Freiheit: Begründung und Entfaltung in Philosophie, Religion und Kultur [1 ed.] 9783666560262, 9783525560266


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Freiheit: Begründung und Entfaltung in Philosophie, Religion und Kultur [1 ed.]
 9783666560262, 9783525560266

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Eugen-Biser-Lectures

Herausgegeben im Auftrag der Eugen-Biser-Stiftung

von Martin Thurner Band 3

Vandenhoeck & Ruprecht

Freiheit Begründung und Entfaltung in Philosophie, Religion und Kultur herausgegeben von Martin Thurner

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit einer Abbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2510-1455 ISBN 978-3-666-56026-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Julian Nida-Rümelin Vernunft und Freiheit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Karen Gloy Freiheit und Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Wolfgang Speyer Was verstand die Antike unter Freiheit? Begriff und Realität der Freiheit in der griechischen und römischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Karl Heinz Witte Freiheit – Beziehung – Bindung Eine DeKONstruktion aus dem Geiste Meister Eckharts . . . . . . . . .

91

Theo Waigel Freie Wirtschaft – freie Märkte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Wolf Singer Freiheitserfahrung als soziale Realität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Peter Antes Freiheit – interkulturell

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Gisela Dischner Ästhetisches Handeln als Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Paul Kirchhof Freiheit als Prinzip in Recht und Politik

. . . . . . . . . . . . . . . . . 173

6

Inhalt

Georg Marckmann Freiheit auch zum Tod? Zur Problematik der „Selbstbestimmung“ des Endes menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Walter Homolka Was Freiheit für Juden bedeutet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Hermann Häring So steht also fest! Freiheit als Maß des Christseins Überlegungen zu Ehren von Prof. Dr. Richard Heinzmann . . . . . . . 203 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Die Eugen-Biser-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Vorwort

Um die Freiheit ist in den Jahrtausenden der (Kultur-)Geschichte viel gerungen und gestritten worden. Jeder Mensch, der sich fragt, ob und wie frei er wirklich ist, erfährt etwas von dieser Spannung, denn eine eindeutige Antwort ist schwer zu geben. Dies liegt daran, dass mit dem viel gebrauchten Wort Freiheit in unterschiedlichen Kontexten offenbar jeweils andere Sinngebungen verbunden werden, die nicht so einfachhin zur Deckung zu bringen sind. In der Tradition des antiken Philosophen Aristoteles hat sich die Methode entwickelt, für die Klärung eines Begriffes zunächst zu untersuchen, wie er in der (Alltags-)Sprache verwendet wird. Man unterscheidet drei Weisen, ein Wort in verschiedenen Zusammenhängen auszusprechen: univok, äquivok und analog. Während mit der Univozität strenge Bedeutungsgleichheit bezeichnet wird und mit Äquivozität totale Sinnverschiedenheit, benennt die Analogie ein Beziehungsgeflecht von von Begriffskonnotationen, die zueinander im Verhältnis von Identität und Differenz zugleich stehen. Analoge Verwendungsweisen von Begriffen haben mindestens eine Gemeinsamkeit, unterscheiden sich aber in ihren jeweiligen Ausprägungen zum Teil beträchtlich. Auf der Grundlage dieser klassischen sprachphilosophischen Analogielehre lässt sich die Frage stellen, ob denn unseren verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes Freiheit denn eine gemeinsame Grundbestimmung entspricht, an der sie alle unterschiedlich teilhaben. Man kann zunächst diesen gemeinsamen Begriffsgehalt darin sehen, dass mit Freiheit immer das Fehlen von Beschränkungen gemeint ist. Um welche nicht vorhandenen Beschränkungen es sich dabei handelt, ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext. Doch damit wäre der Sinn von Freiheit nur rein negativ bestimmt. Dies zeigt sich darin, dass eine vollkommene Freiheit als das Fehlen aller Beschränkungen dann nur dem Nichts zuzuschreiben wäre. Da das Nichts nicht einmal eine einzige positive Wesensbestimmung hat, wäre es in diesem negativen Sinne absolut frei von allem. Es ist durchaus konsequent, Freiheit als Annäherung an die Bestimmungslosigkeit des Nichts zu denken und einige mystische Strömungen gehen durchaus in diese Richtung. Doch dies bleibt nicht die einzige Option. Der Sinngrund von Freiheit lässt sich auch positiv fassen. Das Fehlen von Einschränkungen kann sich auch auf dadurch eröffnete Möglichkeiten beziehen. Freiheit meint dann primär die Offenheit von Möglichkeiten, die je nach Kontext unterschiedliche Ausprägungen haben. Mit dieser positiven Bestimmung von Freiheit als Vielfalt der Mög-

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Vorwort

lichkeiten lässt sich dann auch erklären, warum Freiheit so schwer zu fassen und so differenziert ausgeprägt ist. Die Beiträge des vorliegenden Bandes geben einen Einblick wie, inwieweit aber auch ob die Möglichkeiten der Freiheit Wirklichkeit werden können. Die Konzeption geht zurück auf eine Vorlesungsreihe des Winter-Semesters 2014/15 im Rahmen der „Eugen-Biser-Lectures“, die regelmäßig in Kooperation von der Eugen-Biser Stiftung und dem Seniorenstudium der LudwigMaximilians-Universität München veranstaltet werden. Für den Religionsphilosophen Eugen Biser (1918–2014) war die positiv als Offenheit von Möglichkeiten verstandene Freiheit der bestimmende Impuls seines Denkens. Dasein bedeutete für ihn nicht die exemplarisch-dogmatische Verwirklichung bestimmter Wesensvorgaben, sondern die angstfreie Entdeckung neuer Existenzweisen. Ethik, Politik, Wissenschaften, ja auch die Religionen inklusive Christentum sind nur so viel wert, wie sie Entfaltungsraum für höhere Freiheitsgestalten eröffnen. Mit den neueren Infragestellungen der Freiheit etwa durch bestimmte Strömungen innerhalb der Hirnforschung konnte sich Biser nicht mehr auseinandersetzen. Doch ist nicht auch und gerade die Möglichkeit der Infragestellung der Freiheit ihr letzter Beweis? Darüber nachzudenken mögen die folgenden Beiträge anregen! Allen Mitarbeitern, die am Zustandekommen der Vorlesungsreihe und der Publikation beteiligt waren, sei an dieser Stelle für ihren Einsatz gedankt, stellvertretend für das Seniorenstudium dessen Leiterin Prof. Dr. Elisabeth Weiß, innerhalb der Eugen-Biser-Stiftung Frau Dr. Katja Thörner für die redaktionelle Betreuung des Bandes und Herrn Verlagslektor Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die erfahrene Begleitung der Drucklegung. München, im Frühjahr 2016

Prof. Dr. Martin Thurner Vorsitzender des Stiftungsrates der Eugen-Biser-Stiftung

Julian Nida-Rümelin

Vernunft und Freiheit1

Diesen Beitrag möchte ich nutzen, um meine philosophische Position in der Freiheitsdebatte so klar, aber auch so kompakt wie es mir möglich ist, zu verdeutlichen. Da ich überzeugt bin, dass menschliche Freiheit angemessen nur über die Rolle von Gründen geklärt werden kann, gibt es einen unlösbaren Zusammenhang zwischen Rationalitätstheorie und Freiheitskonzeption. Der erste Teil des Beitrags wird daher die Frage „Was ist Vernunft?“ zu klären versuchen. Dabei werden wir uns nicht auf die praktische Dimension beschränken können. Theoretische und praktische Vernunft, die Rationalität des Handelns und des Urteilens sind unauflöslich miteinander verbunden. In einem zweiten Teil ist dann zu klären, was Freiheit mit Vernunft zu tun hat. Und schließlich möchte ich im dritten Teil Überlegungen zur metaphysischen Dimension des Verhältnisses von Vernunft und Freiheit präsentieren.

1. Was ist Vernunft? 1.1 Insbesondere in der Kantischen Tradition des philosophischen Denkens ist die Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft üblich und setzt sich bis in die Gegenwart fort. So war John Rawls ursprünglich darauf bedacht, die Theorie der Gerechtigkeit als einen Zweig der rationalen Entscheidungstheorie zu präsentieren – und in der Tat sind es die rationalen Entscheidungen eigeninteressierter und wechselseitig desinteressierter Individuen unter dem sogenannten Schleier des Nichtwissens, die die fairness der Prinzipien und der auf diesen Prinzipien beruhenden institutionellen Grundstrukturen sichern – um aber dann doch rationality von reason zu unterscheiden und die Theorie in ihrer Endfassung als Konzeption öffentlichen Vernunftgebrauchs (public reasoning) zu präsentieren. Mir scheint die Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft wenig sinnvoll zu sein. Damit sind bestimmte Formulierungen terminologisch unzulässig, etwa: „Dies ist zwar rational, aber unvernünftig“. „Rational“ meint in Formulierungen dieser Art in der Regel „im 1 Der Aufsatz wurde erstmals unter dem Titel „Vernunft und Freiheit: Textgrundlage für Vortrag und Kolloquium“ veröffentlicht in: Sturma, Dieter (Hg.), Vernunft und Freiheit: Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin, Humanprojekt 9, Berlin/New York, 2012, 9–35.

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Julian Nida-Rümelin

eigenen Interesse“ und dann wäre es in der Tat eine offene Frage, ob es immer vernünftig ist, im eigenen Interesse zu handeln. Aber dieses Argument der offenen Frage lässt sich auch hinsichtlich der Rationalität stellen: „Dies mag zwar in deinem eigenen Interesse sein, aber ist es auch rational?“ ist nicht trivialerweise unsinnig. Rationalität mit Eigeninteresse zu identifizieren oder es ausschließlich über Eigeninteresse zu charakterisieren wäre eine begründungsbedürftige inhaltliche Stellungnahme zur Theorie praktischer Rationalität. Rationalitätsaussagen sind normativ. Das Eigeninteresse betreffende Feststellungen sind deskriptiv. Rationalitätsbehauptungen können daher nicht dasselbe bedeuten wie das Eigeninteresse betreffende Behauptungen. Wer behauptet, eine Handlung sei genau dann rational, wenn sie das Eigeninteresse des Akteurs optimiere, stellt eine normative Behauptung auf, er vertritt eine normative Theorie, die praktische Rationalität als Optimierung des Eigeninteresses kriterial bestimmt. 1.2 Vernunft (oder Rationalität) kann nur über Gründe bestimmt werden: Eine Handlung A ist rationaler als eine Handlung B, wenn bessere Gründe für A als für B sprechen. Eine Handlung ist rational (oder vernünftig), wenn sie wohlbegründet ist, wenn gute Gründe für sie sprechen. Damit kann das Argument der offenen Frage angewandt auf das Prädikat rational (oder vernünftig) bezüglich jeder kriterialen Theorie auf die Form gebracht werden: Diese Handlung A optimiert das Eigeninteresse der Person P, aber sprechen auch die besseren Gründe für A? So mag es im Eigeninteresse eines jungen Mannes sein, der wenig Neigung und Begabung für Erwerbstätigkeit mitbringt, seine Erbtante umbringen zu lassen, aber die gewichtigeren Gründe sprechen dafür, dieses Vorhaben nicht auszuführen. Daher ist die Handlung unvernünftig. Wenn eine Person meint, eine Handlung sei in ihrem eigenen Interesse, so ist dies lediglich ein prima facie Grund, der für diese Handlung spricht. Dieser Grund muss aber gegen andere Gründe, die möglicherweise gegen diese Handlung sprechen, abgewogen werden. Diese Abwägung ist uns lebensweltlich bestens vertraut und es ist keine Gesellschaft menschlicher Wesen vorstellbar, die ohne Abwägungen dieser Art auskommt.2 1.3 Es ist die Theorie (der Rationalität oder der Ethik)3, die sich gegenüber dem Komplex guter Gründe bewähren muss. Die ethische Theorie validiert nicht erst, was gute Gründe sind. Wenn man unter Rationalismus philosophische und wissenschaftliche Auffassungen zusammenfasst, die lebensweltlich etablierte Gründe, seien es theoretische Gründe für Überzeu2 In den 50er und 60er Jahren galt der sogenannte good reasons approach als eine theoretische Alternative sowohl zum Utilitarismus wie zum Kantianismus. In der Tat ist mein Eindruck, dass insbesondere in der Variante von Stephen Toulmin, An Examination of the Place of Reason in Ethics, Cambridge 1950 die lebensweltlich etablierten praktischen Gründe zu Recht gegenüber ethischen Prinzipien aufgewertet werden. Die späteren Schriften Toulmins, insbesondere „Cosmopolis. The Hidden Agenda of Cosmopolis, Chicago 1990“ zeigen, dass Toulmins AntiRationalismus ohne antimoderne und antiaufklärerische Implikationen auskommt. 3 Auf diese Differenzierung kommen wir noch zu sprechen.

Vernunft und Freiheit

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gungen oder praktische Gründe für Handlungen, durch philosophische oder wissenschaftliche Prinzipien ersetzen will, dann kann die von mir vertretene Konzeption nicht unter „Rationalismus“ subsumiert werden. Als Alternative zum Rationalismus gilt in der Philosophie der Intuitionismus. Lange Zeit war es im angelsächsischen Sprachraum sogar üblich, zwischen einer wissenschaftlichen Ethik des utilitaristischen Typs einerseits und intuitionistischen Ethiken deontologischen Typs anderseits zu unterscheiden.4 Wenn man unter „Intuitionismus“ Auffassungen zusammenfasst, die einen bestimmten Bereich normativer Überzeugungen als unmittelbar, das heißt ohne jedes Raisonnement einsichtig und deswegen einer Kritik grundsätzlich entzogen ansehen, dann gibt es zwischen Rationalismus und Intuitionismus ein Drittes. Es ist dann möglich, sowohl gegen die rationalistische Ersetzung lebensweltlich verankerter Gründe als auch gegen die intuitionistische Verabsolutierung bestimmter normativer Überzeugungen Stellung zu nehmen. Gegen rationalistische Begründungsprogramme spricht, dass die Prinzipien, auf denen die deduktiven Schlüsse rationalistischer Theorien aufbauen, selbst einer Begründung bedürfen. Gegen den Intuitionismus spricht, dass es keine isolierten (normativen) Überzeugungen gibt, die nicht in bestimmten Situationen mit anderen (normativen) Überzeugungen in Konflikt geraten können. Typischerweise sind intuitionistische Theorien pluralistisch, das heißt sie beharren auf der unmittelbaren Einsichtigkeit (oder Erfahrbarkeit) intrinsischer Qualitäten und optieren daher für einen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus (im Sinne von foundationalism).5 Das stärkste Argument gegen intuitionistische Konzeptionen ist die Nicht-Isolierbarkeit einzelner (normativer) Überzeugungen. Jede normative wie deskriptive Überzeugung hängt mit jeder anderen zusammen: In bestimmten Äußerungs-Situationen werden diese simultan relevant, geraten in Konflikt oder ergänzen sich, die eine erscheint als ein Spezialfall der anderen (die eine scheint auf die andere reduzierbar zu sein), beide lassen sich unter eine dritte (allgemeinere) normative oder deskriptive Überzeugung (eine Regel, eine Gesetzmäßigkeit) subsumieren et cetera. Dabei ist es weder so, dass das Allgemeine jeweils durch das Konkretere begründet wird, noch umgekehrt, dass das Konkretere durch das Allgemeinere begründet wird. Beide Begründungsformen kommen vor und keine von diesen führt zu nicht mehr bezweifelbaren Urteilen. Der pluralistische und im Extremfall partikularistische Intuitionismus optiert für die erste Interpretation, der Rationalismus für die zweite. Der hartnäckige Fortbestand beider konkurrierender Theorie-Optionen lässt sich gut damit erklären, dass beide Begründungsformen lebensweltlich gut etabliert sind. 4 Diese Gegenüberstellung prägt auch die ethische Taxonomie Henry Sidgwicks in „Methods of Ethics, London 1874“. 5 Der locus classicus einer solchen intuitionistischen und zugleich im erkenntnistheoretischen Sinne fundamentalistischen Theorie ist die Wertkonzeption, die George Edward Moore in „Principia Ethica, Cambridge 1903“ entwickelt.

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1.4 Diese erkenntnistheoretische Position ist kohärentistisch: Sie bringt gegen rationalistische und intuitionistische Auffassungen die Verbundenheit normativer wie deskriptiver Überzeugungen in Stellung. Diese kohärentistische Position darf nicht selbst in die rationalistische Falle tappen. Und sie darf auch nicht so verstanden werden, als beruhe sie auf einer systematischen Theorie der Kohärenz. Dieser Kohärentismus rechtfertigt sich nicht erst durch eine Theorie, auch nicht durch eine Theorie der Kohärenz. Er rechtfertigt sich in alltäglichen Modi des Begründens. Jedes Begründen hat ein Ende. Am Grund allen Begründens steht die praktizierte Lebensform als Ganzes. Diese Beobachtung, dass das Begründen irgendwann einmal ein Ende hat, ist uns allen aus der Lebenswelt, aber auch aus philosophischen Disputen vertraut. Dieses Ende lässt sich in einem Prinzip oder einem System von Axiomen einer Theorie nicht erfassen. Dies schließt keineswegs aus, dass sich das Gesamt der Begründungsrelationen auf wenige Prinzipien und Inferenzregeln reduzieren lässt. Diese Prinzipien und Inferenzregeln hätten dann aber keinen letzt-begründenden, keinen fundamentalen Status. Sie bewährten sich an den lebensweltlich und disziplinär etablierten Begründungsformen.6 1.5 Ich habe in diesem Zusammenhang den Begriff der strukturellen Rationalität eingeführt. Damit setze ich mich – bei aller Übereinstimmung in der erkenntnistheoretischen Grundhaltung, also in dem, was ich Wittgenstein’sche Perspektive nenne – von den irrationalistischen Tendenzen, wenn nicht des späten Wittgenstein selbst, so zumindest eines Gutteils seiner Anhänger, ab. Die Begründungsspiele stehen nicht unabhängig voneinander. Sie bilden ein komplexes Netzwerk, das die alltägliche Praxis, die Interaktionen, Sprachhandlungen und Meinungsäußerungen trägt. Die Akteure dieser Praxis müssen über die Zeit und über ihre Teilnahme an unterschiedlichen Begründungsspielen hinweg erkennbar bleiben, eine personale Identität aufweisen. Ihr (öffentliches) Verhalten und ihre (öffentlichen) Meinungsäußerungen müssen einen Sinn ergeben, die orientierenden theoretischen wie praktischen Gründe müssen nachvollziehbar sein, dies schließt eine lediglich punktuelle, auf ein spezifisches Begründungsspiel bezogene Begründung aus. Gründe legen in diese lebensweltliche Praxis Strukturen – Strukturen, die sich über Raum und Zeit, über unterschiedliche soziale, kulturelle, temporale, biografische Kontexte hinweg durchhalten. Diese Strukturen sind nicht einfach gegeben, da die Gründe der kritischen Revision zugänglich sind. Das Gesamt dieser Struktur, und damit das Gesamt der epistemischen und konativen Einstellungen propositionaler und nicht-propositionaler Art steht unter der ständigen Prüfung der Stimmigkeit, der Kohärenz. Da es ständig 6 Ich habe in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Wittgenstein von „Begründungsspielen“ gesprochen, vgl. Nida-Remelin, Juian, Demokratie und Wahrheit, München 2006, Kap. 3. Dies kann aber das Missverständnis nahelegen, dass es sich lediglich um Spiele, das heißt um so, aber auch anders konzipierbare regelgeleitete Interaktionsformen handele (vgl. Gerhardt, Volker, Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007) und daher spreche ich hier statt von „Begründungsspielen“ von „Begründungsformen“.

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Spannungen zwischen verschiedenen Strängen und Knoten dieses Netzwerkes gibt, findet eine kontinuierliche Revision statt. Dieser Prozess ist nicht irrational, sondern Ergebnis von praktischen wie theoretischen Deliberationen. Wären die Begründungsspiele lediglich lokal und punktuell, so gäbe es eine lediglich lokale oder punktuelle, aber keine übergreifende Rationalität und das Projekt der Aufklärung, also der Kritik von Lebens- und Gesellschaftsformen, würde in der Tat in der Weise kollabieren, wie es manche Wittgensteinianer und postmoderne Theoretiker postulieren. Der Terminus Strukturelle Rationalität7 soll auf diese größeren Zusammenhänge, diese strukturellen Merkmale in erster Linie unserer lebensweltlichen Praxis, aber dann auch unserer lebensweltlichen Theorie hinweisen. 1.6 Es scheint keinen größeren Gegensatz zwischen dem auf Frank P. Ramsey und Rudolf Carnap zurückgehenden Programm einer Bayesianischen Rationalitäts- und Erkenntnistheorie einerseits und der Wittgenstein’schen Perspektive in dem oben erläuterten Sinne andererseits zu geben. In der Tat scheinen hier zwei unvereinbare Paradigmen miteinander verknüpft zu werden: Eine in der Tradition des logischen Empirismus stehende Theorie rationaler Entscheidungen und rationaler Meinungsänderungen (rational belief dynamics) und ein an Sprechakt-Theorie und Wittgenstein’scher Sprachspiel-Theorie orientiertes pluralistisches Verständnis von Lebensformen. Abgesehen davon, dass wir es hier mit unterschiedlichen philosophischen „Schulen“ zu tun haben, deren Anhänger wechselseitig wenig Respekt füreinander aufbringen, kann ich aber kein Argument dafür erkennen, dass sich diese beiden Perspektiven nicht integrieren ließen. Gefordert ist lediglich, dass der kohärentistische Charakter der Axiome der Wahrscheinlichkeits- und Entscheidungstheorie ernst genommen wird und diesen Axiomen keine konsequentialistische Gründe gebende Lesart untergeschoben wird, wie das in der entscheidungstheoretischen Literatur und erst recht in den ökonomischen Anwendungen überwiegend erfolgt. Zudem muss gegen einen falsch verstandenen Pluralismus von Begründungsspielen die Einheit des (rationalen) Akteurs über unterschiedliche Kontexte hinweg geltend gemacht werden. Diese Einheit verlangt nach Kohärenz – konativer wie epistemischer. Minimalbedingungen von Kohärenz werden in der Bayesianischen Entscheidungsund Wahrscheinlichkeitstheorie expliziert. Da die lebensweltlich etablierten praktischen Gründe in den seltensten Fällen Handeln lediglich unter Bezugnahme auf seine Konsequenzen rechtfertigen, sind die Strukturen begründeter Praxis nur in sehr seltenen Fällen konsequentialistisch, zumeist hingegen deontologisch zu interpretieren. Diese deontologische Imprägnierung unserer lebensweltlichen Praxis verletzt jedoch nicht die minimalen Kohärenzbedingungen der rationalen Entscheidungstheorie. Optimierung ist in den seltensten Fällen das Ziel des rationalen Akteurs. Da die Präferenzen des 7 Vgl. Nida-Remelin, Julian, Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über die praktische Vernunft, Stuttgart 2001.

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rationalen Akteurs, auch wenn er deontologischen Gründen folgt, kohärent sind, lassen sich diese Präferenzen in Gestalt einer subjektiven Wertfunktion repräsentieren.8 1.7 Diese konsequent kohärentistische Perspektive erlaubt eine spieltheoretische Lesart von struktureller Rationalität. Diese war sogar der ursprüngliche Taufpate bei der Namensgebung. Ich möchte dies an einem besonders durchsichtigen Beispiel, dem vieldiskutierten prisoner’s dilemma erläutern. Das Dilemma besteht hier darin, dass ein spieltheoretischer Gleichgewichtspunkt in dominanten Strategien pareto-ineffizient ist, das heißt, dass es eine andere Strategien-Kombination gibt, die alle Akteure besser stellt als in diesem Gleichgewichtspunkt. Diese andere Strategienkombination ist jedoch kein Gleichgewichtspunkt, das heißt, es gibt unter der Voraussetzung, dass die anderen Beteiligten bei ihrer Strategie bleiben, jeweils individuell eine Möglichkeit, sich durch Abweichung zu verbessern. Dies gilt für alle an der Interaktion Beteiligten. Die entscheidungstheoretische Orthodoxie quittiert Interaktionssituationen diesen Typs gewissermaßen mit einem Achselzucken: Rationale Akteure wählen dominante Strategien. Die Tatsache, dass die Kombination dominanter Strategien in Interaktionssituationen dieses Typs pareto-ineffiziente Auszahlungen hat, ist bedauerlich, ändert aber nichts an den Rationalitäts-Kriterien. Der empirische Befund, dass ein hoher Prozentsatz von Akteuren in solchen Situationen die dominierte kooperative Strategie wählt, also eine Strategie, die unter der Bedingung, dass auch die anderen Interaktionsbeteiligten ihre jeweils dominierten Strategien wählen, ein pareto-effizientes Ergebnis hat, wird als Zeichen verbreiteter Irrationalität interpretiert. Weniger orthodoxe Entscheidungstheoretiker versuchen, dieser Anomalie des realen Entscheidungsverhaltens dadurch einen Anschein des Rationalen zu geben, dass sie es in den sozialen Kontext iterierter Interaktionen stellen9, was aber die Problematik nicht befriedigend löst. Eine strukturelle Sicht auf das prisoner’s dilemma ergibt jedoch schlagartig ein neues Bild. Betrachten wir die Gründe, die Akteure für ihre Entscheidungen anführen werden. Diejenigen, die sich für die dominante Strategie entscheiden, werden darauf hinweisen, dass sie eine möglichst hohe Auszahlung erreichen wollen und da sie nicht wissen, wie sich der andere Akteur verhält, auf „Nummer sicher“ gehen wollten (dies jedenfalls ist die Auskunft von Studenten, mit denen ich das prisoner’s dilemma-Spiel durchgeführt habe). Diejenigen, die die kooperative Strategie wählen (also die dominierte) werden zum Beispiel sagen, dass sie die Erwartung hatten, dass auch der andere kooperiert und dass sie ihren Teil zur kooperativen Lösung beitragen wollten. Der orthodoxe Spieltheoretiker interpretiert dies als einen Übergang vom prisoner’s dilemma-Spiel zum assurance game. Er behauptet, dass die Präfe8 Vgl. Nida-Remelin, Julian, Why Rational Deontological Action Optimizes Subjective Value, in: ProtoSociology, 2005, 21, 182–193. 9 Vgl. Axelrod, Robert M., The Evolution of Cooperation, New York 1984.

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renzen nun eben andere seien und damit das prisoner’s dilemma nicht fortbesteht. Die strukturelle Sichtweise ist eine andere. Sie unterscheidet zwischen den Handlungszielen, die – wie wir annehmen können – weiterhin auf eine möglichst hohe Auszahlung gerichtet sind (zumal wenn es sich um Geldbeträge zwischen zufällig zusammengewürfelten Spielern handelt), fügt jedoch als Bestimmungselement individueller Rationalität die Struktur der Interaktion hinzu. Demnach wäre die Information über die unterschiedlichen Auszahlungen an den einzelnen Akteur unvollständig. Dieser sollte zusätzlich die Struktur der Interaktion kennen, um gegebenenfalls kooperativ handeln zu können, das heißt, sein Handeln an dem Motiv der Kooperation ausrichten zu können. Die rationale Entscheidung bedarf einer dichteren Information als lediglich der individuell zu erwartenden Auszahlungen. Dies ist kein Bruch mit dem methodologischen Individualismus, da es mir um die adäquate Beschreibung individueller Handlungsmotive geht. Viele Handlungsmotive beziehen sich eben nicht lediglich auf die zu erwartenden Folgen einer Handlung, sondern auch auf die (strukturelle) Rolle der eigenen Handlung im Kontext der Handlungen anderer. Die Übersetzbarkeit von strukturellen Merkmalen in diesem Sinne in Auszahlungsfunktionen ist ein Vorurteil orthodoxer Entscheidungstheoretiker. Die Konzeption struktureller Rationalität bricht mit diesem Vorurteil, ohne auch nur eines der Axiome der Entscheidungs- und Wahrscheinlichkeitstheorie aufgeben zu müssen. Die Repräsentation der kohärenten Präferenzen einer rationalen Person durch eine quantitative Wertfunktion, also das, was in der Regel als utility function bezeichnet wird, ist dann wieder im ursprünglichen Sinne, nämlich strikt kohärentistisch, nicht konsequentialistisch zu verstehen. Präferenzen, sofern sie die Axiome der Entscheidungstheorie erfüllen, lassen sich durch eine reellwertige, bis auf positiv-lineare Transformationen eindeutige Funktion repräsentieren. Die Präferenzen, wie auch immer motiviert, werden repräsentiert; es wird nicht die Rationalität von Präferenzen durch ein Kriterium der Optimierung von Handlungskonsequenzen festgestellt. Die Entscheidungstheorie ist gegenüber den Motiven der Akteure inhaltlich neutral. Sie ist nicht nur in dem Sinne formal, dass ihre Axiome und Theoreme sich in einer formalen Sprache repräsentieren lassen, sondern auch in dem Sinne, dass sie über die inhaltlichen Bestimmungen der Handlungsmotive nichts aussagt. Sie ist mit allen Typen von Gründen kompatibel, sofern diese in der praktischen Deliberation zu kohärenten Präferenz-Relationen führen. 1.8 Das Konzept der strukturellen Rationalität postuliert eine spezifische Freiheit, nämlich die des rationalen Akteurs, Interaktionsstrukturen insgesamt und nicht lediglich individuelle Auszahlungsfunktionen seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Ein Akteur, der lediglich Auszahlungsfunktionen optimiert, wäre berechenbar (außer im Falle von Indifferenz). Diese spezifische Freiheit macht den Akteur unberechenbar. Um es paradox zuzuspitzen: Die Möglichkeit, im Einzelfall nicht lediglich individuelle Auszahlungsfunktionen zu optimieren, kann Bedingung des Handlungserfolgs wer-

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den, selbst wenn man den Handlungserfolg in Auszahlungen misst. Der konsequente Optimierer seiner individuellen Auszahlungsfunktion ist zum Beispiel erpressbar.10 Diese von der Konzeption struktureller Rationalität postulierte Freiheit geht über die der etablierten spieltheoretischen Kriterien hinaus. Es ist dabei wichtig zu sehen, dass beim Übergang von Spielen gegen die Natur zu Spielen gegen andere rationale Akteure eine wesentliche begriffliche Veränderung stattfindet. In Spielen gegen die Natur postuliert die rationale Entscheidungstheorie lediglich die Optimierung der subjektiven Wertfunktion, die kohärente Präferenzrelationen repräsentiert. Die Gewichtung möglicher Ergebnisse einer Strategiewahl mit Wahrscheinlichkeiten (natural luck) wird jedoch in Interaktionssituationen nicht fortgesetzt. Würde es fortgesetzt, so sollte es in jeder Interaktionssituation mindestens eine empfohlene Lösung, also mindestens eine rationale Strategie für jeden einzelnen Teilnehmer geben (so wie in Spielen gegen die Natur). In der spieltheoretischen Analyse wird impliciter angenommen, dass die Akteure sich nicht wechselseitig Wahrscheinlichkeiten zuschreiben und dann ihre je individuelle Bewertungsfunktion relativ zu diesen subjektiven Wahrscheinlichkeiten optimieren; vielmehr werden nur solche Rationalitätsempfehlungen zugelassen, die sich simultan an alle Interaktionsbeteiligten richten können. Dies ist ja die Rechtfertigung dafür, nur Gleichgewichtspunkte als Lösungen von Spielen zuzulassen. Für die meisten Personalisten (oder Subjektivisten) unter den Wahrscheinlichkeitstheoretikern hat jedes Ereignis aus der Perspektive der handelnden Person eine (subjektive) Wahrscheinlichkeit, die durch den maximalen Wettquotienten eruiert werden kann. Insofern müsste auch das Ereignis, dass ein bestimmter Spieler eine bestimmte Strategie wählt, eine subjektive Wahrscheinlichkeit aus der Sicht jedes einzelnen Interaktionsbeteiligten haben. Diese subjektiven Wahrscheinlichkeitszuschreibungen könnten neben den Kolmogorov-Axiomen weiteren Restriktionen unterworfen sein, die sich auch aus dem Spiel-Format ergeben könnten. Diesen Weg ist die Spieltheorie bis heute nicht gegangen. Ich denke, aus gutem Grund. Denn Personen lassen sich nicht in dieser Weise kalkulieren, sie rekurrieren nicht nur auf erwartete Strategien anderer, sondern auch auf die Erwartungen anderer bezüglich eigener Erwartungen et cetera, ein iterativer Prozess, der

10 Die auf wechselseitiger nuklearer Abschreckung beruhende relative Stabilität des Kalten Krieges beruhte auf der wechselseitig unterstellten „Irrationalität“, nach einem wie auch immer gearteten Angriff, selbst mit den überlegenen konventionellen Panzerarmeen des Warschauer Paktes an der deutsch-tschechischen Grenze, bereit zu sein, durch den Einsatz von Nuklearwaffen den eigenen Untergang in Kauf zu nehmen. Diese „Irrationalitätsannahme“, wurde in den Zeiten der Reagan-Administration durch den Aufbau von Theater Nuclear Operations (taktische im Gegensatz zu strategischen Kernwaffen) auf dem potentiellen europäischen Kampffeld zurückgenommen oder wenigstens abgeschwächt, während die französische Nuklear-Strategie bis heute an ihr festhält.

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grundsätzlich unbegrenzt ist. Die Unberechenbarkeit rationaler Akteure ist Voraussetzung der Rationalitätskriterien der Spieltheorie.11

2. Was ist Freiheit? 2.1 Unsere alltäglichen Intuitionen menschliche Freiheit betreffend sind besonders stark hinsichtlich einer subjektiven Erfahrung ausgeprägt, die ich als diejenige der Willkürfreiheit bezeichnen möchte. Jemanden, der behauptet mein Handeln sei determiniert, glaube ich damit widerlegen zu können, dass ich ihn um eine Prognose bitte, was ich in der nächsten Minute tun werde – etwa sitzen bleiben oder aufstehen – und dann jede seiner Prognosen widerlege. Oder kurz: Ich entscheide, ob ich mich jetzt erhebe, oder noch eine Minute länger sitze. Für solche Situationen, in denen wir willkürlich so oder auch anders entscheiden können, ist typisch, dass das Abwägen von Gründen keine Rolle spielt. Es ist egal, ob ich sitzen bleibe oder aufstehe und gerade hier scheint sich die menschliche Freiheit besonders eindringlich zu manifestieren. Dieses Argument lässt sich natürlich dadurch unterlaufen, dass man die geäußerte Prognose als kausale Ursache der jeweiligen Zuwiderhandlung annimmt, was die Iteration allerdings nur auf die nächste Stufe hebt. Diese Vermutung der kausalen Determination ließe sich wieder durch die entgegengesetzte Handlung „widerlegen“. Dieses Phänomen der Unberechenbarkeit menschlichen Handelns, das in Willkür-Situationen besonders augenscheinlich wird, sollte in der philosophischen Analyse ernst genommen werden. Es lässt sich, wie mir scheint, nicht adäquat in Gestalt eines Zufallsoperators analysieren, der jeweils bei Indifferenz der subjektiven Bewertungen des Akteurs zur Anwendung käme, etwa in Gestalt des Leibniz-Kriteriums: Wenn es keinen Grund gibt, eine von zwei Optionen für wahrscheinlicher zu halten, dann halte beide für gleich wahrscheinlich. Der willkürlich Handelnde erscheint von außen wie von einem Zufallsoperator gesteuert. Die Innenperspektive, die Perspektive der ersten Person, ist eine andere. Es ist egal, was ich tue, aber was ich tue, ist unter meiner Kontrolle. Es ist kein Zufallsoperator, der festlegt, was ich jeweils tue. Für Willkürfreiheit spielen Gründe eine Rolle. Die Kontrolle des eigenen Handelns minimiert sich auf die freie (durch Gründe unterbestimmte) Entscheidung, also die Ausbildung einer handlungsvorausgehenden Absicht, die durch die Handlung selbst erfüllt wird. 11 Das Newcomb’sche Paradoxon ergibt sich aus der Annahme, dass das Entscheidungsverhalten rationaler Akteure grundsätzlich vorhersehbar ist. Entsprechend löst sich das Newcomb’sche Paradoxon auf, sobald man diese Annahme fallen lässt. Kurz: Die Leugnung menschlicher Freiheit führt in eine schwer auflösbare Paradoxie, vgl. Campbell, Richmond/Sowden, Lanning (Hg.), Paradoxes of Rationality and Cooperation: Prisoner’s Dilemma and Newcomb’s Problem, Vancouver 1985.

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2.2 Entscheidungen kann man als Abschluss einer Deliberation charakterisieren. Zwischen Entscheidung und erfüllender Handlung findet in der Regel keine Abwägung mehr statt. Sollte sie dennoch stattfinden, dann wird die Entscheidung aufgehoben, dispensiert und gegebenenfalls eine neue Entscheidung getroffen. Entscheidungen bilden einen spezifischen Typus von Intentionen (Absichten) aus. Zwischen diesen Absichten und den sie erfüllenden Handlungen kann eine unterschiedlich große Zeitspanne liegen. Im einen Extrem beendet eine Entscheidung weitere Abwägungen für Jahre und die dann erfüllende Handlung wird aus der Ich-Perspektive als lange zuvor festgelegt wahrgenommen. Im anderen Extrem folgt die Handlung unmittelbar der Entscheidung, ja, a limine ist zwischen Entscheidung und Handlung die Zeitspanne nicht mehr groß genug, um die Entscheidung auf Dispens setzen zu können. Es gibt eine neurophysiologisch bestimmte untere Grenze dieser Zeitspanne. Die berühmt gewordenen Libet-Experimente spielen sich in diesem Bereich ab. Es handelt sich zweifellos um Willkür-Entscheidungen, da es den Versuchsteilnehmern egal ist, zu welchem Zeitpunkt sie ihren Finger bewegen und die Ausführung der Entscheidung folgt jeweils unmittelbar, das heißt an der unteren Grenze des (neuro-)physiologisch Möglichen. Ob die in den Versuchen reportierten Zeitpunkte der Entscheidung verlässlich sind, ist in der neurophysiologischen Literatur umstritten. Die starke Varianz der Angaben und die Tatsache, dass die reportierten Zeitpunkte der Entscheidung sich wiederum auf Wahrnehmungen eines Zeigerstandes beziehen, lassen jedenfalls Zweifel an der Verlässlichkeit dieser Angaben aufkommen. Eine Abweichung in der Größenordnung einer Zehntelsekunde würde ausreichen, um dem Libet-Experiment jede Relevanz für die Willensfreiheits-Debatte zu nehmen.12 2.3 In Über menschliche Freiheit13 habe ich die Willkürfreiheit vollständig aus der Betrachtung ausgeschlossen und die Rolle handlungsleitender Gründe in den Mittelpunkt der Analyse gestellt.14 Der Titel gibt einen Hinweis darauf, warum: Es ging mir um das Spezifikum menschlicher Freiheit. Ich glaube nicht, dass nicht-menschliche Tiere allesamt als (algorithmische) Maschinen 12 Die Tatsache, dass außer dem Libet-Experiment und seiner Nachfolger keine weiteren experimentellen Anordnungen entwickelt werden konnten, die die These einiger (weniger) Neurophysiologen stützen, dass sich die Existenz menschlicher Willensfreiheit (genauer sollte man sagen Handlungsfreiheit) durch empirische Daten heute widerlegen lasse, macht stutzig. In letzter Zeit werden auch innerhalb der neurophysiologischen Forschung die Vorbehalte gegen die übliche Interpretation der Libet-Befunde deutlicher artikuliert. (Vgl. zu den Libet-Experimenten Kane, Robert (Hg.), The Oxford Handbook of Free Will, Oxford, 2002 insbesondere die Beiträge von Benjamin Libet und Henrik Walter.) 13 Nida-Remelin, Julian, Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005. 14 Allerdings kann man auch die existenziellen Entscheidungen, deren zentrale Rolle für die Lebensgestaltung, die ich im letzten Kapitel von „Strukturelle Rationalität“ analysiert habe, als eine Form von Willkürfreiheit interpretieren, zumindest hat diese existenzielle Freiheit etwas mit der oben benannten Willkürfreiheit gemeinsam: Sie ist nicht – primär – von Gründen bestimmt.

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funktionieren, die einem genetisch verankerten Programm folgend auf sensorische Stimuli – gegebenenfalls modifiziert durch die Geschichte vorausgegangener sensorischer Stimuli – in jeweils eindeutig festgelegter Weise reagieren. Selbst wenn diese Programme mit Zufallsoperatoren angereichert werden, scheinen mir solche mechanistischen Interpretationen des TierVerhaltens unzureichend zu sein. Zumindest höher entwickelte Säugetiere scheinen ihr Verhalten zumindest teilweise zu kontrollieren und in jedem Fall über so etwas wie Willkürfreiheit zu verfügen. Das Abwägen von Gründen und die langfristige Strukturierung des eigenen Lebens über akzeptierte Handlungsgründe ist Tieren jedoch fremd. Diese zentrale Rolle der Gründe, Gründe, die dem Leben eine Struktur geben15 und die die zwischenmenschlichen Interaktionen generell und unsere Verständnispraxis speziell tragen – ist eine, wenn nicht die conditio humana, sie macht das Besondere der menschlichen Existenz aus. Sich von Gründen affizieren zu lassen, Gründe zu nehmen und Gründe zu geben, scheinen mir die zentralen Charakteristika des Humanen16 zu sein. Entsprechend lässt sich die Position eines theoretischen Humanismus dadurch charakterisieren, dass sie dem Gründe-Geben und Gründe-Nehmen einen zentralen Stellenwert in der Analyse menschlicher Praxis beimisst. Dieser humanistische Ansatz stellt sich gegen naturalistische, deren Analyse auf die Eskamotierung von Gründen gerichtet ist. In der vollendeten (wissenschaftlichen) Erklärung menschlichen Verhaltens dürfen nach naturalistischer Auffassung Gründe keine Rolle spielen. Gründe spielen demnach keine eigenständige, sondern bestenfalls eine abgeleitete Rolle, in manchen Varianten des Naturalismus ist diese Rolle in deterministische Kausalzusammenhänge der Neurophysiologie übersetzbar. Unter „Naturalismus“ werden unterschiedliche metaphysische Positionen und Forschungsprogramme subsumiert. Eine Gemeinsamkeit ist jedoch die Überzeugung, dass in der naturwissenschaftlichen Beschreibungsform alles Wesentliche über die Welt, einschließlich der Rolle des Menschen in ihr, ausgesagt werden kann. Der Humanismus, wie ich ihn verstehe, hält dagegen, dass menschliches Handeln ohne eine Bezugnahme auf Gründe nicht vollständig beschreibbar und erklärbar ist und dass die Rede von Gründen sich nicht ohne Verlust in naturwissenschaftliche Beschreibungsformen (weder der Physik, noch der Biologie, noch der Neurophysiologie) übersetzen lässt. Diese These der Unübersetzbarkeit darf nicht im Sinne eines Aspekte-Dualismus einer einheitlichen Welt gelesen werden. Die Beschreibung menschlichen Handelns, menschlichen Lebens, menschlicher Verständigungspraxis unter Rekurs auf Gründe beinhaltet mehr als die Verwendung einer zweiten Sprachform oder den Wechsel auf eine andere linguistische Ebene. Auch der weiche Naturalismus, wie er kürzlich von Jürgen Habermas vertreten wurde,17 ist mit der 15 Vgl. Nida-Remelin, Strukturelle Rationalität, Kap. 4. 16 Vgl. Nida-Remelin, Freiheit, Kap. 1. 17 Dieser weiche Naturalismus ist als ein Versöhnungversuch von „epistemischem Dualismus“ und

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Grammatik unserer Alltagskommunikation nicht in Einklang zu bringen. Diese Grammatik hat unter anderem die ontologische Präsupposition, dass Gründe eine kausale Rolle für unser Verhalten spielen. Wenn Gründe Ursachen sind oder genauer formuliert, wenn das Akzeptieren von Gründen und die vorausgehende Deliberation kausal relevant sind, also einen Einfluss auf den Weltverlauf haben, dann wäre der Weltverlauf anders, wenn anstelle dieser andere Gründe vom Akteur akzeptiert worden wären. Damit A Ursache von B ist, muss A für B unverzichtbar sein. Diese Unverzichtbarkeit muss auf hinreichende Bedingungen von B relativiert werden. Es gibt also einen Komplex von Bedingungen, die zusammen hinreichend für B sind und in dem A notwendig ist. Ursachen sind jeweils für sich genommen in der Regel keine notwendigen Bedingungen für das Ereignis, das sie verursachen. Es gibt andere Konstellationen von Bedingungen, die für B hinreichend sind und in denen A nicht vorkommt.18 Gründe werden kausal relevant nur darüber, dass sie von Akteuren akzeptiert werden. Die kausale Wirksamkeit dieses Akzeptierens von Gründen erfolgt durch Handlungen. Handlungen sind – nicht nur, aber auch – raum-zeitliche Vorgänge, in der Regel Körperbewegungen. Dass Körperbewegungen eine kausale Rolle im Weltverlauf spielen, kann als unstrittig gelten. Strittig ist jedoch die Verbindung zwischen Körperbewegungen und Gründen (dem Akzeptieren von Gründen). Das Akzeptieren von Gründen äußert sich in der Ausbildung bestimmter konativer Einstellungen, nicht umgekehrt.19 Im Sinne des üblichen (naturalistischen) Kausalitätsverständnisses20 sind Körperbewegungen oder allgemeiner der physikalische Aspekt unseres Handelns für den Weltverlauf kausal relevant, sie stellen (natürliche) Ursachen für weitere (natürliche) Ereignisse dar. 2.4 Kann es eine kausale Verbindung zwischen dem nicht-natürlichen Ereignis des Akzeptierens eines Grundes und dem natürlichen Ereignis einer Körperbewegung (im Sinne eines physikalisch-biologischen Prozesses) geben? Die Antwort muss je nach Kausalitätsbegriff, je nach dem Verständnis von Kausalität unterschiedlich ausfallen. Im Sinne einer Regularitäts-Theorie der Kausalität, die noch bis vor wenigen Jahren die analytische Philosophie dominierte,21 fällt es schwer, einen solchen Kausalzusammenhang zu rekonstruieren. Es wäre erforderlich, eine Sukzessions-Regularität zwischen dem Akzeptieren eines Grundes und bestimmten Körperbewegungen zu beob-

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„ontologischem Monismus“ zu verstehen. Vgl. Habermas, Jergen, Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2006, 54/04, 669–707. Vgl. Mackie, John L., The Cement of the Universe. A Study of Causation, Oxford 1974. Die entgegengesetzte Position vertritt Williams, Bernard, Internal and External Reasons, in: ders., Moral Luck: Philosophical Papers 1973–1980 Cambridge 1981, 101–113. Das zum Beispiel William Quine, nicht aber Donald Davidson zugrunde legt. Vgl. Stegmeller, Wolfgang, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. I: Erklärung, Begründung, Kausalität, Berlin 1983, Kap. 7.

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achten. Mit anderen Worten: Es wäre ein Gesetz erforderlich, das es erlaubte, aus dem nicht-natürlichen Ereignis des Akzeptierens eines Grundes das natürliche Ereignis einer raum-zeitlichen Körperbewegung abzuleiten. Solche Gesetzmäßigkeiten können sich nicht auf token, also einzelne Vorkommnisse des Akzeptierens eines Grundes und einzelne Vorkommnisse einer Körperbewegung, beziehen, sondern nur auf types. Es scheint aber völlig aussichtslos zu sein, Gründe eines bestimmten Typs mit Körperbewegungen in einen gesetzesartigen Zusammenhang zu bringen.22 Günstiger steht es um eine kausale Beziehung zwischen Gründen und Körperbewegungen im Rahmen einer probabilistischen (und epistemischen) Theorie der Kausalität. Eine bestimmte Körperbewegung erscheint ohne vorausgehende Intentionen des Akteurs unverständlich, ihre Apriori-Wahrscheinlichkeit ist 0 oder sehr niedrig. Bei Kenntnis eines akzeptierten Handlungsgrundes steigt die (epistemische) Wahrscheinlichkeit für dieses raum-zeitliche Ereignis. Dabei ist natürlich wesentlich, dass das natürliche Ereignis der Körperbewegung als Bestandteil einer Handlung interpretiert wird. Handlungen aber sind duale Ereignisse, sie haben einen äußeren und einen inneren Aspekt, eine physische und eine psychische Komponente. Bloße Körperbewegungen sind keine Handlungen. Körperbewegungen werden zu Handlungen oder können als äußere Form einer Handlung interpretiert werden, wenn sie durch geeignete Intentionen hervorgerufen und begleitet sind. Muss dann nicht auch die Verbindung zwischen diesen (handlungs-)konstitutiven Intentionalitäten kausal sein? Reintegriert die Annahme einer kausal bestimmten Intentionalitätsdynamik aber dann nicht doch Gründe in eine naturalistische Gesamtperspektive? Mir scheint folgende Sichtweise am plausibelsten: Die Deliberation selbst, das Abwägen von Gründen, ist kein kausaler Prozess. Diese Deliberation wird jedoch in der natürlichen Welt kausal wirksam dadurch, dass diese Deliberation zum Abschluss gebracht wird. Dieser Abschluss trägt in der Regel den Namen „Entscheidung“. Zwischen Entscheidung und erfüllender Handlung besteht in vielen Fällen erneut die Möglichkeit des intentionalen Eingriffs, der dann die Entscheidung aufhebt (dispensiert, obsolet macht). Unter Normalbedingungen heißt „sich entscheiden“ jedoch, die Deliberation abzuschließen, keine weitere Abwägung von Gründen vorzunehmen. Im Rückblick sprechen wir im Falle eines Dispenses dann auch davon, dass ich zwar „dachte, mich schon entschieden zu haben, dann aber feststellte, dass ich mich doch 22 Wer dennoch Gründe für Ursachen hält, wie etwa Donald Davidson, wird in der Regel dem sogenannten anomalen Monismus zugerechnet, eine Terminologie, die nur dann Sinn macht, wenn der „Monismus“ durch Kausalitätsbeziehungen konstituiert wird. Die Welten des Mentalen unter Einschluss der Gründe und Präferenzen und die Welten des Physischen sind dann über Kausalitätsbeziehungen gewissermaßen vereint. Wer jedoch für den Bereich des Physischen eine Regularitätstheorie der Kausalität vertritt oder stärkere, realistische Kausalitätsbegriffe zugrunde legt, wie etwa Mario Bunge oder Karl Popper, ist dann im zweiten Schritt in einem erneuten Dualismus gefangen, da erst einsichtig gemacht werden müsste, welche Gründe rechtfertigen, mit zwei so unterschiedlichen Kausalitätsbegriffen zu operieren.

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noch nicht entschieden habe“ oder ähnlichem. Aber auch dann, wenn die Entscheidung ultimativ ist, wenn sie nicht mehr dispensiert wird, kommt erneut Intentionalität in Gestalt der Kontrolle desjenigen Verhaltens zustande, das diese Entscheidung, eine Art vorausgehende Absicht, realisiert. Grob beschrieben ist in dieser letzten Form von Intentionalität (vor der Handlungsausführung) ein Suchprozess eingeschaltet, der die geeignete Form der Ausführung bestimmt. Dieser Suchprozess ist selbst wieder von Gründen gesteuert; Gründe aber, die nicht mehr darauf gerichtet sind, die Entscheidung selbst zu rechtfertigen oder zu überprüfen. Die „Gerichtetheit“ bezieht sich auf die geeignete Mittelwahl, betrifft also eine ganz andere Form von Normativität als diejenige, die zur Entscheidung geführt hat. Am Ende resultiert dieser komplexe, hier nur ganz grob beschriebene intentionale Prozess in einem konkreten, raum-zeitlich lokalisierten und mit den Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbaren Verhalten. 2.5 Unsere Freiheitsintuitionen haben nur dann ein fundamentum in re, wenn die (praktischen) Gründe, die unsere handlungsrelevante Intentionalität prägen, kausal relevant sind. Wenn das Ergebnis der Deliberation vor aller Deliberation immer schon festläge, etwa durch einen mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschriebenen Weltzustand und die wirkenden Naturgesetze allein, dann müssten unsere Freiheitsintuitionen als – vielleicht – nützliche Illusionen gelten. Dies ist jedenfalls die These der Freiheit als naturalistischer Unterbestimmtheit von Gründen. Da wir – auffälligerweise – viel eher geneigt sind, theoretischen Gründen, also Gründen, etwas zu glauben, von etwas überzeugt zu sein, Freiheit im Sinne naturalistischer Unterbestimmtheit zuzugestehen, ist die weitgehend analoge Rolle theoretischer und praktischer Gründe eine Stützung dieser Freiheitstheorie.23 Die Vorstellung, theoretische Gründe nach dem Muster physikalischer und deterministischer Kausalität zu erfassen, würde voraussetzen, dass es einen algorithmischen Prozess gibt, der dieses Wirken abbildet.24 Da aber schon die Theoreme der Prädikatenlogik erster Stufe algorithmisch nicht beweisbar sind, ist diese Vorstellung unplausibel. Zudem geriete sie in einen Konflikt mit der Annahme, dass menschliches Wissen für den weiteren Weltverlauf, etwa über die Anwendung von wissenschaftlichen Ergebnissen in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft, kausale Effekte hat.

3. Metaphysische Aspekte 3.1 Atomistische und fundamentalistische Interpretationen lebensweltlicher, wie auch wissenschaftlicher Überzeugungssysteme sind mit der tatsächlichen 23 Vgl. Nida-Remelin, Julian (Hg.), Ethische Essays, Frankfurt a.M. 2002, 79–95. 24 Vgl. Nida-Remelin, Julian, Über menschliche Freiheit, in: K. P. Liessmann (Hg.), Die Freiheit des Denkens, Wien 30 ff.

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Begründungspraxis – der lebensweltlichen wie der wissenschaftlichen – nicht in Einklang zu bringen. Epistemologien, die diese Merkmale aufweisen, bleiben entweder abstrakte Gedankenspiele oder greifen gewaltsam in die etablierte Begründungspraxis ein. Das ursprüngliche Programm der ideal language philosophy, die logizistische Rekonstruktion der Mathematik und die Axiomatisierung naturwissenschaftlicher Theorien kann heute als gescheitert gelten, womit natürlich keineswegs gesagt sein soll, dass formale Sprachen in der Philosophie nichts zu suchen hätten. Weit offenkundiger ist die Inadäquatheit atomistischer und fundamentalistischer Epistemologien für lebensweltliche Überzeugungssysteme, etablierte Verständigungspraxis und Alltagssprache. Die Alternative ist kohärentistisch und holistisch: Jede einzelne Überzeugung hat eine unendliche Vielfalt von Präsuppositionen und die Begründungsrelationen sind zu komplex, um eine Einteilung in eine Klasse begründender und eine Klasse begründeter Überzeugungen plausibel erscheinen zu lassen. Wenn im Folgenden einige metaphysische Aspekte des Verhältnisses von Vernunft und Freiheit angesprochen werden, so ist dies vor dem Hintergrund einer kohärentistischen und holistischen epistemologischen Perspektive zu sehen und das heißt unter anderem, dass es keine strikte Trennung zwischen metaphysischen und nicht-metaphysischen oder empirischen Aspekten geben kann. Auch das transzendentale Programm, wie es etwa bei Peter Strawson als „deskriptive Metaphysik“ entwickelt wurde, hat sich von den fundamentalistischen Ursprüngen der abendländischen Metaphysik-Tradition noch nicht konsequent genug abgelöst, wie mir scheint. Dennoch ist der Ausdruck „deskriptive Metaphysik“ hilfreich. Die geteilte Verständigungspraxis wird zum Ausgangspunkt der philosophischen Analyse. Der Philosoph tritt nicht von außen an die etablierten Formen des Begründens heran, um diese zu validieren (nach einem Maßstab, der dann letztlich im Dunkeln bleiben muss); vielmehr beschränkt er sich auf die Klärung der Rolle, die bestimmte, besonders zentral erscheinende Überzeugungen für diese Verständigungspraxis de facto haben. Da diese Verständigungspraxis jedoch Inkohärenzen aufweist, kann diese Form der zurückhaltenden philosophischen Analyse dennoch normative Kraft entfalten. Manche Überzeugung, die revidierbar erschien, kann sich als zu zentral erweisen, um mit Gründen bezweifelt werden zu können und andere Überzeugungen können sich angesichts ihrer Unvereinbarkeit mit jenen als unplausibel herausstellen.25 Wenn man im Rahmen einer so verstandenen kohärentistischen Epistemologie dennoch von metaphysischen Aspekten spricht, dann ist das gradualistisch zu verstehen. Metaphysische Aspekte betreffen besonders ab25 Das Projekt der Aufklärung wurde oft als Distanzierung von unseren lebensweltlichen Überzeugungen missverstanden, ja in extremen Varianten, als Neu-Konstruktion ab ovo, beginnend bei nicht mehr bezweifelbaren Axiomen und endend in den empirischen Einzel-Anwendungen, die durch Deduktion gewonnen werden. Dieses Missverständnis reicht von Descartes über Leibniz und Spinoza bis zu Husserl, Lorenzen und Hare.

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strakte Annahmen, vor allem solche, die erst in der philosophischen Analyse als Präsuppositionen oder Verallgemeinerungen konkreterer Überzeugungen zutage treten. 3.2 Die Charakterisierung menschlicher Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit unserer Deliberationen hat einen solchen, in diesem schwachen Sinne metaphysischen Charakter. Ob diese Form einer menschlichen Freiheit real ist, lässt sich nicht durch einen empirischen Test feststellen. Auch die Gegenthese, dass Menschen in diesem Sinne nicht frei seien, dass diese Form menschlicher Freiheit nicht existiere, kann nicht für sich genommen einem empirischen Test unterzogen werden. Die These ist lediglich in dem Maße plausibel, als sie sich gut in das Gesamt unserer Sprach- und Interaktionspraxis einbetten lässt. Die These ist ihrer Gegenthese überlegen, wenn sie sich besser als diese einbetten lässt. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Thesen ist unmöglich, wenn sich beide gleichermaßen einbetten lassen oder (eine ganz andere Möglichkeit) wenn unsere Sprach- und Interaktionspraxis so starke Inkohärenzen aufwiese, dass beide Optionen bestehen: die Revision dieser Sprach- und Interaktionspraxis auf der Grundlage der These mit dem Ergebnis, dass diese ihre innere Widersprüchlichkeit überwindet und zugleich ihre Revision auf der Grundlage der Gegenthese ebenfalls mit dem Resultat, dass sie ihre innere Widersprüchlichkeit überwindet. Ich glaube nicht, dass es sich so verhält, obwohl die nun in unserem Kulturkreis seit über 2.000 Jahren anhaltende Auseinandersetzung um Freiheit und Determinismus eine solche Aporie nahezulegen scheint. Ich glaube, wie die vorstehenden Argumente deutlich zu machen versuchen, dass es eine Sichtweise gibt, die unser Selbstbild mit unserem wissenschaftlichen Weltbild so verbindet, dass es nicht zu einer derart fundamentalen inneren Widersprüchlichkeit kommt. Ich glaube mit anderen Worten nicht, dass wir zu einer dieser beiden Revisionen gezwungen sind und uns dezisionistisch für den einen oder anderen – jeweils metaphysisch motivierten – Umbau unserer Überzeugungssysteme entschließen müssen. Aber ich gebe zu, dass allein die Möglichkeit einer solchen epistemischen Situation beunruhigend ist. Wer, wie ich, für einen ontologiefreien, „unaufgeregten“ Realismus plädiert, wer epistemische Wahrheitsdefinitionen für inadäquat hält, muss auf die Konvergenz unserer Begründungsspiele hoffen, muss hoffen, dass die Vielfalt der Begründungstypen in ihrer jeweiligen Praxis-Verankerung nicht zu divergenten, jeweils lediglich intern kohärenten Überzeugungssystemen führt. Die Forderung der Inklusion als einer diskursethischen Norm,26 diese Zentralnorm des „Projektes der Aufklärung“, erweist sich damit als unverzichtbar für einen nichtmetaphysischen (ontologiefreien) Realismus.27 26 Vgl. Habermas, Jergen, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996. 27 Vgl. Putnam, Hilary, Ethics Without Ontology, Cambridge, 2004, der unterdessen – möglicherweise auch unter dem Einfluss der John-Dewey-Lektüre – nach vielen Wendungen und

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3.3 Im Sinne einer so verstandenen „deskriptiven Metaphysik“: Was genau präsupponiert unsere alltägliche Verständigungspraxis? Wenn sie, wie Strawson meint, Freiheit präsupponiert, dann stellt sich die Anschlussfrage, welches Verständnis von Freiheit hier genau präsupponiert wird. Kommt diese Freiheit ohne alternative Möglichkeiten aus und ist damit Determinismusverträglich? Die Strawson’sche Analyse28 hat eine, wie wir es nennen können, sentimentalistische Einseitigkeit: Sie fokussiert auf moralische Gefühle und reaktive Einstellungen und blendet die Gründe, die diese moralischen Gefühle und reaktiven Einstellungen leiten, aus der Analyse aus. Dadurch entsteht die problematische Gegenüberstellung einer subjektiven, von Zusammengehörigkeitsgefühlen (attachment) geprägten und einer objektiven, den anderen als bloßes Objekt der Manipulation ansehenden, Perspektive.29 Ich habe gegen diesen Sentimentalismus geltend gemacht, dass die Verbindung von Freiheit und moralischer Missbilligung über Gründe hergestellt wird.30 Genauer : dass es die wechselseitige Zuschreibung der Fähigkeit, Gründe abzuwägen und nach Gründen zu handeln, ist, die uns als moralische Akteure erscheinen lässt, die daher moralische Missbilligung und andere moralische Gefühle und reaktive Einstellungen rechtfertigt. Der Austausch von Gründen, wie er in unserer Lebenswelt etabliert ist, setzt jedoch die Existenz objektiver normativer Kriterien voraus: Es gibt eben gute und schlechte Gründe und ob es ein guter Grund oder ein schlechter Grund ist, entscheidet sich nicht an den Gefühlslagen, sondern letztlich an den besseren Argumenten. Dass diese Argumente selbst von Gefühlslagen nicht völlig unabhängig sind, dass Interessen, Empfindlichkeiten, insbesondere in die für die menschliche Existenz so wesentliche Selbstachtung eingehen (müssen), liegt auf der Hand.31 Damit rücken die praktischen und die theoretischen Deliberationen, die unser Handeln und unsere Meinungsbildung anleiten, ins Zentrum der Analyse, während die den Austausch von Gründen begleitenden Gefühlslagen die Analyse komplettieren. Mit dieser notwendigen Verschiebung ist aber der Weg frei für eine präzisere Bestimmung der spezifischen Freiheit, die unsere lebensweltliche Verständigungspraxis präsupponiert. Die Freiheit und Verantwortung, die wir uns wechselseitig zuschreiben, ist Ausdruck der wechselseitigen Anerkennung als Akteure, die ihre je eigenen Gründe haben, die für dieses oder jenes Handeln, für diese oder jene Überzeugung sprechen und denen wir zumuten

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Irrfahrten nun genau diese Position einzunehmen scheint. Habermas votiert dagegen für eine epistemische Wahrheitsdefinition im Bereich des Normativen und für einen „metaphysischen“ Realismus im Bereich des Empirischen (Habermas, Jergen, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1999, Kap. 6). Strawson, Peter F., Freedom and Resentment, in: Proceedings of the British Academy, 1962, 48, 187–211. Dieser Sentimentalismus verwundert, wenn man bedenkt, dass Strawson einen Gutteil seiner Philosophie in engem Anschluss an die Kantische Erkenntnistheorie entwickelte. Vgl. Nida-Remelin, Freiheit, Kap. 1 Vgl. ebd., Kap. 5.

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können, dass sie sich so weit von ihren Augenblicksneigungen, ihrer Sozialisation, ihrer genetischen und epigenetischen Prägung distanzieren können, dass sie jedenfalls den überwiegenden Teil ihrer Überzeugungen und Handlungen am Ergebnis der Abwägung von Gründen – theoretischen wie praktischen – ausrichten. Mit dieser Auskunft ist die spezifische Freiheit, die wir in unserer Verständigungs- und Interaktionspraxis voraussetzen, schon näher charakterisiert: Sie verlangt, dass das Ergebnis unserer Deliberationen vor aller Deliberation nicht immer schon feststeht, dass unsere Deliberationen ausschlaggebend sind – man könnte auch sagen kausal relevant – für das, was wir tun und was wir glauben. Verantwortung tragen Menschen für ihre Handlungen, aber auch für ihre Überzeugungen und denjenigen Teil ihrer Gefühle, die einen kognitiven Gehalt aufweisen. 3.4. Es ist ein unverzichtbarer Teil unseres lebensweltlichen Orientierungswissens, dass Menschen Gründe für ihre Handlungen und ihre Überzeugungen haben und auch für manche ihrer Gefühle. Grenzen wir dieses Phänomen zunächst etwas näher ein, um die Integration von Gründen in unser Weltbild vorzubereiten. Manche Menschen haben eine Spinnen-Phobie, das heißt, sie haben Angst vor Spinnen, laufen weg, wenn sie Spinnen sehen, wenden den Blick ab, wenn sie Fotografien von Spinnen sehen, obwohl sie wissen, dass von Spinnen in unseren Breiten keine Gefahr ausgeht. An diesem Beispiel lässt sich das Verhältnis von Gründen sehr schön illustrieren. Die Person weiß, dass sie für dieses besondere Gefühl der Spinnenangst keinen Grund hat, dass von Spinnen de facto keine Gefahr ausgeht. Dennoch kann sie dieses Gefühl nicht unterdrücken. Nennen wir Gefühle dieser Art, die einen kognitiven Gehalt haben, sich von Gründen jedoch nicht beeinflussen lassen, pathologische. Gefühle dieser Art erleidet man, sie lassen sich nicht kontrollieren (Personen, die mit solchen pathologischen Gefühlen konfrontiert sind, erleben dies auch als eine Art Ohnmacht oder Hilflosigkeit). Was begründet ist und was verursacht ist, klafft auseinander. Die Erfahrung des Kontrollverlustes hängt damit zusammen, dass sich das kognitiv Eingesehene (von Spinnen geht keine Gefahr aus) in den Gefühlslagen nicht adäquat niederschlägt. Es gibt Strategien, um in solchen Fällen die Kontrolle zurückzugewinnen; während des Essens Fotos von Spinnen zu betrachten soll im Laufe der Zeit helfen. Was geschieht hier? Die Person weiß um die Irrationalität ihres Gefühls, eines Gefühls, das einen kognitiven Gehalt hat (es gibt auch andere Formen der Irrationalität von Gefühlen) und sie wählt eine Verhaltensstrategie, die den kausalen Nexus zwischen sensorischen Stimuli und Gefühlslagen (hier dem sensorischen Stimulus in Spinnengestalt zum Gefühl der Phobie) unterbricht, um den Gründen die gewünschte Wirkung auf Gefühlslagen erst zu verschaffen. Man könnte auch sagen, diese Einsicht wird kausal wirksam. Wir haben es also mit einer Konkurrenz zu tun zwischen der kausalen Wirksamkeit eines nicht von Gründen gesteuerten Prozesses (der Prozess, der zwischen den sensorischen Stimuli der Spinnengestalt und dem Gefühl der Angst abläuft) und dem kausalen Prozess, der zwischen der Ein-

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sicht (Ungefährlichkeit der Spinnen) und dem Gefühl (entspannte Reaktion auf Spinnenwahrnehmung) abläuft. In dieser Interpretation wird – hoffentlich – deutlich, dass eine Zwei-Aspekte-Metaphysik nicht befriedigen kann. Der kausale Prozess, der von der Wahrnehmung einer Spinne zur pathologischen Spinnenangst führt, steht im Konflikt zu den Gründen, die gegen Spinnenphobie sprechen. Es ist nicht zutreffend, dass (naturwissenschaftlich grundsätzlich erfassbare) Kausalität prinzipiell nicht in Konflikt mit Gründen kommen kann, da diese einer anderen linguistischen Ebene angehörten. Es ist nicht zutreffend, dass die intentionalistische Beschreibung menschlichen Handelns mit der kausalistischen schon deswegen nicht in Konflikt kommen kann, weil die ontologischen Präsuppositionen beider Beschreibungen voneinander unabhängig sind. Dieses einfache Beispiel zeigt, dass diese ontologische Unabhängigkeit nicht besteht. Wenn der Kausalitätsbegriff nicht an nomologische Erklärungsformen der Naturwissenschaften gebunden wird, kann dieser Konflikt auch folgendermaßen zugespitzt werden. Spielen Gründe (genauer : Deliberations-Ergebnisse) eine kausale Rolle? Oder kürzer und unter Umgehung des Kausalitätsbegriffes: Sind Gründe wirksam, haben Gründe eine Wirkung auf das, was wir glauben, das, was wir tun und das, was wir fühlen? Wir können annehmen, dass die kausale Wirksamkeit von Gründen über neurophysiologische Prozesse vermittelt ist. Auch konkrete Deliberation, das konkrete Abwägen von Gründen, realisiert sich in neurophysiologischen Prozessen, wie wir annehmen können. Aber die Regeln guten Begründens ergeben sich nicht aus naturwissenschaftlichen, auch nicht aus psychologischen Gesetzmäßigkeiten. Es gibt keinen Grund, hinter die Psychologismus-Kritik Freges und Husserls zurückzufallen. Wenn logische Inferenzregeln nicht als psychologische Gesetzmäßigkeiten interpretiert werden können, so a fortiori nicht als neurophysiologische. Die Welt 3, von der Popper in seinen späteren Schriften redet, die Welt der logischen Inferenzregeln, des Wissens, der Begründungen, der Theorien lässt sich weder auf die naturalistische Welt, bestehend aus natürlichen Tatsachen, die grundsätzlich mit begrifflichen Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbar und erklärbar sind, noch auf die Welt der subjektiven Gegebenheiten, der mentalen Zustände, der Dispositionen, der Wünsche und Überzeugungen reduzieren. Die Theorie des naturalistischen Fehlschlusses, die naturalistic fallacy von George Edward Moore, deren Begründung in Principia Ethica (1903) unzureichend ist, die aber bis heute vom ganz überwiegenden Teil der Ethiker und Philosophen akzeptiert wird, markiert nur einen Spezialfall dieser These der Nicht-Reduzierbarkeit. Die Inadäquatheit einer epistemischen Definition deskriptiver oder normativer Wahrheit scheint mir das entscheidende Kriterium dieser Nicht-Reduzierbarkeit des Logischen (im weitesten Sinne), also nicht nur Inferenzregeln, sondern auch Propositionen umfassend, auf das Mentale zu sein, so wie die Nicht-Definierbarkeit von Qualia durch physische (oder ,natürliche‘) Prädikate ein umfassendes Kriterium für die Nicht-Reduzierbarkeit des Mentalen auf das Physische markiert. Wenn wir etwa davon sprechen, dass

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wir diese Gründe eingesehen haben oder dass eine Person zwar glaubte einen Grund zu haben, tatsächlich aber keinen guten Grund hatte, etwas zu tun, dann ordnen wir Gründe (in diesem Sprachgebrauch) der logischen Sphäre zu. In diesem Sinne kann man auch von „objektiven“ oder „guten“ Gründen sprechen. 3.5 Es kann gute Gründe geben, etwas zu tun oder zu unterlassen, ohne dass es auch nur eine Person gibt, die diese Gründe einsieht. Die Ermordung einer unschuldigen Person kann auch dann ungerechtfertigt sein, keinen guten Grund für sich haben, wenn es niemanden gibt, der dies erkennt. Alle diese Behauptungen sind auf den alltäglichen Sprachgebrauch gestützt. Sie rekurrieren nicht auf eine davon unabhängige Metaphysik oder Ontologie. Ja, wir sollten der Versuchung widerstehen, diese Befunde einer deskriptiven Metaphysik zu ontologisieren. Der deskriptive und normative Objektivismus, der in unsere alltägliche Verständigungs- und Interaktionspraxis eingelassen ist, lässt eine Reduktion der (objektiven) Gründe auf (subjektive) Motive, wie es der Hume’schen Tradition in der praktischen Philosophie entspricht, nicht zu. Dieser Objektivismus ist unaufgebbar, wenn man an der etablierten Verständigungspraxis festhält und diese nicht in toto verwerfen will. Eine solche Verwerfung wäre nicht möglich; derjenige, der dies versucht, würde sich außerhalb der Verständigungsgemeinschaft stellen und keine Chancen auf Gehör haben, außer vielleicht in sektenartigen Klüngeln von „Halbirren“, um den Wittgenstein’schen Ausdruck zu gebrauchen.32 Die Isolierung, das heißt die Abkoppelung von lebensweltlichen Verständigungsprozessen, ist aber dann die Voraussetzung. Gute Philosophie und gute Wissenschaft sind jedoch mit der lebensweltlichen Verständigungspraxis kompatibel, im besten Falle verbunden durch Regeln der lebensweltlichen Anwendung und komplementär im Sinne eines erweiterten lebensweltlichen Orientierungswissens.33 Epistemische Revolutionen gibt es in der Wissenschaft,34 sie ziehen in der Regel keine epistemischen Revolutionen unseres lebensweltlichen Orientierungswissens nach sich. Die besonders unter Naturwissenschaftlern verbreitete Vorstellung, dass irrige Alltagsvorstellungen von der Wissenschaft revidiert werden, gilt nur in marginalen Bereichen lebensweltlichen Urteilens. Selbst der Übergang vom geo- zum heliozentrischen Weltbild erfordert keine Revisionen lebensweltlichen Orientierungswissens. Die metaphysischen, religiösen und generell weltanschaulichen Folgen, die wissenschaftliche Revolutionen nach sich ziehen können, stehen dagegen auf einem ganz anderen 32 Dass die eine oder andere Philosophenschule im Laufe der abendländischen Geistesgeschichte diesem Charakteristikum entsprochen haben mag, will ich gar nicht bestreiten. Ich bestreite aber, dass die Diskurse, die im geschützten Bereich eines Oberseminars oder einer Akademie möglich sind, diesem entsprechen. 33 Vgl. Nida-Remelin, Essays, 96–112. 34 Thomas S. Kuhn hat diese in eindringlicher Form beschrieben, ohne jedoch die wissenschaftstheoretischen Implikationen zureichend zu erfassen. Die irrationalistischen Interpretationen vieler seiner Anhänger sind jedenfalls nicht zwingend.

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Blatt. In der Tat führen besonders erfolgreiche naturwissenschaftliche Forschungsprogramme meist einen weltanschaulichen Überschuss mit sich, der unzulässige Verallgemeinerungen auf Bereiche, für die diese wissenschaftlichen Theorien nicht gedacht sind, beinhalten. Dies gilt für den Sozial-Darwinismus des 19. und 20. Jahrhunderts, für die vermeintlich anti-ethischen Implikationen der Soziobiologie und für die Fundamentalkritik der Freiheit und Verantwortung, die manche aus zeitgenössischen neurophysiologischen Befunden glauben ableiten zu können. Es ist eine irreführende Vorstellung zu meinen, dass die Naturwissenschaften unser lebensweltliches Orientierungswissen erst validieren. Dies gilt weder in historischer, noch in systematischer Betrachtungsweise. In historischer nicht, weil unser lebensweltliches deskriptives wie empirisches Orientierungswissen eine erstaunliche Invarianz über die Zeiten aufweist, ohne damit obsolet zu werden. Die sogenannte folk psychology, also die wechselseitige Zuschreibung von mentalen Eigenschaften, Dispositionen und Intentionen, trägt das alltägliche Beziehungs- und Interaktionsgefüge und ist weder durch die Entwicklung der Psychologie zu einer empirischen Wissenschaft seit der vorletzten Jahrhundertwende, noch durch die jüngste Entwicklung der Neurophysiologie in ichrer Orientierungsleistung erschüttert. Diese Feststellung ist hier deswegen wichtig, weil das gesamte Projekt einer im oben erläuterten Sinne deskriptiven Metaphysik in Frage gestellt wäre, träfe diese Feststellung nicht zu. Wenn unser lebensweltliches Orientierungswissen als Ruinenfeld längst vergangener wissenschaftlicher Theorien mit Anbauten aus neueren wissenschaftlichen Theorien gelten müsste, könnte auch die Analyse der begrifflichen, normativen und deskriptiven Präsuppositionen unserer lebensweltlichen Verständigungs- und Interaktionspraxis bestenfalls die Fundamente dieses Ruinenfeldes und seiner Anbauten freilegen. Warum sollte man ein systematisches Interesse an diesem Unterfangen haben, wenn doch alle Hoffnung auf die Aufklärungsleistung der empirischen Einzelwissenschaften gerichtet ist? Das Projekt einer deskriptiven Metaphysik setzt – impliciter – die Zurückweisung des Szientismus voraus.

Karen Gloy

Freiheit und Determinismus

Als mein Kollege, Herr Prof. Dr. Martin Thurner, mich vor einiger Zeit bat, einen Vortrag zu der Ringvorlesung über den Freiheitsbegriff zu halten, begegnete ich diesem Ansinnen mit einigem Zögern; denn um einen Vortrag über ein bestimmtes Thema halten zu können, muss man von der Existenz, hier der Freiheit, zutiefst überzeugt sein, und genau das bin ich nicht. Zwar ist klar, dass es keine Ethik und Moral, keine Sittlichkeit, keine Verantwortung ohne Freiheit und Selbstbestimmung (Autonomie) gibt; denn Wesen, die durchgängig äußeren oder inneren Zwängen folgen, wie wir uns Tiere vorstellen, können keine Verantwortung für ihr Tun übernehmen. Andererseits zeigt die Reflexion, wie sehr wir, d. h. jeder von uns durch äußere wie innere Zwänge, durch Umwelt, Gesellschaft, Tradition, Gewohnheit, Konvention, Rollenmuster u. ä., allein schon aufgrund des Sozialisationsprozesses, des Hineinwachsens in die Gesellschaft geprägt ist, nicht weniger durch innere Zwänge wie Triebe, Neigungen, Wünsche, Sehnsüchte, Charakterveranlagung u. ä., so dass wir bei reiflicher Überlegung mehr fremd- als selbstbestimmt erscheinen. Um dies zu unterstützen, möchte ich von einem Fall berichten, der sich kürzlich in der Schweiz zutrug und viel Wirbel in der Presse erregte und die Diskussion um Freiheit oder Notwendigkeit des Handelns neu entfachte. Einem mehrfach vorbestraften schweren Sexualstraftäter, Fabrice Anthamatten, der für wiederholte sexuelle Übergriffe und Gewalttätigkeiten einsaß, wurde ein Freigang in ein Genfer Reitzentrum unter Begleitung seiner Sozialtherapeutin Adeline Morel gestattet. Psychologen hatten diesen Ausgang für unbedenklich gehalten, und von der Sozialtherapeutin wurde betont, dass sie eine erfahrene Therapeutin sei. Auf dem Wege geschah das, was geschehen musste und von jedem Normalbürger vorausgesehen wird, freilich nicht von Fachleuten wie Psychologen, nämlich eine erneute sexuelle Gewalttat, die zur Ermordung der Therapeutin führte. Der Vorgang löste nicht nur eine Debatte über die Verschärfung des Strafvollzugs aus, sondern auch über die Frage, ob ein Triebtäter wirklich eine freie Entscheidung fällen und Verantwortung für sein Tun übernehmen könne.1 1 Vgl. Ein grosses Scherbengericht, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17. 9. 2013, Nr. 215, 11; SerienVergewaltiger Fabrice Anthamatten täuschte alle! Adelinde Morel vertraute ihrem Mörder – Westschweiz – Blick, http://www.blick.ch/news/schweiz/westschwiz/adeline-vertraute-ihrm-mo

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Die Jurisprudenz weiß von der Schwierigkeit der Gradwanderung zwischen freier Entscheidungsfähigkeit und innerem Zwang ein Lied zu singen. Der Freiheitsbegriff ist genau wie sein Oppositum, der Begriff der Unfreiheit, ein Schlüsselbegriff unseres kulturellen Lebens, der in verschiedenen Kontexten auftaucht, nicht nur im philosophischen, sondern auch im theologischen, psychologischen, sozialen, juristischen, sogar wirtschaftlichen Diskurs.2 Ich möchte daher zunächst in meinem Vortrag auf die Wortbedeutung, die Etymologie und Semantik des Begriffes eingehen und dann auswahlweise anhand dreier Stadien dessen Auftreten und seine historische Wandlung zeigen: erstens anhand der griechischen Antike, in der das Spannungsverhältnis von Freiheit und Unfreiheit unter den Begriffen Selbstbewusstsein, näherhin unter den Begriffen trotzige Selbstbehauptung und Schicksal (ananke, heimamene, moira, lat. fatum) auftritt, zweitens anhand der mittelalterlich-christlichen Auffassung von persönlicher Freiheit und göttlicher Vorherbestimmung (Prädestination) und drittens anhand der neuzeitlichen Auffassung, die bis in die gegenwärtige Gehirnphysiologie hineinreicht, anhand der Kontroverse von individueller Freiheit und Determination.

