgesetzt. Man kann sagen, daß die Statistik zwar nicht in dem Begriff der Kausalität, wohl aber in dem der Einheit oder der Ordnung des Weltalls gründet, wobei dieser Begriff der Ordnung so weit gehalten werden muß, daß er alle möglichen Typen der Einheitsgestaltung in sich enthält — Typen, denen also der Charakter der Kontingenz zukommt auf dem Grunde der Voraussetzung der sich durch alle Variabilität ihrer Gestaltungen durchhaltenden formalen, d. h. an keine bestimmte (sinnliche) Raum- oder Zeitanschauung, an keine bestimmte Welt-Anschauung gebundenen Ordnungsidee. Die Differenz zwischen der philosophischen und der wissenschaftlichen Fragestellung zeigt sich im Zusammenhang mit dem Ordnungsproblem in ihrer ganzen Deutlichkeit. Es ist nicht so, als ob sich Wissenschaft und Philosophie (prima philosophia, Metaphysik) in zwei verschiedenen Domänen bewegten, als ob die Philosophie sich in einer anderen Wirklichkeit bewegte als die Wissenschaften. Die Wissenschaften haben zu ihrem Thema die Erforschung des Seienden. Sie beschreiben Prozesse des Wirklichen. Sie bringen die Prozesse auf Gesetze oder klassifizieren sie. Am Ende stoßen sie auf die Kategorie der Einen 114
Ordnung, d. h. eines Koordinatensystems, innerhalb dessen die Prozesse zur Bestimmung kommen. Es ist dieser Ordnungsbegriff selbst, den die Philosophie zum Gegenstand ihrer Reflexion macht — einer Reflexion, die außerhalb des Bereichs der wissenschaftlichen Thematik liegt, welch letztere vielmehr prinzipiell bestimmt ist durch die Zuwendung zu den Geschehnissen, den Tatsachen-Zusammenhängen, die innerhalb ihrer Zuordnungsbeziehung zu dem Ganzen des Systems erforscht werden. Wissenschaft, auf allen ihren Stufen, ist prinzipiell naiv gegenüber der philosophischen Reflexion. Mit anderen Worten : Philosophie reflektiert, um alte Formulierungen aufrechtzuerhalten, auf das Sein als die allgemeine Beschaffenheit des Seienden. So ist ihre Thematik bereits bei Piaton festgelegt. Die Wissenschaften sind an dem Fortschritt der Erkenntnis des Seienden interessiert. Philosophie ist nicht in diesem Sinne an dem Fortschritt interessiert. Philosophie tritt gewissermaßen auf der Stelle. Sie schreitet nicht fort in der Erforschung des Seienden. Sie ist die ewige Wiederholung der Reflexion auf dasselbe: darauf, den in der Idee des Einen (der Orientierung des Mannigfaltigen an dem Einen) verborgenen Horizont offenzulegen. Sie geht in diesen Horizont hinein. Sie ist primär nicht interessiert an der Erforschung der Einheit in ihrer entfalteten Mannigfaltigkeit, ihren typischen Formen, Gesetzeszusammenhängen usw. Ihr Thema ist weder das enzyklopädische System der Wissenschaften, noch ist es ihr primär um eine Kategorienlehre des Wirklichen, worauf Aristoteles sich konzentrierte, zu tun. Sie ist Reflexion auf die Seinsimplikationen — auf die Elemente der Möglichkeit der Zuordnung des Vergänglichen zum Unvergänglichen. Wenn es Aufgabe der Wissenschaften ist, die Mannigfaltigkeit des Seienden aus einem obersten Prinzip abzuleiten, so ist es Aufgabe der philosophischen Reflexion, dieses Prinzip, das nicht unter das Interesse der Wissenschaften fällt, das von ihnen nicht diskutiert wird, aber das Element ihres Lebens ausmacht, das Prinzip der Beziehung des Mannigfaltigen zu dem Einen, aus dem Grunde seiner Möglichkeit zu verstehen. In diesem Sinne sprechen wir von der Philosophie als Hermeneutik der Seinsidee. Die wahrhafte Geschichte der Philosophie besteht nicht darin, 115
daß ein System dem anderen folgt, sondern darin, daß die Philosophie mehr und mehr in die Elemente vorstößt, in denen der Grund des Seienden, d. h. das Faktum der Bezogenheit des variablen Geschehens auf das unvergängliche Sein, offenbar wird. Man kann sagen, daß sich Wissenschaften und Philosophie ewig um dieselbe Kategorie der geordneten Mannigfaltigkeit bewegen in einer verschiedenen Dimension der Reflexion — in einem verschiedenen Stockwerk des Gedankens und seiner Verifikation. Es ist also die ewige Ordnung der Dinge als ein dem variablen Geschehen zugeordnetes System, auf dessen Grund der Möglichkeit, in ewiger Wiederholung, die kantische Frage geht. Die Differenz gegenüber Piaton wird vielleicht jetzt deutlicher, als sie uns bisher geworden ist. Das Gespräch Platon—Kant dreht sich um das Problem der Zuordnung des Variablen zu dem Kosmos des Geschehens. Aber dieser Kosmos, der für Piaton als ein an sich Seiendes (und für die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte als ens creatum) erscheint, wird von Kant in dieser seiner Absolutheit aufgehoben. Nicht daß der Kosmos der Menschen und der Dinge in der kantischen Besinnung oder der ihm folgenden Spekulation um seine Realität gebracht wurde, steht zur Diskussion — Kant ebenso Fichte oder Hegel haben die Realität des Kosmos nicht nur nicht bestritten, sondern diese und nur diese ist das Problem ihrer Besinnung. Aber Kant hat gesehen, daß in die Seinsordnung die Dimension der Zeit hineinragt. Er erkennt, daß an dem Zeitlosen die Zeitlichkeit beteiligt ist: die ursprüngliche Zeit als Erinnerungs- und Erwartungszeit, d. h. die Zeit als das Medium der Transzendenz oder des Uberstiegs über das variable, einbrechende Geschehen. Er sieht den Bezugszusammenhang der Einheit mit der Mannigfaltigkeit nicht wie Piaton als den der einen Ananke eines maßlpsen Geschehens zu der Ananke des Maßes, auch nicht in der Weise des Aristoteles und der Scholastik in der Form des hierarchischen Aufstiegs von der Materie zu der höheren Welt substantialer Formen, sondern darin, daß die maeontische Empirie, das chaotische, maßlose Mannigfaltige, selbst zur Aktualisationsstätte der sich an ihr bestätigenden, sie also übersteigenden, also im Gegenzug gegen sie arbeitenden Mächtigkeit wird - zur Ak116
tualisationsstätte des im Geschehen aufbrechenden, freien, auf die Transzendenz gerichteten, d. h. denkenden Willens. In dem Strom versinkender Augenblicke bricht die Transzendenz auf: die freie und produktive Einbildungskraft mit ihren modis der Erinnerung und der Erwartung und zumal ihrer Gerichtetheit (Apperzeption) auf den alles Mannigfaltige hinter sich lassenden, aber es zusammenbindenden Gegenpol, den exzentrischen Gegenstand. Wieder ist die Differenz gegenüber allem Piatonismus, allem Aristotelismus und aller Scholastik zutiefst sichtbar in dem Aufleuchten des Begriffs der geordneten Mannigfaltigkeit, derselben Mannigfaltigkeit, die in den alten Ontologien als eine an sich bestehende, substantiale Ordnung gefaßt wurde. Der Satz Hegel's : „Es kommt in der Philosophie alles darauf an, die Substanz als Subjekt zu erkennen", gelangt an dem Leitfaden der alle substantiale Repräsentation überschreitenden Ordnungsidee zu seiner prinzipiellen Wahrheit; der freie, von dem Geschehen bedrängte Wille ist in dem Geschehen das Mächtige — das von der Transzendenz bewegte, auf das Übersteigen in infinitum der „Andersheit" gerichtete Subjekt, das nicht Objekt oder Seiendes werden kann, aber jedem Seienden den Grund der Möglichkeit zu sein abgibt. Der freie Wille und das geordnete Sein sind einander zugeordnete Korrelate. Man kann die Korrelation, auf die in dieser Phase der Geschichte der Einsicht in das Wesen des Seins alles ankommt, so formulieren: Kant hat das Wesen der Weltordnung erkannt — Wesen nicht gemeint in dem Sinne, daß Kant den Gehalt dieser Ordnung auf seine kommensurable Formulierung gebracht hätte, aber in dem Sinne, daß er gesehen hat, daß in dieser Ordnung, wie auch immer sie theoretisch, ästhetisch oder praktisch erfahren und zu welchem Ausdruck auch immer sie gebracht wird, etwas „liegt", was nicht von Gnaden dieser Ordnung ist, aber bei ihr wohnt und sie nicht verläßt. Welt ist geordnet. Nichts, weder das innermenschliche Geschehen der Person, noch das physikalische Geschehen, fällt aus dem Wesen der Welt, nämlich Eine zu sein, heraus, wie auch immer die Einheit der Einen Welt, der Bezüge des einen zu dem anderen, zu fassen sind. 117
Die Frage als solche nach dem Seinsgrund des Seienden ist freizuhalten von der Frage nach dem Ordnungstypus, in dem das Sein in der Mannigfaltigkeit des Seienden erscheint oder sich aktualisiert. Ob die Welt zuletzt szientifisch, in Form mathematischer Symbole, oder nur organismisch, wie aristoteüsierende Theorien meinen, oder als Welt des Menschen „innergeschichtlich" darstellbar ist - die Frage nach dem Wesen des Seins läßt, in ihrer Reinheit gesehen, die ontologische Differenzierung in Seinssysteme oder Seinstypen der Ordnung unentschieden. Welt ist seiende Welt. Wirklichkeit ist seiende Wirklichkeit. Sein begleitet als das gemeinsame Attribut alles Seiende. Es ist nicht so, daß in der Reflexion auf das Seinswesen das bestehende Universum, die seiende Welt der Dinge und der Menschen, in der billigen Form etwa: „Die Welt ist meine Vorstellung", „psychologisiert" wäre. Erst dann tritt diese Reflexion in das helle Tageslicht, wenn erkannt wird, daß sie auf das Sein und nur auf das Sein gerichtet ist, d. h. ein Sein, das gewiß nichts ist neben dem Seienden, das allein ist. Dieses Sein kann in jedem Seienden, in jedem Faktum, in dem Kleinsten und dem Größten, dem Unscheinbarsten und dem Merkwürdigsten, exemplifiziert werden, fällt aber doch nicht mit einem dieser Fakta zusammen, sondern macht, daß alles mit allem verbunden ist, oder deutlicher: daß alles Geschehende unfixierbar ist oder nur fixierbar in Symbolen, die es unendlich überschreiten, aber so, daß sie auf ein zeitloses, identisches Unum weisen, dem die Allmacht der Vereinigung zukommt. In das bestehende Universum ragen Prozesse hinein, die nicht von seinen Gnaden, aber als untrennbare Ingredienzen mit ihm verbunden sind. Irrealität ist mit Realität verbunden und umgekehrt. Zu der geordneten Wirklichkeit gehören unablöslich Prozesse des Willens zur Dauer: des Willens zur Überschreitung des einzelnen, dergestalt, daß diese Prozesse zuletzt die Realität der Einheit des Ganzen manifestieren. Nirgendwo kommt diese Realität zu großartigerer Demonstration und Verifikation als in den makround mikrokosmischen Erkenntnissen unserer Zeit.
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§ 14 D E R DIALOG K A N T - H U M E
a) F r e i h e i t und O r d n u n g
(Erste Stufe der Betrachtung des Begriffs des freien Willens) Wir haben uns den Weg zu der ersten Einsicht in das Wesen des freien Willens gebahnt. Der freie Wille zeigt sich als die jedem Seienden — dem Seienden, das der Mensch ist, und dem außermenschlichen Dasein — verbundene Mächtigkeit der Prozesse, in denen dieses Seiende je und je überstiegen wird, um zu sein. Das Seiende geschieht als diese Mächtigkeit seiner Überholung. Diese ihm einwohnende Mächtigkeit haben wir freien Willen genannt. Freiheit und Ordnung sind dergestalt einander zugehörig. Sie sind korrekte Begriffe. Wille steht für Ordnung. Ordnung steht für Willen. Aber so geartet ist diese Korrelation, daß der Wille sich nicht in einem bestimmten (kontingenten, materialen), zu jedem Seienden gehörigen Ordnungstypus zeigt, sondern dies macht sein Wesen aus, daß überall, wo er sich im Seienden zeigt, dieses zwar als versammelte, geeinigte, geordnete Mannigfaltigkeit in Erscheinung tritt, er sich aber an den Gestalttypus dieser Mannigfaltigkeit oder Einheit nicht binden läßt. Die rastlose Transzendenz des Willens ist all-überschreitend. Der freie Wille ist dergestalt kein „Inhalt" der Welt. Er ist nicht hier und jetzt. Er ist weder „im" Menschen noch „in" der außermenschlichen Natur. Er ist kein Vorhandenes. Er ist durch keine materialen Essenzen oder Ordnungsformen, auf die ein Seiendes in je typischer Weise gemäß seiner materialen (regionalen) Art bezogen ist, repräsentabel. Der freie Wille hat weder Dasein noch Sosein. Dasein und Sosein haben das jeweilige Seiende. Er ist das das Geschehen des Daseins und Soseins in infinitum übersteigende Geschehen. Machen wir uns die weltbewegende Mächtigkeit des freien Willens im Anschluß an das Ausgeführte noch einmal klar: Menschliches Dasein - die Existenz, die ihrer selbst inne ist -
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bleibt nicht in seiner Praxis bei dem stehen, was es hat. Die Umwelt, die um uns ist und von der wir in der alltäglichen Praxis eingenommen werden: die Dinge der Umwelt, mit denen wir handelnd und zumal an ihnen leidend pragmatisch umgehen oder die wir wahrnehmen, vorstellen oder werten, sind nicht dasjenige, das unser erfahrend-leidendes Dasein meint. Wir leben in unserer jeweiligen Umwelt: das Kind in seiner, das Alter in seiner, die Generationen in ihrer geschichtlich, geographisch, gruppen- oder bildungsmäßig bedingten Umwelt. Aber in ihr lebend, sind wir bereits über sie hinaus. Vor dem, was wir erleben, breitet sich der Zeithorizont von dunklen oder lichten Erwartungen oder Hoffnungen aus: mögliche, inaktuelle, aber zu den aktuellen Umwelten gehörige Horizonte von vielen anderen Umwelten, in die wir hineingezogen werden und die immer, das Gehabte verwandelnd, mit-da-sind. Wir leben nicht „in", sondern „aus" Erinnerungen und nicht „in", sondern „aus" Hoffnungen, aus erinnerten und gehofften Umwelten heraus und zuletzt — je und je bedrängt oder bedroht von der Umwelt, die in actu um uns ist und mit der wir befaßt sind, oder der Mitwelt, der wir in actu sprechend begegnen, aus der stetigen Bedrängnis oder der Not unserer Bedrängtheit „heraus" — sind wir gerichtet auf die Eine, die Vielheiten von verwandelnden Umwelten übersteigende Welt, derart, daß wir an jedem Inhalt der Praxis zum Verräter werden um unserer selbst willen oder vielmehr um des Einen willen, an dem unser Dasein unablösbar hängt. Die transzendentale Mächtigkeit des Willens zeigt sich innerhalb der menschlichen Existenz in der Umwelten oder Mitwelten überschreitenden Weltoffenheit oder vielmehr genauer: in der Offenheit zu dem die Eine, totale Welt umfassend-überschreitenden Gegenstande hin. Der freie Wille ist auf Sein gerichtet. Wir halten das vorgestellte Vorhandene nicht aus. Wir halten Umwelt und Mitwelt nicht aus. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, denn mich, der ist mein nicht wert." Wir halten selbst die Welt nicht aus. Was wir unter dem Namen des freien Willens beschreiben, ist also nicht er selbst, sondern das, wovon sein Geschehen bewegt wird. Wir nennen ihn frei, weil es sein eigener Gegenstand ist, von dem er bewegt wird. Der freie Wille ist der von seinem 120
Gegenstand determinierte Wille. Seine Freiheit zeigt sich in dieser seiner Selbstdetermination. Sie zeigt sich in der Wahl seines Gegenstandes. Er ist nicht determiniert von äußeren, fremden Ursachen. Er ist nicht von einem Seienden bewegt und insofern unfrei. Darin zeigt sich Freiheit, daß der Wille zwar im Seienden existiert, auf das er handelnd oder wollend oder liebend oder erkennend je und je bezogen ist, aber von ihm nicht bewegt wird. Der freie Wille versinkt, wenn dasjenige, was wir liebend oder hassend oder erkennend haben, dasjenige wird, was wir meinen. Der Wille wird unfrei: nicht dadurch, daß er von Objekten determiniert ist, sondern dadurch, daß er die Objekte will, ihnen in seiner intentionalen Leidenschaft verfällt. Freiheit ist nicht Willkür. Wille ist nicht in dem Sinne frei, daß er kann, was er will. Er ist frei in der Wahl seines Gegenstandes, und, frei in dieser Wahl, ist er gut oder böse. Freiheit ist kein psychologisches „Phänomen". Sie ist nicht „im" Menschen. Sie aktualisiert sich weder in dem auf bestimmte Zwecke gerichteten Wollen, noch in dem élan créateur menschlicher Erlebnisse (wie vitalistische Theorien irrig behaupten), sondern darin, daß sie dieses in Umwelt geratene Dasein, das je entgegenstehend-widerständige Objekt in infinitum negiert — ein Negieren freilich, das sich nicht nur beurkundet in dem negativen Urteil, in verneinenden Denkakten, sondern das in das bewußte oder unterbewußte Leben unseres existierenden Daseins hineinreicht und es in seinen Trieben, in seinen angstvollen oder verzweifelnden oder beseligenden Aktionen bestimmt. Darin bezeugt sich freie Existenz : bestimmt zu sein von etwas, was sie nicht selbst ist, aber wohin sie, leidend an den Dingen, erinnernd — erwartend verlangt. Es gibt also keine Analyse des freien Willens, wenn die Orientierung an dem fehlt, was er gerade in psychologischimmanenter Analyse nicht ist: wenn nicht von vornherein klar ist, daß das Wollen als freies nicht in sich selbst ruht, sondern in dem Gegenstande, der es über seinen jeweiligen Zweckinhalt hinausnimmt. Dies aber ist das Eigentümliche des Gegenstandes, daß er durch keine konkrete Umwelterfahrung, durch keine Erfahrung eines Seienden, wie gut oder vollkommen oder unvollkommen sie sein mag, repräsentiert werden kann, daß er aber 121
in jeder Erfahrung jeweiliger Umwelt und ihrer Gegenstände — der Umwelt, die je und je in einen ihr eigentümlichen Ordnungstypus eingeordnet ist — verborgen-offenbar liegt. Wille ist Wille zum Sein. Wille ist im Seienden offenbare, es überschreitende Mächtigkeit. Beides ist das gleiche. Das will besagen: die Mächtigkeit ist nicht von Gnaden des Willens. Was der Wille ist, verdankt er nicht einer sogenannten „inneren Dynamik". Die Dynamik ist nicht bei ihm. Sie ist bei dem sich entziehenden Wesen des Seins. Das besagt: der Wille liegt beim Sein. Sein Liegen beim Sein, wie der sokratische Nous „auf dem Rücken des Himmelsgewölbes" bei der wesenlosen Eins liegt — die Tatsache, daß er als Seiendes oder Vorhandenes in der Natur nicht aufweisbar ist — hat seine phänomenologisch-evidente Quelle darin, daß er das Seiende möglich macht : da zu „sein" und so zu „sein". Nichts ist dem Willen vorausgesetzt als ein Erfahren irgendeines Seienden. Irgendein empirisches Datum, irgendeine menschliche Aktion oder eine stille Regung, irgend etwas, womit wir beschäftigt sind, aber auch irgendein physikalisches Faktum — in alledem findet er seine exemplarischillustrierende Darstellung. Die Leistung Kant's kommt von hier aus noch einmal zu großartiger Deutlichkeit. Kant hat Seiendes erkannt. Er hat den Seinscharakter — den zeitlichen Seinshorizont — des Seienden verstanden. Seine Untersuchungen sind weder idealistisch noch realistisch. Sie sind jenseits von Idealismus und Realismus. In seinen Untersuchungen, wie in jedem echten Denken, ist es nicht so, daß ein Subjekt gegeben ist, dem ein Objekt gegenübersteht. Er hat das Objekt nicht auf „subjektive Prozesse" relativiert. Kant steht jenseits dieser das Denken jahrhundertelang irreführenden Alternative. Er hat Seiendes verstanden. Er hat den Gegenstand verstanden, auf den die kategorial geordnete RaumZeit-Mannigfaltigkeit „notwendig bezogen" ist. Er hat das auf das „namenlose Gut" (Schelling) hinausweisende Wesen des Seienden verstanden. Wir verstehen den freien Willen, wenn wir irgendein Seiendes in der Natur erkennen, aber darauf verzichten, ihn selbst in der Natur zu lokalisieren. Der Wille steht weder in der kausal noch in der final noch in der geistig gedeuteten Natur. Er ist kein 122
Gegenstand einer möglichen lokalisierenden Wissenschaft. Er ist keine physikalische, noch eine biologische, noch eine psychologische Naturtatsache. Aber er aktualisiert sich in verschiedenen Ordnungstypen in der Natur. Er aktualisiert sich in diesen Typen in dem Prozeß der Integration des Endlichen zum Unendlichen. Der Prozeß hört nicht auf. Er bleibt in unendlicher Variabilität. Wir haben von dem Ordnungstypus menschlicher Umwelterfahrung gesprochen : der variablen Form, in der sich in dem menschlichen, Umweltliches wahrnehmenden Dasein der sich auf seinen unendlichen Gegenstand beziehende Wille aktualisiert. In der außermenschlichen Natur stellt sich seine Ordnung (Einheit) stiftende Macht in einer typisch differenten Weise dar. Wir haben den Ordnungsbegriff, der für die neuere Wissenschaft maßgebend ist, beschrieben, ohne noch die tiefere Dimension der Korrelation von Willen und Ordnung zu berühren. In dem Zusammenhang, in dem wir stehen, ist lediglich von dieser Ordnungskategorie zu sprechen, in welcher sich der Transzendenzcharakter der Naturwirklichkeit, die die Wissenschaft zu erkennen sucht, darstellt. Wir haben von einer topologischen Ordnungsidee gesprochen, die mit „Raum und Zeit nichts mehr zu tun hat, sondern lediglich besagt, daß innerhalb einer Gesamtheit von vielen oder unendlich vielen Elementen jedes einzelne durch ganz bestimmte Zahlwerte eindeutig charakterisiert ist" (Bavink). Das Eigentümliche dieser Wissenschaft ist es, sich von dem sinnlich anschaulichen Weltmaterial, einem gegebenen Seienden, zu entfernen — nicht nur von den „subjektiven Qualitäten", sondern auch von den sinnlichen Formen unserer räumlich-zeitlichen Wirklichkeit. Sie entfernt sich von den „Anschauungsformen" des Gegebenen, wie überhaupt von dem Begriff eines gegebenen, seienden, „absoluten" Raumes und einer „absoluten" Zeit. Sie läßt keine „beharrenden Substanzen" gelten. Sie läßt das Geschehen gelten. Sie löst den Unterschied von Energie und Materie auf. Sie löst den Unterschied von Seiendem und Werdendem (Geschehendem) auf. Sie spricht zwar von den Elementen des Geschehens, von Atomen und Elektronen usw., aber sie weigert sich, ihnen den Charakter eines Seienden zu geben. „Ein Elektron usw. ist nicht, sondern geschieht." 123
Aber diese Entfernung von dem sinnlichen Material, dem in der sinnlichen Wahrnehmung als dauernd Erscheinenden, dem, was für uns als endliche, an unsere sinnliche Anschauung gebundene Wesen vorhanden ist, diese Entfernung von dem Konkreten geschieht nicht aus einer „Liebe zu dem Abstrakten", sondern es ist genau umgekehrt: der Überschritt von dem Endlichen zu den leeren,· „inhaltsentleerten" Symbolen, die in Gleichungen ausdrückbar sind, geschieht um der Bestimmung des einzelnen willen. Um der widerspruchslosen Bestimmung des einzelnen willen geschieht der Schritt zum Un-endlichen — zu dem sub specie aeterni gewissermaßen, zu dem System des Identischen (Einheit), in dem die Unerschöpflichkeit des Geschehens (Materie) durch bestimmte Zahlwerte vertreten ist. Was für die Wissenschaft entscheidend ist, wohin ihre immanente Tendenz drängt, ist also, das Seiende zu überschreiten, es in Formeln darzustellen, zu deren integrierendem Wesen es allein gehört, sich innerhalb eines widerspruchslosen Systems zu behaupten und in dem Geschehen zu verifizieren. Das ist ein anderer Ausdruck dafür: die Natur behauptet ihren determinierten Charakter. Es ist klar: die Ordnung des analytischen Folgezusammenhanges von Sätzen bleibt das Ideal (limes) der Bestimmung jedes sinnlichen Materials, was auch immer dieses Material sei und welches auch immer die experimentellen Schwierigkeiten sein mögen, das morphologisch verschiedenartige (anorganische oder biologische und psychologische) Anschauungsmaterial auf dieses Ideal hin zu richten. Aller morphologisch-vagen, deskriptiven Beschreibung gattungsmäßig wie auch immer gearteter Vorgänge ist als ihr integrierender Horizont das Ideal exakter, widerspruchsloser Erklärung mitgegeben — jene Widerspruchslosigkeit, die den einzigen Sinn des Uberschreitens (der Transzendenz) der wissenschaftlichen Erkenntnis von dem „Konkreten" zu dem „Abstrakten" ausmacht. Natur ist geordnet. Natur: das Variable ihres Geschehens, ist dem Invariablen zugeordnet. Das Invariable ist das System dieser formalen Mannigfaltigkeitsordnung, in dem wir die Natur erkennen. Natur stellt sich in etwas dar, das ihr Geschehen überschreitet. Ihre Ordnung ist das Erscheinen dieses Uberschritts, das Erscheinen (Ausdruck) der in ihr waltenden transzendenta124
len Mächtigkeit. In diesem Sinne spricht Kant von der freien Spontaneität des Willens als dem Möglichkeitsgrunde der Naturordnung, einer Freiheit, die also nicht in der Natur lokalisierbar ist, sich aber in der Determiniertheit ihrer Ordnung — der Rationalität des Universums — manifestiert, und zwar in der das irreguläre, in die Kontinuität des Seins ständig einbrechende Geschehen an die Einheit und ihre Symbole bindenden Mächtigkeit. Natur wird überstiegen. Was wird überstiegen ? Ihre Empirie wird etwas zugeordnet, als was sie nicht existiert. Sie existiert als „zerstreute Mannigfaltigkeit" : als der heterogene Strom versinkender Jetztpunkte. Es ist das identische X, die zu ihm hinausweisende Transzendenz der Natur, von dem wir sagen, daß ihm das Mannigfaltige „allgemein und notwendig" zugeordnet ist, um zu sein. Diese Mächtigkeit der Transzendenz ist es, die wir die Freiheit in der Natur nennen, dieselbe Mächtigkeit der Zuordnung, die wir in dem menschlichen, seiner selbst inneseienden Existieren in dem spezifischen Ordnungstypus seiner alle Umwelten überschreitenden Weltoffenheit erkannt haben. „Freiheit (der freie Wille) und Zeitlosigkeit sind Korrelate" (Schelling). Aber diese Korrelation zeigt sich in menschlichem und außermenschlichem Existieren verschiedenartig. Sie zeigt sich in der Bildung typisch verschiedenartiger Ordnungs- und Organisationsstrukturen, die das variable, individuell verschiedenartige sinnliche Weltmaterial durchläuft, um zu sein. Die Korrelation zum Ewigen zeigt sich sozusagen nicht direkt. Sie zeigt sich gebrochen. Denn das Existierende ist das Variable. Es hat seine Stelle in einem der Variabilität je zugehörigen, ihm zu-fallenden Ordnungsgefüge, den es seiner kontingenten Eigenart gemäß ausbildet. Die übersteigende Transzendenz zeigt sich in der Welt des Variablen, in der Angewiesenheit auf den zu-fälligen Ordnungszusammenhang. Aber so zeigt sich dieser Zusammenhang, daß er über sich hinausweist auf einen höheren Typus, eine höhere Ordnung. So gewiß es ist, daß die Umwelten, in denen wir Menschen je und je nach unserer Gruppen-, Sprachen- oder Blutszusammengehörigkeit stehen, mit denen wir je und je leidend oder handelnd oder wahrnehmend befaßt 125
sind, hinausweisen auf die Eine, offene Welt, so unleugbar es ist, daß das organisch-animalische Leben zweckgerichtet ist, daß keine Theorie des Lebens die einfache Tatsache des teleologischen Ursprungs ihrer Begriffe übersehen kann — so gewiß bleibt es die Aufgabe der Theorie, über die morphologische Beschreibung der organischen Zweckvorgänge hinaus auf das Universum, die Einheit des Ganzen des Seienden, als regulatives Ideal gerichtet zu sein, derart, daß das Gesamtgebiet der Einen Wissenschaft selbst nur die Aktualisationsstätte der Darstellung des Universums ist, in dem alles mit allem verbunden ist. Immer wird es die Aufgabe sein, die Funktionsgesetze ausfindig zu machen, d. i. die konstruktiven Symbole, die die Organe und „forces vitales" zu ihrer zweckdienlichen Organisation befähigen. „So wesentlich es ist, auf Planung und Ganzheit bei der Charakterisierung und dem Verständnis biologischer Formen und Funktionen Wert zu legen, es muß immer festgehalten werden, mit Kant, daß diese Akzentverlegung auf Teleologie vielmehr ein Problem stellt, als es löst" (vgl. H. Weyl, Philosophy of Mathematics and Natural Science, Princeton University Press, 1949, p. 215). Die Beobachtung und die Analyse der Phänomene, von denen Kant sagte, daß man nicht wisse, „wie weit sie in der Zeit führt", ist das Element der Naturbetrachtung. Es ist die symbolische, das unendliche Sein darstellende Konstruktion der Phänomene der Naturbestimmung 1 ), die für Freiheit steht: das ferne Ideal, in dem die Zuordnung des Alls der Tatsachen zu dem Einen manifestiert wird.
b) F r e i h e i t u n d E m p i r i e Was David Hume zu dem faszinierenden Denker der Seinsgeschichte macht, besteht darin, daß er die essentiale (apriorische) Zuordnung des Geschehens zu einem es bestimmenden System geleugnet hat. Er hat die Realität des Seienden geleugnet, ') Wobei, wie später noch auszuführen sein wird, festzuhalten ist, daß die theoretische, symbolische Konstruktion der Phänomene, einschließlich der Fakta des Lebens und der psychischen Vorgänge, nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit dem Hineinstellen dieser Phänomene in einen Weltbegriff ist, der von der Konzeption mechanischer Kausalität beherrscht wird.
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oder präziser: die Realität des Weltsystems. Er hat es unternommen, die Einheit des Seienden als einen menschlichen Archetyp gewissermaßen zu entlarven. Er hat auf den metaphysisch illusionären Charakter einer in geordneter Mannigfaltigkeit stehenden Wirklichkeit hingewiesen. Er hat das Mannigfaltige — die matters of fact - als das Wirkliche (Wahre) behauptet: den nihilistischen Abgrund des Seins. Er hat das Sein — die Zuordnung des Mannigfaltigen zu dem Identischen — als einen gewohnheitsmäßigen, nützlichen Notbehelf der dem Mannigfaltigen anheimgefallenen Kreatur demaskiert. Er ist weitergegangen: er hat das Mannigfaltige verabsolutiert - die Materie, die in dem platonisch-aristotelisch-galileischkantischen Entwurf als Aktualisationsstätte einer zu der Gottheit oder der Einheit „erregten" Mannigfaltigkeitsordnung als indiskutables Axiom aufgenommen worden war. Er hat die Materie ihrer Qualität, Realisationsstätte einer sie übersteigenden, transzendentalen Mächtigkeit zu sein, beraubt. Das will besagen: er hat das zeitliche Wesen der Materie nicht gelten lassen, d. h. die Zeit ebensowenig im Sinne ihrer synthetischen Funktion als Erinnerungs- und Erwartungszeit wie die kosmologische oder physikalische Zeit, die Piaton (Tim. 38 B) das Abbild der Ewigkeit nannte : die das Geschehen messende Zeit, die Bewegung messende Zahl — die Zeit, in der sich das identisch Eine in seinen kategorialen Determinanten versinnlicht und in der das einzelne als das Variable invariabler Symbole auftritt. Hume hat die Realität des Kosmos, des Universums des Seienden, geleugnet. Was Kant „aus dem dogmatischen Schlummer geweckt" hatte, als er auf den Treatise von David Hume stieß, war mehr als Humes Analyse der Kausalität. Hume hat die der „Vernunft" nicht zugängliche mäontische Abgründigkeit des Wirklichen herausgestellt. Er hat geleugnet, daß die Welt als Universum gegeben sei. Er hat dem Begriff der seienden Welt - der Welt, die die „natürliche" genannt wird — prinzipiell den Realitätsgrund entzogen. Diese „natürliche Welt", die natürliche Einstellung auf ein „bestehendes" Seiendes, hatte das selbstverständliche, kaum je diskutierte Fundament abgegeben, das hinter den großen abendländischen Religionsgruppen steht. Daher 127
sprach Kant von Hume's Lehre als „zerstörender Philosophie". Sie hat, sagt er, „der Vernunft die wichtigsten Aussichten genommen, nach denen allein sie dem Willen das höchste Ziel aller seiner Bestrebungen ausstecken kann" (Proleg., Cass. S. 6, Fußnote). Machen wir uns die Konsequenzen dieser Untersuchung, die in ihrer radikalen Tragweite noch keineswegs in das begreifende Bewußtsein getreten sind, klar : Im Gefolge der Humeschen Betrachtung entstand nicht nur der positivistisch-pragmatistische Weltbegriff, der ein so wesentliches Element der Wissenschaftstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts geworden ist — auch der Begriff des freien Willens, zu dem das kantisch-„idealistische" Denken vorgedrungen ist, konnte auf diesem nihilistischen Boden allererst zur Entwicklung gebracht werden. Hume erlebt Endlichkeit. Er leugnet nicht das Permanente, das Wiederholbare. Er leugnet nicht relations of ideas. Aber es „gibt" kein sich durch das Mannigfaltige, die facts, notwendig Durchhaltendes: kein notwendig Wiederholbares, kein „unbedingt Allgemeines". Es ist nicht gegeben. Es ist nicht erfahrbar. Erfahrbar sind sinnliche Daten : Einzelheiten, einzelnes, das nicht Wiederholbare in der Sukzession oder in der Komplexion (Gleichzeitigkeit). Es sind keine sich im Geschehen durchhaltenden, verifizierbaren Identitäten (Substanzen) gegeben. Wir erfahren nicht „Kategorien". Wir erfahren nicht Invariables. Wir sind der Empirie ausgeliefert. Dem Dasein wird der unendliche, weil sich in ihm unendlich oft wiederholbare Seinsgrund entzogen. Das Wirkliche ist die von dem Permanenten oder der Einheit verlassene Empirie. Das Entscheidende des Hume'schen Ansatzes liegt nicht in seiner kosmologischen Theorie: darin, daß Hume den Begriff der Welt als connectio oder ordo sempiternus rerum leugnet. Tiefer greifend: der Welt, in der wir sind, wird der Charakter, seiende Welt zu sein, entzogen. Vorgänge und Geschehnisse sind keine „Subjekte von möglichen Prädikabiüen", derart, daß diese Prädikabilien in ihrem idealen Zusammenhang zu dem Geschehen gehören. Sie werden durch die Gewohnheit „assoziiert". Data sind gegeben. Das will besagen: das Wirkliche ist nicht, es ist nichts als Geschehen von Einzelheiten. Data sind 128
keine Gegenstände, keine Sachen, keine Dinge: sie geschehen als sukzedierende, miteinander verbundene oder nicht verbundene, isolierte Mannigfaltigkeiten. Sie sind nicht Stätten von Koordinaten, die sich a priori in ihnen verifizieren und durchhalten. In Hume's Lehre ist, prinzipiell gesprochen, die Beziehung der Existenz zur Essenz, des nicht-Identifizierbaren zu dem Identifizierbaren, des Vergänglichen zu dem Unvergänglichen abgerissen. Welt ist nicht Aktualisationsstätte eines zeitlos Dauernden. Welt stellt sich vor als Andersheit, von der Cusanus sagte, daß sie „in dem Nichts entspringt". Nicht nur für die alte Substanzenmetaphysik, in der von Substanzen und inhärierenden Qualitäten gesprochen wird, sondern auch für die funktionelle Deutung des Apriori, in der an die Stelle der aristotelisch-scholastischen Qualifikation weltlichen Geschehens im Gefolge der galileischen Physik „die in Zahlen geschriebene" Natur als „Einheit der Gesetzgebung" tritt, läßt die Hume'sche Analyse keinen Raum. Gewiß, wir können organisieren. Wir können in die chaotische Empirie hineingehen und die „wilderness", um mit William James zu sprechen, sie zu unserem Nutzen rationalisierend, „humanisieren". Wir können Zivilisation schaffen. Aber das orientierende System, in Hinsicht aufwelches die Humanisierung geschieht, berührt nicht die Empirie. Das Chaos hat kein Wesen. Es ist wesenlos. Einheit ist ihm fremd. Nicht nur sind, wie d'Alembert und Turgot am Ende des 18. Jahrhunderts im Gefolge Hume's behauptet haben, die Essenzen der Welt uns unbekannt, sondern sie sind ihr fremd. Zur Wahrnehmung (perception) gehört nach Hume nicht, wie Kant im Gegensatze zu ihm behauptete, die freie Phantasie (Einbildungskraft) : der Prozeß der kategorialen Versammlung des einzelnen. Welt ist wesenlos, weil die Identifikation und deren zeitlose Wiederholbarkeit zwar eine uns gewohnte, aber die matters of fact nicht berührende Intentionalität ist. Wir können Arbeitshypothesen zur Orientierung angesichts der Empirie aufstellen, aber jede darüber hinaus gehende Deutung ist gegenstandslos, und zwar nicht, weil unsere menschliche Erfahrung begrenzt, sondern weil die Einheit dem Mannigfaltigen inkommensurabel ist. Empirie ist abgründig. Das Chaos ist abgründig. Das Wunder, 9
Metzger: Freiheit
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an dem sich die abendländische Denktradition entzündet hatte: das Urfaktum der Betroffenheit des Vergänglichen durch das Unvergängliche, des Dauerlosen durch das Dauernde, besteht für die Hume'sche Erkenntnis nicht. Es besteht so wenig für sie, wie es für die im 19. Jahrhundert auf ihrem Boden erwachsenen soziologischen, psychologischen oder historischen Beschreibungen und Erklärungen von Vorgängen im Sinne der positivistischen Enumeration von Einzelheiten besteht. Es besteht so wenig wie es für Nietzsche's „Nihilismus" besteht: auf demselben empiristischen Boden der dem Ewigen entfremdeten Welt hat Nietzsche seine Lehre von dem „ewig Sinnlosen" errichtet und von der „ewigen Wiederkunft" des Willens zur Macht, welcher sich gegen das Sinnlose aufrichtet und zerbricht. Man muß die Hume'sche Elimination des das Geschehen übersteigenden, die Zeit durchbrechenden Permanenten prinzipieller, als gemeinhin geschieht, verstehen. Nicht nur, wie die kantische Argumentation lautet, bleiben „synthetische Urteile a priori" — in die empirische Erfahrung eingehende Urteile — bei ihm unbegreiflich. Mehr als dieses. Wir nehmen Seiendes wahr. Wir nehmen einen physikalischen oder psychologischen oder soziologischen Vorgang als einen seienden wahr. Wir machen beschreibende oder erklärende oder hermeneutische Aussagen. Wir machen Aussagen über daSeiendes. Da-Seiendes ist nicht nur Existierendes. Das, was geschieht, existiert. Das ver-laufende Geschehen ex-sistiert. Aber wir übersteigen den ver-laufenden Strom. Wir gehen von ihm weg. Oder vielmehr : wir gehen über ihn hinaus. Wir transzendieren Geschehendes. Dem nicht-Seienden ausgeliefert, sind wir von dem Sein bewegt. Wir identifizieren Geschehendes. Wir kommen auf einmal Identifiziertes zurück in Prozessen wiederholender und ewig wiederholbarer Identifikation. Wir halten das Reproduzible fest. Wir erkennen es im System mit anderen Identitäten. Vergängliches stellt sich in Unvergänglichem dar. Es ist das Ineinander von Existenz und Essenz, das Hinausreichen alles Geschehenden zu etwas, was es nicht selber ist, aber worin es sich darstellt, jenes urphänomenale Faktum, an dem sich alles Existieren entzündet. Es ist das Existenz übergreifende Geschehen, das wir allein Seiendes nennen. 130
Jener Überstieg versinkt in Hume. In seinen Analysen steht Existieren (Geschehen) allein. Man kann mit einem modernen Ausdruck sagen: die matters of fact sind bei ihm „in das Nichts hineingehalten", ich meine, in das Heimatlose, in das—lutherischcalvinisch gesehen — Gott entfremdete Kreatürliche, in das Nichts, das durch einen Abgrund vom Sein getrennt ist. Die matters of fact werden hypostasiert. Das will besagen: Hume's Charakterisierung der matters of fact fehlt der Zeithorizont, in dem sie erfahren werden. Die „Geworfenheit" der Welt in das der Einheit entfremdete Geschehen wird zur Grundkategorie. Nicht nur, daß Welt als gegenständliche, d. h. als Welt von realen Gegenständen, von Dingen oder Prozessen, auf seinem Boden zur Fiktion oder, was das Äquivalente ist, zur Arbeitshypothese wird, sondern auch der Welt, mit deren Inhalten wir „praktisch" umgehen, wird der Seins- oder Heilsgrund entzogen. Es gibt bei Hume, prinzipiell gesprochen, keine da- und soseiende Welt. Das ist der andere Ausdruck dafür, daß das Geschehen gewissermaßen nicht antwortet auf den Willen, von ihm frei zu sein. Kantisch gesprochen : die Realität oder die Geltung allgemeiner Urteile ist unbegreifbar. Dem menschlichen Erlebnisstrom wird die Intentionalität, der zeithorizontale Bezug zur Allheit des Seienden und der Seinstranszendenz ebenso entzogen wie dem außermenschlichen Geschehen der Charakter des Bezugszusammenhangs zu der „geordneten Mannigfaltigkeit". Empirie: das ist der Name für die aus dem Universum des Seienden herausgeworfene, unversammelte, mäontische Mannigfaltigkeit. Hinter Hume's Leugnung der Kausalität (der Darstellung eines post hoc als propter hoc) als des notwendigen Zusammenhangs des Geschehens wie hinter seiner Deutung des Substanzbegriffes als eines empirischen Assoziationsgebildes von Impressionen steht lutherisch-calvinisches Wissen um die Geund Verworfenheit der empirischen Kreatürlichkeit. Hume's Empirismus ist ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte der Seinsidee, ein entscheidendes Ereignis in der Geschichte des Menschen- und WeltbegrifFs. Er ist das entscheidende Ereignis der Epoche, in der wir uns befinden. Er steht hinter dem Ruf des 19. Jahrhunderts: „Zurück zu den Tatsachen!" — dem Ruf, der gleichermaßen Natur- und Geistes131
Wissenschaften erfüllte, wobei es nicht entscheidend ist, welcher Typus von Tatsachen gemeint war, d. h. ob historische oder soziologische oder sensuelle Tatsachen als das primum datum angesprochen wurden. Er steht hinter dem wissenschaftlichen „Positivismus" unserer Epoche. Er steht dahinter, wenn die Philosophie im 19. Jahrhundert zur Erkenntnistheorie wurde, wenn sie an Stelle von Sachanalysen die Analyse des Erkennens, seiner psychologischen Gesetze oder auch der apriorischen Kategorien dieses Erkennens setzte, derart, daß die Kategorien lediglich als hypothetische Einheiten dieser Prozesse auftraten. Er steht aber auch dann als treibendes Motiv dahinter, wenn in einem Prozeß geschichtlicher Reaktion gegen den Primat der Tatsachen seit dem Ende des Jahrhunderts die traditionelle Lehre von Entitäten wieder beschworen wird — hinter der „Erneuerung der Ontologie", in der die in mühevollem Denken erarbeiteten Argumente vergessen werden, um die es in der Auseinandersetzung zwischen Hume und Kant ging. Und jetzt erst stoßen wir auf den vielfach mißverstandenen Gehalt dieser Auseinandersetzung: auf den wahren Gehalt der Lehre von dem freien Willen, den eigentlichen Ertrag dieser Auseinandersetzung in der Geschichte der Seinserkenntnis. Was Kant und Hume verbindet, und zwar zutiefst verbindet, ist die Gewißheit von dem Erfahrungsgrunde — dem nihilistischen Mannigfaltigkeitsgrunde — der menschlichen (seelischen) und der außermenschlichen Wirklichkeit1), theologisch gesprochen : die Gewißheit von der Endlichkeit kreatürlichen Daseins, dem Hineingestelltsein der Kreatur in die gottentfremdete Empirie. Man darf nicht vergessen, daß Hume den Höhepunkt einer christlichen Bewegung bildet, die die abendländische Menschheit seit dem 13. Jahrhundert in Erregung gehalten hat — ja Hume, Treatise on human nature, Teil IV, Abschn. 6, S. 326: „Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als „mich" bezeichne, so unmittelbar als irgendmöglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedesmal über die eine oder die andere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wärme oder Kälte, des Lichts oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust." L. c. S. 327 : „Wenn ich . . . von einigen Metaphysikern, die sich eines . . . Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, daß sie nichts sind als ein Bündel. . . verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen."
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schon früher, seitdem Anselm im 11. Jahrhundert das großartige Wort von der „Verfälschung des wahren Seins der Gottheit in ihrem Begriffe" prägte. Im Gefolge dieser These stieß Roger Bacon im 13. Jahrhundert auf die Problematik des Allgemeinen. Er meldete seine Zweifel an der herkömmlichen realistischen Interpretation (homo = omnes homines) an, oder, was damit zusammenhängt : die Einsicht brach durch, daß das Individuelle durch allgemeine Begriffe nicht faßbar sei. Individuelles, das hier und jetzt Geschehende, ist maßlos, unendlich in diesem Sinne. Was wir auch immer über es aussagen, es ist durch ihm zugeordnete und es ordnende Begriffe nicht faßbar. Das Kontingente, sagen wir, ist nicht faßbar, ist nicht bestimmbar. „Essentia est infinitum", heißt es auf dem Höhepunkt dieser nominalistischen Bewegung bei Nikolaus Cusanus am Ende des 15. Jahrhunderts, und unter essentia versteht er ein Geschehendes oder Existierendes in seiner Bestimmung. Das infinitum ist das Attribut der kontingenten (zufälligen) „Materie" hinsichtlich ihrer Bestimmung. Das Seiende hat einen infiniten Beschaffenheitshorizont - einen Bestimmungshorizont in infinitum. Das Maßlose waltet im Seienden. Es — das Seiende — ist in dem, was es ist, nicht gegeben, oder, wie Cusanus noch vorsichtig sagt, nur „inadäquat" gegeben. (Vgl. darüber die Cusanus-Untersuchungen in meiner früher zitierten „Phänomenologie und Metaphysik".) Daher gibt es nach ihm über Seiendes keine Wahrheiten, sondern nur Vermutungen, conjecturae. Aber erst auf angelsächsischem Boden findet die nominalistische These der Inkommensurabilität der auf endliche Bestimmungen angewiesenen Kreatur und des Unendlichen die radikale Fassung. Der Satz des Franzosen Bovillus, des -Schülers des Cusanus : „finiti ad infinitum nulla est proportio ratiove", hatte bereits hier, früher bei Duns Scotus und Occam, eine Formulierung gefunden, die in ihrer Radikalität auf angelsächsischem Boden lebendig bleibt bis Hume, ja darüber hinaus bis zu dem aus Hume schöpfenden amerikanischen Pragmatismus: der Kreis der Erkenntnisse schließt sich immer mehr, je mehr wir uns mit dem „Wesen" des Kontingenten vertraut machen. Das Seiende ist für endliche Wesen nicht faßbar. J e mehr sich der 133
Kreis des Erkennens schließt, um so mehr öffnet sich in der ursprünglichen Entwicklung der nominalistischen Theorie die Domäne für die Mysterien des Glaubens, oder, cusanisch gesprochen, desto evidenter wird es, daß das wahrhafte Sein des Seienden aller Bestimmbarkeit überlegen, d. h. als coincidentia oppositorum nur in Symbolen der Abstraktheit (Zahlen) faßbar ist. Aber der Prozeß geht weiter. Dem Glauben wird gegenüber dem Wissen ein immer ausgedehnterer Bezirk eingeräumt, derart, daß selbst der unendliche Prozeß inadäquater Erkenntnis, in dem wir uns nach Cusanus dem infiniten Wesen oder der abstrakten Eins mehr und mehr annähern, daß selbst dieser Prozeß der Annäherung an die unendliche essentia angesichts des Gegebenen gegenstandslos wird. Der Abgrund zwischen dem Gegebenen und der unendlichen, es überschreitenden Gottheit, die allein das „Wesen" in ihren Händen hält, wird vertieft: wir sind auf das einzelne angewiesen. Die wahrnehmende Kreatur hat nichts als ihre sinnliche Rezeptivität. Die Dinge sind nichts als die Materie dieser Rezeptivität. Hinter der neuzeitlichen Entdeckung der Empirie steht die christliche Gewißheit von der der Gottheit entfremdeten kreatürlichen Existenz. Die Frontstellung des nominalistischen Empirismus gegen den realistischen Weltbegriff hat im lutherischen Protestantismus den pessimistischen Begriff einer verworfenen Welt1) erzeugt, von der sich der Mensch in das innere Universum des Glaubens („sola fides") zurückzieht, dagegen in der calvinistischen Variante die praktisch-pragmatische Deutung des endlichen Verstandes, des intellectus finitus, dem die ausschließliche Funktion einer auf empirische Zwecke bezogenen, utilitarischen Weltorganisation und Weltrationalisierung unter Verzicht auf jede Metaphysik zugesprochen wird. Es ist in diesem Zusammenhang der pragmatischen Deutung des Denkens wesentlich, daß die calvinistische Prédestinations- und Gnadenlehre auf angelsächsischem Boden eine Einbruchsstelle fand: ein Gott der Ferne und Verborgenheit, der indessen der von ihm so gänzlich 1
) „Satanas est princeps longe callidissimus mundi". Demgemäß ist Welt (Gesellschaft) nur durch satanische Mittel lenkbar. Gottes Gnade offenbart sich in dem Glaubensuniversum des Dialogs der Seele mit der Gottheit.
