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German Pages [372] Year 2010
Frauenliebe – Männerleben
MUSIK – KULTUR – GENDER Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr, Dorle Dracklé, Dagmar von Hoff, und Susanne Rode-Breymann
Band 8
Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare Musik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik – Kultur – Gender ist ein Forum für interdisziplinäre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissen schaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kultu rellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.
Frauenliebe – Männerleben Die Musik von Johannes Brahms und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert von Marion Gerards
Mit einem Vorwort von Freia Hoffmann
2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Mariann Steegmann Foundation, Zürich.
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation Die Musik von Johannes Brahms im Kontext des Geschlechterdiskurses ihrer Entstehungszeit, die im Dezember 2008 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommen wurde.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Max Klinger, Brahmsdenkmal, 1909.© akg-images, Berlin. Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Entwurfs von Thomas Jung © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-412-20496-9
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
2 2.1 2.2 2.3
Theoretische Grundlagen – Fragestellungen – Methoden . . 8 Geschlechterforschung und Musikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.3.1 3.2.3.2 3.2.3.3 3.2.3.4 3.2.4
Soziokultureller und biographischer Kontext . . . . . . . . . . . Geschlechterkonzepte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . Annäherung an die Geschlechterkonzepte von Johannes Brahms . . . Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte von Liebe und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur männlichen Identität von Johannes Brahms . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaglicht 1: Brahms-Porträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaglicht 2: Frauen – Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaglicht 3: Der Junggeselle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlaglicht 4: Frauen in der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik von Johannes Brahms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Sinnliche und treue Liebe in den Klavierliedern . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Wer spricht? Gedanken zu einer genderorientierten Liedanalyse . . . 84 Zum Liedschaffen von Johannes Brahms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Magelonen-Romanzen op. 33 und ausgewählte Klavierlieder . . . . . 94 Männerliebe und -leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Männliche Liebesverwirrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Körperlich-sinnliche Aspekte der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Liebesklage der treuen Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Weibliche und männliche Verführungskünste . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Hymne auf die treue Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Mütterlichkeit und Trost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Der 5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45 . . . . . . . . . . . . . . . 145 Das Wiegenlied op. 49/4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.3.1 4.1.3.2 4.1.3.3 4.1.3.4 4.1.3.5 4.1.3.6 4.2 4.2.1 4.2.2
28 28 40 44 53 62 63 66 72 74 76
VI
4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 5 5.1
Inhalt
Gefährdung und Sicherung der männlichen Identität in der Rinaldo-Kantate op. 50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Libretto und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikalische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männerleben – Frauenliebe – Mütterlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166 166 174 191
Instrumentalmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annäherung an die musikästhetische Position von Johannes Brahms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brahms und das Poetische in der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zur Nicht-Existenz von Clara-Chiffren in der Musik von Brahms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Clara-Schumann-Porträt im Adagio des Klavierkonzertes d-Moll op. 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Biographischer Kontext der Entstehungszeit . . . . . . . . . . . Analyse und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200
248 253 254 268 272 275
6.3
Rezeption und Musikschrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Briefwechsel: Private Diskurse über Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joseph Joachim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodor Billroth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clara Schumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth von Herzogenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikkritiken, Konzertführer und Biographien: Öffentliche Diskurse über Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik- und Konzertkritik: Hanslick und Kollegen . . . . . . . . . . . . . Biographien und Konzertführer: Kretzschmar, Kalbeck und KollegInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik – Narrativität – Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
8 8.1 8.2
Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
5.1.1 5.1.2 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.2 6.2.1 6.2.2
201 204 215 219 224 225 229
280 282 297 319
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
Vorwort Musik „ist als eine menschliche Ausdrucks- und Kommunikationsform immer in Diskurse, in Themen- und Gedankenkreise eingebettet und bringt die symbolische Ordnung der lebensweltlichen Erfahrungen einer Gesellschaft zum Ausdruck. Der Geschlechterdiskurs ist einer dieser Themenkreise, in die musikalische Produktion, Reproduktion und Rezeption eingebettet sind; die Geschlechterthematik ist demnach eine dieser Facetten, die in die Musik mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger bewusst einfließt oder eingearbeitet ist“. Diese grundsätzlichen Feststellungen der Verfasserin sind – so einleuchtend oder selbstverständlich sie im interdisziplinären Diskurs der Kulturwissenschaften sein mögen – in der deutschsprachigen historischen Musikwissenschaft keineswegs selbstverständlich. Wer sich dem Schaffen eines Meisters wie Brahms wissenschaftlich nähert, verfolgt meist mit Werkanalysen die Erforschung struktureller Gegebenheiten. Kulturgeschichtliche Perspektiven halten noch selten Einzug in das vorherrschende Konzept der Kompositionsgeschichte, fast so, als wolle man in traditioneller Weise die ‚überzeitliche‘ Gültigkeit der Komposition abschotten gegen die ‚zeitgebundenen‘ Begleitumstände ihrer Entstehung und Rezeption. Diese Arbeit beleuchtet Brahms und sein kompositorisches Werk also in neuer Weise. Seine Musik sei nicht nur vom zeitgeschichtlichen Kontext beeinflusst, sondern wirke, so die These von Marion Gerards, zurück auf die Entwicklung und Etablierung bürgerlicher Vorstellungen, besonders auch der Geschlechterverhältnisse. Durch eine Vielzahl von biographischen Informationen, analytischen Beobachtungen und Texten zur zeitgenössischen Rezeption zeichnet sie ein neues Bild, das der verbreiteten Vorstellung widerspricht, Brahms’ Musik sei geprägt von der hanslickschen Formel der „tönend bewegten Form“. Viele namhafte ZeitgenossInnen wie Joseph Joachim, Theodor Billroth, Clara Schumann, Elisabeth von Herzogenberg und auch Brahms selbst haben seine Musik mit Hilfe außermusikalischer Bilder beschrieben. Nicht zuletzt verdeutlichten sie ihre Eindrücke mit Metaphern vom kühnen, zielstrebigen, leidenschaftlichen, heroischen, faustischen Mann und von der reinen, keuschen, gefühlvollen, graziösen Frau. Durch die Rückbeziehung auf die besprochenen Werke und eigene Analysen ausgewählter Kompositionen legt Marion Gerards auch einen methodisch sorgfältig durchgeführten Versuch vor, musikalische Strukturen mit Gender-Konnotationen zu verbinden, wohlgemerkt aus der Perspektive der ZeitgenossInnen.
VIII
Vorwort
Ich wünsche diesem Buch, dass es nicht nur die Diskussionen in Fachkreisen belebt, sondern darüber hinaus Leser und Leserinnen findet, die offen sind für eine neue Sicht auf Biographie und Werk von Johannes Brahms. Sie wird den ästhetischen Genuss seiner Musik sicher nicht beeinträchtigen, wohl aber das Verständnis der Kompositionen vertiefen. Bremen, im Oktober 2009
Freia Hoffmann
1
Einleitung
Von Musen umschlungen und von einem kräftigen Titanen gestützt, so hebt Max Klinger 1909 den Komponisten Johannes Brahms auf den Sockel seines Denkmals, dessen Hauptansicht das Cover ziert. Nachdem Klinger bereits 1894 mit der Brahmsphantasie einen graphischen Zyklus aus 41 Kupferstichen, Radierungen und Lithographien zu Liedkompositionen von Brahms1 geschaffen und darin seine Bewunderung zum Ausdruck gebracht hatte, beschäftigte er sich schon 1898, ein Jahr nach Brahms’ Tod, mit dem Gedanken, eine große Brahms-Plastik zu schaffen. Auf einem niedrigen, glatt gehaltenen Portament erhebt sich Brahms als Standfigur. Prächtig umwallen das volle Haar und der Bart das achtungsgebietende [...] Antlitz des Komponisten. Ein weites Gewand, einer Toga ähnlich, umhüllt den ganzen Körper und läßt das Denkmal stelenartig wirken. [...] Vom skizzierten ersten Entwurf ist die an das Haupt gelegte rechte Hand beibehalten wie auch die den Künstler umfassende, in tiefem Ernst dargestellte Muse, die nun allerdings ihre linke Hand sanft auf die Schulter des Meisters legt, mit den Fingern ihrer rechten in seine Hand greift und sich mit ihrem ganzen Körper an ihn schmiegt [...]. Zur Rechten der Hauptgestalt sind weitere Figuren angeordnet, die in verschiedenen Gemütsbewegungen Andacht und Verehrung zum Ausdruck bringen. [...] In der Hauptansicht schließt nach unten ein als Fragment gestalteter männlicher Rückenakt das Denkmal ab. Mit seinem linken Arm umgreift er die Gruppe, während durch den Kopf in Haltung und Ausdruck gleichsam ein demütiges Hineinlauschen in die Musik erlebbar wird. Neben dieser Gestalt richtet eine weibliche Halbfigur ihren Kopf andächtig nach oben [...]. Die Gestalt der darüber angeordneten Frau träumt mit offenen Augen und steigert das sie überwältigende Glücksgefühl durch das Verschränken ihrer Hände.2
Der togaartige Überwurf verhüllt den Körper des Komponisten und lässt nur das Haupt und die Hände hervortreten. Dadurch wird die geistige Kraft der musikschöpferischen Tätigkeit von Brahms als Komponist, Pianist und Dirigent betont. Im Gegensatz dazu präsentieren sich die drei Musen und auch die männliche Gestalt – vielleicht Apollo, der Gott der Musik und Führer der Musen, – in einer kraftvoll-sinnlichen Körperlichkeit. Erst durch die flankierenden mythologischen Figuren gewinnt das Denkmal seine besondere Dynamik und Aussage: Die Musik von Brahms sei von den ihn umschlingenden weiblichen Musen, den Göttinnen der schönen Künste, inspiriert und basiere auf der stützend männlichen Kraft Apollos. Damit verweist Klinger in seiner künstlerischen Auseinandersetzung auf weibliche Inspiration und Verehrung sowie auf männliche Kraft als die konstituierenden
1 2
Vgl. Mayer-Pasinski: Klingers Brahmsphantasie; Jensen: Brahms-Phantasien; Brachmann: Brahms – Klinger. Winkler: Klinger, S. 212f.
2
Einleitung
Elemente der brahmsschen Kunst. Indem er das Künstlergenie heroisierend überhöht und ihm verehrende, als Inspirationsquelle dienende Frauenfiguren zur Seite stellt, greift er – wie viele seiner Künstlerkollegen – auf Topoi des Geschlechterdiskurses seiner Zeit zurück. Sein Brahms-Denkmal wirft ebenso wie seine Brahmsphantasie die grundsätzliche Frage nach „den Bedingungen und Bedingtheiten von Kunst, nach ihrem Konnex etwa zur Naturauffassung, Geschichtsphilosophie, zu Heroenkult, Geschlechterstereotypen, Religion und dem Wechselbezug von künstlerischer Autonomie und praktischen Lebensformen“3 auf. Die Frage nach dem Konnex von Kunst und Musik zur „Ordnung der Geschlechter“4 steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit und wird anhand der Musik von Johannes Brahms und ihrer Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erörtert. Dass es sich hierbei nicht um ein Phänomen handelt, das als historisch-vergangen abgehandelt werden kann, lassen folgende zwei Beispiele aus dem musikwissenschaftlichen bzw. musikjournalistischen Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts erkennen. Der amerikanische Musikwissenschaftler Malcolm McDonald charakterisiert in seiner umfangreichen Brahms-Monographie das Doppelkonzert für Violine und Cello op. 102 von Johannes Brahms: Treated as co-equal soloists the two string instruments, so alike in construction and so different in character, inevitably suggest assertive dialogue – and male/female dialogue at that. The violin is a sometimes assertive female and the cello a sometimes pliant and dreamy male, but the fundamental polarities are built into their sonority. And what, in the Romantic universe, do male and female talk about? [...] it is hardly fanciful to characterize the Double Concerto as virtually continuous love music.5
Und der Musikkritiker Christoph Braun zitiert in seiner Besprechung einer CD, auf der das Klavierquintett f-Moll op. 34 von Johannes Brahms6 mit Arthur Rubinstein und dem Guarneri-Quartett eingespielt ist, die Meinung des Brahms-Freundes und Geigenvirtuosen Joseph Joachim zur frühen Streichquintett-Fassung des Werkes, das dieser „für ‚ein Stück von tiefster Bedeutung, voll männlicher Kraft und schwungvoller Gestaltung‘“7 hielt. Die Beispiele zeigen, dass Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit im Sinne polarer, vermeintlich ‚natürlicher‘ Geschlechtsmerkmale auf Musik übertragen werden und dass das Schreiben über Musik in begrifflichen Kategorien erfolgt, die inhaltlich auf das außermusikalische Themenfeld des Geschlechter-
3 4 5 6 7
Brachmann: Brahms – Klinger, S. 14, Hervorhebung im Original. Honegger: Ordnung der Geschlechter. McDonald: Brahms, S. 322. Das Buch erschien 1990 und erfuhr 1993 eine erste Taschenbuch-Auflage, die 2001 wieder aufgelegt wurde. Brahms. Klavierquintett f-Moll op. 34, RCA/BMG 63067-2. Braun: Brahms: Klavierquintett f-Moll op. 34, S. 38; vgl. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 324 (Brief vom 5.11.1862).
Einleitung
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diskurses zurückgreifen.8 Mit anderen Worten: Musik- und Geschlechterdiskurs scheinen miteinander verknüpft zu sein. Wie ist diese diskursive Verknüpfung zu erklären? Was ist am Klavierquintett op. 34 von Johannes Brahms „männlich“, wie Joseph Joachim 1862 festgestellt hat und worauf noch 140 Jahre später zur Erläuterung zurückgegriffen werden kann? Welche fundamentalen Geschlechterpolaritäten spiegeln Violine und Cello im Doppelkonzert op. 102 wider, für welche männlichen und weiblichen Eigenschaften stehen der jeweilige instrumentale Klang und die musikalischen Strukturen? Wie sind diese Beschreibungen mit dem Topos der so genannten absoluten Musik zu vereinbaren? Sind Musik- und Geschlechterdiskurs nicht nur in der Musikrezeption miteinander verbunden, sondern auch in der Musikproduktion und Musikinterpretation? In den Sozial- und Kulturwissenschaften gilt das Geschlecht eines Menschen als eine fundamentale Strukturkategorie gesellschaftlicher Formierungen, die in alle Bereiche menschlichen Handelns hineinspielt und hohe Relevanz für das Funktionieren einer Gesellschaft besitzt. Demnach sind auch kulturelle Handlungen und Produktionen grundsätzlich in kontextuellem Bezug zu den Geschlechterkonzepten einer Gesellschaft zu betrachten – die Musik ebenso wie die Literatur oder Malerei, weil Werte und Normen einer Gesellschaft oder bestimmter gesellschaftlicher Klassen und Gruppierungen in einem reziproken Wechselverhältnis zu ihrem kulturellen Handeln stehen. In dieser Perspektive werden „Produktion und Rezeption von Kunst [...] als Spiegel der kulturellen Bedürfnisse verschiedener Gesellschaftsschichten“, wird Musik „als hörbares Ergebnis menschlichen Handelns mit einer Botschaft im Kontext gesellschaftlicher Gegebenheiten“9 verstanden. Dies bedeutet, dass „Musik als gesellschaftlich geprägtes, historisch gewachsenes und auf ein Weltbild bezogenes Mittel zur Konsolidierung einer Kulturgemeinschaft zu begreifen“10 ist. Diese Sicht, die ursprünglich einem musikethnologischen Forschungsansatz entspringt, ist auch für die historische Untersuchung europäischer (Kunst-)Musik fruchtbar, wenn man ihre kulturelle Bedeutung und die sozialpsychologischen Bedingungen ihrer Entstehung, Vermittlung und Rezeption sowie
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Männlichkeit und Weiblichkeit stellen ebenso wie ihre adjektivischen Formen männlich/weiblich keine essentialistisch feststehenden, sondern soziokulturell geformte bzw. diskursiv ausgehandelte Kategorien dar. Speziell geht es um die im 19. Jahrhundert kursierenden Ideen über das Geschlechterverhältnis und die Geschlechtscharaktere, also um die historisch-soziokulturell und diskursiv geformten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit dieser Zeit. Der besseren Lesbarkeit wegen ist auf eine Kennzeichnung dieser Zuschreibung durch einfache Anführungszeichen verzichtet worden. Bruhn/Rösing: Musikwissenschaft, S. 9f. Bruhn/Rösing: Musikwissenschaft, S. 15.
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Einleitung
ihre diskursive Verflechtung verstehen will.11 Möchte man musikbezogenes Handeln in seiner ganzheitlichen Bedeutung als menschliche Ausdrucks- und Kommunikationsform betrachten und verstehen, so sind musikwissenschaftliche Analyse und Interpretation durch soziokulturelle und rezeptionsästhetische Untersuchungen zu ergänzen. Von diesem musikwissenschaftlichen Forschungsverständnis ausgehend soll anhand der Werke von Johannes Brahms die Verflechtung von Musik- und Geschlechterdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht und nach der Bedeutung der Musik bei der Konstruktion von gesellschaftlich etablierten Geschlechterkonzepten und nach dem Einfluss des Geschlechterdiskurses auf musikbezogenes Handeln gefragt werden. Im Blickfeld des Interesses stehen folgende Fragen: Inwieweit werden Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit im Kompositions-, Interpretations-, Hör- und Analyseprozess produziert? Wie werden diese Vorstellungen in der Musik codiert, tradiert oder rezipiert? Dass zur Beantwortung dieser Fragen auf die Musik von Brahms zurückgegriffen wird, lässt sich mit mehreren Auswahlkriterien begründen: Im Gegensatz zu anderen KomponistInnen stand das Werk von Brahms bisher kaum im Fokus musikwissenschaftlicher Genderforschung – mit Ausnahme einzelner Aufsätze von Susan McClary, Robert Fink, Christopher K. Thompson und Marcia Citron.12 Außerdem erschien die Beschäftigung mit einem Komponisten insofern notwendig, um deutlich zu machen, dass auch Komponisten und nicht nur Komponistinnen in ihrem kulturellen Handeln vom gesellschaftlichen Geschlechterdiskurs beeinflusst werden. Ebenso war der Topos von Brahms’ Musik als dem Inbegriff absoluter Musik ein zentrales Auswahlkriterium. Der Mythos von Brahms als Gallionsfigur der hanslickschen Ästhetik, der in Abgrenzung zur Neudeutschen Schule um Liszt und Wagner nur „tönend bewegte Formen“13 komponiert haben soll, konnte zwar in den letzten Jahren relativiert werden – beispielsweise boten die Veröffentlichungen von Constantin Floros und Hanns-Werner Heister14, die auf den semantisch-poetischen Gehalt in der Musik von Brahms hingewiesen haben, neben amerikanischen Forschungen15 einen wichtigen Ausgangspunkt –, dennoch stellt es
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Vgl. Bruhn/Rösing: Musikwissenschaft, S. 16. McClary: Narrative agendas; Fink: Desire; Thompson: Re-forming Brahms; Citron: Gendered reception of Brahms; vgl. ebenfalls Gerards: Anmerkungen; Gerards: Narrative Programme. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 59. Floros: Brahms und Bruckner; Ders.: Brahms – poetische Musik; Heister: Relativierung; vgl. auch Finscher: Der fortschrittliche Konservative. Beller-McKenna: Brahms and the German spirit; Bozarth: Brahms’s Lieder ohne Worte; Daverio: Crossing paths; Hull: Brahms the allusive; Knapp: Challenge; Parmer: Brahms the programmatic; Smith: Expressive forms.
Einleitung
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eine methodische und argumentative Herausforderung dar, anhand der brahmsschen Werke die wechselseitige Verknüpfung von gesellschaftlichen Diskursen, speziell dem Geschlechterdiskurs, mit der musikalischen Produktion und Rezeption aufzuzeigen. Des Weiteren wurde die Musik von Brahms trotz anfänglicher Schwierigkeiten – zu denken ist hier an die Ablehnung seines 1. Klavierkonzertes d-Moll op. 15 bei der Aufführung in Leipzig am 27.1.1859 – vor allem vom Bürgertum rezipiert und reproduziert, also von genau der gesellschaftlichen Schicht, die am Geschlechterdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich beteiligt war. „Bereits in den [achtzehnhundert]siebziger Jahren ist Brahms öffentlich nicht nur nicht angefochten, sondern geradezu in den Musikmarkt integriert.“16 Seine Sinfonien, Chorwerke, Lieder, Kammer- und Klaviermusik entsprachen der Nachfrage der bürgerlichen Musikkultur (öffentliches Konzertwesen) und Musizierpraxis (Salonund Hausmusik) und sicherten ihm durch Verlagshonorare ein Einkommen, von dem er als freischaffender Komponist leben konnte. Über die Musik definierten sich die BürgerInnen des 19. Jahrhunderts als autonome, kunstsinnige und freie Individuen, die im Verbund mit anderen eine gemeinsame bürgerlich-musikalische Öffentlichkeit schufen und sich durch Musik von anderen gesellschaftlichen Schichten abgrenzten und emanzipierten.17 Die Parallele zwischen öffentlich geführter Diskussion zur Geschlechterordnung und dem sich entwickelnden bürgerlichen Musikleben im 19. Jahrhundert sowie der Etablierung und Kanonisierung der Musik von Brahms lässt Zusammenhänge und Beeinflussungen vermuten. Die Kanonisierung der Musik von Brahms hatte des Weiteren zur Folge, dass sich Generationen von MusikkritikerInnen, MusikjournalistInnen, MusikschriftstellerInnen und MusikwissenschaftlerInnen mit seiner Musik auseinander gesetzt haben und sie integraler Bestandteil des westlichen Musikdiskurses wurde. Das Schreiben über Musik, sei es journalistisch oder wissenschaftlich ausgerichtet, und das damit verbundene Beschreiben musikalischer Verläufe und Strukturen produzieren hinsichtlich der verwendeten Begriffe, Metaphern, Umschreibungen und Interpretationen ein aufschlussreiches Quellenmaterial, das es unter dem Aspekt einer genderkonnotierten Rezeption von Musik zu untersuchen gilt. Daher können anhand der Musik von Johannes Brahms die verschiedenen Ebenen im komplexen Prozess der Genderkonstruktion in und durch Musik und ihre diskursive Verknüpfung mit der Geschlechterdebatte aufgezeigt werden. Drei Themenkomplexe stehen im Mittelpunkt meiner Untersuchung: Um die diskursive Verknüpfung von Musik- und Geschlechterdiskurs anhand der Musik von Brahms einordnen zu können, ist zunächst eine sozialgeschichtliche und
16 17
Vgl. Geck: Zwischen Beethoven und Mahler, S. 209. Vgl. Kneif: Brahms, S. 10f.
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Einleitung
biographische Kontextualisierung erforderlich. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kursierenden Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit sind ebenso zu bestimmen, wie die sich im Zusammenhang mit der ersten Frauenbewegung artikulierenden kritischen Gegenstimmen. Auf dieser Folie erfolgt dann anhand diverser Quellen (Briefe, Schatzkästlein18, Erinnerungsliteratur, wissenschaftliche Werkbesprechungen) eine Annäherung an die Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte von Brahms. In einem zweiten Schritt geht es um die Kompositionen von Brahms und um die Frage, welche Geschlechterkonzepte sich in ihnen nachweisen lassen. Diese Frage wird schwerpunktmäßig anhand der Vokalmusik beantwortet. Hierbei lassen die vertonten Gedichttexte und die darin transportieren Themen sowie die Art und Weise ihrer Vertonung Rückschlüsse auf Brahms’ Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zu. Aber nicht nur Vokal-, sondern auch Instrumentalmusik wird in den Untersuchungsfokus genommen, denn: „Wie es ein Trugschluß ist anzunehmen, die Vokalwerke seien semantisch eindeutig, ist es ein Irrtum zu glauben, aus den Instrumentalwerken sei nichts semantisch Schlüssiges herauszuholen.“19 Lassen sich Genderkonnotationen auch in seiner Instrumentalmusik aufspüren? Mit welchen musikanalytischen Methoden sind diese Spuren nachzuweisen? Zusätzlich werden rezeptionsästhetische Aspekte in Bezug auf den Musik- und Geschlechterdiskurs untersucht. Das Schreiben über Musik in Musikzeitschriften, Konzertführern, Biographien oder in Werkbesprechungen sowie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Musik stellen musikbezogene Aktivitäten dar, die sich im 19. Jahrhundert stark entwickelten und das Publikumsbedürfnis nach Information über Musik befriedigten.20 Daneben war die Musik von Brahms selbstverständlich auch Thema in seinen Briefwechseln mit KollegInnen und FreundInnen. Wie wurde Musik von den HörerInnen in ihrer Zeit verstanden, mit welchen Gedanken, Inhalten und Bedeutungen wurde sie im Rezeptionsvorgang versehen? Welche Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit wurden beim Hören, Sprechen und anschließenden Schreiben durch die Wahl genderkonnotierter Begriffe, Assoziationen und Narrationen vermittelt? Es geht also um eine rezeptionsorientierte Konzeptualisierung von Musik, die anhand der überlieferten Deutungen von Musik seitens der ZeitgenossInnen von Brahms einen Blick darauf wirft, wie und von wem welche musikalischen Strukturen und Verläufe mit welchen Gendercodes versehen wurden.
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19 20
Hierbei handelt es sich um Sammlungen von Sprüchen und Zitaten, die Brahms in verschiedenen Merkbüchern zusammengetragen und mit Titeln wie Schatzkästlein des jungen Kreisler oder Des jungen Kreislers Schatzkästlein versehen hat. Vgl. ausführlich Kapitel 3.2.1. Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 132. Vgl. Botstein: Time and memory.
Einleitung
7
Ziel ist es, den komplexen Prozess der Gender-Zuschreibungen in und durch Musik anhand der Werke von Brahms zu untersuchen und Musik als Ergebnis kultureller Praktiken in ihren soziokulturellen Kontexten, hier speziell dem des Geschlechterdiskurses im 19. Jahrhundert, zu bestimmen. Die Frage nach den Geschlechterkonzepten von Brahms, die Untersuchung seiner Musik auf darin enthaltene Genderkonnotationen sowie die Untersuchung des Schreibens über seine Musik im Musikdiskurs der damaligen Zeit sollen zeigen, inwieweit Musikproduktion und -rezeption als kulturelle Praktiken an den Konstruktionen von Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepten beteiligt waren. Zunächst wird es jedoch darum gehen, die theoretische Ausgangsbasis zu präzisieren, die Arbeit im Rahmen der Geschlechterforschung und Musikwissenschaft zu verorten, die Fragestellungen zu konkretisieren und vor allem das konkrete methodische Vorgehen zu entwickeln, das die Komplexität der Fragestellungen erfordert.
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Theoretische Grundlagen – Fragestellungen – Methoden
2.1
Geschlechterforschung und Musikwissenschaft
Das Geschlechterverhältnis gehört ebenso wie ethnische Zugehörigkeit, Religion, Schichtzugehörigkeit oder Alter zum Kern eines sozialen Systems, in dem über den Zusammenhalt und das Funktionieren, über Konflikte, Ressourcen und Potentiale in der Gesellschaft entschieden wird.21 „Dahinter steht die Vermutung, daß die Geschlechterdifferenz ein zentrales Strukturprinzip von Gesellschaften darstellt – ein Prinzip, das nicht nur die Bereiche ökonomischer Produktion und sozialer Praxis gliedert, sondern auch politische und kulturelle Repräsentationssysteme durchwebt.“22 Mittels der Kategorie Geschlecht wird eine fundamentale soziale Unterscheidung vorgenommen, die in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften in unterschiedlichen Ausformungen präsent war bzw. ist und mit der gesellschaftliche Prozesse der Differenzierung und Hierarchisierung verbunden sind. Legitimierte sich im 19. Jahrhundert die hierarchische Geschlechterordnung anhand der biologischen Geschlechtsmerkmale als Konsequenz einer als unveränderlich, weil naturgegeben angesehenen Ordnung,23 so gehen aktuelle Geschlechtertheorien davon aus, „daß das Geschlecht keine natürlich-ontologische Kategorie ist, sondern eine Konstruktion.“24 In anglo-amerikanischen Forschungen etablierten sich in diesem Zusammenhang die Begriffe „sex“ und „gender“, um zwischen biologisch fundierten Geschlechtsmerkmalen (sex), die sich auf körperliche Merkmale, Fähigkeiten und Ausstattungen beziehen, und dem sozialen Geschlecht (gender) zu unterscheiden. Bereits Anfang der siebziger Jahre definierte die Soziologin Ann Oakley: “‘Sex’ is a word that refers to the biological differences between male and female [...] ‘gender’, however, is a matter of culture: it refers to the social classification into ‘masculine’ and ‘feminine’.”25 Die Unterscheidung zwischen physiologischem und sozialem Geschlecht betont die kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Einflussfaktoren auf soziales Verhalten und auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Zugleich historisiert sie den Geschlechterunterschied, zeigt seine
21 22 23 24 25
Vgl. Schissler: Einleitung, S. 9. Frevert: Mann und Weib, S. 10. Vgl. ausführlich hierzu Kapitel 3.1. Frevert: Mann und Weib, S. 13. Oakley: Sex, S. 16.
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Abhängigkeit vom soziokulturellen Umfeld auf und „hebt damit auch die Veränderbarkeit von Geschlechterarrangements hervor [...].“26 In einem weiteren Argumentationsschritt wurde dann der heimliche Biologismus der Sex-GenderUnterscheidung diskutiert und das biologische Geschlecht nicht mehr „als quasi natürlicher Ausgangspunkt von und für Unterscheidungen im menschlichen Handeln, Verhalten und Erleben betrachtet, sondern als Ergebnis komplexer sozialer Prozesse.“27 Nicht nur das soziale Geschlecht ist soziokulturell geprägt, sondern „die Form der biologischen Fundierung der Geschlechterdifferenz, die heute unser Alltagsverständnis bestimmt, [ist] selbst Resultat einer historischen Entwicklung [...].“28 Die damit aufgeworfene Frage zum Verhältnis von Sex und Gender, von Körperlichem und Symbolischem, Natürlichem und Kulturellem wurde zu einer zentralen Problemstellung in der Sex-Gender-Debatte und gipfelte in der These von Judith Butler, dass auch der Körper als performativer Effekt von Diskursen hervorgebracht werde.29 „Eine klare Trennung zwischen Natur und Kultur, wie sie die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht anfangs suggerierte, ist nicht haltbar.“30 Aufgrund von sozial vereinbarten biologischen Kriterien wird der geschlechtliche Körper selbst als kulturell erzeugte Kategorie verstanden, die für ‚natürlich‘ gehalten wird, weil ihre Konstruktion als Wirkung einer diskursiven Machtdynamik31 verborgen sei.32 In Anwendung ethnomethodologisch-wissenssoziologischer Theorien33 auf Fragen der Geschlechterforschung wurde die Konstruktion der Geschlechterdifferenz als ein vom historischen und kulturellen Kontext abhängiger Vorgang betrachtet, der auf der individuellen Ebene zur Entwicklung einer Geschlechtsidentität führe. Dies geschehe durch Erfahrungen und Interaktionen mit Individuen, die einem Geschlecht zugeordnet werden, sowie durch Orientierung an Vorbildern und herrschenden Wert- und Normvorstellungen. Im Konzept des Doing gender bündeln sich die interaktionstheoretischen und wissenssoziologischen Ansätze über die sozialen Konstruktionsmechanismen von Geschlecht, wonach „Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsidentität als fortlaufender Herstellungsprozess aufzufassen
26 27 28 29 30 31 32 33
Schissler: Einleitung, S. 13. Gildemeister: Doing Gender, S. 132. Knapp: Konstruktion, S. 68. Ausführlich siehe Butler: Unbehagen; Butler: Einleitung, in: Körper, S. 19–50. Hof: Einleitung, S. 17. Butler: Körper, S. 22. Vgl. hierzu die Kritik von Duden: Frau ohne Unterleib; Duden: Frauen-„Körper“. Vgl. grundlegend Garfinkel: Ethnomethodology; Berger/Luckmann: Gesellschaftliche Konstruktion; Knoblauch: Wissenssoziologie.
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sind, der zusammen mit faktisch jeder menschlichen Aktivität vollzogen wird und in den unterschiedliche institutionelle Ressourcen eingehen.“34 Gender wird also individuell, interaktionell und institutionell (re-)produziert. Es sind Individuen, die gender leben. [...] Doing gender beinhaltet ein diskretes, wohldefiniertes Bündel von Verhaltensweisen, welche in verschiedenen Situationen immer wieder Gesetzmäßigkeiten von Männlichkeit und Weiblichkeit (re-) produzieren.35
Dieser Ansatz betont die unausweichlichen konstruktiven Aktivitäten jedes Individuums im Prozess des Doing gender und macht die kulturellen Voraussetzungen und Konstruktionsmechanismen der Geschlechterdifferenz zum primären Forschungsgegenstand, zum einen durch die Radikalisierung der kulturellen Dimension der Sex-Gender-Unterscheidung, zum anderen durch die Akzentuierung des wechselseitig-reflexiven Charakters von körperlichem Geschlecht (sex), Geschlechtskategorie (sex-category) und sozialem Geschlecht (gender) in Zuschreibungs- und Darstellungsprozessen.36
Die Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit sind demzufolge nicht aus vermeintlich biologischen Konstanten abzuleiten, die ohnehin mehr ein Kontinuum als klar diagnostizierbare polare Ausprägungen darstellen – wie ethnologische und medizinische Studien37 gezeigt haben. Es ist nicht von essentialistischen Wesensbestimmungen einer in sich geschlossenen und eindeutigen Identität auszugehen, sondern von Konstruktionen und performativen Konzepten der Identitätsbildung.38 Diese basieren auf historisch-zeitgebundenen, soziokulturellen Konstruktionen, die im Prozess ihrer Aneignung und Repräsentation Geschlechtsidentitäten produzieren und dabei die Geschlechterordnung fortschreiben, umschreiben oder neu schreiben. Die kulturellen Konzeptionen des Männlichen und des Weiblichen als zweier komplementärer, sich gegenseitig ausschließender Kategorien, denen alle Menschen zugeordnet werden, konstituieren innerhalb jeder Kultur ein gender-System, ein symbolisches System oder System von Bedeutungen, das das biologische Geschlecht zu den kulturellen Inhalten entsprechend den sozialen Werten und Hierarchien in Beziehung setzt. [...] Demzufolge ist das sex-gender-System sowohl ein soziokulturelles Konstrukt wie ein semiotischer Apparat, ein Repräsentationssystem, das den Individuen innerhalb der Gesellschaft Bedeutung [...] zuweist. Wenn Geschlechterrepräsentationen soziale Positionen sind, die Bedeutungsunterschiede transportieren, dann liegt in der Darstellung oder Selbstdarstellung als männlich oder weiblich die Aneignung des gesamten Komplexes dieser Bedeutungswirkungen. Die Behauptung, daß die Repräsentation von gender seine Konstruktion mitbedingt, daß also jeder Begriff gleichzeitig Produkt und
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Gildemeister: Doing Gender, S. 132. Wesely: Einführung, S. 39. Knapp: Differenz, S. 499. Vgl. u. a. Christiansen: Biologische Grundlagen; Herdt: Third sex; Garfinkel: Ethnomethodology. Vgl. Bachmann-Medick: Cultural turns, S. 127.
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Prozeß des anderen ist, kann daher treffender neu formuliert werden: Die Konstruktion des Geschlechts ist sowohl Produkt als auch Prozeß seiner Repräsentation.39
Zum Untersuchungsgegenstand einer sozialkonstruktivistisch orientierten Geschlechterforschung zählen demnach „die alltäglichen Zuschreibungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsroutinen, in denen sich der sinnhafte Aufbau der Wirklichkeit von Geschlechtszugehörigkeit bzw. -identität und Geschlechterbeziehungen vollzieht.“40 Nach Judith Butler bildet sich die geschlechtliche Identität durch die materialisierende Kraft der Diskurse in ständigen Nachahmungsakten heraus, die sowohl stabilisierende als auch subversiv-verändernde Wirkung haben können.41 Mit dem Verständnis der materialisierenden Wirkung diskursiver Praktiken knüpft Butler an die von Michel Foucault entwickelten Theorien zur Wirkungsmacht von Diskursen42 an. Im kulturtheoretischen Rahmen versteht man im Anschluss an Foucault unter einem Diskurs „eine Gruppierung von Äußerungen oder Sätzen, Aussagen, die sich innerhalb eines sozialen Kontextes abspielen, die durch diesen sozialen Kontext determiniert sind und die dazu beitragen, dass der soziale Kontext weiterhin existiert.“43 Zahlreiche Spezialdiskurse umfassen spezielle Wissensausschnitte, „deren Grenzen durch Regulierungen dessen, was sagbar ist, was gesagt werden muß und was nicht gesagt werden kann, gebildet sind [...].“44 Die institutionelle Kraft diskursiver Aussagen beeinflusst das Denken und Handeln von Individuen, strukturiert das Verständnis der Realität und die Vorstellung der eigenen Identität. Das heißt: „Die Art und Weise, wie wir Dinge und Ereignisse interpretieren und sie innerhalb unseres Bedeutungssystems positionieren, hängt [...] von diskursiven Strukturen ab.“45 Dabei bestehe zu bestimmten Zeiten die Tendenz, das Nachdenken über ein Thema (z. B. Männlichkeit oder Weiblichkeit) auf eine bestimmte Weise zu strukturieren, so dass bestimmte Aussagen zu einem bestimmten Zeitpunkt als Wissen gelten und andere nicht. Im 19. Jahrhundert setzten sich die Diskurse über Weiblichkeit und Männlichkeit aus einer Menge von zum Teil äußerst heterogenen Aussagen zusammen, die insgesamt gewisse Konstanten zur Verfügung stellten, anhand derer männliche und weibliche Individuen ihre Identitäten entwickeln konnten. Diese Diskurse boten Wissensformen an, die von verschiedenen Institutionen wie der Kirche, den Wissenschaften (Philosophie, Pädagogik oder Medizin) oder dem Rechtssystem einge-
39 40 41 42 43 44 45
Lauretis: Technologie des Geschlechts, S. 62f, Hervorhebung im Original. Knapp: Konstruktion, S. 75. Vgl. Butler: Unbehagen. Foucault: Ordnung des Diskurses. Mills: Diskurs, S. 11. Gerhard/Link/Parr: Diskurs und Diskurstheorien, S. 118. Mills: Diskurs, S. 54.
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fordert wurden. Das Zusammenspiel dieser Diskurse ist als Wirklichkeit stiftende Produktion zu begreifen und legt die Regeln, Normen und Grenzen für mögliche geschlechtliche Ausdrucksformen fest.46 Trotz der Wirkungsmacht des oder der Diskurse, die die Individuen auffordern, in einer bestimmten Art und Weise zu handeln oder sich zu positionieren, bleiben Individuen innerhalb und vermittels diskursiver Strukturen handlungsfähig, indem sie sich am Diskurs beteiligen und an ihm mitschreiben – ein Aspekt, der gerade für die Frauen- und Geschlechterforschung zentral wurde, konnte er doch zum einen als Erklärung für diskurskonformes Verhalten herangezogen werden, aber auch für Veränderungen einschränkend erlebter Normen nutzbar gemacht werden, indem diskursive Handlungsspielräume aufgezeigt werden.47 Würde man beispielsweise die Diskurse über Weiblichkeit als starre, von Männern produzierte Konzepte betrachten, in denen Frauen zu passiven Rezipientinnen gemacht werden, dann entstünde Erklärungsbedarf, warum Frauen diese Strukturen akzeptiert und nicht pauschal zurückgewiesen haben. „Aber in gewisser Hinsicht sind Frauen wie Männer aktiv damit befasst, diesen Diskursen einerseits ihren Platz zu lassen, andererseits bestimmte Elemente davon zu demontieren und sie durch andere, produktivere Elemente zu ersetzen.“48 Aus dieser Perspektive betrachtet, können die im 19. Jahrhundert aufkommenden Erziehungsratgeber, pädagogischen Abhandlungen oder Ehe-Ratgeber nicht als eindeutige Hinweise auf die Unterdrückung von Frauen gesehen werden, sondern vielmehr als Anzeichen dafür, dass Frauen in dieser Zeit nicht unbedingt den propagierten Normen entsprochen haben. „Die Tatsache, dass im 19. Jahrhundert zahlreiche Benimmbücher geschrieben wurden, belegt ein grundlegendes und dringliches Problem mit dem Verhalten von Frauen, das mittels der Texte bewältigt werden sollte.“49 Das gilt ebenso für Diskurse über Männlichkeit, wenngleich festzustellen ist, dass im 19. Jahrhundert die Gleichsetzung von Männlichkeit mit dem Allgemein-Menschlichen den Mann aus dem (wissenschaftlichen) Blickfeld rückte.50 Zumindest stand der Diskurs über Männlichkeit weniger im wissenschaftlichen Fokus als der über ‚die Frau‘, wie etwa Claudia Honegger in ihrer Rekonstruktion der Wissenschaftsdiskurse anhand der Institutionalisierung der Gynäkologie als einer Spezialwissenschaft von ‚der Frau‘ nachweisen konnte.51 Aber hier wäre kritisch zu hinterfragen, ob für das 19. Jahrhundert die geringere Thematisierung von Männlichkeit in wissenschaftlichen Diskursen gleichzusetzen
46 47 48 49 50 51
Vgl. Mills: Diskurs, S. 66. Vgl. Mills: Diskurs, Kapitel 4: Feministische Theorie und Diskurstheorie. Mills: Diskurs, S. 94. Mills, Diskurs, S. 95. Vgl. Frevert: Mann und Weib. Honegger: Ordnung der Geschlechter.
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ist mit einer vermeintlichen Sicherheit oder Klarheit der männlichen Individuen bezüglich ihrer geschlechtlichen Identität.52 Die Diskurse über Weiblichkeit und Männlichkeit, die innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes und in einem bestimmten soziokulturellen Kontext kursieren, stehen mit anderen sozialen und kulturellen Diskursen in Verbindung, so dass „die Wirksamkeit der Relation der Geschlechter für das gesamte Gebiet der Kultur“53 hervorzuheben ist. Von Interesse sind hier künstlerische Ausdrucksformen wie Literatur, Malerei oder Musik, denen eine erkenntnisleitende und welterschließende Funktion im Hinblick auf die Denkordnung und Repräsentation zugesprochen wird. Foucault vertrat sogar die Auffassung, dass sich in „herausragenden Werken die symbolische Ordnung der Erfahrungsstruktur einer Epoche oder Epochenschwelle fast geballter und eindringlicher als in den Diskursen selbst zum Ausdruck bringt.“54 Überträgt man diese Auffassung auf die Musik, dann stellen musikalische Werke kulturelle Selbstdeutungen dar, in denen existente Ordnungsmuster verarbeitet und durch Umstellung neue Deutungssysteme hervorgebracht werden (können). Möchte man diese Ordnungsmuster im Rahmen historischer Strukturen und Denkweisen betrachten, so ist ihre Verortung innerhalb eines Feldes diskursiver Beziehungen zu berücksichtigen, um spezifische Formationen sozialer Praktiken und gedachter Ordnungen erfassen zu können.55 Bezogen auf die Musikkultur einer Gesellschaft bedeutet dies, dass die verschiedenen musikbezogenen Handlungsformen wie Komposition, Interpretation oder Rezeption mit der Geschlechterordnung der jeweiligen Zeit auf vielfältige Art und Weise verwoben sind. So sind das Doing gender der in der Musikkultur aktiven Individuen, die Repräsentation geschlechtlicher Deutungsmuster in den Werken und im Prozess ihrer Aufführung sowie die begrifflichen Kategorien und ihre Geschlechterkonnotationen der Rezeptions- und Analyseprozesse von Musik zu berücksichtigen. Wenn davon auszugehen ist, dass Geschlechterkonzepte kulturell codiert und diskursiv verhandelt werden, dann sind sie auch dem musikbezogenen
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53 54
55
In den 1980er Jahren entstanden in Großbritannien und in den USA erste Arbeiten zu einer kritischen Theorie der Männlichkeit (Mens Studies), in Deutschland kam es erst ab Mitte der 1990er Jahre zu einer sozialwissenschaftlichen Thematisierung (vgl. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 91–108). Hof: Kulturwissenschaften und Geschlechterforschung, S. 332. Kögler: Foucault, S. 70. Welche Bedeutung der Diskurs bei der Kanonisierung ‚herausragender Werke‘ besitzt, hat Foucault anhand der kritischen Diskurse untersucht, die dafür sorgen, dass bestimmte (literarische) Texte ausgeschlossen werden, während andere weiterhin zirkulieren und in einen Kanon aufgenommen werden. Was diesbezüglich für literarische Texte gilt, kann ebenfalls auf die Kanonisierung musikalischer Texte übertragen werden (vgl. Foucault: Was ist ein Autor?). Vgl. hierzu grundlegend Citron: Musical canon. Vgl. Winst: Gender Studies.
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kulturellen Handeln inhärent. Es gilt demnach, die Musik auf ihre Gendercodes hin zu untersuchen, die wechselseitige Beeinflussung zwischen Musik- und Geschlechterdiskursen aufzuzeigen und somit den Einfluss der Geschlechterordnung auf musikbezogenes Handeln sowie den Einfluss der musikbezogenen Diskurse auf die soziale Konstruktion der Geschlechterdifferenz in den Untersuchungsfokus zu stellen, denn: Komponisten schufen mit ihrem Werk einen Bilder- und Tonvorrat, der im kollektiven Gedächtnis gespeichert ist und in dem bestimmte Erinnerungen lokalisiert sind, die immer wieder aufgerufen werden und damit weiterwirken. Das kollektive Gedächtnis läßt sich demnach als Ort der Aufbewahrung von Bildern verstehen, die miteinander und mit dem Denken und Handeln des jeweiligen Kollektivs in Beziehung stehen.56
Damit wird Geschlecht zu einer wichtigen Analysekategorie auch für die Musikwissenschaft, weil Musik nicht unabhängig von soziokulturellen Kontexten produziert, interpretiert und rezipiert wird, sondern innerhalb historisch variabler Diskurse zu verorten ist. Ebenso wie die Kategorie Geschlecht, die wiederum in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Faktoren wie Schicht, Religion, ethnische Zugehörigkeit oder Alter steht, die Produktion, Ausübung und Rezeption von Musik beeinflusst, vermag auch Musik auf die Deutungssysteme der jeweiligen Kategorie Einfluss zu nehmen, indem sie zum Beispiel Wert- und Normvorstellungen zum Geschlechterverhältnis transportiert oder kritisch reflektiert. Als Ergebnis kultureller Praktiken reproduziert Musik in ihrer soziokulturellen Funktion die Werte der Gesellschaft oder definiert diese auch neu.57 Somit ist Musik selbst als Diskurs zu identifizieren, weil sie als ein Bedeutung generierendes System betrachtet werden kann, das mit anderen Diskursen verschränkt ist. In einer ersten Phase musikwissenschaftlicher Frauen- und Geschlechterforschung richtete sich das Erkenntnisinteresse darauf, den Beitrag von Frauen zur Musikkultur einer Epoche sicht- und hörbar zu machen. Es galt – und gilt immer noch –, das kulturelle Handeln von Komponistinnen, Instrumentalistinnen, Sängerinnen, Musikpädagoginnen, Mäzeninnen oder Musikwissenschaftlerinnen zu erforschen, ihre musikgeschichtliche Bedeutung und die gesellschaftlichen Bedingungen ihres musikbezogenen Handelns zu benennen. Bereits 1948 veröffentliche Sophie Drinker ihre Studie über Music and women. The story of women in their relation to music58, aber erst in den 1970er Jahren setzte eine erste Welle musikwissenschaftlicher Frauenforschung (Womens Studies) ein, die neben dem Auffinden vergessener Musikerinnen Kanonkritik übte, sich mit den methodischen Schwierigkeiten einer feministisch-orientierten Biographik auseinandersetzte und nach einer
56 57 58
Nieberle/Rieger: Musikwissenschaft, S. 274f. Nieberle/Fröhlich: Genus in der Musikwissenschaft, S. 297. Drinker: Music and women.
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weiblichen Ästhetik fragte. In den 1980er und frühen 90er Jahren, ausgehend von Impulsen der angloamerikanischen New Musicology,59 entwickelte sich eine musikwissenschaftlich orientierte Geschlechterforschung (Gender Studies), in der Geschlechterverhältnisse und Geschlechterdifferenzen im Mittelpunkt standen. „In den Blick rückten dabei nicht allein Frauen und Frauenfiguren der Musikgeschichte, sondern Geschlechterverhältnisse im Sinne einer soziokulturellen Konstruktion von Geschlecht [...].“60 Susan McClarys Arbeiten, allen voran ihr Buch Feminine endings (Minneapolis 1991), können hier als Pionierleistung hervorgehoben werden. Untersuchte die Mehrzahl musikanalytischer Arbeiten die Frauen- und Männerbilder in der Vokalmusik – und hier vornehmlich in den Opern – von KomponistInnen, so war McClary eine der ersten MusikwissenschaftlerInnen, die auch die so genannte absolute Musik der Musikheroen Bach,61 Mozart,62 Beethoven,63 Tschaikowsky64 oder Brahms65 in den Fokus ihrer geschlechterzentrierten Analyse nahm. Ihre These über narrative Schemata in der 3. Sinfonie von Johannes Brahms war Ausgangspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit den Methoden einer feministischen Analyse absoluter Musik. Die Klärung der Frage, inwiefern Gender in Musik präsent und mit welcher Methode dies zu analysieren ist, wenn als generelle Regel gilt, dass “one cannot hear gender in musical language or musical gesture in and of themselves”66, ist – wie die amerikanische Wissenschaftlerin Marcia Citron erklärte – eine zentrale Aufgabe musikwissenschaftlicher Geschlechterforschung. Citron vertritt die Ansicht, dass Musik in ihrer soziokulturellen Kontextualisierung zu einem Vehikel werden könne, in dem Konzepte von Männlichkeit, Weiblichkeit oder Sexualität repräsentiert werden: These are not inherent or universal meanings; they are socially contingent references. The challenge in historical work is to identify such references and to find out what they meant at the time they originated and what they came to mean through the various stages of their history. [...] Though some might argue that gendered codes of representation in music should be ignored because they are obsolete or repressive, we must remember that these ideologies were indeed real in the history of ideas and had the potential to affect practice. To ignore them is to distort the past.67
59 60 61 62 63 64 65 66 67
Zur Entwicklung der New Musicology in Bezug auf eine musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung vgl. Nieberle/Rieger: Musikwissenschaft, S. 272–285. Nieberle/Rieger: Musikwissenschaft, S. 273. McClary: Bach year. McClary: Narratives of bourgeois subjectivity. McClary: Feminine endings, S. 112–131. McClary: Feminine endings, S. 69–79. McClary: Narrative agendas. Citron: Gender, S. 70. Citron: Gender, S. 71.
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Das je eigene Doing gender, die je individuellen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit komponierender, musizierender, singender, musikfördernder, musikpädagogisch oder musikwissenschaftlich tätiger Personen, die sich in ihren musikalischen Produkten oder in ihrem musikbezogenen Handeln ausdrückten, die soziokulturellen Rahmenbedingungen dieser Handlungen sind sowohl für Frauen als auch für Männer aufzudecken und ihre Einflussfaktoren auf die Musikkultur, auf die musikalische Praxis zu benennen. Damit geraten auch die in der Musikkultur tätigen Männer und ihre musikbezogenen Aktivitäten in den Untersuchungsfokus. Mittlerweile gibt es zu einzelnen Musikern eine umfangreiche geschlechtersensible Forschung, die beispielsweise nicht nur nach den Frauen im Leben von Mozart fragt, sondern auch das Werk auf Geschlechterkonstruktionen und -repräsentationen untersucht.68 Dies wird aus feministischer Sicht kritisiert, weil durch die Beschäftigung mit den Heroen der Musikgeschichte der von Männern dominierte Musikkanon nicht angegriffen werde und der Diskurs über Musik weiterhin von männlichen Denkweisen und männlich definierten Geschlechterrollen geprägt werde.69 Dagegen ist einzuwenden, dass aus einer genderzentrierten Sicht gerade die Auseinandersetzung mit den Heroen der Musikgeschichte relevant ist, weil die in ihren Kompositionen implizierten Genderkonnotationen ohne eine kritische und aufdeckende Forschung unerkannt bleiben und so unreflektiert weiter tradiert werden. Um so wichtiger ist es, die diskursive Verflechtung vermeintlich überzeitlicher, allgemeinmenschlicher oder absoluter Musik mit den gesellschaftlichen Diskursen und vor allem mit den Geschlechterdiskursen der jeweiligen Zeit aufzuzeigen. Nur so kann deutlich gemacht werden, dass selbstverständlich auch die Heroen in ihrem Schaffen in ihrem je eigenen soziokulturellen Kontext inklusive der Geschlechterordnung eingebettet sind und ihre Rezeption als ‚große Meister‘ in genau diesen Kontexten stattfindet sowie bestimmte gesellschaftliche Funktionen erfüllt. Des Weiteren ist die Kategorie Geschlecht als Analysekategorie auf Komponisten und andere Musikschaffende anzuwenden, weil eine Beschränkung gender-
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Hier eine Auswahl an gendersensiblen Veröffentlichungen zu Wolfgang Amadeus Mozart: Borchmeyer: Mozarts Opernfiguren; Brown-Montesano: Women of Mozart’s operas; Ford: Sexual politics in Mozart’s operas; Geck: Lust und Sehnsucht; Hoffmann: Musikerinnen um Mozart; Höllerer: Die Hochzeit der Susanna; Jam: Mozart; Kreutziger-Herr: Mozart im Blick; Lauener: Mozarts Frauengestalten; LemmMirschel: Frauenbild der Mozart-Rezeption; McClary: Narratives of bourgeois subjectivity; Nat4sević: Cosi fan tutte; Rice: Genre and gender; Schleuning: Trennungsschmerzen; Unseld: Mozarts Frauen; Zech: Frauenbild in Mozarts Zauberflöte. So der Vorwurf von Suzanne Cusick (Gender, S. 490): “Thus, an emphasis on studying images or constructions of gender in work by men function as a new way of effecting the exclusion of women from the most prestigious arena of musical life.”