1. Wortbedeutung Das Substantiv ,Freiheit‘ bzw. das dazugehörige Adjektiv ,frei‘ geht auf eine indogermanische Wurzel *per(e)i zurück, die ,nahe bei‘ bedeutet und das bezeichnet, ,was bei mir ist,‘ das persönliche Eigentum.3 Nach dem etymologischen Wörterbuch von Kluge bedeutet das althochdeutsche, mittelhochdeutsche ,friehals‘ ,mit freiem Halse‘ und bezeichnet den Freien gegenüber dem Sklaven und Unfreien, dessen Hals analog dem Nacken eines Ochsen durch ein Joch bezwungen wird, der also unter einer Fremdherrschaft steht.4 Der Kontext, in dem die Wörter ,Freiheit‘ und ,frei‘ gebraucht werden, ist hier ein sozialer, politischer, juristischer. Der Freie gehört zu einer Gemeinschaft eder-id2440714.html; Der Fall Adeline – Nachrichten, Hintergründe – Meinungen, NZZ.ch, http://www.nzz.ch/dossiers/schweiz/der-fall-adeline-2.48850 (zuletzt abgerufen am: 28. 04. 2016). 2 Siehe Wirtschaftsfreiheit oder Liberalismus. 3 Vgl. Freiheit, in: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Freiheit, 1 von 17. 4 Nach Kluge sollen auch die Begriffe ,lieb‘, ,freundlich‘, ,artig ,sowie ,frei‘, ,Freund‘, ,Friede‘, ,Friedhof‘ in diesen Kontext gehören. Die Personen, die man liebt, denen man freundlich gegenübertritt, sind germanischer Auffassung die Stammesverwandten, die Freien, im Gegensatz zu den fremdbürtigen Sklaven und Leibeigenen. Die Spuren dieser Auffassung haben sich bewahrt in dem ostschweizerischen ,fri‘= ,lieb‘, ,freundlich‘, ,artig‘, in gotisch ,frijon‘ = ,lieben‘, angelsächsisch ,frigu‘= ,Liebe‘ usw. (vgl. Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1960, 216).

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Gleichrangiger und Gleichberechtigter, Freiheit bezeichnet seinen Rechtsstatus innerhalb dieser Gemeinschaft. Im allgemeinen heutigen Sprachgebrauch verstehen wir unter Freiheit die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Alternativen, ohne dass ein äußerer oder innerer Zwang vorliegt, d. h. ohne dass wir durch einen anderen Menschen, die Gesellschaft, den Staat, eine totalitäre, despotische Herrschaftsform u. ä. zu etwas genötigt oder gezwungen werden, ebensowenig durch innere Zwänge und Notwendigkeiten, wie Triebe, hormonelle Steuerung, Veranlagung, Charakter, Prägung durch Erziehung und Bildung. Ob es solche absolute Unabhängigkeit von äußeren und inneren Determinanten überhaupt gibt, d. h. eine absolute Willens- und Entscheidungsfreiheit, sei dahingestellt, sie kommt der Willkür nahe. Dieser Freiheitsbegriff als Freiheit von äußeren und inneren Determinanten wird als negative Freiheit bezeichnet, zumindest seit Kant5 Er bestimmt aber auch die sozialphilosophische und politische Diskussion, insbesondere die Liberalismus-Debatte, die die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte, die sog. Grundfreiheiten, wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freizügigkeit gegen paternalistische und staatliche Eingriffe verteidigt. Während der negative Freiheitsbegriff, der Freiheit als ,Freiheit von‘ versteht, ein inhaltliches Minimalprogramm darstellt und lediglich besagt, dass eine Entscheidung von keinen äußeren und inneren Zwängen determiniert sein darf, geht der positive Freiheitsbegriff, der ,Freiheit zu etwas‘ in inhaltlicher Sicht weiter, indem er ein Maximalprogramm artikuliert, nämlich die Verpflichtung auf ein Sittengesetz, den kategorischen Imperativ, der bei Kant als Verpflichtung auftritt, so zu handeln, dass die Maxime des Handelns jederzeit zur allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden kann, vulgär ausgedrückt: „Wie du mir, so ich dir.“ In der politischen Diskussion genügt der negative Freiheitsbegriff, der nur Eingriffe von außen unterbinden will, nicht. Hier besteht die Forderung nach positiver Freiheit, bei der die materiellen und ideellen Voraussetzungen diskutiert werden, die der Staat zur Selbstverwirklichung und zum Wohlergehen des Menschen zur Verfügung zu stellen hat. Um ein Beispiel zu nennen: Freie Meinungsäußerung wäre ein Fall negativer Freiheit, nämlich dass der Mensch von keiner Zensur gehindert wird, seine Ansichten zu äußern; positive Freiheit bedeutete, dass der Mensch auch Zugangsmöglichkeiten zu den Medien und Kommunikationsmitteln hätte und ihm diese zur Verfügung stünden oder gestellt würden. Es versteht sich, dass verschiedene philosophisch-soziologische, politische oder anders geartete Diskussionen verschiedene Definitionen von Freiheit verfolgen, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Sie sollen allenfalls in ihrem jeweiligen Kontext behandelt werden. Im Folgenden werde ich mich auf den heute gängigen allgemeinen Freiheitsbegriff konzentrieren, der Wahl5 Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Bd. IV, Berlin 1911, 446–447.

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freiheit zwischen verschiedenen Alternativen bedeutet und mit der Willensfreiheit, gegebenenfalls auch Handlungsfreiheit, zusammenfällt.

2. Das griechische Verständnis von Freiheit und Unfreiheit als trotzige Die Diskussion um und über Freiheit gehört im eigentlichen Sinne erst dem modernen Humanismus an.6 In der Ethik der antiken griechischen Philosophie spielt dieser Begriff keine bzw. nur eine sehr untergeordnete Rolle. Zwar stellt er die Voraussetzung für die Wahl zwischen guten und schlechten Handlungen dar, findet auch bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik in einem Kapitel eine gewisse Würdigung, er ist aber nicht das Hauptanliegen und Hauptprogramm der griechischen ethischen Philosophie. Dieser geht es vielmehr um die bürgerlichen Tugenden wie Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Frömmigkeit und insbesondere Gerechtigkeit und Freundschaft. Im Alltagsleben und im Bewusstsein der Menschen allerdings, die ihren Ausdruck in der Literatur, besonders in den Tragödien finden, tritt der Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit in seinem Spannungsfeld selbstverständlich auf, und zwar in einer besonderen Modifikation, nämlich als trotzige Selbstbehauptung und autonome Selbstbestimmung, ausgesagt zumeist gegen eine andere Ordnungsmacht, und sein Gegenbegriff, die Unfreiheit, als Schicksalsverfallenheit und Ausgeliefertsein des Menschen an seine Vorherbestimmung, die meist als dunkle, unheimliche und unfassbare, unverständliche Macht vorgestellt wird und über Generationen hinweg als Fluch auf einer Familie oder Sippe lastet. Dem Schicksal, das die drei Schicksalsgöttinnen Atropos, Klotho und Lachesis spinnen, sind selbst die Götter ausgeliefert. Die Prototypen dieser beiden Positionen sind in der griechischen Dichtung einerseits Prometheus, wie er in der Aischyleischen Tragödie mit eben diesem Namen dargestellt wird, andererseits Ödipus in dem beeindruckenden und aufwühlenden Stück Oedipus rex von Sophokles. Prometheus ist das Symbol der Selbstherrlichkeit, Autonomie und Eigenmächtigkeit und des entsprechenden Selbstbewusstseins, der seine eigene, für richtig gehaltene Ordnung gegen eine andere Ordnung, die tradierte, alte behauptet. Aus dem Titanengeschlecht stammend und selbst ein Titan, geht er trotzig und zornvoll seinem unbändigen Willen nach. Er begeht schwere Tabubrüche, indem er nicht nur bei einem Opfermahl den Göttervater Zeus betrügt und ihn um den besseren genießbaren Teil des Opfertieres bringt, 6 Vgl. Krings, Herrmann, Freiheit, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Studienausgabe Bd. 2, München 1973, 493–510, hier 493.

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sondern er widersetzt sich auch dem Willen des Zeus und bringt den Erdenbewohnern das Feuer, das er dem Feuergott Hephaistos stiehlt. Mit der Übertretung der durch die alte Ordnung gesetzten Grenzen lädt er Schuld auf sich, muss zur Strafe für seine Unbotmäßigkeit leiden, indem er an den Kaukasus geschmiedet wird, wo Raben tagsüber seine Leber fressen, die nachts nachwächst. Was später bei Kant Selbstbestimmung (Autonomie) heißt und pflichtgemäße Unterwerfung unter den kategorischen Imperativ meint, der als generelles Recht definiert wird, wird hier als Selbstbehauptung des eigenen Rechts gegen ein anderes Recht und damit als Tabubruch verstanden, der auf Hybris beruht. Goethe hat später in seinem Gedicht Prometheus diese kraftvolle, titanische, selbstherrliche Selbstbestimmung und Selbstbehauptung, die selbst den Göttervater Zeus zum Knaben degradiert, aufgenommen und verherrlicht: Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst! Und übe, Knaben gleich, Der Diesteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn! Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, Die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest.7

Eine andere Gestalt für Hybris ist in der griechischen Tragödie Die Perser der Perserkönig Xerxes, der mit seinem Heer die Meerenge des Bosporus durch den Bau einer Floßbrücke überquert und damit eine Naturmacht bezwingt und unter seine Gewalt bringt. Man hat immer und gerade auch aus heutiger Sicht hierin das Symbol des technikbesessenen Menschen gesehen, der mit seiner Technik und Technologie die Natur bezwingt und sich zum maitre et possesseur de la nature aufschwingt, um mit Descartes zu sprechen. Die andere Figur, die die totale Abhängigkeit von Schicksalsmächten und die Unmöglichkeit des Ausweichens dieser Mächte, die Vereitelung jeglicher freien Selbstbestimmung zeigt, ist Ödipus, der Sohn des thebanischen Königs Laios und seiner Gattin Iokaste. Als Knabe wird er in den wilden Schluchten des Kithairon-Gebirges ausgesetzt, weil den Eltern geweissagt wurde, dass das Kind den Vater töten und die Mutter ehelichen werde. Um die Weissagung zu vereiteln, setzte man den Knaben in der Wildnis aus. Ein Hirte fand ihn und brachte ihn an den korinthischen Königshof, wo er als Ziehsohn des kinder7 Goethe, Johann Wolfgang von, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, Hamburg 1948, 51960, 44 f.

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losen Königs Polybos aufwuchs. Ödipus, der von der Weissagung gehört hatte und ihr entgehen wollte, verließ den Königshof, ohne zu wissen oder zu ahnen, dass er damit gerade in sein geweissagtes Schicksal hineinlief. An einer Wegkreuzung begegnete er einem störrischen Alten, der ihm den Weg versperrte und mit einer Spitzhacke auf das Haupt schlug und den er daraufhin umbrachte, ohne zu wissen, dass es sein leiblicher Vater war. Nach Theben gelangt, erlöste er die von einer Sphinx heimgesuchte und geplagte Stadt durch Lösung des Rätsels und erwarb sich damit die Hand der Königin, ohne wiederum zu wissen und zu ahnen, dass es sich um seine leibliche Mutter handelte. Als eine schwere Pest die Stadt heimsucht, was als ein Zeichen für Schuld und Befleckung gilt, sendet Ödipus seinen Schwager Kreon zum delphischen Orakel, um die Ursache der Schuld aufklären zu lassen. Er selbst drängt auf Aufklärung, nichts ahnend, dass er selbst der Täter und Verursacher ist. Ödipus hat unschuldig, weil unwissend, schwere Verbrechen wie Vatermord und Inzest begangen, die allerdings erst nachträglich mit der Reflexion und mit der Erkenntnis des Sachverhalts zu Schuld werden. Unschuldig schuldig geworden, blendet er sich und verbringt den Rest seines Lebens in der Verbannung, in der Fremde. Im Stück Ödipus auf Kolonos lässt der Dichter Ödipus sagen, dass er mehr gelitten als gehandelt habe. Die Frage, mit der die Tragödie den Zuschauer entlässt, ist die, ob das verhängte Schicksal gänzlich von außen dem Menschen aufoktroyiert wird oder ob eine Selbst- und Mitverschuldung, etwa durch Veranlagung, Charakter, Situation, vorliegt. Immerhin ist Ödipus durch Leidenschaftlichkeit, Wildheit, Aufbrausen, durch Triebgesteuertheit charakterisiert; Besonnenheit, Weisheit, Ausgeglichenheit und Ruhe sind nicht seine Stärke. Ist sein Schicksal möglicherweise Ausdruck seines Wesens? Oder sind Freiheit und Selbstbestimmung eine Illusion? Und auch im Falle, dass seinen Charakter eine Mitschuld trifft, stellt sich die Frage: Warum habe gerade ich – Ödipus – diesen und keinen anderen Charakter, der zu diesem Schicksal führt? Die Schicksalsmächtigkeit und Schicksalsverfallenheit hat Goethe später in den Urworten. Orphisch zum Ausdruck gebracht: Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.8

Platon hat am Ende seiner Politeia im 10. Buch (614b ff) einen Mythos von Er erzählt. Danach bestimmen die Menschen in einem vorgeburtlichen Sein, 8 Goethe, Werke, Bd. 1, 359.

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einer Präexistenz, ihr Schicksal, indem sie der Reihe nach Lose über ihre zukünftige Lebensform ziehen, was sie dann allerdings bei ihrer Geburt bei Eintritt in das Leben vergessen. Hier sind die Menschen unbewusst Schöpfer ihres eigenen Verhaltens und Schicksals. Sind sie damit im Falle von Vergehen schuldig, weil sie selbst frei gewählt haben, oder unschuldig, weil dies außerhalb ihrer Bewusstseinssphäre geschah? Die sich hier dokumentierende Ambivalenz lässt sich nur aus dem historischen Kontext verstehen. Hierzu muss man sich vergegenwärtigen, dass die frühgriechische, archaische Weltsicht, wie sie uns in Homers Epen, der Ilias und Odyssee, begegnet, von der völligen Unfreiheit des Menschen, seiner Gebundenheit an Schicksalsmächte ausgeht. Zwischen Götter- und Menschenwelt herrscht eine Makro-Mikrokosmos-Analogie, dergestalt dass das, was die Götter auf dem Olymp planen und beschließen, seine Realisierung in der Menschenwelt findet. Die Menschen gleichen Marionetten am Gängelband der Götter, sie sind noch keine freien, autonomen Persönlichkeiten, noch keine Individuen, die von sich aus und für sich entscheiden, eine Wahl treffen und sie durchführen, vielmehr sind sie Spiegel und Abbild göttlicher Handlungen und Geschehnisse. Einen letzten Rest dieser Auffassung finden wir in den sprachlichen Wendungen, die bis heute existieren, ,etwas, z. B. ein Gefühl, überkommt mich‘, ,ein Gedanke fällt mir ein‘. Die Götter stehen für kosmische Mächte und Kräfte, die je ihr eigenes Gebiet und ihr spezifisches Gepräge haben, die sich in den Eigenschaften, Charakteren und Handlungen der Menschen spiegeln. Ist Liebe dem Menschen bestimmt, so ist er von Aphrodite besessen, herrscht Hass zwischen den Menschen, so hat Mars, der Kriegsgott, die Oberhand, streben die Menschen nach Macht und Herrschaft, so unterstehen sie Zeus, dem Göttervater. In den homerischen Epen wird dies dramaturgisch so dargestellt, dass die Gottheit den Menschen erwählt und hinter ihm steht, unsichtbar für Fremde, sichtbar nur dem jeweils Erwählten, und ihm die Entscheidung abnimmt oder erleichtert, eventuell sogar apodiktisch befiehlt. Hierfür drei Beispiele: 1. Die Ilias (I, 1ff) wird eröffnet mit einem Streit zwischen Achill und Agamemnon über eine Kriegsbeute. Wutentbrannt zückt Achill sein Schwert und will Agamemnon töten, als hinter ihm, nur ihm sichtbar, die Göttin Athene erscheint und ihn zurückhält, so dass er sein Schwert in die Scheide zurücksteckt. Nicht das Ich oder Selbst des Achill entscheidet hier souverän über den Streit, sondern der Mensch erliegt dem Einfluss der Göttin, die ihn zurückhält. 2. Eine weitere Stelle ist IX, 458 ff. Phönix hätte in einem Streit mit seinem Vater diesen fast erschlagen, wenn nicht, wie er retrospektiv gesteht, einer der Unsterblichen ihn daran gehindert hätte. 3. Eine andere bekannte Szene betrifft Helena (III, 330ff). Sie hat von den Zinnen der Stadtmauer gerade dem Kampf zwischen ihrem früheren Gatten Menelaos, dem starken, heldenhaften, und ihrem jetzigen Liebhaber Paris, dem Weichling, zugesehen und fühlt sich wieder zu Menelaos hingezogen.

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Durch ein Wunder wird Paris gerettet und in den Palast zurückgebracht. Auch bei Helena greift eine Göttin ein, Aphrodite diesmal in Gestalt einer alten Dienerin, und bringt sie in den Palast zu Paris. Als Helena sich innerlich weigert, kreischt die Göttin sie an, so dass Helena nur noch schweigend folgt. Die dämonische Kraft in ihr trägt trotz allen Sträubens den Sieg davon. Helena steht unter der Macht der Liebesgöttin, gehorcht fremdbestimmt, indem sie ihrem Wesen treu bleibt, auch wenn sich in ihrem Inneren etwas dagegen stemmt. In der Zeit zwischen dem 7. und 5. vorchristlichen Jahrhundert, die als ,erste‘ oder ,frühgriechische Aufklärung‘ bezeichnet wird, beginnt eine Absetzung von dem alten archaischen Weltbild mit seiner Gebundenheit und Unfreiheit, und es entwickelt sich ein neues Selbstgefühl und Selbstbewusstsein mit der Möglichkeit der Selbstbestimmung. Der verstorbene Münchener Theologe Helmut Kuhn hat in seinem tiefsinnigen Werk Begegnung mit dem Sein. Meditationen zur Metaphysik des Gewissens (München 1954) diese Absetzung vom Alten, die im Grunde ein Tabubruch war, als Entdeckung einer neuen, zunächst dem Menschen unheimlichen, weil nicht heimischen Macht, des Selbstbewusstseins, bezeichnet. Dieses kleine, in der Antike noch schwache Pflänzchen des Selbstbewusstseins, das noch zwischen alter Gebundenheit und neuer Freiheitserfahrung schwankt, bei Platon in dem Er-Mythos oder bei Sophokles in der Charakterkennzeichnung des Ödipus, gewinnt im Laufe der Zeit, unterstützt durch die Hinwendung zum Innern und durch die Seelenforschung des Christentums, immer mehr an Bedeutung und gipfelt in der Wende zur Neuzeit und zur Aufklärung schließlich im selbstherrlichen Selbstbewusstsein der Renaissance, die den Menschen zum alter deus avancieren lässt.

3. Das mittelalterlich-christliche Verständnis von persönlicher Freiheit und göttlicher Vorherbestimmung Die christliche Religion, die im Mittelalter mit der Philosophie eine innige Verbindung einging und zur Theologie, zum logos vom theos wurde und damit auch wesentliche Elemente der griechischen und insbesondere stoischen Philosophie aufnahm, hat das Problem der Freiheit und ihres Gegensatzes, der Unfreiheit, ein großes Stück vorangetrieben, einerseits indem Freiheit in äußere und innere Freiheit unterschieden wurde (in Fortsetzung der stoischen Tradition), und andererseits indem die dunkle, düstere Schicksalsmacht, das Verhängnis der Griechen eine Uminterpretation erfuhr und zur Kontroverse über den Voluntarismus führte, d. h. über die reine Willkürherrschaft Gottes oder seine Selbstgebundenheit an seine immanenten rationalen, in der Weltschöpfung geoffenbarten Gesetze.

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Was den Unterschied zwischen äußerer und innerer Freiheit betrifft, so vertrat das junge Christentum in Fortführung stoisch-hellenistischer Gedanken und deren Uminterpretation im christlichen Sinne die These, dass alle Menschen in Gott und vor Gott gleich und frei seien (Gal 3,26–28), auch wenn sie äußerlich in Unfreiheit und unter Zwang oder Tyrannei lebten. Schiller hat dies später in die Worte des Glaubens gekleidet: Drei Worte nenn ich euch, inhaltsschwer, Sie gehen von Munde zu Munde, Doch stammen sie nicht von außen her, Das Herz nur gibt davon Kunde. Dem Menschen ist aller Wert geraubt, Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und würd er in Ketten geboren …9

Daher rät der Apostel Paulus den christlichen Sklaven auch, sich nicht gegen die äußere Staatsmacht, die damals die Römer waren, aufzulehnen (vgl. 1 Kor 7, 21–24);10 denn die wahre Freiheit sei die innere Freiheit, für die Christus gelebt und gestorben sei. „So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen“ (Gal 5,1). Im Römerbrief, Kapitel 6–8, definiert Paulus Freiheit im religiösen Sinne als Befreiung von „Gesetz, Sünde und Tod“, als Erlösung von den negativen Konstituentien des menschlichen Daseins, der äußeren Gesetzesgebundenheit, der Sündhaftigkeit und Todesverfallenheit, der Endlichkeit. Mit dieser Befreiungsideologie, deren letzten Ausläufer wir heute in der Befreiungstheologie finden, hat das junge Christentum gerade auf die niederen sozialen Schichten gewirkt, auf Arme, Kranke, Leibeigene und Sklaven, und das Versprechen abgegeben, dass ihnen trotz widriger äußerer Umstände die Möglichkeit, zumindest die Hoffnung auf ein innerlich freies, glückliches Seelenleben offen stand. Um die mittelalterliche theologische Auseinandersetzung um den Freiheitsbegriff in seiner Spannung zu seinem Korrelatsbegriff der Vorherbestimmung, also der Unfreiheit, systematisch zu erfassen, sind die Grundüberzeugungen der christlichen Religion zumindest in ihren groben Zügen zu explizieren: 1. Das fundamentale Credo ergibt sich aus der monotheistischen Position: Es ist der Glaube an einen einzigen allumfassenden, allwissenden und allmächtigen Gott, der Himmel und Erde und alles, was auf ihr ist, Pflanzen, Tiere und den Menschen als Krone der Schöpfung, geschaffen hat und der seither 9 Schiller, Friedrich, Sämtliche Werke, auf Grund der Originaldrucke hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, in Verbindung Herbert Stubenrauch, Bd. 1, München 1958, 214. 10 Vgl. Gelzow, Henneke, Christentum und Sklaverei in den ersten drei Jahrhunderten, Bonn 1969, 177 f.

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alles lenkt und regelt, gleich ob die Schöpfung der Welt nach dem Genesisbericht 1,1 als creatio ex nihilo oder nach dem zweiten Schöpfungsbericht als bloße Formung einer amorphen Materie gemäß den göttlichen Ideen vorgestellt wird. Die These von der creatio ex nihilo (2 Makk 7,28) wurde, historisch gesehen, zum Dogma erst in der Zeit nach dem babylonischen Exil. Auf jeden Fall ist es Gottes Wille, der ursprünglich alles hervorgebracht hat und erhält. Die Charakteristika wie Alleinheit, Allwissendheit und Allmächtigkeit (Omnipotenz) manifestieren sich auch in der einen geschaffenen Ordnung. 2. Die Welt, die Natur, ist Produkt des göttlichen Schöpfungsaktes und, aus diesem hervorgegangen, auch abhängig von ihm, unselbständig und somit unfrei. 3. Der Mensch als Krone der Schöpfung nimmt eine Sonderstellung ein, insofern er einerseits Geschaffenes ist und mit seiner Leiblichkeit der materiellen Natur angehört und andererseits mit seinem Geist bzw. seiner Seele aufgrund seiner Ebenbildlichkeit mit Gott (Gen 1,27) oder seiner Sohnschaft (Gal 4,1–7; 2 Kor 3,18) dem göttlichen Bereich angehört und damit auch an dessen Eigenschaften partizipiert. Die christliche Anthropozentrik vertritt eine ambivalente Rolle des Menschen, der zufolge er einerseits Teil der Natur, andererseits Teil der göttlichen Sphäre ist und somit einerseits unfrei, andererseits frei. Aus dieser Konstellation resultieren je nach Akzentuierung des einen oder anderen Elementes unterschiedliche, ja heterogene Positionen, was den Freiheitsbegriff und sein Korrelat betrifft, Positionen, die in der mittelalterlichen Theologie vertreten worden sind und bis heute vertreten werden. Insistiert man auf dem monotheistischen Gedanken eines einzigen allwissenden, allmächtigen und alles bewirkenden Gottes, dessen einzigartiges, geoffenbartes Ordnungssystem sich in der Weltschöpfung manifestiert, so ist der Gedanke der Prädestination unausweichlich, wie er bei Johannes Calvin in der Reformation seine Radikalisierung erfahren hat. In Ansätzen ist er freilich auch bei früheren Theologen sowohl katholischer Provenienz wie Augustin wie reformatorischer Provenienz wie Luther zu finden. Angesichts der göttlichen Vorherbestimmung und Ausführung des Vorherbestimmten in der Schöpfung bleibt für die menschliche Entscheidungs- und Wahlfreiheit kein Platz mehr. Wird Gott als Gubernator, als Lenker der Welt vorgestellt, so obliegt ihm von Anfang an die Durchführung aller Prozesse, wird er als allmächtiger, omnipotenter Herrscher gedacht, so ist alles in seine Macht gegeben; und wird er als omniszient, als allwissend gedacht, der die Vorkommnisse in der Zeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sieht und kennt, so weiß er auch im Voraus, welche Entscheidung ein Mensch fällen wird. Mit dem Entfall der Offenheit und Unbestimmtheit der Zukunft in der Vorstellung einer linear gerichteten Zeit und der Unterstellung einer zeitlosen Ewigkeit, in der alles schon geschehen ist, auch das Leben der Menschen, sind die Abläufe im Naturgeschehen prädeterminiert, so dass Freiheit unmöglich ist.

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Mit der Prädestinationslehre hängt die Gnadenlehre eng zusammen, die davon ausgeht, dass der Mensch nicht aus eigener Entscheidung und Machtvollkommenheit zum Heil fähig ist, sondern dazu der göttlichen Gnade bedarf. Die Entscheidung für oder gegen den Glauben, das Wollen und Vollbringen des Guten und nicht des Bösen liegen nicht in des Menschen Hand, sondern sind ein Geschenk göttlicher Gnade. Auf der anderen Seite kann dem Menschen eine gewisse Freiheit und Selbstbestimmung und damit auch Verantwortung nicht abgesprochen werden, wie die Schrift Augustins De libero arbitrio (Über den freien Willen) zum Ausdruck bringt im Gegensatz zu Luthers Schrift De servo arbitrio (Über den geknechteten Willen). Die religiöse Begründung für die Freiheit des Menschen liefert dessen Sonderstellung, der zufolge er zwar mit seiner sinnlich-materiellen Natur dem Geschöpflichen und damit dem Abhängigen angehört, mit seinem Geist aber der göttlichen Sphäre und damit an der schöpferischen Kreativität und Aktivität partizipiert. Außer der religiösen Begründung lässt sich eine philosophisch-spekulative anführen, der zufolge die totale Hingabe des Menschen an Gott, quasi die Akzeptanz seiner totalen Unfreiheit zugleich ein Indiz für seine Freiheit ist. Hier kommt ein Gedanke der Hegelschen Philosophie ins Spiel, und zwar der Gedanke der absoluten Negation oder der Negation der Negation, die identisch ist mit der Position, oder auch der dialektische Gedanke der paradoxalen Umkehr, der bei semantischen Paradoxien vorliegt und besagt, dass totale Unfreiheit im Umkehrschluss totale Freiheit bedeutet.11 Die mittelalterliche Theologie hat aber nicht nur die persönliche Willensfreiheit des Menschen zum Thema gemacht, sondern auch den göttlichen Willen selbst. Hier ging es um die Frage, ob Gott in seinen Handlungen absolut frei sei und schrankenlos und beliebig wählen könne, mithin als Willkürgott auftritt, oder an seine eigenen Gesetze und eigene Ordnung, wie sie in der Naturordnung zutage tritt, gebunden sei. Immerhin hat nach Leibniz Gott mit unserer Welt die beste aller möglichen Welten geschaffen und wäre demnach sinnvollerweise an seine eigene Bonität (Güte) gebunden. Während die erste Richtung den absoluten Willen fokussiert und als Voluntarismus bekannt ist, repräsentiert die zweite Richtung einen Intellektualismus. Ein solcher klingt noch nach in Einsteins Bonmot „Gott würfelt nicht“, d. h. Gott spielt nicht. Der Gedanke einer Selbstgebundenheit des göttlichen Willens antizipiert den Kantischen Gedanken der Selbstgebundenheit der praktischen menschlichen Vernunft, der zufolge der Wille sich seiner eigenen Gesetzgebung im kategorischen Imperativ unterwirft. Die Frage nach dem Status und Charakter des göttlichen Willens resultierte 11 Vgl. hierzu das Lügnerparadox, demzufolge der Satz „Alles, was ich sage, ist Lüge“ oder „Ich lüge“ zugleich die Wahrheit der Aussage bedeutet. Inhaltlich drückt er Negatives aus, formal deutet er auf die Wahrheit (Positives) des Satzes. Entsprechend ist die totale Selbstaufgabe in Gott im Überstieg über sich die Gewinnung totaler Freiheit.

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aus der Beobachtung des Auftretens von Unregelmäßigkeiten in der Natur, von Störfällen, die der Naturgesetzlichkeit widersprechen, und nicht zuletzt aus der Konstatierung von Wundern, von denen gerade die Bibel voll ist. Gelten diese Anomalien als contra naturam, widersprechen sie dem gewöhnlichen Naturverlauf und deuten sie damit auf eine beliebige andere Ordnung hin, oder sind sie nur super und praeter naturam, außerhalb der gewöhnlichen Ordnung, aber doch nicht einer beliebigen anderen Ordnung angehörig? Handelt Gott wider seine eigenen Gesetze, oder schafft er eine höhere, übernatürliche Ordnung, die außerhalb der gewöhnlichen Ordnung liegt?12 Das war vor allem Augustins Frage. Mit der Zunahme der Naturerkenntnisse in Richtung der Neuzeit, die auch frühere Wunder naturgesetzlich zu erklären vermochten, wurde die Frage mehr und mehr im Sinne der Selbstgebundenheit Gottes an seine eigene Intelligenz beantwortet.

4. Die neuzeitliche und moderne Position Ich bemerkte schon, dass der heutige Begriff von Freiheit im philosophischen Sinne ein Begriff des neuzeitlichen Humanismus ist, der insbesondere von Kant analysiert und geprägt wurde. Zumindest hat sich die Kantische Freiheitsdefinition bis heute durchgesetzt. Sie war ideen- und kulturgeschichtlich die erfolgreichste Fixierung, die auch Eingang in die Kodifizierungen des 19. und 20. Jahrhunderts fand. Das Besondere an Kants Freiheitsbegriff ist, dass er Freiheit mit Pflicht verbindet, freies und pflichtgemäßes Handeln zusammendenkt, und dass er Pflicht als Befolgung des moralischen Gesetzes bzw. des Sittengesetzes in uns versteht, das nicht von außen an uns herangetragen wird durch irgendein bürgerliches Gesetzbuch, durch altüberkommene Sitten und Gebräuche oder auch durch ein vermeintliches Menschenrecht, sondern das in uns, in der Vernunft gesucht und gefunden werden muss. Dieses Sittengesetz ist für Kant im kategorischen Imperativ verankert und besagt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“13 D. h. dass die Freiheit und Selbstbestimmung eines jeden an der Freiheit und Selbstbestimmung des anderen seine Grenze findet. Dieser Freiheitsbegriff der autonomen Selbstbestimmung des Menschen ist ein Begriff, der Freiheit nicht nur als Freiheit von äußeren und inneren Zwängen definiert, sondern als Freiheit zu, nämlich zur Befolgung des immanenten Sittengesetzes. Der Kantische Freiheitsbegriff hat genauer besehen mit einer Reihe von 12 Augustinus, De genesi ad litteram, liber 9, Kapitel 18,35, MPL 34, 408. 13 Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, I. Buch, 1. Hauptstück, § 7 (54), hg. von Karl Vorländer, Hamburg unveränderter Nachdruck 1969 der 9. Aufl. von 1929.

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Schwierigkeiten zu kämpfen, die ihn schon bei seinen Zeitgenossen suspekt machten und die sich bis heute nicht verleugnen lassen. 1. Da Kants Freiheitsbegriff auf ein pflichtgemäßes Handeln hinausläuft, und zwar auf ein ausschließlich pflichtgemäßes ohne Lust und Vergnügen, ja ausdrücklich gegen die Sinnenlust (das sinnliche Lustprinzip) gerichtet ist, da der innere Trieb ein Zwang wäre, fordert dieses Freiheitsprogramm in seiner Radikalität vom Menschen, dass er auch unter den widrigsten Umständen seinen Pflichten nachkommt, selbst wenn er im schlimmsten Falle während seines gesamten Lebens dadurch nur Nachteile, Schaden und Unglück zu gewärtigen hätte. Für wen aber wäre ein solches Programm attraktiv? Kant musste daher die Glückseligkeit in eine jenseitige Sphäre verlegen und zu einer Hypothese bzw. zu einem Ideal machen. Es kommt nach ihm im Diesseits nur darauf an, sich der Glücksseligkeit für würdig zu erweisen, nicht diese selbst zu erlangen. 2. Eine weitere Schwierigkeit bringt der kategorische Imperativ in seiner Radikalität mit sich, der den Umfang der Freiheit nur zulässt bis zur Grenze des Umfangs der Freiheit des anderen. Die Begriffe von Freiheit, Pflicht und Sittlichkeit differieren jedoch nicht nur zwischen verschiedenen Menschen, sondern auch zwischen verschiedenen Kulturen: Was in der einen als unsittlich gilt und verboten ist, ist in einer anderen geboten, erlaubt, ja geradezu gefordert. Gilt in unserer Kultur das Töten als Delikt und ist unter Verbot gestellt, so ist es bei Naturethnien aufgrund gänzlich anderer Lebens- und Überlebensbedingungen erlaubt. Und das betrifft auch, wie ich mir nicht verbeißen kann zu sagen, die angeblichen universellen Menschenrechte, die in Wahrheit ein historisches Produkt unserer westlichen Kultur, der Säkularisation und Aufklärung sind, aber durchaus keinen universellen Anspruch erheben können und von östlichen Nationen daher oft auch als westliche Hegemoniebestrebung empfunden werden. Deren Universalität zu behaupten, wäre Eurozentrismus und westliche Arroganz. Die Festlegung des freien Willens auf sittliches Handeln bleibt ein rein formales Prinzip ohne materielle Ausfüllung. Sie ist zu vergleichen mit einer generellen Verkehrsordnung, die in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgefüllt wird: in Deutschland herrscht Rechtsverkehr, in England Linksverkehr ; dennoch sind beide Rechtssysteme. 3. Die größte Schwierigkeit bei Ansetzung des Kantischen Freiheitsbegriffes stellt sich ein angesichts der durchgängigen Determination der Naturgesetze, die Kant angesichts des Emporkommens der neuzeitlichen Naturwissenschaften besonders bewusst gewesen sein musste. Nicht zuletzt verstand er sich ja selbst als theoretischer Begründer der neuzeitlichen Naturwissenschaften, die empirisch von Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton vorbereitet worden waren. Der Determinismus behauptet die durchgängige Bestimmtheit der Natur nach dem Kausalitäts- bzw. Ursache-Wirkungsprinzip. Der Zustand der gegenwärtigen Welt erklärt sich aus dem Zustand derselben zu einem früheren Zeitpunkt und dieser wieder aus dem eines früheren

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Zeitpunktes, genauso wie jeder spätere Weltzustand aus dem gegenwärtigen zwangsläufig folgt. Die Naturkausalität, wie sie von der Physik, allgemeiner von den Naturwissenschaften unterstellt wird, lässt keine Kausalität aus Freiheit zu. Ohne freie Selbstbestimmung und Verantwortung aber gibt es keine Moral und Ethik. Wollte Kant einerseits die Resultate der Naturwissenschaft anerkennen, andererseits moralisches Handeln legitimieren, so musste er eine Lösung der Vermittlung finden, die allerdings bei ihm auf eine recht merkwürdige Weise geschieht, nämlich derart dass er zwei verschiedene Bereiche, einen naturgesetzlichen, erkennbaren in der Erscheinungswelt und einen nur denkbaren, intelligiblen in der noumenalen Welt ansetzt, damit auch unterschiedliche Arten von Kausalität, eine Naturkausalität und eine aus Freiheit. Konkret bedeutet das, dass das Auf- und Abbewegen meines Armes, sofern dieses nicht bloßer Reflex ist, einerseits begründet wird durch Naturkausalität, durch Ansetzen von Knochen, Sehnen, Muskeln, deren Bewegung durch physikalische und chemische Impulse gesteuert wird, und auf der anderen Seite, und zwar zugleich, durch einen nur als intelligibel zu denkenden Willensentschluss. Im Klartext bedeutet dies, dass ein notwendiger Vorgang im Naturbereich gleichzeitig als nicht notwendige, freie Handlung (Akt) im intelligiblen, noumenalen Bereich erklärt wird. Kant war allerdings ehrlich genug, diese merkwürdige Konstruktion nicht als erkennbares Faktum zu unterstellen, sondern als Zusammentreffen zweier Hypothesen oder Maximen der Vernunft, einerseits der Maxime der theoretischen Vernunft zur unbegrenzten Naturerklärung, andererseits der Maxime der praktischen Vernunft zur Moralität, so wenigstens im Kapitel zur Transzendentalen Dialekt. Die Maxime der theoretischen Vernunft verlangt, die Naturforschung und -erkenntnis gemäß dem Determinismus ins Unbegrenzte zu erweitern, die Maxime der moralischen Vernunft verlangt, die deterministische Erkenntnis zu beschränken und die Freiheit des sittlichen Handelns anzuerkennen. Beide aber sind in ihren gegensätzlichen Ansprüchen auf unendliche Applikation weder beweisbar noch widerlegbar; sie sind und bleiben bloße Hypothesen. Suchte Kant eine Lösung des Problems durch Vermittlung von Freiheit und Notwendigkeit (Determinismus) bei Unterstellung ihrer Gleichwertigkeit, so hat die weitere Geschichte verschiedene andere Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, zum einen durch Aufhebung des Determinismusdogmas und Zulassen einer Art von Freiheit, eines sog. Indeterminismus, zum anderen durch Festhalten am Determinismusgedanken und Degradierung des Freiheitsbegriffes zu einer Illusion, zu einem bloßen Scheinbegriff. Der erste dieser beiden Wege wurde möglich mit dem Ansatz der Quantentheorie in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Evolutionstheorie in der Biologie Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Quantentheorie basiert auf der Kompatibilität zweier im Grunde unvereinbarer Strukturen, der Quanten- oder Teilchenstruktur und der Feld- oder Wellenstruktur, von denen die eine mit Begrenztheit, die andere mit Unbegrenztheit verbunden ist.

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Das hat zur Folge, dass bei der Messung eines physikalischen Vorgangs bestimmte Eigenschaften wie Ort und Impuls des Elektrons nicht gleichzeitig exakt bestimmbar sind. Die Heisenbergsche Unschärfesrelation drückt das in der Form aus, dass, wenn der Ort eines Elektrons genau bekannt ist, sein Impuls, d. h. seine Richtung nicht mehr exakt angegeben werden kann, und umgekehrt, wenn der Impuls bekannt ist, von der Lokalisation des Teilchens nur noch gesagt werden kann, dass es sich irgendwo in der Umgebung befindet und mit statistischer Wahrscheinlichkeit angegeben werden kann. Da der genaue Ablauf eines Vorgangs hinsichtlich aller messbaren Größen nicht vorherzusagen ist, d. h. nicht mehr vollständig determiniert ist, eröffnet diese Konzeption eine gewisse Möglichkeit des Indeterminismus und Zufalls, die sowohl ontologisch als Unbestimmbarkeit wie epistemologisch als Unvorhersehbarkeit von Ereignissen interpretiert werden kann und somit eine Art von Freiheit erlaubt,14 die heute Wahrscheinlichkeit genannt wird. In der Biologie war es die Darwinsche Evolutionstheorie, die das Zulassen von Freiheit im Rahmen determinierter Naturprozesse eröffnete. Ging die antike und mittelalterliche Weltvorstellung von einer sich ständig gleichbleibenden, unveränderlichen Welt aus, so rekurrierte Darwin auf die Veränderlichkeit und Entwicklung der Natur, die bedingt ist durch die Prinzipien der Mutation und Selektion der bestangepassten Mutanten an die Umwelt. Im Wachstums- und Fortpflanzungsprozess von Lebewesen, der durch Verdoppelung der Chromosomenfäden erfolgt, können Fehler auftreten, sei es durch Auslassen von Genteilen, sei es durch Hinzufügungen anderer, neuer, die Veränderungen bedingen. Diese zufällig auftretenden Mutationen, die auch zu dem Namen ,Zufallsmutationen‘ geführt haben, indem sich nur einige, nicht alle durchsetzen, zeigen, dass die Welt nicht von vornherein, a priori ontologisch determiniert oder prädeterminiert ist, sondern stets auch alternative Möglichkeiten zulässt. Ein weiteres Einfallstor für Freiheit in ein deterministisches Weltbild biologischer wie physikalischer Art ist die Finalismusthese in einer ansonsten rein kausalen Naturbetrachtung. Obwohl finalistische und kausale Naturbeschreibungen ursprünglich in der griechischen Philosophie zusammengehörten, war die finalistische These jahrhundertelang verpönt und wurde gerade im mechanistischen Weltbild eliminiert, das in der Nachfolge Descartes’ die Lebewesen als Maschinen oder Automaten betrachtete. Erst in der neuzeitlichen Biologie wurde die finalistische These rehabilitiert. Der Finalismus ist eine Naturerklärung, die bei Naturprozessen die Richtung auf ein Ziel hin unterstellt, das im Griechischen telos oder eschaton, im 14 Die Physiker John H. Conway und Simon B. Kochen haben versucht, diese quantentheoretische Unschärfe oder Indeterminiertheit mit der menschlichen Entscheidungsfreiheit zusammenzubringen (vgl. Conway, John H./Kochen, Simon B., The Strong Free Will Theorem, in: Notices of the AMS 56,2, Februar 2009, 226–232). Daneben gibt es auch zahlreiche andere Interpretationen der Quantentheorie, die auf die Rettung des Determinismus hinauslaufen, indem sie einen vollständigen, jedoch teilweise unsichtbaren Determinismus unterstellen.

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Lateinischen finis heißt und insofern einen teleologischen oder finalistischen Prozess bezeichnet. Ein auf ein Ziel hin gerichteter Prozess lässt sich nicht anders verständlich machen als dadurch, dass von Anfang an, a priori ein Plan des ganzen Weges zugrunde liegt, der auf einem freien Handlungsentwurf basiert. Ob der Finalismus als realer, ontologischer verstanden wird, der die Existenz eines freien Willens oder eines intentional gerichteten Triebes oder einer vitalistischen Kraft (Bergson spricht von einem 8lan vital) voraussetzt oder ob er als ideelles Interpretationsschema gemäß dem Modell der Kantischen reflexiven Urteilskraft interpretiert wird, nämlich so, dass wir uns die Vorgänge nicht anders erklären können, als ob sie auf einem weisen Plan beruhten, macht zwar einen Unterschied, zeigt aber, dass das Verständnis biologischer Entwicklungsprozesse nicht ohne dieses Modell auskommt. Dasselbe lässt sich auf physikalische Prozesse übertragen. Auch hier zeigt sich im Verhalten der kleinsten Bausteine unserer Welt, der Atome und Moleküle, dass sie auf gewisse optimale und insofern dauerhafte, stabile Zustände zusteuern, die Attraktoren genannt werden. Solche angestrebten Optimalzustände sind beispielsweise die Verbindung H2O aus Wasser- und Sauerstoffatom oder das Kochsalzmolekül NaCl, bestehend aus einem Natrium- und einem Chlor-Ion. Die einzelnen Atome stellen wir uns nach dem Bohrschen Modell vor, bestehend aus einem Kern von Neutronen und Protonen und, schalenförmig darum gelagert, aus Elektronen, die auf den Schalenbahnen in unterschiedlicher Besetzung kreisen, wobei eine Schale maximal 2n2 Elektronen tragen kann. Befindet sich z. B. wie bei dem Natriumatom nur ein Elektron auf der äußersten Schale, fehlt ihm also zur Vervollständigung ein zweites und trifft es nun auf ein Chlor-Atom, so strebt es danach, das Einzelelektron des Chloratoms an sich zu ziehen und zu übernehmen und so mit ihm eine bleibende Verbindung einzugehen. Anders formuliert: Atome haben gewisse Freiheitsgrade, die sie veranlassen, sich physisch zu vervollständigen und einen idealen Systemzustand anzustreben.15 Den entgegengesetzten Weg einer durchgängigen Determiniertheit des Naturgeschehens und einer Degradierung des freien Willens zu einer bloßen Illusion gehen die moderne Gehirnphysiologie und Neurobiologie, die aus der modernen Diskussion um das Freiheitsproblem nicht mehr wegzudenken sind. Mit ihnen ist der Laplacesche Dämon, das Gespenst einer vollständigen Determiniertheit des Weltgeschehens, reaktualisiert, das keinen Platz für die Freiheit des menschlichen Willens lässt. Die gegenwärtige Diskussion geht zurück auf ein spektakuläres und in der Presse viel diskutiertes Experiment von Benjamin Libet in den 1980er Jahren. Seine Probanden sollten zu einem bestimmten, von ihnen selbst gewählten Zeitpunkt eine bestimmte Handbewegung vollführen, während sie eine sehr 15 Vgl. dazu Deppert Wolfgang, Problemlösung durch Versöhnung, 2012, 9 f, abrufbar unter http://wolfgang.deppert.de/2012/12/28/wolfgang-deppert-problemlosung-durch-versohnung/ (zuletzt abgerufen am 28. 04. 2016).

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schnell ablaufende Uhr verfolgten. Die Messung der Gehirnströme, die heute mittels bildgebender Verfahren möglich ist, ergab, dass circa 550ms (Millisekunden) vor dem Handlungsentschluss Gehirnaktivitäten messbar waren. Dies wurde so interpretiert, dass die angeblich freie Entscheidung des Menschen zum Handheben bereits auf der Basis materieller physiologischer Prozesse stattfindet und insofern keinen freien Willen zulässt. Wenn tatsächlich vor der Entscheidungsfindung, d. h. dem Bewusstsein und Empfinden, sich zu entscheiden, physiologische Prozesse vorausgehen und die Entscheidungsfindung nur auf dieser Basis stattfindet, ist ein freier Wille nicht mehr möglich. Allerdings lassen sich die vorausgehenden unbewussten neuronalen Prozesse auch anders erklären, nämlich als „Bereitschaftspotential“, dergestalt dass immer und zu aller Zeit allgemeine, noch indifferente Lebensaktivitäten stattfinden, die erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in spezielle Aktivitäten wie die der Entscheidung umgesetzt werden. Auch könnte man Schopenhauers Begriffe vom Urwillen und vom speziellen Willen heranziehen, indem das Leben überhaupt als Urwille interpretiert wird oder die speziellen Lebensaktivitäten als Bestimmungen und Modifikationen dieses Urwillens.16 Das Problem der Freiheit lässt sich mit einem anderen nicht weniger spektakulären Sachverhalt vergleichen. Der kanadische Neurowissenschaftler Michael Persinger von der Laurentian University in Sudbury, Ontario, hat herausgefunden, dass das Gehirn, wenn man es mit einem bestimmten Frequenzmuster überzieht, die Vorstellung der Präsenz eines ,fremden Ego‘ hervorbringt, das als Gott gedeutet wird.17 Man hat diese Vorstellung das Gottesmodul im Gehirn genannt. Es hat die Frage aufgeworfen, ob das Gehirn die Gottesvorstellung schafft oder ob Gott das Gehirn geschaffen hat. Entsprechend ist die Vorstellung von Freiheit an bestimmte neuronale Prozesse gebunden. Und genau wie bei der religiösen Frage nach der Existenz Gottes stellt sich auch hier die Frage, ob das Gehirn die Vorstellung von Freiheit hervorbringt, diese also eine Illusion ist, oder ob der freie Wille die Voraussetzung für die Aktivierung gewisser Gehirnaktivitäten und daraus folgender Handlungen ist. Die Kontroverse um den Freiheitsbegriff befindet sich in vollem Gange und hat vehemente Verteidiger wie Kritiker auf beiden Seiten auf den Plan gerufen, ohne dass das Problem in irgendeiner Weise befriedigend gelöst wäre. Als Philosophin oblag mir, Ihnen diese Situation unvoreingenommen vor Augen zu führen, ohne Sie in der einen oder anderen Weise ideologisch beeinflussen zu wollen; denn Philosophie versteht sich vorrangig als kritische Aufklärung von Problemen, ohne a limine Lebenshilfen anzubieten.

16 Siehe Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, 1819, 2. vermehrte Aufl. 1844, 3. verbesserte und beträchtlich vermehrte Aufl. Leipzig 1859. 17 Vgl. Vaas, Rediger, Hotline zum Himmel, in: bild der wissenschaft/online, Ausgabe 7/2005.

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Was verstand die Antike unter Freiheit? Begriff und Realität der Freiheit in der griechischen und römischen Antike

1. Einleitung Der Begriff der Freiheit, mehr noch die Wertvorstellung der Freiheit hat in der Antike die gesellschaftliche und politische, aber auch die Wirklichkeit des Einzelnen geprägt. Der Gedanke der Freiheit ist für das Selbstverständnis des europäischen Menschen so grundlegend, dass er geradezu als das soziale und politische Symbol Europas gelten kann. Zum menschengestaltigen, gleichsam göttlichen Bild ist dieser Gedanke in der Freiheitsstatue Fr8d8ric-Auguste Bartholdi von 1886 auf der Liberty-Insel vor New-York erhoben. Alle, die vom Meer an der Ostküste Nordamerikas landen, erleben hier eindrucksvoll, was die Mutter Europa ihrer Tochter Amerika mitgegeben hat1. Hinter der LibertyStatue, die das republikanische Frankreich, das sich von den aus Antike und Christentum stammenden Idealen von Libert8, Pgalit82, Fraternit8 der Revolution von 1789 herleitet, der USA geschenkt hat, steht das Bild der römischen Göttin Libertas3. In Rom und zuvor schon im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. liegt der Quellgrund zu dieser Wertvorstellung und zu den Versuchen, sie in das Leben umzusetzen. Seit der athenischen Demokratie ist die Erhaltung oder die Wiedererlangung der Freiheit neben wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen ein wesentlicher Grund für Kriege geworden. Bereits antike Denker haben zwischen der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Einzelnen und der Anwendung des Freiheitsgedankens auf die menschliche Gemeinschaft und so auf die gesellschaftliche und die poli1 Verschiedene Dollar-Münzen der USA des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen auf der Rückseite bald die Freiheitsstatue, bald einen Frauenkopf mit der Aufschrift ,Liberty‘. Dies entspricht römischen Münzen mit der Göttin Libertas; s. u. Anm. 3 und Anm. 8. – Infolge eines Missverständnisses haben die Jakobiner statt des pilleus Romanus, der bei der Zeremonie der Freilassung eines Sklaven diente, die phrygische Mütze als Kennzeichen der Libertas verwendet. Diese findet sich oft auch allein auf den genannten Dollar-Münzen. 2 Thraede, Gleichheit, 122–164; Redlich, Die Idee der Gleichheit, ohne Berücksichtigung von K. Thraede. 3 Diese Göttin besaß in Tarracina einen Tempel und wurde dort von den Freigelassenen verehrt; Servius auctus zu Vergil, Aeneis 8, 564. Der älteste bezeugte Tempel aus dem Jahr 238 v. Chr. befand sich in Rom auf dem Aventin; Kock, Libertas, 101–103; Kroll, Libertatis atrium, 103 f; Wiseman, Libertas, Vollkommer, Libertas; s. auch u. Anm. 8. – Nach den Perserkriegen verehrten die Griechen Zeus Eleutherios; ebenso verehrten die griechischen Freigelassenen diesen Gott; Jessen, Eleutherios Nr. 1; Bruchmann, Epitheta, 127.

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tische Realität der Geschichte unterschieden. Der folgende Überblick soll auf diese beiden Hauptaspekte des antiken Freiheitsbegriffes eingehen, wobei im ersten Teil der geschichtliche Blickpunkt und im zweiten Teil der systematische vorherrscht. Der zu überblickende Zeitraum beginnt in der mythischen und vorgeschichtlichen Epoche und umfasst sodann die geschichtliche Zeit von Homer bis zur Tetrarchie Diokletians, eine Epoche von tausend Jahren. Insofern kann angesichts dieses Zeitrahmens und der Stofffülle nur eine tour d’ horizon gegeben werden. Einer eigenen Überlegung bedarf die Frage nach der Freiheit in der Wirklichkeit außerhalb des Menschen. In diese Richtung weisen die antiken Vorstellungen von der spielenden Natur und Epikurs Theorie von der spontanen Abweichung bestimmter Atome aus ihrer gesetzmäßigen Reihe, paq]cjkisir, clinamen4. Die Spannung von Gesetz und Freiheit zeigt sich eben in der griechischen Vorstellung der Natur, nach der diese einerseits Gesetz und Zwang und andererseits Spiel, Willkür und Mutwille ist5. Wenn nach griechischer Auffassung der Mensch ein Mikrokosmos ist, dann muss nach antikem Denken die ihn auszeichnende Freiheit auch im Makrokosmos wirksam oder zumindest angelegt sein.

2. Zu den antiken Quellen Grundlagen unserer Kenntnis für die Idee und die Realität der Freiheit in der Antike sind einzelne echte gewachsene Mythen und entsprechende ihnen zeitlich folgende Dichtungen, vor allem Epen, sodann die Geschichtsschreiber und die Redner, insbesondere die Panegyriker und Invektivenschreiber. Ferner sind philosophische und staatstheoretische Schriften zu beachten, wie Platons ,Staat‘ und ,Gesetze‘, Aristoteles’ ,Politica‘, Polybios’ ,historia universalis‘ und die fragmentarisch überlieferte Schrift Ciceros ,De re publica‘. Außerdem liegen mittelbare und unmittelbare Zeugnisse kritischer Stimmen, besonders zu Roms Macht- und Unterdrückungspolitik vor6. Einzelne der in Betracht zu ziehenden Aussagen sind nicht ohne Parteistandpunkt zustande gekommen. Die Tendenzen reichen in der monarchischen und oligarchischen Staatsform von der Schmeichelei bis zu einer persönlich gefärbten Kritik und in den Selbstaussagen der Mächtigen von Propaganda bis zu Apologetik. Viele literarische Zeugnisse gehen auf die führenden Gesellschaftsschichten zurück, 4 Lukrez, de rerum natura 2, 251–293; Erler, Epikur, 160 f: ,Freier Wille und atomistische Ethik‘; Hossenfelder, Freiheit, s. u. Anm. 146. 5 Deichgr-ber, Schriften, 265–284: ,Natura varie ludens‘; 285–287: Nachtrag; Mette, Schriften, 307–313: ,Der spielende Gott‘; Muth, Poeta ludens, 66 f, Anm. 4. 6 Fuchs, Widerstand, Reg.: ,Habgier der Römer‘.

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also auf die von Geburt an Freien. Von den Unfreien fehlen weithin Selbstaussagen. Zur Auswertung ist deshalb Kritik der Quellen notwendig, die vor allem die vorhandenen Tendenzen offenlegt. Als Beispiele für tendenziöse Aussagen seien genannt: Senecas ,Apokolokynthosis‘ und ,De clementia‘ mit dem Lob Neros, Lukans ,De bello civili‘ mit den ,Laudes Neronis‘, der Verherrlichung Catos von Uticas und damit der libera res publica gegenüber dem Alleinherrschaftsanspruch Caesars, ferner die Schriften von Tacitus und der Panegyricus auf Trajan von Plinius dem Jüngeren. Von den noch vorhandenen schriftlichen Zeugnissen der römischen Machtträger sind zu nennen die Schriften Caesars, die Res gestae des Augustus, die mit dem entscheidenden Satz beginnen, dass er die res publica, die von der Macht einer Partei bedrückt war, in die Freiheit geführt habe7. Ferner sind Münzen verschiedener Caesaren mit der Aufschrift Libertas zu beachten8. Schließlich sind auch die bildlichen Darstellungen von Szenen zum Thema Freiheit auszuwerten. Folgende Disziplinen der Altertumswissenschaft müssen herangezogen werden: die Religions-, die Literatur- und Philosophiegeschichte, die Geschichtswissenschaft (mit Einschluss der Epigraphik und der Numismatik), besonders die Geschichte der Kriege und der Sklaverei, die Rechts- und Staatswissenschaft im Blick auf die Verfassungen und auf das Strafrecht (Gefangenenwesen) sowie die Archäologie.

3. Die antiken Bezeichnungen für ,Freiheit‘ und die Entwicklung dieses Begriffs Freiheit ist eine Eigenschaft des denkenden Menschen. Sie beginnt beim Kind mit dem Erwachen des Ich-Bewusstseins, und seines Vermögens, „Ja“ und „Nein“ zu sagen und der damit verbundenen Willenskundgabe9. Der Begriff und das Wort ,Freiheit‘ und andererseits dessen Inhalt sind entwicklungsgeschichtlich, genauer bewusstseinsgeschichtlich, nicht deckungsgleich. Das Substantiv ,Freiheit‘, 1keuheq_a, ist für uns erst seit dem Chorlyriker Pindar (522 oder 518–446 v. Chr.) bezeugt10, das Adjektiv 1ke}heqor begegnet bereits

7 Augustus, res gestae 1 3(10 f Volkmann): …rem publicam a dominatione factionis oppresam in libertatem vindicavi; Letzteres ist eine formelhafte Wendung: Cicero, Brutus 212; Caesar, de bello civili 1, 22, 5; Bellum Africanum 22, 2. 8 Vollkommer, Libertas; Mattingly, Coins, Index: Legends: ,Libertas‘, umfassend die Zeit von Augustus bis Commodus; Szaivert, Münzen, 49 f; Gçbl, Münzprägung, Textband, 125; Tafelband, Taf. 157; Leschhorn, Lexikon, 105. 9 Cicero, de natura deorum 1,70 Pease; Ausonius, eclogae 21 (115 f Green): Na· ja· oq Puhacoqij|m; Dihle, Vorstellung; Horn, Wille. 10 Pindar, Pyth. 1, 61; Pohlenz, Freiheit; Nestle, Freiheit, 270–280.

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bei Homer11. ,Freiheit‘, griechisch 1keuheq_a, lateinisch libertas12, bezieht sich zunächst auf den Status des Menschen als erkennende und sittlich handelnde Person. Wie Regungen des Gewissens vor dem erstmals bei den Griechen begegnenden Begriff und Wort ,Gewissen‘, griechisch sume_dgsir, lateinisch conscientia – man bedachte die Latinisierung und die Verdeutschung! – vorgekommen sind, so gibt es den Begriffsinhalt ,Freiheit‘ bereits früher und unabhängig von seinem Begriff und seinem sprachlichen Ausdruck13. Das hier wirksame Prinzip lautet: Die innere mythische Anschauung, gleichsam ein fühlendes Erahnen, geht dem gedachten Begriff und seinem Ausdruck im Wort sachlich und zeitlich voran. Das Wort 1keuheq_a begegnet nur im gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Zusammenhang. Für die Willensfreiheit haben griechische Philosophen seit Platon und Aristoteles den Ausdruck geprägt: t± 1v’ Bl?m, ,dasjenige, das in unserer Macht steht‘14. Auf sie weisen ebenso die Begriffe der Wahl, griechisch aVqesir, pqoaVqesir, 1jkoc^, lateinisch electio, optio, und der Entscheidung, des Urteils, griechisch jq_sir, hin, da die Willensfreiheit sich in Wahl und Urteil realisiert. Deshalb gehört die Willensfreiheit wegen ihrer Zielgerichtetheit zur Teleologie15. Freiheit ist wahrscheinlich erst von ihrem Gegenteil her bewusst geworden, da sie erst in der Auseinandersetzung mit der Unfreiheit oder dem Zwang bewusst geworden ist. Der Weg der Bewusstwerdung ist grundsätzlich von außen nach innen erfolgt, also in diesem Fall von der äußeren Unfreiheit zur inneren Unfreiheit und von der äußeren Freiheit zur inneren Freiheit. Der Mensch und die menschliche Gemeinschaft unterliegen zwei verschiedenen Arten von Zwängen, die sich in den Gesetzen realisieren, und zwar in den Gesetzen, welche die Wirklichkeit bestimmen, und in denen, die vom Menschen ausgehen und denen er dann selbst unterworfen ist. Hier ist kurz auf ihr Entstehen und auf ihre differenzierte Erscheinungsweise bei den einzelnen Völkern und auf ihr Verhältnis zur jeweiligen Gemeinschaft und zum Einzelnen einzugehen16. Nach übereinstimmender früher Auffassung der 11 So spricht die Ilias bald vom „Tag der Freiheit“, bald vom „Tag der Knechtschaft“ (6, 455 [463]. 528; 16, 831); vgl. Odyssee 14, 340 und 17, 323. 12 Bader, liberator, 1300; Ders., libero, 1307, 33–63; Kuhlmann, libertas, 1310–1318; zur Göttin Libertas ebd. 1318, 20–64; Varro, antiquitates rerum divinarum frg. 222 Cardauns: Ferroniam…Libertatem deam…quasi Fidoniam; s. o. Anm. 3. 13 Chadwick, Gewissen; Seifert, Gewissensphänomen. 14 Platon, Gorgias 508 c 8; de re publica 357 b 3; 398 b 5; Aristoteles, Nicom. eth. 3, 5, 1112 a; Johannes Stobaios, ecl. 2, cap. 8 (2, 153–176 Wachsmuth): Peq· t_m 1v’ Bl?m, u. a. aus der Schrift des Porphyrius, Peq· toO 1v’ Bl?m: ebd. (2, 163–173 W.); s. u. S. 79. 15 Theiler, Naturbetrachtung; Spaemann/Lçw, Wozu?; Leunissen, Teleologie. 16 Bereits griechische Denker, welche die angrenzenden Länder des Mittelmeers bereisten, haben auf die verschiedenen Sitten, Gebräuche und Gesetze der fremden Völker geachtet. Reste dieser von ihnen gesammelten nomima barbarica sind noch vorhanden: Hellanikos, Barbarica nomima: FGrHist 4 f 72 f; Aristoteles, nomima: frg. 604–611 (367–386 Rose); Silius Italicus, Punica 13, 466–487; Kaiser Julian bei Cyrill. contra Iulianum 4 (PG 76, 712, C/D); Kroll, Studien, 321; Speyer, Barbar, 821. 823. Auch der Kirchenvater Hieronymus kannte derartige

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antiken Mittelmeervölker gehören die das menschliche Leben gestaltenden Gesetze der Offenbarung an. Als Träger dieser Offenbarung erscheinen in der frühgeschichtlichen Überlieferung die göttlichen Gesetzgeber17. Die von diesen formulierten Gesetze bestimmten das Zusammenleben der Menschen auf mannigfache Weise, im Frieden wie im Krieg, auch im Strafvollzug. Dabei ist auf die Spannung zwischen den Ansprüchen der jeweiligen Gemeinschaft und der sie bildenden Einzelnen im Hinblick auf die sie bestimmenden Gesetze zu achten. Hier konnte es, wie in Sparta, zu einem staatlichen Totalitarismus kommen, das heißt, die Rechte des Einzelnen auf Freiheit wurden zugunsten der Rechte seiner Gemeinschaft stark eingeschränkt. Beim einzelnen Menschen sind die Ansprüche seiner leiblichen, seelischen und geistigen Kräfte bei der Verwirklichung seiner Freiheit zu berücksichtigen. Auch hier liegen Gesetze vor. So sprach Pindar vom „Gesetz als dem König von allen“18. Gesetze bestimmen nicht nur das Leben des Menschen, sondern bereits, bevor der Mensch in die Welt eintrat, das Gefüge der Welt, den Kosmos, also die ,schöne Ordnung‘ gemäß der griechischen Deutung19. Aus der ursprünglichen Einheit, in der Gesetz, Gewalt, Herrschaft und Freiheit ähnlich wie die freiwillig, griechisch 6jym, und die unfreiwillig, %jym, verübte Tat, anfänglich noch ungeschieden, also vereint waren, erfolgte erst auf der Bewusstseinsstufe des geschichtlichen Zeitalters eine Trennung20. Der seit dem Alten Orient in mannigfacher Brechung bezeugte Himmel-ErdeTrennungsmythos spiegelt die im Anfang von allem erfolgte erste Trennung21. Zu diesem infolge der ersten Trennung ,im Anfang‘ eingeleiteten WerdeProzess gehört auch die Geschichte der Freiheit. Freiheit können wir deshalb als den Ausdruck für den Prozess der Befreiung verstehen, der sich vor allem in den Bereichen des Belebten und aller seiner Differenzierungen abspielt. Am Ende dieses unbewusst vollzogenen Prozesses der Befreiung steht der Mensch mit seiner Freiheit. Bereits das Tier besitzt gegenüber der Pflanze eine größere Freiheit: es vermag sich im Raum zu bewegen und ist nicht an eine bestimmte Stelle festgebannt. Gesetz, Gewalt, Herrschaft einerseits und Freiheit andererseits bedingen einander, sei es, dass wir an die Herrschaft der Weltgesetze denken, wie des Gesetzes der Gravitation, des Gesetzes der Planeten und der Sterne, sei es, dass wir an die inspirierten Gesetze denken, die Familie, Stamm

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Schriften und benutzte sie: adversus Iovinianum 2, 7 (PL 23,307–310); vgl. Georgius Monachus: 1, 38 de Boor. Mehl, Untersuchungen, 85–95 zur Göttlichkeit des Gesetzgebers und seines Werkes; Speyer, Christentum, Bd. 1, Reg.: ,Gesetzgeber‘; Ders., Studien, 75–95, bes. 79–83; Hçlkeskamp, Schiedsrichter; Scheibelreiter, Nomos, 989–992: ,Archaische Nomotheten‘. Pindar, frg. 169a, 1–5; Maehler; Gigante, MOLOS BASIKEUS, 72–102. Wyrwa, Kosmos. Aristoteles, Nicom. eth. 3, 1–3, 1109 b–1111 b; s. u. S. 74. Staudacher, Trennung; dazu kritisch Schwabl, Weltschöpfung, 1468–1474. 1508–1510; Spoerri, Berichte, Reg.: ,diajq¸meim, di²jqisir‘; L-mmli, Chaos, 29–44: ,Trennung aus der Einen Gestalt (Orientalische Ursprünge)‘; Speyer, Christentum, Bd. 3, 61–74: ,Gewalt und Weltbild‘.

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und Volk bestimmen. Die Freiheit setzt sich ständig mit diesen Gesetzen auseinander, aber auch mit der mit ihnen verbundenen Gewalt und Herrschaft. Deshalb besteht für den Menschen eine Relation, eine Wechselseitigkeit, zwischen diesen Gesetzen und seiner Freiheit. Der Prozesscharakter gehört zur Freiheit, so dass sie, wird sie übertrieben, auch ins Verderbliche umschlagen kann. So kann libertas zu licentia werden, also zu Zügellosigkeit, Maßlosigkeit und Willkür22, so wie die Demokratie zur Ochlokratie, einer Art Tyrannis von unten, verkommen kann23.

4. Geschichtliche Betrachtung: Freiheit im gesellschaftlichen, politischen und religiösen Verständnis Nur eine geschichtliche Betrachtung der antiken sozialen und geschichtlichen Verhältnisse und der antiken Reflexion über sie kann das Entscheidende für das Verstehen der Freiheit als eines Wertes und als eines Ideals für das Leben des Einzelnen und seiner Gemeinschaft in der griechischen und römischen Antike herausarbeiten. Dabei ist der Bogen zwischen dem antiken Freiheitsdenken und dessen Wiederaufleben in der Neuzeit, vor allem seit dem späten 18. Jahrhundert bis heute, zu beachten. 4.1 Das Vorspiel im echten gewachsenen Mythos der Griechen Die bisherigen Untersuchungen über die Freiheit haben zu wenig auf das Vorspiel im Mythos geachtet, geht doch der echte gewachsene Mythos, der in seiner Seinswirklichkeit der Sprache vergleichbar ist, der Geschichte sachlich und zeitlich voran. Im griechischen Mythos begegnet der Gedanke der Freiheit bereits in der zweifachen Hinsicht der sozial-politischen Freiheit und der Wahlfreiheit. Der Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit gehört zu den Grunderfahrungen zwischenmenschlichen Verhaltens. Im gesellschaftlichen und politischen Sinn gehören Freiheit und Unfreiheit, letztere in Form von Gefangenschaft und von Leibeigenschaft/Sklaverei, überhaupt im Abhängigmachen und im Abhängighalten von Menschen seit Urzeiten zu den Grunderfahrungen des Menschen. Dieser Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit folgt einmal aus psychischen Gegebenheiten, stellt sich aber auch mit der Erfahrung von erlittener Niederlage im Streit und im Krieg ein. Auch im rechtlichen Zusammenhang begegnet dieser Gegensatz von Anbeginn der Kultur an. Der Entzug der Freiheit als Strafe findet sich seit der ältesten griechischen literarischen 22 von Kamptz, licentia, 1355 f. 23 Cicero, de re publica 1, 42, 65–44, 68; Neschke, Verfassung; Mohnhaupt, Verfassung.

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Überlieferung, also seit Homer. So erzählt der Sänger Demodokos vom betrogenen göttlichen Ehemann Hephaistos, der seine Frau, die Göttin Aphrodite, mit dem ehebrecherischen Gott Ares ertappt und sie beide dann in einem kunstvoll geschmiedeten Netz fängt und fesselt. In juristischer Sprache liegt hier der Tatbestand einer privat vorgenommenen Haft wegen Ehebruchs vor24. Dieser Fesselung entsprechen im Mythos die Fesseln der Gegner der Olympier, der Giganten und Titanen, vor allem des Kronos, und die Fesselung des Prometheus durch Zeus25. Von den griechischen Göttern erscheint vor allem Dionysos als eine Befreiergestalt, wie sein Beiwort Lyaios, der ,Löser‘, besagt26. Zwischen der Gottheit und den gewöhnlichen Menschen steht der Heros, der Archetypos des ,göttlichen‘ und ,heiligen‘ Menschen27. Viele seiner Handlungen sind Taten der Befreiung, der Lösung von Fesseln, welche die zunächst dämonisch erlebten Naturgewalten den Menschen der vorgeschichtlichen Epoche bereitet haben. Der Heros und seine Nachfolger, zu denen die ,göttlichen‘ Menschen, die religiösen Philosophen und Lehrer ebenso gehören wie die inspirierten Dichter, erschienen als die ersten in der Reihe der Befreier- und Erlösergestalten. Sie befreiten und erlösten die Menschen von ihrer Fremdbestimmung durch äußere und innere Gewalten, die zunächst als Dämonen, Drachen und Ungeheuer erlebt und verbildlicht wurden28, sodann von der Fremdbestimmung durch Unkenntnis und falsche Kenntnis, griechisch dºna29. In dieser Perspektive verstand sich noch Platon, wie sein Höhlengleichnis beweist, als ein Erlöser von den Fesseln der dºna30. Ähnlich haben die Schüler Epikurs diesen als Befreier der Menschen von religiösen Vorstellungen erlebt und gefeiert, wie Lukrez bezeugt31. Insofern stehen einzelne antike Philosophen nach ihrem Selbstverständnis oder nach der Auffassung ihrer Schüler in der Reihe jener griechischen Heroen, welche die Menschen befreit haben. Nach dem griechischen Mythos führt Herakles, der Befreier des Prometheus und der Hesione vor dem Meerungeheuer die Reihe der Befreier-Heroen an, zu denen auch Perseus und Theseus gehören32. So lehrt bereits der Mythos, wie sehr die Freiheit in das Zentrum des Lebens der Menschen und ihrer leiblichen, geistigen und seelischen Entwicklung hineinleuchtet. Der Mensch ist das einzige Wesen, das wir kennen, das aus 24 Eisenhut, Gefängnisstrafe; Arbandt/Macheiner/Colpe, Gefangenschaft; Noethlichs, Krieg, 33 f; Grieser, Loskauf. 25 Eitrem/Herter, Bindezauber. 26 Orph. Hymn. 50, 8; gross Kruse, Lyaios. 27 Speyer, Heros; Ders., Heiligkeit. 28 Hanse, ,Gott haben‘; Waszink/Stemplinger, Besessenheit; Lesky/Waszink, Epilepsie. 29 Dihle, Doxa. 30 Platon, de re publica 7, 514 a–521 c; 532 b; Szlez#k, Höhlengleichnis; s. u. S. 78. 31 Lukrez, de rerum natura 5, 1–54: Epikur im Vergleich mit Herakles; W. Schmid, Epikur, 746–755; Ackermann, Lukrez, 172–180; Fauth, Divus Epicurus, 213–225. 32 Brommer, Herakles, 84–88. 60–63. 83 f: Die Befreiung der Kleopatra, der Gemahlin des Phineus, und deren Söhne; Malherbe, Herakles, 566–568, der aber mehr den Wohltäter als den Erlöser betont. – Zu Perseus Reinhardt, Mythen, 304–307.

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absoluter Fremdbestimmung zu einer relativen Selbstbestimmung im Sinne des pindarischen „Werde, der du bist!“ gelangen kann, und dies auf eine vielfache Art und Weise33. Dabei sind die exemplarischen Menschen, zunächst die Heroen, sodann die ,göttlichen‘ oder ,heiligen‘ Menschen, die inspirierten Menschen, zu Befreiern geworden. In dieser Tradition stehen alle, die sich berufen fühlen, ihren Mitmenschen Wege zum Wahren, Guten, Schönen und Heiligen zu weisen, nicht zuletzt also auch die echten Aufklärer, die von den falschen Aufklärern zu unterscheiden sind. Im griechischen Mythos begegnet der gefesselte und gebändigte Gott oder Heros. Binden ist in der Frühzeit vor allem eine magische Handlung, um der Macht, die man fürchtet, die Freiheit der negativen Wirkung zu nehmen. Dem magischen Binden entspricht das magische Lösen34. Auch hier bestimmt der Gegensatz die beiden Handlungen. Binden und Lösen, Zwang/Unfreiheit und Freiheit gehören innerlich zusammen.

4.2 Die geschichtliche Epoche 4.2.1 Vom Alten Orient bis Griechenland Wenn wir der Idee der Freiheit nachgehen, so treffen wir auf ein zentrales Kapitel in der Geschichte der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Freiheit als Prozess der Befreiung zeigt sich in der Entfaltung des Lebens und in der Geschichte des Bewusstseins von der Pflanze über das Tier zum Menschen. Wir können diesen Weg in Entsprechung zum Werden des einzelnen Menschen in der Familie beschreiben. In ähnlicher Weise zeigt sich das Werden der Freiheit auch in der Geschichte der Verfassungen. Nach übereinstimmender antiker Überlieferung standen an den Anfängen der Völker und Kulturen Könige35. Sie lenkten Städte, Stadtstaaten und Territorialstaaten. Der König erschien als der magisch-religiös Begabte, als die charismatische Persönlichkeit, welche die Vielen führt, die noch im Kollektivbewusstseins gebunden sind. In Personalunion führte der charismatische Einzelne als König, Gesetzgeber, Feldherr und Priester sowie als Richter, Arzt und Weiser, als Vater und Herr die Vielen36. Er erschien als magisch-religiöse, als politisch33 Pindar, Pyth. 2, 72. 34 Eitrem/Herter, Bindezauber. 35 Einzelne griechische und römische Geschichtsschreiber haben den Anfang ihrer Darstellung mit dem assyrischen König Ninos begonnen; Orosius, historiae 1, 1, 1–3 (CSEL 5, 5 f); vgl. Eusebius/Hieronymus, chron.: GCS Eusebius 7,20a. – Laktanz, institutiones 1, 23 ,2; epitome 19, 5 (21 Heck/Wlosok) beruft sich auf Thallus (FGrHist 256 f 2 f). – Nach einer anderen Überlieferung soll Phoroneus der erste König der Menschen gewesen sein und seine Herrschaft von Juppiter erhalten haben: Hygin. fabulae 143, 3 (104 Rose): itaque exordium regnandi tradidit (sc. Iuppiter) Phoroneo ob id beneficium, quod Iunoni sacra primus fecit. 36 Speyer, Heiligkeit 13–21.

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militärisch wirkende charismatische Persönlichkeit über seinen Untertanen wie der Vater und Herr, der römische pater et dominus, gegenüber seinen Kindern und seinem Gesinde37. Damit stimmt auch das seit dem Alten Orient bezeugte Bildwort vom König als dem Hirten seines oder der Völker überein. Seine persönliche Freiheit ist gegenüber der der Vielen weit größer. Seine Untertanen lebten noch auf der Stufe von Kindern ähnlich den gezähmten Tieren und bedurften des herausragenden Einzelnen vor allem zu ihrem Schutz. Nicht Freiheit des Einzelnen ist auf dieser Stufe angezielt, sondern Schutz und Sicherheit der noch im Kollektiv gebundenen Vielen. Der charismatische, mit magisch-religiösen Kräften ausgestattete Alleinherrscher oder Monarch, der altorientalische Großkönig, der Pharao, die Stadtkönige in Griechenland und die sagenumwobenen Könige im frühen Rom gaben ihren Völkern Schutz, Sicherheit und Frieden. Ein später Reflex hiervon sind die Philosophenkönige Platons und der stoische Weise als König. Erst als die charismatischen Monarchen in ihr Gegenteil umschlugen und zu den religiös-sittlich negativen Tyrannen wurden38, verfiel diese ursprüngliche archaische Führergestalt. So kam es in Griechenland und in Rom zur Verfemung der Monarchie39. Ihr folgten in Griechenland die Oligarchie, die Herrschaft der Wenigen, und die Volksherrschaft. Ähnlich trat in Rom an die Stelle der depravierten tyrannisch erlebten Königsherrschaft die res publica libera, die aus monarchischen, oligarchischen und demokratischen Elementen gemischt war. In Griechenland grenzten die Anfänge der historischen Zeit, also das 8. und 7. Jahrhundert, noch recht nahe an das mythische Zeitalter, dessen Ende die homerischen Sänger in der Ilias und der jüngeren Odyssee beschreiben. Erst im Laufe der noch so jungen geschichtlichen Epoche erfolgte der Schritt aus einem gleichsam kindlichen Erleben seiner selbst und der Welt zu dem Leben eines Erwachsenen. Erst mit dem Erwachen des Einzelnen zu sich selbst und seinem Heraustreten aus dem Kollektiv der ,Herde‘ konnte es zu einem verbreiteten Bewusstsein von Freiheit kommen. Damit beginnt die Geschichte der Emanzipation einzelner Individuen, die als schöpferische Einzelne den Mächten des Kollektiven, der angestammten Religion, auch den geltenden sittlichen Normen, in Rom dem mos maiorum, der Sitte und dem Gesetz mit kritischem Abstand gegenübertraten und für sich eine freie Meinungsäußerung und freie Rede, paqqgs_a, einforderten40. Ein Kapitel aus dieser Geschichte betrifft die Auseinandersetzung der griechischen Polis-Staaten mit dem sich aus Mythos und mythischer Dichtung herausarbeitenden neuen Begriffsdenken, wie es die zunächst religiöse, dann die profane Philosophie in Ionien und in Unteritalien hervorgebracht hat. Dieser geistesgeschichtliche 37 38 39 40

Wlosok, Vater. Berve, Tyrannis; Frenzel, Motive, 695–699: ,Tyrannei und Tyrannenmord‘. Rebenich, Monarchie. S. u. Anm. 51.