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abgetriebenen, daher verworfenen, aber an seine Gnadenwahl glaubenden Kreatur in dem Erfolg („success") ihres Tagewerks, dem Erfolg einer ganz und gar auf wirtschaftliche, politische, administrative oder technische Organisierung der chaotischen Empirie eingestellten Kreatur, ein Zeichen seiner Gnade zu sehen gab. Diese extravertierte Welthaltung sucht also in jener rastlosen Organisierung der Empirie das Medium der Glückseligkeit und ist daher der Selbstmeditation und der Seinsmetaphysik gleichermaßen abhold, die auf dem Boden des lutherischen Protestantismus in Deutschland zur Entwicklung kamen— zwei entgegengesetzte Formen der Entwicklung, die auf demselben nominalistischen Boden des Wissens um die Endlichkeit der Kreatur zum Durchbruch gekommen sind. Das ist das Eigentümliche, daß in dem Maße, wie die sinnliche Rezeptivität als die Fundamentalkategorie der menschlichen Existenz, d. h. die Endlichkeit der Existenz, erkannt und damit die Welt von ihrem Seins- oder, theologisch gesprochen, Heilscharakter entleert wurde, der Begriff der Empirie in das Bewußtsein der christlichen Welt trat. Für Occam gibt es keinen Beweis des Daseins Gottes, keinen Beweis der Unsterblichkeit. Das alles gehört in die praktische, nicht in die rationale, demonstrierende, „natürliche" Theologie, die für das nominalistische Bewußtsein unmöglich wurde. Gegeben sind Tatsachen, facts — aus der Einheit herausgeworfene, versinkende Empirie. Mit diesem Begriff des Gegebenen geht die Gewißheit zusammen, daß das Wesen bei der Gottheit liegt, bei ihrer geoffenbarten Religion. Das gilt für Occam, für Francis Bacon, für Berkeley, wie es für Hume gilt, zu dessen nihilistischem Weltbegriff seine Religionslehre gehört, in der die Realität Gottes und seines durch zeitlose Gesetze darstellbaren Kosmos sich auf den moralischen „belief" stützt, und der im Rahmen dieser „praktischen" Gewißheit an dem physiko-theologischen Gottesbeweise festhält, wie sein Freund Adam Smith eine Religion des Enthusiasmus nach dem Muster von Shaftesbury gelten läßt, der dem „Gefühl" eine in das Sein der Dinge hineinreichende Bedeutung zumißt. Man muß all diese Dinge zusammen sehen. Die Welt der unendlichen Fülle, der infiniten essentia, offenbart sich nicht dem endlichen Verstände. Es ist von hier aus gesehen, 135
also von der Einsicht in die Grenzen dieses Verstandes, daß der Wille, „das einfache Herz" oder auch der Glaube — alles Modifikationen desselben kategorialen Sachverhaltes — als der Quellpunkt der das Endliche mit dem Unendlichen verbindenden Gewißheit aufsteht — eine These, die sich von Duns Scotus über Luther und Calvin zu Rousseau, Hume, Kant und der transzendentalen Introversion des deutschen Idealismus in immer neuen Varianten zieht. Was also in Hume's Empirismus liegt, darf in keiner Weise so verstanden werden, daß er die Permanenz, die Realität einer permanenten Weltordnung, leugnet. Worum es im Horizont der nominalistischen Reflexion geht, ist die Verwandlung des Zugangs zu dieser Welt. Angesichts einer von dem zeitlos Permanenten abgerissenen „geschaffenen" Wirklichkeit behauptet sich das Zeitlose. Wir leben in einer entfremdeten Welt, in der es also nur eine von Fall zu Fall „demütig" fortschreitende, statistische, vor aller Generalisierung und universellen Aussage zurückschreckende empirische Naturbeschreibung gibt. Es gibt relations of ideas — das analytisch-tautologische Relationsgefüge von terminis. Aber die Zuordnung dieser Invariablen zum Variablen kann nicht demonstriert werden. Die Realität des Kosmos kann nicht bewiesen werden. Die Realisierung des Invarianten ist in Gottes Hand. Sie ist zufällig. Hinter dem Nihilismus Hume's wie hinter der Auffassung des Logischen als eines von der Empirie getrennten zeitlosen Gefüges analytischer Zeichensymbolik steht die theologische Grundgewißheit von der Endlichkeit der Kreatur. Kant hat das Seiende inmitten der Empirie begriffen. Er hat die Kategorie des Überstiegs — die allen von ihm aufgezählten Kategorien zugrunde liegt — inmitten der Empirie offengelegt. Er hat das Seiende in seiner die Empirie überschreitenden, es an das „Unbeschränkte" bindenden Mächtigkeit begriffen. Dies muß als das metaphysische Ergebnis jenes einzigartigen Dialogs verstanden werden. Das in Frage stehende Problem des Dialogs wird nicht getroffen, wenn, wie es immer wieder geschieht, Hume vorgeworfen wird, er habe das Seelenleben nach dem Vorbilde der Assoziationspsychologie in isolierte Atome aufgelöst. Es wird 136
auch nicht getroffen, wenn auf den common sense hingewiesen wird, für den es gewiß außer Zweifel steht, daß die Welt, die sich uns darbietet, sich in Ganzheiten und Ganzheitsstrukturen darbietet; oder wenn Max Scheler und diejenigen, die ihm neuerdings folgen, in beschwörendem Rückgriff auf festgehaltene Traditionen von der Weltoffenheit der menschlichen (personalen) Erfahrung sprechen, dergestalt, daß in dieser Erfahrung ein „an sich bestehendes Reich" seiender, gestalthafter Wesenheiten zur Gegebenheit komme. Wer wollte bestreiten, daß diese über alle den Menschen natürlichen, zweckmäßigen, pragmatischen Haltungen hinausgehende Weltoffenheit besteht? Niemand wird auch die morphologische Grundverschiedenheit des anorganischen, organischen und seelischen Daseins bestreiten, und gewiß wird niemand die assoziationspsychologische Aufspaltung des Seienden in isolierte Daten unseres seelischen Lebens anerkennen wollen, ebensowenig (was damit zusammenhängt) die Erklärung der Gesamtwirklichkeit im Lichte kausaler Mechanik. Aber alle diese Einwände treffen nicht das in Frage stehende Problem, das zwischen Kant und Hume steht. Wir erfahren Empirisches. Seiendes wird erfahren. Seiendes ist da. Sein ist die alles Seiende umfassende oder in allem Seienden wiederholbare Eigenschaft oder Beschaffenheit des Seienden, was auch immer dessen morphologische, „wesenhafte" Artung sei. Das besagt, Seiendes ist an Sein gebunden. Es ist gebunden, d. h. der Horizont des Überstiegs seiner selbst in dem, als was es sich gibt, liegt in seinem phänomenologischen Wesen. Das je und je Seiende ist auf Einheit bezogen, und es ist diese seine auf das identisch Eine bezogene Exzentrizität, in der es sich in dem, was es ist, offenlegt. Sein ist die Beschaffenheit des Seienden, d. h. das Zentrum von diesem liegt nicht in ihm selbst, so wenig in ihm selbst, daß es erst in dem infiniten Prozeß seiner Versammlung in der Einheit des Ganzen ist. Hume hat gesehen, daß der Einheit des Ganzen das Mannigfaltige zugrunde liegt. Er hat das Regellose im Grunde der Natur gesehen. Er hat auf die Erfahrungsgrundlage, wie es heißt, des Seienden hingewiesen. Er hat sich die Ergebnisse der Forschung seit Galilei zu eigen gemacht, wonach das, was wir seiende Welt nennen, der Name ist für den regelmäßigen Zu137
sammenhang von „Phänomenen" - jener Forschung, die um der exakten Identifizierung oder Bestimmung des Seienden willen die aristotelische Morphologie und Substanzenmetaphysik hinter sich gelassen, d. h. das Beharrliche der Natur nicht in vorhandenen, essentialen Qualitäten gesucht hat, sondern in der Gesetzmäßigkeit des Zusammenhangs der in die einfachen und einfachsten Phänomene (Elemente) aufgelösten Natur. Die Reflexionen von Descartes haben auf diesem Boden des Suchens nach eindeutiger Bestimmung des Seienden auf den Zusammenhang von Denken und Ausdehnung hingewiesen — dem Denken, das hier lediglich die Aufgabe meint, das Seiende über alle vagen, subjektiven und morphologischen (substantialen) Qualitäten hinweg in den eindeutigen, auf alle qualitative Charakterisierung verzichtenden Bestimmungszusammenhang zu stellen. Hume hat den empirischen Grund der Erfahrung begriffen — aber nichts als dieses. Kant hat gesehen, was „in der Erfahrung liegt". Er hat gesehen, was in der sich auf dem mäontischen Mannigfaltigkeitsabgrunde aktualisierenden denkenden Erfahrung liegt. Er hat die verborgenen Gründe dieser Erfahrung erkannt. Er hat die freie Spontaneität (und im Zusammenhange damit die „produktive Einbildungskraft") als Ingrediens der Erfahrung erkannt. Er hat den Willen im Denken verstanden — die freie Spontaneität im Universum des Seienden. Er hat den freien Willen als übersteigenden Gegenzug gegen die Empirie inmitten der Empirie erkannt. Daher ist seine in den drei Kritiken niedergelegte Seinsgrundlegung zu einer Reflexion über den freien Willen und die Freiheit geworden. Schelling hat diese Reflexion auf die Implikationen des Erfahrens des Universums des Seienden auf den kulminierenden Ausdruck gebracht: „ E s gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Urseyn — und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben; Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden" (VII, 350). Wir kommen zum Ende der Betrachtung über die Korrelation von freiem Willen und Ordnung, die uns im Rahmen geschichtlicher Analysen den ersten Weg bahnen sollte, das phäno138
menologische Wesen des freien Willens zu eröffnen. Wir haben gesehen: es ist ein absurdes Unterfangen, den freien Willen in der Vielheit der Motivationen zu sehen, etwa darin, daß jedes einzelne menschliche Individuum — angeblich ungleich den Animalien — in dem Sinne frei sei, daß es gemäß seinen partikularen Motivationen handeln könne. Diese Definition des freien Willens ist eine „moderne Entdeckung", stammend aus dem oben erwähnten, heute überholten Gegensatz zu einem kausal determinierten Naturbegriff. Man spricht von dem freien Willen im Gegensatz zu dem, was man „Instinkte" oder „Zwangshandlungen" der unfreien Lebewesen nennt. Es ist gewiß : der freie Wille steht im Gegensatze zur Fremddeterminiertheit. Der Wille ist nicht frei, wenn er „von außen" determiniert wird — determiniert von irgendeinem Seienden, inmitten dessen er als endlicher sich befindet. Aber die Nichtdeterminiertheit von außen oder, wie Aristoteles es prägte, von „fremden Ursachen", besagt nicht, däß der freie Wille in seinem Leben nicht motiviert ist. Wille ist gerichtet. Er ist gerichtet auf das Gewollte, und frei ist der Wille, wenn das Gewollte sein eigenster Gegenstand, gewissermaßen der Gegenstand seiner eigensten Wahl ist. Wille steht inmitten des Seienden, inmitten der Welt von Begebenheiten und Umständen, und ist abhängig von diesen Umständen. Er steht inmitten der Relativitäten, Bedingtheiten, Unzulänglichkeiten. Er ist der an der Welt der Bedingtheiten leidende Wille. Mehr als dies: er steht inmitten des Existierenden — des Geschehens sterbender Augenblicke, leidend am Geschehen. Leidend am Seienden, ist er das Geschehen und das Seiende übersteigender Wille. Was den Willen zum freien macht, ist dieses Leiden, und das will besagen : der Überstieg über das Geschehen. Der freie Wille ist der das Geschehen, in dem er sich befindet, wissende (seiner inneseiende) und an ihm leidende Wille. Kant spricht von der Freiheit als „Freiheit von der Natur". In jedem Willen liegt dieser negative Horizont des Hineinreichens zu der Quelle seiner Qual. Der freie Wille ist der vom Geschehen und dem Seienden zwar bedrängte, ursächlich von ihm getriebene Wille, aber ebenso der von diesem Getriebenen wissende, an ihm leidende und daher es übersteigende Wille. Der freie Wille will die Macht 139
über das Seiende, von dem er umdrängt wird, und so geartet ist dieser Wille zur Macht, daß er erst da zur Ruhe kommt, wo er das Seiende (Natur) bewältigt hinter sich hat. Der freie Wille zeigt sich in dem infiniten Überstieg über das fremde Objekt. Wille ist nicht Streben in dem Sinne, daß ihm ein bestimmtes Objekt dieses Strebens als Gewolltes vorgelagert ist. Das von ihm eigentlich Gewollte steht über jedes bestimmte Gewollte hinaus. Daß der Wille sich als Wollen von etwas bekundet, ist Zeugnis davon, daß der Wille sich je und je voraus ist. Er ist von etwas motiviert, was er nicht besitzt und besitzen kann. Er entwirft zwar in infinitum Möglichkeiten der Bewältigung des widerständigen Objekts, aber so, daß dieser Entwurf von Möglichkeiten, in die er als zukünftiger und aus der Zukunft lebender hineinblickt, nur ein fragmentarisches Provisorium bleibt. Bewegt von dem alles Seiende und alle Entwürfe übersteigenden Gegenstande, an den er gebunden ist, ist der freie Wille in seiner eigensten Wahl der an den exzentrischen Gegenstand oder das Sein gebundene Wille. Nietzsche spricht von diesem Willen als dem „Gehorsam zum Höchsten", und Kant spricht von dem „Ubersinnlichen", das in seiner Praxis offenbar wird. In jedem freien Willen liegt das Wissen von seinem fernen Gegenstande, von der letzten unrealisierbaren Möglichkeit. Jeder freie Wille lebt aus dem Utopischen her. Er lebt aus dem Unmöglichen her, und die Vielheit der Motivationen, die es macht, daß jedes Individuum nach seiner Individualität von seinen eigensten Motivationen her seine Entscheidungen trifft, besagt, daß der Gegenstand, der Eine Gegenstand, auf den der Wille als freier gerichtet und von dem er bewegt ist und der in allen menschlichen Individuen derselbe ist, in diesen Individuen einen je verschiedenen Ausdruck seiner Aktualisation findet. Nicht dies macht den Menschen frei, daß er im Gegensatz zur Tierwelt von partikularen, seiner Individualität gemäßen Motivationen bewegt wird, sondern daß diese Motivationen Formen oder Varianten sind, in denen sich die von dem unendlichen Gegenstande bewegte menschliche, des Existierens im Mannigfaltigen inneseiende Existenz auslebt. Zu jedem freien Willen gehört Seinserinnerung und Seinshoffnung. Er entfaltet sich in diesem nach rückwärts und vor140
wärts laufenden Zeithorizont. Er entfaltet sich immer im Lichte seiner auf den utopischen Gegenstand, das Sein, gerichteten Möglichkeit. Daher ist er immer über sich hinaus. Daher bestimmt nicht er seinen Inhalt, sondern dasjenige, worauf er gerichtet ist: das Gewollte, das Fernstgewollte. Das Mysterium des freien Willens besteht auch nicht darin, daß er „ursachlos" ist, sondern daß er sich inmitten der von Ursachen determinierten Welt, in der er sich wie die Animalien oder andere Organismen „befindet", als die von der letzten Ur-sache bewegte, die Objekte übersteigende Mächtigkeit erhebt. Die von der übersteigenden Ur-sache bewegte, das Seiende inmitten des Seienden übersteigende Existenz ist das Mysterium. Die Mächtigkeit dieser Bewegung ist es, die das Seiende, in welchen Beschaffenheiten und Beschaffenheits- oder Ordnungszusammenhängen es sich auch immer gibt, in den infiniten Zeithorizont hineinreißt. Sie ist ein Prozeß des Negierens dieser Zusammenhänge. Sie überschreitet sie und bindet, sie überschreitend, ihre Einheitsentwürfe (Möglichkeiten) an den zuletzt in formalen Symbolen ausdrückbaren identischen Gegenstand. Piaton sprach von dem Sein als Mächtigkeit - dem Sein, das er als die Idee des Guten über alle ontische Bestimmbarkeit hinaus verlegte, und zwar so, daß er die Formen (Ideen) dieses übersteigenden, archontischen Gegenstandes als formale Abwandlungen („Ideen") der Eins bestimmte. Man hat von einer Geschichte oder einer geschichtlichen Verwandlung des Begriffes Freiheit in diesem Zusammenhang zu sprechen. Der Weise ist für das sokratische Denken der Freie. Er ist frei, weil er die „an sich bestehenden" Wesenheiten sieht : weil er die Eins (das Gute) „sieht" und die Ideen (Formen), die das mathematische Universum der Eins bilden. Das Denken (die Wissenschaft) des bestehenden Kosmos — des Universums des Meßbaren — ist das Medium des freien Willens. Der Kosmos ist die Stätte der Teilnahme des „Verschiedenen" (des Maßlosen, die Einheit „Entzweienden") an der Einheit. Das Denken des Kosmos ist die Stätte der Aktualisation der Übersteigung des „vielen" zu dem Einen — das Medium des Freien, des Glücks. Der freie Wille zeigt sich im Denken, oder vielmehr: das Denken ist identisch mit dem Willen. Aber dieser freie Wille ist im Grie-
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chischen kein Wille der freien Wahl. Er ist an die bestehende Welt der „Wesen" angebunden. Er steht im Gegensatz zu dem blinden Willen derjenigen, die nicht sehend sind und von dem blinden Schicksal geschlagen sind. Der Denkende ist an das andere Schicksal, an die andere, rationale Ananke gebunden, von der die Stoa und die Stoiker sprechen. Die Freiheit des Weisen zeigt sich in dem „subicere rationi". Die griechische Antike (wie Spinoza, der der Stoa folgt) kennt nicht den freien Willen im Sinne der freien Wahl oder Entscheidung. In der jüdisch-christlichen Konzeption steigt der Begriff der freien Wahl auf, dem Bilde gemäß der frei schaffenden Gottheit, die die Möglichkeiten (Ideen) und ihre Realisierung in den Händen ihrer Allmacht hält. Der Mensch ist im Ebenbilde des göttlichen Wesens gebildet, welches das Wunder der Realisierung von Möglichkeiten in dem Nichts der Materie schafft. Der freie Wille wird zu dem schaffenden, Möglichkeiten (Projekte) entwerfenden und realisierenden Willen. Der Wille wird frei von der Bindung an das Denken, von der Bindung an das Bestehende. Er gewinnt den Horizont in das zukünftige, den unendlichen Horizont der Erwartung und Hoffnung. Wille als Wahl (des Guten oder Bösen) kommt auf dem jüdisch-christlichen Boden auf, insofern der Primat der Erinnerung — der Bindung an das bestehende, zeitlos gewesene Eine und seine Ordnung — über die Hoffnung, die Hoffnung auf die unendliche vis creativa, gebrochen wird. Wille wird zur freien Wahl von Möglichkeiten im Lichte eines zukunftsoffenen Zeitbewußtseins. Aber das Gemeinsame dieser Seins- und Freiheitsgeschichte ist, daß die Freiheit allemal sich in der Bindung menschlicher, wahr-nehmender (erfahrender, erlebender) Existenz an etwas zeigt, was diese Existenz überschreitet. Sie zeigt sich in einer Existenz, die ihres Existierens inne ist und daran leidet. Das gilt grundsätzlich - ob Erinnerung oder Hoffnung für das Freiheitsbewußtsein prävalierend ist, ob, in anderer Richtung der Geschichte dieses Bewußtseins gesehen, der Wille und sein unendlicher Gegenstand sich auslebt in der Umformung der politisch-sozialen Verhältnisse oder in dem Verlangen nach einer „freien Wirtschaft" oder einer „gerechten Gesellschaft", ob er sein wesentliches Medium in der denkenden Kontempla142
tion oder in der Arbeit an der Welt findet — für den Weisen, den Unternehmer, den Heiligen, den Künstler und den sozialen Revolutionär. Immer ist, mit Voltaire zu sprechen, der Wille: „pouvoir humain sans limite". Immer entzieht sich sein Gegenstand dem je Gewollten, aber ebenso gilt : immer trägt der Wille seine Beladenheit mit sich. Der freie Wille gibt immer Zeugnis von der „Finsternis als seinem Erbteil" — von dem „Sein im Nichtsein und dem Nichtsein im Sein" (Schelling). Er ist immer gebrochener, d. h. auf Sein gerichteter Wille. Er unterscheidet sich von der Freiheit wie der Weg von dem utopischen Ziel. Die Freiheit ist nur in der Utopie am Ziel. Sie wohnt bei dem „von der Empirie unabhängigen" Ideal, oder, um Ausdrücke Kant's zu verwenden: die Postulate: Freiheit, Gott und Unsterblichkeit, gehören zum Wesensbestandteil des freien Willens. Sie konstituieren ihn als Prozeß infiniter Mächtigkeit. Die These Hume's von der Absolutheit der Empirie erhält in diesem Zusammenhang hier ihre tiefere, wahre Bedeutung: Die menschliche Existenz ist in diesem Denken unfrei. Sie ist auf dem Boden seines calvinischen Radikalismus aus der Einheit mit dem Schöpfer herausgerissen. Die Überschreitung der Empirie ist der Kreatur in ihrem urschuldhaften Zustand versagt. Daher verbindet sich mit dieser Ausgeliefertheit an die Empirie in dem angelsächsischen Empirismus, zumal wenn er seiner religiösen Wurzel bewußt bleibt, der Rekurs auf die Gnadenwahl. Die Zuordnung des „Daseins in der Welt" zu dem Invariablen wird bestritten. Die „Wahrnehmung" eines Seienden in Abhebung von der bloßen „Empfindung" (perception) isolierter Daten wird bestritten. Philosophie wird zur Philosophie einer vernichteten Welt. Die Intentionaütät der Erfahrung der Empirie wird nicht gesehen. Aber nur auf dem Grunde dieser Einsicht kann Empirie erfahren werden. Wir sind bei Gelegenheit der Analyse der Wahrnehmung (als Illustration des erlebenden Lebens überhaupt) auf das urphänomenale Wesen des freien Willens gestoßen - urphänomenal, insofern in der Analyse von Erleben überhaupt der freie Wille als das, was allen Typen der Freiheit als durchhaltende Kategorie zugrunde liegt, in Erscheinung kommt. Wahrnehmen (Erfahren) heißt sich-in-der-Zeit-Erstrecken. Das je und je Versinkende 143
geht in die dauernde Kontinuität der reproduktiven Prozesse ein. Wille zur Dauer liegt im Erleben. Der Ton, der eben erlebt worden und gerade versunken ist, lebt in dem Kontinuum seiner erinnernd-erwartenden, ihn identifizierenden Reproduktionen als derselbe fort und hinaus. In dem Kontinuum des Seienden und seiner Ordnungstypen verbirgt sich als seine Implikation der frei schaffende, schöpferische Wille. Jede Theorie des freien Willens hat an dieses urkategoriale Erlebnisphänomen des Überstiege über die Empirie anzuknüpfen. Es ist der das Versinkende, den sterbenden Augenblick, das aus der Einheit losgerissene, in die Kontinuität aber als immer Neues einbrechende Jetzt zu überdauern strebende und auf Einheit, zuletzt auf zeitlose Einheit gerichtete Wille, der allen Formen (Typen) der Freiheit, die wir in der Geschichte vorfinden, zugrunde liegt. In jedem Willen liegen, untrennbar miteinander verbunden, diese seine drei Elemente: das empirische Element seines terminus a quo, sein terminus ad quem, das Ewige, und der die beiden Pole aufeinander richtende Drang, die Urtendenz, „die Sehnsucht der Materie", dieser die Kontinuität des Seienden schaffende Prozeß in infinitum mit seiner utopischen Grenze (limes) der Einheit des Ganzen. Inmitten der Empirie steht die Einheit des Ganzen. Inmitten der Empirie richtet sich der Gegenzug gegen sie auf, der Gegenzug der drei interdependenten Elemente, die in dem Zeitwesen der Freiheit liegen. Was liegt vor, daß Erfahrung Empirie nicht aushält? Was liegt vor, daß Existieren sein Existieren nicht aushält ? Was ist der Grund der Möglichkeit des nicht-aushalten-Könnens, der Grund, daß alles Existieren von dem Willen, sich selbst zu übersteigen, „muß begleitet sein können" (um den Ausdruck Kant's zu variieren)? Es ist diese Frage, die uns nun beschäftigen wird. Was ist der Grund der Möglichkeit der die Empirie übersteigenden Ordnung inmitten der Empirie des Geschehens und Vergehens ? Es ist diese Frage, zu der die Geschichte der Seinsidee, die wir in dem Vorangehenden in ihren Grundzügen zu skizzieren versucht haben, geführt hat. Wir haben zuerst von dem Sein als der sich durchhaltenden Beschaffenheit alles Seienden und seiner Gestalten gesprochen. Wir haben dann diese Beschaffenheit als 144
Transzendenz erkannt — als die Qualität, die es macht, daß das Seiende in den infiniten Horizont weist, in dem alles mit allem verbunden und zu Einem wird. Die Reflexionen, die wir über Kant und Hume angestellt haben, führten zu der Erkenntnis des Willens als Implikation dieses Horizonts. Wir wiederholen die Frage Kant's : Was liegt in der Erfahrung, daß sie die Empirie übersteigt? Die Frage führt uns zu den tieferen transzendentalen Quellen, die in dem Willen verborgen liegen und vor denen die kantisch-idealistische Reflexion stehengeblieben ist. Sie führt uns in eine mehr fundamentale Aufklärung des Begriffs der existierenden Empirie — des beängstigenden Phänomens in den Diskussionen unserer Zeit.
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VIERTES KAPITEL
D I E FREIHEIT UND DER T O D
§ 15 D A S PROBLEM
„Des höchsten Wesens wird man nur durch Tod werth" (Novalis, Ausg. Heilborn 1901 ;II.p. 101) Wir steigen nun, Vorhergehendes zusammenfassend, in tiefere Dimensionen hinein. Wahrheiten können nur verstanden werden, wenn im Verstehen die Quelle springt, aus der sie entspringen. Am wenigsten sind sie dazu angetan, daß der Mensch sich auf sie berufe. Zuviel Berufung auf oder genauer: Beschwörung von Wahrheiten, die einmal von wenigen Männern in Heimsuchung und Gnade gedacht worden sind, ist in unserem Denken. Wir leben aus der Tradition. Erstandenes wird zum Überkommenen. Wir vergessen die ursprüngliche Seinsnot, die im Überkommenen verborgen ist. Nichts charakterisiert die Hinfälligkeit, die Endlichkeit des Menschen mehr als diese Seinsvergessenheit. Der Mensch geht dem Wissen um seine ursprüngliche Not aus dem Wege. Piaton und Kant standen in diesem Wissen. Sie standen in dem Dialog-Wissen der Menschen — einem Dialog, der wie alles ursprüngliche Denken immer um ein und dasselbe geht, nämlich das Sein zu denken, nicht die Welt in ihren Einzelheiten, auch nicht die Welt im ganzen, am wenigsten als Aggregat von Tatsachen; es geht darum, daß die Tatsachen den Charakter des Seienden haben. Wir erfahren dieses und jenes. Wir leiden an diesem und jenem. Wir stimmen zu oder wir verwerfen es. Wir sehen ihm mit Genugtuung entgegen. Wir fürchten es, wir verzweifeln an ihm, oder wir brechen unter seiner Last zusammen. Wir 148
hören, wir sehen, wir vernehmen. Gewiß ist, daß, was wir erfahren, ein Diesda ist. Aber kein Diesda steht allein. Es ist in Widerspruch mit anderem. Das andere ist in Auseinandersetzung mit anderem. Die Welt des Diesda: eines ist getrieben von dem anderen. Aus jedem Diesda spricht die Not seiner Dieshaftigkeit : die Not der Isolation. Heraklit sprach von dem polemos — der Not der Isolation, der Andersheit in dem einzelnen, die ebenso auf Selbstaufhebung geht wie auf die Aufhebung des jedem Entgegenstehenden. Das einzelne ist, und es ist nicht. Aber wir erfahren es, das Diesda, als ein Seiendes. Bei allem, was Menschenwesen durchmachen, erfahren wir die Welt, aus der her uns das einzelne zustößt, als die Eine, seiende, bestehende Welt, das Eine in der Vielfältigkeit und der Entgegensetzung des Geschehens. Wir erfahren das Entgegengesetzte, das Widerspruchsvolle, aber wir stehen erinnernd und hoffend bei dem Ganzen. In der Qual der Dinge kommt uns das Eine, das Stehende, Beständige und Selbe entgegen. Menschsein meint die um das Eine Sein des Seienden in der Qual des Geschehens wissende Existenz. Aber das Unveränderliche erschließt sich durch den Einbruch in sein Ganzes. Der Mensch bricht in das Ganze ein. Er findet es vor als Zerrissenes, als auseinander-Gesetztes : Ex-sistierendes, in diesem wörtlichen Sinne. Er findet es vor in dem, was es nicht ist. Dergestalt in das Ganze einbrechend und es als das Zerrissene vorfindend, sucht er es als Ganzes. Seine Leidenschaft, seine Triebe, seine Sehnsucht, sein denkender Wille, sein Machen, sein Scheitern, zuletzt sein Sterben sind der Ausdruck dieses Suchens. Der Mensch stirbt aus dem Suchen heraus. Das ist der Preis, den er dem Ganzen und dem Ständigen zahlt. Die Frage, was der Mensch ist, wird nur verstanden aus der Frage nach dem, was das Ständige ist und zumal aus dem Leben und Sterben dieser mit dem Zerrissenen und Beschränkten behafteten Existenz um des Ständigen willen. Kant hat über das Ständige meditiert. Er hat über das Sein der bestehenden Welt in der auseinander-Setzung des Mannigfaltigen nachgedacht. Was in seiner Philosophie nach Ausdruck rang, ist dies, daß dem Sein: dem, was es macht, daß das Seiende als ein Ganzes geschieht, der Charakter des Seienden, d. h. 149
eines bestehenden Dinges, genommen ist. Der „Idealismus" der kantischen und der nachkantischen Spekulation, die eine untrennbare, problemgeschichtliche Einheit bilden, steht also nicht dem „Realismus" der Alten entgegen, sondern dasselbe Reale (das die Alten als die unwandelbare Ananke der Gestirne und des menschlichen Geschehens exemplifizierten) wird in dieser idealistischen Seinsspekulation als dasjenige dargestellt, woran die von dem Partikularen heimgesuchte Welt zerbricht. Das Reale (Sein) ist das „Unbeschränkte". Es ist diese das Beschränkte zerbrechende Mächtigkeit, die das freie Subjekt genannt wird. „Das Wahre ist das an sich Unendliche, welches sich durch Endliches nicht ausdrücken läßt." Das Subjekt „hat einen Gegenstand, welcher zugleich keiner ist, d. h. einen ideellen, aufgehobenen" (Hegel). Leibniz, einige Jahrzehnte vor Kant, sprach von Freiheit als Zufall. Er sprach davon im Zusammenhang mit der Selbigkeit (Identität) des Universums — der Unendlichkeit des Universums in dem Sinne, daß dieses, das unendlich Identische, die „Konfusion", die „Undeutlichkeit" seiner Erscheinungsformen überschreitet. Er sprach von der „Identität des Grundes". „ E s gibt keinen Raumteil, der nicht erfüllt wäre, keinen materialen Teil, der nicht weitere Unterscheidungen aufweist" (Sehr. z. Met. II, 70). Diese Grenzenlosigkeit des räumlichen Kontinuums suchte Leibniz zu umgreifen in dem Calculus des Infinitesimalen. Leibniz hat das mathematisch darstellbare Kontinuum als Manifestation des Identischen verstanden. Das besagt: er hat die räumlich-zeitliche Welt des Geschehens als eine auf die „Identität des Grundes" (subiectum, substantia, Gott) bezogene Mannigfaltigkeitsordnung begriffen. Er hat den Raum (die RaumZeit) als ein phaenomenon bene fundatum der Identität verstanden — ein phaenomenon also, das aus der Beziehung zu der Identität des Grundes seine Rechtfertigung bezieht: „Wenn kein Gott wäre, gäbe es kein Objekt der Geometrie, und ohne Gott gäbe es nichts, das existiert, auch nichts Mögliches." Leibniz hat das Seiende als Kontinuität begriffen, d. h. er hat es als etwas verstanden, das durch endliche (diskrete) Qualitäten (inhärierende Eigenschaften) nicht faßbar ist. Das unendliche Kontinuum wird mittels einer analytischen (tauto150
logischen) Beziehungsordnung von Symbolen (termini) erfaßt. Diese von aller materialen Kontingenz (Zufälligkeit) entleerte Mannigfaltigkeit wird als die Vernunft des Seienden angesprochen. Die Vernunft des Seienden — das Reale der Welt - ist der Ausdruck des unterliegenden identischen Grundes (subjectum, Monade). Man hat von dem „Spiritualismus" von Leibniz gesprochen. Dieser Ausdruck trifft ihn nicht. Leibniz spricht von dem Realen. Sein Thema ist das Reale : die Eine Welt. Daher sprach er von dem Universum, seinen Gegenständen, den Körpern, dem Raum, der Zeit, den Seelen, usw. wie ebenso von den Wahrheiten (Sätzen), die sich auf diese Gegenstände beziehen, als Explikation des Identischen. „Sie bestehen (wie dieses) dauernd fort". „Esse est inesse." „Der Gedanke des Unendlichen stammt aus der Identität des Grundes her: und sein Ursprung ist derselbe wie der der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten" (vgl. p. 99). Weil esse inesse ist, ist Leibniz Anhänger des strengen Determinismus des Geschehens. Sein Gedanke der exakten Determiniertheit des Weltgeschehens ist für ihn der andere Ausdruck der auf die Identität des Grundes zurück- und vorweisenden Mannigfaltigkeit dieses Geschehens. Daher ist für ihn die Zweckmäßigkeit (Finalität) der Welt und der mathematisch darstellbare („mechanische") Funktionszusammenhang des Realen ein und dasselbe. Von Gott (dem Grunde) her gesehen sind die Naturgesetze lois éternelles, wie die Wahrheiten (Sätze) vérités éternelles sind. Sie sind analytische Explikationen der zentralen monadologischen Mächtigkeit des Grundes — der Identität des Universums. Aber der Grund, die Gottheit, ist keine Substanz (im Sinne Spinoza's), kein Ding, kein ens perfectissimum. Das hypokeimenon, das die Mannigfaltigkeit zusammenhält, ist kein seiendes Etwas. Das Identische ist „freie Aktion" (der universalen Monade) - „capable d'action". Die Gottheit, die die Einheit, die Harmonie des Universums prästabilisierende Gottheit — „das Absolute, dasjenige, was dem Gedanken des Unendlichen und der Idee des Grundes erst seinen Abschluß gibt" (Nouv. Ess.) — ist „choix de sagesse". Sie ist der Name für freien Willen. „ E o 151
magis est libertas quo magis agitur ex ratione" (De Libertate, op. E. 669). Es ist daher falsch, von dem Rationalismus von Leibniz in dem Sinne zu sprechen, wie einige moderne Ausleger (z. B. Couturat), die moderne Logistik und die damit neuestens verbundene „cybernetische" Auslegung des Universums es tun (vgl. N. Wiener, Cybernetics, Introduction)1). Leibniz hat den freien, seinsverstehenden, seinsmächtigen, denkenden Willen in den Zusammenhang des unendlichen, mathematisch darstellbaren Weltkontinuums hineingezogen. Was bei ihm geschieht, ist das Analoge, was bei Kant vorliegt, oder genauer: wenn bei Kant die Kategorien (Invarianten), um den betreffenden Ausdruck von Novalis zu gebrauchen, nicht als „Bestimmungen", sondern als „Indikationen von Bestimmung" auftreten, wenn, im Anschluß daran, Hegel von dem alle Endlichkeit des Bestimmens überschreitenden, unendlichen dialektischen Prozeß spricht, wenn Leibniz, Kant und Hegel den Grund des Identischen als Freiheit bestimmen — alles läuft in diesem großartigen menschlichen Ringen um Seinsmächtigkeit auf dieselbe Grundeinheit hinaus: Sein ist nicht, Sein ist kein Gegenstand der Bestimmung, Sein aktualisiert sich. Es aktualisiert sich als Entwicklung, Auseinanderwickelung eines freien, ursachlosen Entwurfes von Möglichkeiten — von Koinzidenzen der Formen der Identität. Wieder steht vor uns das Problem, auf das wir im Vorhergehenden, mehr tastend als wissend, gestoßen sind. Was liegt in dem Gedanken der Identität ? Was liegt in dem Gedanken des freien Willens, der inmitten des Geschehens dieses Geschehen (Existieren) zu dem Identischen zusammenbindet? Welches ist die Urquelle, aus der der Gedanke des Identischen — der Einen, geordneten Welt — seine Rechtfertigung zieht? Welche Stelle hat der Tod in dem System des Identischen? Die Tradition von Piaton bis Hegel ist bei dem Identischen stehengeblieben. Wir haben die Entwicklung ihres Ringens um Seinsmächtigkeit im Lichte ihres Standes beim Identischen kennengelernt, eine Entwicklung, in der die „idealistische" Freiheitslehre die letzte Phase bildet und zu der auch, wie wir x ) In diesen Auslegungen wird die Leibniz'sche Grundkonzeption der Korrelativität von Vernunft und Freiheit übersehen.
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im letzten Kapitel gesehen haben, die Herausarbeitung des formalen OrdnungsbegrifFs (Koordinatensystems) in der Wissenschaft unserer Zeit gehört. Wir haben gesehen: dieser Ordnungsbegriff geht zurück auf die platonische Urhandlung, die Welt, in deren Zerrissenheit des Geschehens wir stehen, im Lichte der „Idee" (τί εστίν) zu begreifen. Das Seiende (im Ganzen und im einzelnen) ist das Identifizierbare. Wir beschreiben die Invarianten, die sich in dem Universum durchhalten. Wir bilden Wissenschaften, „die Einheit der Wissenschaft", Kategorienlehren, Ontologien aus. Die idea („Aussehen"), das Identifizierbare wird zum Paradigma (Urbild) des Geschehens. Was sich nicht als Identifizierbares präsentiert, gilt als das „Nichtseiende" (maeon). Das „wahrhaft Seiende" oder die höchste idea — die Idee des Seins oder des Guten — gilt demgemäß als dasjenige, worin das Universum der Identitäten enthalten ist — άρχή έν ή πάντα ενυπάρχει. Dergestalt ist die Welt die Eine, gestaltete Welt (μονοειδής κόσμος Tim., Ende). Wir suchen das im vorherigen Abschnitt Angedeutete hinsichtlich des Begriffs der Idee in die tiefere Dimension unseres jetzigen Zusammenhangs zu verlegen. „Idee" ist der Name für den gegliederten, proportionierten Kosmos — für mathematische Einheit, in der die beiden „Elemente", das unterste und das oberste Eidos, zwischen denen die Einheit, der Logos der Welt, liegt oder das „immer andere" sich bewegt, nicht nur ein Ganzes bilden, sondern ein und dasselbe sind. Das unterste und das oberste Allgemeine (Wiederholbare) verhalten sich zueinander wie das Unentfaltete zu dem Entfalteten. Die Welt ist Offenbarungsstätte „ewiger Gegenwart" (Tim. 37 ff.) des Selben. Welt ist Entfaltung des Selben (έν), eine Entfaltung, die also zurückweist auf die unterste, unentfaltete Washeit und hinaufweist auf die höchste „abstrakte" Washeit — ewige Wiederkunft des Selben. Aber was ist diese „einfache" Eins? Was heißt es, daß sie ebenso das „Unzählbare, Grenzenlose ist" (Phil. 16 d)? Was heißt es, daß sie, das Urbild invariabler Grundverhältnisse der „Elemente", das maßlose andere darstellt ? Denn dies ist immer das Entscheidende: idea meint dasselbe überall, und das eidos 153
(Gestalt), worin sie sich zeigt, ist der Name für die dieses Grenzenlose versammelnde Selbigkeit, dergestalt also, daß die Elemente (grammata) dieser Selbigkeit nicht als fließende, ineinander übergehende auftreten, sondern als Pole einer in diesem Urgeschehen angelegten Proportion (syndesmos). Das apeiron, das Ungemessene, liegt dem Begrenzenden, Zählbaren, Meßbaren zugrunde. „Grenzen" sind „inmitten des Grenzenlosen". Vor der Schöpfung des Kosmos — vor seinem Dasein (δτι εστίν) und seinem Wassein (τί εστίν) - liegt das Grenzenlose, das gewesen ist, „bevor die Gottheit die Welt nach Arten und Zahlen" (Tim. 53b) gestaltet hat. Inmitten des Grenzenlosen steht seiende Welt. Zahlen (Gestalten) stehen als Grenzen, als Grenzpfahle (δροι). Sie umgeben das Ungemessene. Das Ungemessene liegt vor dem elementaren „atomon eidos" - der unzerlegbaren Gestalt. Piaton spricht, wie gezeigt, von dem Grenzenlosen. Er spricht von ihm als „Mutter": als der Macht der Entzweiung des Einen — der „unbestimmten Zweiheit". Er spricht von dem leeren, entzweienden Räume: um ein scholastisches Wort zu gebrauchen, von dem non esse quod non habet principium. Der Raum ist das Trennende (χώρα, χωρίξειν) : „der das Mehr oder Weniger unbegrenzt zuläßt" (Phil.) : die die Eins in maßlose Zerrissenheit auflösende Mächtigkeit. Das Wissen von dem mütterlichen Abgrund des Kosmos, der „irrenden Ursache", gehört zur platonischen Lehre von der Idee als dem Paradigma des Seienden. Dieses Wissen gibt dem Begriff erst seinen eigentlichen Gehalt. Was Piaton zu der Unterwelt geführt hat, ist die Frage nach der arche der Vielheit inmitten der Einheit: die Frage nach dem, was das Urseiende (unum) zur Entfaltung in dem vielen zwingt. Die hyle, sagt Aristoteles, das maeon Platon's kommentierend, ist für Piaton das, was die Zweiheit in der Einheit schafft (Met. Z. 1082 a, 13). Was Piaton beunruhigt — sein Problem — ist nicht die Darstellung des Zusammenhangs oder der Trennung des Besonderen und Allgemeinen. Der chorismos geht tiefer, als gewöhnlich gemeint ist. Er ist nicht gemeint als die Absonderung des Allgemeinen von der Welt der Phänomene — wie sollte eine 154
solche Absonderung vorliegen, da diese Welt nach dem Muster der Einheit aus dem Stoffe der mathematisch proportionierten Ausdehnung geschaffen ist ? Er geht mitten durch das Seiende. Mitten durch die seiende Welt der Dinge geht die Begegnung des Grenzenlosen mit dem Begrenzenden. Das Seiende ist nicht ein mixtum des einzelnen und des Allgemeinen, sondern ein paradoxes Ganzes zweier entgegengesetzter Mächtigkeiten — ein wahrhaft befremdlicher Übergang des anderen in das Eine, des Verschlossenen in das Offenbare. Dieser Übergang erscheint allerdings nicht den „Blinden", die in der Höhle des Scheins (δόξα) ihren heimgesuchten Aufenthalt nehmen. Aber er (das Seiende) erscheint inmitten des Scheins dem Sehenden. Was Piaton zu dem vorbildlichen Mann des abendländischen Denkens bis auf unsere Zeit gemacht hat, ist also nicht die Ideenlehre, nicht sein Wissen von der idea als „oberflächlicher" Washeit, sondern daß bei ihm das Urgeschehen in etwas zur Darstellung kommt, was es gar nicht selber ist. Das Ungemessene zeigt sich im Meßbaren. Gewiß sind Ideen, als Proportionsverhältnisse, das Musterbild des Seienden. Aber fundamentaler als dieser paradigmatische Charakter, der sich, wie auch der ganze Problemkomplex des Verhältnisses von Essenz und Existenz, innerhalb der wachen Lichtwelt des Seienden abspielt, ist, daß die Unter- und Nachtwelt des Grenzenlosen in der Tagwelt des Begrenzten zu ihrer wahrhaft mathematischen Abbildlichkeit kommt. Das on (idea) ist das Abbild des maeon. „ E s ist die Idee, die in dem geschiedenen Grunde die verborgene (besser: verschlossene) Einheit hervorhebt" (Schelling, VII, 362). „Jenseits des absoluten Seins der Identität" liegt die „Materie", das „Unsaghafte", das Unparadigmatische. Die Symbole des Saghaften, des Paradigmatischen, des Logos, des unum entbinden es. Die Seinsgeschichte ist seit Piaton die Geschichte der Meditation über das Seiende als solches. Metaphysik hat sich als Lehre von Seiendem als solchem etabliert: als Meditation über die Symbole des Logos. Die Geschichte führt zur idealistischen Meditation über die Freiheit - den freien Willen als den Grund der Möglichkeit der paradoxen Ganzheit zweier entgegengesetzten Mächtigkeiten. Die abendländische Seinsgeschichte bleibt 155
nach Ansatz und Absicht vor dem Problem dieser befremdlichen Begegnung (syndesmos) stehen. Platon und Kant blieben beide vor diesem Problem stehen. Die Realität des Identischen, des Logischen, wird nicht bestritten. Sie wird nicht bestritten — nicht nur von denen, die in der Nachfolge Platon's und Kant's gearbeitet haben. Sie steht auch als Wahrzeichen in den sogenannten irrationalistischen oder empiristischen Theorien. Sie steht auch hinter David Hume, wie wir in Ergänzung des vorher Ausgeführten zu sagen haben. Auch für die nominalistisch-positivistische Theorie gilt das Axiom der Realität der idea. Der Verstand („intellectus finitus") wird als nicht hinreichendes Mittel des Zugangs zu dem Einen erkannt. Der Glaube oder das Dogma der Offenbarung werden dem Wissen entgegengesetzt. Der Mensch ist von der Endlichkeit seines Wesens, d. h. von seiner Angewiesenheit auf sinnliche Rezeptivität oder auf das einzelne, die „Tatsachen" oder die Materie überwältigt. Das Identische wird zur Arbeitshypothese. Oder die Materie, wird zum Material der Arbeit. Aber dieser „Skeptizismus" vollzieht sich als Gegenzug auf dem Boden dessen, wogegen er zieht. „Es gibt keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen von Tatsachen". Dieses Wort Nietzsche's gilt als positivistisches Axiom. Aber dieses Wort muß verstanden werden: es gibt Tatsachen nur als Pole ihrer Vereinigung oder Komplexion. Das einzelne ist nicht, sondern geschieht. „Etwas" geschieht. Das je Gegenwärtige geschieht. Gegenwärtiges liegt zwischen Vergangenem und Zukünftigem. Zwischen Vergangenem und Zukünftigem liegen die „Tatsachen" : das nicht-Mehr und noch-Nicht, der Zeitpunkt mit seinen beiden Zeithorizonten. Wir beschreiben das Tatsächliche, indem wir es dem Vergangenen und Zukünftigen assoziieren, indem wir es in der Zeit ausdehnen (oder was dasselbe ist: im Räume extendieren). Wir beschreiben keine Tatsachen. Was der Positivist beschreibt, ist der konstante Zusammenhang von Tatsachen. Interpretation von Tatsachen meint, daß wir die Aspekte beschreiben, in denen sie - die Tatsachen - sich geben. Wir bleiben nicht bei dem Isolierten. Wir fragen nach der Einheit. Die Frage nach der Einheit liegt vor aller Beschreibung öder Erklärung der Tatsächlichkeit der Tatsachen. 156
Jede Interpretation setzt den Transzendenzcharakter alles Tatsächlichen voraus. Ohne diesen Charakter gibt es keine Theorie. Das gilt für jede mögliche Theorie und gerade für die, die den positivistischen Stand bei den Tatsachen nimmt, wie überhaupt der Positivismus und der amerikanische Pragmatismus ebenso wie der marxistische Materialismus (die in diesem Aspekt eine geschichtliche Einheit bilden) ja nicht in der These bestehen, alles sei Tatsache oder Materie, vielmehr in der Behauptung, daß beides Material der Arbeit sei. Die Transzendenz ist die Bedingung der Möglichkeit der Arbeit an der „Materie". Diese Kategorie der Arbeit wird uns später in einem anderen Zusammenhang begegnen. Wie die positivistische Beschreibung der Tatsachen, so bewegt sich die marxistische Dialektik der „Produktionsverhältnisse" in dem vor- und rückweisenden Horizont der Zeit, in dem jede Tatsache ihren logischen Ort hat. Die geschichtliche Leistung des Positivismus besteht darin, daß er die Zerstörung der Substanzenmetaphysik, von der wir oben im Zusammenhang der Darstellung der Ordnungskategorie gesprochen haben, zu Ende zu denken gesucht hat. Sich auf die Ergebnisse der physikalischen Forschung seit Galilei stützend, hat er erkannt, daß das Reale durch „Dinge" nicht dargestellt werden kann, vielmehr der Name für das offene, empirische Feld von konstruktiven Operationen ist. Er hat erkannt: Reales ist kein substantiales Etwas, kein Hier als verborgener Träger apriorischer Qualitäten. Die Einheit des Universums wird zur Arbeitshypothese in der Frage nach dem Zusammenhang der Erscheinungen. Aber die Frage nach dem Zusammenhang des Gegebenen besteht als Urfrage. Sie ist dem Positivismus wie jeder erdenklichen Theorie vorgegeben. Der konstante Zusammenhang der Erscheinungen in dem Experiment ist das je und je zu Verifizierende. Aber die Frage nach dem Zusammenhang impliziert, daß das Gegebene nichts in sich selber ist. Tatsachen sind nichts. Keine Wissenschaft beschäftigt sich mit Tatsachen. Tatsachen sind Daten versinkender Augenblicke. Der Positivist beschreibt Tatsachen als Indikationen eines Zusammenhangs. Tatsachenfelder fungieren als Variables. Auch David Hume leugnet nicht „relations of ideas", die a priori sind. Er leugnet mit Recht die Substantialisierung dieses formalen logos von Relationen. Er bestreitet, wie der ihm folgende Empirismus, die substantiate Topologie der Welt. Aber die Leugnung der substantialen Darstellbarkeit dieser Welt - des Seienden - ist nicht gleichbedeutend mit der Leugnung der Darstellbarkeit als solcher, d. h. Einheitsbezogenheit 157
des Variablen der Tatsachen. Jedes Diesda, jeder Ton, jede, auch die kleinste Tonphase, jedes Partikel eines Geschehens, weisen über die Momentanhaftigkeit ihres Diesda hinaus. Das Variable ist etwas hier: reproduzierbar und identifizierbar. In dieser Funktion der Zuordnung des Hier und Jetzt zu dem Etwas geht das Variable in die Wissenschaft von den „positiven" Tatsachen ein. In gewissem Sinne kann man mit dem positivistischen Operationalismus von Peter Bridgman sagen, daß das Reale - der ultimative Zusammenhang des Seienden - ein „meaningless term" ist. Es ist ein gegenstandsloser Begriff in dem Sinne, daß ihm keine anschauliche Erfüllung in irgendeiner Beobachtung oder einem Experiment oder in irgendeinem von der Wissenschaft eruierbaren Zusammenhang (Gesetz) entspricht. Aber es ist in jeder Beobachtung als der gesuchte limes mit-präsent. Es ist der operationalistischen Konstruktion des Gegebenen mit-gegeben. Das Variable steht nicht allein. Es steht in dem offenen Horizont von es identifizierenden Erwartungen. Es ist dieser Horizont, in den jede mögliche Beobachtung von Phänomenen eindringt. Als diesen gibt es sich der des einzelnen, der empirischen Forschung bedürftigen Wissenschaft.
Hinter dem „Empirismus" von Hume über Mach und Marx bis zu Nietzsche, die in ihrer gemeinsamen Front zusammengehören, steht der berechtigte Zweifel an dem dogmatischen Wissen des unum, als ob dieses wie ein fertiger Besitz ergriffen werden könnte. Aber über der Frage der materialen Darstellbarkeit der Einheit bleibt das Problem von deren Verifikation in der unerschöpflichen Empirie des Geschehens : das Problem, daß punktuelle Augenblicklichkeit (Nichtdauer) in Symbolen der Dauer offenbar wird. Piaton stand in der Anfangsgeschichte dieses dem abendländischen Denken aufgegebenen Problems. Er blieb staunend im Timaeus vor seiner „Lösung" des Problems stehen: „Die Gottheit hat gesehen, daß das Ahnliche schöner sei als das Unähnliche." Diese „Lösung" der Seinsproblematik hat das abendländische Denken getragen - sei es aus griechischen oder analogen jüdisch-christlichen Voraussetzungen. Das immer-andere antwortet auf das nicht-andere. Hinter dem Begriff der washaften, gesichteten idea steht das zentrale Problem der Wahrheit (Realität) des Bleibenden inmitten des nichtBleibenden. Das Problem der Wahrheit des Bleibenden fuhrt 158
uns also in Dimensionen hinein, die die traditionelle Philosophie, schon aus ihrem Begriff als Lehre von dem Seienden als solchem (ontologia generalis) heraus, nicht betreten hat. Wir versuchen im folgenden, in die mae-ontologischen Dimensionen der Seinsproblematik hineinzusteigen.
§ 16 STUDIEN ÜBER DAS STERBEN UND DEN T O D
Vorbemerkung I Existieren. Essenz und Existenz Das Eine erscheint. Aber wir leben in der die Einheit zerreißenden Welt. Wir leben zerrissen. Wir geben uns ab mit Zerrissenem. Wir sind mit dem Jeweiligen beschäftigt. Das einzelne, das vom Ganzen Abgerissene, ist es, woran wir hängen, das empirisch „Gegebene". Wir leben im „Bathos der Erfahrung". Wir leben bei dem einzelnen. Aber wir stehen bei dem Ganzen. Derart zerrissen ist unsere Existenz. Wir werden die Vereinzelung des Existierens nicht los. Aber wir stehen bei dem, was die Vereinzelung überschreitet. Das Unendliche, das im Endlichen nicht Realisierbare, ist das menschliche Reizobjekt. Der Mensch reagiert (antwortet) auf das Unendliche, weil er der Vereinzelung (Endlichkeit) inne ist. Daher geht sein Wille auf das Unmögliche. Das Unmögliche, sagt Novalis, ist das „Urbekannte". Das Fernste ist das Nächste. Wir kommen von dem nicht-Erreichbaren, dem Utopischen, her. Wir stehen bei ihm als der Heimat des Menschen — domus hominis. Im nicht-Erreichbaren nimmt der Mensch seinen Stand. Dem einzelnen, dem immer anderen zugekehrt, ist er ihm je und je abgekehrt. Daher lebt der Mensch in der Zeit. Das will sagen: er ist dem Zukünftigen zugekehrt. In dem Zukünftigen, dem überschrei159
tend Erinnerten und überschreitend Erhofften, nimmt er seinen von der Endlichkeit heimgesuchten, heimatlichen Stand — dem zu-Künftigen, das durch keinen je erreichbaren Inhalt gedeckt wird. Das Sein des Seienden, bei dem der Mensch steht, ist das sich Entziehende. Wir nehmen einzelnes wahr. Wir nehmen es in seinem Daß und in seinem Was wahr. An dem Was hängt die Fremdheit, das Zufällige, das hingeworfene Daß. Seiendes ist die Begegnung des Daß und des Was, aber das Daß ist es, was das Seiende zum Unbeständigen macht - das Daß, das ständige nicht-Mehr, von dem wir als causa in dem Sinne : „causa facit effectum, sed effectus delet causam" sprechen können1). Jedes Was, jedes quale, trägt mit sich das Heimatlose der aus dem Ganzen herausgeworfenen Existenz. Aber das Was — das Identifizierbare — hängt am Sein. Existenz ist das von der Vereinzelung heimgesuchte Sein, das Unveränderliche, bei dem das wahr-Nehmen eines Seienden steht. Das Sein erscheint in seinem Was. Es erscheint als so-Sein (was-Sein, wie-Sein). Es erscheint gebrochen (entzweit) durch das Da. Es erscheint als das was-Sein des Dies-da. Schelling sprach von dem „Schmerze des Wissens". „Das ewig Beharrliche ist nur im ewig Veränderlichen darstellbar" (Novalis). Daher ist das bewegte Seiende (Wirkliche) eine „synthetische Masse". „Die ganze Anstrengung des Willens und des Denkens ist darauf gerichtet, die Fremdheit aufzuheben, in die die Existenz durch die Entzweiung gerückt ist" (Novalis, Frg. 300). Etwas Merkwürdiges ist die Qualität des Diesda. Das Maßlose sukzedierender Diesheiten (Augenblicke) wird gehalten. Aber l ) In der Tradition werden der Gottheit die beiden Attribute des Essenz und Existenz zugesprochen, wobei Existenz mit causa gleichgesetzt wird (schon sehr frühzeitig, z. B. bei Philo; vgl. H. R. Wolfson, Albinus und Plotinus on Divine Attitudes; The Harvard Theol. Rev. vol. XIV, Nr. 2,1952, p. 116), wobei in dem Falle der Gottheit causa sowohl als causa sui gemeint wird wie als causa in der Andersheit, die in den Dingen oder dem einzelnen, Endlichen wirksame Ursache im Sinne der Aufhebung der Vereinzelung, die gleichkommt der dynamisch gerichteten teleologischen Beziehung des einzelnen auf die überall anwesende essentia, die Einheit, in der das einzelne seine zeitlose Stelle findet. In der Weise von Schelling's Freiheitslehre (1809) gesprochen: die Gottheit erlöst sich aus dem regellosen Grunde, die mit ihrem Wesen als dem identisch Einen (als Sein) verbunden ist.