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zentrierter Forschung auf (vergessene) Frauen den Eindruck erwecken könnte, dass nur Frauen in ihrem kulturellen Handeln von ihrer biologischen und sozialen Geschlechterrolle bestimmt werden, während Männer in ihrem musikbezogenen Handeln quasi von ihrer Körperlichkeit oder ihrem sozialen Geschlecht nicht tangiert werden. Damit schriebe man die Dichotomie Mann/Kultur und Frau/Natur auch in der Geschlechterforschung fort. Gerade bei den so genannten ‚berühmten Musikern‘ oder den ‚großen Komponisten‘ lohnt sich zum einen ein dekonstruktivistischer Blick auf ihre vermeintlich überzeitliche und allgemeinmenschliche Musik und zum anderen ein kritischer, geschlechtersensibler Blick hinter die Kulissen der Musikgeschichtsschreibung, um festzustellen, dass die Bewertung ihrer Musik als allgemeinmenschlich oder absolut sehr viel mit dem zeitgenössischen Gedankengut inklusive der Diskurse über Männlichkeit und Weiblichkeit zu tun hat. Außerdem sind Aussagen über Musik als eine kulturell geprägte soziale Geschlechterpraxis besonders an solcher Art Musik zu exemplifizieren, die vielfältige Aufführungen, Reaktionen, Kritiken, Rezensionen und Analysen erfahren hat, die also gesellschaftliche und musikkulturelle Relevanz besaß und im Musikdiskurs der Zeit eine Rolle gespielt hat. Zusammengefasst lässt sich die theoretische Ausgangsbasis wie folgt festlegen: Sämtliche musikbezogenen Aktivitäten sind wie alle menschlichen Handlungen in einen kulturellen Kontext eingebettet, der die Art und Weise dieser Tätigkeiten beeinflusst und auf den die musikbezogenen Handlungen wiederum einwirken. Musik drückt Basisannahmen über die Kultur aus, in der sie entsteht, so dass sie in ihrer soziokulturellen Bedeutung mehr ist als klangliche Struktur oder „tönend bewegte Formen“70, weil Denkmuster, Ordnungssysteme oder Ideen in die Musik einfließen sowie im individuellen und sozialen Umgang mit Musik transportiert und wahrgenommen werden. Diskurse wie der Geschlechterdiskurs hinterlassen dieser Annahme zufolge Spuren in der Musik: Sie beeinflussen musikalische Aktivitäten und prägen den Ideenhorizont für die musikalische Rezeption und Analyse. Die Bedeutungen in der Musik variieren also nicht nur von einer historischen Periode zur anderen, sondern auch innerhalb einer gegebenen Periode aufgrund entscheidender Faktoren wie Geschlecht, Klasse, ethnische Zugehörigkeit, Sexualität oder Nationalität. Außerdem ist das Verständnis eines Werks abhängig vom jeweiligen ästhetischen und semiotischen Kontext, den es aufzudecken gilt.71 Ein Werk leistet somit kulturelle Arbeit, weil es in seiner diskursiven Funktion die sozialen Werte und Ideologien reproduziert oder auch transformiert: Musik kann prägend – sei es normierend, sei es subversiv – auf gesellschaftliche Diskurse wie den Geschlechterdiskurs einwirken und wird von diesen Diskursen beeinflusst.
70 71
Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 59. Vgl. Citron: Musical canon, S.120f.
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Mit dieser Grundannahme ist die Einsicht verbunden, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musik unter dem Fokus eines genderorientierten Erkenntnisinteresses immer positioniert und kontextualisiert, niemals universalistisch sein kann. Die in der vorliegenden Arbeit getroffenen Aussagen über die Konstruktion von Geschlechterkonzepten in der Musik und ihre genderkonnotierte Rezeption gelten für den Komponisten Johannes Brahms sowie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und für die in dieser Zeit geltende Geschlechterordnung. Demnach verwende ich das musikalische Werk von Brahms und die Rezeption seiner Musik als Material und Quelle für eine historisch und ideengeschichtlich kontextualisierte Analyse und Interpretation, um so die übergreifenden Zusammenhänge zwischen Musik- und Geschlechterdiskurs auf der Folie kultur- und sozialgeschichtlicher Gegebenheiten darzulegen.
2.2
Fragestellungen
Das Verständnis von Musik als einer kulturellen Praxis72 oder einem Geschlechterdiskurs73 verweist auf das reziproke Wechselverhältnis zwischen soziokulturellen Einflüssen, psychosozialen Bedingungen inklusive des Geschlechterdiskurses und der Komposition, Interpretation und Rezeption von Musik, so dass sich „Aspekte des kulturell gebildeten Geschlechterverhältnisses musikanalytisch, zeit-, sozialund ideengeschichtlich analysieren“74 lassen. Werden die konstruktivistisch-diskursanalytischen Theorien zur Geschlechterordnung auf die Musik übertragen und soll die reziproke Verknüpfung von musikbezogenem kulturellem Handeln mit dem Geschlechterdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt werden, dann stellt sich die Frage nach der Rolle bzw. Funktion der Musik im Prozess der soziokulturellen Konstruktion und Repräsentation der Geschlechterdifferenzen. Dabei geht es in der vorliegenden Arbeit nicht um die gesellschaftlichen Einschränkungen, die die hierarchisch strukturierte Geschlechterordnung vor allem für künstlerisch aktive Frauen gehabt hat – und möglicherweise noch immer hat –, sondern um Musik als kulturelles Repräsentationssystem und die in ihr enthaltenen Gendercodes: • •
72 73 74
Auf welche Art und Weise macht sich die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Produktion, Interpretation und Rezeption von Musik bemerkbar? Welche Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit werden in der Musik dargestellt?
Vgl. Kramer: Cultural practice. Vgl. Citron: Musical canon, S. 120–165; McClary: Feminine endings, S. 17f. Rieger: Gender Studies, S. 238.
Theoretische Grundlagen • • •
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Sind in so genannter absoluter Musik Genderkonnotationen enthalten und mit welchen Methoden sind sie aufzuspüren? Welche Bedeutung besitzt die Kategorie Geschlecht für die Musikrezeption? Mit welchen Begriffen wird im Musikdiskurs auf Geschlechterdifferenzen Bezug genommen?
Zur Klärung dieser Fragen werden die Musik von Johannes Brahms und die seiner Musik anhaftenden privaten und öffentlichen Diskurse als Quelle herangezogen, weil seine Musik in einem für die Fortschreibung der Geschlechterordnung bedeutsamen zeitgeschichtlichen Kontext entstanden ist und weil seine Musik im Gegensatz zu der anderer KomponistInnen noch nicht umfassend auf ihre Gendercodes untersucht worden ist.75 Außerdem gehört die Musik von Brahms zum Kanon abendländischer Musikkultur, so dass die darin eingebundenen Geschlechterkonzepte tradiert und rezipiert werden. Es geht in der vorliegenden Arbeit also um die in der Komposition und im Rezeptionsprozess vermittelten kulturellen Deutungssysteme und um die Diskurse zu den Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit. Daher lauten die konkretisierten Leitfragen meiner Untersuchung in Anwendung des konstruktivistischen, diskursanalytisch und wissenssoziologisch orientierten Theorieansatzes: •
• • •
Welche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit entwirft Johannes Brahms in seiner Vokalmusik durch Auswahl und Zusammenstellung der Texte sowie durch die Art ihrer Vertonung? Mit welcher Methode sind in seinen Instrumentalwerken Genderkonnotationen aufzuspüren? Welche Aussagen können über die Gendercodes eines konkreten Instrumentalsatzes von Brahms getroffen werden? Mit welchen genderkonnotierten Begriffen und Narrationen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Musik von Johannes Brahms geschrieben?
Die Beschäftigung mit diesen Fragen gewährt einerseits Einblicke in die historische Situation der Entwicklung und Etablierung bürgerlicher Vorstellungen zum Geschlechterverhältnis in und durch Musik. Die Reflexion auf das geschichtliche Gewordensein, die Einsicht in die vorausgegangenen Formen des Geschlechterverhältnisses und deren soziokulturelle Repräsentationen in musikalischen Werken und ihrer Rezeption sind Voraussetzungen dafür, um musikbezogenes Handeln als eine kulturelle Praxis verstehen und seine Verflechtung in den Geschlechterdiskurs festmachen zu können.76 Andererseits kann durch sie eine Annäherung an die
75 76
Einzelne Aufsätze ausgenommen, zum Beispiel: McClary: Narrative agendas; Fink: Desire; Thompson: Re-forming Brahms; Citron: Männlichkeit; Gerards: Anmerkungen; Gerards: Narrative Programme. Vgl. Knapp: Differenz, S. 504f.
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weltanschaulichen Ideenkreise von Johannes Brahms erfolgen und deutlich gemacht werden, dass er – wie jedes andere Individuum auch – seine Geschlechtsidentität durch Positionierung im Rahmen der Geschlechterordnung seiner Zeit entwickelte. Seine Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit bilden einen Teil seines ideengeschichtlichen Hintergrunds, auf dessen Folie er komponierte. In der Auseinandersetzungen mit diesen Konzepten, in ihrer diskursiven Wirkung machen sie sich ebenso in der Musik und im musikbezogenen Handeln bemerkbar, wie von einer Wirkung seiner Musik auf den Geschlechterdiskurs und die soziale Geschlechterpraxis auszugehen ist. Anhand der Musik von Johannes Brahms soll diese reziproke Verflechtung und diskursive Durchdringung von musikbezogenem Handeln als einer kulturellen Praxis mit der Geschlechterordnung für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgezeigt werden.
2.3
Methoden
Die Beantwortung der zentralen Frage nach dem reziproken Verhältnis von Musikund Geschlechterdiskurs erfordert ein mehrschichtiges Vorgehen: Zunächst werden die soziokulturellen Rahmenbedingungen, das heißt, die Diskurse über Männlichkeit und Weiblichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgezeigt, auf deren Folie anschließend eine Annäherung an die Geschlechterkonzepte von Johannes Brahms stattfindet. Damit das Analyse-Instrumentarium individuell angepasst werden kann, müssen vor einer gendersensiblen Analyse von Musik die ästhetischen und musiktheoretischen Anschauungen der komponierenden Person berücksichtigt werden.77 Auf dieser Folie wird dann anhand ausgewählter Beispiele die Vokalmusik von Johannes Brahms auf Frauen- und Männerbilder hin untersucht. Die Analysemethoden von Genderkonnotationen in so genannter absoluter Musik werden zu Beginn des fünften Kapitels kritisch reflektiert und am Beispiel des Adagios aus dem 1. Klavierkonzert op. 15 angewandt. Anschließend werden private und öffentliche Diskurse über die Musik von Brahms untersucht. Es stehen somit unterschiedliche Quellen wie Briefwechsel, Schatzkästlein oder Erinnerungsliteratur, textgebundene Musik, also Gedichte und ihre Vertonung in Klavierliedern und Chorwerken, Instrumentalmusik und die Rezeption der Musik durch ZeitgenossInnen in Briefen, Werkbesprechungen, Musikkritiken oder Biographien zur Verfügung. Jede dieser Quellen gibt auf unterschiedliche Art und Weise Auskunft über zugrundeliegende Genderkonnotationen und kann mittels historischer, biogra-
77
Vgl. hierzu auch die Ausführungen über Musiktheorie, Kompositionstechnik und Analyse von Christin Heitmann in ihrer Dissertation über Louise Farrenc (Heitmann: Farrenc, S. 63–72).
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phischer, hermeneutischer, struktur- und diskursanalytischer Methoden oder mittels Verfahren der Gedichtinterpretation, der narrativen Inhaltsanalyse und der Rezeptionsforschung untersucht werden. Dieser Methodenpluralismus ist Ausdruck der notwendigen interdisziplinären Verflechtung musikwissenschaftlicher Frauen- und Geschlechterforschung. In jedem Kapitel werden die untersuchten Quellen und die jeweiligen Methoden ihrer Analyse diskutiert. Die Methodendiskussion jeweils dort zu führen, wo die ausgewählte Methode angewandt wird, schien sinnvoll, weil konkret auf die jeweilige Fragestellung und das jeweilige Quellenmaterial bezogen. Dennoch sind an dieser Stelle einige grundsätzliche Überlegungen angebracht, die bei der Methodenwahl ausschlaggebend waren. Um die Frage nach Geschlechterkonzepten in absoluter Musik untersuchen zu können, griff man in der musikwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung auf Adolf Bernhard Marx’ vielzitierte Formulierung vom männlichen ersten und weiblichen zweiten Thema eines Sonatensatzes zurück. Mit diesem Begriffspaar brachte Marx im dritten Band seiner Kompositionslehre den Kontrast zwischen dem ersten und zweiten Thema eines Sonatensatzes nach vorherigen Erläuterungen prägnant auf den Punkt. Haupt- und Seitensatz sind zwei Gegensätze zu einander, die in einem umfassenden Ganzen zu einer höhern Einheit sich innig vereinen. In diesem Paar von Sätzen ist [...] der Hauptsatz das zuerst, also in erster Frische und Energie Bestimmte, mithin das energischer, markiger, absoluter gebildete, das Herrschende und Bestimmende. Der Seitensatz dagegen ist das nach der ersten energischen Feststellung Nachgeschaffne, zum Gegensatz dienende, von jenem Vorangehenden Bedingte und Bestimmte, mithin seinem Wesen nach nothwendig das Mildere, mehr schmiegsam als markig Gebildete, das Weibliche gleichsam zu jenem vorangehenden Männlichen. Eben in solchem Sinn ist jeder der beiden Sätze ein Andres und erst beide mit einander ein Höheres, Vollkommeneres. Aber in diesem Sinn und der Tendenz der Sonatenform ist auch [...] begründet, dass beide gleiche Berechtigung haben, der Seitensatz nicht blos ein Nebenwerk, ein Nebensatz zum Hauptsatz ist, mithin im Allgemeinen auch gleiche Ausbildung und gleichen Raum, wie der Hauptsatz fordert.78
Marx fasste mit den Begriffen des Weiblichen und Männlichen das bis dahin Gesagte plakativ zusammen, konnte er doch davon ausgehen, dass den LeserInnen seiner Zeit die mit diesen Begriffen verbundenen Implikationen geläufig waren, da die zum männlichen (frisch, energisch, bestimmt, markig, absoluter gebildet, herrschend) und weiblichen Thema (dienend, abhängig, mild, schmiegsam) gehörenden Adjektive zur Beschreibung des thematischen Kontrasts mit den vorgeblich ‚natürlichen‘ Charaktereigenschaften der bürgerlichen Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts auffallend übereinstimmten. So erklärt auch Scott Burnham die
78
Marx: Lehre, 3. Theil, S. 282.
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Verwendung des Begriffspaars männlich/weiblich als einen poetischen Versuch von Marx, das komplexe theoretische Verhältnis von Haupt- und Seitensatz in einer ökonomischen Metapher auf den Punkt zu bringen. What Marx needed was a way of expressing the interdependence of two themes (or theme groups) which together form a balanced whole. His dynamic conception of formal process constrains him to regard the initial thematic utterance as primary and determining. And the Seitensatz is clearly the unmarked component of the pair, that which must be so many for, and with, the Hauptsatz. Marx’s metaphor of gendered themes is a poetic attempt to address this complexity.79
Der beschriebene hierarchische Gegensatz („Nachgeschaffene“, „Dienende“) erfährt zudem eine dialektische Synthese, da „erst beide miteinander ein Höheres, Vollkommeneres“ bilden und folglich gleichberechtigt existieren. Carl Dahlhaus hat in seinen Ausführungen über die ästhetischen Prämissen der Sonatenform bei Marx einen inneren Zusammenhang mit Wilhelm von Humboldts Abhandlung Über die männliche und weibliche Form80 herausgearbeitet, da Humboldt „die Idee einer inneren Ergänzung des Gegensätzlichen“81 zu höchster Menschlichkeit formuliere. Der Gedanke einer komplementären Polarität scheint auch bei Marx durch, wenn er davon spricht, dass Haupt- und Seitensatz miteinander ein Vollkommeneres bilden und beide eine gleichberechtigte Position im Ablauf der Sonate besitzen. Den von Dahlhaus herausgearbeiteten Zusammenhang zwischen der humboldtschen Abhandlung und der marxschen Kompositionslehre griff Ingeborg Pfingsten in ihrem Aufsatz über den Sprachgebrauch des Begriffspaares männlich/weiblich bei Marx auf. Sie stellte fest, dass Marx „seinen neuartigen Interpretationsansatz thematischer Ergänzung, zumal er ihn insbesondere am Werk Beethovens erprobte, durch einen klassischen ästhetischen Ansatz gestützt sehen wollte“82. Dahlhaus, Pfingsten und Burnham stellen die marxschen Ausführungen in einen ästhetischen und kompositionstheoretischen Kontext, der die Verwendung der GeschlechterMetapher erklären und relativieren soll. Marx wählte diese Metapher, um seine ästhetischen und theoretischen Gedanken auf den Punkt zu bringen. In ihr schwingen Denkkategorien mit, die im gesellschaftlichen Diskurs der Zeit gebräuchlich und verständlich waren, so dass er die Geschlechtermetapher als einsichtsfördernde Beschreibung auch im musikästhetischen Diskurs einsetzen konnte. Ist es aber als methodische Begründung für eine genderzentrierte Analyse von Sonatensätzen mit Hilfe der marxschen Terminologie ausreichend, dass im
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Burnham: Marx, S. 183. Humboldt: Männliche und weibliche Form. Dahlhaus: Ästhetische Prämissen, S. 350. Pfingsten: Männlich/weiblich, S. 73.
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19. Jahrhundert der Diskurs über Männlichkeit und Weiblichkeit sozusagen in der Luft lag und in das Sprechen über Musik im Rahmen von musikwissenschaftlicher Theoriebildung oder musikjournalistischen Arbeiten sowie möglicherweise in die musikalische Produktion eingeflossen ist? Konkret: Sind die Sonatensätze von Johannes Brahms auf der Basis dieser Terminologie zu analysieren und die Themen in ihrer jeweiligen musikstrukturellen Ausgestaltung als männlich oder weiblich zu beschreiben und zu interpretieren? Es gibt Komponisten und auch Komponistinnen, bei denen eine Auseinandersetzung mit den marxschen Prämissen bekannt ist, so dass von einer Beeinflussung des kompositorischen Denkens ausgegangen werden kann. Zu nennen wären hier Peter Tschaikowsky,83 dessen Lehrer Nikolai Zaremba selbst Schüler bei Marx gewesen ist, oder Emilie Mayer,84 die bei Marx Kompositionsunterricht erhalten hat. Es ist jedoch nicht zu belegen, dass Brahms den Theorien und Begriffen von Marx nahe gestanden hat: Das Bücher- und Musikalienverzeichnis seiner Bibliothek85 führt die Kompositionslehre von Marx nicht auf; Kalbeck berichtet sogar von einer negativen Wertung der marxschen Werke durch Brahms.86 Musikanalytische Ergebnisse mit der Terminologie von Marx zu reflektieren, ist meiner Ansicht nach für Werke von Brahms methodisch fragwürdig, weil keine „Kompatibilität zwischen Objekt und Betrachtungskategorien gewährleistet ist.“87 Aber selbst wenn man wie Susan McClary davon ausgeht, dass “these models were so pervasive that they informed even Brahms presumably abstract compositions”88, kommt erschwerend hinzu, dass das aus dieser Terminologie entwickelte narrative Schema nicht zu validen, sondern zu unspezifischen und subjektiv beliebigen Ergebnissen führt, wenn es auf den musikstrukturellen Verlauf einer Komposition bezogen wird. Dieses Schema narrativiert aus der Präsentation des ersten (männlichen) und des zweiten (weiblichen) Themas im formalen und tonalen Ablauf eines Sonatensatzes mit Exposition, Durchführung und Reprise eine Geschichte, in der ein männliches Individuum (erstes Thema in der Tonika) einem Anderen, Fremden – in der Regel weiblichen Geschlechts (zweites Thema in der
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88
Vgl. auch die Ausführungen von McClary: Feminine endings, S. 67–79; Hoffmann: Geschlechterkampf; Hoffmann/Schleuning: Tschaikowsky. Vgl. Runge-Woll: Emilie Mayer; Sichardt: Beethovens Geist. Hofmann: Bibliothek. Kalbeck: Brahms I, S. 34: „gelernt aber habe ich gar nichts. Ebensowenig aus den dicken Büchern von Marx.“ Huber: Meisterwerkanalyse, S. 135. Huber diskutiert die Kriterien einer gendersensiblen Musikanalyse in Bezug auf Kompositionen von Frauen. Ihre Ausführungen gelten aber in grundsätzlicher Art und Weise auch für die Kompositionen von Männern, wenn Musik als Ergebnis kulturellen Handelns verstanden werden soll. McClary: Narrative agendas, S. 342f.
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Dominante) – begegnet, sich mit diesem in der Durchführung auseinander setzt und es schließlich besiegt (Reprise: beide Themen in der Tonika). Am Ende des narrativen Geschehens ist die Identität des Helden gesichert und wiederhergestellt.89 Damit ist der formale Verlauf des Sonatensatzes mit einem geschlechtsspezifischen Handlungsmuster narrativiert, also im Sinne einer „gendered sonata form“90 eine genderkonnotierte Narrativierung und Semantisierung eines musikalischen Formschemas vorgenommen worden. Dieses semantisierte Formschema hat Susan McClary auf den ersten Satz der 3. Sinfonie F-Dur op. 90 von Johannes Brahms übertragen.91 Anhand der musikstrukturellen Besonderheiten (Dur-Moll-Spannung in Form einer A-As-Konfusion; das 2. Thema in A-, statt C-Dur wird in der Reprise der „patriarchalen Tonika“92 vorenthalten und steht in D-Dur) interpretiert sie den Satz als den archetypischen Kampf des rebellierenden Sohnes gegen das konventionelle Gesetz des Vaters.93 Im Zentrum des Satzes stehe die ödipale Zwangslage eines an den konventionellen Normen gescheiterten männlichen Individuums. Das selbstständig bleibende zweite Thema stelle demnach kein weibliches Thema, sondern eine Projektion für die eigene Ambivalenz des Helden dar.94 Wenn man das genderkonnotierte Formschema zugrunde legt, so ist auch eine andere Interpretation denkbar. Dabei erscheint eine Beschreibung der Themen in Brahms’ dritter Sinfonie als männlich oder weiblich zunächst einleuchtend, da sie in ihrer Ausprägung auf Gegensätzlichkeiten beruhen, die mit den bürgerlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit im 19. Jahrhundert durchaus in Übereinstimmung zu bringen sind: ein düster-erhabenes, mit großer Geste ausholendes, monumentales erstes Thema und ein serenadenhaftes, tänzerisch-wiegendes, kleinschrittiges zweites Thema.95 Ausgehend von der Feststellung, dass das
89 90 91 92
93 94
95
Vgl. McClary: Narrative agendas. Vgl. Citron: Gendered sonata form. Grundsätzliche Kritik an ihren musikästhetischen und gendertheoretischen Prämissen siehe u. a.: Barkin: either/other; Foxon: Some thoughts; Higgins: Women in music; Sayrs: Deconstructing McClary; Toorn: Feminism; Treitler: Gender. McClary: Narrative agendas, S. 340. McClary verwendet diesen Begriff in Anlehnung an Arnold Schönbergs Harmonielehre. Schönberg bezeichnet den Grundton als „Alpha und Omega aller Ereignisse“, „als patriarchalischen Beherrscher des durch seine Macht und seinen Willen abgegrenzten Gebiets“ (vgl. Arnold Schönberg: Harmonielehre, S. 151). McClary: Narrative agendas, S. 340. McClarys Argumentation erweist sich hier als tautologisch: Indem sie davon ausgeht, dass ein (tonal) autonom bleibendes zweites Thema nicht weiblich sein könne, und sie es funktional der männlichen Sphäre zuordnet, konstruiert sie selbst die Genderkonnotationen, deren Existenz sie in der Sinfonie nachweisen will. Vgl. ausführlich hierzu: Gerards: Narrative Programme. Vgl. die Beschreibung von C. M. Schmidt: Brahms. Sinfonie Nr. 3, S. 190.
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zweite Thema seine tonale Selbstständigkeit bewahrt, könnte man dann das narrative Schema nicht auch dahingehend interpretieren, dass es dem männlichen Subjekt nicht gelingt, das ihm begegnende Andere, das weibliche Subjekt, zu erreichen und es – vorsichtig ausgedrückt – für sich und seine Welt zu gewinnen?96 Dieser alternative Interpretationsansatz basiert auf den gleichen methodischen Vorannahmen wie derjenige von McClary, kommt jedoch zu einem konträren Ergebnis. Bei McClary steht die ödipale Zwangslage eines an den konventionellen Normen gescheiterten männlichen Individuums im Zentrum, im zweiten Interpretationsansatz wird das letztlich erfolglose Werben um eine autonom bleibende Frau geschildert. Dem ersten Interpretationsmodell zufolge wird Brahms’ Musik mit “paranoid agendas relating to gender”97 in Zusammenhang gebracht, da in der Nebenhandlung des zweiten Themas die Gefühle der Impotenz auf Weiblichkeit übertragen werden.98 In der alternativen Interpretation zeigt Brahms im Umgang mit den etablierten, konservativen Geschlechterbildern eine individualisierende Ausgestaltung der männlichen und weiblichen Charaktereigenschaften, weil der Held trotz energiegeladener Willensstärke das autonom bleibende weibliche Individuum nicht für sich vereinnahmen kann. Wenn auch von multiplen Bedeutungs- und Interpretationsebenen in einem Kunstwerk auszugehen ist, die dessen Vielschichtigkeit und Komplexität widerspiegeln, so ist in diesem Fall die Spannbreite der Ergebnisse über Geschlechterkonzepte in Musik doch erheblich. Beide Interpretationsansätze basieren auf dem gleichen narrativen Schema, setzen jedoch unterschiedliche Schwerpunkte bei der Interpretation der musikanalytischen Ergebnisse. Der methodische Ansatz einer genderorientierten Analyse von Instrumentalmusik auf der Basis des von Marx definierten männlich-weiblichen Themengegensatzes eines Sonatensatzes ermöglicht demnach keine zuverlässige Interpretation strukturanalytischer Ergebnisse. Als Ausweg aus diesem methodischen Dilemma böte sich die Orientierung oder Rückbindung an die Intention der komponierenden Person an – insofern diese rekonstruierbar ist und man der Intention des historischen Autors bzw. der historischen Autorin eine Bedeutung für die Aussage eines Werkes beimisst. Die AutorInnen-Intention als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analyse zu wählen, wird hingegen im New Criticism abgelehnt. Dort spricht man diesbezüglich von einem intentionalen Fehlschluss (intentional fallacy) und negiert die Bedeutung des
96
97 98
Eine ausführliche Diskussion dieses Interpretationsansatzes, die durch zusätzliche semantische Spuren konkretisiert werden kann und die auf Brahms’ lebensgeschichtliche Situation sowie auf seine Art und Weise der musikalischen Selbstreflexion ein bezeichnendes Licht wirft, findet sich in: Gerards: Narrative Programme. McClary: Narrative agendas, S. 342. McClary: Narrative agendas, S. 343.
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Autors oder der Autorin für die Interpretation eines Werkes, um die evaluative Funktion einer (wissenschaftlichen) Werkinterpretation zu betonen, ohne deren Subjektivität in Abrede zu stellen. Meiner Auffassung nach würde es jedoch eine unstatthafte Abqualifizierung der einen gegen die andere Auffassung von Musik bedeuten, wenn man der komponierenden Person jegliche Bedeutsamkeit für das eigene Werk absprechen und allein der rezipierenden Person zusprechen würde. Die Komponistenintention bietet vielmehr einen ersten – nicht unbedingt den einzigen – Ausgangspunkt für die Interpretation eines Werkes, die durch zusätzliche Informationen über die ästhetischen Prämissen, den konkreten Entstehungszusammenhang und den soziokulturellen Kontext sowie durch neue Fragestellungen und Analyseverfahren erweitert werden kann.99 Musik ist wie alle anderen ästhetischen Produkte (Literatur, Malerei, Bildhauerei) in den zeitgenössischen gesellschaftlichen Themen- und Gedankendiskurs eingebettet. Die Diskussion der Geschlechterfrage besaß im 19. Jahrhundert zweifellos gesellschaftliche Relevanz.100 Wie Ruth Heckmann anhand von musiktheoretischen Schriften schon für die Zeit zwischen 1750 und 1800 veranschaulichen konnte, fanden die begrifflichen Implikationen des Geschlechterdiskurses Eingang in musikästhetisches Denken und Argumentieren. Die Musik war als Teil der schönen Künste auch Teil des ästhetischen Diskurses, der der gesellschaftskonstituierenden Dichotomie zweier Geschlechter bewusst eine ästhetische Analogie an die Seite zu stellen suchte. Die unterschiedlichen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit reproduzieren sich in der Musikästhetik.101
Carl Dahlhaus formulierte die grundsätzliche Abhängigkeit zwischen gesellschaftlichem und musikästhetischem Diskurs – freilich ohne expliziten Bezug auf die Gender-Thematik, aber mit Blick auf Marx’ Kompositionslehre – so: Die in der allgemeinen Bildung einer Epoche bereitliegenden Formulierungsmöglichkeiten, über die ein Autor verfügt, sind für den Sach- und Wahrheitsgehalt der Einsichten, zu denen er gelangt, kaum weniger bedeutsam als seine Beobachtungen an Notentexten. Die Auswahl, Akzentuierung und Interpretation der Tatsachen, von denen eine Theorie – mit dem Anschein schlichter Induktion – ‚abgeleitet‘ wird, ist weitgehend von den Kategorien abhängig, die in der Sprache eines Zeitalters enthalten sind und den Horizont des Denkens begrenzen.102
So konnte beispielsweise Kordula Knaus für die Rezeption der Beethoven-Sinfonien durch Adolph Bernhard Marx zeigen, dass die „gendered sonata form“ kein allgemeingültiger kultureller Code des 19. Jahrhundert war, dass Marx aber sehr
99 100 101 102
Hierzu ausführlich Kapitel 5.2. Vgl. Kapitel 3.1. Heckmann: Geschlechterpolarisierung in der Musikanschauung, S. 29. Dahlhaus: Ästhetische Prämissen, S. 352.
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wohl narrative Inhalte mit Subjektpositionen kreierte, die bestimmte Bilder von Männlichkeit – und seltener von Weiblichkeit – transportierten.103 Inwieweit das narrative Schema einer genderkonnotierten Sonatenform mit der zeithistorischen Wahrnehmung und Rezeption tatsächlich übereinstimmte und welche Konzepte zu Männlichkeit und Weiblichkeit festzumachen sind, soll anhand unterschiedlicher Rezeptionszeugnisse – private (Briefwechsel) und öffentliche Diskurse (Musikkritiken, Musik- und Konzertführer, Werkbesprechungen, Biographien) – zur Musik von Johannes Brahms überprüft werden. Genderkonnotationen im Musikschrifttum weisen auf begrifflich Greifbares in der Musik hin und umgrenzen ein semantisches Feld, das durch die musikalischen Formen und Strukturen bestimmt und begrenzt wird.104 Diese Begriffsfelder sind Beispiele für begriffliches Verstehen und für das Benennen eines musikalischen Gehalts. Sie geben Aufschluss darüber, welche musikalischen Parameter mit welcher Bedeutung und hier konkret mit welchen Genderkonnotationen belegt worden sind. Will man das begriffliche Verstehen von Musik untersuchen, so ist alles das zu berücksichtigen, was an Begrifflichkeit über Musik vorliegt, als da sind: Traditionen begrifflich-musikalischen Meinens, abbildende, tonmalerische und programmatische Elemente, vokalmusikalische Texte und die Art ihrer Vertonung, Überschriften, Titel, Vortragsanweisungen, KomponistInnen-Äußerungen, rezeptionsgeschichtliche Quellen, die analytische Sprache und die musikalische Terminologie.105 Die Berücksichtigung zeittypischer Interpretations- und Rezeptionsmuster geschlechtlicher Konnotationen ist demzufolge notwendig, damit „in der Musikwissenschaft Geschlechterforschung betrieben werden [kann], die geschlechtliche Konstruktionen aufdeckt ohne die Determinierung von Geschlechtstypologien in musikalischen Merkmalen zu unterstützen.“106 Damit die soziokulturelle Bedingtheit der Konstruktion von Genderkonnotationen in und durch Musik verdeutlicht werden kann, ist das analytische Vorgehen sowohl durch einen sozialgeschichtlichen Fokus als auch durch eine umfassende biographische und musikästhetische Kontextualisierung zu ergänzen, die zeitgenössische Interpretations- und Rezeptionsmuster miteinbezieht. Nur so lässt sich „Musik in die sich ständig verändernden historischen, sozialen und kulturellen Netzwerke der Gesellschaft“107 fundiert und differenziert einbetten und ihre reziproke Verflechtung mit dem zeitgenössischen Geschlechterdiskurs nachzeichnen.
103 104 105 106 107
Knaus: Marx – Beethoven, S. 99. Vgl. Eggebrecht: Musikalisches Denken, S. 123. Vgl. Eggebrecht: Musikalisches Denken, S. 127. Knaus: Einige Überlegungen, S. 328. Knaus: Einige Überlegungen, S. 329.
3
Soziokultureller und biographischer Kontext The acoustic, cultural, and temporal habits of life of the late nineteenth century in which Brahms’s music functioned demand reconsideration if the listener in the late twentieth century wishes to gain an historical perspective on Brahms’s music and its significance.108
Das folgende Kapitel steckt den soziokulturellen und den biographischen Kontext in Bezug auf die Geschlechterkonstellationen zur Brahms-Zeit ab. Anhand der zeitgenössischen Ideen- und Gedankenwelt, der philosophischen, psychologischen und pädagogischen Diskussionen zur Geschlechterdebatte, über die Kommunikation im Freundeskreis bis hin zu Brahms’ eigenen ‚Aussagen‘ (Schatzkästlein, Briefwechsel, Erinnerungsliteratur) sollen die öffentlichen und privaten Diskurse festgemacht werden, innerhalb derer Brahms agierte, komponierte und sich die Rezeption seiner Musik vollzog. Im Mittelpunkt steht nicht eine psychoanalytische Interpretation seines Junggesellendaseins oder seines Verhältnisses zu Frauen und Männern, sondern die Frage, welche Ideenkreise das Geschlechterkonzept von Brahms und damit sein eigenes männliches Selbstbild prägten. Auf diesem Weg soll eine Annäherung an seine gedanklichen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit erfolgen, die sein Handeln und seine kompositorische Praxis geprägt haben. Ziel ist es, die Kenntnisse der Gedankenwelt von Brahms um diesen Aspekt zu ergänzen sowie ein erweitertes Verständnis seiner Werke und seiner Person zu erlangen, denn: „Was wir schließlich über Brahms’ geistige Welt, seine Weltanschauung, seine politischen Überzeugungen, seine religiöse Einstellung und sein Verhältnis zu den geistigen Strömungen seiner Zeit wissen, ist nicht allzuviel.“109
3.1
Geschlechterkonzepte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
Das dominante Kulturmilieu im Kaiserreich war unzweifelhaft bürgerlich-protestantisch geprägt. Schon seit dem späten 18. Jahrhundert hatte sich der unaufhaltsame Aufstieg des Bürgertums als der künftighin vorherrschenden sozialen Schicht im wirtschaftlichen Raum, aber ebenso im kulturellen Leben abgezeichnet.110
Die Ideen und Interessen des aufstrebenden Bürgertums, Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und -gleichheit, Öffentlichkeit, Marktfreiheit, Individualität sowie
108 109 110
Botstein: Time and memory, S. 3. Floros: Brahms in seiner Zeit, S. 11. Mommsen: Bürgerliche Kultur, S. 8.
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Autonomie, prägten in maßgeblicher Art und Weise das 19. Jahrhundert.111 „Zum bürgerlichen Habitus gehörten auch ein besonderer Umgang mit emotionalen und sexuellen Energien, eine neuartige Prägung männlich-weiblicher Rollen und eine ‚moderne‘ Definition geschlechtsspezifischer Wirkungssphären.“112 Eingeleitet wurde dieser Prozess gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als sich im Zuge beginnender Industrialisierung und Urbanisierung der Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft vollzog und das Haus bzw. die Großfamilie als Produktions- und Reproduktionseinheit an Bedeutung verlor. Während der „Sattelzeit“113, also der Übergangszeit zwischen 1770 und 1830, wurde noch eine gewisse Breite an Verhaltensvariationen und Lebensformen von Männern und Frauen toleriert. So konnte auf der einen Seite um 1800 der Mann noch empfindsam und sanft114 sein und einen zentralen Platz in der Familie einnehmen, wo er „selbstverständlich in die emotionalen Beziehungen mit eingeschlossen“115 war. Literarischen Ausdruck fand dieses gesteigerte Empfinden von Männern (und Frauen) in zahlreichen Briefen und Tagebüchern oder in Romanen, in denen die seelischen Befindlichkeiten wie in Friedrich Schlegels Lucinde von 1799 ausführlich dargelegt wurden.116 Auf der anderen Seite war während der Befreiungskriege weibliches
111
112 113 114 115 116
In meinen Ausführungen beziehe ich mich u. a. auf: Connell: Der gemachte Mann; Connell: Wissenschaft von der Männlichkeit; Fraisse/Perrot: Geschichte der Frauen; Frevert: Bürgerinnen und Bürger; Frevert: Mann und Weib; Gay: Liebe im bürgerlichen Zeitalter; Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte; Nipperdey: Deutsche Geschichte, Kapitel II.: Familie, Geschlechter, Generationen; Schmale: Männlichkeit; Weber-Kellermann: Frauenleben im 19. Jahrhundert. Frevert: Einleitung, S. 11. Koselleck: Einleitung, S. XV. Vgl. Trepp: Sanfte Männlichkeit. Trepp: Diskurswandel und soziale Praxis, S. 17; vgl. auch Trepp: Männerwelten privat. Schlegel beschreibt die „Lehrjahre der Männlichkeit“ seines Protagonisten Julius, seine Beziehungen zu ‚edlen‘ Mädchen, seine leidenschaftlichen Freundschaften zu jungen Männern, seine erotische Liebesbeziehung zu einer ehemaligen Schauspielerin und schließlich die freie Liebesbeziehung zu Lucinde, einer jungen Künstlerin. Der Gefühlsüberschwang, die für seine Zeit provozierende Direktheit in der Darstellung ‚unsittlicher‘ Verhältnisse scheinen dem bürgerlichen Moralkodex zu widersprechen. Dennoch findet eine „Ideenverengung ins Bürgerliche und Wohlanständige“ statt, indem die zentralen Topoi wie Überwindung der rauschhaften Liebe hin zur verantwortungsbewussten Liebe, die Verehrung von Weiblichkeit in Form von Mutterschaft (Lucinde erwartet ein Kind) oder das Ideal von Elternschaft als das eigentliche Ziel männlichen Werdens thematisiert werden. Die erotischen Exzesse im ersten Teil bilden das psychologische Gegengewicht zum bürgerlichen Lebensentwurf im zweiten Teil, so dass man Lucinde „als ein Abtasten aller Existenzmöglichkeiten“ zwischen Amoralität und Bürgerlichkeit verstehen kann (vgl. Paulsen: Nachwort, S. 164 und 170).
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Soldatentum einer Eleonore Prochaska (1785–1813)117 – wenn auch inkognito und in Männerkleidern – möglich und wurde mit militärischen Auszeichnungen belohnt.118 In den folgenden Jahrzehnten schritt schließlich die Realisierung der hierarchischen Geschlechterpolarität so weit fort, dass von einem hegemonialen Männlichkeitskonzept gesprochen werden kann. Mit diesem Begriff, entwickelt vom australischen Soziologen Robert William Connell119, wird die zu einer bestimmten Zeit anerkannteste und begehrteste Form von Männlichkeit bezeichnet, die jedoch immer relational zu verstehen ist, weil es um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und um die Differenzen und Hierarchien unter Männern geht. Konstitutiv ist das Element der kategorischen Abgrenzung von homosexuellem Verhalten und von Weiblichkeit. Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als hegemonial angesehene Konzept von Männlichkeit basierte auf der Trennung zwischen öffentlicher außerhäuslicher Tätigkeit und Produktion und privaten innerhäuslichen Aufgaben der Haushaltsführung und Kindererziehung, also auf einer Aufteilung in männliche und weibliche Lebensräume. Dabei gingen die Geschlechtertheorien120 der Zeit von der Annahme aus, dass ‚die Natur‘ die Geschlechter polarisierend geschaffen habe und dass „aus der Anatomie des Geschlechtsaktes [...] alle körperlichen und geistigmoralischen Verschiedenheiten von Frauen und Männern abzuleiten“121 seien. Der Mann galt von ‚Natur‘ aus als aktiv, stark, kühn, rational und frei. Seine Aufgaben als Ernährer und Beschützer der Familie erfüllte er in seinem nach außen orientierten Wirken und Schaffen. Die Frau dagegen galt als passiv, emotional, schwach und abhängig. Ihre ‚natürliche‘ Aufgabe und ihre erste Pflicht bestanden darin, Kinder zu gebären, zu ernähren und zu erziehen. Daneben hatte sie für die häusliche Versorgung der Familie zu sorgen, das vom Mann Erworbene zu erhalten und
117
118 119
120 121
Vgl. Kapitel Geschlechterbilder: Feige Männer zwischen weiblichen und männlichen ‚Helden‘, in: Schilling: Kriegshelden, S. 77–95; Eleonora Prochaska, die Tochter eines Unteroffiziers und Musiklehrers, meldete sich als August Renz freiwillig zum Lützower Freikorps und starb an einer Schussverletzung. So wurde die Bremerin Anna Lühring (1796–1866), die ebenso wie Eleonore Prochaska im Lützower Freikorps diente, nach dem Krieg mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet (vgl. Schilling: Kriegshelden, S. 86). Connell: Der gemachte Mann. Die englische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Masculinities. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit strukturiert die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft Männlichkeit ausgehandelt und woran die individuelle Männlichkeit gemessen wird. Außerdem legt sie die Relation fest, nach der Weiblichkeit und die gesellschaftlich geforderte Frauenrolle definiert wird Einen Überblick bieten Doyé/Heinz/Kuster: Philosophische Geschlechtertheorien; Frevert: Bürgerliche Meisterdenker; Honegger: Ordnung der Geschlechter; Frevert: Mann und Weib. Frevert: Einleitung, S. 12.
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den Haushalt zu führen. Grundsätzlich galten Männer und Frauen „als in ihren Geschlechtseigentümlichkeiten unveränderliche Wesen [...].“122 In den Diskursmedien der damaligen Zeit (Ehehandbücher, Erziehungsratgeber, Zeitschriften, philosophische und pädagogische Veröffentlichungen, Literatur, Malerei, Musik und Theater) kristallisierten sich Geschlechterbilder heraus, die als Ideal einer bürgerlichen Frau Eigenschaften wie Emotionalität, Häuslichkeit und Mütterlichkeit und als Ideal eines Mannes Eigenschaften wie Aktivität und Rationalität in den Mittelpunkt stellten. „Die ausgefeilte Unterscheidung zwischen Weiblichem und Männlichem gehört ebenso wie ihre konträre Kodierung zu den langlebigsten Errungenschaften der bürgerlichen Kultur.“123 Die im Geschlechterdiskurs verhandelten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit sind als kulturelle Konstrukte immer in Relation zueinander zu sehen. Dabei nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts die Diskussion über weibliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Pflichten einen sehr viel größeren Raum ein als die Frage nach dem Wesen des Mannes. Dies wird allein an der Anzahl und dem Umfang zeitgenössischer Lexikonartikel zu den Stichworten „Frau“, „Weib“ oder „Geschlecht“ deutlich124, während der Mann und männliche Wesensmerkmale als allgemein-menschliche Eigenschaften verstanden wurden – ebenso wie mit der Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht das Wahlrecht von Männern gemeint war. Erst die Männlichkeitsforschung der letzten Jahrzehnte hat das ‚erste Geschlecht‘ aus dem toten Winkel wissenschaftlicher Aufmerksamkeit geholt und „einem Nachdenken Platz gemacht, in dem Männlichkeit und Weiblichkeit gleichermaßen als Variablen diskursiver Praktiken erscheinen und als Ergebnis komplexer Inszenierungsstrategien begriffen werden.“125 Diese Konzepte und Praxen ordnen und normieren die gesellschaftliche Wirklichkeit beider Geschlechter und wirken als ideologisches Programm in sämtliche soziokulturellen Felder hinein. Dem polaren Charakter des bürgerlichen Geschlechtersystems „entspricht die Vielzahl kultureller Kodierungen, die zumal die westlich-bürgerliche Kultur prägen: Natur vs. Kultur, Seele vs. Geist, Gefühl vs. Vernunft, Passivität vs. Aktivität. Diese Kategorien fügen sich in die Konstruktion des Geschlechtergegensatzes ein, deuten auf dessen alle Lebens- und Denkbereiche durchdringenden Bezüge.“126 Das als überzeitlich und universal geltende Konstrukt der Geschlechterpolarität127 besaß eine nicht zu unterschätzende Wirkungsmacht, die sich beispiels-
122 123 124 125 126 127
Frevert: Mann und Weib, S. 56. Frevert: Konstruktion von Männlichkeit, S. 70. Vgl. hierzu Frevert: Mann und Weib, S. 32ff. Stephan: Im toten Winkel, S. 17. Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 11. Vgl. hierzu grundlegend den zum Klassiker avancierten Aufsatz von Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere.
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weise auch im musikbezogenen Diskurs festmachen lässt. So versuchte der Musikschriftsteller Otto Gumprecht in seinem 1876 erschienen Aufsatz Die Frauen in der Musik128 „das Räthsel zu lösen, weshalb das weibliche Geschlecht innerhalb der Tonwelt, der es in seiner Tagesordnung doch den breitesten Raum gönnt, so unendlich geringen Anspruch auf den Ruhm der Entdecker und Eroberer erheben kann.“129 Und er griff in seiner Erklärung auf die ‚natürlichen‘ Geschlechtseigenschaften zurück: Die mit allen ihren Fühlfäden so fest und innig an das unmittelbare Natürliche, Positive und Empirische geschmiegte weibliche Seele konnte sich nicht schöpferisch in einer Kunst erweisen, welche, abgekehrt dem Gegenständlichen, mehr als jede andere die freieste Selbstherrlichkeit der schaffenden und gestaltenden Phantasie zur Voraussetzung hat.130
Gumprechts Auffassung nach fehle es Frauen zwar an freier abstrakter Kreativität und individueller Schaffenskraft, dennoch erkannte er ihre Bedeutung auf dem Gebiet der musikalischen Reproduktion an. Die weibliche Freude an Gesang und Spiel belebe die Häuslichkeit und die Salons; ein gewisses musikalisches Repertoire gehöre zur Aussteuer der Töchter, und die Macht des Dilettantentums, in dem das weibliche Element überwiege, habe einen rückwirkenden Einfluss auf die Gesamtentwicklung der Kunst.131 Ebenso betonte er die Bedeutung der weiblichen Stimme für und den Einfluss der Primadonna auf die Opernproduktion sowie die Bedeutung der Instrumentalistinnen (Klavier und Geige) für den Konzertbetrieb. Er stellte fest, dass ihnen ein „auf’s feinste entwickelter Sinn für Glätte, Ordnung und Sauberkeit der technischen Gestaltung [eigen ist]. Ungemein schmuck und reinlich [...], nirgends verwirren sich die Fäden, auch nicht die kleinste Masche lassen die zarten, zu jederlei kunstreicher Handarbeit so geschickten Finger fallen.“132 Aber: „Blos [sic] in den seltensten Fällen verfügt der weibliche Anschlag über die unerschöpfliche Kraft und Ausdauer, welche die moderne Technik voraussetzt.“133 Und „ein geistiges Hemmniß kommt hinzu, das seinen Grund in dem eng in sich zusammengefaßten, meist nur das Allernächstliegende mit innigerem Antheile 128
129 130 131 132 133
Theodor Billroth äußerte sich in einem Brief vom 4.12.1873 an Brahms positiv über diesen Aufsatz („Ich finde dieselben vortrefflich an Inhalt wie an Darstellung: mir scheint alles Gesagte so wahr; wenn auch nicht durchwegs neu, so doch nie trivial, sondern ursprünglich und so schön ernsthaft warm.“), der vor der Buchveröffentlichung in der Berliner Nationalzeitung erschienen war, und empfahl ihn Brahms zur Lektüre. Eine Antwort von Brahms ist leider nicht überliefert (vgl. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 203). Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 15. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 15. Vgl. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 20f. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 26. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 27.
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ergreifenden Empfindungsleben der Frauen hat.“134 Gumprecht betrachtete weiterhin die Leistungen der Frauen im musikpädagogischen Bereich, die Abhängigkeit der Komponisten vom weiblichen Musikgeschmack sowie die Frauenfiguren in Lied und Oper seiner Zeit. Er unternahm demnach den Versuch, die Rolle der Frau in der Musik umfassend zu würdigen, blieb aber in seinen Erklärungen dem Konzept von Weiblichkeit seiner Zeit verhaftet, das gemäß der damaligen Vorstellungen der Frau den häuslichen Lebensbereich zusprach und kreativ-schöpferische sowie abstrakte Fähigkeiten absprach. Die Frau könne nicht aktiv produzieren, sondern lediglich nachschaffend reproduzieren, aber auch dies nur im Rahmen ihrer weiblichen und damit begrenzten Möglichkeiten, denen es an Ausdauer, Kraft und umfassender geistiger Kompetenz mangele. Lediglich als Thema und Objekt musikalischer Werke, als das „‚ewig-Weibliche‘ oder die Liebe, das mütterliche Urelement alles Lebens wie aller Kunst“135 und als verehrungswürdige Frauengestalten in den Kompositionen der Männer, erlange sie Relevanz für das Musikleben. Gumprecht nannte als Beispiele Beethovens Leonore und ihre allgewaltige „Opferflamme selbstlosester Treue und Hingebung, von welcher das Verhältnis des Weibes zum Manne und umgekehrt seine höchste sittliche und poetische Weihe empfängt“136, und er erkannte in der musikalischen Symbolik der Adagios und Scherzos der Sonaten und Sinfonien ebenso wie in den zweiten Themen der Allegrosätze „eine überwiegend weibliche Empfindungsweise [...].“137 Gumprechts Ausführungen zeigen beispielhaft die Wirkungsmacht des Geschlechterdiskurses im 19. Jahrhundert auf den Musikdiskurs, in dem sich das in Geschlechter-Dichotomien verhaftete Denken mit seinen polaren Kodierungen wie Aktivität/Passivität, Vernunft/Emotionalität, Kraft/Schwäche, öffentlich/privat, Produktion/Reproduktion usw. wiederfinden lässt. Die als ‚natürlich‘ eingeforderte Differenz zwischen den Geschlechtern, die „eines der wichtigsten Erkennungs- und Distinktionszeichen [darstellte], mit denen sich das Bürgertum des späten 18. und 19. Jahrhunderts von anderen sozialen Klassen und Schichten zu unterscheiden suchte“138, konnte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eingeforderte Geschlechternorm etablieren: Erst mit den deutlich restaurativen Tendenzen nach den Befreiungskriegen sowie der Ausdifferenzierung und Dynamisierung der Gesellschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts klafften Männer- und Frauenwelten stärker auseinander, wurde es für Männer und Frauen zunehmend erforderlich, sich gemäß ihren sogenannten Geschlechtscharakteren
134 135 136 137 138
Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 28. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 45. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 54. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 46. Frevert: Mann und Weib, S. 141.