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Prozess ergibt sich einmal daraus, dass es ursprünglich Sängerschulen waren, denen in frühgeschichtlicher Zeit einzelne Sänger folgten, und weiter in der Ablösung der ursprünglichen Anonymität des mündlichen Überlieferten durch die ihr folgende Orthonymität oder Pseudepigraphie des von Einzelnen schriftlich Aufgezeichneten. Aufgrund des Gefälles zwischen Eltern und Kindern gab es in Griechenland und Rom bei den Kindern und den im Hause lebenden Dienern und Dienerinnen mannigfache Grade von Freiheit und Unfreiheit. Mit den Mutter- und Vatergefühlen konnte der Wille der Herrin, der d]spoima, domina, und des Herrn, des desp|tgr, dominus, in einen Konflikt geraten41. Was sich hier im Hauswesen äußerte, spiegelte sich in der größeren Dimension des griechischen Stadtstaates, der Polis, in deren Tradition auch Rom als Stadtstaat und als Imperium stand42. So könnte man die gesamte soziale und politische Geschichte Griechenlands und Roms unter diesem Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit darstellen. Erwähnt man in diesem Zusammenhang die Muße, swok^, lateinisch otium, so war diese nur den Freien, dem Adel, der Nobilität, zugänglich und die Voraussetzung für höhere Bildung43. Insofern war die gesellschaftliche Freiheit auch für die Ausformung der antiken Kultur eine ausschlaggebende Bedingung. Die griechische Freiheitsidee, wie sie die athenische Demokratie ausgebildet hat, konnte erst aufgrund der Schriftkultur und der sich aus ihr entwickelten Individualisierung entstehen. Vorausgesetzt sind die vorsokratischen Philosophen und die ihnen folgenden Sophisten, Redner und Tragödiendichter. Deren Denken hat die Freiheit, die Verantwortung und die politische Mitbestimmung der Bürger im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts ermöglicht44. Die Herrschaft des Volkes bestand im Anteil der freien Bürger an der Staatsführung und in der Gleichheit vor den Gesetzen. In Athen unterschied man zwischen floiom und Usom, zwischen relativer geometrischer oder proportionaler Gleichheit und absoluter arithmetischer Gleichheit45. Damit war der Niedergang des charismatisch bestimmten magisch-religiösen Ausnahmemenschen, als welcher der Monarch ursprünglich aufgetreten war, verbunden. Über den Gegensatz der Herrschaft eines Einzelnen, einer Mehrheit oder eines Volkes haben griechische und in ihrer Nachfolge römische Denker nachdrücklicher als in den orientalischen Hochkulturen und den angrenzenden Ursprungskulturen nachgedacht. So überlegte man seit dem 5. Jahrhundert v. Chr., welche der bisher aufgetretenen Staatsformen die beste sei. Bei der Beurteilung und Bewertung der einzelnen Staatsformen, der Monarchie, der Aristokratie oder Oligarchie und der 41 Alfçldi, Vater ; Wlosok, Vater, 35–83: ,Vater und Vatervorstellungen in der römischen Kultur‘. – Zum geistigen Kampf für die Gleichstellung der freien Frau mit dem freien Mann im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. und in der Folgezeit Thraede, Frau, 208–211. 42 Herakleides Pontikos nannte Rom eine griechische Stadt (frg. 102 Wehrli). 43 Schlapbach, Muße. 44 Euripides, supplices 403–408; Pseudo-Xenophon, de re publica Atheniensium 1, 8 (46 Weber). 45 Ehrenberg, Isonomia; Thraede, Gleichheit, 128 f.

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Demokratie und ihrer Fehlformen, der Tyrannis und der Ochlokratie sowie der Anarchie, achteten die griechischen und römischen Geschichtsschreiber und Staatstheoretiker vor allem auf das Vorhandensein oder Fehlen der Freiheit des Einzelnen und seiner Gemeinschaft. Auch fragten sie nach dem Verhältnis der Freiheit des Einzelnen zur Freiheit seiner staatlichen Gemeinschaft. Bei dieser Frage unterschied sich das individuell bestimmte Athen von kollektiv gebundenen Sparta. Einzelne antike Geschichtsschreiber und Philosophen haben über die möglichen Staatsformen nachgedacht. So lässt bereits der Geschichtsschreiber Herodot (490/480 – um 424 v. Chr.) drei Perser auftreten, die über die Vorzüge von Demokratie, Oligarchie und Monarchie sprechen und sie jeweils empfehlen46. In dieser Tradition stehen Aristoteles, Polybios, Cicero und Plutarch in ihren staatstheoretischen Überlegungen47. Neben den genannten Staatsformen gab es auch eine Mischform, so in Sparta und in der römischen Republik48. Über die athenische Demokratie mit Volksversammlung, Rat und Geschworenengericht und damit ihrer Rechtsordnung bemerkt Aristoteles: „Die Grundlage der demokratischen Verfassung ist die Freiheit… Zur Freiheit aber gehört zum einen, dass das Herrschen und Beherrschtwerden reihum geht. Das demokratische Recht ist nämlich die Gleichheit nach der Zahl, nicht nach dem Ansehen, und wo dies als Recht gilt, da muss die Menge die entscheidende Gewalt haben […].“49 Für das demokratische Selbstverständnis Athens im 5. und 4. Jahrhundert ist die politische Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Isonomie, das entscheidende Prinzip; die Freiheit ist hier der Gleichheit vor dem Gesetz nachgeordnet50. Die Meinungsfreiheit und damit die freie Rede, griechisch paqqgs_a oder Qsgcoq_a, kennzeichnet die demokratische Freiheit, wobei aber auch bei der freien Rede feste Grenzen einzuhalten waren51. Die Auseinandersetzung zwischen den noch im kollektiven Bewusstsein gebundenen Vielen und den auf ihr persönliches Dichten und Denken pochenden Einzelnen zeigt sich darin, dass diese Einzelnen oft als Außenseiter 46 Herodot, historiae 3, 80–82; vgl. Euripides, supplices 410–455: Theseus lobt die Demokratie, während der Herold der Thebaner die Monarchie preist. 47 Aristoteles, politica 3, 7, 1279 b 6–10; 4, 2, 1289 a 26–30; dazu Schetrumpf/Gehrke, Aristoteles, 113–185 zur Verfassungstheorie. – Polybius, historia universalis 6, 57; dazu Ziegler, Polybios, 1495. – Cicero, de re publica 1, 26, 41–1, 45, 69; Solmsen, Staatsformen. – Plutarch, de unius in re publica dominatione, populari statu et paucorum imperio 826 a–827 c; dazu Ziegler, Plutarchos, 823 f. 48 Zu Polybius, historia universalis 6 Ziegler, Polybios, 1479. 1489–1500; von Fritz, Constitution, 349 f; Aalders, Verfassung. 49 Aristoteles, politica 6, 2, 1317 a 40–b 18, der die Demokratie kritisch beurteilt. 50 Bleicken, Demokratie 302 f. 310–314. 542–546 mit Hinweis auf Raaflaub, Freiheit. 51 Platon, de re publica 557 b 4 f: freie Rede ist demokratische Freiheit; Johannes Stobaios, ecl. 3, cap. 13 (3, 453–468 Hense): Peq· paqqgs_ar; Valerius Maximus, memorab. 6, 2: quae libere dicta aut facta: geschichtliche Beispiele für Parrhesie, teils zugunsten der Freiheit; Hoppmann, Redefreiheit, 1023–1026 zu deren Grenzen; Beer, Parrhesia, 1014–1021.

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verfolgt und so ihrer persönlichen und geistigen Freiheit beraubt wurden52. Seit dem 7. und 6. Jahrhundert beginnt in Griechenland eine Auseinandersetzung zwischen der religiös gebundenen Tradition und dem neuen Denken von Einzelnen, die diese Tradition in Kultur und Politik in Frage stellten. Die bekanntesten Beispiele sind die Prozesse gegen Religionskritiker und ,Atheisten‘53. In diesen Zusammenhang gehört auch der Prozess gegen Sokrates. Die Mehrzahl der Athener, die zur Demokratie tendierte, musste deshalb das monarchische und tyrannische Regiment beseitigen. Wenn es in Griechenland, vornehmlich in Athen, um Verschwörung und Attentat ging, wurden oft Harmodios und Aristogeiton als die großen Helden der Freiheit gepriesen, weil sie die Dynastie des Tyrannen Peisistratos von Athen beseitigt hätten. Bereits Thukydides widersprach dieser Deutung, die eine breite Nachwirkung gehabt hat; denn das Tötungsmotiv sei nicht politischer, sondern persönlicher Art gewesen54. Für das Selbstverständnis der Griechen des 5. Jahrhunderts stand die Aufrechterhaltung ihrer politischen Freiheit im Mittelpunkt ihres Abwehrkampfes gegen die Perser, wie dies Herodot ausführlich schildert. Den Unterschied zwischen Europa und Asien sahen Einzelne in dem Gegensatz von Demokratie im Westen und Monarchie und Tyrannis im Osten55. In den langwierigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Sparta und Athen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts behaupteten die Spartaner, dass es ihnen allein um die Befreiung der unter Athen stehenden Griechen ginge. Thukydides, der darüber in seiner Schrift ,Über den Peloponnesischen Krieg‘ berichtet hat, versuchte zwischen dem Schlagwort ,Freiheit‘ und der politischen Realität zu unterscheiden56. Im 4. Jahrhundert v. Chr. mussten die Griechen erneut um ihre Freiheit kämpfen, die diesmal der Makedonenkönig Philipp II. und sein Sohn Alexander bedrohten. Der Sieg Alexanders über Dareios III. war zugleich der Sieg des den Orient beherrschenden monarchischen Prinzips für die folgenden Jahrhunderte. Dieser Sieg musste auch die Lage der bis dahin selbständigen griechischen Polisstaaten grundlegend verändern. Während in der hellenistischen Epoche die Römische Republik in Blüte stand und die Freiheit ihrer römischen Bürger sichern konnte, hatte Alexander die Griechen in einen Zentralismus hineingedrängt, der im Osten mit Einschluss Ägyptens in Gestalt der Reiche der Diadochen eine Vielzahl von Monarchien hervorbrachte. 52 Speyer, Außenseiter. 53 Winiarczyk, Atheismus. 54 Thukydides, de bello Peloponnesiaco 1, 20, 2; 6, 53, 3–60, 5; Miller, Aristogeiton; Ders., Harmodios. 55 Pseudo-Hippokrates, de aeribus, aquis, locis 16, 3; 23, 4 f. – Ähnlich beschreibt Kaiser Julian den Unterschied zwischen den südlichen barbarischen Völkern, die sich unterjochen ließen und unter Königen lebten, und den Nordvölkern, die wie die Germanen die Freiheit liebten (bei Cyrillus Alexandrinus, contra Iulianum 4 [PG 76, 712, C]). 56 Diller, Schriften, 464–481: ,Freiheit bei Thukydides als Schlagwort und als Wirklichkeit‘.

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Diese verhinderten eine Mitgestaltung und Mitverantwortung der Bürger im Sinne der ererbten demokratischen Staatsform der Polis. Deshalb trat die Privatisierung des Lebens in den monarchisch gelenkten Territorialstaaten der Diadochen weitgehend an die Stelle der demokratischen Freiheit der überschaubaren Stadtstaaten. Ein für Griechenland und alle Kulturen des Altertums kennzeichnender sozialer Gegensatz war der Unterschied zwischen Freien und Sklaven. Die Sklaverei war in der Regel eine Folge einer Kriegsniederlage. Dabei konnten ganze Völker versklavt und verkauft werden57. Im 7. Jahrhundert konnte die Schuldknechtschaft in Attika zur Sklaverei führen58. Neben den freien griechischen Bürgern gab es zwischen Freiheit und Sklaverei stehende große Bevölkerungsgruppen, so vor allem die Nachkommen der von den Dorern unterworfenen Urbevölkerung, die Heloten in Sparta und sodann in Messenien59. Aber auch die Fremden, die sich in Athen und Attika niedergelassen hatten, dort Metöken genannt, waren in ihren Rechten gegenüber den athenischen Bürgern eingeschränkt. Ein eigenes Kapitel betrifft die Frage nach dem Verhältnis von Religionsfreiheit und staatlicher Zensur im Zeitalter der Poleis und der Diadochen60. Infolge der interpretatio Graeca fremder Gottheiten gab es grundsätzlich im Zusammenleben der verschiedenen Religionen, der angestammten und der eindringenden fremden Religionen, keine Schwierigkeiten. Trotzdem hören wir fallweise von feindlichen Auseinandersetzungen. So traf die aus dem Osten eindringende Religion des Dionysos/Bakchos zunächst auf einen starken Widerstand. Bei diesem ekstatischen Kult werden die Griechen den Gegensatz zu den ,Barbaren‘ und damit den Gegensatz von Okzident und Orient nachdrücklich empfunden haben. Neben der Dionysosreligion versuchte auch der Kult der kleinasiatischen Kybele, der Mater Magna deum Idaea, nach Athen einzudringen. Dort wurde um 500 v.Chr. ein Metragyrte, ein Anhänger der Mater Magna, der für die Verehrung der Großen Mutter geworben hatte, gesteinigt und in den Felsabgrund hinter der Burg, das Barathron, gestürzt61. Seit Alexander dem Großen hören wir im griechischen Osten nur im Fall des Seleukiden Antiochos IV. (um 215–164 v. Chr.) von einer Religions-

57 Micknat, Kriegsgefangenschaft; Volkmann, Massenversklavung; Arbandt/Macheiner/ Colpe, Gefangenschaft, 333 f. – Zu den Sklaven in der Antike vgl. die von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, seit 1967 in Auftrag gegebenen ,Forschungen zur antiken Sklaverei‘. 58 Solons Elegie über Dys- und Eunomia: Noussia-Fantuzzi, Solon, 86 f. 217–265. 59 Pollux, onomasticon 3, 83 (1, 180 Bethe): „Zwischen den Freien und den Sklaven“; mit weiteren Beispielen aus der griechischen Welt. 60 Speyer, Büchervernichtung, 43–51. 61 Kaiser Iulian, oratio 8 (5), 1; Sanders, Gallos, 998.

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verfolgung gegenüber den Juden62. Hingegen konnten sich die zahlreichen von Osten und Ägypten in die hellenistische Welt eindringenden Religionen ohne größeren Widerstand ausbreiten. Die Tendenz aller dieser Religionen zum Ein-Gott-Glauben verband sie mit dem in dieser Epoche herrschenden monarchischen Gedanken63. 4.2.2 Rom a. Königtum und libera res publica

In Rom bestimmte die Entsprechung von Haus und von Öffentlichkeit, von res privata mit der patria potestas und der res publica mit den potestates der verschiedenen Amtsträger sowie von ius privatum und ius publicum, also das Gesetz, das Leben aller. Für das Selbstverständnis der Römer ist die Freiheit der auf das Recht und die Gesetze gegründeten res publica die Hauptbedingung für die Überlegenheit Roms zunächst über die Völkerschaften Italiens und sodann über die Länder des Mittelmeergebietes. Die Rechtsstaatlichkeit betont beispielsweise Cicero, wenn er bemerkt: „Deshalb sind wir alle Knechte der Gesetze, damit wir frei sein können“64. Auch außenpolitisch verstand sich Rom als Rechtsstaat, der die Rechtsidee im Dienste fremder ungerecht regierter Länder kämpferisch durchzusetzen versucht hat65. Im Hintergrund steht hier ein Uniformismus, der in der Welt überall eine Freiheit von römischen Gnaden durchsetzen will. Deswegen konnte Livius auch die Begierde des Imperiums für legitim erachten66. Die Freiheit der res publica als der res populi, wie dies Cicero durch Scipio Africanus minor formulieren lässt, erschien als die Grundlage des imperium Romanum67. Hingegen wurde der König, rex, mit tyrannus und dominus gleichgesetzt68. Ferner sah man eine enge Verbindung zwischen Freiheit und Frieden. Nach Cicero ist der Friede „ruhige Freiheit“ und: „Knechtliche Unterwerfung bedeutet keinen Frieden“69. 62 Scherer, Jewish people, Bd. 1, 128 f 137–163, bes. 145–162; Bringmann, Religionsverfolgung, 97–140. 63 Peterson, Markschies, Heis Theos; Ferst, ,Monotheismus‘, 5–24. 64 Cicero, pro Cluentio 146: legum denique ministri magistratus, legum interpretes iudices, legum denique idcirco omnes servi sumus, ut liberi esse possimus. 65 Livius, ab urbe condita 33, 33, 5 f: esse aliquam in terris gentem, quae sua impensa suo labore ac periculo bella gerat pro libertate aliorum…sed maria traiciat, ne quod toto orbe terrarum iniustum imperium sit, ubique ius fas lex potentissima sint; im Zusammenhang des römischen Kampfes um die Befreiung der Städte Griechenlands und Kleinasiens aus der Herrschaft der Diadochen. 66 Livius, ab urbe condita 1, 23, 7. 67 Cicero, de re publica 1, 25, 39 f, wobei populus bestimmt wird als coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus; vgl. 1, 26, 41; 1, 27, 43; 1, 32, 48. 68 Livius, ab urbe condita 2, 15, 3: non in regno populum Romanum, sed in libertatem esse. 69 Cicero, Philipp. 2, 113; 8, 12.

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Die Epoche der libera res publica dauerte von der Vertreibung des Königs Tarquinius Superbus durch Lucius Iunius Brutus und Lucius Tarquinius Collatinus, die im Jahre 509 oder 508/7 v. Chr. stattgefunden haben soll, bis zu den nach Alleinherrschaft strebenden römischen Feldherren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Sowohl die Wandlung vom Königtum zur Republik als auch die Wandlung der durch die Machtansprüche der Feldherren untergrabenen res publica zum Prinzipat unter Caesars Adoptivsohn Octavianus/Augustus vollzog sich nicht abrupt, sondern mit Übergängen70. Im 1. Jahrhundert v. Chr. erlebte der libertas-Gedanke infolge der Aspirationen einzelner Feldherren eine weit stärkere Bedeutung als zuvor. Dies zeigt sich an den letzten Plänen Caesars und an seiner Ermordung aus dem Grund der Erhaltung der republikanischen Freiheit. Aus diesem Geschehen lernte sein Adoptivsohn Octavianus/Augustus. Deshalb war er darum bemüht, wesentliche Bestandteile der libera res publica in seiner neuen Herrschaftsform des Prinzipats zu erhalten. Seine Stellung als princeps gründete sich vor allem auf seine persönliche auctoritas71. Diese auctoritas ist nicht nur in einem profanen, sondern in einem religiösen Sinn zu verstehen. Die Vorstellung vom großen Feldherrn, der unter dem persönlichen Schutz Juppiters steht, war damals nicht nur weit verbreitet, sondern wurde auch von den Betreffenden zielgerichtet eingesetzt72. Für das Verständnis der libertas in der römischen Republik ist der auctoritas-Begriff grundlegend; denn während dieser Epoche waren nur jene Persönlichkeiten für die Führung geeignet, die sich durch ihre Leistung für das Allgemeinwohl einen Namen gemacht hatten. Sie vermochten aufgrund ihrer auctoritas und der damit verbundenen dignitas in den Senat und bis zum höchsten Amt des Konsuls und des Zensors zu gelangen. Die libertas der Bürger wurde deshalb durch das oligarchische Element der nobiles und durch das monarchische Element des Konsulates oder in Notzeiten des Diktators eingeschränkt. Trotzdem standen alle Bürger, der populus und die Amtsträger, unter der Macht der Gesetze73. Die libertas-Vorstellung ist nur im Zusammenhang des sie und das gesamte Leben in Rom tragenden Rechtes auf dem Hintergrund des mos maiorum und der auf die Gemeinschaft bezogenen sittlichen Werte zu verstehen. Zu diesen gehörten neben der libertas: amicitia, auctoritas, clementia, concordia, consensus universorum, constantia, dignitas, disciplina, exemplum, fides, gloria, gravitas, honor, humanitas, labor, magnitudo animi, modestia, officium, pietas, severitas, urbanitas und virtus74. Der Unterschied zwischen der libertas der römischen Republik, die aus Elementen der verschiedenen Staatsformen bestand, und der Eleutheria im rein demokratischen Athen wird so offenkundig. 70 71 72 73 74

von Lebtow, Das römische Volk, 164–166. Augustus, res gestae 34 3(58 f Volkmann): auctoritate omnibus praestiti. Fears, Gottesgnadentum, 1121–1127 zu Augustus und zum Prinzipat. S. o. Anm. 64. Bechner, Literatur, 185–198: ,Römische Lebensbegriffe‘; Oppermann, Wertbegriffe.

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Der Freiheitsbegriff der römischen Republik ist demnach rechtlich, sittlich, ethisch, sozial und politisch bestimmt75. Wer römischer Bürger, civis Romanus, war, galt als frei. Unfrei war nur der Sklave, denn dieser stand unter der potestas seines Herrn. Auch das Kind des Hauses stand unter der potestas des Vaters, war aber trotzdem frei. Frei war auch der Klient; aber seine Abhängigkeit vom patronus konnte je nach den Umständen sehr weit gehen. Entsprechend zum Klienten waren auch die mit Rom verbündeten Staaten, die Klientelstaaten, frei, mussten aber anerkennen, dass Rom ihnen aufgrund von auctoritas und dignitas überlegen war76. In Rom war jeder, der seinen Dienst gegen Entgelt tat, in seiner Freiheit eingeschränkt. Wie in Griechenland prägten die Sklaven, die aus den in immer neuen Kriegen von Rom besiegten Völkern stammten, die gesellschaftliche Realität. Der Herr konnte aber seine Sklaven durch die im römischen Recht festgelegte manumissio aus ihrer Unfreiheit entlassen77. Nach der Auffassung der römischen Staatstheoretiker ist der monarchische Staat kein freies Gemeinwesen, da in ihm alle und alles, die Stadt und das Territorium, vom Willen des Monarchen abhängt und geradezu sein Eigentum sind. Rom konnte so Königreiche als den Nachlass wie den eines Privatmannes und so als testamentarisches Erbe einziehen. Der Diadoche Attalos III. Philometor Euergetes (139/8–133 v. Chr.) vermachte sein pergamenisches Reich außer den von ihm für frei erklärten Griechenstädten der res publica Romana78. Auch wenn Cicero die Zeit der von Sagen umrankten römischen Könige relativ milde beurteilt, spricht er deren Herrschaft die Rücksicht auf die Freiheit des Volkes ab79. Wenn der Geschichtsschreiber Tacitus seine ,Annalen‘ mit dem Satz beginnt: urbem Romam a principio reges habuere, so ist das vom Standpunkt des Geschichtsschreibers, der das Ideal der res publica gegenüber dem Prinzipat verteidigt, wörtlich zu verstehen. Wie er meint, haben die etruskisch-römischen Könige Rom als ihren Besitz angesehen. Von Freiheit könne in der Königszeit keine Rede sein. Erst L. Brutus habe „Freiheit und Konsulat“ eingerichtet. Das Ende dieser Epoche sahen Tacitus und andere mit Caesar, aber auch mit Octavianus/Augustus gekommen80.

75 Kloesel, Libertas; Wirszubski, Libertas; Kunkel, Freiheitsbegriff, 81–86; Straub, Regeneratio, 19–35: ,Imperium et libertas‘; Wickert, Principat, 30. 76 Proculus in den Digesten 49, 15, 7: liber populus est is qui nullius alterius populi potestati est subiectus. 77 Herrmann-Otto, Manumissio. Die Griechen kannten die Freilassung gleichfalls; Pollux, onomasticon 3, 83 (1, 181 Bethe). 78 Mehl, Attalos. 79 Cicero, de re publica 2, 23, 43: desunt omnino ei populo multa, qui sub rege est, in primisque libertas, quae non in eo est, ut iusto utamur domino, sed ut nullo…; Livius, ab urbe condita 2, 15, 3: non in regno populus Romanus, sed in libertate esse…; Klein, Königtum. 80 Jens, Libertas.

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ß. Prinzipat / Dominat

Wesentliche Änderungen gegenüber der res publica zeigen Prinzipat und Dominat in Folgendem: Zum einen macht sich seit Augustus der Einfluss kaiserlicher Frauen auf die Politik des Herrschers bemerkbar und zum anderen trennte die Apotheose der verstorbenen Herrscher und ihrer Dynastie die Personen der kaiserlichen Familie von den römischen Bürgern. Hierdurch wurden Personen der Herrscherfamilie aus der ehemaligen Gleichstellung mit dem Senat in eine uneinholbare Höhe gehoben. Dieses Selbstverständnis des gottähnlichen Herrschers hatte dann kaum noch etwas mit dem der Angehörigen der res publica zu tun. Der Alleinherrscher konnte sich geradezu mit den Göttern und dem Schicksal gleichstellen, wie dies Seneca gegenüber Nero äußert81. Wie stark viele Römer die Freiheit durch den Prinzipat bedroht erlebten, ergibt sich aus den seit Augustus bezeugten zahlreichen Attentaten und Verschwörungen82. Das Problem ,Freiheit und Prinzipat‘ kann nicht abstrakt gelöst werden, sondern muss von dem jeweiligen Inhaber der höchsten Gewalt ausgehen. Jeder Inhaber des Prinzipats von Augustus bis zu den ersten christlichen Herrschern von Gottes Gnaden ist einzeln zu befragen, wie er es mit der Freiheit der Römer gehalten hat. Die Unterschiede sind beträchtlich, wie beispielsweise bei Domitian zu ersehen ist, den Martial lobt, Sueton aber scharf kritisiert83. Die gerechten principes versuchten mit gutem oder auch schlechtem Erfolg das Ideal der Freiheit aus der Epoche der libera res publica zu erhalten. So erscheint als Beiname der römischen Kaiser seit Augustus Eleutherios und Zeus Eleutherios84. Nach Augustus gehören in diese Reihe Nerva und Trajan sowie die Adoptivkaiser des 2. Jahrhunderts. Einige Kritiker des Prinzipats, wie Tacitus und der stoische oder kynische Philosoph bei Pseudo-Longinus, sahen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Blüte der Redekunst, also der freien Rede, während der römischen Republik und ihrem Verfall in der neuen Epoche der Cäsaren85. Andererseits hat Tacitus dem Kaiser Nerva bestätigt, dass dieser die einstmals nicht zu vereinbarenden Größen ,Prinzipat‘ und ,Freiheit‘ miteinander gemischt habe86. Wie Cicero ausführt, kann die Gewaltherrschaft einer Gruppe, einer Partei, factio, und ebenso das terrorisierende Regiment der Masse, die dann

81 Seneca, de clementia 1, 21: quibus (sc. nationibus) libertatem dari, quibus eripi, quos reges mancipia fieri quorumque capiti regium circumdari decus opporteat, … mea iuris dicto est… 82 Sueton, vita Augusti 19, 1–2; vita Tiberii 65,2; vita Caligulae 56, 1 f; 58, 1–3 f; vita Claudii 13, 1 f; vita Neronis 47–49; vita Domitiani 17, 1–3; Historia Augusta, vita Antonini Heliogabali 16, 5: factaque conspiratione ad liberandam rem publicam; Speyer, Cinna. 83 Martial 8: Widmungsbrief an Domitian; 9,1; Sueton, vita Domit. 12, 3–13, 3. 84 Jessen, Eleutherios, Nr. 7. 85 Tacitus, dialogus de oratoribus; Pseudo Longinus, de sublimitate 44, 2–5; Heldmann, Redekunst, 255–293; Reg.: ,Freiheit des Redens im Prinzipat‘. 86 Tacitus, Agricola 3,1.

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gleichsam zum Tyrannen von unten wird, die Freiheit der res publica aufheben87. Die Freiheit der römischen Bürger kommt verfassungsrechtlich in der Volksversammlung zum Ausdruck. Vom aktiven politischen Recht jedes einzelnen Bürgers wird aber nirgendwo gesprochen, noch weniger von der Gleichheit der politischen Rechte aller Bürger.88 So kam es auch in der römischen Republik ganz auf die gerechte Weise der regierenden Amtsträger an. Das Provokationsrecht und der Volkstribunat dienten nicht der Mitwirkung des Bürgers an der Leitung des Staates, sondern seinem Schutz vor Übergriffen der Imperiumsträger. Diese Machtträger, unter deren nicht immer gerechten Regiment die römischen Bürger zu leiden hatten, waren die Senatoren, die Nobilität, also eine Oligarchie. Die römische Republik kennt damit, vor allem in ihrer Spätphase, das, was in der Zeit der Caesaren dann immer wieder erneut durchschlagen wird, den Missbrauch der Macht durch die Mächtigen. In der Zeit der Republik erfolgte der Machtmissbrauch durch Einzelne oder eine Gruppe, also durch Angehörige der Senatsoligarchie, in der Kaiserzeit durch einzelne Herrscher, wie Caligula, Nero, Domitian. Diese Linie setzte sich seit dem 3. Jahrhundert fort und endet bei Kaiser Justinian89. Wenn die römische Republik seit dem militärischen Ausgreifen in den griechischen Osten sich veranlasst sah, die griechischen Königreiche zu bekämpfen und den griechischen Stadtstaaten ihre Freiheit zu sichern oder zurückzugeben, so war Letzteres meist mehr geschickte Propaganda als Realität90. Außerdem strebten die römischen Feldherren, welche die Diadochen und ihre Nachfolger besiegt hatten, oft selbst nach persönlicher Oberherrschaft. Die römische Republik bewegte sich seit dem 2. Jahrhundert nicht zuletzt infolge des griechischen Einflusses mehr und mehr in Richtung auf die Herrschaft weniger Einzelner und schließlich eines Einzelnen. Nach Scipio Africanus maior und minor waren Marius, Sulla, Pompeius, Caesar, Antonius und Octavianus/Augustus die Stationen, welche die libera res publica zu einer Alleinherrschaft, schließlich zu einer dynastischen Alleinherrschaft umgewandelt haben. Dabei umgaben sich die nach Alleinherrschaft Strebenden oder sie Ausübenden mit religiöser Weihe. Diese Remythisierung des Feld-

87 Cicero, de re publica 1, 45, 68; 3, 32, 44 f; Kunkel, Freiheitsbegriff, 83 f. 88 Kunkel, Freiheitsbegriff, 84. 89 Kaiser Severus Alexander (222–235) schrieb in einem Erlass, man wisse, dass er seinen Untertanen so viel Freiheit einräume, wie sie durch ihr Wohlverhalten und ihren Gehorsam verdienten (Paulus in den Digesten 49, 1, 25). Einer solchen autokratischen Haltung gegenüber betont Livius, ab urbe condita 35, 32, 11: ea (sc. dignitas) autem in libertate posita est, quae suis stat viribus, non ex alieno arbitrio pendet. 90 Ein Topos der Rom-Feindschaft ist der Gedanke von der Ländergier der Römer und ihrer Versklavung der Völker ; Sallust, hist. frg. 4, 69, 5. 17. 20.; Tacitus, Agricola 30, 5 f; Fuchs, Widerstand, 16 f; 47; zu Rom als Schutzmacht der Freiheit gegenüber den Monarchien: Polybius, historia universalis 21, 22, 8; Livius, ab urbe condita 37, 54, 6; Volkmann, Romkritik.

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herrn und Herrschers beginnt am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. mit Alexander dem Großen und hält sich bis in die Spätantike durch91. Ähnlich wie die Griechen, die zu ihnen eindringenden östlichen orgiastischen Religionen zunächst abgelehnt und deren Religionsdiener verachtet und verfolgt haben, handelten die Römer der republikanischen Epoche. Sie kamen selbst infolge ihres kriegerischen Ausgreifens in den Osten seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. mit orientalischen Kulten in Berührung, die wie die Dionysosreligion, die inzwischen in Griechenland und in Süditalien aufgenommen war, fremdartig, sinnlich ausschweifend und orgiastisch wirkten und damit die Neugierde von Menschen weckten, die in der stark vom Recht bestimmten und nüchternen römischen Kulttradition aufgewachsen waren. Außerdem gestatteten verschiedene dieser östlichen Kulte den Frauen eine weit größere Freiheit, als dies in der patriarchalischen Welt Roms der Fall war. Die Begegnung mit diesen fremden Religionen fand seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. in verschiedenen Wellen statt. Der Kult der Großen Mutter und ihres Parhedros Attis gelangte in der Zeit einer tiefen seelischen Erschütterung infolge des siegreichen Eindringens der Karthager unter Hannibal nach Italien im Jahre 205 v. Chr. durch eine Kultübertragung nach Rom. Aufgrund einer Prophezeiung der Sibyllinischen Bücher kam mit Hilfe des mit Rom befreundeten Attalos I. von Pergamon der schwarze Meteoritstein der Mater Magna von Pessinus bzw. Pergamon in die Stadt Rom92. Wenige Jahre später, im Jahr 191 v. Chr., war der Tempel für die beiden Gottheiten auf dem Palatin fertig und ein Jahresfest vom 4.–10. April, die Ludi Megalenses, wurden eingeführt. Die Priester dieses Kultes, die Galloi, verzichteten in der Ekstase zu Ehren der Göttin auf ihre Männlichkeit, indem sie sich öffentlich rituell zu Eunuchen machten. Dieses ihr Tun traf notwendig auf Ablehnung. Römischen Bürgern war es verboten, der Priesterschaft der Galloi beizutreten93. Die Galloi, die auch für die Göttin bettelnd durchs Land zogen, ernteten meist nur Spott und Verachtung94. Erst in der Kaiserzeit erscheinen römische Bürger und Bürgerinnen als Priester und Priesterinnen der ursprünglich androgyn gedachten Gottheit95. Trotz gewisser Lockerungen in der heidnischen Kaiserzeit blieb das Verhältnis der Römer zu diesem Kult zwiespältig. Immer wieder gab es staatliche Verbote der rituellen Kastration der Priester. Die nächste Welle eines orgiastischen Kultes aus dem Osten erreichte Rom zu Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. Diesmal war es der in Griechenland seit Jahrhunderten geübte Dionysoskult in der abgewandelten Form der Bacchanalia; an ihm nahmen zunächst nur Frauen teil. Eine Änderung erfolgte durch die Priesterin Paculla Annia in Kampanien zu Anfang des 2. Jahrhun91 92 93 94 95

Fears, Gottesgnadentum, 1119–1121. Kçves-Zulauf, Mater. Dionys. Hal. 2, 19, 4 f. Sanders, Gallos, 987. 997 f. 1023–1025. Sanders, Gallos, 1000 f.

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derts v. Chr. Sie setzte es durch, dass nunmehr auch Männer zum Kult Zutritt hatten und die Zahl der festlichen Begehungen nicht nur wie anfangs drei Tage jährlich betrug, sondern monatlich fünf Tage. Die Bacchanalien gelangten, durch einen Griechen vermittelt, aus Süditalien über Etrurien nach Rom und lösten dort im Jahre 186 v. Chr. den berühmten Bacchanalienskandal aus. Livius, der über diesen Kult ausführlicher berichtet, spricht geradezu von einer Verschwörung, coniuratio96. Der Senat ließ in ganz Italien Tausende von Anhängern und Anhängerinnen des Kultes hinrichten oder einkerkern und die Kultorte zerstören. Da der Senat aufgrund der altrömischen Religiosität eine gewisse Angst vor dem Bacchuskult hatte, löschte er diesen nicht gänzlich aus, sondern erließ ins Einzelne gehende Bestimmungen, wie, dass die Teilnehmerzahl auf jeweils fünf Personen einzuschränken sei, auf drei Frauen und zwei Männer97. Ob die von Livius genannten Vorwürfe zutreffen, die von Promiskuität und Schändung, falschen Zeugnissen, gefälschten Testamenten bis zu Morden reichen, wissen wir nicht. Derartige Vorwürfe begegnen in der antiken und christlichen Literatur auch in der Folgezeit gegenüber geheimen Kulten, um sie in der öffentlichen Meinung herabzusetzen. Je mehr die Römer nach der Niederwerfung Karthagos in den vorderasiatischen Raum eindrangen, umso mehr begegneten sie dort fremdartigen Kulten. So lernten die römischen Soldaten am Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. bei den Feldzügen Sullas im kappadokischen Komana den Kult der Göttin M. kennen98. Diese kriegerische und blutige Göttin setzen sie dann der römischen Bellona gleich. Durch diese religiöse Übersetzung, eine interpretatio Romana, konnte die Fremdartigkeit bis auf einen gewissen Grad ins Eigene übertragen werden99. Trotzdem blieb auch hier der seelische Abstand zum fremden ekstatischen Ritual beträchtlich. Die Priester der M., die sich in kultische Raserei versetzten und sich dabei mit der Doppelaxt verwundeten, zogen die römischen Betrachter an und stießen sie zugleich ab. Sie vermittelten jedenfalls Gefühle des Fascinosum und des Numinosum. Im Jahre 48 v.Chr. wurde offiziell ein Heiligtum der M.-Bellona zerstört, wobei angeblich Töpfe voll mit Menschenfleisch zum Vorschein kamen100. Ähnlich wie bei den Göttinnen Mater Magna und M.-Bellona verlief auch die Auseinandersetzung Roms mit der ägyptischen Religion von Isis, Osiris und Sarapis. Diese Kulte hatten in Griechenland bereits im 3. Jahrhundert Fuß gefasst, so vor allem auf der Insel Delos und in den griechischen Hafenstädten. Der römische Senat ist im 1. Jahrhundert v. Chr. in Rom öfter gegen diese Kulte eingeschritten, indem er die Altäre der Isis und der ägyptischen 96 Livius, ab urbe condita 39, 8–19, bes. 17. Neben dem Werk des Geschichtsschreibers ist das Original des Senatsbeschlusses erhalten, das Senatus Consultum de Bacchanalibus: Corpus Inscriptionum Latinarum 12,581; Pailler, Bacchanalia. 97 Livius, ab urbe condita 39, 18; Corpus Inscriptionum Latinarum 12, 196. 98 Wissowa, Religion, 348–351. 99 Schenk, Interpretatio. 100 Cassius Dio, historia Romana 42, 26, 2.

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Götter zerstören ließ. Die Triumvirn des Jahres 43 v.Chr. wollten dies aus taktischen Gründen ändern, um so die Anhänger dieser Religion für sich und ihre Politik zu gewinnen. Da aber die altrömische Religion unter Augustus in romantisierter Form erstarkt war und sein Kampf gegen Kleopatra und Antonius die ägyptischen Gottheiten in ein schiefes Licht gebracht hatte, konnten Isis und die mit ihr verbundenen Gottheiten nur heimlich verehrt werden. Dann ereignete sich noch unter Tiberius im Jahre 19 n.Chr. ein besonderer Skandal, bei dem die Isis-Mysterien zu einer Vergewaltigung einer römischen Matrone missbraucht wurden, so dass der Kaiser das betreffende Heiligtum zerstören und das Götterbild in den Tiber werfen ließ. Die Verehrer und Verehrerinnen der Göttin gehörten meist den unteren Volksschichten an. Ähnlich wie die Bacchanalia haben die Isis-Mysterien die Frauen besonders angezogen101. Im Jahre 139 v. Chr. befahl der Praetor peregrinus Cn. Cornelius Scipio Hispanus aufgrund eines Ediktes den Juden, in ihr Land zurückzukehren. Eine derartige Vertreibung der Juden aus Rom, die vor allem nach der Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahre 63 v.Chr. als Gefangene bzw. Sklaven nach Rom gekommen waren, fand wiederum unter Kaiser Tiberius statt102. Gleichfalls aus dem Osten drang die Astrologie, die Sternenreligion der Chaldäer, in den Westen103. Die Chaldäer, auch mathematici genannt, waren die aus dem Orient kommenden Verehrer der Sterne, die Astrologen104. Ihnen befahl der Praetor peregrinus Cornelius Scipio Hispanus, Rom und Italien zu verlassen105 Sie standen mit ihren Berechnungen und Deutungen der Zukunft den Zauberern nahe. Das Einschreiten gegen beide dürfte eng mit der Angst vor Unglücksweissagungen und schwarzer Magie zusammenhängen, so dass der Staat auch in der Folgezeit immer wieder Maßnahmen gegen sie ergriff106. Die fremden Kulte, die mit dieser Aufzählung keineswegs erschöpft sind107, wurden zunächst, auch wenn sie offiziell erlaubt wurden, räumlich ausgegrenzt. Sie durften nicht innerhalb des geheiligten Bezirkes des Pomeriums ausgeübt werden. Während die ägyptischen Götter noch im 1. Jahrhundert n. Chr. staatlich anerkannt wurden, erhielten die anderen fremden Kulte diesen Status erst seit Kaiser Caracalla vom 3. Jahrhundert an. Er hob für sie die

101 102 103 104 105

Zu den Grenzen der Toleranz in Rom Cracco Ruggini, Pregiudizi. Sueton, vita Tiberii 36; Scherer, Jewish people, Bd. 3, 1, 74 f. Koster, Chaldäer. Gundel/Gundel, Astrologumena, 134. Valerius Maximus, memorabilia 1, 3, 3. Dieses Kapitel ist nur epitomiert erhalten und lautet: De peregrina religione reiecta; Kramer, Astrology, 232–283. 106 Pharr, Interdiction, 269–295; Massonneau, Magie, 133–196: ,La repression de la magie‘; Funke, Majestäts- und Magieprozesse, 145–175. 107 Wissowa, Religion, 359–379, bes. zur syrischen Göttin, der Atargatis/Dea Syria, deren Kult mit dem der Mater Magna, der M.-Bellona und zum Teil auch der Isis eng verwandt ist.

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Pomeriumsgrenze auf. So wurde Rom gleichsam zum Tempel der gesamten damals bekannten Welt108. Trotz aller Marginalisierung und Ausgrenzung fremder, meist orgiastischer Kulte war eine grundsätzliche Übersetzbarkeit der fremden Religion in die eigene griechische oder römische möglich, in Form der interpretatio Graeca oder Romana der fremden Gottheit. Mit der Zeit setzte sich der gemeinsame Nenner zwischen der eigenen und der fremden Religion durch. Dies war jedoch mit dem jüdischen und christlichen Gottesgedanken nicht möglich. Insofern war die Außenseiterrolle beider Religionen und ihrer Vertreter auf Dauer eine andere als bei den polytheistisch geprägten Fremdkulten. In Rom ist bei der Auseinandersetzung mit fremden Kulten ein gewisser Rhythmus zu erkennen, der dem Schema folgt: These, Gegenthese, Synthese. Die altrömische Auffassung reagierte auf die Fremdkulte wie die Gegenthese auf die These. Dieser Sieg konnte sich auf die Dauer nicht behaupten. Ein neues Erstarken des Fremdkultes ist zu beobachten, so dass dieser schließlich in den offiziellen Staatskult aufgenommen oder wie das Judentum nur geduldet wurde. Erst die römische Auseinandersetzung mit dem Christentum brach mit diesem Schema. Der Konsul des Jahres 186 v. Chr. hatte auf die grundsätzlich intolerante Einstellung der Römer gegenüber Fremdkulten hingewiesen. Nur der römische Kultbrauch sollte der verpflichtende Maßstab sein. Hier berief der Konsul sich, wie dies so oft in Rom der Fall war, auf den mos maiorum, in diesem Fall auf frühere staatliche Maßnahmen. Bereits die Väter und Vorväter, so sagt er, hätten fremde Kulte verboten, Opferpriester und Weissager/Propheten aus Forum, Circus und Stadt verwiesen, die Weissagebücher zusammengeholt und verbrennen lassen sowie die Opferritualbücher, sofern sie nicht mit der römischen Tradition übereinstimmten, vernichtet109. Wie daraus zu ersehen ist, waren die frühen kultisch gebundenen Kulturen grundsätzlich intolerant. Dies liegt an der geistigen Geschlossenheit der kollektiv gebundenen archaischen Gesellschaften. Erst als auf einer neuen Bewusstseinsstufe Einzelne auftraten und ihre subjektive Auffassung der Tradition der archaischen Sakralgemeinschaft gegenüberstellten, war die Möglichkeit zu einer Spannung, einem Gegensatz gegeben, aus dem dann neue Gruppierungen und Parteiungen entstehen konnten. Erst seitdem konnte die Forderung nach Freiheit und Toleranz entstehen110. Eine derartige neue geistige Lage ist im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. ebenso zu erkennen wie in der römischen Republik seit dem Ausgang des 3. Jahrhunderts v. Chr. Jeweils traten philosophisch-wissenschaftliche Aufklärer auf, die für sich Freiheit und Toleranz forderten, während die noch ganz im Archaischen verharrende Kultgemeinde ihnen diese versagte. 108 Ammianus Marcellinus, res gestae 17, 4, 13; Wissowa, Religion, 88. 352. 109 Livius, ab urbe condita 39, 16. 110 Speyer, Christentum, Bd. 2, 103–123: ,Toleranz und Intoleranz in der Alten Kirche‘.

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Als seit dem 2. vorchristlichen Jahrhundert griechische Philosophen und Redelehrer nach Rom kamen, reagierte der Senat auf die für ihn revolutionären Gedanken damit, dass er die als beunruhigend, ja für die res publica als gefährlich angesehenen Männer des Geistes aus der Stadt verwies. Im Jahre 161 v.Chr. vertrieb ein Senatsbeschluss griechische Rhetoren und Philosophen aus Rom111. Unter dem Konsul L. Postumius sollen die epikureischen Philosophen Alkios oder Alkaios und Philiskos gezwungen worden sein, Rom zu verlassen. Ob dies Ereignis ins Jahr 173 oder 154 v.Chr. gehört, lässt sich wohl nicht sicher entscheiden112. Auch die bekannte Gesandtschaft griechischer Philosophen aus Athen im Jahre 155 v.Chr. traf in Rom auf Ablehnung. Als Sprecher der altrömisch gesinnten Kreise trat Cato, der Zensor, dafür ein, Karneades, den Vertreter der Akademie, den Stoiker Diogenes und den Peripatetiker Kritolaos möglichst schnell zu verabschieden, damit diese Philosophen sich wieder dem Unterricht der griechischen Jugend zuwenden könnten, die jungen Leute Roms aber wie zuvor auf die Gesetze und die Magistrate hörten113. Nach dem Tode Catos des Zensors ließ sich dieser restriktive Kurs des Senates nicht mehr durchhalten. Griechische Kultur und Sprache gewannen vor allem in den Kreisen der Nobilität immer mehr Einfluss. Als sich in den neunziger Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. die Gegenbewegung der ,Lateinischen Rhetoren‘ durchzusetzen versuchte, schritten die Zensoren Cn. Domitius Ahenobarbus und L. Licinius Crassus sogar gegen diese Schulreformer ein114. Der Gedanke der Freiheit gehörte so sehr zu dem für Roms Sein und Werden bestimmenden mos maiorum, dass dieser Wert auch in den Jahrhunderten der Cäsaren immer wieder proklamiert wurde. Hierbei wurde wohl noch nachdrücklicher als zur Zeit der Republik die Freiheit in der Sicherheit, securitas, und im Frieden, pax Romana, für die römischen Bürger gesehen. Die kaiserliche Herrschaft sollte diesen Frieden garantieren und hat ihn auch bis weit in die Spätantike aufrechterhalten. Deshalb ließen sich einzelne Kaiser als Befreier des Erdkreises und als Wiederhersteller der Freiheit der res publica feiern115. Neben Brutus und Cassius, den Verschwörern und Attentätern Cäsars116, wurde Cato von Utica, der politische und militärische Gegner Cäsars, nach seinem Tod zur Symbolfigur der republikanischen Freiheit im Gegensatz zu Cäsar und Octavianus/Augustus. So haben die Gegner des Prinzipats die 111 Überliefert bei Sueton, de grammaticis et rhetoribus 25; vgl. Gellius, noctes Atticae 15, 11, 1. 112 Athenaios, deipnosophistai 12, 68 (547 a); Philippson, Philiskos, 2383 f hält die Überlieferung für ungewiss; vgl. Menzer, Postumius, 918 f zur Datierung; eher ist 154 v. Chr. anzunehmen. 113 Plutarch, vita Catonis maioris 2, 2; Plinius, naturalis historia 7, 112 f. 114 Sueton, de grammaticis et rhetoribus 25; vgl. Gellius, noctes Atticae 15, 11, 2. 115 Konstantin: Corpus Inscriptionum Latinarum 10, 6932; Magnentius: ebd. 11, 6640 a. 6643. 6647; Julian: ebd. 11, 6669. 116 Cicero, oratio Philippica 1, 6 nennt die Mörder Caesars patriae liberatores.

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Gestalt des jüngeren Cato vor allem im 1. Jahrhundert beschworen. Der Stoiker Thrasea Paetus verfasste eine nicht mehr vorhandene Schrift über ihn. Zentrale Bedeutung besaß Cato von Utica für Lucan und sein Epos vom Bürgerkrieg, und der Dichter Maternus schrieb im ersten Jahrhundert n. Chr. eine Tragödie ,Cato‘, die bei den ,Mächtigen‘ Anstoß erregte117. Die Gegner der principes, von denen nicht wenige zu tyrannischen Herrschern entartet waren, gehörten zunächst der stadtrömischen Nobilität an. Mit der Ausbreitung des römischen Bürgerrechtes kamen die neuen führenden Familien aus den Städten der Provinzen hinzu. Einen Rückhalt fanden viele von ihnen in der stoischen Philosophie. Zu untersuchen ist, wie weit Verteidiger der Freiheit zu Staatsfeinden erklärt und verfolgt und andererseits als Märtyrer der Freiheit gefeiert wurden118. Verschiedene Kaiser haben auch die geistige Freiheit eingeschränkt, wie die Verfolgungen missliebiger Geschichtsschreiber, Redner, Dichter, Literaten, Philosophen, der Astrologen und der Christen sowie die Vernichtungen von Büchern und Bibliotheken dieser Epoche beweisen119. c. Die Freiheit an den Saturnalien

Einmal im Jahr gab es in Verbindung mit der Wintersonnenwende und mit dem Gedanken von Neuanfang in Rom ein Fest, das die sozialen Unterschiede zwischen Herren und Knechten, Herren und Sklaven außer Kraft setzte120. Das Fest der Saturnalien erinnerte an das mythische ,Goldene Zeitalter‘, an die aurea aetas unter der Herrschaft des Gottes Saturn. In dieser ,paradiesischen‘ Urzeit soll die Einheit von Göttern und Menschen die ursprüngliche Wirklichkeit bestimmt haben. Das Fest, an dem die Herren die Sklaven bedienten, das Rede- und Rügefreiheit kannte, sollte den bevorstehenden Jahreswechsel mit dem Segen dieser mythischen Ur- und Anfangszeit erfüllen. Der Gedanke einer gleichsam magischen Vergegenwärtigung dürfte hinter diesem zunächst rituell begangenen Fest von Ende und Neubeginn gestanden sein, das dann im Laufe der Römischen Republik und der Kaiserzeit mehr und mehr zu einem Brauchtumsfest abgesunken ist. Ein in Griechenland vergleichbares Fest waren die Kronia121.

117 118 119 120

Tacitus, dialogus de oratoribus 2, 1; 3, 2; 10, 6; Pecchiura, Catone Uticense, 47–51. Vittinghoff, Staatsfeind; von Ungern-Sternberg, Hostis. Speyer, Büchervernichtung 56–80. Horaz, saturae 2, 7, 4; Macrobius, Saturnalia 1, 7, 26: Saturnalibus tota servis licentia permittitur; Meuli, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Basel 1975, 1040 f.; Distelrath, Saturnalia 114. 121 Baudy, Kronos 866 f.

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5. Antike Zeugnisse aus Mythos, Dichtung und Philosophie Die Frage nach der Freiheit konnte bewusstseinsgeschichtlich erst innerhalb der Hochkulturen entstehen, als der Mensch aus der ursprünglichen unio magica mit der Welt und den Mitmenschen, das heißt aus einer fast gänzlichen Fremdbestimmung durch die dämonisch/göttlichen Mächte, zu einer relativen Selbstbestimmung gelangt war. Diese Entwicklung hat viele Tausende von Jahren gedauert und ist in den verschiedenen Kulturen der antiken Mittelmeerwelt nicht gleichzeitig abgelaufen. Dieser auch in den heutigen Kulturen nicht abgeschlossene und weiterhin offene Prozess verbindet unsere Gegenwart mit dem antiken Griechenland. Wenn die Menschen der europäischen Kultur und der von ihr abhängigen Kulturen bewusstseinsmäßig dort stehen, wo sie heute stehen, so verdanken sie dies den Griechen und deren Bewusstsein von Freiheit. Insofern ist eine Betrachtung dieser geschichtlichen Linien nach der kollektiven und der individuellen Blickrichtung für uns selbst und den gegenwärtigen Stand unseres Selbstverständnisses von hoher Bedeutung. Wir nehmen dann nachdenkend, nachschaffend und nachrekonstruierend an dem Prozess der Selbstwerdung teil, einem Prozess, der über das Heute in die Zukunft weiterschreitet. Fragen wir, wie es zur Entdeckung der Willensfreiheit als eines Begriffs gekommen ist, so müssen wir von dem Grundsatz ausgehen, dass der Weg der Bewusstseinsgeschichte, mithin auch der Weg der menschlichen Reflexion, sich von außen nach innen bewegt. So, wie das Dämonisch/Göttliche für die Griechen zunächst in den sinnenhaften Erscheinungen des Kosmos aufgeleuchtet ist, und erst später im Innern des menschlichen Geistes zur Entstehung der Vorstellung vom deus internus und vom ,inneren Menschen‘ geführt hat, so erfuhr sich der Mensch zunächst weitgehend als von außen bestimmt, als fremdbestimmt122. Der neuplatonische lateinische Schriftsteller Macrobius vom Anfang des 5. Jahrhunderts berichtet in seinen ,Saturnalia‘ von folgenden vier göttlichen Mächten, die nach dem Glauben der Ägypter bei der Geburt eines Menschen zugegen seien: Daimon, Tyche, Eros und Ananke123. Diese Vierheit zeigt das Übergewicht der dämonisch/göttlichen Es-Mächte gegenüber der Ich–Macht des einzelnen an, die sich selber noch nicht vorwagt. Daimon ist der namenlose Dämon oder Gott. Ihm folgen Tyche, der dämonisch/göttlich aufgefasste Zufall, sodann Eros, die Macht, welche die Gegensätze dämonisch/göttlich bindet, und schließlich Ananke, die dämonisch/ göttliche Notwendigkeit oder der Zwang der Weltgesetze, die mit der grie122 Haussleiter, Deus internus; Markschies, Innerer Mensch. 123 Macrobius, Saturnalia 1, 19, 17. Zu der Verbindung von ägyptischem und orphischem Gedankengut Morenz, Ägypten. – Plutarch, placita philosophorum 1, 35–39, 884 E–885 D bietet Zitate älterer Philosophen, die ananke, heimarmene und tyche betreffen; Schreckenberg, Ananke; Simon, Ananke. – Bei J. W. Goethe begegnen in seinen ,Urworten, Orphisch‘ diese vier dämonisch/göttlichen Mächte, vermehrt um die Hoffnung, Elpis.

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chischen Moira und Heimarmene, lateinisch Fatum, eng verwandt ist124. Diese Mächte schienen für das vorgeschichtliche Erfahren Welt und Mensch absolut zu bestimmen. Am Anfang der Bewusstseinsgeschichte stand demnach der Glaube, dass der Mensch nicht frei und nicht seines Glückes Schmied sei, dass vielmehr die dämonisch/göttlichen Es-Mächte ihn positiv oder negativ führen würden. Die für uns ältesten Zeugnisse der Griechen, die Epen Homers, zeigen die Götter und die Menschen in einem Kampf mit den Es-Mächten verwickelt. Von den Göttern und ihrem Verhalten fällt Licht auf die Menschen und ihr Verhalten und umgekehrt. Götter und Menschen zeigen sich bereits auf dem Weg zur Reflexion und zur Entdeckung selbständigen Handelns, wenn auch die ältere Stufe noch deutlich erkennbar ist: Beide unterliegen einer unpersönlichen Macht, der Moira, der Heimarmene, also der Schicksalsmacht. Aus der ursprünglichen Einheit, der unio magica, hat sich allmählich die gegensätzliche Zweiheit von ,Schicksal‘ und ,eigene Wahl oder Bestimmung‘ herauskristallisiert. Die weithin menschlich gedeuteten olympischen Götter und die ihnen ähnlichen sterblichen Menschen erwachten allmählich zu sich selbst. Die Frage nach dem Zusammenhang von Schicksal und Freiheit forderte die spätere Reflexion weiter heraus. Hier gab es verschiedene Varianten. Entweder bestimmt das Schicksal oder der freie Wille den Menschen oder beide wirken miteinander. Bei den heno- und monotheistischen Theologen trat die @q|moia oder Providentia dei, also die göttliche Vorsehung, zu Schicksal und Freiheit hinzu, wobei eine Verschärfung durch die mit der göttlichen Vorsehung verknüpfte Prädestination erfolgen konnte125. In diesen Zusammenhang gehört die Berufung durch das Göttliche, wie die Berufung zum Herrscher, Gesetzgeber, Propheten und Dichter126. Um zur Vorstellung einer persönlich verantworteten Freiheit zu gelangen, bedurfte es bestimmter Vorstellungen und Begriffe, die mit ,Freiheit‘ in Verbindung stehen, wie ,Wille‘, ,Gewissen‘ und ,Pflicht‘, aber auch ,das Gute‘ und ,das Böse‘, genauer die gute oder die böse Handlung, und damit Schuld und Sünde127. Das Einstehen für die gute oder die böse Handlung setzt Erkennen als ein Unterscheiden voraus. Insofern geht dieses unterscheidende Erkennen der Wahlmöglichkeit, also in Freiheit zwischen mindestens zwei Möglichkeiten zu wählen, das ohne Wollen nicht zustande kommen kann, sachlich und zeitlich voraus. Allerdings wurde dies nur auf einer bereits entwickelteren Bewusstseinsstufe möglich. Ursprünglich dürften die Menschen ihre Entscheidungen und Handlungen rein aus dem Affekt heraus vollzogen haben. Insofern galt zunächst auch nur die Erfolgshaftung. Nicht das Motiv, nicht die Absicht, sondern der Erfolg einer Handlung galt in der Frühzeit als wesentlich. 124 125 126 127

Schrçder, Fatum. Sallustios, de diis et mundo 9; Ferst, ,Monotheismus‘, 5–24. Schwer, Beruf, 141 f; ferner Mayer/Kraus, Prädestination. Latte, Schriften, 3–35: ,Schuld und Sünde in der griechischen Religion‘, 3–9.

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Dazu bieten für die Antike Ilias und Odyssee viele Beispiele128. Der Erfolg einer Handlung konnte aber nach einem späteren differenzierten ethischen Empfinden durchaus unsittlich sein. Wie die Forschungen zum Menschenbild der Ilias erwiesen haben, das im Bild der Götter dieses Epos gespiegelt wird, durchdringen sich im Selbstverständnis dieser dichterisch gestalteten Personen, der Götter und Heroen, die beiden Prinzipien Schicksal und Freiheit oder Fremdbestimmung und Selbstbestimmung. Dieser Gegensatz ist bei den Göttern und Menschen der Ilias bereits angelegt und in seiner Ambivalenz erfasst. So steht die Moira bald neben, bald über dem Willen des Zeus, und die Verblendung, Ate, die Tochter des Zeus, kann sich des Willens eines Heroen bemächtigen und ihn in seinem Handeln beeinträchtigen129. Im ersten Buch der Odyssee unterscheidet Zeus bei den Menschen Schicksal und Freiheit, dabei wird das Schicksal als Wille der Götter verstanden. Wer diesem folgt, das heißt, wer dieses freiheitlich wählt, der fällt nicht ins Elend. Dieses verdeutlicht Zeus am unseligen Geschick des Ägistos, das dieser durch seine falsche Wahl sich selbst und nicht den Göttern zuzuschreiben hat130. Am Anfang der griechischen Überlieferung über bewusst vollzogene Entscheidungen steht die mehr mythische als geschichtliche Erzählung vom ,Urteil des Paris‘ auf dem Berg Ida131. Das Paris-Urteil ist Teil eines göttlichen und menschlichen, eines mythischen und geschichtlichen Zusammenspiels, und leitet den Beginn des Trojanischen Krieges ein. Paris gehört zu den Heroen, die eine größere Nähe zu den Göttern als die Menschen besitzen. Als nach dem Plan des Zeus die Göttin Eris bei der Hochzeit von Thetis und Peleus einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „Der Schönsten“ unter die Gäste geworfen hatte, entbrannte ein Streit zwischen Aphrodite, Hera und Athena, die wie Menschen voller Ehrgeiz waren und den Preis der höchsten Schönheit jeweils für sich beanspruchten. Die drei Göttinnen gehen auf Geheiß des Zeus zu Paris, der ihren Streit entscheiden soll. Jede versucht ihn auf ihre persönliche Weise für sich zu gewinnen. Aphrodite verspricht ihm die schönste Frau, Hera die Herrschaft über Asien und Athene das Heldentum. Auf diese Weise ist der Richter Paris in das Urteil, das er sprechen soll, persönlich verwickelt. Sein Urteil betrifft damit die Göttinnen und ihn selbst. Insofern ist die Lage für ihn ähnlich wie für den jungen Herakles, der am Anfang seines Lebensweges sich zwischen zwei Wegen entscheiden muss, oder auch für Jesus in der Erzählung seiner Versuchung zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit. Während bei Jesus von drei Versuchungen zum Bösen/Schlechten die Rede ist, 128 Ebd. 129 Stallmach, Ate, 7–27: ,Der Bewusstseinsraum, in dem Ate begegnet‘; zu Freiheit, Entscheidung und Entschluss der Helden Homers ebd. 12 f; Schmitt, Selbständigkeit. 130 Odyssee 1, 32–43. 131 Kyprien frg. 1–14: Poetarum Epicorum Graecorum Fragmenta 1, 38 f; Anspielung in Ilias 24, 28 f; Reinhardt, Tradition, 16–36: ,Das Parisurteil‘; Kossatz-Deissmann, Paridis iudicium.

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sind es bei Paris drei verschiedene Möglichkeiten zu leben, vergleichbar den von griechischen Philosophen herausgestellten Lebensformen. Die Versprechungen der drei Göttinnen sind hierarchisch gestuft und entsprechen den Wertvorstellungen jener Zeit: sinnliche Schönheit, ein Wert, für den die Griechen viel Empfinden besaßen – man denke an ihre Kosmos-Vorstellung, an ihre Kunst und an den Begriff der Kaloagathia –; Macht und Herrschaft, Werte, für die sie und die Völker des Alten Orients eingenommen waren und schließlich das Ideal des Heros. Die Paris-Geschichte will warnen. Sie gehört zu den ältesten Zeugnissen eines kulturkritischen sittlichen Bewertens und Beurteilens. Die drei Göttinnen stellen Paris vor drei Möglichkeiten. Er muss, um ein Mensch zu werden, wählen, wählen zwischen Lust und Mühsal, zwischen Laster und Tugend. Insofern ist das Paris-Urteil eine Bedingung für die spätere noch eindeutigere Entscheidung des Herakles bei Prodikos. In dieser erscheint der duldende und tätige griechische Herakles als ein Gegenbild des verweichlichten phrygischen Königssohnes. Paris ist der erwählte Richter nicht nur für und über die drei Göttinnen, sondern zugleich auch Richter über sich selbst. Indem er Aphrodite, also der Lust, der Bdom^, den Preis zuerkennt, handelt er gegen seinen und einem jeden Menschen zugeteilten Auftrag, durch Anstrengung und Mühe zum Werden seiner selbst aufzusteigen. Durch seine freie Entscheidung als Richter wird er selbst zum Angeklagten; denn er hat falsch entschieden, falsch gewählt, verführt durch den Schein. Die negativen Folgen seiner Entscheidung werden bald offenkundig. An der Schönheit der ihm von Aphrodite zum Dank zugeteilten Frau des Menelaos, Helena, werden nicht nur er, seine Familie und sein Volk zugrunde gehen, sondern dazu Angehörige vieler Völker. Hierin zeigt sich zugleich das archaische Vorstellungsmodell von der Solidarität in der Schuld, gestaffelt nach dem Rang des Frevlers132. Das Paris-Urteil bildet zunächst ein Sinnzentrum, das die Ereignisse des Trojanischen Krieges deutet, indem es den Zusammenhang von geschichtlichen Ursachen, Anlässen und Wirkungen sichtbar macht. Insofern ist es eines der frühesten Belege für ein entstehendes Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge und weist auf die spätere Geschichtsschreibung voraus. Damit zeugt das Paris-Urteil für den Übergang vom mythischen zum geschichtlichen Zeitalter. In diesem Fall wird der Wechsel vom Frieden zum Krieg offengelegt. Das Schicksal von Völkern und Reichen wird als Folge einer einzigen Entscheidung erkennbar, die ein Angehöriger der gegenüber der griechischen Kultur älteren altorientalischen Kultur vorgenommen hat. Der mit dem ParisUrteil bereits sich ankündigende Kampf zwischen Trojanern und Griechen ist zugleich ein Vorspiel zum Ost-West-Konflikt, der seitdem das Schicksal Europas wesentlich mitgeprägt hat. Wie bereits im Paris-Urteil das Erwachen des geschichtlichen Bewusstseins mit seinem Sinn für bewusste Entscheidung aufleuchtet, so auch in dem 132 Vgl. König Ödipus.

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Gleichnis des Sophisten Prodikos von Herakles am Scheideweg133. Hier muss der Heros zwischen Laster und Tugend, zwischen dem ebenen und dem steilen Weg wählen. Von diesen mythischen Bildern führt der geistige Weg in die Abstraktion, in das Symbolon. Pythagoras und seine Schule haben das, was menschliche Entscheidung ist, im Buchstaben Ypsilon ausgedrückt gefunden, in der littera Pythagorica134. In dieser Tradition verfasste ein unbekannter Neupythagoreer die in der Kunst der Neuzeit so oft bildlich dargestellte ,Tabula Cebetis‘135. Antike Denker und Dichter sprachen von verschiedenen wählbaren Lebensformen und Lebenswegen. So unterschieden Philosophen zwischen einem der Kontemplation gewidmeten theoretischen und einem aktiven praktischen Leben. In diesen beiden Lebensformen stehen sich Philosophie und Politik gegenüber. Neben diesen beiden Lebensformen bevorzugten einzelne Philosophen, wie der Sokratesschüler Aristippos aus Kyrene und Epikur, die dem Genuss, der Bdom^, gewidmete Lebensform. Neben dieser dritten erwogen einzelne Denker eine vierte Lebensform, die gemischte136. Einzelne Dichter sprachen von verschiedenen Lebenswegen. Sprach man von den Lebenswegen, so auch von den verschiedenen Berufen und den verschiedenen Formen, mit der Geschlechtlichkeit umzugehen137. Hierbei ging es jeweils um Entscheidung, Wahl und Freiheit. Schließlich ist auch an die antiken ,Für und Gegen‘-Disputationen, an die disputatio in utramque partem, hinsichtlich einer Wertvorstellung zu denken. Bereits die Abfolge einer derartigen Disputation, nämlich, ob man mit einer Rede ,für‘ oder einer Rede ,gegen‘ etwas begann, war eine Entscheidung.

6. Weitere philosophische Überlegungen zur Willensfreiheit Platon hat sich als erster theoretisch zur Freiheit geäußert. Er übernahm die sokratische These, niemand könne freiwillig Unrecht tun138. Die Freiheit 133 Überliefert bei Xenophon, memorabilia 2, 1, 21–34; grundlegend: Alpers, Hercules, 9–16; Panofsky, Herkules; Harms, Homo viator; Svendsen, Zentralthema; Fredouille, Lebensform, 998; Hansen, Herakles, wo aber die wichtige Untersuchung von Alpers nicht beachtet ist. 134 Brinkmann, Neupythagoreismus, 620–623; Alpers, Hercules, 7 f; Joly, Tableau, 41; Harms, Homo viator, Reg.: ,littera Pythagorica‘. In diesem Überlieferungsstrom dürfte auch die jüdische und die christliche Zwei-Wege-Lehre stehen; Alpers, Hercules, 60–76; Prostmeier, Zweiwegelehre. 135 Joly, Tableau, 36–42; Schleier, Tabula, Reg.: ,Pythagoras‘. 136 Fredouille, Lebensform, 1007–1013: ,Die gemischte Lebensform‘. 137 Poseidippos: Anthologia Graeca 9, 359; Metrodoros: ebd. 9, 360; Epigrammata Bobiensia 25 f; dazu Speyer, Naucellius, 93–112; Johannes Stobaios, ecl. 4, cap. 22, 1–2 (4, 494–523 Hense): Peq· c\lou; cap. 24, 1–2 (4, 600–612 Hense): Peq· pa_dym. 138 Gauss, Handkommentar, Bd. 1, 1, 174.

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könne es nur geben, wenn der Mensch das tue, was das ,Gute an sich‘ von ihm verlange, das mit dem Göttlichen identisch sei139. Verantwortlich sei der Mensch für alle seine Taten, die guten und die schlechten. Zur Freiheit führten nur die guten Taten, soweit ein Mensch in dieser Werdewelt überhaupt frei werden könne. Freiheit sei nie endgültig, sondern müsse immer wieder neu errungen werden, eben aufgrund jeweils sittlichen Handelns. Damit wird ihr Prozesscharakter betont: die immer neu zu erringende Freiheit. Im Hintergrund der menschlichen Freiheit liegt das Zusammenspiel von Denken und Wollen. Im platonischen Mythos am Ende seines ,Staates‘, den der tote und wieder aufgelebte Pamphylier namens ,Er‘ offenbart, wählt die Seele vor ihrer neuen Wiedereinkörperung zwischen den verschiedenen Lebenslosen. Hier steht der berühmte Satz, den die Göttin Lachesis, die Tochter der Ananke, an die einzelne Seele richtet, die im Jenseits ihr Lebenslos für die Wiedereinkörperung zu wählen hat140 : „Die Ursache/Schuld liegt beim Wählenden (der wählenden Seele), der Gott ist schuldlos“141. In gewisser Weise erscheint der Mensch hier als Ursache seiner selbst. Aber auch hier muss wiederum mit einem Ineinander von Außen und Innen, von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung gerechnet werden; denn der Mensch wirkt immer in seiner Freiheit als ein bereits Vorgedachter und Bedingter, so dass von einer paradoxalen Struktur zu sprechen ist: Obwohl bedingt, handelt der Mensch doch frei142. Für die Neuplatoniker besteht die wahre Freiheit des Menschen in der durch Überwindung des Irdischen und damit der Leidenschaften zu gewinnenden Erkenntnis und Schau des Himmlischen und Göttlichen. Ihnen folgt noch der Christ Boethius, bei dem die Philosophie den Menschen aus seinen Fesseln befreit143. Bei dieser Auffassung von der Philosophie ist er Platon verpflichtet, der bereits die Philosophie als die Erlöserin bezeichnet hat144. An der Freiheit des Willens haben die Kyniker, die Herakles als Beispiel für die Freiheit hochgeschätzt haben, und ebenso die Stoiker nicht gezweifelt. Obwohl die Stoiker am lückenlosen Kausalzusammenhang und damit an der Heimarmene festgehalten haben, leugneten sie trotzdem nicht die freie Entscheidung des Einzelnen145. Epikur hat bereits in seinem mechanistischen Bild von den Atomen und deren Kausalität ein Freiheitselement in Gestalt der

139 Gauss, Handkommentar, Bd. 3, 2, 231. 234 f. 140 Meyer, Platon, 192–269: ,Das Problem der Willensfreiheit‘. 141 Platon, de re publica 10, 617e; Schrçder, Fatum, 531–533; Lariv8e, Choice; Collobert/ Destr8e/Gonzalez, Plato; Pietsch, aQt_a. 142 Aristoteles verwendet in der Nikomachischen Ethik den Begriff pqoa_qesir, Wahlfreiheit; Jedan, Aristoteles. 143 S. o. Anm. 30. 144 Platon, Phaedo 82 d–83 b. 145 Pohlenz, Stoa, 101–106 u. Reg.: ,Freiheit‘; Dihle, Vorstellung; Malherbe, Herakles, 560 f; Wildberger, Seneca, 338–341: ,Die Begriffe Wille und Freiheit‘; Forschner, Stoa.

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Abweichung einzelner Atome aus der mechanischen Reihe, eingeführt146. Dabei verwendete er für Freiheit den bereits genannten Ausdruck: t± 1v’ Bl?m, ,dasjenige, das in unserer Macht steht‘147. Nach dieser Deutung der Freiheit erscheint der Mensch als frei und auch als unfrei, da er bis zu einem nicht angebbaren Grad fremdbestimmt und ebenso auch selbstbestimmt ist. Er kann demnach über sich selbst bis zu einem gewissen Grad verfügen und somit an seiner Selbstgestaltung aktiv und spontan mitwirken. Für Epiktet besteht die Glückseligkeit darin, dass sie das Ergebnis aus Freiheit und sittlichem Handeln sei. Damit führt er einen Grundgedanken Platons weiter148. Sophisten, Kyniker und Stoiker sahen in der Möglichkeit des Freitodes einen, wenn nicht den entscheidenden Ausdruck der individuell gegebenen Freiheit149. Allerdings ist nicht jede Selbsttötung als Ausdruck dieser Freiheit zu bewerten. Auch die Bekehrung von einer philosophischen Anschauung zu einer anderen wie auch die Bekehrung von der heidnischen zur christlichen Religion oder umgekehrt der Abfall vom christlichen Glauben sowie die Wahl einer bestimmten christlichen Konfession konnten auf die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen verweisen150.

7. Die Unfreiheit der Seele im Leib nach orphischer, pythagoreischer und platonischer Auffassung Die Vorstellung vom Körper als dem Gefängnis, dem Käfig und dem Grab der Seele, wie sie Orphiker, Pythagoreer und Platon und seine Schule ausgearbeitet haben, bietet ein weiteres Kapitel im griechischen Denken über die Freiheit des Menschen151. Nach einer ursprünglichen mythischen Vorstellung besitzt die Seele Flügel152. Diese symbolisieren ihre himmlische Herkunft und weisen auf ihre Verwandtschaft mit den geflügelt vorgestellten Gottheiten 146 147 148 149

S. o., Anm. 4. S. o. S. 52. Schmitz, Freiheitsgedanke; Spanneut, Epiktet, 606–611. Hirzel, Selbstmord, 144. 194 f; Helm, Kyniker, 13 f; Spanneut, Epiktet, 608; Gris8, Le suicide, 167–223 zur ethischen Bewertung; Schiemann, Suizid. 150 Nock, Bekehrung. – Einer der Grundbegriffe der neuplatonischen Philosophie ist der Begriff der Umkehr, 1pistqov^, der gefallenen Seele. Nur eine freie Seele dürfte diese Umkehr vollziehen können, wobei die Erinnerung der Seele an ihre wahre Herkunft und Heimat wesentlich ist; Schmidt-Kohl, Seelenlehre, 18–20. 151 Courcelle, Gefängnis; Ders., Käfig; Ders., Grab 455 f. 466 zur pythagoreischen Herkunft des Bildes; Ders., Nagel; de Vogel, Rethinking, 233–248 152 Weicker, Seelenvogel; Courcelle, Flügel, 29 f, wo noch auf Boethius, de consolatione Philosophiae 4, 1, 9; metr. 1, 1–18 (Corpus Christianorum, Series Latina 94, 65 f) hinzuweisen ist.

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des Himmels hin153. Die geflügelte Seele ist demnach die ursprüngliche und freie Seele. Diese Freiheit verlor sie aber weitgehend infolge eines Urfrevels gegen die Götter. Hier besteht eine Entsprechung zur jüdischen und christlichen Vorstellung von der Erbsünde154. Zur Strafe wurde die Seele in den Körper wie in ein Gefängnis, wie in einen Kerker oder einen Käfig oder in ein Grab eingeschlossen. Der in diesen Bildern genannte Gegensatz von Seele und Körper konkretisiert den Gegensatz von Geist und Materie und verweist mittelbar auf den Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit hin. Wenn die Seele gefangen ist und als Sklavin dem Körper dient, bedarf sie Mittel, wieder freizukommen. Die orphische, die pythagoreische und die platonische Lehre und die mit ihnen verbundene Lebensform wollten Wege weisen, auf denen die Seele wieder ihre ursprüngliche Freiheit zurückgewinnen könne. Die Freiheitsvorstellung besitzt in diesem religiös-philosophischen Denken eine derart zentrale Bedeutung, dass der Mythos vom Fall der Seelen von ihrem Freiheitsverlust und andererseits ihrem Streben, aus Gefängnis und Verbannung in die Freiheit zurückzukehren, weit über die genannten philosophischen Schulen hinaus Einfluss gewonnen hat. Spuren finden sich im Stoizismus ebenso wie im Gnostizismus und in der christlichen Theologie bis ins Mittelalter155. So spricht Seneca von der Freiheit der Seele, indem er fragt: Welchen Gebrauch macht die Seele von ihrer Freiheit, sobald sie einmal dem Käfig des Diesseits entronnen ist156. Im neuplatonischen Verständnis befreit die Philosophie den Menschen aus seinen Fesseln und führt ihn aus dem Reich der Körper und des Vielen wieder in seine ursprüngliche Göttlichkeit zurück157. Auf diesem Hintergrund lässt sich die johanneische Christologie in folgender Weise verstehen: Wenn der präexistente Logos/Christus Fleisch angenommen hat, also von der göttlichen in die irdische Welt abgestiegen ist, so folgt diesem Abstieg hier auf Erden eine Zeit der Kämpfe mit den Dämonen und eine Zeit der Leiden. Danach kann erst Auferstehung und Himmelfahrt erfolgen, die in die Freiheit der Göttlichkeit führen. Dieser Abstieg und dieser Aufstieg gelten gewissermaßen für jede Seele und nicht nur im Sinne der oben dargelegten altgriechischen Lehre158. Auch jede Menschenseele kann nur zur endgültigen Freiheit durch Leiden im Leibe gelangen. Wenn nach orphischer Lehre die Seele ins Jenseits gelangt, muss sie sich zwischen zwei Quellen entscheiden, dem Quell der Erinnerung, der Mnemosyne, zur Rechten und dem Quell des Vergessens, der Lethe, zur Linken. Ihre Entscheidung ist abhängig von ihrem Vorleben auf der Erde, also von ihren

153 154 155 156 157

Speyer, Mischwesen, 875. Philolaos: Vorsokratiker 44 B 14 (Diels/Kranz); Speyer, Traum, Reg.: ,Erbsünde‘. S. die o. Anm. 151 genannten Artikel von Courcelle. Seneca, epistulae morales 88, 34. Schmidt-Kohl, Seelenlehre, 43–45; Gruber, Kommentar zu 1 metr. 2, 25 f und zu 4 metr. 2, 5 f. 158 Eckle, Geist, 25–40: ,Abstieg und Aufstieg der menschlichen Seele‘.

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dortigen Entscheidungen zum Guten oder zum Bösen und Schlechten159. Einübung in die Freiheit zum Guten heißt hier der Weg des Menschen zu seiner Miterlösung, die er in diesem seinem Leben in Raum und Zeit zu leisten hat. Hier öffnet sich der Blick zu den ,Letzten Dingen‘, dem bewusst erlebten Tod als dem Augenblick, griechisch jaiq|r, der richtigen Wahl160.