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dieser Halt ist nur ein „Symptom" des Alls. Das Symptom ist dergestalt „all-seitig". In dem kleinsten, unscheinbarsten Dauergehalt eines Erlebens ist das All in seinem Da existent. Das All verbirgt sich im Da (Daß). Alle Analyse des Seienden ist Analyse des sich im jeweiligen Da verbergenden Alls. Eben deshalb gilt, daß in dem Augenblick, in dem Seiendes sich in seinem Was offenbart, dieses sich gegen das Daß des Was richtet. Jeder Weltinhalt, eben weil er Symptom ist, ist zu-fällig, kontingent. Als der zu-fällige Gehalt oder das zu-fällige Gesetz der Erscheinungen steht er für das Ganze. Es gehört zum Charakter jeder Essenz (und erst hier ergreifen wir die Wahrheit der mit der Fremdheit des Da behafteten Essenz), daß sie, die Essenz (das einzelne Ding mit seinen zu-fälligen Beschaffenheiten oder das zu-fällige Gesetz), mit dem Widerspruch behaftet ist, das Ganze zu meinen, aber mit dem Zerrissenen beladen zu geschehen, daß sie zugleich diesen Widerspruch brechend geschieht. Essenz meint Tendenz. Diese in den Grund der Dinge verweisende Antinomik liegt hinter der der modernen Wissenschaft eigenen Verwandlung der „Substanz" in die „Funktion", wie in der Fortführung dieses Prozesses die Tendenz zur Formalisierung, d. h. zur Entleerung des materialen Weltinhalts, nicht nur das Resultat „moderner", seit Galilei in Fluß gekommener, szientifischer Forschung ist. Der Prozeß ist als Seinsgeschichte in der antinomischen Urstruktur des Seienden vorgezeichnet. Das Daß des Was ist die zu-fällige Stätte der Verifizierung der Symbole des Ganzen. „Diejenige äußere Erscheinung, die am mannigfaltigsten gebildet, variiert und zusammengesetzt werden kann, ist am bequemsten zur Bezeichnung des Universums" (Novalis, Fragmente 2296; Werke, ed. Selig, Bd. 4, IV, 1946). Existenz ist das Komplement der Essenz (complementum essentiae) in dem Sinne, daß sie, die Essenz, das identifizierbare Identische, auf das individuelle Diesda zurückweist: daß das Licht des Seins — die „Sonne" des platonischen Höhlengleichnisses — zerrissen erscheint. Aristoteles hat dem Diesda — genauer der infima species in ihrer Vereinzelung — eine ausgezeichnete Stelle in dem System der Klassen (der eidetischen gene) zugewiesen. Mit Recht, in11
Metzger: Freiheit
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sofern in seinen Untersuchungen das Seiende als die Stätte des Zusammentreffens von eidos (Gestalt) und hyle (Materie), von Essenz und Existenz, Thema war. Kant hat das „Dasein" — die Setzung eines Seienden in seinem Da — in seinen Frühschriften als „absolute Position" bezeichnet. Das „Sein" ( = Dasein), heißt es später bei ihm, ist „kein reales Prädikat". Er hat das Da des Seins dem, was er das „Reale", und dem, was er das „Wirkliche" nennt, gegenüber gestellt. Er hat „Dasein" den Kategorien (Prädikaten) und „Grundsätzen", die „in dem Begriffe der Erfahrung liegen", entgegengesetzt. Innerhalb des Systems der einen auf den Einen „Gegenstand" bezogenen Erfahrung wird entschieden, was „Realität" (die Qualitätskategorie) — „Real ist, was den Empfindungen korrespondiert" — und was die „Wirklichkeit" des „Gegenstandes", dessen „Dasein erkannt werden soll", meinen. Dieses alles hält sich bei aller Verwandlung, von der wir sprachen, im Lichte der platonischen und (wenn auch modifizierten) aristotelischen Gewißheit von der Wirklichkeit der Eins. Das Da des Seienden ist auf die idea, das „ens realissimum", die Eins, die alles enthält, bezogen. Nicht das einzelne, aber das, was die Vereinzelung herbeiführt, bleibt das Fremde. Die Begegnung des einzelnen (Unwiederholbaren) mit dem Allgemeinen (Wiederholbaren) - von Kant als Begriff der Erfahrung gesetzt — bleibt Urfaktum. Aber das Da des einzelnen, die „absolute Position" (die „Bestimmung unseres Gemütes"), bleibt das Dunkle. Kant fragte nach der Schematisierung der Kategorien (essentialia). Er suchte nach dem Schema (Bild), in dem das einzelne und die „Formen des Denkens" „zusammentreffen", in Hinsicht auf welches „Schema a priori" (die Zeit, „die transzendentale Zeitbestimmung") er von der „empirischen Realität der Kategorien" sprach. Die Wahrheit des Seienden ist immer das Ganze. Aber in dem Da des Seienden wird das Ganze durchbrochen. Das transzendente Dunkel der Vereinzelung bricht in das offenbar machende, einende Licht. Sein hat ein doppeltes Gesicht: es schaut als da-Sein nach oben — nach dem, was über allem Seienden, „über allem Geschaffenen,, Himmel und Erde" (Piaton) liegt, aber ebenso, als seiendes Da, schaut es nach unten. Im Zusammen162
hang der Einsicht in diese antinomische Struktur des Seienden steht die Frage nach dem Tode. Welches ist die Stelle, die der Tod im Universum des Seienden besetzt ?
Vorbemerkung II D e r T o d bei P i a t o n als A u s g a n g s p u n k t der Untersuchung. Todeserinnerung Wir sind auf den Tod vom Anfang dieser Untersuchung an ständig gestoßen. Aber wir haben das Faktum noch nicht begriffen. Es bedurfte der langen Untersuchung über Sein, Ordnung und den freien Willen, um die Sicht für seine Stelle zu gewinnen in dem Ganzen und Unvergänglichen, bei dem wir immer stehen. Wir knüpfen an die platonische Todesbetrachtung an. Wir stoßen damit in die letzte Dimension des Denkens dieses außerordentlichen Mannes vor. Wir sprachen vorher von dem platonischen Raumbegriff. Der Raum trat mit der Einsicht in das paradoxe Wesen des Kosmos auf. Der Kosmos ist von Gnaden der Einheit. Sein Ursprung liegt bei der Einheit. Aber die Eins erscheint in der Welt zerrissen. Die Einheit (sei. φύσις) „liebt es, sich zu verstecken" (Heraklit, Frg. 123). Die Einheit „erscheint" zerrissen. Die phainomena sind Ausdruck der Zerrissenheit. Das Dunkel umgibt das sammelnde Licht der Eins. Zwischen ihren sammelnden (gemischten) Wesenheiten breitet sich seine Leere aus, wie zwischen den Sternen das maßlose Dunkel des Himmels — die Leere des Zwischenraums (spatium) zwischen den Sternenlichtern. Licht ist Grenze des Dunkels. Licht zerstreut sich. Die Eins zerstreut sich in der unermeßlichen Leere. Kosmos „wird" in der Begegnung der ordnenden arche mit der maeontischen arche der Zerstreuung, des „Unähnlichen". Welt ist geschaffen (wie es die Zeit nach dem Maße der Zahl ist). Der Raum, das Nichtseiende, entzieht sich der Bestimmung. Aber ebenso entzieht sich die Eins, die ideale arche, der Be163
Stimmung. Sokrates weiß, daß die „Idee des Guten" ist. Er weiß, daß sie der Heilsgegenstand des erotischen Verlangens ist. Aber er weiß nicht, was sie ist. Die Eins ist „oberhalb der ousia". Die menschliche, erotische, von der räumlichen Ananke heimgesuchte Existenz ist an die andere rettende Ananke der Eins und ihrer Maße gebunden. In dem Zusammenhang der Bindung an die rettende, Eudaimonie bringende Eins erscheint der Tod als die fundamentale Kategorie in der platonischen Untersuchung. Piaton spricht darüber im Phaedon. „Alle, die sich in rechter Weise mit Philosophie befassen, haben es im Grunde auf nichts anderes abgesehen, als darauf zu sterben und tot zu sein, aber den übrigen Menschen bleibt das verborgen." „Wir besitzen nicht die vollkommene Gesundheit, aber wir müssen im Mut danach streben. Du und die anderen in Hinblick auf die Zukunft, ich in Hinblick auf den Tod." Das Leben wird als „Übung" (64a) zum Tode verstanden. Der Wissende sehnt sich nach dem Tode. Denn er sehnt sich danach, das Eine (Reale) zu erkennen. Erkennen impliziert die Antizipation der Sterbestunde. Im Erkenntnisprozeß ist (darüber hinaus) das Wissen von dem Tode impliziert. Was meint hier Tod? „Die Seele trennt sich von dem Körper." Die Seele leidet am Körper. Sie leidet, wie wir sagen, als Leibseele. Was macht die Verbindung mit dem Leibe leidvoll ? Die Seele leidet an der „Materie". Sie leidet an der Stätte ständiger Andersheit. Im Gorgias wird der Leib (σώμα) mit dem Grabe (σήμα) verglichen. Die Sterblichkeit des Leibes und die Triebe (ήδονή) werden zusammengebracht. Vergessenheit, Unersättlichkeit der Begierden (Lust) und Sterblichkeit werden zusammengenommen. Der Leib, heißt es, „ist das durchlöcherte Faß, in welches erinnerungslose Wesen in einem durchlöcherten Sieb Wasser tragen". Der Leib ist der Ort ständiger Veränderung: Realisationsstätte des auflösenden Raumgrundes gewissermaßen—des Maßlosen. Seine Sterblichkeit gründet in seiner Teilhabe am Räume. Die Seele leidet am Leibe. Sie leidet an dem Unwesen der Zerstreuung. Seele hat im Platonischen, wie überhaupt im Griechischen, 164
mit dem unzerrissenen Einen, der Selbigkeit, dem Realen, zu tun. Die Seele „wohnt" bei der Eins, dort, wo die Welt als Eine vernehmbar ist. Seele lebt von Gnaden des Unsterblichen. Sie, das „sich selbst Bewegende" (Phaedros), ist das von dem immer Selben Bewegte. Als solche ist sie der bewegende Grund der Welt: bewegende Einheit. Das Universum ist lebendig, nicht weil es „organisch" (wie gesagt wird) verstanden wird, sondern weil es Eines ist. Seele ist die Macht der Einigung zur Eins im zerreißenden Räume. Seele ermächtigt, ermöglicht Welt. Sie ermöglicht das entfaltete Leben der Eins. Das meint Piaton, wenn es in den „Gesetzen" heißt, daß die Seele die „Ursache" des Geschaffenen ist. Aber das Ermöglichte ist nicht das Ermöglichende. Das, was die Seele schafft, ist nicht das, worin sie „wohnt". Die Seele wohnt bei der Eins, dem Nichtzusammengesetzten (Phaedon), dem Nichtgespaltenen. Die Welt ist nicht das Haus der Gottheit. Daher wird die Seele „überhimmlisch" genannt. Sie hat ihren Sitz auf dem „Rücken des Himmels". Sie lebt in ihrem Werk, aber sie ist nicht von Gnaden des Werkes. Seele ist der Name für die Begegnung mit dem „wirklichen Sein" (vgl. Phaedros XVII). Das Vernehmen, das Gespräch, der Dialog mit der Gottheit, ist ihr Attribut - das Gespräch mit ihrem eigensten Gegenstand. Das sokratische „Erkenne dich selbst" ist ihr ureigenstes Medium (wie „Epinomis" 986 d ausführt). Die Seele, ihren eigensten Gegenstand erkennend, reicht in den Seinsgrund der Welt. Seele ist kein „psychologisches" Phänomen. Was in dem Begriff der Seele und ihrer Identifizierung mit der Macht der Selbigkeit im Universum bei Platon zur Darstellung kommt, ist nicht — oder nicht wesentlich — Mythologie, sowenig das kantische Subjekt (das nicht Objekt werden kann) mythologisches Erzeugnis ist. Von dem Seienden ist die Rede. Von der Einen Welt wird gesprochen: von der Welt als dem Gegenstande logischer Anordnung und Gliederung. Seele meint den archontischen Grund der Möglichkeit dieser Anordnung. Der Seele wird die Eigenschaft der Unsterblichkeit zugesprochen, nicht nur, weil sie bei dem Identischen, das das zeitliche Geschehen durchbricht, dem Sein, „wohnt", sondern auch und zumal, weil Seiendes ist. „Seele kann nicht zugrunde gehen 165
und entstehen, sonst müßte der ganze Himmel und die ganze Entwicklung der Welt zusammenstürzen und zum Stillstand kommen, um niemals wieder einen Anstoß zu erhalten zur Bewegung und zum Werden" (Phaedros). Der Leib hat mit Sterben zu tun. Die Seele als unsterbliche, als der Seinsgrund der Dinge, hat mit dem Tode zu tun. Was heißt - in dem Zusammenhang der Frage nach dem Seinsgrunde der geordneten Welt - der Tod? „Beim Betrachten mittels des reinen [sich erinnernden1)] Denkens scheint uns gewissermaßen die Todesgöttin mit sich davon zuführen; denn solange wir mit dem Körper behaftet sind und unsere Seele mit diesem Übel verwachsen ist, werden wir niemals in vollem Maße erreichen, wonach wir streben; es ist dies aber, wie wir behaupten, die Wahrheit" (Phaedon, 22-24) — die Wahrheit, deren sich, wie wir sahen, der ungelehrte Sklave im „Menon" als des die Dinge in Proportion setzenden Maßes „von sich aus" erinnert. Der Erinnernde sehnt sich nach dem Sterben als der Durchgangsstätte zum Tode. Der Tod ist nicht der „Parzenschnitt", als ob das Leben mit dem Sterben des Leibes aufhörte. Tod meint, daß in seiner Welt durchbrechenden Unterwelt der von der Einheit bewegte Weltgrund rein, ungetrübt bei sich ist. Das Leben (Seele) wird durch das Sterben mit dem Weltgrunde vereint. Der Tod hat keine Stelle in der dinglichen Welt. Die Welt, in der wir wahrnehmen, ist nicht die „Wahrheit". Der Tod liegt vor der Vereinzelung. Er ist dasjenige, in dem „alles eines ist und eines alles", wie Heraklit sagt. Wir werden von dem transzendenten Wesen des Todes noch zu sprechen haben. Der sich-erinnernd-Wissende hat nicht Sehnsucht nach dem Sterben. Er hat Sehnsucht nach dem Tode. Es ist der großartige Gedanke, der bei Piaton hier hervortritt im Zusammenhang mit dem von der sinnlichen Wahrnehmung, von dem vielfältigen Da des Seins, dem Phänomenalen, zum Allgemeinen aufsteigenden Denken, im Zusammenhang mit dem Prozeß der Generalisierung oder genauer: mit der platonischen Intention, die Dinge von der den Schein ihrer erscheinenden Gestalten übersteigenden, gestaltlosen Eins her zu denken, 1)
Einschub des Verf.
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mit dem alle Morphologie übersteigenden, auf Mathematisierung des Seienden gerichteten Denken - es ist der große Gedanke, daß an dieser Stelle die Seinserinnerung mit der Todeserinnerung verschmilzt. „Wenn die Seele in ihrer eigenen Weise dächte, das wäre kein Bemühen um den Tod?" Der Erinnernde hofft den Tod. Er denkt „angesichts des Todes", weil er sich danach sehnt, das Seiende frei von dem zerstreuten Da seiner Phänomene zu erkennen. Der „wahre Hades" (Phaedon) ist der Ort der Erfüllung dieser Sehnsucht. Im Hades ist die Seele bei ihrem eigensten Gut — der einfachen Eins. „Angesichts des Todes" steigt der Erkennende von dem „Konkreten" zu dem „Abstrakten" auf — zu den Symbolen der ungespaltenen Einheit. Die Seele ist im Tode mit dem Weltgrund vereinigt. Die Urquelle aller Erinnerung (Erinnerungsgewißheit) ist der verschüttete Weltgrund. Das Abstrahieren von der Vielheit der Arten und Gattungen: die Methode, die Gattungen (dihairetisch) aufzulösen bis zu ihren letzten atomistischen Wesenheiten und das Begreifen der Dinge im Lichte dieser elementaren Einheiten, in denen die identische Eins sich wiederholt, geschieht „angesichts des Todes". Seinserinnerung verschmilzt mit der Todeserinnerung, weil der Gegenstand der Erinnerung (wie der Hoffnung) die der Zerstreuung überlegene Eins ist, in der alles enthalten ist wie „in dem unzerlegbaren Punkte die zerlegbare Linie, in der Linie die Fläche." Es ergibt sich, sagt Aristoteles einmal, Piaton kommentierend, daß „so alles Eins sein wird". In der Tat liegt die „Rettung der Phänomene" für Piaton in der Auflösung des Weltkonkrethaften, der materialen Weltwesenheiten, dergestalt, daß es ihm nur darauf ankommt, das Wiederholbare, die allumfassende Maßeinheit, die unzusammengesetzte, einfache Einheit zur Darstellung zu bringen. Das Entscheidende nun ist, daß das Denken der Welt im Lichte dieser gestaltlosen Parousie (Ewigkeit) „angesichts des Todes" platonisch zum Vollzuge kommt. Bei Aristoteles ist nicht nur der platonische Begriff des Raumes (und der „Grenze in dem Unbegrenzten"), sondern, was eng damit zusammenhängt, der Tod um seine metaphysische Bedeutung gebracht worden.
Orpheus singt das Lied des Apollon (der Weisheit) in der Erinnerung an die Geliebte, die bei der Todesgöttin weilt. Man 167
muß den platonischen Gedankengang aus allem Legendaren herausnehmen oder vielmehr die Legende in ihrer prinzipiellen, in die Frage nach dem Grunde der Realität des Bleibenden hineinreichenden Bedeutung fassen. Das Bleibende der Welt, in deren Veränderlichkeit des Scheins und der Erscheinung wir sinnlich existieren, weist auf etwas zurück, was nicht welthaft ist. Der Tod tritt bei Piaton in der Reflexion auf das Bleibende (Reale) in der Maßlosigkeit des räumlichen Werdens auf. Piaton reflektiert auf das problematische, Bleibendes und nicht-Bleibendes in sich enthaltende „Wesen" des Seienden. Die UnterWelt der Toten ist der Ort der von aller Gemischtheit mit der Andersheit befreiten Selbigkeit. Es ist die Bedeutung des Hades als des ursprünglichen Ortes stehender Gegenwart, was das platonische Denken als das Wissen von dem unterirdischen Grunde der Dinge mit sich trägt. Es ist die Todesparousie, deren sich der Denkende (Sehende) erinnert, wenn er die Welt sehnsüchtig in der Parousie begreift. Seine Gewißheit von der Teilhabe der Phänomene an dem zeitlos Wiederholbaren hat die Quelle in dem Wissen um den Tod. „Aus dem Toten entsteht das Leben und die Lebenden", so heißt es im „Phaedon". Das Leben des Universums entsteht als die Symbiose von Sein und nicht-Sein. Dergestalt nimmt es am Tode wie am Räume teil. Nach diesen voranzeigenden Bemerkungen beschäftigt uns folgende Frage : Was liegt phänomenologisch an Sachgehalt vor, daß dem Tode in der Frage nach dem Grunde des Wirklichen die konstitutive Bedeutung zugesprochen wird?
a) U n t e r s u c h u n g e n ü b e r das S t e r b e n α) Typen des Sterbens. Mors corporis — mors anirnae Das Sterben ist nicht der Tod. Der Mensch wird alt. Die Kräfte verfallen. Der Mensch stirbt. Zum Sterben gehört als Horizont das Zeugen, das Wachstum, der Zerfall. Das Sterben ist die untere Grenze dieses Horizontes. Die Sterbestunde, „der letzte Atemzug", das Gestorbensein gehören in den Prozeß des Lebens hinein. Das Faktum des Todes überschreitet diesen Pro168
zeß. Der Tod als Faktum durchbricht das Leben. Der Tod ist dem Leben, seinen Perioden des Wachstums und des Verfalls, den das Ende des Lebens begleitenden Krankheiten oder Katastrophen bis zum letzten Augenblick transzendent. Der Tod ist selbst dem Ende des Lebens transzendent. Was wächst und zerfällt ? Zwischen Geburt und Sterben liegt die menschliche Gestalt. Gestalt meint (wie auch immer in ihren Phasen der Kindheit, der Jugend, der Reife und des Alters) Einheit in einem Mannigfaltigen: den menschlichen Leib als organismische Einheit, das Leib-Ich als Einheitsfeld der Empfindungen, das Ich als versammelnde Macht der Erinnerung und der Erwartung (Hoffnung). Das Leben des Menschen meint den in dem Mannigfaltigen waltenden Willen zur Einheit. Die menschliche Gestalt ist der Ausdruck dieses Willens. Sterben besagt: der Wille kommt um seine Macht. Die Macht der Versammlung versinkt. Vis (potentia) unitatis versinkt. Die Gestalt löst sich auf. Grundsätzlich kann gesagt werden : nicht nur das menschliche Leben, sondern jedes Lebendige und nicht nur jedes Lebendige, sondern auch das Unlebendige ist Stätte der Gestalt. Gestalt aktualisiert sich in jedem Seienden in dem Sinne, daß jedes Seiende Einheit in einem Mannigfaltigen darstellt. Mensch, Tier, Pflanze, anorganisches Ding nehmen in ihrer Weise an der Einheit des Seienden teil. Wie wir von verschiedenen Ordnungen (Ordnungstypen) der animalischen Wesen sprechen und diese wieder unterscheiden von dem den Animalien zugrunde liegenden Ordnungszusammenhang der physikalischen Materie, so unterscheiden wir beides von dem Ordnungstypus der Einheit, die in der menschlichen Existenz und in dem Zusammenleben der Menschen erscheint — in Existenzen, die ihres Existierens inne sind. Ebenso unterscheiden wir verschiedene Weisen der Auflösung der Einheit je nach der Seinsart, der ein Seiendes angehört. Jede Seinsart hat ihre spezifische Weise des Verfalls, wie sie spezifische, regionale Weise (Erscheinung, Gestalt) der Einheit oder des Seins ist. Leben in dem spezifischen Sinne der organismischen Einheit, definiert als dasjenige, worin die Teile durch das Ganze bestimmt sind, worin die Ganzheit als „unableitbare Kategorie" (Driesch) 169
auftritt oder, wie Hegel sagte, worin „die Einheit sich in sich erhält"—der Organismus, der sich in den Tendenzen der Organe zur Betätigung der ihnen zugewiesenen Funktionen auslebt, stirbt. Die Ganzheit fällt auseinander. Wir sagen: das Wesen verwest. Der Leib wird zum Körper. Aus dem funktionellen Ganzen wird ein Aggregat. Verwesen heißt: aus den Teilen werden Stücke — der Prozeß der Auflösung einer vordem „lebendigen" Einheit in ein physikalisches Objekt, d. h. in eine Einheit oder in die Seinsart eines Seienden, das nicht mehr in organismischer Zweckbezogenheit gegeben, nicht mehr darstellbar ist durch Begriffe teleologischen Ursprungs, sondern durch Symbole, in denen die konstante Verbindung von Geschehnissen zum Ausdruck kommt, Symbole, die ihre physikalische Darstellung in Differentialgleichungen finden. Damit ist gewiß nicht gesagt, daß der Unterschied von Lebendigem und nicht-Lebendigem in der chemisch-physikalischen Konstitution des materialen Substrats liegt, und gewiß ist nicht impliziert, daß angesichts des Übergangs des Organismischen in das Anorganische die Einheit des Seienden aufgehoben ist oder, korrelativ gesprochen, daß die Einheit wissenschaftlicher Methodik der Analyse gegenüber den Lebensphänomenen prinzipiell problematisch geworden wäre. Ebensowenig ist damit gesagt, daß die Einheit des Unlebendigen im Sinne strenger Kausalgesetzlichkeit zu fassen sei. Beseelte, belebte, organische, anorganische Materie bildet ein unauflösliches Ganzes. Es ist dieses Ganze, in welchem Entstehen und Vergehen, Leben und Sterben in ihren je spezifischen Phasen zu begreifen sind. Der „gewöhnliche" „Tod" ist der Trennungsprozeß von Leben und Organisiertem. Aber die Gestalt bleibt. Die Einheit ist das Mächtige. Tod und Leben sind relative Begriffe. Seiendes ist ein „ständiger Erneuerungsprozeß, der nur von der Seite den Schein eines Vernichtungsprozesses hat" (Novalis, Fragm. 503). Wo immer das Universum des Seienden Thema ist, hat zwar das Sterben, das Endliche, aber nicht der Tod seine Stelle. „Der Tod ist nicht, wenn wir sind, und wenn er ist, sind wir nicht" (Cicero, Cato Maior, 18, 66). Es ist im Zusammenhang des Universums, daß Spinoza aus dem Gedanken der Stoa heraus den Satz prägen 170
konnte: „Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachsinnen über den Tod, sondern ein Nachsinnen über das Leben" - Leben in dem Sinne, in dem später Herder in Anlehnung an Leibniz von Leben als einer „ewig rastlosen (monadischen) Kraft" sprach und von Tod (Sterben) als „Verwandlung" der „Wirkung" dieser Kraft. Diese Substanz des Universums hat dann bei Kant, wie wir gesehen haben, die Bedeutung des freien, zeitlosen Subjekts angenommen, das der Natur als Einheit in der Mannigfaltigkeit zugrunde liegt und es für Kant wie für Goethe oder Leibniz oder Spinoza unmöglich gemacht hat, dem Tode zu begegnen. Der Tod hat in ihren Systemen keine Stelle im Universum. Er ist für den „Weisen" kein Problem. Was eine Stelle hat, ist das, „was aufhört". Es „hängt mit einem anderen zusammen und wird somit durch dieses beschränkt" (Hegel). In alledem aber begegnen wir nicht dem, was menschliches Sterben in dem spezifischen Sinne im Universum meint, stoßen wir nicht auf das, was der Mensch von Anfang an erfährt, wenn er in der nachkindlichen Gebrochenheit seines Daseins von dem Werden, dem Entstehen und Vergehen, dem Geschehen in der Welt, in der er existiert, ergriffen und zeitlebens festgehalten wird. Menschliches Sterben kann nicht verstanden werden, wenn nicht die typisch verschiedene Seinsart verstanden wird, in der ein Seiendes existiert, das wir Mensch nennen. Dieses Seiende unterscheidet sich von allen nicht-menschlichen, tierischen, pflanzlichen oder anorganischen Existenzen dadurch, daß es des Existierens (Geschehens) in der Welt und zumal seines eigenen inne ist. Inneseiend seiner selbst, antwortet dieses Existieren auf sich selbst. Der Mensch antwortet auf Natur (natura = moritura). Augustinus spricht von mors corporis und mors animae. Was wir die Seele des Menschen nennen, meint die Zweidimensionalität des Existierens (Geschehens). Der Mensch ist das Existieren, das von sich selbst weiß. Wir existieren und sind unseres Existierens inne. Menschliches Geschehen ist von der vor aller thematisierenden Selbstreflexion liegenden, inneren war-Nehmung begleitet. Wir leben nicht nur—wir erleben, was wir leben. 171
Den Baum draußen wahrnehmend, nehmen wir unser Wahrnehmen wahr. Die Geliebte liebend, sind wir des Liebens inne. Wir sind des Existierens inne, d. h. wir sind des Ausgesetztseins der Existenz in das Ende inne: in das in die Kontinuität der Existenz hereinbrechende und sie unterbrechende Jetzt des Geschehens. Wir wissen von Schicksal. Wir wissen von Sterben. Wir wissen von der Endlichkeit aller Dinge und zumal des Dinges, das wir selber sind. Menschliches Dasein ist nicht nur endlich, sondern es weiß um seine und der Dinge Endlichkeit. Seiner selbst inneseiend, leidet der Mensch an sich. Er leidet am Endlichen. Menschliches Leiden geschieht im Lichte des inneren Wissens um Existenz. Daß der Mensch dergestalt die des wissenden Leidens mächtige Existenz ist, das macht ihn groß. In dieser Möglichkeit unterscheidet er sich von allen anderen Lebewesen. Im Wissen ist er leidend, im Leiden ist er wissend. Wissendes Leiden heißt, daß der Mensch das Existieren bereits überstiegen hat. Im Innnesein sind wir über das augenblickliche Jetzt des Geschehens bereits hinweg. Menschliche Transzendenz (Überstieg) gründet in all ihren Formen in dem ursprünglichen Leiden an dem versinkenden Jetzt, dem sie ausgesetzt ist — einem Wissen, das unser Leben und Erleben bis zum letzten Jetzt als unaufhebbare Konstante begleitet. Der Mensch in seiner Möglichkeit (Mächtigkeit), d. h. in seinem Hinausgehenkönnen über den hereinbrechenden Augenblick (Tatsachen): in dem Verschwenden seiner Triebe und seiner Leidenschaften, in seiner Sehnsucht und dem Hinausdenken über alle Tatsächlichkeit, antwortet auf das Tatsächliche oder vielmehr auf die sich in den Tatsachen aktualisierende Endlichkeit. Der Mensch leidet an der Endlichkeit. Sein Leiden weiß von dem, was Endlichkeit überschreitet. Es mißt sich an dem Maßstab des Leidens. Es mißt sich andern Maßstab desUn-endlichen, Un-sterblichen. Im menschlichen Leiden ist Wissen von Unsterblichkeit — das besagt, es ist von dem Zeithorizont (Phantasiehorizont) der Erinnerung und Hofinung begleitet. Ohne das Wissen des Unendlichen gäbe es nicht Existenz, genannt Mensch, die sich ständig übersteigt. Leidend am Existieren, leidet der Mensch aus dem heraus, was er nicht besitzt. Das 172
Geschick seiner Existenz besteht darin, daß sie von etwas getroffen wird, was sie nicht besitzen kann, aber worin ihr könnendes, transzendierendes Leben ständig gründet. Der Mensch lebt und stirbt aus dieser seiner Gründung heraus. Er existiert in der Zeit in dem ursprünglichen Sinne als dem Medium, in dem die ausgesetzte Gebrechlichkeit der Existenz ihres Sterbens im Gegenzug mächtig wird. Das Sterben des Menschen ist also nur zu verstehen, wenn wir die eben beschriebene spezifische Seinsart des Seienden im Universum begreifen. Die ihrer inneseiende Existenz stirbt — mors animae - aus ihrer eigensten Gestalt heraus. Menschliche Gestalt ist nicht erschöpft mit dem Somatischen. Nicht nur der Leib verwest. Die geschichtlich zeitliche Gestalt, die in der Tradition Seele genannt wird, zerfällt.
ß) Der metaphysische Sinn des Sterbens. Materie als die Grenze des Lebens Verstehen wir recht: menschliche Existenz hat eine Zeitgestalt. In dieser Gestalt kommt dem Jetzt — der je und je einbrechenden Gegenwart oder dem Schicksal in dem eminenten Sinne des Wortes - die Bedeutung zu, „Träger" von Erinnerung und Erwartung (Hoffnung) zu sein. Menschliche Gestalt ist bestimmt durch den Zeithorizont dieser beiden Determinanten. Erinnerung und Erwartung haben das Eigentümliche, daß in ihnen menschliche Existenz sich als Ganzes bildet. Aber nur dann verstehen wir diese beiden dynamischen Mächte, wenn wir sie als Repräsentanten des Gegenstandes begreifen, bei dem die um sich wissende Existenz stetig und ständig zu Hause ist. Es ist die exzentrische Einheit (Sein), von der sie genährt sind. Erinnerung und Hoffnung sind Funktionen der Versammlung, in denen unser Leben mit dem fremden Schicksal fertig zu werden sucht. Dies also meint sein Jetzt, daß es in der Zeit überholt wird. Der menschliche Leib ist also nicht nur Somatisches — das Feld der Empfindungen. Was wir empfinden, ist nicht nur das 173
Empfundene. Was wir wahrnehmen, ist nicht nur das sinnlich Wahrgenommene. Der „Reiz", der Ton oder die Lichtquelle oder das Getastete usw. gehen über unsere Empfindungen und Wahrnehmungen hinüber in die Erinnerungs- und Erwartungseinheit der sich wissenden Existenz hinein. Der Leib ist nicht nur sinnlicher Leib. Als menschlicher ist er verbunden mit dem Zusammenhang der Totalität indizierenden Funktionen. Was wir sehen oder hören, drückt immer das Ganze dessen aus, was wir sind. Wir sprechen von dem Leibe als dem Ausdruck des Menschen in seiner Totalität - als des seinsoffenen, für Möglichkeiten offenen, auf das Reale (X) des Seienden bezogenen Geschehens. Nicht nur ist er das Reaktionsfeld „objektiver" Reize, sondern der Ausdruck des wissenden, seinshoffenden, erinnernden und denkenden Geschehens, wie ja das Verhältnis von Leib und Seele einerseits und das Verhältnis dieser zu den Gegenständen draußen nicht, wie die Substanzenmetaphysik und der sich ihr anschließende common sense meinen, das Verhältnis einander fremder Substanzen, sondern das Verhältnis von Geschehens- (Individuations-) typen differenten Seins sind, von Individuationszentren, in denen sich in differenten Gestalten oder Ordnungszusammenhängen das eine und selbe Sein aktualisiert. Die Leibexistenz lebt in ihren Umwelten. Jeder Leib (Leibphase) hat seine individuelle, konkrete Umwelt. Die Umwelten sind viele, aber die Welt ist Eine. Es ist die Eine Welt, die in den Umwelten der empfindenden, um ihr Existieren wissenden Existenzen (Seelen) mit-erlebt, mit-gegenwärtig ist. Empfindend, erinnernd und erwartend ist die Leibseele auf die Welt gerichtet — in dem Medium der Zeit. Aus dieser Gerichtetheit heraus sterben wir, einer Gerichtetheit, die wir, leib- und umweltgebunden, von Anfang an in den erlebnismäßigen Abwandlungen unserer Geschichte mit uns tragen. Sterben meint, prinzipiell (metaphysisch) gesehen, als die alles Seiende durchdringende, sich in allem Seienden (welcher Seinsart auch immer) durchhaltend verifizierende Kategorie, den Zerfall der Einheit (Ganzheit). In einem relativen Sinne können wir von Sterben als Ubergang des Lebendigen (Organisierten) in das Unlebendige, in das Anorganische sprechen, wie die Wissenschaft von dem Ubergang der leblosen Körper in das Immate174
rielle, die immaterielle Materie von isolierten Quanten (Lichtquanten) spricht. „Expérimenter le devenir, c'est la conscience de la mort" (Berger). Im absoluten Sinne des äußersten limes meint das Sterben den Zerfall oder die Auflösung jeder, der beseelten oder lebendigen oder unlebendigen Gestalt - den Zerfall der Materie in das Gestaltlose, das Verwesen des Seienden in das Wesenlose, in das von der Einheit verlassene Jetzt: in „die von dem Archaeus verlassene Materie" (Baader). Das Jetzt, menschlich gesehen als die untere Grenze unseres beseelten, bei dem versammelten Sein hängenden Daseins, ist das erinnerungs- und hoffnungslose Jetzt, das Jetzt, das von dem universalen Verbindungsmittel der Erinnerung und Hoffnung nicht mehr empfangen und hineingenommen wird in das Kontinuum seiner übersteigenden, stetig sich verwandelnden und erneuernden Geschichte. Mit dem zunehmenden Alter, dem versinkenden Leben, mit den das Sterben herbeiführenden oder das Leben aufhaltenden Krankheiten des Leibes (von Weizsaecker spricht in seinem Werke „Der kranke Mensch" von der Euthanasie der Heilkunst) oder der Seele verlangsamt sich die Lebenstendenz. Die Macht des Könnens entwerfender Möglichkeiten (Zukunft) wird geringer. Das Vergangene wiegt schwerer. Es wiegt länger. Das Gewordene prävaliert über das Erinnerte und das Zukünftige. Die Macht der Transzendenz entgleitet. Das Jetzt hört mehr und mehr auf, Stätte der überschwänglichen, lebendigen Zeit zu sein. Am Ende steht das weltlose Jetzt: die „Vergessenheit". „Die Gestorbenen preisen nicht den Herrn." Das Jetzt wird ausweglos. Es wird das Verschlossene. Es kommt um die Offenheit des synthetischen, das Mannigfaltige tätig verbindenden Welthorizonts. Von Kant wird erzählt, daß, als er kurze Zeit vor seinem Sterben seinen ihm seit Jahren vertrauten, alten Freund vor sich sah, ohne ihn zu erkennen, er „ohne Aufhören nach den dunklen Gründen vor sich fragte". Im Sterben begegnet der Mensch dem Jetzt in dem Modus purer Ohnmacht, dem puren Geschehen von Jetzt. Man kann von dem Sterben oder vielmehr dem Gestorbensein als dem Ende des Lebens sagen, daß in jedem Jetzt, in jedem in die Kontinuität unseres erfahrenden Lebens einbrechenden Augen175
blick die kommende Ohnmacht, wie in einem Vorgefühl des Sterbens, sich meldet: das Wissen von dem Abgrund der Faktizität, jener Faktizität des Faktischen, mit der wir es im Leben zu tun haben, die uns ständig als die fremde Materie (Objekt) fremd gegenübersteht: das Nicht-Ich Fichte's, angesichts dessen er sagte, daß unser Leben (Wissen) eine „projectio in nihilo" sei. Wie das Seiende, das wir Menschen nennen, ein Spezialfall des Seienden als solchen in dem Universum ist, so ist das menschliche Sterben ein Spezialfall des Sterbens: der Auflösung des Seienden als solchen. Sterben, sagten wir, meint, metaphysisch gesehen, den Verfall der Zeitgestalt. Am Ende steht die Materie als solche: das punktuelle Datum. Die Physik (Kosmologie) spricht von der Materie in diesem strikten Sinne. Sie hat zwar zu ihrem Thema die konstanten Zusammenhänge, in denen die Daten zueinander stehen. Sie drückt diese Zusammenhänge in Gesetzen aus. Aber sie setzt das in Daten aufgelöste Universum, das Punktuelle, voraus. Ihre Differentialgleichungen betreffen unendlich benachbarte, unausgedehnte Punkte. Ihren Formeln entspricht kein Seiendes, sondern der von aller Gestalt (Dauer) entkleidete Fluß des Geschehens, in dem Geburt und Sterben koinzidieren — die mäontische Ananke Platon's. Was David Hume mit den matters of fact — der Empirie — meinte, ist nichts anderes als die aufgelöste Gestalt des Seienden : das pure Geschehen versinkender Augenblicke, womit auch der religiöse Standort dieses aus nominalistischem Geiste genährten großen Denkers übereinstimmt. Der Nominalismus der lutherisch-calvinischen Lehre, aus der Hume hervorgegangen ist, kam bei ihm zu seiner radikalen Fassung, dergestalt, daß der Mensch, abgerissen von der Gottheit (Totalität), in die Empirie, die Materie, geworfen ist1). l
) Herder spricht in Hinsicht auf Kant's Kategorien, die auf dem Boden des Hume'schen Empirismus in der Auseinandersetzung mit ihm gewonnen sind, von einer „Kategorientafel des Nichts". „Und so wäre hier zum zweiten Male die Welt samt der Möglichkeit aller Erfahrung aus Nichts, aber auch durch Nichts zum Nichts erschaffen worden" (Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur reinen Vernunft; 1. Teil, 1799, p. 190). „Eben daß (der Verstand) sich als das energische Eins fühlet, das ein Etwas dem Nichts entreißt, ... dadurch empfängt und äußert er Sinn seines Gegenstandes" (Herder, 1. c. 180). Was bei Hume und Kant, den beiden von protestantischem Geist genährten Denkern, zum Ausdruck kommt, ist also dieses ihnen Gemeinsame, daß das
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γ) Die Transzendenz des menschlichen Sterbens „Nicht vermögen Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen Die Sterblichen eti" an den Abgrund" (Hölderlin, Mnemosyne). Das Sterben ist der Prozeß des Zerfalls der Zeitgestalt des Seienden. Am Ende steht die zerfallene Gestalt. Der Prozeß des zugrunde-Gehens — in heraklitischer Sprache : des Ausgelöschtwerdens — gehört in die Schöpfung des Seienden („ens creatum") hinein, der Prozeß in seinen variablen Typen des Zerfalls der Leibseele, der Auflösung des Organismischen und der Vernichtung der anorganischen seienden Dinge. Jedes Seiende nimmt, seiner Seinsart gemäß, an der Selbstvernichtung teil. Am letzten („absoluten") Ende steht das von der versammelndeinigenden Möglichkeit (Realität) des Universums verlassene, heimatlose, gestaltlose Urelement des Jetzt — das Ende von sich wissender Existenzen wie der Existenzen, die nicht Menschen sind. Zum Seienden gehört (a priori) Bezugszusammenhang. Es gehört zu ihm, wie wir früher sahen, Essenz und der Existenzgrund — Essenz in unserer Untersuchung immer gemeint als der zusammenfassende Name für Ordnungszusammenhang. Sterben meint, daß ordnend-geordnete Gestalt in das Ungeordnete auseinanderfällt. In der Ver-wesung der Ordnung kommt der variable, diskontinuierliche Existenzgrund zur „OfFenbarkeit". In dem Kontinuum der Welt-Ordnungen geht die Diskontinuität des Variablen um. So gewiß es ist, daß die Dinge vom Beginn ihrer Zeit und durch ihre Zeit, d. h. durch die Dauer ihres Seins hindurch, ihre Disintegration in das Variable (Dauerlose) mit sich tragen, so gewiß ist es, daß das Werden zum Sein (Dauer) dem Variablen abgerungen ist. Seiende von dem Sterben als seiner Grenze in dem prinzipiellen Sinne verstanden wird und in das Licht der philosophischen Reflexion tritt. Die „Materie der Empfindungen", das Ende der Dinge, werden zum „Bathos", in dem sich alle Begriffe zu bewähren haben - nicht nur für Hume, sondern ebenso fur Kant, gerade dann, wenn der „Verstand" als die das Mannigfaltige der Materie sammelnde Mächtigkeit der Spontaneität begriffen wird. 12
Metzger: Freiheit
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Jedes menschliche Können trägt in sich das nicht-Können. Diese in der Kontinuität der Erinnerungs- und Hoffnungszeit sich aktualisierende, gegenziehende, doppelgestaltige Mächtigkeit des könnenden Wollens ist das Material, aus dem wir gebaut sind : aus dem wir in ewiger Wiederholung uns selbst und die menschliche Gesellschaft aufbauen, zerstören und wiederaufbauen, aus dem wir die Natur erkennen — das Material, aus dem heraus wir leben und sterben. Bis zu seinem letzten Augenblick steht das Leben gegen das Sterben, und zwar so, daß das Leben nichts als seine Macht gegen das Sterben zum Ausdruck bringt. Die Macht des Menschen ist ständig letzter Ohnmacht, sein Können dem nicht-Können abgerungen. Dies ist das Einzigartige : Sterben gehört ingredient und nicht nur faktisch zu unserem Leben. Äußerste Ohnmacht gehört ingredient zum äußersten Willen zur Macht. Als Transzendenz steht Leben gegen Sterben (Ende). Aber der Schmerz der Ohnmacht (Endlichkeit) liegt in seiner infiniten Macht. Unsere wissende Existenz, wie alles Seiende an das gestaltlose, übersteigende Eine gebunden, verwest in den ungestalteten Fluß der Materie. Aber wir, die wissenden Existenzen, verwesen aus der könnenden Transzendenz heraus. Leben als sterbendes ist Stätte des durchbrechenden Könnens und Wollens. Die Geschichte des Menschen ist nicht ein Prozeß von Relativitäten, Aspekten, Perspektiven. Der geschichtliche Relativismus ist in Wahrheit der Prozeß, in dem das Leben transzendierend, suchend, verleugnend oder daran brechend auf das gerichtet ist, was es nicht selber ist. So geartet also ist übersteigendes Können, daß es im Gegenzug gegen die eigenste, es von Geburt an begleitende, verdeckte, mehr und mehr gegen das Alter und das Ende hin offenbar werdende Ohnmacht sich vollzieht, um am Ende voll in das Licht zu treten, aber auch so, daß es bis in die Grenze der Ohnmacht die Manifestation des Wohin ist, auf das es gerichtet ist. Unser Sterben ist an das, was als mehr als Sterben geschieht, gebunden. Daher ist das Können, die Kunst, in dem grundsätzlichen, alle menschlichen Entwürfe von Möglichkeiten umfassenden Sinne „symbolisch" — in dem Sinne nämlich, daß es dieser unserer des Sterbens mächtigen Existenz zuletzt nur dar178
auf ankommt, das Sterbliche: das Gesichtete und Sichtbare, zu zerbrechen. Weil wir unseres Sterbens mächtig sind, zerbrechen wir am Leben. Leben zerbricht nicht an seinem Schicksal oder an seinen hereinbrechenden Schicksalen, sondern daran, daß es seiner Macht über das Sterben nicht angemessen ist. Leben ruht in seinem Gegenstande. Daher zerbricht es an sich selbst. Sein Sterben ist nicht das Scheitern seiner Macht, sondern in seiner scheiternden Macht ist die Grenzenlosigkeit seiner gegenziehenden, dem Sterben gewachsenen Macht angelegt. Daß menschliches Leben sein Sterben und das Ende der Dinge auf sich nehmen kann, ist der höchste Ausdruck seines Willens zur Macht. Das Problem ist eindeutig, vor dem wir nun stehen. Wir haben das Sterben als Grenze des Lebens verstanden. Sterben gehört in das Leben hinein : der Prozeß des Sterbens, die Katastrophen, die Sterbestunde und das Gestorbensein. Was meint der T o d ? Welches sind die Zusammenhänge, die das mit dem Transzendenten verhaftete Leben mit dem Tode verbinden?