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Soziokultureller und biographischer Kontext zu verhalten. Jetzt erst wurden Öffentlichkeit und Privatheit, Erwerbs- und Familienleben deutlicher voneinander abgegrenzt.139
Ein für das hegemoniale Männlichkeitskonzept der Zeit nicht zu unterschätzender Faktor waren die militärischen Erfahrungen vieler Bürger in den neapolitanischen Kriegen140 bzw. die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen im Jahr 1814, die nach dem erfolgreichen Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 auch für das Deutsche Reich übernommen wurde. Das Ideal des patriotisch-wehrhaften Bürgerhelden dominierte, ebenso die Glorifizierung des Kampfes als bestimmendes Daseinsprinzip einer männlichen Existenz. In den folgenden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde das Militär zum Ort männlicher Selbstverwirklichung stilisiert.141 Es ist davon auszugehen, „dass der männliche Geschlechtscharakter im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend soldatische Elemente inkorporierte. Militärische Werte und Ordnungsvorstellungen [...] wurden auf diese Weise mehr und mehr zum Allgemeingut der männlichen Nation.“142 Fand im hegemonialen Männlichkeitskonzept eine Heroisierung und Militarisierung des Mannes statt, so wurde in Abgrenzung dazu die Frau auf die Welt der Emotionen und der Familie beschränkt, weil ihre biologische Fähigkeit, Kinder gebären und stillen zu können, sie dafür zu prädestinieren schien. Ihre damit verbundene größere Affinität zur Natur und zu allem Körperlichen wirkte sich zudem auf den Diskurs über weibliche Sexualität aus. Zwei konträre Positionen lassen sich in diesem Rahmen für das 19. Jahrhundert ausmachen: Frauen seien ausschließlich sinnlich-sexuelle Wesen, die eine Gefahr für den Mann bedeuteten, da sie ihn sexuell abhängig machen und schwächen könnten, oder Frauen seien vollkommen asexuelle Wesen. Auch in Bezug auf Sexualität galt das weibliche Geschlecht als das problematische, was sich in zahlreichen, kontroversen Abhandlungen widerspiegelte:143 „[...] zu Anfang und gegen Ende des vorigen Jahrhunderts [...] diagnostizierten manche die Frau als ebenso leidenschaftlich wie den Mann, während andere auf ihrer natürlichen Frigidität beharrten.“144 In puncto männliche Sexualität nahm die Frage nach der Befriedigung des männlichen Sexualtriebes breiten Raum in der Hygiene- und Ratgeberliteratur ein. Männliche Sexualität
139 140 141 142
143 144
Trepp: Diskurswandel und soziale Praxis, S. 16. Vgl. Hagemann: Patriotisch-wehrhafte Männlichkeit. Vgl. Schilling: Kriegshelden, S. 376f. Frevert: Konstruktion von Männlichkeit, S. 76. Auch das Männlichkeitsideal der deutschen Turnbewegung, das auf körperliche Ertüchtigung, Stärke, Tapferkeit und Mut abzielte, ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen (vgl. McMillan: Deutsche Turnbewegung). Vgl. das Kapitel Das problematische Geschlecht, in: Gay: Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, S. 159–186. Gay: Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, S. 169.
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wurde ausschließlich heterosexuell normiert und mit der gesamtkörperlichen Konstitution verknüpft. Da vorehelicher Geschlechtsverkehr mit ehrbaren bürgerlichen Frauen undenkbar war, forderten viele Mediziner die Befriedigung bei Prostituierten – selbst nach der Eheschließung, um sexuelle Frustrationen bei Ehemännern zu vermeiden.145 Onanistische Praktiken galten als ebenso gesundheitsschädlich wie Homosexualität oder ein exzessives Sexualleben, die im Verruf standen, körperlichen Zerfall, Wahnsinn, Schädigungen des Rückenmarks, Tuberkulose oder Hysterie (bei Frauen) zu verursachen. Ehehandbücher, Besserungsliteratur und medizinische Aufklärungsschriften befassten sich mit den Unterschieden der männlichen und weiblichen Sexualität, gaben Ratschläge für Männer und Frauen zur Erfüllung der ehelichen Pflichten und philosophierten über die angeborenen, natürlichen Wesensmerkmale, die sich im Vollzug des Geschlechtsaktes zeigten und die vermeintliche Rückschlüsse auf den Geschlechtscharakter zuließen. „Die Sexualität mit den Kernelementen der Selbst-Beherrschung des Mannes und der Virginität der Frauen vor der Ehe, der Bindung der Sexualität an personale Liebe und institutionelle Ehe, die absolute Geltung der Normalität (also der Heterosexualität), das war das Natürliche, war das Vernünftige, war das Gesunde.“146 Verband sich im Idealfall einer harmonischen Ehe die körperliche und seelische Liebe, so stellte das Schreckgespenst der zügellosen, sinnlichen Sexualität der Frau eine Bedrohung der männlichen Identität dar. In der Kunst, sprich in der Malerei, Literatur und auch in der Musik, finden sich – verstärkt am Ende des 19. Jahrhunderts – neue, erotisch geprägte Frauenmythen147, die „zwischen Verführung, Dämonie, Welterlösung“ changieren und in denen dekadente, dämonisch-zauberische, elementar-naturhafte Frauenfiguren als „Femme fatale und Femme fragile, Salome und Rautendelein“148 in Erscheinung traten. Die Dekadenz des Fin de siècle, die Lust am Sinnlich-Schwülen und Sexuellen, lässt immer auch die destruktive Kraft der Sexualität mit anklingen – „von Strindbergs Geschlechterkampf, von der Hörigkeit und vom Lustmord bei Wedekind.“149 Das heißt: Das Abdrängen der Sexualität in die Intimität der Ehe und die Tabuisierung des Redens über sexuelle Themen sind nicht gleichzusetzen mit einer prinzipiellen oder tatsächlichen Sexualfeindlichkeit. „Aber diese Verteidigungshaltung der Bürger war ein Tribut an die Leidenschaft; er verriet ingrimmigen Respekt vor ihren Kräften. Sie lädt zu der paradoxen Spekulation ein, daß das
145 146 147 148 149
Schmale: Männlichkeit, S. 210. Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 104. Vgl. u. a. Eschenburg: Mythos in der Kunst; Karentzos: Kunstgöttinnen; Stuby: Liebe, Tod und Wasserfrau; Unseld: Man töte dieses Weib; Vogel: Gestalt der Wasserfrau. Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 108. Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 109.
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bürgerliche Jahrhundert im Innersten erotischer war als andere Zeiten, die unbefangener über ihre fleischlichen Gelüste und Beglückungen sprachen.“150 Die dichotome Anordnung der Geschlechtscharaktere als ein ideologisches Konstrukt, ein Ordnungsprogramm, spiegelt die reale Geschlechterpraxis also nicht unbedingt wider. Zwar kann von der diskursiven Wirkungsmacht dieses Konstrukts ausgegangen werden, aber mit den realen Lebensbedingungen vieler bürgerlicher Frauen und Männer stimmte das Geschlechter-Ideal in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht überein. Individuelle Abweichungen von der Norm gab es ebenso wie kritische Gegenstimmen zu diesem Konzept.151 Daher ist die Etablierung der Geschlechterordnung nicht mit einem Ende der Geschlechterdebatte gleichzusetzen. Eher das Gegenteil war der Fall, zumal im Zuge der bürgerlichen Gleichheits- und Freiheitsdebatte immer wieder Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen aufkamen. In Frankreich formulierte Olympe de Gouges bereits 1791die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin und bezahlte ihre Forderungen mit dem Leben. Gottfried Theodor Hippel veröffentlichte 1792 erste Gedanken zur ‚sozialen Frauenfrage‘ in der ihm zugeschriebenen Abhandlung Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (Berlin). 1869 verfassten in England John Stuart Mill und seine Frau Harriet Taylor Mill mit ihrer Tochter Helen die seinerzeit berühmteste emanzipatorische Schrift mit dem Titel Die Hörigkeit der Frau152, in der die vermeintlich ‚natürlichen‘ Charaktermerkmale der Geschlechter als soziales und nicht als natürliches Faktum analysiert wurden. Grundsätzlich lassen sich für den deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert zwei bürgerliche Emanzipationsbewegungen ausmachen, die die Diskussion um die ‚Frauenfrage‘ bis heute prägen. Zum einen die egalitären Emanzipationstheorien der 1860er Jahre, für die Louise Otto-Peters als Repräsentationsfigur genannt werden kann, und zum anderen die Differenztheorien, die in der Idee der „geistigen Mütterlichkeit“ eine Kulturaufgabe der Frau sahen. 1865 gründete sich in Leipzig der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF), der den Ausschluss bürgerlicher Frauen aus der Arbeitswelt der Männer kritisierte. Um der Verarmung alleinstehender Frauen entgegenzuwirken, forderte der Verein das Recht auf Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung der Frauen und unterstützte die Arbeiterinnenbewegung in ihrem Kampf um humanere Arbeitsbedingungen. Diese Ideen gingen „in den 1860er Jahren einher mit der Revision des Geschlechterverhältnisses und einer Neukonzeption des weiblichen Lebensentwurfs
150 151 152
Gay: Liebe im bürgerlichen Zeitalter, S. 426. Vgl. Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 11f. Engl. Titel The subjection of women, London 1869. Noch im gleichen Jahr lag die deutsche Übersetzung von Jenny Hirsch, Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Mitglied des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, vor, die 1873 bereits eine zweite Auflage erfuhr.
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[...].“153 Durch Partizipation der Frauen am gesellschaftlichen Leben in Form von Erwerbsarbeit sollten der Lebensraum von Frauen nicht auf den engen Bereich der Häuslichkeit beschränkt bleiben und eine Veränderung der Gesetze, der Konventionen und Moralvorstellungen eintreten. „Sozialer Fortschritt und Liberalisierung der Gesellschaft seien auf die Dauer nur zu garantieren, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen – also auch die Frauen – daran beteiligt wären.“154 Ihre Denkerinnen akzeptierten die Geschlechterrollen nicht als naturgemäß, sondern sahen in ihnen den Ausdruck der Unterdrückung der Frauen und der Sicherung der männlichen Privilegien. Die StreiterInnen der egalitären Bewegung gründeten ihren Anspruch auf Emanzipation auf das Rein-Menschliche, nicht auf das Ewig-Weibliche. Wertkonservative Männer (und Frauen) wiesen diese Forderungen pauschal zurück. Ihre Reaktion, auch von einem Teil der eher liberalen Intellektuellen, auf die Forderungen der Frauenbewegung war unverhohlene Misogynie oder extremer Sexismus.155 Das pauschale Gegen-Argument lautete, dass „das ewig und wesentlich Weibliche allem Geistigen fremd“156 und die Frauenemanzipation eine „in der Zeit liegende Erkrankung des menschlichen Gehirns“157 sei. Liberale BildungsbürgerInnen, die die Forderungen der Frauenbewegung differenzierter betrachteten, befanden sich in einem argumentativen Dilemma: „Die Ablösung einer innerbürgerlichen Gruppe, der alleinstehenden Frauen, aus der bislang einzig gültigen bürgerlichen Lebensform, der patriarchalischen Familie, schien diese Familie selber und damit Wertmaßstäbe und Verhaltensstrukturen des Bürgertums grundsätzlich in Frage zu stellen“158 und die Identität des bürgerlichen Manns zu tangieren. Prinzipiell sahen sie die Forderungen nach Gleichstellung als berechtigt an, wollten aber die Einbindung der Frau in den familialen Kontext nicht gefährden. Durch die Beteiligung der Frauen an bürgerlichen Tätigkeiten anstelle einer ausschließlichen Beschränkung auf den innerfamiliären Bereich „sollte die Einspeisung weiblicher und vor allem mütterlicher Qualifikationen in die Gesellschaft helfen, die bürgerlichen Verhältnisse und auch die Familie zu verbessern.“159 Unter dem Einfluss der pädagogischen Theorien von Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich Fröbel, die wiederum stark von Jean-Jacques Rousseau und seinen
153 154 155 156 157 158 159
Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 192. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 197. Lombroso: Das Weib; Möbius: Schwachsinn des Weibes; Weininger: Geschlecht und Charakter. Hobsbawm: Kultur und Geschlecht im europäischen Bürgertum, S.181. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 195. Bussemer zitiert hier eine Schrift von Eduard Reich: Studien über Frauen, Jena 1875, zit. nach: Der Frauen-Anwalt, 6. Jg. 1875/76, S. 28. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 195. Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe, S. 131.
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im Emile (1762) formulierten Erziehungsgedanken beeinflusst waren, „setzte sich eine differenziertere Definition des Wesens der Frau durch, die Weiblichkeit weitgehend mit Mütterlichkeit gleichsetzte.“160 Geistige Mütterlichkeit wurde zur Kulturaufgabe des weiblichen Geschlechts. „Gleichzeitig entschärfte der jetzt auf ‚Muttersorge im öffentlichen Leben‘ reduzierte Forderungskatalog der Frauenbewegung die Bedrohung männlicher Machtmonopole durch den Feminismus, der damit seinen Anspruch auf Partizipation an allen gesellschaftlichen Bereichen und politischen Entscheidungsinstanzen aufgegeben hatte.“161 Diese Forderung hatte größere Integrationskraft als die Forderungen der Egalitätsbewegung: Das vom Geschlechterdualismus ausgehende Konzept [der Geistigen Mütterlichkeit] stellte die Mutterrolle als Naturberuf und Kulturaufgabe der Frau nicht nur auf die gleiche Ebene wie die gesellschaftlichen Leistungen der Männer, sondern ordnete das Weibliche in der Antithese von Leben und Geist über dem Männlichen an, bot dadurch Kompensation und ermöglichte ein neues Selbstbewußtsein für alle Frauen, ohne doch ihre Unterprivilegierung zu verändern.162
Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Rolle die Geschlechterdebatte und die soziale Frauenfrage in Wien spielte, wo Brahms sich ab 1862 aufhielt. Die Wiener Szene der bildenden Kunst (Hans Makart, Gustav Klimt), der Architektur (Wiener Ringstraße; Gottfried Semper), die Wiener Universität und Schule der Medizin (Ignaz Philipp Semmelweis, Theodor Billroth, Siegmund Freud) belegen Wiens Bedeutung als kulturelles und wissenschaftliches Zentrum. Philosophen wie Franz Brentano und Edmund Husserl, Politiker wie Theodor Herzl, die Pazifistin und Schriftstellerin Bertha Suttner, die 1905 den Friedensnobelpreis erhielt, oder die Frauenrechtlerin Rosa Mayreder repräsentierten das vielschichtige kulturelle Milieu Wiens, das auf literarischem (Wiener Burgtheater) wie auf musikalischem Gebiet (Wiener Hofoper, Gesellschaft der Musikfreunde)163 als weltoffen und fortschrittlich galt. Bereits 1848 gründete Karoline von Perin, eine der Pionierinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, den Wiener demokratischen Frauenverein, dessen „Ziel nicht mehr die karitative Arbeit, sondern die Verbreitung des demokratischen Prinzips in allen weiblichen Kreisen und die Gleichberechtigung der Frauen im Bereich der Gesellschaft und der Bildung war.“164 Nach der Niederwerfung der Revolution wurde der Frauenverein aufgelöst; Karoline von Perin wurde verhaftet,
160 161 162 163 164
Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 199. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 201. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 203. Vgl. Krones [u.a.]: Artikel Wien; Krones: Wien; Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie, Stichwort „Frauenbewegung“ unter http://www.wien.spoe.at/online/page.php?P=11792 [15.09.2009].
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enteignet, und sie verlor das Sorgerecht über ihre Kinder. In den folgenden Jahren stand die österreichische Frauenbewegung165 still. Erst im Zuge der Wirtschaftskrise der 1860er Jahre wurde 1866 der Wiener Frauenerwerbsverein gegründet, der Näh- und Strickstuben, Fortbildungsschulen und sogar eine Frauenhandelsschule einrichtete, deren Spektrum sich gemäß des bürgerlichen Frauenideals auf die Berufe Erzieherin, Kindergärtnerin und Krankenpflegerin beschränkte, um auch für bürgerliche Frauen, deren Bildung166 keine geeignete Berufsvorbereitung darstellte, ehrenhafte Verdienstmöglichkeiten zu schaffen. Auf der Wiener Weltausstellung 1873 präsentierte sich Wien der Welt – unter anderem mit einem Pavillon der Geschichte der Erfindungen und der Frauenarbeit.167 1888 wurde den selbstständig steuerzahlenden Frauen in Niederösterreich ihr seit 1861 für den Landtag geltendes aktives Wahlrecht aberkannt; dies löste den eigentlichen Beginn der österreichischen Frauenbewegung aus. Schließlich gründeten Auguste Fickert, Marie Lang und Rosa Mayreder 1893 den Allgemeinen Österreichischen Frauenverein und forderten die absolute staatsbürgerliche Gleichstellung der Frauen, ihre Zulassung zu allen Bildungsstätten und gleiche Berufsmöglichkeiten bei gleichem Lohn sowie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, das jedoch erst 1918 erreicht wurde.168 In den Diskursmedien der damaligen Zeit, zu denen auch diverse Frauenzeitungen169 wie die Allgemeine Frauen-Zeitung170 oder die ArbeiterinnenZeitung171 zählten, auf öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen war der ‚Kampf der Frauen‘ um Emanzipation, Bildungschancen und Wahlrecht tagespolitisches Gespräch und „wurde damals viel diskutiert: in der populären Presse wie in
165 166 167 168 169 170
171
Eine ausführliche Chronologie findet sich auf den Internet-Seiten des AriadneProjektes der Österreichischen Nationalbibliothek unter http://www.onb.ac.at/ariadne/vfb/vfbchron.htm [15.09.2009]. Vgl. Albisetti: Mädchenerziehung. Vgl. Barth-Scalmani/Friedrich: Frauen auf der Wiener Weltausstellung. Die Darstellung der Frauenarbeit beschränkte sich auf die häuslichen und kunsthandwerklichen Tätigkeiten. Frauen, die das 21. Lebensjahr vollendet hatten, erhielten das aktive und jene, die das 29. Lebensjahr überschritten hatten, das passive Wahlrecht. Vgl. hierzu das Bestands- und Inhaltsverzeichnis der Österreichischen Nationalbibliothek unter http://www.onb.ac.at/ariadne/frauenzeitschriften.htm [15.09.2009]. Unter diesem Titel erschienen verschieden ausgerichtete Zeitschriften, beispielsweise das Organ der Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Lehrerinnen. Zeitschrift für Frauenrecht, Frauenarbeit und geistige Fortbildung, das von Mathilde und Arthur Korn herausgegeben wurde und von 1892 bis 1894 erschien,oder die Vereinszeitung der österreichisch-ungarischen Frauenvereine, die von 1886 bis 1887 erschien (vgl. http://www.onb.ac.at/ariadne/dokumente_online.htm [15.09.2009]). Das Sozialdemokratische Organ für Frauen und Mädchen erschien von 1892 bis 1919 und wieder von 1920 bis 1924; vgl. http://www.onb.ac.at/ariadne/dokumente_online.htm [15.09.2009].
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der Romanliteratur, auf dem Theater wie in der Malerei. Seine ganze Bedeutung für das bürgerliche Leben bleibt freilich etwas weithin Rätselhaftes; denn oft verstecken sich die Gefühle in intimen Briefwechseln oder privaten Notizen.“172 Es ist davon auszugehen, dass der Geschlechterdiskurs auch einen Einfluss auf die Produktion und Rezeption der Musik gehabt hat, was im Folgenden konkret an der Person von Johannes Brahms und seiner Musik untersucht werden soll.
3.2
Annäherung an die Geschlechterkonzepte von Johannes Brahms
Um sich den Ideen- und Gedankenkreisen von Brahms zur Geschlechterfrage zu nähern, stehen mehrere Quellen (Bibliothek, Schatzkästlein, Briefwechsel, Erinnerungsliteratur) zur Verfügung, die jedoch in ihrer Reliabilität und Validität unterschiedlich zu bewerten sind. Zum einen kann man die Bibliothek von Brahms,173 die sich in der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien befindet, auf die für Brahms typischen Anstreichungen und Kratzspuren untersuchen. Zum anderen stehen seine Sprüchesammlungen, die von ihm selbst so genannten Schatzkästlein des jungen Kreisler, als Quelle zur Verfügung. Die An- und Unterstreichungen in den Büchern weisen zwar auf eine Hervorhebung der in den Sätzen vermittelten Gedanken hin, aber es bleibt offen, ob sie Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken sollen. Und es ist nicht auszuschließen, dass Inhalte von unangestrichenen Passagen ebenfalls von Bedeutung sind. Des Weiteren spiegelt die Bibliothek nicht die Gesamtheit der brahmsschen Literaturrezeption wider: Brahms hat mehr Bücher gelesen, als in seiner Bibliothek nachzuweisen sind, denn er lieh Bücher aus oder verschenkte sie. Zum Teil sind die vorhandenen Bücher seiner Bibliothek noch unaufgeschnitten, Brahms hat sie also nicht oder nur ausschnittweise gelesen. Nur in einer vergleichenden Sicht von Büchern und Schatzkästlein ist also eine gewisse Verlässlichkeit zu erreichen, insofern ‚Aussagen‘ aus diesen beiden Quellen miteinander korrespondieren. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass Brahms die Sentenzen und Zitate in seine Schatzkästlein eingetragen hat, weil er sie aufgrund der Nähe zu seinen eigenen Gedanken und Gefühlen festhalten wollte. Dass es sich eher um Zustimmung zur eigenen Meinung als um eine kontrastierende Stellungnahme zur eigenen Position handelt, geht aus der Titelgebung der Merkbücher hervor: Es handelt sich um „Schatzkästlein“, also um gedankliche Schätze, die in den Heften aufbewahrt werden, und um „Schatzkästlein des jungen Kreisler“, also einer Romanfigur, mit der Brahms sich identifizierte – denn er unterzeichnete in den 1850er Jahren Briefe und auch Kompositionen mit 172 173
Gay: Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, S. 190. Vgl. Hofmann: Bibliothek.
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dem Namen „Kreisler“ oder „Kreisler junior“. Ebenso weist der Titel von zwei Heften, „Schöne Gedanken über Musik“, darauf hin, dass es sich um Zitate handelt, die im positiven oder zustimmenden Sinne notiert wurden.174 Die Schatzkästlein von Brahms erinnern an die von Michel Foucault im Zusammenhang seiner L’écriture de soi (1983) beschriebenen hypomnêmata, eine Art antiker Tagebücher, in die Lebensweisheiten, Zitate, Verhaltensregeln und Sprüche eingetragen wurden. Ihre Funktion war es, „bereits Gesagtes festzuhalten, Gehörtes oder Gelesenes zu sammeln, und das zu einem Zweck, der nichts Geringeres ist als die Konstituierung des Selbst.“175 Die Gedanken wurden zwar von anderen vorformuliert, aber von Brahms gesammelt, aufgeschrieben und so zu einem eigenen Ideen- und Gedanken-Schatz zusammengefügt.176 Anhand der Schatzkästlein und der Unterstreichungen in den Büchern lassen sich genderbezogene Akzente und Denk-Richtungen ausmachen, die dann in einem zweiten Schritt um seine Aussagen und Reaktionen im Briefwechsel, um seine in der Biographieschreibung und so genannten Erinnerungsliteratur berichteten Verhaltensweisen ergänzt werden sollen. Die zahlreichen Briefwechsel, die Brahms mit FreundInnen, KollegInnen oder Verlegern geführt hat, scheinen gegenüber den Unterstreichungen und den Schatzkästlein eine größere Verlässlichkeit zu besitzen, handelt es sich doch um selbst verfasste Aussagen. Aber hier ist zu berücksichtigen, dass Briefe als Quelle nicht unkritisch ohne ihren Kontext zu betrachten sind. Zum einen haben die Herausgeber der Briefe ganze Briefe oder Passagen gestrichen – aus Rücksicht auf Personen, die in den Briefen genannt werden, oder weil die Passagen möglicherweise nicht in das Brahms-Bild passen, das (sicherlich zum Teil unbewusst) als Vermittlungsziel der Briefherausgabe aufgebaut werden sollte. Zum anderen sind zahlreiche Briefe nicht erhalten oder wurden von Familienmitgliedern im Vorhinein zensiert oder vernichtet. Einige Herausgeber der Briefwechsel waren mit den AdressatInnen der brahmsschen Briefe verwandt (z. B. Otto Gottlieb Billroth) und hatten insofern ein gewisses Familieninteresse zu wahren. Der Briefwechsel zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms stellt einen solch stark bearbeiteten Bestand dar, weil beide im Sommer 1887 ihre Briefe mit der Absicht zurück-
174 175 176
Vgl. ausführlicher zu den Schatzkästlein und ihren Titel Abschnitt 3.2.1. Foucault: Über sich selbst schreiben, S. 355. Jan Brachmann hat in seiner Dissertation Kunst – Religion – Krise. Der Fall Brahms anhand der Lesespuren und der Schatzkästlein die politischen und religionsgeschichtlichen Zusammenhänge im Leben und Schaffen von Brahms dargestellt (Brachmann: Kunst – Religion – Krise).
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Soziokultureller und biographischer Kontext
forderten, sie zu vernichten,177 und weil die Kinder von Clara Schumann, besonders Marie Schumann, die Herausgabe der Briefe durch Berthold Litzmann überwachten – was übrigens auch für die Herausgabe der Tagebücher von Clara Schumann durch Litzmann gilt. Der tatsächlich wiedergegebene Bestand an Briefen ist demnach unvollständig und bewusst überformt. Es ist also verkürzt gedacht, dass in den Briefwechseln der ‚richtige‘ Brahms, so wie er ‚tatsächlich‘ war, abgebildet ist. Vielmehr ist es der Brahms, den die Herausgeber der Briefwechsel (z. B. Max Kalbeck, Otto Gottlieb Billroth, Andreas Moser, Berthold Litzmann im Auftrag von Marie Schumann) den LeserInnen vermitteln wollen. Liegt bei der Herausgabe der Briefe Quellenmaterial in Form der erhaltenen Briefdokumente vor, die trotz aller Unvollständigkeit oder Überformung ein gewisses Maß an intersubjektiver Überprüfbarkeit gewährleisten, so steht man bei der wissenschaftlichen Interpretation von biographischen Informationen in Form von Erinnerungsliteratur und Biographien der Zeit vor dem Dilemma, dass die überlieferten Sachverhalte, Anekdoten und Begebenheiten aus dem Leben der biographierten Person nicht in überprüfbaren Quellen, sondern in niedergeschriebenen Erinnerungen der ZeitzeugInnen dokumentiert sind. Die ZeitzeugInnen, ihre Informationen und der Grad der Glaubwürdigkeit sind in gewissem Maße überprüfbar, indem man auch hier die Daten mit denen anderer Quellen oder ZeugInnenaussagen abgleicht. Aber wie ist eine Informationen zu bewerten, die nur von einer Person berichtet wird oder die zu anderen Informationen im Widerspruch steht? Melanie Unseld hat sich in einem grundlegenden Aufsatz über eine memoriksensibilisierte Geschichtsschreibung178 mit den Ergebnissen der neurophysiologischen Forschung auseinander gesetzt und die Konsequenzen für die Musikwissenschaft diskutiert: Da die in verschiedenen Gehirnarealen gespeicherten Informationen bei jeder Erinnerungsleistung neu zusammengesetzt, re-konstruiert werden, entsteht jedes Mal ein anderes Erinnerungsnetz, das sich vorzugsweise auf bereits eingerichteten Gedächtnispfaden (Erfahrungen, vorhandenes Wissen) ausbreitet. Dabei beeinflusst das bereits vorhandene Wissen die Kodierung und Speicherung der neuen Erinnerungen und auch die Qualität der späteren Erinnerung. Von Relevanz sind ebenfalls der Moment und die Situation des Erinnerns selbst, das heißt, sie ist von der Perspektive desjenigen abhängig, der sich erinnert. Damit hängt auch die starke Verbindung zwischen Emotionalität und erinnertem Ereignis zusammen: „Erinnerungsleistungen verändern sich, wenn der Impuls des Erinnerns mit einem
177 178
Brahms soll seine Briefe in den Rhein versenkt haben, Clara Schumann hat einen Großteil ihrer Briefe verbrannt, konnte aber von ihren Töchtern dazu überredet werden, das Autodafé abzubrechen (vgl. Litzmann: Clara Schumann, Bd. 3, S. 489f). Unseld: Memorik-sensibilisierte Geschichtsschreibung.
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starken emotionalen Impuls verbunden wird [...].“179 In den Erinnerungen wird also festgehalten, wie etwas erlebt wurde, sie sind keine Kopien der Ereignisse. Geschichts- und Musikwissenschaft, die mit Erinnerungsinhalten aus unterschiedlichen Quellen arbeiten, haben aus den Ergebnissen Konsequenzen zu ziehen: • •
• •
„historisch Erinnertes ist notwendigerweise zeitgebunden“; „vergangene Wirklichkeit [wird] nicht realitätsgetreu reproduziert, sondern allenfalls aus der Perspektive eines Individuums oder eines Kollektivs beschrieben“; „die Art, wie Geschichte festgehalten wird, [bestimmt] die Erinnerungsinhalte mit“; durch starke Emotionen werden Erinnerungsleistungen deformationsanfällig, so dass die Erinnerungen an geschichtlich bedeutende Ereignisse durch deren starke Emotionalität ebenfalls deformationsanfällig sind.180
Hieraus entsteht ein quellen- und erkenntnistheoretisches Problem, denn Erinnerungen sind weder eindeutig, noch im eigentlichen Sinne ‚wahr‘ oder ‚falsch‘. Die Mehrdeutigkeit und Instabilität von Erinnerungsleistungen in Biographien, Autobiographien oder in der Erinnerungsliteratur gilt es demnach ebenso wie die verschiedenen oder bereits durch Vorerfahrungen geprägten Perspektiven der jeweiligen Erinnerungen in ihrem je eigenen Kontext und in ihrer Funktionalität für die sich erinnernde Person zu berücksichtigen. Um Aussagen über Brahms’ Ideen- und Gedankenwelt, über seine Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit machen zu können, ziehe ich aus den genannten quellen- und erkenntnistheoretischen Problemen die methodische Konsequenz, multiperspektivisch und mehrschichtig vorzugehen. Es werden verschiedene Quellen (Bibliothek, Merkbücher, Sprichwortsammlung, Briefwechsel, Erinnerungsliteratur) herangezogen und auf ihre Inhalte zur Geschlechterthematik untersucht. Erst in dieser Auffächerung und kritischen Neben- und Gegenüberstellung der Quellen können Aussagen zu den Geschlechterkonzepten von Brahms gemacht werden, die bei aller erkenntnistheoretischen Relativität ein gewisses Maß an Intersubjektivität und Plausibilität gewährleisten können.
179 180
Unseld: Memorik-sensibilisierte Geschichtsschreibung, S. 67. Unseld: Memorik-sensibilisierte Geschichtsschreibung, S. 67.
44 3.2.1
Soziokultureller und biographischer Kontext
Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit
Karl Geiringer181 hat bereits in einem 1933 veröffentlichen Aufsatz mit dem Titel Brahms’ zweites „Schatzkästlein des jungen Kreisler“ die Unterstreichungen und Anmerkungen in den Büchern durch Brahms untersucht und unter der Überschrift „Der Hagestolz“ vier charakteristische Proben zur Geschlechterthematik gegeben: D´rum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet. Der Wahn ist kurz, die Reu´ ist lang. (Schillers Glocke) Männer sollen vor Frauen bevorzugt werden, weil auch Gott die einen vor den anderen mit Vorzügen begabt und auch weil jene diese unterhalten. (Koran) Es ist kein Rock noch Kleid, das einer Frawen oder Jungfrawen ubeler ansteht als wenn sie klug wil sein. (Luthers Tischreden) Es waren aber damals die Menschenfrauen beides: häuslich und gelehrt und hatte jegliche die Seele ordentlich geteilt in zwei getrennte Schäfte; in dem oberen Schafte hielten sie die richtigen Begriffe, aber in dem unteren lagen die Bestecke samt den Linnen und dem anderen Allen, [...]. Und viele Frauen zwar vermochten zu dem obern Schrein den Schlüssel nicht zu finden, andere umgekehrt verzettelten die Linnen und die irdenen Geschirre, aber von den besten wußte an beiden Orten Rat und je nach eines Augenblicks Bedürfnis fand immer sie Bescheid und Auskunft. (Spittelers Prometheus und Epimetheus)182
Betrachtet man die von Brahms vorgenommen Unterstreichungen – zum Beispiel finden sich eine Vielzahl von Randanstreichungen und zum Teil auch Unterstreichungen mit rotem Bleistift in Luthers Colloquia oder Tischreden183 – dann zeigt sich eine Ausrichtung hin zu einem hierarchischen Geschlechterkonzept, das den Mann über die Frau stellt: Menner/Weiber Menner haben eine breite Brust / und kleine hufften / darumb haben sie auch mehr verstandes / denn die Weiber / welche enge Brüste haben / und breite hüfften und geseß / dass sie sollen daheim bleiben / im hause still sitzen / haushalten / Kinder tragen und zihen.184 Ein anders von Weibern / wozu sie geschaffen [...] Die Ehe kann one Weiber nicht sein / noch die Welt bestehen. Ehelich werden ist ein Arzney für Hurerey / [...]
181 182 183 184
Geiringer: Zweites Schatzkästlein. Geiringer: Zweites Schatzkästlein, S. 444f. Luther: Tischreden. [Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Signatur: Brahms-Bibliothek 343]. Luther: Tischreden, S. 62 (rot angestrichen).
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Ein Weib ist ein freundlicher / holdseliger und kurzweiliger gesell des Lebens. Weiber tragen Kinder und ziehen sie auff / regieren das Hauß / und theilen ordentlich auf / was ein Mann hinein schaffet und erwirbet / dass es zu rathe gehalten / und nicht unnütze verthan werde / sondern dass einem jeglichen gegeben werden / dass sie des Hauses ehre / schmuck und zierde sein sollen / sind geneiget zu Barmherzigkeit / denn sie sind von Gott dazu auch fürnemlich geschaffen / dass sie sollen Kinder tragen / der Menner Lust unnd freude und Barmherzig sein.185 Kinder sind Gottes Gabe.186 Junge Leute Megdlin lehrnen ehe reden unnd gehen / denn die Kneblin / denn unkraut wechst allzeit ehe er auß / denn das gute. Also werden Jungfrawen auch ehe reiff zu freien / denn Gesellen.187 In Trübsaln sol man mennlich und geherzt seyn.188 Was der Satan selbs nicht ausrichten kann / das thut er durch böse alte Weiber.189
Zu erwarten wäre nun, dass Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral190 oder Arthur Schopenhauers Pererga und Paralipomena191, die sich beide in Brahms’ Bibliothek befinden, ebenfalls Unterstreichungen aufweisen, aber: Brahms hat zwar starke Gebrauchsspuren hinterlassen, aber die Geschlechterthemen respektive die frauenverachtenden Sentenzen der beiden Philosophen nicht angestrichen. Dieser Sachverhalt macht die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten im Umgang mit der Bibliothek als Quelle deutlich. Es wäre nämlich voreilig, aus diesem Sachverhalt zu schließen, dass Brahms den Gedanken der beiden Philosophen ablehnend gegenüber gestanden haben muss, weil Unterstreichungen wie die in Luthers Tischreden und Eintragungen in seinen mit Schatzkästlein betitelten Merkbüchern zum Teil ebenfalls einen frauenverachtenden Ton besitzen. Nur eine vergleichende Durchsicht aller Quellen bietet daher ein gewisses Maß an interpretatorischer Sicherheit.
185 186 187 188 189 190 191
Luther: Tischreden, S. 62 (am Rand leicht mit rotem Strich markiert). Luther: Tischreden, S. 63 (doppelt markiert mit rotem Strich und Ausrufezeichen mit Bleistift). Luther: Tischreden, S. 69 (rote Anstreichung am Rand und „denn unkraut“ im Text mit Bleistift markiert). Luther: Tischreden, S. 147 (rot angestrichen). Luther: Tischreden, S. 281 (blau markiert). Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. [Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Signatur: Brahms-Bibliothek 716]. Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. [Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Signatur: Brahms-Bibliothek 581].
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Carl Krebs gibt in seinem Vorwort192 zur Herausgabe der Schatzkästlein eine Übersicht über die Anzahl und Entstehungszeit dieser Merkbücher. Das erste Schatzkästlein des jungen Kreisler wurde von Brahms bereits in Hamburg begonnen – das genaue Entstehungsdatum ist unklar – und trägt als Abschlussdatum „Düsseldorf, März 1854“. Dieses Heft wurde zwischen Joachim und Brahms ausgetauscht, so finden sich ebenfalls Einträge von der Hand Joseph Joachims, die dieser mit seiner Devise „F.A.E.“ unterzeichnet hat. Ein weiteres Schatzkästlein (Nr. 2) begann Brahms sofort im Anschluss an das erste, jetzt mit dem Titel Des jungen Kreislers Schatzkästlein. Parallel dazu hat er seit September 1853 in Düsseldorf ein weiteres Heft geführt, Schöne Gedanken über Musik (Nr. 3). Darin hat Brahms Zitate und Gedanken über Musik gesammelt, zum Teil aus dem bereits bestehenden Heft übernommen, zum Teil neue hinzugefügt. Dieses Heft beendete er im Juli 1854. Das vierte Heft, Schöne Gedanken über Musik, Heft II, trägt den Untertitel Schatzkästlein des jungen Kreisler (Nr. 4) und enthält neben Aussprüchen über Musik auch Zitate über Literatur, Poesie und Kunst. Erst gegen Ende seines Lebens griff Brahms noch einmal auf seine Schatzkästlein zurück und fügte Eintragungen hinzu. Zu den letzten Zitaten gehören Ausschnitte aus den Reden Bismarcks und aus der Bibel (Jesus Sirach, Prediger Salomo). Außerdem begann Brahms im März 1855 eine Sammlung deutscher Sprichworte, die von George Bozarth transkribiert wurde.193 Die Titelgebung eines Teils der Merkbücher geschah in Anlehnung an die Figur des genial-phantastischen Kapellmeisters Johannes Kreisler aus den Romanen E.T.A. Hoffmanns. Diese Figur ist bei Hoffmann vielschichtig angelegt: Sie erscheint in den Phantasiestücken in Callots Manier und als zentrale Gestalt in den Lebensansichten des Katers Murr.194 Die Identifikation mit dieser Figur und wahrscheinlich auch mit den allgemeinen „Aussagen über romantische Kunst, romantisches Künstlertum und ihre Funktion und Integration oder Desintegration in der Gesellschaft“195 ging zeitweilig soweit, dass Brahms Kompositionen (z. B. die drei Klaviersonaten opp. 1, 2 und 5) mit „Johannes Kreisler jun.“ unterschrieb. Für die Frage nach den Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepten von Brahms ist es nun höchst bedeutsam, dass neben musikästhetischen, philosophischen und literarisch-künstlerischen Themen auch Auszüge, Zitate und Sentenzen zum Themenbereich „Mann und Frau“ in den Schatzkästlein zu finden sind.196 Von den 645 Zitaten in der Kompilation von Carl Krebs beschäftigen sich über 100 mit
192 193 194 195 196
Krebs: Schatzkästlein, S. III–XIII; vgl. Kalbeck: Brahms I, S. 179–185. Bozarth: Deutsche Sprichworte; Das Heft befindet sich in der Wiener Stadtbibliothek (IN 55728/79562Ia). Kross: Brahms’ künstlerische Identität, S. 328. Kross: Brahms’ künstlerische Identität, S. 329f. Vgl. hierzu auch Gerards: Anmerkungen.
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diesem Themenkreis. Zwei große Themenkomplexe, deren Grenzen fließend sind, treten nach Durchsicht der Zitate in den Vordergrund: Gedanken über Männlichkeit und Weiblichkeit sowie über Liebe und Leidenschaft. Nicht an unmännlichen Charakteren entzückt die Milde, sondern an männlichen; wie nicht an unweiblichen die Kraft, sondern an weiblichen. Jean Paul.197 Agnes: Das Weib sieht tief, der Mann sieht weit. Euch ist die Welt das Herz, uns ist das Herz die Welt. Grabbe, Kaiser Heinrich VI.198 Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht, Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel. Goethe (Sprüche in Prosa).199 Rührung paßt nur für Frauenzimmer, dem Manne muß Musik Feuer aus dem Geist schlagen. Beethoven (Brief an Bettina).200
Neben diesen Zitaten, die männliche und weibliche Eigenschaften vergleichen, fügte Brahms eine Reihe von Exzerpten an, die ausschließlich dem Themenkreis Mann oder Frau angehören. Hier zunächst einige Zitate zum Themenkreis Männlichkeit: Der junge Jüngling bewundert und begehrt zugleich, der ältere Jüngling ist fähig, bloß zu bewundern. Jean Paul.201 „Kann nicht der Mann, was er will?“ So trotzet der schwärmende Jüngling, Während der Weise zuletzt immer nur will, was er darf. v. Brinckmann.202 Des Jünglings Gesicht / Ist ein Gedicht. In Mannes Gesichte / Lies seine Geschichte.203 Ich bete dich an, Vernunft, Tochter Gottes, Schirmherrin der Männer, Atem der Seele! Ich bete dich an im Geist und in der Wahrheit. [...] Immermann (Münchhausen zum Schluß des 2. Bandes).204 Die großartige deutsche Musik ist das Erzeugnis von Männern – eine Musik der Philosophie, des Heldenmutes, des Geistes, der Phantasie, zu wel-
197 198 199 200 201 202 203 204
Krebs: Schatzkästlein, S. 90. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die oben genannte Herausgabe der Schatzkästlein durch Krebs. Die Quellenangabe der Zitate von Krebs wurde, soweit dort angegeben, übernommen. Krebs: Schatzkästlein, S. 77. Krebs: Schatzkästlein, S. 185. Krebs: Schatzkästlein, S. 160. Krebs: Schatzkästlein, S. 26. Krebs: Schatzkästlein, S. 107. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 13. Krebs: Schatzkästlein, S. 98.
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Soziokultureller und biographischer Kontext cher die Kompositionen des modernen Italiens in der Tat weichlich und erkünstelt erscheinen. Bulwer (Maltravers).205 Wem die Natur, die erhabene, aus ihrer unendlichen Fülle Mannssinn gab und ein Herz, tatenbegierig und groß – O, der fall auf die Knie und danke der Göttin mit Zittern, Denn ein gefährlich Geschenk hat sie dem Staube vertraut. v. Sonnenberg.206 Kräftige deinen Arm fürs Schwert und zum mächtigen Umfassen eines geliebten Wesens, übe deinen Mund zu Rede und Kuß, trinke keinen Mondschein, sondern Rheinwein. [...] Vertiefe und verliebe dich nicht ins Blumen- und Früchtepflücken, schau auch einmal wieder auf zu den Sternen. Aus Sallet, Kontraste und Paradoxen.207 Streitende Kräfte besaiten das Herz; ihr mächtiger Einklang, Nicht ihr lärmendes Spiel, bildet den männlichen Mut. v. Brinckmann.208
Die von Brahms zusammengestellten Zitate zeigen den Mann als ein vernunftbegabtes Wesen, dessen Kräfte in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und der nach einer stürmischen Jugend das rechte Maß findet. Er ist aktiv, voller Tatendrang der Welt zugewandt und erfüllt mutig, geist- und phantasievoll seinen Lebensauftrag. Zu seinem Lebensentwurf gehört es, ein geliebtes Wesen zu finden. Ihm ist es gestattet, auf seinem Weg ‚Blumen zu pflücken‘, sprich Liebeserfahrung zu sammeln, aber er soll dabei nicht versäumen, zu den Sternen, das heißt, zu tugendhaften Frauen aufzublicken. Der Lebensentwurf einer Frau ergibt sich zunächst aus der Pflichterfüllung für den Mann: An die Muse. Anna, das Kind warst du, nun bist du die Geliebte des Jünglings. Gattin werde dem Manne, Pflegerin werde dem Greis. Noch besitz ich dich nicht, noch strebe ich, dich zu besitzen: Täusch’ ich mich? Wirst du mir auch lispeln das bindende Ja? Platen.209
Als positive Eigenschaften einer Frau, die sie für einen Mann attraktiv machen und ihren Wert auf dem ‚Heiratsmarkt‘ erhöhen, führen die von Brahms gesammelten Zitate Fleiß, Unauffälligkeit und Bescheidenheit, Klugheit sowie Reinlichkeit, Schönheit und Liebesfähigkeit an:
205 206 207 208 209
Krebs: Schatzkästlein, S. 156. Krebs: Schatzkästlein, S. 152. Krebs: Schatzkästlein, S. 138. Krebs: Schatzkästlein, S. 162. Krebs: Schatzkästlein, S. 175.
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Soziokultureller und biographischer Kontext Die Mädchen wissen nicht, wie sehr sie Geschäftigkeit verschönert, wie sehr an ihnen und den Taubenhälsen das Gefieder nur schillert und spielt, wenn sie sich bewegen, und wie sehr wir Männer den Raubtieren gleichen, die keine Beute haben wollen, die festsitzt. Jean Paul.210 Für Jungfrauen. Lest in der Bibel fein, Achtet euch klein, Macht euch nicht gemein, Haltet euch rein, Seid gern allein! Volksausspruch.211 Marthen-Fleiß, Marien-Glut, Schön wie Rachel, klug wie Ruth: Frauenzimmer-Heiratsgut. Volksausspruch.212 Eine Hausfrau muß nicht sein eine Ausfrau.213
Auffallend viele Zitate, die Brahms in seine Hefte eingetragen hat, besitzen einen karikierenden Unterton, der zuweilen in einen sarkastisch-misogynen Humor umschlägt. Weiber sind wie Rätsel; sowohl wegen ihrer Unverständlichkeit wie auch hauptsächlich deshalb, weil sie uns nicht länger gefallen, sobald wir sie haben kennen lernen. Swift.214 Kein Kleid steht einer Frau besser, als Schweigen.215 Besser Mann ohne Geld, als Geld ohne Mann.216 Das böse Weib. Ein einzig böses Weib lebt höchstens in der Welt: Nur schlimm, daß jeder sein’s für dieses einz’ge hält.
Lessing.217
So lässet eine Frau ihre Meinung, sobald sie auch der Mann annimmt, fahren: sogar in der Kirche singen die Weiber, um mit den Männern in nichts eintönig zu sein, das Lied um eine Oktave höher als diese. Jean Paul.218
210 211 212 213 214 215 216 217 218
Krebs: Schatzkästlein, S. 26. Krebs: Schatzkästlein, S. 70. Krebs: Schatzkästlein, S. 70. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 11. Krebs: Schatzkästlein, S. 33. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 17. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 22. Krebs: Schatzkästlein, S. 52. Krebs: Schatzkästlein, S. 102.
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Soziokultureller und biographischer Kontext Die gelehrten Frauen brauchen ihre Bücher etwa wie ihre Uhr, nämlich sie zu tragen, damit gesehen zu werden, daß sie eine haben, wenn sie auch gemeiniglich stillesteht oder nicht nach der Sonne gerichtet ist. Wilh. Waiblinger (Aus dessen Tagebuch).219 Die einzigen Arzneien, die Weibern mehr nützen als schaden, sind höchstens Kleider. – Nach vielen Naturforschern verlängert das Mausern das Leben der Vögel: aber auch das der Weiber, setz’ ich dazu, die allemal so lange siechen, bis sie wieder ein neues Gefieder anhaben. Jean Paul.220 Auf Frau Trix. Frau Trix besucht sehr oft den jungen Doktor Klette. Argwohnet nichts! Ihr Mann liegt wirklich krank zu Bette.
Lessing.221
Auf Lucinden. Sie hat viel Welt, die muntere Lucinde, Durch nichts mehr wird sie rot gemacht. Zweideutigkeit und Schmutz und Schand’ und Sünde, Sprecht was ihr wollt: sie winkt euch zu und lacht. Erröte wenigstens, Lucinde, Daß nichts dich mehr erröten macht! Lessing.222 Ein Weib kann verehrungswürdig sein, eine Versammlung von Weibern ist immer verächtlich und lächerlich und für einen, der nur im mindesten das Bedürfnis des Denkens hat, ungenießbar. [...] Friedrich Sallet: Kontraste und Paradoxen.223
Die in den Zitaten angeprangerten negativen Eigenschaften von Frauen sind Streitsucht mit dem Mann, oberflächliche Gelehrsamkeit und Bildung sowie Untreue, Eitelkeit und Schamlosigkeit. Auch die ‚Rätselhaftigkeit‘ der Frau kann schnell in Langeweile umschlagen. Gegenüber den spöttisch abwertenden Äußerungen über Frauen preisen viele Zitate die Erfahrung einer glücklichen Liebe, die in der Ehe und Elternschaft ihre höchste Vollendung erreicht. Es ist doch eine köstliche Gabe, die der Himmel uns verliehen hat, zu lieben und zu verehren; dieses Gefühl schmelzt unser ganzes Wesen um und bringt das wahre Gold daraus zutage. Wackenroder.224 Glücklich ist der, dem sogleich die erste Geliebte die Hand reicht, Dem der lieblichste Wunsch nicht im Herzen verschmachtet. Goethe.225
219 220 221 222 223 224 225
Krebs: Schatzkästlein, S. 21. Krebs: Schatzkästlein, S. 26. Krebs: Schatzkästlein, S. 51. Krebs: Schatzkästlein, S. 50. Krebs: Schatzkästlein, S. 87, Hervorhebung im Original. Krebs: Schatzkästlein, S. 167. Krebs: Schatzkästlein, S. 43.
Soziokultureller und biographischer Kontext
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Ein Kind ist sichtbar gewordene Liebe. – Wir selbst sind ein sichtbar gewordener Keim der Liebe zwischen Natur und Geist oder Kunst. Novalis.226 Ein Einziges auf Erden ist nur schöner und besser als ein Weib ... Das ist die Mutter. L. Schefer (Der Sklavenhändler).227 Ist eine Mutter noch so arm, So gibt sie ihrem Kind doch warm.228 Die Muttertreu’ ist täglich neu.229 Die Ehe bezeichnet eine neue, höhere Epoche der Liebe – die gesellige, die lebendige Liebe. Die Philosophie entsteht mit der Ehe. Novalis.230 Gezwung’ne Eh’ – des Herzens Weh.231 Frühe Hochzeiten, lange Liebe. Ich habe immer gesehen, daß Ehen, die frühe geschlossen wurden, am glücklichsten waren. In späteren Jahren ist gar keine solche Andacht mehr im Ehestande als in der Jugend. Eine gemeinschaftlich genossene Jugend ist ein unzerreißliches Band. Die Erinnerung ist der sicherste Grund der Liebe. Novalis (Der Großvater im ‚Heinrich von Ofterdingen‘).232
Während die gesammelten Zitate das Charakterbild des Mannes eindeutig und überwiegend positiv beschreiben – ‚der Mann‘ ist aktiv, rational und nach außen orientiert –, zeigen sie für das Charakterbild der Frau zwei kontrastierende Seiten: Auf der einen Seite das spöttisch-karikierende Bild einer oberflächlichen, eitlen und unsittlichen Frau, auf der anderen Seite das einer tugendhaften Frau, deren Liebe es zu erringen gilt. Die Reflexion über das Wesen ‚der Frau‘ ist ambivalent. Zwar belegen viele Zitate eine normierende Vorstellung davon, welche Werte eine ideale Frau zu verkörpern habe, nämlich Schönheit, Klugheit, Fleiß und Bescheidenheit. Die eingetragenen Zitate über weibliche Charaktereigenschaften nehmen aber ebenso eine abwertende Haltung ein, indem sie die – aus Männersicht – negativen weiblichen Seiten thematisieren und verspotten. Diese karikierende Sicht steht zu der Verherrlichung einer tugendhaften Frau und Mutter in deutlichem Kontrast. Brahms vermerkt ein Zitat, in dem die Gründe für weibliche Oberfläch-
226 227 228 229 230 231 232
Krebs: Schatzkästlein, S. 8. Krebs: Schatzkästlein, S. 30, Hervorhebung im Original. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 13. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 13. Krebs: Schatzkästlein, S. 16. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 24. Krebs: Schatzkästlein, S. 91.