159 Überliefert auf verschiedenen Goldlamellen: Orphicorum frg. 474–484 a (Poetarum Epicorum Graecorum Fragmenta 2,29–43 Bernab8); Alpers, Hercules, 4–6; vgl. Hesiod, opera 287–292. 160 Boros, Mysterium.

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Karl Heinz Witte

Freiheit – Beziehung – Bindung Eine DeKONstruktion aus dem Geiste Meister Eckharts

Freiheit – Beziehung – Bindung, dieser Dreiklang wird in psychotherapeutischen Diskursen häufig angeschlagen. Die Begriffe mögen für die Verständigung in der Praxis nützlich sein; aber mir scheint, dass sie philosophisch und phänomenologisch einer Aufhellung bedürfen. Dazu kann nach meinem Verständnis Meister Eckhart einen hilfreichen, wenn auch nicht leicht integrierbaren Beitrag leisten. Seine Sicht auf „Beziehung“ rückt unser Alltagsverständnis entscheidend zurecht, und darin trifft er sich überraschend mit mancher Erfahrung aus der Praxis der analytischen Psychotherapie. Darum steht in der Mitte meines Titels das Wort „DeKONstruktion“ als Brücke zwischen den Leitbegriffen und Meister Eckhart. „Dekonstruktion“ ist nun ohne Zweifel etwas Modernes oder Postmodernes, nämlich das Markenzeichen der Philosophie von Jacques Derrida. Aber die groß geschriebenen Buchstaben KON signalisieren, dass ich das Wort zwar im Anklang an Derrida verwende; aber mich nicht dem Anspruch unterstelle, genau und sachgerecht der Intention Derridas nachzugehen. „Destruktion“ im Sinne Heideggers, von dem Derrida ausgeht, ist der Versuch „der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen“, insbesondere im Hinblick auf die Metaphysik1. Das groß geschriebene KON deutet aber an, dass es mir nicht vor allem um den Abbau von impliziten Meinungen, sondern mehr um einen Aufbau geht. Mein Ziel ist es, Phänomene bloßzulegen und ihren Wirkzusammenhang zu beschreiben, jedoch ohne zu genauen Definitionen vorzudringen. Wir brauchen keine sichere Erkenntnis davon, was zum Beispiel Angst ist, sondern wir verstehen uns hinreichend gut, wenn wir Erlebnis- und Erscheinungsweisen, Beispiele, Anlässe und Folgen der Angst andeuten. Ja, auch wenn ich unpassende Wörter benütze, kann der Gesprächspartner – manchmal sogar besser als ich – verstehen, was ich meine. Er sagt dann: Meinst du vielleicht (dies oder das)? So funktioniert Alltagssprache, aber auch psychotherapeutischer Dialog, ja sogar die Verständigung über lebenswichtige Entscheidungen wird meistens in unpräzise Sprache gefasst. Der springende Punkt ist dabei, dass wir auch in unpräziser Sprache, aber in hinreichender Verständigung unsere Sicht auf das

1 Heidegger, Martin, Sein und Zeit (1927), in: F.W. von Hermann (Hg.), Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt a.M., 1977, 30 (Orig. 22).

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Karl Heinz Witte

Phänomen reinigen, klären, vertiefen, Missverständnisse aufheben, Vorurteile abbauen.

1. Meister Eckhart mit dekonstruierenden Augen betrachtet Aber bevor es um die Dekonstruktion der Konzepte Freiheit – Beziehung – Bindung geht, muss ins Auge gefasst werden, dass auch Meister Eckhart selbst den Angriffen der Dekonstruktivisten nicht entkommt. Derrida selbst hat zu Eckhart Stellung genommen, z. B. in seinen Reflexionen über die Negative Theologie bei Dionysius Areopagita2 und im „Cherubinischen Wandersmann“ des Angelus Silesius3 ; aber er hat sich nicht ausführlich mit Eckhart auseinandergesetzt. Um kurz zu zeigen, was ein dekonstruierender Blick auf Meister Eckhart zu sehen meint, wähle ich den Aufsatz „Die Tränen und Gebete einer diabolischen Hermeneutik. Derrida und Meister Eckhart“ des amerikanischen Philosophen John D. Caputo4, der sowohl Eckhart wie Derrida außergewöhnlich gut kennt. Vor allem aber soll meine Stellungnahme zu diesem Aufsatz begründen, warum ich trotz der Destruktion der metaphysischen Positionen Eckharts, die bei Derrida und Caputo aufscheint, den philosophischen Kern der Lehre Eckharts als Schlüssel für eine mögliche Deutung von Freiheit – Beziehung – Bindung benütze. Dabei bleibt Eckharts metaphysische Beziehungs-Metaphysik in sich unangetastet; aber sie dient dem phänomenologisch-psychologischen Verständnis der Beziehung in naturalibus, wie es auch Eckharts Intention war.5 Eckharts These ist, dass das Prinzip der metaphysischen Beziehungen auch das Prinzip und die Erscheinungsweise der interpersonalen Beziehungen ist. Ich möchte zeigen, dass das auch heute noch in unserem alltäglichen Beziehungsverständnis gelten kann. Caputo meint, dass bei Eckhart wie bei Derrida „Tränen und Gebete“ der adäquate und unaufhebbare Ausdruck der mystischen Erfahrung seien, gerade weil Mystiker und Dekonstruktivisten „in dem Geheimnis sind“, jedoch „jeglichen geheimen Zugangs beraubt“6. Sie seien „von einem tiefen Begehren 2 Derrida, Jacques, Wie nicht sprechen. Verneinungen, Edition Passagen 29, Wien 1989. 3 Derrida, Jacques, Außer dem Namen. Post-Scriptum, in: ders., Über den Namen. Drei Essays, aus dem Franz. v. H.-D. Gondek/M. Sedlaczek, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2000, 63–121. 4 Caputo, John D., Die Tränen und Gebete einer diabolischen Hermeneutik. Derrida und Meister Eckhart, übers. von Jochen Schmidt, in: S. Klinger (Hg.), Dem Geheimnis auf der Spur. Kulturhermeneutische und theologische Konzeptualisierungen des Mystischen in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 2007, 125–146; Original: Caputo John D., The prayers and tears of devilish hermeneutics. Derrida and Meister Eckhart, in: ders., More radical hermeneutics. On not knowing who we are, Bloomington, Ind. 2000, 249–264. 5 Siehe dazu unten Anm. 25. 6 Caputo, Tränen und Gebete, 126.

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nach etwas überschreitend tout autre“ geprägt, und doch sei es eigentlich „ein Gebet für etwas Unvorstellbares, Unbegreifliches, Unmögliches“ (127). Das Beharren auf der Unerfüllbarkeit des Begehrens ist die Prärogative der Dekonstruktion. Darum kann Caputo das Denken und den Glauben Eckharts auch nicht bestehen lassen und hermeneutisch befragen, sondern er muss Eckharts Botschaft in einer „radikaleren Hermeneutik“, „dekonstruktivistisch“ oder „diabolisch“, wie er es nennt, „interpretieren“ (132). Gegen alle positiven, propositionalen Aussagen Eckharts, gegen dessen Verkündigung der Einheit von Gottesgrund und Seelengrund, gegen den „Punkt der schweigenden Vereinigung außerhalb und oberhalb von Sprache“ (132) setzt Caputo die radikale Sprachkritik Eckharts. Er meint, dass Eckhart „in seiner schriftstellerischen Praxis nicht das [tat], was er behauptete getan zu haben“ (ebd.). Er hebt hervor, dass Eckhart stets die Indeterminiertheit der Namen aufgezeigt hat, dass er die Reduktion Gottes auf das Geschöpfliche erkannt habe, wenn wir Gott den Schöpfer nennen, und dass wir Gott dem „Willen“ ausliefern, wenn wir ihn „gut“ nennen. Meister Eckhart warnte seine Theologenkollegen ständig vor der Kontingenz der Signifikanten, derer wir uns bedienen. Diese Warnung erreichte einen Höhepunkt, da Meister Eckhart, konfrontiert mit der Schwierigkeit, etwas von Gott zu sagen, eines Tages offen vor einer zweifellos schockierten Gemeinde predigte: „Her umbe si bite ich got, daz er mich ledic mache gotes“. Kein Wunder, dass die Apparatschiks der Inquisition sich auf ihn eingeschossen haben. (134)

Caputo liest bei Eckhart wohl, dass dieses „Gebet“ nicht nur den Sinn hat, Gott vor der missbräuchlichen Konkretisierung zu bewahren. Er weiß, dass Eckhart zwar den Gott als Funktionär in der Menschenwelt ausräumen will, dass Eckhart dadurch aber zugleich den Weg öffnen will zu dem Gott, „der ist, was er ist“7, mit anderen Worten: Eckhart will den Durchbruch zur „Gottheit“ andeuten. Aber Caputo als Dekonstruktivist fordert die Relativierung jedes Sinngehalts und die Reduktion jedes Aussagesinns auf den Kontext. Damit setzt sich der Interpret über die Intention des Textes und des Autors hinweg. Er erhebt den Anspruch, die Aussagen methodisch auf ihre „Problematik“ zu befragen (133). Dabei werden der Interpretation bestimmte Vorannahmen zugrunde gelegt, die vorwiegend aus dem methodischen Ansatz Derridas entspringen: „Diff8rance heftet einen Koeffizienten der Kontingenz an unsere die Existenz betreffenden Behauptungen“ (131, Hervorhebung von KHW). Es „sollen die Schwierigkeiten gezeigt werden, die wir haben, wenn wir versuchen, eine solche Behauptung [der Existenz] endgültig ein7 Eckhart, Predigten (Pr.), hg. v. J. Quint/G. Steer, Die deutschen Werke (DW), Bd. 1–4, Stuttgart 1958, Predigt 52: Beati pauperes spiritu: 9 die crÞat0ren w.ren, di enwas got niht got, mÞr: er was, daz er was (Pr. 52; DW II, 492,8 f). „Bevor es die Geschöpfe gab, war Gott nicht Gott, sondern er war, was/dass er war.“ Das daz in: er was, daz er was, lässt sich mit „was“ oder mit „dass“ übersetzen. Siehe dazu Witte, Karl Heinz, Meister Eckhart. Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung, Freiburg/München 2013, 134–136.

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zupflocken“ (132). „Die Interdependenz und differentielle Struktur der Termini“ (132) erlaube keine allgemein gültigen Aussagen, das heißt, „dass nichts außerhalb des Textes existiert“ (133). Diese Vorannahmen werden auch auf Meister Eckhart angewandt, teilweise mit erstaunlichen Ergebnissen: Wenn wir Meister Eckhart mit diesen Überlegungen konfrontieren würden, dann würde sich zweifellos herausstellen, dass für sein Denken letzten Endes weder die Metaphysik der Präsenz noch die Henologie von besonderer Bedeutung waren. Alles, was er zu sagen hatte, drehte sich darum, dessen gewahr zu werden, wie die Signifikanten an dem Versuch scheitern, Gott in ihrem Netz zu fangen. Ich vertrete die Auffassung, dass es zu den innersten Tendenzen seines Denkens gehört, auch diese Gottheit loszulassen und mit ihr die Henologie, den Seelengrund und den Gottesgrund, denn auch diese sind nominale Effekte. Seine Lehren zielen darauf, uns von allen Götzen zu befreien, von jedem Gott, von jedem Signifikanten, der zu wichtig wird und eine autoritative Stellung beansprucht, selbst wenn es die Gottheit selbst ist. Ich bitte Gott, dass er mich der Gottheit ledig mache, das heißt, dass er mich von der Bindung an einen jeglichen Signifikanten befreie. (137)

2. DeKONstruktion der Dekonstruktion So weit, so gut. Letzten Endes ist Eckharts Sprachkritik so radikal, wie Caputo es hier andeutet. Und doch ist das Nicht-benennen-Können nicht das letzte Wort. Für Eckhart ist das Schweigen nicht ein Verstummen, wo die „Sprache des Begehrens“ scheitert, wie Caputo es sieht. Nach Eckhart wird vielmehr im Schweigen das Wort, das heißt der Sohn Gottes geboren.8 Wiederum verkennt Caputo nicht diesen positiven Charakter der Sprache Eckharts: „Der Name Gottes ist der Name des ,Ja, Ja‘, nicht ein bestimmtes ,Ja‘, sondern das Ur-,Ja‘, das mit jedem Namen einhergeht. Lausche also auf dieses ,Ja‘, um zu hören, was Meister Eckhart sagt“ (138). Aber ist dieses Ja der mystisch-philosophischen Rede nur das Ja des Versprechens, das in jeder Sprache zuerst gesagt ist, das Ja der Sehnsucht, das kommen soll? (143 f) Das könnte auch Derrida so sagen (vgl. Caputo ebd.). Caputo sieht, dass bei Eckhart etwas anderes auf dem Spiel steht, wenngleich er das nur andeutet: Der Unterschied zwischen Derrida und Meister Eckhart, der der Sache ein ganz anderes Gesicht gibt, besteht darin, dass Derrida […] dieses undekonstruierbare Etwas als etwas ansieht, das erst noch kommen muss; das namenlose tout autre gilt ihm als einer unabschließbaren Übersetzbarkeit ausgesetzt, während in Meister 8 Eckhart, Pr. 101; DW IV,1, 343,1: enmitten in dem sw%genne wart mir %ngesprochen ein verborgen wort (nach Weish. 18,14 f).

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Eckharts christlichem Neuplatonismus kein Zweifel darüber besteht, auf was er sich bezieht. […] Meister Eckharts Unwissenheit war eine docta ignorantia (145).

Aber was diese gelehrte Unwissenheit lehrt, wird nicht ausgeführt. Wenn für Derrida das „undekonstruierbare Etwas“ ein Ereignis ist, „das erst noch kommen muss“, so ist dieses für Meister Eckhart immer schon da. Damit ist das KON im Titel dieses Vortrags angesprochen. Dieses Zeichen soll nicht nur das Kon- der Konstruktion anzeigen, sondern zugleich auf das Con- des Zusammengehörens hindeuten, das con- der concordia, des Zusammenschlags der Herzen, das in dem Diktum Eckharts anklingt: „Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund“9. Warum muss auch dieses Grundanliegen Eckharts der Dekonstruktion anheimfallen?10 Weil es rational nicht sicher begründbar ist und weil es von Vokabeln Gebrauch macht, die nur durch ihren Zusammenhang im metaphysischen System einen Sinn zu haben scheinen. Damit ist nochmals die erkenntnistheoretische Grundstellung der Dekonstruktion Derridas und Caputos benannt. Sie sind dem neuzeitlichen Rationalismus verpflichtet, welcher – in der Nachfolge Ren8 Descartes’ – Gewissheit (certitudo) nur in der clara et distincta perceptio11 gelten lässt. Welchen Kriterien diese gewisse Erkenntnis auch unterworfen wird, immer handelt es sich um das kritische, gesicherte Urteil des Verstandes. Insofern bewegt sich dieses Denken unter den Herrschaftsansprüchen der Moderne; postmodern ist es nur, insofern auch die optimistische Vernunftgläubigkeit der neuzeitlich-rationalen Philosophie, es gebe eine gesicherte Erkenntnis, bestritten wird. Man spricht dann vom „Ende der großen Erzählungen“.12 An die Dekonstruktion wäre demnach die Frage zu stellen, ob es Gewissheiten gibt, die aus einer anderen Quelle als der rationalen Tatsachenerfassung entspringen und die darum den Kriterien der Verstandesregeln nicht unterworfen sind. Berühmt sind die Sätze Ludwig Wittgensteins am Ende des „Tractatus“ über die Inkompatibilität der „wissenschaftlichen Fragen“ und der „Lebensprobleme“: 6.52 Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr ; und eben dies ist die Antwort. 6.521 Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. 9 Eckhart, Pr. 5b; DW I, 90,8. Die Übersetzungen der Texte Eckharts stammen durchwegs vom Verfasser. 10 Caputo, Tränen und Gebete, 128. 11 Descartes, Ren8, Meditationes de prima philosophia. Lateinisch-deutsch, vollst. neu übers., mit einer Einleitung, hg. v. C. Wohlers, Philosophische Bibliothek 597, Hamburg 2008, Med. III u. IV. 12 Lyotard, Jean-FranÅois, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. v. P. Engelmann, Wien 7 2012.

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(Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?) 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.13

Für unsere Fragestellung ergibt sich das Problem, wie sich das Mystische zeigt. Wittgenstein hat das Unaussprechliche in einem sehr strikten Sinn als das mit eindeutiger wissenschaftlicher Tatsachensprache nicht Sagbare gefasst, das Mystische aber in einem sehr weiten Sinne verstanden. Er rechnet zum Beispiel das Ethische dazu, das er durch Beispielsätze umschreibt: Anstelle der Formulierung „Die Ethik ist die allgemeine Untersuchung dessen, was gut ist“ hätte ich sagen können, die Ethik sei die Untersuchung dessen, was Wert hat, bzw. dessen, was wirklich wichtig ist. Oder ich hätte sagen können, in der Ethik gehe es darum, den Sinn des Lebens zu erkunden, zu untersuchen, was das Leben lebenswert macht, oder zu erforschen, welches die rechte Art zu leben ist. Ich nehme an, wenn Sie sich alle diese Formulierungen anschauen, werden Sie eine ungefähre Vorstellung davon gewinnen, womit sich die Ethik beschäftigt.14

Wenn Wittgenstein den „Tractatus“ mit den geläufigen Worten beschließt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“15, so weiß er in seinen späteren Schriften sehr wohl, dass wir allenthalben über das Unsagbare reden, auch wenn wir in unseren „Sprachspielen“ keinen eindeutigen, logisch-philosophischen Sinn erreichen. Wir können zwar das Ethisch-Mystische aussprechen, wir können (mit Wittgenstein) sagen, was uns wirklich wichtig ist, was unser Leben lebenswert macht. Wir könnten – mit Bezug auf unsere Themenstellung – ergänzen: Wir können sagen, inwiefern wir uns frei fühlen, welche Beziehung uns unabdingbar erscheint und welches „die rechte Art [diese Beziehung] zu leben“ ist, und welche Aufgabe, Überzeugung, Person uns so unverzichtbar erscheint, dass wir uns daran binden oder dass wir uns gebunden fühlen. Wir können im Alltag über all dies sprechen; aber wir können keine unanfechtbare rationale Begründung dafür finden, warum es so ist, wie wir es empfinden und sagen. Freiheit – Beziehung – Bindung mögen Konzepte der Ethik, Soziologie und Psychologie sein. Als solche sind sie je verschiedene, variable, kontextabhängige „Konstrukte“ und unterliegen der Dekonstruktion. Das heißt, Regeln, Normen, Tatsachenbehauptungen aus diesem Feld können keine allge13 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, hg. v. J. Schulte 1984, 7–85, hier 85 (Hervorhebung von KHW). 14 Wittgenstein, Ludwig, Vortrag über Ethik, in: ders, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, aus dem Engl., hg. v. J. Schulte, Frankfurt a.M. 52007, 9–19, hier 10f; siehe auch Wittgenstein, Ludwig, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, hg. v. C. Barrett, Düsseldorf 1994. 15 Wittgenstein, Tractatus, 85 (Nr. 7).

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meine, objektive, wissenschaftliche Gewissheit für sich beanspruchen. Das heißt aber nicht, dass hier Beliebigkeit oder Willkür herrschte. Vielmehr können diese ethischen Phänomene unseres alltäglichen Lebens in unserem Erleben und Leben als unabdingbar, verpflichtend, schicksalhaft, lebenswichtig erfahren werden, mit anderen Worten „als absolut gültig“. Dies sind subjektive Gewissheiten; sie können zum Beispiel einem neurotischen Irrtum unterliegen; aber in ihrem Anspruch sind sie nicht bloß subjektive Geschmacksurteile oder nur individuelle Gewissheiten. Zwar müssen diese Erfahrungsgewissheiten subjektiv frei gebildet sein, und doch erheben sie Anspruch auf Verbindlichkeit, das heißt auf intersubjektive Zustimmung. Sie beanspruchen, mit Kant gesprochen: „Gemeingültigkeit“ oder „subjektive Allgemeinheit“16 als Urteile eines „Gemeinsinns“17. Mag auch die Begründbarkeit des „Gemeinsinns“ umstritten sein, so ist doch die Wirksamkeit solcher subjektiven und intersubjektiven Verbindlichkeiten in unserem alltäglichen Existieren nicht zu bezweifeln. Sie ist sogar die Voraussetzung eines vertrauensvollen Zusammenlebens. Nur so ist es zu verstehen, dass wir uns zu einer karitativen Aufgabe verpflichten, dass wir in einer Beziehung treu sind oder uns in Würde aus einer Beziehung lösen, dass manche Menschen für ihre Überzeugung ins Gefängnis gehen und so weiter.

3. DeKONstruktion der psychologischen Konzepte Freiheit – Beziehung – Bindung aus dem Denken Meister Eckharts Um zu verstehen, was der Dreiklang Freiheit – Beziehung – Bindung im Denken Meister Eckharts bedeutet, gehen wir vom Begriff der Beziehung aus, in Eckharts Sprache von der relatio. Allgemein verstehen wir unter Beziehung ein Verhältnis zweier Instanzen zueinander, seien es Objekte, Begriffe und Ideen – und vor allem auch Menschen. Dabei steht meistens der Einfluss des einen auf den anderen im Vordergrund oder auch die Wechselseitigkeit der Beziehungseinflüsse. Im Folgenden bleiben die Beziehungskonzepte der verschiedenen Wissenschaften (z. B. Mathematik, Soziologie, Ökonomie, Politik) unberücksichtigt. Es geht allein um den psychologischen Umgang mit Beziehungen, wie er in Begriffen wie „Paarbeziehung, Beziehungskonflikt, Eltern-Kind-Beziehung, Beziehungsratgeber“ usw. zutage tritt. Im zwischenmenschlichen Bereich werden Beziehungen qualifiziert und bewertet. Man spricht von intensiven, fruchtbaren, lebendigen, harmonischen Beziehungen, aber auch von gestörten, toten, leeren, sado-masochistischen Beziehungen usw. In diesem Sinne gibt es 16 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (1790), in: ders., Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1971, 235–620, hier 292f (§ 8, BA 23 f). 17 Ebd. 322–324 (§ 22, B 66–68, A 65–67).

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eine Beziehungsgestaltung, eine Arbeit an der Beziehung, die Diagnose der Beziehungsunfähigkeit und die Krönung der Beziehungskunst: die Ich-DuBeziehung, nach welcher „der Mensch am Du zum Ich“18 wird. In all diesen Konnotationen wird Beziehung vornehmlich von der Aktivität, dem Verhalten und Befinden der Subjekte her verstanden, im weiteren Sinne also als wechselseitiges (kausales) Wirkgefüge. Gerade dieses Vorverständnis der Konzepte Freiheit – Beziehung – Bindung ist von Eckhart her infrage zu stellen. In der theologischen Tradition ist relatio, also „Beziehung“, der feste Terminus für die Konstitution der göttlichen Personen in der Dreifaltigkeit. Eckharts Denken kreist hauptsächlich um die Beziehung des Vaters zum Sohn und des Sohnes zum Vater in der Gottheit. Aber diese Beziehungslehre wäre nicht aufregend, wenn Eckhart diese Vater-Sohn-Beziehung nicht auch in das Leben des Menschen verlegte. Die trinitarische Beziehung läuft sozusagen durch die Seele des Menschen hindurch. Diese ist der Ort der Geburt des Sohnes. Diese Gottesgeburt in der Seele heißt auch die Geburt des Wortes. So weit in aller Kürze die theologische und metaphysische Grundposition Meister Eckharts. Nun soll dieser Essay nicht von mystischer oder allgemein spiritueller Gotteserfahrung handeln, für die das Thema der Geburt des Sohnes oder des Wortes natürlich zentral ist. Vielmehr sollen die Folgerungen aus Meister Eckharts Beziehungslehre für unser alltägliches Verständnis von Freiheit – Beziehung – Bindung erläutert werden. Darum will ich an dieser Schaltstelle des Vortrags das Folgende mit zwei Thesen überschreiben: Eckharts Beziehungslehre der Geburt des Wortes betrifft nicht nur den dogmatischen und praktischen Bereich des christlich-theologischen Lebens im Glauben, sondern auch das natürliche und schöpferische Leben des Alltags ohne einen notwendigen Rekurs auf Glaubensannahmen. Aus Eckharts spiritueller Beziehungslehre lassen sich phänomenologisch-psychologische Eckpunkte für das Bedenken und Erfahren von Freiheit, Beziehung und Bindung gewinnen.

Außerhalb des metaphysisch-theologischen Rahmens ist die „Geburt des Wortes“ das tatsächliche Vernehmen einer inneren „Stimme“, einer „Idee“ oder „Eingebung“, um es mit unzulänglichen Namen zu benennen: Swaz eigenl%che gewortet mac werden, daz muoz von innen her 0z komen und sich bewegen von innerer forme und niht von 0zen her %n komen, mÞr : von inwendic sol ez her 0z komen. Daz lebet eigenl%che in dem innersten der sÞle. D. sint dir alliu dinc gegenwertic und inner lebende und suochende und sint an dem besten und sint an dem hœhsten. War umbe bevindest d0 des niht? D. enbist d0 d. heime niht. – Was in eigentlicher Weise gewortet sein soll, das muss von innen heraus kommen und sich aus einer inneren Form bewegen und nicht von außen herein kommen; sondern es 18 Buber, Martin, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 41979, 32.

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soll vom Inneren herauskommen. Dieses [innere Wort] lebt in eigentlicher Weise im Innersten der Seele. Dort ist alles gegenwärtig und innerlich lebend und auf der Suche und es ist am besten und am höchsten. Warum empfindest du das nicht? Weil du dort nicht zu Hause bist.19

3.1 Das Gesetz des sunder warumbe Das ist Eckharts Botschaft an unsere Zeit. Wir sind in den inneren Bewegungen nicht daheim. Sie sind uns fremd und unvertraut. Das hätten wir von ihm zu lernen, wenn wir hören könnten, was er sagt. Eckhart unterscheidet zwei Seinsbereiche, das reale, außerseelische Seiende (ens reale extra animam) und das innerseelische, kognitive Seiende (ens in anima sive ens cognitivum): Sciendum ergo quod ens secundum totum sui ambitum prima sui divisione dividitur in ens reale extra animam, divisum in decem praedicamenta, et in ens in anima sive in ens cognitivum. – Man muss also wissen, dass das Seiende seinem ganzen Umfang nach in einer ersten Einteilung unterteilt wird in das reale Seiende außerhalb der Seele, das in die zehn Kategorien eingeteilt wird, und in das Seiende in der Seele oder das geistige Seiende.20

Diese Einteilung zielt in ihrem ersten Glied auf das, was wir modern „Natur“ oder „Welt“ nennen, das ist alles, was mit naturwissenschaftlich oder sozialwissenschaftlich exakter Methode erklärt werden kann. Unterschieden davon ist, was Eckhart „innerseelisch“ und „kognitiv“ nennt. Mit dem notwendigen historischen Vorbehalt können wir das als „subjektiv“ und „bewusstseinsimmanent“ übersetzen. Für beide Bereiche ist laut Eckhart eine je verschiedene Zugangsweise maßgebend, da sie ontologisch unterschiedlich konstituiert sind: Aliter autem loquendum est omnino de rerum rationibus et cognitione ipsarum, aliter de rebus extra in natura, sicut etiam aliter loquendum est de substantia et aliter de accidente. Quod non considerantes frequenter incidunt in errorem. – Ganz anders muss man aber reden vom Seinssinn der Dinge (ratio rerum) und deren Bewusst-Sein (cognitio) und anders von den Dingen außen in der Natur, wie man auch anders reden muss von der Substanz und anders vom Akzidens. Die das nicht beachten, fallen häufig in Irrtum.21

Diese leicht modernisierende Übersetzung soll darauf vorbereiten, dass die folgenden Erörterungen versuchen wollen, Eckharts metaphysische Bestimmungen phänomenologisch zu verstehen. Das Reich des Naturwissenschaft19 Eckhart, Pr. 4; DW I, 66,3–8. 20 Eckhart, In Ioh. n. 514; LW III, 445,4–6. 21 Ebd. n. 514; LW III, 445,3–14.

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lers (physicus22) ist die Kausalität, das heißt für Eckhart die Wirk- und die Zielursache. Im Beziehungsgefüge der Bewusstseinsphänomene, das heißt im Erleben, sind aber nach Eckhart diese aufs Außen bezogenen Kausalitätsformen ausgeschlossen. Subjektive Phänomene gehorchen – im Erleben! – keiner Kausalität, auch wenn sie natürlich von Psychologen und Neurowissenschaftlern objektivierend unter Kausalitätsgesichtspunkten betrachtet werden können. Im Ursprungsgeschehen (in principio) sind Anfang und Ende, Ursprung und Ziel dasselbe. (Finis enim universaliter est id ipsum quod principium.) Was in dieser Weise ursprünglich ist, „hat kein Warum, sondern ist selbst das Warum von Allem und für Alle“. (Non habet quare, sed ipsum est quare omnium et omnibus.) Eckhart liest diese Bestimmung der Ursprungsbeziehung zwar an der Beziehung von Gott und Wort in der Trinität ab (In principio erat verbum et verbum erat apud deum et deus erat verbum. Hoc erat in principio apud deum. Joh 1,1 f), aber Eckhart betont: „Ähnlich verhält es sich mit jedem Ursprung (principium) und dem aus ihm Entsprungenen (principiatum) in Kunst und Natur, freilich mehr oder weniger, je nachdem etwas in höherem [oder geringerem] Maße Ursprung ist als ein anderes.“23 Dies ist der Kern, das Movens des eckhartschen Denkens über Beziehung. Dies ist eine Begründungweise, die dem modernen Denken fremd ist. In den innertrinitarischen Beziehungen gibt es kein Warum, sagt Eckhart; denn Ursprung und Ziel sind dasselbe. Diese Übereinstimmung der Beziehungsglieder findet sich aber nicht nur in Gott, sondern überall, wo die Beziehung ursprünglich bleibt. Die entscheidende Frage ist, ob wir verstehen, was in Eckharts Sinn eine ursprüngliche Beziehung ist. „Ursprünglich“ bedeutet hier, dass das Entspringende, Lebendige, Aufbrechende der Beziehung noch spürbar ist, etwa in dem Sinne, in dem Eckhart die Metaphern der Geburt benützt: „fließen, sprossen, blühen und hauchen“ oder „sich ergießen“ und am stärksten „aufkochen“24 Denn für Eckhart gilt, dass es eine Beziehungsweise ohne Warum und Wozu überall und immer gibt, wo etwas in principio, im Ursprungsgeschehen, bleibt. Eckhart erklärt es ausdrücklich und wiederholt als seine Absicht (intentio auctoris) zu zeigen, dass die hier [im Johannesevangelium] über den Ausgang der Personen in Gott geschriebenen Worte uns darüber belehren sollen, dass es im Ausgang und in der 22 Eckhart, Sermo XLIX,3 n. 511; LW IV, 426,2, siehe das Zitat unten S. 102. 23 Eckhart, In Ioh. n. 50; LW III, 41,10–14. 24 Terminologisch ist die Unterscheidung der „univoken“ und „analogen“ Beziehungen maßgeblich. Siehe dazu Mojsisch, Burkhard, Meister Eckhart. Analogie Univozität und Einheit, Hamburg 1983 und Schirpenbach, Meik Peter, Wirklichkeit als Beziehung. Das strukturontologische Schema der Termini Generales im Opus Tripartitum Meister Eckharts, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters: Neue Folge 66, Münster 2004, auch Witte, Meister Eckhart, 123–135.

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Hervorbringung eines jeden Seienden der Natur und Kunst ebenso ist und sich dort wiederfindet. – Quod pro tanto dixerim, ut verba hic scripta de divinarum personarum processione doceant hoc ipsum esse et inveniri in processione et productione omnis entis naturae et artis.25

Es ist also von den Gegebenheiten der Natur die Rede sowie von den Produktionen der „Kunst (ars)“, also schlechthin vom schöpferischen Handeln des Menschen. Auch für diese gilt die Grundeinteilung des Seienden: Das reale außerseelische Sein unterliegt der Kausalität, das innerseelische, mentale Sein kennt keine Kausalität, sondern ein Ursprungsgeschehen. Deshalb ist dafür der Name „Prinzip“ (principium) auch viel passender als der Name „Ursache“ (causa).26 Prinzip und Prinzipiat, Grund und Gegründetes, sind also im Ursprungsgeschehen, nämlich dann, wenn es sich im eigentlichen Sinne um die innenbleibende (in anima) Bewegung im Ursprung (in principio) handelt, also um einen Prozess innerhalb des Bewusstseins selbst, der freilich auch unbewusst bleiben kann. Das Geschehen der Übermittlung des Wesens ohne eine distanzierende Kausalität wird mit metaphorischen Begriffen bezeichnet: transformare, informare, mhd. überbilden, %nbilden, die den Sinngehalt dieser Umwandlungen eher verdeutlichen als das Ursache-Wirkungs-Schema. Gebern, geburt, generare, gignere, dieses Wortfeld, das im Lateinischen wie im Mittelhochdeutschen sowohl die Zeugung wie die Geburt bezeichnet, wird am häufigsten verwendet, um den Prozess zu benennen. Unterschieden davon ist das Verursachen (causare, causa), das Schaffen (creare, creatio) und das Machen (facere, factum). Will man diesen innerseelischen Hervorgang in der Reihe der vier aristotelischen Ursachen, causa efficiens, finalis, materialis und formalis betrachten, handelt es sich hier um die causa formalis. Eckhart nennt sie meistens causa essentialis. All diese Ursprungsbeziehungen sind sunder warumbe, „ohne Warum und Wozu“. Das entscheidende Merkmal dieser Beziehung ist, dass keine Distanz zwischen dem Ursprung und der Erscheinung auszumachen ist. Man könnte auch sagen, im Erleben vergeht keine Zeit, wenn „ein Wort geboren“ wird. Wenn ich 25 Eckhart, In Ioh. n. 6; LW III, 8,2–5. Vgl. In Ioh. n. 2 f; LW III, 4,4–17: In cuius verbi expositione et aliorum quae sequuntur, intentio est auctoris, sicut et in omnibus suis editionibus, ea quae sacra asserit fides christiana et utriusque testamenti scriptura, exponere per rationes naturales philosophorum. […] Rursus intentio operis est ostendere, quomodo veritates principiorum et conclusionum et proprietatum naturalium innuuntur luculenter – „qui habet aures audiendi!“ – in ipsis verbis sacrae scripturae, quae per illa naturalia exponuntur. – „Bei der Auslegung dieses Wortes [,Im Anfang war das Wort’] und der weiter folgenden ist es die Absicht des Autors, so wie auch in allen seinen Werken, was der heilige christliche Glaube wie auch die Schrift der beiden Testamente lehren, mithilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen. […] Ferner will dieses Werk zeigen, wie die Wahrheit der Prinzipien, der Schlussfolgerungen und der Eigenart der Naturverhältnisse offenkundig – ,wer Ohren hat zu hören!‘ – in den Worten der Heiligen Schrift angedeutet sind, wenn man die Schrift mittels der besagten Naturverhältnisse auslegt.“ 26 Eckhart, Sermo II, 2 n. 6; LW IV, 8,6–9.

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mir ein Verstehen von außen aneigne, zum Beispiel im Lesen eines Textes oder im Hören eines Vortrags, vergeht die Zeit, ich nehme die Einführung auf, die Gedanken bilden sich der Reihe nach und formen sich zu einer Kette, einem Gebilde, das gegliedert ist. Eckhart aber spricht von einem Wort, das im Schweigen unvermittelt da ist. Um das Wesen dieses einfallenden Wortes zu erläutern, spricht Eckhart gerne vom Bild (imago). Der Vergleichspunkt für diese Metapher ist der Umstand, dass das Bild im gleichen Augenblick im Spiegel erscheint oder entschwindet, da der Abgebildete vor den Spiegel tritt oder weggeht. Für diese Unmittelbarkeit der Spiegelung findet Eckhart weitere Metaphern: Nota quod imago proprie est emanatio simplex. Formalis transfusiva totius essentiae purae nudae, qualem considerat metaphysicus circumscripto efficiente et fine, sub quibus causis cadunt naturae in consideratione physici. Est ergo imago emanatio ab intimis in silentio et exclusione omnis forinseci, vita quaedam, ac si imagineris rem ex se ipsa et in se ipsa intumescere et bullire in se ipsa necdum cointellecta ebullitione. – Bemerke, dass das Bild eigentlich ein einfacher Ausfluss ist; ein Hinüberfließen der Form des gesamten, reinen, nackten Wesens, welche der Metaphysiker betrachtet unter Ausklammerung der Wirkung und des Zieles. Unter diese Ursachen fallen die Naturgegenstände in der Betrachtung des Naturwissenschaftlers. Also ist das Bild ein Ausfließen vom Innersten unter dem Schweigen und dem Ausschluss alles Äußeren, in gewisser Weise Leben, und zwar wenn du dir vorstellst, dass etwas aus sich selbst und in sich selbst anschwillt und in sich selbst aufkocht, wobei aber das Überkochen noch nicht mitgedacht ist.27

Gemeint ist der Einfall oder die Eingebung, die im Erleben ohne Vorbereitung, ohne Ankündigung, ohne Warum und Wozu auftaucht und sich beherrschend ausbreitet. Natürlich kann der Einfall sekundär ausgearbeitet, überdacht, zurückverfolgt, in Beziehung gesetzt werden. So gestalten wir ihn aus; aber darauf, ob und wie er erscheint, haben wir keinen Einfluss. 3.2 Die „Geburtlichkeit“ der Wesenseigenschaften des Menschen Die Wesenseigenschaften des Menschseins versteht Eckhart als Seinsweisen. Er nennt sie Allgemeine oder Spirituelle Auszeichnungen (perfectiones generales oder spirituales). Er nennt als Beispiele Sein, Einheit, Wahrheit, Güte, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe. Dies sind für ihn eigentlich göttliche Seinsweisen, an denen der Mensch teilhat. Die Form dieser Teilhabe ist wiederum die Geburt oder die causa essentialis. So leitet sich das Empfinden der Gerechtigkeit oder der Liebe nicht von äußeren Beispielen ab, die imitiert werden, oder von anerzogenen Normen, die deduziert werden könnten, sondern es entsteht durch innere Affektion oder Überformung. Sie sind vernunftge27 Eckhart, Sermo XLIX,3 n. 511; LW IV, 425,14–426,4.

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boren und sprechen unser vernünftiges Gefühl an; freilich nur, wenn die Offenheit für das „Vernünftige“ nicht durch eine Erziehungseinstellung auf äußere, egoistische Ziele verdorben ist.28 Damit ist das Wesentliche und Ausschlaggebende der Auskunft Eckharts über Freiheit – Beziehung – Bindung gesagt: Sie entspringen aus der inneren Erfahrung, und wenn diese gestört ist, sind auch Freiheit – Beziehung – Bindung gestört. Sie sind also nicht etwas, das man machen kann, sondern was uns von innen her bestimmt, manchmal, ja meistens gegen unsere Erwartungen und gegen die klugen Vormeinungen der Gesellschaft, der öffentlichen Meinung, mit Heidegger gesprochen gegen das Bescheidwissen und Gerede des Man. Eine paradigmatische Form dieser inneren Erfahrung ist der Traum, der in den Mythen, den Religionen wie in der Psychoanalyse ein Königsweg ist, wohin er auch führen mag. Auch die Erfahrungen der Mystiker sind aus der Erfahrung im Schweigen der äußeren Einflüsse und egozentrischen Ziele geboren. Aber die mystische Erfahrung ist – vor allem bei Meister Eckhart und, wie angedeutet wurde, auch nach Wittgenstein – nicht auf die ekstatischen Höhepunkte religiöser Genies beschränkt, sondern sie ist die Grundstruktur jeder Selbst-Erfahrung, sofern sie Erfahrung des Lebens ist. Das soll noch weiter expliziert werden. Ein Leben aus innerer Erfahrung entspringt aus Intuition und Affektion, das heißt einem Gefühl für das Richtige. Solche inneren Bindungen sind auf einmal da – wie Eckharts „Bild im Spiegel“, das unvermittelt erscheint, sobald das Urbild auftaucht. Eckharts Lehre von der ursachelosen Gewissheit stellt uns vor die Frage, ob es in unserem Leben diese leitenden Urbilder (Archetypen) gibt und welchen Platz sie in unserer Pädagogik und Ethik einnehmen dürfen. Entscheidungen aus einer solchen Erfahrung können nicht oder nur nachträglich rational begründet werden. Wenn man auf sie hört, sind sie gefühlsmäßig unabdingbar. Manchmal sind sie auch heilsam.

4. Innere Erfahrung in der psychotherapeutischen Praxis Ich stelle Beispiele aus der Praxis vor, die ungewöhnlich erscheinen mögen. Sie zeigen nicht, wie sich Beziehungen leicht und „richtig“ gestalten, sondern eher Ausnahmefälle, bei denen man, was Beziehungen im Alltag sind, vielleicht gar nicht zu erkennen meint. Die Beispiele sind, wie man sagt, gegen den Strich gebürstet. Sie sollen zeigen, dass es innere Erfahrungen und Notwendigkeiten 28 Eckhart, RdU c. 22; DW V, 277,5–278,2. Eckhart führt hier aus, dass der Vernunft- und Gottesbezug das Ursprüngliche ist und dass Menschen, die davon abgelenkt wurden, mit größter Mühe wieder zurück-erzogen werden müssten.

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gibt, die einen Weg weisen, der gerade in Situationen des Scheiterns und der Not einem inneren Kompass folgt. 4.1 Der heimatlose Künstler Ein Mann, Anfang 40, kommt zu mir in die Praxis, weil er vor dem Zusammenbruch aller sozialen Beziehungen steht. Seine Frau will sich von ihm trennen, „weil er spinnt“. Er verdächtigt sie, bei seinen Stiefeltern gegen ihn zu intrigieren, die Kinder gegen ihn aufzuhetzen, ihm sein kleines Erbe wegnehmen zu wollen. In der Tat verhält er sich absurd. Er spricht sehr schnell und unzusammenhängend. Man kann nicht recht unterscheiden, was in seinen Berichten Realität und was Fantasie ist. Beherrschend ist die Befindlichkeit des Getriebenseins und der Flucht, im Sinne der Flüchtigkeit, aber auch real, da er den Eindruck vermittelt, aus seiner Familie und seiner Wohnung zu fliehen und ständig unterwegs zu sein. Er berichtet auch von Schwierigkeiten in der Arbeit: Er hat Abmahnungen bekommen, da er den Arbeitsplatz verlassen hat, da er als Rechnungsprüfer unvollständige Ergebnisse abgeliefert hat und gegen manche Anweisungen Protest einlegt. Es stellt sich bald heraus, dass eine Scheidung sowie die Kündigung der Arbeit nicht zu vermeiden sind. Was Hoffnung auf eine Therapierbarkeit macht, ist, dass er sich bei hochfrequenten Sitzungen und beruhigender Zuwendung klar artikulieren kann und dass die Konfusion schwindet und Zuversicht und Vertrauen entstehen. Er berichtet, dass er als einziges Kind in einer ländlichen Unterschichtfamilie aufwuchs, mit schwacher, abhängiger Mutter und gewalttätigem Alkoholiker-Vater, der ihn in seinem Wertgefühl niedermachte und prügelte. Als charakteristisch für seine Überlebenstaktik sagt er, dass er, wenn der Vater polternd nach Hause kam, durchs Fenster geflohen sei, sich draußen herumgetrieben und nachts Unterschlupf im Hühnerstall gefunden habe. Ausgleich fand er darin, dass er in der Pubertät seltene Rassen von Nutzgeflügel züchtete und dafür auch Preise gewann. Nebenher schnitzte er einfache Figuren. Es ist erkennbar, dass er jetzt, zur Zeit der Therapie, die Situation der Bedrohung und Flucht wieder inszenierte. Dabei ließ sich nicht entscheiden, wie real die erlebte Feindschaft wirklich war. Sicher ist aber, dass er keine soziale Kompetenz hatte, mit der er auch nur alltägliche Konflikte hätte angemessen lösen können. Hoffnungsvoll und für eine günstige Prognose ausschlaggebend war, dass er in der Jugendzeit sich liebevoll und zuverlässig den Tieren widmen konnte und dass er aus eigenem Antrieb hingebungsvoll einer kreativen Tätigkeit nachgehen konnte und trotz der Verwahrlosung imstande war, einen ordentlichen Schulabschluss und eine qualifizierte Ausbildung zu erreichen. Dem Hinweis auf das Schnitzen schenkte ich anfangs wenig Beachtung. Er sollte aber für den weiteren Verlauf wegweisend werden. Sein äußeres Leben war nach der Scheidung, in der Arbeitslosigkeit und während

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mehrerer Jahre der Therapie auch durch räumliche Flucht gekennzeichnet. Um der tatsächlichen Obdachlosigkeit zu entgehen, mietete er sich in abgelegenen Anwesen, in Nebengebäuden, Schuppen, gelegentlich auch in einem Bauwagen ein, immer mit einem kleinen Stück Garten und mit Hühnern oder Gänsen. Stabil und vertrauensvoll blieb die Beziehung zu mir als Therapeuten. Er kam regelmäßig, auch von weither, angefahren. Ferner gab ihm die nichtsexuelle Freundschaft zu einer Frau Sicherheit, die ihn unterstützte und zu ihm hielt – teilweise in gemeinsamer paranoider Abwehr. Diese Frau war nach den Berichten des Patienten traumatisiert und psychisch offenkundig belastet. Sie suchte in verworrenen Briefen auch Zugang zu mir zu finden und fantasierte, dass ich ihr durch anonyme Kontaktanzeigen in Zeitungen heimliche Botschaften zukommen ließe. Trotz dieser Problematik konnten sich die beiden schwer gestörten Menschen in dieser schrägen Beziehung gegenseitig stabilisieren. Ich wurde offenbar in ein wahnhaftes erotisches und heilbringendes Dreieck einbezogen, dessen genaue Inhalte ich glücklicherweise nicht erfuhr. Ich erwähne dies, um die rettende Kraft einer inneren Verbindung zu betonen, selbst wenn die reale Beziehung chaotisch erscheint und von Projektionen und idealisierenden Erwartungen getragen erscheint. Es ist möglich, dass unter solchen teilweise fantasierten Beziehungen eine heilende Kraft der Güte, Zugewandtheit, Verbundenheit, Mitmenschlichkeit sich entfaltet. Das ist eine innere, kaum benennbare Kraft, die in der äußeren sogenannten „realen“ Beziehungsgestaltung wenig Anhalt braucht. Für die heilende Beziehung des Patienten zu sich selbst, die eine notwendige Grundlage der Beziehung zu den Mitmenschen ist, wurde aber eine rein innere Erfahrung ausschlaggebend, die auf den ersten Blick ebenfalls fantastisch anmutet. Der Patient war zufällig zur Lektüre des Romans „Narziss und Goldmund“ von Hermann Hesse gekommen. Er identifizierte sich mit Goldmund, dem heimatlosen Künstler, der sich von der Freundschaft mit dem gelehrten, asketischen Freund Narziss getragen fühlt und umgetrieben wird von einem unstillbaren Drang, seine künstlerischen Visionen ins Bild zu setzen, sodass er eine Ehe und die Sesshaftigkeit als Meister verwirft und unermüdlich umherreist, um an verschiedenen Orten Bau- und Bildwerke zu gestalten. Die Kraft dieses inneren Vorbildes war für den Patienten so zwingend, dass ich ihn darin unterstützte, seine Holzschnitzerei wieder aufzunehmen und auszubilden. Tatsächlich fand er, nach Jahren der Arbeitslosigkeit und vielen Abenteuern endlich als berufsunfähig berentet, in einem abgelegenen Dorf in Niederbayern einen Ort der Ruhe, an dem er seiner Kunst nachgehen kann. Er fand auch Anschluss an einen regionalen Kunstverein, erhält einige Aufträge und genießt eine bescheidene Anerkennung. Auch den Kontakt zu seinen inzwischen erwachsenen Kindern hat er wiedergefunden. Das Beispiel zeigt, wie außerhalb der Normalität sich die Beziehung zu einem inneren Ideal als bindend erweisen und zu einer relativen inneren Freiheit führen kann.

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4.2 Die Heil suchende „Hexe“ Eine junge Frau, die in einer bildungsfernen, autoritären Familie aufgewachsen ist, sehr sensibel und klug, aber ohne eine ihrer Begabung angemessene Schul- und Berufsausbildung hat in der späten Jugendzeit eine gravierende psychosomatische Darmerkrankung mit organischen Schädigungen entwickelt. Die Therapie ist so ausgerichtet, dass die Patientin selbst im Gespräch, genauer : im Erspüren der Emotionen, die ihre Schilderungen begleiten, entdeckt und versteht, welche Situationen und Affekte jeweils die Krankheitsattacken und Schübe auslösen. Dies lässt sich so auf den Punkt bringen: Es sind heftige emotionale Reaktionen auf das Empfinden von Unterdrückung, Verständnislosigkeit und Ungerechtigkeit. Wenn die Patientin diese angemessenen Wutreaktionen unterdrückt und sich anpasst, wird sie mit starken Bauchkrämpfen und Durchfällen bestraft. Sie lebt mit einem Freund zusammen, der genau der lieblosen, herrschsüchtigen, uneinfühlsamen Art entspricht, die sie in ihrer Ursprungsfamilie erlebt hat. Sie trennt sich von diesem Mann und findet immer deutlicher heraus, was ihr im Leben entspricht; allerdings auch, wie schwer sie es hat und haben wird, in ihrem männlich dominierten leistungs- und konkurrenzorientierten beruflichen Umfeld ohne ausufernde Konflikte zu existieren. Vorwegnehmend will ich mitteilen, dass die schwere psychosomatische Erkrankung durch die Therapie nicht geheilt werden konnte, sondern dass die Patientin nur einen Umgang mit den Anfällen herausfand, der ihr einmal den Satz ermöglichte: Eigentlich ist der Darm mein Freund. Jeder wird auch verstehen, dass eine Frau mit einem übersensiblen Gerechtigkeitsempfinden in unserer Finanzwirtschaft und in dörflicher Enge trotz Therapie kein friedliches Auskommen finden konnte. Eines Tages erklärte sie mir, sie habe einen Traum gehabt, der ihr das Gefühl gegeben hat, der katholische Pfarrer ihrer Heimatgemeinde in einem kleinen bäuerlichen Dorf im Schwarzwald könnte ihr Problem verstehen. Sie wolle zu ihm gehen und ihm ihre Geschichte erzählen. Psychoanalytiker sind in der Regel skeptisch, wenn ihre Analysanden bei anderen Psychologen, Astrologen, Gurus Rat suchen und sozusagen fremdgehen. So war auch ich misstrauisch gegen diesen Pfarrer, zumal die Patientin mit mir ihren Traum nicht analysieren wollte. Es war deutlich, dass sie sich schämte. Nun kann Scham zwar ein Widerstand gegen die Therapie sein, aber auf jeden Fall ist sie ein Anzeichen für ein zugrunde liegendes sehr privates, schutzbedürftiges Gefühl. Ich verschwieg also meine Skepsis und erfuhr nach jenem Gespräch mit dem Pfarrer nur, dass es sehr verständnisvoll und hilfreich gewesen sei. Unsere Therapie lief scheinbar ohne diesen Pfarrer weiter, und erst eine Weile später erfuhr ich, dass sich beide ineinander verliebt hatten. Damit wurde der Pfarrer nun wieder Gegenstand der Therapie und besonders, wie zu erwarten war, als sich die Schwierigkeiten der Beziehung einstellten. Sie erhielt Anfeindungen und Drohungen aus der Gemeinde. Ihr Auto wurde mit Auf-

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schriften wie „Hexe“ oder „Teufel“ beklebt. Schwieriger war noch, dass der Pfarrer mit seinem Gewissen zu Rande kommen musste und sich immer wieder abwandte. Ich musste befürchten, dass die Lebensumstände, aber auch eine neurotische Vorbelastung des Mannes die Fortsetzung der Beziehung aussichtslos machen würde, und war auch nicht zurückhaltend mit Andeutungen in diese Richtung. Die Patientin aber hielt standhaft an ihrer Liebe fest: „Ich habe es geträumt, ich spüre es und weiß es, dass wir zusammengehören.“ Nach einem Jahr war das Fazit: Der Pfarrer gab sein Amt auf, das Paar heiratete. Sie bekamen einen Sohn. Sie überwanden alle Schwierigkeiten, die immer wieder auftauchten. Die Patientin, die mich im Laufe der Jahre gelegentlich aufsuchte, sagt nach nunmehr fast dreißig Jahren, dass dieser Beschluss, eine aussichtslos erscheinende Beziehung einzugehen, ihr Glück und in gewisser Weise ihre Lebensrettung gewesen sei. Diese Beziehung wurde sozusagen eine heile Nische in der weiterhin feindlich erlebten Welt, keine Insel der Seligen, aber immerhin eine Zufluchtsstätte. Das Beispiel kann zeigen, dass eine Beziehung und persönliche Bindung aufgrund einer inneren Erfahrung gestiftet werden kann. Dass dabei Normen, Lebenspläne und Vernunfterwägungen überrollt werden können, ist eine verbreitete Erfahrung. Darum bedarf es einer klärenden Arbeit, um herauszufinden, was die Selbsterfahrung mir wirklich sagen will und was bloße Wunschträume, Sicherungsmechanismen, Projektionen und Übertragungen oder was gar Liebeswahn ist. Die Psychoanalyse stellt einen Raum zur Verfügung, in dem diese Klärungsarbeit geleistet werden kann. Sie muss auch geleistet werden. Die geistlichen Begleiter der altchristlichen Eremiten und die Mystiker aller Zeiten wussten, dass eine discretio spirituum notwendig ist. Eine solche „Unterscheidung der Geister“ kann auch die „Dekonstruktion“ sein. Sie hinterfragt nicht nur die verfestigten Vormeinungen der Gesellschaft und Institution, sondern auch die mehr oder weniger verzerrten Selbstdeutungen der Einzelnen. Meine beiden Beispiele sollen insofern für Dekonstruktion stehen, als sie zeigen können, dass das psychopathologisch und normativ orientierte Denken der Psychologie und Psychotherapie unzureichend sein kann, innere Beziehung und Bindung zu beschreiben. Denn eine Diagnostik, die sich an den gebräuchlichen Klassifikationen orientiert, würde beide oberflächlich als beziehungsgestört und bindungsunfähig qualifizieren. In diesem Sinne sind die Beispiele in meinen Augen geeignet, die üblichen Vormeinungen zu destruieren. Das Konstruktive aber liegt darin, zu zeigen, wie unter der Oberfläche eine starke Beziehung und eine tragende Bindung wirksam sind. Zum Begriff der „Bindung“ könnte viel gesagt werden. Er ist ein Lieblingsinstrument der psychologischen Forschung und Therapie unter dem Stichwort „Bindungstheorie“. Nur so viel: Die Basisannahmen dieser Theorie und deren Befunde sind zweifellos hilfreich. Aber warum heißt das „Bindung“ (attachment)? Was Eckhart will, l.zen und abegescheidenheit, wird im Englischen geradezu mit detachment übersetzt. Andererseits spricht Eckhart vom

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bant der minne. Bindung und Gebundensein sind Weisen der Beziehung und des Bezogenseins. Deshalb will ich auf Bindung hier nicht weiter eingehen. Mein Thema ist Beziehung und Gebundensein an die innere Erfahrung.

5. DeKONstruktion der Freiheit Aber die Stimme der inneren Erfahrung ist leider nicht immer so deutlich und durchsetzungsstark wie im Beispiel dieser beiden Patienten. In der Psychotherapie haben wir es vielmehr meistens mit den Behinderungen dieser inneren Stimme zu tun. Und hier kommt der erste Begriff des thematischen Dreiklangs ins Spiel: Freiheit. Freiheit oder Unfreiheit sind Qualitäten unserer Beziehungen zu anderen, zu uns selbst, zu unserem Wollen und Tun. Dem gegenüber ist wiederum eine Dekonstruktion erforderlich, ein Umdenken. Seit der Spätscholastik bis in die gegenwärtigen Diskussionen mit den Neurowissenschaften hinein wird Freiheit in die Fähigkeit des Willens verlegt, freiwillig dies oder das, Gutes oder Böses zu tun. Theologisch gesehen ist dieses „humanistische Verständnis der Freiheit eine Freiheit gegenüber Gott“29, nämlich die Freiheit zu sündigen oder auch nicht. Darauf reagierte Martin Luther mit der Streitschrift „Vom unfreien Willen“.30In der theologischen Tradition seit Augustinus und Anselm von Canterbury ist hingegen die Willensentscheidung nur dann frei, „wenn die Entscheidung in der Lage ist, die Rechtheit des Willens zu bewahren, um der Rechtheit selbst willen“.31 Nach dieser Definition, die auch Meister Eckhart teilt, ist die Fähigkeit zu sündigen also nicht Freiheit, sondern Ohnmacht oder „Knechtschaft“.32 N0 sprechent die meister, daz der wille alsi vr% s%, daz in nieman betwingen enmac dan got aleine. Got enbetwinget den willen niht, er setzet in in vr%heit, alsi daz er niht anders enwil, dan daz got selber ist und daz diu vr%heit selber ist. Und der geist enmac niht anders wellen, dan daz got wil, und daz enist niht s%n unvr%heit, ez ist s%n eigen vr%heit. – Nun sagen die Meister, dass der Wille so frei ist, dass ihn niemand bezwingen kann als nur Gott. Gott zwingt den Willen nicht; er setzt ihn in Freiheit, sodass er nichts anderes will, als was Gott selbst ist und was die Freiheit selbst ist. Und 29 Pesch, Otto Hermann, Freiheit III. (Mittelalter), in: J. Ritter/K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1980, 1083–1089, hier 1087. 30 Luther, Martin, De servo arbitrio/Vom unfreien Willensvermögen (1525), übers. v. A. Lexutt, in: ders., Der Mensch vor Gott, Leipzig 2006, 210–662. 31 Anselmus Cantuariensis, De libertate arbitrii, in: Anselmus Cantuariensis, Opera omnia, hg. v. Franciscus Salesius Schmitt, Bd. 1, Seccovii 1938, c. 3, 212,12 f.: M. Iam quoniam clarum est liberum arbitrium non esse aliud quam arbitrium potens servare rectitudinem voluntatis propter ipsam rectitudinem. 32 Eckhart, Sermo XVII,1, n. 166; LW IV, 158,6: Nota primo quomodo peccatum et omne peccatum servitus est. – „Beachte zunächst, inwiefern die Sünde, und zwar jede Sünde Knechtschaft ist.“

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der Geist kann nichts anderes wollen, als was Gott will, und das ist nicht seine Unfreiheit, sondern es ist seine eigene Freiheit.33

Nun klingt vielen Menschen von heute diese Theologensprache so fremd und manchmal sogar anstößig, dass sie kaum hören können, was da gesagt ist. Dass Gott den Willen in die Freiheit setzt, sodass der Wille nichts anderes will als, was Gott will, das ist nur erfahrbar, wenn Gottes Wille mir nicht fremd und fordernd gegenübersteht, sondern wenn ich mein Wesen in Gott finde. Dies ist – psychotherapeutisch – eine Selbsterfahrung, die ein Gläubiger auch als Gotteserfahrung verstehen kann. Die Gotteserfahrung mag ausbleiben, leer ist es aber, wenn die Selbsterfahrung fehlt. Wenn die von Eckhart angesprochene Übereinstimmung des Willens mit dem „Willen Gottes“ keine Selbsterfahrung ist, können wir sie vergessen. Wenn als Gegensatz zur Freiheit des Willens die Bezwingung des Willens gesetzt wird, ist eine Konstellation von Herrschaft und Knechtschaft vorgegeben. Dabei ist es egal, ob Gott oder ein Tyrann oder das Gehirn den Willen bezwingt. Auch wenn das Ich sich demgegenüber behaupten kann, bleibt es in einer Kampfsituation. Denn in jedem Zwangssystem ist die Freiheit schon verloren. In einem Ringkampf ist auch der Sieger gefangen. Gerade von dieser Knechtschaft wie auch von der mühsam errungenen Selbstbestimmung will Gott die Menschen befreien. Das sagt die Bibel, so sagt es auch Meister Eckhart. Und Eckhart führt aus: Wo Sein ist oder Güte oder Gerechtigkeit, da wirkt Gott. Da ist Freude. Da ist Freiheit. Ich kann nichts anderes wollen, als in diesem Sinne voll Freude und Freiheit zu sein. Wenn wir von der Theologie wieder zurückkommen zur Psychotherapie, so erfahren wir dasselbe. Nur wo ich mit mir selbst übereinstimme, fühle ich mich frei. Dagegen richtet sich die Ursünde der Pädagogik. Wenn sie das Richtige zur Pflicht macht, ist die Freiheit bedroht, und Rebellion wird in die Herzen gepflanzt. Ich erinnere mich an einen 17-jährigen Jungen, der meinte, dass er „vor lauter Vernunftpredigt das Kotzen kriegen“ könne, und der seine Freiheit in dem Satz suchte: „Ich sehe es gar nicht ein.“ In dieser Lage erschien es ihm konsequent, seine Freiheit in Alkohol, Drogen und lebensgefährlichen Fahrradfahrten zu suchen. Er meinte ja, die Freiheit liege darin, dass er diese Gefahren beherrschen könnte. Wenn das Gute und Vernünftige zum Gebot gemacht wird, weckt es die Rebellion. Die Rebellion ist auch mitgegeben, wenn man Gott zu einer Gehorsam fordernden Autoritätsperson macht. So sieht es auch Meister Eckhart: Ich schreip einest in m%n buoch: der gerehte mensche endienet weder gote noch den crÞat0ren, wan er ist vr%; und ie er der gerehticheit næher ist, ie mÞ er diu vr%heit selber ist und ie mÞ er diu vr%heit ist. Allez daz, daz geschaffen ist, daz enist niht vr%. Die w%le ihtes iht obe mir ist, daz got selber niht enist, daz drücket mich, swie kleine ez joch ist oder swie ez ist, und wære ez joch vernunft und minne, als verre als si geschaffen ist und got selber niht enist, daz drücket mich, wan ez ist unvr%. – Ich schrieb einst in 33 Eckhart, Pr. 29; DW II; 78,1–5.

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mein Buch: Der gerechte Mensch dient weder Gott noch den Kreaturen, denn er ist frei; und je näher er der Gerechtigkeit ist, umso mehr ist er die Freiheit selbst, und umso mehr ist er die Freiheit. Alles, was geschaffen ist, das ist nicht frei. Solange irgendetwas über mir ist, das nicht Gott selbst ist, das drückt mich, so klein es auch oder wie es sein mag – und wäre es selbst Vernunft und Liebe: sofern sie geschaffen und nicht Gott selbst sind –, bedrückt es mich, denn es ist unfrei.34

Als Übersetzungshilfe mag gesagt sein: Ein „gerechter Mensch“ ist, wer richtig ist, also: „Richtig ist, dass der Mensch weder (anderen) Menschen dient noch Gott.“ Der Mensch soll und kann sich in seinen inneren Einstellungen nicht unterwerfen. Dem Guten zu dienen verfehlt das Gute. Hier gilt Eckharts sunder warumbe, „ohne Warum und Wozu“. Auch Gott darf nicht zu einer guten Instanz gemacht werden, der man dienen soll. Gott drückt mich nur dann nicht, wenn das Sein, das Rechtsein, das Gute, die Vernunft und die Liebe Gott selbst sind, das heißt, wenn ich mit dem, was ich will, tue und bin, übereinstimme. Wenn hingegen „Vernunft“ und „Liebe“, mit Eckhart gesprochen, „geschaffen“ sind, das heißt, wenn sie pädagogische oder moralische Vorstellungen sind, die ich zu befolgen habe, „bedrückt es mich, denn es ist unfrei“. Wir sehen leicht, dass der junge Mann mit seinen gefährlichen Freiheitsbestrebungen im Grunde recht hat, auch wenn er in der Ausgestaltung seines Freiheitsstrebens leicht das Gegenteil dessen erreichen kann, was er erstrebt, nämlich statt Freiheit eine fatale Abhängigkeit. Es wäre ein Leichtes, viele psychotherapeutische Beispiele aufzuzählen, in denen die Freiheit durch neurotische Bindungen, durch traumatische Verfestigungen und illusorische Zielsetzungen behindert oder in Zwang umgewandelt wird. So etwas kennt jeder aus Erfahrung. Mir liegt es aber daran, die Macht der inneren Freiheitsbewegung gerade unter Umständen der Unfreiheit aufzuzeigen. Mit Eckhart sehe ich die Freiheit also hier nicht als Wahlfreiheit an, sondern als die Freiheit, die darin liegt, mit meinem Selbst übereinstimmen zu dürfen. Wenn Eckhart davon spricht, dass dies die Freiheit sei, die darin liegt, dass mein Wille mit dem Willen Gottes übereinstimmt, können wir das eingeklammert lassen, da die theologischen Konnotationen hier nicht entscheidend sind. Ich verweise darauf, dass Eckhart diese theologischen Gegebenheiten auch als Grundphänomene in „Natur und Kunst“ betrachtet hat. Das heißt, dass ich diese Freiheit als phänomenologische Konstante – z. B. in der Psychotherapie – auch unter den Bedingungen der äußeren Unfreiheit wiederfinden kann. Dies ist eine Sicht auf neurotische Symptome oder auf psychische Störungen, die für uns Psychotherapeuten der Schlüssel zum Verständnis des eigentlichen Wollens unserer Patienten und womöglich zur Heilung ist: Das Symptom oder das gestörte Verhalten enthält eine Heilungsfantasie oder ist ein paradoxer, meistens leider scheiternder Heilungsversuch. Mit Eckhart 34 Eckhart, Pr. 28, DW II; 62,4–63,1.

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würde ich von einer inneren Erfahrung sprechen, deren Tendenz dem Lebenswillen und der gesunden Entfaltung entspringt, sofern man sie in diesem Sinne versteht. 5.1 Die Heilungsphantasie eines Schizophrenen So eine versteckte Heilungsfantasie fand ich bei einem etwa 25-jährigen Patienten in der psychiatrischen Klinik mit der Diagnose einer Schizophrenie. Neben verschiedenen Denkstörungen war sein auffälliges Verhalten, dass er gelegentlich vor Autoritätspersonen, die er schätzte, die Hose herunterließ, um sich homosexuell anzubieten. Dies wurde als Verlust der Impulskontrolle verstanden. In zahlreichen Gesprächen, die ich mit diesem Patienten führen durfte, gewann ein unscheinbarer Inhalt seiner Wahnvorstellungen überraschende Bedeutung. Er glaubte, dass ich wie jeder gesunde Mensch ein elektronisches Kästchen im Nacken trüge. Die Bedeutung dieses vermeintlichen Kästchens war schambesetzt, und der Patient enthüllte sie erst nach vielen Gesprächen. Er meinte, eine solche elektronische Steuerung bekäme jeder 18–20-Jährige eingepflanzt. Dadurch seien die Gesunden in der Lage, die Erwachsenen richtig einzuschätzen und sich angemessen zu verhalten. Er selbst habe durch ein Missgeschick diese gesundmachende Operation versäumt. Deshalb sei er krank. Er könne das wieder gutmachen, wenn er sich einflussreichen Männern homosexuell anbiete; dann würden die ihm vielleicht auch so ein Kästchen schenken. Diese Eröffnung änderte nichts daran, dass der Patient schwer erkrankt war. Man kann sogar in psychopathologischer Sicht sagen, es sei eine kranke Fantasie; aber sie eröffnete im weiteren Verlauf, nachdem der akute schizophrene Schub abgeklungen war, eine Perspektive. Hier muss vielleicht erklärt werden, inwiefern eine solche kranke Fantasie – unverstanden! – recht haben kann. Von Meister Eckhart und aus unserer eigenen Erfahrung wissen wir, dass Selbstvertrauen, Urvertrauen in andere, Lebensbejahung, seelische Gesundheit u. ä. nicht aus unseren Ichkräften gemacht werden können, sondern dass sie ein Geschenk des Lebens sind. In Zeiten, in denen wir solche Grundstimmungen entbehren, sehen wir oft neidvoll, dass andere sie „haben“. So hatte der Patient recht, dass ihm eine solche Gabe fehlte, die er zum gesunden Leben gebraucht hätte. Aber wie bekomme ich, was ich brauche? Angesichts der Ratgeberliteratur kann man schon auf den Gedanken kommen, dass man sich durch richtiges Verhalten Gunst und Anerkennung verschaffen kann. In hierarchischen Beziehungen soll ja sogar Unterwürfigkeit manchmal helfen, wenn es auch nicht gleich homosexuelle Offerten sein müssen. Dass der Patient sein Selbstwertgefühl und seine Anpassungsfähigkeit in ein elektronisches Steuerungsinstrument verlegen wollte, war allerdings eine irrtümliche Verdinglichung. Doch verkennen wir nicht, dass sich in diesem Wahn auch die absurde Übernahme des

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technologischen Denkens unserer Zeit widerspiegeln könnte, das immer bereit ist, für alle Probleme ein technisches Hilfsmittel zu erfinden, mehr oder weniger wirksam, zum Beispiel Psychopharmaka, aber auch dopes on mental enhancement, cognitive enhancer drugs oder Hirnimplantate. Angesichts solcher Zukunftsvisionen, die sich schon im Experimentalstadium befinden, war doch die Wahnvorstellung des Patienten gar nicht so dumm. Aber das Kästchen und die Homosexualität sind in der Sicht einer humanen Psychotherapie symbolisch zu verstehen. Es handelte sich nicht um Impulsdurchbrüche, sondern um Zwangsgedanken, in denen sich eine Heilungsfantasie versteckte. Hier signalisieren sie, dass eine Voraussetzung der Besserung darin liegen könnte, sich einer Führung vertrauensvoll zu überlassen, denn gerade das war durch die traumatischen Umstände der Erziehung extrem erschwert worden. Das Steuerungskästchen ist eine fantastische Materialisierung des Selbstbewusstseins und der adäquaten Ausbildung der IchFunktionen, z. B. Denken, Urteilen, Handeln, Realitätsprüfung, Affektkontrolle usw. Ein solches Verständnis eröffnete nach dem Abklingen der Psychose den Weg zu einer strukturierenden Psychotherapie, wie ich später von der weiterbehandelnden Psychotherapeutin erfuhr. Ich habe diese Beispiele angeführt, um zu zeigen, dass unter dem Druck der Existenz, der Verstrickung und äußersten Verwirrung ein Gesundungswille herrschen kann, mit Nietzsche gesprochen, der „Instinkt der Freiheit“. In der Therapie muss dieser gesunde innere Wille oft mühsam ans Licht gebracht werden. Und wenn er erscheint und sich durchsetzt – als unkonventionelle Freiheit – Beziehung – Bindung –, ist er fast immer mit Zweifeln und schlechtem Gewissen verbunden: Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.35

So wird, was Eckhart die Geburt des Wortes nennt, vom kollektiven Gerede und Bescheidwissen und vor allem vom Über-Ich der Patienten zurückgedrängt. Es ist offenkundig, dass eine solche Sicht auf Freiheit – Beziehung – Bindung in der Praxis eine intensive mäeutische Arbeit, die „Hebammenkunst“ des Sokrates, braucht und dass unsere reale Pädagogik, Psychotherapie, aber wahrscheinlich auch die kirchliche Seelsorge weit davon entfernt sind. Und damit bin ich wieder bei den „Tränen und Gebeten“ der Dekonstruktivisten nach Caputo. Ich bringe in Erinnerung, was am Anfang stand: Caputo meint, dass bei Eckhart wie bei Derrida „Tränen und Gebete“ der adäquate und unaufhebbare Ausdruck der mystischen Erfahrung sei, gerade 35 Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral, in: G. Colli/M. Montinari (Hg.), Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, München 1980, 245–412, hier 325.

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weil Mystiker und Dekonstruktivisten „in dem Geheimnis sind“, jedoch „jeglichen geheimen Zugangs beraubt“36. Sie seien „von einem tiefen Begehren nach etwas überschreitend tout autre“ geprägt, und doch sei es eigentlich „ein Gebet für etwas Unvorstellbares, Unbegreifliches, Unmögliches“ (127), also eine Hoffnung auf etwas Ungreifbares. Ich sage dazu: Das ist wahr, wenn wir von der gesellschaftlichen Realität sprechen, nicht aber von dem, was im Verborgenen wirklich unser Leben gestaltet. Das herrschende Denken hat dieser stillen inneren Erfahrung eher den Kampf angesagt, da sie etwas ins Spiel bringt, das der Herrschaft der Iche nicht gehorcht. Im Grunde unserer Seele und im verborgenen Wissen unserer Tragödien ist das, was Eckhart gesehen und gelehrt hat, wirklich da. Aber in unserer öffentlichen Wirklichkeit ist es höchstens eine Sehnsuchtsinstanz, der die „Tränen und Gebete“ der Dekonstruktivisten gelten. – Aber hier setzt Friedrich Nietzsches Zarathustra Meister Eckhart fort: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“37

36 Caputo, Tränen und Gebete, 126. 37 Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, hg. v. G. Colli/M. Montinari, Kritische Studienausgabe, Bd. 4, München 1980, hier T. II: Die stillste Stunde, 189.

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1. Rückblick 1945 – das liegt knapp 70 Jahre zurück – endete das sogenannte 1000-jährige Reich mit der totalen Niederlage Deutschlands. Unser Land lag in Schutt und Asche. Die meisten größeren Städte fielen der Bombardierung zum Opfer. Hunger und Elend bestimmten das tägliche Leben der Menschen. Nach dem Einmarsch der Roten Armee strömten Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen nach Westen. Die Lebensmittelversorgung brach zusammen. Die Wohnungsnot hatte unvorstellbare Ausmaße angenommen. Industrie und Infrastruktur waren weitgehend zerstört. Was die Menschen verband, war einzig die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Damals stellte sich die bekannte Frage: Freiheitliche Ordnung oder dirigistische Planwirtschaft. Angesichts der Zerstörung bestand selbst in politisch liberalen und konservativen Kreisen der Hang, ordnungspolitisch den Weg zu einer staatlich geplanten oder zumindest gelenkten Wirtschaft zu beschreiten. In der Auseinandersetzung um die Wirtschaftsordnung in der Bayerischen Verfassung gab es nicht nur in der SPD, sondern auch in der CSU eine große Neigung zu planwirtschaftlichen Vorstellungen. Die Antipathien, die Prof. Ludwig Erhard in der Zeit als bayerischer Wirtschaftsminister entgegenschlugen, werfen ein bezeichnendes Bild auf die damalige Zeit.

2. Entscheidung für die Freiheit Nach den leidvollen Erfahrungen mit dem Totalitarismus trafen die Gründer der Bundesrepublik die Entscheidung für die politische Freiheit. Im Bonner Museum König rangen sich die Männer und Frauen der ersten Stunde zu einer neuen Verfassung, dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, durch. Dieses Grundgesetz stellt unbestrittenermaßen die freiheitlichste Verfassung der deutschen Geschichte dar. Mit der Entscheidung für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat fanden jene Bestrebungen, die mit der Revolution von 1848/49 und der Frankfurter Paulskirche begannen und die nach einem neuen Anlauf in der Weimarer Republik scheiterten, einen krönenden Abschluss.

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Diese Entscheidung, mit der die Bundesrepublik den Weg in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien beschritt, hat sich gelohnt. Knapp siebzig Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft ist Deutschland ein international geschätzter Partner. Seit der erfolgreichen Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit sind wir in Europa von Freunden und Partnern umgeben. Und – was 1945 nun wirklich nicht vorauszusehen war – Deutschland spielt ökonomisch in der weltweiten Champions-Liga. Dass dem so ist, ist ebenfalls einer mutigen und weitsichtigen Entscheidung der Persönlichkeiten der ersten Stunde zu verdanken.

3. Interdependenz der Ordnungen War anfänglich die Skepsis gegenüber einer liberalen Wirtschaftsordnung weit verbreitet, verwies ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern auf die Interdependenz der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Deren Gedankengut wird gemeinhin mit den Begriffen Ordoliberalismus und Freiburger Schule in Verbindung gebracht. Für diese Persönlichkeiten – zu nennen sind vor allem Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Franz Böhm – waren eine demokratische Staatsordnung und eine liberale Wettbewerbsordnung sowie eine pluralistische Gesellschaftsordnung untrennbar miteinander verbunden. Später war es vor allem der langjährige Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, Otto Schlecht, der die geistigen Grundlagen des Ordoliberalismus fortentwickelt und die Interdependenz der Ordnungen hervorgehoben hat. Politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und persönliche Freiheit bedingen einander. Freiheit ist unteilbar. Eine soziale Marktwirtschaft ist die einer Demokratie mit Mehrparteienkonkurrenz adäquate Wirtschaftsordnung. Käme es in einer Mehrparteiendemokratie mit zentraler Planwirtschaft nach jedem Regierungswechsel zu einer grundlegenden Änderung des Volkswirtschaftsplans, würde dies mit großer Wahrscheinlichkeit schnell in einer Wirtschaftsanarchie enden. Eine liberale Wirtschaftsordnung ist auch ein Wirtschaftssystem, das einer offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers entspricht.

4. Entscheidung für die Marktwirtschaft Ein in sich konsistentes Ordnungskonzept von Wissenschaftlern ist das eine, dessen praktisch-politische Umsetzung ist das andere. Wenn wir heute von einer freien Wirtschaft, von freien Märkten und von einer Sozialen Marktwirtschaft sprechen, so ist dies im Wesentlichen der Arbeit Ludwig Erhards und seiner Mitstreiter, insbesondere Alfred Müller-

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Armarck, zu verdanken. Ihm ist Eugen Biser in den 70er Jahren in der Grundsatzkommission der CSU noch begegnet. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch schien es keine erfolgversprechende Alternative zur staatlichen Zwangswirtschaft mit Rationierung, Bewirtschaftung und Bezugscheinen zu geben. Ludwig Erhard war anderer Meinung. Er wagte den Sprung ins kalte Wasser. Mit der im sogenannten Frankfurter Wirtschaftsrat gegen große Widerstände durchgesetzten Beseitigung der administrativen Zwänge öffnete er den Weg zu einem auf Privatinitiative, Wettbewerb und Leistungsprinzip beruhenden Wirtschaftssystem. Ludwig Erhard wird heute mit den vier großen „W“ unserer Nachkriegsgeschichte identifiziert: Währungsreform, Wirtschaftsordnung, Wiederaufbau und Wohlstand. Tatsächlich war die Währungsreform von 1948 größtenteils eine Entscheidung der Besatzungsmächte. Seine Leistung bestand demgegenüber in der Schaffung von ordnungspolitischen Rahmenbedingungen, indem er mit dem sogenannten Leitsätzegesetz die Fesseln für Privatinitiative beseitigte.