Exkurs Über
Symbolik
Der Begriff des Symbols nimmt in unserem Zusammenhange eine wichtige Stelle ein. Ein Symbol unterscheidet sich von dem, was wir Zeichen (index) nennen. Mit Hilfe eines Zeichens wird etwas auffindbar. Prämissen in einem Schlußsatze sind Zeichen (indices), und zwar so, daß sie auf die Konklusion hinweisen. Mit ihrer Hilfe wird der Schlußsatz auffindbar. Symbole sind keine Zeichen in diesem Sinne. Sie demonstrieren nichts. Sie sind keine Wegzeiger. Aber sie sind auch keine Bilder. Nichts wird durch sie dargestellt oder im Bilde vorgestellt. Das, was als Symbol angesprochen wird, wird als Illustration verstanden - für etwas, was in dem All des Auffindbaren und Darstellbaren nicht angetroffen wird. So nennen wir die pythagoräischplatonischen Zahlenverhältnisse Symbole für das transzendente „Gute". So ist die Palme Symbol für „Sieg" - oder der Fisch in der Hand der frühchristlichen Statuen nicht so sehr „Zeichen" für 179
Jesus als den bestimmten, in Palästina lebenden Menschen, als vielmehr das Symbol für den „Retter" und „Sohn Gottes", wie das christliche Kreuz Symbol ist für das Mysterium der Macht über das Sterben und der Auferstehung, für etwas, was alle Darstellbarkeit überschreitet. Das Symbol ist nicht Zeichen für etwas Darstellbares. Gewiß, was das Kreuz zum Symbol macht, ist das Merkmal des Kreuzes, eine bestimmte, in diesem Stein oder in diesem Holzstück ausgezeichnete Figuration. Aber es kommt doch wieder nicht auf dieses sinnlich gegebene Merkmal an, sondern darauf, daß in diesem Merkmale etwas versinnbildlicht" wird, was eben es selbst wie alle sinnliche Anschaulichkeit, auch alle bildliche Darstellung überschreitet. In dem Symbol kommt das Beziehungsverhältnis, so möchte man sagen, des Menschen zu dem Transzendenten, d. h. zu dem alle Gestalthaftigkeit durchbrechenden X zum Ausdruck. Symbole „illustrieren", das Illustrierende wird verstanden („interpretiert"). In diesem Sinne nennen wir sie eben nicht Bilder, sondern Sinnbilder. Sehend die Madonna mit dem Kinde, ist der Fromme mit dem Mysterium göttlicher Gnade verstehend verbunden. So sprechen wir von symbolischer Kunst. Jede echte Kunst ist symbolisch. Es kommt dem „begnadeten" Künstler nicht darauf an, die Natur abzubilden. Es kommt ihm auch nicht auf die Kunst um der Kunst willen an, wie der Begriff l'art pour l'art mit dem Wesen der Kunst und überhaupt aller (Handwerk, Wissenschaft, und Politik einbegreifenden) techne unvereinbar ist. Dem Künstler kommt es darauf an, daß die Farben, die Färb- oder Tonharmonien, der Rhythmus der Töne usw. für etwas stehen, was sie sinnbildlich repräsentieren und was macht, daß der Künstler in der Geschichte steht, die ihn von Kunstwerk zu Kunstwerk verwandelt: mit zunehmender Maturität seines Könnens und mit zunehmender Erfülltheit seiner Aufgabe kommt es ihm mehr und mehr darauf an, daß das, was er darstellt, nicht das ist, was er meint. Zu jeder Symbolik gehört die Vergleichgültigung des sinnlich und konkret Anschaulichen, natürlich nicht so, daß diesem sinnlich anschaulichen und gestalteten Material keine Bedeutung zukommt, aber so, daß es in seiner Darstellung je und je als Sinnbild des Gestaltlosen gemeint ist: die mit dem exzentrischen Gegenstande der Eins (des Bleibenden) verhaftete, endliche, ihrer Endlichkeit mächtige Existenz in der Illustration zum Ausdruck bringt. Wenn Piaton in der höchsten Reife seines Werkes (in seiner letzten Vorlesung) das Gute als Thema hat, so spricht er von den Zahlenver-
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hältnissen als seinen Symbolen. In einem radikalisierten Verstände ist die neuere Wissenschaft symbolisch darin, daß sie in ihrem formalisierenden Verfahren des empirisch Gegebenen, der variablen Materie, nur die Funktion der Verifizierung ihrer invariablen Formen, aber nicht mehr die Funktion ihrer anschaulichen Darstellbarkeit zuspricht. Vielleicht ist diese Abstraktion von dem Dinghaften dasjenige, was in der neueren Kunst als Tendenz nach Ausdruck sucht, wie man überhaupt den Prozeß der Vergleichgültigung des leib- und umweltgebundenen Menschen und seiner partikularen Schicksale als die Tendenz unserer Epoche - auch in ihrer sozialen Sehnsucht - bezeichnen kann, derart, daß sie mehr und mehr darauf gerichtet ist, der Bindung unserer Existenz, wie jedes hier und jetzt Gegebenen, an das Allgemeine, Zusammenbindende den neuen und verwandelten Ausdruck zu geben. (Vgl. dazu unsere späteren Ausführungen über symbolisches Denken.) Wir verfolgen diesen Sachverhalt in der Wissenschaftsentwicklung : Ein Symbol re-präsentiert eine Erscheinung (Vorgang), und zwar so, daß diese innerhalb eines durch bestimmte Determinanten definierten Systems ihren „meßbaren" Ort hat. Symbole sind Determinanten einer ihnen zugehörigen Systemeinheit. So sprechen wir von Zahlsymbolen als Determinanten des Zahlsystems. Wir drücken in der empirischen Wissenschaft durch Symbole gewisse Erscheinungen aus. Wir messen sie. So geschehen die subatomalen Quantenvorgänge (Elektron, Neutron usw.) oder die Lichtaberration oder die Farbenskala im Prisma als (meßbare) Korrelate von Zahlsymbolen. Ähnlich in der Musik: der Ton in einem Musikstück ist Korrelat von Symbolen; er hat seine Stelle in einem System, in dem harmonisch oder kontrapunktisch bestimmten Ganzen. Er geschieht nicht als dieser Ton in der Musik, sondern als eine das Ganze repräsentierende Erscheinung und kann nur aus diesem Ganzen heraus gemessen (aesthetisch verstanden oder erkannt) werden, ganz analog wie Lichterscheinungen oder die Verteilung von Quanten in den Feldern oder Quantenvorgänge nicht „an sich", sondern als meßbare Phänomene in der Wissenschaft geschehen. In der „modernen" Wissenschaft wird angestrebt, daß an die Stelle der Darstellung der Phänomene als Qualitäten der ihnen akzidentiell oder essentiell zugehörigen Substanzen ihre Darstellung als Stätte der Verifikation von Symbolen oder von Theorien tritt, d. h. die Phänomene sind Koordinatensystemen zugeordnet, die ihrerseits auf die Identität des Ganzen, d. h. das vierdimensionale
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Kontinuum, bezogen sind. Diese Zuordnung des Erscheinenden zu einer Theorie tritt an die Stelle seiner Darstellung in einer Welt von Substanzen mit inhaerenten Qualitäten. Innerhalb dieses invariablen, durch Zahlgesetze determinierten Systems werden die Phänomene als „Größen" exakt oder statistisch gemessen oder er-kannt. So ist die Ausdehnung - der Raum, extensio - kein „an sich" bestehendes Etwas („Absolutes"), sondern ein meßbaren Zahlsymbolen zugeordnetes Phänomen, wie bereits bei Leibniz der Raum als Ordnungsform der Phänomene auftritt. Zeit und Raum geschehen als Ordnungsformen, d. h. als Determinanten der Identität des Ganzen (Einheit), mittels derer räumlich-zeitliche Erscheinungen gemessen werden. Der Vorgang selbst, das sinnlich anschaubare räumlichzeitliche einzelne, wird als Variables in diesem System des Invariablen begriffen.
b) U n t e r s u c h u n g e n ü b e r den T o d α) Die Unanschaulichkett des Todes Der Tod als das Transzendente
Wir erfahren die Vernichtung des Lebens. Die Frage nach dem Tode kann nur gestellt werden aus dem Wesen des spezifisch Seienden her, das wir Leben nennen : das organismische, das tierische oder das seelische Leben. Der Tod (nicht das Sterben) ist der Gegenbegriff des Lebens. Aber wie ist der Tod gegeben ? Wir erfahren das Altern des Menschen, das Abnehmen seiner Kräfte. Wir sehen das Verwelken der Blätter. Wir erfahren das Dahinsterben und schließlich das Gestorbensein. Alles das ist nicht Erfahrung des Todes. Wir erfahren das Sterben. Wir erfahren den Weg zum Tode. Wir erfahren die Destruktion des Lebens. „Er ging dahin" („he passed away"), steht in den Todesanzeigen. Zwar besteht ein Zusammenhang zwischen Sterben und Tod, aber doch nur so, daß wir im Sterben und Gestorbensein den Tod „mitsetzen". Wir setzen ihn mit. Aber er ist nicht erfahrbar. Erfahrbar ist das Leben und seine Grenze, das Sterben und der letzte 182
Augenblick. Das Mitsetzen des Todes ist ein Lebensakt. Wir erfahren die Grenze des Lebens. Aber der Tod steht jenseits der Grenze. Wir haben, indem wir das Sterben erfahren, eine Intention auf den Tod, aber diese Intention bleibt leer, ohne Erfüllung. Der Tod ist nicht anschaulich zu machen. Er ist nicht bestimmbar, wie alles Seiende (auch das Sterben) bestimmbar, identifizierbar ist. Der Tod ist nicht Gegenstand, kein möglicher Gegenstand der Erkenntnis. Er ist unanschaulich, unidentifizierbar, ungegenständlich. „In einer aller Erfahrungsweise unverträglichen Art gegeben" (Scheler), ist er kein „Phänomen" im phänomenologischen Verstände. Durchbrechend alle intentionale mögliche Gegebenheit, ist er in seinem Daß und Was kein „Subjekt von möglichen Prädikabilien". Das Faktum des Todes durchbricht alle Intentionalität. Insofern nennen wir ihn transzendent. Die Frage nach dem Sein (Gehalt, Wesen) des Todes ist eine sinnlose Frage. Nur bei Seiendem können wir nach Gründen fragen. Nur bei Seiendem findet der Satz vom Grunde Anwendung. Nur Seiendes kann offenbar gemacht werden. Nur auf Seiendes bezieht sich die Frage nach der offenbar machenden, seine Eine Wirklichkeit gründenden Wahrheit. Das Seiende und das Leben als ein Spezialfall des Seienden können in ihrer Wirklichkeit enthüllt werden. Der Tod ist das Unenthüllbare, das nicht Offenbare, auch nicht das verborgen Offenbare, was die negative Theologie von der Gottheit aussagte. Er hat keine ihn offenbar machenden Gründe. Der Tod ist das grund-los Verschlossene. Und jenes Transzendente, das jenseits der Grenze des Lebens, seiner wachsenden und versinkenden Möglichkeiten, jenseits selbst des Endes seiner Ohnmacht steht, das nicht mehr in das Leben und Sterben gehört (wie das Variable oder die Materie noch in die Dynamik des Seienden gehören), erfährt nun in den Stellungnahmen des Lebens seine Deutung. Wir sprechen von der Unterwelt, dem Reich der Schatten, dem Parzenschnitt, der Trennung von Leib und Seele usw. Wir bilden Legenden oder Mythen über das Transzendente aus, wie sich der Mythos und die Legende überhaupt immer auf das Transzendente beziehen. Wir unternehmen Todesdeutungen. Mit alledem suchen wir 183
den Tod einzuordnen in das lebendige Dasein als ein Ganzes, oder auch das Leben mit seinem Ende wird eingeordnet in die Todesdeutung. Aber das Faktum besteht. Tod als Faktum durchbricht Leben, die Prozesse seines Sterbens und selbst die Verwesung des Gestorbenen. Er durchbricht alle Deutung. Der Tod hat wie das Nichts kein Wesen. Unwissend und erschüttert steht die von ihrem Sterben wissende Existenz vor seinem Daß. Thomas Aquinas sagte von der Gottheit, daß „wir (zwar) wissen, daß sie ist, aber nicht wissen, was sie ist". Jedoch die Wesenlosigkeit der Gottheit — des über alles Seiende hinausstehenden Seins — ist etwas anderes als der vom Wesen nicht berührte Tod. Das Sein („infinitum esse") steht in unser Dasein hinein. Wir sind mit ihm verbunden, auch darin und gerade darin, daß es alles Dasein überschreitet und sich entzieht. Sein ist Heimat allen Daseins, nicht nur des Menschen. Aber der Tod ist das Fremde. Seine Wesensfremdheit ist jedoch wieder etwas anderes als die Wesenlosigkeit der variablen Materie, des „Wüsten" und Undefinierbaren, von der wir als der Grenze der Destruktion des Seienden gesprochen haben. Wir werden darzustellen haben, wie das Sein und die Materie, die beiden Grenzbegriffe des Seienden1), „nach oben und nach unten" mit dem beide durchbrechenden Faktum des Todes zusammenhängen. Tod durchbricht seine Deutung. Er durchbricht das Dasein in seinem höchsten Willen zur Macht und in seiner äußersten, in Materie aufgelösten Ohnmacht — Dasein in der „schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit", die nicht identisch ist, wie gesagt wurde, mit dem Umschlag des Daseins in das bloß Vorhandene. Ohnmacht ist der Gegenspieler der Macht und gehört als solcher zu ihr. Der Tod durchbricht beide. „Der Tod ist nur, wenn er nicht ist, und er ist nicht, wenn er ist." Diesem Satze aus dem stoischen Gedankenkreise fügt Feuerbach, der ihn übernimmt, noch hinzu: „Der Tod hat nur Realität in unserer Vorstellung". Der Tod „ist" nicht. Das will besagen, die Seinskategorien, die das Dasein entwirft (wozu auch die des Seienden von der Seinsart existierender Dinge und des Seienden von der Seinsart des Menschen, der um sich wissenden Existenz
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Kategorie der Ohnmacht gehört), passen nicht auf ihn, und selbst die Legenden und Mythen sind von ihm durch den Abgrund totaler Fremdheit geschieden. Der Tod hat keine Stelle im Universum. Daher hat er in der traditionellen Philosophie als Seinslehre des Seienden keine Epoche gemacht. Die Wissenschaft — insbesondere die Biologie, die von dem Leben, seinem Aufbau, seinem Wachstum und seinen Degenerationserscheinungen handelt, ebenso wie von dem Sterben des Lebendigen — kann mit ihm nichts anfangen. Er ist das enfant terrible des Denkens, das sich in der Wissenschaft als Lehre von der „Natur als Einheit der Gesetzgebung" etabliert oder in der Philosophie als Seinslehre, als Ordnungslehre, als Kategorienlehre. Die Philosophie speziell („Metaphysik") als Seinslehre (wie auch in ihrer Vollendung bei Kant als Lehre von der Zeit als dem Grunde der Möglichkeit der Seinsidee) ist mit dem Tode nicht fertig geworden. Der Tod wurde ignoriert. Er wird von dem traditionellen Denken ignoriert, weil er als Ereignis außerhalb des Gegenstandes des Denkens liegt — außerhalb des wollend denkenden Daseins und seiner intentionalen Bereiche. Aber wiewohl er als Faktum des Umschlags Leben durchbricht, erfahren wir ihn als Macht inmitten unseres Lebens. Man kann nicht sagen, daß wir vom Tode nur wissen durch den Tod eines anderen oder eines Tieres oder den Tod einer Pflanze. Eine einzige Lebens- und Erlebnisphase genügt, von ihm zu wissen. Der Tod begleitet unser wachsendes, reifes und versinkendes Leben nicht sowohl als Antizipation des Endes seiner Kontinuität, er ist vielmehr in dieser Kontinuität mitanwesend. Diese in der Anschauung unerfüllbare Mitgegebenheit des Todes ist etwas anderes als das Vorfühlen des Endes oder der Todesnähe oder des Todes als des Gegenstandes der Angst. Angst ist nicht das genuine Zugangserlebnis zum Tode. In unserem wahrnehmend-erinnernd-hoffenden Leben liegt er als unabtrennbares (dieses Leben selbst möglich machendes, wie wir noch deutlicher sehen werden) Ingrediens, darin, daß dieses Leben der Materie (Empirie, Augenblick), ihrem Versinken, ihrer Vernichtung und der in der Vernichtung mitgesetzten Macht der Vernichtung verhaftet ist. 185
Die Kategorie der Angst gehört nicht in die Dimension der ursprünglichen Todeserfahrung. Angst bezieht sich auf das Sterben, das Versinken der Existenz oder vielmehr auf den limes des Versinkens - auf „die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz". Angst meint, nach Kierkegaard, den „Schwindel der Freiheit". Wir schwindeln angesichts dessen, wozu wir als freie Wesen bestimmt sind. Wir halten die Bestimmung des Menschen nicht aus. Wir kleben an der Endlichkeit. Wir kleben, wie alles Existierende, am Existieren: dem Begrenzenden, der Konservierung der Grenze, der Beharrung (Selbstsucht). Wir haben nicht den Mut zur Freiheit - zu dem Gegenstande der Freiheit. Das freie, mutige Leben ist das das Begrenzende überschreitende, sich an das, was mehr als Leben ist, verschwendende Leben, das Leben der verschwendenden Leidenschaft. Die Wertrangordnung der Menschen (bzw. geschichtlichgesellschaftlicher Epochen) ist bestimmt nach dem Maße ihres könnenden Wollens, sich selbst - das konservierende, endliche Triebleben und seine endlichen Setzungen - zu überschreiten, nach dem Maße der Leidenschaft, mehr zu sein als endlicher Mensch, dem Maße des Mutes zur Selbstaktualisierung oder, was dasselbe ist, zum Selbstopfer. Die Angst ängstigt sich vor dem Selbstopfer: in ihr öffnet sich der Abgrund der Ohnmacht der Existenz, den diese im inneren Wissen ständig mit sich trägt. In der Angst versinkt die Macht der sich an das Sein verschwendenden Existenz. Die Freiheit versinkt. Die Bindung des Daseins an Welt versinkt. Das sind alles äquivalente Paraphrasierungen dessen, was in der von der aktuellen Angst überwältigten Existenz vor sich geht. Tod ist nicht Gegenstand der Angst. Mit der Todesbegegnung dem Aufsichnehmen des Todes - werden wir eine der Angst entlegene Dimension betreten. Freud hat vielleicht das Rechte über Angst gesagt, diesem Phänomen die rechte Stelle zugewiesen, wenn er, falls ich ihn richtig verstehe, die Träume, kategorial begriffen, zuletzt als Angstträume gemeint hat, wie verschieden Träume sich auch immer zunächst nach außen geben. Was sie nach Freud gemeinsam unterscheidet von dem wachen, dem bewußten oder vorbewußten Leben, ist, daß sie dem „normalen Gedankenzug" entzogen sind. Träume versetzen uns in das Zusammenhanglose, das „Dunkelheitsungeheuer" (Jung), in die von dem Bewußtsein, d. h. der versammelnden, konsistenten Kontinuität der Zeit abgetrennte Welt des Ungeordneten. Hier steht die Angst: die Angst vor dem mäontischen Abgrund, das „Wissen" vom Sterben der Dinge, der geordneten Welt - das „unterbewußte" Wissen, das wir in dem wachen, 186
bewußten Leben mit uns tragen und „verdrängen". Angst wird ontologische „Grundbestimmung" des Daseins, wenn Tod mit dem Sterben identifiziert wird. (Vgl. p. 201 ff.) Versuchen wir, die für das Seinsverständnis des Menschen und des Universums fundamentale Differenz von Tod und Sterben deutlicher zu machen. Man sagt: „Der Tod überwindet alles." Er überwindet alles, ausgenommen sich selbst. Der Tod stirbt nicht. Nur das Endliche endet oder stirbt. Der Tod ist un-endlich. Der Tod ist un-sterblich. Nur das Endliche, Existenzen, werden bedrängt, kontinuierlich kausiert. „Was aufhört, hängt mit einem anderen zusammen und wird somit durch dieses bedrängt" (Hegel), wie auch der Satz vom Grunde „omne habet rationem" mit dem Kontinuum des Seienden zu tun hat. Die infinite Bewegung des Grundes hört da auf, wo die Kontinuität dieser Bewegung im Un-endlichen (Transfiniten) „ruht" — in der Identität des „Grundes", von dem her, nach Leibniz, der Gedanke des Unendlichen „stammt". Tod, meint er, ist „Involution" (cf. Monadologie, 73): Rückbildung des „Zusammengesetzten" in das Einfache des identischen Grundes. Warum diese Rückbildung von diesem außerordentlichen Denker Tod genannt wurde, werden wir später erkennen.
ß) Der Tod und die Zeit Wir kommen zunächst zu einer präziseren Erfassung der Dimension der Todesfremdheit. Der Tod überwindet das Sterben. Aber er selbst wird nicht überwunden. Dem Tode wird begegnet. Das Sterben begegnet dem Tode. Es gibt Typen des Sterbens (siehe oben), aber nicht Typen des Todes. Der Tod ist überall das Selbe, das unveränderliche Eine. Er durchbricht die Mannigfaltigkeit der Individuation. Rilke's Satz : „Oh, Herr, gib jedem seinen eigenen Tod!" bezieht sich auf das Sterben, nicht auf den Tod — das Sterben als den Prozeß, in dem, menschlich gesprochen, das individuelle Leben seiner je individuellen voll-Endung entgegengeht — der Vollendung, die wir, gleichsam 187
wie in einem Abbilde, in dem die Qual der Endlichkeit hinter sich lassenden Totenantlitz wahrnehmen. Die Toten, sagt man, „ruhen in der Ewigkeit". Wir gehen dem Tode entgegen. Er geht uns nicht entgegen. Er ruht gewissermaßen in seiner posttemporalen Identität. Er ist eines anderen nicht bedürftig, wenn auch wir und jedes Existierende (Seiende) — sowohl die Existenzen, die wir selber sind wie die außermenschlichen Existenzen — seiner bedürftig sind. Was Descartes von der höchsten Substanz („ens perfectissimum") sagte: „nulla re indiget ad existendum", kann, genauer gesprochen, nur vom Tode behauptet werden. Denn das vollendete Wesen - der Gott, der nach dem Psalmverse ein Gott der Lebendigen ist — ist des Lebendigen und des Werkes seiner Offenbarung bedürftig, wie umgekehrt die Existenzen, und zumal die menschlichen, des „infinitum esse" bedürftig sind um zu sein (vgl. Descartes: „sum, ergo deus est"; Reg. XII). Der Tod aber nimmt an der Qual der Zeitlichkeit der Existenzen nicht teil — weder an der Zeit, in der die Existenzen endlich existieren und untergehen, noch an der Zeit als dem Medium der Überschreitung dieser Endlichkeit. In diesem Sinne nennen wir den Tod das vor und hinter der Zeit, gewissermaßen vor Erschaffung der Zeit (und der Welt) Liegende, nicht zeitlos oder zeittranszendierend, was allein von dem exzentrischen Sein und seinen zeitlosen (wiederholbaren) Ordnungsdeterminanten (der platonischen Idee des Guten) gesagt werden kann. In diesem Sinne ist die unterschiedslose, alle Unterschiede vernichtende Macht des Todes das genuin Transzendente: die anteund posttemporale Parousie des Todes, die Vernichtungsmacht des stehenden, Einen Jetzt.
γ) Das „Nichts" des Todes. Die drei Typen des Nichts Der Tod nimmt an der Zeit nicht teil. Daher nimmt er auch an dem zeitlosen, transzendentalen, in der intentionalen Zeit gründenden Koordinatensystem, dem alles Existierende ein188
gebildet oder zugeordnet ist, nicht teil. Wir sprechen von ihm als dem „Nichts". Aber man mache sich keiner quaternio terminorum schuldig. Hegel sprach von der Identität von Sein und Nichts. Er steht mit diesem Ausdruck in der großen Linie, die von Platon's Bestimmung des archontischen Seins ausgeht, welches aller Bestimmbarkeit entzogen ist, die, um ein großes Beispiel zu nennen, in dem Begriff der coincidentia oppositorum bei Cusanus fortgeführt wird und bei Kant zu der Formulierung des „ens realissimum", des X des „Einen Objekts", führt. In Kant's Theorie der Zeit wie in Hegel's Logik, wie überhaupt in der Freiheitslehre des deutschen Idealismus hat dieser Begriff seine großartige Interpretation gefunden. Man hat in der Tat von dem Nichts des Seins zu sagen: es ist kein Gegenstand. Es ist nicht etwas, kein „Subjekt möglicher Prädikabilien", so zwar, daß der Prozeß des Denkens, der denkenden Bestimmung, ja jeder menschlichen, freien Aktion auf es als den das Seiende überschreitenden, sich ständig entziehenden limes bezogen ist. Das Sein ist Nichts, weil es, der namenlose deus absconditus, sich jeder endlichen (gegenständlichen) Bestimmung entzieht. Es durchbricht unser endliches, in Umwelten und in der Einen Welt aufgehendes Leben, aber es gehört zu diesem Leben gerade darin, daß es alles dieses transzendiert. Wenn wir auf das Faktum des Todes das Wort Nichts anwenden, so ist etwas anderes als die übersteigende Idee des Seins gemeint — das Nichts eines anderen Typus gewissermaßen. Tod durchbricht Leben und Sterben. Aber erst dann werden wir diesem transzendenten Faktum gerecht, wenn wir verstehen, daß es nicht nur das vivo mit seinem Sterben, sondern ebenso die transzendentalen, fernsten Möglichkeiten dieses vivo durchbricht. Es durchbricht darüber hinaus das transzendierende Sein, von dessen Gnaden wir in unseren Möglichkeiten leben, aus der Verbundenheit mit welchem heraus wir sterben. Das Nichts des Todes zeichnet sich dadurch vor dem Nichts des Seins aus, daß es nicht nur wie dieses jenseits aller Bestimmbarkeit, jenseits von allen Essenzen steht, sondern auch jenseits von allem Daß, jenseits jeder möglichen, bestimmbaren Existenz. Der Tod durchbricht Geschehen. Tod nimmt am Geschehen nicht teil, wie alles Seiende am Geschehen teilnimmt (anders liegt es, 189
wenn wir die Frage nach seinem Sichzeigen im Geschehen aufwerfen werden). Das ruhende Jetzt des Todes steht, mit Heraklit zu sprechen, hinter der Macht des verzehrenden, auch des transzendentalen Feuers des Geschehens. Tod entzieht sich nicht. Er ist nicht Sein — auch nicht im Entzüge. Von dem Geschehen, den Ereignissen, dem Strome versinkender Augenblicke sprechen wir in einem dritten Sinne des Nichts. Dieses Nichts der mäontischen Materie hatte Piaton (wie wir sahen) im Auge, wenn er von dem mütterlichen Grunde des Raumes als dem Orte des immer anderen sprach. Die Wissenschaft spricht von der Materie in einem analogen Sinne als „Geist der Unruhe" in der Welt der geordneten Mannigfaltigkeit. Materie nennt sie das Variable in der (vierdimensionalen) geordneten Mannigfaltigkeit. „Matter", sagt Weyl (1. c. 173) in Hinsicht auf die moderne Feldtheorie, „excites the field". Unter Materie wird das in die Felder, bzw. in das mathematisch darstellbare Kontinuum einbrechende Partikulare verstanden. „Pure force would be something which should be there, and yet is not because being-there we describe as matter" (Helmholtz, zit. nach Weyl, 1. c. 174). Wir sprechen also von dem Nichts der Materie in dem Sinne, daß diese unterhalb der Sphäre der Bestimmbarkeit liegt (weshalb Wissenschaft nicht Lehre von der Empirie, sondern von Einheiten [Dauereinheiten] ist, Lehre von dem, was Mannigfaltiges zu einem dauernden Kontext verbindet, derart, daß dieses in ihrem an dem Seienden orientierten Lichte als elementares, „abstraktes" Konstruktionsgebilde auftritt). Für Bovillus in seiner Schrift „De nichilo" ist Materie „nihil in actu, informis confusio". „Supra materiam locati sunt entium ordines." In jedem Seienden begegnen sich derart die zwei Typen des Nichts — das obere und das untere Nichts. Wir sprechen von dem Horizont der Bestimmbarkeit (Essenz, Zusammenhang) jedes Dinges, der in das Bestimmungslose geht. Aber das Nichts der Materie treibt in diesem Nichts des Bestimmungslosen sein Unwesen. Wir haben früher von dem „überschwänglichen Erneuerungsprozeß" gesprochen, als welchen Novalis Leben (Seiendes) bezeichnet hat: Erneuerungsprozeß (Gegenzug) gegen die ver190
sinkende Materie - eine Erneuerung, die stets neue Formen annimmt, in denen die organismische Organisation eine „höhere" Stufe der Einheit (des Seins) darstellt (und von der her, wie wir sahen, der „gewöhnliche Tod" als der Trennungsprozeß von Leben und Organisation erscheint). Aber es ist nicht die Materie, die sich erneuert, sondern es ist das X der bestimmungslosen Einheit, die sich an der Materie entzündet. Das Feuer des ursprünglichen Lebens des Seins (Transzendenz) entzündet sich an der Materie, weshalb die fundamentale Theorie des Lebens als unabhängig anzusehen ist von der Theorie des tierischen Baues wie jeder lokalisierten Figuration : vielmehr ist sie Theorie des von dem X der Einheit motivierten, Ordnung im Universum stiftenden Lebens (des Willens), von dem wir früher gesprochen haben. Aber der Tod ist nicht das fließende Nichts der Materie, noch ist er das die Materie übersteigende, vereinigende Nichts des Seins. Nur dann verstehen wir sein Nichts, wenn wir einerseits die Relativität von Leben und Sterben, die durch die Evolution des Universums geht, mitverstehen und wenn wir, in Abhebung davon, ihn nicht innerhalb dieser funktionellen Interdependenz von Materie und Form (Variablem und Invariablem) suchen, sondern als dasjenige, was diesen Funktionszusammenhang total durchbricht. Tod steht nicht in dem Verhältnis der Zuordnung des Invariablen zum Variablen. Außerhalb dieser Zuordnung stehend, ist er das ungeheuerliche Faktum. Tod antwortet nicht. Er ist nicht entzündbar. Er antwortet nicht auf den Urwillen zum Sein, der das Attribut aller Existenz ist. Er ist nicht Material der Arbeit. Er ist der „absolute Nichtleiter der Sollizitation" (Novalis). „Mors nihil aliud est quam separatio ad communicationem et multiplicationem essentiae" (Cusanus, Op. II, 133 b). Er ist das der infiniten „Wesenheit" — „essentia est infinitum" —, d. h. der Vervielfältigung und Mitteilung entrückte, stehende Jetzt, die fremde Parousie. Doch mit alledem ist erst Vorläufiges gewonnen. Unsere Aufgabe besteht ja nicht darin, eine Todesmetaphysik zu schreiben - eine contradictio in adjecto. Auf den Tod sind wir gestoßen im Zusammenhang mit der Frage, die Freiheit im Universum zu begreifen. Von vornherein war uns klar: Tod ist kein Phä191
nomen, das uns in irgendeiner intuitiven (sinnlichen oder imaginativen oder ideierenden) Erfahrung gegeben ist. Tod ist kein Gegenstand der „Wesensschau". Er ist auch kein Gegenstand formalisierender Konstruktion. Das Problem der Realität des Bleibenden im chaotischen („freien") Spielräume des Geschehens hat uns beschäftigt. Im Zusammenhang mit der Analyse des Seienden, seiner Ordnungssysteme, des Kontexte des Geschehens ging uns da, geführt von Kant's Zeituntersuchung, die Idee des freien Willens und der Freiheit auf — Freiheit, die uns zusammenfiel mit dem Transzendenzcharakter des Seienden und die im Menschen, als dem von sich wissenden Seienden, alsderwissendeWillezumSein(zumIdentischen)entbundenwird. Die Frage nach dem Tode hat sich uns gestellt als die Frage danach, die Realität des Systems des Identischen aus dem Grunde seiner Möglichkeit zu begreifen. Dies ist nun das Eigentümliche : nur da, wo Leben (Seiendes) aus dem Wissen seines Versinkens die versinkende Materie des Geschehens, an die es verhaftet ist, übersteigt, begegnet es dem Tod. Nur wo Leben für das Umwelten und die Eine Welt übersteigende Reale offen ist, begegnet es seiner fremden Macht. Erst da, wo dieses unser Leben als endendes, scheiterndes und verderbendes sich versteht und in diesem Verstehen seines Sterbens mächtig wird, d. h. wo es sein fragmentarisches Dasein aus der Bindung an das exzentrische Sein versteht, wird der Tod offen. Hier ist die Stelle, wo er in das geschichtliche Universum des Menschen tritt. Der Tod ist nicht. Der Tod geschieht nicht. Er hat keine lokalisierte Stelle im Universum. Der Tod durchbricht Leben und Sterben. Im Sterben ist er mit-gesetzt. Als mit-gesetzt begegnet er nicht, ist er nicht offenbar. Aber das durchbrechende Faktum wird dem Leben offenbar, wo es in seiner des Sterbens willensmächtigen Existenz die Welt der Endlichkeit überholt oder, was das gleiche ist, wo es als endliches am Un-endlichen zerbricht oder, wieder dasselbe in anderen Worten gesagt, wo es sein endliches Dasein in der Welt im Lichte des un-endlichen Seins versteht. Nur der Mensch kann aus seiner transzendentalen Bestimmung dem Tode verstehend begegnen. 192
Vielleicht nirgendwo zeigt sich der Seinsverlust des Menschen unserer Epoche — die Entfremdung des Realen — mehr als in ihrem verzerrten Bilde des Todes. Der Tod wird von dem den Tatsachen verfallenen Zeitalter nicht verstanden, weil er, die die Welt empirischer Tatsächlichkeiten durchbrechende, transzendente Tatsache, als empirische Tatsache verstanden wird. Die um Seinswissen („Seinsgewißheit": vgl. „Phänomenologie und Metaphysik", 4. Teil) gekommene Epoche wird mit dem Tode nicht fertig. Das in-der-Welt-Sein im Munde führend, ist sie weit-los und selbst-los geworden. Sie wird mit den einbrechenden Schicksalen nicht fertig. Leben wird mit sich selbst nicht fertig. Von Angst oder Ekel oder Langeweile heimgesucht, hält es seine Endlichkeit nicht aus - als Prozeß des Verfalls an die Tatsachen, der ebenso als Prozeß des Seins Verlustes geschieht, wie er Ausdruck davon ist, daß die Epoche um die Kraft begegnender Auseinandersetzung mit dem Tode gebracht ist. Die nachfolgenden Untersuchungen beschäftigen sich mit dem Phänomen der Todesbegegnung. Die Untersuchung über Freiheit und Tod betritt damit eine neue Stufe. Wenn wir bisher an der Hand der Korrelation von Freiheit und Ordnung, gewissermaßen von oben her auf den Tod gestoßen sind, so suchen wir jetzt von unten her, von der Begegnung mit ihm, diese Korrelation zu begreifen. Die im Todeswissen wurzelnde Freiheitsidee findet ihre Grundlegung.
13 Metiger: Freiheit
193
§ IV D E R TOD UND DIE FREIHEIT (STUDIEN ÜBER TODESBEGEGNUNG)
a) Der Tod als die V e r n i c h t u n g s m a c h t des „Alles und Einen" (Unterschiedslosen) A n m e r k u n g e n zu Heraklit. S c h l u ß b e m e r k u n g e n über T o d e s e r i n n e r u n g
„Der Mythos läßt äußerlich vor sich gehen, was innerlich ist" (Kierkegaard, D. Begr. d. Angst, p.41). In den Fragmenten Heraklit's ist von Tod als Vernichtungsmacht die Rede. 1. Fragm. 108: Keiner von allen, deren Worte ich vernommen, gelangt dazu zu erkennen, daß die Weisheit etwas von allem Abgesondertes ist. 2. Fragm. 10: Ganzes und Nichtganzes, Eintracht und Zwietracht (der Dinge), Einklang und Mißklang und aus allem eins und aus einem alles. 3. Fragm. 51: Sie verstehen nicht, wie es (das Eine) auseinander strebend ineinander geht. 4. Fragm. 33: Gesetz heißt auch, dem Willen der Eins folgen. 5. Fragm. 30: Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend. 6. Fragm. 76: Feuer lebt des Wassers Tod, . . . Erde den des Wassers. 7. Fragm. 21 : Tod ist alles, was wir im Wachen sehen. 8. Fragm. 15: Ist doch Hades eines mit Dionysos, dem sie da toben und Fastnacht feiern! „Ist ja doch Eins!" (Fragm. 57). Das Eine ist, worin alles „ausruht" (Fragm. 20) : der das einzelne, das Endliche tötende Tod, die „verborgene Vereinigung" (Fragm. 54), der grundlose, wie wir sagen, dem Satze vom Grunde entzogene Tod. Der tö194
tende Tod, der Gott der Toten (Unterwelt), offenbart sich in „seinem ewig lebendigen Feuer". Der Gott (logos) regiert die Welt durch sein Feuer: er regiert in der von ihm getriebenen Veränderung einander zerstörender Dinge. „Das Feuer lebt den Tod" (Fragm. 76). Sein Hineinstehen in die Dinge (das Seiende) zeigt sich in der Veränderung, der Entgegensetzung, dem rasenden Geschehen, der Andersheit, der Vernichtung, aus-einander-Setzung der Dinge (πόλεμος). „Tod nennt Heraklit den Anfang" (γένεσις. Fragm. 21). „Das Sterbliche ist das Unsterbliche, das Gewordene (und Werdende) ist das Ungewordene." Der Tod ist die (fremde) „Weisheit" der Dinge: der invariable, grundlose Grund des sich wandelnd-ruhenden Feuers (Fragm. 84a). Das Feuer ist gewissermaßen das kosmische Attribut des Todes, und, wenn wir das so zur Klarheit zu bringen suchen, seine modi sind die differenten Weisen der Vernichtung, in denen jedes eines jeden Tod ist. Der Tod ist der archontische Anfang - das Wort gewiß nicht gemeint als platonische idea, sondern als die hinter der „schönsten Weltordnung" (δ κάλλιστος κόσμος: Fragm. 124) sich „verstekkende", den „hingeworfenen Kehrichthaufen" (1. c.) der jeweiligen Existenzen auslöschende Vernichtungsmacht des Einen. Er begegnet gewissermaßen in dieser Geworfenheit des Da der Dinge, aber doch so, daß er, das Eine, das Ungewordene, darin waltet. Auf den Tod als die Vernichtungsmacht der Eins gegenüber dem Sichtbaren und dem Gewordenen beruft sich Sokrates—Piaton, wenn er von der Erkenntnis der Wahrheit „angesichts des Todes" spricht. „Sohn der Erde bin ich und des gestirnten Himmels, aber meine Herkunft ist himmlischen Ursprungs. Vor Durst bin ich verschmachtet, aber gebt Wasser, das aus dem See der Mnemosyne (im Hades) hervorfließt", so heißt es auf einem aus der Orphik stammenden antiken Goldplättchen. Das Entscheidende in dieser wichtigen antiken Mysterienreligion, ohne die Platon's Lehre von dem Wissen nicht zu begreifen wäre, ist, daß die Begegnung mit der Unterwelt, der „unsterblichen Königin", das Ersehnte ist - die Begegnung mit dem ungetrübten Gestaltlosen, das in der Unterwelt seinen
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Sitz hat (oder „himmlisch", vielmehr überhimmlisch ist). „Ein Gott wirst du sein statt eines Sterblichen". „Raschen Laufes errang ich mir den Kranz, den ersehnten, und ging ein in der Herrin Schoß, der verstorbenen Fürstin" (vgl. Gustav Pfannmüller, „Tod, Jenseits und Unsterblichkeit", 1953, p. 28-29). Über dem Unternehmen des Heraklit steht sein Satz: „Ich habe mich selbst gesucht" (Fragm. 101). Plutarch hat das sokratisch-platonische : „Erkenne dich selbst" — jenen „existentialen" Grundsatz, der die Gedanken Platon's bis zuletzt (Epinomis) bestimmt — mit dem heraklitischen Satz in Verbindung gebracht (vgl. Diehls, „Heraklit" B, p. 97 [Fußnote 14]). Man muß bei dem Satze vorsichtig sein. Man darf ihn nicht im Sinne der späteren Stoa (Marcus Aurelius) verstehen, als ob es sich hier um eine räsonierend-resignierende Selbstreflexion handelte. Noch weniger darf man ihn im Sinne der christlichen Besinnung auf die (durch die Apokalypse hindurchgegangene) in der Partnerschaft mit dem göttlichen Du betend aufgehende anima mea interpretieren. Am wenigsten darf man ihn verstehen im Sinne einer Besinnung auf das partnerlose, solipsistische Subjekt der modernen seins- und weltentleerten Psychologie. Es geht um Welterkennen in dem Selbsterkennen (Diehls, 1. c.). Das Selbst steht bei dem Einen. Es geht in der Selbsterkenntnis ja nicht einmal um das Selbst, um das Subjekt oder um die Seele, auch nicht um die „objektive Welt", sondern um das Eine, das alles ist. Die Seele wie die Welt ist gewissermaßen der Ort, in dem das Feuer des Unterschiedslosen brennt. Welt ist Feuer. Seele ist Feuer. Ihr sich-selbst-Erkennen ist das zum Einen brennende, verlangende, es liebende Feuer : das von dem Brand der Eins, des Realen, aufgezehrte Feuer. Daher ruht sie im Hades, wo alles Eins ist. Der Begriff der Erinnerung (wie auch in gewissem Sinne der Hoffnung) des platonischen Dialogs kommt hier zu seiner letzten Klarheit. Erinnerung erinnert sich zuletzt des Unterschiedslosen. Erinnerung meint zuletzt Aufhebung des Gesonderten, des Verschiedenen. Das unendliche Weltmaterial ist in der Eins verbunden, die Welt erscheint in ihr (wie in der Hoffnung) zuletzt vom Ende der Zeit her. Daher überschreitet die denkende Erinnerung bei Piaton das Konkrete dahin, „wo alles Eins wird". 196
Das Selbst identifiziert sich in ihr selbstvernichtend mit der Eins, oder vielmehr: Selbstbehauptung koinzidiert mit Selbstvernichtung. Es ist diese Koinzidenz, die Sokrates meint, wenn er in der Sterbestunde sagt: „Denk' nicht an Sokrates, denk' an die Wahrheit!" Heraklitisch-orphisches Wissen von dem Tode als der unterschiedslosen Vernichtungsmacht (und dergestalt dem Einheitsgrunde der Dinge) steckt dahinter. Jedes erinnert an jedes. Jedes erinnert an alles. Wir hoffen (erwarten) in der Erinnerung alles. Jedes Gegebene, die Unerschöpflichkeit des Gegebenen, wird in der Erinnerung und der Erwartung das zu-fallige Material, in dem das Eine präsent ist. Erinnerung meint Eins-Bildung — den sich durchhaltenden, immer neu anhebenden oder vergessenen oder verratenen Prozeß des Hineinnehmens des unerschöpflich Variablen in das Eine. Der Tod ist bei Heraklit die Urstätte, gewissermaßen das Original—das Urphänomen, wenn dieser Goethe'sche Ausdruck erlaubt ist — der Eins. Als dieses Eine ist er die Vernichtungsmacht der sichtbaren, veränderlichen Welt. Aber wir begegnen ihm in der Welt darin, daß wir sie in ihrem gestaltlosen (zeitlosen) Einheitsgrunde erkennen. Dergestalt ist der platonischorphische Begriff der Erinnerung, die bei dem Gestaltlosen steht, Todeserinnerung. „Der Tod läßt das Leben versinken, um die Zeitlosigkeit seiner Inhalte gleichsam freiwerden zu lassen" (Simmel, „Zur Metaphysik des Todes", p. 62). Das Sein (Einheit) der Dinge ist gewissermaßen das Schema oder das Bild des Todes (analogia non entis) in einer Welt, in der er herrscht und die zum Existieren gekommen ist. Er ist das Paradigma des Seins. Sein (idea) wird im Lichte des Untergangs der Dinge verstanden. Mit dem ungeteilten Einen, mit dem, was vor der Erschaffung des Universums liegt, ist die Seele im Hades nach der Orphik einig. Das ungeteilte Eine liegt der geordneten Mannigfaltigkeit, die wir Welt nennen, zugrunde. Für dieses Eine steht der Hades (wie im Christlichen der Himmel, „in den die Seelen heimgegangen sind"), der Gott der Toten, wie auch später Scotus Eriugena den Tod als die Rückkehr des Körpers in die Elemente verstanden hat, wobei der Schwerpunkt des Elementaren wieder 197
in der „einfachen Ganzheit" liegt (De divisione naturae, III, 9). Auch bei Leibniz, wie früher angedeutet, ist der Tod als „involutio" (Rückbildung) des Zusammengesetzten in die einfache, identische Substanz (Monade) mit-verstanden worden, wobei allerdings bei diesem Denker, sowenig wie bei Spinoza wie in der Aufklärung wie überhaupt in den von Aristoteles abhängigen Kategorien- und Ordnungslehren der Zusammenhang von Tod und Einheit (Substanz, Monade) in den reflektierenden Blick gezogen noch verstanden werden konnte, wenn alles darauf ankam, den Kosmos in seiner Ordnung ontologisch (kategorial) darzustellen, und man sich begnügte, das Sein (ens realissimum) als Prinzip dieser Ordnung (ratio essendi) zu begreifen. Der Tod ist der ursprüngliche Ort der die Dinge zusammenhaltenden syndesmotischen (synthetischen) Mächtigkeit. Er ist die Überholung der kreatürlichen Vielheit, das Verwesen der Gestalten, der sich im heraklitischen Feuer vollziehende Untergang — der Grund der Möglichkeit, die Transzendenz der Wahrheit (Wirklichkeit) der Dinge, d. h. die Gründung des Seienden in seiner es überholenden Beziehung zu dem allumfassenden Einen, in das Licht des Verstehens zu bringen. Tod wird von der Endlichkeit der Kreatur her nicht verstanden. Er wird in seiner transzendenten Realität nicht berührt, wenn das Dasein des Menschen sich als endliches versteht. Er kann nicht mit seinem Sterben oder überhaupt mit dem Vergehen der Kreatur (ens creatum) identifiziert werden. Er ist nicht Gegenstand der Anthropologie. Aber es ist das Erscheinen der Einheit in der Welt, die Zuordnung und die Zuordbarkeit des Variablen zu dem Invariablen, von woher er der sterblichen Existenz begegnet. Von dem Urfaktum der existierend-seienden Welt her tritt er in den Blick. Er geht in der Unzerstörbarkeit, in der Unsterblichkeit der Eins - des Identischen - in der Physis des Variablen um. Der Tod wird nicht erfahren, wenn er als „Fortfall der Rückkehr zur Möglichkeit" (Jaspers) verstanden wird. Auch seine Darbietung als „Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz" (Heidegger) trifft nicht seine transzendente Realität. Gewiß: der Tod begegnet „in eins mit dem entgleitenden 198
Seienden" und dergestalt „bringt er vor das Seiende im Ganzen". Aber es ist nicht das Entgleiten, die Ohnmacht des Seienden, das wir sind, und der seienden Dinge angesichts seiner, was ihn zur fundamentalen Kategorie in dem Weltganzen macht. Es ist die Macht des Einen, das in der Ohnmacht der Welt, in der wir existieren, umgeht, und wir verstehen (begegnen) den Tod erst, er erscheint erst in unserem Leben, wenn das von seinem Entgleiten und seiner Ohnmacht wissende Leben dem Einen begegnet, d. h. sich für es, das Identische, verschwendet oder selbst opfert. Es ist die Macht des Un-endlichen, das sich in der Ohnmacht des Endlichen offenbart. „Das Ziel des Menschen ist nicht die goldene Zeit, sondern die Verknüpfung des Mannigfaltigen, die kein Ende nimmt" (Novalis, Frg. 171). „Die Allgemeinheit, nach welcher das Thier als einzelnes eine endliche Existenz ist, zeigt sich an ihm als die abstracte Macht in dem Ausgang des selbst abstracten, innerhalb seiner vorgehenden Processes. Seine Unangemessenheit zur Allgemeinheit ist seine ursprüngliche Krankheit und der angeborene Keim des Todes. Das Aufheben dieser Unangemessenheit ist selbst das Vollstrecken dieses Schicksals" (Hegel, Vorlesungen über die Naturphilosophie als der Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse zweiter Teil, § 375, p. 691, Berlin 1842). Der Tod tötet das Leben. Das Un-endliche tötet das Endliche. Das Vergehen des Partikularen, des Getrennten, des Abgesonderten, das Sterbenleben der Existenzen ist die Heimsuchung des Endlichen durch das Unendliche. Das Sterbliche stirbt an der Macht des Unsterblichen — seines identischen Grundes. Was der heraklitisch-platonischen Todeskonzeption die eminente transzendental-phänomenologische Bedeutung gibt, ist dies, daß der Tod hier nicht als Endlichkeit der Kreatur verstanden wird, sondern im Denken (Erinnern) der Wahrheit, will sagen, in der Spannung des Gegründeten zum Grunde, des Meßbaren zum Maße. Sokrates mißt das „Werk" an dem allgemeinen Maße. In dem Maße, der Idee des Guten, geht die Vernichtungsmacht des Todes um, darin, daß es über alles Meßbare hinausweist. Das Gute steht über dem Hervorgebrachten, oder : das Gute macht das Hervorgebrachte zum Symbol dessen, 199
an dem es zerbricht. Hier, in diesem Zusammenhang mit der Transzendenz des Guten, steht der Tod. Hier steht der richtende, an dem Unterschiedslosen messende Gott der Unterwelt. Vielleicht darf man den Satz Heraküt's : ήθος άν&ρώπω δαίμων. (Β 119) nach dem Vorgang Heidegger's (Platon's Lehre von der Wahrheit, p. 106) in diesen Sinn hineinübertragen: „Des Menschen Wohnort ist der Gott." Es ist, so scheint es mir, daß aus dem Horizont des wahrhaftigen, guten, an dem Maße der Gottheit untergehenden Lebens heraus die Todesbegegnung verstanden wird. Der Tempel Apollon's ist in Delphi der Legende nach auf dem Grabe des Dionysos errichtet, der mit dem Hades einig ist. In unsere Sprache übertragen, besagt die Legende: daß der Mensch aus seiner transzendental-utopischen Bewegtheit her sein Leben für die Wahrheit opfert, an der sein endliches, im Unterschiedlichen existierendes Leben zerbricht, daß er erinnernd-hoffend „alte Tafeln" zerbricht und derart geschichtlich lebt — darin zeigt sich die Todesmacht, in deren Zeichen die von bacchantischem, blindem Taumel getriebenen Kreaturen sterben, in deren Zeichen aber ebenso die wachen, sehenden, von Apollon geleiteten Seelen der Denkenden das Unsterbliche leben. „Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich. Das Leben der Sterblichen lebt den Tod der Unsterblichen (der wachen Seelen). Das Leben der Unsterblichen lebt den Tod der Sterblichen" (Fragm. 62, cf. Fragm. 77). „Vor ihm (dem Gott der Unterwelt) erhöben sie sich (die Toten) und würden wach (neu geboren), Wächter der Lebendigen und der Gestorbenen" (B 63) - nämlich als Heroen, „Wächter der Menschen" (nach Hesiod, Werke und Tage, 107). Erinnerung von hier aus, aus einem höchsten Punkte verstanden, ist also das im Lichte des Todes wiedergeborene, wache Leben. Der Tod erscheint gewissermaßen zweimal im Universum. Er erscheint im kreatürlichen Sterben. Heraklit meint das allEine des Todes, wenn er sagt: „Dem Gesetz gehorsam sein, heißt, dem Willen des Einen (Eins) folgen" (B 33). Der Tod erscheint im Gehorsam zum Gesetze. Sokrates spricht von dem gehorsamen Wissen des Gesetzes angesichts des Todes. Im Menschen tritt der Tod in das Licht des Wissens. Darin unterscheidet 200
sich diese Kreatur von den anderen. Wir unterziehen das Wissen im Anschluß an das eben Ausgeführte und früher Gesagte einer erneuten Untersuchung.
Z u s a t z : B e m e r k u n g e n zu dem P r o b l e m der T o d e s b e g e g n u n g in der n e u e r e n E x i s t e n t i a l m e t a p h y s i k I. Die Existentialmetaphysik Heidegger's gibt dem Scheitern — der Ohnmacht des Endes — „fundamentalontologische" Realität. Was in dieser Philosophie zum Ausdruck kommt, ist die von dem „Sein zum Ende" heimgesuchte Existenz. Das Dasein im Menschen verzehrt sich in dem Wissen um seine Endlichkeit. Heidegger macht das Reale — das gesammelte, einend-vereinigte Eine Sein der Dinge — zum Thema; insofern ist bei diesem ernsten Denker keine Rede von dem ihm vorgeworfenen „Psychologismus", dem ζ. B. Karl Jaspers verfallen ist, dessen Schriften an keiner Stelle aus ihrem subjektivistisch-humanistisch-positivistischen Ansatz heraustreten. Bei Heidegger ist es klar: der Mensch wird begriffen von dem her, was er nicht ist und was kein Gegenstand psychologischer Interpretation ist, von dem Realen her, der „ursprünglichen Gesammeltheit des Seins" (Einf. in die Metaphysik, p. 130), „der stehenden, waltenden Physis". Das existierende Dasein als Ganzes, sein „Sagen und das Hören sind auf den Logos als die Gesammeltheit des Seins bezogen". Aber diese Beziehung („Sorge", „transzendentale Apperzeption" bei Kant, „transzendentale Intentionalität" in der Phänomenologie Husserl's) wird in Heidegger's Philosophie die Aktualisationsstätte des Geschehens des Inneseins der Ausweglosigkeit des Daseins — seiner „Hineingehaltenheit" in das Nichts maßloser Ohnmacht. Um dieses Innesein geht es: um die existentiale Auslegung der Angst. „Der Mensch ist ohne Ausweg dem Tod gegenüber, nicht erst, wenn er zum Sterben kommt, sondern ständig und wesenhaft. Sofern der Mensch ist, steht 201
er in der Ausweglosigkeit des Todes. So ist das Da-sein die geschehende Un-heimlichkeit selbst. (Die geschehende Unheimlichkeit muß für uns anfänglich als Da-sein gegründet werden.)" (1. c. 121.) Das Sterben wird begriffen. Der Tod wird nicht begriffen: das transzendente, Zeit und Raum durchbrechende Faktum als Quelle der schaffenden und weltbildenden Sehnsucht des endlichen Lebens. Genauer, die schaffende, erinnernd-hoffende Transzendenz, die Möglichkeiten entwerfende Mächtigkeit des Daseins wird verstanden — sein Verlangen zu dem das Seiende in infinitum übersteigenden, sich der Bestimmbarkeit entziehenden Sein: dem „im Sein gesammelte(n) Wesen der Zeit". Aber alles dies mit der Intention, die nach Freiheit von ihrer Endlichkeit verlangende Mächtigkeit, den der Endlichkeit (Welt) mächtigen, seinsgewissen Willen angesichts des „übermächtigen" Seins, des „Gewaltigen", als scheiternden zu manifestieren. Das freie Subjekt ist das den Entwurf seines Scheiterns auf sich nehmende Subjekt: „Schicksal als die ohnmächtige, den Widrigkeiten sich bereitstellende Übermacht des verschwiegenen, angstbereiten Sichentwerfens auf das eigene Schuldigsein" (Sein und Zeit, p. 385). Heidegger interpretiert Platon's idea. Er interpretiert idea als washafte Vorhandenheit. Gewiß — wir haben es dargestellt — hat Platon idea im Lichte gestalteter Vorhandenheit verstanden. Er hat sie zudem verdinglicht. Er hat sie, genauer, hypostasiert und darüber hinaus in fixierten, permanenten Gestalten (eide) repräsentiert. Aber wir sahen : was im Mittelpunkt der platonischen Erörterung — wie auch später, unter anderem Vorzeichen, der kantischen Diskussion — stand, was überhaupt das perennierende Thema des in der Welt denkenden Daseins ist, ist das Mysterium des Seienden, das Mysterium der Realität des Universums: daß diese unsere Welt in der Entzweiung der Einheit, in dem Widerspruch und dem Widerstreit der Existenzen und deren Ende geschieht, daß aber dieses endende Geschehen auf die Symbole der Eins antwortet, für die übersteigende, zeitlose Einheit (das Identische) und ihre Symbole offen ist. Die idea als solche ist nicht das Thema Platon's, sondern sie als das begrenzend Mächtige in dem Kontinuum des Grenzen202
losen— jene transzendentale Offenheit des Geschehens, diePlaton und Kant wie jede große Philosophie gleichmäßig beschäftigt, daß diese Welt in ihrem Charakter der Zerrissenheit und des Mannigfaltigen Stätte ist, in der der unsterbliche Tod und sein Weltschema, die unsterbliche, das Menschen- und Weltuniversum bildende, gestaltlose Einheit erscheint. In der „Existentialphilosophie" hat das „ich existiere" den Zusammenhang mit dem im Sein sich bildenden Universum des Seienden und dem Menschenuniversum verloren. Das existierende Dasein ist von seiner Endlichkeit besessen. Der Mensch zehrt sich in seiner Ausweglosigkeit auf. Der von dem Nominalismus aufgerissene Abgrund zwischen der Endlichkeit und der Unendlichkeit tut sich maßlos auf, dergestalt, daß die in dieser Bewegung ursprünglich erhaltene Begegnung der beiden Pole, daß jede Art dieser Begegnung, die uns noch im Begriff des Willens bei Duns Scotus oder im „Glauben allein" bei Luther oder in der „moralischen Handlung" bei Kant entgegentritt, daß diese Begegnung der endlichen Existenz mit ihrem eigensten, ihr endliches Werk übersteigenden, „verborgenen" Gegenstand (Gottheit) in den Abgrund der in die Ohnmacht geworfenen Existenz verzehrt wird. Der Mensch ist im Universum heimatlos geworden. Oder vielmehr : Dasein in der Welt ist weltlos geworden. Es steht machtlos in der Welt, weil der Tod in der Ohnmacht des Sterbens untergeht: in der Identifizierung mit dem „Sein zum Ende" um seine transzendente, das Dasein mit dem Universum verbindende, heilende Macht gekommen ist. Um die Todeserinnerung gebracht, ist das Dasein um die Macht des in der Welt waltenden Unsterblichen gebracht. Das „Unwesen" der „Geworfenheit" geht um: die Ohnmacht, die darin wurzelt, daß „das Dasein als freies Seinkönnen unter das Seiende geworfen" ist (Vom Wesen des Grundes, p. 110). Freiheit läßt „Dasein in seinem Schicksal aufklaffen" (1. c. 109). Freiheit wird identifiziert als das „angstbereite Sichentwerfen" des in den Grund der Dinge hineinreichenden Schicksals ihrer Ohnmacht. „Solche Ohnmacht (Geworfenheit) aber ist nicht erst das Ergebnis des Eindringens von Seiendem auf das Dasein, sondern sie bestimmt dessen Sein als solches" (Heidegger, 1. c. 110). 203
Gewiß, diese Philosophie ist Seinslehre, „Seinshermeneutik", aber dergestalt, daß die im transzendenten-transzendentalen Tode wurzelnde, Endlichkeit überschreitende Seinsidee in den Verderb der Endlichkeit hineingezogen wird: das scheiternde Subjekt steht zuletzt (in den späteren Schriften Heidegger's) in machtloser Beschwörung dem „übermächtigen" Sein gegenüber, einer Seinsbeschwörung, die zum Seinsverständnis einer gebrochenen Epoche gehört, in dem Jahrhundert seit Hölderlin mehr und mehr vehementen Ausdruck gefunden hat — nicht nur in der Poesie, sondern auch in der Philosophie — und in der politischen, allenthalben sichtbaren Reaktion geschichtliche Kategorie geworden ist. Man spricht von der „Existentialphilosophie" als einer „Gegenbewegung" gegen den Positivismus. In Wahrheit ist sie keine Gegenbewegung. Der Positivismus geht in ihr um. Zwar nicht der von David Hume, aber der an die Tatsachen, das Ende der Dinge, ausgelieferte Positivismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Auf dem geschichtlichen Boden des derart an den Verderb ausgelieferten Daseins ist der „Existentialismus" Philosophie des Scheiterns : die endliche Existenz vor das Un-endliche - das Reale — zu stellen. Er ist die Hermeneutik des an der Gottheit (Sein) und der Welt zerbrochenen Menschen.