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lichkeit und Unbildung zumindest angedacht und Versäumnisse der Mädchenerziehung angerissen werden: Vielleicht liegt ein Hauptgrund davon, daß die Weiber so oft ganz oberflächlich und inhaltlos bleiben, gerade in ihrer ausgezeichneten Fähigkeit, alles Äußerliche, schon von frühester Kindheit an, rasch und scharf zu fassen und zu kopieren. [...] So lernt manches Mädchen früh, sich in die Formen der Welt finden und in ihnen sich bewegen, wie eine Alte. Und im Grunde ist dies nicht so sehr zu verwundern, wenn man bedenkt, wie wenig es eigentlich ist, was ein Weib wissen und kennen muß, um gerade keinen Verstoß zu begehn. Aber ein Jammer ist es, daß die meisten es auch hierbei bewenden lassen, und, wenn ihnen das Äußerliche des Lebens einmal geläufig ist und sie sehen, wie leicht sie damit durchkommen, sich um den Kern und die tiefe Bedeutung desselben wenig kümmern. Und leider arbeitet die gewöhnliche Mädchenerziehung, welche in der Tat nichts als menschliche Dressur ist, dieser angebornen und bequemen Oberflächlichkeit in die Hände. [...] Friedrich Sallet: Kontraste und Paradoxen.233
Vier Zitate seien abschließend eingefügt, die den Themenkreis der menschlichen Leidenschaft aufgreifen und von Brahms in seine Schatzkästlein bzw. in seine Sammlung deutscher Sprichworte eingetragen worden sind. Sie leiten zu der Frage nach Brahms’ Position zur Sexualität über, die im folgenden Kapitel näher bestimmt wird. Unsere Leidenschaften sind Phönixe; wie der alte verbrennt, steigt der neue gleich wieder hervor. Wilh. Waiblinger.234 Sein Gewissen der Leidenschaft opfern, das heißt ein Bild (ein Kunstwerk) verbrennen, um dessen Asche zu bekommen.235 Alte Sprüche. In all’ und jeder Zeit Verknüpft sich Lust und Leid; Bleibt fromm in Lust und seid Dem Leid mit Mut bereit.236 Wer nie in schnöder Wollust Schoß Die Fülle der Gesundheit goß, Dem steht ein stolzes Wort wohl an, Das Heldenwort: „Ich bin ein Mann!“
233 234 235 236 237
Krebs: Schatzkästlein, S. 83. Krebs: Schatzkästlein, S. 21. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 12. Krebs: Schatzkästlein, S. 70. Krebs: Schatzkästlein, S. 32.
Bürger.237
Soziokultureller und biographischer Kontext
3.2.2
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Konzepte von Liebe und Sexualität
Anfang Januar 1857 schickte Brahms in einem Brief das Finale seines ersten Klavierkonzerts an seinen Freund Joseph Joachim. Im gleichen Brief empfahl er ihm ein medizinisches Aufklärungsbuch, das in seiner Zeit sehr populär gewesen sein muss, da es 1858 bereits in der 22. Auflage238 vorlag: Noch will ich Dir ohne weitere Vorrede ein Buch empfehlen: ‚Der persönliche Schutz, nach dem Englischen von Dr. Laurentius in Leipzig‘. / Du fühlst selbst, ob es Dir (nicht Deinem Körper!) irgend nötig ist. / Ich finde, unsre Eltern und Lehrer sollten uns beizeiten solches Buch oder ein Spital zeigen. Ausschweifungen irgendwelcher Art brauchen nicht den Menschen zu verderben, das Denken, Grübeln über derlei Sachen verdirbt ihm die Zeit und ich glaube, es könnte auch Körper und Temperamente verderben. Solche Bücher (Anschauungen) können uns die vorige Heiterkeit des Gemütes wiederbringen, in der man sich nicht würgt mit Gedanken, ein lustiger Lebemann oder ein Philister zu sein, man kennt die Begriffe nicht. / Ich werde mich sehr konfus ausgequatscht haben, doch wie ich Dich kenne, so begreifst Du, was ich will. Du weißt, daß es Zeiten gibt, wo man gern ein lesbares anatomisches Museum hat.239
Joachim antwortete am 12.1.1857 zunächst ausführlich zum Finale, am 19. Januar fragte er dann bezüglich des Aufklärungsbuches nach: „Dein empfohlenes Buch kann man sich doch unmöglich kaufen, und wer leiht es einem? Es interessiert mich, wie alles, was zur Kenntnis unserer sonderbaren Gattung beiträgt. Mir ist Prüderie gleich verhaßt wie die Frechheit.“240 In der sehr intensiven Anfangsphase ihrer Freundschaft fand zwischen Brahms und Joachim ein reger gedanklicher Austausch statt: Kompositionen, Kontrapunktund literarische Studien, das Führen der Schatzkästlein, in die Joachim eigene Zitate ergänzte, gemeinsame Wanderungen und Konzerte. Die künstlerische und menschliche Wesensverwandtschaft führte zu einer sehr engen Männerfreundschaft. So schrieb Joseph Joachim im September 1853 an Brahms: „Ich habe Deiner oft gedacht, Dich manches Mal zu mir herbeigewünscht [...]! Beneidenswerter, den ich nicht beneide, weil ich ihn so lieb habe.“241 Brahms äußerte sich im Juli 1854 über seine Zukunftspläne: „Aber wie sollte ich nach Hamburg oder Leipzig gehen, wenn ich mit Dir zusammen leben kann!“242 Und am 12.9.1854: „Ich habe unendliche Sehnsucht, Dich zu sehen und mit Dir zu leben [...].“243
238 239 240 241 242 243
Die erste Auflage erschien Leipzig 1848, 1868 erfuhr der Ratgeber bereits die 30. Auflage. Ich zitiere im Folgenden aus der 14. Auflage von 1851. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 168f. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 173f. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 7. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 53. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 60.
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Brahms und Joachim werden nicht nur über musikalische und kompositorische Fragen, sondern auch über lebenspraktische Themen gesprochen haben – dieser Rückschluss kann zumindest anhand der oben angeführten Lektüreempfehlung von Brahms an Joachim gezogen werden. Da Brahms diesen Ratgeber ausdrücklich empfahl, wird er als Quelle herangezogen. Der vollständige Titel des Buches lautet: Der persönliche Schutz. Aerztlicher Rathgeber bei allen Krankheiten der Geschlechtstheile, die in Folge heimlicher Jugendsünden, übermäßigen Genusses in der geschlechtlichen Liebe und durch Ansteckung entstehen, nebst praktischen Bemerkungen über die vorzeitige Impotenz, die weibliche Unfruchtbarkeit und deren Heilung. Mit Zugrundlegung der La Mert’schen Schrift und unter Mitwirkung mehrerer praktischer Aerzte.244
In sechs Kapiteln werden Themen wie „Die Sinnlichkeit und ihr Einfluß auf Geist und Körper“, chirurgische Anatomie und „die Physiologie der Zeugungstheile beider Geschlechter“, Onanie und deren Folgen, Impotenz, Unfruchtbarkeit und „die Behandlung der Krankheiten, welche eine Folge der Onanie sind“, Geschlechtskrankheiten sowie ihre Behandlungsmöglichkeiten erörtert. Ein Anhang gibt Auskunft über „Mittel, um sich vor Ansteckung zu schützen“, schildert Krankheitsfälle und gibt eine „Nachricht für Kranke“, wie sie durch Dr. Laurentius behandelt werden können. Das Buch besitzt aufgrund der anschaulichen und detaillierten Schaubilder auf den ersten vierzig Seiten und der anatomischen Beschreibungen einen aufklärend-medizinischen Charakter. Die Ausführungen zur Behandlung sowie die Warnungen vor einer Selbstbehandlung bzw. vor einer Behandlung durch einen Nicht-Fachmann sind ebenfalls medizinisch motiviert, während die Gefahren der Selbstbefriedigung sehr ausführlich und moralisierend besprochen werden: „Die Onanie oder Selbstbefleckung ist jene schmachvolle Gewohnheit, durch welche Individuen beider Geschlechter heimlicherweise ihren Körper zerstören, indem sie, wollüstigen Gedanken nachhängend, sich jene sinnlichen Genüsse selbst zu verschaffen suchen, welche die Natur dem gegenseitigen geschlechtlichen Umgang allein vorbehalten hat.“245 Ausführlich beschreibt Laurentius die Folgen der Onanie und listet ein wahres Horrorkabinett krankhafter Zustände auf.246 Die krankmachenden Genüsse der Onanie stehen laut Laurentius in einem starken Kontrast zu den angenehmen und lebhaften Regungen, die sich
244 245 246
Laurentius: Der persönliche Schutz. Laurentius: Der persönliche Schutz, S. 79. Schwächung aller geistigen Fähigkeiten, Wahnsinn, Angstzustände, Schwindel, Rührseligkeit, Schwächung der Sinne, Schlafstörungen, Abnahme der Körperkraft, Wachstumsstörungen, Schlafsucht, hypochondrische und hysterische Zustände, Katarrhe, Fieber und Schwindsucht, Mattigkeit, Hautausschlag, Erektionsstörungen, schmerzhaftes Urinieren, Inkontinenz, Hodengeschwülste, Unfähigkeit zur Fortpflanzung, Impotenz, Verstopfung, Unfruchtbarkeit usw. (Laurentius: Der persönliche Schutz, S. 93–95 und S. 122f bieten eine Zusammenfassung).
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beim geregelten Umgang zwischen den Geschlechtern einstellten, denn: „Der mäßige Beischlaf ist zur Erhaltung der Gesundheit unumgänglich nöthig.“247 Und ein paar Seiten weiter heißt es: Die Lust, welche das Herz empfindet [...] und die [...] sogar eine Prostituierte gewähren kann, beschleunigt die Circulation des Blutes, trägt zur Verdauung bei, ersetzt die Kräfte und erhält sie; sie ist es, welche der Ehe jenes hohe Glück verleiht, das die Liebe verschafft und Gott segnet. [...] Der übermäßige Genuß in der geschlechtlichen Liebe bringt (vorausgesetzt, daß man der Ansteckung entgehe), dieselben Wirkungen wie die Onanie hervor; aber soviel ist ausgemacht, daß es physisch unmöglich ist, die Samengefäße dadurch so heftig und so häufig zu entleeren, und daß dieses Uebel nothwendigerweise seine Grenzen hat.248
Sein Ziel ist es, die verderblichen Leidenschaften zu besiegen, den Onanisten zur Selbstbeherrschung zurückzuführen und ihn wieder Mann werden zu lassen, „der Stolz der Schöpfung und seines Geschlechts, sowie der Beschützer des schwachen Geschlechts.“249 Rege geistige Beschäftigung könne von den verderblichen Gedanken ablenken, regelmäßiger (ehelicher) Geschlechtsverkehr anstelle ausschweifender sexueller Genüsse erhalte die geistige und seelische Gesundheit und vorbeugende pädagogische Maßnahmen seitens der Eltern und Erzieher könne die Reinheit der Jugend erhalten.250 Das Buch von Laurentius ist eines der zahlreichen medizinischen Veröffentlichungen, die im wissenschaftlichen Diskurs über Sexualität und Männlichkeit kursierten. Es entwirft das ideale Bild eines Mannes, der seine Leidenschaften kontrollieren und seine sexuellen Triebe mäßigen kann. Es entwirft aber ebenfalls das abschreckende Gegenbild eines lasterhaften Mannes, der sich den sexuellen Genüssen hingibt, und zeigt die Konsequenzen sexueller Ausschweifungen (geistiger und körperlicher Verfall) in abschreckenden und moralisierenden Bildern auf. „Für die Thematiken von Sexualität und Geschlechterbildern ist der medizinische Diskurs fundamental, denn durch seine normative Tragweite werden in den Formeln von Krankheit und Gesundheit gesellschaftlich Akzeptiertes und Ausgeschlossenes zusammengefasst.“251 Der weitaus größte Teil des Buches befasst sich mit der Sexualität des Mannes, auf wenigen Seiten wird die der Frau abgehandelt, die ebenso wie die des Mannes als ‚natürlich‘ angenommen wird. Auch die Frau
247 248 249 250
251
Laurentius: Der persönliche Schutz, S. 95. Laurentius: Der persönliche Schutz, S. 97. Laurentius: Der persönliche Schutz, S. 110. Laurentius: Der persönliche Schutz, S. 110–112, S. 133–137. Und Laurentius empfiehlt, zur Vermeidung von Geschlechtskrankheiten Waschungen durchzuführen oder Kondome zu benutzen, die damals aus dem Blinddarm von Lämmern hergestellt wurden (ebd., S. 166f). Kottow: Der kranke Mann, S. 82.
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sollte ein maßvolles sexuelles Leben führen, ihre Bedürfnisse konnten aber nur in der Ehe befriedigt werden, da käufliche Liebe für Frauen im 19. Jahrhundert tabuisiert war. Im Brief an Joachim schrieb Brahms: „Du fühlst selbst, ob es Dir (nicht Deinem Körper!) irgend nötig ist.“ Damit betonte er zunächst, dass bei Joachim wohl keine körperlichen Symptome vorlagen, die zu behandeln wären, dass aber das Thema Sexualität für ihn relevant gewesen sein könnte. Das Buch und die beschriebenen Folgen sexueller Ausschweifungen (oder ein Besuch in einem Krankenhaus) sollten abschreckend wirken, damit – und hier wurde Brahms wieder allgemein – „der Mensch“ nicht verderbe und seine Zeit mit Nachdenken und Grübeln vergeude. Wenn man sich an die Empfehlungen des Buches halte, stelle sich Gelassenheit und Heiterkeit wieder ein, weil man sich nicht mit den Vorhaltungen auseinandersetzen müsse, entweder ein promiskuitiver Lebemann oder ein spießiger Philister zu sein. Hier bezog Brahms sich wahrscheinlich auf die Einschätzung und die Empfehlungen von Laurentius, dass sexuelle Ausschweifungen mit Frauen weniger schädlich seien als Onanie und dass mäßig häufiger Geschlechtsverkehr – auch mit einer Prostituierten – zur Erhaltung der männlichen Gesundheit notwendig sei. Auch wenn Brahms sich in seinem Brief an Joachim „konfus ausquatscht“ und die Dinge nur indirekt beim Namen nannte, so scheute er nicht davor zurück, ein Buch, das mit zahlreichen Abbildungen und in einer direkten, anschaulichen, unmissverständlichen Sprache die körperlichen und sexuellen Abläufe, Funktionen und Erkrankungen benennt, seinem Freund zu empfehlen. Es ist anzunehmen, dass ihm das Buch bei der Klärung eigener Fragen zur Sexualität geholfen hatte. Joachim konnte sich nicht vorstellen – es war ihm wahrscheinlich peinlich –, dieses Buch in einer Buchhandlung zu erwerben. Ob Brahms es ihm bei späterer Gelegenheit geliehen hat, ist nicht zu belegen, sein Bücherverzeichnis listet es nicht auf.252 Brahms empfahl mit Der persönliche Schutz einen ärztlichen Ratgeber, der zwar medizinisch aufklärte, der aber in weiten Teilen moralisierend gegen die Selbstbefriedigung zu Felde zog und sie als verderbliches Laster deklarierte. Wenn der Mann seine Männlichkeit erhalten wolle, so habe er sich dieser schädlichen Praktiken zu enthalten und sich in Bezug auf sexuelle Genüsse mäßigend zu verhalten. Ausschweifende sexuelle Praktiken, besonders in Form exzessiver Selbstbefriedigung, zehrten den Mann auf. Enthaltsamkeit zeuge dagegen von männlicher Selbstbeherrschung, die mit geistiger Regsamkeit und körperlicher Gesundheit belohnt werde.253
252 253
Hofmann: Bibliothek. Im Vergleich hierzu nehmen die Beschreibungen der weiblichen Physiologie und der Folgen der Onanie auf den weiblichen Organismus einen viel geringeren Raum ein (Laurentius: Der persönliche Schutz, S. 131–133).
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Möglicherweise sah Brahms nach der aufklärenden Lektüre des LaurentiusBuches (um 1856/57) einen Zusammenhang zwischen exzessiv gelebter Sexualität und körperlicher und geistiger Krankheit. Die von Laurentius empfohlenen Verhaltensregeln und Schutzmaßnahmen boten ihm vermutlich einen Weg, mit den eigenen sexuellen Bedürfnisse umzugehen und Maßnahmen zu ergreifen, die die eigene geistige und körperliche Gesundheit erhalten sollten. Dabei polemisierte Laurentius zwar gegen die Selbstbefriedigung, aber er propagierte keine Körperfeindlichkeit und kein zölibatäres Leben, sondern ein maßvolles sexuelles Ausleben des ‚natürlichen‘ Sexualtriebs – sei es in der gesellschaftlich sanktionierten Form einer Ehe oder im Umgang mit Prostituierten. Sicherlich kann man auf der Basis der von Laurentius angeratenen und von Brahms in Form der Lektüreempfehlung an Joachim vorgeschlagenen sexuellen Handlungsanweisungen nicht valide auf seine Positionen zur Sexualität oder gar sein eigenes sexuelles Verhalten rückschließen. Dafür fehlt es an eindeutigen Hinweisen, welchen Aussagen im Ratgeber Brahms zustimmte oder nicht. Zieht man seine in seinen Merkbüchern zusammengetragenen Gedanken hinzu, so gewinnen jedoch einige Positionen größere Plausibilität: • • • •
Leidenschaftliche, sexuell-erotische Bedürfnisse sind Teil der menschlichen Natur. Übermäßig sexuelles Verhalten ist abnorm und hat extreme gesundheitliche Folgen. Die sexuellen Bedürfnisse sind zu kontrollieren, sie dürfen nicht den Menschen beherrschen. In einem gemäßigt-geregelten Umfang führt befriedigte Sexualität zu einer ausgeglichenen, leistungsfähigen und gesunden Persönlichkeit. Idealerweise erfolgt die Kanalisierung der sexuellen Energien in der Ehe.
Wenn in Brahms-Biographien dessen Verhältnis zu Frauen und sein Junggesellentum thematisiert werden, taucht in der Regel das Klischee auf, dass Brahms als Kind in billigen Matrosenkneipen aufgespielt haben soll, in die er von seinem Vater zur Verbesserung der finanziellen Situation mitgenommen worden sein soll. Hier habe Brahms erste, prägende Erfahrungen gemacht, die seinen Umgang mit Frauen und sein Verhältnis zur Sexualität nachhaltig gestört haben sollen. Wie ist dieses Klischee zustande gekommen und wie ist es auf der Folie des von Brahms empfohlenen Ratgebers zu bewerten? Kalbeck berichtet, dass Vater Brahms seinen Sohn „sehr früh in den Kapellen“ beschäftigte, und malt ein herzergreifendes Bild: Das Bild, den unverdorbenen blondhaarigen, blauäugigen Jungen der denkbar schlechtesten Gesellschaft aufspielen zu sehen, hat etwas tief Ergreifendes. Er saß vor seinem Pianino [...], streifte seine Umgebung kaum mit einem gleichgiltigen [sic] Blick und
58
Soziokultureller und biographischer Kontext verlor sich, während die wohlgeübten Finger mechanisch ihre Bewegungen machten, in die blühenden Träume der romantischen Poesie.254
Kurt Hofmann und Styra Avins255 argumentieren jedoch, dass diese Spekulationen jeglicher Grundlage entbehrten, da nicht die Rede davon sein könne, dass Brahms in heruntergekommenen Matrosenkneipen aufgetreten sei. Zum einen habe Brahms vom Spielen in Wirtschaften und Schänken gesprochen, worunter dem damaligen Sprachverständnis nach „einfache und schlichte Restaurants, in denen nur Speisen und Getränke für die unteren Schichten der Bevölkerung verabreicht werden durften“256, zu verstehen sind. Zum anderen seien seine Jugenderinnerungen – so zum Beispiel gegenüber Widmann – ohne Anklage gewesen: „Selbst daß er manchmal in Wirtschaften Tingeltangelsänger am Clavier habe begleiten müssen, während er sich nach der stillen Morgenstunde sehnte, in der er seine eigenen Gedanken aufs Notenpapier bringen könne, halte er nicht für eine verlorene Lebenserfahrung.“257 Dass der Vater aus reiner Geldgier seinen Sohn den verderblichen Einflüssen ausgesetzt haben soll, ist auch für Siegfried Kross in seiner Dokumentar-Biographie258 eine nicht zu haltende Behauptung, da es keine Belege dieses Engagements gebe – im Gegenteil: ZeitzeugInnen bestreiten, dass Brahms jemals in Matrosenkneipen aufgetreten sei, so Christian Otterer, ein Berufskollege des Vaters, und die Witwe des damaligen Brahms-Lehrers Cossel.259 Und selbst Kalbeck berichtet von einem Gespräch mit Brahms, das die beiden nach dem Tod von Theodor Billroth geführt haben und in dem dieser sich gegen den Vorwurf einer ‚verwahrlosten Erziehung‘, der ihm gemacht worden war, verteidigen wollte: wie seine Eltern ihn, und er sie geliebt habe, wie sauer es ihnen und ihm geworden sei, sich anständig durchzubringen, welchen Demütigungen und Kränkungen er und sie in seiner Vaterstadt ausgesetzt gewesen seien und wie er alles ruhig hingenommen habe.260
Aber es sind auch gegenteilige Aussagen von Brahms überliefert, in denen er sich über seine harte Kindheit beschwerte, die von negativen Eindrücken überschattet gewesen sei. Am ausführlichsten schildert der amerikanische Musikwissenschaftler Robert Haven Schauffler dies in seiner umstrittenen Brahms-Biographie. Er erwähnt ein Gespräch, das zwischen Max Friedländer und Brahms stattgefunden
254 255 256 257 258 259 260
Kalbeck: Brahms I, S. 19f. Hofmann: Brahms in Hamburg; Hofmann: Brahms und seine Vaterstadt, S. 42–51; Avins: Young Brahms. Hofmann: Brahms in Hamburg, S. 21. Widmann: Brahms, S. 95. Kross: Dokumantar-Biographie, Bd. 1, S. 29–33. Vgl. Avins: Young Brahms, S. 282f. Kalbeck: Brahms IV, S. 340f.
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haben soll und das Friedländer ihm berichtet habe.261 Friedländer starb 1934, erlebte also noch die Publikation der Brahms-Biographie von Schauffler im Jahr 1933 und legte keinen Widerspruch gegen das Werk und die ihm zugeschriebenen Aussagen ein, so dass Jan Swafford262 annimmt, dass man den Ausführungen von Schauffler glauben könne. Demnach habe Brahms Max Friedländer erzählt, dass er als neunjähriger Junge in Hafenkneipen aufgespielt habe: Die Prostituierten „used to take me on their laps between dances, kiss and caress and excite me. That was my first impression of the love of women. And you expect me to honour them as you do!“263 Um die sich widersprechenden Erinnerungen von Brahms und der ZeitzeugInnen zu erklären, bieten die oben ausgeführten Erkenntnisse der Gedächtnisforschung einen differenzierten Erklärungsansatz an. Zunächst fällt Brahms’ eigener Widerspruch auf: Er sprach immer mit Hochachtung von seinen Eltern und ihren Anstrengungen, die Familie „anständig“ durchzubringen und die Kinder zu fördern. Dann jedoch schilderte er drastische Situationen wie die gegenüber Friedländer. Als eine zweite Überlieferungsschicht sind die Erinnerungen der ZeitzeugInnen über mögliche Besuche in den Etablissements heranzuziehen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist zu fragen, warum Brahms widersprüchliche Kindheits- und Jugenderlebnisse erinnerte und welchen ZeitzeugInnen Glauben zu schenken ist. Die Antworten auf diese Frage werden wiederum von dem jeweiligen Brahms-Bild und dem eigenen Geschichtsverständnis infiltriert: Kross führt als Grund für die in der Biographieschreibung beliebte Version der ‚schwierigen Jugend‘ die im 19. Jahrhundert einsetzende Heroen-Geschichtsschreibung an, nach der der Künstler seinen Weg aus dem Dunkel ins Licht gegen alle möglichen Anfeindungen des Lebens zu gehen habe.264 Der Mythos vom Aufstieg des Genies aus dunklen Jugenderfahrungen in den hellen Olymp der Kunst erfüllte für die ästhetische Rezeption eine diskursive Funktion und trug zur Heroisierung von Künstlern bei. Bedenkt man, dass Erinnerungen je nach Situation neu re-konstruiert werden, dass es keine ‚wahren‘ oder ‚falschen‘ Erinnerungen gibt und dass emotional besetzte Erinnerungen deformationsanfällig sind, dann sind die überlieferten Informationen über Brahms’ Jugend im jeweiligen Entstehungskontext und in ihrer Funktionalität für die sich erinnernde Person zu interpretieren. Hofmann und Avins gehen in ihren fundierten Ausführungen davon aus, dass Brahms im Alter von 14 Jahren in Tanzlokalen oder in einfachen Wirtshäusern aufgespielt hat, womit die Erinnerungen der ZeitzeugInnen durchaus kompatibel sind. Brahms hat das Spiel
261 262 263 264
Schauffler: Unknown Brahms, S. 224–226. Swafford: Brahms and the waterfront bars. Schauffler: Unknown Brahms, S. 226, Hervorhebung im Original. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 29f.
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in den Schänken vielleicht als negativ, weil monoton, langweilig, ermüdend empfunden. Das Publikum der Lokale war einfach und derb, und sicherlich wird Brahms das Geschäftsgebaren der Prostituierten gesehen haben und mit ihnen in Kontakt gekommen sein. Der Vater, dessen einzige Verdienstmöglichkeit im Musikmachen bestand und für den das Musizieren in diesen Lokalen alltägliche Praxis war, hat der Familie mit dem Spiel in den Schänken ein Zubrot gesichert, das auch für die schulische und musikalische Bildung der Kinder notwendig war. Er hat seinen Sohn am väterlichen Leben partizipieren und ihn die notwendigen Lebenserfahrungen machen lassen, die er aus seiner handwerklich orientierten Sicht des Musik-Machens brauchte, um als Musiker bestehen zu können. Dieser Zwiespalt – die Eltern erziehen und fördern im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Kinder und das unangenehme nächtliche Aufspielen, bei dem Brahms das ‚unsittliche‘ Hamburger Nachtleben kennen gelernt hat – kann die unterschiedlichen Erinnerungsqualitäten von Brahms erklären. In welchen Farben er seine Kindheitserlebnisse schilderte, hing dabei auch von der Situation ab, in der die Erinnerungen aufgerufen wurden. Bei der von Friedländer kolportierten Erinnerung hatte Brahms sich zuvor über eine aus seiner Sicht dumm-dreiste Frau aufgeregt – wie seine Schatzkästlein zeigen, lehnte er diesen Frauentyp zutiefst ab – und um so drastischer fiel seine Erzählung der Erfahrungen in den Tanzlokalen aus. Dumme, eitle, dreiste Frauen und unsittliche, ‚geile Weiber‘, hier warf er sie in einen Topf und lebte seine misogyne Seite aus. Gegenüber Kalbeck oder Widmann hob er dagegen in eher reflektierender Stimmung die positiven, fördernden Kindheitserlebnisse hervor. Das Bild des unschuldigen jungen Brahms, der in seiner Kindheit und Jugend verderblichen Einflüssen ausgesetzt gewesen sei, war ebenso wie sein Junggesellendasein Anlass für psychologisierende Erklärungen.265 Brahms habe in seiner Kindheit erste ernüchternde Erfahrungen mit Frauen und Sexualität erlebt, die ihn zeitlebens geprägt bzw. die es ihm unmöglich gemacht hätten, Liebe mit Leidenschaft zu verbinden. So wäre es zu erklären, dass er immer dann, wenn er Liebe zu einer ehrbaren Frau empfunden habe, aus Angst vor den eigenen Leidenschaften und der Unmöglichkeit, diese negativ bewerteten Gefühle mit einer tugendhaften Frau zu verbinden, die Beziehung abgebrochen habe. Sexuell-leidenschaftliche Gefühle könne Brahms nur in Formen niedriger Liebe bei Prostituierten zulassen und ausleben – auch dies wird als Hinweis auf seine angeblich frühen Erfahrungen im Prostituiertenmilieu gedeutet. Hans Gal nennt es eine furchtbare Tatsache, „daß alles, was Eros für diesen unendlich feinempfindenden liebesbedürftigen Menschen übrig hatte, der Zufall der Straße war.“266 Brahms selbst schrieb über seine Besuche
265 266
Vgl. Kapitel 3.2.3.3. Gal: Brahms, S. 71
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in den Lokalen des Wiener Nachtlebens im Zusammenhang mit der freigewordenen Kantorstelle in Leipzig an seinen Verleger Simrock: Die Kantorstelle ist wohl nichts für mich. Aber, nicht gelacht habe ich über die Frage des Bürgermeisters wegen meines dissoluten Lebenswandels. Durch eine bloße Albernheit habe ich es dahingebracht, daß man mich für einen eifrigen Besucher aller bedenklichen Vergnügungen hält. Seit Jahren habe ich die Gewohnheit, da ich eben zeitiger als andere das Wirtshaus verlasse, zu sagen: ich muß zum Schwender oder Sperl!267 Alle Jahre einmal gerate ich vielleicht wirklich hin, aber – mit dem alten Lachner oder Nottebohm. Jetzt habe ich mir angewöhnt, statt dessen zu sagen: ich gehe in den Wagnerverein, hoffentlich rehabilitiert mich das.268
Der mit Brahms befreundete Herausgeber des Simrock-Briefwechsels und spätere Biograph Max Kalbeck erläuterte hierzu in einer Fußnote: „Mit dem ‚Wagnerverein‘ war nebenbei ein Café mit Damenbedienung an der Elisabethbrücke gemeint, einem auch von Nottebohm besuchten Lokal, in welchem die beiden aus dem Wirtshause Kommenden und auf dem Heimweg Begriffenen ihren Schwarzen tranken.“269 Bereits mit der ihm im Oktober 1876 angetragenen Stelle in Düsseldorf sinnierte Brahms in einem Brief an Theodor Billroth über die Vorteile eines Junggesellenlebens in Wien: Meine Hauptgründe dagegen sind auch kindlicher Natur und müssen verschwiegen bleiben. Etwa die guten Wirtshäuser in Wien, der schlechte grobe rheinische Ton (namentlich in Düsseldorf) und – und – in Wien kann man ohne weiteres Junggeselle bleiben, in einer kleinen Stadt ist ein alter Junggeselle eine Karikatur. Heiraten will ich nicht mehr und – habe doch einigen Grund, mich vor dem schönen Geschlecht zu fürchten.270
Die ambivalenten Gedanken über Frauen, seine Einstellung zu Leidenschaften und Sexualität, die sich aus den Eintragungen in den Schatzkästlein, anhand der Lektüreempfehlung oder der Erinnerungsliteratur ableiten lassen, können als Konsequenz aus dem bürgerlichen Geschlechterkonzept und dem in dieser Zeit üblichen Umgang mit Sexualität271 in Zusammenhang gebracht werden, das heißt, sie sind nicht allein mit sexuell-verderblichen Kindheitserfahrungen zu erklären. Brahms reihte sich hier in die Phalanx der Zeitgenossen ein, deren polares Geschlechterkonzept auf einem hierarchischen Verhältnis von Mann und Frau beruhte. Damit verbunden waren ein Frauenbild, das zwischen Verehrung und Verachtung schwankte, ein
267 268 269 270 271
Bei Schwender handelt es sich um einen Bierkeller des Etablissments Schwender in der Schwendergasse im 14. Wiener Bezirk, Café Sperl ist ein berühmtes Wiener Kaffeehaus in der Gumpendorferstraße. Brahms: Briefwechsel mit Simrocks, Bd. 2, S. 116 (Brief vom 7.5.1879). Brahms: Briefwechsel mit Simrocks, Bd. 2, Fußnote 4, S. 116. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 223. Vgl. hierzu auch Nipperdey: Deutsche Geschichte, Kapitel II.3: Sexualität, S. 95–112.
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Männerbild, das von Eigenschaften wie Rationalität, Aktivität und Autorität geprägt war, sowie eine Einstellung zur Sexualität, die diese zwar als ‚natürliches‘ Phänomen begriff, aber dennoch vor ihren schädigenden Einflüssen auf Körper und Geist warnte, wenn sie das ‚normale‘ Maß überschritt. Brahms’ Junggesellendasein und sein Geschlechterkonzept inklusive der zum Teil misogynen Gedanken über Weiblichkeit allein den (schlechten) Kindheitserlebnissen zuzuschreiben, hieße, den soziokulturellen Kontext und den zentralen Geschlechterdiskurs seiner Zeit zu vernachlässigen. 3.2.3
Zur männlichen Identität von Johannes Brahms
Eine Annäherung an Brahms’ Geschlechterkonzept hat auch sein eigenes Doing gender zu beleuchten: Wie inszenierte er sich selbst, wie ist sein Habitus zu beschreiben und wie verhielt er sich gegenüber dem eigenen und dem anderen Geschlecht? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werden unterschiedliche Blicke auf seine Person geworfen, so wie sie in der Brahms-Literatur präsentiert wird. Zur Verfügung stehen Zeichnungen, Gemälde und Photographien, die einen Eindruck seines äußeren Erscheinungsbildes geben, sowie seine Briefwechsel und Erinnerungen von ZeitgenossInnen. Diese Quellen werden im Folgenden schlaglichtartig nebeneinander gestellt, so dass sie als Mosaiksteine miteinander kombiniert und zusammengesetzt werden können. Es kann nicht das Ziel sein, ein festumrissenes Brahms-Bild zu entwerfen und festzuschreiben, denn Brahms’ Persönlichkeit und sein Doing gender waren – wie jede geschlechtliche Praxis – vielschichtig, nicht immer eindeutig und zum Teil auch widersprüchlich. Da eine Annäherung an sein Doing gender nur über die in der Literatur transportierten Brahms-Bilder erfolgen kann, handelt es sich zudem um gespiegelte, gefilterte, vielleicht auch zensierte Einblicke, die Auskunft darüber geben, wie Brahms von anderen erlebt und wahrgenommen wurde. Dennoch schimmert in einer Art Zusammenschau hinter den verschiedenen Spiegelungen ein Kern durch, der sich beschreiben lässt. In den folgenden Ausführungen geht es ebenfalls nicht um eine Wertung oder psychoanalytische Interpretation seiner Verhaltensweisen. Es ist vielmehr hervorzuheben, dass Brahms ebenso wie alle anderen Individuen einer Gesellschaft nicht umhin kann, seine eigene geschlechtliche Identität zu inszenieren und sich als geschlechtliches Individuum zu konstruieren. Sein Doing gender ist ebenso wie sein musikalisches Handeln in die Ideen- und Gedankenkreise, in den soziokulturellen Kontext und in die gesellschaftlichen Diskurse seiner Zeit gestellt, die ihn als Person und Künstler prägten, zu denen er Stellung bezogen hat und in denen er agierte, reagierte und komponierte.
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3.2.3.1
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Schlaglicht 1: Brahms-Porträts
In der Regel ist es das Bild des bärtigen Brahms, das sich assoziativ als erstes einstellt, wenn sein Name fällt. So wurde er von Max Klinger auf den Sockel seines Brahms-Denkmals272 gehoben und so ist er auf den Altersphotographien zu sehen, die Maria Fellinger geschossen hat und die aufgrund ihrer zahlenmäßigen Dominanz das Brahms-Bild entscheidend geprägt haben (Abb. 1): „Da steht oder sitzt ein behaglich dreinschauender, ernster Herr mit weißem Rauschebart; man riecht förmlich seine dicke Zigarre, während er versonnen in die Kamera blickt.“273 Der Bart veränderte das Erscheinungsbild von Brahms grundlegend. Josef Widmann drückte seinen ersten Eindruck über den bärtigen Brahms bei einem Zusammentreffen 1881 wie folgt aus: „der in den Spitzen angegraute prächtige Vollbart [erschien] mir wie ein Symbol der nun vollkommen in sich gefestigten, in ihren Zielen absolut klaren und sicheren Persönlichkeit des großen Tondichters [...].“ Auf seine Frage nach dem Grund für den Bart antwortete ihm Brahms: „Mit rasiertem Kinn wird man entweder für einen Schauspieler oder für einen Pfaffen gehalten [...].“274 Brahms nahm also eine bewusste Imagekorrektur vor, die für seine Selbstinszenierung bedeutungsvoll gewesen sein muss, denn er war nicht groß von Statur, im Alter eher korpulent – oder wie Adolf Sandberger ungeschminkt mitteilte: „Brahms ist klein und krummbeinig, hat einen dicken wackeligen Bauch und ist ziemlich schmierig gekleidet. Der Kopf ist sehr interessant, eine echte hohe Stirn, der man die geistige Arbeit ansieht.“275 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trugen viele bürgerliche Männer einen Oberlippenbart oder einen mächtigen Vollbart, so auch im Brahms-Kreis Joseph Joachim, Theodor Billroth, Heinrich von Herzogenberg, Julius Stockhausen, Karl Reinthaler, Richard Heuberger, Max Kalbeck, Fritz Simrock, Julius Epstein oder Eduard Hanslick. „Der Vollbart verlieh patriarchale Autorität, gesetzte Würde und forderte ehrfürchtige Distanz. Wie das heruntergeklappte Visier einer Rüstung kaschierte der Bart die Zeichen emotionaler Regungen und symbolisierte, daß der Träger jederzeit Herr seiner selbst war.“276 Laut Kalbeck hemmte und vereitelte bei Brahms ein langwieriger Kehlkopfkatarrh die Entwicklung einer tiefen, männlichen Stimme. „In Augenblicken des Affekts verriet sich der schnarrende, quälende Bass als ein künstlich hinabgedrück-
272 273 274 275 276
Vgl. die Abbildung auf dem Cover. Sandberger: Bilder, Denkmäler, Konstruktionen, S. 145. Widmann: Brahms, S. 43. Adolf Sandberger: Tagebuch meiner Reise nach Wien und Italien. Dezember [18]87 – Juni 88, Original im Familienbesitz, zit. nach: Sandberger: Bilder, Denkmäler, Konstruktionen, S. 147. Brändli: Bürgerliche Männlichkeit, S. 113.
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Abb. 1
Der 63jährige Brahms; Photographie im Kabinettformat, Wien, 15. Juni 1896, (letzte Photographie von Maria Fellinger), mit freundlicher Genehmigung des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck.
ter hoher Tenor.“277 Brahms’ Versuch, seine Stimme in tiefere Register zu drücken, deutet darauf hin, dass er mit seiner hohen Stimme nicht zufrieden gewesen ist. Steht eine tiefe Männerstimme für Souveränität, Würde und Autorität, so entspricht eine hohe Stimme nicht dem gängigen Klischee von Männlichkeit. Die tiefer gedrückte Stimme und der stattliche Bart sind als Ausgleich zu seiner geringen körperlichen Statur und als Inszenierung von Männlichkeitsattributen zu deuten. Es bleibt aber zu berücksichtigen, dass erst der 45-Jährige einen Bart getragen [hat], und er war keineswegs immer schon jener von der Nachwelt zum einsamen Komponisten Stilisierte, der – als höchstes, bürgerliches Lebensglück – ein beschauliches Plätzchen in der Sommerfrische suchte. Zu diesem
277
Kalbeck: Brahms I, S. 41.
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eindimensionalen Bild kontrastiert der junge Brahms, der romantische Weltbilder assimilierte und der sich mit einem Feuerkopf wie dem Kapellmeister Johannes Kreisler aus der Feder von E.T.A. Hoffmann identifizierte.278
In seiner Sammlung deutscher Sprichworte hatte Brahms notiert: Des Jünglings Gesicht / Ist ein Gedicht. In Mannes Gesichte / Lies seine Geschichte.279
Die Wandlung vom ‚lyrisch-poetischen‘, emotionalen jungen Brahms (Abb. 2) hin zum erfahrenen, auf dem Lebensweg bewährten ‚männlichen‘ Brahms zeigt nichts eindeutiger und plakativer als der mächtige Vollbart des Endvierzigers. Symbolisiert der Bart Souveränität und Autorität, so war er auch ein Schutzwall, hinter dem Emotionen (Erröten) leichter zu verbergen waren. „Der Bart, den er [Brahms] sich
Abb. 2:
278 279
Der 29jährige Brahms; Photographie, Visitformat, Hamburg, 1862, mit freundlicher Genehmigung des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck
Sandberger: Bilder, Denkmäler, Konstruktionen, S. 146. Bozarth: Deutsche Sprichworte, S. 13.
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stehen ließ, war eiserner Vorhang und schützende Kulisse. Dahinter spielte das Drama seines Innenlebens. Das Beste, die Verletzlichkeit seiner Künstlerseele, blieb solcherart im Mann, verborgen hinter einem Wall von Haaren.“280 Die Bedeutung des Bartes als Schutzwall korrespondiert mit den von Brahms in seinen Merkbüchern gesammelten Eintragungen über Männlichkeit, nach denen ein Mann rational, abgeklärt und souverän sein Leben zu meistern habe. Gegenüber Hermann Levi formulierte Brahms das folgendermaßen: „einen Mann braucht man nicht zu versuchen biegen zu wollen, und Stillschweigen sei nur gar zu oft das beste.“281 Auch das Klischee von der harten Schale und dem weichen Kern lässt sich in diesem Zusammenhang anführen. Die eigenen emotionalen Befindlichkeiten wurden hinter einem Bart kaschiert, der nach Außen hin Souveränität und Autorität gewährleistete. So schrieb Brahms an die sich um ihren jüngsten Sohn sorgende Clara Schumann: „Auch eignen Schmerz bin ich durchaus gewöhnt, ganz für mich und in mich hinein zu erleben.“282 3.2.3.2
Schlaglicht 2: Frauen – Männer
Brahms’ Verhalten gegenüber Frauen wird in vielen Brahms-Biographien thematisiert und mitunter blumig umschrieben: ein ganz deutscher Mann in Tat und Wort. Deshalb war sein ganzes Wesen auch von tiefer, aber niemals zur Schau getragener Sittlichkeit erfüllt. Temperamentvoll, wie er war, ging er an dem anderen Geschlechte nicht kalt vorüber und tolerierte bei sich selbst wie auch bei Mitbrüdern ein frisch-fröhliches Genießen. Aber niemals hat er es gewagt, edler Weiblichkeit Gefahr zu bringen, Romane zu spielen oder heimliche Verbindungen einzugehen, obgleich er, auch in schon vorgerückten Jahren, von der Damenwelt verehrt, vergöttert, oft auch sogar in lästiger Weise bedrängt wurde. Und, was er sich an der Liebe versagte, empfing er reichlichen Maßes von der Freundschaft. (1908)283 Die Frauen zogen Brahms an, doch er wollte ihnen trotzen, bannte die Erotik, die still und scheu, aber auch stürmisch fordernd sein Wesen durchglühte, in sich hinein und wehrte sich gegen Erfüllung und Hingabe. (1952)284 Brahms war und blieb ein Anbeter holder Weiblichkeit, leicht entzündbar, aber allem Anschein nach wiederum leicht abgekühlt. (1961)285
280 281 282 283 284 285
Reiber: Wallender Wall, S. 430. Brahms: Briefwechsel mit Levi, Gernsheim [u. a.], S. 30 (undatierter Brief). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 2, S. 45 (Brief vom 19.3.1874). Perger: Brahms, S. 69. Grasberger: Brahms, S. 274. Gal: Brahms, S. 64.
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Man muß es unterstreichen: Er fühlte sich zu schönen, sensiblen und intelligenten Frauen hingezogen. Sie ließen ihn keineswegs kalt. (1997)286
Brahms und die Frauen – Frauen und Brahms, dieses Thema hat immer wieder Anlass zu Spekulationen gegeben. Das Brahms-Bild, das häufig entworfen wird, zeigt in der Regel einen sittlich untadeligen Mann, der ‚frisch-fröhlich‘ genießen konnte – und nach bürgerlichem Moralcodex auch durfte –, dem aber die Erfüllung der (einen) großen Liebe und seiner erotisch-sexuellen Bedürfnisse versagt blieb bzw. der zur Erledigung seines künstlerischen Auftrags auf die Erfüllung dieser Sehnsüchte und auf die Gründung einer Familie verzichtete. Stets werden drei Frauen genannt, die zentral und schicksalhaft sein Leben geprägt haben sollen: Clara Schumann, Agathe von Siebold und Elisabeth von Herzogenberg.287 Darüber hinaus werden ernstere Verliebtheiten wie die zu Julie Schumann sowie eine Vielzahl von Schwärmereien288 erwähnt. Zu den drei oben genannten Frauen ist selbstverständlich seine Mutter, Johanna Henrike Christiane Nissen (1789–1865), hinzuzuzählen, die am 9.6.1830 Johann Jakob Brahms (1806–1872) heiratete, einen Kontrabassisten am Vereinigten Hamburger Theater, der zuvor Hornist der Hamburger Bürgerwehr gewesen war. Brahms’ Mutter betrieb gemeinsam mit ihrer Schwester ein Kurzwarengeschäft im Hamburger Gängeviertel und vermietete Zimmer unter. Christiane Nissen war fast 17 Jahre älter als ihr Ehemann und außerdem aufgrund eines angeborenen Hüft- oder Fußleidens leicht körperbehindert. An Charaktereigenschaften werden ihr große Gemüts- und Empfindungstiefe, Menschenkenntnis, Zartheit, Gottvertrauen, starke geistige Regsamkeit sowie ein empfänglicher Sinn für Dichtung und Musik zugeschrieben.289 Clara Schumann schrieb nach einem Besuch bei Brahms’ Eltern im April 1855 in ihr Tagebuch: „Die Frau ist so prächtig! Sie gibt’s, wie sie’s hat, so einfach gemütlich, macht gar kein Hin- und Herredens [...].“290 Brahms hat seine Briefe an die Mutter nach dem Tod der Schwester Elise, die diese verwahrte, vernichtet. So lässt sich nur aus wenigen überlieferten Aussagen die Beziehung zwischen Mutter und Sohn rekonstruieren. Brahms’ Sehnsucht nach Hamburg zeigt in der von ihm gewählten Formulierung – „daß ich kein Kosmopolit bin, sondern wie an einer Mutter an meiner Vaterstadt hänge“291 – seine innige Verbundenheit auch zu seiner Mutter,
286 287 288 289 290 291
Floros: Brahms – poetische Musik, S. 26. Vgl. Huschke: Frauen um Brahms; Henning: Freundschaft; Michelmann: Agathe von Siebold. Huschke (Frauen um Brahms) führt Ottilie Hauer, Bertha Faber, Luise MeyerDustmann, Hermine Spies, Alice Barbi sowie Nelly Lumpe u. a. an. Vgl. Stephenson: Brahms in seiner Familie, S. 10–15. Litzmann: Clara Schumann, Bd. 2, S. 371. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 413.
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Soziokultureller und biographischer Kontext
und: „Es ist so herrlich, bei den Eltern sein! Die Mutter möchte ich immer mitnehmen können.“292 Am 30.9.1853 traf Brahms im Hause Schumann in Düsseldorf ein. Robert Schumann war von dem jungen Komponisten begeistert und pries ihn in seinem berühmten Aufsatz Neue Bahnen in der Neuen Zeitschrift für Musik293 mit prophetischem Lob an. Auch auf Clara Schumann hinterließ Brahms Eindruck, wie ihre Tagebuchaufzeichnungen294 belegen. Aber schon 1854, als Schumann im Februar nach seinem Suizidversuch in der Endenicher Heilanstalt behandelt wurde und Brahms sich aufopferungsvoll um Clara Schumann und ihre Kinder kümmerte, wandelte sich Brahms’ Bewunderung für die Künstlerin in Liebe, die immer intensiver und leidenschaftlicher wurde. Nur ein Bruchteil seiner Briefe aus dieser Zeit ist erhalten, aber auch sie sprechen eine eindeutige Sprache:295 ich kann Ihnen doch nicht eine Idee von dem schreiben, was ich Ihnen sagen und tun könnte. Sehen Sie doch meine Briefe als die allerkleinsten Liebkosungen meiner Seele an. Ich liebe Sie zu viel, um es Ihnen schreiben zu können.296 Meine geliebte Clara, ich möchte, ich könnte Dir so zärtlich schreiben, wie ich Dich liebe, und so viel Liebes und Gutes tun, wie ich Dir’s wünsche. Du bist mir so unendlich lieb, daß ich es gar nicht sagen kann. In einem fort möchte ich dich Liebling und alles mögliche nennen, ohne satt zu werden, Dir zu schmeicheln. Wenn das so fort geht, muß ich Dich später unter Glas setzen oder sparen und in Gold fassen lassen. [...] Aber schreibe bald und schön und lieb. Deine Briefe sind mir wie Küsse.297
Über die Beziehung zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms wurden immer wieder Mutmaßungen angestellt.298 Sie reichen von der Annahme, dass Brahms der Vater von Felix Schumann sei, bis hin zu der Einschätzung, dass es zwischen ihnen eine rein platonische Liebe gewesen sein soll. Sicher ist, dass Brahms Clara Schumann in Liebe zugeneigt war und eine lebenslange Freundschaft zu ihr pflegte. Im März 1874 schrieb er ihr: „ich liebe Dich mehr als mich und
292 293 294 295 296 297 298
Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 27. Schumann: Neue Bahnen, S. 185f. Litzmann: Clara Schumann, Bd. 2, S. 281ff. Vgl. ausführlicher die Darstellung des biographischen Kontexts zur Entstehung des 1. Klavierkonzertes op. 15 (Kapitel 5.3.1). Brief vom 8.3.1855; Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 91. Brief vom 31.5.1856; Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 188/191. Frazenius (Pseudonym für Alfred Schumann): Brahms-Mysterium; Diesterweg: Hintertreppenphantasie; Huschke: Frauen um Brahms, S. 25–81; Henning: Freundschaft; Fröhlich: Freunde und Bekannte; Weissweiler: Clara Schumann, S. 290f; Reich: Clara Schumann, S. 241f; aktuell im Film von Helma Sanders-Brahms Geliebte Clara (2008) mit Martina Gedeck in der Hauptrolle.
Soziokultureller und biographischer Kontext
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irgend wen und was auf der Welt.“299 Und gegenüber Richard Heuberger erklärte er 1895: „Außer an Frau Schumann hänge ich an Niemandem mit ganzer Seele. – Es ist doch eigentlich grauslich und man soll so was weder denken noch sagen.“300 Nach dem Tod von Robert Schumann im Juli 1856 kam es zu einer beiderseitigen Neu-Orientierung ihrer Lebensentwürfe, was einen gewissen Bruch in ihrer Beziehung zur Folge hatte, der sich am Ton der Briefe ablesen lässt. Ein deutlicher Wendepunkt stellt Brahms’ Brief vom 11. Oktober 1857 dar: Liebe Clara, Du mußt ernstlich darnach trachten und dafür sorgen, daß Deine trübe Stimmung nicht alles Maß überschreite und nicht ohne Aufhören sei. / Das Leben ist kostbar; gewaltig zerstört solche Geistesstimmung den Körper. [...] / Du mußt dich ernstlich ändern, meine liebste Clara. Nimm Dir jeden Morgen von neuem ganz ernstlich und einfach vor, den Tag und alle Zeit gleichmütiger (gleichmäßiger) und froher zu sein. Leidenschaften gehören nicht zum Menschen als etwas Natürliches. Sie sind immer Ausnahme oder Auswüchse. / Bei wem sie das Maß überschreiten, der muß sich als Kranken betrachten und durch Arznei für sein Leben und seine Gesundheit sorgen. / Ruhig in der Freude und ruhig im Schmerz und Kummer ist der schöne, wahrhafte Mensch. Leidenschaften müssen bald vergehen, oder man muß sie vertreiben.301
In der Gegenüberstellung zu den vorherigen Briefausschnitten wird der Unterschied deutlich: Dort innige Liebeserklärungen, hier nun rationale, kühle Argumentation, wie sie mit ihren Leidenschaften, den trauernden Gedanken an Robert Schumann, umzugehen habe. Kross spricht treffend davon, „daß er einen Transformationsprozeß seiner Haltung zu ihr durchgemacht“302 habe, und nimmt an, dass beide in dieser Zeit bemüht waren, ihr Verhältnis „in eine lebenslange, wenn auch schwierige Freundschaft zu überführen.“303 Im Spätsommer 1858 lernte Brahms in Göttingen die Professorentochter Agathe von Siebold (1835–1909) kennen. In den Beschreibungen der Biographen304 erscheint sie als die ideale Partnerin für Brahms: Sie war wie für Brahms geschaffen, ohne Phrase, frisch, natürlich, dabei hochgebildet, voll Anmut und Liebreiz, reich an Geist, heiter, humor- und temperamentvoll und in ihrem Fühlen – ganz in Musik getaucht. Sie sang mit so reiner Beseelung und so feurig-süßer Empfindung, daß niemand sich ihrem Zauber entziehen konnte.305
299 300 301 302 303 304 305
Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Nd. 2, S. 45 (Brief vom 19.3.1874), im Zusammenhang mit den Sorgen um die Gesundheit des jüngsten Sohnes Felix. Heuberger: Erinnerungen, S. 83. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 204f. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 214. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 215. Siehe vor allem Michelmann: Agathe von Siebold; Küntzel: Brahms in Göttingen. Huschke: Frauen um Brahms, S. 87f.