5. Bausteine einer freiheitlichen Wirtschaft Grundlage des neuen Konzepts bilden das Privateigentum, freie Märkte und damit freie Preisbildung, Vertrags- und Niederlassungsfreiheit, Offenhaltung der Märkte für neue Anbieter von innen und außen sowie die Gewährleistung eines möglichst stabilen Geldwerts und einer konvertiblen Währung – also das, was Eucken die konstitutiven Prinzipien einer Wettbewerbsordnung genannt hat. Diese konstituierenden Prinzipien einer Marktwirtschaft müssen ergänzt werden durch eine konsequente Wettbewerbs-, Konjunktur- und Wachstumssowie durch eine aktive Sozialpolitik. Die Marktwirtschaft ist insoweit von sich aus sozial, als der Verbraucher letztlich mit seinen Nachfrageentscheidungen über Struktur und Umfang der Produktion entscheidet. Für die Anbieter ist dieser Strukturwandel mitunter sehr hart und mit dem Ausscheiden aus dem Markt verbunden. Wir können dies gegenwärtig an den Folgen der Digitalisierung verfolgen, deren endgültige Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Amazon und E-Book mögen als Beispiele genügen. Wer hier die Entwicklung verschläft, den bestrafen die Verbraucher. Die Marktwirtschaft bedarf jedoch einer ergänzenden aktiven Sozialpolitik, indem vor allem die großen Lebensrisiken solidarisch abgesichert werden. Leitlinie hierfür bildet das Zusammenspiel von Selbstverantwortung, Solidarität und Subsidiarität im Sinne der katholischen Soziallehre und der protestantischen Ethik. Was der Einzelne selbst zu schultern in der Lage ist, darf er nicht auf die Gemeinschaft abwälzen. Nach Auffassung der Verfassungsjuristen ist unser Grundgesetz im Prinzip ordnungspolitisch neutral. Unsere Verfassung lässt einen großen Spielraum

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für die konkrete Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung. Allerdings stünden vor allem die Grundrechtsartikel des Grundgesetzes den Kernpunkten der Wirtschaftsordnung des gescheiterten Realsozialismus entgegen. Ich verweise, um nur einige Punkte zu nennen, auf die Artikel zur Eigentumsordnung, zur Niederlassungsfreiheit und zur freien Berufswahl. Insgesamt kann man sagen, dass unsere Verfassung wesentliche Elemente für eine freiheitliche, gleichzeitig sozial gebundene Wirtschaftsordnung enthält.

6. Erhards Entscheidung hat sich gelohnt. Die Entscheidung Ludwig Erhards für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung hat sich ohne Zweifel gelohnt. Knapp siebzig Jahre nach dem absoluten Tiefpunkt der deutschen Geschichte können wir in Deutschland ein Niveau an realem Wohlstand und sozialer Sicherheit verzeichnen, von dem unsere Großeltern nicht einmal zu träumen wagten. Auch im weltweiten Vergleich brauchen wir uns mit den Ergebnissen unseres Systems nicht zu verstecken. Der ganz überwiegenden Mehrheit unserer Bevölkerung geht es so gut wie nur wenigen Menschen in anderen Ländern. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft ist spätestens seit 1990 zu einem erfolgreichen Exportartikel geworden. Die marktwirtschaftliche Ordnung ist ein zeitloses Konzept. Gerade die Offenheit unserer Wirtschaft und die Offenheit unserer Märkte haben sich als äußerst flexibel erwiesen. Freiheitliche Wettbewerbsordnungen sind überaus lernfähig. Im Gegensatz zur staatlich geplanten Wirtschaft hat es unsere freiheitliche Ordnung geschafft, entscheidende Fortschritte bei der Bewahrung der ökologischen Lebensgrundlagen zu erzielen. Unser Ordnungskonzept erwies sich als flexibel genug, um die wirtschaftliche Wiedervereinigung Deutschlands ohne größere Spannungen zu bewältigen. Wer nicht gerade von ideologischer Blindheit geschlagen ist, der wird die immensen Erfolge bei der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den östlichen und westlichen Bundesländern einräumen müssen. In einer bemerkenswerten Studie arbeitet die Kreditanstalt für Wiederaufbau heraus, dass der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern von 1990–1999 mit den Wiederaufbau in der BRD von 1951–1959 vergleichbar ist.

7. Wettbewerb der Systeme Der Wettlauf des nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzenden Wettbewerbs der Systeme ist entschieden. Der Markt ist erfolgreicher als der Plan.

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Die Effizienz einer freiheitlichen Wirtschaft übersteigt, was alle wichtigen Indikatoren vom Einkommen über die soziale Absicherung bis hin zu Innovationen und Umweltschutz, betrifft diejenige einer geplanten Wirtschaft. Vor den politischen Umwälzungen zu Beginn der 90er Jahre lag die Produktivität der Planwirtschaften im früheren Ostblock bei höchstens 30 Prozent des westlichen Niveaus. Nur noch wenige Staaten setzen auf ein planwirtschaftliches System. Auch Kuba und Nordkorea werden sich öffnen und der Privatinitiative Räume geben müssen. Die Volksrepublik China setzt im gewerblichen Bereich voll auf freie Märkte. Ob sich in China auf Dauer eine staatliche Einparteienherrschaft mit einer Marktwirtschaft vereinen lässt, scheint mir angesichts der Interdependenz von politischer und wirtschaftlicher Ordnung mehr als fraglich. Der Kommunismus ist nach meiner Überzeugung in all seinen realen Varianten gescheitert. Für Marx und Engels war die Beseitigung des Privateigentums und dessen Überführung in Staatseigentum das ökonomische Patentrezept schlechthin. Weder ist es in den sozialistischen Systemen zur versprochenen Aufhebung der Klassengegensätze noch zum Absterben des Staates gekommen. Die Beendigung der vermeintlichen Anarchie der Märkte durch eine planmäßige Wirtschaftsorganisation hat keineswegs zum versprochenen Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit geführt. Der Abstand zur Entwicklung der Produktivkräfte in freiheitlichen Systemen war zuletzt so groß, dass ein grundlegender ordnungspolitischer und gesellschaftspolitischer Kurswechsel unumgänglich wurde. Auf Dauer lässt sich weder politische noch wirtschaftliche Freiheit durch staatliche Willkürherrschaft unterdrücken. Die friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa haben dies verdeutlicht.

8. Absage an Manchester-Kapitalismus Es ist gewiss das Verdienst von Karl Marx, die erheblichen Fehlentwicklungen im Zeitalter des Frühkapitalismus aufgezeigt und analysiert zu haben. Die Verfechter einer freiheitlichen Wirtschaft haben hierauf mit der Entwicklung des Sozialstaats geantwortet, der mit zur Zähmung des Manchester-Kapitalismus geführt hat. Trotzdem gibt es nach wie vor viele Menschen, die den bekannten freiheitlichen Wirtschaftssystemen ablehnend bzw. kritisch gegenüberstehen und ihnen vor allem einen Mangel an Gerechtigkeit zum Vorwurf machen. Ich kann dies nicht nachvollziehen. In Deutschland liegt die sogenannte Sozialleistungsquote, die den Anteil aller auf Sozialleistungen entfallenden Beträge am Sozialprodukt bemisst, bei über 30 Prozent. Wir haben ein progressives Steuersystem mit einer Spitzenbelastung von über 50 Prozent. Gewiss wird

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jede Generation für sich entscheiden müssen, wie ausgeprägt die Steuerprogression sein und wieviel vom Volkseinkommen für soziale Zwecke zur Verfügung gestellt werden soll. Fest steht jedoch: Je mehr für soziale Umverteilung zur Verfügung gestellt wird, desto weniger bleibt für Zukunftsinvestitionen übrig. Und wer beim steuerpolitischen Zugriff das Rad überdreht, der darf sich nicht wundern, wenn darunter über kurz oder lang die Leistungs- und Investitionsbereitschaft leiden. Wachstums- und Beschäftigungsverluste sind dann die zwangsläufige Folge. Deutschland hat von 2003 bis 2013 eine bemerkenswerte Reformbilanz zu verzeichnen. In der letzten Zeit ist die Reformbereitschaft in anderen europäischen Ländern wie Irland, Portugal, Spanien, Estland stärker vorangeschritten. Sicherlich weisen alle uns bekannten freiheitlichen Wirtschaftssysteme Mängel auf. Es ist Aufgabe der Politik, diese Mängel im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens schrittweise zu beheben. Hierfür empfiehlt sich Karl Poppers Ratschlag: Reformen statt Revolution! Wer – wie so manche Ideologien und Heilslehren – den Himmel auf Erden verspricht, der hat noch stets die Hölle produziert.

9. Freiheit braucht Ordnung und Verantwortung Nicht erst seit Immanuel Kant wissen wir, dass es keine schrankenlose Freiheit geben kann. Wirkliche Freiheit besteht nur da, wo die äußere Handlungsfreiheit des einen mit derjenigen des anderen in Übereinstimmung steht – eine Frage, die wohl im Mittelpunkt der meisten Beiträge zu den diesjährigen Eugen-Biser-Lectures steht. Eine wohlverstande Freiheit, um einen Begriff des amerikanischen Philosophen John Rawls abzuwandeln, bedarf der Ordnung und der Verantwortung. Wo Macht im Spiel ist, ist auch immer die Gefahr des Missbrauchs gegeben. Um Karl Popper zu zitieren: „Es gibt leider einen Missbrauch der Freiheit analog zu einem Missbrauch der Staatsgewalt […]. Wir brauchen die Freiheit, um den Missbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Missbrauch der Freiheit zu verhindern.“1 Auf die Wirtschaft angewandt bedeutet dies: Eine freie Wirtschaft kann nur funktionieren auf der Grundlage fester und kalkulierbarer rechtlicher Rahmenbedingungen. Einfacher ausgedrückt: Freie Wirtschaft und freie Märkte erfordern analog zum sportlichen Wettkampf Spielregeln, die von allen Beteiligten beachtet und deren Missachtung durch das Recht verfolgt werden. Eine wichtige Rolle kommt dabei dem Wettbewerbsrecht, der Finanzauf1 Popper, Karl, Bemerkungen zu Theorie und Praxis des demokratischen Staates, Sonderdruck der Bank Hofmann AG Zürich, München 1988, 17.

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sicht und generell dem Wirtschaftsrecht zu. Komplexe Industriegesellschaften sind mittlerweile durch einen Rechtsrahmen und damit verbunden ein umfassendes Bürokratienetz geprägt. Dieses hat ein Ausmaß erreicht, das mittlerweile kleinere und mittlere Unternehmen zu überfordern droht. Wer den Umfang der deutschen Gesetze und Verordnungen und darüber hinaus die wachsende Flut von EU-Vorschriften kennt, der wird einräumen müssen, dass das Zeitalter der grenzenlosen Freiheit der Märkte der Vergangenheit angehört. Für die praktische Wirtschaftspolitik ist es letztlich eine schwierige Gratwanderung, die Notwendigkeit der Freiheit mit der Notwendigkeit der Regulierung zum Ausgleich zu bringen. Eine freie Wirtschaft bedarf nicht nur eines konsequenten Rechtsrahmens, sondern darüber hinaus eines Mindestmaßes an persönlicher Verantwortung der handelnden Akteure. Was Ernst-Wolfgang Böckenförde für den freiheitlichen Staat formuliert hat, findet sich in ähnlicher Weise auch bei Wilhelm Röpke für die freiheitliche Wirtschaft. Ein effizienter Ordnungsrahmen ist notwendig, aber nicht ausreichend. Eine freiheitliche Wettbewerbsordnung ist auf eine ethische Grundlage angewiesen, die der Markt selbst nicht zu bieten in der Lage ist. Erforderlich ist vor allem eine ethische Selbstverpflichtung der wirtschaftlichen Eliten, die sich am Leitbild des sogenannten ehrbaren Kaufmanns orientieren muss. Wird hiergegen nachhaltig verstoßen, darf man sich nicht wundern, wenn das Vertrauen der großen Mehrheit der Menschen in das System untergraben wird. Die Unternehmen müssen sich in ihrem eigenen Interesse einer Compliance-Kultur verschreiben. Die konsequente Missachtung und Ablehnung von Bestechung in jeder Form ist kein Wettbewerbsnachteil, sondern ein Vorteil im weltweiten Konkurrenzkampf.

10. Finanzkrise und Globalisierung Die 2008 einsetzende globale Finanzkrise hat gezeigt, wohin eine Entgrenzung von Freiheit und Verantwortung führen kann. Ist das Gleichgewicht zwischen beiden gestört, kann davon die gesamte Realwirtschaft betroffen sein. Die Finanzkrise hat jedenfalls Defizite bei den Regeln zur Einschränkung der Freiheit der Finanzmarktakteure offenbart. Die Finanzkrise ist keine Systemkrise der freien Wirtschaftssysteme. Sie ist nicht monokausal erklärbar. Kurzfristiges Gewinnstreben der Finanzinstitute und eine mangelnde Aufsicht waren mit entscheidend. Darüber hinaus sind auch ordnungspolitische Defizite für die Krise verantwortlich. Durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs in Europa und durch die Reformprozesse in China hat die Globalisierung im Laufe der 90er Jahre einen gewaltigen Schub erhalten. Sie hat zuletzt ein Ausmaß angenommen, wie sie es vor dem Ersten Weltkrieg erreicht hatte. Globalisierung bedeutet eine Verflechtung und ein Zusammenwachsen der Güter- und der Finanz- und bald auch der Arbeits-

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märkte im weltweiten Rahmen. Am weitesten fortgeschritten ist die Globalisierung im Bereich der Finanzmärkte. Devisen, öffentliche und private Anleihen, Aktien und andere Finanzmarktprodukte werden rund um den Globus und rund um die Uhr gehandelt. Dabei sind sich die Experten einig: Der Abbau der Kapitalverkehrskontrollen und die Liberalisierung der Märkte haben sich – auch und gerade für Entwicklungs- und Schwellenländer – als wachstumsfördernd erwiesen. Wie die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts gezeigt hat, enden nationale Abschottung und Protektionismus in einer Sackgasse. Die betroffene Bevölkerung muss dies jeweils mit Wohlstandsverlusten bezahlen. Nationale Märkte funktionieren, weil sie in einen für alle Marktteilnehmer geltenden Rechtsrahmen eingebettet sind und weil für alle Akteure die gleichen verbindlichen Spielregeln gelten. Dies gilt auch und ganz besonders für den grenzüberschreitenden Binnenmarkt der Europäischen Union. Den globalen Finanzmärkten fehlt jedoch ein entsprechender globaler Rahmen. Im Hinblick auf Marktmacht und Missbrauch haben die führenden Industrienationen mit ihren Kartellbehörden und im Rahmen der Welthandelsorganisation wirksame Instrumente zur Verhinderung von Fehlentwicklungen geschaffen. Die Finanzmarktkrise muss zum Anlass genommen werden, um eine internationale Finanzmarktorganisation zu installieren und globale Spielregeln für die Finanzmärkte festzulegen. Die bislang vereinbarten Maßnahmen gehen in die richtige Richtung. Hervorzuheben sind insbesondere die Verschärfung der Bankenaufsicht und der Eigenkapitalregeln für Großbanken, die Stärkung des IWF sowie Einrichtungen zur besseren Früherkennung von Risiken. Nur am Rande sei vermerkt: Die Europäische Währungsunion hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Folgen der Finanzkrise in Europa in Grenzen gehalten haben. Ohne den gemeinsamen Euro wären die europäischen Währungen zum Spielball einer globalen Spekulation mit entsprechenden Turbulenzen auf den Güter- und Devisenmärkten geworden. Eine deutsche Währung wäre mit Sicherheit einem gravierenden Aufwertungsdruck ausgesetzt gewesen verbunden mit entsprechenden Einbrüchen im Export und in der Beschäftigung. Die globale Finanzkrise sollte nach meiner Überzeugung auch zum Anlass genommen werden, wieder verstärkt das wirtschaftswissenschaftliche Augenmerk auf die Fragen der Freiheit, der Ordnung und der Verantwortung zu richten. Wenn diese Krise auch auf ordnungspolitische Defizite zurückzuführen ist, dann müsste dies das Signal für eine Renaissance von Ordnungstheorie und Ordnungspolitik sein. Dies stellt die Wirtschaftswissenschaften – auch hier in der Ludwigs-Maximilians-Universität in München – vor neue Herausforderungen. Feinsinnige und hochkomplexe mathematische und ökonometrische Modelle haben unbestreitbar Fortschritte in der Nationalökonomie wie auch in der praktischen Wirtschaftspolitik hervorgebracht. Dies gilt beispielsweise für Fragen der Konjunktursteuerung oder der

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Wachstumsförderung. Doch genauso wichtig sind in naher Zukunft die Fragen nach effizienten ordnungspolitischen Rahmenbedingungen in einer wirtschaftlich globalisierten Welt. Wer glaubt, bei der Globalisierung das Rad wieder zurückdrehen zu können oder gar zu müssen, der wird von der Geschichte eines anderen belehrt werden.

11. Schlussbemerkungen Die konkrete Ausgestaltung einer freien Wirtschaft mit freien Märkten wird auch in Zukunft von Land zu Land verschieden sein. Es ist keineswegs so, dass die nationalen Parlamente und Regierungen zu zahnlosen Tigern degeneriert wären. Wo nationale Schiedsrichter auf sich allein gestellt überfordert sind, bedarf es einer Zusammenarbeit, wie wir sie mit dem Projekt Europa mit großem Erfolg beschritten haben. Wo dies nicht ausreicht, bedarf es der Initiative der großen Industrienationen im Rahmen des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, der Welthandelsorganisation und anderer Einrichtungen, um Missbräuche zu verhindern. Eine liberale Ordnung und damit auch eine freiheitliche Wirtschaft sind auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens angewiesen. Für jene Kritiker, die seit einigen Jahren von einem Systemversagen sprechen, sind die Segnungen der Freiheit, der materielle Wohlstand und die soziale Sicherheit längst zu einer puren Selbstverständlichkeit geworden, deren Wurzeln nicht mehr hinterfragt werden. Ich bin demgegenüber der Überzeugung: Die Zukunft gehört dem demokratischen Rechtsstaat, der offenen Gesellschaft und der freiheitlichen Wirtschaft. Es gilt, was der Philosoph Joseph Bernhart 1949 zum Thema: Philosophische Aspekte der demokratischen Krise formulierte: Es gilt die Ordnung der Dinge zu erkennen und sich selbst in Ordnung zu bringen.

Literatur Es werden nur Titel angeführt, die zur Vorbereitung meines Beitrags herangezogen wurden. Engels, Friedrich, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, Berlin 1982. Eucken, Walter, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Berlin/Heidelberg/New York 1965. –, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Hamburg 1971. Kahnt, Helmut [u. a.], Fünfzig Jahre Deutsche Mark, Regenstauf 1998. Karpen, Ulrich, Wirtschaftsordnung und Grundgesetz, St. Augustin 1979. Metzler, Gabriele, Der deutsche Sozialstaat, Stuttgart/München 2003.

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Popper, Karl, Bemerkungen zu Theorie und Praxis des demokratischen Staates, Sonderdruck der Bank Hofmann AG Zürich, München 1988. Schickling, Willi, Entscheidung in Frankfurt, Stuttgart 1978. Stark, Franz (Hg.), Revolution oder Reform? Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation, München 1971. Schirrmacher, Frank/Strobl, Thomas (Hg.), Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 2010. Schlecht, Otto, Ordnungspolitik für eine zukunftsfähige Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. 2001.

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1. Wann erscheinen uns Entscheidungen als frei? Zunächst einige Anmerkungen zur Frage, was wir eigentlich unter Freiheit verstehen. Wir nehmen das Wort oft in den Mund, aber denken wahrscheinlich wenig darüber nach, was es uns eigentlich wirklich bedeutet. Soll es heißen, dass wir, als wir entschieden haben, auch anders hätten entscheiden können? Oder dass wir anders hätten wollen können, wie Schopenhauer das versucht hat zu deuten? Oder einfach nur, dass wir Handlungsspielraum haben, dass wir einen größeren Raum von Optionen haben? Wenn wir Freiheit bewerten, was bei Gericht angestrebt wird, dann wird sehr oft gefragt, ob die Entscheidung bewusst getroffen wurde. Dann wird gefragt, ob zum Zeitpunkt des Entscheidens der Entscheider bei vollem Bewusstsein war, ob das Bewusstsein nicht getrübt war. Dann wird gefragt, ob Einsicht in die Folgen der Entscheidung möglich war. Weiter wird gefragt, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung irgendwelche äußeren oder inneren Zwänge bestanden. Also Befehlsnotstand als äußerer Zwang oder die Abhängigkeit von Drogen oder irgendwelchen anderen psychopathologischen Konstellationen als innere Zwänge. Und schließlich wird gefragt, wie groß der Optionenraum war. Ob man überhaupt wählen konnte zwischen Alternativen. Diese Bewertungspraxis zielt darauf ab, dass nur solche Entscheidungen als wirklich frei angesehen werden, die auf bewusster Abwägung aller relevanten Variablen beruhen; also Argumenten zugänglich sind und frei von äußeren und inneren Zwängen getroffen werden können. Das wären die freien Entscheidungen, wie sie auch gerichtsrelevant sind. Nun wissen wir aber, dass unsere Handlungen auch von unbewussten Motiven gesteuert werden. Wir wissen, dass wir unbewusste Entscheidungsmechanismen haben, die wir oft heranziehen, wenn wenig Zeit bleibt oder wenn keine rational fassbaren Argumente zur Verfügung stehen. Und wir wissen auch, dass die beiden Entscheidungsmechanismen, die bewussten und die unbewussten, nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten ablaufen. Typischerweise beruhen bewusste Entscheidungen auf der seriellen Abwägung von rationalen Gründen. Man holt sich aus dem Kurzzeitspeicher die vorhandenen Gründe, wägt diese jeweils paarweise gegeneinander ab, bringt dann einen dritten Grund ins Spiel und so weiter, bis schließlich eine, wie wir glauben, optimale Entscheidung getroffen werden kann. Ganz anders verhält es sich mit den unbewussten Entscheidungspro-

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zessen, auf die wir zurückgreifen z. B. in kniffeligen Verkehrssituationen. Wenn sehr viele Variablen gleichzeitig beurteilt werden müssen, etwa die Trajektorien der verschiedenen Verkehrsteilnehmer, bleibt meist nicht die Zeit, die Variablen der Reihe nach zu bewerten und sich zu überlegen, was man am besten tun sollte. In solchen Fällen entscheidet man unmittelbar und sehr schnell, auf der Basis von Heuristiken, die meistens auf entweder angeborenen Reflexen beruhen oder auf Erfahrungen, die einem im Augenblick der Entscheidung aber nicht bewusst sind. Also wenn sehr viele Variablen gleichzeitig miteinander verrechnet werden müssen und wenig Zeit zur Verfügung steht, tut man gut daran, sich auf die unbewussten Entscheidungsmechanismen zu verlassen. Wenn Zeit vorhanden ist, wenn rationale Argumente verfügbar sind und wenn sich die Lösung im Prinzip auch berechnen ließe, also mit rationalen Verfahren erreichen ließe, dann sind bewusste Entscheidungsprozesse in der Regel die verlässlicheren. Nun wissen wir auch, dass zwischen diesen beiden Entscheidungsmechanismen Widersprüche bestehen können. Es gibt die Aussagen „Ich habe mich nach bestem Wissen und nach bester Einsicht entschieden, aber es fühlt sich schlecht an“. In dem Fall gibt es einen Konflikt zwischen unbewussten Motiven und den bewussten rationalen Argumenten. Oder das Umgekehrte ist natürlich auch möglich „Ich habe eine völlig irrsinnige Entscheidung getroffen, aber sie fühlt sich gut an, ich habe es deshalb getan“. Wann also empfinden wir uns wirklich als frei? Es gibt da eine Definition von Schiller, der sagt „Man fühlt sich dann frei“, und er hat dabei nicht an den absoluten Freiheitsbegriff gedacht, „wenn das Ergebnis der bewussten Entscheidung, der bewussten Deliberation von Argumenten konkordant ist mit den unbewussten Motiven“. In solchen Fällen hätte man das Gefühl, frei entschieden zu haben. Natürlich nur dann, wenn auch der Optionenraum sehr groß war, wenn man zwischen Alternativen entscheiden konnte und nicht gezwungen war, etwas zu wählen, was unvermeidlich war. Nun könnte man meinen, wir seien frei, wenn wir bewusst entscheiden und wenn das Unbewusste zum gleichen Schluss käme. Das Problem ist aber, dass beide Entscheidungsprozesse auf neuronalen Prozessen beruhen. Die Entscheidung fällt im Gehirn. Auch die Argumente, die man gerade gehört hat oder die moralischen Bedenken und früheren Erfahrungen, die man aus dem Gedächtnis aufruft, beruhen natürlich auf neuronalen Aktivitätsmustern – ich komme darauf noch zurück. Es wird also das, was man entscheidet, abhängig sein von dem Erregungszustand des Gehirns in dem Moment, in dem entschieden wird. Und auf diesen Erregungszustand nimmt nun alles Einfluss, was über Sinnesorgane von der Außen- und Innenwelt im Gehirn ankommt. Dann gibt es noch ein weiteres Problem, auf das ich aufmerksam machen möchte. Die bewussten Gründe, die wir anführen, um eine Entscheidung zu rechtfertigen, sind oft nicht die wirklichen Motive. Das liegt daran, dass Entscheidungen maßgeblich von unbewussten Motiven beeinflusst werden, wie ich schon gesagt hatte, und dass man, weil man keinen Zugang zu diesen

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unbewussten Motiven hat, aber gerne versichert sein möchte, warum man etwas getan hat, in der Regel post hoc rationalisiert, was man getan hat. Da gibt es sehr eindrucksvolle Beispiele aus psychophysischen Untersuchungen. Man kann Anweisungen ins Gehirn von Probanden einspielen, ohne dass diese sich dieser Anweisungen bewusst werden. Man muss die Reize geschickt maskieren und der rechten Hirnhälfte zuspielen. Dann kann man beobachten, dass das Gehirn die Anweisungen verstanden hat, die Person die Anweisung ausführt, die Gründe nicht kennt, aber sich der Handlung natürlich bewusst wird. Wenn man dann fragt „Warum haben Sie denn das jetzt gemacht?“, dann bekommt man eine rationale Erklärung im intentionalen Format „Weil ich dies oder jenes tun wollte und zwar deshalb“. Der Versuchsleiter weiß, dass das erfundene Gründe sind. Die Versuchsperson ist jedoch fest davon überzeugt, dass sie das, was sie getan hat, auch wirklich wollte. Wie also verhalten sich diese Erfahrungen, die uns den Eindruck geben, wir seien Herr im Haus und könnten zu jeder Zeit so oder so entscheiden, zu den neurobiologischen Erkenntnissen, über die wir inzwischen verfügen?

2. Einige Behauptungen der Neurobiologie Dazu eine kurze Zusammenfassung der Behauptungen der Neurobiologie und einige Erläuterungen, wie wir Neurobiologen glauben, dass es im Gehirn zugeht. Wir gehen davon aus, dass alles Wissen, über das wir verfügen können, in der funktionellen Architektur des Gehirns residiert, also gespeichert ist. Mit funktioneller Architektur meinen wir die Art und Weise, wie Nervenzellen miteinander wechselwirken, ob sie erregend oder hemmend miteinander verbunden sind und wer mit wem kommuniziert. Dazu muss man wissen, dass es im Gehirn ganz anders zugeht, als in Computern. Wir haben im Gehirn keine Trennung zwischen Datenspeicher, Programmspeicher und Rechenwerk, sondern im Gehirn gibt es nur Neuronen, die auf spezifische Weise miteinander verbunden sind. Die Art und Weise, wie sie verbunden sind, wer mit wem spricht, auf welche Weise und wie effizient die Kommunikationskanäle sind, legt alle Hirnfunktionen fest. Es gibt keine anderen Freiheitsgrade. Das bedeutet, dass auch die Regeln, nach denen das gespeicherte Wissen verwaltet und angewandt wird, um Handlungen zu steuern, ebenfalls in dieser funktionellen Architektur gespeichert sein müssen, und durch diese festgelegt sind. Dann behaupten wir, dass alle kognitiven Funktionen, die wir an uns und unserem Gegenüber wahrnehmen können, also auch die höchsten mentalen Funktionen, die oft mit seelischen und geistigen Prozessen verbunden werden, auf neuronalen Prozessen beruhen; also immer die Folge von neuronalen Prozessen sind und niemals deren Ursache. Dies ist ein wichtiger Punkt für spätere Überlegungen! Und dann behaupten wir, dass neuronale Prozesse den geltenden Naturgesetzen gehorchen, dass wir keine Zusatzan-

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nahmen machen müssen, zumindest derzeit, um das zu erklären, was wir an Verhaltensleistungen an Tieren und Menschen beobachten können. Was begründet diese etwas kühn anmutenden Behauptungen? Der Grund ist, dass sich das Verhalten einfacher Organismen, z. B. gewisser wirbelloser Tiere, vollständig aus der Dynamik ihrer Nervensysteme ableiten lässt. Man kann deren Verhalten oft sogar voraussagen, wenn man deren neuronale Aktivität misst. Zur Beschreibung dieser einfachen Systeme reichen die bekannten Naturgesetze vollkommen aus. Wir brauchen keine Zusatzannahmen zu machen. Andererseits wissen wir auch, dass die Evolution extrem konservativ bei der Entwicklung von höheren Organismen vorgegangen ist. Die biophysikalischen Eigenschaften von Nervenzellen und auch die Signaltransduktionsmechanismen haben sich nicht verändert auf dem Weg von der Schnecke bis hin zur Großhirnrinde des Menschen. Alles, was bei Schnecken erforscht wird, gilt eins zu eins auch in unserem Gehirn, weshalb Medikamente, die an Schneckenzellen entwickelt worden sind, Anti-Epileptika zum Beispiel, auch beim Menschen wirken. Dann sehen wir, dass die Evolution auch bei der Entwicklung der Strukturen extrem konservativ war. Die letzte große Erfindung in der Evolution war die Erfindung der Großhirnrinde. Seitdem haben keine neuen strukturellen Entwicklungen stattgefunden. Es gibt nur mehr vom Gleichen. Es gibt mehr Großhirnrinde. Und diese Zunahme der Rechenkapazität, diese Volumenzunahme einer Struktur, in der bestimmte Rechenoperationen ablaufen, macht den großen Unterschied zwischen unseren nächsten Nachbarn, den Menschenaffen und dem Menschen aus. Dass wir Kulturen aufbauen konnten, verdanken wir kognitiven Fähigkeiten, die auf Funktionen der Großhirnrinde beruhen. Eine quantitative Vermehrung führte zu qualitativ Neuem.

3. Philosophische Implikationen der Hirnforschung Die Hirnforschung hat naturgemäß eine Fülle von Berührungspunkten zu philosophischen Fragestellungen. Und ich will heute zwei von ihnen herausgreifen, weil diese für das Thema wichtig sind. Einmal gibt es Berührungen zur Epistemologie, also zu der Wissenschaft, die sich die Frage stellt, welcher Natur die Erkenntnis ist, wie erkenntnisfähig wir sind. Und dann will ich die Frage nach dem freien Willen und der Verantwortung herausgreifen. Weniger befassen werde ich mich mit dem Leib-Seele-Problem, also der Frage, wie aufgrund der materiellen Wechselwirkungen in Gehirnen geistige, seelische, immaterielle Phänomene hervorgehen können, aber ich werde diese Frage streifen. Und etwas am Rand berührt wird auch die Frage, wie sich in diesem Gehirn das intentionale Ich konstituieren kann, das entscheidende Selbst, das plant, handelt, Verantwortung übernimmt. Und dazu muss ich einen kurzen Ausflug in die Wahrnehmungsphysiologie machen.

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4. Die konstruktivistische Natur der Wahrnehmung Es wird immer deutlicher, dass unsere Wahrnehmungen die Folge von wissensbasierten rekonstruktiven Prozessen sind. Die Welt ist also nicht so strukturiert, wie sie uns scheint, sondern wird durch regelhafte und wissensbasierte Interpretationen rekonstruiert, die wir dann als Wahrnehmungen erfahren. Und das gilt gleichermaßen für die Wahrnehmung der Außenund der Innenwelt. Das bedeutet aber, dass auch unser Selbstbild, die Art und Weise, wie wir uns wahrnehmen, das Ergebnis eines konstruktiven Prozesses ist, der auf ganz bestimmten Erfahrungen beruht. Somit stellt sich die Frage: „Was bestimmt denn nun, wie wir uns und die Welt wahrnehmen und wie wir auf das Wahrgenommene reagieren?“ Und diese Frage reduziert sich nach dem eingangs Gesagten auf die Frage nach den Determinanten der funktionellen Architektur unseres Gehirns, denn diese legt fest, wie wir wahrnehmen und wie wir entscheiden. Drei Prozesse bestimmen die funktionelle Architektur des Gehirns. Das ist zum einen natürlich die Evolution selbst, denn über die Gene wird die globale Gehirnstruktur vorgegeben. Das heißt also, dass die Evolution als Quelle von Wissen über die Welt betrachtet werden kann. Durch Anpassung an die Bedingungen der Welt wird Wissen erworben, über die Gene tradiert und in der Verschaltungsarchitektur des Gehirns ausgedrückt. Dabei handelt es sich um implizites Wissen, um Wissen, von dessen Vorhandensein wir in der Regel nichts wissen, weil es erworben wurde, als wir noch nicht da waren. Dieses Wissen haben wir übernommen, geerbt, wir werden damit geboren. Die zweite wichtige Wissensquelle ist die postnatale Entwicklung, die mit der erfahrungsabhängigen Ausbildung von Hirnarchitekturen einhergeht. Das menschliche Gehirn entwickelt sich von der Geburt an bis etwa zum 25. Lebensjahr. Dieser Entwicklungsprozess ist dadurch charakterisiert, dass Nervenzellen fortwährend neue Verbindungen ausbilden. Ein Teil dieser Verbindungen wird wieder eingeschmolzen. Es findet also ein ständiger Umbauprozess statt, der von Erfahrung geleitet wird. Es werden die Faserverbindungen erhalten, die gebraucht werden und die, die sich als unangepasst erweisen, werden wieder vernichtet. Das heißt also, Einflüsse aus der Umwelt, Interaktionen mit Umwelt verändern Hirnarchitekturen über die Beeinflussung der Aktivitäten der Nervenzellen, die ihrerseits dann wieder dafür sorgen, dass bestimmte Verbindungen erhalten bleiben und andere verschwinden. Auch über diesen Prozess, der sich in sichtbaren Architekturveränderungen niederschlägt, wird Wissen über die Welt im Gehirn gespeichert. Ein großer Teil dieses Wissens ist ebenfalls implizit, weil wir in der frühen Entwicklung, etwa bis zum vierten Lebensjahr, in der Regel keine Erinnerung an den Wissenserwerb haben. Man spricht von frühkindlicher Amnesie. In dieser Zeit sind die Strukturen, die man braucht, um nicht nur Wissen zu erwerben, sondern sich auch daran zu erinnern, in welchem

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Kontext man es erworben hat, noch nicht ausgebildet. Man hat noch kein biografisches Gedächtnis, oder wie wir auch sagen, episodisches Gedächtnis. Man weiß, aber man weiß nicht, woher man hat, was man weiß. Und das ist bei dem Wissen, das in den ersten Lebensjahren erworben wird, in der Regel der Fall. Und dann gibt es natürlich noch das Wissen, das über das lebenslange Lernen abgespeichert wird. Dieses wird jetzt nicht mehr über im Lichtmikroskop sichtbarer Strukturänderungen oder Verschaltungsänderungen im Gehirn abgespeichert, sondern lediglich durch Verstärkung und Abschwächung bestehender Verbindungen. Auch diese Vorgänge haben strukturelle Grundlagen. Diese Veränderungen kann man aber nur noch elektronenmikroskopisch sehen, weil sie sich nur noch in der molekularen Zusammensetzung der Synapsen ausdrücken. Die funktionelle Architektur des Gehirns, mit dem wir durch unser Leben gehen, wird also sowohl durch genetische als auch epigenetische Faktoren festgelegt. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Einflussfaktoren ist praktisch unmöglich. Man kann nur sagen, dass beide eine ganz große Rolle spielen. Das, was wir also in unserem Gehirn an Wissen gespeichert haben, Wissen, das seinerseits die Art und Weise bestimmt, wie wir wahrnehmen, die Welt und uns selbst, ist über diese Mechanismen ins Gehirn gelangt und ein Großteil von diesem Wissen ist uns nicht bewusst. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, dass intuitiv plausibel macht, welch großen Einfluss Vorwissen auf unsere Wahrnehmung hat. Manche von Ihnen haben das vielleicht schon gesehen, verzeihen Sie mir, aber es ist einfach zu schön, als dass ich es nicht zeigen wollte.

Abb.: Optische Täuschung durch den Schattenfall eines Zylinders. Die Felder A und B sind gleich hell, obwohl dies anders erscheint (links), das zeigt sich bei Abdecken der entsprechenden Felder (rechts). Das Sehsystem berücksichtigt den Schatten (nach Edward H. ADELSON).

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Die Behauptung ist, dass das Quadrat A und das Quadrat B absolut gleich hell sind, also dieselbe Menge von Photonen, von A und B im Auge eintrifft. Das werden Sie zunächst negieren. Genauso entschieden, wie Sie negieren würden, dass Ihr Wille nicht frei ist. Erinnern Sie sich an diesen Zusammenhang bitte ein bisschen später noch einmal. Jetzt zeige ich Ihnen aber, dass stimmt, was ich Ihnen gesagt habe, indem ich ein wenig vom Kontext wegnehme. Jetzt sehen Sie, im Auge kommen tatsächlich von A und B gleich viele Photonen an. Der Grund, warum Sie das so anders wahrnehmen ist, dass das Gehirn zusätzlich auch noch den Schatten sieht, den die Säule wirft. Das Gehirn führt einen Rechenvorgang aus, von dem Sie nichts wissen. Es folgert „Wenn über B ein Schatten liegt und von B trotzdem genauso viele Photonen im Auge ankommen wie von A, also eine schwächer beleuchtete Fläche genauso viel zurückstrahlt wie eine gut beleuchtete Fläche, dann muss die schwächer beleuchtete Fläche heller sein. Und dann wird sie hellgerechnet. Und was Sie sehen, ist das Ergebnis eines recht komplizierten Rechenprozesses und keineswegs die reale Helligkeitsverteilung. Das Gehirn präsentiert als primäre Wahrnehmung das Ergebnis einer sehr komplizierten Vergleichsoperation. Ich würde nun zu weit vom Thema abschweifen, wenn ich erläutern würde, warum diese Berechnungen wichtig sind. Man braucht sie, um Invarianz in der Welt zu erzeugen, um bei unterschiedlichen Beleuchtungsverhältnissen die giftige Beere von der ungiftigen unterscheiden zu können, auch wenn die Spektralzusammensetzung der Lichtverhältnisse völlig anders ist, was zu verschiedenen Tageszeiten der Fall ist. Es gibt zahllose Beispiele, die begründen, warum das Gehirn Inferenzen machen und Relationen rechnen muss, und wir nicht einfach wahrnehmen, was objektiv der Fall ist. Es wird uns immer nur das Ergebnis komplizierter Rechenvorgänge bewusst, die ihrerseits wieder auf Vorwissen und auf evolutionärer Anpassung beruhen. Vermutlich gilt das auch für unsere Binnenwahrnehmung, also auch für die Art und Weise, wie wir uns selber wahrnehmen. Das bedeutet, wir konstruieren uns nicht nur die Welt draußen, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch unser Selbstbild. Die meisten Konstruktionen basieren auf implizitem Wissen, Wissen, von dem wir nicht wissen, dass wir es haben und erfolgen, nach Regeln, die uns meist auch nicht bewusst sind.

5. Gibt es einen Beobachter im Gehirn? Nun stellt sich die Frage, wie sich Wahrnehmungen und damit auch Entscheidungen darüber, dass „etwas stimmt“ im Gehirn konstituieren. Es geht um die Frage, ob es irgendwo einen verortbaren Beobachter gibt, der wahrnimmt und entscheidet. Und an dieser Stelle werden wir mit dem Rätsel konfrontiert, dass unsere Intuition, also unsere Selbstwahrnehmung, im Widerspruch steht zu neurobiologischen Erkenntnissen. Wenn man sich fragt,

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wie wir verfasst sind, dann neigt man dazu zu glauben, dass es im Gehirn irgendwo eine zentrale autonome Instanz gibt, die wir umgangssprachlich mit unserem „Ich“, mit unserem Selbst gleichsetzen. Dies wäre dann die Instanz, die bewertet, wahrnimmt, entscheidet, koordiniert, plant und Handlungen initiiert. An diesem Ort würde man auch die Kreativität verorten, denn diese ist es, was uns ausmacht und befähigt, dies oder jenes zu tun oder zu lassen oder Neues in die Welt zu bringen. Diese Vorstellung hat zumindest die abendländische Geistesgeschichte durchzogen und zwar unabhängig davon, ob man sich einer dualistischen Weltsicht anschließen möchte, die eine strenge ontologische Trennung vornimmt zwischen der materiellen und der geistigen Welt oder ob man einen monistischen Standpunkt einnimmt und sagt: Es ist alles eines und die geistige Dimension entsteht über soziale Wechselwirkungen kognitiver Agenten, die materielle Grundlagen haben. All diese philosophischen Positionen gehen davon aus, dass es irgendwo im Gehirn eine zentrale Instanz geben müsse. Die wissenschaftliche Sicht, die auf Erkenntnissen aus der Dritten-Person-Perspektive beruht, ist davon radikal verschieden. Wir sehen das Gehirn als ein distributiv organisiertes, sich selbst organisierendes System an, das eine hoch nichtlineare Dynamik aufweist – darauf komme ich noch zurück – in dem sich keine übergeordnete Instanz ausmachen lässt, – kein Beobachter, kein Beweger, kein Entscheider. Die Großhirnrinde des Menschen umfasst etwa 120 verschiedene Hirnrindenareale. Diese unterscheiden sich geringfügig durch die Zusammensetzung der Zellpopulationen, was aber nur im Mikroskop zu sehen ist. Nachdem Architektur Funktion festlegt, bedeutet dies, dass alle Hirnrindenareale nach den gleichen Prinzipien arbeiten müssen. Die einen befassen sich mit dem Sehen, weil sie Aktivitäten vom Auge bekommen, die anderen mit dem Hören und der Spracherkennung, weil sie ihre Information von den Ohren bekommen und so weiter. Wir haben also viele verschiedene Areale vor uns, die sich mit unterschiedlichen Teilaspekten der Welt befassen und unterschiedliche Effektoren ansteuern. Die motorische Rinde die Muskeln des Körpers, Sprachregionen bevorzugt Organe, die mit Sprachproduktion zu tun haben und so weiter. Wenn man analysiert, wie diese Areale untereinander verbunden sind, dann ergibt sich ein recht verwirrendes Bild. Fast alle Verbindungen sind reziprok und Schätzungen legen nahe, dass etwa 70 Prozent aller möglichen Verbindungen zwischen den einzelnen Arealen tatsächlich realisiert sind. Das heißt, man kann von jedem Punkt, sprich von jedem Neuron zu jedem anderen Neuron entweder direkt oder mit nur einmal oder zweimal Umsteigen gelangen. Es handelt sich um ein unglaublich dichtes, interaktiv gekoppeltes Netzwerk. Und so stellt sich die Frage, wie in solch einem System kohärente Wahrnehmungen entstehen können; wie so ein System entscheiden und koordinierte Aktionen planen und ausführen kann. Und dann ist da schließlich die Frage, die uns hier besonders beschäftigt, nämlich wie sich das wollende Ich in so einem System konstituiert. Dazu ein kleines Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, so ein System wird konfrontiert mit einem sensorischen

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Objekt, das man betasten kann, das man sehen kann und das irgendwelche Laute produziert. In diesem Fall würden eine Vielzahl, wahrscheinlich die Mehrheit der vorhandenen Neuronen auf die eine oder andere Weise aktiviert, Nervenzellen, die auf die verschiedenen Merkmale dieses komplexen Objektes ansprechen. Also Neurone im Hörsystem würden z. B. auf das Gebell reagieren, wenn es sich um einen Hund handelt, die im Sehsystem auf die visuellen Aspekte des Tieres und die im somatosensorischen System auf die Rückmeldung vom Tastsinn. Gleichzeitig würden die Neuronen im limbischen System aktiv werden und dafür sorgen, dass das, was wahrgenommen wird, emotional bewertet wird. Wenn es sich um ein Tier handelt, ob es aggressiv ist, ob es friedlich ist, ob man Angst haben muss oder nicht. Die Frage ist jetzt, wo in diesem System das Wahrnehmungsobjekt zu verorten ist? Und die Antwort ist: Es gibt keinen bestimmten, fest umschriebenen Ort, an dem diese Wahrnehmung sich konstituieren könnte. Stattdessen hat man es mit einer Wolke raumzeitlich strukturierter Aktivitäten von vielen verteilten Nervenzellen zu tun. Dies ist die nicht weiter reduzierbare Beschreibung der neuronalen Entsprechung eines Wahrnehmungsobjektes. In der Fachsprache würde man sagen, man erhält einen hochdimensionalen Vektor von Aktivität. Die große Frage, die die Bewusstseinsforschung plagt, ist, wie nun aus diesem raumzeitlichen Muster von Aktivität eine subjektive Wahrnehmung wird samt der dazugehörigen Emotionen. Das ist hier nicht das Thema. Dieser Frage nachzugehen, würde einen weiteren Beitrag erfordern.

6. Das Bindungsproblem Behandelt werden muss aber in diesem Kontext die Frage, wie in diesem Gewirr von Neuronen und Verbindungen dafür gesorgt wird, dass das, was zusammengehört, auch wirklich zusammengebunden wird. Es könnte ja sein, dass man drei, vier Wahrnehmungsobjekte gleichzeitig zu verarbeiten hat. Dann entstünden drei, vier solcher Aktivitätswolken, die sich räumlich durchdringen. Diese müssen aber getrennt gehalten werden, um zu verhindern, dass die Objekte miteinander verschmelzen. Wie also lässt sich trennen, was semantisch unverbunden ist und verbinden, was semantisch zusammen gehört. Eine Option besteht darin, semantische Bezüge durch zeitliche Kohärenz zwischen den neuronalen Antworten zu definieren. Intuitiv können Sie das gut fassen, wenn Sie sich vorstellen, es würden zwei Ereignisse gleichzeitig passieren. Sie würden diese sofort miteinander verbinden, weil sie zeitlich koinzident sind. Oder wenn das Eine dem Anderen folgt, würden Sie eine Kausalbeziehung zwischen den beiden vermuten. Wenn die Ereignisse aber zeitlich völlig unkorreliert auftreten, würden Sie keine Verbindung vermuten. Befunde, die wir über die Jahre in unserem Institut in Frankfurt erhoben haben, lassen vermuten, dass das Gehirn die Option nutzt, semantische Be-

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ziehungen durch zeitliche Relationen zwischen neuronale Antworten zu kodieren. Den Aktivitäten von Neuronen wird eine zeitliche Struktur aufgeprägt, indem die Aktivitätssequenzen eine oszillatorische Komponente erhalten. Sobald man Oszillationen hat, kann man sie sehr leicht synchronisieren oder desynchronisieren und dadurch zeitliche Beziehungen definieren. Auf diese Weise kann zeitliche Kohärenz sehr leicht und flexibel moduliert werden. Neuronen, die für ein gemeinsames Objekt kodieren, können für den Zeitraum, in dem das Objekt wahrgenommen wird, ihre Aktivitäten untereinander synchronisieren, während Neuronen die unverbundene Inhalte kodieren, nicht synchronisiert werden. Die Schlussfolgerung aus all dem wäre: Neuronen, die sich an der Kodierung von semantisch verbundenen Merkmalen beteiligen, synchronisieren ihre Aktivität und können damit als Gruppe erkannt werden, die gemeinsam einen Inhalt definiert. Zugleich lassen sich diese Neuronen dadurch von jenen abgrenzen, die sich anderen Inhalten widmen. Intuitiv ist das plausibel. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind jedoch sehr kompliziert und ihre Diskussion sprengt den Rahmen dieses Beitrags. Wichtig ist nur die Schlussfolgerung: Inhalte werden durch zeitlich kohärente Ensembles von Neuronen kodiert. Es sind dies große Gruppen, die sich ständig in unterschiedlichen Zusammensetzungen konfigurieren. Jedes einzelne dieser Neuronen ist nur für einen bestimmten Teilaspekt des zu kodierenden Inhaltes zuständig. Im visuellen System z. B. gibt es Neuronen, die spezifisch auf bestimmte Orientierungen von Konturen oder Bewegungsrichtungen, Farbkontraste oder Texturelemente reagieren. Das sind Spezialisten, die dann kombiniert werden müssen zu einem übergeordneten Ganzen, um ein Objekt zu kodieren.

7. Das neuronale Korrelat von Entscheidungen Nun gilt dieses Kodierungsprinzip mit großer Wahrscheinlichkeit für alle Inhalte, gleich ob es sich um Inhalte von Wahrnehmungen oder Denkprozessen, von Gefühlen oder Entscheidungen handelt. Immer werden die verarbeiteten Inhalte auf solchen komplexen raumzeitlichen Erregungsmustern beruhen, an denen sich jeweils sehr viele weit verteilte Neuronen beteiligen. Fast alle Funktionen beruhen auf Interaktionen in komplexen Netzwerken, die ad hoc geformt werden. Da die Naturgesetze gelten, muss der jeweilige Zustand des Gesamtsystems, also die jeweilige Konfiguration solcher Aktivitätsvektoren von dem unmittelbar vorausgehenden Zustand und von der Gesamtheit der im Augenblick auf das System einwirkenden Aktivitäten abhängig sein. Wenn ich sage, von der Gesamtheit der gerade von außen einwirkenden Einflüsse, dann meine ich damit zum Beispiel die Gesamtheit aller Sinnessignale, die gerade ankommen. Dazu gehört auch ein Argument, das

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gerade gehört, in neuronale Aktivität übersetzt, von den Sprachzentren dekodiert und als Aktivitätsmuster zur Verfügung gestellt wird. Es wird nur ganz selten der Fall sein, dass es bei einem gegebenen Zustand zwei mögliche, gleich wahrscheinliche Folgezustände gibt. Denn nur dann würden zufällige Fluktuationen in den Aktivitäten dieses Gesamtsystems darüber entscheiden, welche Bifurkation eingeschlagen wird. In den allermeisten Fällen ist festgelegt, was als Nächstes passieren wird. Um intuitiv erfahrbar zu machen, wie es sich anfühlt, wenn das System zu ganz bestimmten Entscheidungen konvergiert und nicht zu anderen, genügt es, sich eines der Kippbilder vorzustellen, die auf verschiedene Weise wahrgenommen werden können, wobei sich die jeweiligen Wahrnehmungen ausschließen und abwechselnd durchsetzen. Es wird sich immer die konsistenteste, wahrscheinlichste und stimmigste Lösung bei einem bestimmten Wahrnehmungsproblem durchsetzen. Und das ist bei Entscheidungsprozessen nicht anders. Auch hier sind ständig mehrere Möglichkeiten vorhanden, aber abhängig von den Ausgangsbedingungen ist nur die jeweils wahrscheinlichste Entscheidung möglich. Es bildet sich jeweils das stabilste und an Widersprüchen ärmste Ensemble aus. Es kommen die Neuronen zum Zug, die sich am leichtesten, am schnellsten und am widerspruchsfreiesten zu solchen Ensembles zusammenschließen können. Und wenn sie das getan haben, dann ist eine Entscheidung gefallen oder ein Wahrnehmungsobjekt erkannt worden. Wenn man jetzt versucht, zu definieren, was die neuronale Signatur einer Entscheidung sein könnte, dann würde man etwa sagen: Es ist ein Ort in einem hochdimensionalen Zustandsraum oder einer von diesen vielen, sehr hochdimensionalen Aktivitätsvektoren. Es ist ein raumzeitlich strukturiertes Aktivierungsmuster, das in Anbetracht der Vorgeschichte und der aktuellen Umstände das wahrscheinlichste ist. Und in diesem Fall ist die Vorgeschichte umfänglich. Zu ihr gehört auch die Evolution, die die Struktur des Gehirns über die Gene festgelegt hat. Zur Vorgeschichte gehören auch die epigenetischen Modifikationen, die während der Individualentwicklung abgelaufen sind und dann noch alles, was zusätzlich gelernt worden ist. Hinzu kommt ferner, was im Augenblick von außen und aus dem Körper auf das Gehirn einwirkt. All das manifestiert sich in neuronalen Erregungsmustern, die wenn es Probleme gibt, wenn Konflikte auftreten, Anforderungen an das System herangetragen werden, eine Entscheidung erzwingen. Das System konvergiert dann auf die, in diesem Augenblick einzig mögliche, weil die wahrscheinlichste Lösung. All dies hat natürlich Konsequenzen für Konzepte der Willensfreiheit und des ungebundenen Wollen-Könnens. Wir haben das Gefühl, wir könnten jederzeit irgendwas anderes wollen. Aus neurobiologischer Sicht ist das nicht möglich. Denn wenn Entscheidungen auf neuronalen Zuständen beruhen und diese wiederum notwendige Folge von Vorgeschichte und Kontext sind, dann ist auch die Entscheidung notwendige Folge und das gilt gleichermaßen für bewusste und unbewusste Entscheidungen. Auch die bewussten Entscheidungen

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beruhen auf neuronalen Prozessen, also müssen sie den gleichen Gesetzen folgen.

8. Eigenarten nichtlinearer Dynamik Dennoch gibt es Freiheitsgrade. Ich hatte darauf hingewiesen, dass neuronale Netzwerke eine hochgradig nichtlineare Dynamik aufweisen. Wenn viele Elemente wechselseitig miteinander gekoppelt sind, dann entsteht eine komplexe Dynamik, die nichtlineare Eigenschaften aufweist. Beispiele für Prozesse mit nichtlinearer Dynamik sind die Evolution oder die Entwicklung von Wetterlagen. In diesen Fällen lässt sich im Nachhinein erklären, wie sich bestimmte Entwicklungen vollzogen haben, aber es ist sehr schwierig vorauszusagen, was in der fernen Zukunft geschehen wird. Ganz anders verhält es sich mit linearen Systemen. Ein Beispiel sind Uhrwerke, die in alle Zukunft voraussagbar sind, sieht man von Reibungsverlusten ab. Das gleiche gilt für die Umlaufbahnen der Planeten. Sie folgen den Gesetzen einer linearen Dynamik. Da Gehirne eine nichtlineare Dynamik aufweisen, gilt jedoch, dass trotz der Determiniertheit der einzelnen Entwicklungsschritte längerfristige Entwicklungstrajektorien grundsätzlich nicht voraussagbar sind. Das klingt zunächst verwunderlich, ist aber eine Eigenart der nichtlinearen Dynamik. Trotz der Gültigkeit des Kausalgesetzes kann aufgrund der nichtlinearen Dynamik in komplexen Systemen die langfristige Entwicklung nur schwer, wenn überhaupt vorausgesagt werden. Es sind also folgende Aussagen kompatibel: Im Augenblick der Entscheidung gab es keine Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, aber wie sich eine Person im nächsten Moment entscheiden wird, ist grundsätzlich nicht festgelegt. Selbst wenn ein allwissendes Wesen in der Lage wäre, alle Randbedingungen zu kennen, könnte es nicht voraussagen, wie es weitergeht. Sollte ein Schöpfer die Selbstorganisationsprozesse, die der Evolution zugrunde liegen, geplant haben, dann hätte auch er nicht voraussehen können, zu welchen Ergebnissen die Evolution kommen wird. Also ist trotz geltender Kausalität, Raum für Überraschendes, für Veränderung.

9. Freiheitserfahrung als soziale Realität Abschließend will ich nun versuchen, mich dem Problem der Freiheit auf eine etwas andere Weise zu nähern. Die Frage war, wie sich der Widerspruch zwischen subjektivem Erleben und neurobiologischer Fremdbeschreibung auflösen oder zumindest abschwächen lässt. Vielleicht, so die Überlegung, sollte man nicht nur das einzelne Gehirn betrachten oder die einzelne Person, sondern berücksichtigen, dass Menschen in sozio-kulturelle Netzwerke eingebunden sind. Es handelt sich dabei um Netzwerke ganz ähnlich denen,

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die Sie vorhin gesehen hatten, nur dass jetzt nicht Neuronen miteinander wechselwirken, sondern kognitive Agenten mit menschlichen Eigenschaften. Vielleicht, so die Überlegung, könnte man Freiheitserfahrung als soziale Realität betrachten, als emergente Eigenschaft eines komplexen Systems, eines Netzwerkes wechselseitig gekoppelter menschlicher Agenten. Das Phänomen Freiheit wäre dann nicht etwas, was dem einzelnen Gehirn eignet, sondern etwas, was erst entsteht, wenn viele Gehirne miteinander wechselwirken, also eine soziale Realität. Soziale Realitäten sind immaterielle Phänomene, die mit unseren Sinnen nicht direkt erfasst werden können, weil sich unsere Sinne in einer vorkulturellen Welt entwickelten, in der es diese Realitäten noch nicht gab. Diese Realitäten entstanden erst durch soziale Interaktionen, durch gegenseitige Spiegelung in kognitiven Agenten, die über eine Theorie des Geistes verfügen. Menschen können sich vorstellen, was im Kopf des Anderen vor sich geht, wenn sie wissen, unter welchen Bedingungen der Andere im Augenblick existiert. Das können Tiere nur sehr begrenzt, wenn überhaupt. Soziale Realitäten entstehen also dadurch, dass der eine dem anderen signalisiert „Ich weiß, dass Du weißt, wie ich mich fühle oder ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß“. Über solche reflexiven Prozesse, entstehen neue Wirklichkeiten, eben soziale Realitäten. Diese sind wirkmächtige, immaterielle Konstrukte, denen oft eine geistige oder seelische Konnotation zugeschrieben wird. Beispiele dafür sind Phänomene, die nur im Miteinander entstehen können, nicht wenn man ganz alleine ist. Dazu gehören Fairness und Empathie, alle Verabredungen, Gelübde, Verpflichtungen und dann natürlich die Inhalte unserer Glaubenssysteme, die Normen, die Werte. Es sind das immaterielle Entitäten, die im Dazwischen entstehen und dennoch so real sind, wie greifbare Objekte. Geteilter Glaube kann Kathedralen errichten. Auch Zuschreibungen, wie Intentionalität, Verantwortlichkeit und Schuld gehören zu diesen sozialen Konstrukten. Mein Vorschlag ist, auch „Freiheit“ den Status einer sozialen Realität zuzuschreiben. Wir erwerben die Erfahrungen von Autonomie erst im Miteinander, während der frühen Entwicklung durch die Interaktion mit unseren Bezugspersonen. Wir erfahren uns durch die Spiegelung im anderen zunehmend als selbständige Individuen, die für sich und ihr Tun verantwortlich sind und als Agenten betrachtet werden, die frei sind zu wählen. Diese Zuschreibung wird internalisiert, prägt die Selbstwahrnehmung und wird schließlich zu einem nicht mehr hinterfragbaren Teil des Selbstmodells. Wenn aber die Freiheitserfahrung tatsächlich den Status einer sozialen Realität hat, dann lässt sie sich nicht allein auf Vorgänge in einzelnen Gehirnen zurückführen. Mit neurobiologischen Ansätzen lassen sich lediglich die Vorgänge im Gehirn erforschen, die den kognitiven Funktionen zugrunde liegen, die ihrerseits jene sozialen Spiegelungen ermöglichen, die zur Erfahrung von Freiheit, zur Emergenz der sozialen Realität „Freiheit“ führen. Der Vorschlag wäre also, dass die Erfahrung von Freiheit, nicht auf die neuronalen Prozesse in individuellen Gehirnen zurückgeführt werden kann, weil sie sich auf einen Gegenstand bezieht, der einer anderen ontologischen Ebene angehört als die

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kognitiven Leistungen einzelner Gehirne. Dennoch aber würde die Erfahrung von Freiheit einer naturalistischen Erklärung zugänglich bleiben, denn wie einzelne Gehirne funktionieren und welche Mechanismen den kognitiven Leistungen einzelner Gehirne zugrunde liegen, das kann die Neurobiologie sehr wohl herausarbeiten. Betrachtet man dann Gehirne als Knoten eines komplexen Netzwerkes, das seinerseits neue Realitäten erzeugt, die sozialen Realitäten, dann ergibt sich wieder eine kontinuierliche Argumentationslinie und die Widersprüche zwischen deterministischen Hirnprozessen und Freiheitserfahrung lösen sich weitestgehend auf. Unsere Selbstwahrnehmung bleibt ohnehin frei von Konflikten, da wir die Prozesse in unserem Gehirn nicht wahrnehmen – und im Übrigen die Tendenz haben, uns ein unzutreffendes Bild von ihnen zu machen.

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Freiheit durchzieht wie ein roter Faden die europäische Geistesgeschichte, denn „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17), und in diesem Sinne stehen Theologie und Philosophie in Europa im Dienste der Freiheit, wenn auch mit recht unterschiedlichen Auslegungen. Ganz so einfach ist die Frage nach der Freiheit im arabisch-islamischen, im hinduistischen und im buddhistischen Kontext nicht. Hier taucht der Begriff kaum auf, der Sache nach aber wird die Freiheit auch hier verhandelt, weshalb im Folgenden dazu mit Blick auf den interreligiösen Dialog einiges gesagt werden soll. Ein kurzes Fazit fasst die Ergebnisse zusammen.

1. Der arabisch-islamische Kontext Obwohl im Koran kein Begriff vorkommt, der genau dem der Freiheit entspräche, zeigen eindeutige Aussagen über die moralische Verantwortung des Menschen für die Auswirkungen seiner Handlungen, dass die menschliche Freiheit vorausgesetzt wird. Nach islamischem Verständnis ist Freiheit insbesondere als Vorbedingung der moralischen Verantwortung wichtig; es kommt darauf an, wie der Mensch von seiner Freiheit Gebrauch macht. Mit anderen Worten zählt aus Sicht des Korans weniger die dem Menschen zu seiner Verantwortung und Prüfung übertragene Freiheit als solche als das, was der Mensch tut, wenn er frei ist. Der Koran sagt, dass der Mensch in dieser Hinsicht nicht sich selbst überlassen sei (75/36), und dass Leben und Tod geschaffen worden seien, um zu prüfen, wer am besten handele (67/2). Nach islamischer Vorstellung basiert die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen auf Freiheit.1

Die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen basiert auf Freiheit, sagt ReÅber, der islamische Autor im „Lexikon des Dialogs“. Dies soll im Folgenden insofern sehr ernst genommen werden, als zunächst von der Freiheit Gottes, dann von der des Menschen im Allgemeinen und schließlich von der des islamischen Mystikers die Rede sein wird. 1 ReÅber, Mehmet Sait, Freiheit (isl.), in: Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, im Auftrag der Eugen-Biser-Stiftung hg. von Richard Heinzmann, Freiburg i.Br./ Basel/Wien, 2 Bd., 2013, hier Bd. 1, 210 f.

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1.1 Die Freiheit Gottes Auch wenn nirgends in der islamischen Theologie davon gesprochen wird, dass Gott frei sei, so ist dennoch oft im Sinne des westlichen Freiheitsverständnisses davon der Sache nach die Rede, denn Gott tut, was er will. Er ist in seinem Tun an keine Grenzen gebunden, sondern absolut frei. Der Unterschied im Ausdruck wird deutlich im Werk des arabisch-islamischen Theologen al-Ash‘arı¯ (gest. 935 n. Chr.), der u. a. der Frage nachgeht, ob Gott im Jenseits mit Qualen Kinder bestrafen könne. Der arabische Originaltext spricht dabei weder in der Frage noch in der Antwort davon, dass Gott – wie der Jesuit McCarthy in seiner englischen Übersetzung schreibt – „is free to do that“, sondern er sagt, „dies sei Gottes, des Erhabenen, solches zu tun“.2 Der Text nennt dabei als Begründung, dass Gott „al-ma¯lik al-qa¯hir“ ist, was McCarthy der Aussageintention des Textes entsprechend zutreffend mit „Supreme Monarch“ übersetzt, denn über ihm steht keiner, niemand kann ihm etwas befehlen noch ihm Grenzen setzen. Er ist folglich der absolute Herr, der sogar frei wäre, selbst lügen anzuordnen statt – wie im Koran geboten – die Menschen aufzufordern, die Wahrheit zu sagen.3 Um keinerlei Einschränkung in Gottes Tun vorzunehmen, leugnet die klassische ash‘aritische Theologie der Sunniten die Existenz von Naturgesetzen, weil sie glaubt, diese verunmöglichten Gottes unmittelbares Eingreifen in den Lauf der Naturgeschehnisse und würde auf diese Weise Wunder unmöglich machen. Deshalb wird in dieser bis heute wichtigen theologischen Schule nur von der „Schöpfungsgewohnheit Gottes“ gesprochen und folglich davon ausgegangen, dass Gott in jedem Augenblick die Welt neu erschafft, prinzipiell dabei jeweils etwas anderes hervorbringen könnte, aufgrund seiner Schöpfungsgewohnheit aber meist das Gleiche wieder erschafft und nur abweicht, wenn er ein Wunder wirken will, das dann zwar der Schöpfungsgewohnheit Gottes widerspricht und in diesem Sinne außergewöhnlich, aber nicht un- oder widernatürlich ist. Wie konkret dies gemeint ist, erläutert der wohl berühmteste Gelehrte der Ash‘ariten al-Ghaza¯lı¯ (gest. 1111) an Beispielen wie es könne durchaus sein, dass ein Buch als junger, intelligenter bartloser Sklave, ein Junge als Hund oder Obst, das auf dem Markt feilgeboten wird, als Mensch weiterexistiert.4 Immer wieder geht es bei den Diskussionen um die absolute Freiheit Gottes 2 al-Ash‘arı¯, Kita¯b al-luma‘, Nr. 169 und 170, in: McCarthy, Richard J., The Theology of AlAsh‘arı¯. The Arabic Texts of al-Ash‘arı¯’s Kita¯b al-luma‘ and Risa¯lat Istih. sa¯n al-Khawd. fı¯‘llm alKala¯m, with briefly annotated translations, and Appendices containing material pertinent to the study of al-Ash‘arı¯, Beyrouth 1953 arab. Text, 71, engl. Übersetzung, 99. 3 Vgl. al-Ash‘arı¯, Kita¯b al-luma‘, Nr. 171. 4 Al-Ghaza¯lı¯, The Incoherence of the Philosophers. Taha¯fut al-fala¯sifa. A parallel English-Arabic text translated, introduced, and annotated by Michael E. Marmura, Provo, Utah 2000, 170 = Quaestio 17, 13.

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und die Sorge der Theologen, man wolle Gott irgendwie Vorschriften bezüglich seines Handlungsspielraumes machen. Deshalb sehen sie sich immer wieder in der Rolle, die Freiheit Gottes kompromisslos und uneingeschränkt zu verteidigen. 1.1.1 Exkurs In diesem Zusammenhang ist interessant zu erwähnen, dass es in den 1970er Jahren im Libanon eine vom damaligen melkitischen Erzbischof von Beirut Gr8goire Haddad initiierte Befreiungstheologie gegeben hat, der es in ähnlicher Weise um die Freiheit Gottes bzw. Christi ging. Haddad fordert darin, Christus von der Institution Kirche zu befreien, und schreibt: Wenn nun diese Kirche selbst, sei es die katholische, orthodoxe oder protestantische, die orientalische oder östliche, die Welt-, National- oder die Ortskirche, die einzige Institution ist und das weiterhin auch ausdrückt, die Christus besitzt oder auf ihn Anspruch erhebt, während doch er ihr gegenüber Anrechte hat, die einzige Institution also, die ihn offiziell vorstellt, die in seinem Namen spricht, die seine Lehren unfehlbar auslegt, die seine Gnade, seine Schätze und Sakramente unter den Menschen verteilt, die in seinem Namen den Menschen die ewige Erlösung gewährt oder ihnen „eine Zusicherung für das ewige Leben“ gibt, so handelt sie wie eine Aktiengesellschaft, die ein Monopol hat. Die Institution Kirche nun hat Christus effektiv monopolisiert, wie irgendeine kapitalistische Gesellschaft für gewisse Sorten ein Monopol hat oder wie ein Verlag für ein Buch die Druckrechte behält. Christus wurde der Gefangene der Kirchen, ihr Unterpfand, von ihnen beschlagnahmt, und keiner kommt zu ihm ohne durch ihre Vermittlung.5

In letzter Konsequenz heißt das für Bischof Haddad auch: Christus und den Menschen von der Philosophie, der Theologie und den übrigen religiösen Wissenschaften befreien.6

Die Versuchung zu einer monopolisierten Auslegung überzugehen, ist auch der islamischen Theologie nicht fremd. 5 Zit. n. Antes, Peter, Konkreter Katholizismus im Libanon, in: Theologische Zeitschrift 32, 1976, 207–214, hier 211. 6 Ebd., 212. Ähnliche Gedanken zum jüdischen Verständnis im arabischen Raum finden sich in Yasmina Khadra (Pseudonym für den 1955 geborenen Algerier Mohammed Moulessehoul), Die Attentäterin, München 62010, 255. Dort lautet die Antwort eines palästinensischen Juden auf die Frage eines arabischen muslimischen Arztes, was man tun könne, um den Hass zwischen Juden und arabischen (muslimischen) Palästinensern zu überwinden: „Zunächst einmal dem lieben Gott seine Freiheit zurückzugeben. So lange, wie er Geisel unseres Pharisäertums ist […].“

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1.1.2 Gottes Barmherzigkeit Eine ähnliche Versuchung, wie sie Erzbischof Haddad für die christliche Kirche beschrieben hat, gibt es auch im Islam: die Versuchung, genau zu wissen, wie Gott sich gegenüber dem Sünder verhalten wird. Islamische „Fundamentalisten“ geben darüber präzise Auskunft. Ihnen schreibt Mouhanad Khorchide ins Stammbuch: Gegen die koranische Vorstellung eines allbarmherzigen Gottes argumentieren viele, dass Gott sich selbst im Koran als bestrafend beschreibe. Dabei übersehen sie, was Gott im Koran, wenn es um das Thema „Bestrafung“ geht, von sich selbst sagt: „Meine Strafe trifft, wen ich möchte, und meine Barmherzigkeit umfasst alles.“ Wenn Gottes Barmherzigkeit alles umfasst, dann umfasst sie ebenfalls seine „Strafe“ […]. Wir benötigen heute eine Theologie, die das Verhältnis von Gott und Mensch als dialogisches Freiheitsverhältnis bestimmt, in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe und Barmherzigkeit versucht, die Liebe des Menschen und somit Mitliebende zu gewinnen. Dies ist Ziel der Schöpfung und Fokus Gottes Handeln.7

Damit ist das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen bzw. die Freiheit des Menschen angesprochen. 1.2 Die Freiheit des Menschen Das Thema der Freiheit des Menschen hat jahrhundertelang die innerislamische Diskussion bestimmt. Widersprüchliche Aussagen im Koran haben die Debatte ausgelöst. Auf der einen Seite steht die Betonung der Allmacht Gottes in Sätzen wie „Gott ist der Schöpfer von allem“ (Sure 13,16) oder „Gott hat euch geschaffen und alles, was ihr tut“ (Sure 37,96), denen zufolge er dadurch allmächtig ist, dass er alles macht. Auf der anderen Seite stehen die Verse, die an des Menschen Verantwortung für seine Taten erinnern wie wenn es etwa von Tag des Gerichtes heißt: An jenem Tag werden die Menschen (voneinander) getrennt hervorkommen, um ihre (während des Erdenlebens vollbrachten) Werke zu sehen. Wenn dann einer (auch nur) das Gewicht eines Stäubchens an Gutem getan hat, wird er es zu sehen bekommen. Und wenn einer (auch nur) das Gewicht eines Stäubchens an Bösem getan hat, wird er es (ebenfalls) zu sehen bekommen. (Sure 99,6–8)8

Demnach haben sowohl die gute Gründe und eine Stütze im Koran, die die Allmacht so sehr in den Vordergrund stellen, dass für die menschliche 7 Khorchide, Mouhanad, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2012, 217 f. 8 Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart [u. a.] 1966.

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Handlungsfreiheit praktisch kein Spielraum mehr bleibt, als auch die, die die Freiheit des Menschen betonen, so dass ihre Gegner darin eine Einschränkung der Allmacht Gottes sehen. Diesbezüglich findet sich in den Theologieschulen eine Vielfalt von Ansätzen, angefangen bei dem der Mutaziliten, welche der Ansicht sind, dass der Mensch der Schöpfer seiner Handlungen sei, bis hin zur Auffassung der Dschabriten (von arab. Dschabr – Prädestination), die jegliche Freiheit des Menschen ablehnen. Um zu zeigen, dass die sowohl für die Begründung einer an die Freiheit des Menschen gebundenen moralischen Verantwortung als auch für die Ausführung einer freien Handlung notwendigen ontologischen Bedingungen vom göttlichen Willen und der Schöpfung abhängig sind, vertraten sunnitische Gelehrte, welche die Hauptströmung des Islams bilden, die Aneignungstheorie (kasb). Das wesentliche Anliegen dieser Theorie kann folgendermaßen interpretiert werden: Auch wenn der Mensch in seinen Handlungen frei ist, hat Gott die Voraussetzungen für jede menschliche Handlung erschaffen, sodass eine Handlung nicht unabhängig davon ist, auf diese Weise ist das Handeln des freien Menschen genau wie alles andere von Gott Erschaffene ontologisch von Ihm abhängig.9

Das hier intendierte synergetische Zusammenwirken von göttlicher Schöpfertätigkeit und menschlicher Handlungsfreiheit meint konkret etwa am Beispiel eines Mörders, dass dieser die moralische Verantwortung für sein Tun voll übernimmt, obwohl der Mord nur zustande kommen kann, wenn Gott den Mörder nicht vorher hat stürzen und damit außer Gefecht setzen lassen oder die Tatwaffe solide sein ließ und nicht etwa das Material so brüchig hat werden lassen, dass es bei seinem Einsatz seine Dienste nicht mehr erfüllte und das Opfer dadurch ungeschoren davon kommen konnte. Damit also der Mord überhaupt geschehen kann, bedarf es – wie ReÅber schreibt – „für die Ausführung einer freien Handlung notwendige[r] ontologische[r] Bedingungen vom göttlichen Willen und der Schöpfung“, sind sie nicht vorhanden, kommt es nicht zu einer solchen Tat. Dennoch – und hier liegt das Hauptargument der Aneignungstheorie – darf man wegen dieser notwendigen ontologischen Bedingungen nicht schließen, dass Gott den Mord verübt hat, sondern muss die moralische Schuld und Verantwortung dafür beim Mörder suchen, der sich dies als sein Tun aneignet und somit schuldig wird. Folglich gilt: Nichts in der menschlichen Natur hindert den Menschen an seiner freien Entscheidung. Der Mensch bestimmt durch seine freien Entscheidungen selbst, ob er im

9 ReÅber, Freiheit (isl.), 211. Vgl. dazu allgemein Watt, William Montgomery, Free will and predestination in early Islam, London 1948 bzw. die entsprechenden Passagen unter den Stichwörtern „prädestinatorisches Handeln“ und „Fatalismus“ in Watt, William Montgomery/Michael Marmura, Der Islam II. Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, (=Die Religionen der Menschheit, Bd. 25,2), Stuttgart [u. a.] 1985.

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Leben nach dem Tod belohnt oder bestraft wird. Gott stellt dem Menschen in Aussicht, Er werde ihn die Folgen seiner freien Entscheidungen erleben lassen.10

Als Rechtleitung für das von Gott gewollte Handeln dient der Koran mit seinen Anweisungen (vgl. Sure 2,1). Wichtig ist dabei zu sehen, Gott sucht „nicht nach Marionetten, die ohnehin nicht anders können, als ständig ,Ja‘ zu ihm zu sagen. Er sucht also nicht nach Engeln, sondern nach Mitliebenden, die in Freiheit die Liebe Gottes erwidern wollen.“11 Für die Scharia heißt dies konkret: „Scharia, verstanden als der Weg des Herzens zu Gott, gibt dem Menschen selbst das Ruder in die Hand. Er muss als Individuum eruieren, was in seinem Herzen vorgeht, welche Stärken und Schwächen das Herz aufweist.“12 Damit ist zugleich die Freiheit des Mystikers auf dem Weg zu Gott angesprochen. 1.3 Die Freiheit des islamischen Mystikers Die islamischen Mystiker, die Sufis, vertreten insbesondere hinsichtlich der Einhaltung des Gesetzes häufig eine sehr eigene Position. Über das jenseitige Heil und Unheil des Menschen entscheidet nach der strengen Theologie allein der souveräne göttliche Willensentscheid, nach dem gemeinmuslimischen Empfinden die Erfüllung oder Nichterfüllung des Gesetzes, die Gott am Gerichtstage gegeneinander abwägt, nach vielen Sufis aber vor allem die Gottesliebe. Man würde schlecht von Gott denken, wenn man meinte, er würde einen, der ihn liebt, im Höllenfeuer brennen lassen.13

Dementsprechend haben viele Sufis der Beachtung des Gesetzes eine geringe Bedeutung beigemessen und voll auf die Gottesliebe gesetzt, in der Erwartung, dass Gott die bösen Taten für sie gar nicht aufschreiben ließe. „Freiheit ist Freiheit des Herzens, sonst nichts“14, sagte Shiblı¯ (gest. 945 n. Chr.). „Ibn ‘Arabı¯ lehrt eine Freiheit, die jedes Knechtsein ausschließt. Knecht ist man nach seiner Auffassung durch die menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten. Man braucht sie also nur zu entfernen und Gott an deren Stelle treten zu lassen, dann gibt es keine Knechtschaft mehr.“15 Von Nag˘m ad-dı¯n al-Kubra¯ (gest. 1221) wird der Ausspruch überliefert: „Ist aber der Wille (des Menschen) im Willen Gottes untergegangen und sein Wille Gottes Wille geworden, so will Gott nichts mehr, ohne daß es auch der Mensch will, und der Mensch 10 ReÅber: Freiheit (isl.), 211. 11 Khorchide, Mouhanad, Scharia – der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2013, 226. 12 Khorchide, Scharia, 228 13 Gramlich, Richard, Die schiitischen Derwischorden Persiens. Zweiter Teil: Glaube und Lehre 111 (=Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes, Bd. XXXVI, 2–4), Wiesbaden 1976. 14 Zit. n. Gramlich, Derwischorden, 113. 15 Gramlich, Derwischorden, 114. Ibn ‘Arabı¯ (gest. 341 d.H. = 952–3 n. Chr.).

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will nichts mehr, ohne daß es Gott will.“16 Die Freiheit besteht somit in der vollen Erfüllung des Willens Gottes. Eine besondere Form der Entbindung von gesetzlichen Verpflichtungen fand die Sufik in der Narrenfreiheit des religiös Verstörten. Noch heute kann man bei Derwischen der Ansicht begegnen, die geistige Umnachtung sei ein besonderes Geschenk Gottes, das er seinen Freunden gebe, um sie dadurch zu Freien zu machen. Einer zitierte mir [d.i. R. Gramlich, P.A.] das Beispiel des Luqma¯n-i Sarahsı¯, der Gott bat, er möge mit ihm verfahren, wie die irdischen ˘ Herren, die treuen Sklaven nach langen Jahren des Dienens die Freiheit schenken; da machte Gott ihn frei, indem er ihm den Verstand nahm. Abu¯ Sa‘ı¯d b. Abi l-Hayr nannte ihn den „von Gebot und Verbot Freigelassenen ˘ der heiligen Narren des Islams, deren erster Uways al-Qaranı¯ Gottes“. Die Zahl war, ist Legion.17 Mit dieser Perspektive des von den Regeln des religiösen Gesetzes Befreiten ist die Brücke zum Hinduismus geschlagen.

2. Freiheit im hinduistischen Kontext Anders als im islamischen Kontext, wo Freiheit für alle Menschen gleichermaßen gilt, ist die Ausgangsbedingung für freies Handeln innerhalb des hinduistischen Kontextes durch das karma im Rahmen der Wiedergeburt festgelegt. Obwohl Hinduismus ein Sammelbegriff für unterschiedliche Religionen in Indien ist, vertritt die Mehrheit der dazu gehörenden Menschen die Wiedergeburtslehre. Von daher bietet es sich an, Freiheit bezogen auf diesen Kontext so zu behandeln, dass zunächst die karmischen Voraussetzungen für die irdische Geburt eines Menschen angesprochen, dann die vier Lebensziele behandelt und schließlich die Erlösungswege als Form völliger Befreiung vom karmischen Einfluss vorgestellt werden. Zur Legitimation des letzten Punktes sei auf Axel Michaels verwiesen. Er sieht „im traditionellen Hinduismus ein Gegenmodell zur westlichen Welt, in der vorrangig das Individuum zählt, in der das Selbst gegenüber dem Nicht-Selbst bevorzugt wird, in der die Freiheit in der Welt wichtiger ist als die Befreiung von der Welt.“18

16 Zit. n. Gramlich, Derwischorden, 114. 17 Gramlich, Derwischorden, 114 f. 18 Michaels, Axel, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998, 20. Diesen Hinweis verdanke ich dem Jenenser Religionswissenschaftler Bertram Schmitz.