II. In seinen späteren Werken hat sich Heidegger deutlicher über den Begriff der „Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts" ausgesprochen, „das Nichts als zugehörig zum Sein des Seienden" (vgl. „Was ist Metaphysik?" p. 20, 26). Verstehen wir recht : wenn bei Kierkegaard das Subjekt noch als „existierender, unendlicher Geist" bestimmt, dieses Selbst noch aus dem Verhalten der endlichen Existenz zum Un-endlichen exponiert wird, wenn dergestalt die Partnerschaft des Menschen zu der überendlichen, übersinnlichen Gottheit noch der tragende Grund der Besinnung ist, so ist dieser tragende Grund in dem ursprünglichen Ansatz des Heidegger'schen Denkens eliminiert. 204
Gewiß, das Selbst bei Kierkegaard „krankt am Ewigen". Aber diese Krankheit, die „unglückliche Liebe", die „Verzweiflung", ist eine Krankheit des „Ewigen im Menschen". „Die Unendlichkeit und das Ewige ist das einzig Gewisse." In dieser Gewißheit „verhält sich" die endliche Existenz zu ihrem unendlichen gegen-Stand. Sie ist verzweifelt aus dem Wissen um das Paradoxon des Glaubens, dem Widerspruch, der durch den Glauben (Seinsgewißheit) geht, dem Wissen um die „absolute Verschiedenheit des Endlichen und des Un-endlichen". „Es (Existenz) will Selbst sein, ein Selbst, das es nicht ist." In all seiner Gebrochenheit versteht es sich in ungebrochener Gewißheit von dem her, was es nicht ist, von dem her, das als das Un-endliche „vernichtet, was ihm ungleichartig ist" — wie die Tradition von Piaton über Thomas und Spinoza bis Hegel das existierende Dasein aus dem transzendenten, Endliches übersteigenden Gegenstand her verstanden hat, nach dem es nun in Kierkegaard „todkrank" verlangt, um selbst zu sein. („Zum Tode krank." „Es kann nicht sterben." „So muß die Ewigkeit handeln." Werke 8, 18.) Der Eros Platon's, die vis infinita des Cusanus, die capacité infinie Pascal's, das zeitlose Subjekt Kant's und Hegel's sind bei Kierkegaard gewissermaßen todkrank geworden. Sie schauen in den Abgrund, der zwischen dem Schicksal der Endlichkeit und dem Unendlichen aufklafft. Von dem Un-endlichen ist bei Heidegger nicht mehr die Rede, daher auch nicht mehr von der Verzweiflung (im Glauben). Ebenso nicht von Sehnsucht. An die Stelle beider tritt Angst. Die Angst, von der nun die Rede ist, ist nicht mehr die Angst der christlichen Tradition, sowenig sie die Angst ist, die bei Kierkegaard noch aus dem Innesein (oder der Ahnung) der existentialen Entgegensetzung des Endlichen und des Un-endlichen geschieht. Bei Heidegger ist die Angst Attribut des partnerlosen Subjekts, das sich nicht aus seinem Verhalten zum Un-endlichen, sondern aus der Übernahme der Geworfenheit des unendlichen Seins in das Da versteht. Das Nichts, das Korrelat der Angst, steht für das aus der Teilnahme an der oder dem Dialog mit der Gottheit ausgestoßene Nichtseiende — genauer, für die „Nichtung" des Seienden als die in dessen Entgleiten mächtige Macht. 205
Es steht für die in das „Widergöttliche", für die im Seienden irrende, verworfene Ewigkeit (Maß). In dem Ansatz Heidegger's ist das Un-endliche, das die Endlichkeit durchbrechende Sein, eliminiert. Die Endlichkeit ist die allentscheidende Kategorie. Die Partnerschaft des Menschen mit der Gottheit, religiös gesprochen, ist zerstört. Das Sein ist in das schutzlose, im Ubersinnlichen nicht geborgene Da des Seienden geworfen. Ich sprach früher davon, daßder nominalistisch-positivistische Welt- und Menschenbegriff in dem Heidegger'schen Ansatz umgeht. Ich verweise auf das über David Hume Angeführte, auf das, was sich im christlichen Herzen der abendländischen Seinsgeschichte, in der Bewegung von Duns Scotus bis zu Hume und dem positivistisch-pragmatistischen Seinsbegriff unseres Zeitalters, vollzieht. Am Ende dieser Geschichte steht die ontologische These von dem Absoluten der „Tatsachen" und der Begriff eines Menschen, dem die pragmatisch-technische Beherrschung dieser „Tatsachen" zu dem Medium der Seinsoffenbarung geworden ist. Oder vielmehr : das Bleibende, Invariable, der übersteigende, übersinnliche gegen-Stand mit seinen Einheits- oder Ordnungssymbolen, ist zu einer Fiktion oder Arbeitshypothese geworden. Im Horizont des dergestalt schutzlos gewordenen Seienden wird bei Heidegger die Frage nach dem Sein seines Da gestellt — die Frage gewissermaßen nach der Neuoffenbarung Gottes in dem weltlichen Da-sein (natura naturata moritura). Heidegger hat wie Nietzsche, von dem er herkommt und dessen „Schrei" nach Gott in denselben geschichtlichen Quellen wurzelt, die Frage nach dem übersteigenden, übersinnlichen Gegenstand inmitten einer dieses Gegenständliche eliminierenden Welt gestellt. Mit der Exposition des Seins des Seienden hat es diese Metaphysik allein zu tun. Daher sind es billige Versuche, ihre Begriffe in eine anthropologisierende oder humanisierende Existenzphilosophie hineinzustellen, wie es ebenso wenig angeht, diese Philosophie (und in weit höherem Grade die Nietzsche's) mit dem billigen Terminus des Atheismus zu belegen. Sowenig es in der Philosophie als solcher (philosophia perennis) primär je um den Menschen gegangen ist oder gehen wird, so geht es hier um das Sein als das perennierende Attribut 206
des Seienden : um den Ursprung (arche) des Universums. Daher redet alle sogenannte Kritik an diesem Denken vorbei, wenn sie versucht, ihm die auf dem Grunde der traditionellen Seinsgerichtetheit geschöpften Götter entgegenzustellen, „als ob es für das Wesensverhältnis, in das der Mensch durch das technische Wollen zum Ganzen des Seienden versetzt ist, noch in einem Nebenbau einen abgesonderten Aufenthalt geben könnte, der mehr zu bieten vermöchte als zeitweilige Auswege in die Selbsttäuschung, unter die auch die Flucht zu den griechischen Göttern gehört" (Holzwege, p. 272). Das Verdienst des Heidegger'schen Denkens besteht darin, daß es entgegen dem zeitgenössischen Denken die Frage nach der Wahrheit (Wirklichkeit) des Seienden aus dem geschichtlichen Wissen um dessen in Göttern und Götzen ungeschützte, entmythologisierte Ungeborgenheit heraus gestellt hat — ganz analog, wie sein Lehrer Husserl die Frage nach der Einen Wahrheit und dem Einen Sein gestellt hat, d. h. ebenso in der Front gegen den zeitgenössischen positivistischen Relativismus wie gegen (was eng damit zusammenhängt) die beschwörende, zeitgenössische Erneuerung platonisierender, aristotelisierender oder scholastischer Ontologien und Mythologien, die in mannigfachem Gewände heute umgehen. Dies vorausgeschickt, fragen wir indessen: Kommt das Sein des Seienden in dieser Philosophie zu seinem klärenden Begriff? Kommt der Begriff des Seins als das Prinzip unbegrenzter Weltoffenheit („Lichtung") zu seiner ihn aufklärenden Darstellung — das Sein, nach dem wir ständig fragen, nach dem die um ihr endliches Existieren bangende Existenz fragt? das Fragen, das nicht als ein zufälliges Akzidenz dieser Existenz erscheint, sondern das in dem leidenden Innesein des dem Schicksal und den Schicksalsmächten, dem partikularen Da, ausgesetzten Daseins gründet — die sehnende Gerichtetheit aller Kreatur nach dem die Endlichkeit durchbrechenden, von der Macht der Endlichkeit freimachenden Sein? Kommt das einende Sein als die arche des Universums in dem Heidegger'sehen Verfahren auch nur in den andeutenden Blick P1) „Der Hirte des Seins ist der Platzhalter des Nichts". „Die Epoche (epoché) des Seins gehört ihm selbst" (Holzwege, p. 311). „Das Seiende ist in die Irre
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„Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt." Das ist nicht das Sein, das wir in unserem endlichen Leben ständig erfahren als das durch alle Zeiten sich durchhaltende Attribut des Seienden, das Unum, dessen zeitlosen Symbolen wir in alle infinite Zukunft die Erfahrungsinhalte zuordnen in der Frage unseres Daseins nach der Wirklichkeit des Seienden — das Unum, das mit dem Nichts identifiziert wird, aber nicht mit dem Nichts in dem Sinne des Widergöttlichen oder des sich Verschließenden, auch nicht in dem Sinne des dem Da ausgesetzten, also „endlichen Seins", „das nicht in das Licht tritt" und als ewiges „Verhängnis" „sich ereignet", sondern in dem Sinne, daß in ihm, dem Unterschiedslosen, das Endliche seiner Endlichkeit mächtig, frei wird. Heidegger's Analysen verzehren sich in der Darstellung der Frage nach dem Sein, das dem Da der Endlichkeit verfallen ist. Das Dasein scheitert, nicht weil es endlich ist, sondern weil dem Sein die Endlichkeit zugesprochen wird. „Das Sein ist selbst im Wesen endlich" (Was ist Metaphysik? p. 26). Es ereignet, in der es das Sein umirrt" (1. c. 310). Weltoffenheit geschieht in der „Verdunkelung". „Anwesenheit (Sein) geschieht in der Abwesenheit". „Durch das Sein geht ein verhülltes Verhängnis, das zwischen das Gotthafte und das Widergöttliche verhängt ist" (1. c. 41). Da, wo „das mannigfaltig Seiende einig vor den Wesensblick kommt" (306), ist das Sein „verdunkelt". „Die Unverborgenheit des Seienden, die ihm gewährte Helle, verdunkelt das Licht des Seins" (310). Die „Verdunkelung" „umkreist, wie das Nichts, das wir kaum kennen (vgl. Timaios), alles Seiende". „Die Wahrheit west in der Unwahrheit". „Die Welt gründet sich auf die Erde, und Erde durchragt die Welt" (37). „Die aufgehende Welt bringt gerade das . . . Maßlose zum Vorschein" (1. c. 51). „Die Erde zeigt sich als das alles Tragende . . . ständig Sichverschließende" (1. c. 51), sich offenhaltend in die „offene, lichtende Mitte", das umkreisende Nichts. Dem nichtenden Nichts der früheren Schriften wird die „Bestreitung des Streites" zwischen (sich verschließender) „Erde" und (offener, sich versagender) „Welt" substituiert. „Mit dem Sein ist es nichts". Denn es west in diesem „Urstreit", in welchem es sich entzieht, „indem es sich in das Seiende entbirgt". Der unsinnliche, übersinnliche gegen-Stand versinkt in dieser „Bestreitung des Streites" in dem „Werkhaften des Werkes" : „Ein Hauch um Nichts. Ein Wehen im Gott. Ein Wind" (wie Heidegger p. 292 Rilke zitiert). Sein wird „repräsentiert", wo die Dinge unbeschränkt ineinander ruhen können, „kaum Grenzen und Unterschiede zwischen den Bezügen bestehen" - das alles Gegenständliche nichtende, im Ungeborgenen irrende Sein, das in dem „Weltinnenraum des Herzens" „entspringt" (cf. p. 282), wohin die unsinnlichen und übersinnlichen „erdachten Gebilde" wie die „gegenständigen Dinge" „gewendet" („er-innert"), wo die Dinge vielmehr „aus der bloßen Gegenständigkeit" (Gemachtheit) „errettet" werden.
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kommt um seinen Charakter des Wohin, als in welchem es mit unserem nach Freiheit von seinem Da fragenden Dasein untrennbar verbunden ist - als die der Macht der Endlichkeit gegenmächtige Macht. Heidegger hat den Tod als die dem Sterben, der Endlichkeit, transfinite Macht nicht verstanden. Er hat den Tod als „das Sein zum Ende" in die Gebrechlichkeit des Daseins hineingezogen. Er ist mit der Endlichkeit nicht fertig geworden. Er ist mit der Tatsächlichkeit der Tatsachen nicht fertig geworden. Wie bei Hume ist bei ihm „Dasein in der Welt" ohne Welt. Das Universum ist um seine Realität gebracht. Er hat den Tod als die transzendete Quelle dieser Realität nicht verstanden.
b) D i e i n f i n i t e Fülle u n d die t r a n s f i n i t e (transzendente) Leere. V e r n e i n u n g . Z u r M e t a p h y s i k der F o r m a l i s i e r u n g (Form) oder der s y m b o l i s c h e n K o n s t r u k t i o n „Der Mensch ist die Substanz die die Natur unendlichfach bricht" (Novalis, ed. Heilborn, 1901, p. 254). Das Unterschiedslose ist die im Universum des Verschiedenen herrschende Macht. Aber wir erfahren nur Unterschiedenes, Unterscheidbares. Wir erfahren nur Seiendes. Wir erfahren nicht nicht-Seiendes. Wir erfahren nicht das Nichts in diesem Sinne. Das Nichts ist nicht gegeben. Es kann nicht in Erfahrung gebracht werden in dem, was es ist. Die Frage nach dem Sein des Nichts ist eine sinnlose Frage. Nur bei Seiendem — bei Menschen, bei Tieren, leblosen Dingen — können wir nach Gründen fragen. Wir fragen, warum etwas ist oder existiert. Wir fragen, warum das Existierende so ist und nicht anders. Wir fragen, warum Seiendes, das da ist, so ist oder so sich zeigt. Seiendes zeigt sich als das unerschöpfliche (unendliche) Kontinuum von da- und so-Seiendem. Der Satz vom Grunde („omne habet rationem") hat unendlichen Umfang. Er hat zu seinem Medium die äußere und die innere Unendlichkeit des existierenden Seienden. 14
Metzger: Freiheit
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Das nicht-Seiende ist das Grundlose, das Ab-gründige. Nur Seiendes kann offenbar gemacht werden. Nur auf Seiendes bezieht sich die Frage nach gründender, rechtfertigender Wahrheit. Seiendes kann in dem, was es ist, enthüllt, entdeckt, konstruiert werden. Das nicht-Seiende ist das nicht-Offenbare. Es hat auch keine verborgenen (transzendentalen) Implikationen noch Konsequenzen im Sinne der Logik. Das nicht-Seiende oder das Nichts ist das Verschlossene. Daher sprach H. Cohen (Logik der reinen Erkenntnis, 1902, S. 70) von dem Nichts als der „Ausgeburt tiefster logischer Verlegenheit". Das Nichts entzieht sich der gedanklichen Fassung. Es ist dem Gedanken, d. h. der Korrelation von Wahrheit (wahren und falschen Sätzen und den Modalitäten der Wahrheit) und Sein, transzendent. Aber doch ist es da. Es ist da im Wegräumen des Etwas. „Das Nichts ist ein Unterbegriff. Selbst das Wort wäre nicht da, wenn man nicht ein Etwas (Ichts) wegräumte" (Herder). Aber wir können wegräumen. Der Mensch kann destruieren. Er ist ein Seiendes-wegräumen-a-priori-könnendes Wesen. Das Nichts wird nur verstanden aus der Mächtigkeit des Menschen zu verneinen. Es zeigt sich in der unerschöpflichen Wiederholbarkeit der Iteration der Verneinung. Der Mensch ist nein-Sager. Das besagt, er ist ein transzendentales („intelligibles"), Seiendes je überschreitendes Wesen. Wir gehen über Seiendes hinaus. Wir lassen es nicht gelten. Oder wir gehen unter Seiendes hinunter und lassen es je und je nicht gelten. Wir verneinen zuletzt radikal alle Dinge. Wir lassen da- und so-Sein (was-Sein, wie-Sein) sozusagen stückweise verschwinden. Wir sagen zuletzt: die Welt ist, sie könnte auch nicht „sein". Es könnte auch nichts „sein". Es könnte auch nicht-Seiendes an Stelle des Seienden sein. Welt braucht nicht so und so zu sein, wie sie ist, und braucht überhaupt nicht zu sein. Oder aber wir übersteigen das Seiende nach oben. Wir lassen keine inhaltliche Bestimmung gelten. Wir geben uns mit keiner noch so allgemeinen Bestimmung zufrieden. Wir übersteigen Bestimmtes und Bestimmbares, bis wir zum letzten, von aller Inhaltlichkeit (Materialität, Gehalten und Gestalten) entleerten, bestimmungslosen, identischen gegen-Stande infiniter Wieder210
holbarkeit der Identifikation (Bestimmung) kommen — dem formalen Sein, das Hegel mit Recht mit dem Nichts identifizierte. Aber das Nichts am Ende dieser ab- und aufbauenden, negierenden Prozesse des Wegräumens ist nicht erreichbar, es sei denn als die obere oder untere Grenze destruierenden oder konstruierenden Denkens, als das entleerte Invariable (Form) oder das ebenso entleerte Variable — der leere Raum, den Piaton, wie wir sahen, als den Ort der Vervielfältigung und der Trennung der bestimmungsüberlegenen Eins gemeint hat: den Ort der Materie, des „unbegriffene (n) und unbegreifbare (n) Residuum^) unserer Analysis" (Lange, Gesch. d. Materialismus). Wir stoßen nach unten und nach oben in Prozessen der Destruktion und der Konstruktion, in Prozessen ab- und aufbauender Bestimmung, die mit Prozessen der Vernichtung (Aufhebung) des je Bestimmten einhergehen, auf das Nichts. Die Welt der Schönheit und Fülle, die Welt der Gestalten, liegt zwischen diesen beiden Typen des Nichts. Wir haben früher von dem Sein, im Sinne der Kopula, als Relationsbegriff gesprochen. Die Relation Sein mit ihren relatis (etwas ist bezogen auf) ist abgegrenzt gegen andere, überholende Relationen (Beziehungen). S ist dieses und kein anderes. Aber doch wieder zugleich, indem S in dieser oder jener Beziehung steht und andere ausschließt, weist es in die Grenzenlosigkeit möglicher Beziehungen hinein. Jede mögliche Identifizierung in dem grenzenlosen Kontinuum des Geschehens trägt mit sich das „logische" Kontinuum (Horizont) unerschöpflicher Identifizierung. Alle möglichen Relationen gehören zu dem zu bestimmenden S. Das will besagen: S (das Hier und Jetzt) ist so und so, und zugleich ist S nicht so und so. Das grenzenlose Kontinuum des Geschehens kann nicht in Grenzen („constructs") gepreßt werden. Der Satz des Widerspruchs gilt nicht für das intuitiv-unendliche Kontinuum (L. E. J. Brouwer). S ist nicht P. Wir sagen ein negatives Urteil aus. Das negative Urteil meint, daß die Relation „Sein" verneinend ist. Aber fundamentaler als die negierende Kopula (der negative Satz) ist die die Relation Sein selbst betreffende Negation. Genauer: wir unterscheiden von der negierenden Relation, 211
dem negierenden Satz, das unendliche Urteil: S ist non-P. So, wenn wir ζ. B. sagen: S ist „nicht-sehend", d. h. blind. Wir sprechen von dem unendlichen Urteil, um zum Ausdruck zu bringen, daß aus dem unendlichen Raum, der Fülle aller möglichen Prädikate, alle ausgeschlossen sind mit der Restriktion auf das „nicht-sehend". In diesem Falle ist also nicht die Relation (Sein) negiert, sondern das Prädikat. Dergestalt nun ist die Relation Sein als solche (das gemeinsame Prädikat oder Merkmal von allem möglichen Seienden), daß wir am Ende der in das Unendliche gehenden Möglichkeiten der Bestimmung irgendeines Bestimmbaren (S) das Sein selbst aus diesen Möglichkeiten ausschließen. Mit dem Sein des Seienden drücken wir am Ende die Unmöglichkeit der Bestimmung aus. Der Prozeß der Seinsbestimmung scheitert an der Idee Sein selbst. Sein ist nichts. Seiendes „ist" am Ende nichts, bestimmungslos. Nichts ist das Prädikat (Merkmal) eines Seienden — positiv zwar in der Form (hinsichtlich der Relation), aber negativ im Inhalt. Mit dem Nichts drücken wir aus: wir meinen, daß das Sein als Prädikat jedes Seienden dasjenige ist, das durch kein Seiendes oder kein etwas dargestellt werden kann. Mit dem Nichts drükken wir die Unmöglichkeit der materialen, anschaulichen Repräsentation des Seins aus. Nichts ist kein Etwas, so weit auch immer wir den Begriff des Etwas (Gegenstandes) und möglicher Anschaulichkeit spannen. Die formale Symbolik des auf das Sein als sein Thema bezogenen Denkens zieht ihre Wahrheit (Rechtfertigung) aus dem Nichts als dem Elemente des Seins, d. h. aus der Unmöglichkeit der materialen Darstellbarkeit dieses „Gegenstandes". Das Nichts ist nicht „da". Nichts ist dem, was ist, transzendent. Aber es zeigt sich in dem, was ist. Wir „fühlen" es als „absolute Leere" (vgl. dazu die Ausführungen bei H. Kunz, „Die anthropologische Bedeutung der Phantasie", II., p. 37 ff.), die zuweilen in der menschlichen Verzweiflung umgeht. Wir „fühlen" es in dem Grauen der in die Leere blickenden Angst, aber nicht nur und vor allem nicht wesentlich in der Angst. In der Angst zeigt es sich in unserem Leben nur dann, wenn dieses von dem Willen zum Sein verlassen ist. Aber wesentlicher als die Seinsverlassenheit ist die Seinsgewißheit, in der der 212
Schmerz der Angst, ein phaenomenon bene fundatum, gründet. Fundamentaler als die Angst ist unserem wachen, mit dem Sein verbundenen Dasein die Sehnsucht. Dasein sehnt sich aus der Bedrohtheit seiner mit der Leere verhafteten Existenz heraus nach der Fülle des Seins — dem erfüllten Sein. Das Nichts ist nicht Gegenstand seines Verlangens. Wir erstreben es nicht. Wir lieben es nicht. Was wir erstreben inmitten unserer heimgesuchten Existenz, ist das versammelnde, letztvereinigende Eine Sein. Über unserem Dasein steht die Macht des Seins: des Realen. Das Nichts zeigt sich in der Macht des Seins über unser verlangendes, wollendes, denkendes Leben. Das Nichts ist das Element des Seins — des Zeichens für die in die Leere hineinweisende Wiederholbarkeit der Bestimmung. Wenn es aber wahr ist, daß das Nichts das Element des Seins (Realen) ist, so ist es doch das Sein, das wir als seinen Gegenzug suchen. Im Nichts im Sein, als worin die Fülle des Seienden eingeht, gerade darin, daß das Nichts die materiale Darstellbarkeit des Seins aufhebt, verbirgt sich die auf das Sein bezogene, invariable Ordnung (Einheit) des Seienden. Mit dem Nichts als dem schöpferischen Elemente des Seins ist unser Leben verbunden. Aus ihm schöpft es seine weltbildende Macht. Machen wir das deutlich: „Was an sich angestrebt wird, ist das Sein. Das nicht-Sein wird aber insofern angestrebt, als der Mensch nach einem gewissen Sein (quoddam esse) verlangt, dessen Verlust er nicht tragen kann" (Thomas Aquinas, Summa Theologica, ed. Kath. Akad. Verb., lib. I. Q. 5, 2). Was der Mensch nicht tragen kann, ist indessen nicht eigentlich der Verlust „irgend eines" Seins, sondern des Seins als solchen und alles dessen, was, mit Aristoteles zu sprechen, daran „hängt": das Seiende in seinem universalen Einheitszusammenhang. Was der Mensch nicht tragen kann, ist Weltverlust (Chaos) und mehr als dieses: Seinsverlust. Und vielleicht liegt das eigentliche Merkmal der Pathologie menschlichen Geistes (Neurose, Hysterie, Psychose, Schizophrenie usw.) darin, daß der Patient, bewußtseinsmäßig gesprochen, d. h. wenn wir von den begleitenden organischen Störungen absehen, den Seinskontakt, den „normalen" Kontakt mit der Welt oder vielmehr nicht nur mit den Dingen und den Menschen, sondern mit dem ganzen 213
Sein der Welt und dem Sein der Mitwelt, d. h. also mit dem Seienden als solchen, verloren hat. In der Not des Weltverlustes liegt das bindende Wissen von Sein. Höchste Verzweiflung hat zu ihrem Grunde der Möglichkeit höchste Seinsbejahung. In dem Selbstmorde aus Verzweiflung, dem Wegwerfen des mit dem Sein verbundenen Lebens, liegt verborgen-offenbar negatio negationis: der Hymnus — zwar nicht auf das gelebte Leben, sondern das gelebte Leben wird weggeworfen, weil es dem Sein inadäquat ist, dem dieses Leben in allen seinen Graden invariabel verbunden ist. Der Selbstmörder verzichtet, metaphysisch gesprochen, auf sein Leben aus der Seinsgewißheit heraus. Noch in der höchsten Lebensnot verbirgt sich die Liebe zum „wahrhaften" Leben, d. h. vielmehr die Verbundenheit der um ihr Existieren wissenden Existenz, die wir Mensch nennen, mit ihrem exzentrischen Gegenstande. In dem limes der Pathologie, die dem Psychiater vorliegt, ist die menschliche Verbundenheit mit dem limes dieses Gegenstandes ausgelöscht. — Wir suchen nicht das Nichts. Wir suchen das Eine. Wir suchen das Eine Sein der Dinge. Wir stehen in der Welt, d. h. wir stehen ständig vor der Aufgabe, das Unerschöpfliche der Weltmaterie zu humanisieren: Welteinheit und Einheit der Menschengemeinde zu schaffen. Der Mensch ist das das Sein bildende Wesen, aber so, daß dieses als das Mächtige (Reale) seinem schaffenden Dasein ständig als Macht vorgegeben ist und ihm entgegensteht. Wir leben nicht um zu leben. Wir leben um zu sein. Das Sein aber überschreitet, sich entziehend, unser Leben. Weil wir das Sein lieben, existiert das Seiende als Widerstand. Das Existierende meint Widerstand. Das Objekt ist Widerstand, weil es dem Sein widersteht. In diesem Widerstandscharakter der Objektivität der Objekte offenbart sich die Macht des Seins über sie. Die verlangende Transzendenz unseres Lebens ist die Stätte, in der sich diese Macht auslebt. Es ist nicht die Verneinung der logischen Denkakte, worin sich das Sein als die transzendentale, das Seiende aufhebende Macht genuin darstellt. V o r dem logischen Prozeß der Urteile (Aussagen), zu denen die beiden grenzenlos iterierenden Modi der Bejahung 214
und Verneinung, einander verschlingend, invariabel gehören, liegt die Erfahrung selbst: die erfahrende, auf die Materie angewiesene Endlichkeit unseres Daseins. Das Erfahrene ist Widerstand. Daß der Mensch an der Welt und ihren Gegenständen leidet, ist der Ausdruck davon, daß er mit ihnen aus der vernichtenden Macht des Realen her umgeht — jenes Leiden, das, metaphysisch gesprochen, selbst in dem seligen Augenblick des: „Verweile doch, du bist so schön!" uns nicht verläßt. Mächtiger als dingliche Umwelt und mächtiger als die Konventionen, Setzungen und Gesetztheiten, die den Menschen mit der Aktualität seiner Mitwelt verbinden, ist der Horizont, der ihn in die überschreitende Ferne treibt. Nichts ist in seinem negativen Inhalt etwas Positives, und zwar ist es dasjenige, womit wir das Sein bezeichnen. Es ist sozusagen das ens perfectíssimum (Gottheit). So merkwürdig ist das Sein, mit dem wir alles Seiende als dessen Merkmal bezeichnen, daß es nur durch das Nichts bezeichnet werden kann. Das negative (S ist nicht P) und das unendliche Urteil (S ist non-P) wie die Modalitäten des Urteils (Vermutung, Wahrscheinlichkeit, Frage usw.) sind der logisch-apophantische, modale Ausdruck davon, daß der Logos des einigenden, jede begrenzende Bestimmung überschreitenden Seins in jeder (ausdrücklichen oder nicht-ausdrücklichen) Erfahrung das Lebendige ist. Aber doch wieder : die Transzendenz unserer Erfahrung und des erfahrenen („noematischen") Inhalts ist nicht um ihrer selbst willen. Transzendenz ist nicht etwas Subjektives. Sie liegt im Seienden selbst : darin, daß Seiendes Seiendes ist, darin, daß das Grenzenlose in ihm enthalten ist. Kein Seiendes kann definiert werden durch sich selbst. Die Totalität des Seins enthält keine Glieder, welche in sich selbst definabel sind. In jedem Seienden liegt das Kontinuum des Ganzen, das grenzenlos extensive Ganze, in dem es keine Teile gibt: das nicht zusammengesetzt ist aus Teilen (vgl. E. Husserl, Log. Unters. II, p. 267). Das Kontinuum des Seins hat keine Teile. Nichts im Kontinuum ist getrennt, was nicht bereits getrennt wurde. Die Kopula „Sein" ist der apophantische Ausdruck dieser kontinuierenden, das je Existierende überschreitenden, immer selben, das einzelne mit dem Ganzen verbindenden Unendlichkeit. „Sein ist eine 215
synthetische Masse" (Novalis). Es ist wichtig, daß wir den Begriff der Kopula nicht in Abhängigkeit bringen von „sprachlichen Mystifikationen". Die Kopula meint nicht Gleichheit. Das S ist dem Ρ nicht gleich, vielmehr S und Ρ repräsentieren beide das Unendliche — die Eine in ihren Möglichkeiten unerschöpfliche Reihe des Werdens, in der S (X) und Ρ (Y) willkürliche, abgegrenzte, verdinglichte termini bilden, die in eine Relation gebracht werden. Wir sagen: das, was wir mit dem S meinen, ist dem, was wir mit dem Ρ meinen, gleich; oder es ist ähnlich oder verschieden usw. Aber doch wieder: nur dann verstehen wir das Kontinuum unerschöpflichen, dem Seienden gewissermaßen inkorporierten Werdens in der Natur, wenn wir begreifen, daß es das Eine Ganze ist, das in jedem Teil und in jedem Segment des Werdens enthalten ist, das Identische im nicht-Identischen (Individuellen), das Eine unteilbare Ganze, in dem das je gemeinte Seiende (Existierende) und die jeweiligen Relationen horizontale Grenzen (Substitutionen) der Ganzheit bilden — das in der Unendlichkeit des Variablen mitenthaltene Ganze, das wir in den logischen, iterierenden Akten der Bestimmung (Identifizierung) als den limes (Idee) bezeichnen, auf den alles konvergiert, um zu sein. Diese Idee des Einen läßt jede intuitive, materiale Erfahrung hinter sich, aber doch so, daß die Erfahrung in der all-einigenden, formalen, entleerten Identität des Ganzen ihre unendliche Bestimmung erhält. Das Identische erscheint in der Welt. Es hat einen unendlichen Umfang. Es ist nach der Welt des Individuellen, des Schöpferischen, hin offen. Aber es ist doch dasjenige, was das Individuelle durchbricht. Es ist transfinit. Das Veränderliche ist auf Unveränderliches notwendig (a priori) bezogen; es ist diese Beziehung, die wir mit dem Denken bezeichnen, und es ist dieser transfinite Gegenstand, in dem die Logik mit ihren invariablen Theoremen ihr Thema findet. Das Identische erscheint in der Welt des Variablen, aber es existiert nicht in der Welt des Variablen (sowenig die ideale Röte mit den individuellen roten Gegenständen koinzidiert; aber die ideale Röte, wie jedes Identische, hat in dem Kosmos der idealen Gegenstände eine systematische, die Ideen zu Polen einer Relationssystematik machende, dialektische Stelle). 216
Auf dem Grunde der Erfahrung der kontinuierlichen Variabilität konstruieren wir die transfinite (transzendente) „Idee" des totalen Seins, in dessen invariablem Kosmos das einzelne seine logische Stelle findet. Wir nennen die auf das transfinite Eine gerichtete, explizierende, zusammenfassende Aktivität „Denken". Wir wiederholen gewissermaßen auf der Stufe der Explikation, der Sprache, was wir vor der sprachlichen auseinander-Setzung „dauernd" erfahren: das Kontinuum des ungeteilten Ganzen, „die ohne Grenzen geeinte Unendlichkeit" (Cusanus, De Visione Dei XIV: infinitas infinite unita). Jedes Variable (Tatsache) hat in sich einen unendlichen Horizont, ist nach innen und außen eine grenzenlose, extensive Größe. Es hat seine Stelle des Werdens in dem Kontinuum des Ganzen, das „immer" das Eine ist. Dergestalt ist das einzelne (die „unterste Gattung") durch das ungeteilte Ganze determiniert. Daß die Welt des Existierenden sub specie aeternitatis (identitatis) darstellbar ist, mathematisch „abbildbar", hat seinen Grund darin (so darf man vielleicht sagen), daß die Existenzen, das Variable, in dem Einen ungeteilten Ganzen ruhen. Das Mannigfaltige, die unerschöpfliche Schöpfung, ist an jeder Stelle die Wiederholung des Ganzen. Aber die ungeteilte Schöpfung erscheint nicht in der ständigen Schöpfung des Neuen : in der Welt existierender Tatsachen. Die Variabilität des Hier überschreitend, konstruieren wir die allumfassende „Idee" des Ganzen. Wir denken das Eine, das totale X, dem in der Erfahrung nichts entspricht als das fließende, stetig neue Kontinuum (Nichts) des sich überschreitenden Mannigfaltigen. Die Einheit (Selbigkeit) in dem Mannigfaltigen konstruierend, überschreiten wir das Mannigfaltige. Aber doch wieder: der „Vernunftbegriff" ist nicht oberhalb oder außerhalb der Welt der Erfahrung. Die Idee ist nicht „da hinter und da drüben" (Hegel). Das Ganze ist dem Denken vorgezeichnet — darin, daß wir es in dem je Erfahrenen, vor ihm und seine kategorialen Aktionen fundierend, als unendlichen Horizont mit-erfahren. Dergestalt erfahren wir ein Seiendes. Das Vorhandene als dieses da-und so-Seiende steht für etwas, was nicht da ist und nicht so ist. Die Macht des Un-endÜchen liegt im Endlichen, aber so, daß sie als diese Macht „immer", infinit wiederholbar, dieselbe 217
ist : die Macht des unterschiedslosen Einen. Der Logos des konstruierenden, an das unterschiedslose Eine Sein gebundenen Denkens ist der fundierte Ausdruck dieser Macht des Unendlichen im Endlichen. Aber so geartet ist diese Macht, daß sie mit dem Nichts, dem kein Etwas entspricht, koinzidiert, nämlich darin, daß sie nichts anderes meint als die fluktuierende Fülle des Alls selbst, jedes Hier in dieser infiniten Fülle des Ganzen umfaßt, jedem Hier in dem konstruierten Universum seinen invariablen Ort anweist. „Pluralitas rerum exoritur eo quod Deus est in nihilo" (Cusanus, De docta ignorantia, II, 3). Die Gottheit (Sein) hat ihren Ort im Variablen, im Nichts der Andersheit. Sie zeigt sich als dasjenige, was durch kein Endliches darstellbar ist. Aber zugleich zeigt sie sich als das die Andersheit hinter sich lassende, transfinite Invariable, als das Nichts der coincidentia oppositorum, „alles in allem und doch von allem losgelöst", die die Andersheit überholende, aber in sich dieses Grenzenlose enthaltende Fülle des mit dem Nichts verhafteten Seins, „nach dem alle Kreaturen verlangen" (De docta, I, 1). Wir haben bei der Beschreibung der platonischen Theorie gesehen, daß Piaton die Ideen mit den Symbolformen der Eins in Zusammenhang bringt. Der Schwerpunkt der Gleichsetzung von Ideen und der von aller morphologischen Qualifizierung dem Prinzip nach entleerten Symbole, Formen (Zahlen) der Anordnung, liegt nicht darin, daß diese Gleichsetzung auf Grund einer Psychologie des Denkprozesses zustande kommt, sondern in der Einsicht, daß in dem Seienden die transfinite (transzendente) Selbigkeit (Ganzheit) das Mächtige ist. Dergestalt wird das Seiende zur Illustration des Ganzen, als dessen Formen (Symbole) die Ideen gemeint sind. Dergestalt ist das unterschiedslose Eine — die Idee des Guten — das Paradigma der Welt in der Fülle des Seienden. Hermann Weyl hat im Anschluß an David Hilbert die Logik (Mathematik) die Wissenschaft vom Unendlichen genannt (Philos. of Math, and Nat. Science, p. 66), was sie auch in anderem Zusammenhange für Hegel gewesen ist. Ihre „Leersymbole" repräsentieren das Transzendente (Nichts). Sie lassen keine intuitive Interpretation zu, d. h. die leeren, formalisierten, nichts 218
repräsentierenden termini und Axiome der logischen Theoreme können nicht durch sich selbst definiert werden, sondern nur in Hinsicht auf die widerspruchslose, konsistente Einheit des Ganzen — die Einheit der Theorie. Die Symbole lassen den Stoff des Gegebenen hinter sich, wie es sich auch in der Physik und überhaupt in jeder wissenschaftlichen Theorie (und Metaphysik), grenzbegrifflich gesprochen, nicht darum handelt, daß jede Proposition intuitiv (evident) ausgewiesen wird : das Ganze der Theorie (des Systems der Form) wird mit der Erfahrung konfrontiert, dergestalt, daß das anschauungsmäßig Gegebene je ein Supplement, ein verifizierendes Beispiel in dem Ganzen der Theorie (Totalität) darstellt. „Die Rolle, die dem Unendlichen bleibt, ist lediglich die einer Idee — wenn man nach den Worten Kant's unter einer Idee einen Vernunftbegriff versteht, der alle Erfahrung übersteigt und durch den das Konkrete im Sinne der Totalität ergänzt wird" (D. Hilbert, Mathem. Annalen, 1925, Bd. 95, p. 190). Das Unendliche, das zu seinem Elemente das Nichts hat, die im Individuellen darstellbare Idee des Ganzen, existiert nicht. Das Un-endliche existiert nicht. Es „existiert" als „Vernunftbegriff". Aber die Welt des Individuellen stellt sich dar im Lichte dieses Begriffs — nicht als einer Arbeitshypothese oder als eines regulativen Prinzips, sondern als der Idee des Ganzen, das in der kontinuierlichen Variabilität des Geschehens mitpräsent ist. Das „Minimum" (Materie - das infinite Stromfeld der Materie), in das wir die Welt auflösen, und das „Maximum" (Universum), mit Cusanus zu sprechen, in dem alles mit allem verbunden ist, sind die beiden einander zugeordneten Komponenten des Variablen und des Invariablen, die als Momente des ungeteilten Ganzen gemeint sind. David Hilbert denkt das Infinite im Lichte des Transfiniten. Die Bedeutung seines Formalismus besteht darin, daß er das Transfinite — das Nichts des Seins - in Zusammenhang gebracht hat mit dem System von Symbolen. Er hat auf einer veränderten Grundlage die These Hegel's erneuert, wonach die Logik die Lehre von dem Un-endlichen ist, d. h. die Doktrin der von aller Inhaltlichkeit (bei Hegel: Endlichkeit) entleerten Symbole, ein Spiel zwar mit „Zeichen", aber doch so, daß dieses Spiel im 219
Rahmen der „Vernunft" (des Identischen) sich abspielt. Die „Zeichen" stehen zueinander in dem Verhältnis der Widerspruchslosigkeit : das System des Tautologischen, das nichts anderes ausdrückt als die formale Abwandlung des leeren, unendlichen Selben. Die Formeln berufen sich auf keine finite (materiale) Bestätigung. Sie sind weder „wahr" noch „falsch". Sie sind auf keine Gegenstände bezogen. Sie sind frei von aller (in Gedanken oder in der Anschauung) verifizierbaren „Meinung". Das Transzendente kann nicht repräsentiert werden (auch nicht in einer unendlichen Reihe). Die Formeln sind „wahr" im Sinne der tautologischen Konsequenzlogik. Aber hier liegt das Entscheidende : diese Symbolik bildet den integrierenden Bestand jedes wissenschaftlichen Systems (Denksystems). Den Symbolen entspricht nichts. Das transfinite System von Propositionen kann nicht als eine Mannigfaltigkeit „einsichtiger, inhaltlicher Wahrheiten" demonstriert werden. Seine Wahrheit liegt in seiner Konsistenz—ein „treasure without disclosing its location" (Weyl). Aber die Welt des Geschehens kommt in diesem „Schatz", der keinen Ort in der Welt hat, zur Darstellung. Das Geschehen kommt in etwas zur Darstellung, was im Geschehen nicht repräsentiert, wohl aber verifiziert werden kann. Das Ungeheuerliche ist, daß die Wissenschaft in ihrer Idee als Einheit der Theorie mit diesem tautologischen Logos arbeitet: es ist dieser Logos, der der Erfahrung konfrontiert wird. Die Zuordnung des Variablen zu dem Invariablen ist die Seele aller Erkenntnis. Es ist diese Zuordnung, die wir das Reale oder das Wirkliche nennen. Die Macht des Denkens des Nichts und seiner Symbole über die Welt des Geschehens gehört untrennbar zum Wesen der Welterkenntnis. Die infinite Fülle und die transfinite Leere sind einander zugeordnet. Das Nichts der Materie findet in dem Nichts transfiniter Leere seine wissenschaftliche Repräsentation.
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c) D e r T o d - das U r b i l d (Paradigma) der I d e n t i t ä t v o n Sein (Form) u n d N i c h t s . Das Sein — das Schema (Bild) des T o d e s Das Sein ist das Ganze, das überall erscheint: „Die Gottheit ist überall." Das Sein ist zugleich nichts, insofern ihm überall nichts entspricht: „Die Gottheit ist nirgends." (Daher hat der Nominalismus, wie wir sahen, aus dieser Quelle des Glaubens an das transfinite Nichts der Gottheit den „Begriff" der Gottheit als in sich widerspruchsvoll abgelehnt. Der nominalistische Positivismus der Angelsachsen wie die idealistische Spekulation der Deutschen kommen zuletzt aus dieser theologisch-metaphysischen Quelle her.) Das nirgends und überall im werdenden Kontinuum erscheinende Ganze ist Nichts. Es entspricht ihm kein Seiendes. Es offenbart sich im Nichts der Materie. Die Materie (das werdende Kontinuum) findet in dem inhaltslosen System tautologischer Formen ihre Repräsentation. Sie hat als das Variable (Zeitlinie, Weltlinie) in diesem System ihren logischen Ort. Sein ist ein inhalts- und gegenstandsloser Begriff. Wenn aber der „Sinntendenz im Begriff des Nichts" (Wust) die Erfüllung widersteht, so ist das Nichts doch keineswegs „Ausgeburt" der „Funktion des Denkens" (Sigwart). Keineswegs ist dieser Ungegenstand ein hypostasiertes Endresultat negierender Urteilsprozesse. Es zeigt sich inmitten der existenten Welt darin, daß das je Existierende als das Ganze erscheint: daß der existente Aufenthalt des Seienden nicht durch sich selbst, sondern nur durch Symbole der ihn überholenden Dauer dargestellt werden kann: darin, daß Seiendes in den Horizont hineinweist, dem die Erfüllung widersteht, und daß gerade in der Nichterfüllbarkeit die unterschiedslose Selbigkeit des Ganzen zur Erscheinung kommt. Von dem Nichts ist zu sagen, daß es sich ebenso in dem Nichtsein (Andersheit) der Materie der außermenschlichen Ereignisse (Existenzen) ausweist wie in dem Verlangen der menschlichen Existenzen nach dem Realen, das unser Dasein verzehrt. Wie das Geschehen der Dinge Ausdruck ist des Verzehrtwerdens ihrer selbst, so ist das Geschehen des Menschen erfüllt von der exzentrischen Tendenz der Verzehrung seiner 221
eigenen, mit diesem Geschehen umgehenden Erfahrung. Die Erfahrung verzehrt das Erfahren und das Erfahrene. Daher sind die Seinskategorien (Weltkategorien), auf die es dem Erfahren zuletzt ankommt, nicht Prädikate des Seienden, sondern Indikationen, formale Abwandlungen des unterschiedslosen, überall und nirgends lokalisierten Ganzen. Das unterschiedslose Sein ist das Paradigma der Dinge: die nichtende und richtende, sich invariabel durchhaltende Substanz da- und so-seiender Dinge. Mitpräsent in dem existierenden (kontingenten) Reichtum der Gestalten, Washeiten und Gesetze ist es (mit seinen formalen, symbolischen Determinanten) untrennbar (a priori) mit dem Seienden in jeder Phase seines augenblicklichen Aufenthalts verbunden. Sein Ort in der Welt ist das Geschehen des versinkenden, ekstatischen Aufenthalts des Augenblicks. Daß Sein sich inmitten des Da der Dinge offenbart, macht es nicht „im Wesen endlich". Sein verstehend, Sein liebend, Sein denkend, verstehen wir das Endliche aus dem, was nicht ist. Das Nichts des Seins legt nicht Zeugnis von der „Geworfenheit" des Daseins ab, sondern von der übersteigenden Macht über die Geworfenheit. Ebensowenig kann man sagen, daß das Sein der „Gegenwurf des Nichts" sei. Seine Transzendenz besteht im Gegenteil darin, daß diese Substanz das Nichts zu ihrem Elemente hat. Es ist die allem Seienden inhärierende, elementare, transzendentale Qualität, die ebenso die kategoriale Ordnung des Universums konstituiert, wie sie dem seinverstehenden Dasein die es konstituierende Mächtigkeit gibt, seiner eigenen Endlichkeit Herr zu werden und für sein eigenes Universum und das Universum der Dinge offen zu sein. Das Nichts des Seins ist die den Menschen von sich wegtragende, ihn von seiner Nichtigkeit heilende Macht. Daß die von sich wissende menschliche Existenz inmitten der Gebrechlichkeit der Dinge der Welt und ihrer eigenen Gebrechlichkeit Sein versteht, dem Sein begegnet, diese Begegnung mit dem Unrealisierbaren auf sich nimmt (oder sie in der Schuld verleugnet oder verrät), das macht diese Existenz frei von der Macht des Existierens über sie. Ihre Freiheit „von" der Natur konstituiert sich, wo sie sich in ihrer exzentrischen Beziehung „zu" dem transfiniten Einen versteht. Wenn es wahr 222
ist, daß nur finite, ihrer Endlichkeit inneseiende Existenzen von der Freiheit wissen, so ist es doch dieses Medium der Zeit, das in der Freiheit durchbrochen wird. Nur wenn der Mensch von der Faszination der Zeit, ihrer werdenden und gewordenen Inhalte, von dem Vorhandenen, sich entmythifiziert hat, schlägt die Stunde seiner Freiheit. Wenn er den Mut findet, das Martyrium seiner von dem Nichts des Seins getroffenen Bestimmung zu tragen, gewinnt er den Blick für ihr geschichtliches Wesen. Das, was dem Nichts als dem Element des totalen Seins die Macht der Überholung des Endlichen verleiht (derart, daß dieses im Ganzen seine Realität erhält), nannten wir den Tod. Sein ist das Paradigma des Seienden. Aber der Tod ist das Paradigma des Seins. Das Sein ist das Schema (Bild) des Todes. Der Tod tötet das Individuelle. Er tötet das je Werdende. Er tötet das Partikulare. Er macht aus dem Individuellen das Werden zum Ganzen. Er macht aus ihm die Stätte des ewige Andersheit verzehrenden Ganzen. Er ist die das identisch-Eine in dem Strom der Ereignisse konstituierende Macht, die in dem Sein der Dinge, seinem Bilde, sich zeigende Macht. Er ist die perpetuierte, im Fließenden stehende Macht des Jetzt. Er ist die die Unterschiede, Entgegensetzungen und Widersprüche des Seienden aufhebende, es im Unterschiedslosen beheimatende Macht des ewig Selben. Wenn das Verschiedene in dem einigenden Elemente des Seins den Charakter der Wirklichkeit erhält, so ist der Tod das Mächtige in dieser Wirklichkeit des Universums. Als diese Quelle der Einigung springt sein Unwesen in dem einigenden Sein. Der Tod offenbart sich in dem infiniten Prozeß der Identifizierung des Partikularen, darin, daß wir das Geschehen, das unerschöpfliche Kontinuum seiner Gestalten, dem messenden Invariablen zuordnen. Daß wir in der phänomenalen Erfahrung eines Seienden seine Totalität mitsetzen und dergestalt in die Unendlichkeit seines Horizonts hineingerissen werden, und zwar so, daß in jedem Schritte, in der kleinsten Phase der Erfahrung, die in aller Besonderheit sich zeigende Identität des Ganzen mitgesetzt wird - in alledem spricht sich die Macht des Todes inmitten der Welt aus. Der Tod ist die Urquelle, 223
aus der das die Zerstreutheit der Existenzen versammelnde Sein seine Macht der Transzendenz schöpft. Der Erkennende „wird von der Todesgöttin weggeführt". Dieser Satz des Mythos gewinnt seine phänomenologische Klarheit: die „über aller Wesenheit" stehende Eins (die Idee des Guten) ist in Piaton das Urbild der Dinge. In der Begegnung mit dem Weltuniversum (als der Stätte der Zuordnung des vielen zu dem Einen) begegnet der Mensch dem Tode, dem Urbild der Eins. Nur wenn wir von Weltgeschehen und von der in diesem Geschehen sich aktualisierenden Einen Ordnung des Seienden wissen, wissen wir von ihm. Nur wenn wir - in äquivalenten Worten - von der dem Weltgeschehen integrierend zugehörigen, unendlichen Wiederholbarkeit des Einen und Selben (seiner invariablen Determinanten) wissen, verstehen wir das Problem, das der Tod in der Welt als vernichtende, d. h. die Transzendenz des Seienden gründende Macht, stellt. Es ist die das Endliche überholende Transzendenz, die wir Freiheit genannt haben, die Welt überholende Begegnung mit der Ewigkeit. Freiheit geschieht „angesichts des Todes". Der existierende Mensch : seine utopische Sehnsucht, sein Wille zur Macht und zu fernster Mächtigkeit, sein auf die Eine Wahrheit und das Eine Sein gerichtetes Denken bleiben unerkannt, wenn nicht die Todesbegegnung in das Wesen der in diesen modis erscheinenden Freiheit hineingenommen wird. Am wenigsten verstehen wir menschliches Sterben, wenn es nicht aus der Macht menschlichen Wissens des Un-endlichen in den Zusammenhang mit dem Todeswissen gebracht wird. Der Mensch stirbt aus dem Wissen der Totalität der Dinge heraus. Weil der Mensch aus der Freiheit, d. h. aus der Seinsbegegnung existiert, daher weiß er von dem Tode. Im Wissen vom Sein gründet das Wissen vom Tode. Der Mensch weiß von dem Tode, weil er von der Realität des Universums ständig getroffen wird. Freiheit - Sein (Zeitlosigkeit) - Tod bilden eine apriorische Einheit der Fundierung in der Existenz, die ihrer Endlichkeit inne ist. Der Mensch ist die Aktualisationsstätte dieser dreifachen Einheit. Zeitlosigkeit - Tod - Freiheit sind die Urmächte seiner zeitlichen Existenz. 224
Fassen wir von diesem höchsten Punkte der Untersuchung der mit dem exzentrischen Freiheitswesen verknüpften Todeserinnerung das bisher Gesagte zusammen.