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In dieser Zeit entstanden eine Reihe von Liedern, die mit der Liebe zu Agathe von Siebold in Verbindung zu bringen sind.306 Zwischen den beiden Verliebten soll es zum Austausch von Ringen gekommen sein, doch als Brahms von ihrem gemeinsamen Freund Otto Julius Grimm zu einer Erklärung gedrängt wurde, antwortete er ihr – so ist in ihren Erinnerungen In Memoriam J. B.307 nachzulesen: „Ich liebe dich. Ich muß dich wiedersehen! Aber Fesseln tragen kann ich nicht! Schreibe mir, ob ich wiederkommen soll, Dich in meine Arme zu schließen, Dich zu küssen, Dir zu sagen, daß ich Dich liebe!“308 Der 25jährige Brahms wollte weiterhin frei und unabhängig über sein Leben entscheiden und keine verbindliche Beziehung eingehen. Gleichzeitig artikulierte er den Wunsch nach einem Wiedersehen und nach Fortsetzung ihrer Beziehung – ein recht ambivalenter Wunsch, der nach bürgerlichem Moralcodex für eine junge Frau wie Agathe von Siebold eine Entscheidung zwischen Liebe und Ehre bedeutete. Sie trennte sich von Brahms und hat ihn nicht mehr wiedergesehen.309 Als Dreißigjähriger lernte Brahms die Tochter des Hannoverschen Gesandten am Österreichischen Hof, Bodo Freiherr von Stockhausen, kennen. Elisabeth von Stockhausen (1847–1892) wurde als eine schöne, kluge, hochgebildete, edle, liebenswürdige und dabei musikalisch hochbegabte junge Frau beschrieben. Brahms übernahm die 16jährige als Klavierschülerin von Julius Epstein, dem damals bekanntesten Wiener Pianisten und Klavierpädagogen, brach aber kurze Zeit später ohne stichhaltigen Grund den Unterricht wieder ab. Nachdem sie 1868 den Komponisten Heinrich von Herzogenberg geheiratet hatte, entwickelte sich ab 1874 zwischen ihnen eine intensive Freundschaft. Brahms legte großen Wert auf ihr musikalisches Urteil, so dass er ihr, wie Clara Schumann, seine Kompositionen vor der Veröffentlichung mit der Bitte um Kritik zuschickte.310 Neben Clara Schumann und Elisabeth von Herzogenberg waren es aber vor allem Männer, mit denen Brahms langjährige und intensive Freundschaften pflegte.
306
307 308 309 310
So zum Beispiel Vor dem Fenster (Volkslied) op. 14/1, Ein Sonett (nach Thibault, übersetzt von G. F. Herder) op. 14/4 und Ständchen (Volkslied) op. 14/7 sowie Der Kuß (Ludwig Hölty) op. 19/1, Scheiden und Meiden (Ludwig Uhland) op. 19/2, In der Ferne (Ludwig Uhland) op. 19/3 und An eine Äolsharfe (Eduard Mörike) op. 19/5. Vermutlich gehört auch Die Liebende schreibt (Johann Wolfgang von Goethe) op. 47/5 in diesen Kontext. Abgedruckt in Küntzel: Brahms in Göttingen, S. 99–105, dort ebenfalls: Allerlei aus meinem Leben, S. 91–98. Küntzel: Brahms in Göttingen. S. 100. Vgl. Michelmann: Agathe von Siebold, S. 156– 190. Küntzel: Brahms in Göttingen, S. 91–105. Eine ausführliche Würdigung der fördernden Tätigkeiten und des Einflusses von Elisabeth von Herzogenberg auf Johannes Brahms bietet die Dissertation von Antje Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg.
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Wichtigster Freund war ihm sicherlich Joseph Joachim, nicht nur, weil er den Eintritt in den Schumann-Kreis ermöglichte und ihn in das Künstlerleben einführte, sondern vor allem aufgrund einer großen künstlerischen Wesens- und menschlichen Seelenverwandtschaft. Der überlieferte Briefwechsel aus dem Beginn ihrer Freundschaft hat stellenweise schwärmerischen Charakter – so Brahms an Joachim: „ich sehne mich nach Dir, als lägen Jahre zwischen unserm Zusammensein, ich habe Dir auch so viel, so unendlich viel Schönes zu erzählen.“311 In Wien entwickelte sich im Laufe der Jahre ein Zirkel um Brahms, zu dessen engstem Kreis Theodor Billroth, Eduard Hanslick und später Max Kalbeck gehörten. Daneben pflegte er zahlreiche Kontakte zu Dirigenten312, Komponisten313, Interpreten und Sängern314 oder Maler- und Schriftstellerkollegen315, zu seinen Verlegern und Verehrern wie dem Herzog von Meiningen oder der Familie von Beckerath, die zum Teil rein beruflicher, zum Teil aber auch freundschaftlicher Natur waren. An der Anzahl der Personen lässt sich ablesen, dass Brahms ein kommunikativer (wenn auch zuweilen wortkarger) Mensch war, der das Gespräch und die Geselligkeit der Freunde durchaus suchte. Die abendlichen Zusammentreffen in seinem Stammlokal Der rote Igel oder im privaten Salon von Theodor Billroth nach einem Konzert, gemeinsame Italien-Reisen mit Karl Goldmark, Theodor Billroth oder Joseph Viktor Widmann, Ferienaufenthalte in der Nähe von befreundeten Familien oder Ehepaaren legen Zeugnis ab von seinem Wunsch nach Austausch und Kontakt. Mit Ausnahme von Clara Schumann und Elisabeth von Herzogenberg316 wechselte er den überwiegenden Teil seiner Briefe mit Männern, deren Ehefrauen er stets freundlich grüßen ließ, und auch die Abende in geselliger Gasthausrunde waren in der Regel reine Männerrunden. Neben den Frauen der befreundeten Männer oder Kollegen waren es vor allem berufliche Kontakte zu Frauen, zu den von ihm verehrten Sängerinnen oder zu Instrumentalistinnen,317 aber
311 312 313 314 315 316
317
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 12; vgl. auch Kapitel 3.2.2. Hans von Bülow, Otto Dessoff, Karl Reinthaler, Hermann Levi, Franz Wüllner, Julius Otto Grimm, Hans Richter, Albert Dietrich, Richard von Perger, Julius Spengel. Heinrich von Herzogenberg, Theodor Kirchner, Peter Cornelius, Karl Goldmark, Richard Heuberger oder Antonin Dvořák. Carl Tausig, Robert Hausmann, Ignaz Brüll, Julius Epstein, Richard Mühlfeld, Eugen d’Albert, Julius Stockhausen und Georg Henschel. Adolf von Menzel, Anselm Feuerbach, Max Klinger, Klaus Groth, Gottfried Keller und Paul von Heyse. Streng genommen handelt es sich um einen Briefwechsel mit dem Ehepaar Herzogenberg, das heißt, Heinrich von Herzogenberg war als Adressat und Leser der Briefe immer eingebunden, auch wenn Elisabeth von Herzogenberg die meisten und umfangreichsten Briefe an Brahms schrieb. Marie Soldat, Ilona Eibenschütz oder Florence May.
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den gedanklich-kommunikativen Austausch pflegte er überwiegend mit Männern.318 3.2.3.3
Schlaglicht 3: Der Junggeselle
Drückt sich in der gegenüber Agathe von Siebold geäußerten Auffassung, dass eine verbindliche Beziehung zu einer Frau fesselnde, hemmende Wirkung auf ihn haben könnte, eine grundsätzliche Bindungsangst aus, die Brahms auch bei weiteren Verliebtheiten davon abgehalten hat, eine engere Bindung oder gar eine Ehe einzugehen? Später gab er an, unter seiner Ehe- und Familienlosigkeit gelitten zu haben. So äußerte er zum Beispiel 1875 gegenüber dem Sänger und Gesangspädagogen Georg Henschel: „Es tut mir doch manchmal leid, nicht geheiratet zu haben. Jetzt müßte ich einen Jungen von 10 Jahren haben.“319 Und doch spielte er eindeutig-uneindeutig mit seiner gewollt-ungewollten Ehelosigkeit, indem er beispielsweise bei Nachfragen antwortete: „Ich war leider nie verheiratet und bin es Gott sei Dank noch immer nicht.“320Als rationale Begründung für seine Ehelosigkeit führte Brahms gegenüber dem Schweizer Dichter Josef Viktor Widmann an, dass er ohne gesicherte Position nicht in der Lage und Willens gewesen sei, eine Ehe einzugehen. Ich hab’s versäumt. Als ich wohl Lust dazu gehabt hätte, konnte ich es einer Frau nicht so bieten wie es recht gewesen wäre [...] Aber in der Zeit, in der ich am liebsten geheirathet hätte, wurden meine Sachen in den Concertsälen ausgepfiffen oder wenigstens mit eisiger Kälte aufgenommen. Das konnte ich nun sehr gut ertragen, denn ich wußte genau, was sie werth waren, und wie sich das Blatt schon noch wenden würde. Und wenn ich nach solchen Mißerfolgen in meine einsame Kammer trat, war mir nicht schlimm zu Muthe. Im Gegenteil! Aber wenn ich in solchen Momenten vor die Frau hätte hintreten, ihre fragenden Augen ängstlich auf die meinen gerichtet sehen und ihr hätte sagen müssen: ‚Es war wieder nichts‘ – das hätte ich nicht ertragen! Denn mag eine Frau den Künstler, den sie zum Manne hat, noch so sehr lieben und auch, was man so nennt: an ihren Mann glauben – die volle Gewißheit eines endlichen Sieges, wie sie in seiner Brust liegt, kann sie nicht haben. Und wenn sie mich nun gar hätte trösten wollen ... Mitleid der eigenen Frau bei Mißerfolgen des Mannes ... puh! ich mag nicht daran denken, was das, so wie ich es wenigstens fühle, für eine Hölle gewesen wäre!321
Anscheinend war eine Ehe für Brahms nur aus einer gesicherten beruflichen Position heraus vorstellbar, weil sozialer Status Identifikation und Selbstbewusstsein gewährleistet. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass für ihn beruflicher Erfolg
318 319 320 321
Vgl. die Beobachtungen von Freia Hoffmann zu den Frauen im Umfeld von Ludwig van Beethoven (Hoffmann: Wahrnehmungsprobleme). Brahms: Briefwechsel mit Billroth, Einleitung, S. 31. Kalbeck: Brahms II, S. 426 Fußnote 1. Widmann: Brahms, S. 47f.
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und männliche Identität eng zusammenhingen. Aber selbst in den Jahren, in denen seine berufliche und finanzielle Situation gesichert und er als Komponist etabliert war, entschloss er sich nicht zu einer Heirat. Es wurde vielmehr zu einem seiner „schönen Prinzipien“, wie er in einem Brief aus dem Jahr 1888 an Widmann vermerkte, „keine Oper und keine Heirath mehr zu versuchen.“322 Brahms’ Umgang mit Frauen, sein Junggesellendasein und die von ihm gemachten Äußerungen sind psychoanalytisch gedeutet worden. Sein Unwillen bzw. seine Unfähigkeit, eine dauerhafte (eheliche) Beziehung zu einer ihm ebenbürtigen Frau einzugehen, wird als problematisch eingestuft, zuweilen als krankhaft diagnostiziert.323 Häufig wird der große Altersunterschied von 14 Jahren zwischen ihm und Clara Schumann mit dem großen Altersunterschied von 17 Jahren zwischen seinen Eltern in einen Zusammenhang gebracht. Die komplizierte emotionale und psychodynamische Situation zwischen ihm und Clara und Robert Schumann wird als ein ödipaler Konflikt gedeutet, in dem Brahms sich befunden habe und der für sein ambivalentes Verhältnis zu Frauen entscheidend gewesen sein soll. Aus methodischen Gründen324 nehme ich von einer psychoanalytischen Diagnose Abstand – festzuhalten bleibt: Mit Clara Schumann und Elisabeth von Herzogenberg pflegte Brahms lebenslange Freundschaften, die Krisen und Konflikte überstanden. Lediglich zu Agathe von Siebold riss der Kontakt ab, nachdem sie ihm eine ablehnende Antwort gegeben hatte. Brahms schwärmte für gebildete und schöne Frauen – besonders häufig für die Sängerinnen seiner Lieder –, aber er überführte seine Verliebtheit respektive seine Liebe nicht in eine feste (eheliche) Bindung, auch wenn sein ursprünglicher Lebensentwurf anders aussah: „Und doch möchte man gebunden sein und erwerben, was das Leben zum Leben macht, und ängstigt sich vor der Einsamkeit. Tätigkeit im regen Verein mit andern und im lebendigen Verkehr, Familienglück, wer ist so ein Mensch, daß er die Sehnsucht danach nicht empfindet?“325
322 323
324
325
Widmann: Brahms, S. 45. Zum Beispiel Hitschmann: Brahms und die Frauen; Schauffler: Unknown Brahms, S. 252–285; Boyer: Magelone-poetry; Ostwald: Solitary altruist; Schröder/Hößler: Trost durch Musik; Mulder: Erhabener Schmerz; Gaschen: Psychodynamik der romantischen Liebe. Psychoanalytische Diagnostik ist meiner Ansicht nach psychoanalytisch ausgebildeten Personen vorbehalten, die im Rahmen einer Lehranalyse dazu befähigt werden, in Therapiegesprächen oder in einem speziellen therapeutischen Setting entsprechende Diagnosen zu treffen und die Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung professionell und differenziert zu handhaben (vgl. hierzu auch Newlin: Necropsychiatrie). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 413 (Brief vom 18.11.1862).
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3.2.3.4
Schlaglicht 4: Frauen in der Musik
Als 21jähriger schrieb Brahms am 1. September 1854 an Clara Schumann: „Solche Aufopferung geht über meinen Horizont, ich denke immer, Damen (nicht Sie!) verhungern nicht so bald ohne Instrument.“326 Der Hintergrund: Damit eine Schülerin von Clara Schumann auf einem guten Klavier üben konnte, stellte der gemeinsam Freund Julius Otto Grimm sein gutes Klavier der Schülerin zur Verfügung und mietete für sich selbst ein schlechteres Klavier. Am 7. Februar 1861 bat Brahms Clara Schumann: „Wenn Du nur einmal schreiben könntest, daß Du ja den festen Vorsatz hast, nicht mehr zu arbeiten, als Du nötig hast, das heißt, nicht mehr Konzerte zu geben, als Du eben brauchst, um durchzukommen.“327 Die ansonsten hoch verehrte Elisabeth von Herzogenberg kritisierte Brahms im August 1891 in einem Brief an Clara Schumann: Ja, der Ehrgeiz! Es sieht eigentlich allmählich bei ihnen [dem Ehepaar Herzogenberg] aus wie bei X... Für mich machen bei beiden die sonst so liebenswürdigen Frauen den Verkehr unmöglich. Beide Frauen werden immer fanatischer für die Arbeiten des Mannes, und nun kann man doch auch in viel günstigerem Fall nicht zu einem Künstler über sein Werk sprechen und vielleicht disputieren – wenn die Frau zuhört – von Mitreden zu schweigen. Mit den Männern allein wollte ich fertig werden und wie gern mich dann des Umgangs mit den Frauen erfreuen!328
Als Elisabeth von Herzogenberg eine nicht unterzeichnete Fuge der mit ihr befreundeten Komponistin Ethel Smyth (1858–1944) Brahms vorlegte, analysierte er sie zunächst ernst und anerkennend. Als er aber bemerkte, dass die Komposition von Ethel Smyth stammte, und diese auf ihrem Recht beharrte, auf der Dominante schließen zu können, änderte sich seine Reaktion: „Das ironische Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück, er strich sich über den Schnurrbart und sagte mit einer vor herablassenden Verachtung triefenden Stimme: ‚Liebes Kind, ich bin sicher, daß Sie enden können, wann und wo Sie wollen!‘“329 Sie ‚rächte‘ sich mit einem sarkastischen Spott-Gedicht: Der große Brahms hat’s neulich ausgesprochen: ‚Ein g’scheidtes Weib, das hat doch keinen Sinn!‘ D’rum laßt uns emsig uns’re Dummheit pflegen, Denn nur auf diesen Punkt ist Wert zu legen Als Weib und gute Brahmsianerin!330
326 327 328 329 330
Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 21 (Brief vom 1.9.1854). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 356, Hervorhebung im Original. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 459f. Smyth: Erinnerungen, S. 51. Smyth: Erinnerungen, S. 52, Hervorhebung im Original.
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Ethel Smyth lernte Brahms 1879 in Leipzig kennen, wo sie am Leipziger Konservatorium und als Privatschülerin Heinrich von Herzogenbergs Komposition studierte. Ich glaube, was mich an ihm [Brahms] hauptsächlich ärgerte, waren seine Ansichten über Frauen, die allerdings mit dem damals in Deutschland gängigen Frauenbild übereinstimmten [...]. Brahms war als Künstler und Junggeselle so frei, die sozusagen poetische Variante des ‚Kinder, Küche, Kirche‘-Ausspruchs für sich zu reklamieren, nämlich, daß Frauen nichts weiter seien als Spielzeug. Er machte dabei natürlich die eine oder andere Ausnahme – wie es solche Männer zu tun pflegen –, vor allem gegenüber Lisl [Elisabeth von Herzogenberg], der er mit perfekter Reverenz, Bewunderung und Zuneigung begegnete, ohne ihr den Hof zu machen. [...] Kurz, er war in Gegenwart von Lisl einfach liebenswert.331
Sie kritisierte des Weiteren seine ständigen Witzeleien und Spötteleien über Frauen an sich, die er „Weibsbilder“332 nannte. „Wenn sie ihm nicht gefielen, war er unheimlich verlegen und ungnädig; waren sie hübsch, so hatte er die unangenehme Angewohnheit, sich in seinem Stuhl zurückzulehnen, die Lippen zu schürzen, sich über den Bart zu streichen und sie anzustarren wie gefräßige Jungen ein Stück Torte.“333 Brahms kommentierte eine ihrer Kompositionen mit den Worten: „Das also ist das junge Fräulein, das Sonaten schreibt und keine Ahnung von Kontrapunkt hat!“334 Ethel Smyth meinte zu erraten, „daß er einen weiblichen Komponisten niemals ernst nehmen würde“335, so dass sie ihm keine eigenen Arbeiten vorlegte, obwohl er sie höflich dazu aufgefordert hatte. Aber neben dieser Kritik bemerkte sie auch seine Großzügigkeit, Integrität, Ehrlichkeit und Herzenswärme in seinem Umgang und daß selbst sein Zynismus über Frauen durch die äußerst zarte Feinheit seines Werkes Lügen gestraft wurde, mehr noch durch die Auswahl der Liedtexte. Doch alles was ich sagen kann, ist, dass diese poetische Einsicht seine Theorien über Frauen nicht bestimmte (die einige dumme Menschen einer früheren Liebesenttäuschung zuschreiben).336
331 332
333 334 335 336
Smyth: Erinnerungen, S. 46f. Elisabeth von Herzogenberg muss sich über den von Brahms benutzten Ausdruck „Frauenzimmer“ beschwert haben, denn Brahms schrieb ihr: „Was ist das alles [Publikumserfolg seines Violinkonzertes], wenn man hernach nicht in die Humboldtstraße gehen und sich von drei Weibchen (da Sie das Wort Frauenzimmer nicht leiden mögen) heruntermachen lassen kann.“ (Brahms: Briefwechsel mit E. u. H. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 90). Smyth: Erinnerungen, S. 47f. Smyth: Erinnerungen, S. 35. Smyth: Erinnerungen, S. 50. Smyth: Erinnerungen, S. 53.
76 3.2.4
Soziokultureller und biographischer Kontext
Zusammenfassung
Die in diesem Kapitel dargestellten biographischen und gesellschaftlichen Kontexte sollen dazu beitragen, „die Kenntnis der äußeren und inneren, musikalisch-spezifischen wie kulturell-allgemeinen Bedingungen zu erweitern und zu präzisieren, unter denen Musik geschaffen, eingesetzt und überliefert wird [...].“337 Sie dienen als Rahmen, in den musikbezogenes Handeln als eine kulturelle Praxis eingebunden war. Der komponierende, interpretierende und rezipierende Mensch des 19. Jahrhunderts agierte und reagierte in den gesellschaftlichen Diskursfeldern seiner Zeit. Als ein geschlechtliches Wesen war er aufgefordert, sich innerhalb der bestehenden Geschlechternormen zu positionieren und eine eigene geschlechtliche Identität zu konstruieren. Daher sind die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit von Johannes Brahms auf der Folie dieser Geschlechterordnung zu sehen, wonach Männer und Frauen in ihren Geschlechtscharakteren von ‚Natur‘ aus als unveränderlich galten. Anhand der ausgewerteten Quellen lässt sich festhalten, dass Brahms seine männliche Identität in Äußerlichkeiten wie Bartwuchs und tief gedrückter Stimme inszenierte und sein Selbstbewusstsein über berufliche Leistung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Anerkennung definierte. Er sehnte sich – zumindest als junger Mann – nach einer gesicherten Position, die ihm als Basis einer ordentlichen bürgerlichen Existenz vorschwebte und die das Erreichen bürgerlicher Lebensziele wie beruflichen Erfolg, Ehe und Kinder ermöglichte.338 Brahms „vereinfachte zwar, wenn er das Eheproblem auf ein Finanzproblem reduzierte, deutete aber mit Recht die Ehelosigkeit als ein Defizit, fast schon als Schande im bürgerlichen Sinne.“339 Gegenüber seinem Schüler, Gustav Jenner, hat Brahms dies so formuliert: „Der Mensch ist nur ein halber, der nicht auf der Grundlage einer soliden Existenz als Bürger im Staate feststeht und seinen Verpflichtungen nachkommt. [...] Wenn ich bedenke, wie ich die Leute hasse, die mich ums Heiraten gebracht haben!“340
337 338
339 340
Danuser: Biographik, S. 73. In Brahms aufgrund dessen einen bürgerlichen Komponisten zu sehen (Neunzig: Brahms; Kneif: Brahms; Schmidt: MGG-Brahms, Sp. 626f, 691f), würde Widersprüche und Brüche in seiner vermeintlich ‚bürgerlichen‘ Existenz verkennen (vgl. hierzu: Sandberger: Brahms – Ikone der bürgerlichen Lebenswelt?; Lütteken: Brahms – eine bürgerliche Biographie?). Dümling: Ehre statt Ehe, S. 13; vgl. Kalbeck: Brahms III, S. 223: „Hätte man mich zu rechter Zeit gewählt, so wäre ich ein ordentlicher bürgerlicher Mensch geworden, hätte mich verheiraten können und gelebt, wie andere. Jetzt bin ich ein Vagabund.“ Jenner: Brahms, S. 52.
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Brahms’ Buchempfehlung (Der persönliche Schutz) an seinen Freund Joseph Joachim lässt sich dahingehend interpretieren, dass seiner Auffassung nach leidenschaftlich-erotische Bedürfnisse ‚natürliche‘ Phänomene darstellen, die zu kontrollieren und in Maßen auszuleben sind. Bei einem unkontrollierten, exzessiven Ausleben des Sexualtriebs bestehe die Gefahr einer geistigen und körperlichen Schwächung oder gar Erkrankung. Idealerweise findet sowohl männliche als auch weibliche Sexualität im ehelichen Geschlechtsverkehr Befriedigung. Sein Weiblichkeitskonzept schwankte zwischen Frauenverachtung und Frauenverehrung. Eitle, oberflächliche und unsittliche Frauen werden in ‚Frauenwitzen‘ verspottet, während gebildete, bescheidene, sittsame Frauen, die ihre Lebensaufgabe in der Erfüllung ihrer ehelichen und mütterlichen Pflichten finden, glorifiziert werden. Hierin lässt sich eine Nähe zu den Ideen des liberalen Bildungsbürgertums festmachen, die im Konzept der „Geistigen Mütterlichkeit“ die Kulturaufgabe der Frau sahen. Es ist anzunehmen, dass die egalitären Ideen der Frauenbewegung nicht seinem Geschlechterkonzept entsprachen, zumindest lassen sie sich weder im Briefwechsel, noch in der Erinnerungsliteratur oder in seinen Schatzkästlein auffinden. Künstlerische Berufstätigkeit von Frauen als Interpretinnen zur eigenen oder der familiären Existenzsicherung wurde von Brahms akzeptiert, er unterstützte Sängerinnen und Instrumentalistinnen durch Empfehlung und in besonderen Fällen auch finanziell.341 Dennoch blieb ihm künstlerische Selbstverwirklichung von Frauen in der Musik unverständlich. Musikalische Bildung von Frauen war in seinen Augen oberflächlich (mit Ausnahmen), komponierende, das heißt, kreativ produzierende Frauen oder in seinen Augen ehrgeizige Frauen von Musikern erregten sein Missfallen. Gegenüber Georg Henschel soll er geäußert haben: „Dichtende oder musizierende Frauenzimmer sind mir von je ein Greuel gewesen.“342 In die gleiche Richtung weist eine von Henschel überlieferte Anekdote, nach der Brahms angab, das Klavierspiel eines Mannes von dem einer Frau sicher unterscheiden zu können: „Ja, sehen Sie wohl, darin täusche ich mich nie, und das will was sagen, weibliche Männer von männlichen Weibern zu unterscheiden.“343 Die von Ethel Smyth benannte Diskrepanz zwischen Verhalten, Theorien und dem poetischen Gehalt der Werke von Brahms, vornehmlich der Vokalmusik, wirft
341
342 343
So vermittelte Brahms für die Geigerin Marie Soldat ein Vorspiel bei Joseph Joachim (Kalbeck: Brahms III, S. 158), der sie schließlich als Schülerin aufnahm (vgl. Wenzel: Marie Soldat-Röger). Für die Sängerin Agnes Denninghof (verheiratete Stavenhagen) zahlte er in aller Stille die Gebühren ihres Gesangsstudiums (vgl. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 196f; Kohlweyer: Agnes Stavenhagen, S. 52f). Kalbeck: Brahms III, S. 86. Kalbeck: Brahms III, S. 83.
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die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Biographie und Werk auf: Sind Lebensdaten oder lebensweltliches Denken von Relevanz für den Werk-‚Inhalt‘ oder den ästhetischen Wert einer Komposition? Sind Kenntnisse der Biographie und des sozialgeschichtlichen Kontextes Voraussetzung, um ein Musikstück in seiner ästhetischen Wirkung zu erleben, zu verstehen oder zu interpretieren? Für Carl Dahlhaus ist „die biographische Fundierung musikalischer Werke auch dort, wo sie rekonstruierbar erscheint, für die Interpretation irrelevant [...].“344 Das Werk besitze auch ohne Hintergrundwissen über die emotionale Befindlichkeit der komponierenden Person zur Entstehungszeit oder der geschichtlichen Hintergründe eine unmittelbar ästhetische Wirkung und Aussage. Demgegenüber ist Christian Kaden der Überzeugung, dass das Ab-Sehen von den biografischen Bedingtheiten künstlerischen Handelns ein menschliches Verstehen, und ein weithin künstlerisches Verstehen, mit Sicherheit verhindert. Glatt polierte Denkmäler verletzen bei ihrem ‚Gegenstand‘ ebenso wie beim Betrachter die Menschenwürde. Sie kaschieren Verdinglichung durch Veredelungen.345
Die Kenntnis der inneren und äußeren Rahmenbedingungen, innerhalb derer ein Werk komponiert oder rezipiert wurde, kann zwar das ästhetisch Einzigartige eines Werk in seinem So-und-nicht-anders-Sein nicht erschöpfend erklären, weil immer eine Kluft zwischen biographisch-soziokultureller Bedingtheit und dem komponierten Werk bestehen bleibt. Aber die verschiedenen Perspektiven, unter denen ein Werk betrachtet und untersucht wird, zeigen eine von vielen möglichen Facetten auf, die im Werk enthalten sind oder die ihm anhaften. Genauso wenig wie eine Komposition eine Eins-zu-Eins-Setzung von biographischen Lebenserfahrungen oder gesellschaftlichen Kontexten ist, ist sie ‚reine‘ Musik: Sie ist als eine menschliche Ausdrucks- und Kommunikationsform immer in Diskurse, in Themen- und Gedankenkreise eingebettet und bringt die symbolische Ordnung der lebensweltlichen Erfahrungen einer Gesellschaft zum Ausdruck. Der Geschlechterdiskurs ist einer dieser Themenkreise, in die musikalische Produktion, Reproduktion und Rezeption eingebettet sind; die Geschlechterthematik ist demnach eine dieser Facetten, die in die Musik mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger bewusst einfließen oder eingearbeitet sind. Zu einem hermeneutisch fundierten Verstehen von Musik gehört „ein Verständnis der Denkformen [...], unter denen sie zustande gekommen ist.“346 Im 19. und bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war man davon überzeugt, dass die komponierende Person sich in ihrem musikalischen Werk zum Ausdruck bringe.
344 345 346
Dahlhaus: Wozu noch Biographien? In: Melos/NZ 1/1975, S. 82, zit. nach Danuser: Biographik, S. 59. Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare, S. 248. Danuser: Biographik, S. 69.
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Auch Brahms schien dieser Überzeugung anzuhängen, denn er vermerkte in seinen Schatzkästlein ein langes Zitat aus Friedrich von Sallets Roman Kontraste und Paradoxen: Es ist mir von jeher total sinnlos und vollkommen unbegreiflich erschienen, in ein und demselben, konkret ganzen Individuum, den Dichter, vom sittlichen Menschen zu trennen, beide zu vergleichen, oder gar einander gegenüberzustellen. Denn was in aller Welt ist denn ein Dichter anders als das, wohinein er sein ganzes Fühlen und Denken ausströmt, worin er die Quintessenz seines Ich verkörpert oder versinnbildlicht hat, nämlich seine Werke? Und was in aller Welt sind denn diese Werke anders als er selbst? Woher hat er sie genommen? Etwa aus dem Monde, oder aus der Champagnerflasche? O nein! Seien Sie versichert, was nicht in ihm war, als sein innerster Kern, von Ursprung an, das vermag er auch nicht als Kunstwerk (als Pfuscherei könnte einer es allerdings) außer sich hinstellen. Ich will sagen: Wer imstande ist, uns im Kunstwerk wahrhaft (dies Wörtlein ist wohl zu beachten) Hohes, Edles, Göttliches zu geben, der gibt’s aus sich, der ist hoch, edel, göttlich selbst.347
347
Krebs: Schatzkästlein, S. 81f, Hervorhebungen im Original.
4
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik von Johannes Brahms
Dass in der Vokalmusik Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit transportiert werden können, scheint nahe zu liegen, bietet doch die Vertonung eines Textes durch ihre sprachliche Gebundenheit Anknüpfungspunkte für eine genderzentrierte Interpretation. In Oper, Operette und Musical wird zudem das Handlungsgeschehen szenisch dargestellt und bietet weitere Interpretationsebenen. Aber auch ein Lied, das man als ‚Mini-Oper‘ mit nur einer Rolle auffassen könnte, lässt Rückschlüsse über den impliziten Geschlechter-Gehalt zu. Die Besonderheit bei der Analyse von Vokalmusik liegt demnach darin, dass sowohl der Text (Gedicht, Libretto) als auch die Vertonung des Textes sowie die Synthese dieser Bestandteile in Gattungen wie Lied, Oper, Oratorium oder Kantate zu untersuchen und zu interpretieren sind, so dass Vokalmusik im Vergleich zur Instrumentalmusik „durch die Zusammenspannung zweier Künste noch komplizierter und rätselhafter sein kann!“348 Dabei beeinflussen sich die Lesarten von Text und Musik gegenseitig, sie stehen in einem engen, wechselseitigen Bedingungszusammenhang, den es bei der Interpretation aufzuzeigen gilt. In bezug auf die Wahrnehmung und Beurteilung von Vokalwerken ist die Beurteilung des ‚eigentlichen Sinns‘ manchmal durch ein Mißverständnis erschwert, das sich auf die vermeintliche Eindeutigkeit und Unverrückbarkeit des Textes bezieht. Die Prämisse lautet dann, daß der Text gleichsam den eindeutigen, philosophischen Part innerhalb der ästhetischen Erfahrung vertrete, während die kompositorische Ausdeutung des Textes durch den Komponisten eine Sache individueller Interpretation sei, geleitet vom und zielend auf das Gefühl, dadurch empfunden als vielschichtig, kompliziert, oft geheimnisvoll und subjektiv. Objektiver Text, subjektive Musik; eindeutiger Text, uneindeutige Musik.349
Ebensowenig wie der ‚Inhalt‘ der Musik ist der ‚Inhalt‘ des vertonten Textes, sei es in Gestalt eines Gedichtes oder eines Librettos, eindeutig oder objektiv. Das Verstehen erfolgt in beiden Fällen durch eine hermeneutische Annäherung an die im Text eingeschriebenen Sinnpotentiale. Darüber hinaus bewirken sowohl die spezifischen Fragestellungen an einen Text (egal ob Schrift- oder Notentext), als auch das unterschiedliche Erkenntnisinteresse auf Seiten der Forschenden oder die angewandten Methoden sowie der soziokulturelle und der ideengeschichtliche Hintergrund, auf dem der Text untersucht wird, dass dieser aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, verstanden und interpretiert werden kann. Der von HansGeorg Gadamer geprägte Begriff der „hermeneutischen Situation“ betont diese
348 349
Schleuning: Hermeneutik und Semantik, S. 173. Kreutziger-Herr: Hölderlin, Brahms, S. 343.
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Kontextgebundenheit menschlichen Verstehens: „Situationen sind kontextspezifische Standpunkte, die jeweils bestimmte Deutungshorizonte öffnen und andere verschließen. Und wirkungsgeschichtliches Bewusstsein ist dann primär das Wissen darum, sich stets in einer solchen Situation zu befinden.“350 Mein Erkenntnisinteresse, die Musik – und in diesem Kapitel speziell die Vokalmusik – von Brahms als Teil einer kulturellen Praxis und eines Geschlechterdiskurses analysieren zu wollen, geht von der grundsätzlichen Prämisse aus, dass auf der Folie des jeweiligen ideengeschichtlichen Hintergrundes einer bestimmten Zeit soziokulturelle Deutungsmuster von Geschlecht während der Komposition in das Werk einfließen, so dass einem Werk die Ideen und Konzepte zu Männlichkeit und Weiblichkeit inhärent anhaften. Dies gilt unabhängig davon, ob es die bewusstreflektierte Intention des Autors Johannes Brahms351 gewesen sein mag, in seinen Vokalmusik-Kompositionen am Geschlechterdiskurs mitzuschreiben oder nicht. Selbstverständlich kann man sich den (Vokal-)Werken von Brahms auch mit anderen Erkenntnisinteressen bzw. Fragestellungen nähern und wird je nach gestellter Frage an die Werke entsprechende ‚Antworten‘ erhalten. Aus formalstruktureller Perspektive, zum Beispiel zum Wort-Ton-Verhältnis, gibt es eine Vielzahl an internationaler musikwissenschaftlicher Forschung zu den Vokalwerken von Brahms. Erst in den letzten Jahren und vermehrt im angloamerikanischen Sprachraum nähert man sich seinem (Vokal-)Werk mit einem soziokulturellen Erkenntnisinteresse.352 Es ist jedoch festzustellen, dass seine Vokalmusik bisher nicht auf die in ihr enthaltenen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit untersucht worden ist. Ob man die innewohnenden Genderkonnotationen für die ästhetische Beurteilung eines Klavierliedes oder einer Kantate als relevant betrachtet, ob man ihnen eine geringe oder große Nähe zum ‚eigentlichen Sinn‘ zuspricht,353 ist als Frage schon insofern falsch gestellt, als sie von der Überzeugung ausgeht, dass es den (einen) ‚eigentlichen‘ oder ‚wahren‘ Sinn eines Werkes – vielleicht als rekonstruierbare Intention der sinngebenden Autor-Instanz – unabhängig vom Erkenntnisinteresse oder vom Erwartungshorizont der Rezipierenden gibt. Geht man jedoch davon aus, dass die Produktion und Rezeption von Musik
350 351 352
353
Jung: Hermeneutik, S. 125. Bei dem Verweis auf die vermeintliche Autorenintention handelt es sich allerdings um ein objektivistisches Paradigma. Vgl. zur Vokalmusik u. a. Berry: Alto Rhapsody; Bottge: Wiegenlied; Boyer: Magelone poetry; Brachmann: Brahms – Klinger; Fladt: Bedeutung der Bedeutung; Floros: Vergänglichkeit, Tröstung und Hoffnung; Garlington: Alto-Rhapsody; Ingraham: Rinaldo; Jost: Brahms und die romantische Ironie; Kreutziger-Herr: Hölderlin, Brahms; McAuslan: Brahms’ folksongs; Webster: Alt-Rhapsodie. Zur Instrumentalmusik siehe ausführlicher Kapitel 5. Vgl. Dahlhaus: Textgeschichte und Rezeptionsgeschichte, S. 105.
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immer in kulturgeschichtlichen Bezügen steht, und versteht man Musik als ein Ergebnis dieser kulturellen Praktiken, in der der Mensch sich seiner selbst vergewissert oder seinen Gedanken, Ideen und inneren Gefühlszuständen usw. ästhetischen Ausdruck verleiht, dann kann die genderinteressierte Perspektive auf Musik diese inhärente Bedeutungsebene eines Kunstwerks und somit die soziale und individuelle Relevanz von Musik aufdecken. In zwei Analyseschritten und einer zusammenführenden Interpretation werde ich der Frage nach den Geschlechterkonzepten in der Vokalmusik von Johannes Brahms nachgehen. Zunächst wird das zugrundeliegende Gedicht einer Beschreibung unterzogen, die den Gender-Inhalt des Textes aufzeigen soll. In einem Gedicht werden Erfahrungs- und Handlungssituationen entworfen, in denen – wie in allen fiktionalen Texten – die Kategorien von Zeit und Raum, Figur und Geschehen sowie textspezifische Werte- und Normensysteme gelten. Diese Zusammenhänge werden von Vermittlungsinstanzen (reale AutorInnen; abstrakte AutorInnen; Rede führende SprecherInnen; Stimme der SprecherInnen) dargeboten, die die Rede wie in einer Erzählung mit einer SprecherIn-ErzählerIn-Instanz organisieren oder wie in einem Rollengedicht oder einem dramatischen Monolog präsentieren.354 Hierbei stehen dann Fragen nach dem Textsubjekt als dem ‚lyrischen Ich‘ (wer spricht?), nach den AdressatInnen der Rede (wer wird angesprochen?), nach den ‚handelnden‘ Personen (von wem oder was ist die Rede?)355, nach den genannten Eigenschaften von Mann und/ oder Frau, nach der Art des dargestellten Verhältnisses von Mann und Frau und nach den dem Handlungsgeschehen zugrundeliegenden Geschlechterkonzepten im Zentrum. In einem zweiten Schritt wird mit musikanalytischen Methoden untersucht, wie Brahms den Text vertont hat und welche Auffassung sich in der Art seiner Vertonung ausdrückt: Welchen musikalischen Charakter gibt er dem Werk, welche Stimme(n) setzt er ein, welcher Tonartenverlauf ist festzustellen, welche musikalischen Motive treten auf, welche Worte erfahren besondere musikalische Gestaltung (Dynamik, Rhythmik, Melodik, Harmonik, Klangfarbe), welche Instrumente werden zur Personencharakterisierung eingesetzt usw. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die bei der Analyse stattfindende Verbalisierung musikalischer Strukturen bereits als interpretatorische Deutung anzusehen ist, die von der zugrundeliegenden Fragestellung, dem eigenen Erkenntnisinteresse, den verwendeten Begriffen und Beschreibungen abhängt. Analyse und Verbalisierung der Analyseergebnisse sind stets prozesshaft, veränderlich und wesenhaft subjektiv, eine Bedin-
354 355
Vgl. Lyrikanalyse, Texttheoretische Aspekte. In: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online, http://www.li-go.de/definitionsansicht/lyrik/texttheoretischeaspekte.html [15.09.2009]. Vgl. Burdorf: Gedichtanalyse, S. 181–210.
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gung wissenschaftlichen Arbeitens, die sich – wie in jedem Verstehensvorgang – nicht vermeiden lässt und als hermeneutischer Zirkel nicht hintergehbar ist: Jedem Wissen geht ein Vorwissen und ein Erkenntnisinteresse voraus, welche als notwendige Erkenntnisbedingungen zu benennen und reflektieren sind. Die formal-strukturellen Analyseergebnisse und die Ergebnisse der GedichtTextanalyse werden zu einer genderorientierten Gesamt-Interpretation des Liedes oder des Chorsatzes zusammengeführt. Der in diesem Zusammenhang relevanten Frage nach dem Ich des Gedichts und dem vokalen bzw. musikalischen Ich sowie der Stimme der komponierenden Person gehe ich zu Beginn des Kapitels 4.1.1 (Wer spricht? Gedanken zu einer genderfokussierten Analyse von Liedern) nach, da für die Gattung Lied diese Diskussion aufgrund der speziellen, weil vermeintlich geschlechterindifferenten Aufführungspraxis (Lieder für hohe, mittlere und tiefe Lage) besonders komplex ist.
4.1
Sinnliche und treue Liebe in den Klavierliedern
Die Auswahl der analysierten Werke erfolgte nach dem Kriterium der GenderThematik, das heißt: An exemplarischen Werken, in denen ein Mann oder/und eine Frau als handelnde, sprechende Subjekte auftreten, agieren, reagieren, sich äußern oder in denen Gedanken und Ideen zu Geschlechterkonzepten enthalten sind, werden die vorgefundenen Konzepte zu Männlichkeit und Weiblichkeit dargestellt: Zunächst gilt es anhand der Klavierlieder die Facetten der Frauen- und Männerbilder von Brahms aufzuzeigen, die zwischen treuer und sinnlicher Liebe, zwischen energisch-tatkräftiger, emotional-weicher Männlichkeit sowie zwischen passivemotionaler‚ sinnlich-verführerischer Weiblichkeit oszillieren. Ergänzen möchte ich diese Facetten durch eine intensivere Betrachtung der Verknüpfung von Mütterlichkeit und Trost, ein Topos, der im zweiten Abschnitt des Kapitels anhand des 5. Satzes aus dem Deutschen Requiem op. 45 und anhand des wohl populärsten Liedes von Brahms, seinem Wiegenlied op. 49/4, dargestellt werden soll. Der dritte Abschnitt widmet sich dann ausführlich der Rinaldo-Kantate für Tenor-Solo und Männerchor op. 50, in der Brahms zeigt, wie männliche Identität durch eine verführerische Frau gefährdet und in einem resozialisierenden Akt wiederhergestellt wird.
84 4.1.1
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Wer spricht? Gedanken zu einer genderorientierten Liedanalyse
Einem Lied liegt ein lyrischer Text zugrunde, der als ein Mosaik generalisierter Bilder356 (Liebesszenen, Abschiedsszenen, Sterbeszenen, Naturerlebnisse, Konfliktund Entscheidungssituationen usw.) aufgefasst werden kann. Im Gedicht und damit auch im Lied wird eine poetische Wirklichkeit aufgebaut, in der Figuren auftreten oder in der Empfindungen und Wahrnehmungen ‚zur Sprache kommen‘. Dabei entwirft das (vertonte) Gedicht eine Szene ohne zeitlich und räumliche Fixierung, das heißt: Die Handlung setzt ein, eine bestimmte Situation oder ein bestimmter Gefühlszustand werden geschildert, deren Anfang und Ende offen sind.357 Für eine genderorientierte Interpretation von Liedern ist die Frage nach dem Subjekt des Liedes, nach dem „Wer spricht?“ auszuweiten, erhält doch in der Vertonung die sprechende Person des Gedichts weitere subjektive Schichten oder ‚Stimmen‘, nämlich die des komponierenden und die des interpretierenden Subjekts. An dieser Stelle eröffnen sich eine Vielzahl an Fragen: Bedeutet die übliche Praxis, ein Lied sowohl für hohe (Sopran/Tenor), mittlere (Mezzosopran/Bariton) als auch für tiefe Lage (Alt/Bass) herauszugeben, eine Neutralisierung des Geschlechts, wie Roland Barthes dies angenommen hat? Er schreibt: Das romantische Lied „berücksichtigt die geschlechtlichen Merkmale der Stimme nicht, da ein und dasselbe Lied gleichermaßen von einem Mann oder einer Frau gesungen werden kann [...].“358 Wie ist der Umstand zu bewerten, dass Sängerinnen häufig Männerlieder singen, dass aber ein Sänger, der dem lyrischen Ich einer weiblichen Person seine Stimme leiht, seltener anzutreffen ist und eher als grotesk oder buffonesk aufgefasst wird?359 Was passiert bezüglich der Gender-Konnotationen, konkret: Ändert sich der Bedeutungsgehalt, wenn ein Frauenlied von einem Sänger oder ein Männerlied von einer Sängerin vorgetragen wird? Ändert sich überhaupt etwas oder ist es für den Inhalt des Liedes und speziell für die Gender-Inhalte unerheblich, wer singt? Ist es ein Zeichen von Emanzipation oder Geschlechterparität, wenn – wie im 19. Jahrhundert vielfach zu beobachten – Frauen Männerlieder 356 357 358 359
Vgl. Kramer: The Lied as cultural practice. In: Ders.: Classical music, S. 143–173. Vgl. Barthes: Der romantische Gesang, in: Kritische Essays III, S. 286–292. Barthes: Kritische Essays III, S. 287. Vgl. Cone: Composer’s voice, S. 23 und den Artikel von Matthew Gurewitsch in der New York Times (06.11.2005): „Why shouldn’t men sing romantic drivel, too?“ Bereits 1990 hat Gurewitsch gefragt: „Can a woman do a man’s job in Schubert’s ‚Winterreise‘?“ (The New York Times, 28.10.1990). Siehe auch die ausführliche Diskussion im österreichischen Online-Forum Tamino Klassikforum zu dem Thema „Männerlieder – Frauenlieder“ unter http://www.tamino-klassikforum.at/thread.php?threadid=1206&threadview=0&hili ght=&hilightuser=0&page=1 [15.09.2009].
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singen oder Männer Frauenlieder? Die Auffassung einer Geschlechter-Indifferenz für den Liedvortrag vertritt Beatrix Borchard in ihrer Habilitationsschrift über Amalie und Joseph Joachim: Das ‚Ich‘ konnte männlich und weiblich zugleich sein und der Konzertsaal galt als ‚geschlechtsfreier‘ Raum. [...] Die Geschlechtsidentität zwischen ästhetischem Ich und interpretierendem Menschen mußte also weder aus der Perspektive der Komponisten noch aus derjenigen ihrer Interpreten noch des Publikums gegeben sein. Entscheidend war vielmehr die individuelle Überzeugungskraft einzelner Sänger und Sängerinnen. Besonders im Liedbereich bedeutet ein rein geschlechtsspezifisches Denken eine Einengung der menschlichen Ausdrucksskala auf Eigenschaften und Themen, die kulturell Männern oder Frauen zugeschrieben werden. Sängerinnen und Sänger wären dazu verurteilt, die alten Bilder und Zuschreibungen unendlich zu repetieren.360
Dass der Konzertsaal im 19. Jahrhundert kein geschlechtsfreier Raum war, sondern dass er – auch in Bezug auf weibliches Instrumentalspiel – der Präsentation ‚schöner‘ Frauenkörper diente und damit zur Konstruktion von Geschlecht beitrug, hat die Studie von Freia Hoffmann über die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur gezeigt: „Eine Sängerin und eine Instrumentalistin sind als Menschen und mit ihrem Körper anwesend. Ihr ‚Produkt‘ wird [...] mit ihrem Geschlecht verbunden.“361 Einige Interpretations- und Rezeptionsbeispiele der Brahms-Zeit sollen die Komplexität des Themas Männer- und Frauenlieder aufzeigen, um die Frage „Wer spricht?“ bzw. „Wer singt?“ differenzierter beantworten zu können. Philipp Spitta meinte in seiner Brahms-Studie, dass von Op. 32 an alle Brahms’schen Lieder bis auf einen geringen Bruchteil Männerlieder sind. Sie sollten auch immer nur von Männern gesungen werden. [...] Eine Frauenstimme bleibt uns mit dem Liede ‚O Nachtigall, dein süßer Schall‘ [op. 97/1] die Hälfte des Gehaltes schuldig. Die Leidenschaft gräbt sich tiefer ein und rüttelt an den Grundfesten des Wesens. [...] An diesen Liedern hängen nicht Thränen, sondern Blutstropfen.362
In eine vergleichbare Richtung – wenn auch in Hinsicht auf Mädchenlieder – zielte Theodor Billroth in einem Brief an Johannes Brahms: Die Lieder op. 69 „wollen
360 361 362
Borchard: Stimme und Geige, S. 441f, Hervorhebung im Original. Hoffmann: Instrument und Körper, S. 21. Spitta: Brahms, S. 405. Diese Auffassung teilt auch Christian Martin Schmidt: „Die meisten Lieder von Brahms sind als Männerlieder gedacht, zumal die aus den sechziger und siegziger Jahren, als Brahms sich an der Stimme von Julius Stockhausen orientierte. Die Vernachlässigung der geschlechtsspezifischen Ausrichtung bringt – zumal im Hinblick auf die Texte – eine Einbuße an ästhetischer Authentizität mit sich, was freilich von der musikalischen Praxis – ähnlich wie bei den Liedern eines fahrenden Gesellen und den Kindertotenliedern von Gustav Mahler – nur allzu gern außer acht gelassen wird.“ (Schmidt: Brahms Musikführer, S. 242f; Ders.: Brahms und seine Zeit, S. 144).
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‚natürlich gesungen‘, nicht ‚vorgetragen‘, sein; es sind Mädchenlieder, beim Spinnen zu singen, abends bei der Heimkehr, in der Dämmerung im Garten.“363 Gegenüber Eduard Hanslick wurde Billroth dann konkreter: Es „sind Mädchenlieder, blond und brünett von sechzehn bis sechsundzwanzig Jahren“364. Und er entwarf zu den seiner Auffassung nach schönsten Liedern ein Mädchenbild, das seine Imagination der idealen Sängerin darstellt: das Gedicht Nr. 2 [Klage II]: Das Mädchen wohl sechsundzwanzig alt. Strophenlied im Volkston. [...] Es ist das Lieblingslied meiner Frau und Kinder. Meine beiden Mädels singen es prächtig, wenn wir abends beim Spaziergang vom Königssee nach Hause kommen. [...] Das Lied muß ganz durch sich selbst, nicht durch die Sängerin wirken; es gehört volle Naivität dazu, ich möchte es nicht im Konzertsaal hören. – Nr. 4 [Des Liebsten Schwur]: Achtzehnjährig, blond, üppig, die Sinnlichkeit nur als Naturnotwendigkeit, nur halb bewußt empfindend. [...] dies Lied [...] singt meine Else in vollster kindlicher Naivität sehr nett, in den Bergen bei hellem Sonnenschein. [...] – Nr. 8 [Salome]: Ein originelles sechzehnjähriges schwarzäugiges Mädchen, toll, übermütig, sehr rasch, sehr leicht, mit natürlicher Grazie und sprudelndem Übermut herauszujubeln! [...] Nr. 9 [Mädchenfluch]: Habe ich meiner Else vorenthalten; es ist ein furchtbar sinnlich leidenschaftliches Lied; es muß mit Wollust gesungen werden; der Czardas immer toller und toller. Wenn das Mädchen nach diesem Lied ihren Jawo trifft, umarmt sie ihn, daß ihm alle Rippen krachen! [...] der Ausdruck glühendster Sinnlichkeit, die nach ‚Genüge‘ (wie es in einem anderen Lied von Brahms heißt) ringt.365
Dem gegenüber erwähnte Max Kalbeck in seiner Brahms-Biographie, dass „damals [1877, Entstehungszeit der Lieder op. 69–72] in der Praxis noch weniger zwischen Männer- und Frauenliedern unterschieden wurde als heute [1912]“ und er berichtete „von einem starkbärtigen, renommierten Künstler“, der Schumanns Frauenliebe und -leben im Konzertsaal vorgetragen habe.366 Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass das von Spitta und Billroth entworfene Vortragsideal in der Praxis nicht umgesetzt wurde, dass es also neben der idealen Imagination der Ausführenden (Männer, Mädchen, Frauen) eine reale Aufführungspraxis gegeben hat, die das sprechende Subjekt des Liedes unberücksichtigt ließ? Betrachtet man die Besetzungspraxis bei der Erstaufführung der Klavierlieder von Brahms, so zeichnet sich folgendes Bild ab: Für die Mehrzahl der 195 Klavierlieder (op. 3 bis op. 121) kann zwar keine eindeutige Zuordnung erfolgen, weil
363 364 365 366
Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 236, Brief vom 10.4.1877. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, Fußnote 26, S. 240. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, Fußnote 26, S. 240, Brief vom 25.10.1877. Kalbeck: Brahms III, S. 136.