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2.1 Wiedergeburt und Freiheit Die Lehre von der Wiedergeburt – oft nicht ganz zutreffend auch „Seelenwanderung“ genannt – geht davon aus, dass der Start ins Leben für Neugeborene alles andere als chancengleich ist. In der Tat ist es etwas anderes als Kind eines Bettlers oder eines angesehenen Unternehmers das Leben zu beginnen und selbst wenn die ökonomischen Voraussetzungen für zwei Neugeborene gleich sind, so können sich ihre Entwicklungschancen immer noch deutlich voneinander unterscheiden, wenn der eine Vater autoritär und fordernd, der andere dagegen einfühlsam und die Entwicklung des Kindes fördernd ist. Auch das Verhalten der Mutter wie aller anderen in der Familie hat entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Kindes, so dass vielfältige Gründe vorliegen können, die erklären, weshalb Neugeborene nicht unter gleichen Bedingungen ins Leben treten. Die Frage ist: warum bin ich Kind dieser Eltern, warum mussten oder sollten es gerade diese – mit ihren jeweiligen Schwächen und Stärken – sein, unter denen ich mein Leben begonnen habe. Mit anderen Worten: wenn mein Leben beginnt, so stehe ich nicht am Anfang. Die Welt hat schon Gestalt. Ich werde in eine bestimmte Kultur, in eine bestimmte Sprache und Denkwelt ebenso hineingeboren wie in ökonomische und psychische Strukturen, die alle entscheidend für meinen Lebensweg sind. Hinzu kommen meine eigenen geistigen und physischen Fähigkeiten und Schwächen, die ebenfalls für die Entwicklung und spätere Laufbahn wichtig sind. Die Erklärung für all diese unterschiedlichen Startbedingungen ins Leben sieht der Hinduismus im karma, der Summe aller guten wie bösen Taten aus früheren Leben. Sie ergeben jene Startbedingungen, die für die Neugeborenen ausschlaggebend sind: So wie der Töpfer seinen Lehm Zu mannigfacher Form gestaltet, So schaffst du heute das Geschick, Das sich in Zukunft erst entfaltet.19

Die Wirkung der Taten reicht über den Bereich des einzelnen Lebens hinaus, so dass gilt: Gleichwie der Mime die Kostüme Entsprechend seiner Rolle um sich legt, So auch der Geist, gemäß der Frucht der Taten, Bald diesen und bald jenen Körper trägt20 19 Zit. aus: Das Spiel des Unendlichen. Gott, Welt und Mensch in der Dichtung der Hindus, in deutscher Nachbildung von Helmuth von Glasenapp, Basel 1953, 101. 20 Zit. aus: Das Spiel des Unendlichen, a. a. O., 102.

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Unsere gegenwärtige menschliche Existenz ist demnach die Folge von Taten aus früheren Leben und zugleich der Ausgangspunkt für weitere Existenzen, wobei der Rahmen möglicher Wiedergeburten den des Menschseins deutlich übersteigt: sowohl die Tierwelt als auch die unsichtbarer Geister : guter (Götter) wie böser (Dämonen, Teufel) umfasst und auch innerhalb der menschlichen Sozialordnung sich in Form von verschiedenen Ständen: Brahmanen (Lehrstand = Gelehrte), Kshatriya (Wehrstand = Herrscher, Krieger), Vaishya (Nährstand = Bauern) und Shudra (Kaufleute, Händler) sowie die, die keinem dieser Stände angehören, manifestiert. Je nach Stand sind die Pflichten unterschiedlich: Barmherzigkeit und Wohlwollen, Kasteiungen und Wahrheitsstreben, Treue und größte Reinlichkeit, Die zieren des Brahmanen Leben. Zerstören ist des Kriegers Pflicht, Was er an Abgaben bekommen, Das teilt er vedakundig aus, Zu andrer Menschen Nutz und Frommen. Viehzucht, Ackerbau und Handel Eines Vaishyas Gut vermehren, Reich beschenkt er die Brahmanen, Die im Veda ihn belehren. Schlechten Wandels ist der Shu¯dra, Jeder Dienst ihm angemessen, Von dem Veda ausgeschlossen Darf auch Unreines er essen.21

Menschen sind somit frei handelnd und karma sammelnd innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen ihrer Existenz. Hier wird auch inhaltlich festgelegt, was gut und böse ist. So haben die Kshatriya die Pflicht zum Kämpfen, wenn die Ordnung bedroht ist, während den Brahmanen das Kämpfen untersagt ist. Wichtig ist dabei, dass es wertvoller ist, die Pflichten der eigenen Gruppe – wenn auch schlecht – zu erfüllen als die – sehr gut – von einer Gruppe einzuhalten, der man nicht angehört.

21 Zit. aus Das Spiel des Unendlichen, a. a. O., 105 f. Mit den Kriegern sind die Kshatriya gemeint, Veda ist die Sammlung der klassischen heiligen Texte der Hindu-Tradition.

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2.2 Die brahmanisch-traditionellen Lebensstadien und Lebensziele Klassisch kennt der Hinduismus vier Lebensstadien mit unterschiedlichen Lebenszielen:22 Das erste ist das Studium, die keusche Schülerschaft, eingeleitet durch Initiationsriten mit der Heiligen Schnur für die Zweimalgeborenen, das sind die Kinder der oberen drei Stände, also alle mit Ausnahme der Shudras. Das zweite Lebensziel ist die Hausvaterschaft, begründet durch die Heirat und das Berufsleben, bei dem es darum geht, Vermögen zu erwerben, um die Familie ernähren zu können. Das dritte Lebensstadium und Lebensziel ist es, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen, um sich mit religiösen Gedanken – oft in Form von klosterähnlichen Wohngemeinschaften (Ashram), geschart um einen spirituellen Führer (Guru) – zu beschäftigen und innerlich frei zu werden. Das vierte Lebensstadium und Lebensziel ist das Erlangen dieser inneren Befreiung, der Erlösung. Nur wenige Hindus erlangen dieses letzte Ziel in ihrem irdischen Leben. Die meisten streben es noch nicht einmal an. Ihnen genügt es, durch gute Taten die Rahmenbedingungen für eine gute Wiedergeburt zu schaffen. Tröstlich ist für sie, wie immer sich ihr Leben konkret gestaltet, dass nie alles – wie bei der Höllenvorstellung im Christentum oder Islam – für immer verspielt oder verloren ist. Im Hinduismus gibt es immer eine Chance, das Versäumte in neuen Leben nachzuholen. So wird man, so glauben die Hindus, eben so oft wiedergeboren, bis die Erlösung erlangt ist.

2.3 Erlösung als völlige Befreiung vom karmischen Wirken Nach all dem Gesagten ist es das karma, das der Grund für die Existenzbedingungen eines jeden Lebewesens ist. Auf diese Weise wird angedeutet, dass in jedem Lebewesen ein guter Kern, ein Selbst (Atman) ist, dessen karmische Einbindung mehr oder weniger Spielraum für den jeweiligen Gestaltungsrahmen offen lässt. Dass ich ich bin, ist die Folge meines karmas aus früheren Existenzen. Ein Gleiches gilt für alle anderen Lebewesen. Somit ist das karma das, was eigentlich mich in meiner Besonderheit ausmacht und mich von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Deshalb ist der Begriff „Seelenwanderung“ nur bedingt zutreffend, denn was da nach hinduistischer Philosophie wandert, ist das Selbst (Atman) in der spezifischen Eingebundenheit in das individuelle karma. Ohne karma würde das Selbst (Atman) voll zur Entfaltung kommen und seinen göttlichen Ursprung sichtbar werden lassen gemäß der Erkennt22 Vgl. dazu die schematische Darstellung bei Michaels, Hinduismus, 108.

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nis: Atman ist gleich Brahman, eine Art Superatman, der der Kern allen Seins ist. Daraus ergibt sich zum einen, dass der Unterschied zwischen Atman und Brahman kein ontologischer, sondern ein quantitativer ist, wenn in jedem dieses Selbst steckt als guter Kern, der mit dem guten Kern in allem Sein identisch ist. Zum anderen setzt das Wissen darum eine Einsicht in ontologische Zusammenhänge voraus, die einem nicht einfach zufällt, sondern durch Einübung in den Weg der Erkenntnis gewonnen wird. Es ist diese Art von Monismus, die für eine bestimmte Richtung in der Hinduphilosophie charakteristisch ist und viele Gurus in ihren Bann geschlagen hat und noch immer schlägt. Typisch für diese Erkenntnis ist, dass jegliche Individualität, also alles Karmische dabei verloren geht: Wie die Ströme, die ins Weltmeer fließen, Sich von Name und Gestalt befrein, Geht gestalt- und namenlos der Weise, Zu dem göttlich-höchsten Geiste ein.23

Diese Gestalt- und Namenlosigkeit des Selbst hat seine theistische Entsprechung, wenn in der Form der liebenden Hingabe (bhakti) Gott sich in mir erkennt. Auch hier entfällt das karma, wodurch das göttliche Sein in mir zum Vorschein kommt und sich voll entfalten kann. Freiheit ist damit die Befreiung des Inneren aus seiner karmischen Verstrickung und damit die Los-löung, d.i. die Er-lösung aus dem ewigen Kreislauf von Geborenwerden, Sterben und Wiedergeborenwerden. Wie aber, wenn es ein solches Inneres gar nicht gibt?

3. Freiheit im buddhistischen Kontext Wie im Hinduismus gehört auch im Buddhismus die Lehre von der Wiedergeburt zu den Grundüberzeugungen der Anhänger dieser Weltanschauung. Anders als im Hinduismus aber glauben Buddhisten nicht, dass das karma ein Selbst, einen Atman, als Träger hat. Deshalb soll zunächst die buddhistische Sichtweise vom selbst-losen Weltling als Ausdruck der Lehre von der Wiedergeburt dargestellt und danach die Erlösung in Form des Arhat im Theravada-Buddhismus und des Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus beschrieben werden.

23 Zit. aus Das Spiel des Unendlichen, a. a. O., 122.

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3.1 Der selbst-lose Weltling Nach buddhistischer Überzeugung ist das Ich eine Illusion, die wir im Laufe unserer Sozialisation ver-inner-lichen und deshalb als Realität ansehen sowie entsprechend handeln. Um diese Vorgänge einigermaßen einsichtig und nachvollziehbar zu machen, genügt ein Blick auf den Spracherwerb des Kleinkindes. Als erstes spricht nämlich das Kind von sich in der 3. Person: „Susi will“. Es übernimmt damit das, was andere über es sagen. Diese Außensicht wird in einem zweiten Schritt dahingehend personalisiert, dass nun das Kind „du“ sagen lernt. Erst in einem dritten und letzten Schritt wird die Außensicht übernommen und ver-inner-licht, so dass das Kind „ich“ sagt. Was hier vom Spracherwerb gesagt wird, hat seine mentale Entsprechung in einem Ich-Werdungs- bzw. Ich-Findungs-Prozess, an dessen Ende, also nicht an dessen Anfang, die Rede vom „Ich“ steht. Das „Ich“ wird somit durch Verinnerlichung und Einbildung entwickelt und am Ende so wirkmächtig, dass sich alles um dieses „Ich“ dreht. Damit einher geht ein Prozess der doppelten Identifizierung: räumlich mit allem zwischen Scheitel und Sohle; zeitlich durch alle Phasen des Lebens, wenn etwa Fotos gezeigt werden und gesagt wird: „das bin ich im Kinderwagen, bei der Einschulung, beim Abitur, bei der Hochzeit …“ All diese Fotos zeigen verschiedene Menschen, deren durchgängige Identität behauptet wird, aber nicht sichtbar, geschweige dann nachgewiesen wird. Neugeborene besitzen wohl selbst-lose wie ichhafte Wesenskomponenten. Ideal ist für jede Erziehung, die eine oder andere dieser Seiten so zu entwickeln und zu verstärken, dass möglichst alles von der anderen Seite integriert und damit aufgehoben wird. Wo dies nicht gelingt, kommt es zu Verdrängungsprozessen, die krankhafte Folgen haben können und eine Intervention von außen durch eine psychotherapeutische Unterstützung notwenig machen, um alles aufzuarbeiten. Während das Christentum alles Unheil in des Menschen Neigung zur Ichsuche (Egoismus) sieht und als Heilmittel ein Umdenken in Richtung des Anderen (Liebe) anbietet, sieht der Buddhismus die wahre Ursache des Menschen in der Ichhaftigkeit, nämlich dem Glauben des Menschen, dass er ein Ich hat, und verkündet von daher das Einüben von Selbst-losigkeit als den richtigen Weg zur inneren Befreiung. Das Erreichen dieses Zieles wird in den zwei großen Richtungen des Theravada- und des Mahayana-Buddhismus unterschiedlich zum Ausdruck gebracht: im Ideal des Arhat im Theravada-Buddhismus und im Ideal des Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus.

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3.2 Der Arhat im Theravada-Buddhismus Die Tatsache, dass alle Lebewesen – also auch die Menschen – ohne Selbst sind, mindert in keiner Weise die Einflusskraft des karma, solange ichhaftes Denken vorherrschend ist. Erst wenn mental der Weg zur Selbst-losigkeit beschritten ist, verliert das karma seine Kraft, weil es niemanden mehr etwas angeht. Was das konkret bedeutet, sagt ein buddhistischer Text: Niemand vollbringt eine Tat, Niemand den Lohn davon hat, Nur reine Dharmas rollen hin, Das ist der Lehre wahrer Sinn. Kein Brahm. hat durch seine Macht Dies Dasein hier hervorgebracht, Nur reine Dharmas sich bedingen, Die vielen Ursachen entspringen. Das Leid ist, niemand ist, in dem’s entsteht, Die Tat ist, doch kein Mensch, der sie begeht, Nirv.na ist, doch keiner, der verweht, Der Weg ist, aber keiner, der ihn geht.24

Während der Buddha den Mechanismus dieses Zusammenhanges voll erkannt hat, nimmt der Arhat „Zuflucht“ zum Buddha und seiner Lehre. Er verlässt sich auf deren Richtigkeit und tritt im Vertrauen darauf seinen Weg an und zwar ein jeder für sich alleine, weshalb die Vertreter des großen Fahrzeuges (Mahayana) diesen Weg zum Heil verächtlich als „kleines Fahrzeug“ (Hinayana) bezeichnen. 3.3 Der Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus Das Ideal des Mahayana-Buddhismus ist der Bodhisattva, ein Wesen, das eigentlich die Buddhaschaft schon erreicht hat, aber darauf verzichtet, ins Nirvana einzugehen, um möglichst viele Lebewesen zu retten. Sein großes Fahrzeug ist für alle (lat. omnibus) da und nimmt einem Omnibus vergleichbar alle die auf, die sich hilfesuchend und voller Verehrung an den Bodhisattva wenden. Dass dies möglich ist, hat seinen Grund in der Einsicht, dass – wenn es kein Selbst gibt und folglich alle Lebewesen im Kern leer sind – auch das karma ohne Wirkung und somit ebenso illusionär sein muss wie das Ich. 24 Zit. aus Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, übers. u. hg. v. Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln 1974, 74.

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Der Bodhisattva kann aufgrund des Wissens um den illusionären Charakter des karma nicht nur sein eigenes außer Kraft setzen, sondern auch das aller anderen Lebewesen. Seine prinzipielle Verbundenheit mit allem Seienden aufgrund der Leere nimmt dabei geradezu metaphysische Züge an und lässt das Nirvana als eine Art himmlisches Paradies erscheinen, in dem irgendwann einmal alle ihre letzte Bestimmung und Freiheit finden werden.

4. Fazit Freiheit – interkulturell bedeutet, den Stellenwert der Freiheit in seinem jeweiligen Kontext zu sehen. Im islamischen Kontext geht es dabei um die Freiheit Gottes und des Menschen, wobei zwischen der des gläubigen Muslim und der des islamischen Mystikers (Sufi) zu unterscheiden ist. Im hinduistischen Kontext ist die Freiheit des Menschen im karmischen Kontext der Wiedergeburt zu sehen und von daher zu begreifen, dass die wahre Freiheit eine Befreiung von der Verstrickung im karma und folglich ein Verschwinden jeglicher Identität in der Einheit des Göttlichen bedeutet. Da im buddhistischen Kontext ein Träger für das Dasein als ganzes wie für das einzelne Lebewesen im Sinne des hinduistischen Brahman oder Atman entfällt, sind alle Wesen ohne Selbst. Die wahre Freiheit besteht daher im Einüben von Selbstlosigkeit, sei es im Alleingang des Arhat im Theravada-Buddhismus oder mit Hilfe eines Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus. Freiheit ist somit – interkulturell gesehen – recht unterschiedlich konnotiert. Nur wer dies sieht, kann mit Erfolg in ein interreligiöses Gespräch eintreten.

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Ästhetisches Handeln als Freiheit

Die ästhetische Handlung ist eine Tat der Freiheit. Der Künstler befindet sich nicht in der Welt des Nutzens und der Arbeit. Sein ästhetisches Handeln ist exemplarisch für den, der ihm als Hörer, Zuschauer, Leser schöpferisch folgt: In der schöpferischen „Nachfolge“ befreit sich der Rezipient von der Welt des Nutzens. Der Künstler, ob Maler, Dichter oder Musiker, ist in der Begrifflichkeit Sartres „detotalisierte Totalität“. Er verkörpert die Notwendigkeit der Freiheit. Diese Freiheit ist nicht abstrakt, sie ist gebunden an die Authentizität dessen, der sie im schöpferischen Akt verwirklicht. Er ist Selbstbewusstein der Situation, in welcher er authentisch handelt. Denken ist immer Denken-inSituation. Diese Situation ist geschichtlich bedingt. Authentisch sein heißt, sich dieser Bedingung bewusst zu werden. 7 Authentisch sein heißt, das eigene Sein-in-Situation (son etre-en-situation) zu realisieren: Der Künstler tut dies im schöpferischen Akt. In diesem Akt des ästhetischen Handelns sieht er nicht ab von der geschichtlichen Lage der Entfremdung, in welcher er sich befindet. Frei ist dieser Akt, weil er, diese Lage reflektierend, sich in die Zukunft entwirft, auch wenn er von der Gegenwart spricht. Er blickt auf sie aus der von ihm entworfenen Zukunft zurück. Er flieht nicht in eine Welt des schönen Scheins. Der schöpferische Akt ist nicht Eskapismus, sondern der Entwurf diesseits der bestehenden Welt des Nutzers. Auch wenn er, als Schriftsteller, das Gefangensein in dieser Welt thematisiert, tut er dies im Blick auf die Möglichkeiten der Befreiung aus dieser Lage.

1. Muße Dieser Blick ist der Appell an den Leser. Er schenkt dem Leser neue Augen für die Lage, in der dieser sich befindet. Der Akt der existentiellen Lesung ist schöpferisch. Der Leser geht verwandelt aus dem Text hervor, befreit aus der Fixierung auf den Status quo. Das Sein-in-Situation erlöst ihn zur Freiheit. Es ist die Schönheit einer in sich stimmigen Komposition, die den Leser ergreifen und an den eigenen schöpferischen Kern zu führen imstande ist. Dieser existentielle Rückgang kann aus der Sprachkonvention befreien. Die Sprache würde dann nicht mehr zum Informationsträger einer Mitteilung instrumentalisiert. Das eigene Sein-in-Situation sprachlich zu ästhetisieren ist

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anstrengend. Es ist eine schöne Anstrengung, denn sie führt ins Offene der Intuition. Sich der Intuition auszusetzen und zugleich die Geschichtlichkeit der eigenen Situation zu reflektieren erfordert Zeit: Zeit zur Konzentration, Zeit aus der Sprachkonvention auszubrechen. Zeit den ungeschriebenen Gesetzen von Stimmigkeit zu folgen. Diese Zeit, die ich Muße nenne, ist die Voraussetzung, um den Akt des ästhetischen Handelns in Freiheit zu vollziehen. Die etymologische Wurzel des griechischen Wortes für Muße, schol8, bedeutet einhalten, aufhören, Ruhe und Frieden haben, Zeit für sich selbst zu haben. Der richtige Gebrauch der Muße, schol8, steht im Mittelpunkt der Reflexionen der Politik von Aristoteles. Kriegerische Staaten haben wenig Übung für die Muße, die Aristoteles dem Frieden zuordnet. Das kriegerische Sparta ist dafür ein Beispiel. Die Kriegsverherrlichung fand im Faschismus ihren Höhepunkt: „Existenziell wie für die Frau eine Geburt ist für den Mann der Krieg“ (Oberleutnant und Ritterkreuzträger Hennecke Kardel). Der Mut zum Kampf ist in Friedenszeiten eine beschränkende Tugend. Die Erziehung muss auf jene Zeiten der Muße im Frieden ausgerichtet werden, um freie und gerechte Bürger in der Polis zu werden. Die Spartaner, die ihre Friedenszeit verwendeten, um sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten, verstanden nicht wirklich die Muße; die von Furcht, andererseits Kampfesmut durchwirkte Freizeit ist nicht Muße. „Muße ist Freiheit, nicht arbeiten zu müssen.“1 Muße ist aber nicht Untätigkeit, denn auch der Denkende ist tätig. Aber er ist nie im Zustand der ascholia, der Un-Muße, des Beschäftigt- und Geschäftigtseins. Muße ist die Freiheit nicht beschäftigt zu sein. Ästhetisches Handeln ist etwas anderes als Beschäftigtsein. Nicht erst heute – wenn auch heute in einem krankmachenden Ausmaß – gehört das Beschäftigtsein, auch in der Freizeit, zur ascholia, zur Un-Muße. Aristoteles zählt dazu „Sport als Medizin“, nämlich Medizin um wieder arbeitsfähig zu sein. Beschäftigung ist eine Aktivität, die einen Zweck verfolgt. Paidia, Vergnügen und anabasis, Erholung sind für Aristoteles Teil der ascholia, sie sind nicht Selbstzweck. Sie sind nicht frei. „Sich anzustrengen und zu arbeiten um des Vergnügens willen scheint töricht und höchst kindisch“ – das schreibt Aristoteles im X Buch der Ethik (1176b) Wir vergnügen und entspannen uns im Hinblick auf unsere Arbeit, die kein Selbstzweck ist. Wir sollten aber die schol8, die Muße, als das telos, das wahre Ziel des Lebens sehen, auch wenn wir arbeiten müssen. Die Möglichkeiten aktiven Muße-Denkens, ästhetischen Handelns werden nach dieser aristotelischen Logik um ihrer selbst willen getan. Freiheit ist nur dort, wo etwas um seiner selbst willen getan wird. Auch die zielhafte, beispielsweise revolutionäre Tat, so folgere ich weiter, ist eine Tat der Befreiung und geschieht um der Freiheit willen. Das letzte Ziel, telos, aber ist die schol8, die Muße, in welcher der Mensch zu sich kommt um etwas um seiner selbst willen zu tun. Es ist deshalb endgültiger alle anderen Ziele. Die 1 Aristoteles, Politik II: 1269 a.

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Fähigkeit, die Muße richtig zu verwenden ist, so Aristoteles, die Voraussetzung, ein freier Mensch zu sein. Der beschäftigte Mensch ist unfrei. Es ist, so verlängere ich diesen Gedanken zur sartreschen Begrifflichkeit, zum „eigenen 7 Sein-in-Situation“ (son etre-en-situation) nicht fähig. Diesen Zustand nennt Heidegger „Seinsvergessenheit“. Freiheit ist an das geschichtsbewusste authentische Sein-in-Situation gebunden. Freiheit ist also nicht abstrakte Bindungslosigkeit. Muße ist mehr als Befreiung von Anstrengung, Spannung und Mühseligkeit, modern gesagt mehr als ein „Wellnessgefühl“. Der Muße, so Aristoteles, schreiben wir ein inneres Vergnügen, innere Glückseligkeit, innere Zufriedenheit zu: „Eine solche Glückseligkeit gehört nicht der Beschäftigung (ascholia) an: Sie fällt jenen zu, die Muße haben“, schreibt Aristoteles im VIII. Buch der Politik (1337 b). Die Muße ist nicht, wie die Beschäftigung, auf das Erreichen eines Zieles gerichtet, sie ist das gegenwärtige Ziel (telos). Aus solcher Logik lese ich Kafkas Satz: „Es gibt keinen Weg, nur ein Ziel. Was wir Weg nennen, ist Zögern.“ Die wichtigste Tätigkeit, die Aristoteles der Muße zurechnet, ist die Musik. Künstlerische Tätigkeit und Denken gehören zusammen. Diese Tätigkeiten sind frei. Erziehung zur Muße, die Aristoteles fordert, heißt Erziehung zu Tätigkeiten, die nicht nützlich, zielhaft sind, nicht Mittel zu einem Zweck außerhalb der Tätigkeiten. Musik ist nicht nützlich, aber fordert den Geist der Muße und ist der freien Menschen würdig. Über den ethos der Musik ist viel geschrieben worden, weil sowohl Platon wie sein Schüler Aristoteles sie für den wichtigsten Teil der Erziehung hielten. Seinen Platz im „Chorus“ zu behaupten – Voraussetzung des freien Bürgers – heißt singen und tanzen zu können. Musik und Kultur sind für Platon fast Synonyme. Die aktive Muße verwirklicht sich im Spielen von Musik und im musikalisch – singenden Rezitieren von Poesie. Sie geht einher mit dem Denken, das als beschauendes Betrachten, theorein den freien Menschen der Kultur definiert. Theoria, lateinisch contemplatio, begleitet den Menschen der Muße. Ästhetisches Handeln, das als Hingabe das –„Sein-in-Situation“ bewusst macht, ist als Akt der Intuition – an das Denken gebunden. Nur so ist „Dasein“ möglich. Die beschäftigten Menschen sind hier, aber nicht da. Heraklit sagt von ihnen: „Anwesend sind sie abwesend.“ Heidegger, der sich auf vorsokratische Weisheit beruft, hat Dasein mit dem Denken verknüpft. Dieses Verstehen als „je meines“ ist das, was Sartre Denken in Situation nennt. Ohne solches Denken ist ästhetisches Handeln nicht möglich. Denn das Sein-können als „Entschlossenheit“ ist Voraussetzung für den Akt ästhetischen Handels.

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2. Musik Die Musik ist die freieste der Künste, weil sie keinem Nutzen außerhalb ihrer selbst dient. Sie führt den Menschen ins eigene Innere. „Musik ist fähig, sich in unsere Stimmung in unsere Seelenlage hineinzuschleichen“, sagte Daniel Barenboim in einem Spiegel-Gespräch.2 In meinem Seminar „Musik und Dichtung“, das ich 1999 mit der Mezzo-Sopranistin Genja Gerber veranstaltete, diskutieren wir über das von Barenboim erwähnte „perfekte Verhältnis von Gefühl und Verstand“. Nicht zufällig waren die Musikstudenten und -studentinnen, die bei mir im Nebenfach Literaturwissenschaften studierten, meist die fantasievollsten und zugleich genauesten Textinterpreten, die Literatur betreffend. Sie glitten nie in abstrakte Spekulationen ab, die sich vom Text entfernten. Sie waren ja ausgebildet, den Klang ganz konkret, physisch zu erfassen und zugleich mit mathematischer Genauigkeit den Takt einzuhalten. Die Metapher „taktvoll“ bezieht sich auf dieses Zusammenspiel eines genauen, einfühlsamen Hinhörens und Reagierens im Miteinander von Menschen. Nichts anderes ist Kultur. Musik arbeitet mit Klang. Klang ist nicht geistig, es ist ein sehr einfaches rein physisches Mittel. Klang steht in Beziehung zur Stille. Man muss als Musiker wissen: Wie fang ich einen Ton an, wie lange halte ich ihn, wie beende ich ihn? Wie ist der Übergang zum nächsten Ton? […] Bewegung der Luft. Ja. Ich denke, deshalb wirkt sie so intensiv auf Menschen beim Hören und beim Spielen, weil sie geistig wirkt, aber physisch erfahrbar ist. Sie penetriert den Menschen durchs Ohr, durchs Trommelfell. Das ist intensiver als ein optischer Reiz.“3

Das akustische Organ war in früheren Zeiten dominanter als das optische. Die Griechen lasen auch laut oder sangen den Text. Augen können wir schließen, Ohren nicht. In diesem Sinne kann auch das empfangsbereite aktive Hören von Musik ästhetisches Handeln sein. Es wirkt befreiend und erlöst zeitaufhebend aus der dem Nutzer dienenden Arbeitsgesellschaft. Denken und Fühlen sind nicht mehr getrennt. Barenboim zitiert einen Satz seiner Lehrerin Nadia Boulanger : „Du musst die Struktur der Musik mit Emotionen füllen und die Emotionen analysieren“. Er setzt hinzu: „Mann muss über Gefühle denken und über das Denken fühlen. Man muss als Publikum den Eindruck haben, dass das Werk im Moment der Aufführung entsteht. Es muss gleichzeitig total durchdrungen sein und spontan“. Um dies zu erreichen, muss der Künstler in jenes Staunen zurückkehren, das Aristoteles als den Anfang der Philosophie beschreibt, das 2 „Wenn Monster weinen. Der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim erklärt die Macht der Musik, den Einfluss von Opern auf Diktatoren und das perfekte Verhältnis von Gefühl und Verstand, Spiegel 12 v. 17. 3. 2014, 130 ff. 3 Ebd.

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thaumazein. Es ist das von den Romantikern erkannte „reflektierte Gefühl“, das zum Ursprung zurückführt, zur Freiheit des Denkens, für keinen Zweck instrumentalisiert. Nach der Analyse der von der Musik ausgelösten Emotionen kehrt der Musiker zu einer „Naivität“ zurück: Zu dem Staunen des Anfangs im Spiel selbst: „Den Eindruck vom ersten Mal, dem Schock. Der Künstler, der das nicht schafft, würde Sie nie berühren“ – so Barenboim. In der Verteidigung experimenteller moderner Poesie spricht Adorno von diesem „Schock des Unverständlichen“, der aus der Bindung des „Wissens“ in die Freiheit katapultiert. Wer nicht ahnt, was in solchem Schock geschieht, für den bleibt die Diskussion darüber ein „Schattengefecht“. Dies gibt Adorno in seinem Aufsatz über „Engagement“ zu bedenken.

3. Posie Vielleicht nähert sich deshalb die konkrete, experimentelle Poesie der Musik, wird deutlich Klangpoesie, denn: „Musik ist die letzte Instanz. Musik will nichts, man kann sie im Grunde für nichts anderes benutzen als für sie selbst, man kann sie allerdings missbrauchen“. (Barenboim) Die Musik führt zu dem, was der Vorsokratiker Heraklit als das Alleine, hen kai pan, bezeichnet: Nicht ihm, sondern dem Logos folgend erkennen wir, dass alles eins sei, hen kai pan. Nach Barenboim ist Musik „von ihrem Wesen her rein […]; alles ist mit allem verbunden und wird eine Einheit. Auch in einem Stück wie Wagners ,Tristan und Isolde‘, auch da herrscht musikalisch die Suche nach der Einheit. Musik ist eins werden … So funktioniert Musik. Eine Wirklichkeit gewordene Utopie gelingender Gemeinsamkeit.“ Dieser Moment konkreter, weil im Vollzug realisierter Utopie ist Freiheit. Schelling hat nicht erst in seiner späten Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“, das Hen kai pan mit der Idee der Freiheit verbunden. In der Widmung seiner Erstlingsschrift „Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt“ für den Freund Pfister schreibt er : „Was geht über die stille Wonne dieser Worte, das hen kai pan eines besseren Lebens. Unserer Jugend zum Andenken.“ Für die in einer Stube des Tübinger Stifts lebender Freunde Hölderlin, Schelling und Hegel – was für ein Dreigestirn! – war hen kai pan das Losungswort für ihren Entwurf einer Zukunft in Freiheit. Ihr Symphilosophieren und Dichten war reales ästhetisches Handeln, einander steigernd und befruchtend. Hölderlin beschwört – als sie schon voneinander getrennt sind – poetisch diesen Zustand in seinem Gedicht „Diotima“ (mittlere Fassung):

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Ha! Wo keine Macht auf Erden, Keines Gottes Wink uns fremd, wo wir Eins und Alles werden, Da ist nur mein Element; Wo wir Not und Zeit vergessen, Und dem kärglichen Gewinn Nimmer mit der Spanne messen, Da, da sag ich, dass ich bin.4

Ganz in der Poeto-Logik des antiken musikalischen Ethos antwortet der junge Hegel: „Für dieses All-Eins-Fühlen“ in Freiheit bleibt „vielleicht allein die heilige Musik und der Gesang eines ganzen Volkes übrig, vielleicht auch Volksfeste.“5 Ich erinnere mich an diese „Utopie gelingender Gemeinsamkeit“ bei den Open-Air Konzerten im Hyde Park in meiner Londoner Zeit Ende der Sechziger Jahre.

4. Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen Im „Swinging London“ 1967 wurde damals sogar im Alltag auf gewissen Straßen spontan getanzt, weil aus einem Schallplattenladen laut Musik erklang. Ästhetisches Handeln war nicht mehr beschränkt auf bestimmte Orte und Zeiten – Konzertsäle, Kirchen und Feierabend nach getaner Arbeit oder Ferien. Der Alltag wurde spontan zum Festtag – allerdings nicht für Fabrikarbeiter. Als diese im Mai 68 in Paris revoltierten, solidarisierten sie sich im Unterschied zu deutschen Verhältnissen mit revoltierenden Studenten. Auch da wurde auf den Straßen getanzt und das war nicht auf den 14. Juli beschränkt. Die Aufbruchsstimmung jener Zeit war ohne Musik und deren Wirkung nicht vorstellbar. Es ging daher nicht primär um revolutionäre Inhalte, sondern um die Befreiung aus der Welt des Nutzens durch die Stimmung, die Musik auslöste. Das Reich der Freiheit schien realisierbar. Das geschichtsbewusste authentische „Sein-in-Situation“ bedeutete damals für Sartre, vor den Fabrikstoren zu Arbeitern und Studenten zu sprechen. Wenn wir uns an die etymologische Bedeutung von Ästhetik: „sinnliche Erkenntnis“, erinnern, so war das, was Sartre tat, ästhetisches Handeln. Er verwirklichte die sinnliche Erkenntnis im Aufruf zur Freiheit. Das signalisierte auch der Name der Zeitung, die er verteilte: „Lib8ration“. Der Kampf gegen die totale Verschulung der Universität als Verschuldung an der Zukunft selbstständig denkender Menschen in Freiheit war damals ein Teil des Kampfes gegen die allgemeine Entmündigung der Menschen durch den Zwang zu entfremdender Arbeit, um zu überleben. Das Nebeneinander und Ineinander von Leidenschaft und Disziplin sollte in einer freien bewussten Tätigkeit verwirklicht werden – so wie in der Musik. 1975, sieben Jahre nach dem Pariser Mai, blickt Sartre in einem Interview mit Contat zurück: 4 Hçlderlin, Friedrich, Werke in zwei Bänden, hg. v. Günter Mieth, Bd 1, München 1978, 188. 5 Hegels theologische Jugendschriften, nach den Handschriften der Königl. Bibliothek in Berlin, hg. v. Hermann Nohl, Tübingen 1907, 26.

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Meiner Ansicht nach war die Mai-Bewegung die erste umfassende Bewegung, die für kurze Zeit etwas verwirklicht hat, was der Freiheit nahe kommt und die davon ausgehend versucht hat, zu begreifen, was reale Freiheit ist. Aus dieser Bewegung sind Menschen hervorgegangen – ich zähle mich dazu – die zu dem Schluss kommen, dass man nun versuchen muss, positiv zu beschreiben, was das ist: Freiheit, verstanden als politisches Ziel. Denn letztlich, was verlangten sie denn, die im Mai auf die Barrikaden stiegen? Nichts, zumindest nichts Bestimmtes, was das System ihnen hätte geben können. Das heißt sie verlangten alles: Die Freiheit. Sie favorisierten nicht die Macht und versuchten gar nicht, die Macht zu ergreifen, denn für sie – wie heute für uns – ging es darum, die „machtausübende“ Gesellschaftsstrukturen „selbst zu beseitigen […].6

Was hat die politische Freiheit, von der Sartre spricht, mit der Freiheit als ästhetischer Handlung zu tun? Ich denke alles. Denn die Muße, schol8, im aristotelischen Sinne als Ziel, telos, des freien Bürgers gedacht, ist Freiheit vom Beschäftigtsein, um sich in Muße dem eigenen schöpferischen Inneren zuwenden zu können. Wenn der moderne Denker der Muße, Nietzsche, sagt, das Dasein sei nur als ästhetisches gerechtfertigt, so spricht er vom Habitus des freien Menschen. Denn wer mehr als ein Drittel seiner Zeit mit Arbeit zum Broterwerb verbringe, sei unfrei. Heute leben fast alle Menschen in Unfreiheit, obwohl die Sklaverei abgeschafft wurde. Die Möglichkeit zu einer freien bewussten Tätigkeit, die man auch ohne Bezahlung ausüben würde, haben nur sehr wenige Menschen. Ich bin in meinem persönlichen Umfeld umgeben von Menschen, die als Dichter, Künstler, Musiker einer entfremdenden Arbeit nachgehen müssen, um sozial zu überleben; die sich freie Zeit erkämpfen, um jene Tätigkeit ausüben zu können, die ich als ästhetische Handlung definieren möchte – bis hin zur Wahrnehmung mit allen Sinnen. Alle freien Tätigkeiten setzen Muße voraus: Muße auch zur Reflexion über die Tätigkeit, jene Verbindung von Denken und Fühlen, die nach Barenboim vor allem in der Musik notwendig ist. Aber in jeder ästhetischen Handlung muss man „über Gefühle denken und über das Denken fühlen.“ Der Kampf um politische Befreiung von den bestehenden Machtstrukturen ist ein Kampf um einen menschlichen Zustand, in dem dies möglich wird. Die Automation, die „Revolution der Mikroprozessoren“ eröffnet diese Möglichkeit. „Was Maschinen tun können, sollten auch Maschinen tun“, sagte der Schriftsteller Stanislaw Lem. Der Weg vom homo oeconomicus zum homo aestheticus ist möglich. Nur die bestehenden Machtstrukturen verhindern ihn.

6 „J. P. Sartre Selbstportrait mit siebzig Jahren“ (1975), Interview mit Michel Contat, in: Sartre über Sartre, Aufsätze und Interviews 1940–1976, Gesammelte Werke, hg. v. Traugott König, Autobiogr. Schriften, Briefe, Tagebücher, deutsch v. Gilbert Strasmann, Reinbek 1977, 242 f.

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5. Bildung Lange vor diesen realen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters hat Platon in der Abhandlung „Die Gesetze“ diese Möglichkeiten als Utopie ausgemalt. Er entwirft einen Staat, in dem jeder ein bescheidendes Vermögen hat, einen Wohnplatz in der Stadt und ein Stück Land außerhalb der Stadt, das unverkäuflich bleibt. Kein Zinswesen ist erlaubt (gegen dieses finden wir in der Bibel wie im Koran ebenfalls eine harte Kritik). Und die Erziehung ist, wie erwähnt, musisch ausgerichtet. Der „Sinn für Rhythmus und Harmonie“ steckt in allen Menschen. Deshalb können die Menschen sich durch Gesang und Tanz „miteinander zusammentun“, wie Platon im Zweiten Buch der Gesetze erläutert. Platon erklärt den Namen der Chöre für Tanz und Gesang aus dem Namen „Choru“, was „Freude“ heißt. Er richtet an seinen Gesprächspartner die rhetorische Frage: Wollen wir feststellen, daß die erste Erziehung nur durch die Musen und Apollon erteilt wird? Oder wie? … Also wird für uns dann ein Mensch ohne Erziehung derjenige sein der von den Chören nichts versteht… Folglich wird ein gut erzogener Mensch die Fähigkeit besitzen, gut zu singen und zu tanzen.7

Die musische Erziehung ist die Grundlage – sie soll für alle bindend sein. Von dort aus wird beispielsweise die Beschäftigung mit Arithmetik dem so Erzogenen Freude bereiten. Auch sie soll gesetzlich verankert werden. Wenn man also noch durch andere Gesetze und Einrichtungen das unedle Wesen und den niedrigen Hang zu bloßem Gelderwerb aus den Seelen derer wegräumt, die sich einmal die Lehrgegenstände in tüchtiger […] Weise aneignen sollten, so werden diese recht schön und zweckmäßig gedeihens.

Nun, werden Sie einwenden, dieses Ideal dessen, was bei uns denn „humanistische Bildung“ hieß, hat weder den Ersten noch den Zweiten Weltkrieg verhindert. Vielleicht, überlege ich, weil es verbunden wurde mit jenem Teil der Erziehung, die Platon wie Aristoteles kritisieren: Der Erziehung zur Tapferkeit im Kriege, der Hochschätzung des Militärs, der erzieherischen Vorbereitung auf einen Krieg wie es in Sparta üblich war. Gegen Sparta hat vor allem Aristoteles polemisiert. Das andere Moment, das Platon hervorhebt, um eine gebildete und friedliche Gesellschaft herzustellen, ist soziale Gerechtigkeit. Sie wurde im humanistischen Bildungsideal ausgeklammert. „Gibt es jedoch in einer Gesellschaft weder Reichtum nach Armut, so müssen in derselben die edelsten Sitten herrschen; denn da gibt es 7 Platon, Die Gesetze, 2. Buch 270ff, in: ders., Sämtliche Werke, übersetzt von Friedrich. Schleiermacher, Essen o. J.

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weder Übermut noch Ungerechtigkeit und auch keine Äußerungen von Eifersucht und Neid.“8 Der Paradigmenwechsel vom homo oeconomicus zum homo aestheticus wird in kleinen Kreisen schon vorgelebt. Ich habe ihn im „Wörterbuch des Müßiggängers“9 zu beschreiben versucht. Der Idealtyp dieses homo aestheticus, für den Zeit immer wichtiger ist als Geld, ist der moderne, von der Gesellschaft der Reichen aus gesehen „deklassierte Müßiggänger“. Allmählich schwindet auch in größeren Kreisen die Hochschätzung äußerer Statussymbolik, wenn sie mit Schäden für die Umwelt verbunden ist. Große Autos beispielsweise gelten als Umweltverschmutzer. Was jedoch nicht schwindet, ist die Logik, die auf Kriegstaktik aufbaut, das heißt den anderen als Feind zu sehen, der einem böse gesinnt ist, den man besiegen muss. Daraus entsteht Misstrauen und Missgunst als eine Grundbefindlichkeit. Der eigene Nutzen bestimmt jedes Profil im Netz. Und aus der Logik des Profils im Netz entsteht die Grundannahme, dass jeder andere ebenfalls vom reinen Eigennutz ausgeht und damit ein potenzieller Feind wird. Es herrscht gleichsam eine spartanische Kriegslogik, die freie Zeit verwendet, um sich, wie Aristoteles sagt, auf den nächsten Krieg vorzubereiten.

6. Ästhetik und Spiel als Überwindung der „Kriegslogik“ unserer Gegenwart Die Logik des kalten Krieges wurde von den Finanzmärkten im wörtlichen Sinne übernommen – nämlich in Form der Logistiker, die nach dem Fall des Eisernen Vorhang arbeitslos waren. Nur kurz, denn sie waren an der Wallstreet willkommen. Und von dort aus wurde diese Logistik global in die Digitalwelt eingeführt. Dazu passt, dass die musische Erziehung zugunsten einer technischen Erziehung vernachlässigt wurde. An den sogenannten Eliteuniversitäten werden fast ausschließlich, die Naturwissenschaften gefördert, die philosophischen Fakultäten stehen unter dem Zwang, sich analytisch zu orientieren. Wissensakkumulation statt Denken ist gefragt. Quantität steht vor Qualität. Die fachidiotische Arbeitsteilung nimmt zu, die Freiheit des Denkens wird verdrängt und verleugnet. Der Konsumismus hat auch als Wissenskonsumismus die Bildungsanstalten erfasst. Ästhetische Handlungsfreiheit finden wir vorwiegend außerhalb offizieller, finanziell geförderter Institutionen. Ist es nicht illusionär, von einem Paradigmenwechsel hin zum homo aestheticus zu sprechen? Ich spreche von ihm als einer Möglichkeit, die offen bleibt. Die Musik spielt dabei eine wichtige Rolle: Denn um miteinander zu musizieren, ist ein „aufeinander-Hören“ nötig, eine schöpferische Kooperation. 8 Platon, Gesetze, 3. Buch, 287. 9 Dischner, Gisela, Wörterbuch des Müßiggängers, Bielefeld 2009.

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Das ist etwas anderes als die Art sklavischer Kooperation der Arbeitnehmer, die – nach einer Umfrage – zu drei Viertel (genauer 76 %) auch in Ferienzeiten online sind und E-mails aus ihren Betrieben empfangen und beantworten. Ich erlebe in meiner Stadt Hannover immer mehr Musik-Bands, die in Caf8s und Restaurants auftreten, oft ohne Bezahlung – nur Essen und Trinken sind umsonst. Sie treten auf, weil es ihnen Freude macht gemeinsam zu musizieren. Sie treffen sich abends oder am Wochenende, auch tagsüber und gehen werktags einer entfremdenden Arbeit nach, im Griff der Zeitdiebe. Musik ist ihr Leben. Hier atmen sie Freiheit, sie improvisieren und experimentieren und manchmal kann man sie auch auf Youtube hören und sehen. Je virtueller die Welt wird, desto mehr steigert sich die Sehnsucht nach Life-Auftritten. Das Publikum ist gleichsam der Chorus, mitklatschend und anfeuernd: „Zugabe“. Auch das kann ästhetisches Handeln werden, teilnehmend, wahrnehmend, und spielend: Musik-Sprache „wo Sprachen enden“. Der Entheroisierung des Kriegertums in der Antike im Übergang von der Kriegsgesellschaft zu einer Muße-Kultur mit spielerischen Elementen entspricht eine unterirdisch spürbare Entheroisierung einer der Kriegslogik folgenden Leistungsgesellschaft zu einer – noch meist subversiven Kultur, einer Subkultur mit spielerisch-experimenteller Möglichkeiten, die ansteckend wirken. Das agonale Prinzip wird ins Spielerische getragen, aber nicht in die Gegnerschaft eines Leistungssports, wo es allein nur um Sieg und Niederlage geht, sondern im Sinne des alten „concurrere“, wo die Freude des miteinander Laufens noch nicht wie „im Lauf“ der etymologischen Wortgeschichte brutale Konkurrenz bedeutete. Das Agonale dient der sich gegenseitig steigernden Schönheit einer ästhetischen Handlung, an Regeln gebunden und doch frei, dem gewöhnlichen Leben entrückt. Ästhetische Handlungen, in denen, wie Johan Huizinga bemerkt „angeborene Bedürfnisse nach Rhythmus, Alternierung geregelter Abwechslung, antithetischer Klimax und Harmonie sich entfalten können […] alles Mythische und Magische, alles Heroische, alles Musische und Logische und Plastische sucht Form im edlen Spiel. Kultur beginnt nicht als Spiel und nicht aus Spiel, vielmehr im Spiel.“10 Denn der Mensch ist, wie Schiller sagt, nur dort ganz Mensch, wo er spielt. Ohne Spiel ist weder Freiheit noch Würde denkbar, auch wenn diese beiden Begriffe in einem sehr ernsten Kontext diskutiert werden. Dass Freud den Spieltrieb aus seiner Triebtheorie ausgeklammert oder verdrängt hat, zeigt, dass er dem Wesen der menschlichen Freiheit nicht auf den metaphorischen Grund folgte. Der Mensch ist ein transzendierendes Wesen. Er entwirft sich immerzu neu, wenn er nicht vom Automatismus der Tauschgesellschaft verschlungen wird. Ästhetisches Handeln ist Teil eines solchen Entwurfs. Es ist nicht als Kompensationshandlung zu verstehen, wie Freud behauptet. Ästhetisches Handeln als spielerisches Weltverhalten diesseits der Welt des Nutzens wird in der modernen Arbeitsgesellschaft nur als Freizeitluxus ge10 Huizinga, Joha, Homo Ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956,11.

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sehen. Der zum Workaholic reduzierte Mensch wird in der Freizeit zum Konsumenten (auch von Kultur) oder zum weiter rasenden, dauernd-Beschäftigtsein im Hamsterrad der Leistung, sei es im Leistungssport, oder einem anderen Hobby. Auf den Stellenwert eines Hobbies versuchte der Vater des Liberalismus, Adam Smith, auch ästhetisches Handeln zu reduzieren. Darin widersprach ihm Marx, der einen sehr genauen Begriff von ästhetischem Handeln als „freier bewusster Tätigkeit“ hatte: Diesen Schellingschen Begriff übersetzte Marx in sein System mit dem Synonym unentfremdete Arbeit. Marx war klar, dass künstlerische Tätigkeit zwar spielerisch, aber durchaus ganz ernst und anstrengend betrieben wird. Spiel und Ernst sind nicht wirkliche Gegensätze, sondern Spiel und entfremdete Arbeit. Auf diesen Unterschied hat Marx in seiner Polemik gegen Adam Smith deutlich hingewiesen. Das spielerisch-experimentelle Verhalten ist durchaus ernsthafter Habitus, der sich der höchsten Anstrengung unterzieht. Komponieren – Marx wählt dieses Beispiel aus dem von der Antike kommenden Ethos der Musik – sei keine Freizeitbeschäftigung als Ausgleich zur Arbeit, sondern „verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung“.11 Im Gegensatz zum schöpferisch – spielerischen Verhalten ist das auf ein Feindbild fixierte Verhalten unseres Eigennutzprofils im Netz, das über uns mehr zu wissen glaubt als wir selbst, weder spielerisch noch schöpferisch. Es entspricht jener amerikanisch-imperialistischen Logik, die der ehemalige USA Chef Michael Hayden beschreibt: „Wir Amerikaner denken in militärischen Doktrinen und Hoheitsbereichen, sei es auf dem Land, zur See oder im Weltraum.“12 Dieses militärische Denken ist rein taktisch auf Sieg und Eigennutz reduziert.13 Der zum User reduzierte Mensch interessiert primär als Konsument in der Informationsökonomie. „Shoppen“ wird zum Hochleistungssport der Freizeit: Die wird immer reduzierter, weil die Selbstausbeutung zunimmt, um sich das alles leisten zu können, was man haben muss, um „in“ zu sein. Dabei wäre das „Ende der Arbeit“ vorstellbar, nur kaum jemand wagt es, sich vorzustellen: Kastration der Phantasie.

7. Digitalisierung Michel Foucault hat den homo oeconomicus14 nicht als eine Wirtschaftsmodell verstanden, sondern als ein politisches Wesen, das, ausgefüllt mit künstlichen Bedürfnissen, manipulierbar geworden ist, also auch regierbar von der 11 Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Moskau 1939, 599 f, zit. n. Gisela Dischner, Sozialisationstheorie und materialistische Ästhetik in: Chris Bezzel [u. a..], Das Unvermögen der Realität. Beiträge zu einer andren materialistischen Ästhetik, Berlin, 1974, 70. 12 „Schande über uns“. Spiegel-Gespräch 24. 03. 2014, 92. 13 Schirrmacher, Frank, Ego. Das Spiel des Lebens, München 2013, 62. 14 Foucault, Michel, Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. 2005, 308.

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Wirtschaft, vor allem der Finanzwirtschaft, die ihrerseits die Politiker regiert. Die Digitalwelt hat den homo oeconomicus, der ein auch in der Literatur beschriebenes Modell war (vor allem die Schwarze Romantik ist voll davon) nicht nur aktualisiert, sondern als Profil im Netz verlebendigt. Er wird von den Computer Usern unentwegt mit neuen Daten gefüttert – die Mechanisierung des Geistes wird – scheinbar freiwillig – dauernd vorangetrieben, fast alle arbeiten daran mit. Der Mensch wird, um berechenbar zu sein für das Netz, zu dem reduziert, was man als seine Präferenzen bezeichnet, die sich errechnen lassen. Er besteht nur mehr aus Eigennutz, denn seine Träume, sein Einfühlungsvermögen und Mitempfinden für andere sind nicht berechenbar. So wird das Modell lebendig, indem es die Wirklichkeit codiert und der User sich nach ihm ausrichtet, seine Präferenzen werden zu dem, was ihm als Identität definiert. Die Hirnforschung hilft dabei mit, weil sie die Freiheit des Menschen in ihren Modellen bis auf wenige Ausnahmen verleugnet. Google und Facebook geben dem User die Präferenzen vor, zwischen denen er, scheinbar frei, wählt. Er wählt aber nur zwischen dem, was berechenbar ist und lässt sich damit auf das Eigennutzprofil reduzieren. Der Romantiker E.T.A Hoffmann hat in seiner Erzählung „Der Sandmann“ die Puppe Olimpia als Automate so agieren lassen, dass die Hauptgestalt, der Antiheld Nathanael, seine lebende Geliebte verlässt und in narzisstischer Regression sich der Puppe Olimpia zuwendet. Sie ist nichts als das Echo, das er selbst auslöst. Die Erzählung, die Freud in seiner Abhandlung über das „Unheimliche“ analysiert, erinnert – wie eine schwarzromantische Zukunftsvision – an jenes digitale „Spiel“ des Lebens, das Frank Schirrmacher als „Nummer 2“, unser Profil im Netz, beschreibt. Es wird scheinbar zu einem Naturgesetz: „Denn was treibt all diese Rechenmaschinen an?“ Selbstmaximierung des individuellen Überlebensprofils, Kooperation nur, wenn es dem eigenen egoistischen Zweck dient, geistlose Zielgerichtetheit […] und das Geschick, die Schwächen anderer auszubeuten […]. Wie ein entfernter Cousin, der zu Besuch kommt, einfach nicht mehr gehen will und nach und nach die Kontrolle über den ganzen Haushalt übernimmt, verwandelt Nummer 2 das digitale Du in sein eigenen monströsen Ich!15

Wie Nathanael langsam liebesunfähig wird, die Geliebte verstößt, selbstzerstörerisch der seelenlosen Automate Olimpia folgt, die Besitz von ihm ergreift, so könnte die Informationsökonomie die berechenbaren „Präferenzen“ als die eigene Identität vom Lebenslauf bis zum Facebook-Freundeskreis wie ein Produkt vermarkten. Zum Manager des eigenen Ichs werdend, beginnt, so Schirrmacher, das eigene Leben zu einer Risiko- und Wahrscheinlichkeitsrechnung zu werden. Diese Rechnung – das wissen wir selbst seit den Enthüllungen von Snowden – wird von einem riesigen Zentralgehirn der NSA kontrolliert. 15 Schirrmacher, Ego. 143.

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Die Kontrolle ist gut vorbereitet durch die Kontrollen, die inzwischen auch an der zur Audit-Universität geschrumpften Bildungsinstitution durchgeführt werden. Sie entspricht den Eigenschaften des Profils im Netz. Es droht, wie Richard Münch schreibt, die Errungenschaften einer auf Freiheit und Selbstverantwortung aufbauenden Kultur zu zerstören […]. Am Ende entsteht eine Allianz aus totalem Egoismus und totaler Kontrolle, deren Auswüchse überall sichtbar werden, in den Schulen genau so wie in den Universitäten. Überall wird um die Durchsetzung der eigenen Interessen gekämpft, überall müssen externe Kontrollen für Sicherheit sorgen, weil sich niemand vor Angriffen jeglicher Art sicher sein kann, jeder einem jeden misstraut.16

Erst recht gravierend seien die Folgen der Allianz von Egoismus und externer Kontrolle, wo es um die Förderung von Kreativität geht. Denken wir an Aristoteles zurück, der die spartanische Kriegslogik, die auf Misstrauen aufbaut, der ästhetischen Handlungsfähigkeit an eine in Frieden und Muße lebenden Gesellschaft vergleicht, so wird die Schlussfolgerung von Münch einsichtig. Heinrich von Kleist hat in seinen Dramen und Erzählungen den möglichen erschreckenden Ablauf, der aus dem Misstrauen entsteht, poeto-logisch entwickelt: Aus Misstrauen entsteht Missverständnis, aus Missverständnis – wird es nicht aufgeklärt – können gewaltsame und kriegerische Auseinandersetzungen entstehen.17 Insofern spiegeln die Auswüchse, die den (hoch)schulpolitischen Alltag vergiften – Doping, Cheating und Mobbing – auf makabre Weise die allgemeine Weltlage. Seit den NSA-Enthüllungen ist das Misstrauen gewachsen, niemand fühlt sich mehr sicher. Die NSA hat Zugriff auf Ihr Profil im Netz, nicht nur auf Ihr Handy. Angesichts der globalen, digitalen Bespitzelung wirken die Abhör-Affairen, Vietnamgegner und Bürgerrechtsbewegungen (u. a. Martin Luther King) von 1967 betreffend, geradezu harmlos. Die globale Informationsherrschaft hat ein Ausmaß angenommen, das es noch nie vorher gegeben hat – bald wird sie die gesamte digitale Kommunikation der Menschheit abfangen, filtern und speichern. Schon vor zwei Jahrzehnten sprach Bob Dylan davon, dass die Wirklichkeit die Science-Fiction überholt habe. Alle verfügbaren Merkmale, die die Internet-User selbst eingeben, werden auf der globalisierten Datenbank gespeichert. Nach dem Kalten Krieg kommt nun noch der heiße Cyberkrieg dazu: In rund 100.000 Computer oder Anlagen hat die NSA Schadprogramme in der ganzen Welt eingebaut.

16 Mench, Richard, Die Audit-Universität. Forschung und Lehre in der Hand des neuen Qualitätsmanagements, in: Gernot Böhme (Hg.), Kritik der Leistungsgesellschaft, Bielefeld/Basel 2010, 41 f. 17 Vgl. Dischner, Gisela, Der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele. Die Briefe Heinrich von Kleists als Teil seines Werks, Bielefeld 2012.

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8. Wandeln, Dialog und Geselligkeit Der homo oeconomicus scheint unbesiegbar : Scheint. Aber ich springe zurück zu meinem Thema – ästhetisches Handeln kann als Freiheit in keinem Profil identifiziert werden. Ästhetisches Handeln ist die Fähigkeit, mit allen Sinnen wahrzunehmen. Dieser Wahrnehmungsakt als sinnliche Erkenntnis kann auf kein Profil im Netz reduziert werden so wenig wie die Stimmung, die es in uns auslöst. Er ist nicht auf die Wahrnehmung von Kunst beschränkt. Auch der Alltag lässt sich verinnerlichend schöpferisch wahrnehmen; vielleicht inspiriert er uns zu einer Gestaltung. Auch die Natur kann so wahrgenommen werden. Kant hat in seinen Reflexionen über das Erhabene darauf hingewiesen, dass Naturerhabenheit dasjenige sei, was uns eine Ahnung unserer künftigen Freiheit vermittle. Diese Ahnung werden wir bei einem Spaziergang in Muße wohl eher empfinden als beim Jogging (möglichst mit einem Kilometerzähler). Im Phaidros lässt Platon die Situation des Wanderns und den Einfluss der „wundersamen Natur“ in die ästhetische Handlung des Dialogs zwischen Phaidros und Sokrates einfließen. Das Sein-in-Situation wird im Gespräch über die Liebe stets mitreflektiert. Die Wirkung der umgebenden Natur, in welcher sich die Sprechenden befinden, wird noch mit der Erinnerung an die Sagen angereichert, die sich mit dieser mythengetränkten Landschaft verbinden. Der Leser wird so angeregt, sich mit allen Sinnen in die Situation zu versetzen, in welcher die Sprechenden sich bewegen. So kann das Sich – Hineinversetzen selbst zur ästhetischen Handlung zu werden. Sokrates versucht, die Gedanken des ihn begleitenden Phaidros nachzuvollziehen, als dieser außerhalb der Mauern spaziert, um die Rede des Schriftstellers Lysias über die Liebe zu rekapitulieren. Sokrates bezeichnet sich als einen „armen Teufel“, der Phaidros zufällig begegnet und förmlich danach krankt, Reden zu hören und da freut sich dieser Phaidros und denkt, „jetzt habe ich den, der mit mir schwärmen wird“, und sagt diesem kurz: „Geh mit mir!“ Da ihn aber dieser Mann, der also in alle Reden verliebt ist, bittet, ihm seine Rede doch aufzusagen, ziert sich Phaidros plötzlich und tut als wollte er nicht. Zum Schluss wird er doch wollen, ja er würde, wenn einer ihn sieht und nicht zuhören wollte, diesen dazu zwingen. Habe ich nicht recht? Bitte ihn also, Phaidros, das sofort zu tun, was er doch nicht wird lassen können.18

Der Mann, den Phaidros bitten soll, ist Phaidros selbst: Die sokratische Ironie macht den Leser zum Mitspieler. Damit der Leser im Geiste ganz mitgeht im wörtlichen Sinne, wird nun auch 18 Platon, Gastmahl-Phaidros-Phaidon, ins Deutsche übertragen von Rudolf Kasner, Wiesbaden 1978,76 f, 228 c.

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noch die Situation, in der die beiden Gesprächspartner sich befinden, im Dialog beschworen: Phaidros: Gut, dass auch ich diesmal barfuß bin; du trägst ja nie Schuhe. Wir können uns ja im Bache zugleich die Füße baden, während wir gehen. Um diese Jahreszeit und Stunde ist das besonders angenehm […]. Siehst du dort seine hohe Platane? Sokrates: Ja! / Phaidros: Dort haben wir Schatten und auch einen leisen Luftzug und Gras, damit wir uns niedersetzen oder, wenn wir wollen, legen können.19

Die beiden Müßiggänger Phaidros und Sokrates haben keine Eile, nun die Rede des Lysias, die zu hören Sokrates so begierig war, zu rekapitulieren. Sie geben sich, auch im Gespräch, der schol8, der Muße hin, und schweifen ab von ihrem Vorhaben. Habe hier nicht, an dieser Stelle des Ilissos – Baches, wo sie sich befinden, der Sage nach Boreas die Oreithyia geraubt? Gerade von hier? fragt Phaidros: „Denn nirgends fließt der Bach so heiter und rein und durchsichtig, es ist ganz der Ort für Mädchen, wenn sie am Ufer spielen wollen.“20 Noch intensiver wird der Leser durch diese Abschweifung (dem Stilmittel der Digression) in die Situation versetzt, in der sich die beiden Wanderer befinden. Hört er nun endlich die Rede des Lysias über die Liebe? Nein. Sokrates hält eine lange Rede darüber, weshalb er Mythen über Menschen und Tiere zwar reizend findet, aber nicht darüber grübeln kann, ob sie auf Wahrheit beruhen. Dazu habe er keine Zeit, denn er kennt ja nicht einmal sich selbst und statt über Fabeltiere forsche er lieber, ob in ihm selbst ein Tier stecke. Die philosophische wird zur poetischen Frage nach der Wahrheit, zum viel zitierten Trieb nach Selbsterkenntnis gesteigert. Nicht abstrakt, sondern eingebettet in die Metadiskussion über die Wahrheit des Mythos. Diese wiederum ergibt sich scheinbar zufällig, weil die beiden Wanderer sich an einem mythischen Ort befinden. Spielerisch im mußevollen Gespräch wird der Übergang vom Mythos zum Logos beschrieben. Das Gespräch als ästhetische Handlung ergibt sich wie zufällig beim Wandern. Das Wandern selbst ist nicht „Freizeitbeschäftigung“. Es ist Teil des Alltags der philosophischen Säulengänger, deren Ziel schöpferische Muße ist, sie sehen nicht ab von dem, was sie umgibt: Dieses wird ihnen zum Anlass des Dialogs, den wir, an ihm weiterdenkend, lesen. Nietzsche hat, die Antike in ihrem dionyischen Ursprung erkennend, diesen Zusammenhang in der Geburt der Tragödie thematisiert: Die Sphäre der Poesie liegt nicht außerhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegenteil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deswegen den lügenhaften Aufputz jener vermeintlichen Wirklichkeit der Kultur […] von sich werfen.21 19 Platon, Phaidros, 77 f. 20 Platon, Phaidros, 78. 21 Nietzsche, Friedrich, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 1966, Bd. I, 50.

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Im Essay „Schopenhauer als Erzieher“ entwirft Nietzsche, der Denker der Muße, das Porträt des Workaholic. Er beschreibt uns „Moderne“, wie wir unser Herz an den Staat, den Gewinn, die Geselligkeit oder die Wissenschaft hastig wegschenken, bloß um es nicht mehr zu benützen, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser frönen, als nötig wäre um zu leben: weil es uns nötig scheint nicht zur Besinnung zu kommen. Allgemein die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist […].22

In der Freizeit werden wir, erschöpft, zu Konsumenten. Hat dieser Zustand der totalen Entfremdung auch von uns selbst inzwischen Asien erreicht? Aus der asiatischen Tradition, die im modernen Asien des Turbo-Kapitalismus nur noch selten gepflegt wird, kennen wir ästhetisches Handeln im Alltag: Ob es sich um die Kunst des Teetrinkens oder Blumenbinden handelt, immer werden jene, die es pflegen, sich als Diener der Schönheit verstehen. Auch dazu ist Muße die Voraussetzung. Ohne Muße kein Denken, kein Wahrnehmen mit allen Sinnen, kein ästhetisches Handeln. Ästhetisches Handeln beginnt, wenn sich etwas im Inneren und Äußeren entzündet, oft blitzartig oder, so Barenboim, als „Schock“. Etwas, das intuitiv und unberechenbar ist, das erst später strukturiert analysiert, planvoll zur Wirkung kommt. Etwas, das die Fenster zu versteckten Phantasien und Gedanken wie mit einem Windstoß öffnet. Etwas, das im Inneren sich mit Plötzlichkeit ausbreitet: Eine Bemühung um Ausdruck und Stil. Ein innerer Drang zur Gestaltung, ausgelöst vielleicht durch eine unerwartete Beleuchtung oder einen unvorhersehbaren Perspektivenwechsel. Es muss nicht immer der Blitz der Erleuchtung sein, aber es hat etwas mit dem Licht zu tun. Wenn jemandem plötzlich „ein Licht aufgeht“, kann das der Beginn eines ästhetischen Handelns sein, befreit von allem Gewussten, das vorher war : Etwas Unverlöschliches beginnt zu brennen. In der Jenaer Frühromantik wurde ästhetisches Handeln zur Kunst des Lebens universalisiert.: Die höchste Kunst, die Kunst zu leben, wie Novalis sie definierte, sollte im Alltag realisiert werden, im Miteinander – so wie im Zusammenspiel von Musikern. Ein Gespräch wurde ebenso als ästhetisches Handeln gesehen wie die freundschaftliche Geselligkeit der miteinander lebenden und arbeitenden Dichter und Künstler. Dass sich Gespräche in Texten objektivierten, kann den Leser noch heute erfreuen: In der gemeinsamen Zeitschrift „Athenaeum“ wurde das „Gespräch über die Gemälde“ abgedruckt. Etwas von der Stimmung des Geistes der Menschen, die sich in der Dresdner Gemäldegalerie trafen – die Brüder Schlegel, Caroline Schlegel, Novalis und Schelling – weht aus dem Text noch zu uns herüber : Der Text gewinnt im aufnahmebereitem Leser ein Eigenleben – wie jeder gut komponierte Text – der Leser reichert ihn an mit seinen Asso22 Nietzsche, Werke, 323.

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ziationen. Der Text wird, wie Friedrich Schlegel sagt, weitergeschrieben; er verselbständigt sich, entzündet neues Leben, neue Texte, neue Lebensentwürfe, neue ästhetische Handlungen. Dichter leben fort in ihren Texten – die Metapher der „Unsterblichkeit“ entsteht aus dieser Konstellation. Nicht ein Publikum sucht der Dichter, sondern ein „ansprechbares Du“ – das finden die Jenaer schon immer im geselligen gemeinsamen Arbeiten. Die Briefe aus jener Zeit sind voll von den Anspielungen auf dieses gegenseitige intellektuelle Einander-Steigern. Aus der Einsamkeit moderner Lebensverhältnisse hören wir eine andere Metapher. Das Gedicht, sagt Paul Celan, könnte eine Flaschenpost sein, vielleicht an Herzland gespült. Natürlich gibt es auch in der Moderne Versuche künstlerischer Gemeinschaften. Worpswede mit Paula Modersohn-Becker, Rilke und anderen Künstlern war aber im letzten Jahrhundert eher eine Ausnahme. Benn spricht im „Roman des Phänotyps“ von dem „Gefühl der fremden Herkunft, das unser eigentliches Wesen sei“: „Selbstentzündung, autarkische Monologie“.23 Wie anders die Stimmung in Jena und Weimar, wo Schiller und Goethe sich besuchten: Pferde oder Postkutschen waren das Verkehrsmittel. Den Jenaer Frühromantikern war das zu wenig. Sie wollten auch den Alltag miteinander gestalten. So entstand, als ästhetische Handlung verwirklicht, in Jena eine der ersten Wohngemeinschaften.24 Sie wurde von der etablierten Szene der Universität und der gebildeten Zirkel als Skandal empfunden. Goethe aber blickte aus dem benachbarten Weimar mit Sympathie auf das „Wespennest“, wie er sie in liebevoller Ironie nannte. Die Poetisierung der eigenen Existenz wurde auch in den Frankfurter und Berliner Freundschaftszirkeln als ästhetisches Handeln in Freiheit verstanden. An den Schwager Savigny schrieb Clemens Brentano 1803: „Es gibt etwas Größeres als die Liebe, ich fühle es deutlich, es ist der Verein vortrefflicher Menschen in Freiheit die bewusstlos zum Kunstwerk der Geselligkeit werden“.25 Der Liebes- und Freundschaftskult der Romantiker wurde in seinen Gestaltungen – ob im persönlichen Dialog, im halb öffentlichen Salon, in Briefen oder im realen Zusammenleben, wie in Jena, immer als ästhetisches Handeln begriffen. Dieses Handeln sollte zukunftsweisend sein für ein friedliches Zusammenleben in Muße und schöpferischer Freiheit. Der romantisch-politische Anspruch dieser in Augenblicken realisierten konkreten Utopie inspirierte den Pariser Mai 1968 zu der Parole „Die Phantasie an die Macht“. Ästhetisches Handeln wurde vom ro23 Benn, Gottfried; Roman des Phänotpys, in: ders.: Essays & Aufsätze, Reden und Vorträge, Prosa, Stücke aus dem Nachlaß, Szenen, Gesammelte Werke, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2003, 1354. 24 Dischner, Gisela, Madame Luzifer. Bürgerliche Vereinzelung und romantische Geselligkeit oder Caroline Schelling, gesch. Schlegel, Nordhausen 2010. 25 Dehner, Richard von, Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik, 1795–1820, Bd. I: Lebenswelten, Köln/Weimar/Wien 2002,131.

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mantischen Pathos begleitet, über das wir heute vielleicht lächeln: „Gott werden, Mensch sein, sich bilden, sind Ausdrücke die einerlei bedeuten“, verkündete Friedrich Schlegel in Jena.26 Sinnlicher Trieb und „Einbildungskraft“ sollten im ästhetischen Handeln zusammenfließen zu dem tastendintuitiven Vermögen, das zum „Selbstgenuss der Person und deren Tun aus innere Lust“27 befähigen könnte. Novalis unterscheidet dieses „Tun aus innerer Lust“, das Selbstzweck ist, von dem Tun, in dem ein Produkt nur hergestellt wird, um es zu verkaufen: Im Bergwerksmärchen erfreut sich der Bergmann an den wunderlichen Bildungen der Edelmetalle: „Sie haben für ihn keinen Reiz mehr, wenn sie Waren geworden sind.“28 Im Paradies, das Novalis das „Ideal des Erdbodens“, nennt, kann von aufmerksamen Menschen Schönheit wahrgenommen und als Bildung sinnlicher Erkenntnis weitergegeben werden.

9. Abschluss Ästhetisches Handeln wirkt ansteckend, weil es lustvoll ist und die Sehnsucht nach Freiheit im Akt des Handelns erfüllt. Es wirkt gegen die Entsinnlichung der Welt im Netz, gegen den Terror des Ökonomismus. Ästhetisches Handeln – ob produktiv oder rezeptiv – erlöst uns aus der Arbeitswelt des Nutzens, aus dem Reich der Notwendigkeit: Im Denkflug befinden wir uns plötzlich im Reich der Freiheit. In diesem Reich sind wir fähig, das Internet kreativ zu nutzen statt von ihm abhängig zu werden. Welch eindrucksvolle Filme, welche wunderbare Musikstücke werden dank des Internets geschaffen, weil es von schöpferischen Menschen als Instrument verstanden und gebraucht wird! „Die Transzendenz der schöpferischen Lust“, von der Gottfried Benn in seiner Rede auf Heinrich Mann spricht, kann den Menschen erfassen, der als Diener der Schönheit die Welt des Nutzens verlässt, um sich dem zuzuwenden, was Benn seine „strömende, ordnende, schöpferische Lust“29 nennt. Es ist möglich, dass wir uns dank der Automation auf eine Mußegesellschaft zubewegen, in der die Menschen Zeit haben werden, sich dieser Lust in Freiheit hinzugeben. Die Quelle des Schöpferischen in sich selbst entdeckend, arbeiten schon viele Menschen weltweit kreativ mit dem Internet: nicht in Konkurrenz, sondern in Kooperation mit anderen. Eine weltweit vernetzte Subkultur ist so längst entstanden, eine Parallelwelt zur Welt des Informationskapitalismus. Wahlverwandte Geister kom26 Schlegel, Friedrich, Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801], Kritische Ausgabe, Abt. I, Bd. II, hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner, Paderborn 1967, Fragment 262, 210. 27 Novalis, Werke und Briefe, Schriften, Bd. II, hg. v. Alfred Kelletat, München 1960, 132. 28 Novalis, Werke, 198. 29 Benn, Gottfried, Rede auf Heinrich Mann (1931), in: ders., Werke, 980.

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munizieren miteinander über Kontinente hinweg, sich gegenseitig steigernd. Angesehene Professoren aus Universitäten, in denen nur die Kinder reicher Eltern die Studiengebühren zahlen können, stellen ihre Vorlesungen und Diskussionen gratis ins Internet (Stanford University beispielsweise): Voraussetzung für eine Bildungsrevolution diesseits, jener von Münch30 zu Recht kritisierten Leistungskontrolle durch das neu eingeführte Management der Audit Universität. Die Muße, die nötig ist, sie zu realisieren, könnte mit einem bedingungslosen Grundeinkommen und einer Dreitagewoche in realistische Nähe gerückt werden. Tätigkeiten, die im Unterschied zum freiwilligen Hochleistungssport in der Freizeit Muße erfordern, wie beispielsweise Wandern, nehmen zu. 70 % der Österreicherinnen und Österreicher wandern gern und regelmäßig, so antworteten sie 2005 auf eine Umfrage.31 Wie Wandern zu ästhetischem Handeln in der Kunst das Gespräch anregen kann, hat Platon wie erwähnt, im Phaidros beschrieben. Rasten, Schauen und Sprechen sind mit dieser mußevollen, stetigen Tätigkeit verbunden – sie ist inzwischen an erster Stelle bei den Lieblingssportarten – so hören wir aus der Freizeitforschung. Sie fördert die Wahrnehmung mit allen Sinnen, sie ist friedvoll und hat nichts mit Konkurrenz, Sieg und Niederlage zu tun. Das Wandern ist in der Literatur oft besungen und mit dem Sich-Eins-Fühlen in der Natur verbunden worden – Hölderlin war ein begeisterter Wanderer. Viele Gedichte sprechen von den Erlebnissen beim Wandern. Um zu verdeutlichen, wie Wahrnehmung mit allen Sinnen sich steigern kann zur Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung, möchte ich zum Schluss die erste Strophe von Hölderlins Gedicht „Die Muße“ vorlesen: Sorglos schlummert die Brust und es ruhn die strengen Gedanken. Auf die Wiese geh ich hinaus, wo das Gras aus der Wurzel Frisch, wie die Quelle, mir keimt, wo die liebliche Lippe der Blume Mir sich öffnet und stumm mit süßem Othem mich anhaucht, Und an tausend Zweigen des Hains, wie an brennenden Kerzen. Mir das Flämmchen des Lebens glänzt, die rötliche Blüte. Wo im sonnigen Quell die zufriednen Fische sich regen. Wo die Schwalbe das Nest mit den törigen Jungen umflattert, Und die Schmetterlinge sich freun und die Bienen, da wandl ich Mitten in ihrer Lust; ich steh im friedlichen Felde. Wie ein liebender Ulmbaum da, und wie Reben und Trauben Schlingen sich rund um mich die süßen Spiele des Lebens.32

30 Mench, Audit-Universität. 31 Vgl. Zellmann, Peter/Opaschowski, Horst, Die Zukunftsgesellschaft. Und wie wir in Österreich mit ihr umgehen, Wien 2005, 265. 32 Hçlderlin, Werke, Bd. 1.

Paul Kirchhof

Freiheit als Prinzip in Recht und Politik

Wenn wir heute von dem ersten Ideal moderner Demokratie, der Freiheit, sprechen, so wird aktuell bewusst, dass diese Freiheit zwar rechtsverbindlich vorgegeben, uns aber ebenso in den aktuellen Bedrängnissen der Würde und Freiheit des Menschen aufgegeben ist. Freiheit muss errungen werden. Der Terrorismus zerstört Freiheit, wenn wir im Alltagsleben nicht mehr gegen Spontanangriffe sicher sind, die Täter zum Suizid bereit, deswegen selbst durch die Sanktion einer Todesstrafe rechtlich nicht ansprechbar sind. Die Freiheit ist ebenso gefährdet, wenn die Freiheitsberechtigten in der eigenverantwortlichen Gestaltung ihres Lebens träge werden, sie in Wahrnehmung ihrer Berufs- und Eigentümerfreiheit die wirtschaftlichen Grundlagen ihres Lebens nicht ausreichend sichern, deswegen den Staat überfordern und in die Verschuldung drängen. Auch die Überregulierung durch Gesetze verengt die Freiheit, wirkt teilweise fast erdrückend, lässt hinreichend Freiheitsvertrauen bei den staatlichen Organen vermissen. Freiheitsrechte sind Bürgerrechte, berechtigen den Bürger – von burga (ahd.), die Burg –, also den Menschen, den die Burggenossenschaft in die Burg hineinlässt, weil er wehrfähig und wehrbereit ist, er den Burgfrieden achtet, er das wertvollste Gut der Burg – das Wasser – nicht beschädigt. Diese Freiheitsidee muss für unsere Gegenwart neu entfaltet werden.