§ 18 D I E MAEONTOLOGIE DER FREIHEIT
Freiheit hat mit dem inneren Wissen des Menschen von seiner eigenen Existenz zu tun, dergestalt, daß diese sich inmitten des Geschehens an der Ganzheit des Seins mißt. Nicht der Überstieg zur Welt ist die Freiheit, sondern der Überstieg zur Welt ist in der Freiheit gemeint als Überstieg über die Welt hinaus. Aber dieser Überstieg ist nicht selbst die Freiheit. Sie aktualisiert sich in dem Medium der Zeit, dem Medium der infiniten Wiederholung des Überstiegs zu ihrem utopischen Gegenstande : in der Zeit als dem Medium der Seinserinnerung und der Seinshoffnung. Daher gehört zur Freiheit als ihr ursprüngliches Attribut der „Urwille zum Sein". Der Freiheit liegt zugrunde das Urbild des transzendenten, über das Seiende hinwegschreitenden Gegenstandes - des im Geschehen der Natur wie des Menschen waltenden, sich darin darstellenden transfiniten Ganzen. In der Freiheit geht es dem Subjekt darum, es selbst zu sein, was ein anderer Ausdruck dafür ist, daß es in ihr der Existenz darum geht, mit der Endlichkeit (dem Existieren) fertig zu werden. Das freie Wesen bricht die Macht des Sterbens. Freiheit ist in allen ihren Modifikationen, in ihren Kategorien und ihren Typen, die die Geschichte heraufgebracht hat, der gegen das Sterben stehende Wille zum Sein. Insofern ist der Mensch „die Substanz, die die Natur unendlichfach bricht". Sein Brechen des Widerstandes ist der Wille, mit dem fremden Objekt (Schicksal) fertig zu werden. In diesem Willen ist das Ideal der Freiheit: nämlich frei zu sein vom Schicksal, um frei zu sein für das, was über 15
Met2ger: Freiheit
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jedem Schicksal liegt, mit-präsent. In der Freiheit springt die Quelle des Todes. Die Freiheit hat ihren Stand inmitten der Erfahrung irgendeines Diesda, dergestalt, daß dieses Seiende als wahr-Genommenes nicht das ist, als was es sich gibt. Freiheit hat es immer mit der Wahrheit des Seienden zu tun. Die Wahrheit liegt nicht im Gegebenen. Die Offenbarkeit liegt in den Symbolen des umfassenden Einen, auf das jedes Gegebene untrennbar bezogen ist. Freiheit meint die Qualität der Transzendenz, die im Wesen der Erfahrung eines Gegebenen liegt. Daher liegt sie als Prozeß (Geschichte) immer zwischen einem stetigen Woher und einem stetigen Wohin. In dieser fluktuierenden Kontinuität ihrer Geschichte konvergiert sie zu dem Sein. Freiheit nannten wir früher (vgl. § 14 a) die Transzendenz in der Natur, in der Natur der Dinge wie in der sich selbst verstehenden natura - moritura des Menschen. Aber der Mensch weiß von der Freiheit. Er weiß von ihr darin, daß er in seiner Sehnsucht, seinem Wollen, seinem Denken (und in den Gegenmodis : seinem Zweifel und der Verzweiflung, seinem Verfallen in die Angst und in die Schuld) nach ihr verlangt. Freiheit hat den negativen Horizont des Nichtverursachtseins von äußeren Umständen - dem Objekt. Sie ist kein Ding, das mit anderen Dingen in ursächlichem (objektivem, gesetzlichem) Zusammenhange steht. Sie ist nicht von außen determiniert. Sie ist nicht bedingt durch empirische Erfahrung. Zu ihrem Wesen gehört es, unverursacht zu sein, oder genauer: ihre Ursache liegt in der menschlichen Getroffenheit von dem Realen. Fichte spricht in der „Bestimmung des Menschen" von der „Erscheinung der Freiheit aus sich selbst". Schelling spricht in seiner Freiheitsstudie von 1809 davon, daß sie „in der Schöpfung aufbricht". Die Freiheit der freien Existenz ist determiniert durch die Bindung an ihren gegen-Stand. „Freiheit und Zeitlosigkeit sind korrekte Begriffe." Die Freiheit ist das Prädikat der an ihrem Existieren leidenden Existenz in der Welt. Der Mensch leidet an der Welt, weil er gerichtet ist. Freiheit ist immer gerichtete Freiheit „für", derart, daß die Substanz dessen, worauf sie gerichtet ist, das Sein ist, dem nichts in der Welt entspricht. In kantischen Worten: in der 226
Freiheit „hat die Vernunft gerechten Anspruch auf die Erkenntnis (!) des Ubersinnlichen" (Kr. d. pr. Vernunft V, 3,142). Das alles sind äquivalente Ausdrücke. Das alles meint ihr „Unverursachtsein". Freiheit ist verursacht von dem, was nicht gegeben werden kann, und wenn es „der Reichtum der Welt" wäre. Kein politischer Zustand, keine je erreichte soziale Ordnung, keine in der Erkenntnis entdeckte Gesetzesbestimmung oder Theorie vermag ihr Geschehen in ihrem geschichtlichen Werden zur Darstellung zu bringen. Das Gegebene oder das Erworbene oder das Entdeckte tritt als Illustration auf in ihrer unendlichen Geschichte. Die erreichte Heimat trägt mit sich die Unheimat. „In jedem Augenblick, da wir frei handeln, ist ein Triumph des Unendlichen über das Endliche... Die Macht des Endlichen ist in jedem Momente gebrochen, aber es behauptet sich die Existenz" (Novalis, 171). Freiheit ist kein Gegenstand der Wissenschaft, weil Wissenschaften Gegebenes traktieren. Die Wissenschaften beschreiben oder erklären das Gegebene. In ihrem empirischen Verfahren: in der induktiven und deduktiven Methodik der Verbindung des Gegebenen, in dem Prozeß der Verifizierung der Theorien, überschreiten sie indessen das Gegebene. Zuletzt weisen sie dem Gegebenen die Stelle an in dem Ganzen ihrer konstruierenden, denkenden, auf die Totalität des Ganzen gerichteten Operationen. Wissenschaft lebt naiv in ihrem Operationalismus. Der Grund der Möglichkeit ihrer an den Determinanten des Einen Weltzusammenhangs orientierten Interessen wird von ihr nicht in die Reflexion gezogen. Also keineswegs deshalb findet sich die Freiheit nicht in der Physik oder in der Psychologie usw. vor, weil das Gegebene der Wissenschaft „kausal" oder „final" determiniert ist, sondern weil die Wissenschaft (die Einheit der Wissenschaft) in der Kategorie der Zuordnung des Weltmaterials zu den Invarianten der Totalität aufgeht. In diesem ihrem Tun ständiger zuordnender Mächtigkeit (Möglichkeit) wurzelt, wie Kant in großartiger, erster Einsicht gesehen hat, die Freiheit. Freiheit hat zu ihrer endlichen Basis die an die Empirie (das Gegebene) ausgelieferte Existenz. Sie entfaltet sich inmitten der Empirie. Daher ist sie ständig von dem Objekt bedrohte Freiheit. Sie hat zu ihrer Möglichkeit das Versinken ihrer selbst. 227
Bedroht von der Empirie, versinkt sie in dieser. Daher gehört zur Kontinuität ihrer seinsbezogenen Geschichte der Zweifel und die Verzweiflung, die Seligkeit der Seinsgewißheit und zutiefst die Angst, in der sie „zu Boden sinkt" - Modi des Urwillens zum Sein. Des Objekts bedürftig, antwortet Freiheit auf das Objekt antwortet sie aus ihrem erinnernd-transzendentalen Reservoir heraus auf das in die Kontinuität ihres Werdens ständig einbrechende Objekt: das Diskontinuierliche, das partikulare Schicksal. Schicksal in diesem prägnanten Verstände ist nicht Gegenbegriff der Freiheit. Freiheit antwortet auf das Schicksal : das Einbrechen der Materie. Sie ist in ihrer transzendentalen Mächtigkeit in ständiger, wenn auch immer modifizierter Auseinandersetzung mit der Materie : dem Kontinuum des das Sein zerreißenden Diskontinuums. Wie also das Nichtsein der Gegenbegriff des Seins ist, so ist der Gegenbegriff der Freiheit das Verfallen an diese „Finsternis" : „ . . . denn alles Böse (Unfreiheit) strebt in das C h a o s . . . " (Schelling VII, 374). Christlich gesprochen stehen Freiheit und Schuld (Sünde) in Korrelation. Im Griechischen entsprechen dieser Antithese der Sehende (Weise) und der Blinde. Der Blinde - der tragische Held der attischen Tragödie - verfällt der Ananke. Nicht sehend die Einheit, die in der Ananke waltet, erfährt er sie in den partikularen Schicksalen, die, immer andere, auf ihn einbrechen. Er wird von Schicksal zu Schicksal, wie Oedipus, triebhaft gejagt. Blind, nimmt er an dem Einen Logos, der in dem vielen waltet, nicht sehend teil. Der Grieche kennt nicht in diesem Sinne den Begriff der Schuld und der Sünde, weil der Logos des Einen Seins nicht im Lichte des freien, das Partikulare dem Einen zuordnenden, schöpferischen Willens begriffen ist. Der Schuld- und SündenbegrifF stellt sich erst im Christlichen ein, an die jüdische Konzeption der freien, schöpferischen Gottheit anknüpfend und des Menschen als des im Bildnis Gottes geschaffenen, wählenden Wesens, das, dem Endlichen ausgesetzt, frei in seiner Welt zum Guten und zum Bösen verstanden wird. Man vergleiche in diesem Zusammenhange den aus der jüdisch-christlichen Konzeption der Korrelativität des freien Willens und des Logos (Seins) des Seienden gespeisten Satz Hegel's: „Es erscheint als angemessen, den Mythos vom Sündenfall an der Spitze der Logik zu betrachten, da diese es mit dem Erkennen zu tun hat 228
und es sich auch in diesem Mythos um das Erkennen ( !) und dessen Ursprung und Bedeutung handelt" (Syst. d. Phil. Enc. I. Teil: Die Logik, ed. Glockner, Bd. 8, p. 93). Freiheit hat also zu ihrem Medium der Entfaltung die ursprüngliche Zeit - das Medium der Seinserinnerung und Seinshofïhung. Wir sprechen von ihr als dem Ideal der Antwort des Menschen. In dem Begriff des Ideals liegt beides : der transfinite Maßstab wie dieses, daß dieser Maßstab sich dem Gemessenen in infinitum entzieht. Was sich der Realisierung entzieht, nannten wir das Nichtetwas, dem kein Gegenstand entspricht. Freiheit entzieht sich der Realisierung, weil ihr Gegenstand, der terminus ad quem, sich der Realisierung entzieht. In diesem Verstände nennen wir sie die Utopie aller möglichen Utopien. Als Utopie (des Nichtetwas) offenbart sie sich in der geschichtlichen Welt. Es ist dieses Verhältnis des Willens zur Freiheit (und ihrem Gegenstand), das der alten Bestimmung des Menschen als analogia entis zugrunde liegt. Der Mensch ist nicht so sehr analogia entis als analogia libertatis. Bei dem „Menschensohn" als „ex substantia patris", heißt es bei Cusanus, ist die Freiheit (unitas) „vollkommen", weil er von der Gegensätzlichkeit (pluralitas, alteritas) nicht berührt (bedroht) ist. Alle Gegensätzlichkeit koinzidiert in ihm (vgl. Phänom. und Met., p. 144). Der Gott der „vollkommenen" Freiheit ist im Nichts in dem doppelten Sinne: er ist als Koinzidenz der Gegensätze identisch mit dem Nichtetwas; ebenso hat er seinen Ort im Nichts der pluralitas - dem maeontischen Nichtseienden im heraklitisch-platonischen Sinne. Beide „Typen des Nichts" (vgl. § 16 b, γ) hängen (auch in dem Beispiel des Cusanus) zusammen, insofern in dem Nichts des gegensätzlichen Werdens (Sterbens) das übergegensätzliche Eine und Selbe, das Göttliche der Alten, waltet. Im ewigen Sterben ist das Unterschiedslose das Mächtige. Und es ist dieses Mächtige, das in der Freiheit, als Qualität des menschlichen Urwillens zum Sein, waltet. So geartet aber ist nun die Offenbarung der Freiheit in der menschlichen Existenz, daß sie den Grund der Möglichkeit der Selbstbestimmung (Autonomie) dieser Existenz abgibt. Wir
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sprechen von dem „allgemeinen" Selbst des Menschen. Das meint nicht primär den Menschen als „Vernunftwesen". Der Mensch ist, sachlich primär, nicht das vernünftige, d. h. das denkende Wesen. Fundamentaler als sein Denken, sein urteilender und konstruierender Verstand, ist sein exzentrisches Wesen, das dem Denken wie allen Erlebnissen, seinem Leiden, seiner Sehnsucht und seinem Willen zugrunde liegt. Daher gehört zur Freiheit die schaffende Phantasie, die „produktive Einbildungskraft": der schaffende Entwurf von Möglichkeiten. Das freie Selbst ist weltoffen. Es ist offen für das unterschiedslose Eine, wie das ego des Descartes oder das Subjekt Kant's weltund seinsoffen sind. Die Selbstbestimmung liegt in dieser exzentrischen Offenheit, in dem Horizont des Entwurfs der unendlichen Zukünftigkeit. Daher ist für das freie Selbst das Objekt das Widerständige. Einbrechend in seine geschichtliche Existenz, bricht es das Einseitige. Seine Freiheit besteht in dem Prozeß der infiniten Neuschöpfung in den Möglichkeitshorizont hinein, die auf die ständige „innere Transmutation des anfänglich Dunklen" (Novalis) geht. Das Selbst will von dem Zerrissenen, von der einbrechenden, die Totalität zerreißenden Materie, ständig loskommen. So kann man sagen, daß der Raum (die Raumzeit), worin die Existenzen existieren, im Lichte der Freiheit ebenso principium individuationis, Prinzip des Trennenden der Einheit ist, wie die Form der „Ordnung der Phänomene", d. h. der die Phänomene dem Einen (seinen formalen Symbolen) zuordnenden Funktionen. Daher erscheint bei Kant der Raum (die Raumzeit) nicht nur in der „transzendentalen Ästhetik", sondern im Zusammenhang mit der „Deduktion der Kategorien" (Symbole) aus dem ursprünglichen Zeitbewußtsein. Es ist immer die doppelte Verflochtenheit, die wir im Begriff der Freiheit beobachten müssen: die Verflochtenheit mit dem Gegebenen und mit dem, was das Gegebene durchbricht, dem Allgemeinen und Wiederholbaren. Dergestalt ist die Freiheit die Offenbarungsstätte der Begegnung mit dem Tode, darin, daß sie in ihrem Werden von dem Endliches tötenden Realen ergriffen ist. Wir sprechen von politischer, wirtschaftlicher, kirchlicher, wissenschaftlicher und sozialer Freiheit, Typen der Freiheit, die 230
wir in ihrer geschichtlichen Besonderheit und empirischen Herkunft hier nicht zu beschreiben haben. In all diesen Formen liegt das Gemeinsame : ihr Endlichkeit durchbrechendes Wesen. Prometheus stiehlt das Feuer vom Himmel. „Im Namen der Freiheit", sagt Aeschylos, „nannten die Athener niemand ihren Herrn." „Sie galten", sagt Herodot, „als die Befreier von Hellas." Die deutschen Bauern zerstörten die Burgen ihrer Grundherren im 15. und 16. Jahrhundert. Die Pariser erhoben sich gegen die Privilegien der Standesherren. In alledem ging es um ein konkretes, empirisches Ziel. Darüber hinaus aber ging es um das Wesentliche. In jede Freiheitsbewegung steht Hoffnung auf das hinein, wessen sich der Mensch zutiefst erinnert. Hinter den Beratungen der citoyens von 1789 stand etwas von dem stoischen Wissen von Weltbürgertum. Darüber hinaus stand erinnernde Hoffnung, die das empirische Ziel, das in dem Code civil als Gesetz fixiert wurde, zu einer bloßen Phase machte Hoffnung auf Erfüllung von „alten Versprechungen", die Worte des Comenius zu gebrauchen, „über das letzte, endgültige Licht, das die Finsternis in die Flucht schlägt". In das Gewollte steht das Fernstgewollte - das Gesollte hinein. Das menschliche Können - Wollen - Sollen (und die Korrelate des Gekonnten, Gewollten und Gesollten) stehen in einem interdependenten, apriorischen Verhältnis. Dieses Verhältnis hat zu seiner Basis das Selbstleiden der Existenz und die Leidenschaft sich zu verschwenden. Das Selbst leidet an der Existenz, an dem Endlichen, nicht sowohl, weil dieses ein Ende hat, sondern weil das Selbst dem Gegenstande des Selbstwillens, der identisch ist mit derUrleidenschaft der Selbstverschwendung, nicht standhält: das mit dem Wissen der Kreatur von ihrem ausgesetzten Da verbundene Urleiden, das von Anfang an die Erinnerung und Hoffnung, d. h. die Gerichtetheit der Zeit, begleitet, als in welcher das All unserer Emotionen und unseres alltäglichen Umgangs mit den Dingen, das All unserer politischen und sozialen Ziele verwurzelt ist und zumal die höchste unserer „Tugenden": die Mächtigkeit („Vermögen", „Können") des Denkens (Urteile) des Seins (vis, potentia unitatis) und seiner Symbole. So steht das freie Selbst in jedem Augenblick in der Ent231
Scheidung. Jede erfüllte Erfahrung (Erwartung, Hoffnung) trägt in sich den Drang nach unendlicher Erfüllung - ein Prozeß, den wir früher (vgl. 2. Kap.) in seinem urphänomenalen Charakter in der Wahrnehmung als den Willen zur Kontinuität inmitten des Diskontinuierlichen beschrieben haben. So geartet also ist die menschliche Selbstbestimmung, daß dieses Selbst sich nicht selbst bestimmt. In religiöser Fassung: „Posuisti in liberiate mea, ut sim, si volam, mei ipsius. Hinc nisi sim mei ipsius, tu non es meus" (Cusanus, De visione Dei, c. 8). Phänomenologisch gesprochen: das Selbst ist sowenig ein Selbst im Sinne einer Substanz, daß es vielmehr als erinnernd-erwartende Zeit geschieht und daß demgemäß in der Verschwendung (Leidenschaft) an das exzentrische Ziel seine selbst-Bestimmung besteht. Selbstbestimmung meint Selbstverschwendung. Das Selbst (Subjekt) ist „allgemein" („übersinnlich"). Aber es individuiert sich. Als das Allgemeine wiederholt es sich in den freien, menschlichen Leibindividuen. Es geschieht oder existiert als „Freiheit des Individuums". Man kann von dem Selbst im Menschen nicht nach der Tradition als „Substanz" sprechen. Das Verhältnis von Leib und Seele ist nicht das Verhältnis von zwei Substanzen, die nach dem Vorbilde von Descartes oder Spinoza „occasionalistisch" oder „parallelistisch" als zwei Dinge mit inhärierenden Eigenschaften (res cogitane und res extensa) miteinander verbunden werden. Der endlich-sterbliche, an seine Umwelten triebhaft gebundene Leib ist das principium individuationis des Selbst (der Seele). Seele individuiert sich im organismischen Leibe. Die Seele individuiert sich nach dem Geschlecht, Generation (Alter), denen die Leibindividuen angehören, nach den Schicksalen, denen sie ausgesetzt sind, den soziologischen Gruppen, mit denen sie je und je assoziiert sind. Das Allgemeine drückt sich in den Leibern aus. Der Leib ist nicht nur das Ausdrucksfeld der Empfindungen. Das Ganze des auf Einheit bezogenen, apperzipierenden Lebens drückt sich in seinem Ausdrucksgehalt (Gestalt) aus, wie die Natur als solche in jedem partikularen Vorgange das Ganze des Universums repräsentiert, auf die Einheit des Ganzen bezogen, nur in den Symbolen dieser Einheit repräsentiert werden kann.
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Das Problem Leib-Seele ist ein Spezialfall der Zuordnung des Verschiedenen zu dem Einen, des Individuellen zum Nichtindividuellen, des Sterblichen zum Unsterblichen - der Einheit in dem Mannigfaltigen. Seele drückt sich aus. Der Leib geschieht als Leibich. Er geschieht als Ausdrucksfeld der Seele, wie das (sprechende oder schweigende) Wort den Gedanken oder die Gefühle oder das Unbewußte ausdrückt, Zeichen des mit der allgemeinen Bedeutung verbundenen, sich in ihm Ausdrückenden ist; und wie jedes Wort einen Horizont in das Allgemeine und Unendliche hat, so ist der Leib das be-deutende, individuierende Ausdrucksfeld des Unendlichen, dem er zugeordnet ist. Die sich wissende Existenz (Ich) antwortet, leibgebunden, auf das Objekt - die Schicksale, die in die Kontinuität des wahrnehmend-erinnernd-hoffenden Zeitwesens des Ich einbrechen. In welcher Hinsicht ist das freie Individuum die Wiederholbarkeit desselben Subjekts in ihm? Antwortend in der Weise seiner Individualität auf das Verschiedene, antwortet es aus demselben Gegenstande heraus, der das Da seines individuellen, leibgebundenen Seins durchbricht und nach dem es verlangt.
§ 19 ÜBER DIE MODI DER FREIHEIT
Zur existenten Freiheit gehört Seinserinnerung und Seinserwartung. Wir nennen diese beiden Zeitdimensionen die Kategorien (Attribute) der Freiheit. Sie sind Konstituentien der freien, ihrer Endlichkeit inneseienden und an ihr leidenden Existenz oder, was das Äquivalente ist, Konstituentien dieser Existenz in ihren die Totalität ihres Daseins in der Welt umspannenden Weisen der Antwort auf das Schicksal dieses Daseins: des Kontinuums ihrer auf Welt und Sein bezogenen Variabilität der Erlebnisse. Jedes Erleben - cogitatio in dem weiten Sinne von Descartes 233
ist Antwort auf das Gegebene. In jeder dieser Antworten liegt Erinnerung und Erwartung (darin, daß das, was gegeben ist, nicht nur als Da geschieht, sondern als Da für eine antwortende Existenz). Empfindend nehmen wir wahr. Wahrnehmend gehen wir in den Horizont von weiteren Wahrnehmungen. Hineingehend in diesen Erwartungshorizont, denken wir antizipierend im limes der das Ganze im Lichte der Einen Erfahrung und alle Erfahrungen zu Einem Gegenstande hinordnenden Einheit. Jeder umweltlichen Erfahrung bis hinab zum Augenblick der ausgelieferten, ausweglosen Angst ist die Eine Welt vorgelagert. Wir wollen die Weisen menschlichen Verhaltens - die Erlebnisse - Modi der existenten Freiheit nennen. Freiheit zeigt sich also nicht als etwas für sich Bestehendes. Sie zeigt sich als Prädikat unserer Erfahrungen darin, daß diese auf Sein gerichtet sind. Sie begleitet das erlebende Leben, und zwar so, daß die Erscheinung ihrer selbst in dem Leben ihr Wesen ausmacht, auch dann, wenn dieses Leben um die Mächtigkeit seiner Gerichtetheit gebracht ist. Noch im Sterben erscheint sie in der Form ihrer Gebrochenheit. Es sind aber zwei Ur-prädikate, zwei Ur-modi, in denen sich das freie, seinsoffene Leben darstellt: die Sehnsucht und der Wille (im prägnanten Sinne) bzw. das Denken als Modus dieses Willens.
a) Über Sehnsucht Sehnsucht ist unendlich (infinit, grenzenlos), weil ihrem Verlangen kontinuierlich das Un-endliche (Transfinite, Transzendente, Reale) entgegensteht. (Man beachte immer wieder, daß wir im Verlaufe der Arbeit die Ausdrücke „infinit" und „transfinit" in gewissem Sinne nach dem Vorbilde der Mathematiker zur Anwendung gebracht haben, wobei wir die Differenz der Anwendung nicht übersehen.) Wir haben Sehnsucht nach der Mutter, der Geliebten, „dem Lande der Griechen" usw. Diese empirische Sehnsucht illustriert vielmehr, was aller Sehnsucht zugrunde liegt. In ihr ist das empirisch je Ersehnte „nur ein Gleichnis". Sie lebt in dem passiven Entwurf von Möglich234
keiten, und das Seiende, in dem ihr Sehnen zur „Erfüllung" kommt, ist in sich selbst nicht das ihr Erfüllung Gebende. Sehnsucht steht immer für das Letzte. Das je Ersehnte ist nicht das in ihr Gemeinte. Was die Sehnsucht meint, ist nicht das Werk, das der Schaffende gestaltet, noch weniger das gestaltete Werk. In dem seligen Augenblick ist das Gestalten und das Gestaltete das Erfüllung Gebende, wenn es mit dem Haben des Seins koinzidiert. Das Haben des Seins zeigt sich in der Sehnsucht. Dieses seinsgewisse, von dem opus operatum ungesättigte Haben steht im Grunde ihres unersättlichen Verlangens. Sehnsucht geht auf das Transfinite. In ihm ruht ihre infinite Unruhe. Sehnsucht entzündet sich, wie jede menschliche Transzendenz, an dem widerständigen Objekt. Aber sie geht nicht wie der organisierende oder der denkende Wille in das Objekt hinein, um seiner Herr zu werden. Wir nennen die Sehnsucht den Urmodus der existenten Freiheit, nicht nur deshalb, weil ihr Gegenstand das Unrealisierbare ist, was von jedem Gegenstand und Modus der Freiheit gilt, sondern weil im Gegensatze zu dem aktiven Willen die Realisierung ihres utopischen Gegenstandes nicht zu dem Element ihres passiven (leidenden) Lebens gehört. Man ist versucht, von ihr als dem erotisch-weiblichen Element (Variante) der Freiheit zu sprechen. In ihr ist die Freiheit gewissermaßen unpragmatisch, unvermittelt bei ihrem Gegenstand. Sie verzehrt sich in der Melancholie ihres Verlangens. Die Freiheit sucht in ihr nicht die Vermittlung über die Bewältigung des Objekts. Existierend inmitten der Zerrissenheit der Objekte, steht sie, sich sehnend, bei der „Harmonie des Ganzen". Sehnsucht will also nicht sich selbst. Sie ist nicht etwas „Subjektives". Sie ist nicht in das zufällige Belieben der empirischen, dem Endlichen ausgelieferten Subjekte, in deren Leben sie sich auslebt, gestellt. Sie ist so wenig „subjektiv", wie es der Wille oder das Denken sind. „In allen Dingen wohnt das natürliche Verlangen, auf bessere Weise zu sein, als dies der Zustand ihrer jeweiligen Natur zuläßt" (Cusanus, De docta ignorantia, I, 1). Der sehnsüchtige Wille, besser zu sein, ist aber nicht von Gnaden der „jeweiligen 235
Natur". Er lebt von Gnaden seines un-endlichen Gegenstandes. Existenzen werden von ihrer mit der jeweiligen Umwelt verbundenen Natur heimgesucht. Ihr Wille, „besser zu sein", konstituiert sich im Augen-bück des Seins (Realen). Sehnsucht will das Reale. Sie will Ewigkeit. Sie existiert in ihrer Spannung in der Melancholie ihrer Unerfülltheit - nicht um ihrer selbst willen. Niemals hat sie sich selbst zum Objekt, es sei denn in der introvertierten Reflexion, ihrer selbst habhaft zu werden. Was besagt, daß sie ebenso der Prozeß der Selbstbehauptung wie der Selbstzerstörung inmitten der Endlichkeit des auf endliche Inhalte angewiesenen Existierens des Selbst ist. Sie wäre nicht heimgesucht, wenn sie nicht bei dem Un-endlichen wäre. Sehnsucht will Heilung von dem, von dem sie heimgesucht wird. Ihr Leben erstreckt sich ständig in der Spannung des Habens und des Nichthabens. Sie ist die Urform der an dem Unversammelten leidenden, nach Versammlung verlangenden Existenz: Urform der Freiheit. Die Begegnung mit dem Tode offenbart sich in ihrer Geschichte darin, daß dieses Leben in seinem Willen zum „höchsten Gehorsam": zu seinem Gegenstande, sich verzehrt und aufhebt. So hat die Sehnsucht mit dem Sterben und mit dem Tode gleichermaßen zu tun. Als Gegenzug gegen die Endlichkeit lebt in ihrer transzendentalen Leidenschaft die Erinnerung an die die Unterschiede des Endlichen tötende Ewigkeit. Derartig rätselhaft ist das Reale in ihr. Sehnsucht will nicht das Vorhandene. Sie verbrennt am Realen: der namenlose Gott im „feurigen Dornbusch" offenbart sich in ihr als brennend-zerstörendes Feuer. Unvermittelt auf ihren Gegenstand vorstoßend, ist sie gewissermaßen der genuine Modus der Offenbarkeit der „Gottheit". Der das Endliche tötende Tod lebt in der Sehnsucht, darin, daß sie nach dem sich dem Seienden entziehenden Sein ursprünglich verlangt : die Ursprünglichkeit menschlichen Verlangens ihr eigenstes Wesen ausmacht. Die Alten haben die Seele als Urwillen zum Sein Eros genannt. Piaton sagte von der denkenden Seele, daß sie die „Ursache der Welt" sei, des Kosmos als der in dem vielen erscheinenden Einheit - derselben Einheit, von der Kant als dem „idealen" Gegenstande der denkenden, konstruierenden, freien 236
Spontaneität des Willens spricht. Es ist derselbe Gegenstand (X), der in der Sehnsucht, dem Willen und dem Denken gemeint und gesucht wird. Aber in der Sehnsucht steht er dem Subjekt unvermittelt entgegen. Es ist ihr nicht, mit Hegel zu reden, „der Ernst, der Schmerz, die Geduld und die Arbeit des Negativen" (Die Phänomenologie des Geistes, Vorrede, XXII, WW. II, 15) aufgeladen. Insofern ist sie das fundamentale (fundierende) Ingredienz der Totalität unserer Emotionen, der Dingerfahrung wie der die Einheit des Seienden konstruierenden (wissenschaftlichen) Prozesse. Die „Erregung der Materie" durch das Unendliche nennt Schelling die Sehnsucht. Wie für ihn, so ist sie für Piaton und Cusanus eine ontologische, durch den Grund der Dinge gehende Kategorie : allem Seienden zugehörig, sich in der außermenschlichen Natur darin manifestierend, daß das Mannigfaltige der Materie auf das invariable Eine bezogen ist. Im Menschen ist die Sehnsucht wissende Sehnsucht. Die sehnende Transzendenz zeigt sich in ihm in der Form des Wissens der Existenz um ihr Existieren und in dem unvermittelten Verlangen, dieses Existieren zu überholen. In ihrem exzentrischen Wesen offenbart sich die Freiheit in ihrem durch das Objekt noch ungebrochenen Elemente.
b) Über den f r e i e n W i l l e n (Zweite S t u f e der Betrachtung) 1 ) Was uns in der folgenden Analyse des Willens interessiert, ist sein Charakter als freier, transzendentaler Wille, das in ihm erscheinende Zeitwesen : Seinserinnerung und Seinshoffnung in ihm als einem spezifischen Modus der erscheinenden Freiheit. Der Wille in engerem Sinne als Modus der Freiheit (also unterschieden von dem „Urwillen zum Sein", von dem wir oben gesprochen haben) will sich einer Sache bemächtigen. Wille will herrschen. Wille ist immer Wille zur Macht. „Noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein" (Nietzsche). !) Vgl. § 14 a.
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Dergestalt ist der Wille nicht nur wie die Sehnsucht des widerständigen Objekts als Quelle seiner Entzündung bedürftig - er will es meistern. Wie die Sehnsucht ist der Wille zukünftig. Als freier Wille hat er den un-endlichen Gegenstand zu seinem Ziele. Daher ist er wie die Sehnsucht oder das Denken unendlich: ohne (konkretes) Ziel. Er impliziert in sich als die Geschichte ständiger, sich erneuernder Entwürfe das offene Universum von Möglichkeiten. Seine Möglichkeiten sind unerschöpflich. Aber wissend von Möglichkeiten, ist er auf diese im Lichte ihrer Realisierung bezogen. Wille ist auf unendliche Handlung bezogen. Wille ist wirken-Wollen. Das Objekt ist der Widerstand des Willens. Seine Macht sucht er zu brechen. Wenn also Möglichkeiten den Charakter der Irrealität (der Phantasie) haben, so ist in dem Willen die Beziehung zu dieser Irrealität nicht nur so, daß er in seinen Entwürfen über sie verfügen, sondern daß er sie realisieren will. Die Irrealität erscheint in ihm in ihrer Beziehung zu dem (in das Seinskontinuum der Existenz einbrechenden) Objekt - dem äußeren Geschehen als der Stätte der sie umsetzenden Realisation. Wille entwirft Projekte der Herrschaft. Im Willen bin ich über mich selbst hinaus, und zwar so, daß seine Projekte gegen mich selbst, d. h. gegen meine dem je Gegenwärtigen ausgesetzte Existenz, im Gegenzug gegen diese, gerichtet sind. Wille will Herrschaft über das, was der Existenz „von außen", von dem Fremden, dem Schicksal angetan wird. Seine Unendlichkeit ist die infinite Wiederholung der ihm eingeborenen Tendenz, die Macht der Ausbeutung des Subjekts durch das Objekt, sei dieses der einzelne Mensch, sei es die jeweilige Gesellschaft oder sei es die Natur : die Macht des Existierenden über die Existenz, zu brechen. Wille ist „WeltÜberwältigungs-Wunsch" (Nietzsche). Wille will also das Gewollte. Wille will nicht (wie Schopenhauer meint) sich selbst. Als Wille zur Macht ist er Wille zu äußerster Mächtigkeit. Er bleibt nicht bei dem Gewollten des je Entworfenen. Uber seine Projekte breitet sich der Himmel des letztmöglichen (mächtigen) Projekts. Dergestalt greift er nicht über sein Wollen, sondern über sein je Gewolltes hinaus. In diesem Horizont seiner Unbeschränktheit lebt er sich frei aus. 238
Wir nennen den Willen unfrei, nicht nur, wenn ihm das Gewollte von außen („fremden Ursachen") auferlegt wird, sondern ebenso, wenn er bei dem je Erreichten seinen beruhigten, in das Konventionelle abfallenden Stand nimmt. Der stehende, d. h. der ungeschichtliche Wille, ist der unfreie Wille. Denn der freie Wille ist nicht nur Wille zur Freiheit - er ist frei, weil der sich entziehende Gegenstand, den er will, sein eigenster Gegenstand ist. Daher kennt der Wille keinen End-Zustand. Dem Geschehen das „Sein aufzuprägen" (Nietzsche), das meint faktisch der Wille zur Macht: dahin drängt seine exzentrische Tendenz der Organisation des Objekts, d. h. der Einbildung des Objekts in das un-endliche Eine und Vereinigende. Die Phantasie in dem Willen entwirft Möglichkeiten. Das Dasein steht in ihm bei seinem Ziele, loszukommen von der Welt: dem Schicksal seines endlichen Existierens. Der Wille leidet an der Welt. Er leidet am Objekt. Sein Leiden zeigt sich in seiner Aktivität. Seine Aktivität ist organisierende, vereinigende, rationalisierende, d. h. das Widerspruchsvolle des Mannigfaltigen zur Einheit ordnende, nach Einheit ringende Aktivität. Derart unterscheidet er sich als wollende Mächtigkeit über das Objekt von der Sehnsucht, die, an dem Endlichen leidend, sich wehmütig nach dem Un-endüchen sehnt. Im Willen lebt die Sehnsucht fort, aber so, daß ihr gegen-Stand in ihm den Charakter der Macht annimmt. In die Zukunft gerichtet, meint der Wille den Prozeß der ein-Bildung des Endlichen : der Unterordnung des einzelnen unter das Allgemeine einer Unterordnung aber, die in ihm, als schaffender Praxis, als nimmer endende Hoffnung gemeint ist.
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Zusatz I Die Triebe und der freie Wille. Zu Sigmund Freud's Trieb- und Todeslehre. Die Traumwelt und der Tod
„Ich ist in der Welt Hause, wenn es sie kennt, noch mehr, wenn es sie begriffen hat" (Hegel, Phil. d. Rechts). Bringen wir den Begriff des freien Willens zu schärferer phänomenologischer Klarheit. Wille ist zukunftsgerichtet. In dieser Gerichtetheit ist er in kontinuierlicher (geschichtlicher) Auseinandersetzung mit dem je Gegenwärtigen, mit dem Objekt. Wir unterscheiden ihn als diese gerichtete und regulierende Auseinandersetzung von dem, was wir die Triebe (den Triebwillen) nennen. Triebe sind getrieben. Sie sind treibende Tendenzen: treibende Energie. Es fehlt ihnen „der regulierende Faktor". Das Triebich (Leibich) ist in seinen Trieben maßlos, was auch immer sie seien: libido, Veränderungs-, Beharrungs-, Machttrieb: Tendenzen zum Extrem. „Triebhaftigkeit bedeutet allgemein: Orientiertheit des Interesses am Einzelindividuum. Nur zufolge der individuellen Orientiertheit hat das Individuum ein Gegenüber, wird es .gereizt'. Im nicht individuierten Universum gäbe es keine Reize und daher keine Auseinandersetzungen. Das Individuum aber, gerade insofern es Individuum und also Orientierungspunkt einer Interessenquantität des Ganzen ist, sieht sich in Reize und Gegensätzlichkeiten verstrickt, auf die es antworten muß: wer Ich sein will, ist dadurch an das jeweils Andere durch notwendige Reaktion gebunden" (Paul Häberlin, Der Geist und die Triebe, 1924, p. 330). Diese Reaktion geht allemal auf das Äußerste. Triebe sind unbändig, dämonisch getrieben. Sie herrschen nicht über das Objekt, das sie treibt. Das Objekt (der Reiz) ist das sie ins Maßlose weiter und weiter Treibende. Triebe sind in diesem Sinne nicht weltoffen. Der Trieb meint den gegenstandslosen Willen. Sie sind nicht auf das versammelnde Sein gerichtet.