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entweder das Subjekt des Liedes nicht geschlechtlich festzulegen oder weil die Besetzung der Erstaufführung367 nicht ermittelt ist: Dies gilt für 81 der 195 Lieder. Bei den Liedern mit einem eindeutigen Subjekt zeigt ein Vergleich des sprechenden Ichs eines Liedes mit der Besetzung der Erstaufführung, dass zwar Sänger Männerlieder (35) in etwa gleich häufig aufführen, wie Sängerinnen Frauenlieder (33), dass aber Sängerinnen viermal häufiger Männerlieder (37) erstaufgeführt haben, als Sänger Frauen- oder Mädchenlieder (9). Sicherlich sind diese Zahlen für die Praxis des Liedgesangs im 19. Jahrhundert nicht repräsentativ, aber sie zeigen eine gewisse Tendenz zu einer unterschiedlichen Aufführungspraxis von Sängerinnen und Sängern im 19. Jahrhundert. Die von Beatrix Borchard aufgestellte These einer Geschlechter-Indifferenz für den Liedvortrag im 19. Jahrhundert beruht auf Beobachtungen zum Liedrepertoire einer Sängerin (Amalie Joachim), für die die Praxis des Singens von Männerliedern anscheinend üblicher war als das Singen von Frauenliedern für Sänger. Zurück in den ‚Dschungel‘ der Lied-Subjekte und zur Frage nach den Gründen für die unterschiedliche Aufführungspraxis von Sängerinnen und Sängern und den Konsequenzen für eine genderorientierte Interpretation der Lieder. Wer spricht bzw. wer singt in einem romantischen Kunstlied? Edward T. Cone hat in seinen Ausführungen über The composer’s voice die verschiedenen „Personae“ in einem Lied wie folgt beschrieben: Die Charaktere der Personen im Gedicht nennt er „poetic personae“, die im Lied in die „vocal persona/protagonist“ übergehen. Gemeinsam mit der „instrumental persona“ macht die „vocal persona“ die „musical persona“ aus, die als Äußerung der „composer’s persona“ die Stimme des Komponisten ergeben.368 In einem Lied hören wir die Stimme des Komponisten bzw. der Komponistin, da die Worte des Gedichts durch Vertonung der Singstimme und durch die Komposition der instrumentalen Begleitung zu einem Teil der eigenen musikalischen Äußerung gemacht werden. Dabei handelt es sich um eine Lesart des Textes, nämlich die der komponierenden Person, die den Text im Kompositionsprozess des Liedes in Musik setzt und ihn so zu ihrem eigenen macht. In Anknüpfung an die Terminologie von Cone führt die niederländische Musikwissenschaftlerin Joke Dame anhand der Schubert-Vertonung Gretchen am Spinnrad in ihrer grundlegenden Arbeit über Het zingend lichaam. Betekenissen van de stem in westerse vocale muziek369 aus, dass die vokale Protagonistin (Gretchen) in ihrer Verkörperung (Sängerin) zu einem Objekt fusioniere, das als Vermittler zwischen dem Komponisten (Schubert) und dem männlichen bzw. dem an männ367 368 369
Die Angaben zur Erstaufführung sind entnommen aus McCorkle: Brahms-Werkzeichnis. Cone: Composer’s voice, S. 17–19, v.a. Kapitel 2: Persona, protagonist, and charakters, S. 20–40. Kampen 1994.
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lichen Werten orientierten Publikum fungiere.370 Dem gegenüber spreche der Sänger durch die Persona und ändere die Stimme des Komponisten in ein Medium für seinen eigenen Selbst-Ausdruck. Den Grund für diesen anderen Umgang mit der eigenen und der im Lied fusionierenden Subjektposition sieht Dame in Anlehnung an die von Kaja Silvermann entwickelten Subjektpositionen der Stimme im Film371 darin, dass die männliche Identität mit dem Besitz eines positiven Emblems (Phallus) verbunden sei, während sich die weibliche Position bereits mit der Identifikation des ‚Nicht-Habens‘ entwickele. Während die Sängerin also ohne Gefährdung ihre ohnehin schwache, weil negativ besetzte Subjektposition aufgeben könne, um dem Subjekt im Lied und der Stimme des Komponisten Ausdruck zu verleihen, und ohne Statusverlust als mediales Objekt wahrgenommen werde, ist die Position des Sängers als einem männlichen Subjekt immer eine gefährdete, die einen Wechsel der Geschlechtsrolle und ein Verlassen der eigenen Subjektposition nicht zulasse. Daher stehe weder die Interpretation des Dichters, noch die des Komponisten, sondern die Subjekt- und Geschlechtsidentität herstellende, also produktive Interpretation durch den männlichen Sänger im Zentrum seines Liedvortrags: Der Sänger sei, was er singe, er stehe hinter dem gesungenen Subjekt, wohingegen die Sängerin sei, was die vokale Persona bzw. was der Komponist ausdrücke: Sie verkörpere die Sicht des Komponisten auf die Person und werde zum Sprachrohr des Komponisten, auch wenn sie ‚als Frau singe‘.372 Folgt man dieser Argumentation, die auch ohne psychoanalytische Anleihen Sinn macht, da im 19. Jahrhundert das Subjekt immer männlich gedacht und der Frau eine eigene Subjektposition abgesprochen wurde373, dann ist die vermeintlich geschlechterindifferente Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert nicht als Ausdruck einer Emanzipation oder Geschlechterparität aufzufassen, sondern als Ausdruck einer geschlechterdifferenten Interpretations- und Rezeptionshaltung. Neben diesem psychoanalytischen Ansatz bietet sich eine sozialanthropologisch orientierte Interpretation des lyrischen Ichs in Gedichten an, die vom Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer entworfen wurde und die auf das Singen von Liedern übertragbar ist. Schlaffer vergleicht das Sprechen eines lyrischen Ichs in einem
370 371 372 373
Vgl. Dame: Zingend lichaam, S. 148. Silvermann: Acoustic mirrow. Vgl. Dame: Zingend lichaam, S. 148–151. Vgl. auch die Ausführungen von Ruth A. Solie über das „gendered self“ in Schumanns Frauenliebe (Solie: Whose life?). Frevert: Mann und Weib, besonders S. 50–60, 133–165. Simone de Beauvoir formulierte dies grundlegend: Die Frau „ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er [der Mann] ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.“ (Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 11). Damit hängt die Auffassung zusammen, dass Männer kreativ-produzierende Schaffenskraft und Frauen nur reproduzierende Fähigkeiten besitzen (für die Musik vgl. Gumprecht: Frauen in der Musik, S. 6).
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Gedicht mit dem in Zaubersprüchen, Gebeten, Eidesformeln und Sprichwörtern und kommt zu dem Schluss, dass das empirische Ich sich hier für den Moment der Rezitation aus der alltäglichen Empirie herausnehme und „im Moment des Gedichts das außerordentliche Glück [erfahre], sich selbst zu erschaffen“ und „zu fühlen, was ein Ich überhaupt sein könnte.“374 Unter Bezugnahme auf die Theorien von George M. Mead375, nach denen der in Sozialverbänden lebende Mensch auch die abweichenden Interessen und Haltungen der Gesellschaftsmitglieder in ihrer Andersartigkeit verstehen müsse, folgert Schlaffer: Indem das Ich die eigenen Erfahrungen temporär suspendiert, an ihrer statt die verschiedenen Rollen anderer Personen probeweise übernimmt und sie so von innen zu verstehen lernt, wird es selbst zu einem ‚organized self‘, das in sich das ‚generalized other‘ repräsentiert. Das Leben in der menschlichen Gesellschaft erfordert vom einzelnen, daß er mehr versteht, als er ist: Die Differenz zwischen dem Vielen, das es zu verstehen gibt, und dem Einen, der man ist, wird durch Rollenspiele überbrückt.376
Das Rezitieren eines Gedichtes oder das Singen eines Liedes vermittelt dann eine Vielzahl unterschiedlicher Einsichten „nichtgelebter, aber dennoch bewußter Existenzweisen [...].“377 Ein Dichter würde demnach in einem Gedicht mit einem lyrischen Ich, das über den Verlust einer geliebten Person klagt, diese emotionale Situation vermittelt über seine emphatische Einfühlung für die LeserInnen und potentiellen RezitatorInnen seines Gedichts spürbar, mit-erlebbar machen. Ein Komponist führt dann als Leser zunächst in der eigenen Aneignung des Gedichts den Sprechakt des lyrischen Ichs wiederum aus und verleiht ihm eine, konkret seine Stimme, die dann während des Liedvortrages vom Sänger oder von der Sängerin erneut angeeignet und präsentiert wird. Jedes dieser empirischen Ichs fühlt sich, sei es während des Dichtens, des Gedichtvortrags, der Vertonung eines Gedichts oder des Liedvortrags in die verschiedenen Ich- oder Subjektpositionen ein, die in vielen Fällen geschlechtlich konnotiert sind: Ein Mädchen weint über die Untreue des Liebsten, eine Mutter gibt der Tochter Ratschläge, ein Mann beschreibt die körperlichen Vorzüge seiner Angebeteten. Wie das Ich sich präsentiert, handelt oder über die geliebte Person spricht, vermittelt dabei Einsichten in das zugrundeliegende Geschlechterkonzept. Die Übernahme und das Einfühlen in männliche Subjektpositionen oder Themenbereiche scheint im 19. Jahrhundert für Sängerinnen eher möglich oder attraktiver zu sein, als für Sänger die nacherlebende Präsentation
374 375 376 377
Schlaffer: Aneignung von Gedichten, S. 51. Mead: Geist, Identität, Gesellschaft. Schlaffer: Aneignung von Gedichten, S. 51. Schlaffer: Aneignung von Gedichten, S. 51.
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weiblicher Ich-Positionen.378 Das liegt möglicherweise auch an der größeren thematischen Breite von Männerliedern, die – wie im Liedschaffen von Brahms festzustellen – nicht überwiegend dem Themenkreis Liebe zuzuordnen sind, sondern die Themen wie Tod und Vergänglichkeit, existentielle Sinnfragen, Todessehnsucht, Lebensgestaltung, Heimweh und Heimatlosigkeit behandeln. Für Sängerinnen bedeutet demnach das Singen von Männerliedern eine thematische Erweiterung, die ihrem Repertoire eine größere Vielfalt bietet und damit eine größere sängerische Ausdruckspalette einfordert, die wiederum zur Entwicklung eines individuellen sängerischen Profils beiträgt. Wenn Sänger über Liebe singen wollen, sind sie nicht auf Frauenlieder angewiesen, da ihnen das Liedrepertoire ausreichendes und facettenreiches Material zur Verfügung stellt. Ein Sänger muss nicht unbedingt weibliche Subjektpositionen übernehmen, um ein differenziertes Liedrepertoire zu entwickeln, und ebenso wenig muss er sich der damit verbundenen Gefahr aussetzen, beim Vortrag eines Frauenliedes seine männliche Subjektposition zu verlieren und als ‚unmännlich‘ betrachtet zu werden. Die Frage nach dem „wer singt“ kompliziert sich, wenn man Liedkompositionen von Komponistinnen auf Gedichten (eines Dichters oder einer Dichterin) mit einem männlichen oder weiblichen Sprecher-Ich und ihre Aufführung durch Sänger oder Sängerinnen betrachtet. Da es jedoch um die Lieder von Johannes Brahms geht, wird dieser Problemkreis hier nicht weiter verfolgt. Vielmehr richtet sich der Fokus der Analysen auf die ideal gedachte Stimme des jeweiligen Liedes, so wie die Beispiele von Spitta und Billroth dies auch für die Rezeption und Interpretation der Lieder in ihrer Zeit formuliert haben. Dabei gilt grundsätzlich, dass die Lieder immer Ausdruck des Verständnisses von Brahms sind, man folglich in allen Liedern ‚seine Stimme‘ hört, auch wenn es sich um Mädchen- oder Frauenlieder handelt. Die darin implizierten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit drücken seine Sicht auf das Verhältnis der Geschlechter aus; Brahms – in Assimilation mit dem Dichter – kreiert die verschiedenen Ichs, er verleiht den männlichen und weiblichen Personen im Gedicht bzw. im Lied eine ‚Stimme‘, die immer ‚seine Stimme‘ ist. Ein zentraler Aspekt zur Auf- und Ausführung der Lieder kommt im obigen Brief von Theodor Billroth über das Lied Nr. 9 aus op. 69 ebenfalls zur Sprache. Billroth hielt das Lied Mädchenfluch vor seiner eigenen Tochter zurück, weil es seiner Auffassung nach zu sinnlich, leidenschaftlich und wollüstig sei. Eine vergleichbare Entscheidung traf auch der Vorstand eines Hamburger Vereins, der den
378
Die Übernahme von männlichen Rollen durch Frauen ist auch in der Oper etablierter: Man vergleiche hierzu die Tradition der Hosenrolle mit der meist heiter-skurril angelegten Rockrolle für Sänger (vgl. Uecker: Hosenrollen auf der Opernbühne; Essinger: Hosenrolle in der Oper).
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Vortrag der Sapphischen Ode op. 94/4 absetzte, weil das Lied Unsittlichkeiten enthalte, vor denen die „Vereinsschätzlein“ zu bewahren seien.379 Lieder mit anrüchigem Inhalt wurden also von ‚verantwortungsbewussten‘ Vätern oder Chorleitern aus dem Programm genommen, da man glaubte, anständige junge Mädchen und Chormitglieder nicht diesem verderblichen Einfluss aussetzen zu dürfen. Daraus ist zu schließen, dass die tatsächlich vorgetragenen Lieder als zumutbar galten, weil sie den eigenen Normen und Werten entsprachen und mit den eigenen Geschlechterkonzepten konform waren. Liedern wurde also sowohl eine positive als auch eine negative sozialisierende Wirkung beigemessen. Ihr Inhalt wurde nicht nur bewusst wahrgenommen, sondern ihm wurde auch ein prägender Einfluss auf die ZuhörerInnen beigemessen. In die gleiche Richtung weist Elisabeth von Herzogenbergs Auskunft, dass sie „viele Lanzen [...] für ihre [sic; Brahms’] Daumerschen Lieder gebrochen habe, selbst für das vielverketzerte: ‚Unbewegte laue Luft!‘“380 Lied-Inhalte, die den eigenen sittlich-moralischen Ansprüchen widersprachen, wurden demnach kritisiert und sogar zensiert. Im Umkehrschluss ist anzunehmen, dass die die eigenen Werte repräsentierenden Lieder ebenso bewusst wahrgenommen, ausgewählt und aufgeführt wurden. Darin zeigt sich anhand der Gattung Klavierlied, dass Musik im 19. Jahrhundert im Sinne einer kulturellen Praxis und eines Gender-Diskurses wahrgenommen, verstanden, ausgewählt und ausgeübt wurde: “the songs would have been understood in their own time to be doing ‚cultural work,‘ and indeed would have been used by their culture in ways that made that work explicit and gave social sanction to their message.”381 4.1.2
Zum Liedschaffen von Johannes Brahms
Das Lied in seiner Form als klavierbegleiteter Sologesang fand im aufstrebenden Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts begeisterte Aufnahme. „Im Klavierlied, das den Aufstieg der bürgerlichen Hausmusik im 18. Jahrhundert begleitet, ja eingeleitet hatte, kamen lyrische und musikalische Innerlichkeit zusammen, und im Klavierlied hatte diese Hausmusik ihre Mitte.“382 Ausgehend vom Liedideal der Zweiten Berliner Liederschule um Carl Friedrich Zelter, Johann Abraham Peter Schultz und Johann Friedrich Reichardt, die die Funktion der Musik im Sinne
379 380
381 382
Vgl. Anonym: Unsittliche Brahms, S. 269, der Bericht erfolgt in Berufung auf die Hamburger Theater- und Konzertzeitung. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 39. Die Gedichte von Georg Friedrich Daumer waren aufgrund ihrer sinnlichen Direktheit verschrieen. So spricht das Brahms-Lied op. 57/8 Unbewegte laue Luft von „himmlischem Genüge“, das sich die Liebenden zu geben wünschen (vgl. 4.1.3.3). Solie: Whose life?, S. 219. Finscher: Lieder, S. 139.
92
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Goethes als Textrepräsentation verstanden, erlangte das Grundmodell des Strophenliedes fundamentale Bedeutung: „Es ist als Bezugszentrum für die Einheit der Gattung Lied konstitutiv.“383 Als Urtyp des romantischen Klavierliedes gilt Franz Schuberts Gretchen am Spinnrade (D 118; nach Goethes Faust), entstanden 1814. „Wesentliche Merkmale dieses ‚Typus‘ sind die geschlossene, gegebenenfalls variierte Melodielinie, ein rhythmisch und im Bewegungsablauf festgefügtes Begleitmodell und eine stark modulierende Harmonik.“384 In ihrer Aufgabe, den zugrundeliegenden Text in seinem Aussagegehalt zu interpretieren, folgt die Musik nicht mehr einem vorgegebenen Formmodell, sondern leitet sich in ihrer Anlage aus dem Text ab. Brahms steht mit seinem Liedschaffen in diesen Traditionen. Seine bevorzugte Verwendung des (variierten) Strophenliedes lässt ihn an die Berliner Schule anknüpfen und seine Bewunderung der Schubert-Lieder385 zeigt seine Nähe zu dessen Liedästhetik. Das Lied ist die Gattung, die Brahms am kontinuierlichsten pflegte und die mit 195 Sololiedern in 32 Liedsammlungen, 20 Duetten und 60 Quartetten den größten Werkbestand aufweist. Sein Liedideal orientierte sich am Volkslied, wie er in einem Brief an Clara Schumann formulierte: „Das Lied segelt jetzt so falschen Kurs, daß man sich ein Ideal nicht fest genug einprägen kann. Und das ist mir das Volkslied.“386 Diesem Ideal folgte er in seinen Volkslied-Bearbeitungen387, aber auch in der Vertonung von Volksliedtexten, die Brahms in 35 Kunstliedern verwendete und in ihnen das romantische Kunstlied auf den Urtypus des Volksliedes zurückführte. Morik388 weist in seiner Untersuchung des brahmsschen Verhältnisses zum deutschen Volkslied nach, dass Brahms in seinen Volkslied-Bearbeitungen inhaltlich drei Stoffkreise bearbeitet: die Partnerwahl, die Liebe zum Kind in Kinder- und Wiegenliedern sowie geistliche Volkslieder, die im Rahmen der häuslichen Andacht ihren Platz einnehmen. Das Fehlen von Studenten-, Soldaten-, Wander- oder Handwerksliedern sowie von Scherzliedern, Hirten- und Alpenliedern weist darauf hin, dass Brahms das Volkslied bzw. die Volksliedbearbeitungen und auch die Kunstlieder mit Volksliedeinfluss in den bürgerlichen Lebensbereich, in die häusliche Musizierpraxis integrieren wollte.389
383 384 385 386 387 388 389
Wiora: Deutsche Lied, S. 18. Jost: Lied, Sp. 1293. „Es gibt kein Lied von Schubert, aus dem man nicht etwas lernen kann.“ (Jenner: Brahms, S. 31). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 294. 15 Volks-Kinderlieder WoO 31 (1857); 28 deutsche Volkslieder, WoO 32 (1858) und 49 deutsche Volkslieder WoO 33 (1893–94); hinzu kommen Volksliedbearbeitungen für 3-4stimmigen Frauenchor WoO 36, 37 und 38. Morik: Brahms und das Volkslied. Morik: Brahms und das Volkslied, S. 47.
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Nur wenige Brahms-Lieder beruhen auf Lyrik ‚großer Dichter‘ wie Johann Wolfgang von Goethe, Gottfried Keller, Joseph von Eichendorff oder Heinrich Heine, die Mehrzahl stammt von Dichtern, die nicht zum engeren Literatur-Kanon gezählt werden wie August von Platen, Georg Friedrich Daumer, Adolf Friedrich von Schack, Hans Schmidt390 oder Max von Schenkendorf. Auffallend ist ebenfalls Brahms’ Vorliebe für volkstümliche Dichtungen aus Osteuropa und dem Orient, die ihm zum Beispiel in den Übersetzungen von Georg Friedrich Daumer, Josef Wenzig und Siegfried Kapper vorgelegen haben. Der Dichter, von dem Brahms die meisten Gedichte vertont hat – insgesamt 19 Klavierlieder und 34 Quartette, darunter die Liebeslieder-Walzer op. 52 und 65 –, ist Georg Friedrich Daumer (1800–1875), Religionsphilosoph, Lehrer, Homöopath und erster Erzieher Kaspar Hausers. In seiner zweibändigen Lyrikveröffentlichung Polydora391 verfolgte Daumer das „Ziel, die lyrische Dichtkunst aller Völker von den Griechen bis zur Gegenwart in einer auf den modernen Geschmack abgestimmten Sammlung zu vereinigen.“392 Daumer wurde zu Lebzeiten in seinen Intentionen missverstanden und scharf angegriffen; ihm wurde schamlose Lüsternheit und schnöde Sinnenlust393 vorgeworfen, und dieser Ruf übertrug sich zum Teil auf die brahmsschen Lieder.394 Brahms jedoch, der Gedichte bzw. Übersetzungen von Daumer erstmals in seinem op. 32 aufgriff, stand den moralischen Bedenken anscheinend gelassen gegenüber. Sowohl die Vertonung von zweitrangiger Lyrik als auch von volkstümlicher Dichtung bzw. Übersetzungen fremdsprachiger volkstümlicher Dichtung kann mit Brahms’ Ansicht erklärt werden, dass ein Gedicht durch die Musik gehoben werden müsse. ‚Große Lyrik‘ sei demnach „so fertig, da kann man mit Musik nicht an.“395 „Ausschlaggebend für die Wahl der Liedvorlage war vor allem der Stimmungsausdruck, nicht die literarische Qualität oder Originalität.“396 Die Zusammenstellung der einzelnen Lieder zu Liederheften gestaltete Brahms sehr bewusst, auch wenn – auf den ersten Blick – nicht immer ein übergreifender Zusammenhang erkennbar ist. Wie bedeutsam ihm die Zusammenstellung in seinen Liederheften
390 391 392 393 394 395 396
Hans Schmidt war zeitweise angestellter Privatlehrer im Hause Joseph Joachims (vgl. Borchard: Stimme und Geige, Fußnote 49, S. 417). Daumer: Polydora. Otto: Daumer, S. 14. Otto spricht davon, dass er im heutigen Sprachjargon wohl als „Porno-Literat übelster Gattung“ bezeichnet worden wäre (Otto: Daumer, S. 13). Vgl. die oben angeführte Bezeichnung „vielverketzert“ von Elisabeth von Herzogenberg für Brahms’ op. 57/8. Kalbeck: Brahms III, S.87. Jost: Lied, Sp.1296.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
war, machte seine Enttäuschung darüber deutlich, dass Gustav Ophüls397 in seiner Anthologie brahmsscher Texte die einzelnen Gedichte nach Dichtern ordnete und nicht, wie von Brahms erwartet, in der von ihm vorgenommenen Anordnung in seinen Liedersammlungen. Die unter einer Opuszahl zusammengefassten Lieder können demnach als literarische Textfolge angesehen werden. „Nicht nur die Textwahl, sondern auch Art und Weise ihrer Zusammenstellung sagen also etwas aus über den Menschen Brahms und seine höchst subjektive und persönliche Aneignung von Lyrik, [...].“398 In einer Erinnerung Heinz von Beckeraths, Sohn des Brahms-Freundes Alwin von Beckerath, verwendete Brahms den Begriff des „Boukets“: Brahms beklagte mir gegenüber, daß die meisten Sänger und Sängerinnen sich die Lieder willkürlich zusammenstellten, wie sie gerade ihrer Stimme lägen, und garnicht beachten, wie er sich stets große Mühe gegeben hätte, seine Liederkompositionen wie zu einem Bouket zusammenzustellen.399
Der Bouket-Begriff macht deutlich, dass Brahms seine Liederhefte als eine bewusste Anordnung unterschiedlicher Einzelstücke verstanden wissen wollte, deren Gesamteindruck der Schönheit und Einheit eines Blumenstraußes zu vergleichen wäre. Die vertonten Lieder vermitteln einen Einblick in seine Ideenkreise, weil sie die Themen (Handlungsgeschehen, Personencharaktere) und poetischen Stimmungen widerspiegeln, von denen Brahms zur Komposition angeregt wurde. 4.1.3
Magelonen-Romanzen op. 33 und ausgewählte Klavierlieder
Anhand ausgewählter Lieder wird im folgenden die Gender-Thematik im Liedschaffen von Johannes Brahms untersucht. Welche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zeigen sich in den vertonten Gedichten und mit welchen musikalischen Mitteln werden sie von Brahms vertont? Die exemplarisch vorgestellten Lieder wurden aufgrund ihrer Aussagekraft zu einem zentralen Aspekt der Geschlechterthematik und aufgrund ihrer Repräsentativität in Bezug auf ihre Entstehungszeit (Datum der Veröffentlichung) ausgewählt: • •
397 398 399
1850er Jahre: 1860er Jahre:
op. 3/1; op. 33/1–15, op. 46/1;
Ophüls: Brahms-Texte. Erst 1983 wurde Brahms’ Wunsch erfüllt (Wachinger: Brahms-Texte II). Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 112f. Heinz von Beckerath: Erinnerungen an Johannes Brahms: Brahms und seine Krefelder Freunde. In: Die Heimat, Bd. 29/1958, S. 4 (zit. nach: Fellinger: Cyclic tendencies, Anm. 6, S. 380).
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik • •
1870er Jahre: 1880er Jahre:
95
op. 57/8, op. 71/4; op. 94/5.
In den 1890er Jahren veröffentliche Brahms seine Vier ernsten Gesänge op. 121 (1896) auf Texte aus der Bibel. Sie gelten als der Höhepunkt seines Liedschaffens, nehmen aber als geistliches Klavierlied eine Sonderstellung ein. Die Bedeutung Georg Friedrich Daumers für die Liedthematik von Brahms wird insofern berücksichtigt, als dass zwei der hier näher betrachteten Lieder (op. 46/1 und op. 57/8) auf Daumer-Gedichten beruhen. Nicht in die Betrachtung einbezogen wurden die Zigeunerlieder op. 103, da sie eine Bearbeitung von vierstimmigen Chorliedern darstellen, also nicht primär als Lied für eine Singstimme konzipiert waren, daneben die Ophelialieder WoO 22 posth., die von Brahms für eine Aufführung des Hamlet in Prag als Bühnenmusik komponiert wurden.400 Im Gegensatz zu Robert Schumann oder Franz Schubert hat Brahms bis auf die Magelonen-Romanzen op. 33 und die Vier ernsten Gesänge op. 121 keinen Liederzyklus komponiert. Und es ist durchaus kritisch zu fragen, ob es sich bei den Magelonen-Romanzen überhaupt um einen Liederzyklus im eigentlichen Sinne – eine vom Komponisten zusammengestellte Folge von Liedern, die in einem inhaltlichen (textlichen) und musikalischen Zusammenhang stehen – handelt. Ihre Veröffentlichung in fünf Liederheften spräche gegen eine zusammenhängende Konzeption. Da jedoch einzelne Lieder auf dem Titelblatt beispielsweise den Vermerk „Nr. 5 aus Magelone“ tragen und die Lieder unter einer Opuszahl und mit dem Titel Romanzen aus L. Tieck’s Magelone erschienen sind, ist dennoch von einem inhaltlichen Zusammenhang auszugehen. Ein weiterer Aspekt, der für eine Auswahl der Romanzen spricht, ist die Rahmenhandlung der tieckschen Erzählung, die in der mittelalterlichen und orientalischen Welt spielt. Gedichte mit orientalisch-fremdländischem Sujet oder Quellen sind bei Brahms häufiger anzutreffen, vornehmlich in den Liedern auf Gedichte von Georg Friedrich Daumer (op. 32/7–9 nach Hafis; op. 47/1–2 nach Hafis; op. 57/2 nach Hafis, 3 und 7 aus Polydora; op. 65/1 türkisch, 2 nach Hafis, 10 malayisch; op. 95/7 türkisch; op. 96/2 türkisch). Hierzu zählen ebenfalls die Zigeunerlieder op. 103 (ungarisch), die Nummern 9 und 12 aus den 13 Kanons für Frauenstimmen op. 113 und die vierstimmigen Kanons WoO 30 auf Gedichte bzw. Übersetzungen von Friedrich Rückert nach arabischen Quellen (Hariri). Außerdem muss in diesem Zusammenhang bereits auf die Rinaldo-Kantate op. 50 hingewiesen werden, die zur Zeit des ersten Kreuzzugs spielt und in die orientalische Welt der Zauberin Armida entführt.401 Auch insofern repräsentieren die MagelonenRomanzen einen wichtigen Aspekt im Liedschaffen von Brahms. Dies und ihre
400 401
Vgl. McCorkle: Brahms-Werkverzeichnis, S. 538f. Vgl. Kapitel 4.3.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Besonderheit als Liederzyklus begründen ihre Auswahl. Dem analysierten und interpretierten Lied aus den Romanzen wird jeweils ergänzend oder kontrastierend ein weiteres ausführlicher besprochenes Klavierlied aus einem anderen Liederheft zugeordnet. Ludwig Tiecks Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence402 erschien 1797 im zweiten Band der Volksmärchen unter dem Pseudonym Peter Leberecht und wurde 1812 von ihm in die Sammlung Phantasus403 aufgenommen. Sie geht auf ein Volksbuch des 16. Jahrhunderts zurück, das 1527 von Veit Warbeck aus einem französischen Ritterroman des 15. Jahrhunderts übersetzt wurde404 und „weist stoffliche und stilistische Merkmale auf, welche die Entwicklung der deutschen Romantik mitbestimmten: mittelalterlichen Hintergrund, phantastische Ereignisse, stimmungsvolle Naturschilderungen, musikalische Prosa und lyrische Einlagen.“405 Im Vergleich zur Vorlage stellt Tieck die Liebesgeschichte zwischen dem Ritter Peter von Provence und der neapolitanischen Königstochter Magelone in den Mittelpunkt und nimmt die christlich-religiösen Elemente zurück. Sein Erzählton ist geprägt von einer lyrischen Sprache. Jedes der achtzehn Kapitel enthält eine musikalisch-lyrische Einlage, in der von einer der handelnden Personen in einem Lied die Stimmung reflektiert wird.406 In Bezug auf die zu untersuchende Gender-Thematik ist hervorzuheben, dass Brahms in den 1860er Jahren mit Wahl der tieckschen Liebesgeschichte Gedichte einer frühromantischen Erzählung vertonte, deren Liebeskonzeption vom Geschlechterdiskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zentralen Punkten abweicht. Zu nennen sind das frühromantische Ideal der Einfühlung auf Seiten der Männer, die „überschwenglich, gefühlsbetont [waren], sie weinten oft und ohne Hemmungen“407, oder die Subjektwerdung der Frau, die sich in Briefromanen und Tagebuchaufzeichnungen ausdrückte und die Voraussetzung für eine partnerschaftliche Beziehung darstellte, in der Mann und Frau in ihrer jeweiligen Polarität zu einer vollkommenen Einheit verschmelzen sollten, oder das für die damalige Zeit offene Thematisieren außerehelicher Beziehungen, die ‚freie Liebe‘, wie Friedrich Schlegel sie beispielsweise in seiner Lucinde beschrieben hat. Die 15 Lieder der Magelonen-Romanzen op. 33 von Brahms erschienen in 5 Teilen zu je 3 Liedern: Im September 1865 wurden Teil 1 und 2 veröffentlicht, die Teile 3–5 erschienen im Dezember 1869. Die Entstehungszeit der einzelnen Lieder ist nicht immer genau festzulegen. Die Nummern 1–4 sind wahrscheinlich
402 403 404 405 406 407
Tieck: Schöne Magelone. Tieck: Phantasus. Warbeck: Schöne Magelone. Mornin: Nachwort, S. 63. Vgl. Mornin: Nachwort, S. 68. Lüthi: Feminismus und Romantik, S. 26.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
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im Juli 1861 entstanden, im Mai 1862 folgten die Nummern 5, 6 und 13. Zwischen 1862 und 1869 müssen die Lieder mit den Nummern 7 bis 12 entstanden sein. Lediglich auf den beiden letzten Liedern ist als Abschlussdatum „Mai 1869“ vermerkt.408 Die Lieder differieren in äußerer Gestalt, Form und Länge stark: von einer rondoartigen Anlage in den Liedern 1 und 2, einer verkürzten dreiteiligen Liedform in Lied Nr. 4, einem variierten Strophenlied in Nr. 11 bis hin zu einem durchkomponierten Lied wie Nr. 6. Jedes einzelne Gedicht stellt im Erzählzusammenhang der tieckschen Novelle eine lyrische Reflexion über eine Situation, Szene oder Stimmung dar, so dass sich der Sinn des Liedes aus dem Gesamtzusammenhang heraus ergibt, auch wenn Brahms eine Aufführung der Lieder mit dazwischengeschalteten Erzählabschnitten ablehnte: „die Lieder müßten für sich selbst sprechen, und der Sänger brauchte nichts davon zu wissen, an welcher Stelle und in welcher Weise Tieck sie in sein Märchen eingestreut habe.“409 Später relativierte er gegenüber Max Friedländer (1886), dass er „bei einer neuen Ausgabe einige wenige Worte aus der Dichtung gern hinzufügen [würde], um den Sänger und den Spieler in die Stimmung zu versetzen, aus der heraus er selbst die Lieder komponiert hätte.“410 Bei der Komposition der Lieder hat Brahms demnach die Stimmung innerhalb des Handlungsgeschehen berücksichtigt, sie war sogar Impuls zur Komposition. Dass das Publikum bereits zur Brahms-Zeit die Rezeption der Romanzen im Erzählkontext präferierte, zeigt die damalige Aufführungspraxis. So ließ Amalie Joachim bei Aufführungen der Magelonen-Romanzen den Text von ihrer Tochter Josepha rezitieren oder trug ihn selbst vor.411 Damit wird deutlich, „wie wichtig der literarische und in weiterem Sinne kulturgeschichtliche Kontext eines Liedzyklus ist.“412 Dieser Bedingung war Brahms sich wohl für die Aufführung von Liederzyklen anderer Komponisten bewusst, denn bereits im April 1861 führte er mit Julius Stockhausen Schuberts Schöne Müllerin auf, wobei ein „Fräulein Johanna Berthold [...] die von Schubert nicht komponierten Gedichte des Müllerschen Liederzyklus nebst Prolog und Epilog“ vorlas.413 Bei der folgenden Analyse einzelner Lieder wird daher eine kurze Zusammenfassung des Kontextes der Novelle414 gegeben.
408 409 410 411 412 413 414
Vgl. McCorkle: Brahms-Werkverzeichnis, S. 112. Friedländer: Brahms-Lieder, S. 30f. Friedländer: Brahms-Lieder, S. 31. Vgl. Kalbeck: Brahms I, Fußnote 1, S. 428; Borchard: Stimme und Geige, Fußnote 103, S. 434. Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 194. Kalbeck: Brahms I, S. 425. Die Schilderung der Handlung ist meine Zusammenfassung der Liebesgeschichte von Ludwig Tieck.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
4.1.3.1
Männerliebe und -leben
Graf Peter von Provence, ein großer, starker, blonder, junger Ritter mit einem zarten jugendlichen Gesicht und einem in sich gekehrten Wesen, hört dem Gesang eines fremden Sängers zu, der anlässlich eines Turniers am Hof seines Vaters auftritt (Nr. 1: Keinen hat es noch gereut): Keinen hat es noch gereut, Der das Roß bestiegen, Um in frischer Jugendzeit Durch die Welt zu fliegen. Berge und Auen, Einsamer Wald, Mädchen und Frauen Prächtig im Kleide, Golden Geschmeide, Alles erfreut ihn mit schöner Gestalt. Wunderlich fliehen Gestalten dahin, Schwärmerisch glühen Wünsche in jugendlich trunkenem Sinn. Ruhm streut ihm Rosen Schnell in die Bahn, Lieben und Kosen, Lorbeer und Rosen Führen ihn höher und höher hinan. Rund um ihn Freuden, Feinde beneiden, Erliegend, den Held – Dann wählt er bescheiden Das Fräulein, das ihm vor allen gefällt. Und Berge und Felder Und einsame Wälder Mißt er zurück. Die Eltern in Tränen, Ach, alle ihr Sehnen – Sie alle vereinigt das lieblichste Glück. Sind Jahre verschwunden, Erzählt er dem Sohn In traulichen Stunden Und zeigt seine Wunden, Der Tapferkeit Lohn.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
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So bleibt das Alter selbst noch jung, Ein Lichtstrahl in der Dämmerung.415
Der fahrende Sänger schildert in anschaulicher Weise den Entwurf eines glücklichen Männerlebens: Er ist der Erzähler, der dem jungen Ritter als dem Adressaten seines Liedes die Welt und das ritterliche Leben in aussagekräftigen Bildern ausmalt. Ihm zufolge steht dem Ritter und Mann die Welt offen, er kann ihre Schönheiten (Natur, Mädchen und Frauen) in vollen Zügen genießen, er ist trunken vor Glück. Nach bestandenen Abenteuern, die ihm Ruhm, Ehre und allgemeine Hochachtung (auch der Feinde) einbringen und ihn erste amouröse Erfahrungen („Lieben
Abb. 3
Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/1, T. 1–25
und Kosen / Lorbeer und Rosen“) machen lassen, wählt der Ritter sich seine Frau und kehrt mit ihr zu seinen Eltern zurück, deren Erwartungen er in höchstem Maße erfüllt hat. So verlebt er glückliche Jahre und kann seinem Sohn von seinen Aben-
415
Die Gedichtzitate sind entnommen aus: Tieck: Schöne Magelone, hier S. 6.
100
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
teuern erzählen und seine Wunden zeigen, die von seiner Tapferkeit Zeugnis ablegen, woraus er im Alter noch Identität und Kraft gewinnen kann. Tieck lässt also hier den Sänger vor dem jugendlichen Ritter und seinem Hof ein Konzept von Männlichkeit entfalten, das energische Tatkraft (Aktivität), Bewährung in der Öffentlichkeit, Kampf und Aggressivität, Ehre und Ruhm, Liebeserfahrungen und Wahl der ‚richtigen‘ Frau, Erfüllung der Pflichten, Zeugung eines Sohnes, an den die Tradition, die Normen und Werte weitergegeben werden, als zentrale Aspekte nennt. Kurz: ein sinnvolles, ehrbares und stolzes Männerleben, das perfekt alle an ihn gestellten Erwartungen (von elterlicher, sprich gesellschaftlicher Seite) erfüllt und damit ein männliches Pendant zu Adelbert von Chamissos Frauenliebe und leben darstellt. Das Lied in Es-Dur beginnt mit einem viertaktigen Klaviervorspiel (Allegro und forte), in dem die in so genannten Hornquinten aufsteigende Linie mit einen verstärkenden Crescendo schwungvoll zum Einsatz der Singstimme hinführt und Assoziationen an Jagd und Ritterlichkeit erweckt (Abb. 3). Nach den zwei ersten Zeilen der Singstimme über ausgehaltenen Akkorden, die die aufsteigende Linie des Klaviers zunächst mit einem vom zweigestrichenen Es ausgehenden abwärtsgeführten Dreiklang beantwortet („Keinen hat es noch gereut“) und dann einen energischen Quartsprung aufwärts zum zweigestrichenen F macht („Der das Roß bestiegen“), setzt im Klavier ein galoppierender Rhythmus ein, der einen Großteil des Liedes untermalt, zwischen der rechten und linken Hand hin und her wechselt und das Lied vorantreibt. Die Takte 1–40 haben im Gesamtplan des Liedes die Funktion einer Einleitung. Erst in Takt 41 beginnt der A-Teil, dessen motivisches Material einheitsstiftenden Charakter besitzt – es prägt das folgende Zwischenspiel und das Nachspiel. Die 3. Strophe (B-Teil) beginnt in der Singstimme in einer hohen Lage (F²), die in punktierten Rhythmen und im Wechsel von Halber- und Viertelnote in Sekundschritten eine Oktave abwärts geführt wird. Nach einer exakten Wiederholung des A-Teils in der vierten Strophe wird die fünfte Strophe mit zwei neuen melodischen Motiven gestaltet, wovon das erste Assoziationen an den B-Teil erweckt, da die Singstimme wieder in hoher Lage einsetzt, der Wechsel von Halber- und Viertelnote erneut auftritt und die Begleitung in den ersten vier Takten mit der des B-Teils identisch ist. Die Melodie der Singstimme weicht jedoch in ihrem Auf- und Abschwingen vom B-Teil ab und im weiteren Verlauf findet eine Verselbstständigung statt, so dass von einem eigenständigen C-Teil gesprochen werden kann. Das zweite Motiv (D-Teil) schildert die Wahl der begehrten Frau (T. 120–147) und ist hier von besonderem Interesse. Schon im kurzen zweitaktigen Zwischenspiel (T. 118f) beruhigt sich der galoppierende Rhythmus, in aufsteigender chromatischer Linie in leeren Oktaven wird auf „dann wählt“ das D² erreicht, das zunächst tonal noch nicht eindeutig zuzuordnen ist (Abb. 4). Erst auf „das Fräulein“ (T. 125f) wird deutlich, dass G-Dur
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Abb. 4
101
Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/1, T. 117–142
als neue Tonart (Mediante zu Es-Dur) erreicht ist. Gleichzeitig wird auf der zweiten Silbe von „Fräulein“ über Fis² das G² als erster Höhepunkt markiert, der bei der um einen Halbton erhöhten variierten Wiederholung dieser Zeile (mit der Rückkehr nach Es-Dur) zum absoluten Spitzenton des gesamten Liedes (T. 140: As²) geführt wird. So veranschaulicht die musikalische Gestaltung, dass die Wahl des ‚richti gen‘ Fräuleins den Höhepunkt im Leben eines Ritters ausmacht bzw. das Höchste ist, was ein Ritter erreichen kann. Das melodische Material der beiden letzten Strophen (E- und E0-Teil) beginnt mit einer rhythmisch variierten Aufnahme des Themas aus dem A-Teil, das aber dann variiert und weiterentwickelt wird, die Begleitung bringt nun auf- und absteigende Achtelbewegungen. Die melodische Bewegung verlangsamt sich beim Gedanken, dass das Alter des Ritters erhellt werden könne, wenn er seinem Sohn von seinen Abenteuern erzählt, und wird bei der Wiederholung (T. 230–241) zu einer groß ausgedehnten vokalen Phrase gesteigert. Jedoch setzt unmittelbar danach der galoppierende Rhythmus wieder ein
102
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
und prägt zusammen mit motivischem Material des A-Teils das 16-taktige Nachspiel. In der musikalischen Ausgestaltung hebt Brahms die mutige männliche Aktivität hervor, die für das geschilderte erfolgreiche Ritterleben Voraussetzung ist. Dabei ist es die vielleicht wichtigste Entscheidung im Leben eines Mannes, die richtige Frau zu finden, mit der er eine Familie gründen, einen Sohn zeugen und ein ehrbares Leben führen kann. Auch das folgende Lied (Nr. 2: Traun! Bogen und Pfeil), das Graf Peter auf seinem Ritt in die Ferne anstimmt, vermittelt männlichen Mut, Tatendrang und Zuversicht und bekräftigt die Übernahme des Lebensentwurfes durch den männlichen Protagonisten. Welche existentiellen Konsequenzen es hat, wenn ein derartiger männlicher Lebensentwurf scheitert, stellt Brahms in op. 94/5, Kein Haus, keine Heimat, dar. Das Lied basiert auf einem Gedicht von Friedrich Halm und wurde 1884 veröffentlicht. Kein Haus, keine Heimat, Kein Weib und kein Kind, So wirbl’ ich, ein Strohhalm, In Wetter und Wind! Well’ auf und Well’ nieder, Bald dort und bald hier; Welt, fragst du nach mir nicht, Was frag’ ich nach dir?
Die beiden Strophen stammen aus einem dramatischen Gedicht Friedrich Halms416 mit dem Titel In der Südsee aus seinen Gesammelten Werken, Vol. 7, erschienen Wien 1856–72. Der Held, ein schwarzer Seemann, stellt am Ende der geschilderten Handlung sein Leben in den Dienst anderer. In kurzen prägnanten Schlagworten wird das genannt, was in den Augen des Mannes im Leben als erstrebenswert angesehen wird: Haus – Heimat – Weib – Kind. Da es dem Protagonisten des Liedes jedoch nicht gelungen ist, dieses zu erreichen, fühlt er sich als Strohhalm im Wind, der der Welt seine Verachtung entgegen schleudert. Dieses mit 20 Takten kürzeste brahmssche Lied, in d-Moll mit einer plagalen Schlusskadenz nach D-Dur und strophischer Form, unterscheidet sich auffallend von den anderen Liedern. Leere Oktavklänge auf D in Staccato-Achteln bilden das zweitaktige Vorspiel, die Bass-Stimme des Klaviers verbleibt in Staccato-Oktavklängen, die rechte Hand setzt synkopische Staccato-Achtel-Akkorde (häufig übermäßig) entgegen, während die Singstimme eine einfache Melodie vorträgt, die sehr rigide und mechanisch wirkt (Abb. 5). Jeder Staccato-Ton gibt die Unvermeid-
416
Dies ist ein Pseudonym für Eligius Friedrich Johann von Münch-Bellinghausen (1806–1871), ein aus Krakau stammender und in Wien tätiger Dramatiker.
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Abb. 5
103
Kein Haus, keine Heimat op. 94/5
lichkeit des harten Schicksals wieder, jeder leere Oktavklang zeigt die Leere und Nichtigkeit einer männlichen Existenz, die die entscheidenden Insignien einer erfolgreichen Männlichkeit nicht vorweisen kann. Die plagale Schlusskadenz mit
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
ihrem Crescendo zum Forte des letzten Taktes macht sowohl die Wut als auch die Verwegenheit deutlich, mit der er der Welt entgegentritt.417 Das Fehlen sämtlicher romantischer Ausdrucksträger ist für Siegfried Kross Anlass, von einem „Nicht-Mehr-Lied“, einem „Un-Lied“ zu sprechen und zu behaupten, „daß hier das Ende des romantischen Ausdruckliedes der SchumannNachfolge erreicht ist.“418 Kross übersieht jedoch, dass gerade hierin der besondere Ausdruck des Liedes liegt, da sowohl die Wut über die Härte des Schicksals als auch die Unbeugsamkeit des Mannes angesichts der Sinn- und Hoffnungslosigkeit des Lebens auf kompromisslose Art und Weise verdeutlicht werden. Der gescheiterte Mann fügt sich nicht resignierend in sein Schicksal. Er klagt an, aber er begehrt auch auf. Brahms macht durch die Schlusssteigerung deutlich, dass der Protagonist nicht kampflos aufgeben wird, sondern dass er gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals und um seinen Status kämpfen wird. Er wird weiterhin versuchen, die gesellschaftlich erwarteten und von ihm als Ziele eines sinnvollen Männerlebens internalisierten Werte zu erreichen. An ein Aufgeben ist seinerseits ebensowenig zu denken wie an eine Um- oder Neuorientierung. Existentielle Sinnfragen, Todessehnsucht, erinnernde Rückbesinnung, Heimweh und Heimatlosigkeit sind Themen, die in einer Vielzahl von ‚Männerliedern‘ behandelt werden. Dazu zählen Lieder wie: • • • • • • • • •
Wie rafft ich mich auf in der Nacht op. 32/1 (August von Platen), Der Strom, der neben mir verrauschte op. 32/4 (August von Platen), Abenddämmerung op. 49/5 (Adolf Friedrich von Schack), Heimweh III op. 63/9 (Klaus Groth), Abendregen op. 70/4 (Gottfried Keller), Todessehnen op. 86/6 (Max von Schenkendorf), Mit vierzig Jahren op. 94/1 (Friedrich Rückert), Mein Herz ist schwer op. 94/3 (Emanuel Geibel), Ein Wanderer op. 106/5 (C. Reinhold).
Den Höhepunkt und gleichzeitigen Endpunkt stellen die Vier ernsten Gesänge op. 121 dar, in denen Brahms auf aus der Bibel zusammengestellten Texten über den Tod, die Vergänglichkeit, aber auch über die Liebe reflektiert. Brahms erwähnte diese Lieder Anfang Mai 1896 in einem Brief an seinen Verleger Simrock dahingehend, dass er sich „ein paar kleine Liederchen“ selbst zum Geburtstag geschenkt habe.419 Diese Lieder werden mit dem Tod Clara Schumanns (20.5.1896) in Verbindung gebracht, sie sind aber nicht allein auf dieses Ereignis zu beziehen.
417 418 419
Vgl. Stark: Solo songs, S. 285. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 2, S. 913. Brahms: Briefe an Fritz Simrock, Bd. 2, S. 195.
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Der Tod wichtiger, ihm nahestehender Menschen420 und die Widmung an Max Klinger, der den Tod seines Vaters betrauerte, machen deutlich, dass es allgemeine Todesgedanken waren, die ihn beschäftigten. In diesen Liedern421 gab Brahms seine individuelle Antwort auf die menschliche Frage nach dem Sinn des Lebens. Er komponierte diese Antwort bezeichnenderweise für eine Bass-Stimme, also die tiefe männliche Stimme, die für Autorität und Weisheit steht, so wie der Bass (basso profondo) in Opern einen Priester (Don Carlos), König (Lohengrin) oder Vater (Mignon) repräsentieren kann. 4.1.3.2
Männliche Liebesverwirrungen
Das dritte Lied der Magelonen-Romanzen zeigt eine andere Seite des Grafen Peter, der nun, nachdem er am Hofe des neapolitanischen Königs als erfolgreicher Turniersieger die Gunst der Königstochter Magelone erwerben konnte, von den widersprüchlichsten Gefühlen überrollt wird und leise das folgende Lied (Nr. 3: Sind es Schmerzen, sind es Freuden) singt: Sind es Schmerzen, sind es Freuden, Die durch meinen Busen ziehn? Alle alten Wünsche scheiden, Tausend neue Blumen blühn. Durch die Dämmerung der Tränen Seh ich ferne Sonnen stehn – Welches Schmachten! Welches Sehnen! Wag ich’s? soll ich näher gehn? Ach, und fällt die Träne nieder, Ist es dunkel um mich her; Dennoch kömmt kein Wunsch mir wieder, Zukunft ist von Hoffnung leer. So schlage denn, strebendes Herz, So fließet denn, Tränen, herab, Ach Lust ist nur tieferer Schmerz, Leben ist dunkles Grab. – Ohne Verschulden Soll ich erdulden? Wie ist’s, daß mir im Traum Alle Gedanken Auf und nieder schwanken! Ich kenne mich noch kaum.
420 421
Elisabeth von Herzogenberg (1892), Hermine Spies (1893), Theodor Billroth (1894), Hans von Bülow (1894). Vgl. ausführlich Preissinger: Die vier ernsten Gesänge.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik O hört mich, ihr gütigen Sterne, O höre mich, grünende Flur, Du, Liebe, den heiligen Schwur: Bleib ich ihr ferne, Sterb ich gerne. Ach! nur im Licht von ihrem Blick Wohnt Leben und Hoffnung und Glück!