1. Das Freiheitsrecht Das Freiheitsrecht gewährleistet jedem Menschen, seine Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Jeder ist seines Glückes Schmied. Deswegen darf sich jeder Freie vom anderen unterscheiden. Der eine arbeitet Tag und Nacht und wird reich an Geld. Der andere philosophiert Tag und Nacht und wird reich an Gedanken. Die so entstehenden Verschiedenheiten sind freiheitlich gerechtfertigt. Wer sie durch Umverteilung einebnen will, missversteht die Freiheit. Freiheit ist ein Angebot, dass der Berechtigte annehmen, aber auch ausschlagen kann. Wenn das Grundgesetz die Berufs- und Eigentümerfreiheit gewährt, erwartet es Freiheitsberechtigte, die aus eigenem Willen sich am Erwerbsleben beteiligen, ihr Eigentum pflegen, damit die Grundlage für allgemeine Prosperität setzen. Doch wer sich für ein Leben als Diogenes ent-

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scheidet, unter der Flussbrücke schläft, übt mit dieser Entscheidung gegen den Beruf und gegen das Eigentum seine Freiheit aus, handelt rechtmäßig. Würde die Mehrzahl der Menschen sich für dieses Modell des Diogenes entscheiden, wäre das Recht nicht verletzt, die Soziale Marktwirtschaft, der Finanz- und Steuerstaat würden aber an ihrer eigenen Freiheit zugrunde gehen. Freiheit ist deshalb das Rechtskonzept einer Hochkultur, in der die Menschen fähig und bereit zur Freiheit sind. Freiheit ist in den kleinen Gegenwartfreiheiten das Recht zur Beliebigkeit. Ob jemand heute Abend ein Glas Bier oder ein Glas Wein trinkt, ist sein Belieben. Würde er nach den Gründen gefragt, würde er mit dem Hinweis auf seine Freiheit antworten. Doch die großen Zukunftsfreiheiten, die unser Leben prägen, setzen die Fähigkeit zur Bindung voraus. Ob jemand eine Familie gründet, entscheidet er in Freiheit. Hat er aber Sohn oder Tochter, ist er diesem seinem Kind ein Leben lang – unkündbar und unscheidbar – verbunden. Im ersten Schritt ist er frei, im zweiten verantwortlich. Gleiches gilt, wenn er sich für einen Beruf, etwa des Arztes, entscheidet, sich deshalb für die Aufgabe qualifizieren und sodann beruflich stets nach Qualifikation und ärztlichem Ethos im Dienste der Patienten handeln muss. Baut er ein Haus, hat er dieses so standsicher und nachbarschaftsgerecht zu gestalten, dass auch seine Kinder und Enkel dieses Haus noch nutzen können. Gründet er eine Firma, erweitert er wiederum seinen realen Freiheitsbereich gewaltig, übernimmt aber Verantwortlichkeiten für sein Produkt, seine Kunden, seine Arbeitnehmer, seine Vorlieferanten, seinen Standort. Deswegen gewährt die Verfassung nicht Freiheit, sondern ein Freiheitsrecht. Das Grundrecht der Freiheit regelt die Begegnung von zwei Menschen. Wenn Robinson Crusoe auf der einsamen Insel – ohne Freitag – nur den Naturgewalten begegnet, braucht er kein Recht, denn dieses bindet nur Menschen, nicht die Natur. Rechtliche Freiheit trifft deswegen stets auf einen Gegenüber, der gleiche Freiheit beansprucht, ist deswegen gemäßigt, niemals Willkür, niemals Herrschaft über andere. Freiheit ereignet sich im Umfeld einer – verfassungskonformen – Rechtsordnung. Darüber hinaus gehört zur Hochkultur der Freiheit aber auch eine Konvention – von conventio, die Zusammenkunft und die Übereinkunft in einer gemeinsamen Herkunft –, eine gute Ordnung, die nicht staatlich gesetzt und nicht in einer Rechtsurkunde geschrieben ist, die aber Freiheit ermöglicht, weil jeder weiß, was sich gehört. Wenn Sie heute in diesem Hörsaal sich anders gekleidet haben als gestern im Schwimmbad, ist dies für unsere freiheitliche Begegnung wesentlich, steht aber nirgends geschrieben. Wenn die Rugbyspieler auf ihrem Sportfeld sich nach den Regeln ihres Sportes körperlich attackieren, die gleiche Attacke aber beim nachfolgenden Festbankett nicht wiederholen, ist das Bedingung eines freiheitlichen Sportes, ohne dass es rechtlich bestimmt wäre. Und die Sprache auf der Berghütte ist eine andere als die vor den Schranken des Gerichts. Unsere Rechtsordnung öffnet in vielen Vorschriften das Fenster zur Ethik

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und zu gewachsenen Konventionen. Dort ist die Rede vom ehrbaren Kaufmann, von Treu und Glauben, von der Sittenwidrigkeit, von der ordnungsgemäßen Buchführung, von Handeln und Erklären nach bestem Wissen und Gewissen. Freiheit meint deshalb die verantwortliche Freiheit. Montesquieu lehrt, Demokratie setze eine Tugend voraus und diese Tugend heiße Gemeinwohl. Ein guter Demokrat bevorzuge ständig das Gemeinwohl vor dem Eigenwohl. Ludwig Erhard, dem wir die Soziale Marktwirtschaft verdanken, will gleichermaßen ein Gemeinwohl organisieren, in dem nicht der Egoismus regiert. Deswegen ist die wirtschaftliche Freiheit, die im Eigennutz einen Antrieb erfährt, rechtlich organisiert. Diese ethische und konventionelle Verantwortlichkeit wird von Staat und Recht nicht eingefordert, aber als selbstverständlich vorausgesetzt. Nach diesen Maßstäben begegnen die Eltern ihren Kindern, der Arbeitgeber den Arbeitnehmern, der Chefredakteur seinen Lesern und Zuhörern. Und wenn die Verantwortlichkeiten beim Staat – dem Gesetzgeber, der Verwaltung, der Rechtsprechung – liegen, weicht die Freiheit der Pflicht. Das Staatsorgan ist nicht freiheitsberechtigt, sondern freiheitsverpflichtet. Der Richter gibt, wenn er die Robe anzieht, seine Freiheit an der Garderobe ab, dient nun nur noch der Freiheit des Rechtsuchenden.

2. Der Standort des Freiheitsrechts in der theologisch-philosophischen Entwicklung „Gott ist Gerechtigkeit“ – so lehrt das Christentum. Dieses Gottesverständnis veranlasst die Menschen in ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die weltliche Ordnung im Wort Gottes zu suchen. Sie lesen die Zehn Gebote, fünf (oder drei) Bücher Mose oder das gesamte Alte Testament. Gottes Gesetz soll Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Glauben sichern, Konflikte friedlich regulieren, den Schwachen schützen, das Verhältnis des Menschen zu Gott gestalten, bei der Wahrheitssuche helfen. Diese Begegnung von Theologie und Recht findet durch die Naturrechtslehren unmittelbar Eingang in die Rechtsentwicklung. Solange die Menschen in der Geborgenheit einer geschlossenen christlichen Ordnung leben, gewinnt das Recht in seiner göttlichen Herkunft Inhalt und Autorität. Weltliches und göttliches Recht sind miteinander verbunden. Wenn dann die Lehren des Alten Testaments zur Bewältigung der Gegenwart nicht mehr ausreichen, sucht der Mensch das Recht in einem Einklang mit der Natur, der Schöpfung, von der Gott sah, dass sie sehr gut war. Daraus ergeben sich Folgerungen für Ehe und Familie, aber auch für die Grundprinzipien menschlichen Handelns, die der Corpus iuris civilis in den Er-

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fordernissen zusammenfasst: „Ehrenhaft leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren“. Doch auch wenn wir im Buch der Natur alle Zeichen und Worte verständen, auf die modernen Fragen des Rechts eine vollständige Antwort fänden, beobachten wir auch eine Welt, die von Leid, Grausamkeit, Katastrophen, Not und Tod geprägt ist, in der die Menschen einander Leid und Unrecht zufügen, in der das natürliche Leben auf Kosten des Lebens anderer – insbesondere in der Nahrungskette – lebt. Die Sonne wärmt und verbrennt, der Regen erfrischt und verwüstet, der Wolf reißt das Huhn und wird vom Jäger geschossen. So wird fraglich, ob das Recht und die Gerechtigkeitserwartung in dieser Welt und diesen Menschen abgebildet sind. Deswegen entdeckt das Naturrecht den menschlichen Geist, die Fähigkeit des Menschen zu Wissen und Gewissen, in denen das Recht wurzelt. Der Mensch lebt in Freiheit nicht nur im Einklang mit der Natur, sondern auch gegen die Natur. Das Naturrecht fordert den in seinem Gewissen verantwortlichen Menschen, der sich selbst frei und schöpferisch zurücknimmt, damit der andere zur Entfaltung kommt. Diese Selbstzurücknahme ist „natürlich“, nicht naturgetrieben. Sie enthält eine lebensgestaltende Kraft, die in Kants Kategorischem Imperativ wurzelt. Das Gewissen als selbstkritische Geschichtsschreibung über sich selbst fragt nach der Verallgemeinerungsfähigkeit der in individueller Verantwortlichkeit erkannten gerechten Regeln. Heute ist diese Fähigkeit des Menschen zur verantwortlichen Gewissensanspannung und damit zur Erkenntnis der elementaren Gerechtigkeit der Kerngedanke, mit dem die Staaten untereinander, aber auch die Kirche im Gespräch mit der säkularen Gesellschaft die gemeinsame menschliche Natur erkennen und sich so über ethische Prinzipien des Friedens, der Würde und Freiheit für Jedermann, der Gleichheit im Sozialen zu verständigen suchen. Die Universalität der Menschenrechte gründet in dieser Gemeinsamkeit aller Menschen.

3. Die wesentliche Freiheitsvoraussetzung: Vertrauen Bedingung einer freiheitlichen Gesellschaft ist ein gegenseitiges Mindestvertrauen, die Erwartung, dass der andere verlässlich nach vertrauten Maßstäben handeln wird. Wer sich im Straßenverkehr frei bewegen will, darf erwarten, dass alle Verkehrsteilnehmer rechts fahren und links überholen. Wer beim Bäcker seine Brötchen kauft, setzt selbstverständlich voraus, dass dieser ihm Lebensmittel und nicht Schädigungsmittel anbietet. Das Vertrauen auf das allgemeine Recht stützt die Zuversicht, beim abendlichen Heimweg nicht durch Gewalt und Raub geschädigt zu werden, beim Besuch eines Kaufhauses nicht ein Sprengstoffattentat fürchten zu müssen. Unser Wirtschaftssystem stützt sich auf ein Einlösungsvertrauen in das Geld, ein Schuldversprechen,

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das Wertzeichen Geld werde jederzeit in einen entsprechenden Realwert eingetauscht. Dieser Geldwert ist nicht durch Hinterlegung anderer Werte gesichert, baut allein auf eine allgemeine Kultur des Vertrauens. Dieses Freiheitsvertrauen in die Redlichkeit, die Qualifikation und den Anstand des anderen ist gefährdet, wenn der einzelne in seiner freiheitlichen Verantwortung sich in der Anonymität einer Allgemeinheit verbergen kann. Wer im Internet absenderlos Nachrichten senden kann, die andere Menschen belasten oder schädigen, nimmt dem Prinzip der verantwortlichen Freiheit ihre tatsächliche Grundlage. Wer bei der Fondsanlage nicht wissen darf, ob er sein Geld mit der Produktion von Weizen oder Waffen verdient, bedient sich einer Marktorganisation der Nichtverantwortlichkeit. Wer als Vorstandsvorsitzender einer großen Gesellschaft die Jahresbilanz und die Steuerbilanz als richtig bestätigt, obwohl er sich eines Steuerberaters und eines Wirtschaftsprüfers bedienen muss, um die ihm selbst unmögliche Bilanz zu erstellen, formuliert eine fiktive Richtigkeitsgewähr, für die er persönlich nicht einstehen kann. Wer täglich die Flüchtigkeit von Tagesnachrichten erlebt, seine Aufmerksamkeit ständig wechselnden Ereignissen und Wertungen widmen soll, tut sich schwer, einen eigenen Standpunkt im Ablauf der Geschehnisse zu finden. Verantwortliche Freiheit entwickelt nur der, der mit eigenem Namen in eigener Person für sein Handeln sichtbar einsteht, gleiches von anderen erwarten darf und in der Nachhaltigkeit von Informationen ein Wissensfundament gewinnt, um als mündiger Bürger in Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte zu wählen. Der Gesetzgeber muss sein Vertrauen in die Freiheitsfähigkeit der Bürger dadurch bestätigen, dass er wesentliche Lebensbereiche ungeregelt lässt, weil die Bürger sie eigenverantwortlich gestalten und so auch dem Gemeinwohl dienen. Das Freiheitsprinzip wird damit auch zu einer Grenze zwischen Staatsaufgaben und gesellschaftlicher Eigenverantwortlichkeit.

4. Freiheit im Recht Die verantwortliche Wahrnehmung der Freiheit wird durch eine Rechtsordnung entlastet, die Elementarbedingungen menschlichen Zusammenlebens allgemein regelt, dafür Verbindlichkeit beansprucht. Das Recht sichert Grundprinzipien dieser Gemeinschaftsordnung, fordert von jedem Rechtsbeteiligten, dass er den anderen in dessen Würde und Freiheit achtet, seine Rechte nicht verletzt, seine eigenen Angelegenheiten in Freiheit gestaltet, bei Mitbetroffenheit anderer Verantwortung für diese Menschen übernimmt, den Maßstab seiner Verantwortung auf seine Verallgemeinerungsfähigkeit hin prüft und letztlich eine Kultur des Maßes als Grundprinzip der Gerechtigkeit akzeptiert. Diese Sicherheit im Recht wird dem Bürger gegenwärtig verweigert, wenn

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der Europäische Rat – im sog. A-Punkte-Verfahren – in einer Stunde 60 Gesetze beschließt, in dieser Eile schlechthin nicht in der Lage ist, seiner Aufgabe zu genügen, Rechte zu sichern, Interessen auszugleichen, zwischen den Staaten zu vermitteln. Ähnliches gilt, wenn der Deutsche Bundestag in einer Legislaturperiode 500 Gesetze – einschließlich der Änderung von Gesetzen – beschließt. Das Recht ist gänzlich missachtet, die Grundlage der Freiheit damit zerstört, wenn die Bundesrepublik Deutschland und vielfach mehr noch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich beharrlich gegen das Recht verschulden. Das Europarecht setzt der staatlichen Gesamtverschuldung eine Grenze bei 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deutschland hat gegenwärtig eine Gesamtverschuldung von etwa 75 Prozent zu verantworten. Das Grundgesetz wird in Zukunft einen Haushaltsausgleich durch Verschuldung nicht mehr zulassen, verwehrt also dem Staat das Finanzierungsinstrument der Staatsschuld, weil der Staat – anders als der Unternehmer – die Schuldenlast einschließlich der Zinsen nicht durch eine dank des Darlehns gewonnene höhere Produktivität bedienen kann. Der Staat belässt die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit in privater Hand, hat keine Staatsunternehmen, die ein Fundament seiner Finanzierung wären. Der Staat muss seine Darlehen letztlich durch Vorgriff auf zukünftige Steuererträge finanzieren, belastet damit die nachfolgende Generation, die das von ihr erwirtschaftete Steueraufkommen einsetzen soll, um ein Ausgabenübermaß der Gegenwart auszugleichen. Die deutsche Geschichte lehrt, dass der Staat zu großen Leistungen auch ohne Verschuldung fähig ist, dass die Staatsverschuldung aber dem Staat kaum einen Leistungszuwachs erbracht hat. In den Jahren nach dem Kriege – bei extremer Not und zerstörten Produktionsstätten – ist ein Wirtschaftswunder fast ohne Neuverschuldung gelungen, weil alle Menschen den entschiedenen Willen zum Besseren gehabt haben. In der Zeit von 1950 bis 2008 hat sich Deutschland – Bund, Länder und Gemeinden – in Höhe von 1,6 Billionen Euro verschuldet, insgesamt in der gleichen Zeit aber 1,5 Billionen Zinsen gezahlt. Die Zinsen haben die Staatshaushalte und damit die Leistungsfähigkeit des Staates vermindert. Die Schulden sind geblieben. Die Staatsverschuldung ist ein Geschäft der Banken, gibt den Staaten kaum zusätzliche Liquidität.

5. Freiheit in der Politik Der die Politik prägende Gedanke fordert: Das Gesetz herrscht, nicht der Mensch. Deswegen fordert die Freiheit eine Mitbestimmung jedes entscheidungsfähigen Bürgers im Staat, verlangt demokratische Wahlen und eine ständige öffentliche Debatte über Ziele und Instrumente staatlichen Handelns. Staatliche Gewalt ist eine Macht auf Zeit und legitimiert sich durch die Wahl und die Zustimmung des Staatsvolkes. In einem demokratischen Staat verhält

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sich der Bürger zum Staat wie die Hand zum Handschuh. Der Handschuh liegt schlaff darnieder, wird nur lebendig, wenn die Hand hineinfährt, ihre Finger bewegt und dadurch entsprechende Bewegungen des Handschuhs veranlasst. Wichtigster Repräsentant des Staatsvolkes, der seinen Willen rechtsverbindlich stellvertretend verwirklicht, ist das Parlament, das die Bürger im Wissen und im Willen vertritt. Das Mitglied des Parlaments erhält sein Mandat durch die Wahl. Dieser Akt des Staatsvolkes schenkt ihm Vertrauen und gibt ihm das Mandat. Während in unserer Gesellschaft einer anspruchsvollen Aufgabenteilung der Mensch grundsätzlich im Vorhinein nachweisen muss, dass er zu einer beabsichtigen Tätigkeit qualifiziert ist – er darf nur ein Fahrzeug führen, wenn er vorher den Führerschein gemacht hat, beruflich nur tätig sein, wenn er vorher die Berufsqualifikation erworben hat –, erhält der Abgeordnete sein Mandat ohne vorherige förmliche Qualifikationsnachweise, wird durch die „Prüfungskommission“ des Staatsvolkes ins Parlament entsandt, also wiederum durch ein Entscheidungsorgan, das die Meinungen und Empfindungen der Allgemeinheit widerspiegelt, nicht über eine besondere Qualifikation zu Politik und Staatslenkung verfügt. Bei dieser Auswahl kommt dem Parlament die Aufgabe des Generalisten zu, der die Grundsatzfragen des Gemeinwesens, die allgemeinen verbindlichen Regeln des Zusammenlebens entscheidet. Doch vielfach trifft das Parlament Entscheidungen, bei denen die Abgeordneten im Plenum nicht wissen, was sie tun, sie deshalb den Wähler weder im Wissen noch im Wollen vertreten können. Wenn demnächst das Parlament über ein besseres Erbschaftsteuerrecht befindet, über eine Arzneimittelzulassung oder über Fragen der Energiepolitik entscheidet, wird die Mehrheit der Abgeordneten diese Gesetze in ihren Grundzügen verstehen, Details aber nicht beurteilen können. Deswegen müssen wir uns wieder darauf besinnen, dass das Parlament das „Wesentliche“ des Rechts entscheidet, sich aber nicht in den Tagesaktualitäten und Einzelregelungen verheddert. Das Parlament gewinnt an Bedeutung und Autorität, wenn es sich auf die Grundstrukturen von Recht und Politik konzentriert, nicht täglich die Antwort auf eine neue Anfrage an das Recht parlamentarisch zu geben versucht. Diese Gesetzgebung im Grundsätzlichen vermeidet schon in der Aufgabenstellung Bevorzugung und Privileg, ist der Allgemeinheit der Menschen verpflichtet, bestimmt immer wieder neu das Gemeinwohl, nicht den Eigennutz von Gruppen oder einzelnen Menschen. Es bestätigt die Fundamentalhoffnung der Demokratie – ihren rechtfertigenden Kerngedanken –, das Staatsvolk werde immer wieder neue Parlamente wählen, damit diese eine bessere Politik, bessere Gesetze machen. Zur Festigung und Förderung der individuellen Freiheit ist dieser demokratische Rechtsstaat ersichtlich von freiheitsbestimmten Strukturen geprägt. Demokratie gewährt Macht auf Zeit, gibt dem Wähler in seiner Freiheit immer wieder die Möglichkeit, über das Personal und die Programme zukünftiger Politiker neu zu entscheiden. Der Föderalismus lässt nicht alle politischen Entscheidungen in die Hand der Zentrale, sondern überantwortet wichtige

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Entscheidungen den Ländern und Gemeinden, erreicht damit Bürgernähe, eine Entscheidungsvielfalt, auch die Möglichkeit zum politischen Experiment. Ein kooperatives Verwalten gibt den Betroffenen und Beteiligten Antragsrechte, gewährt rechtliches Gehör, berücksichtigt deren Einwendungen und Bedenken, anerkennt also den aktiv mitgestaltenden Bürger, der nicht ein der Hoheitsgewalt unterworfener Betroffener ist. Schließlich garantiert die Eröffnung eines Rechtsweges für Jedermann, dass jeder Mensch, der sich in seinen Rechten verletzt glaubt, das Gericht anrufen kann, um dort in einem fairen Verfahren, in Waffengleichheit zwischen Staat und Bürger einem unabhängigen Richter seine Rechtsbegehren vorzutragen und ein fundiert begründetes Urteil zu erwirken. Der einzelne Mensch setzt sich, wenn er Recht hat, gegen 80 Millionen Menschen, gegen den einstimmigen Beschluss von Bundestag und Bundesrat durch, weil die Rechtsordnung ihm dieses Recht gibt. Wir erleben den historischen Glücksfall, dass das deutsche Grundgesetz diese Elementarwertungen eines würde- und freiheitsbegabten Menschen, dem der Staat zu dienen hat, zu verbindlichem Verfassungsrecht macht. Wir müssen daran arbeiten, dass dieses Recht sich entfaltet, sich immer wieder neu bewährt, vor allem aber auch dafür sorgen, dass der Bürger kritisch beobachtet und erkennt, dass dieser Staat, repräsentiert durch unzulängliche Menschen, sich stets um Recht und Gerechtigkeit bemüht. Für den Bürger ist es wichtig, dass Recht geschieht. Ebenso aber will er in dem Bewusstsein leben, gerecht behandelt zu werden. Deswegen stelle ich an den Schluss meiner Überlegungen ein Beispiel aus der Rechtstheorie, das nachdrücklich dieses subjektive Erleben des Gerechten fordert. Ein alter Beduine sah sein Ende kommen, versammelte deshalb seine drei Söhne um sich, um mit ihnen sein Testament zu besprechen. Er schlug den Söhnen vor, der älteste sollte die Hälfte seines Vermögens, der zweite ein Viertel, der dritte ein Sechstel erben. Die Söhne waren mit diesem Testament einverstanden, weil es den damaligen Gepflogenheiten und Erwartungen entsprach. Der Beduine verstarb in dem Bewusstsein, den Familienfrieden gesichert zu haben, und hinterließ elf Kamele. Darauf beanspruchte der Älteste sechs Kamele, angeblich die Hälfte des Erbes. Seine beiden Brüder wollten ihm nur fünf Kamele zugestehen; ein sechstes sei ersichtlich mehr als die Hälfte. So drohte ein Streit unter den Geschwistern, die sich aber bald bewusst machten, dass der Vater den Frieden wahren wollte. Deswegen beschlossen sie, ihr Problem einem Richter vorzutragen und dessen Urteil zu akzeptieren. Sie hatten Glück, sie gerieten an einen weisen Richter. Dieser schlug ihnen vor, die elf Kamele durch ein zwölftes aus dem Eigenbestand des Richters zu ergänzen. Dann rechne es sich leichter. Die Söhne waren mit diesem Vorschlag einverstanden. Der älteste bekam die Hälfte von zwölf Kamelen, also sechs; der zweite ein Viertel von Zwölf, also drei; der dritte ein Sechstel, also zwei. Alle drei Söhne waren zufrieden. Doch nach dieser Verteilung stand noch ein Kamel auf der Szene. Da sagte der Richter : Ihr seid nun zufrieden. Gebt mir jetzt mein Kamel zurück, dann bin ich es auch.

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Freiheit auch zum Tod? Zur Problematik der „Selbstbestimmung“ des Endes menschlichen Lebens

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gehört heutzutage zu den zentralen ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns: Keine Behandlungsmaßnahme darf bei einem Patienten ohne dessen ausdrückliche Einwilligung nach Aufklärung durchgeführt werden – von den bekannten Ausnahmen der Notfallbehandlung und der Zwangsbehandlung bei psychisch Kranken einmal abgesehen. Als Abwehrrecht gilt die Autonomie des Patienten als oberste Richtschnur ärztlichen Handelns. Diesem korrespondiert jedoch nicht ein gleichermaßen uneingeschränktes Anspruchsrecht auf alle medizinischen Maßnahmen, die der Patient beansprucht. Diese Asymmetrie gilt auch am Lebensende: Es ist gut etablierte und ethisch wie rechtlich legitime Praxis, dass Patienten lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen ablehnen können, auch wenn dies zu ihrem vorzeitigen Tode führt. Ob und ggf. welche Maßnahmen der Patient beanspruchen kann, um seinen Sterbeprozess zu beschleunigen, wird hingegen innerhalb der Ärzteschaft und in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Die Verabschiedung eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung am 06. 11. 2015 wird die Debatten um die angemessenen Formen der ärztlichen Hilfe in existenziellen gesundheitlichen Krisen nicht beenden. Insbesondere wird die Ärzteschaft zu erörtern haben, wie sie mit der aktuell uneinheitlichen berufsrechtlichen Regelung der ärztlichen Suizidassistenz weiter verfahren soll. Ausgehend von der Leitfrage „Freiheit auch zum Tod?“ möchte ich im vorliegenden Beitrag die Frage der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung aus ethischer Sicht analysieren und damit einen Beitrag zu der nach wie vor aktuellen gesellschaftlichen und innerärztlichen Debatte leisten. Zwei Beispiele aus der Praxis sollen zunächst in den Problembereich einführen. Ich werde dann argumentieren, dass man in der Diskussion vor allem das Wohlergehen der Betroffenen fokussieren sollte, die Hilfe in einer existentiellen Krise benötigen. Anschließend werde ich fragen, ob die ärztliche Suizidassistenz eine ethisch akzeptable Form der Hilfe in diesen existentiellen Krisen ist. Dabei werde ich intrinsische und extrinsische Argumente differenzieren und über internationalen Erfahrungen aus denjenigen Ländern berichten, die die Beihilfe zur Selbsttötung legalisiert haben. Schließen werde ich dann mit einigen Schlussfolgerungen zur ethischen Vertretbarkeit des ärztlich assistierten Suizids.

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1. Ausgangspunkt: Zwei Patientengeschichten aus der Praxis Mit zwei Patientengeschichten möchte ich an die Fragestellung des vorliegenden Beitrags heranführen. Im ersten Fall handelt es sich um einen 25-jährigen, verheirateten Patienten mit zwei Kindern im Alter von 3 und 5 Jahren. Dieser Patient war an einer chronisch myeloischen Leukämie erkrankt, einer bösartigen Erkrankung des Blutsystems, und mit einer Stammzelltransplantation erfolgreich behandelt worden. Im weiteren Verlauf der Erkrankung hat der Patient dann aber einen irreversiblen Lungenschaden erlitten. Die Funktion der Lunge verschlechtert sich nun weiter, sodass der Patient mit zunehmender Atemnot in die Klinik eingeliefert wird und beatmet werden muss. Nachdem klar ist, dass eine Lungentransplantation nicht in Frage kommt und mit einer dauerhaften Beatmungspflichtigkeit zu rechnen ist, verweigert der Patient die Beatmung: Er wolle in der vorliegenden Situation lieber sterben. Die Ärzte entsprechen dem Wunsch des aufgeklärten, einwilligungsfähigen Patienten, beenden die Beatmung. Der Patient hat nach einer Stunde das Bewusstsein verloren und ist nach zwei Stunden friedlich im Beisein der Ehefrau verstorben. Dieses Vorgehen ist nicht nur rechtlich zulässig, sondern zudem auch ethisch durch den Respekt vor der Patientenautonomie geboten. Der Patient durfte sein Leben, das für ihn persönlich nicht mehr ausreichend lebenswert war, mit ärztlicher Hilfe – Abschalten des Beatmungsgeräts – beenden. Im zweiten Fall handelt sich um eine alleinstehende 84-jährige Patientin mit einem Oropharynxkarzinom, einem bösartigen Tumor des MundRachen-Raumes. Der Tumor ist bereits in die Schädelbasis eingedrungen und kann nicht mehr operativ entfernt werden. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt mit Bestrahlung und Chemotherapie bei etwa 30 Prozent. In den Gesprächen mit dem Arzt bedauert die Patientin, dass einem in Deutschland niemand ein Mittel zum Sterben gibt. Sie habe ihr Leben gelebt, sodass es angesichts der weiter fortgeschrittenen Erkrankung eigentlich schön wäre, einfach so einschlafen zu können. Den berufsrechtlichen Vorgaben folgend, bieten die Ärzte der Patientin keine Suizidassistenz an, sondern überzeugen sie davon, einer Bestrahlung zuzustimmen, die das lokale Tumorwachstum begrenzen soll. Kurz nach der Aufnahme ins Krankenhaus stürzt sich die Patientin vom Balkon im dritten Stock und verstirbt kurze Zeit später in der Notaufnahme. Vergleichen wir beide Fälle: Die 84-jährige Patientin mit dem Oropharynxkarzinom durfte ihr Leben, das für sie nicht mehr ausreichend lebenswert war, nicht mit ärztlicher Hilfe beenden. Der 25-jährige Patient hingegen, für den das Leben mit einer dauerhaften Heimbeatmung ebenfalls nicht mehr hinreichend lebenswert war, durfte sein Leben durch das Abstellen das Beatmungsgerätes beenden (lassen). Ohne Zweifel sind beide Fälle deskriptiv sehr wohl zu unterscheiden: Die 84-jährige Patientin würde

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nicht durch die Erkrankung selbst versterben, sondern durch das von ärztlicher Seite zur Verfügung gestellte Medikament, während der 25-jährige Patient durch den Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen und damit letztlich durch die (dann nicht mehr behandelte) Erkrankung verstirbt. Rechtfertigt dieser deskriptive Unterschied zwischen ärztlicher Suizidassistenz und der sog. passiven Sterbehilfe (Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen) auch eine unterschiedliche ethische Bewertung? Ist es richtig, wenn wir diese beiden Fälle, in denen Patienten für sich gleichermaßen entscheiden, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht weiterleben möchten, so unterschiedlich bewerten? Im einen Fall darf der Arzt dem Wunsch des Patienten folgen, der nicht mehr leben möchte, und das Beatmungsgerät abstellen. Im anderen Fall darf der Arzt dem Wunsch des Patienten nicht folgen, wenn dieser nicht mehr leben möchte und zum Sterben vom Arzt ein Medikament benötigt.

2. Autonomie vs. Fürsorge: Ein Plädoyer für eine Akzentverschiebung in der ethischen Debatte Wenn ein Mensch den Wunsch zur Selbsttötung äußert, ist dies immer ein Zeichen für eine existentielle Krise: Die Menschen sind sprichwörtlich zum Tode verzweifelt. Der Suizid stellt dabei die Ultima Ratio dar, also der letzte Ausweg, den ein Mensch hat, wenn gar nichts anderes mehr helfen kann. In der aktuellen Diskussion über die Frage, ob die Beihilfe zur Selbsttötung zulässig ist, steht meistens die Frage der Selbstbestimmung im Vordergrund: Handelt es sich um eine frei verantwortete, wirklich selbstbestimmte Entscheidung? Dabei werden jedoch oft die Wohltunsverpflichtungen vernachlässigt, d. h. die Fürsorgeverpflichtungen, die man als Ärztin oder Arzt für einen Menschen hat, der zum Tode verzweifelt ist. Die Leitfrage lautet dann nicht „Ist die Entscheidung wirklich selbstbestimmt?“, sondern: „Wie können wir dem Betroffenen in seiner existentiellen Lebenskrise helfen?“ Verlagert man den Schwerpunkt der Diskussion in dieser Weise auf die Fürsorgeverpflichtungen, so ergeben sich einige Implikationen. Die notorisch umstrittene und häufig dominierende Frage, ob es einen frei verantworteten, selbstbestimmten Suizid überhaupt geben kann, verliert an Bedeutung und gibt damit den Blick auf die Frage frei, wie dem Betroffenen in seiner existentiellen Krise am besten geholfen werden kann. (Wohlgemerkt lautet die Frage nicht, wie wir den möglichen Suizid verhindern können.) Die Grenzziehung zwischen einer psychischen Erkrankung und einer normalen depressiven Verstimmtheit ist dann weniger wichtig. Vielmehr nimmt man die Nöte und Sorgen der Betroffenen in den Blick. Allerdings bleibt dann noch die Frage offen, ob ein Arzt eine gewünschte Suizidassistenz leisten darf, wenn dieser zu dem Schluss gekommen ist, dass die gewünschte Selbsttötung eine

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„angemessene“ Lösung für den Patienten darstellt. Dieser Fragestellung widmet sich der kommende Abschnitt.

3. Dürfen Ärzte Suizidbeihilfe leisten? Hinsichtlich der Frage, ob Ärzte Beihilfe zur Selbsttötung leisten dürfen, unterscheide ich zwischen intrinsischen und extrinsischen Argumenten. Die intrinsischen Argumente beziehen sich auf die Handlung der Suizidbeihilfe selbst, also auf das Zur-Verfügung-Stellen eines todbringenden Medikaments. Letztlich geht es dabei um die Frage, ob die Suizidassistenz mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist. Dabei handelt es sich um deontologische, pflichtenorientierte Argumente. Davon zu unterscheiden sind extrinsische Argumente, die sich auf mögliche unerwünschte Folgen der ärztlichen Suizidassistenz beziehen, wie Ausweitungen (Dammbruch) oder missbräuchliche Anwendungen der Suizidhilfe. In diesem Fall handelt es sich um konsequentialistische, folgenorientierte Argumente. Beide Argumentationslinien möchte ich im Folgenden auf ihre ethische Relevanz hin prüfen.

4. Intrinsische Argumente zur ärztlichen Suizidassistenz Um beurteilen zu können, ob die Suizidassistenz mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist oder nicht, müssen zwei Fragen beantwortet werden. (1) Gibt es ein einheitliches ärztliches Ethos, von dem man die ethische Vertretbarkeit der ärztlichen Suizidassistenz ableiten kann? (2) Wie wäre ein dieses ärztliche Ethos zu begründen? 4.1 Gibt es ein einheitliches ärztliches Ethos? Zunächst zur ersten Frage. Ob es ein einheitliches ärztliches Ethos gibt, lässt sich letztlich nur empirisch bestimmen, d. h. mit einem Blick auf die tatsächliche ethische Orientierung von Ärzten. Dabei wird deutlich, dass die ethische Grundhaltung von Ärzten in Abhängigkeit vom zeitgeschichtlichen Kontext erheblich variiert. Der Respekt der Patientenautonomie spielt beispielsweise erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wirklich eine Rolle, der hippokratische Eid schweigt über die Selbstbestimmung der Patienten. Zudem ist die ethische Grundorientierung abhängig von dem kulturellen und geographischen Kontext. Die Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat z. B. eine andere Haltung zur ärztlichen Suizidbeihilfe als die deutsche Bundesärztekammer. Auch auf der Ebene der Landesärzte-

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kammern, also innerhalb von Deutschland, finden wir unterschiedliche Auffassungen zur Suizidbeihilfe und einzelne Ärzte in einer Region Deutschlands haben unterschiedliche Einstellungen zu dieser Frage. Schon nach diesem ersten, kursorischen Blick auf das ärztliche Ethos muss man konstatieren, dass es das eine ärztliche Ethos nicht zu geben scheint. Es wandelt sich im Verlauf der Zeit, variiert in Abhängigkeit von der geographischen Lokalisation und unterscheidet sich von Arzt zu Arzt innerhalb einer Region. In einer Umfrage im Auftrag der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2009 wurden Ärztinnen und Ärzte befragt, ob für sie eine Unterstützung von Patienten beim Suizid in Frage käme.1 61 % der Befragten gaben an, dass für sie eine Suizidassistenz nicht in Frage käme, 37 % waren „unter bestimmten Bedingungen“ dazu bereit. Wobei die Zustimmung zur Suizidbeihilfe mit zunehmendem Alter der befragten Ärzte etwas ansteigt. Ebenfalls höher ist die Zustimmung bei denjenigen Ärzten, die schon einmal um eine Suizidbeihilfe gebeten wurden. In einer aktuelleren Studie wurden 734 Ärzte aus fünf Landesärztekammern zur ärztlichen Handlungspraxis am Lebensende befragt.2 Der Anteil der Ärzte, die bereits einmal nach einer Suizidbeihilfe gefragt wurden, lag in dieser Studie bei 20 %. Deutlich weniger als die Hälfte (41,7 %) der antwortenden Ärzte gaben an, dass sie keine Suizidassistenz leisten würden. Nur ein Viertel der Antwortenden sprach sich dafür aus, die Suizidassistenz berufsrechtlich zu verbieten, 41 Prozent waren unentschieden und 33 % lehnten das ab. Diese Studie liefert ebenfalls einen klaren Beleg, dass es offenbar unterschiedliche ethische Einstellungen bei Ärztinnen und Ärzten in Deutschland gibt, obgleich die Bundesärztekammer in ihrer Musterberufsordnung betont, dass Ärzte keine Beihilfe zur Selbsttötung leisten dürfen.

4.2 Ethische Bewertung der ärztlichen Suizidassistenz auf Grundlage der vier klassischen medizinethischen Prinzipien So interessant diese Umfrageergebnisse auch sein mögen, aus ethischer Sicht genügen sie aber nicht, um die Frage nach der Vereinbarkeit der Suizidassistenz mit dem ärztlichen Ethos befriedigend zu beantworten. Zu prüfen ist vielmehr, welche ethischen Gründe für bzw. gegen eine ärztliche Suizidassistenz sprechen. Dabei muss man berücksichtigen, dass die moderne Medizinethik sich von einem ärztlichen Ethos hin zu einer ärztlichen bzw. medizinischen Ethik entwickelt hat. Es geht nicht mehr darum, eine ärztlichethische Grundhaltung zu definieren, sondern um die Förderung ethischer Reflexionskompetenz, nicht nur bei Ärztinnen und Ärzten, sondern beim 1 Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 5265, August 2009. 2 Schildmann, Jan/Dahmen, Birte/Vollmann, Jochen, Ärztliche Handlungspraxis am Lebensende. Ergebnisse einer Querschnittsumfrage unter Ärzten in Deutschland, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 2015, 140 (1), e1–6.

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gesamten Gesundheitspersonal. Diese moderne biomedizinische Ethik orientiert sich an vier weitgehend konsensfähigen, kohärentistisch begründeten ethischen Prinzipien einer mittleren Reichweite.3 Das erste Prinzip ist das Prinzip des Wohltuns (englisch: beneficence), das den Arzt dazu verpflichtet, das Wohlergehen des Patienten bestmöglich zu fördern. Dem zweiten Prinzip des Nichtschadens (englisch: nonmaleficence) zufolge soll der Arzt dem Patienten nach Möglichkeit keinen Schaden zufügen. Interessant ist, dass diese beiden ethischen Grundsätze bereits in der antiken Medizin im hippokratischen Eid enthalten waren. Das dritte, geschichtlich deutlich jüngere Prinzip fordert es, die Autonomie des Patienten zu respektieren. Das vierte Prinzip der Gerechtigkeit schließlich verpflichtet Ärzte dazu, Patienten in vergleichbaren Situationen gleich zu behandeln und begrenzte Ressourcen gerecht zuzuteilen. Erstaunlicherweise gibt es kein eigenständiges Gebot, menschliches Leben zu erhalten. Diese Verpflichtung ist im Prinzip des Wohltuns enthalten, aber eben nur so lange, wie die Lebenserhaltung noch dem Wohlergehen des Betroffenen dient. Sie entfällt beispielsweise dann, wenn die Lebensverlängerung nur noch eine Leidenslinderung für den Patienten bedeutet. Es geht also nicht um eine Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern darum, das Wohlergehen des Patienten bestmöglich zu fördern. Bemerkenswerterweise gibt es auch kein Fremdtötungsverbot. Dieses ist im Prinzip des Nichtschadens enthalten – allerdings nur dann, wenn man dem Patienten mit der Tötung einen Schaden zufügt. Wenn es aber für den Patienten aus seiner subjektiven Perspektive besser wäre zu sterben, lässt sich mit Bezug auf das Prinzip des Nichtschadens kein Argument gegen die (gewünschte) Tötung begründen. Diese vier Prinzipien definieren die moralischen Verpflichtungen des Arztes und liefern die ethischen Gründe, anhand derer die moralische Zulässigkeit der ärztlichen Suizid-Assistenz zu beurteilen ist. Das Prinzip „Respekt der Autonomie“ liefert das stärkste ethische Argument für die ärztliche Suizidbeihilfe. Allerdings ist zu fordern, dass es sich einen freiverantwortlichen, gut informierten und wohlüberlegten Wunsch des Patienten handelt, also um eine wirklich selbstbestimmte Entscheidung. Gemäß dem Prinzip des Wohltuns müsste man prüfen, ob es keine bessere Hilfe für den Betroffenen in seiner existenziellen Notlage gibt als die Suizidbeihilfe, z. B. eine bessere palliativmedizinische Versorgung, eine bessere Schmerztherapie oder eine bessere soziale Betreuung. Aus diesem Prinzip kann man ableiten, dass es bestimmte Situationen gibt, in denen die Selbsttötung nicht der richtige Weg für den Patienten ist, da alternative Wege der Leidenslinderung noch nicht ausreichend ausgeschöpft wurden. Optimale Palliativmedizin, Begleitung und soziale Unterstützung sollten dem Patienten angeboten, aber natürlich nicht aufgenötigt werden. Besonders interessant ist die Anwendung des Prinzips des 3 Marckmann, Georg, Grundlagen ethischer Entscheidungsfindung in der Medizin, in: G. Marckmann (Hg.), Praxisbuch Ethik in der Medizin, Berlin 2015, 3–14.

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Nichtschadens: Fügt der Arzt dem Patienten einen Schaden zu, wenn er ihm das Medikament besorgt mit der Folge, dass der Patient sich dann umbringt? Wie oben bereits angedeutet hängt die Antwort auf diese Frage wesentlich davon ab, ob der Patient selbst – nach einfühlsamer Aufklärung über alle verfügbaren Wege – noch weiterleben möchte oder nicht. Will der Patient nicht mehr weiterleben, so müsste man zumindest in Frage stellen, ob die ärztlich assistierte Selbsttötung dann einen Schaden für den Patienten bedeutet. Vielleicht würde der Patient vielmehr den Nutzen der Suizidassistenz hervorheben, da er damit seinen Wunsch umsetzen kann, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Im Ergebnis bedeutet dies: Aus den vier klassischen medizinethischen Prinzipien lässt sich kein kategorisches, intrinsisches Argument gegen die ärztliche Suizidassistenz ableiten. Vielmehr hängt die ethische Bewertung von der Umsetzung ab, d. h. sie ist unter bestimmten Voraussetzungen ethisch vertretbar : Handelt es sich wirklich um einen wohl erwogenen Entschluss des Patienten selbst? Gab es tatsächlich keine bessere Hilfe für den Patienten? Ist hinreichend sicher, dass der Tod für den Patienten selbst in dieser Situation keinen Schaden darstellt? Interessanterweise ist die Sicherung dieser Voraussetzungen einer ethisch vertretbaren Suizidassistenz eigentlich nur über den Arzt möglich: Nur ein Arzt kann beurteilen, ob der Patient vollumfänglich einwilligungsfähig ist, ob es sich um einen wohl erwogenen Wunsch des Patienten handelt und ob palliativmedizinisch und psychosozial eine optimale Versorgung angeboten wurde. Auf diesen wichtigen Punkt werde ich später noch einmal zurückkommen.

5. Extrinsische Argumente zur ärztlichen Suizidassistenz Auch wenn es keine generellen intrinsischen Argumente gegen die ärztliche Suizidassistenz gibt, könnten extrinsische, folgenorientierte Argumente gegen eine verbreitetet Praxis der Suizidbeihilfe sprechen. Welche extrinsischen Argumente werden angeführt? Zunächst könnte es zu Missbrauch und unangemessener Anwendung der Suizidassistenz kommen, z. B. bei nicht Einwilligungsfähigen oder psychisch Kranken. Zudem könnte man befürchten, dass es zu einer erheblichen Ausweitung der Suizidassistenz kommen könnte, sodass die Hemmschwelle zum assistierten Suizid immer weiter sinkt, mit der Folge, dass Alternativen nicht mehr konsequent angeboten und genutzt werden. Auch negative Auswirkungen auf Dritte werden befürchtet: Was bedeutet es für die Angehörigen, wenn sich jemand das Leben mit Hilfe eines Arztes nimmt? Nicht zuletzt wird immer wieder angeführt, die verbreitete Suizidassistenz könnte zu einem Vertrauensverlust in die Ärzteschaft führen. Alle diese Argumente sind mit dem gleichen Problem behaftet: Man befürchtet bestimmte gesellschaftliche Folgen, aber man weiß gar nicht genau –

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und kann sich deshalb auch trefflich darüber streiten –, ob diese Folgen tatsächlich eintreten werden. Wir wissen vorab nicht, ob und ggf. in welchem Ausmaß es zu Missbrauch kommt. Wir wissen auch nicht, ob es zu einer Ausweitung der assistierten Suizide mit einer niedrigeren Hemmschwelle kommen wird. Es ist auch nicht klar, im Vorhinein, ob und ggf. in welcher Richtung das Vertrauen in die Ärzteschaft durch die Praxis der Suizidassistenz verändert wird. Denkbar ist auch eine Stärkung des Vertrauens, wenn die Patienten darauf „vertrauen“ können, dass sie von ihrem Arzt im Notfall ein Medikament erhalten, das sie von ihrem unerträglichen Leid erlöst.

5.1 Internationale Erfahrungen mit der ärztlichen Suizidassistenz Welche Folgen die praktizierte ärztliche Suizidassistenz tatsächlich hat, kann man eigentlich nur wissen, wenn man es ausprobiert, d. h. wenn man Ärzten die Beihilfe zur Selbsttötung gestattet. Dabei erscheint es sinnvoll, sich zunächst anzusehen, welche Erfahrungen andere Länder mit der Suizidbeihilfe gemacht haben. In den Benelux-Staaten ist nicht nur die Suizidbeihilfe, sondern auch die Tötung auf Verlangen gesetzlich erlaubt. Der US-Staat Oregon gestattet dem gegenüber „nur“ die Beihilfe zur Selbsttötung. Besonders gut untersucht sind die Erfahrungen der Niederlande. Die letzte Erhebung umfasst die Jahre 1990 bis 2010.4 Die Fälle der Suizidassistenz sind in den 20 Jahren nicht systematisch gestiegen, einen Hinweis für einen Dammbruch kann man den Daten sicher nicht entnehmen. Und: Insgesamt handelt es sich nur um wenige Fälle, insgesamt zwischen 18 und 25 pro Jahr in den Niederlanden. Interessanterweise hat im gleichen Zeitraum die intensive Linderung der Beschwerden der Patienten erheblich zugenommen, von 18,8 % im Jahr 1990 auf 36 % im Jahr 2010, in absoluten Zahlen von 1.100 auf 2.200. Dies spricht dafür, dass die Legalisierung von Suizidassistenz und Tötung auf Verlangen nicht zu einer Schwächung der Palliativmedizin geführt hat, im Gegenteil. Ebenfalls zugenommen hat in den letzten 5 Jahren die palliative Sedierung („continuous deep sedation“), die bei Patienten in der allerletzten Lebensphase angewendet wird, wenn sich die belastenden Symptome nicht anders lindern lassen. Nach einem Volksentscheid hat der US-Bundestaat Oregon 1997 mit dem Oregon Death with Dignity Act5 die Suizidbeihilfe legalisiert. Folgende Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Patient ein Rezept über eine tödliche Barbiturat-Dosis erhalten kann: (1) Der Patient muss volljährig und ent4 Onwuteaka-Philipsen, Bregje D./Brinkman-Stoppelenburg, Arianne/Penning, Corine/de Jong-Krul Gwen J.F./van Delden, Johannes J.M./van der Heide, Agnes, Trends in end-of-life practices before and after the enactment of the euthanasia law in the Netherlands from 1990 to 2010: a repeated cross-sectional survey, in: The Lancet, 2012, vol. 380, nr. 9845, 908–915. 5 https://public.health.oregon.gov.

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scheidungsfähig sein und seinen Wohnsitz in Oregon haben – eine klare Absage an einen „Sterbehilfe-Tourismus“, wie er aktuell aus Deutschland in die Schweiz stattfindet. Allerdings gibt es Menschen, die extra zum Sterben nach Oregon ziehen. (2) Der behandelnde und ein weiterer Arzt müssen unabhängig voneinander bestätigen, dass der Betroffene an einer tödlichen Erkrankung leidet mit einer verbleibenden Lebenserwartung von weniger als 6 Monaten. Es muss sich um eine freiwillige Bitte handeln, psychische Erkrankungen sind auszuschließen. Der Betroffene muss über Alternativen aufgeklärt worden sein, insbesondere über die Möglichkeiten einer palliativmedizinischen Versorgung und Begleitung. (3) Die mündliche Bitte muss nach einer Bedenkzeit von 15 Tagen wiederholt werden. (4) Zudem muss ein schriftlicher, zweifach bezeugter Antrag vorliegen. Diese Sicherungen sollen verhindern, dass es zu einer unkontrollierten Ausweitung der Suizidassistenz kommt – allerdings um den Preis, dass bestimmte Patientengruppen, die sich nicht in der letzten Lebensphase befinden, von der Suizidbeihilfe ausgeschlossen werden. Ein Patient mit einer weit fortgeschrittenen multiplen Sklerose, der sehr stark eingeschränkt und hilfsbedürftig ist, kann z. B. in Oregon keine Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch nehmen. Die Anzahl der Patienten, die ein tödliches Medikament verschrieben bekommen, ist in Oregon von 1998 bis 2010 angestiegen, wie auch die Anzahl der tatsächlichen Todesfälle.6 Allerdings löst gut ein Drittel der Betroffenen das Rezept gar nicht ein. Für sie reicht es offenbar aus, die Möglichkeit zur Selbsttötung zu haben, von der sie dann aber tatsächlich nie Gebrauch machen (müssen). Interessant ist auch die Frage, wer in Oregon nach so einem Rezept für den Suizid fragt. Dies sind vor allem Menschen, die die Todesumstände kontrollieren und gerne zu Hause sterben möchten. Die Patienten beklagen einen Verlust von Selbständigkeit und Würde, andere haben Angst vor künftigen Schmerzen und einer zukünftig stark eingeschränkten Lebensqualität.7 Die eingangs erwähnte 84-jährige Patientin mit dem bösartigen Tumor im Nasen-Rachen-Raum hatte akut auch nicht an schweren Schmerzen gelitten, sondern fand ihr zukünftiges Schicksal unerträglich, das ihr unweigerlich bevorstand. Dies entspricht den Erfahrungen in Oregon, wo die Patienten, die sich ein Suizid-Rezept ausstellen lassen, in der Regel nicht aktuell an unerträglichen Schmerzen leiden. Auch soziale Vereinsamung, finanzielle Sorgen oder eine depressive Verstimmung sind meist keine Motive. Bislang gibt es keinen Hinweis auf eine Ausweitung der Suizidpraxis auf vulnerable 6 http://egov.oregon.gov/DHS/ph/pas/docs/year13.pdf. 7 Ganzini, Linda/Harvath, Theresa A./Jackson, Ann/Goy, Elisabeth R./Miller, Lois L./ Delorit, Molly A., Experiences of Oregon nurses and social workers with hospice patients who requested assistance with suicide, in: New England Journal of Medicine, 2002, 347 (8), 582–5888; Ganzini, Linda/Goy, Elisabeth R./Dobscha, Steven K., Why Oregon patients request assisted death: family members’ views, in: Journal of General Internal Medicine, 2008, 23 (2), 154–157; Ganzini Linda/ Goy Elisabeth R./Dobscha, Steven K., Oregonians’ reasons for requesting physician aid in dying, in: Archive of Internal Medicine, 2009,169 (5), 489–492.

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Patientengruppen.8 Depression oder komplizierte Trauer bei Hinterbliebenen tritt nicht häufiger auf als bei einem natürlichen Tod.9 Die Ärzte berichten keine Störung der Vertrauensbeziehung zu ihren Patienten, die palliativmedizinische Versorgung wurde im gleichen Zeitraum weiter verbessert.10 Offenbar scheint die Befürchtung, dass eine Legalisierung der Suizidbeihilfe mit einer Beeinträchtigung der Palliativmedizin einhergeht, nicht zuzutreffen. Insgesamt finden wir weder in den Niederlanden noch in Oregon einen klaren Beleg, dass die extrinsischen Argumente, d. h. Befürchtungen von unterwünschten Folgewirkungen der Suizidassistenz, zutreffen. Im Auge behalten muss man sicher die nach wie vor leicht ansteigenden Zahlen der Suizidbeihilfe in Oregon.

6. Aktuelle Situation in Deutschland Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hatte kurz nach seinem Amtsantritt Anfang 2014 das Thema der Suizidassistenz aufgegriffen. Bislang war die Beihilfe zur Selbsttötung nicht strafbar, allerdings enthält die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer einen Passus, demzufolge Ärztinnen und Ärzte in Deutschland keine Beihilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Diese Formulierung wurde aber nur in 10 von 17 Berufsordnungen der Landesärztekammern umgesetzt, sodass es keine einheitliche berufsrechtliche Regelung in Deutschland gibt. Es folgte eine fast zweijährige gesellschaftspolitische Debatte über die Zulässigkeit der Suizidassistenz, unterschiedliche Gesetzentwürfe wurden diskutiert. Im November 2015 wurde dann der Gesetzentwurf der Abgeordneten Brand und Griese verabschiedet, nach dem die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung verboten ist (§ 217 StGB „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“): (1) Wer in Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht. 8 Battin, Margaret P./van der Heide, Agnes/Ganzini, Linda/van der Wal, Gerrit/ Onwuteaka-Philipsen, Bregje D., Legal physician-assisted dying in Oregon and the Netherlands: evidence concerning the impact on patients in „vulnerable“ groups, in: Journal of Medical Ethics, 2007, 33 (10), 591–597. 9 Ganzini, Linda/ Goy, Elisabeth R./Dobscha, Steven K./Prigerson, Holly, Mental health outcomes of family members of Oregonians who request physician aid in dying, in: Journal of Pain and Symptom Manage, 2009, 38 (6), 807–815. 10 Dobscha, Steven K./Heintz, Ronald T./Press, Nancy/Ganzini, Linda, Oregon physicians’ responses to requests for assisted suicide: a qualitative study, in: Journal of Palliative Medicin, 2004, 7 (3), 451–461.

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Klar ist, dass Sterbehilfe-Organisationen wie Dignitas, Exit oder Sterbehilfe Deutschland keine „organisierte“ Suizidbeihilfe leisten dürfen. Unklar ist aber bislang, was der neue § 217 StGB für den einzelnen Arzt bedeutet, der innerhalb der individuellen Arzt-Patient-Beziehung eine Suizidbeihilfe leistet.11 Hier wird zur Klärung wohl eine höchstrichterliche Rechtsprechung erforderlich sein.

7. Fazit Für die zukünftige Diskussion erscheint es wichtig, den Schwerpunkt der Überlegungen mehr auf die Wohltunsverpflichtungen zu richten, also die Leitfrage in den Mittelpunkt zu stellen, wie man dem Betroffenen in seiner existenziellen Lebenskrise angemessen helfen kann. Im Anschluss stellt sich dann die Frage, ob die ärztliche Suizidassistenz eine ethisch vertretbare Hilfe in bestimmten Ausnahmesituationen ist. Ich hatte versucht zu zeigen, dass es kein einheitliches gelebtes ärztliches Ethos gibt, aber eine weithin anerkannte ärztliche Ethik, die sich an den vier medizinethischen Prinzipien Wohltun, Nichtschaden, Autonomie respektieren und Gerechtigkeit orientiert. Gemäß dieser vier Prinzipien widerspricht die Suizidassistenz nicht intrinsisch der ärztlichen Ethik, sondern ist eine grundsätzlich ethisch vertretbare Form der ärztlichen Hilfe. Ich hatte dann einen Blick auf die extrinsischen Argumente geworfen, also die Frage, welche möglicherweise unterwünschten Folgen aus einer verbreiteten Praxis der Suizid-Assistenz resultieren können. Weder aus Oregon noch aus den Niederlanden, wo man auf eine jahrelange Praxis der Suizidbeihilfe zurückblicken kann, gibt es einen klaren Hinweis auf einen Dammbruch oder einen Missbrauch, wobei man die ansteigende Anzahl der Suizidfälle in Oregon im Blick behalten sollte. Insgesamt gibt es aber keine hinreichenden intrinsischen oder extrinsischen Argumente gegen die Suizidassistenz. Sofern man sich für eine Zulassung der Suizidassistenz unter bestimmten Bedingungen (wie z. B. Oregon) entscheidet, sollte diese in ärztlicher Hand bleiben, am besten in der Hand des vertrauten Bezugsarztes des Patienten (z. B. Hausarzt). Es bleibt zu hoffen, dass zeitnah klargestellt wird, welche Konsequenzen der neue § 217 StGB für Ärzte in Deutschland hat. Die neue gesetzliche Regelung stellt bislang nicht die Hilfe für die zu Tode verzweifelten Patienten in den Mittelpunkt, im Gegenteil: Sie verschließt die bislang noch verfügbaren Wege, von einem Arzt eine Suizidbeihilfe zu bekommen. Eine klare, transparente Regelung, die es Ärzten unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, eine Suizidassistenz zu leisten, hätte den großen Vorteil, dass sich ein zu Tode verzweifelter Patient mit seinen Ängsten, Sorgen und Nöten an den Arzt seines Vertrauens wenden könnte. 11 Rosenau H, §217 Strafgesetzbuch (StGB). Neue Strafnorm gegen ein selbstbestimmtes Sterben in Deutschland, in: Bayerisches Ärzteblatt 2016, 3, 100–102.

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Dies hätte zudem möglicherweise einen suizidpräventiven Effekt: Mit einem Arzt offen über die Suizidbeihilfe zu sprechen, kann Wege zu professionellem Beistand und damit auch zum Weiterleben eröffnen.

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Was Freiheit für Juden bedeutet

1. Freiheit zum Widerspruch Rabbiner Samuel Wolk hat einmal gesagt: Geschichte, wenn von Hegelschen Launen befreit, ist Geschichte der Freiheit – dieser Ausspruch findet konkrete Bestätigung in der Geschichte des Juden und seiner Religion. Denn das Judentum ist so umfassend tolerant, dass es in sich ein enormes Meinungsspektrum zugelassen hat.1

Damit meint er, dass wirkliche Freiheit die sei, die auch Widerspruch zulässt. Wolk erklärte auch, warum das so ist: Er fand den Grund dafür in den grundsätzlich demokratischen Fundamenten und Strukturen jüdischen Lebens. Und er fährt fort, dass eine der charakteristischen Eigenschaften der jüdischen Denkweise in allen Jahrhunderten, die Aufgeschlossenheit neuen Ideen gegenüber war. Jüdische Freiheit ist also, das eine denken zu können und gleichzeitig das Gegenteil, ohne gleich in Ablehnung und Gegnerschaft zu verfallen. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass es im Judentum seit dem 4. Jahrhundert keine zentrale Autorität gibt, die verbindliche Entscheidungen treffen könnte. 358 n.d.Z. traf das Sanhedrin, ein Rat mit 71 Repräsentanten, die letzte solcher Festlegungen: zum Jüdischen Kalender. Unter dem Druck der römischen Verfolgung bricht diese Institution zusammen. Seitdem gibt es keinen Mechanismus innerhalb des Judentums mehr, zwischen unterschiedlichen Positionen zu entscheiden. Seitdem müssen wir Juden unsere Meinungsunterschiede argumentativ austragen, müssen Allianzen bilden für unsere Sicht der Wahrheit oder einen Dissens auch einmal stehenlassen, ohne dass die eine Position gegenüber der anderen für verbindlich erklärt werden könnte. Das zeigt die folgende Geschichte: 1 Vgl. Wolk, Samuel J.B., Individualism, in: The Universal Jewish Encyclopedia, Vol. 5, New York 1941, 559: „The dictum that history is the history of liberty, when shorn of its Hegelian vagaries, finds a concrete verification in the story of the Jew and his religion. For Judaism is so broadly tolerant that it has permitted the widest divergences of opinion within its fold; to understand this remarkable latitudinarianism, it is necessary to search deeply not only into the essential purposes and motifs of Jewish culture but also into the historical sources of its being.“

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R. Abba sagte im Namen Sˇemu8ls: Drei Jahre stritten die Schule Sˇammajs und die Schule Hillels: eine sagte, die Halakha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Hallstimme und sprach: [Die Worte] der einen und der anderen sind Worte des lebendigen Gottes; jedoch ist die Halakha nach der Schule Hillels zu entscheiden. – Wenn aber [die Worte] der einen und der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halakha nach ihr entschieden wurde? @ Weil sie verträglich und bescheiden war, und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die der Schule Sˇammajs studierte; noch mehr sie setzte sogar die Worte der Schule Sˇammajs vor ihre eigenen.2

Den anderen mitbedenken in seiner eigenen Ansicht, und die eigene Meinung nicht absolut setzen: das sind die Schlüssel zur Freiheit.

2. Freiheit zur Vielfalt Diese Offenheit des Judentums zu einem dialektischen Herantasten an die Wahrheit, wie ich sie vertreten kann, Sie sie vertreten können, führt uns zu einer anderen Freiheit: der Freiheit zur Vielfalt. Schon zu Jesu Zeiten kannte das Judentum mit den Pharisäern, Sadduzäern, der Qumrangruppe u. a. eine Vielzahl divergierender Glaubensauffassungen. Wir haben diese Erfahrung der Vielfalt dem babylonischen Exil zu verdanken. Damals entstand die erste Diasporagemeinde, die mit einer jüdischen Existenz außerhalb der eigenen Mehrheitsgesellschaft fertig werden musste. Diese Erfahrung sollte sich als wichtig erweisen. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n.d.Z. wurde das Judentum zu einer in Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten ansässigen Religionsgemeinschaft. Die räumliche Entfernung zwischen den Juden in der Diaspora bedingte die Ausbildung unterschiedlicher religiöser Kulturkreise, deren bedeutendsten bis heute als Sepharad und als Aschkenas bezeichnet werden. Die Bezeichnung Sepharad bzw. Aschkenas nimmt dabei Bezug auf die geographischen Verbreitungsgebiete dieser Gruppen im Mittelalter : Das hebräische sefarad bezeichnet die iberische Halbinsel, während Aschkenas der damals unter Juden übliche Name für Deutschland und Frankreich war. Unterschiede zwischen sephardischem und aschkenasischem Judentum bildeten sich auf dem Gebiet der Gesetzesauslegung, des Gottesdienstes und der Bräuche aus. Auch entwickelten beide Großgruppen jeweils eine eigene Umgangssprache, die auf der Landessprache basieren. Das Ladino oder Judenspanisch der Sephardim baut auf dem Altspanischen auf und das Jiddisch der Aschkenasim basiert auf mittelhochdeutschen Dialekten und slawischen Elementen. Das sephardische Judentum nahm im Mittelalter aufgrund der Leistungen seiner Vertreter wie 2 bT, Eruwin 13b.

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etwa Maimonides eine herausragende Stellung in der jüdischen Philosophie ein und hat mit der Kabbala auch die jüdische Mystik hervorgebracht. Ab der Frühen Neuzeit wurde das aschkenasische Judentum durch seine Entwicklung in Osteuropa zur bedeutendsten und demographisch größten Gruppe innerhalb des Judentums. Im 18. und 19. Jh. entstanden innerhalb dieses Kulturkreises mit dem Chassidismus, dem Reform-, konservativen und neo-orthodoxem Judentum die religiösen Richtungen, die gegenwärtig von Bedeutung sind.

3. Freiheit zur Teilhabe Wenn eine solche Vielgestaltigkeit das Judentum allgemein kennzeichnete, auch als es noch unter drückenden äußeren Bedingungen leben musste, überrascht es nicht, dass mit der Emanzipation der Juden in Europa (1780–1871) eine völlig neue Situation entstand. Jahrhundertelang war der jüdische Geist hier recht wenig vom Zeitgeschehen berührt worden. Durch die Öffnung des Judentums auf seine Umwelt hin hatte das »jüdische Mittelalter« seinen Abschluss gefunden. Es waren nicht länger die Mauern der Ghettos, die den Juden zum Juden machten. Viele suchten nun eine vernunftbestimmte, den Ansprüchen der Gegenwart angemessene Annäherung an die Werte des Judentums, sein kulturelles und religiöses Erbe und seine Geschichte. Politisch gesehen hatte die Emanzipation der Juden in Deutschland die Abschaffung der rechtlichen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit jüdischer Gemeinden zur Folge, aber auch das Ende ihrer Stellung als persönliche Schutzbefohlene des Landesherrn. Mit der Gründung eines modernen deutschen Staatswesens wurden Juden in das Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystem einer christlichen Gesellschaft integriert. In jedem Fall ist die Aufklärung der Geburtsmoment des neuzeitlichen Judentums, wie wir es heutzutage kennen: des progressiven Judentums als eines Versuches, vor dem Hintergrund der Tradition in die Moderne einzutreten und der (Neo-)Orthodoxie als einer Bewegung der rational unterfütterten Gegenreform. Allen Strömungen war eines gemeinsam: eine Weise des jüdischen Daseins zu finden, die es Juden als Juden ermöglichen würde, innerhalb einer christlichen Mehrheitsgesellschaft Anerkennung und Gleichberechtigung zu gewinnen. So wird aus der Freiheit zur Vielfalt die Freiheit zur Teilhabe am Gemeinwesen der Allgemeinheit. Diese aktive Teilhabe an der Gestaltung unserer Gesellschaft ist für Juden ein mühsam erkämpftes Recht und gleichzeitig eine zentrale Forderung, die das Judentum an uns Menschen richtet. Ein programmatischer Denker des Judentums, Rabbiner Leo Baeck (1873–1956) hat für mich sehr gut formuliert, was das Ziel unseres Lebens vor Gott sein sollte: Gerechtigkeit. Diese wird durch Werke und Leistungen, durch Pflichterfüllung und das Ringen um das Gebot erlangt. Denn Religion soll

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nicht ein gutes Gewissen schenken, sondern das Gewissen in einen ständigen Zustand der Unruhe und Herausforderung versetzen. Nur dann ist sie wahrhaft Religion. Sie muss fähig sein und entschlossen, jeder geschöpflichen Macht Widerstand anzusagen und zu leisten, wenn es gilt, das Ewige zu verteidigen. Damit ist ein Menschenbild verbunden, dass den freien Willen zum Grundprinzip erhebt, und damit die Freiheit des Menschen postuliert, Verantwortung wahrnehmen zu können.

4. Freiheit zur Verantwortung: der freie Wille Was aber ist mit der moralischen Zweideutigkeit des menschlichen Wesens, dem Ringen zwischen Gut und Böse? Wollen wir mit unserem freien Willen immer das wählen, was gut ist? Darüber wenigstens war das Judentum durch alle Jahrhunderte hindurch klar und konsistent: das Gute in uns ist die Folge davon, dass wir im Bilde Gottes geschaffen wurden. Gott, so sagt das erste Kapitel der Genesis, habe Adam geschaffen, im Bilde Gottes (1,27, vgl. 5,1). Und einer der größten Rabbinen, Rabbi Akiwa, merkt an: „Geliebt ist der Mensch, denn er wurde nach Gottes Bild erschaffen. Größere Liebe war es, dass ihm mitgeteilt wurde, dass er nach Gottes Bild erschaffen wurde“3. Diese Lehre ist für das jüdische Verständnis des menschlichen Wesens zentral. Sie wurde nie aufgegeben und galt als notwendige und ausreichende Erklärung des guten Triebes, der die Stimme in uns ist, die uns veranlasst, das zu wählen und zu tun, was richtig ist. Die jüdische Interpretation der Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden unterscheidet sich deshalb auch von der christlichen: Vor dem Sündenfall besaßen Adam und Eva die absolute Fähigkeit, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. Nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, sahen sie aber, dass sie nackt waren. Moses Maimonides, der große mittelalterliche Religionsphilosoph, meint dazu: schon vorher hatten sie gesehen, dass sie nackt waren, aber sie hatten keine Ahnung von der Bedeutung dessen. Das Naschen vom Baum der Erkenntnis führte dazu, dass von da an der Mensch in einem ständigen Widerstreit von Wahrheit und Lüge dem Guten immer wieder erneut zum Sieg verhelfen muss. Dabei ist die Möglichkeit zum Guten und Wahlfreiheit eine notwendige Folge der Gottesebenbildlichkeit des Menschen.

3 Pirke Awot 3, 14.

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4.1 Der böse Trieb ist nicht böse Wenn dem aber so ist, dann verlangt sein Gegenstück umso mehr nach einer Erklärung. In einfachsten Begriffen gesagt ist die Antwort des rabbinischen Judentums folgende: So wie Gott den guten Trieb schuf, so schuf er ebenso auch den bösen Trieb, damit die Menschen die Möglichkeit und die Verantwortung haben, zwischen beiden zu wählen. Natürlich wirft dies die Frage auf, wie ein guter Gott einen bösen Trieb schaffen kann, und die Antwort ist, dass zumindest zum großen Teil der böse Trieb trotz seines Namens nicht von Grund auf böse ist. Das Substantiv jetzer leitet sich von dem Verb jatzar, „bilden“, her und bedeutet daher etwas wie „einen fundamentalen Aspekt der menschlichen Beschaffenheit“ oder „eine grundlegende menschliche Disposition“. Ein oder zwei Belege für die Vorstellung finden sich auch in der jüdischen Literatur der römisch-hellenistischen Zeit, zum Beispiel wenn Sirach sagt: „Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen“4. Im hebräischen Text des Sirach-Buches steht für „Entscheidung“ jetzer, im Griechischen: diabole „Verleumdung“ – von demselben Wort stammt diabolos „der Verleumder“, der im Christentum die Bedeutung „Teufel“ erhält. Es war das rabbinische Judentum, das diese Vorstellung vollständig entwickelt hat, vor allem in Hinblick auf den bösen Trieb, jetzer ha-ra. In der Tat, wenn das Wort jetzer alleine benutzt wird, bezieht es sich in der Regel auf den bösen Trieb. Doch der jetzer ha-ra ist nicht an sich böse. Das ist eine klare Folge aus den wichtigsten rabbinischen Lehren über dieses Thema. Zum Beispiel erreicht die Schöpfungsgeschichte ihren Höhepunkt in der Erschaffung der Menschen. An dieser Stelle sagt der Text: „und siehe, es war sehr gut“5. Hier wird das pleonastische (d. h. logisch überflüssige) Wort „und“ als Hinweis darauf verstanden, dass die Menschen mit zwei Trieben geschaffen wurden, einem guten und einem bösen, die Aussage „sehr gut“ beziehe sich auf beides. „Aber“ fährt der Midrasch fort, „kann der böse Trieb ,sehr gut‘ genannt werden? Das wäre erstaunlich!“ Und dann erklärt er : „Gäbe es diesen Trieb nicht, würde niemand ein Haus bauen, heiraten, Kinder zeugen oder geschäftliche Interessen verfolgen“6. Durch diesen erhellenden Text wird deutlich, dass der jetzer ha-ra ein Oberbegriff ist für Selbsterhaltung, Gefallen, Macht, Besitz, Ansehen, Beliebtheit, usw. Diese Triebe sind nicht an sich böse. Im Gegenteil, sie sind gut in dem Sinne, dass sie biologisch nützlich sind. Aber sie sind extrem mächtig, und wenn sie nicht durch ein waches Gewissen kontrolliert werden, können sie 4 Sirach 15,14, zitiert nach Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. 5 Gen 1,31. 6 Midrasch Genesis Rabba 9,7.

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uns schnell dahin bringen, das Recht und die Bedürfnisse anderer außer Acht zu lassen und ihnen Schaden zuzufügen. In diesem Sinne – weil er uns so oft dazu treibt, das Falsche zu tun – ist der jetzer ha-ra böse. Aber er braucht es nicht zu sein; die psychische Energie, für die er steht, kann auch zu guten Zielen gelenkt werden. Es ist den Menschen möglich, den jetzer ha-ra in sich zu kontrollieren. Aber es wird nicht davon ausgegangen, dass dies einfach sei. Im Gegenteil. „Wer ist ein Held“, fragt Ben Soma im Traktat Awot, und antwortet: „derjenige, der seinen (bösen) Trieb bezwingen kann“7. Das Problem ist einfach gesagt, wie man den guten Trieb pflegt und aktiviert, so dass er die notwendige Kontrolle ausüben kann. Und die rabbinische Antwort ist: durch Studium, Gebet und Beachtung der Gebote. Sich mit der Tora zu beschäftigen hat im rabbinischen Judentum eine doppelte Bedeutung. Es bedeutet, ihre Lehren zu studieren, denn dies zu tun bedeutet, im Kontakt zu sein mit dem Denken Gottes und ist deshalb sowohl eine spirituelle als auch eine intellektuelle Beschäftigung. Aber sich mit der Tora beschäftigen bedeutet ebenso, jenen Weg des Lebens zu praktizieren, den die Tora vorschreibt: einen Weg, der sowohl einen ethischen Kodex beinhaltet als auch religiöse Disziplin erfordert. Damit verbindet sich die Freiheit des Menschen zur Selbstbeschränkung. Dem Menschen wird schon bei der Offenbarung des Willens Gottes ein hohes Maß an Mitwirkung gegeben. Der andauernde Prozess menschlicher Interpretation wird so zum stetigen Offenbarungsprozess, der weit über das einmalige Sinaigeschehen hinausgeht. Wir können verborgene Wahrheiten und Ansichten entdecken, es entstehen Neuerungen, durch die ich als menschlicher Interpret zum Mitschöpfer werde. „Glaube“ erhält so für mich einen ganz hohen Plausibilitätsgrad. Er wird zu einer spannenden Entdeckungsreise aller religiösen Glaubenstraditionen auf dem Weg, den Willen Gottes zu erfassen.

5. Freiheit zur Toleranz Was aber tun die, die nicht als Juden geboren sind oder zum Judentum gefunden haben? Die der jüdischen Religion wesentliche Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen bedeutet für Juden wie Nichtjuden, dass beiden ein Erkenntnisweg zu Gott offen steht und beide die Möglichkeit besitzen, die Vernunft als Mittel zur ethischen Vollendung anzuwenden: zur Erreichung der Freiheit. Philo von Alexandrien gibt uns hier eine Antwort aus frühjüdischer Sicht: 7 Pirke Awot 4,1.

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[…] nichts [ist] miteinander so sehr verwandt wie selbständiges Handeln und Freiheit. Dem schlechten Menschen nämlich steht vieles im Weg, Gier nach Geld, nach Ruhm, nach Vergnügen; den Tüchtigen dagegen hindert gar nichts, weil er sich gegen Liebe, Furcht, Feigheit, Trauer und Ähnliches erhebt und über sie triumphiert wie der Sieger im Ringkampf über die Besiegten. Er nämlich lernte, die Befehle zu missachten, welche die ungesetzlichsten Herrscher über die Seele erteilen, weil er inbrünstig nach Freiheit verlangt, deren besonderes Erbteil darin besteht, sich selbst zu befehlen.

Diese Möglichkeit zu haben beinhaltet auch die Verantwortung, das Gute zu erstreben. Nach biblischer Auffassung kann – wie wir gesehen haben – jeder Mensch unabhängig von einem spezifischen Offenbarungsverständnis auf diskursivem Weg zu philosophisch-theologischen Erkenntnissen gelangen. Denn der Mensch ist im Bilde Gottes geschaffen worden und hat daher Anteil an der göttlichen Vernunft. Und wer immer sich ethisch verhält, hat Anteil an der kommenden Welt. Ich will Ihnen deutlich machen: Juden glauben keineswegs, die allein seligmachende Offenbarung zu besitzen8. Einer der großen Systematiker des Judentums, Rabbiner Kaufmann Kohler, hat das 1910 so formuliert: Das Judentum, das weder ein blosses Religionssystem noch ein blosses Volkssystem ist, sondern ein Völker vereinender Gottesbund sein will, hat keine abgeschlossene Wahrheit und wendet sich an keinen abgeschlossenen Teil der Menschheit. […] Das Christentum und der Islam […] bilden einen Teil der Geschichte des Judentums. Zwischen diesen Weltreligionen nun mit ihren grossen Kulturgebieten steht das kleine Judentum als kosmopolitischer Faktor und weist auf jene ideale Zukunft einer in Gott wahrhaft vereinten Menschheit hin, die nur in unausgesetztem Vorwärtsstreben und nach immer vollkommener sich gestaltenden Vorbildern den verheissenen Triumph des Guten, Wahren und Göttlichen auf Erden erlangt, die Verwirklichung des Reiches Gottes.9

Dabei verweisen Juden auf Noah und seine sieben Gebote an die Menschheit. Der Fremdling, der im Judentum als „Sohn Noahs“ betrachtet wird, ist dabei ganz genauso Geschöpf Gottes, wie der Jude selbst10. Durch die sieben no8 Schon bei Ben Sirach (1,1–10) findet sich die Unterscheidung zwischen einer generell allen Menschen und einer speziell nur Israel verliehenen Erkenntnis. Die allen Menschen zugängliche Weisheit besteht darin, dass Gott ihnen allen Anteil an seiner Weisheit gibt, mit der er Himmel und Erde geschaffen hat. Vgl. Kaiser, Otto, Des Menschen Glück und Gottes Gerechtigkeit – Studien zur biblischen Überlieferung im Kontext hellenistischer Philosophie, Tübingen 2007. 9 Kohler, Kaufmann, Grundriss einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage, Leipzig 1910, 242 f. 10 Cohen, Hermann, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentum, Frankfurt a.M. 1929, 139. Vgl. Schulte, Christoph, Noachidische Gebote und Naturrecht, in: Helmut Holzhey/ Gabriel Matzkin/Hartwig Wiedebach (Hg.), Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums – Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk, Hildesheim/Zürich/ New York 2000, 248.

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achidischen Gebote als allgemeine Möglichkeit, vor Gott Gerechtigkeit zu erlangen, wird aus dem theologischen Begriff des Menschen als Geschöpf Gottes der politische Begriff des Mitmenschen, des Mitbürgers11. Damit tritt die Idee der „Frommen der Völker der Welt“ in eine interessante Spannung zum jüdischen Erwählungsbegriff. Und es wird deutlich: Freiheit erfordert auch Normen. Doch um welche Normen handelt es sich überhaupt? In der rabbinischen Tradition schwankt die Frage nach der Anzahl der Bestandteile einer solchen universalen Fundamentalmoral zwischen eins und dreißig12. Doch schon bald entwickelte sich die übereinstimmende Vorstellung, dass die Zahl der dieser Gebote sieben sei13. Sechs der sieben Gebote seien schon Adam gegeben worden14, das siebte Noah (Gen 9,1–6), was ihren universellen Charakter eher noch unterstreicht. Sechs Gebote wurden Adam mitgeteilt: a) das Verbot des Götzendienstes, b) das Verbot Gott zu lästern, c) das Verbot Blut zu vergießen, d) das Verbot der Blutschande, e) das Verbot des Raubes, f) das Gebot der Gerichtsbarkeit. […] dem Noah wurde noch das Verbot, Glieder von lebendigen Tieren zum Essen wegzuschneiden, hinzugesetzt, denn es heißt: „Aber Fleisch, in dessen Blute noch Leben ist, sollt ihr nicht essen“, folglich sind es zusammen sieben Gebote.15 […] als Noachide wird er nicht an das Gesetz Moses gebunden, sondern nur an sieben Vorschriften, die „sieben Gebote der Söhne Noahs“… Und diese sieben Vorschriften sind lediglich sittlichen Charakters. […] Der Glaube an den jüdischen Gott wird nicht gefordert.16

Die Erwählung Israels kann so erkannt werden als das, was sie ist: Die Auswahl für eine bestimmte Aufgabe und Funktion im Verhältnis mit Gott führt keineswegs dazu, dass andere Menschen nicht ebenso fromm gegenüber Gott leben und ihm gegenüber Gerechtigkeit erlangen könnten. Denn im Midrasch Schemot Rabba V.9 wird von Rabbi Jochanan berichtet: ihm zufolge habe Gottes Stimme sich am Sinai erst in sieben Stimmen und dann in 70 Sprachen geteilt – damit alle Völker außerhalb des Bundes Anteil bekommen an dem, was zu Israel und in Israel gesagt wurde. Das wiederum 11 Novak, David, Das noachidische Naturrecht bei Hermann Cohen, in: Holzhey [u. a.] (Hg.), Religion, 233. 12 Vgl. bT Awoda Sara 64b; bT Hulin 92a–b. 13 bT Sanhedrin 74b. Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen bilden die ältesten Grundbestandteile. In der 1. Hälfte des 1. Jh. kommen noch Raub und Gotteslästerung dazu. Die Liste von sieben Ge- und Verboten ist spätestens ab der 2. Hälfte des 2. Jh. n.d.Z. belegt. Vgl. Flusser, David, Noachitische Gebote, TRE XXIV, 582. 14 Midrasch Rabba Devarim 2,25 zu Deuteronomium 4,41. 15 Maimonides, Mischne Tora, Melachim 9,1 nach der Übersetzung von Chajim Sack, St. Petersburg 1850–52, Bd. 5, 501 f. 16 Cohen, Hermann, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentum, Frankfurt a.M. 1929, 142.