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Die Existenz ist ihres dem Objekt ausgesetzten, d. i. ihres endlichen Existierens nicht inne, und dergestalt nicht, dieses Existierens inne-seiend, leidend auf das, was die Endlichkeit überschreitet, gerichtet. Triebe sind nicht gerichtet. Nicht intentional. Sie kreisen bis zum Maximum der Lusterfüllung, d. h. zur Ausschaltung ihrer Spannung oder der Unbefriedigtheit ihres Interesses: bis zum Maximum des Verlöschens dessen, was sie treibt in ihrem sich orgiastisch steigernden, nach Sättigung verlangenden Leben. Im Maximum sterben sie ab. Sie verlangen in ihrer sich steigernden rhythmischen Intensität nach dieser Sättigung. Sie treten über dieses „blinde" Verlangen nicht hinaus. Sie werden von dem, was sie reizt, um- und zu Tode getrieben. Piaton wandte auf die Triebe die Kategorie der Vergessenheit an. Seins- und Kosmos-vergessen, verzehren sie sich in ihrer blinden Leiden-schaft, ihr Existieren loszuwerden. Dies ist nun das Eigentümliche, daß die Triebe - energiegebunden, wie sie sind - in einer Antinomik zueinanderstehen. Jeder Trieb ist, wie Häberlin darstellt, Trieb nach absoluter Beharrung oder absoluter Veränderung: Trieb nach der einen oder der anderen Richtung. Nach der einen Richtung ist der Trieb gewissermaßen antiegoistisch. Er treibt gegen das so-Sein des Individuums. Er ist getrieben von „dem Willen, daß dieses ständig anders sei". Triebe sind veränderungssüchtig, zerstörungssüchtig. Sie haben keine Konstanz. Das Triebindividuum zeigt ständig die Neigung zur Ortsveränderung, Änderung der Lebensform, Beschäftigungsänderung, Neigung „to something different, something new". Wenn die Triebe mit der Umwelt korrelativ verbunden sind (so wie es v. Uexküll dargestellt hat), so ist diese Umwelt vielmehr der Reiz, dem das Individuum ausgesetzt ist, und zwar zunächst derart, daß es auf diesen Reiz mit Veränderungssucht antwortet. Dergestalt ist es für zerstörende, das eigene so-Sein verändernde „Einflüsse" seiner Umwelt ständig empfänglich. Triebe sind in diesem Sinne existenzfeindlich. Sie sind zunächst destruktive Tendenzen. Aber doch wieder: Triebe suchen Konstanz, Bewahrung. Sie sind egoistische Selbsterhaltungstriebe: Triebe zur Erhaltung des so-Seins des Individuums, des so-Handelns usw. Freud 16
Metzger: Freiheit
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spricht an dieser Stelle von den lebenserhaltenden Trieben (Lebenstrieben), die den Zerstörungstrieben entgegengesetzt werden, und er versucht, diese konservierende Tendenz zu einem tieferen Verständnis zu bringen. Lebenstriebe sind für Freud erotische Triebe. Sie werden biologisch „auf das Zusammenhalten der Zellen" zurückgeführt. So ist der Lebenstrieb allgemein libido, diese „psychische Energie", in der alles auf die „immer weitergreifende Zusammenfassung der in Partikel zersprengten lebenden Substanz" (Das Ich und das Es, p. 49) ankommt, als in welcher „Vereinigung und Verbindung" zu immer höheren Zusammenfassungen Freud die „Ursache des Weiterlebens" (des Individuums und der Gruppe) sieht. Ebenso wird dieser Eros von ihm in jeweiliger „Verschiebung der Triebenergie", d. h. in Korrelation zu je verschiedener „triebmäßiger Stellenbesetzung" - je nachdem sich das Ich (Leibich) „narzistisch" sich selber zuwendet oder dem anderen - als die Ursache der eigentlich vitalen Triebe (des Macht-, Geltungs-, Selbsterhaltungsstrebens nach dem, „was ein Lebewesen zur Erhaltung und Steigerung seines Daseins benötigt") gesehen. In den Lebenstrieben lebt sich die Energie nach „Herstellung der Einheitlichkeit" hin aus, wie der Eros nicht nur das „Modell" dieser Vital-Triebe abgibt, sondern sich auch darstellt, wo dieses vitale Ich als „Folge der (erotischen) Trieb-Verdrängung" sich als Vervollkommnungstrieb (Über-Ich) manifestiert. „Wenn diese Verschiebungsenergie desexuaüsierte Libido ist, so darf sie auch sublimiert heißen, denn sie würde noch immer an der Hauptabsicht des Eros, zu vereinigen und zu binden, festhalten, indem sie zur Herstellung jener Einheitlichkeit dient, durch die - oder durch das Streben nach welcher das Ich sich auszeichnet. Schließen wir die Denkvorgänge in weiterem Sinne unter diese Verschiebungen ein, so wird eben auch die Denkarbeit durch Sublimierung erotischer Triebkraft bestritten" (Das Ich und das Es, p. 56, 57). Aber dies alles ist noch nicht das Wesentliche. Freud hat in seiner Anthropologie den entscheidenden Schritt in das Verständnis der Triebe hineingetan. In seinen Analysen wie vielleicht nirgends vorher kommt das Phänomen des freien, transzendentalen, auf Sein gerichteten, von dem Leben der Triebe
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a b g e h o b e n e n Willens - diese Analysen ebenso bestätigend wie durchbrechend - zu wundersamer Klarheit. Was Freud in Fortführung des Hume'schen Tatsachen-Empirismus geleistet hat, besteht nicht so sehr darin, daß er auf die unterhalb der Assoziationsvorgänge der Bewußtseinstatsachen liegende Sphäre des „Unterbewußten" vorgestoßen ist, als darin, daß dieser Vorstoß bei ihm in der Absicht unternommen wurde, von einer tieferen Dimension her zu verstehen, was der Empirismus als das nicht mehr zurückführbare primum datum des Mannigfaltigen, der Sukzession, des blinden Spieles der Empfindungen, verstanden hatte. Freud hat den Tatsachen des sogenannten Empirismus ihre hypostasierte Absolutheit genommen. Er sucht nach dem Ursprung (άρχή) der Bewußtseinsvorgänge. Freud führt Bewußtsein (cogitatio) auf Triebe zurück. Er findet, daß das bewußte Leben „Motive" mit sich trägt, die auf dem Wege der üblichen Kausalanalyse, des kausalen Relationsverhältnisses von soma - stimulus, nicht verstanden werden können: daß den psychologischen Daten, die wir in der Beobachtung feststellen, daß den menschlichen, an Interesse und stimulus orientierten, deterministisch bestimmten Verhaltungsweisen Motivationen zugrunde liegen, die nur durch Extrapolierung ihre Erklärung finden können - ganz analog wie die Wissenschaft als solche das Beobachtete extrapoliert, um Symbole an die Stelle der „Tatsachen" zu setzen, dergestalt, daß die beobachteten Tatsachen den Ort der Verifizierung dieser Symbole abgeben. Der Kranke hat Komplexe. Wir greifen in Erlebnisse des Traumlebens hinein, um den Strom des wachen Bewußtseins in seiner Einheit oder in seiner Ganzheit, d. h. seiner Wirklichkeit, zu denken. Dieser „Bewußtseinsstrom" von Assoziationen und Dissoziationen wird untersucht in dem, was ihm als das Bleibende, in ihm Wiederholbare zugrunde liegt. Das wache Leben wird von Konstanten begleitet, die nicht unmittelbar gegeben sind. Wenn also das wache Bewußtsein in seinen determinierten Reaktionen auf die stimuli, auf Triebe, zurückgeführt wird, wenn die Triebe ihrerseits zunächst in ihrer Veränderungs- und Erhaltungstendenz klassifiziert und die von der Erhaltungstendenz bewegten, eigentlichen Lebenstriebe auf den 243
Eros zurückgeführt werden, so hat nun Freud zuletzt, in seinen Spätschriften, darüber hinaus diese erotischen, das Leben beherrschenden Triebe zum Gegenstande einer weiteren Reduktion gemacht. So liegt in dieser Extrapolierung ein Versuch vor, der sich, analog wie in der Physik, aus der Grundeinsicht vollzieht, daß die Vorgänge („events", „behavior") nicht in sich selbst - unmittelbar - darstellbar sind, auch nicht in Verbindung mit anderen, mit ihnen beobachteten Tatsachen des wachen Lebens zum Verständnis kommen, sondern erst dann, wenn sie die veranschaulichende, illustrierende Basis abgeben, um die Einheit (Ordnung) oder das Wirkliche widerspruchsvollen Lebens zu begreifen. Freud sucht die im Bewußtsein verborgenen, unterbewußten Implikationen (Dimensionen) des Lebens zu verstehen. Seine Analysen zeichnen sich dadurch vor allem Hergebrachten aus, daß er die „Urenergie" zu eruieren sucht, aus der die widerstrebende Dialektik der Triebenergien zu verstehen ist. Freud spricht von dem Todestriebe als dieser Urenergie. Fragend nach der Quelle des Triebmysteriums - nach dem treibenden Motiv der Triebe - stößt er auf den Tod. „Das gesamte Triebleben dient der Herbeiführung des Todes." Triebe sind „Trabanten des Todes". Das Leben gilt als „Umweg zum Tod". „Die Entstehung des Lebens wäre also die Ursache des Weiterlebens und gleichzeitig auch des Strebens nach dem Tode" (Das Ich und das Es, p. 49). Man kann von dieser Freud'schen Einsicht sagen: das „unterbewußte" Todesgedächtnis (nicht Todes-Erinnerung oder überhaupt Erinnerung, die vielmehr wie die Hoffnung dem exzentrischen Zeitbewußtsein angehört) begleitet unser waches Leben. Das Unterbewußte erscheint an der Oberfläche. Es drängt „verdrängt" in das wache Bewußtsein, so daß der Todestrieb in dem Autodestruktions-Trieb und sekundär in dem Aggressionstrieb erscheint. Es ist dieser verdrängte Todesdrang, den Freud am Ende seiner Forschung zum Thema seiner existentialen Untersuchung des Menschen macht, d. h. der Untersuchung, welche sich die Aufgabe setzt, die dem Bewußtsein zugrunde liegenden Triebvorgänge in der Einheit ihrer widerstrebenden Tendenzen zu verstehen. 244
Wir extrapolieren das sich der Beobachtung darbietende Verhalten, um die sich darbietenden Tatsachen zu erkennen. Wir greifen in Dimensionen (Koordinaten, Zuordnungs-Symbole) hinein - nicht als in Fiktionen, sondern diese Konstanten sind der negative Ausdruck dafür, daß das sich Darbietende, die Oberfläche der Tatsachen, nicht in sich selbst erkannt werden kann, sondern nur mit Hilfe der sich in ihm verifizierenden, d. h. seinen Ordnungszusammenhang konstituierenden Symbole, dergestalt, daß die Tatsachen den Charakter der alles mit jedem verbindenden Einen Wirklichkeit gewinnen - Symbole des Unterbewußten, ζ. B. Traumsymbole, die in diesem psychoanalytischen Verfahren allerdings nicht wie in der „exakten" Wissenschaft den Charakter quantitativer Größen haben, vielmehr den allegorischer Wahrheiten, aber doch so, daß sie wie die Zahlsymbole die Funktion des Grundes der Möglichkeit des Tageslebens abgeben. Die Wissenschaft von dem bewußten Leben wird zur Wissenschaft von dem Unterbewußten: von den verborgenen, verdrängten Energien, die der Mensch in seinem alltäglichen Verhalten nicht nur als die causa, sondern ebenso als die ratio dieses Lebens mit sich trägt. Wie ist die Todesbegegnung der Triebe zu verstehen? Was ist das Wesen der Triebe im Lichte ihres ultimativen Zieles: den Tod, d. h. die Vernichtung ihrer selbst, herbeizufuhren? Traumwelt steht bei Freud (und ausgehend von ihm bei C. G. Jung) für das Unterbewußte. Der Mensch trägt die Traumwelt mit sich. Im Traume löst sich das versammelnd-versammelte Bewußtsein, d. i. die Zeit, auf. Der Traum ist „unzeitlich". Das Unterbewußte gehört nicht der versammelnden Zeit an. Die Dinge gehen regellos ineinander über, die vis unitatis versinkt. Die exzentrische Freiheit versinkt. Das Universum (Schöpfung) löst sich gewissermaßen auf. Wir treten im Traume aus dem gegliederten Kosmos in die Welt des Ungegliederten ein. Der Mensch begegnet im Traume dem Chaos, in dem alles Eins ist. Das Bewußtsein als die Kette von ständigen Erregungs-, Spannungs- und Entspannungs-Vorgängen, „Unlustund Lust-Entbindungen" wird „diffundiert". Das Bewußte wird in das Unterbewußte gezogen. Das Partikulare, Gesonderte, 245
kommt um seine Stellung als Einzelheit. Das Bewußtsein kommt um seinen Charakter als „Erregungs-Vorgang". Die in ihrer Partikularität unsaturierte, sich im Bewußten umsetzende, darin arbeitende „Triebenergie" wird in ein „erregungsloses" Ganzes „verschoben" (vgl. Freud, Traumdeutung, 1950, p. 405). Alles geht auf befremdliche Weise ineinander über. Die Phantasie arbeitet: in der Traumphantasie arbeitet das Bestreben, „Anhäufung von Erregungen zu vermeiden und sich möglichst erregungslos zu erhalten" (1. c. p. 408). Träume gelten wesentlich als „Wunschträume". Was in ihnen als wesentlicher Wunsch arbeitet, ist, das Begrenzte, die von der Partikularität heimgesuchte Existenz, zu „diffundieren". Der Mensch wird in das Ganze der „unterschiedslosen, aller Ichhaftigkeit baren Natur" hineingestellt (Jung, Psychologische Betrachtungen, Zürich, 1945, p. 55). E s ist diese maeontische, unterhalb der Erinnerungs-Erwartungs-Kontinuität aus der Seinsgeschichte heraustretende, schlafende Existenz, die im Traum arbeitet. Träume können nicht isoliert werden. Der Traum ist „ein Einfall der alles verbindenden, dunklen" (Jung, 1. c. p. 84), nach dem Unterschiedslosen drängenden Existenz. Dies nun ist das Eigentümliche: daß dieser „archaische" Drang nach Sättigung, der den Trieben ihr Ziel gibt, daß dieses am Unterschiedslosen hängende Wunschleben der Triebe im Traume zu seiner erfüllten Darstellung kommt. Die Triebe hängen am Unterschiedslosen. Sie drängen danach, „konservativ" wie sie sind, in der Maßlosigkeit ihres Begehrens das „Ziel alles Lebens", den „durch die Entstehung des Lebens gestörten Zustand" wiederherzustellen (Das Ich und das Es, p. 49). „Das Ziel alles Lebens ist der T o d " , d. i. die Begegnung mit dem alle Existenz aufhebenden, aller Existenz transzendent Entrückten: die Begegnung (Vereinigung) mit dem Fremden ( „ E s " ) . Freud „betraut den Trieb, die Begegnung mit dem T o d aufzunehmen" (v. Weizsäcker, Der kranke Mensch, p. 356). Ja, nicht nur dies, in Freud's Anthropologie gewinnt der T o d die Vormachtstellung gegenüber dem erotisch-ichlichen Leben. Dieses Leben in der Partikularität und Antinomik seiner Triebe
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ist zutiefst Krankheit. Es krankt an seiner Partikularität. Es krankt an seinem Ungleichgewicht. Im Unbewußten dieses Kranken schlummert die Schuld - das Wissen von seiner Krankheit, die dadurch entsteht, daß „das Partikulare, was seine Freiheit und Leben dafür hat, daß es im ganzen bleibt, für sich zu sein strebt" (Schelling, Philos. Unters, üb. d. Wesen d. menschl. Freiheit, WW. VII [1809], p. 366). In Freud's Trieblehre kommt das Uberwältigende des Schicksals zur Sprache. Der Tod meldet sich von Anfang an: in der Geburt als die das Partikulare in das versöhnend-befriedigende Ganze hinein-treibende Tendenz - der Tod, „das solidarische Ordnungsprinzip für alle Erscheinungen" (v. Weizsäcker, 1. c. 233). Die Einheit von Leben und Tod wird offenbar. Die Realität (Macht) des Fremden-Befremdlichen-Transzendenten wird in der lebenden Existenz offenbar. Der Gott (moira) hat alles „an das ungestückelte, unbewegliche Ganze gebunden" (Parmenides, Diehls, Β 8; 37, 38). „Woraus den Dingen die Geburt ist, dahin geht auch ihr Sterben nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ungezügeltheit (d. i. das Rebellische ihres Auflehnens gegen das Ganze) nach dem Dekret der Zeit" (Anaximander Β 9 ; 27). Geburt und Tod bilden einen Ordnungszusammenhang. „Alles, was wird, ist zum Untergang verurteilt", heißt es bei Heraklit. „Ist doch Hades eines mit Dionysos." Dieser alte Mythos und diese alte Metaphysik des apeiron als des chaotischen Grundes der Dinge kommt in Freud's Trieblehre wieder zur Sprache. Sie mündet in einen einzigen, sollen wir sagen, Hymnus auf die Realität des Einen und Bestimmungslosen. Der Leben erhaltende und Leben weitertragende Eros, „der die lebenden Partikel zueinandertreibt und zusammenhält", offenbart sich als „Umweg" zu dem Tode. Denn das „Modell" alles Lebens, was auch immer seine triebmäßige Antinomik sein mag, ist der Urtrieb nach Sättigung: nach dem Gesättigten, Spannungs-, Interesse- und Bedürfnis-Freien, in dem der Todestrieb für Freud paradigmatisch sich manifestiert. Gerade in ihrem „rastlosen Drang zur Befriedigung", in der Maßlosigkeit ihres gegen Sein aufbegehrenden Werdens offenbaren Triebe den ultimativen Drang zu dem koinzidierenden Einen, in dem alles 247
Gegensätzliche und Widerstreitende gesättigt untergeht. Der Todestrieb gilt als das konstante (invariable) Prinzip, das allbeherrschend über der qualvollen Dämonie der rhythmischen Ge- und Entspanntheit dieses unseres Lebens liegt. Er erhält allemal „freie Hand" (Das Ich und das Es, p. 59), wenn dieses triebbedürftige, ichliche Leben in dem gesättigten Maximum seiner Spannung ankommt. Das „Ich" verlangt, unterzugehen im „Es". Es ist dieses untergegangene Ich, das im Traumleben umgeht. In dem Grenzenlosen seiner gesättigten Ganzheit geht, nach uraltem Muster, in dem Traume das apeiron um, das den Anfang und das Ende der Dinge bildet und zu dem, nach Anaximander und Heraklit, alles „zurückkehrt". „Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an, wann er gestorben ist und doch lebt. Er berührt den Toten im Schlummer, wann sein Augenlicht erloschen; im Wachen berührt er den Schlummernden" (Heraklit, Β 26). Der Tod, von dem Freud spricht, so kann man also sagen, ist kein Ende, sondern dasjenige, worin die von dem Triebe heimgesuchte Existenz zur Vollendung kommt. Triebe streben nach dieser Vollendung. Die von der Partikularität entleerte Leere ist ihre Vollendung. In ihrer chaotischen Maßlosigkeit liegt als Horizont die Leere, wie ja auch zu dem der orphischen Theogonie zugesprochenen Begriff des Chaos der in nächtlicher Finsternis liegende leere, entleerte Raum gehört (vgl. W. Jaeger, The Theology of the early Greek Philosophers, 1947, p. 63). In Ergänzung dessen, was wir früher über Angst gesagt haben (vgl. 2. Kap. § 9 a, p. 186 und p. 205 f.), ist hinzuzufügen, daß an dieser Stelle des Zusammenhangs von Trieb und Leere die Angst ihren phänomenologisch-originären Ort hat. Der horror vacui ist es, was ursprünglich Angst meint. Triebe als Existenzen bewegen sich in den Abgrund ihres tendenziösen Existierens hinein und hinüber. Sie ziehen sich in ihr Ende hinein. Das „unterbewußte" Gewahren dieses sich-Ziehens = Gezogenwerdens in das entleert-leere Ende hinein meint Angst ursprünglich. Daß die Endlichkeit in ihnen haust und nichts als diese, das macht sie zu Trieben. In ihrem tendenziösen Leben zum Maximum, gerade in ihrem sich steigernden und übersteigenden Optimismus zu mehr als Leben sind sie angsterfüllt -
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Angst vor dem Grabe des Nichts der Existenz, derselben Angst, die innerhalb einer höheren Dimension in dem „bewußten" Leben der freien, ihres endlichen Existierens inneseienden Subjekte wiederkehrt, darin, daß diese von der das Endliche übersteigenden, transzendentalen Sehnsucht (und von dem in ihr fundierten Willen und Denken) nach dem un-endüchen und transzendenten Sein, das mit dem Nichts koinzidiert, ergriffen werden. In dem „Schwindel" der Freiheit vor dem Un-endlichen wiederholt sich die Angst der in ihrem Drängen nach Saturation der „Unterwelt" verhafteten Triebe. Die Begegnung mit dem Tode zeigt sich gewissermaßen in verschiedenen Dimensionen. Aber die Urquelle dieser angstvollen Begegnung der dem Nichts ausgelieferten Kreatur liegt im Nebel der der Ganzheit entfremdeten Triebe, darin, daß es diesen in ihren widerstreitenden Tendenzen einerseits nach Veränderung (und Zerstörung), andererseits nach Erhaltung (Ruhe) um nichts anderes geht, als das Existieren gesättigt zu durchbrechen. — Wenn die Darstellung des Trieblebens, welche wir hier im Anschluß an die Freud'schen Konzeptionen (die für die gegenwärtige Triebpsychologie maßgebend geworden sind) gegeben haben, richtig ist, was besagt die Transzendenz des auf das ordnende Sein gerichteten Menschen- und Weltuniversum bildenden Willens ? Was besagt diese gerichtete Transzendenz angesichts der maeontischen Nachtseite der Existenz, in der sich die transzendentale Freiheit, im Gegenzuge gegen diese, aufrichtet ? Was besagt die Freiheit des Willens gegenüber der Unfreiheit der Triebe? Suchen wir diesen Gegensatz an seiner fundamentalen Quelle zu fassen. Freud hat das Leben der Triebe in ihrem Zusammenhange mit dem Un-endlichen begriffen. Der traditionelle (platonischpaulinische) Dualismus von Trieb und triebfeindlichem Logos wird bei ihm in dem Sinne durchbrochen, daß den in der Partikularität und Endlichkeit aufgehenden Trieben die Begegnung mit dem Zeitlosen zugeschrieben wird. Was in Freud, wie mir scheint, aufgeht, ist dies: die Triebe in ihrer heimgesuchten Bedrängtheit und in ihrem Drängen nach Saturiertheit sind Stätten der Begegnung mit dem Zeitlosen, das ihnen ständig sich entzieht. Daß das Todesziel und die Todesbegegnung für 249
ihre Natur entscheidend ist, zeigt, daß in ihnen mehr als ihre Endlichkeit waltet. Sie reichen in ihrem rastlosen Drängen, ausgeliefert an das bedrängende Objekt, in das Un-endliche hinein. Es ist nun diese triebmäßige Todesbegegnung, in der wir die Quelle ihrer Unfreiheit zu sehen haben und von der her, sich von ihr abhebend, das eigentümliche Wesen des freien Willens in Erscheinung tritt. Es ist das Fatum, das in Freud zur Darstellung kommt: der Mensch in seiner schicksalsmäßigen Bindung an die Triebenergien und zumal an das primum agens dieser Energien, das inmitten der infiniten Mannigfaltigkeit des Geschehens zur Darstellung kommt, die Urenergie des Todestriebes. Was meint eigentlich Tod in dieser Darstellung? Der Tod ist nicht die Quelle des Ewigen und Einen, in die das Endliche wie in seine transzendente Heimat einkehrt, jener Heimatsbegriff des Todes, von dem Piaton spricht und der in dem christlichen Martyrium der endlichen Kreatur die Stelle ist, aus der Begegnung mit welcher die Seele ihrer Gottesgeborgenheit gewiß wird und woher sie ihre erneuerte Auferstehung im Geiste schafft - der Tod ist hier das unheimliche Es, auf das der Trieb in seinem dämonischen, unersättlichen, sinnlosen Drange nach Sättigung getrieben wird : das nach Veränderung in Destruktion und Aggression sich austobende, auch gegen das erhaltungsuchende Leben (Eros) gerichtete, unheimlich sinnlose und überall Sinnlosigkeit stiftende Fatum. Der Mensch ist das von diesem Fatum gewissermaßen ständig verfolgte animal. Der Tod ist das in dem rastlosen Drange nach Befriedigung (Lust) gesuchte Grab, in dem der Fluch der lichtlosen, ausweglosen Existenz zur Sprache kommt. Dergestalt macht er aus dem Leben die Kette kausaler, unentrinnbarer Determiniertheit des Geschehens, aus dem jede Spur der Freiheit ausgelöscht ist. Dieses animal überschreitet nicht sein endliches Schicksal. Verdrängt trägt diese nach Leben und Weiterleben erotisch drängende Existenz das unterbewußte Martyrium mit sich, auch da, wo sie im „Vollkommenheitstrieb" durch Sublimierung eine „geistige" Welt zu etablieren sucht - dieses Leben, das ständig seiner selbst loszuwerden sucht und „verdrängt" an der Oberfläche des Bewußtseins erscheint, das die „geistigen" Krankheiten dieses animal hervorruft, von 250
denen keine „Erlösung" möglich erscheint, als sie diesem durch und durch an seinen Komplexen krankenden Leben bewußt, d. h. das Es zum Ich zu machen. Die Begegnung mit dem Tode, die dem Trieb „vertraut" wird, ist der Existenz keine Erlösung. Der Mensch wird mit seiner Endlichkeit nicht ausgesöhnt. Der Tod ist nicht die Begegnung mit dem Un-endlichen, aus dem dieses Wesen seine endliches Schicksal überwindende Mächtigkeit schöpft. Es kommt in dieser „Anthropologie" nicht zur Freiheit als dem Symbol der in dem Wissen und dem Leiden an dem endlichen Schicksal waltenden, das Endliche übersteigenden Macht des Un-endlichen. Unausgesöhnt mit dem Tode, geht der Mensch an seinem endlichen Schicksal zugrunde. Die derartig verdrängte, von dem Todestrieb heimgesuchte Unterwelt und ihre Enthemmung suchende, sie in das Bewußtsein erhebende „Therapie" zeigen nur, daß dieses Schicksalsmartyrium perpetuiert wird, daß das Wissen von der Transzendenz des Todes in ihm keine Epoche macht. Daher ist das Freud'sche Menschentier ohne Welt, ohne den freien, schaffenden und denkenden Willen, ohne Sehnsucht nach der in der Todeserinnerung wurzelnden Macht des Seins. Freud hat den Trieb aus seiner Tendenz nach dem Ganzen, nach dem von der Partikularität entspannten Ganzen verstanden. Was ihn an der Partikularität der Triebe interessiert, ist zuletzt das diese Partikularität aufhebende, sättigende Ganze. Und was ihn (und ebenso Jung und v. Weizsäcker) an dem von der Spannung des Partikularen gelösten Trauminhalt interessiert, ist wieder das in dem unterbewußten, grenzenlosen Chaos erscheinende, unterschiedslose All und Eine. Aber er hat diese nach dem Ganzen strebende Urenergie nicht verstanden als die Quelle, aus der das Leben seine nach dem Einen strebende, seinem endlichen Schicksal entgegentretende, das geordnete Universum bildende, transzendentale Mächtigkeit schöpft. Unerlöst ist der Mensch, solipsistisch, weltlos, um Weltoffenheit gebracht, mit nichts als mit Tatsachen und TatsachenAnomalien naturalistisch beschäftigt, dem Wissen um den Tod als die die Endlichkeit nicht nur endende, sondern überschreitende Macht angstbesessen entfremdet, d. h. um die Exzentrizität 251
seines Wesens, um den gegen-Stand seines Verlangens gebracht, aus dem her er existierend sich versteht. Daß der Tod nicht nur als Rückkehr in „Anfang" und „Ende" dem Leben begegnet, sondern als Quelle, aus der das diesen Anfang und dieses Ende, d. h. seine Endlichkeit, wissende Leben die Gewißheit seines Ursprungs im Un-endlichen schöpft, kommt in Freud's naturalistisch-positivistischer Anthropologie nicht zum Ausdruck. Und wieder : daß in dieser Betrachtung des Menschen die Freiheit, d. h. die Transzendenz der ihr endliches Existieren verstehenden Existenz, d. h. das Verständnis von der Subjektivität des Subjekts, verschlossen bleibt, hat seinen Grund in derselben positivistischen, die Tatsächlichkeit des Existierens zwar kennenden, aber sein Hineinreichen in den unendlichen Grund dieser Tatsächlichkeit nicht erkennenden Betrachtung. Die vorhergehende, den Zusammenhang von Trieb und Tod aufweisende Untersuchung hat uns tiefer, als es bisher gelungen war, vor das spezifische Wesen des freien Willens gebracht. Freiheit und Zeitlosigkeit sind, sagten wir, Korrelate. Aber die Quelle dieser Korrelation liegt in der Todeserinnerung, die das untrennbare Ingrediens jedes Freiheitsgedankens bildet - das Ingrediens der Macht des Subjekts über das Objekt - der Macht des Subjekts, seinem Schicksal der Endlichkeit entgegenzutreten. Die Differenz zwischen dem freien Willen der Existenz und den in ihr umgehenden, unfreien Trieben - zwischen Freiheit und Unfreiheit - kann nur verstanden werden, wenn in der begegnenden Erfahrung des Todes seine in ihr aufspringende posttemporale, die Tatsache Mensch wie jede außermenschliche Tatsache in das Zeitlose hineinstellende Tatsächlichkeit vernommen wird. Freiheit bleibt so lange eine leere Funktion, verliert ihren Begriff der Realität im Universum, wie der Tod als Anfang und Ende und nicht als der Ursprung der Dinge verstanden wird, aus dessen den freien Existenzen zugehörigem Wissen heraus diese wesentlich das sind, als war wir sie kennen: die auf das un-endliche Sein (Reales) im Seienden der Welt gerichteten Existenzen. Wir haben den freien Willen als einen spezifischen Modus dieses „Urwillens zum Sein" dargestellt. Wir verstehen diesen 252
Begriff jetzt besser. Der Wille ist nicht frei, weil er ursachlos ist. Er ist frei, weil er zwar von fremden, äußeren Ursachen nicht bewegt, aber in seinem Leben von dem gegen-Stande bewegt wird, nach dem er in seinem eigensten Wollen verlangt. Es gibt keinen freien Willen ohne diese in ihm umgehende, das Endliche überschreitende, transzendentale Unruhe. Niemals ist über diesen Willen Törichteres gesagt worden, als daß er darin bestehe, daß er tun könne, was ihm beliebt. Freiheit ist niemals Willkür. Dem „élan vital" Bergson's, der „free initiative" der Lebensphilosophie oder der Pragmatisten werden ohne rechtfertigende Einsicht das Prädikat der Freiheit zugesprochen, solange diese vis creativa nicht in ihrer teleologischen, seinserinnernden und seinshoffenden Gerichtetheit verstanden wird. Noch weniger kann von Freiheit die Rede sein, wenn sie als „Freiheit zum Tode", der Tod als Name für „Verderb" der in das Ende „hineingehaltenen" Existenz erscheint und nicht in dieser Begegnung mit der transzendenten Quelle des Verderbs die Quelle der in das zeitlose Reale des Seienden hineinweisenden Bildung (Schöpfung) des Einen Menschen- und WeltUniversums gesehen wird. Freiheit lebt aus dieser von der Kontingenz des Seienden und seiner Gestalten entleerten, Seiendes überschreitenden Quelle. Sie lebt als dieses exzentrische Wesen, weil in ihr die Quelle des unterschiedslosen Todes ständig springt. Dergestalt hat sie zu ihrem Korrelat die invariable Ordnung des Universums. Der freie Wille ist von dem Objekt nicht getrieben. Er entzündet sich an dem Objekt. Was ihn als freien von den „blinden", „determinierten" Trieben unterscheidet, ist das in ihm liegende, verborgene Wissen von dem Un-endlichen - inmitten des Martyriums seiner endlichen, je individuellen, von dem Objekt der Sinnlichkeit affizierten Leib-Existenz. Wille bildet Welt als Antwort auf diese Heimsuchung. Er tritt in seinem Wissen vom Un-endlichen aus der Natur heraus, und zwar so, daß er sie ständig übersteigt. Wille bildet Welt. Er ist offen zu der Einen Welt. Er bildet, über das Objekt (Umwelt) hinausgehend, dieses in seinen zukünftigen Welt-Horizont und seine Welt-Idee ein. Antwortend, nicht bloß „behavioristisch" rea253
gierend, nicht bloß in der triebgebundenen Umwelt existierend antwortend auf das, was ihm als Existenz in den Trieben geschieht, erhebt er sich über dieses Geschehen, motiviert von seinem gegen-Stande, zu der Mächtigkeit seiner weltbildenden Möglichkeiten. Im Willen hat die Existenz, mit Hegel zu sprechen, einen Gegenstand, welcher „zugleich keiner ist, d. h. einen ideellen, aufgehobenen". Zusammenfassend kann man sagen: in den Trieben und in dem freien, dem Objekt entgegentretenden, es organisierenden oder denkenden Willen geht dieselbe transzendentale Leidenschaft der dem Objekt verhafteten, endlichen Existenz um. Trieb und Wille wollen mit dem Objekt fertigwerdeft. Triebe suchen die von ihm saturierte Entspannung. In ihrem Werden zum Ende übersteigen sie die vom Objekt getriebene Spannung. Der Wille aber ist das Geschehen, in dem die dem Objekt verhaftete Existenz sucht, dieses um die Macht über sich selbst zu bringen. Der freie Wille versteht. Er ist genährt von der unterirdischen, in den Tod getriebenen endlichen Existenz, die in ihm unentrinnbar umgeht. Was ihn als freien gegenüber den Trieben charakterisiert, ist nicht so sehr seine Mächtigkeit des Entwurfs von Projekten, sondern daß diese seine Zukünftigkeit im Lichte des nach dem Einen verlangenden Seinswissens geschieht. Jeder Wille trägt daher die Utopie untrennbar mit sich. Wille ist zukünftiges Wissen. In seine Gegenwart steht die Zeit als Seinserinnerung und Seinshoflnung hinein, aber so, daß in ihm die Hoffnung über das Erinnerte, das Zukünftige über das Gewesene prävalieren - im Gegensatze zu der Sehnsucht, die in all ihrem zukünftig gerichteten Verlangen sich in der Seinserinnerung verzehrt, gewissermaßen in Archetypen, die sie wie ein bleibendes Residuum vergangener Zeiten mit sich trägt. Als schaffender Wille steht er ebenso im Gegensatze zu dem „reinen" Denken (wie wir des Näheren gleich sehen werden), in dem sich die beiden Dimensionen der Zeit das Gleichgewicht halten. Denn das Denken steht bei dem umfassenden Sein. Es antizipiert die Totalität der Zeit, die Einheit des Geschehens, in deren kategorialem Lichte Zukünftiges und Vergangenes gleichmäßig an ihrer zeitlosen Stelle stehen.
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Dennoch muß gesagt werden, daß die Triebe, ungegenständlich und ungerichtet wie sie sind, in das Transzendente hineinstehen. Triebe stehen in jedem Augenblick in der Dämonie ihres Getriebenwerdens vor dem Ewigen. „Zwar überall, wo Lust und Begierde, ist schon an sich eine Art der Freiheit, und niemand wird glauben, daß die Begierde, die den Grund jedes besonderen Naturlebens ausmacht, und der Trieb, sich nicht nur überhaupt, sondern in diesem bestimmten Daseyn zu erhalten, zu dem schon erschaffenen Geschöpf erst hinzugekommen sey, sondern vielmehr, daß sie das Schaffende selber gewesen" (Schelling, VII, 376). Aber doch: Triebe gehen in ihrer Endlichkeit auf. In der Intensität ihres Lebenswillens manifestieren sie das Geschehen zum Ende. Sie stehen immer in den Abgrund ihres sich selbst verzehrenden Lebens („chronos") hinein. Selbstgewollt versinkt der Trieb in die Ohnmacht. Er bezahlt seine „Schuld" der Partikularität mit dem Ausgelöschtwerden seiner selbst. In seinem Ausgelöschtwerden zeigt sich in ihm der ewige Tod die auslöschende, das Unterschiedene aufhebende, transzendente Macht des All-Einen. Im freien Willen zeigt sich die Todesbegegnung verwandelt. „Der Tod hat eine gedoppelte Bedeutung; einmal ist er das selbst unmittelbare Vergehen des Natürlichen, das andremal des nur Natürlichen und dadurch die Geburt eines Höheren, des Geistigen, welchem das bloß Natürliche in der Weise abstirbt, daß der Geist dies Moment als zu seinem Wesen gehörig an sich selbst hat" (Hegel, Ausg. Glockner, XII, 466). Wir verstehen diesen Satz. Wenn die Triebe das Eigenartige haben, daß sie als vergehende im Vergehen und nur in diesem Werden zum Ende von der Todesbegegnung Zeugnis ablegen, so ist es im Willen nicht die Endlichkeit, sondern die Unendlichkeit, der Überstieg über das Ende, in dem sich die Betroffenheit von dem unterschiedslosen Transzendenten auslebt. Freiheit lebt sich aus. Sie lebt sich im Menschen in der geschichtlichen Zeit aus: in den Dimensionen (modis) der Sehnsucht, des schaffenden Willens, des Denkens, der Liebe und zumal des Mitleids. Wenn Triebe weltlos sich in ihrer maßlosen Leidenschaft „an" ihrer Endlichkeit verzehren, so verzehrt sich 255
die Leidenschaft des Willens „an" ihrem un-endlichen Gegenstande. Kein endliches Geschehen (Schicksal) kann ihn töten. In seinem utopischen sich-Verschwenden an das Unrealisierbare ist er an jedem Tage neu. Als geschichtlicher Wille entzündet sich das Unrealisierbare in ihm stetig an dem Endlichen - dem widerständigen Objekt. Dergestalt ist er der die endliche Welt und sich selbst verwandelnde, rationalisierende, verlangende, Eine, unendliche (grenzenlose) Wille.
Zusatz II Über d e n B e g r i f f des f r e i e n u n d des u n f r e i e n Willens Der Begriff des freien Willens kommt also nicht in den ursprünglichen Blick, wenn nicht seine infinite Bewegtheit, d. i. das je Werdendes und Gewordenes durchbrechende, weltübersteigende Nichts des Seins in ihm gesehen wird. Freier Wille ist nicht gleichbedeutend mit Ursachlosigkeit. Evolution créatrice oder wie auch immer die Paraphrasierungen dieser Ursachlosigkeit in der lebensphilosophischen Literatur genannt werden, sind nicht die Kriterien dessen, was freien Willen genuin ausmacht. Ebensowenig besteht die menschliche Freiheit speziell genuin in dem schöpferischen Entwurf von Möglichkeiten und dem realisieren-Können dieser Möglichkeiten. Auch besteht sie nicht primär in dem wählenden Verantwortungsbewußtsein in diesem Prozeß schöpferischen Werdens. Der schaffende, Empirie organisierende Wille ist frei, insofern das Unendliche als die bewegende Mächtigkeit in ihm geschieht. Daher ist er offen für die Welt als zu ordnende Mannigfaltigkeit. Das ist der äquivalente Ausdruck dafür, daß der Wille ohne stehende, vorhandene Grenze geschieht. In seinem Hinausstehen in den unbegrenzten leeren Raum von Möglichkeiten waltet das Unterschiedslose. Im freien Willen ist das Unrealisierbare entbunden. Es ist dieser Begriff seiner Entbindung, den wir im vorhergehenden Zusatz kennengelernt haben. Es ist die Seinsentbindung in ihm, die es macht, daß das Mögliche eine 256
Prävalenz über das Wirkliche oder vielmehr das Aktuelle hat, wie überhaupt diese transzendentale Bewegtheit in dem Leben des Menschen als ganzen wie in der außermenschlichen N a t u r in der gesamten kreatürlichen creatio — dem Möglichen eine höhere Valenz als dem je Wirklichen oder je Verwirklichten gibt. Die Differenz von Freiheit und Unfreiheit wurzelt dergestalt in der durch den Grund der Dinge gehenden Differenz des Geschehens - Existierens - als solchen und des Geschehens, das seiner selbst inne ist, d. h. das sich aus dem zeitlosen Grunde des in der Heimsuchung des Partikularen waltenden Unterschiedslosen versteht. Was zutiefst dem freien Geschehen entgegengesetzt ist, ist die in diesem Geschehen in der Antinomik seiner Triebenergien sich aus-lebende Endlichkeit. Daher weiß nur der Mensch von Freiheit. Nur er ist die Existenz, die aus dem Wissen um den Existenzgrund die Macht (das Können) zu existieren hat. Nur der Mensch kann sich dem Sein öffnen. Nur er vermag aus diesem Wissen sein Leben zu einer Geschichte der vis creativa zu gestalten. Nur er ist ein geschichtliches, erinnerndes und hoffendes Wesen. Nur er vermag, sich vor das Seiendes tötende Ewige zu stellen. Nur er vermag, Leben in den Dienst des Utopischen zu stellen. Demgemäß besteht die Unfreiheit als Prädikat des menschlichen Willens in der Seinsverlassenheit. Der unfreie Wille ist der Sein verschlossene Wille. Er ist der nicht weltoffene, nicht Universum bildende, der aus dem Seinsverständnis geworfene, von dem Unendlichen im Endlichen nicht bewegte, blinde Wille. Er ist der von dem Objekt getriebene, zerrissene, partikulare, von seiner Endlichkeit aufgeriebene und aufgezehrte, erinnerungs- und hoffnungslose, sterbende, endliche Wille. Er ist die Krankheit des um Endlichkeit zwar wissenden, aber den transzendenten Grund seiner Existenz vergessenden, christlich gesprochen: schuldigen Willens. Er ist der den Tod als den Ursprung der Endlichkeit nicht erkennende, daher die Endlichkeit nicht bewältigende Wille. Er ist der sich in den Trieben des sich selbst zerstörenden Geschehens aus-lebende, aber sich nicht aus dem Grunde der in dieser sich zerstörenden Endlichkeit waltenden Un-endlichkeit verstehende und daher der Ohnmacht ausgelieferte Wille. 17
Metzger: Freiheit
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Der freie Wille ist nicht sterblich. Er kann nicht sterben, weil das Reale, das in ihm das Mächtige ist, nicht sterben kann. Das Sterben der menschlichen Existenz ist im Gegenteil der Ausdruck von ihrer die Variabilität des Geschehens dem Unterschiedslosen zuordnenden, unsterblichen Mächtigkeit. Die endliche Existenz opfert sich für ihre Unendlichkeit. Sie zerbricht an der in ihr geschehenden Transzendenz. Ihr Sterben gründet in der von dem Realen bewegten Transzendenz, wie in dieser ebenso die für die Empirie offene, auf das Universum der Natur und auf die Verwirklichung der Einen menschlichen Gesellschaft gerichtete utopische Geschichte der Subjekte gründet. Kant hat in paulinisch-lutherischer Reminiszenz den freien, das Übersinnliche offenbar machenden Willen und die sinnlichen Triebe in urgegensätzlicher Antinomik entgegengestellt. Aber der Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit ist nicht der Gegensatz von Willen und Trieb. Die Freiheit wurzelt nicht in dem Gegensatz gegen die „der Materie der Empfindungen" ausgesetzte, endliche Existenz. Die sinnlichen Triebe sind nicht das Böse. In ihrem Getriebenwerden, in ihrem sinnlichen Verlangen nach Lust und Saturiertheit waltet das Unterschiedslose der Wille zum Ausgelöschtwerden ihrer von der Materie bedrängten, angstvollen Existenz. Die Triebe erhalten den Charakter des Bösen, wenn die menschliche, von ihrem Existieren wissende, endliche Person die Triebe, verlassen von ihrem zeitlosen Grunde, in dieser Verlassenheit in sich walten läßt wenn das sich-selbst-Verstehen dieser Existenz verfällt oder dem Schicksal der Endlichkeit anheimfällt. Es ist die triebhafte Existenz selbst, die in dem Gewahren ihrer selbst - einem Gewahren, das zum Wesen alles menschlichen Erlebens gehört in sich den Weg zum „Übersinnlichen", zur Bildung der freien Person und des Universums, offenhält. Die „intelligible Freiheit" kommt nicht von oben und nicht von außen. Sie ist das Ingredienz der Selbstwahrnehmung der von den Trieben besessenen Existenz - Selbstwahrnehmung, die der andere Ausdruck ist für die Praxis dieser das Endliche dem Unendlichen, das Mannigfaltige der Einheit zuordnenden Mächtigkeit. Kant hat die von dem Mannigfaltigen, der „sinnlichen Materie", bedrängte menschliche Existenz aus der Erkenntnis des 258
„Übersinnlichen" in der Theorie wie in der Praxis ausgeschlossen. Er hat das endliche und das unendliche Erkennen, durch einen Abgrund getrennt, einander entgegengestellt. Das konnte geschehen, weil er das im Endlichen waltende Unendliche nicht gelten läßt. Das konnte geschehen, weil in dieser Philosophie nach traditionellem Muster der Tod als zeitlose Ur-sache der Endlichkeit keine Epoche macht, d. h. weil das Subjekt in seiner der Endlichkeit ausgesetzten und ebenso in seiner transzendentalen, auf das Zeitlose bezogenen Existenz zwar gesehen, aber letztere Beziehung nicht aus der Todeserinnerung verstanden wurde. Wie aber soll das allgemeine, zeitlose, freie Subjekt überhaupt der seit Cusanus und der deutschen Spekulation bis Hegel zur Entwicklung gekommene Begriff der mens („Geist")1) - wie soll die „übersinnliche Welt" des sich auf das ens realissimum, „Gegenstand (X)", das Nichts des Seins, beziehenden Subjekts anders zur Einsicht gebracht werden als aus dem Grunde der Möglichkeit dieser transzendentalen Beziehung her ? Es ist dieselbe endliche Existenz, die „unbewußt" oder „unterbewußt" in den Trieben unfrei (unentbunden) umgeht und die in der wissenden Sehnsucht und dem Willen und zuhöchst im Denken dieses triebmäßigen Geschehens aus seinem in ihm waltenden Einheitsgrunde zum Selbstbewußtsein kommt. Was wir den denkenden, freien Geist im Menschen nennen, ist, phänomenologisch gesprochen, der Name für die sich aus ihrem zeitlosen Todesgrunde wissende Existenz, die sich verstehende Existenz, die das Martyrium des Existierens und die in diesem Martyrium des Selbstopfers geschehende Begegnung mit dem Unterschiedslosen auf sich nimmt und dergestalt mit der existenten Welt - als im Lichte des Einen ersehnt, gewollt und gedacht - versöhnt ist. Der freie Wille schließt die verlangende Rückkehr zum Todesgrunde, d. h. die Todeser-innerung, ein, und er ist der gute, freie Wille als der für die Empirie der Triebe offene, sie dem Einen und seinen Symbolen zuordnende, zukunftsoffene Wille. Der Begriff der divina natura, der so entscheidend in dem l
) wenn man von den neukantischen wert- und geltungstheoretischen, aus dem Positivismus gespeisten Mißinterpretationen absieht (cf. meine Phänomenologie und Metaphysik, p. 139ff. und p. 174f.)
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modernen Weltbegriff seit der Renaissance zum Selbstbewußtsein kommt (vgl. die folgenden Ausführungen über Freiheitstypen) und der gleichmäßig über dem Kunstschaffen dieser Epoche wie über ihrer Wissenschaft steht, erhält in diesem Zusammenhange seine originäre Bedeutung. Er konstituiert sich im Zusammenhang mit der Verlegung der Gottheit (Sein) in das Verborgene (deus absconditus), d. h. mit dem Bewußtsein ihrer (bei Eckhart bereits vorweggenommenen) Verlegung in das über alle Gegensätze erhabene „Nichts des Seins", das durch keine endlichen Qualitäten darstellbar, aber als Ordnungszusammenhang (Harmonie) inmitten der geschaffenen Welt, inmitten der von ihrem Ende heimgesuchten, kreatürlichen Existenzen wohnt. Uber der Entdeckung der „schönen", geordneten, als „Einheit der Gesetzgebung" verstandenen Natur steht die gekreuzigte Gottheit - die gekreuzigte, mit dem Tode versöhnte und dergestalt mit der Gottheit einige, endliche Existenz. Freiheit und zeitlose Ordnung sind aufeinanderbezogen, weil der Wille, dem das Prädikat Freiheit zukommt, der durch die Todesbegegnung durchgegangene Wille ist und dergestalt, auf diesem seinen transzendenten Grunde als autonomer, der seinen eigensten gegen-Stand wollende Wille ist. Das Nichts des Seins wollend, will er es in der Welt des Geschehens zur Erscheinung bringen. Der freie, universale Wille konstituiert sich auf dem versinkenden Abgrunde der Endlichkeit. Er ist gewissermaßen in die ewige Apokalypse der Kreatur hineingestellt (daher, christlich gesprochen, zu dem Begriffe der Auferstehung die Apokalypse untrennbar gehört und auf ihrem Abgrunde der homo novus des Geistes erscheint). Daher gehört zum Wesen des freien Willens seine ständige Bedrohtheit. Er ist der durch die Endlichkeit ständig gefährdete Wille. Er ist in jedem Augenblicke seines Lebens bereit zum Verfall und zum Verrat seiner selbst. In jedem Augenblicke steht er vor der Wahl, selbst zu sein oder sich zu verleugnen der Wahl, das Kreuz der Endlichkeit auf sich zu nehmen oder aber den Drang der Endlichkeit nach Saturation in ihrem Werden zum Sterben aus-zuleben. Aber diese Entscheidung gründet selbst wieder im Wesen der um sich wissenden Existenz. So wahr diese die um den Tod wissende Existenz ist, so gewiß ist 260
es, daß zu ihr die Macht gehört, aus diesem Wissen das Selbstopfer auf sich zu nehmen und sich für den Willen zur Aufhebung ihrer selbst, des Endlichen durch das Un-endliche, d. h. für die Auferstehung, d. h. für die Menschen- und Weltbildung, zu entscheiden. Der freie Wille gehört zu dem Subjekt, das nicht Objekt werden kann. Es kann nicht Objekt werden, weil in ihm die Macht des Objektlosen waltet. Man hat zu sagen, daß in diesem nicht-Objekt-werden-Können die Bestimmung des Menschen liegt, die Bestimmung seines transzendentalen, nach Übersteigung seiner partikularen Existenz verlangenden Wollens, welches zum ontologischen Ingredienz des Weltgeschehens als solchen gehört, aber im Menschen zum Innesein seiner selbst gekommen ist.
Zusatz III Über den freien Willen und das menschliche Martyrium. Metaphysische Anmerkung zum Tode Jesu Das Martyrium der Existenz ist eine wesentliche Kategorie der Seinsgeschichte des Menschen. Es gehört zur Existenz als endlicher, weil das Endliche in dem es tötenden Un-endlichen wurzelt. Also nicht das Leiden der Kreatur, sondern das menschliche auf-sich-nehmen-Können dieses Leidens, will sagen: das auf-sich-Nehmen des von der äußeren und inneren Krankheit, d. i. seiner Selbstauflösung heimgesuchten Geschehens, d. h. das auf-sich-Nehmen der Macht des Todes in diesem Geschehen, gibt dem Martyrium seine unaufhebbare Stelle in dem Leben der Freiheit. Daher hat die Leidensgeschichte Jesu die exemplarische Bedeutung für den Begriff der menschlichen Freiheit. Wir müssen das Golgatha Jesu in dem Zusammenhang der entwickelten Kategorien verstehen. Jesus hält das Martyrium aus. Er hält Gegenwart aus. Er nimmt das Kreuz auf sich. Er nimmt das Leiden der endlichen Existenz auf sich. Das Kreuz auf sich nehmen heißt: die Existenz akzeptieren in dem Horizont ihrer Hoffnungslosigkeit. Jesus verzichtet im Lichte dieser Einsicht auf politische oder soziale 261
Forderungen. Sein Evangelium ist kein politisches Manifest. Jesus hat keine humanistischen oder sozialen Reformen verkündet. Die Kreatur opfert ihr natürliches Selbst. Sie opfert ihr dem Martyrium ausgesetztes Dasein in der Welt. Sie nimmt das Sterben auf sich. Auf dem Boden dieses Martyriums erhebt sich der Glaube an die unlösbare Partnerschaft mit dem Unendlichen, dem „Vater" - die Freiheit von der Endlichkeit. Jesus verkündet den deus filiatus inmitten des Martyriums. Dergestalt meint seine Liebe zu dem „Vater", sein Glaube, die Auslieferung der von der Endlichkeit heimgesuchten Existenz an die Begegnung mit dem göttlichen Du (Sein), die Auslieferung an den göttlichen Partner der Begegnung inmitten der Hoffnungslosigkeit der existierenden Welt - der Glaube, von dem Paulus spricht und den Abraham meinte, wenn er „gegen alle Hoffnung glaubte". Verstehen wir diese Verbundenheit der von der Gottheit verlassenen und in der Verlassenheit mit ihr verbundenen Existenz - neben dem Satze: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" steht der Satz: „In Deine Hände, Vater, empfehle ich meinen Geist" - den Glauben an die „Leibesgestalt" annehmende Gottheit. Verstehen wir die Stelle, die der Tod in ihrem Martyrium einnimmt, genauer! Nirgends in der Geschichte ist der Zusammenhang von Martyrium, Tod und Freiheit (Ewigkeit) so fundamental verstanden worden. Das Manifest von dem Glauben muß verstanden werden im Zusammenhang mit den apokalyptischen Visionen der urchristlichen Epoche: den Visionen einer Welt, die nicht nur untergeht, sondern deren Untergang die letzte Hoffnung dieser gemarterten Epoche ist. Während aber die jüdischen apokalyptischen Betrachtungen auf dem Boden der alten Prophetie in dem Horizont einer neuen, veränderten Welt aufgipfeln, während also in diesen Visionen das Band mit der natürlichen, wenn auch veränderten Welt weiterbesteht, so bricht dieses natürliche Band in der Verkündung Jesu ab: „Seid getrost! Ich habe die Welt überwunden." Was den Menschen an Leidenschaften oder an Erinnerungen oder Erwartungen mit dieser Welt verbindet, ist für Jesus nicht das Entscheidende. Der Schwerpunkt seiner Botschaft von dem kommenden 262
Zeitalter nach dem „Gericht" liegt nicht auf der Weltveränderung. Er liegt vielmehr auf dem Aushalten des Martyriums dieser wie auch immer veränderten, natürlichen Welt. Der Schwerpunkt seiner Auslieferung an den göttlichen, in seinem Willen unerforschlichen Vater, der die Zukunft unendlicher Möglichkeiten und ihrer Realisierung in seiner gnadenreichen Hand hält, liegt darin, daß die Verbundenheit mit der Gottheit durch das Martyrium, d. h. das Selbstopfer der Existenz, geht - in diesem Martyrium ihr Medium findet. Der Tod wird als Partner des Menschen erkannt. Das Kreuz ist das Symbol dieser Partnerschaft. Die Partnerschaft des Menschen und der Gottheit (und seiner „göttlichen" Welt) geht über das Kreuz. Die beiden Partnerschaften des Menschen mit dem Tode und der Gottheit (Sein) werden als entsprechende Größen erkannt. Auf dem Grunde der gemarterten Endlichkeit wird die Aufeinanderbezogenheit des Endlichen und des Un-endlichen verstanden die Partnerschaft, die also mitten durch das kreatürüche Leiden geht: die Sohnschaft der sich opfernden, glaubenden, seinsgewissen Kreatur. In ihrem die Endlichkeit durchbrechenden, sich selbst aufhebenden Martyrium ist das Endliche die Stätte der Begegnung mit dem Un-endlichen geworden. Dies ist das Einzigartige, daß das „göttliche" Subjekt seinen Stand im Endlichen nimmt. Kein menschliches Schicksal, keine endliche Not, keine Unzulänglichkeit, kein menschlicher Mangel wird von Jesus draußen gelassen. In ungebrochener, ungebändigter Stärke ragt die gemarterte Gegenwart in das in das Unendliche reichende, exzentrische Selbst des Menschen hinein. Der Ausweg in den Entwurf von irdischen Zukunftsutopien ist ihm genommen. Die menschlich-göttliche Partnerschaft steht gewissermaßen inmitten der Krankheiten, der Schicksalsschläge, der Armut, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen usw. Diese Partnerschaft aktualisiert sich nicht wie in der Sokratik durch die Heilsteilnahme an einer Welt bleibender Gestalten. Sie vertraut auch nicht primär auf das Kommen einer Welt, in der das „Schaf neben dem Wolf" in Frieden lebt. Was der evangelischen Konzeption ihr Gepräge gibt, ist die Radikalisierung der von ihrer Endlichkeit völlig aufgezehrten Kreatur. Radikaler Weltpessimismus steht im Grunde des Evangeliums.
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Der Tod hat also hier eine veränderte Bedeutung gegenüber dem Sokratischen. Das Verlangen Jesu nach dem Tode ist nicht das des Sokrates: nach der „Unterwelt", in der die Seele die Welt in ihren reinen, sie bildenden, permanenten Gestalten „ungetrübt" erkennt, sondern das Verlangen nach der Begegnung mit ihm, als aus welcher der endlich-leiblichen Existenz die Quelle und Mächtigkeit zufließt, ihre Endlichkeit auszuhalten, neu zu lieben, neu zu erkennen, neu zu gestalten und nicht in der Zuwendung zu dem Permanenten von ihr, der „sterblichen Zone" (Theaetet, 176), zu fliehen. In Jesus kommt das irdische Geschehen wie nirgend sonst in der Geschichte zum Selbstbewußtsein. Menschliches Sterben wird um sich selbst wissend. Die Kreatur wird in dem Wissen um ihr Sterben ihrer Verbundenheit mit dem, was ihr Sterben durchbricht, gewiß. Aus der äußersten Situation des Menschen her, gewissermaßen der Grenzsituation des Kreuzes, steigt die Gewißheit von der Realität des Un-endlichen auf. Das Martyrium wird gesegnet, weil in ihm, dem sich selbst wissenden Leiden, die Gewißheit von der Realität des Transzendenten liegt, wozu es zugleich den Weg öffnet. Dergestalt wird die Welt „neu", „im Geiste" gesegnet: sie wird von der Todesbegegnung her neu verstanden und geliebt. Von der Todesbegegnung her hält der Mensch das Dunkel aus. Er hält die Welt nicht nur aus. Weltliebe und Menschenliebe gründen in dem in der Todesbegegnung wurzelnden Glauben an das Zeitlose. Im Lichte dieser Begegnung segnet Franz von Assisi die Kreaturen, aber so, daß das Mitleiden mit der in ihrem Martyrium vom Zeitlosen getroffenen Kreatur zur höchsten Tugend wird. Mitleiden ist dergestalt keine „Gefühlsregung", sondern in ihm kommt das um die Einheit von Tod, Zeitlosigkeit und Endlichkeit wissende freie Wesen zu seinem höchsten Ausdruck. Es ist die von dem Transzendenten getroffene Kreatur - die getroffene, erniedrigte Kreatur, der zumal Jesus sich mitleidend, liebend zuwendet. Daher bleibt auch nach dem Verrat Judas der geliebte Jünger. Auf die sich in der Partnerschaft mit dem Tode und in dieser Begegnung konstituierende Einheit mit der die Welt der Gegensätzlichkeiten transzendierenden Gottheit kommt es im Evan264
gelium allein an. Es ist die liebende Gemeinschaft, in der jede Kreatur „meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester" wird, die Jesus in der sich selbst verschwendenden Leiden-schaft der menschlichen Existenz erkennt. Es ist die Partnerschaft mit dem Transzendenten, die in dem christlichen Begriff der anima mea zum Ausdruck kommt - anima mea, die wieder nicht die den bestehenden Kosmos denkende anima meint, sondern die sich aus dem Dialog (der exzentrischen Beziehung) mit dem transzendenten Partner verstehende, leidend-wissende Existenz : der Gottheit (Sein, Du), die in ihrer sich entziehenden Transzendenz nicht durch einen Abgrund (wie neuere Theologen es darstellen) von den Kreaturen geschieden ist, sondern die „Leibesgestalt angenommen hat", d. h. für die das kreatürliche Martyrium als solches die Erscheinungsstätte ihrer selbst geworden ist. Es ist dieser in das Transzendente hineinreichende Charakter, die Exzentrizität unserer Existenz, die in dem Begriff der anima mea gemeint ist.
Zusatz IV Zu dem P r o b l e m der F r e i h e i t s t y p e n Wir sprachen von der menschlichen Zeit als dem Medium der Seinsoffenheit. Im Verlauf unserer Erörterungen ist uns klar geworden, daß das Leben der Freiheit in der Zeit geschieht, der Zeit, die sich in den beiden Dimensionen der Erinnerung und Hoffnung aktualisiert und die dergestalt das Medium des sich entziehenden Seins ist. In dem Seiendes (Zeitlichkeit) überschreitenden sich-Entziehen des Seins ist die unterschiedslose Selbigkeit des Todes das Mächtige. Wir können auf dem Todesgrunde des exzentrischen Zeitbewußtseins von Typen der menschlichen Freiheit sprechen. Exemplarisch zeigt sich die Differenz des Zeitbewußtseins in der Differenz des hellenischen und des hebräischen Freiheitsgedankens. Wenn in Piaton der Philosoph neben dem König steht, so meint dieses, daß die wissenschaftliche Betrachtung der Welt mittels mathematischer Symbole neben dem politìsch265
reformatorischen Willen einhergeht. Wie der Kosmos in der zeitlosen Ordnung seiner Gestalten ständig präsent ist für den Denkenden, der fähig ist, sie zu erkennen, so ist die wahre polis hier als ständige Parousie vorhanden. Es ist das erinnernde Denken, das die polis wie den Kosmos gleichermaßen offenbar macht. Kein Ort ist in dieser Betrachtung für den „Geist der Utopie", d. h. den Geist der die Verwirklichung des Zeitlosen in die Eschatologie verlegenden Hoffnung. Der Idealstaat Platon's ist die Angelegenheit des Denkens „ewiger Formen", die zeitlos gegenwärtig sind, und der platonische Staatsmann wie - in seinem Gefolge - der aristotelisch-thomistische Politiker sind in ihrer Aktion nicht auf die Organisierung einer zu bewältigenden Empirie gerichtet. Genauer: ihre Aktionen sind nicht zukunftsoffen, vielmehr sind sie Vollzüge der Offenbarmachung des unveränderlich Bleibenden in der Erinnerung. Der Idealstaat ist der Gegenstand der Sehnsucht in der Erinnerung von dem, „was immer gewesen ist", und es ist dieses Verlangen nach ewiger Parousie, in der der Freiheitswille aufgeht. Die Hoffnung ist identisch mit der Erinnerung, die Zukunft identisch mit dem Gewesenen. Der Denkende ist der Freie. In der hebräischen Prophetie steht der Prophet neben dem König. An Stelle der in dem je Gegenwärtigen offenbaren, zeitlosen Parousie steht die Verlegung dieser Offenbarkeit in das Zukünftige. Gewiß ist in beiden Fällen das je Gegenwärtige, das kreatürliche Ausgesetztsein an das Partikulare, das ungerecht-Unzulängliche, platonisch gesprochen: der „Schein", das zu Übersteigende. Aber während im Hellenischen diese Übersteigung in der denkenden Wendung zu dem bestehenden Reiche zeitloser Wesenheiten auftritt, klammert sich die Prophetie an die Hoffnung. Die Geschichte der jüdischen Prophetie ist die Geschichte des zunehmenden Wissens von der Nichtigkeit dieses ungerechten „Äons" - vom Hellenischen her gesehen: diese existente Welt „nimmt" nicht an der Parousie „teil" - der Verzweiflung an dieser Welt als Stätte der erscheinenden Gottheit und ihrer erscheinenden Gerechtigkeit. Je tiefer das Unheil in das hebräische Land einbricht, in um so fernere Zukunft verlegt der Prophet die Heilsverheißung, will sagen : das Erscheinen des göttlichen Universums.