In diesem Lied beschreibt das Ich (Peter) seine eigenen konfusen Liebesgefühle, die es nicht einzuordnen weiß: Es schwankt zwischen Schmerzen, Freuden, Angst, Zweifel und Unsicherheit. Es ist verwirrt, kennt sich selbst nicht mehr, verspürt aber den Wunsch, der Geliebten nahe zu sein. Diese schmerzlichen, widersprüchlichen Gefühle lassen das Ich sein Leben als „dunkles Grab“ und die Zukunft als hoffnungslos empfinden. Peter sieht „sich einer ‚Verwirrung‘ ausgeliefert, in der er nicht mehr aktiv Handelnder, sondern Opfer seiner Affekte ist.“422 Einzig im bestätigenden Blick der Geliebten liegen Hoffnung und das Glück seines zukünftigen Lebens. Daher kann er schwören, gerne zu sterben, wenn es ihm nicht gelinge, ihre Liebe zu erringen. Seine emotionale Verstörung, sein Hoffen und Bangen, seine Unsicherheit und nachdenklich-introvertierte Art wirken wenig ritterlich oder ‚heldenhaft‘. Im Vorspiel (As-Dur, Andante, Piano espressivo) erklingt eine liebliche Serenadenmusik, deren Melodie in zarten Terzen und Sexten verdoppelt wird, während die arpeggierten Begleitakkorde an Lautenklänge erinnern und andeuten, dass Peter sich selbst auf der Laute begleitet. Die Singstimme nimmt die Melodie auf und wiederholt sie wie das Vorspiel, „d. h. Entwicklung findet nicht statt, es steigt sacht auf und sinkt wieder ab, Ruhe, Zuständlichkeit vermittelnd.“423 Dies entspricht der Situation Peters, der über sich und seine Befindlichkeit nachdenkt. Die vorherrschenden, nur selten aufgelösten Dominantseptakkorde zeigen seine fragende, unsichere Haltung. Die Lautstärke der Singstimme verbleibt bis zum Vivace-Teil (Wechsel zum 6/8-Takt, T. 45) im Piano. Der Vorwurf an das Schicksal („Ohne Verschulden soll ich erdulden“) lässt die Dynamik über Mezzoforte und ein Crescendo zum Forte anwachsen, unterstützt von Hornquinten in der Begleitung, die an seinen Mut und Tatendrang erinnern (Abb. 6). Zur Betonung wird dieser Abschnitt fast identisch wiederholt. Ein erneuter Taktwechsel in Takt 71 zum 4/4-Takt, aber in schnellem Tempo und Forte verbleibend, lässt die Zuversicht steigen und ihn den Schwur (ad libitum) über
422
423
Rath: Vergessene Liebe bei Tieck, S. 144. Für Peter Jost spiegelt dieses Wechselbad der Gefühle und Stimmungen eine Form romantischer Ironie wider, weil sowohl „Personencharakteristik als auch Handlungsmotivationen [...] in sich widersprüchlich“ scheinen (Jost: Brahms und die romantische Ironie, S. 38). Jacobsen: Sprache und Musik, S. 127.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Abb. 6
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Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/3, T. 44–59
langen Notenwerten deklamieren. Die beiden Schlusszeilen werden wieder mit melodischem Material der „Schicksalsanklage“ inklusive der heroischen Hornquin ten vertont, so dass, unterstützt durch einen sicheren Schluss im Nachspiel in AsDur, Peter wieder als Herr seiner Lage erscheint und sich hoffnungsvoll seinem Schicksal stellt. Damit geht Brahms in der musikalischen Gestaltung über die Gedichtvorlage hinaus. Denn dort verharrt Peter noch in der Unsicherheit und Abhängigkeit von Magelone. Im Lied jedoch findet eine psychologische Entwicklung statt: Ein von seinen Zweifeln, Ängsten und Unsicherheiten gepeinigter Mann besinnt sich auf seinen Mut und gewinnt seine Lebenszuversicht wieder. Peters Liebesverwirrung, seine Schmerzen beruhen auf der Ungewissheit, ob Magelone seine Gefühle erwidert. Sein Schicksal liegt in den Händen der Frau, die ihm entweder Leben, Hoffnung und Glück durch ihre erwiderte Liebe schenken
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
oder aber durch Ablehnung und Zurückweisung sein Leben in ein dunkles Grab verwandeln kann. Brahms zeigt in vielen Liedern, dass das Liebesleid des Mannes von unglücklicher, untreuer oder unerfüllter Liebe herrührt. Als Beispiele seien genannt: • • • • • •
Du sprichst, daß ich mich täuschte op. 32/6 (August Graf von Platen), Trost in Tränen op. 48/5 (Johann Wolfgang von Goethe), Vergangen ist mir Glück und Heil op. 48/6 (Altdeutsch), Am Sonntagmorgen op. 49/1 (aus dem Italienischen übersetzt von Paul von Heyse), In der Gasse op. 58/6 (Friedrich Hebbel) oder Verrat op. 105/5 (Karl Lemcke).
Des Weiteren verursachen häufig spröde, unnahbare Frauen, die nicht oder nur kühl auf das Liebeswerben des Mannes reagieren, männliches Liebesleid – ebenso wie misslingende Kommunikation, fehlendes Vertrauen oder fehlende Emotionalität: • • • • • • • • • • •
Nicht mehr zu dir zu gehen op. 32/2 (Aus Hafis von Georg Friedrich Daumer), Du sprichst, daß ich mich täuschte op. 32/6 (August von Platen), Bitteres zu sagen denkst du op. 32/7 (Aus Hafis von Georg Friedrich Daumer), So steh’n wir, ich und meine Weide op. 32/8 (Aus Hafis von G.F. Daumer), Die Kränze op. 46/1 (Aus Polydora von Georg Friedrich Daumer), Der Überläufer op. 48/2 (Des Knaben Wunderhorn), Die Spröde op. 58/3 (Aus dem Kalabrischen von August Kopisch), Therese op. 86/1 (Gottfried Keller), Meerfahrt op. 96/4 (Heinrich Heine), Trennung op. 97/6 (Volkslied), An die Stolze op. 107/1 (Paul Flemming).
Die Reaktionen der Männer auf erlittenes Liebesleid sind zuweilen sehr emotional, sie geben sich dem Liebesschmerz ausgiebig hin. So beauftragt der Liebende in An ein Veilchen op. 49/2 (Ludwig Hölty), ein Veilchen, den Tau in seinem Kelch als Tränen der Wehmut zu bewahren, um sich dann, wenn die Geliebte das Veilchen gepflückt hat, an ihre Brust zu schmiegen und ihr zu sagen, dass die Tropfen „aus der Seele des treusten Jünglings flossen, der sein Leben verweinet und den Tod wünscht.“ Ein ähnliches Motiv nutzt der unter Liebeskummer leidende Mann im Lied Die Kränze op. 46/1 (aus Polydora von Georg Friedrich Daumer), veröffentlicht 1868. Hier ob dem Eingang seid befestigt, Ihr Kränze, so beregnet und benetzt Von meines Auges schmerzlichem Erguß! Denn reich zu tränen pflegt das Aug’ der Liebe. Dies zarte Naß, ich bitte, Nicht allzu frühe träufelt es herab.
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Spart es, bis ihr vernehmet, daß sie sich Der Schwelle naht mit ihrem Grazienschritte, Die Teuere, die mir so ungelind. Mit einem Male dann hernieder sei es Auf ihres Hauptes gold’ne Pracht ergossen, Und sie empfinde, daß es Tränen sind; Daß es die Tränen sind, die meinem Aug’ In dieser kummervollen Nacht entflossen.
Der abgewiesene Liebhaber spricht mit den Kränzen, die er über der Tür der geliebten Frau befestigt hat, und beauftragt sie, nachdem er sie mit seinen Tränen der Liebe benetzt hat, auf die goldenen Locken der ihm „ungelinden“ Frau zu tropfen, damit sie merke, dass es Tränen sind, die er geweint hat. Diese tränenreiche Botschaft an die Geliebte voller Emotion vertonte Brahms zu einem expressiven Lied. Bereits das viertaktige Vorspiel (Des-Dur), dolce, bestimmt die Atmosphäre der Traurigkeit und Resignation, die auf- und absteigenden Sekundschritte (Seufzermelodik) formen ein wiederholtes Motiv, das das Lied von Anfang bis Ende prägt (Abb. 7). Modulation durch enharmonische Verwechslung nach cis-Moll (T. 22–23, in T. 46 eine Rückkehr nach Des-Dur), tonmalerische Figuren für die
Abb. 7
Die Kränze op. 46/1, T. 1–13
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fallenden Tränen (T. 40–43), rhythmisch differenzierte Gestaltung durch Wechsel und Kombination von Achteln und Triolen zwischen Singstimme und Klavier, Wiederholung der Phrase, die zur ersten Klimax geführt hat (T. 16–19 auf die Worte „das Aug’ der Liebe“) als Schlussphrase der Singstimme (T. 53–55 auf „entflossen“) und schließlich das neuntaktige Nachspiel, das die erste Hauptphrase wieder aufgreift, diese mit alternierendem Zweier- und Dreierrhythmus zu einem unerwarteten Forte inklusive eine um eine Quarte erhöhte Tonstufe steigert und nochmal wiederholt, um erst dann langsam zu verklingen – diese Gestaltungsmittel akzentuieren die Trauer, Resignation und sehnsuchtsvolle Leidenschaft. Dass dieses sich ganz dem Liebeskummer hingegebene Verhalten nicht unbedingt als männlich anzusehen ist, lässt sich an zwei anderen Liedern ablesen. Im ersten Lied, Trost in Tränen op. 48/5 (Johann Wolfgang von Goethe), fordern Freunde den weinenden Mann auf, sich aufzuraffen: So raffe denn dich eilig auf Du bist ein junges Blut. In deinen Jahren hat man Kraft Und zum Erwerben Mut.
Dieser ist jedoch nicht bereit, sich den Freunden anzuschließen, sondern bittet sie, da die Tränen sein Herz erleichtern, ihn die Nächte verweinen zu lassen, solange er mag. Im zweiten Lied, Frühlingstrost op. 63/1 (Max von Schenkendorf), spricht die Frühlingsluft zum betrübten Mann, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen müsse: Nur mußt du kämpfen drum und tun, Und länger nicht in Träumen ruh’; Laß’ schwinden. [...] [...] Erwach’ im morgenroten Glanz, Schon harret dein der Myrtenkranz, Geliebter! Der Frühling kündet gute Mär’, Und nun kein Ach, kein Weinen mehr, Betrübter.
Peter, der ritterliche Held der Magelonen-Romanzen, hat sich aufgerafft und ermannt. Die musikalische Gestaltung im Nachspiel des Liedes (op. 33/3) macht seine Zuversicht spürbar, die sich im weiteren Verlauf der Erzählung bestätigt. Auch Magelone ist von tiefer Liebe zu Peter ergriffen und vertraut sich ihrer Amme an. Diese trifft Graf Peter am nächsten Tag in der Kirche beim Gebet und fragt ihn in Magelones Auftrag nach seinem Namen. Als Antwort überreicht er ihr sowohl einen der drei kostbaren Ringe, die ihm seine Mutter zum Abschied mitgegeben hat, als auch ein Pergament, auf dem er die Gefühle seiner Liebe niedergeschrieben hat (Nr. 4: Liebe kam aus fernen Landen). Magelone ist von diesem
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Lied gerührt und erfreut über den Ring, den sie sich an einer Schnur um den Hals hängt. Sie beauftragt die Amme, Peter wieder aufzusuchen und ihm von ihrem Einvernehmen zu berichten. Peter ist von dieser Nachricht überwältigt und lässt Magelone ausrichten, dass er sie liebe „mit einer Liebe, wie kein andres Herz es fähig ist [...].“424 Er gibt der Amme einen zweiten Ring und ein zweites Blatt mit einem Lied, das Magelone in ihrer Kammer liest (Nr. 5: So willst du des Armen). Darin beschreibt Peter sein glückliches Schicksal, weil er die Liebe gefunden habe. Auffallend am Handlungsverlauf der tieckschen Erzählung sind die Begeisterung und Schwärmerei, mit denen sowohl Peter als auch Magelone auf ihre frisch entbrannte Liebe reagieren. „Magelone wie der krafttitanische Ritter Peter sind geniebegeisterte Schwärmer“, die sich in einem euphorischen Zustand begegnen, „der die Diskussion von Empfindsamkeit und Sturm und Drang übersteigt und historisch neu ist.“425 Peter wird von seinen Zweifeln und seiner Unsicherheit erlöst, denn „Nur lieben heißt leben: Willkommene Bahn!“ und „Du hast ihn gefunden, Den seligsten Ort!“426 Durch die Liebe zu Magelone und durch ihre Gegenliebe kann er von seinen Ängsten, Unsicherheiten und Zweifeln befreit werden und zu einem glücklichen Leben gelangen. 4.1.3.3
Körperlich-sinnliche Aspekte der Liebe
Am nächsten Tag erfährt Peter durch die Amme, dass Magelone sich heimlich mit ihm treffen möchte. Nachdem er gegenüber der Amme geschworen hat, sie in ritterlicher Zucht und Anständigkeit zu lieben, und diese ihm den Ort des Rendezvous genannt hat, geraten alle seine Sinne in Verwirrung, er schwankt zwischen Erwartungen, Sehnsucht und ängstlicher Hoffnung hin und her (Nr. 6: Wie soll ich die Freuden, die Wonnen denn tragen?). Als er dann endlich zur verabredeten Zeit in die Kammer zu Magelone tritt, will diese aufstehen, ihm um den Hals fallen und küssen, mäßigt sich aber und bleibt sitzen. Eine Röte überzieht ihr Gesicht, und auch Peter steht mit verschämtem Gesicht vor ihr. Er wirft sich stumm auf ein Knie, aber Magelone heißt ihn, sich neben sie zu setzen. Er gesteht ihr seine Liebe und schenkt ihr den dritten Ring. Sie nimmt daraufhin eine güldene Kette und spricht, dass sie ihn hiermit als den Ihrigen anerkenne und sie sich für die Seinige. „Dann nahm sie den erschrockenen Ritter in die Arme und küßte ihn herzlich auf den Mund und er erwiderte den Kuß und drückte sie gegen sein Herz.“427 In seinem
424 425 426 427
Tieck: Schöne Magelone, S. 21. Rath: Vergessene Liebe bei Tieck, Fußnote 40, S. 153. Tieck: Schöne Magelone, S. 22. Tieck: Schöne Magelone, S. 27.
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Zimmer muss Peter mit großer Inbrunst seine Freude und sein Glück besingen (Nr. 7: War es dir, dem diese Lippen bebten): War es dir, dem diese Lippen bebten, Dir der dargebotne süße Kuß? Gibt ein irdisch Leben so Genuß? Ha! wie Licht und Glanz vor meinen Augen schwebten, Alle Sinne nach den Lippen strebten! In den klaren Augen blinkte Alles klang im Herzen wieder, Meine Blicke sanken nieder, Und die Lüfte tönten Liebeslieder! Wie ein Sternenpaar, Glänzten die Augen, die Wangen Wiegten das goldene Haar, Blick und Lächeln schwangen Flügel, und die süßen Worte gar Weckten das tiefste Verlangen: O Kuß! wie war dein Mund so brennend rot! Da starb ich, fand ein Leben erst im schönsten Tod.
In fast ungläubigem Erstaunen über die Ereignisse erlebt Peter die Liebesstunde in seiner Erinnerung noch einmal durch: Zunächst kann er es gar nicht glauben, dass er es war, dem die bekundete Liebe galt, denn er spricht sich selbst als ein „Du“ an, das er als Adressat befragen kann und tritt somit aus sich heraus, um die eigene Unsicherheit abstreifen zu können. Dann überfluten ihn die Erinnerungen: Sinnliche Sehnsucht in ihm, ihre Lippen zu küssen; ein sehnsüchtiger Blick in ihren Augen, Einverständnis ausdrückend; er ist von ihrer Schönheit berauscht; die Luft ist voller Liebeslieder und er vernimmt Worte, die tiefstes Verlangen in ihm erwecken; schließlich der Kuss, der ihn sterben, aber im Tod sein Leben finden lässt. Die Unmittelbarkeit seines Empfindens findet in der Vertonung Ausdruck darin, dass das Lied ohne Vorspiel beginnt. Bereits auf dem zweiten Schlag des ersten Taktes setzt die Singstimme ein und zwar jubelnd in D-Dur, Forte und „Lebhaft“. Die Melodie zeigt eine auf- und absteigende Linie, mit dem höchsten Ton (G²) auf die Worte „Lippen“ und „süße“ (Abb. 8). Auch im weiteren Verlauf des Liedes werden Begriffe wie „Licht“ (T. 18: Fis²), „Augen“ (T. 21: G²), wieder „Lippen“ (T. 26: G²; T. 31: Fis², hier sogar auf die Dauer von fünf Vierteln gedehnt), „Liebes“-lieder (T. 62: G²; T. 67: Fis²) durch hohe Töne hervorgehoben. Die rechte Hand des Klaviers geht in der Oberstimme der Begleitakkorde colla parte mit der Singstimme, die linke Hand bringt wankende Achtelbewegungen, die oft durch einen nachschlagenden Rhythmus unterbrochen werden und so den Eindruck des Nach-Luft-Ringens erwecken. Erst zu Beginn der zweiten Strophe (T. 34) kehrt etwas Ruhe ein: Die Lautstärke schwächt sich zu einem Pianissimo ab, die Harmonik verbleibt in einer D-
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Dur-Kadenz mit einem kurzen Ausweichen nach G-Dur bei „zärtlich, zärtlich winkte“, die Melodie schreitet nur noch in Sekundschritten voran und bleibt nach einem Zweiviertel-Auftakt im Wechsel von Halbe- und Viertelnoten, lediglich die Bass-Stimme behält als Ostinato-Figur ihren nachschlagenden Rhythmus bei. Brahms macht somit tonmalerisch deutlich, wie der klare und bestätigende Blick in ihren Augen seine Unruhe zwar beruhigen kann, dass dennoch unter der Oberfläche sein tiefes Verlangen geweckt ist. Die dritte Strophe (T. 75), in der Peter sich an die Augen, die Wangen, das goldene Haar, an ihren Blick, ihr Lächeln und ihre Worte erinnert, bringt einen Tonartenwechsel nach G-Dur und ein drittes melodisches Motiv, das animato und pianissimo vorzutragen ist und durch seine regelmäßigen 4-taktigen Phrasen bei einfacher Harmonik Schlichtheit suggeriert. Bei der Wiederholung des zweiten Absatzes („Blick und Lächeln schwangen Flügel, und die süßen Worte gar weckten
Abb. 8
Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/7, T. 1–19
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das tiefste Verlangen“) schwingt sich die Melodie wieder zum G² auf (T. 108 auf der ersten Silbe von „Verlangen“). Die Erinnerung an den Kuss lässt die Musik zurückkehren zur Dominante von D-Dur, somit Spannung aufbauend, die erst beim zweiten „o Kuß“ durch die Tonika gelöst wird und auch hier erst zum melodischen Anfangsthema zurückfindet. Damit steigt auch wieder die Unruhe und Erregung an, die sich erst ab Takt 129 abschwächt, da Peter im Leben den schönsten Tod gefunden hat. Die Melodie des Nachspiels steigt langsam in immer tiefere Register ab, die unregelmäßig nachschlagenden Achtel im Bass werden zu durchgehend synkopischen Vierteln und ebben schließlich ganz im Pianissimo verklingend ab. Als neues Thema ist das sinnliche Verlangen in die Beziehung zwischen Peter und Magelone getreten. In der tieckschen Erzählung ist es Magelone, die in dieser Situation eine aktivere Rolle spielt und ihm nach ihrem gegenseitigen Sich-Versprechen den ersten Kuss gibt. Magelone zeigt eine größere Selbstsicherheit in puncto Zärtlichkeit und Körperlichkeit, während Peter von sinnlichen Gefühlen überwältigt wird. In seinem lyrisch-musikalischen Nachempfinden des erlebten Kusses zeigt sich dies durch insgesamt unruhigere Musik. Die Erinnerung an ihren klaren Blick bringt Beruhigung für ihn, die Musik vereinfacht sich. Die Vertonung drückt die unterschiedlichen Umgangsweisen mit der neuen Situation aus: Magelone löst zwar durch ihre Nähe, ihre körperliche Attraktivität sinnliches Verlangen bei Peter aus, ihr ist es aber auch gegeben, ihn hiervon zu erlösen, indem sie – Einverständnis signalisierend – die für ihn unsichere Situation entspannt und die körperlichen Sehnsüchte („alle Sinne strebten zu den Lippen“) durch einen ausgetauschtem Kuss stillt. Da Magelones Vater sie mit einem anderen Ritter verheiraten möchte, macht sie Peter den Vorschlag, in der kommenden Nacht zu fliehen. Beide treffen heimlich ihre Vorkehrungen, Peter nimmt noch einmal seine Laute auf und stimmt ein Lied an (Nr. 8: Wir müssen uns trennen, geliebtes Saitenspiel), in dem er – kampfesmutig mit seiner Beute entfliehend und von seinen Waffen beschützt – sein Vertrauen in das Schicksal und die Vorfreude auf die bevorstehende glückliche Nacht der Entführung besingt. Nach erfolgreicher Flucht rasten sie gegen Mittag im Wald, Magelone legt ihr Haupt in seinen Schoß, und Peter singt ihr ein Schlaflied (Nr. 9: Ruhe, Süßliebchen), in dem er die Vögel auffordert, den Schlaf seiner Geliebten nicht zu stören; er will ihr treu liebender Wächter sein. Aus den Melodien des Baches hört er schöne Liebesphantasien heraus, die seine sinnliche Erregung widerspiegeln. Peter sieht zwischen den Vögeln des Waldes einen schwarzen Raben sitzen, der ihm wie „ein grober, ungeschliffener Knecht“428 erscheint. Im gleichen Moment hat er den Eindruck, dass Magelone im Schlaf schwer Atem hole, so dass er ihr Oberteil aufschnürt und ihr schöner Busen aus dem Gewand hervor-
428
Tieck: Schöne Magelone, S. 36.
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tritt. Peter ist entzückt und sieht zwischen den Brüsten versteckt ein rotes Seidenfutteral, das er öffnet. Als er seine drei Ringe darin entdeckt, ist er gerührt, schnürt das Säckchen wieder zu und legt es neben sich in das Gras. Plötzlich jedoch fliegt der Rabe herab, raubt das Säckchen, fliegt damit zum Meer und lässt es dort fallen. Peter, der den Raben verfolgt, steigt in einen Kahn und will das Säckchen zurückholen, als vom Land her ein starker Wind ihn immer weiter auf das Meer hinaustreibt. Indem der Rabe das Futteral raubt, das er „für ein Stück Fleisch“429 gehalten hat, „treibt er Peter im Handlungsgeschehen in die Ferne. Doch er löst nur in der Tat ein, was im Gemüt längst geschehen ist.“430 Denn das lüsterne Betrachten des Busens der schlafenden Geliebten hat wenig mit treuer Liebe zu tun und wird in der tieckschen Erzählung umgehend bestraft: Peter wird von Magelone getrennt, womit allegorisch erzählt wird, dass durch die rein körperliche Liebe die wahre Liebe verloren gehen kann: Die Liebenden werden getrennt.431 Die körperlich-sinnliche Liebe, die körperliche Attraktivität der Frau, ihre sinnlich-erotischen Reize, die Sehnsucht und Befriedigung sexueller Wünsche – diese Themen spielen in den Liedern von Brahms eine zentrale Rolle, so in seinen Vertonungen persischer, russischer oder ungarischer Volksdichtung, vor allem in den Übersetzungen und in der Liebeslyrik Georg Friedrich Daumers (Auswahl): • •
• •
•
•
Wie bist du meine Königin op. 32/9 (nach Hafis): Er besingt die Wonnen seiner Geliebten und sehnt sich danach, in ihren Armen zu vergehen. Liebesglut op. 47/2 (nach Hafis): Eine wilde Flamme zerquält den Liebenden, der vom Schicksal dazu verdammt ist, sich von ihrem Lockenhaar Glaube, Ehre und Vernunft stehlen zu lassen. Wenn du nur zuweilen lächelst op. 57/2: Eine ungemessene Glut in ihm kann nur durch ihr Lächeln gekühlt werden. In meiner Nächte Sehnen op. 57/5: In sehnsuchtsvollen Nächten gedenkt der einsame Liebende der brennenden Küsse und an das Schwinden der Sinne an ihrer Brust. Die Schnur, die Perl’ an Perle op. 57/7 (Indisch): Der liebende Mann beneidet die Perlenkette, die sich auf der schönen Brust der Geliebten wiegt. Er wünscht sich, sich ebenfalls so traulich anschmiegen zu dürfen. Eine gute, gute Nacht op. 59/6 (aus dem Russischen): Die Geliebte soll nicht durch das Wünschen einer „Guten Nacht“ die Glut seiner Seele schüren, sondern ihm eine „Gute Nacht“ gewähren.
Anhand des Liedes Unbewegte laue Luft op. 57/8, veröffentlicht 1871, auf ein Gedicht von Georg Friedrich Daumer aus Frauenbilder und Huldigungen (3 Bde.,
429 430 431
Tieck: Schöne Magelone, S. 37. Rath: Vergessene Liebe bei Tieck, S. 148. Vgl. Rath: Vergessene Liebe bei Tieck, S. 142 und 146–148.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Leipzig 1853) wird im Folgenden der Themenkreis der körperlich-sinnlichen Liebe in Brahms’ Liedschaffen eingehender betrachtet. Unbewegte laue Luft, Tiefe Ruhe der Natur; Durch die stille Gartennacht Plätschert die Fontäne nur. Aber im Gemüte schwillt Heißere Begierde mir, Aber in der Ader quillt Leben und verlangt nach Leben. Sollten nicht auch deine Brust Sehnlichere Wünsche heben? Sollte meiner Seele Ruf Nicht die deine tief durchbeben? Leise mit dem Ätherfuß Säume nicht, daherzuschweben! Komm, o komm, damit wir uns Himmlische Genüge geben!
Während einer lauen Sommernacht, in der ein Springbrunnen plätschert, verspürt das lyrische Ich432 in sich heißere Begierde anschwellen. Das Leben, das in den Adern quelle, verlange nach Leben. Sollte die geliebte Person ähnliche Wünsche und Sehnsüchte haben, sollte ihre Brust von ähnlichen Gefühlen bewegt auf und nieder wogen, dann solle sie leise zu ihm kommen, damit sie sich „himmlische Genüge“ geben können. Unter dem Begriff „Genüge“ führt das Grimm’sche Wörterbuch ausgehend vom Wortstamm „genug“ mehrere Bedeutungsebenen an: Etwas ist genug im Sinne von ausreichend vorhanden, dann in der Verbindung mit „vollem Genüge“, dass etwas in reichem Maß vorhanden ist. Eine Bedeutungsverschiebung von äußerlichen zu inneren Zuständen führt zu einem Verständnis von „Genüge“ im Sinne von „Befriedigung“, die seelisch („Seelengenüge“) und körperlich sein kann und dann für Lust, Ergötzen, Freude, Vergnügen steht.433 Daumer verleiht dem Begriff „Genüge“ mit dem Adjektiv „himmlisch“ zwar auch eine transzendierende Dimension, die durch den „Ätherfuß“ und den „Seelenruf“ unterstrichen wird. Dass es ihm jedoch nicht um eine platonische Begegnung geht, hat er in den Zeilen zuvor deutlich gemacht: Das körperliche Befinden (schwellendes, quellendes Leben in den Adern, hebende Brust) drückt sexuelle Erregung aus. Es geht um „heißere Begierde“, die nach „Leben“ verlangt, also um eine körperliche Begegnung. Auch die räumlich-
432 433
Das lyrische Ich kann aufgrund der geschilderten Gefühlszustände (schwellende Begierde und quellendes Leben in den Adern) und der Anrede des Du, dessen Brust sich hebt und senkt, als männlich aufgefasst werden. Grimm: Grimm’sche Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 3503–3507.
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Abb. 9
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Unbewegte laue Luft op. 57/8, T. 1–15
zeitliche Inszenierung (Garten, schwüle Sommernacht) und das Plätschern des Brunnens symbolisieren sinnlich-körperliche Zustände. Die Begegnung der Lieben den, deren Körper sich nacheinander sehnen, das gegenseitige Erfüllen der körper lichen Sehnsüchte soll zu einem „himmlischen Genüge“ führen, also zu einer Befriedigung der sexuellen Wünsche, die als himmlisch (göttlich-unendlich) phantasiert wird. Das gegenseitige Geben von „himmlischem Genüge“ kann dem nach als eine für das 19. Jahrhundert direkte Umschreibung für körperlich sexuelle Befriedigung verstanden werden – in diesem erotisch-körperlichen Sinne benutzt auch Theodor Billroth den Begriff. Er bezeichnet das Lied Mädchenfluch op. 69/9
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als „Ausdruck glühendster Sinnlichkeit, die nach ‚Genüge‘ (wie es in einem anderen Lied von Brahms heißt) ringt.“434 In Unbewegte laue Luft fragt das sprechende Ich die geliebte Person direkt, ob nicht auch sie von ähnlichen Wünschen erfüllt sei und sich ihre Brust als Zeichen der Erregung hebe und senke, das heißt, ob nicht auch sie ähnliche Lust empfinde. Seine Aufforderung an sie, herbei zu eilen, damit sie sexuelle Erfüllung finden können, geht von einem gleichberechtigten, die Bedürfnisse beider Partner berücksichtigenden Umgang miteinander aus. Beide Partner werden zu aktiven Subjekten, die ihre eigenen sexuellen Wünsche wahrnehmen und befriedigen. Unabhängig davon, ob man das sprechende Ich oder das angesprochene Du als männlich oder weiblich begreift, ist die weibliche Rolle in diesem Lied ebenso wie die männliche eine aktive. Die ersten vier Zeilen des Gedichts (A-Teil), in denen die laue Sommernacht beschrieben wird, vertont Brahms in einem langsamen Tempo, E-Dur, 9/8-Takt und piano. Die langsam aufsteigenden, im zweitaktigen Klaviervorspiel eingeführten Dreiklangsbrechungen im Klavierbass (Terzquartakkord mit tiefalterierter Quinte F im Bass, wodurch ein spannungsvoller Tritonus F–H entsteht) lassen ebenso wie die nach C erniedrigte Sext auf „laue Luft“ und tonartenfremde Töne die von gespannter Erwartung erfüllte Ruhe und Schwüle der Nacht spürbar werden (Abb. 9). Oktavierte Bassgänge begleiten die „tiefe Ruhe der Natur“. Die Musik scheint sich kaum fortzubewegen, erst das Plätschern der Fontäne ab Takt 13 (HDur) bringt etwas Bewegung in die Situation: Über zwei Oktaven aufsteigende Achteltriolen mit einem zusätzlichen Triller setzen das Wasserplätschern tonmalerisch um. Die Singstimme wiederholt die zweite und vierte Zeile der Gedichtstrophe, dadurch ebenfalls in der Stimmung der Sommernacht verharrend. Insgesamt dient dieser langsame Abschnitt als Kontrastfolie für den anschließend in schnellem Tempo (Lebhaft, C-Takt) vorgetragenen B-Teil. Die spannungsvolle Stille und Statik der Naturschilderung entlädt sich, die innere Erregung und Anspannung des lyrischen Ichs bricht hervor: Die körperlich-sexuellen Zustandsbeschreibungen (heißere Begierde und quellendes Leben) sind musikalisch parallel gestaltet: Vom Piano über ein Molto crescendo zum Forte auf „Begierde“ und „Leben“ anwachsend steigt die Singstimme über unruhige Sechzehntelfiguren des Klaviers zum jeweiligen Phrasenhochton auf (Fis² bzw. Gis²), dabei kühne Harmoniefolgen durchschreitend: E-Dur – C-Dur mit übermäßiger Quinte – a-Moll – fMoll – G-Dur-Septakkord – h-Moll; „und ein greller harmonischer Höhepunkt bei ‚Leben und verlangt ...‘ auf dem Quartsextakkord von Gis-Dur.“435 Hiernach beruhigt sich die Musik etwas (piano, Achteltriolen statt Sechzehntelfiguren). Die
434 435
Brahms: Briefwechsel mit Billroth, Fußnote 26, S. 240, Brief vom 25.10.1877. Wagner: Liedschaffen, S. 86.
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Singstimme übernimmt die rhythmisch angepasste melodische Anfangsphrase des A-Teils und fragt in diesem Duktus, ob die Geliebte nicht vergleichbare Wünsche hege. Naturschilderung und Körperlichkeit, Natur und Sexualität gestaltet Brahms mit gleichem musikalischem Material und unterstreicht so eine strukturelle Gleichsetzung von Natur (schwüle, spannungsvolle Ruhe einer lauen Sommernacht) mit den sinnlich-erotischen Sehnsüchten der Liebenden. Mit dem Rückgriff auf musikalisches Material, das zunächst zur Charakterisierung von Natur eingesetzt wurde und jetzt für die Beschreibung der körperlichen Erregungszustände der Liebenden genutzt wird, verweist Brahms auf die Trieb- und Instinkthaftigkeit der menschlichen Sexualität, die damit der kulturell überformten Auffassung von Liebe zuwiderläuft. Im Verlaufe des Liedes steigt die Erregung bei dem Gedanken an die geliebte Person, die möglicherweise ähnliche Bedürfnisse empfindet, auch musikalisch wieder an. Ein Molto crescendo setzt ein und beim ersten „Komm“ sind mit dem Forte auch die Sechzehntelfiguren wieder da, um bis zum Ende des Liedes ununterbrochen zu erklingen. Auf „himmlische“ und „Genüge“ wird wieder das Gis² erreicht (forte), analog zur ersten harmonischen Entwicklung („Begierde“ und „Leben“) über dissonanten Gis-(Dur)-Akkorden.436 Nach zwei Sforzati-Schlägen in Takt 66 beginnt ein Diminuendo, das die Wiederholung der letzten beiden Verse in tieferer Lage begleitet (Abb. 10). Die melodische Phrase des Vorspiels erscheint hierzu noch einmal – das gegenseitige Geben von sexueller Befriedigung und Naturschilderung wieder gleichsetzend. Nach einem zweitaktigen Nachspiel verklingt die Musik im Pianissimo. Die musikalische Anlage hebt die im Gedicht enthaltenen Aussagen hervor: Eine in einer lauen Sommernacht von sinnlich-erotischen Sehnsüchten erregte Person (Sechzehntelfiguren, Molto crescendo zum Forte, Phrasenhochtöne) fragt sich, ob die (noch) nicht anwesende geliebte Person ähnliche Gefühle empfinde. Die Sehnsucht, das erotische Verlangen bricht bei dem Gedanken hervor, dass diese ähnlich empfinden könnte, und erreicht ihren Höhepunkt (Forte, Sechzehntelfiguren, Gis² als zweimaliger Phrasenhochton, zwei Sforzati-Akkorde). Die Wiederholung der Aufforderung wird in tieferer Tonlage, im Piano molto und Sempre diminuendo vorgetragen. Die anhaltenden Sechzehntelfiguren zeigen jedoch, dass die innere Erregung nicht nachgelassen hat; sie bleibt als Fundament des Empfindens bestehen.
436
Auf „himmlische“ zunächst als verminderter gis-Moll-Quartsextakkord: d (enharmonisch für cisis)-gis-h, der dann nach Gis-Dur aufgelöst wird. Auf „Genüge“ suggeriert das E im Bass das Erreichen der Tonika E-Dur, durch eingefügte Sept (D) bleibt jedoch dominantische Spannung aufgebaut, die zunächst nach A-Dur führt.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Durch die musikalische Gestaltung nimmt Brahms eine Gleichsetzung von Natur und Körperlichkeit bzw. Natur und Sexualität vor. Allein der Aufruf und die Vorstellung, dass die geliebte Person zum Rendezvous erscheinen könnte, um „himmliche Genüge“ zu erfahren, führt zum musikalischen ‚Höhepunkt‘, so dass das sprechende Ich im Lied bereits eine gewisse Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse erfährt. Danach endet das Lied in einer Ermattung, obwohl die innere Erregung bestehen bleibt. Elisabeth von Herzogenberg nennt in einem Brief an Brahms dieses Lied „vielverketzert“437, was darauf schließen lässt, dass es aufgrund seiner Direktheit anstößig wirkte, denn der „unsittliche Brahms“438 verleiht in
Abb. 10
437 438
Unbewegte laue Luft op. 57/8, T. 61–70
Brahms: Briefwechsel mit H. und E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 39. Anonym: Unsittlicher Brahms.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
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diesem Lied nicht nur den sinnlich-erotischen Bedürfnissen und dem Wunsch nach sexueller Befriedigung musikalischen Ausdruck, sondern er zeigt die innere spannungsvolle körperliche Erregung, die sich bereits beim Gedanken an eine Begegnung und gegenseitige Befriedigung einstellt. In den Magelonen-Romanzen darf Peter seine sinnlich-erotischen Bedürfnisse (noch) nicht mit der geliebten Magelone ausleben. Das Paar wird durch widrige Umstände getrennt und muss sich zunächst bewähren. 4.1.3.4
Liebesklage der treuen Frau
Peter, der immer weiter auf das einsame Meer hinausgetrieben wird, sorgt sich um Magelone, die er unbeschützt im Wald zurückgelassen hat. Er verliert alle Hoffnung und singt mit lauter Stimme seine Klage über das erlittene Unglück (Nr. 10: Verzweiflung). Nachdem Magelone ihr Erschrecken über das Verlassensein überwunden hat, fasst sie den Entschluß, sich von den Menschen zurückzuziehen, dort immer an Peter zu denken und fromm und treu dahinzusterben. Sie findet bei einem alten Schäferpaar Unterschlupf, dient ihnen und pflegt Schiffbrüchige, die an der nahen Küste stranden. Manchmal singt sie mit der Spindel in der Hand vor der Türe sitzend ein Lied (Nr. 11: Wie schnell verschwindet): Wie schnell verschwindet So Licht als Glanz, Der Morgen findet verwelkt den Kranz, Der gestern glühte In aller Pracht, Denn er verblühte In dunkler Nacht. Es schwimmt die Welle Des Lebens hin, Und färbt sich helle, Hats nicht Gewinn. Die Sonne neiget, Die Röte flieht, Der Schatten steiget Und Dunkel zieht: So schwimmt die Liebe Zu Wüsten ab, Ach! daß sie bliebe Bis an das Grab! Doch wir erwachen Zu tiefer Qual:
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik Es bricht der Nachen, Es löscht der Strahl, Vom schönen Lande Weit weggebracht Zum öden Strande, Wo um uns Nacht.
Aus der Rahmenhandlung der Erzählung ergibt sich, dass es sich um das erste Lied handelt, in dem die Protagonistin zu Wort kommt und ihren Gefühlen Ausdruck verleiht. Bisher stand in den lyrischen Gedichten ausschließlich Peter im Blickpunkt des Geschehens.439 Ohne diesen Kontext ist das klagende Ich des Gedichts nicht eindeutig geschlechtlich bestimmt. Auf der Folie der Erzählung soll es hier dennoch als Lied von Magelone betrachtet werden: Magelone beschreibt ihren Gefühlszustand nicht in der Ich-Form, sondern sie greift auf Metaphern zurück, die ihre Gefühle der Trauer, der Verzweiflung und Resignation ausdrücken: Licht und Glanz sind verschwunden, der Kranz ist verwelkt, die Sonne ist untergegangen, Schatten und Dunkelheit ziehen auf; sie vergleicht das ihr bestimmte Leben ohne den Geliebten als „öden Strand“, das Leben geht monoton und sinnlos weiter; es ist qualvoll, wüst, dunkel und leer. Es handelt sich hierbei um ein variiertes Strophenlied, da der Kontrast der vierten Strophe durch thematisch-motivische Entwicklung vorhergehenden Materials erreicht wird. Der formale Ablauf des Liedes kann wie folgt schematisiert werden: • • • • • • •
Strophe 1 Strophe 2 Strophe 3 Strophe 4 Strophe 5 Strophe 6 Strophe 7
A A A0 B/A A00 A000 A0
Das Lied steht in f-Moll, mit einer F-Dur-Episode für die vierte Strophe. Das Vorspiel schildert die Stimmung mit seiner melodischen Variante in Takt 3, chromatischer Alteration in Takt 5 und einem kurzen Wechsel nach As-Dur in Takt 6 (Abb. 11). Die Singstimme imitiert das Vorspiel, jedoch ohne die Variante. Der strukturelle Aufbau von zwei ähnlichen zweitaktigen Phrasen und einer viertaktigen Phrase ist kennzeichnend. In der zweiten Strophe wird die Sechzehntelfigur in die Begleitung verlegt, während die Singstimme über einem submediantischen Orgelpunkt (Des) sequenzierend auf- und absteigt und auf Des-Dur endet. Das um
439
Das Lied Nr. 5, Willst du des Armen dich gnädig erbarmen, ist ein Brief Peters an sie, den sie vorliest.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Abb. 11
123
Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/11, T. 1–24
eine Oktave tiefer gesetzte melodische Motiv des Vorspiels erklingt über einem neuen Orgelpunkt auf C (Dominante), der in den Beginn der dritten Strophe hineinragt. Hier verbleibt die Melodie im Duktus der Dreiachtelfigur der Einleitung, erreicht As-Dur (auf „helle“) und wird eine Stufe tiefer sequenziert (ces-Moll). Über einem neuen C-Orgelpunkt wird die viertaktige Phrase nach f-Moll zurückge-
124
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
führt. Das Zwischenspiel wiederholt diese letzte Phrase, jetzt vollständig harmonisiert und erreicht den F-Dur-Abschnitt, der aus den letzten beiden Takten der gerade gehörten Kadenz entwickelt ist, durch ein zweitaktiges Zwischenspiel unterbrochen und wieder über einem Orgelpunkt (Des) sequenziert wird. Die Begleitung, die bis dahin in der linken Hand monoton Viertel-Achtel-Noten im Wechsel gespielt hat, spielt nun Oktaven in Achtelbewegung. Ein sechstaktiges Zwischenspiel führt zu f-Moll zurück. Die Begleitung ändert sich erneut, indem nun nachschlagende Sechzehntelfiguren von der rechten in die linke Hand wechseln, während die Melodie zur variierten Form der dritten Gedichtstrophe zurückkehrt, diese aber wiederum variiert, dabei sich in der fünften Strophe dynamisch zum Forte („es bricht der Nachen“) steigernd. Ein kurzes Zwischenspiel bringt Beruhigung sowohl in der Lautstärke (piano) als auch in der Begleitung, die in der letzten Strophe zum Wechsel Viertel-Achtel zurückkehrt. Auch die Singstimme und die Begleitung kehren notengetreu zur Melodie der dritten Strophe (A') zurück. Das Nachspiel wiederholt deren letzte viertaktige Phrase und beendet das Lied in dem gleichen einfachen Stil und der gleichen melancholischen Stimmung des Beginns. Magelones Hoffnungslosigkeit und Melancholie werden musikalisch dadurch unterstrichen, dass das Ausgangsmaterial der bereits im Vorspiel gehörten Melodie immer wieder aufgegriffen, sequenziert und variiert wird oder unterschiedliche Abschnitte der Phrasen weitergeführt werden – und dies sehr häufig über einer Orgelpunkt-Begleitung der linken Hand bzw. über einem monotonen Wechsel von Viertel- und Halbenote. Damit wird verdeutlicht, dass sie in der gleichen Stimmung verharrt und die Gedanken der Trauer, der Hoffnungslosigkeit ständig neu variiert. Unterstützt wird diese Stagnation selbst durch den ‚kontrastierenden‘ B-Teil, der zwar in F-Dur steht, aber in seiner Gestaltung – abwärts geführte Dreiklangsbrechungen in der Singstimme und monotone Tonrepetitionen am Ende der beiden Phrasen über orgelpunktartigen leeren Oktavklängen – den Textgehalt (Sonnenuntergang, aufsteigende Schatten und Dunkelheit) veranschaulicht und Todessehnsucht spüren lässt. Aber Magelone erwacht wieder, das quälende Leben geht weiter, und resignierend akzeptiert sie ihr Schicksal. Ihr bleibt die Klage über ihre Situation und das Warten auf den Tod, da sie die Hoffnung auf die Rückkehr Peters aufgegeben hat. Kontrastierend dazu verläuft das Schicksal Peters. Er wird von einem heidnischen Schiff aufgegriffen und zum Sultan gebracht. Schnell kann er die Gunst des Sultans gewinnen, aber oft muss er an seine geliebte Magelone denken (Nr. 12: Muß es eine Trennung geben). Auch Peter beklagt sein Schicksal; er ist verzweifelt und so hoffnungslos, dass er meint, sein Herz würde
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
125
ihm „abbrechen“.440 Die Vertonung durch Brahms zeigt jedoch, dass er sich nicht resignierend in sein Schicksal fügt, sondern aufbäumend nach dem Warum der Trennung fragt. Auch überkommen ihn beim Gedanken an Magelone „brünstigliche“ Gefühle. Die Begleitung der Melodie ist unruhig: Absteigende Sechzehntelfiguren von der rechten zur linken Hand wechselnd sind bis auf eine sechstaktige Unterbrechung durch Achtelnoten auf „ungeliebt geblieben, hätt´ ich doch noch Hoffnungsschein“ (T. 22–27) dem Lied unterlegt und vermitteln so einen eher aktiven Charakter im Vergleich zum monoton-statischen Wechsel von Viertel- und Halbenote im Klagegesang Magelones. Bereits in seinem op. 3 Nr. 1 mit dem Titel Liebestreu auf ein Gedicht von Robert Reinick, vertonte Brahms das Leid einer unglücklich liebenden Frau: In einem Dialog441 gibt die Mutter der Tochter den Rat, sich von ihrer unglücklichen Liebe zu trennen. Aber die Tochter beharrt in ihrer Liebe und Treue. „O versenk’, o versenk’ dein Leid, mein Kind, In die See, in die tiefe See!“ Ein Stein wohl bleibt auf des Meeres Grund, Mein Leid kommt stets in die Höh’. „Und die Lieb’, die du im Herzen trägst, Brich sie ab, brich sie ab, mein Kind!“ Ob die Blum’ auch stirbt wenn man sie bricht, Treue Lieb’ nicht so geschwind. „Und die Treu’, und die Treu’, ’s war nur ein Wort, In den Wind damit hinaus.“ O Mutter, und splittert der Fels auch im Wind, Meine Treue, die hält ihn aus.
Dieses Lied, das Brahms’ erste Liedsammlung eröffnet, entstand im Januar 1853 in Hamburg. Es wird in der Literatur häufig als Beispiel herangezogen, um grundlegende brahmssche Kompositionsmerkmale aufzuzeigen.442 Auffallendes Gestaltungsmerkmal ist eine aufsteigende Bass-Linie, die bereits im Vorspiel vorgestellt, kanonisch von der Singstimme aufgegriffen wird und die Melodie der Mutter prägt (Abb. 12). Die Klavierbegleitung bleibt in der linken Hand in tiefen Klangregionen (Kontra-Oktave bis große Oktave), so die Standfestigkeit der Mutter verdeutli440 441 442
Brahms änderte die letzte Zeile der tieckschen Vorlage („Heimlich stirbt das Herz mir ab“) um in „Heimlich bricht das Herz mir ab.“ Peters Kummer erscheint dadurch abgeschwächt, sein Herz ist zwar gebrochen, aber nicht abgestorben. Weitere Dialoglieder zwischen Mutter und Tochter sind Mädchenfluch op. 69/9, Sommerabend op. 84/1, Der Kranz op. 84/2, In den Beeren op. 84/3. Zu nennen sind hier neben vielen Erwähnungen in Brahms-Biographien: Adler: Brahms; Bell: Brahms; Benecke: Mutter-Tochter-Dialoge; Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 213f; Kim: Einfachheit im Lied, S. 185–196; Kross: Deutsche Lied, S. 144–150; Sick: Liebestreue.
126
Abb. 12
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Liebestreu op. 3/1, T. 1–10
chend. Im Gegensatz dazu springt die begleitende Bass-Stimme bei der Antwort der Tochter in die ein- bzw. zweigestrichene Oktave, mit der Vortragsbezeichnung träumerisch, und repräsentiert eine konträre Klang- und damit auch Gefühlswelt. Die begleitenden Akkorde in Achtelsextolen, die im Konflikt mit den Achteln der Melodie und des Basses stehen, laufen ununterbrochen durch das ganze Lied, wie das Leid der Tochter, das nicht unterdrückt werden kann. Das Zentralwort der Tochter („Leid“) in der ersten Strophe wird durch Seufzer-Figuren im Bass, durch Ausweichen über Ges-Dur nach Ces-Dur als Tonikagegenklang, einen Tritonus-
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Abb. 13
127
Liebestreu op. 3/1, T. 26–35
Sprung vom auf fünf Viertel gedehnten Ges² zum C² in der Singstimme sowohl klanglich als auch harmonisch und melodisch zum Ausdruck gebracht.443 In der zweiten Strophe erfährt der Begriff „Lieb’“ die gleiche musikalische Ausgestaltung, so dass eine Verbindung zwischen Leiden und Lieben impliziert wird. Sowohl die Emotionen der Mutter als auch die der Tochter werden musikalisch gesteigert: Sie beginnen beide pianissimo und sehr langsam, dann piano (nur die Mutter), und die Schlussstrophe wird von beiden jeweils forte vorgetragen. Während die Aufforderungen der Mutter exakt strophisch wiedergegeben werden, gestaltet Brahms in der dritten Strophe das Beharren der Tochter in ihrer Treue mit neuem melodischem Material, das das nach Es-Dur aufgehellte kano-
443
Vgl. Kim: Einfachheit im Lied, S. 192.
128
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
nische Prinzip zwischen Bass und Singstimme übernimmt und zum höchsten Ton des Liedes steigert (T. 28: As² auf „Treue“), während die Bass-Stimme zum Kontra-E hinabsteigt (Abb. 13). Dann aber klingt nach einem zweitaktigen Zwischenspiel über einem synkopisch angelegten chromatischen Bass-Aufstieg vom Kontra-A zum Großen Des und der Vortragsanweisung sempre ritandano et diminuendo sin al fine das Lied wieder in es-Moll aus. Die Tochter wiederholt noch einmal in sekundgängigem Abwärtssteigen vom Ces² zum Es¹ die Worte „die hält, die hält ihn aus“, jeweils nach zwei Silben von einer Viertelpause unterbrochen. Das Nachspiel bringt in einem auskomponierten Ritardando wieder das dreitönige Bass-Motiv, das mit dem Kontra-Es als dem tiefsten Ton des gesamten Liedes endet. Thomas Sick interpretiert in seinem aufschlussreichen Aufsatz444 über die Liebestreue in Brahms’ Liedschaffen die Rückkehr nach es-Moll am Ende des Liedes dahingehend, dass die im vorhinein dargestellte Liebessicherheit des Mädchens wieder in Frage gestellt werde. Demgegenüber gelangt Heike Benecke in ihrer Analyse von Mutter- und Tochter-Dialogen445 zu der Überzeugung, dass die Übernahme des dreitönigen, kanonisch verwendeten Bassmotivs durch die Tochter als ein Zerbröckeln des mütterlichen Widerstandes anzusehen sei und die Tochter erfolgreich ihre Liebe verteidigt habe. Beiden Auffassungen ist entgegenzuhalten, dass zwar die Treue der Tochter die Einwände der Mutter erfolgreich übersteht, sie aber weiterhin ihr Liebesleid aushalten muss (es-Moll). Das heißt, dass sie von einer träumerischen Ausgangshaltung zu einer schmerzhaften Einsicht gelangt ist, zu der sie überzeugend und selbstsicher steht (dreitöniges Bass-Motiv), wie zuvor die Mutter ihr dreimal ihre Überzeugung entgegengehalten hat. Der Preis ihres ‚Sieges‘ wird ständiges Liebesleid sein, so dass sie am Ende ihrer Auseinandersetzung eher ernüchtert und erschöpft erscheint, aber in keiner Weise triumphierend über die Mutter oder unsicher bezüglich ihrer Liebe. Die zentralen Worte des Liedes – Leid, Liebe und Treue – lassen in unterschiedlichen Verknüpfungen eine im brahmsschen Liedschaffen typische Konstellation erkennen, die weiteren Liedern zugrunde liegt. Einsame, ungeliebte, verlassene und unglückliche Mädchen und Frauen werden in vielen Liedern beschrieben (Auswahl): •
444 445
Treue Liebe op. 7/1 (Eduard Ferrand): Ein verlassenes Mädchen sitzt sehnsuchtsvoll wartend am Meeresstrand und wird von den Wellen in die Tiefe gezogen. Das Mädchens geht für ihre Liebe bis in den Tod, wo sie ihren Geliebten wiederfindet.