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impliziert, dass das Offenbarungserlebnis als Schritt zur geistigen Befreiung allen Menschen gleichermaßen zuteilwerden soll. Damit sind wir bei der letzten Freiheit angelangt, die das Judentum hochhält: die Freiheit der Vernunft. Nach Eugene Borowitz, einem großen jüdischen Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, existiert jeder Einzelne von uns in einer Art „dialektischen Freiheit“. Das souveräne Selbst ist im Gespräch mit der Weisheit und den Erfahrungen des jüdischen Gottesvolkes durch die Jahrtausende: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegen auf unseren Schultern. Und so wird die Autonomie und Freiheit des Einzelnen beschränkt durch das Gefühl der heiligen Verantwortung dem Bund gegenüber, den Gott am Sinai geschlossen hat. Die jüdische Freiheit ist vollkommen und umfassend und fordernd und damit eine Berufung zur Wahrnehmung sittlicher Pflicht und eine Hineinnahme in die Verantwortung für das Heilwerden der Welt.

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So steht also fest! Freiheit als Maß des Christseins Überlegungen zu Ehren von Prof. Dr. Richard Heinzmann

Nein, ich werde zum festlichen Anlass keine Exhorte oder Predigt halten, dennoch ist der Imperativ des Titels mit Absicht gewählt; er soll dem Geist entsprechen, von dem der Jubilar des Tages, Kollege Heizmann, schon immer getragen war. „Steht also fest!“, schreibt Paulus im Galaterbrief (5,1); dieser Appell bezieht sich auf die im Brief vorangehende Behauptung: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ Das ist kein empirischer Satz, sondern eine mutige, kontrafaktische These, die ihren Inhalt eher schafft als voraussetzt. Das ganze Kapitel 5 des Briefes ist zwar von argumentativen Strängen durchzogen. Doch getragen wird es von einer performativen Rede großen Stils, mit der Paulus das große Freiheitsspiel des Christentums aus seiner vorgegebenen jüdischen Umwelt aufgreift und für den westlichen Kulturraum eröffnet. Bis heute ist es nicht zur Ruhe gekommen. Natürlich entartete es beängstigend oft zum Spiel der Knechtung und Überheblichkeit. Wer jedoch den normativen Kern dieser Glaubensbewegung begreifen will, muss sie als die Inszenierung eines einzigen großen Streitthemas verstehen, des Streits um die Freiheit, indem es immer wieder Gewinner und Verlierer gibt.1 Dabei geht es mir nicht um Freiheit als ein konsolidiertes Faktum oder als beweisbare Antwort auf die Frage: Sind wir von Christus wirklich befreit? Als Tatsachenbehauptung ist dieser Satz millionenfach belegt, vielleicht noch öfter widerlegt. Aber unwiderleglich ist die Entdeckung, dass in der christlichen Tradition immer neu um Freiheit und Befreiung gerungen, auch um den Kampf gegen innerchristliche Unfreiheit und Versklavung gestritten wurde. Zugespitzt ausgedrückt: Die christliche Theologie hat nicht über eine Freiheit zu sprechen, die wir besitzen und über die wir verfügen könnten. Zu besprechen haben wir die Bedingungen und die Behinderungen der Freiheit, den 1 Dieser Beitrag, ursprünglich als zeitlich begrenzter programmatischer Vortrag konzipiert, kann die ungeheuer breite und differenzierte Diskussionslage des aktuellen theologischen Freiheitsdiskurses nicht berücksichtigen, geschweige denn ausarbeiten. Verwiesen sei auf die einführenden Artikel der bekannten Standardlexika, z. B. Prechtl, Peter, Art. Freiheit, in: P. Prechtl/P. Burkard (Hg.), Metzler-Lexikon der Philosophie, Stuttgart/Weimar 32008; 187–188; Pauen, Michael, Art. Freiheit, in: P. Kolmer/A. G. Wildfeuer (Hg.), H. Krings (Begr.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe I, Freiburg i.Br./München 2011, 801–816; Prçpper, Thomas, Art. Freiheit IV. Systematisch-theologisch, in: LThK3 4, 103–105; s. ferner : Deuser, Hermann/ Wendel, Saskia (Hg.), Dialektik der Freiheit. Religiöse Individualisierung und theologische Dogmatik, Tübingen 2012.

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täglichen Kampf um sie. Zur Debatte stehen die Dissonanzen und möglichen Widersprüche, die Spannungen einer wirksamen Freiheitsdynamik, auch deren Verlust und Begrenzungen.2 Dieser Kampf um Freiheit lässt sich nie voll in einen rationalen objektivierenden Diskurs integrieren. Dazu sind zu viele Versprechungen und Utopien, zu viele menschliche Schicksale und Leidenschaften, ist zu viel Kampf um die eigene Identität und die Akzeptanz der anderen im Spiel. Allein vor diesem Hintergrund wird es auch möglich, die großen Krisen des Christentums nicht nur buchhalterisch als Freiheitsverlust oder Freiheitsgewinn zu beschreiben. Wir können sie auch verstehen als Krisen und als Metamorphosen dieses Freiheitsstreits, der allerdings nicht immer ohne bleibendes Trauma und tief greifende Störungen abgegangen ist. Geschichtlich betrachtet – und wie anders soll man sie untersuchen – führt Freiheit nicht einfach zur Befreiung, auch wenn wir sie unaufhörlich erhoffen, sondern zu Umwandlungen und Krisen, deren Folgen nie vorhersehbar sind. Dies zeigt in ersten Ansätzen schon die Geschichte der Befreiungstheologie in ihrem jugendlichen Alter von 50 Jahren. Vermutlich verdankt sich schon der Beginn der Jesusbewegung nicht nur einem neuen Freiheitsappell, sondern auch einer ersten Freiheitskrise, die im Konflikt mit Johannes dem Täufer begann und bis heute nicht ganz aufgeklärt ist.3 Doch sei diese Frage den Exegeten überlassen. Wichtig – und immer noch aktuell – sind für mich einige Krisenpunkte, die ich in einem ersten Teil kurz thematisieren möchte. Dabei erinnere ich an Paulus, Augustinus und Martin Luther, ferner an die neuzeitliche Emanzipation der Philosophie von der Theologie und an den aktuellen Einfluss der empirischen Wissenschaften. In einem zweiten Teil ziehe ich daraus für unser gegenwärtiges Freiheitsverständnis im christlichen Horizont einige Folgerungen. Ich versuche, mich dieser Aufgabe in der höchst fruchtbaren Schwebe zwischen Theologie und Philosophie zu stellen, denn nur ihr Wechselspiel, das Richard Heinzmann bis zum heutigen Tage meisterhaft beherrscht, kann heute einen religiös engagierten Freiheitsdiskurs voranbringen.4

2 Ich verstehe Werte nicht als statisch normative Größen, sondern als immer umstrittene Herausforderungen, die polar mit anderen Werten gekoppelt sind. Das ist zu lernen bei Prange, Peter, Werte. Von Plato bis Pop. Alles, was uns verbindet, München 2006. Dort handelt ein Kapitel über „Freiheit und Verantwortung“ (531–557). 3 Siehe dazu jüngstens Limbeck, Meinrad, Abschied vom Opfertod. Das Christentum neu entdecken, Mainz 2012. 4 Dafür steht das bis heute höchst erfolgreiche Buch von Richard Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, Grundkurs Philosophie 7, Stuttgart/Berlin/Köln 21998. Siehe auch die 2014 zu erwartende Veröffentlichung, die von christlicher und muslimischer Seite die Bedeutung von Gewissens- und Religionsfreiheit herausarbeitet: Heinzmann, Richard/SelÅuk, Mualla (Hg.), Autorität und Individuum. Grundlagen in Christentum und Islam, Stuttgart 2014.

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1. Krisen des Christentums – Krisen christlicher Freiheit 1.1 Paulus In der Regel nehmen wir den Übergang der christlichen Botschaft in den hellenistischen Raum als eine machtvolle Aufbruchsbewegung wahr. Das Christentum geht seinen unaufhaltsamen, eine ganze Kultur erobernden Gang. Dabei werden meist die Dramatik und die inneren Spannungen vergessen, die dieser Übergang mit sich brachte. Hauptakteur in diesem Prozess war Paulus, dessen Reiserouten, Denk- und Argumentationswege bestens dokumentiert sind, über dessen Denk- und Erfahrungswelt man sich aber immer noch streitet. Soviel scheint mir klar zu sein: Paulus wollte seine Botschaft nicht von seinen jüdischen Wurzeln abtrennen. Doch angesichts des neuen hellenistischen Kontextes strebte er eine innere Freiheit gegenüber den vielfältigen Bestimmungen der jüdischen Thora an.5 Ob ihm das in logischer Stringenz gelungen ist, sei dahingestellt. Zwar hatte sich die jüdische Tradition schon früher mit dem Problem der kulturell und religiös Anderen auseinandergesetzt. Man kannte den Bund, den Jahwe mit Noach schloss, und die respektvolle Regelung für nichtjüdische Mitbewohner (die „Beisaßen“, z. B. Gen 32,4), die in der Nachfolge des Noachbundes nur auf wenige Verhaltensregeln verpflichtet und im Namen Jahwes als Mitbürger akzeptiert wurden.6 Dennoch bedeutete dieser Weg, den die hellenistischen Christen einschlugen, für das Judenchristentum eine tiefe Erschütterung, denn für sie stand jetzt die jüdische Identität ihrer Mitchristen außerhalb Palästinas, also in einem grundlegend anderen Kulturraum zur Debatte. Dies zeigt die leidenschaftliche Auseinandersetzung des Paulus mit der Rechtfertigungsfrage, die bis heute nicht zur Ruhe gekommen und ohne kontextuelle Perspektiven überhaupt nicht lösbar ist. Wichtig scheint mir deshalb ein zusätzlicher Sachverhalt: Erschüttert wurden die jüdisch-rabbinischen Grundfesten des eifernden Saulus durch kein kritisches Nachdenken über Grenzen und Ambivalenz der Thora, wie wir sie aus der Jesusüberlieferung kennen, keine nachhaltig wirkende Jesuserin5 Vgl. Theobald, Michael, Der Galaterbrief, in: M. Ebner (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 347–364; Eckey, Wilfried, Der Galaterbrief. Ein Kommentar, NeukirchenVluyn 2010, bes. 266–327; ferner : Dautzenberg, Gerhard, Freiheit im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament, Freiburg i.Br. 2001, 57–81; Sçding, Thomas, Die Freiheit des Glaubens, in: W. Kraus (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, Tübingen 2003, 113–134; Wilckens, Ulrich, Der Galaterbrief, in: ders., Theologie des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2005, 131–164; Bachmann, Michael/Kollmann, Bernd (Hg.), Umstrittener Galaterbrief. Studien zur Situierung der Theologie des Paulus-Schreibens, Neukirchen-Vluyn 2012. 6 Vgl. Ebach, Jergen, Noah. Die Geschichte eines Überlebenden, Leipzig 2001; Kuschel, Karl Josef, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, 233–332.

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nerung, wie wir sie anstellen würden, auch keine Überlegungen zu Fragen der Inkulturation, wie wir sie eingeübt haben, sondern durch ein plötzlich auftretendes Ereignis: die unvermittelt auftretende Christuserfahrung vor den Toren von Damaskus. Aus hermeneutischer Reflexion wissen wir heute, dass es keine unvermittelte Erfahrung gibt. Wir können also viele Gründe für diesen Lichtstrahl des Geistes ausfindig machen. Um Paulus wirklich zu verstehen, gilt es aber zu bedenken, dass die existentiell prägenden Erfahrungen von Menschen diese ihre Vermittlungen verbergen. Sie zeigen sich in unvermittelter Direktheit und kommen als innere, innerlich umstürzende Widerfahrnisse, als „Bekehrungen“ und als Evidenzen zum Ausdruck, die keiner weiteren Begründung mehr bedürfen. Sie stehen in sich, werden zu Statthaltern persönlicher Identität und einer neu erscheinenden Sinngebung. Aus glaubender Perspektive mag man dann von einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung sprechen. Diese unverwechselbare Erfahrung ermöglicht dem „Apostel“ Paulus gegenüber seiner jüdischen Tradition, die er keineswegs verleugnet, eine souveräne und zugleich positive Freiheitshaltung. Ich nenne diese Haltung positiv und souverän, weil jetzt sein freier und höchst kritischer Umgang mit der Thora gerade nicht deren Ablehnung beinhaltet. Darauf legt er im Römerbrief (9–11) nachdrücklich Wert. Angesichts des hellenistischen Raums arbeitet der aus dem synkretistischen Tarsus stammende Eiferer die humane Universalität der Thora heraus, und damit auch die theonome Radikalität, die er als Kerntendenz der Thora entdeckt. Ob ihm dieser Schritt widerspruchsfrei gelang, ist hier nicht zu untersuchen. Doch scheint mir dies eine festzustehen: Was die theologische Argumentation betrifft, kann das paulinische Freiheitspathos nicht voll aus dem Schatten und den Zwängen der Unfreiheit heraustreten. So bleibt etwa sein Begründungssatz: „Die Thora ist hinzugekommen, damit die Übertretung mächtiger werde.“ (Röm 5,20) genau dem negativen Gerechtigkeitsdenken verhaftet, das er überwinden möchte. Dasselbe gilt auch für die Aussage: „Ich lebte einst ohne das Gesetz; aber als das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig.“ (Röm 7,9) Diese paradoxen Formulierungen genießen in unseren gängigen Paulusinterpretationen einen hohen Stellenwert. Ich verstehe sie als Zeugnisse dafür, dass das Freiheitspathos des Paulus mit seinem exorbitanten Auferstehungsjubel („Tod, wo ist dein Sieg!“, 1 Kor 15,55) dessen bedrohlichen Hintergrund nie ganz verlassen kann. Auch der Dekalog, der für die hellenistischen Christen jetzt in einen thorafreien Rahmen rückt, und selbst die Forderungen der Bergpredigt mit ihrem leidenschaftlichen Einsatz für Gerechtigkeit lassen erkennen, dass die christliche Freiheit nach wie vor einen hohen Streitwert behält. Die paulinische Freiheit an sich lebt aus ihrem utopischen Impuls. Deshalb bleibt sie immer bedroht und vom Missbrauch gefährdet. Ohne der Größe des Paulus nahezutreten, ist zuzugeben, dass selbst der spätere Antijudaismus ohne ihn nicht zu denken wäre. Mit seiner kühnen Thorakritik hat Paulus ein Maß der Freiheit vorgegeben, dem die spätere Christenheit leider

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nicht gerecht geworden ist. Der Freiheitsappell hat auch zu Unterdrückung und Vernichtung geführt. 1.2. Augustinus Unter den Vorzeichen einer neuen Epoche zeigt sich diese Ambivalenz auch in der zweiten Krise, auf die ich hier hinweisen möchte. Sie bricht an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert auf und erhält ihre folgenreiche Auslegung durch den Nordafrikaner Augustinus, also wiederum durch einen, der am Rande seines Kulturraums groß geworden ist.7 In Karthago, nicht etwa in Rom oder Athen, eignet er sich begierig die Maßstäbe und Wissensbestände der griechisch-römischen Kultur an und erarbeitet sich mit diesem kulturell zugleich gebrochenen und geschärften Blick sein Bild vom Christentum, indem er die entscheidenden Interpretationsinstrumente aus dem Neuplatonismus entwickelt. Ausgerechnet dieser unruhig suchende und unbestechliche, geradezu modern empirische Beobachter dessen, was wir heute die menschliche Seele nennen würden, bejaht das liberium arbitrium aller Menschen vorbehaltlos. Dafür führt er biblische und anthropologische Gründe ins Feld. Zugleich entwertet er es, indem er das Schwergewicht der entscheidenden Freiheit ganz in ein zeit- und leibfernes göttliches Jenseits verlegt. Er tut dies in so radikaler Weise, dass der Eigenwert der menschlichen Freiheit zwar nie geleugnet wird, aber doch massiv unter Druck kommt, bis an die Grenze von deren Leugnung. Einerseits gelten alle Menschen als verantwortlich für ihre Sündigkeit, sodass seinem Gott kein Vorwurf erwächst aus der Verdammung der vielen, die nicht getauft sind. Andererseits ist es Adam, in dem die gesamte Menschheit zu Beginn der Menschheitsgeschichte schon gesündigt hat. Alle Menschen sterben „in Adam, von dem der Ursprung der Beleidigung Gottes auf das gesamte Menschengeschlecht hinführt. Deshalb sind alle Menschen eine Sündenmasse, die der göttlichen und höchsten Gerechtigkeit Strafe schuldet, die zu fordern oder nachzulassen keine Ungerechtigkeit ist.“8 Wie Paulus die Sünde der Juden aus der Thora abzuleiten suchte, leitet Augustinus die Sünde der gesamten Menschheit aus der einen Übertretung des Adam, also aus dem universalen Schicksalszusammenhang ab, der die Menschheit umschließt. Beide versuchen, die verfehlte Gesamtsituation des Judentum bzw. der Menschheit von einem einzigen Gesichtspunkt aus zu verstehen. Dadurch lassen sich beide zu einer Grenzaussage verleiten, die der individuellen Freiheit einer jeden Person vor Gott nur noch mit Mühe gerecht wird. Bei Paulus bleibt die Unheilsaussage über die adamitische Mensch7 Vgl. Flasch, Kurt, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 21994; Horn, Christoph, Anthropologie, in: V. H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 479–487. 8 Agustinus, Ad Simplicianum I, 2, 16 (CCL 44, 41 f).

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heit noch im Bereich eines geschichtlichen Urteils, also einer faktischen beobachtenden Aussage, die das Gesamturteil der biblischen Urgeschichte (Gen 2–8) übernimmt. Das Böse kam wie eine Lawine über die Welt, weil alle gesündigt haben (Röm 5,12d). Daraus konnte man zu Recht schließen, dass die menschliche Freiheit zerbrechlich und den Verführungen von Gegenmächten ausgesetzt ist, was man unter diesen Gegenmächten auch verstehen mag. Nach Augustinus hingegen kam das Böse in die Welt durch Adam, in dem alle gesündigt haben, wie die lateinische Übersetzung sagt, der Augustinus leider folgte.9 Auf welche Weise dies geschehen konnte, wurde nie überzeugend geklärt. So erscheint der durch Gottes Gnade erlöste Mensch einerseits als der, der von Gott umfassend beglückt, weil begnadet und befreit ist. Andererseits bleibt er – wie alle anderen Menschen – aus sich heraus straf- und verdammungswürdig, weil „Nichts und Sünde“ (nihil et peccatum). Gewiss, man kann um Sympathie für die Überschusserfahrung von Gottes Güte werben, die Augustinus (ähnlich wie den Paulus) im Augenblick seiner Bekehrung überfiel. Man kann auch auf die geschichts- und freiheitsfernen Tendenzen verweisen, zu denen der Neuplatonismus verführt hat. Tatsache ist, dass die augustinische Konzeption einer gesamtmenschlichen Ursünde, so sehr sie aus einer Befreiungserfahrung lebte, bald zum Anlass religiöser Menschenverachtung wurde. Ob dieser Vorwurf schon Augustinus selbst gilt, der als Bischof bald institutionelle Verantwortung für die Heilsinstitution Kirche trug, sei hier nicht weiter diskutiert.10 Unbestreitbar ist allerdings, dass die Gesamtinstitution der Kirche im Laufe der folgenden Jahrhunderte in eine unselige Tradition hineinschlitterte. Zwar war von der Freiheit der Christen nach wie vor die Rede, aber die institutionell verfasste Kirche hat sich als solche vorbehalten, über diese Freiheit zu befinden. Je mehr sie überirdisch überhöht wurde, umso weniger Respekt blieb für die Alltagsfreiheit des menschlichen Handelns. So geriet die Freiheitsfrage des Christentums, diese äußerste Diastase zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, erneut in eine äußerste Paradoxie. Seit Augustinus wurde die Freiheit der Menschen in wachsendem Maße mit scheelen Augen betrachtet. Er hat dem christlichen Freiheitsgedanken eine tiefe Wunde zugefügt, die ihm bis heute geblieben ist.11 9 „In quo omnes peccaverunt“ („in dem alle gesündigt haben“). Diese unzutreffende Übersetzung betrifft keine Nebensächlichkeit, sondern hat das Menschenbild des christlichen Westens seitdem massiv geprägt. Auf den Bruch der augustinischen Anthropologie im Jahre 397 haben Häring, später Flasch (s. Anm. 7) aufmerksam gemacht. Siehe: H-ring, Hermann, Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Zürich 1979, 183–218; Heinzmann, Philosophie, 87–90; Frederiksen, Paula, Die Anthropologie in De libero arbitrio (Über die freie Entscheidungsinstanz 3), in: Drecoll, Augustin, 288–289; dies. Ad Simplicianum (An Simplician), ebd., 289–294). Zur Problematik: H-ring, Hermann, Art. Malum, in: C. Mayer (Hg.), Augustinus-Lexikon III, Basel 2011, 1111–1121. 10 Kany, Roland, Augustinus und die Entdeckung der kirchlichen Autorität, in: F.W. Graf/ K. Wiegandt (Hg.), Die Anfänge des Christentums, Frankfurt a.M. 2009. 11 In prononcierter Weise unterwirft der profunde Augustinuskenner K. Flasch die Positionen von Augustinus einer deutlichen Kritik. Siehe die Erläuterungen in: Flasch, Kurt, Logik des

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Wiederum müssen wir uns mit diesem negativen Ergebnis nicht begnügen. Machen wir uns nur klar, dass auch in den folgenden Jahrhunderten die Frage nach der menschlichen Freiheit nie verstummt ist. Denn ganz anders stellt sich dieses Erbe dar, wenn wir diesen unlösbaren Kampf um die Fassung des Freiheitsgedankens nicht als wiederholt missglückte Lösungsversuche betrachten, sondern dessen ständige Neuformulierung als die eigentliche Aufgabe christlicher Lebensarbeit erfahren. Auch Augustinus wollte, wie ich meine, keine fertigen theoretischen Lösungen anbieten, vielmehr hat er die diastatischen Zugänge zur praktischen Problematik gezeigt, aus denen er keinen paradoxiefreien Ausweg mehr fand. Obwohl er ein Neuplatoniker durch und durch war, hat er, der sensible Beobachter seiner selbst – seiner inneren Zwänge und Regungen, auch seiner inneren Versagensängste – aus seinen Ansätzen kein System fabriziert, wie es im Mittelalter so oft versucht wurde. Die Kirche des Westens hat Augustinus spätestens von dem Augenblick an missverstanden, an dem sie sich nicht mehr als die Schicksalsgenossin im schmerzhaften, oft verlustreichen Befreiungskampf verstand, sondern als die überlegene Besitzerin und Vermittlerin der wahren Freiheit. Ihr hätte klar sein müssen, dass man über Augustinus – wie über Paulus – eben nicht verfügen kann. Allerdings bleibt die augustinische Erinnerung unlösbar an sein Kirchenverständnis gekoppelt. Vielleicht hat die neuzeitliche Krise des Augustinismus nur deshalb an Aktualität verloren, weil das Modell einer seligmachenden Volkskirche seine Plausibilität eingebüßt hat. So ist die christliche Freiheit neu auf elementare Begründungen angewiesen. Doch hat darauf vor 500 Jahren nicht schon Martin Luther geantwortet?

1.3. Martin Luther Die Wunde, die Augustinus der menschlichen Freiheit geschlagen hat, bricht am Ende des Mittelalters neu auf. Einerseits vermehren sich die Versuche, den Freiheitsdiskurs auf neue Füße zu stellen, andererseits sinkt die menschliche Selbstgewissheit in der Frömmigkeitspraxis auf einen Tiefpunkt; auch der Augustinermönch Luther ist stark davon betroffen. Zugleich zwingt die massive Fiskalisierung der Seelsorge, der in einen intensiven Ablasshandel mündet, zum verstärkten Widerstand.12 Wie bekannt, greift Martin Luther im Jahre 1517 an der Universität von Wittenberg mit seinen Thesen zur Gnade und Verdienst in das Geschehen ein. Für die altkirchliche Hierarchie führt dies Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397. Lateinisch-Deutsch, herausgegeben, erklärt und mit einem Nachwort, Mainz 21995. 12 Vgl. Pesch, Otto Hermann, Hinführung zu Luther, Mainz 1982; Schilling, Heinz, Martin Luther : Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2012; Leppin, Volker, Martin Luther. Vom Bauernsohn zum Reformator, Darmstadt 2013.

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langfristig zur Katastrophe, doch für die Theologie und ihre Frage nach der menschlichen Freiheit wird es zum Glücksfall. Denn Luther, durch intensive Schriftstudien für den Kampf vorbereitet, greift auf die Rechtfertigungslehre des Paulus und damit auf die Theologie der menschlichen Freiheit mit ihren Vor- und Nachteilen zurück. Die Diskussion um das Wesen und den Gottesbezug menschlicher Freiheit bricht neu auf. In dieser dritten großen Freiheitskrise, der religiösen Geburtsstunde der Neuzeit, zeigen sich die Wunden, die Paulus und Augustinus geschlagen haben, neu. Zugleich wird sie positiv auf das aufbrechende Selbstbewusstsein der Neuzeit bezogen, wie die große Programmschrift von 1520 „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zeigt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“13 Man erkennt es schon an dieser Formulierung. Auch Luther erarbeitet ein dialektisch in sich verschränktes Programm. Einerseits will er die wahre und universale, weil in Gott begründete Freiheit der Menschen öffentlich und in großem Maßstab zur Geltung bringen. Andererseits will er die banale, in Selbstgerechtigkeit mündende Freiheitsidee durchbrechen, die da lautet: Einige moralische Anstrengung vorausgesetzt, verfügen wir Menschen aus eigener Kraft und wie selbstverständlich über eine umfassende Freiheit, die uns schließlich Erfüllung bringt. Wir müssen nur das in sich Gute tun (facere quod in se est). Aus guten Gründen hatte sich dagegen schon Paulus gewandt. Denn die Freiheit hat eine Tiefenstruktur, die sich den einfachen Alternativen von moralischer Korrektheit oder Sünde, von Leistung oder Versagen widersetzt. Vermittlungsformen wurden schon vor Luther entwickelt. Der später auf Kompromisse bedachte Johann von Staupitz etwa empfahl dem von Zweifeln bedrängten Luther in Erfurt (1505–1512), Gott in Anerkennung seiner Sündigkeit in allem Recht zu geben. Schon der damals führende Tübinger Philosoph und Theologe Gabriel Biel (1415–1485) konzentrierte die Freiheitsfrage, wie Richard Heinzmann treffend formuliert, auf „die Frage nach der Freiheit des Menschen, sich auf die Gnade Gottes vorzubereiten“14. Martin Luther ging von dieser Frage aus, blieb aber vom Zweifel darüber gepackt, ob und wie ihm solche Gehorsamsleitung möglich sei. Seine Neufassung der Rechtfertigungslehre, die auch er wieder als plötzliche Bekehrung erfährt, präsentiert er als eine Neuinterpretation von Paulus, demzufolge Gott Gerechtigkeit gerade nicht distributiv (also je nach persönlichem Verdienst) verleiht oder vorenthält, sondern effektiv allen zuspricht, die an ihn glauben, die also bereit sind, die Recht-Sprechung vertrauend anzunehmen. Wie aber soll ein „vertrauender Glaube“ anders denn als eine freie Tat kategorisiert werden? Auch die Neufassung Luthers überwindet das Modell der universa13 Luther, Martin, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: K. Bornkamm/G. Ebeling (Hg.), Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Band I, Frankfurt a.M. 1982, S. 329. 14 Heinzmann, Philosophie, 264; ders., ebd. 260–262.

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len, die Menschen verderbenden Ursünde nicht. Deshalb führt – entgegen allen Beteuerungen und Beschwörungen – auch dieses Befreiungskonzept zu einer paradoxen Dialektik. Dies bleibt allerdings verborgen, solange der Impuls Luthers gegen ein selbstgerechtes, fiskalisch korrumpiertes Kirchensystem ins Feld geführt wird. Die Titel zweier programmatischer Lutherschriften symbolisieren den neuen Zwiespalt zwischen stimulierter Freiheitshoffnung und mangelnder Freiheitserfahrung. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ lautet der schon genannte Titel, der sich ähnlich siegesgewiss wie die augustinische Rede vom „Triumph der Gnade“ liest. „Über den geknechteten Willen“ (De Servo Arbitrio) lautet fünf Jahre später der niederschmetternde Titel einer weiteren Schrift.15 Dieser Traktat formuliert nicht nur die von Pathos getriebene Polemik gegen den verkannten Ireniker, den Rotterdamer Erasmus, sondern auch die Suche des Martin Luther nach einer letztgültigen religiösen, deshalb erfahrungstreuen Sprache über Gottes alles umfassende Güte.16 Zugegeben, Luther ließ sich vom gängigen Kausalschema eines vorhersehenden und vorherbestimmenden Gottes in die Irre führen.17 Das aber war nur Oberflächenargumentation. Entscheidend ist auch hier – keineswegs lösungsorientiert, sondern in reiner Expressivität – der Aufschrei im Augenblick, da ein Mensch seine Ohnmacht gegenüber Gott erfährt. Wie soll denn die Paradoxie eines Menschen, der Gerechter und Sünder zugleich ist, miteinander versöhnt werden? Zugegeben auch, dass sich die Universalität von Gottes Handeln nur in Gegensätzen, in einer coincidentia oppositorum ausdrücken lässt. Doch auflösen lassen sich diese Gegensätze höchstens noch in der Behauptung, dieser unbedingte Freiheitsverlust des Sünders sei nur das Widerlager seiner absoluten Begnadung. Doch auch das wäre eine zu harmlose Erklärung. Denn es gibt nichts zu verharmlosen an diesem inneren, angstbesetzten Freiheitskonflikt, den ungeschmälert zu durchleben Christen jetzt zugemutet wird.18 Zu lange haben Theologie und Kirche diese Grenzsetzung missachtet.

15 Luther, Martin, De servo arbitrio, in: W. Härle (Hg.), Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1: Der Mensch vor Gott, Leipzig 2006. 16 Vgl. Weinstock, Heinrich, Die Tragödie des Humanismus. Wahrheit und Trug im abendländischen Menschenbild, Sammlung Aula, Wiesbaden, 1989; H-ring, Hermann, Naar een nieuwe omschrijving van vrijheid: Erasmus’ diskussie met Luther, in: Tijdschrift voor Theologie 29, 1989, 19–37; Behrendt, Ethel L., Luther und Erasmus. Gerechtigkeit zwischen Glauben und Vernunft. Ein Jahrtausend-Streit, München 2010; Albrecht, Johannes-Friedrich, Person und Freiheit. Luthers Sicht der Dynamik und Struktur des Personseins und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Stuttgart 2010. 17 Zur Vorgeschichte dieser Argumentation schon bei Boethius: Heinzmann, Philosophie, 104–107. 18 Siehe Anm. 28. Eugen Biser und Richard Heinzmann verweisen in diesem Zusammenhang auf u. a. Blaise Pascal, Werner Bergengrün und Gertrud von Le Fort: Biser, Eugen/Heinzmann, Richard, Mensch und Spiritualität. Eugen Biser und Richard Heinzmann im Gespräch, Darmstadt 2008, 48–52; 61–65.

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1.4. Emanzipierte Freiheit Zur vierten Krise möchte ich keine Person, schon gar keine theologische Größe nennen, sondern auf eine langfristige Entwicklung hinweisen, die sich als Emanzipation der Philosophie von der Theologie umschreiben lässt. Je mehr sich im Laufe der Neuzeit die Philosophie ihrer religiösen Bindungen bewusst wurde, um sich dann von ihnen zu lösen, umso inakzeptabler wurde die Rede von der Unfreiheit des Menschen. Jetzt endlich wurde die Freiheit des Menschen nicht mehr im Raum göttlicher Erlösung angesiedelt, sondern zum wesenhaften und ethischen Würdesiegel des hier und jetzt, personal und gesellschaftlich, leibhaft und geschichtlich konstituierten Menschen schlechthin, später auch zum großen Ideal einer in Freiheit versöhnten Menschheit. Recht verstanden hat diese Entwicklung natürlich ihre christlichen Wurzeln, die bis an den Beginn der Jesusbewegung zurückgehen, aber sie wurden verdrängt, durch die Interessen innerkirchlicher und öffentlicher überdeckt. Dieser Geschichte ist hier nicht im Einzelnen nachzugehen. Wer genau hat versagt und wer hat diesen unglückseligen Bruch verursacht? Beteiligt an dieser Unglücksgeschichte war in jedem Fall eine Theologie, die – je auf ihre Weise – Paulus, Augustinus und Luther zu herabgesetzten Preisen verkaufte, ferner eine kirchliche Institution, die ihre eigene Geltung gegen die konkrete Freiheit der Menschen aufrechnete. In jedem Fall ließen die Kirchen und ihre Theologien sich die Sorge um die menschliche Freiheit aus der Hand nehmen. Zugleich gelang es ihnen immer weniger, gegenüber einer autonom etablierten Philosophie das Spezifische ihrer eigenen Botschaft zu formulieren, also ein fruchtbares Spiel von Rede und Gegenrede in Gang zu bringen. Statt einander zu ergänzen, schloss man einander aus. Sascha Müller hat dies in ihrer Arbeit zur Freiheitsphilosophie des Ren8 Descartes’ beispielhaft aufgezeigt.19 Auch die Existenz einer Substanz, die nach Descartes zu ihrer Existenz „keiner anderen Sache bedarf“ (nulla alia re indige[a]t) setzt natürlich die Schöpfermacht Gottes voraus (S. 243). So entwickelt Descartes ein Freiheitsverständnis, das in keiner Weise mit religiösen Freiheitskonzepten konkurrieren muss. Doch auch er brachte das Korrelat religiöser Grenzerfahrungen nicht mehr zum Ausdruck. Hinzu kommt, dass sich die Konfessionskirchen vorrangig als Anwälte der öffentlichen Ordnung etablierten, also die Furchtsamen im Stich ließen, während die Philosophie auch den staatskritischen Freiheitsdiskurs führte. Das Pathos der Freiheit säkularisierte sich endgültig und begann, eine kirchenkritische Wirkung zu entfalten.20

19 Meller, Sascha, Ren8 Descartes’ Philosophie der Freiheit: Ad imaginem et similitudinem Dei. Philosophische Prolegomena zu einer Theologie der religiösen Inspiration, München 2007. 20 Rapic, Smail, Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesell-

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Natürlich sind auch Fragen an die Philosophie zu stellen. So weist etwa Charles Taylor nachdrücklich auf die Grenzen des Freiheitsbegriffs hin, den die neuzeitliche Philosophie (einschließlich Kant und Idealismus) entwickelte.21 Man muss ihn nicht unbedingt individualistisch nennen, aber er war vorrangig auf die abstrakten Möglichkeiten und Rechte des Individuums ausgerichtet. Dadurch erhielt der philosophische Freiheitsdiskurs eine reduktionistische Note. Man sprach gerne von einer unbegrenzten Freiheit, ohne deren konstitutive Begrenzungen ins Auge zu fassen, von begrenzenden Normen und Regeln, sozialen Bedingungen und Mängelsituationen, vom gegenseitigen Respekt. Für Kant bleibt der begrenzende Freiheitsraum in jedem Fall die Pflicht, die im kategotischen Imperativ kulminiert, für Hegel ist es die Einsicht in die Notwendigkeit. Von Schönherr-Mann ist zu lernen, dass selbst der höchst individualistische Freiheitsbegriff eines Jean-Paul Sartre zu grenzenloser Verantwortung aufruft.22 Auch die Theologie orientierte sich vorrangig am Individuum, stellte ihm aber lange Zeit unreflektiert, in asymmetrischer, sozusagen gesprächsunfähiger Weise den überzeitlichen Willen Gottes gegenüber. An die ursprüngliche biblische Leidenschaft für die Gerechtigkeit von Welt und Gesellschaft dachte auch sie nur an zweiter Stelle. Das Kardinalproblem all dieser Diskurse von Theologie und Kirchen scheint mir zu sein, dass sie den Raum der originär religiösen, der angst- oder hoffnungsbesetzen Erfahrung mehr und mehr verließen und Gott objektivierend als klassische Kausalursache dachten. Zugleich vergaben sie die Chance, die ihnen die Philosophie mit ihrer wachsenden Nähe zur Empirie bot. Man hätte erkennen können, wie sehr die vormals theologischen Fragen nach den Bedingungen und Grenzen der Freiheit empirische, psychologische und soziologische Fragestellungen vorwegnahmen. Dies geschah nicht. Deshalb mussten alle früher vereinbarten Rahmenbedingungen und Orientierungen der Freiheit, selbst Gottes Wille, wie äußerliche Begrenzungen wirken. Vor Gott konnte man nur unfrei sein. Der programmatische Beginn dieses Denkmodells, das im Spätmittelalter vorbereitet wurde, war dann ausgerechnet bei Martin Luther wiederzufinden. Nach seiner schon genannten Freiheitsanalyse von 1525 wird der Mensch von Gott oder vom Teufel geritten. Allerdings habe ich bislang einen wichtigen Gesichtspunkt unterschlagen. Augustinus und Luther betrieben ihre Theologie noch in einem genuin religiösen Paradigma; sie formulierten Erfahrungen des Versagens und der Begnadung in authentischer Weise. Jetzt, unter den Auspizien der Philosophie, verläuft der gesamte Diskurs abstrakt und mit dem Willen zu objektiver schaftstheorie von Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse, Freiburg i.Br./München 2008. 21 Taylor, Charles, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a.M. 1992. 22 Schçnherr-Mann, Hans-Martin, Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen. Mit einem Essay von Hans Küng, München 2008, 133–151.

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Sachlichkeit. Dadurch verläuft die Auseinandersetzung asymmetrisch, was den Missverständnissen Tür und Tor öffnet. Bald stehen – unreflektiert – ein negatives und ein positives Verständnis von Freiheitsbegriff einander gegenüber. Charles Taylor benennt dieses Problem; er unterscheidet zwischen einem „Möglichkeitsbegriff“ und einem „Verwirklichungsbegriff“.23 Die Möglichkeitstheoretiker einer Freiheitsanthropologie, Thomas Hobbes etwa, konnten den Hinweis auf religiöse Mangelerfahrungen nur noch als Freiheitsverachtung diskriminieren. Im Gegenzug dazu entwickelten die neuzeitlichen Kirchen bis in die Gegenwart hinein tiefe Misstrauens- und Kontrollreflexe gegen ein „zu viel“ an Freiheit. Man wittert Willkür und verderbliche Anarchie.24 Ausgerechnet sie beklagten einen Freiheitsüberschuss, nachdem sie früher den Freiheitsmangel zutiefst beklagten. 1.5. Wende der empirischen Wissenschaften Kommen wir zum fünften und letzten Punkt dieses Teils, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn als Krise oder – zur Provokation der Theologie – als Glücksfall präsentieren soll, denn im vergangenen Jahrhundert haben sich unmerklich die Fronten vertauscht. Nachdem katholische und evangelische Theologie Jahrhunderte lang vor zu viel irdischer Freiheit warnten und das Ziel wahrer Freiheit in ein ungreifbar Inneres oder direkt ins Jenseits verlegten, lernten wir jetzt, Gottes Freiheit nicht mehr als Begrenzung, sondern als Ermöglichung menschlicher Freiheit zu denken. Karl Rahner sprach von der anthropologischen Wende. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen und die Kirchen haben ihn noch nicht vorbehaltlos aufgegriffen. Aber auch die säkularen Wissenschaften haben die Fronten gewechselt. Sie wurden zu den Warnern im Freiheitsoptimismus. Zunächst setzten Soziologie und Psychologie, Politologie und kritische Gesellschaftstheorien ihre Fragezeichen. Heute verschärft die Neurologie den Diskurs der Freiheit bis hin zu deren Leugnung.25 Jetzt tritt, oh Wunder, die christliche Theologie als deren glühende Verteidigerin auf. Damit hat sich der Freiheitsdiskurs pluralisiert. Gelegentlich macht uns das noch hilfloser als der vertraute frühere Streit.26 Bekannt sind die empirisch 23 Taylor, Freiheit,121. 24 Vgl. H-ring,Hermann, Im Namen des Herrn. Wohin der Papst die Kirche führt, Gütersloh 2 2009. 25 Pçttner, Martin, Zeitliches Selbstverhältnis, Zeichen und Religiosität. Die problematische Lücke in manchen Ansätzen der Gehirnforschung, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 13, 2008, 171–193; ders., „Zur Freiheit hat uns [der] Christus befreit“. Eine theologische Interpretation des paulinischen Freiheitsverständnisses im Galaterbrief, in: ebd., 260–279. 26 Vgl. Mutschler, Hans-Dieter, Physik und Religion. Perspektiven und Grenzen eines Dialogs, Darmstadt 2005; Roth, Gerhard/Pauen, Michael, Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2008; Hardeg-

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orientierten Anthropologien aller Schattierungen, die reiche Palette verschiedener Freiheitsbedeutungen, die sich oft abgrundtief eintrüben und geradezu apokalyptische Modelle entwerfen. Praktisch ermüden wir uns in zahllosen Detailanalysen, sind mit einer wachsenden Orientierungslosigkeit von Normen und Wertewelten konfrontiert. Dagegen erscheint eine der Empirie unkundige Theologie als die recht naive und weltferne Verteidigerin eines nicht einlösbaren Menschheitsideals. Vermutlich gibt es nur wenige Spezialisten, die diese Debatten noch wirklich überschauen. In mir persönlich, einem eingefleischten Schüler von Johann B. Lotz und Walter Kern, behielt der Verteidiger der Freiheit lange Zeit die Oberhand. Leben wir Menschen, so dachte ich, doch kraft unseres Geistes auf einer unbestreitbar freien und überlegenen Basis, und ist unsere Lebenspraxis doch unlösbar mit moralischer Verantwortung verbunden. Aber meine Bastion der Freiheit bekam gefährliche Risse, je mehr ich mich mit Denkern wie Michel Foucault, Jacques Lacan oder Jacques Derrida, schließlich mit Slavoj Zˇizˇek beschäftigte. Sie alle betonen – je auf ihre Weise – nicht einfach die Abwesenheit oder Korruptheit behaupteter oder vermeintlicher Freiheit, sondern deren verführerische Fragilität. Sie zeigen die inneren Perversionen der Freiheit und die versklavende Wirkung von Freiheitsangeboten, denn eine angebotene Freiheit kann der beste Weg dazu werden, uns diese Freiheit zu entziehen. Es gibt keine Freiheit an sich. Aktuell gesprochen sind es die Institutionen und Konditionen, die Sicherheit und Nachhaltigkeit versprechen und uns so in die Falle der Unfreiheit locken. Es sind die „Dispositive der Macht“ (Foucault) aus Ökonomie oder der Informationstechnologie, die geradezu hinterhältig wirken, so etwa die Versprechen einer großzügigen Versicherung, das Hilfsangebot eines Industriellen oder das Handy einer Bundeskanzlerin. Sind wir nicht Teil einer Informationsgesellschaft, deren Freundlichkeit nur die Kehrseite ihrer Totalkontrolle ist? Ich erinnere mich an das tröstende, zugleich erschreckende Wort meiner Kindheit: „Ein Auge ist, das alles sieht …“. So lassen sich Fragen an die eigene Domäne nicht vermeiden. Wie können wir verhindern, dass eine Gesellschaft sich im Namen der Freiheit ihre eigene Freiheit zerstört, dass die Erfahrung des umfassenden Schutzes heute zur Metapher eines Polizistengottes wird, der zur NSA regrediert? Wie können wir verhindern, dass die Heilsangebote einer allsorgenden Kirche erneut zu einer Falle werden, die nur in die Unfreiheit führt? Ich breche hier ab, denn wenn ich recht sehe, bietet uns der traditionelle kirchliche Freiheitsdiskurs, sofern er immer noch metaphysisch gesteuert ist, keine direkte Orientierung mehr. Er löste sich an seiner paradox doppelten Bedeutungslinie von Freiheitserwartung und Freiheitsangst, von Befreiungsger, Judith, Willenssache. Die Infragestellung der Willensfreiheit durch moderne Hirnforschung als Herausforderung für Theologie und Ethik, Münster 2009; Klein, Andreas, „Ich bin so frei“. Willensfreiheit in philosophischer, neurobiologischer und theologischer Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2013.

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pathos und gegenteiliger Unfreiheitserfahrung auf. Wer heute von Freiheit spricht, muss nach neuen Ansätzen suchen. Ich kann sie hier nicht bieten. Aber in aller Kürze versuche ich, mit sechs kurzen Thesen eine Matrix zu entwerfen, innerhalb derer sich weitere religiös wirksame Diskurse bewegen könnten, um die Freiheitspotenz des Christentums neu zu formulieren.

2. Zu einem dynamischen Verständnis von Freiheit In Sachen menschlicher Freiheit bewegen sich das Christentum, seine Kirchen und seine Theologie in einem tiefen Widerspruch. Einerseits verstehen sie sich als unbeugsame Hüter menschlicher Freiheit; Freiheit gilt ihnen als das utopische Ziel aller Heilserwartung, die hier und jetzt beginnt. Deshalb beanspruchen sie bis heute das entscheidende Definitionsrecht, nämlich zu sagen, was Freiheit letztlich meint und wie sie erreichbar ist. Andererseits haben sich Kirchen und Theologie schon immer als Warner vor (zu viel oder einer falschen) Freiheit erwiesen. Vor den Zuspruch der Freiheit hat sich das Misstrauen gegen die Sünde gestellt. Die Berufung auf das eigene Gewissen wurde mit Verdacht belegt und alle großen Freiheitsrechte des Menschen, die demokratischen Grundregeln eingeschlossen, wurden gegen den Widerstand der Kirchen ohne nennenswerte Unterstützung durch die Theologie durchgesetzt. Der authentische Streit um ein wahres Freiheitsverständnis, wie es von Paulus, Augustinus und Luther in verschiedenen Kontexten durchgefochten wurde, endete immer neu in einem Fiasko. Was war der Grund für diese Entwicklung? Zum einen sind die kirchlichen Institutionen mit ihren Techniken der Bevormundung über die Maßen erstarkt. Zum andern konnte die Theologie gegen diese autoritäre Entwicklung innerkirchlicher Gehorsamsstrukturen keinen angemessenen Widerstand leisten. Denn seit dem vierten Jahrhundert ordnete sie ihr Menschenbild und Freiheitsverständnis einem metaphysischen System unter, das für Zeit und Geschichte, also auch für die Freiheit, keinen unverstellten Blick mehr hatte. Die traditionelle Theologie ist von einem metaphysiktauglichen, aber von keinem freiheitfähigen Freiheitsbegriff bestimmt. Eine Neuorientierung ist deshalb unverzichtbar. Ich schlage vor, ein freiheitfähiges Freiheitsverständnis aus Grunddaten der menschlichen Selbstund Wirklichkeitserfahrung zu entwickeln. Dabei nehme ich die Freiheitsanalysen Kierkegaards zum Ausgangspunkt.27 Ich fasse meinen Ansatzpunkt in sechs Thesen zusammen. 27 Kierkegaard, Søren, Der Begriff Angst, in: Gesammelte Werke 11/12, Gütersloh 31991, Kap. 1, §5, §6; Zur Interpretation: Grøn, Arne, Angst bei Søren Kierkegaard. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart 1999; Zhang, Daqian, Angst als Gefühl bei Kierkegaard, in: H. Feger/ T. Kwan (Hg.): Idealismus und Idealismuskritik. Subjekt, Person und Zeit, Würzburg 2009.

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These 1: Freiheitserfahrung entsteht durch Freiheitsbedrohung. Menschliche Freiheitserfahrung kommt nicht aus dem Nichts, als sei den Menschen ihre Freiheit von Geburt aus mitgegeben. Sie entsteht, wie Søren Kierkegaard es nennt, aus einer „träumenden Unschuld“, also einer noch unbewusst gewussten Selbstverständlichkeit, aus einer noch unbefragten Identität mit sich selbst, die nur unter Vorbehalt als frei zu umschreiben ist. Aber – und darin liegen Chance und Gefahr – sie wird schon früh durch Frustrationen, Bedrohungen und einer daraus folgenden Angst erschüttert.28 Es ist notwendigerweise der Augenblick, an dem Mitmenschen und die uns umgebende Wirklichkeit zum ersten Mal ins Spiel kommen. Deshalb geht eine konkrete Erfahrung von Unfreiheit und Freiheit dem Begreifen der Freiheit als einem Bedürfnis und Ziel immer schon voraus. Sobald ich den ersten Schock meiner Bedrohung erfahre, wird mir mein Recht auf Existenz und auf Identität ebenso klar wie deren Abhängigkeit von anderem und anderen, die sie mir gewähren sollten. In mein Bewusstsein treten sowohl die Angst, meine Freiheit wahrzunehmen, als auch die Verantwortung für diese – ins Nichts und zugleich ins All hineinragende – Potenz. Freiheit ist von Anfang an mit einer ethischen Komponente gekoppelt. Sobald ich zu mir komme, geht es zugleich um das Glück, dass ich mir in aller Bedrohung selbst gegeben, aber auch um den Schmerz, dass ich mir entzogen bin. Man kann – mit Augustinus – auch von einer vorhergehenden Gnade sprechen, für die es keinerlei Begründung gibt, zugleich von einer Aufgabe, die sich mir ungefragt stellt. These 2: Freiheit ist ein Beziehungs-, Prozess- und Streitbegriff. Solange ich in stabilen Verhältnissen lebe, kann ich Freiheit als tragfähige Qualität erfahren und eine Wesensphilosophie kann mir gute Kategorien für deren Analyse und Veranschaulichung gewähren. Als Trägerinnen dieser Qualität fungieren etwa Geist, Seele, Atman im Sinne der Überlegenheit über naturale Zwänge. Aber wesensphilosophische Analysen verdrängen genau das, was die Freiheit menschlich so spannend und für eine religiöse Rede unverzichtbar macht. Ich meine den Umgang mit den Grenzen und dem Bedrohtsein meiner großen Erwartung, die Freiheit heißt. Diese Grenzen sind ja in ständiger Bewegung, nie vorhersehbar oder kalkulierbar und in allen Dimensionen zu Hause, in denen sich das menschliche Leben abspielt. Freiheit 28 Vgl. Sçlle, Dorothee, Angst und Glauben, Kierkegaardiana 13, 1984, 7–10; Bçsch, Michael, Soren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit, Paderborn 1994, bes. II.3.: Geist, Freiheit, Angst. Die Psychologie der Selbstkonstitution, 47–106; Pauly, Stephan, Subjekt und Selbstwerdung. Das Subjektdenken Romano Guardinis, seine Rückbezüge auf Søren Kierkegaard und seine Einlösbarkeit in der Postmoderne, Stuttgart 2000; Biser, Eugen, Überwindung der Lebensangst. Wege zu einem befreienden Gottesbild, München 1996; ders. und Heinzmann, Spiritualität, insbes. die Paragraphen: Der Tor, Die Angst, Das Böse, Die Todüberwindung, Die Angstüberwindung, 43–65; Stubenrauch, Bertram, Besiegt der Glaube die Angst?, Katechetische Blätter, 51, 2008, 207–213; Splett, Jçrg, Der Christ und seine Angst erwogen mit Hans Urs von Balthasar, in: P. Reisenberg (Hg.) Gott für die Welt, Mainz 2015, 315–331.

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lebt aus und in den vielfältigen Schichten, zumal in den Widersprüchen der Wirklichkeit, die sich nie auf eine Formel reduzieren lässt: Leib und Geist, blinde Kausalität und Verstehen, Innerlichkeit und Expression, geschichtliche Verfügtheit und Erwartung der Zukunft, unbedingte Gegenwart und „Sein zum Tode“, Verharren in unfreier Geborgenheit oder Durchbruch zu einer Befreiung, von der nie auszumachen ist, inwiefern sie mir geschenkt ist oder meiner eigenen Leistung entspringt. Vermutlich ist die Reduktion der Freiheitsanalysen auf ein Wesens- und Substanzdenken (verbunden mit dem Ehrgeiz einer rational begrifflichen Uniformierung) der Grund dafür, dass die Theologie die beiden Größen der Freiheit als einer grundlegenden menschlichen Qualität und der Entscheidungsfreiheit des Willens (libertas und liberum arbitrium) nie in ein ausgeglichenes, einander korrespondierendes Verhältnis brachte. Der Freiheit kommt immer ein singulärer Geschehenscharakter zu. Im Vergleich mit dem griechischen Denken weist Richard Heinzmann darauf hin, welch hoher Rang im jüdisch-christlichen Raum der Menschenwürde zukommt. Der Mensch wird „vom Exemplar zum Subjekt“, dem es zusteht, frei, also nach eigenem Willen zu handeln. Person und Subjektivität erhalten höchsten Rang und einen singulären Existenzmodus. Der Dialog wird zum Modus der Kommunikation, der jede prinzipielle Über- und Unterordnung ausschließt.29 Um dieses personalen Menschenbildes willen muss deutlich sein: eine wesenhafte Freiheit an sich gibt es eben so wenig wie eine absolute Freiheit, von der transzendentaltheologische Ableitungen auszugehen scheinen.30 Die Frage, ob der Mensch nun frei oder unfrei ist, scheint mir deshalb unterdeterminiert und totalitär zu sein. Denn sie blendet die Paradoxien, Grenzerfahrungen und notwendigen Grenzbedingungen ab, die wesentlich zur Freiheit gehören. Freiheitserfahrungen sind nie als solche, sozusagen natural vorgegeben. Vielmehr sind sie immer geschichtlich, beinhalten immer schon eine menschliche Antwort, greifen über die faktische Wirklichkeit hinaus. Deshalb haben sie immer einen bedeutsamen, notwendig umstrittenen Streitwert, Gott vielleicht als letzte Hoffnungsperspektive, nie aber als ontischen, gar als ontologischen Grund. Er ist performativ zur Geltung zu bringen und über ihn ist zu streiten. 29 Vgl. Heinzmann, Richard, Der Mensch als Person – Zum Verständnis des Menschen aus jüdisch-christlichem Ursprung, in: R. Heinzmann/M. SelÅuk/F. Körner (Hg.), Menschenwürde. Grundlagen in Christentum und Islam, Stuttgart 2007, 45–55, zit. 55; siehe ferner: ders., Ansätze und Elemente moderner Subjektivität bei Thomas von Aquin, in: R. L. Fetz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität I, Berlin 1998, 414–433; ders., Eugen Biser und die Zukunft der Theologie, in: ders./M. Thurner (Hg.), Die Mitte des Christentums. Einführung in die Theologie Eugen Bisers, Darmstadt 2011, 147–158, insbes. 148–151. 30 Vgl. Rahner, Karl, Theologie der Freiheit, in: ders., Schriften zur Theologie 6, Einsiedeln 1965, 215–237; ders., Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i.Br. 81977, 97–121: Der Mensch als das Wesen der radikalen Schuldbedrohtheit; Mçllenbeck, Thomas, Endliche Freiheit, unendlich zu sein. Zum metaphysischen Anknüpfungspunkt der Theologie mit Rahner, von Balthasar und Duns Scotus, Paderborn 2012.

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Wenn dies versäumt wird, sinkt der Freiheitsdiskurs in abstrakte Formalismen ab, wie es in der Wirkungsgeschichte von Paulus, Augustinus oder Luther geschah. Eine religiöse oder christliche Freiheitsrede kann sich das heute nicht mehr leisten, weil sie ihre Bedeutung neu durchsetzen und erhärten muss. Täglich ist sie in der Begegnung zwischen Personen, in Gesellschaft und Politik, mehr denn je im interreligiösen Umgang dazu herausgefordert und messbar. These 3: Der Begriff der Freiheit erhält nur aus seinen Kontexten Sinn; er ist ein wesentlich kontextueller Begriff. Der Begriff der Kontextualität begann in den 1960er Jahren seinen theologischen Siegeszug als Kampfbegriff gegen die Diktatur eines allgegenwärtigen, westlichen und metaphysischen Interpretationsrahmens.31 Es war ein Rahmen, der seinen eigenen Kontext ignorierte und deshalb keinen anderen zuließ. Daraus ergaben sich drei für die Freiheitsfrage im soeben umrissenen Sinn schädliche Tendenzen. Ich nenne eine autoritäre Tendenz, die Freiheitsräume auf den einen Kontext verengt (selbst den biblischen nicht mehr ernst nimmt), eine individualistische Tendenz, weil der religiöse Freiheitsdiskurs weitgehend auf die innere Freiheit des Individuums vor Gott und Menschen verengt wird, schließlich eine a-theistische Tendenz, weil sie uns die Möglichkeit nahm, Gott als humanisierenden Zukunftsimpuls ins öffentliche Spiel einer selbstbewussten Gesellschaft zu bringen. Wenn nämlich „Gott“ nicht mehr als erweiternder und zukunftsfähiger Kontrapunkt oder Widerlager aller Wirklichkeitsaussagen fungiert, wird der religiöse Diskurs kalt, leidenschaftslos und damit unerheblich. Nach Meinung vieler ist der traditionell christliche Freiheitsdiskurs an einer Egozentrik gescheitert, die sich als Gottesglaube maskierte. Diese Behauptung ist schwerlich zu widerlegen. These 4: Der aktuelle Freiheitsdiskurs muss den Pluralismus aktueller Anthropologien spiegeln. Zu nennen ist auch der Preis, den eine konsequente und angemessene Einordnung der Freiheitsfrage in den aktuellen anthropologischen Diskurs erfordert. Wie alle Wirklichkeit, so lässt sich auch unsere konkret vollzogene Freiheit nur noch plural (z. B. soziologisch, psychologisch und psychiatrisch, medizinisch, naturwissenschaftlich-neurologisch, aber auch historisch und ethisch, als erfahrbares und als beschreibbares Ereignis) erfassen. Philosophie und Theologie haben dieser Pluralität aus je ihrer Perspektive Folge zu leisten, die Ergebnisse anderer Wissenschaften also nicht zu korrigieren, sondern zu interpretieren.32 Zweifellos ist die Leitperspektive der Theologie der Konflikt 31 Vgl. Schreij-ck, Thomas/Wenzel, Knut (Hg.), Kontextualität und Universalität. Die Vielfalt der Glaubenskontexte und der Universalitätsanspruch des Evangeliums, Stuttgart 2012; Kern, Bruno, Theologie der Befreiung, Tübingen/Basel 2013. 32 Lehrreich ist das Themenheft Ökumenische Rundschau 62, 2013: Wie gebunden ist die Freiheit?

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zwischen erfahrener Freiheit und erfahrener Unfreiheit. Es ist ein Konflikt, dessen Auslegung die Pluralität der wissenschaftlichen Ergebnisse zu respektieren und gegebenenfalls weiterzuführen hat. In dem Maße allerdings, in dem wir einem bestimmten Zugang den Vorzug vor anderen einräumen, handeln wir reduktionistisch. Streng genommen können wir – zumal im wissenschaftlichen Diskurs – nur noch von Freiheiten und Unfreiheiten, bestenfalls von gestuften Schichten der Freiheit reden. Allerdings hat die Theologie den Versuch zu wagen, in ihnen allen die Brücke zu erfahrbaren Erfahrungen von personaler und kommunitarischer Identität bzw. Bedrohung zu thematisieren. So wird auch die religiöse Freiheitsrede plural, damit bunt, wirklichkeitsnah und vielleicht wirklichkeitsverändernd. Dabei sollten wir uns bei jeder Freiheitsdebatte darüber verständigen, über welche Art von Freiheit wir reden und wie wir Freiheit herstellen, gewähren oder stärken können. Nur eine Religion, die als unbestechliche Anwältin solcher Freiheitsansätze auftritt, sich mit deren Problemen auseinandersetzt und ihr eigenes Scheitern in den Diskurs eingebzieht, stellt ihr Existenzrecht unter Beweis. Wer von Freiheit spricht, muss sagen, welche Freiheit gemeint und wie er selbst von ihr betroffen ist. These 5: Freiheit ist sach- und konfliktbezogen. Deshalb ist das selbstverliebte Pathos der unbedingten oder absoluten Freiheit deren tödlicher Feind. Angesichts der bisherigen Thesen besteht kein Zweifel darüber, dass das Ideal einer unbedingten oder absoluten Freiheit deren schärfste Bedrohung ist; sie hat ideologischen Charakter und ist ein Widerspruch in sich. Die innere Qualität von Freiheit ist so unaussprechlich und so unfassbar, wie der Grund einer jeden Erfahrung bzw. Selbsterfahrung unaussprechlich und unfassbar ist. Freiheitsereignisse können allenfalls in unaussprechlichen Augenblicken zur Vollendung kommen. Über solche Freiheitserfahrungen gibt es glaubwürdige religiöse Zeugnisse, etwa in der Mystik. Auch kann es darüber einen interreligiösen Austausch geben. Wer sie aber zu einer unbedingten Gültigkeit hochstilisiert, macht sie zunichte. Deshalb macht es auch nicht viel Sinn, Gott zur absoluten Freiheit hochzustilisieren, ohne den analogen Charakter dieser Aussage zu reflektieren. Auch die Theologie kann nicht sagen, was absolute Freiheit ist; sie kann nur darauf hoffen. Sie hat ihren unbedingten Definitions- und Gültigkeitsanspruch gegenüber einer Reich-Gottes-Hoffnung aufzugeben, deren offener Erwartungscharakter sich nicht bestreiten lässt. These 6: Freiheit kommt zustande, indem wir sie wahrnehmen, deshalb ist der Streit um gelingende Freiheit schon Freiheitstat und Freiheitserfahrung.

Mit Beiträgen von Christine Axt-Piscalar, Georg Essen, Martin Hailer, Ralf Miggelbrink, Daniel Munteanu, Bernd Oberdorfer, Hans-Joachim Sander und Uwe Swarat.

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Sind diese Ausführungen dem Ziel der Begriffs- und Sachklärung auch nur einen Schritt weitergekommen? Ein Versuch sollte sich nicht schon als Ergebnis präsentieren. Hier wurde wenigstens eine ehrliche Diagnose versucht; über die Chance einer einvernehmlichen Lösung sollte man sich keine Illusionen machen, denn die Voraussetzungen dazu sind widrig. Bis ins vergangene Jahrhundert hinein arbeitete die abendländische Tradition an einem umfassenden Konsens über Möglichkeit und Wirklichkeit, auch über die unbestreitbar hohe Würde menschlicher Freiheit. Dies geschah zu Recht, denn schließlich zeichnet Freiheit den nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen aus. Doch dieser Konsens, durch kirchliche Institutionen ohnehin konterkariert, ist schrittweise an der Frage zerbrochen, ob es so etwas wie menschliche Freiheit an sich überhaupt gibt. Beschreibende Wissenschaften häufen Zweifel über Zweifel an und die Theologie versuchte, die menschliche Freiheit unter Berufung auf Gottes Offenbarung und Handeln sicherzustellen. Bislang musste dieser Versuch aber misslingen, weil er die humanwissenschaftlichen Zweifel an diesem Phänomen eher ignorierte als aufarbeitete. Deshalb sind die Analysen von Søren Kierkegaard noch aktuell. Sie vollziehen einen Abschied von der klassischen Metaphysik und lenken ihre Aufmerksamkeit auf Ereignisse und Grenzerfahrungen. Sie besprechen nicht die Frage, ob es Freiheit und Freiheiten gibt, vielmehr handeln sie von der elementaren Erfahrung ihres unwillkürlichen Beginns und ambivalenten Erfolgs. Nehme ich – konstitutiv bezogen auf materielle und kulturelle Wirklichkeit sowie auf Gemeinschaft – die erfahrbare Möglichkeit meiner Freiheit aktiv wahr? Vollziehe ich das mir angebotene und angstmachende Ereignis oder schlage ich es aus? Halte ich der anfänglichen Schwebe zwischen Ermutigung und Beängstigung wirklich stand? Bestehe ich in diesem ursprünglich leeren, durch keinerlei Fluktuationen belebten Raum, indem ich ihn kraft meiner Identität bewege, indem wir dies gemeinsam kraft unserer Identität tun? Erinnern wir uns: Zur Debatte steht keine objektiv existierende Wirklichkeit, sondern eine verweigerte oder vollzogene Erfahrung, deren Objektivität ihre Subjektivität immer schon einschließt. Ich kann ihr in Interaktion und Kommunikation antworten oder mich ihr in lähmender Angst verweigern. Diese prinzipielle Setzung einer urpersönlichen Wirklichkeit, dieses Ich- und Ja-Sagen, dieses Vorgreifen auf eine naturgesetzlich verfügte Wirklichkeit nennen wir Freiheit. Wer frei wird, weiß nicht zeitgleich, wie ihr oder ihm geschieht. Sie kommt zustande, indem wir ihre reine Faktizität und Bedingungslosigkeit als solche er-greifen, um sie erst dann möglicherweise zu begreifen. Sie ist eine Faktizität, die den Möglichkeitsreflexionen nicht folgt, sondern vorangeht. Deshalb gilt, dass Freiheit von Einzelnen und von Gemeinschaften als performativer Akt gesetzt wird. Es geht – im eigentlichen Sinn des Wortes – um einen schöpferischen Akt. Dies ist schließlich der Grund dafür, dass der Freiheitsdiskurs in einer Gesellschaft erodiert, in der gesetzte Freiheit nicht

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mehr zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wird, in der selbst die religiösen Leitinstitutionen nicht mehr unbestrittene Sachwalter schöpferischer und unableitbarer Freiheit sind. Das Christentum hat eine Chance, sich neu durchzusetzen, wenn es im Sinne jesuanischer Erinnerung die Chance dieser Freiheit wahrnimmt. Nachwort zu den Thesen: Jahrhunderte lang lag die Tragik des christlichen Glaubens darin, dass sie die urbiblische Leidenschaft für eine in Gerechtigkeit versöhnte Menschheit verdrängt hat. Die beschriebenen Aporien kann nur auflösen, wer alle Freiheitsdiskussionen wieder an diesem prophetischen Maßstab ausrichtet. Im Sommer 2015 veröffentlichte Ethel E. Behrendt eine aufsehenerregende Monographie, die diese Fehlentwicklung scharf analysiert und rügt33. Ihre These lautet: Seit der paulinischen Auseinandersetzung mit der Rechtfertigungsfrage hat sich der Blick vom urbiblischen Menschheitsziel der Gerechtigkeit auf die Sonderfrage einer persönlichen Sündenfreiheit vor Gott verengt und sich immer mehr in diese Verengung verstrickt. Dadurch entstand ein orientierungsloser Freiheitsdiskurs, der immer neu an seinen eigenen Voraussetzungen scheiterte und die Gottesfrage selbst in Misskredit brachte. Kirchen und Theologie agierten wie die Piloten eines Flugzeugs, die über dem Nordpol alle Orientierung verlieren, weil sie vergessen, dass dieser Pol kein selbstreferentiell statisches Ziel, sondern der dynamische Knotenpunkt magnetischer Kraftfelder ist. Deshalb ist zu fragen, ob die Kirchen den aktuellen Glaubensverlust der westlichen Kultur nicht selbst verursacht haben. Es ist zu hoffen, dass diese Intervention zu neuen, real befreienden Diskursen führt.

3. Schluss: „Steht also fest!“ Ich komme auf Paulus zurück. Es ist ausgerechnet ein säkularer, sich Maoist nennender Philosoph, der dieses ursprünglich und kreativ gesetzte Freiheitsereignis vor wenigen Jahren an Paulus demonstriert hat.34 Er interpretiert die Auferstehungserfahrung des Paulus gerade nicht in der hegelianischen Dialektik, gemäß der die Auferstehung zum trotzigen Tod des Todes wird, also in der Fixierung auf Negativität gefangen bleibt. Er interpretiert die paulinische Freiheitserfahrung vielmehr als reines Ja, als reine Begegnung, als universal gültige Freiheitstat: „Ich behaupte, dass die paulinische Position antidialektisch und der Tod 33 Behrendt, Ethel E., Die Gnade Gottes. Wie die Kirchen sie entwertet und GOTT unkenntlich gemacht haben. Zur Vertreibung der Gerechtigkeit aus dem Glauben der Christen, München 2015. 34 Badiou, Alain, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002.

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darin in keiner Weise das notwendige Exerzitium der immanenten Macht des Negativen ist. Die Gnade ist dann kein ,Moment‘ des Absoluten mehr. Sie ist Bejahung ohne vorherige Negation, ist das, was in der Zäsur des Gesetzes auf uns zukommt, ist reine und einfache Begegnung.“35 Richard Heinzmann hat uns in einer Hinführung zu Eugen Biser erklärt: „Das Grunddatum seiner Theologie, der ,Protokollsatz‘ wie Eugen Biser zu sagen pflegt, ist die Auferstehung Jesu von den Toten.“36 Joachim Reger spricht von „Eugen Bisers mystische[r] Grunderfahrung“, kraft der Christus nicht nur inhaltliche Mitte des Christentums ist, sondern „Kraftquelle, energetischer Ursprung“.37 Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, den Text von Badiou wie diese Hinführung zu Eugen Biser auf unseren Freiheitsdiskurs anzuwenden. Es geht, wie Heinzmann über Biser sagt, um Einmaligkeit, Personalität, Subjektivität und Freiheit38. Wenn Freiheit das kreative Urdatum eines in Gemeinschaft, Kultur und Welt eingebetteten Menschseins ist, dann hat Paulus dieses Urdatum in programmatischer und in erstaunlich zeitgemäßer Weise formuliert. Seine Bekehrung lässt sich als universal gültige Freiheitstat verstehen. Ich kann Ähnliches in den Ansätzen von Augustinus und Martin Luther entdecken, obwohl Ersterer noch massiv auf seine Vorgeschichte, Luther noch stark auf eine mittelalterliche Asketik bezogen bleibt. Augustinus und Martin Luther haben in den Folgejahren die Frage nach der Freiheit nie aufgegeben, sondern immer neu besprochen. Dies gilt auch für Paulus. Später wird er im Augenblick höchster Anspannung, da er seine Botschaft von innen her bedroht sieht, zu jenem elementaren Appell Zuflucht nehmen, der uns bis heute überliefert ist. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Der grundsätzliche Charakter dieses Aufrufs überschreitet, wie eingangs gesagt, die Kritik der jüdischen Thora bei weitem, deshalb bleibt er dem Judentum als dem erwählten Volk auch später verbunden. Es geht ihm um die Frage, ob die Anhänger der Jesusbewegung, die man bald Christen nennen wird, ob diese Menschen also bereit und fähig sind, diejenige Freiheit aufzunehmen und erneut auf sie zu setzen, die ihnen in der Botschaft Jesu begegnet. Vor einigen Jahren hat Rüdiger Safranski das westliche Christentum als eine kalte, leidenschafts- und deshalb wirkungslose Religion charakterisiert. Ich versuchte, ihm damals mit dem Argument zu widersprechen, er habe den prophetischen Urimpuls des Christentums übersehen. Dennoch fürchte ich, dass seine Diagnose als empirische Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Christentums zutrifft. Wir brauchen in einer ob ihrer Möglichkeiten höchst 35 Ebd., 124. 36 Biser/Heinzmann, Spiritualität, 143. 37 Reger, Joachim, Gestalterische Kraft aus der Mitte. Gedanken zu Eugen Bisers theologischer Vision, in: R. Heinzmann/M. Thurner (Hg.), Die Mitte des Christentums. Einführung in die Theologie Eugen Bisers, Darmstadt 2011, 9–17, zit. 12 f. 38 Biser/Heinzmann, Spiritualität, 142.

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verunsicherten Gegenwart endlich Gemeinschaften, die nur das eine wagen: Ihre Freiheit wieder selbst- und gemeinschaftsbewusst in die Hand zu nehmen. Erst wenn die christlichen Kirchen unseres Kulturraums erneut als Pioniere einer humanen Freiheitspraxis auftreten, kann auch ihre Theologie in neuer Weise glaubwürdig über Freiheit sprechen. Sie kann wieder klar machen, was mit Gottes Schöpferkraft gemeint ist: „Siehe, ich mache alles neu!“ Dieses kreative und unbedingt Neue, diese Geschehenskraft und diese Überwindung aller tödlichen Statik hat uns Richard Heinzmann, der brillante Kenner der antiken und der mittelalterlichen Philosophie im Blick auf die jüdisch-christliche Tradition immer wieder deutlich gemacht. Dafür und für seinen Einsatz für ein erneuertes theologisches Denken schulden wir ihm tief empfundenen Dank.

Abkürzungen

Monographiereihen, Lexika, Zeitschriften, etc. bT CCL DW InnsbrBeitrKulturwiss LIMC LThK LW MEW MPL RAC SalzbTheolStud TRE WUNT

babylonischer Talmud Corpus Christianorum, Series Latina Meister Eckhard, Die Deutschen Werke Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae Lexikon für Theologie und Kirche Meister Eckhard, Die Lateinischen Werke Marx-Engels-Werke Migne, Patrologia Latina Reallexikon für Antike und Christentum Salzburger Theologische Studien Theologische Realenzyklopädie Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament

Biblische Schriften Gen 2 Makk Weish Röm 1 Kor Gal

Genesis Das 2. Buch der Makkabäer Das Buch der Weisheit (=Weisheit Salomos) Römerbrief 1. Korintherbrief Galaterbrief

Autorinnen und Autoren

Antes, Peter, (geb. 1942), Dr. phil. Dr. theol., Prof. em. für Religionswissenschaft der Leibniz-Universität Hannover. Dischner, Gisela, (geb. 1939), Dr. phil, Prof. em. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Leibniz-Universität Hannover. Gloy, Karen, (geb, 1941), Dr. phil., Dr. h.c., Prof. em. für Philosophie und Geistesgeschichte an der Universität Luzern. H-ring, Hermann, (geb. 1937), Dr. theol., Prof. em. für Dogmatische Theologie sowie Wissenschaftstheorie und Theologie an der Radboud-Universität (zuvor : Katholische Universität) Nijmegen, Niederlande. Homolka, Walter, (geb. 1964), PhD, DHL, Rabbiner, Honorprofessor an der „School of Jewish Theology“ der Universität Potsdam; Rektor des Abraham Geiger Kollegs, Chairman der Leo Baeck Foundation. Kirchhof, Paul, (geb. 1943), Dr. iur., Dr. h.c. mult., Seniorprofessor distinctus der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Bundesverfassungsrichter a.D. Marckmann, Georg, (geb. 1966), Dr. med., MPH, Prof. für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nida-Remelin, Julian, (geb. 1954), Dr. phil., Dr. h.c., Prof. für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Kulturstaatsminister a.D. Singer, Wolf, (geb. 1943), Dr. med., Dr. h.c. mult.; Prof. em. Max Planck Institute for Brain Research; Ernst Strüngmann Institute for Neuroscience in Cooperation with Max Planck Society. Speyer, Wolfgang, (geb. 1933), Dr. phil., Prof. em. für Klassische Philologie der Universität Salzburg.

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Autorinnen und Autoren

Thurner, Martin, (geb. 1970), Dr. theol., Prof. für Christliche Philosophie am Martin-Grabmann-Forschungsinstitut der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Waigel, Theodor, (geb. 1939), Dr. jur., Bundesminister a.D. Witte, Karl Heinz, (geb. 1936), Dr. phil., Forscher und Psychoanalytiker.

Eugen-Biser-Stiftung

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„Wir leben in einer Stunde des Dialogs und überleben nur, wenn die wachsenden Konfrontationen durch eine Kultur der Verständigung überwunden werden können.“ Eugen Biser

Die im Jahre 2002 gegründete, unabhängige, gemeinnützige Eugen-BiserStiftung (www.eugen-biser-stiftung.de) richtet ihren Blick aus christlichem Welt- und Werteverständnis auf alle Bereiche menschlicher Existenz mit dem Ziel des Dialogs für die künftige Entwicklung des Christentums und für die Verständigung mit anderen Weltreligionen, Weltanschauungen und Kulturen. Die Stiftung widmet sich dementsprechend zwei Aufgabengebieten: a) der „Zukunft des Christentums“ in theologischer und in gesellschaftlicher Hinsicht sowie b) dem „Dialog aus christlichem Ursprung“ mit den anderen Weltreligionen, Weltanschauungen und Kulturen. Zu a) Eugen Bisers „Theologie der Zukunft“ gibt dem unsere Kultur prägenden christlichen Glauben eine Deutung, die ihn als Impuls für die Bewältigung der Probleme der Gegenwart neu wirksam machen kann. Die hohe Sensibilität Eugen Bisers für die aktuellen Probleme von Kirche und Welt macht ihn zu einem in die Zukunft weisenden und im besten Sinne modernen Denker, dessen visionäre und innovative Kraft weit über den christlichen Raum hinausreicht und dadurch für Mensch und Gesellschaft grundsätzliche Bedeutung gewinnt. Deshalb widmet sich die Eugen-Biser-Stiftung der Bewahrung, Erschließung, Fortführung und Verbreitung seines theologischen und philosophischen Werkes, das in der Bibliographie zu seinem Werk (www.bibliogra phie.eugen-biser-stiftung.de) erfasst ist. Die Stiftung setzt sich wie ihr Namensgeber für die Zukunft des Christentums ein; sie vermittelt die Grundwerte des Christentums und gibt Impulse in Veranstaltungsreihen, Tagungen, Symposien, Fernsehsendungen, Einzelveranstaltungen, sowie in einem breiten Angebot an Publikationen.

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Eugen-Biser-Stiftung

Zu b) Im interreligiösen und interkulturellen Dialog, den die Eugen-BiserStiftung „aus christlichem Ursprung“ führt, befasst sie sich wegen der großen gesellschaftlichen Bedeutung gegenwärtig vor allem mit der Verständigung zwischen Christen und Muslimen. Ihre derzeit vorrangigen Projekte sind die Verbreitung des vorliegenden „Lexikons des Dialogs – Grundbegriffe aus Christentum und Islam“ und „Handbuchs Christentum und Islam in Deutschland – Grundlagen, Erfahrunge und Perspektiven des Zusammenlebens“ sowie die Durchführung wissenschaftlicher Symposien, Expertentagungen, christlich-islamischer Summer Schools und Veröffentlichungen zu gesellschafts- und religionspolitischen christlich-islamischen Grundsatzfragen. Zur Finanzierung ihrer Projekte ist die Stiftung, deren Kapitalstock sich noch im Aufbau befindet, auf Spenden und Fördermittel angewiesen. Die ehrenamtlichen Vorsitzenden des Stiftungsrates, des Vorstandes und des Kuratoriums der Eugen-Biser-Stiftung sind: Prof. Dr. Martin Thurner, Marianne Köster und Dr. Günther Beckstein, MdL. Zu den Trägern des Eugen-Biser-Preises gehören Prof. Dr. theol. Dr. theol. H.c. Ferdinand Hahn, S.E. Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, H.R.H. Prince Ghazi bin Muhammad bin Talal, Haschemitisches Königreich von Jordanien, Dr. Mustafa Ceric´, ehemaliger Großmufti von Bosnien und Herzegowina, Shaykh Habib Ali Zain al-Abideen al-Jifri, Vereinigte Arabische Emirate, und Prof. Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages. Eugen-Biser-Stiftung, Pappenheimstraße 4, 80335 München Tel. 089-18006811, Fax: 089-18006816 [email protected], www.eugen-biser-stiftung.de