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Der Prophet lebt in Visionen des Untergangs dieser Welt: „Siehe, ich will das Schwert über Euch bringen und Eure Höhlen zerstören" (Ezech. VI, 3). Die Heils Verheißung wird zur Verkündung der Apokalypse. Hoffnung ist das Medium des freien, mit dem Zeitlosen verbundenen, frommen Subjekts, des an die sinaitische Offenbarung glaubenden Volkes - gewissermaßen des Subjekts, das in der Hoffnung erinnernd auf die zukünftige coincidentia oppositorum wartet, in deren Lichte die kreatürlichen Differenzen und zumal der Streit von Mensch zu Mensch und der Streit der Völker untereinander aufgehoben sind. Der Sieg der Gottheit über Gog und sein Land Magog wird kommen. „Non fecit altissimus unum mundum, sed duo" (4. Buch Esra, VI, 50). „Er wird nicht matt werden noch verzagen, bis daß er auf Erden das Recht anrichte; und die Menschen werden auf sein Gesetz warten" (Jes. 42, 1, 4). Der betend Hoffende ist der Freie. Was in der evangelischen Freiheitsbotschaft - Freiheit als Prädikat der die Endlichkeit übersteigenden Existenz, welches Prädikat sich durch alle ihre Modifikationen und alle in der Geschichte zur Entwicklung kommenden Typen durchhält vor sich geht, ist also dies, daß die in den transzendenten Tod hineinreichende Existenz diese Existenz auf sich nimmt und auf diesem nihilistischen Abgrunde als gemartert-sterbende der existentiale Grund der Möglichkeit der Begegnung mit dem weltübersteigenden Sein wird. Dergestalt ist das Martyrium, als die Stätte des Selbstopfers der Existenz, Stätte der Übersteigung ihrer Endlichkeit. Das ist der andere Ausdruck dafür : es gibt kein Geschehen in der Welt, das um seine Zuordnung zu dem Unendlichen weiß, als die menschliche Seele, d. i. die die Endlichkeit wissend durch-leidende Existenz. Als diese im Sterben auferstehende, aus der Gottheit neu lebende Existenz ist sie im Christlichen das Absolute, zu dem alles andere relativ ist. Im Evangelium Jesu hat, metaphysisch gesprochen, das freie, das Zeitlose wollende, autonome Subjekt, das nicht Objekt werden kann - kein solipsistisches Ego, sondern der jeder menschlichen Kreatur (aktuell oder von ihr sündhaft verraten) einwohnende, Welt übersteigende, in diesem Überstieg die Gemeinschaft der Menschen und der Dinge liebend erkennende 267
Gott - seine fundamentale, nirgend sonst gegebene Gründung erhalten, und zwar dadurch, daß in ihm nichts vorausgesetzt ist als die die existierende Welt erfahrende Existenz. Die Freiheit der Existenz konstituiert sich im Wissen um ihr Existieren. Dieses evangelische Fundament trägt die mannigfachen Varianten der Entwicklung des abendländischen Freiheitsgedankens. Wenn ζ. B., um früher Gesagtes (§ 14 b) zu ergänzen und auf die Entwicklung des „modernen" Freiheitsgedankens hinzuweisen, auf nominalistischem Boden das Bewußtsein der Endlichkeit des Subjekts vorherrschend wird, des Ausgeliefertseins des intellectus finitus an das Geschehen (alteritas), so kommt in dieser Auslieferung an das Gegebene gegenüber dem aristotelisch-thomistischen Realismus die Gewißheit zum Ausdruck, daß das Un-endliche durch endliche Bestimmungen zwar nicht darstellbar ist, daß aber dem endlichen Subjekt kraft seiner in ihm springenden Quelle der „Verbundenheit mit dem Schöpfer" (Dilthey) die Mächtigkeit gegenüber dem Objekt (Welt) zukommt - die christliche, in der Nachfolge des Martyriums und des auferstandenen, neuen Lebens verwurzelte Mächtigkeit. Das Sein („esse tuum") ist zwar in der Welt in keiner Gestalt antreffbar, aber der Mensch vermag kraft seiner potentia infinita, das Geschehen zu bändigen. Er vermag, die unendliche Einheit dem Endlichen einzubilden. Der Mensch tritt der Welt gegenüber in der Gewißheit seiner gotterfüllten Mächtigkeit. Die „moderne" Wendung zur Welt geschieht im Lichte der Todesbegegnung am Kreuze. Aber nun so, daß der Abstand der Kreatur gegenüber dem Un-endlichen zum vordrängenden Motiv wird - das Wissen von der Kluft zwischen creator und creatura, jenes Wissen, das für den reformatorisch-religiösen Menschen- und Weltbegriff ebenso entscheidend geworden ist wie, in Akzentverlegung, für den Erkenntnisbegriff der werdenden „modernen" Wissenschaft, darin, daß der Begriff der Arbeit an der Empirie, in die die schuldige, von der Gottheit getrennte Kreatur gestoßen ist, in den Mittelpunkt tritt (vgl. p. 133 f.). Der Begriff der Arbeit gewinnt die kategoriale Bedeutung in der modernen Freiheits- und Seinsgeschichte. Die alltägliche, sich an den Dingen verzehrende, 268
sie organisierende Arbeit wird zu dem Medium des Freien. Das Denken selbst wird Modus der Arbeit. Die Wissenschaftsidee verwandelt sich. An Stelle der Wissenschaft als des Weges, Substanzen „anzuschauen", tritt der Prozeß, das Geschehen im Zusammenhang seiner Erscheinungen in nimmer aufhörendem Werden des tätig denkenden Willens zu ordnen. Die Gottheit (Sein) wird zu dem X des in der Arbeit am Mannigfaltigen tätigen Willens. Die Rationalisierung (Humanisierung) des Geschehens - hegelisch: die Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen, die Aufhebung der Andersheit (Objekts) - wird zum Thema des freien Subjekts. Der Prozeß der Rationalisierung oder der Zuordnung des Mannigfaltigen zu dem System der Einheit und seinen Symbolen beherrscht die politische Geschichte, die Wissenschafts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Freiheitsbewußtseins. Aber worum es in diesem Prozeß weltrationalisierender Arbeit geht, ist doch nicht die Rationalisierung. Vielmehr steht diese im Dienste des christlichen: „redi in te ipsum". Arbeit ist gemeint als die in der Welt sich entfaltende Explikation des der Endlichkeit (Empirie, „Erscheinungen") zwar überantworteten, aber von dem Transzendenten getroffenen Subjekts. „Elice ex eo quod extra te est id quod tibi insitum sit: ex mundo te ipsum" (Bovillus). Nicht die Wendung zu dem „Diesseits", nicht der hellenische Glaube an die in der Natur sich offenbarende Schönheit (das Permanente) kommen in der Renaissance und dem Rationalismus des 15., 16. und 17. Jahrhunderts zum Ausdruck - dieses herauszustellen, ist das Verdienst von Konrad Burdach gegenüber Jacob Burckhardt, wie es analog das Verdienst von Max Weber ist, der auf die nominalistisch-calvinische Wurzel des bürgerlichen Kapitalismus hingewiesen hat - es ist die an das Transzendente gebundene (wenn auch von ihm durch einen Abgrund getrennte), endliche Subjektivität, die sich auf dem Wege der Weltorganisierung, d. h. der die jeweilige Organisierung übersteigenden Transzendenz, zur Darstellung bringt. Um Organisierung der Empirie geht es dem Subjekt in seinem Verlangen nach der Macht über die Endlichkeit, welcher Wille zur Macht in dem modernen Begriffe der Arbeit zur Repräsentation kommt. Es geht um die „Freiheit des In269
dividuums", d. h. eines Subjekts, das seine Freiheit „von außen" sucht, aber doch so, daß dieses Subjekt die Welt, als ihr schaffender Organisator, „ad majorem Dei gloriam" bildet, d. h. im Namen der Freiheit „für", nämlich für seinen eigensten, es allein bestimmenden gegen-Stand. Daher beginnt der Verfall dieser Freiheitsbewegung genau an der Stelle, wo das Leben des Subjekts um die Macht seiner transzendentalen Bestimmung kommt : wo das Gegebene als das Absolute auftritt, wo hinter dem menschlichen „sich-auf-denBoden-der-Tatsachen-Stellen", seinem Jasagen zu dem „Goldklang des Lebens" (Scheler), seiner alltäglichen, organisierenden Initiative die Angst vor dem Verderb steht, wo die Empirie gleichsam das Trauma des besessenen, verletzten Lebens geworden ist und wo zuletzt die Freiheit, in dieser Angstphilosophie um ihren Sinn gekommen, als Freiheit zum Tode, will sagen : als Freiheit zum Aufsichnehmen existentialer Angst und Ausweglosigkeit, verstanden wird. Versuchen wir, das Problem, das die Geschichte des Freiheitsbewußtseins auf diesem Boden stellt, kurz anzudeuten. Auf dem Boden der auferlegten Verfallsgeschichte, die also als die Geschichte der Verendlichung des Subjekts (religiös gesprochen : der schuldhaften Vergessenheit seiner Partnerschaft mit dem Tode und mit dem Un-endlichen) geschieht und mit der parallel geht die Geschichte des wahrhaft unglücklichen Bewußtseins, für das die Arbeit an der Materie um ihre Verwurzelung im Transzendenten gekommen, die rationalisierende, industrialisierende Tätigkeit als solche das summum bonum, der Weg zur Glückseligkeit, geworden ist - auf dem Boden dieses von der Ausweglosigkeit seines endlichen Lebens ergriffenen Subjekts, ergreift dieses Subjekt die neue, mit Tod und Un-endlichkeit verbundene, verwandelte Aufgabe seiner endlichen Existenz. Die Stunde der Hoffnung schlägt dem Menschen erneut, wenn er das Martyrium der Existenz aus dieser seiner transzendentalen Bindung an den Tod erneut auf sich nimmt und als freies Wesen den Willen, seine Endlichkeit, d. i. sein Dasein in der Welt, zu übersteigen, zugleich als den Willen zum Dialog mit dieser seiner exzentrischen Bestimmung begreift. Der Dialog mit sich selbst und mit den Mitmenschen,
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das Verstehen der Assoziation der Menschengemeinde als Assoziation im Dialog sich begegnender Subjekte wird auf dem Boden der Weltrationalisierung das Problem, vor das die Freiheitsgeschichte des Menschen in unserer Epoche gestellt ist. Es tritt die Aufgabe heran, die Freiheit des Subjekts neu und verwandelt zu begreifen - eines Subjekts, das durch die naturalistische Auslieferung an die Empirie gegangen ist. Das Subjekt ist in diesem Prozeß um die bis in Kant und Hegel noch hineinreichende Orientierung an einer verdinglichten, übersinnlichen Welt gekommen. Aber der die Empirie verabsolutierende „Positivismus" und „Materialismus" und der die Endlichkeit der Existenz hypostasierende „Existentialismus" sind ihm nicht umsonst geschehen. Das Subjekt hält seine Freiheit inmitten der von Hypostasierungen emanzipierten Endlichkeit aus. Frei von Beschwörungen einer verdinglichten, übersinnlichen Welt versteht es seine mit dem Tode verbundene Existenz. In dem nackten Wissen um seine Endlichkeit begegnet es dem Tode. Es beginnt, den Tod als das die Endlichkeit durchbrechende Faktum zu verstehen. Es beginnt, seine mit dem unterschiedslosen Sein verbundene exzentrische Mächtigkeit auf dem gewonnenen Grunde des Wissens um seine Endlichkeit und nichts als diese zu verstehen. Derart tritt es seinem Schicksal in neuer Hoffnung auf verwandelte Welt- und Menschengestaltung im Lichte des verwandelten Freiheitsbewußtseins gegenüber. Die Darstellung dieses verwandelten Typus des freien Willens auf dem Grunde der Begegnung mit dem Tode sich begegnender, um das exzentrisch-utopische Sein wissender, das Schicksal des Daseins in der Welt meisternder Subjekte ist die Aufgabe, die einer künftigen Untersuchung vorbehalten sei1). Man hat in diesem Zusammenhang festzuhalten: Freiheit und Zeitlosigkeit (Ordnung) wurden als Korrelate erkannt. Aber diese Korrelation hat gegenüber der Tradition eine verwandelte Meinung erfahren: das Sein kann weder im Sinne Platon's als hypostasierte idea verstanden werden, noch auch, im Gefolge der durch die l ) In dieser Untersuchung wird der Begriff der verwandelten Autonomie der menschlichen Freiheit — in der von Rationalisierung (Mathematisierung) menschlichen wie außermenschlichen Geschehens beherrschten, funktionalisierten Gesellschaft zur Darstellung kommen.
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abendländische Tradition gehenden Verabsolutierung oder Verdinglichung, im Sinne Hegel's, als die zeitlose, übersinnlich-intelligible „Vernunft", sondern als das in der Todesbegegnung endlicher Existenzen verwurzelte Bild des Todes. Die abendländische Tradition hat auf dem überkommenen, das Sein als Vorhandenes ansprechenden Grunde die Wirklichkeit der Vernunft dogmatisch behauptet, oder sie hat sie skeptisch-empiristisch geleugnet. Der Streit, der durch die Geschichte geht zwischen Empirismus und Rationalismus, d. h. der Streit, in dem bald das Bleibende, bald das nicht-Bleibende als das Wirkliche (Absolute) erklärt wird, besagt, daß sich diese metaphysische Diskussion auf einer Ebene bewegt, in der von Sterben und Tod nicht gesprochen wird. In beiden Fällen geht es um die Hypostasierung des einen oder des anderen Elementes der Erfahrung. Die Wirklichkeit der Vernunft wird der Wirklichkeit der Empirie dogmatisch gegenübergestellt. Das eine wird auf das andere relativiert oder umgekehrt. Die kantisch-idealistische Spekulation hat, wie gezeigt, das Problem der Zuordnung dieser beiden Elemente, des einen zu dem anderen, die in dem Begriffe der Erfahrung liegt, zum Thema ihrer Reflexionen gemacht. Sie hat über die Frage der Realität (Objektivität) des Übersinnlichen - des „Einen Gegenstandes" : der Synthesis a priori reflektiert. Das gilt gleichermaßen für Kant mit seiner Frage nach der Objektivität der „Vorstellungen", wie es für Hegel gilt, für den die Philosophie die Darstellung der zum hypostasierten, „absoluten" Subjekt verwandelten Substanz ist, insofern dieses dem Naturgeschehen wie dem der Geschichte (des Geistes) die Realität verleiht der als Subjekt dargestellte Logos des Johannes-Evangeliums. Der dogmatische Ansatz der antiken Ontologik und Theologik blieb maßgebend (vgl. zu der theologisch-ontologischen Wurzel des Hegel'schen Logosidealismus die von H. Nohl herausgegebenen Frühschriften, insbs. „Der Geist des Christentums und sein Schicksal", 1907). Der positivistischen Wissenschaft kommt in der Seinsgeschichte, wie wir früher gesehen haben, das Verdienst der Zerstörung der Metaphysik der Substanzen nicht nur in dem Sinne zu, daß diese Wissenschaft dem Seienden - den Dingen - den Charakter von bestehenden Substanzen inhaerierender Formen und Qualitäten genommen hat, sondern ebenso dem Sein selbst, der Substanzialität •der Substanzen, den Charakter eines ontisch bestehenden und es zum Gegenstand einer Ontologie machenden Realen. (Vgl. indessen zur Kritik des „Positivismus" p. 156f.)
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Das Sein ist nicht „an sich". Es weist als die sich durchhaltende Beschaffenheit des Seienden, als die das Seiende in dem unterschiedlichen Werden seiner Gestalten vereinende Beschaffenheit, zurück auf das transzendente Faktum des Todes. Es ist keine irreduzible Letztheit, als welche es in der platonischen oder in der Hegel'schen Ontologik oder auch in der kantischen Theorie und Ethik auftritt (in Korrelation zu dem freien „allgemeinen", zeitlosen „Subjekt"). Es ist nichts Absolutes. Es ist kein geoffenbartes Ding an sich. Was ihm seine Bedeutung gibt, nämlich Name dafür zu sein, daß wir das Veränderliche des Weltgeschehens unveränderlichen Symbolen zuordnen: daß wir in dieser elementaren Zuordnung Seiendes in infinitum als in der Welt Geschehendes, es überschreitend, erfahren und nur so erfahren können, hat seinen Grund darin, daß die Vernichtungsmacht des einenden Todes in ihm das Mächtige ist. Dieser Problemhorizont muß verstanden werden, wenn der verwandelte Begriff der Freiheit, von dem wir sprachen, in das Licht treten soll. Die Freiheit hat gewiß mit dem übersinnlich-Unendlichen zu tun, nicht, weil das Un-endliche das Wirkliche ist, sondern weil unser Leben als endliches existiert - d. h. in einer Welt, die als Werden versinkender Augenblicke geschieht, in dessen Kontinuum aber das ungeteilte, immer selbe Ganze anwesend ist - und w.eil der Mensch um den in diesem Kontinuum versinkender Partikularitäten das Partikulare vernichtenden Todesgrund weiß, weil der Mensch dergestalt, vom Seinsgrunde getroffen, das Geschehen erkennt, d. h. sich als das das Un-endliche im Endlichen offenbar zu machen strebende Subjekt realisiert. Derart sind die Symbole des gegen-Standes, auf den dieses der Empirie bedürftige Subjekt infinit gerichtet ist, Formen der Möglichkeit des ontischer oder ontologischer (substanzialer) Darstellung enthobenen Seins. Dergestalt zeigt sich die Freiheit dieses Subjekts erst da in ihrer Ursprünglichkeit, wo es sich, das Geschehen als geordnete Mannigfaltigkeit zur „Abbildung" zu bringen, auf den ihm von seinem endlichen Schicksal bestimmten Weg begibt oder aber, wo es als die Existenz in der Praxis der alltäglichen Begegnung (Assoziation) mit anderen Subjekten in dieser Welt der Vergesellschaftung dasselbe Eine erkennend zu realisieren verlangt - die nach Aufhebung der Kreatürüchkeit verlangende Existenz. Dies ist das Eigentümliche des Freiheitsbegriffes, zu dem der von dem erworbenen, entsubstantiierten Weltbegriff durchtränkte Mensch unseres Zeitalters drängt, daß er inmitten der entgötterten Welt die Freiheit und ihr übersinnliches Universum neu ergreift in dem Augenblicke, in dem er auf dem 18
Metzger: Freiheit
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Boden dieser entmythifizierten, geschichtlichen Welt den Mut und die Hoffnung findet, an die Stelle der Angst vor dem Sterben und der Ohnmacht des Endes die Begegnung mit dem Tode und seinem Bilde: dem Transfiniten, zu setzen. Zusammenfassend: wir unterscheiden von den Freiheitskategorien (Attributen) und den in diesen Kategorien fundierten Modis der Freiheit die Freiheitstypen. Erinnerung und Hoffnung sind Kategorien der in der exzentrischen Zeit erscheinenden Freiheit, d. h. invariable Dimensionen der von dem Transzendenten bewegten, transzendentalen, um ihre Endlichkeit wissenden Existenz. Sehnsucht, Wille, das Denken, das Mitleiden geschehen als Modi der hoffend-erinnernden Zeit. Die Typen sind empirische Vorkommnisse - relativ konstante Variable der Kategorien und ihrer sich durch die Zeit durchhaltenden Modi. Sie sind im Verlaufe der empirischen Geschichte des Menschen (Menschengruppen) zur Entwicklung gebracht worden, also in Entstehung und Geschichte abhängig von empirischen (psychologischen, soziologischen usw.) Bedingungen: Gegenstand historischer oder soziologischer Auslegungen in dem Sinne, wie z. B. Max Weber solche Idealtypen darstellt oder wie die „Produktionsverhältnisse" bei Karl Marx Idealtypen sind, deren Folgezusammenhänge er in „materialistischer" Dialektik exponiert. Aber die Typen sind nicht nur empirische Variable. In ihrer Variabilität hält sich die menschliche Frage nach der Freiheit durch, was z. B. bei Marx darin zum Ausdruck kommt, daß der ökonomische „Unterbau" von ihm in untrennbarer Einheit mit dem ideologischen (geistigen) „Überbau" verstanden wird und daß es bei ihm in der Behandlung des Produktionsprozesses um das Werden der Freiheit (der „Freiheit aller"), d. h. der Überwindung der „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen", prinzipiell gesprochen : der Ausbeutung des Subjekts durch das Objekt (Endliche), geht. Wir sprachen von dem „modernen" Typus der Freiheit, in dessen geschichtlicher Zeitgestalt das Eigenartige geschieht, daß die Freiheit in der Weltrationalisierung gesucht wird. Gegenüber der griechischen Prävalenz der Erinnerung und ihrer abgeschlossenen Welt wie gegenüber der im Judentum betonten 274
Prävalenz der Hoffnung auf die erneute Offenbarung der Gottheit durch ihren Messias wird in der „modernen" Auffassung die Welt als offener, grenzenloser Horizont der vis creativa, der schaffenden Arbeit gesehen. Wir können diesen letzteren Typus in seinen Variationen verfolgen, so wenn wir den in dem angelsächsisch-amerikanischen, extravertierten Pragmatismus entwickelten Typus der Freiheit („to do is more than to be") von dem in dem deutschen Idealismus zur Entwicklung gebrachten introvertierten Typus unterscheiden, von dem die rationale Vereinheitlichung der Welt als das Medium der Selbstentfaltung, der Entfaltung des „unendlichen Selbst" im Menschen, verstanden wird, auf die es ihm allein ankommt. Dergestalt ist der Gegensatz, oft besprochen, von „Zivilisation" und „Kultur" ein Gegensatz von zwei Freiheitstypen, die auf demselben modernen Grunde des Primats der Arbeit an der Empirie zur Entwicklung gebracht wurden. Alle Typen haben dann selbst ihre eigene Geschichte des Verfalls, d. h. der Desintegration. Der ursprünglich im „Ubersinnlichen" verwurzelte Grund wird vergessen. Dergestalt liegt der Geschichte der Freiheit, gewußt oder vergessen oder geleugnet, das Wissen von dem Sein und zuletzt die Todeserinnerung zugrunde. In der Variabilität der Typen hält sich das Gemeinsame durch : der aufsteigende oder versinkende Wille der endlichen Existenz, frei zu sein von der Endlichkeit - der Wille, dieses Schicksal zu übersteigen. Das Versinken dieses Willens ist selbst eine von dem Willen zum Uberstieg abhängige Variable. Daher sind Epochen des Niedergangs allemal Epochen der Verzweiflung, in der das Wissen von dem „verlorenen Gut" umgeht1). Oder auch, äquivalent gesprochen: der Tod wird nicht als die Quelle des das Subjekt von seiner Endlichkeit befreienden Mächtigkeit verstanden, sondern die Endlichkeit tritt auf als dasjenige, wonach „die Freiheit greift, um sich daran zu halten", wobei sie dergestalt „in Sünde" „zu Boden sinkt". (Der Tod wird dergestalt bei Kierkegaard als die *) Oder aber die „Krankheit am Ewigen", das in unser Leben „hineinsteht", geht um: die „Qual" der Verzweiflung des Menschen, „daß er sein Selbst. . . das er nicht ist. . . von der Macht, die es setzt, losreißen will" (Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, p. 17). 18*
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„Strafe" für die Sündhaftigkeit bezeichnet. Ganz im Sinne der ihn als transzendenten Realgrund ausschaltenden Tradition. Vgl. Der Begriff der Angst, p. 89, Fußnote.)
§20 ÜBER DAS DETERMINISMUS- UND INDETERMINISMUSPROBLEM
a) D e r B e g r i f f des e x a k t e n K a u s a l g e s e t z e s Das Problem des freien und des unfreien Willens darf nicht mit der traditionellen Antinomie der Indeterminiertheit und der kausalen Determiniertheit des Willens konfundiert werden der kausalen Determiniertheit in dem traditionellen Sinne, daß gemäß dem Laplace'schen Vorbilde der Lauf des Geschehens in einem Zeitmoment (t) der Möglichkeit nach auf Grund mathematischer Gesetze nach der Vergangenheit und der Zukunft hin eindeutig berechenbar ist. Ganz abgesehen davon, daß der Ablauf des elementaren Prozesses nach der Quantenphysik nicht durch strikte Kausalgesetze determiniert ist, liegt in dieser Identifizierung von Kausalität und mechanischem Ablaufe der Natur ein irrtümlicher Begriff des Prinzips der Kausalität vor. . Daß Kausalität nicht ein „subjektiver", der Wahrnehmung gegebener Vorgang, noch eine den Dingen inhärierende, ontologische Beschaffenheit ist, haben Hume und Kant gleichmäßig - bei aller Verschiedenheit der Standorte - begriffen. Kausalität ist nicht „gegeben". Das Kausalgesetz bezieht sich zunächst auf die regelmäßige Wiederkehr von Phänomenen, nicht auf ihre „Ursache". Es bezieht sich darüber hinaus nicht auf einzelne Ereignisse, sondern auf Klassen von Ereignissen, die eine bestimmte Charakteristik haben, und zwar auf eine allgemeingültige Relation solcher wiederkehrenden Ereignisklassen, die durch wenige numerische Charakteristiken darstellbar ist. Genauer gesprochen : es bezieht sich auf ein Funktionsverhältnis, in dem wiederkehrende Quantitäten zueinander in
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dem Verhältnis des „wenn-so" stehen. Dieselben Ereignisse finden statt, wenn dieselben Bedingungen stattfinden. Wenn die Größen a, b, c durch eine funktionelle Relation verbunden werden, dann mögen die Werte a und b den Wert c bestimmen, aber dasselbe Gesetz kann auch so konstruiert werden, daß die Größe a determiniert wird durch b und c (vgl. Weyl, 1. c. p. 189). Dergestalt ist also diese Funktion (Relation) indifferent hinsichtlich der Unterscheidung von determinierenden und determinierten Faktoren. Das Kausalgesetz muß unterschieden werden von der Irreversibilität des Zeitgeschehens, der Unterscheidung von Vergangenem und Zukünftigem. Das reversible Naturgesetz nimmt die Stelle der Kausation ein ; Naturgesetz das meint : Differentialgleichungen, „welche nur unendlich nahe Raumzeitpunkte miteinander (allgemein und notwendig, a priori) verbinden". Dergestalt meint Kausalität das logische Strukturgesetz des „wenn-so", ein Gesetz des das Unerschöpfliche und Maßlose des Geschehens vereinigenden Logos - ein Gesetz dafür, daß die „Welt der Phänomene einzigartig ein theoretisches System bildet" (Einstein, The World as I see it, p. 22, 23), oder der Name dafür, daß das Aggregat von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Phänomenen in gewissem Sinne a priori gegeben ist (Louis de Broglie, General Survey of the Scientific Work of Albert Einstein in „Albert Einstein: PhilosopherScientist", Ν. Y. 1954, p. 114). Derart bewahrt das apriorische (tautologische) Relationssystem, das das Wesen des Logos ausmacht, seine Geltung in dem makro- und mikrophysikalischen Inhalt „kraft der höchst exakten, statistischen Approximation" (De Broglie, 1. c.). Die Mathesis der Gleichungen (Funktionen) bewahrt ihre Geltung (Realität) kraft der Zuordnung des Gegebenen zu ihnen - des Prinzips notwendiger Zuordnung, das in seinem Grunde der Möglichkeit zu begreifen Aufgabe der Metaphysik der Natur ist. Kausalität meint dieses Prinzip der Zuordnung des Geschehens zu dem alles mit allem verbindenden Logos. EQermit soll also nicht gesagt sein, daß dieses Gesetz in sich „metaphysische Realität" habe. Was diese Realität hat, was der Kausalität als „exaktem" Strukturgesetz Realität verleiht, ist das ihm konstitutive Verhältnis eines sich durchhalten277
den Invariablen zu dem infinitesimal variablen Werden des Geschehens. Die Statistik nimmt einen ebenso bedeutenden Teil in der Physik unserer Tage ein wie das strikte Kausalgeset2. Das Gesetz der Erhaltung der Energie ist nach Weyl der Prototyp des exakten Naturgesetzes. Das Gesetz der kontinuierlich zunehmenden Entropie (in der Thermodynamik) ist der Prototyp des statistischen Gesetzes. Die Statistik spricht von mitderen, in einem gewissen Grade mit Unbestimmtheit behafteten Werten. Statistik lehrt, wie diese Werte zu behandeln sind. Der exakte Teil der Physik handelt von Differentialgleichungen. Es ist nun behauptet worden, daß der Rechtfertigungsgrund der statistischen Physik darin liegt, daß der verborgene molekulare Prozeß keine direkte Relation zu unseren Wahrnehmungen hat. „Unser Bewußtsein reflektiert nicht das molekulare Chaos der Phänomene" (Weyl, 1. c. p. 200). Physik als Statistik hat also zunächst eine erkenntnistheoretische Grundlage. Der Wahrscheinlichkeitskalkulus gründet in der „Unmöglichkeit der vollständigen Isolierung eines physikalischen Systems", darin, daß er „den Einfluß des unendlichen Universums auf das nahezu isolierte System in Rechnung zu ziehen hat". Aber entscheidender als dieses ist der physikalische Quellgrund der Statistik: die offene, „wühlende" innere Grenzenlosigkeit der Welt hinsichtlich der Quanten des Atoms. Wie es auch immer mit der Rechtfertigung der statistischen Methode sich verhalten mag - und das ist in unserem Zusammenhange der entscheidende Punkt - die Situation ist so, daß „nach der Quantenmechanik die exakten Gesetze der Feldphysik gewisse dem Atom zugeordnete Wahrscheinlichkeiten determinieren. Sie determinieren beobachtete Geschehnisse in Raum und Zeit nur in der Weise, in der a priori Wahrscheinlichkeiten mittlere statistische Werte determinieren - mit einem unvermeidbaren Unsicherheitsfaktor" (1. c. 203). Der Wahrscheinlichkeitskalkulus ist „im Rahmen einer Welt, die durch exakte Gesetze beherrscht wird", zu denken (1. c. 202). Dergestalt „muß der Versuch gemacht werden, den Wahrscheinlichkeitsmaßstab, in dem die statistische Analysis gründet, von exakten Kausalgesetzen abzuleiten. Das ist gleichbedeutend mit der kausalen Analysis des Zufalls (chance)" (1. c. 200).
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b) Das K a u s a l g e s e t z u n d der f r e i e d e n k e n d e Wille Versuchen wir, im Zusammenhang unserer Darstellung des freien Willens das Verhältnis dieses Willens zum Gesetz der Kausalität, auf das wir mehrfach gestoßen sind, genauer zu fassen. Das Geschehen als determinierter Relationszusammenhang wird zu einem Korrelat des denkenden Willens, dergestalt, daß in diesem Korrelat die Fülle des Variablen zum Gegenstand eindeutigen Funktionszusammenhangs wird. Kausalität ist der Name für den systematischen Bezugszusammenhang der Fülle. Sie ist nicht auf eine an sich bestehende Natur des Geschehens bezogen. Sie gehört nicht als reeller (immanenter) Teil zu der Empirie unbestimmten Geschehens. Aber ebensowenig ist sie als wissenschaftliche Theorie eine konventionelle oder gewohnheitsmäßige Arbeitshypothese. Der Begriff des logisch (mathematisch) darstellbaren Kontinuums des Weltgeschehens (des a priori zusammenhängenden, „konstruierten" Ganzen) ist der limes der Wissenschaft, an dem ihre auf das Ganze gerichtete, sich in ewiger Wiederholung erneuernde Frage orientiert ist. Der Logos des Geschehens ist Zielgegenstand ihres Fragens. Aber der unendliche limes des wahrnehmend-beobachtenden, alles mit allem verbindenden, experimentierenden Forschens ist nicht von Gnaden dieses subjektiven Prozesses. Fragend nach den logischen Determinanten des Geschehens, sind wird nicht an „als-ob"-Funktionen orientiert. Wenn wir, fragend nach dem Einen, das je Gegebene überschreiten, so ist diese Frage nach dem logischen Strukturgesetz des Gegebenen nicht ein utilitarisches Erzeugnis, „uns in dem Chaos des Gegebenen zurechtzufinden". Das Ganze und Eine gehört dem Geschehen selbst an, insofern dieses sich aus dem dem Einen Ganzen verhafteten Grunde seines Existierens denkt. Kausalität ist Korrelat des denkenden Willens. Nur wenn das existierende Geschehen sich selbst denkt, wird Kausalität gesehen, d. h. ist es möglich, das sinnliche (räumlichzeitliche) Kontinuum des Geschehens einem logischen Kontinuum von Koordinaten (Raumzeit) zuzuordnen, d. h. ist die Frage nach dem Realen möglich als die Frage, die aus dem Grunde der Existenz sich selbst aufwirft. 279
Die Idee des determinierten Universums gehört dem Un-endlichen an, d. h. sie gehört dem das Endliche übersteigenden, unterschiedslosen Transzendenten an. Es ist die aus der Todesbegegnung schöpfende, sich selbst denkende Existenz, d. i. der Mensch, der die Frage nach dem Einen inmitten des Variablen aus der Seinserinnerrung stellt. Daher ist das Problem des freien Willens und der Unfreiheit nicht aus der Antithese von Indeterminismus und Determinismus auszuschöpfen - aus der Gegensätzlichkeit von Ursächlichkeit und NichtUrsächlichkeit sondern steigt erst da auf, wenn die Korrelation von denkendem Willen und zeitloser Ordnung begriffen wird, d. h. wenn verstanden wird, daß diese Korrelation in dem Wissen der Existenz von ihrer Verhaftetheit mit der alles mit allem verbindenden Identität des Todes gründet. Kausalität ist der Name für die alles mit allem verbindende Einheit des Geschehens. Als das logische Gesetz des „wenn-so" meint sie ein Koordinationsprinzip zu dem Geschehen. Daher ist dieses Gesetz keineswegs synonym mit dem Begriff mechanischer Determination des Geschehens. Was in diesem allgültigen Prinzip zum Ausdruck kommt, ist dieses, daß das Transfinite und das in ihm gründende Invariable im Geschehen zur Repräsentation, Unzeitliches im Zeitlichen zur Erscheinung kommt. Das Unzeitliche hat seinen mäontischen Ursprung in der Zeit, insofern das unteilbare, grenzenlose Kontinuum der Zeit als Ganzes begriffen wird. Die Selbigkeit dieser Ganzheit zur widerspruchslosen Darstellung zu bringen, gehört als Zielidee des freien, denkenden Willens zur untrennbaren Aufgabe der wissenschaftlichen Analysis. Daher liegt in dem Begriffe der Kausalität, daß das Gegebene mit dem Realen - der Koordinationsstruktur des Variablen und Invariablen - niemals zusammenfällt. Das Gegebene ist so wenig das Reale (Eine), daß es vielmehr das zum stetigen Untergehen getriebene, alogische, irrationale Geschehen ist. Der Logos der Kausalität ist keine inhärente Eigenschaft dieses Geschehens. Wenn daher zu dem Denken des Geschehens der limes der Einen Welt, die Idee des Universums gehört, für welche Kausalität 280
den höchsten Ausdruck darstellt 1 ), so gehört der Abgrund zwischen dem Logischen und dem Alogischen zu diesem Begriffe. In der Idee des Universums ist der Abgrund des Alogischen aufrechterhalten, aber so, daß seine Überwindung zu dem in das Gegebene hinein-, die „Tatsachen" übersteigenden Willen gehört, wie überhaupt die Antithese rational - irrational, logisch - alogisch, die in der üblichen Behandlung des Problems von der Freiheit und der Unfreiheit des Willens als Motiv mitschwingt, nur aus einem historisch oder, wenn man will, soziologisch bedingten Irrtum zu verstehen ist, nämlich aus der gegen den mechanistischen Weltbegriff gerichteten Fragestellung unserer Epoche. Diese Fragestellung gründet darin, daß Kausalität aus einem solchen Weltbegriff verstanden und dergestalt von einem „Wirklichen" gesprochen wurde in dem Sinne, daß dieses „Irrationale" der Mechanik nicht zugänglich sei. Was dem Begriff des Indeterminablen, der in den Diskussionen neuerer Zeit eine so große Rolle spielt, zugrunde liegt, ist die Abwehr dessen, was man „naturalistischen Weltbegriff" genannt hat, des Weltbegriffs, der in der Laplace'schen Formel, wie erwähnt, seinen vorbildlichen Ausdruck gefunden hat: Wenn es eine „Intelligenz" gäbe, „welche zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Lage wäre, alle Gegebenheiten der Analyse zu unterwerfen, so würde sie in derselben Formel die Bewegungen der größten Körper des Universums ebenso wie die kleinsten des Atoms begreifend umfassen. Nichts wäre ungewiß für sie, weder die Zukunft noch die Vergangenheit. Alles stände vor ihren Augen, und zwar in der Vollendung, welche der menschliche Geist verstanden hat, der Astronomie zu geben, die nur eine schwache Skizze dieser Intelligenz wäre" (Essai Philosophique sur les Probabilités, sec. éd. 1814, pp. 3-4). Der indeterministische Weltbegriff wurde aus der Front gegen diese mechanistische Interpretation der Einheit des Universums gewonnen. Bergson, Dilthey, William James und Nietzsche - die irrationalistische Lebensphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebte von dieser Front. Aber damit ist keineswegs gesagt, daß mit der Ablehnung der mechanistischen Interpretation des Wirklichen gemeint war, zu einer Wirklichkeit vorzustoßen, die jeder kategorialen Determiniertheit ermangelte, wenn auch der l ) Weshalb sie für Kant und jede Wissenschaftstheorie die entscheidende Kategorie ist.
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Bergson'sche Begriff des élan vital und der durée vielleicht zu solcher Interpretation Anlaß geben könnte. Im Lichte dieser Forscher ist das Problem des Indeterminablen deutlicher so zu formulieren, daß vielmehr der Versuch vorliegt, zu einer Wirklichkeit vorzudringen, die der ontisch-ontologischen Festlegung durch Begriffe überhoben ist; und diese nicht exakt bestimmbare oder sich gegen eine eindeutige Fixierung wehrende Wirklichkeit nannte man „frei". Ebenso : der „freie" Spielraum der Elemente (Lichtquanten), von dem die Quantentheorie spricht, besagt nicht, in der Natur komme Freiheit in dem Sinne vor, daß die Zuordnung dieser Elemente an das sie determinierende analytische Weltsystem wegfalle. „Der freie Spielraum" besagt, daß die Unsicherheit, in der Welt des Geschehens (Elemente) exakte Voraussagen zu machen, „zurückgeführt ist zu der Unsicherheit der Übertragung des sinnlichen Materials in das symbolische Weltbild und der Übertragung dieses Weltbildes in die Sinnenwelt" (Planck). Ich zitiere hier noch den aufschlußreichen Satz aus derselben Schrift Planck's über Kausalität (die mir nur im englischen Text vorliegt): „The material waves constitute the primary elements of the new world picture. The material point in its old meaning now appears nearly as a special borderline case, as infinitesimally small parcel of waves. The wave function does not give us the coordinates as functions of time (in order to translate them into the senseworld), but the probability that the coordinates may possess certain specific values at some specific time" (138). Wie dem auch sei, man kann den Spielraum der Quanten nicht „frei" nennen, weil Freiheit nicht eine Eigenschaft der Natur ist, sondern die Eigenschaft des die Zuordnung dieses irrationalen Werdens zu den Symbolen der Freiheit denkenden Willens. Freiheit hat mit der Antithese von rational und irrational nichts zu tun. Es ist evident, daß man mit der Überholung der Laplace'schen Mechanik, die die gleichzeitige Kenntnis von Impuls und Lage voraussetzt, d. h. den Zustand der Ganzheit der Welt in einem bestimmten, an sich beliebigen Zeitpunkte, keineswegs glauben konnte, es gäbe so etwas wie ein völlig determinationsloses, sich aller Bestimmbarkeit entziehendes Wirkliches, sozusagen ein Wirkliches als Feld völliger Anarchie. Die Wirklichkeit, das menschlichgeistige und das physikalische Universum, kennt nicht die Freiheit im Sinne der Anarchie. Determination und Kausalität sind nicht ein- und dasselbe. Charakteristischerweise ist gerade in der Erforschung des Gebiets der Wirklichkeit, für das zuerst der Begriff der
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Kausaldeterminiertheit als inkommensurabel erkannt wurde, nämlich des Gebiets des Subatomalen, an Stelle der Kausaldetermination die Topologie der vierdimensionalen Ordnung von Quanten getreten. Man kann das Problem des indeterminierten Willens im Zusammenhang mit den physikalischen und geistesgeschichtlichen Tendenzen unserer Zeit so formulieren: auf dem Grunde der Ablehnung der Kausalität als beherrschender Weltdeterminante hat es sich darum gehandelt und handelt es sich noch darum, im Gegensatz zur Methode der Einordnung des Geschehens in ein mechanistisches Weltbild die Methode ausfindig zu machen, in der seine Zuordnung zu einer Ordnung, in der die freie Existenz sich auslebt, zur Darstellung käme. So hat zuletzt auch Dilthey das Problem gesehen; seine Hermeneutik geschichtlicher Prozesse hat das einzige Ziel, das Variable geschichtlicher Vorgänge als Aktualisationsstätte eines geistigen, kategorial determinierten Universums darzustellen. So hat auch William James das Problem des Indeterminismus gesehen. Hinter seinem Begriff der pluralistischen „experience" steht immer, über allen Pluralismus und alle schöpferische Kontinuität hinaus, das Wissen von einem „verborgenen Realen". So wenig Kausalität als der Name für den Automatismus der Lebensvorgänge oder auch physikalischer Vorgänge betrachtet werden kann, so wenig kann das Reale aus der Entgegensetzung von rational und irrational verstanden werden. Das Reale ist weder das eine noch das andere. Was der denkende Wille - die Wissenschaft - sucht, wenn er nach dem Realen fragt, ist das in dem Gegebenen sich darstellende Eine. Daher transzendiert er das Gegebene. Daher koordiniert er den Ablauf der „freien" Variabilität einem apriorischen Funktionszusammenhange. Der Begriff des „kausalen" Logos schließt den Automatismus der Welt aus, weil er die Variabilität des Geschehens einschließt. Denn was Logos zutiefst, sagen wir: metaphysisch, meint, ist nicht die Domäne, die die Logik in abstracto als Lehre von dem Widerspruchslosen darstellt. Es ist der großartige Ausdruck, den das parmenideischherakütische Denken geprägt hat, wenn es den Logos darstellte als die in dem Widerstreit der Dinge erscheinende Selbigkeit das im Widerstreit Wiederholbare. Kausalität, als die alles mit allem verbindende Kategorie des Logos, meint diese Zuordnung 283
des Widerstrebenden zu dem Widerspruchslosen. Sie ist der Name für die Koordination zweier allerdings antinomischen Elemente. Daher ist der das Eine denkende, freie Wille zugleich der Wille, mit dem als Prinzip der Koordination heterogener Elemente die Natur als Einheit der Gesetzgebung korrelativ verbunden ist. Wenn seit Galilei die Wissenschaft begonnen hat, die Dinge nicht durch „okkulte Qualitäten" darzustellen, sondern durch qualitätslose Symbole (Zahlenverhältnisse) des Zusammenhangs der „Phänomene", so lag darin bereits das Wissen von dem transzendenten Einheitsgrunde des Geschehens - theologisch gesprochen, von dem verborgenen Gott in seiner Schöpfung, der durch „subjektive", „sekundäre" Qualitäten nicht repräsentiert werden kann. Kausalität steht hier für diesen transzendenten, verborgenen Gott. Sie steht für das „Buch der Natur", das „in Zahlen geschrieben ist", d. h. in den Worten von Leibniz : für den Kalkulus analytischer (tautologischer) Sätze, der dem Realen (der Monade) einwohnt (in-est) - der Monade, die für Leibniz „unauflösliche Einheit ohne Ausdehnung" meint. Dieses Transzendente „erscheint", nach Leibniz, im Räume (und in der Zeit), dem phaenomenon bene fundatum. Der Funktionszusammenhang steht also in der Wissenschaft für das von aller Zufälligkeit, aller Kontingenz entleerte System der Vernunft inmitten der Materie des Gegebenen, in dem es sich verifiziert. Im Lichte dieses Systems, der Idee der Wissenschaft, sind es nicht Tatsachen, die verifiziert werden, sondern es ist die Theorie konsistenter widerspruchsloser Sätze, in deren Lichte das Tatsächliche, das in die Zukunft offene, je und je unvollständige, Undefinierte zu-Fällige erkannt wird. In der Verifikation (dem Experiment) bewährt sich die Zuordnung des Variablen zu dem Invariablen - nicht zu einzelnen Determinanten (physikalischen Begriffen) des Systems (ζ. B. der Gravitation), sondern zu dem System als solchem, in dem der physikalische Inhalt seine Stelle hat. Das besagt wieder, daß dieser Inhalt nur indirekt verifizierbar ist. Wirklichkeit ist weder der Name für das System der Vernunft, noch ist sie der Name für das der Vernunft entgegenstehende Irrationale. Rationalismus und Irrationalismus sind beide mit ihren Hypostasen an der 284
heterogenen Struktur der Wirklichkeit vorbeigegangen. Wirklichkeit meint Verifikation. Verifikation meint Korrelation (Koordination), wie der relativitätstheoretische Begriff des RaumZeit-Kontinuums (und der Gravitation) nur im Lichte dieser Korrelation des Heterogenen zu verstehen ist und zu ihm der apriorische, invariable Charakter seiner metrischen Struktur gehört, den Galilei und Newton dem verabsolutierten Raum und der verabsolutierten Zeit zugesprochen haben. Wissenschaft beschreibt die Verifizierung des Bleibenden. Sie beschreibt etwas, was nicht gegeben werden kann, etwas, dem Seiendes nicht entspricht, das aber in Vorgängen (Werden) „sich bewährt".
§ 21 ÜBER DAS PROBLEM DER WAHRHEIT DES DENKENS
„Eo magis libertas quo magis agitur rattorte" ( LeibniiçJ.
Leibniz nennt „Vorstellungen" und „Triebe" (passiones) „verworren" (wie sie für Descartes und Spinoza confusiones animi, Verwirrungen der Seele, sind). Aber es ist nicht die Verworrenheit, welche Vorstellungen und Triebe von der denkend-organisierenden Vernunft unterscheidet, sondern daß dieses verworrene Geschehen in der denkenden Vernunft zum Selbstbewußtsein kommt. Das Geschehen tritt in der Vernunft nicht aus dem Stadium seiner dämonischen Verworrenheit und Chaotik heraus, sondern es kommt in dem Funktionszusammenhange des „omnia ubique", des „persistierenden" Identischen, zu seiner Selbstrepräsentation1). *) Anders : In dem Satz vom zureichenden Grunde kommt die Erscheinung der „Einheit in der Vielheit" (cf. Monadologie 13-16), der transfiniten Monade (d. i. des freien, denkenden Willens) in der individuierten Raumwirklichkeit, zum Ausdruck. Daß der Leibniz'sche Begriff der Symmetrie von Kausalität (dem mathematisch darstellbaren Zusammenhang des infinitesimal Nahen) und Finalität (teleologischer Zuordnung zu der Einheit) mit der Einführung der Wahrscheinlichkeits- und Quantenbegriffe eine Modifikation (nicht Auflösung) erfahren hat, haben wir oben gesehen.
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Die Natur als Prozeß von Ereignissen kennt keine Freiheit. Sie liegt nicht vor, wenn die Natur eindimensional, sei es als „mechanischer" Ablauf oder als Prozeß freier Variablen, verstanden wird, aber sie liegt der Natur zugrunde als dem Felde der Zuordnung schöpferischen, unerschöpflichen Geschehens zu dem Zeitlosen. Der freie Wille liegt zugrunde dem Denken der Natur. Darüber hinaus waltet sein Leben, wenn auch unentbunden, nicht nur im Denken. Die Fülle des Geschehens selbst ist Erscheinungsstätte des Selben. Es ist das Geschehen selbst, woraus das Denken der Natur die Quelle seiner Wahrheit schöpft. Es ist derselbe Tod, der in der zum Untergehen getriebenen Mannigfaltigkeit des Geschehens das Mächtige ist. Aber in dem die Natur denkenden Willen kommt er als die Quelle der sie übersteigenden Mächtigkeit zur entbundenen Entfaltung. So wenig der Wille der sinnlose, sich selbst wollende, gegenstandslose Wille Schopenhauer'scher Fassung ist, so wenig besteht die könnende Freiheit des Menschen darin, daß er sich asketisch von der „Scheinwelt" seiner Observationen und Vorstellungen abkehrt, um „frei" zu sein für das „interesselose Anschauen" dieses „sinnlosen" „Dinges an sich". Nicht dieses ist das Wunder dessen, dem wir den Namen der Schöpfung geben, daß so etwas wie Seiendes ist : das Seiende in der Fülle der Gestalten, der maßlosen Willkür und der Not seiner Existenz, sondern daß dieses existente Seiende durch Symbole der Einheit ansprechbar ist, daß dieses Seiende, in dem das Untergehen das Mächtige ist, auf die Symbole des Seins antwortet. Was für die Griechen wie für die Antike überhaupt - aus ihrer astralen Faszination heraus - etwas Indiskutables war, nämlich daß der Gestirnhimmel, daß die Welt, der Staat (polis) ebenso wie die Natur, der Mensch ebenso wie die außermenschliche Wirklichkeit, „nach vollendeten Gesetzen sich bewegt", eben dieses factum wird bei Kant zum Problem. Aber es wurde erst zum einsichtigen Problem, als nach der langen Geschichte der Wissenschaft in unserer Zeit die unheimliche Erkenntnis aufbrach, daß diese Welt, in der die Existenzen ihr kreatürliches, veränderliches Dasein verbringen, in den leeren Symbolen der Ordnung „abbildbar" ist. Die Welt ist ein „Mist286
häufen" (Heraklit), ein zusammengewürfeltes Konglomerat, in dem Menschen, Tiere, Pflanzen, leblose Dinge in ihrer Vereinzelung hausen. Aber dieses hausende Chaos antwortet auf das gestaltlose Identische. Der „Tanz der Partikel" antwortet auf das Denken. Der Tanz antwortet auf das, was nicht tanzt. Alteritas antwortet auf die ihre Kreatürlichkeit zerbrechende unitas. Dergestalt steht das Vergangene und Zukünftige im Denken gleichwertig an seiner zeitlosen Stelle. Seine Symbole sind ihrem Rechtsanspruche nach von unendlichem Umfange. Die Invarianten sind unendlich oft wiederholbar (allgemein) in dem Variablen des Gegenwärtigen. Die Materie tritt als das illustrierende Material des zeitlosen Gedankens auf. „Die Form der Einheit liegt im Denken... gehört aber ebensosehr dem Objekte an" (Hegel, Syst. d. Phil., Bd. III, p. 114, 115, § 3, § 4. Ausg. Glockner). Nur wenn das Denken nicht als „psychologisch-subjektiver" Akt verstanden wird, sondern von seinem zeitdurchbrechenden Gegenstande (dem Gedachten) her, aus dessen Gnaden es die Welt konstruiert, wird es in seinem Leben verstanden. Daher handelt es sich hinsichtlich des Problems der Schöpfung, der Setzung einer äußeren Welt in dem Denken (Wissenschaft) nicht um die Frage der Setzung dieser Welt, sondern um die Frage ihrer gesetzmäßig-mathematischen Harmonie. Das Problem, das die Schöpfung dem Denken (Theorie) stellt, besteht nicht in der Frage nach der Übereinstimmung des „Subjektiven" und des „Objektiven", sondern in der Frage nach dem Grunde der „Möglichkeit" der gesetzmäßig-mathematischen Harmonie der Wirklichkeit. Demgemäß bedeutet die Materie in der Wissenschaft nicht das sinnliche Datum, das die endliche, rezipierende Existenz empfindet, sondern das Variable, das in dem System des Gedachten, des geordneten Logos des Mannigfaltigen, einen zeitlosen Ort hat. Der Raum, die „Form unserer sinnlichen Anschauung", wird zum kategorialen (theoretischen, physikalischen) Räume, dem Ort apriorischer Möglichkeiten (Relationssystematik), zu dem die Zeit als vierte Dimension (Weltlinie) hinzutritt - zur zeitlosen, invariablen Raumzeit, auf die das Variable („unsere Vorstellungen") notwendig bezogen ist - antwortet. „Die Variabilität eines Körpers in seinen Er287
scheinungen (Perspektiven) gründet in der Dislokation seiner Teile ohne irgendwelche Gewinne oder Verluste. Materie ist unveränderlich und immer dieselbe, da sie eine ewige und notwendige Form des Seins darstellt" (Galilei cit. bei Weyl, 1. c. p. 165). Das aus seinem zeitlosen Gegenstande denkende Denken ist der ausgezeichnete Modus der Freiheit. Von Heraklit zur Sokratik über Galilei, Spinoza und Leibniz zu Kant und Hegel und von hier zur quanten- und relativitäts-theoretischen Idee der Wissenschaft geht, prinzipiell gesprochen, diese Identifizierung der Freiheit (des freien Willens) mit dem Denken. Sie betrifft ebenso alle Utopien der Gesellschaftstheorie ihrer Möglichkeit nach; wie verschieden auch immer das System des gedachten Ideals je und je charakterisiert worden ist, das Urphänomen dieser Identifizierung liegt, ausgesprochen oder nicht, zugrunde. Denken, der ausgezeichnete Modus der Freiheit, meint den Untergang des Endlichen im Un-endlichen, der in der Sehnsucht ersehnt, im Willen utopisch gewollt, aber im Denken vollendet gedacht wird. In ihm ist die endliche Existenz mit ihrem transzendenten Grunde ausgesöhnt1). Daher sind seine Symbole (Invarianten) von grenzenlosen Umfang. Die Frage nach dem Wahrheitsanspruch des Denkens - in der dem Phänomen des Denkens angemessenen Bedeutung - meint also nicht die Frage nach dem Grunde des Übereinstimmens eines „Subjektiven" mit einer Welt, die „mir gegenüber ist" (vgl. Husserl's Bemerkungen über „natürliche Einstellung" in „Ideen", I), sondern die Frage nach dem Grunde der Möglichkeit der Bezogenheit des Subjekts auf seinen eigenen Gegenstand : nach den verborgenen Elementen seiner freien, von dem Un-endlichen bewegten, exzentrischen, denkenden Subjektivität. Daß es im Laufe der abendländischen Geschichte - zuerst in der Sophistik, dann in dem aus ganz anderen, nämlich christologischen Quellen gespeisten Nominalismus und dem positivistischen Naturalismus des 19. und 20. Jahrhunderts - zu dem Begriffe des weltentfremdeten Subjekts oder, korrelativ, der Deutung des Subjekts als des solus ipse einer von dem UniVgl. Hegel: „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist der T o d . . . der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat" (Phän. d. G. 454).
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versum entleerten tabula rasa von Impressionen und Vorstellungen hat kommen können, hat seine geschichtlichen Ursachen. Wir haben auf das Leitmotiv in der Bewegung des Nominalismus, nämlich der Entfremdung der Kreatur von dem „Schöpfer" hingewiesen. Die Endlichkeit wurde Thema. Die Entwicklung führte dann in einer langen Kette zu der positivistischen Tatsachenhypostasierung, dergestalt, daß im weiteren Verlauf dieser Seinsgeschichte der ursprüngliche christologische Heilsgrund „säkularisiert" und dann verloren wurde und somit nicht nur der Begriff der Theorie, als des Systems zeitloser Wahrheit (und Seins), sondern ebenso das Wesen menschlichen Daseins, die Subjektivität menschlichen Lebens und Erlebens, und, damit verbunden, der Begriff des Denkens und seines Gegenstandes, des Realen, aus dem Griffe kamen. Mit dem Problem der Wahrheit des Denkens wurde die Erkenntnistheorie betraut, d. h. eine Methodologie, in der von einem denkend-erkennenden Subjekt nicht mehr die Rede war, sondern von „Tatsachen" oder „Tatsachenkomplexionen", die es galt, auf Werte oder Normen oder Postulate oder Arbeitshypothesen zu beziehen, von denen niemand mehr wußte, woher sie ihre Rechtfertigung bezogen, es sei denn, daß ihnen anvertraut wurde, der hilflosen, ihrem eigeneri Selbst und der Welt entfremdeten Kreatur die utilitarisch-pragmatische Orientierung in dieser von dem Transzendenten verlassenen Welt zu geben. Das Problem der Wahrheit des Denkens muß also in die sachgemäße Dimension gerückt werden. Das Anliegen dieser Schrift ging darauf, den Weg zu dieser Dimension zu öffnen. Das Denken erkennt das Reale, weil es als freies Geschehen den Strom der Tatsachen aus dem Todesgrunde denkt. Das vernünftige Denken hat es mit dem Transzendenten zu tun : mit dem, was jenseits des Gegebenen liegt. Das Transzendente fällt nicht in den Bereich der Anschauung. Seine Symbole (Formen) ertragen keine materiale Interpretation. Symbole stehen nicht für etwas. Sie sind Zeichen, deren Wahrheit nicht gewährleistet wird in der Prozedur des Schritt für Schritt fortschreitenden, anschauend-intuitiven, endlichen Verstandes. Ihre Wahrheit ist die der widerspruchslosen Konsistenz ihrer Relationen. Sie sind nicht operationalistisch relativierbar. Sie sind 289
termini, Begriffe der denkenden Konstruktion der die Erfahrung hinter sich lassenden Einheit des Systems (Theorie). Alles in der Analyse der Freiheit kommt darauf an, daß in ihr der Mensch sich und die Welt jenseits der Endlichkeit erkennt. Denken ist das Erkennen des Kreatürlichen im Lichte des das Kreatürliche negierenden Seins. Symbole des Gedachten sind Zeichen des Unterschiede vereinenden Todes. Dem Tode begegnend, sieht sich der Mensch als die von dem Un-endlichen getroffene Existenz. In diesem Selbstverstehen seines Existierens erfaßt er seine Bestimmung, die existierende Welt organisierend dem Ewigen zuzuordnen. Dergestalt ist er das freie, die Welt von ihrer Endlichkeit befreiende Subjekt.
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