Sick: Liebestreue, S. 178. Benecke: Mutter-Tochter-Dialoge, S. 145.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik • • • • •
• •
• •
• •
• •
129
Parole op. 7/2 (Joseph von Eichendorff): Ein Mädchen, das von ihrem Liebstem, einem Jäger, verlassen wurde, sitzt traurig am Fenster. Anklänge op. 7/3 (Joseph von Eichendorff): Ein Mädchen spinnt einsam an ihrem Hochzeitskleid. Volkslied op. 7/4: Ein trauriges Mädchen beobachtet eine Schwalbe und bittet sie, sie an einen anderen Ort mitzunehmen. Die Trauernde op. 7/5 (Volkslied): Das von allen ungeliebte Mädchen wünscht sich tot zu sein. Von ewiger Liebe op. 43/1 (aus dem Wendischen übersetzt von August Heinrich von Fallersleben): Wenn dem Mädchen aus der Beziehung Unannehmlichkeiten entstehen sollten, wäre der Bursche bereit, die Beziehung aufzulösen. Aber das Mädchen versichert in einer dreifachen Steigerung, dass ihre Liebe unwandelbar sei und ewig bestehen müsse. Liebesklage des Mädchens op. 48/3 (Des Knaben Wunderhorn): Ein durch die Liebe verwundetes Mädchen beklagt ihr Schicksal. Gold überwiegt die Liebe op. 48/4 (übersetzt aus dem Böhmischen von Joseph Wenzig): Das Mädchen bittet die Sterne, mit ihr die Nächte zu verweinen, da ihr Schatz eine reichere Frau geheiratet hat. Agnes op. 59/5 (Eduard Mörike): Die Frau klagt über die untreue Liebe des Mannes. Vom Strande op. 69/6 (aus dem Spanischen von Joseph von Eichendorff): Ein Mädchen ruft ihrem verlorenen Glück nach, das sie verlassen hat; ihr Herz wird beständig voller Schmerzen sein. Über die See op. 69/7 (Karl Lemcke): Ihr Schatz ist übers Meer gezogen und sie bleibt für immer allein mit verzagtem Herzen zurück. Der Kranz op. 84/2 (Hans Schmidt): Die Tochter kann den dornigen Kranz des Jünglings nicht aus ihren Haaren entfernen, da er Worte zu ihr sprach, die sie nicht vergessen kann. Mädchenlied op. 85/3 (übersetzt aus dem Serbischen von Siegfried Kapper): Ein Mädchen beklagt, dass es niemanden habe, dem es Rosen pflücken könnte. Mädchenlied op. 107/5 (Paul von Heyse): Ein einsames Mädchen weint, weil es unbeachtet und ungeliebt bleibt.
In vielen der eindeutig als ‚Mädchenlied‘ zu bestimmenden Liedern ist das Leid der Frauen als Liebesleid zu identifizieren. So wie Magelone ihr Schicksal resignierend annimmt, weil ihr durch die Trennung von ihrem Geliebten jeglicher Lebenssinn genommen wurde, so wird im Liebesleid der zahlreichen Mädchen und Frauen deutlich, dass ihr Leben einzig und allein auf die Liebe zu einem Mann ausgerichtet ist. In den Magelonen-Romanzen tritt im Verlauf der Erzählung eine zweite Frauenfigur auf, die zwar ihr Leben ebenfalls auf die Liebe zu einem Mann ausrichtet, die aber wegen ihres leidenschaftlichen Auftretens von Brahms eine im Vergleich zu Magelone unterschiedliche Charakterisierung erhält.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
4.1.3.5
Weibliche und männliche Verführungskünste
Die schöne Tochter des Sultans, Sulima, verliebt sich in Peter, seine Traurigkeit zieht sie an. Sie sagt ihm, dass sie mit ihm fliehen wolle, und er willigt ein, nachdem er zu der Überzeugung gekommen ist, dass Magelone gewiss gestorben sei und er so zu seinen Eltern zurückkommen könne. Im Traum aber erscheint ihm Magelone mit drohender Gebärde, und er ist über seinen Vorsatz erschrocken. Am Abend der Flucht steigt er ohne Sulima in das Boot und vertraut sich seinem Schicksal an. Sulima steht zu verabredeter Stunde am Strand, spielt auf der Zither das vereinbarte Zeichen und singt (Nr. 13: Sulima446): Geliebter, wo zaudert Dein irrender Fuß? Die Nachtigall plaudert Von Sehnsucht und Kuß. Es flüstern die Bäume Im Goldenen Schein, Es schlüpfen mir Träume Zum Fenster herein. Ach! kennst du das Schmachten Der klopfenden Brust? Dies Sinnen und Trachten Voll Qual und voll Lust? Beflügle die Eile Und rette mich dir, Bei nächtlicher Weile Entfliehn wir von hier. Die Segel sie schwellen, Die Furcht ist nur Tand: Dort, jenseits der Wellen Ist väterlich Land. Die Heimat entfliehet; – So fahre sie hin! Die Liebe, sie ziehet Gewaltig den Sinn. Horch! wollüstig klingen Die Wellen im Meer,
446
Dem Titelblatt hat Brahms zum besseren Verständnis des Liedes die Überschrift Sulima gegeben. Er weist also explizit darauf hin, dass es sich nicht um das sehnsuchtsvolle Klagen von Magelone handelt, sondern um die Figur der Sultanstochter, um die ‚andere‘ Frau im Sinne von orientalisch-fremd.
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Sie hüpfen und springen Mutwillig einher, Und sollten sie klagen? Sie rufen nach dir! Sie wissen, sie tragen Die Liebe von hier.
Sulima singt, auf Peter wartend, von ihren Sehnsüchten, Träumen, Erwartungen und Gefühlen: Sie sehnt sich nach Küssen, ihre Brust schmachtet, ihre Sinne sind voll Qual und Lust. Sie will mit ihm in sein väterliches Land fliehen. Und selbst im Rauschen der Wellen hört sie wollüstigen Klang. Dieses offene Bekenntnis der Frau zu Wollust, Sehnsüchten, Träumen und lustvollem Trachten ist für Peter (und für Brahms) eher befremdend, so jedenfalls suggeriert es die Vertonung.447 • • • • • • • • • •
Vorspiel Strophe 1 Strophe 2 Strophe 3 Strophe 4 Strophe 5 Strophe 6 Strophe 7 Strophe 8 Nachspiel
X A und Zwischenspiel X0 A B C und Zwischenspiel X A und Zwischenspiel X0 A B0 (3 Takte variierend) C X (6 Takte) und X00 (7 Takte)
Das motivische Material der jeweiligen Strophen erfährt wenig variierende Gestaltung. Die Strophen 1, 2, 5 und 6 (A) sind identisch, ebenso das dazugehörige Zwischenspiel und die Strophen 4 und 8 (C). Selbst die Strophen 3 und 7 unterscheiden sich nur in der Vertonung der einen Zeile „sie hüpfen und springen mutwillig einher“ (T. 79–81). Zusätzlich entspricht das zweite Zwischenspiel wörtlich dem Vorspiel, das erste Zwischenspiel (X0 ) ist aus dem zweiten Teil des Vorspiels entwickelt und das Nachspiel beginnt wie das Vorspiel, endet dann doch in den letzten 7 Takten variierend. Unter allem liegt ein ostinater punktierter Rhythmus, der von Sechzehntelpausen unterbrochen wird, sich unerbittlich wiederholt, vorwärtsdrängt und eine permanente Unruhe vermittelt (Abb. 14). „Obwohl die Vertonung nicht gewisser kompositorischer Feinheiten entbehrt, soll das Lied gewollt leichtgewichtig, ja simpel-kunstlos wirken.“448 Auch für die Melodie der Singstimme ist der punktierte Rhythmus mitbestimmend, denn sie beginnt auftaktig mit einer Sechzehntelnote, gefolgt von häufig punktierten Achteln und Sechzehnteln auf eine Viertel, die dann wieder von einer
447 448
Vgl. Boyer: Magelone poetry, Fußnote Nr. 52, S. 283 und Stark: Solo songs, S. 105. Jost: Brahms und die romantische Ironie, S. 51.
132
Abb. 14
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Sulima. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/13, T. 1–19
Pause (Achtel oder Sechzehntel) unterbrochen werden. Lediglich bei der Wiederholung der letzten Verszeile der A-Liedstrophen schwingt sich die Melodie zu einer lyrischeren Phrase auf, die vom Bass des Klaviers in Legato-Vierteln unterstützt werden. In den B-Liedstrophen steigt über einem E-Orgelpunkt die Dynamik über einem Crescendo, das in den C-Liedstrophen über einem H- bzw. E-Orgelpunkt ein Forte erreicht. Die Singstimme wiederholt die letzte Gedichtzeile wieder
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
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in einem lyrischeren Duktus (Viertelschritte), die ebenfalls im Klavierbass durch Viertel-Oktavklänge unterstützt werden. Zu Beginn des Zwischenspiels (X) bzw. des Nachspiels fällt die Lautstärke vom Forte zum Piano ab. Bis auf die beiden CStrophen verbleibt das Lied im Piano-Bereich, die Vortragsanweisung für die Singstimme lautet „Zart, heimlich“. Das Lied steht in E-Dur und somit auch tonartlich weit entfernt von Magelones f-Moll. Bereits das 12-taktige Vorspiel bringt in den Takten 6 bis 9 dissonante Klänge,449 die dem unruhigen Rhythmus noch innere Spannung verleihen. Sulima als eine von ihren leidenschaftlichen Gefühlen überwältigte Frau, die schmachtend und sehnsuchtsvoll auf ihren Geliebten wartet, wird von Brahms durch die Art seiner Vertonung als eine von innerer Unruhe, innerem Getriebensein gequälte Liebende dargestellt, der es kaum noch gelingt, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Obwohl sie heimlich am Strand auf Peter wartet, sie sich also in einer gewissen Gefahrensituation befindet, bricht sie mehrfach zu einem ForteGesang aus, wenn sie an die bevorstehende gemeinsame Flucht (4. Strophe) denkt und den in ihren Ohren wollüstig rufenden Wellen lauscht, die ihre gemeinsame Liebe tragen werden (8. Strophe). Auch ihre lyrischeren Wiederholungen der letzten Zeilen der A-Liedstrophen zeigen ihre intensiven Gefühle450, die sich immer wieder Raum verschaffen. Zwischen diesen Passagen wird sie von einer inneren Unruhe und Spannung gequält, die in Erwartung der bevorstehenden Flucht für sie kaum mehr zu ertragen sind. Im Vergleich zu den vorherigen Liedern vermittelt dieses Lied einen vollkommen fremden Ton, der das ‚Andere‘, weil ExotischOrientalische der Sulima-Figur451 auch musikalisch hörbar werden lässt. Das Lied sollte den Geliebten zu ihr bringen, aber es wird spürbar, dass das Lied zu bizarr und unlyrisch ist, um Peter damit zu fesseln. Es wirkt eher belästigend und unangenehm als verlockend oder verführerisch, so dass ihr Plan, mit diesem Lied Peter zu sich zu locken, scheitert – „ihr Wesen, repräsentiert durch den hüpfenden punktierten Rhythmus, zerstört den Schein und kann Peter nicht täuschen.“452 Und bei Tieck heißt es: Peter, der diese Musik hört, meint, „Liebe wollte ihn rückwärts ziehn,
449 450 451 452
Takt 6: A-Dur-Septakkord mit verminderter None und fehlendem Grundton; eis-gis-h als Cis-Dur-Septakkord mit fehlendem Grundton als Zwischendominante zum folgenden fis-Moll, dessen Quinte sofort zum C tiefalteriert wird. Strophe 1: Sehnsucht und Kuss; Strophe 2: zum Fenster hereinschlüpfende Träume; Strophe 5: das herbeigesehnte väterliche Land, in dem sie mit Peter leben will; Strophe 6: die von der Liebe überwältigten Sinne. Vgl. hierzu die musikalische Personencharakterisierung der orientalischen Zauberin Armida in der Rinaldo-Kantate op. 50 (Kapitel 4.3). Von Armida muss sich der Held Rinaldo ebenso losreißen, wie Peter sich von Sulima zu trennen hat. Jost: Brahms und die romantische Ironie, S. 52.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Liebe trieb ihn vorwärts“453; der Gesang aber wird immer schwächer und er fasst wieder neuen Mut (Nr. 14: Wie froh und frisch mein Sinn sich hebt). „Hatte Tiecks Dichtung Sulimas Liebe als wirkliche Alternative zu der von Magelone darstellen wollen, so distanziert sich Brahms musikalisch sehr nachdrücklich von dieser Ausrichtung.“454 Vergleicht man die musikalische Charakterisierung Sulimas mit der Magelones, dann fallen neben Gemeinsamkeiten wie ostinate Begleitfiguren, Orgelpunkt, (variiertes) Strophenlied mit geringen Kontrasten bzw. geringer variierender Gestaltung markante Unterschiede auf: Magelones Melodie ist lyrisch und gesanglich, Sulimas Melodie ist kurzphrasig, mehr rhythmisch als gesanglich. Die Begleitung von Magelones Gesang ist trotz phasenweiser Orgelpunkte und ostinater Anlage abwechslungsreicher (Viertel-Halbe, Achtelbewegungen, Sechzehntel-Nachschläge), Sulimas Lied durchläuft vom ersten bis zum letzten Takt der vorwärtsdrängende punktierte Rhythmus. Fünf Crescendi zum Forte und dynamisches An- und Abschwellen im Sulima-Lied stehen in einem Gegensatz zum ständigen Piano von Magelone, das nur in zwei Takten kurz unterbrochen wird. Daneben besitzt Magelone einen um eine große Terz nach unten ausgeweiteten Stimmumfang (C¹–F²) als Sulima (E¹–Fis²), den man als eine größere Tiefe ihrer Empfindungen interpretieren kann. Die Tonarten der Lieder – f-Moll für Magelone und E-Dur für Sulima – machen den großen Abstand zwischen den beiden Frauen deutlich. Brahms unterstreicht durch seine musikalische Charakterisierung, dass die sanft resignierende, sich mit ihrem Schicksal abfindende und in treuer Liebe ausharrende Magelone die ‚richtige‘ Frau für Peter ist, während die drängende, fordernde, aktive, leidenschaftlich deklamierende Sulima fremd und damit negativ gezeichnet wird. Sie zu wählen, wäre aus Brahms’ Sicht die ‚falsche‘ Wahl. Damit unterstreicht die Musik die Fremdartigkeit Sulimas, die in der tieckschen Erzählung an ihrer ethnischen Herkunft festgemacht ist. Exotismus und Orientalismus zählen zu den beliebten Topoi des 19. Jahrhunderts455, zu denen das Stereotyp der orientalischen Frau mit ihren Attributen wie verführerisch, leidenschaftlich bis freizügig, gefährlich und listig ebenso gehört wie der despotische, korrupte und brutale Herrscher oder der weise und gute Orientale.456 Das Stereotyp der ‚orientalischen Frau‘ steht auch bei Brahms für eine aktive, leidenschaftlich-verführerische Frau, die als fremdartig dargestellt und abgelehnt wird. Dem steht die nach der Trennung von Peter passiv-wartende, resignierende Magelone gegenüber, die im Sinne der Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts für das Stereotyp der treuliebenden 453 454 455 456
Tieck: Schöne Magelone, S. 49. Jost: Brahms und die romantische Ironie, S. 52. Vgl. das Kapitel Exotismus, Folklorismus, Archaismus, in: Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 252–261. Vgl. Said: Orientalism; Kreutziger-Herr: Oper als Diskursfeld.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
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(Ehe-)Frau steht. In der Gegenüberstellung Magelone – Sulima ist die Aufspaltung des Frauenbildes in Heilige457 und Hure implizit enthalten. Das Sujet der ‚orientalischen‘ Frau als Verführerin tritt demnach nicht nur in den Opern des 19. Jahrhunderts auf, sondern auch in den Liedern und – wie in Kapitel 4.3 ausführlich gezeigt wird – in der Rinaldo-Kantate op. 50 von Johannes Brahms. Das ‚Andere‘ und ‚Fremde‘, das es zur eigenen (männlich-bürgerlichen) Identitätsfindung abzuwehren gilt, wird von einer aktiven, verführerischen Orientalin repräsentiert. Das ‚Andere‘ und ‚Fremde‘, für das der Gesang Sulimas einsteht, ist wie der Exotismus und Orientalismus schlechthin „ein Zeichen dafür, daß nicht die ursprüngliche ethnische Substanz der Phänomene, sondern vielmehr deren Differenz von der artifiziellen Musik Europas und die Funktion, die sie als Abweichung von der Norm innerhalb des europäischen Systems erfüllen, die ausschlaggebenden Momente sind.“458 Ohne expliziten Rekurs auf orientalische Klangfarben drückt Brahms die Abweichungen Sulimas von der Geschlechternorm des 19. Jahrhunderts durch eine musikalische Charakterisierung aus, die konträr zu der musikalischen Personencharakterisierung Magelones steht. Das Liebeswerben von Sulima ist nicht erfolgreich, sie bleibt allein am Strand zurück. Auch Peters Liebeswerben wurde bisher vom Schicksal durchkreuzt. Erfolgreiches männliches Liebeswerben zeigt Brahms’ Vertonung im Lied Willst du, daß ich geh’ op. 71/4 auf ein Gedicht von Karl Lemcke, erschienen 1877. Auf der Heide weht der Wind – Herzig Kind, herzig Kind – Willst du, daß trotz Sturm und Graus In die Nacht ich muß hinaus – Willst du, daß ich geh’? Auf der Heid’ zu Bergeshöh’ Treibt der Schnee, treibt der Schnee, Feget Straßen, Schlucht und Teich Mit den weißen Flügeln gleich. Willst du, daß ich geh’? Horch, wie klingt’s herauf vom See Wild und weh, wild und weh! An den Weiden sitzt die Fei Und mein Weg geht dort vorbei – Willst du, daß ich geh’? Wie ist’s hier in deinem Arm Traut und warm, traut und warm;
457 458
Dazu passt die sozialengagierte Tätigkeit Magelones bei der Pflege Schiffbrüchiger und ihre Unterstützung des Schäferpaares. Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 257.
136
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik Ach wie oft hab’ ich gedacht: So bei dir nur eine Nacht – Willst du, daß ich geh’?
Das sprechende Ich dieses Gedichts ist mit der geliebten Person zusammen und verleiht nun seinem Wunsch nach „nur einer Nacht“ bei ihr Ausdruck. Die Anrede „herzig Kind“ in der zweiten Zeile der ersten Strophe und das nächtliche Freien können dahingehend interpretiert werden, dass es sich um ein männliches Subjekt handelt. Um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, beschreibt er seiner Geliebten zunächst die Gefahren, die ihm drohen, sollte sie ihn vor die Tür setzen (Sturm und Graus, Schneetreiben, verführerische Gesänge der Fee), und verknüpft dies mit der Frage, ob sie wirklich wolle, dass er geht. In der vierten Strophe besingt er die Wärme und Sicherheit in ihren Armen, die damit den Gefahren der Welt gegenübergestellt werden. Er formuliert seinen schon seit längerem gehegten Wunsch, die Nacht bei ihr verbringen zu dürfen. Das Gedicht lässt die Antwort der Frau auf die drängenden Fragen des Mannes offen – aber im Lied antwortet die Musik quasi nonverbal. Zunächst findet die Intensität der Verse ihren Ausdruck in der leidenschaftlichen Gestaltung des Liedes: schnelles Tempo, Nachschläge und quasi fragend formulierte aufsteigende Phrasen. Das schnelle Tempo zu Beginn jeder Strophe – Wind, Sturm, Schneetreiben, Wehklagen der Fee am See symbolisierend – verlangsamt sich, chromatische Alterationen und die im Klavierzwischenspiel auf verschiedenen Tonstufen mehrfach antizipierende Melodie bereiten die bittende, dann immer stärker drängende Frage des Mannes vor, die refrainartig am Ende jeder Strophe erscheint, dabei vom Fis¹ bzw. Dis¹ aufwärts führend zum E² bzw. D². In der vierten Strophe (Abb. 15) schließlich findet ein Wechsel von d-Moll nach D-Dur statt, der auch einen Wechsel in seiner Strategie und seine Siegesgewissheit verdeutlicht.459 Sein oft empfundener Wunsch, bei ihr nur eine Nacht bleiben zu dürfen, erfährt musikalische Betonung, indem auf „eine“ (Nacht) zunächst ein Quintsprung zum Fis² erfolgt und dann mit einem Septsprung zum A² auf der Wiederholung von „nur eine Nacht“ der höchste Ton des Liedes erreicht wird. Dann wird der Refrain („Willst du,daß ich geh’?“) durch eine Fermate gedehnt vorgetragen. Die letzten vier Takte, Lebhaft und forte, stellen die Frage ein letztes Mal, diesmal in einem höherem Register (D² beginnend und zum Schluss ein Sextsprung zum Fis²). Seine Selbstsicherheit wird durch erneutes Ausdehnen der Phrase und das Beenden der synkopischen Begleitfigur zum Ende der ‚Frage‘ unterstützt. Die letzten Akkorde klingen freudig aus, so dass kein Zweifel darüber besteht, dass er diesmal in ihren Armen die Nacht verbringen darf.
459
Platt: Text-music relationship, S. 211: “The final segment [...] suggests the resolution of the conflict between the man and woman.”
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Abb. 15
137
Willst du, daß ich geh? op. 71/4, T. 32–44
Die erotische Intensität des Gedichts, seine Direktheit der Sprache und die in ihrer Überzeugungskraft gesteigerten Überredungsversuche des Mannes werden von Brahms durch das schnelle Tempo, die Erregung hervorrufenden Nachschläge
138
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
und fragend-aufsteigenden Einwürfe aufgegriffen. Der Wunsch des Mannes, endlich einmal die Nacht bei ihr verbringen zu dürfen und nicht nach gemeinsamen Liebesstunden hinausgeschickt zu werden, ist so stark und überwältigend, dass er ‚alle Register zieht‘, ihn durchzusetzen. Brahms’ Musik schildert ihn als einen selbstsicheren, seinen Willen behauptenden Mann, der es geschickt versteht, die Frau zu überreden. Er fragt dabei nicht nach ihren Wünschen, sondern stellt sich und seine Bedürfnisse in den Vordergrund. Es scheint, als habe die Frau in dieser Situation der Stärke seines Willens nichts entgegenzusetzen. Dieses Lied fand Elisabeth von Herzogenberg „ganz unsympathisch, schon den Worten nach. Solche Vorwürfe verträgt man eigentlich nur in volkstümlicher Behandlung. [...] – aber dieses hat einen unangenehmen Stich.“460 Lieder, die eine erotisch-sinnliche oder anzügliche Situation schilderten, wie etwa Vor dem Fenster op. 14/1 (Volkslied), in dem der junge Mann offen bekennt: „So will ich diese Nacht gehn’ freien / Wie ich zuvor auch hab’ getan“, konnten toleriert werden, weil – so die Meinung von Siegfried Kross – „dies im romantisierenden Verständnis der Zeit als Volkslied ähnlich dem Märchen von einem Zustand völliger Unschuld zu handeln schien [...].“461 Ich würde in diesem Zusammenhang weniger von „Unschuld“ sprechen als vielmehr von der Verknüpfung des Volkslied-Topos mit dem Topos des Natürlichen bzw. der Natur. Das Volkslied als das in einem ‚natürlichen‘ Duktus vom Volk gesungene Lied steht dabei als Gegenpol zu einem kulturell überformten, artifiziellen Gesang. Zur ‚Natürlichkeit‘ des Volkes gehört ebenso seine direktere Nähe zu allem Körperlichen inklusive Erotik und Sexualität, so dass im Volkslied eine größere Freizügigkeit akzeptiert werden konnte. Dieser Aspekt verbindet den Topos des Volksliedes, verstanden als Volksmusik im Sinne von Folklorismus mit dem des Exotismus bzw. Orientalismus, weil beide als different zur artifiziellen Kunstmusik und zur bürgerlichen Kultur gedacht wurden:462 Sie repräsentieren das ‚Andere‘ und das ‚Fremde‘. Die Abweichung im Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität im Volkslied und in orientalisch-assoziierten Sujets diente zur Projektion der eigenen Sehnsüchte oder Ängste in Bezug auf das ‚Andere‘, konnte aber für Elisabeth von Herzogenberg nur als außerhalb von eigenen bürgerlichen Geschlechterkonzepten stehend toleriert werden. Brahms jedoch beschränkte seine Liedsujets mit sinnlich-erotischen Inhalten nicht auf die Gattung
460 461 462
Brahms: Briefwechsel mit H. und E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 27. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 269. Vgl. Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 257: „Exotismus und Folklorismus in der Musik des 19. Jahrhunderts [wurden] mit einer Tradition verknüpft, die dem Hauptstrom der kompositionstechnischen Entwicklung gleichfalls entgegenläuft: mit der Tradition des musikalischen Naturbildes. Der Konnex ist durch Gewöhnung so eng geworden, daß es kaum noch auffällt, wie wenig selbstverständlich strenggenommen die Assoziation von Volksmusik mit musikalischer Landschaftsmalerei ist.“
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des Volksliedes, sondern integrierte sie in seine Liederhefte und machte sie damit zu einem Bestandteil des bürgerlichen Konzertbetriebes sowie der Salon- und Hausmusik. Körperlichkeit und Sexualität sind so nicht mehr nur Themen des ‚naturverbundenen‘ Volkes, sondern sie sind als Grundkonstanten menschlichen und damit auch des bürgerlichen Lebens nicht von rein geistig-metaphysischen Liebesgefühlen zu trennen. Die Reaktionen von Elisabeth von Herzogenberg oder von Theodor Billroth, der seinen Töchtern einige Lieder von Brahms vorenthielt, zeigen, dass diese direkte Thematisierung brüskierte, vermutlich weil Brahms mit seinen sinnlich-erotischen Kunstliedern eine Art Grenzüberschreitung in Fragen der (bürgerlichen) Sittlichkeit und Moral beging. 4.1.3.6
Hymne auf die treue Liebe
Nach einigen Abenteuern strandet Peter an einem fremden Ufer und wird zu einer Hütte gebracht. Dort findet er endlich Magelone wieder, gemeinsam reisen sie zu seinen Eltern und heiraten. An dem Ort ihres Wiedersehens baut Peter einen Sommerpalast, in dessen Garten sie einen Baum pflanzen und alljährlich gemeinsam folgendes Lied (Nr. 15: Treue Liebe dauert lange) singen: Treue Liebe dauert lange Überlebet manche Stund, Und kein Zweifel macht sie bange, Immer bleibt ihr Mut gesund. Dräuen gleich in dichten Scharen, Fordern gleich zum Wankelmut Sturm und Tod, setzt den Gefahren Lieb entgegen treues Blut. Und wie Nebel stürzt zurücke Was den Sinn gefangen hält, Und dem heitern Frühlingsblicke Öffnet sich die weite Welt. Errungen, Bezwungen Von Lieb ist das Glück, Verschwunden Die Stunden, Sie fliehen zurück; Und selige Lust, Sie stillet, Erfüllet Die trunkene, wonneklopfende Brust, Sie scheide Von Leide Auf immer,
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik Und nimmer Entschwinde die liebliche, selige, himmlische Lust!
Peter und Magelone singen einstimmig in diesem Lied eine Hymne auf die treue Liebe, deren Mut gesund bleibt und die den Gefahren des Lebens trotzen kann. Nur mit dieser starken und treuen Liebe kann das Glück errungen werden, so dass für immer „liebliche, selige, himmlische Lust“ empfunden werden kann. Das Lied463 steht wie das erste Lied in Es-Dur und beginnt „Ziemlich langsam“ im Piano mit einer hymnenähnlichen Deklamation auf „Treue Liebe“ (Abb. 16). Erst die zweite Zeile wird durch rhythmische Aktivität etwas belebt. Ein Wechsel zum 3/4-Takt bringt durchgehende Achteltriolen in der Begleitung (bis T. 36), so dass durch Achtel in der Singstimme eine gewisse Unruhe entsteht. Die zweite Strophe weist ihrem Inhalt (Wankelmut und Sturm) entsprechend Mollharmonien auf. Der „Tod“ wird mit h-Moll harmonisiert, die ihm entgegengesetzte „Liebe“ steht in strahlendem H-Dur. Die Strophe verbleibt dann in H-Dur und wird durch enharmonische Verwechslung (E-Dur / Fes-Dur) nach Es-Dur zurückgeführt, das nach einer kurzen Generalpause umso klärender erreicht wird, passend zur inhaltlichen Aussage des Beginns der dritten Strophe: „Und wie Nebel stürzt zurücke“. Diese Strophe wird melodisch dem Anfangsthema entnommen, später auch wie in der ersten Strophe treten die Achteltriolen hinzu. Nach einer Fermate beginnt im Alla-Breve-Takt und „Lebhaft“ die vierte Strophe, eine aufsteigende Vokallinie
Abb. 16
463
Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/15, T. 1–12
Vgl. Stark: Solo songs, S. 108f.
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
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erweckt Freude; Viertel gegen Viertel-Triolen in der Begleitung bewirken wachsende Erregung. In Takt 72 wird im Forte, ad libitum nach einer ganzen Note G² das As² zu den Worten „wonneklopfende Brust“ ein erster Höhepunkt erreicht. Wieder im schnellen Tempo setzten Achtelbewegungen in der Begleitung ein und unterlegen die in Halben und Ganzen ausgesetzte Zeile „Auf immer, und nimmer“. „Nimmer“ wird auf aufsteigenden Tonstufen (vom C² über E² und F² zum As²) viermal wiederholt. Ebenso erfährt „himmlische Lust“ eine besondere Betonung, indem diese Phrase viermal vorgetragen wird, dabei auch eine Steigerung erfahrend (vom Es¹ über B¹ zum As²). Bei der vierten Wiederholung wird das Selige der Lust erneut auf As² hervorgehoben. Insgesamt sind es die Begriffe „Brust“ – „nimmer“ – „Lust“ – „selige“, die durch den höchsten Ton464 des letzten Liedes betont werden. Die hymnenähnliche Melodie des Beginns und die mit ihr verbundene erste Zeile der ersten Strophe werden zum Abschluss noch einmal wiederholt, brechen dann aber ab, um mit der zuletzt gehörten, durch Wiederholungen betonten letzten Phrase kombiniert zu werden (Abb. 17). Dieser von Brahms zusammengesetzte und dem Lied hinzugefügte Text („Treue Liebe dauert lange, sie scheide von Leide, und nimmer entschwinde die liebliche, selige, himmlische Lust!“) stellt sein Resümee des gesamten Werkes dar. Brahms macht mit seinen textlichen Eingriffen und durch die Art seiner Vertonung deutlich, dass die treue Liebe dem Schicksal gemeinsames Glück abtrotzen könne. Er benötigt für die letzten vier Zeilen des Gedichts („Sie scheide vom Leide ...“) 39 Takte zuzüglich der vier Takte für die Wiederholung der ersten Gedichtzeile. Seine Vertonung der treuen Liebe und das Genießen der seligen Lust nimmt mehr als ein Drittel des gesamten Liedes ein und betont die Quintessenz der Liebesgeschichte: „Die Pointe des frühromantischen Liebesbegriffes bei Tieck, die Lehre der Schönen Magelone, ist [...]: Die Zauberkraft der Liebe ist anfällig und schon vor ihrer Zeit zerstörbar.“465 Peter und Magelone können die ‚wahre Liebe‘ erst nach ihrer je eigenen Odyssee erleben, „auf der sie sich als Schwärmer zu ihrer Liebe bekennen und für einander bewähren lernen.“466 Dabei erweckt Brahms’ Hymne auf die treue Liebe im Vergleich etwa zur Schlussszene in Beethovens Fidelio einen verinnerlichteren Eindruck, trotz der Forte-Passagen, die nur beim Beschwören der „himmlischen Lust“ über mehrere Takte anhalten, dann aber schnell zurückgenommen werden. Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, dass das „Hauptthema“ der treuen Liebe im Piano bzw. im Pianissimo erklingt und das
464 465 466
Daneben wird das zweigestrichene As nur im ersten Lied auf „Fräulein“ und im zehnten Lied auf „grausame Meer“ und „verlorener Mann“ erreicht. Rath: Vergessene Liebe bei Tieck, S. 156. Rath: Vergessene Liebe bei Tieck, S. 167.
142
Abb. 17
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/15, T. 101–116
Lied nach einer letzten Steigerung („selige, himmlische“) im Piano („Lust“) endet. Brahms hebt darüber hinaus hervor, dass in seiner Vorstellung eheliche Liebe untrennbar verknüpft ist mit der beglückenden Erfahrung von seliger Lust. Dies betont und wiederholt er im letzten Drittel des Liedes immer wieder. Der Komponist geht in seinem Lied nicht auf, sondern blickt von höherer Warte auf die Magelonen-Welt herab. Gern gibt er sich mit der ‚naiven‘ Ritterromantik ab; einfühlsam geht er den ‚sentimentalen‘ Gemütsverwirrungen der Liebenden nach; [...] Zugleich aber macht er deutlich, daß die Magelonen-Welt, indem er sie sich künstlerisch anverwandelt, nicht die Welt ist – wie könnte sie es auch angesichts der ihr schon von Tieck verordneten Brechungen sein! [...] Dennoch sind die Lieder des op. 33 alles andere als kompositorische Stil- oder Fingerübungen. Vielmehr machen sie deutlich,
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
143
was dem Künstler in dieser Situation möglich ist – an Identifizierung, Distanzierung, wohlwollender oder ironischer Kommentierung.467
Auch in Bezug auf die vermittelten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit zeigen weder die Romanzen op. 33 noch Klavierlieder im Allgemeinen ‚die‘ Welt, vielmehr sind die Lieder als Imaginationen zu verstehen. Die Magelonen-Romanzen entführen in die ‚gute alte Zeit‘ der Ritter und Prinzessinnen und verbinden auf dieser stilisierten Ebene Ritterromantik und Mittelalter-Sehnsucht zu einem Zufluchtsort,468 auf den die erträumten, erhofften Ideen projiziert werden konnten. Insofern sind die Lieder kein Abbild bürgerlicher Geschlechter-Wirklichkeit, wohl aber ein Abbild der als ideal gedachten oder erträumten Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, in denen bürgerliche Geschlechter-Normen des 19. Jahrhunderts zitiert, aber auch erweitert werden.
4.2
Mütterlichkeit und Trost
Ein Einziges auf Erden ist nur schöner und besser als ein Weib ... Das ist die Mutter.469
Diesen Satz aus einem zeitgenössischen Roman von Leopold Schefer notierte Brahms in sein Schatzkästlein und machte damit deutlich, dass für ihn – wie für die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit – die Frau, die ihren mütterlichen Pflichten und damit ihrer ‚natürlichen‘ Bestimmung nachkam, das höchste Ansehen genoss, denn: „In der Mutterschaft vollendet die Frau ihr physiologisches Schicksal. In ihr liegt ihre ‚natürliche‘ Berufung, da ihr ganzer Organismus auf die Fortpflanzung der Art ausgerichtet ist.“470 Barbara Vinken hat in ihrem Buch über die deutsche Mutter herausgearbeitet, wie seit der Reformation im deutschsprachigen Gebiet Europas die patriarchale Familie zur einzig möglichen Lebensform avancierte, in der der Mann als das Oberhaupt der Familie diese ökonomisch absicherte und nach außen repräsentierte, und Mutterschaft „zur ‚natürlichen‘ Bestimmung und Berufung jeder Frau, auch oder gerade der gebildeten und tugendhaften Frauen“471 wurde. Demgegenüber definierte sich der Mann über seinen Beruf, was andere Verhaltensmuster erforderlich machte. „Diesen entsprechend demonstrierten die Väter im späteren 19. Jahrhundert emotionale Distanziertheit, Ernsthaftigkeit und
467 468 469 470 471
Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 198, Hervorhebung im Original. Vgl. ausführlicher hierzu Kreutziger-Herr: Traum vom Mittelalter. Krebs: Schatzkästlein, S. 30, Hervorhebung im Original; Leopold Schefer (1784–1862): Violante Beccaria. Der Sclavenhändler. Die Perserin. Berlin 1845 (Leopold Schefer’s ausgewählte Werke; Theil 5). Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 469. Vinken: Deutsche Mutter, S. 117.
144
Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik
Strenge [...], bis sie als strenge, unnahbare Autoritäten im Hintergrund der Familie standen.“472 Aus theologischer (Luther), philosophischer (Rousseau) wie aus pädagogischer Sicht (Pestalozzi) wurde die körperliche Prädisposition der Frau, Kinder gebären und stillen zu können, als ‚natürliche‘ Begründung dafür angesehen, den Frauen das Haus und die Aufzucht der Kinder zu übertragen. Die Mutter-Kind-Beziehung wurde als genuiner Bestandteil des weiblichen Wesens postuliert, die diese ebenso pflichtbewusst zu erfüllen habe wie der Mann seine außerhäuslichen beruflichen Verpflichtungen.473 „Unter dem Einfluß der pädagogischen Theorien Pestalozzis und vor allem Fröbels setzte sich eine differenziertere Definition des Wesens der Frau durch, die Weiblichkeit weitgehend mit Mütterlichkeit gleichsetzte“474 und die unter dem Begriff „Geistige Mütterlichkeit“ zu einer Forderung der bürgerlichen Frauenbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts avancierte. Eine Frau, die sich ihrer ‚natürlichen‘ Bestimmung widersetzte, wurde ebenso wie eine untreue Frau als ‚unnatürlich‘ empfunden und entsprechend verurteilt. Rousseau schreibt in seinem Emile: „die untreue Gattin [...] löst die Familie auf und zerreißt alle Bande der Natur“475 und eine schöngeistige Frau, die ihre weiblichen Pflichten verabscheue, wirke überall lächerlich und setze sich einer gerechten Kritik aus:476 „weder ein Schielen nach öffentlicher Anerkennung noch eine Überschreitung der Grenzen der natürlichen Geschlechterbestimmung [würde] jemals das persönliche Glück [...] befördern können.“477 Eine Mutter begeht keine funktionalen Grenzüberschreitungen, sie erfüllt ihr biologisches Schicksal. Ihr Tätigkeitsfeld ist das private Haus, das die räumlichen Grenzen ihres Wirkungskreises festlegt. Indem also eine Frau Mutter wird, erfüllt sie den ‚Willen der Natur‘ und die an sie gestellten gesellschaftlichen Pflichten, sie nimmt ihr biologisches Schicksal an, stellt die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zurück und kümmert sich um die ihr anvertrauten Kinder. „Mutterschaft war zum Zeichen, ja zur Voraussetzung für die psychische und physische Gesundheit einer Frau geworden. In ihr lebte sie ihrer Natur am angemessensten und gottgefälligsten. Außerhalb der Ehe gab es für sie kein Heil.“478 Für Pestalozzi und seine Nachfolger
472 473 474 475 476 477 478
Trepp: Männerwelten privat, S. 47; siehe hierzu auch den Aufsatz von Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe. Vgl. Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe, S. 124. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 199. Rousseau: Emile, in: Doyé/Heinz/Kuster (Hrsg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 172. Rousseau: Emile, in: Doyé/Heinz/Kuster (Hrsg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 189. Honegger: Ordnung der Geschlechter, S. 24. Vinken: Deutsche Mutter, S. 142.
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„wurde Mütterlichkeit zum Inbegriff wahrer Liebe und damit zur höchsten aller Tugenden“479. Sie hoben ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung hervor, denn „die Mutter legt in der Herzensbildung des Kindes den Grundstein für das richtige Welt- und Gottesverständnis,“480 auf das alle weitere Bildung aufbauen kann. Damit wird der mütterlichen Arbeit kulturstiftende Bedeutung zugesprochen, so dass die Erfüllung der mütterlichen PflichtenVorrang vor anderen (künstlerischen, intellektuellen, ökonomischen usw.) Interessen der Frau erhielt. Für die weibliche Identität wurden „die Werte der individuellen Selbstverwirklichung und der familialen Fürsorglichkeit als einander ergänzend“481 angesehen. Den Vorrang der mütterlichen Pflichten gegenüber beruflichen oder künstlerischen Ambitionen hob auch Brahms in einem Brief an Joseph Joachim hervor. Nachdem Joachim ihm mitgeteilt hatte, dass seine Frau Amalie Joachim, eine der bedeutendsten Sängerinnen des 19. Jahrhunderts, ihn wegen ihrer Mutterpflichten nicht auf der geplanten Konzertreise begleiten könnte, schrieb Brahms zurück: „[...] freilich wär’s schön, wenn Deine Frau mitkäme, aber es gibt halt wichtigere Sachen als Lieder singen.“482 Um ein besonderes Konzept von Mütterlichkeit, nämlich um die Verknüpfung von Tod, Trauer und Angstbewältigung mit dem Topos der tröstenden Mutterfigur geht es in den nun folgenden Analysen des fünften Satzes aus dem Deutschen Requiem op. 45 und des Wiegenlieds op. 49/4. 4.2.1
Der 5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45
In seinem Deutschen Requiem, das vermutlich zwischen 1865 und 1868 entstanden ist,483 komponierte Brahms auf selbst zusammengestellten Texten aus der Bibel eine musikalische Meditation über den Tod.484 Es weist durchaus Parallelen zu
479 480 481 482 483
484
Vinken: Deutsche Mutter, S. 171. Vinken: Deutsche Mutter, S. 173. Allen: Feminismus und Mütterlichkeit, S. 70. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 2, S. 45 (Brief vom 22.8.1867). Im April 1865 müssen die Sätze eins, zwei und vier entstanden sein, der dritte Satz wahrscheinlich im Frühjahr und die Sätze sechs und sieben im Sommer 1866; im Mai 1868 erweiterte Brahms das Requiem um den fünften Satz (vgl. McCorkle: BrahmsWerkverzeichnis, S. 170f). Das Deutsche Requiem op. 45 und das Trio für Horn, Violine und Klavier op. 40 (ausführlicher zum Horn-Trio siehe Thompson: Re-forming Brahms; Revers: Tradition und Innovation; Dorschel: Es-Dur Trio op. 40 ) werden hinsichtlich ihrer Entstehung in einen Zusammenhang mit dem Tod der Mutter (1865) gebracht, insbesondere auch der nachkomponierte 5. Satz. Ebenso wird der Tod Robert Schumanns (1856) als auslösender Faktor für die Komposition des Requiems angesehen. Alle Annahmen über den Anlass zur Komposition (evtl. sogar der Bruch mit Agathe von Siebold im
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einer lateinischen Totenmesse auf, aber eine liturgische Verwendung war von Brahms nicht intendiert.485 „Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht nun der Hinterbliebene, der des Trostes bedarf, nicht der Verstorbene, dessen Schicksal Gegenstand angstvollen Interesses war.“486 Philipp Spitta sprach in diesem Zusammenhang dezidiert von „männlicher Trauer“487 als dem Grundton des Requiems und deutete damit an, dass für ihn die Auseinandersetzung mit Tod und Trauer im Requiem auf eine männliche Art und Weise erfolgt. Wie die „männliche Trauer“ durch den Topos der Mütterlichkeit getröstet werden kann, soll im Folgenden gezeigt werden. „Trost und Tröstung gehören [...] zum Begriffsgefüge des deutschen Requiems. Im ersten Satz ist davon die Rede, daß die Leidtragenden getröstet werden sollen. Im dritten Satz wird nach dem Tröster gefragt, und der nachkomponierte fünfte Satz ist ganz und gar auf den Gedanken der Tröstung gestellt.“488 Etymologisch gehört das altgermanische Substantiv „Trost“ zur indogermanischen Wortgruppe von „treu“ und bedeutet (innere) Festigkeit.489 Im Grimm’schen Wörterbuch findet sich folgende Erklärung: „die in der neueren zeit allmählich mehr und mehr vordringende bedeutung kann man umschreiben mit ‚festigkeit, die durch zuspruch als seelische stärkung gegeben oder erhalten wird‘ (eben ‚trost‘).“490 Trost ist also weniger eine sichtbare Hilfe als vielmehr eine seelische Stütze und Ermutigung. Auch im 5. Satz des Requiems sollen die trauernden RezipientInnen durch die Trost-Botschaft ihre innere Festigkeit zurück erhalten, die sie angesichts des Verlusts einer nahestehenden Person verloren haben. Neben dem Begriffsfeld Trost spannt sich die semantische Ebene des fünften Satzes auch um den Begriff der Traurigkeit. Das Verb ‚trauern‘, mittelhochdeutsch ‚trūren‘, ist wahrscheinlich verwandt mit den gotischen und altenglischen Verben „driusan“ und dem altenglischen „drūsian“, die so viel bedeuten wie sinken und kraftlos werden. „Seine eigentliche Bedeutung wäre demnach etwa ‚den Kopf sinken lassen‘ oder ‚die Augen niederschlagen‘ als typische Trauergebärde des Menschen.“491 Die Körpersprache eines trauernden Menschen ist abwärts gerichtet: Der Kopf, die Schultern sind gesenkt, die Augen niedergeschlagen oder hinter Händen verborgen. Der
485 486 487 488 489 490 491
Herbst 1858 oder der Preußisch-Österreichische Krieg 1866) bleiben jedoch Spekulation. Vgl. Heinemann: Requiem, S. 9ff. Heinemann: Requiem, S. 15. Spitta: Brahms, S. 413. Floros: Vergänglichkeit, Tröstung und Hoffnung, S. 52. Duden: Herkunftswörterbuch, S. 867f. Grimm: Grimm’sche Wörterbuch, Bd. 22, Sp. 901–948, hier Sp. 903. Duden: Herkunftswörterbuch, S. 861.
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Mensch verschließt sich in seinem seelischen Schmerz und kapselt sich von der Umwelt ab. Durch tröstende Worte des Solo-Soprans und des Chores erfährt nun der trauernde Mensch im 5. Satz des Deutschen Requiems Zuspruch sowohl auf der textlichen als auch auf der musikalischen Ebene. Sopran Ihr habt nun Traurigkeit, aber ich will euch wieder sehen und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. (Johannes-Evangelium 16,22) Sehet mich an: Ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt, und habe großen Trost gefunden. (Das Buch Jesus Sirach 51,35) Chor Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. (Das Buch Jesaja 66,13)
Verschiedene Subjekte, das Ich des Soprans und das Ich des Chores, wenden sich in direkter Rede an die Trauernden. Möchte man näher be-‚stimmen‘, wer sich hinter dem jeweiligen Ich verbirgt, so ist es erhellend, den biblischen Kontext in die Interpretation mit einzubeziehen. Das Ich des Chores kann unter Berücksichtigung des vorhergehenden Bibelverses (Jesaja 66,12: „Denn so spricht der Herr“) als die Stimme Gottes aufgefasst werden, die als der aktive Part die Trauernden wie eine Mutter trösten will. Auf den Gottesbezug des Chorgesangs weist Brahms jedoch nicht dezidiert hin, vielmehr überlässt er es den Zuhörenden, ob sie den Chor als im kollektiven Gesang erklingende Gottesstimme oder trostspendende Gemeinschaft auffassen. Hinter der ‚Stimme‘ des Chores steht also in einer doppelten Personifikation sowohl eine menschliche Gemeinschaft als auch die sich in der Gemeinschaft artikulierende Stimme eines mütterlich tröstenden Gottvaters. Im Verlauf des Satzes äußert der Chor fast schon beschwörend seinen Wunsch, mütterlichen Trost spenden zu wollen. Dabei lässt Brahms den Chor Satzteile („wie einen seine Mutter tröstet“ in T. 24f, 70f; „euch trösten“ in T. 36; „ich will euch trösten“ in T. 72–79) oder das zentrale Wort „trösten“ (T. 44– 48) wiederholen. Da der Chor und nicht eine Solo-Stimme den mütterlichen Trost spendet, wird die Wirkung des Trostes durch die Erfahrung der Gemeinschaft verstärkt. Brahms setzt im Chor sowohl Männer- als auch Frauenstimmen ein und macht damit die männlich-väterlichen und weiblich-mütterlichen Anteile der Gemeinschaft und der ‚Stimme‘ Gottes deutlich. Zudem betont er durch seinen Hinweis auf den mütterlichen Charakter des Trostes die – seiner Erfahrung oder Auffassung nach – be-
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sondere Emotionalität und Intensität der mütterlichen Zuwendung, die hier in der Konfrontation mit dem Tod eine besondere Relevanz erhält. Indem der Chor nämlich beständig auf den mütterlichen Trost hinweist, ruft er die Erinnerungen an die Liebe und Zuversicht spendende eigene Mutter und das durch sie erworbene Urvertrauen auf. Das Bild der Trost spendenden Mutter ist mit Implikationen und intuitiven Erinnerungen verbunden, die an positive Erfahrungen aus der Kindheit anknüpfen können. In einer schmerzhaften, traurigen Situation erfährt das Kind Zuspruch durch die Eltern – im 19. Jahrhundert, als die frühkindliche Erziehung ausschließliche Angelegenheit der Frauen war, erfuhren die Kinder Trost vornehmlich durch die Mutter oder andere weibliche Bezugspersonen. Diese nimmt das Kind in einer schmerzhaften Situation in den Arm, spricht ihm Mut zu und stellt in Aussicht, dass der Schmerz vergehen wird. Ihr tröstendes Verhalten vermittelt dem Kind, dass es nicht allein ist und es jemandem vertrauen kann. Es macht die Erfahrung, dass eine ‚schlimme‘ Lage veränderbar ist, und erwirbt so die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit und Bewältigung von Krisensituationen. Diese Erfahrung trägt zur Entwicklung einer (neuen) inneren Stabilität bei.492 Das beständige Trost-Zusprechen durch den Chor kann durch die Anknüpfung an die positiven Kindheitserfahrungen im Sinne eines Empowerments, einer SelbstBefähigung, verstanden werden. Mütterlichkeit und Gemeinschaft bzw. sich im Chorgesang artikulierende Gottesstimme sind zwei tröstende Aspekte, die Brahms im ausgewählten Bibeltext (Jesaja 66,13) und durch seine Vertonung als Chorsatz hervorhebt. In den Bibelstellen, die der Solo-Sopran singt, kommt nun eine weitere Dimension hinzu. Die Worte aus dem Johannes-Evangelium stammen aus den Abschiedsreden Jesu, die dieser beim letzten Abendmahl an seine Jünger richtet. In Johannes 16,22 kündigt Jesus seine baldige Wiederkehr an. Dieses Zitat verknüpft Brahms nun mit einem alttestamentarischen Spruch aus dem Buch Jesus Sirach (51,35), der dem apokryphen Abschnitt aus „Suchen nach Weisheit“ (Jesus Sirach 51,13) entnommen ist. Das Ich des Johannes-Evangeliums und das Ich aus dem Buch des Alten Testaments „werden verbunden nicht nur zu einem neuen inhaltlichen Kontext, sondern auch zu einem neuen Subjekt, das redet, – und zwar mit der Stimme einer Frau, des Solosoprans.“493 Die hohe Sopranstimme des ‚neuen‘ Subjekts ist hier nicht als eine sexualisierte Stimme, sondern als ätherisch-reine, engelsgleiche und entsexualisierte Stimme aufzufassen, so wie sie im ätherischen Klostergesang der Nonnen idealisiert gedacht ist. Das hohe Register des Soprans lässt ihn über dem Gesang des Chores schweben. Der Sopran wendet sich direkt an die Hinterbliebenen, berichtet von der Mühsal seines Lebens und stellt ein Wiedersehen in Aussicht. Er steht
492 493
Vgl. Schröder/Hößler: Trost durch Musik, S. 123. Vgl. Fladt: Bedeutung der Bedeutung, S. 234, Hervorhebung im Original.
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daher für die (geschlechtsneutrale) Stimme der Seele des verstorbenen Menschen – hierin den Sopranpartien in zahlreichen Kantaten von Johann Sebastian Bach vergleichbar, von denen Brahms einige in seiner Zeit als Leiter der Wiener Singakademie aufgeführt hat.494 Der Sopran sieht die Trauer und verspricht ein Wiedersehen sowie eine immer währende Freude (A-Teil). Im B-Teil erinnert er zweimal an die kurze mühselige und arbeitsreiche Zeit und daran, dass er großen Trost (im Tod) erfahren habe, der ihn von der Last des Lebens befreit habe. Die Worte aus dem Johannes-Evangelium werden wiederholt, wodurch eine ABA0-Form entsteht. Am Ende (T. 75–79) singt der Sopran auf den Worten des Chores („ich will euch trösten“) dreimal hintereinander „wiedersehen“ und verknüpft durch die Textkompilation den Trost mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen, also mit dem Glauben an ein Leben nach dem Tod. Die Niedergeschlagenheit der Trauernden wird auch musikalisch umgewendet. Zum einen durch die Gemeinschaftserfahrung der chorischen Gestaltung – der Gesang des Chores ist mit dem Gesang des Soprans verwoben, er greift musikalische Elemente des Soprans auf, beantwortet seinen Gesang responsorial oder dient als Hintergrund für die Sopranstimme –, zum anderen durch eine musikalische Faktur, die diesen Satz in G-Dur besonders auszeichnet. Die Melodie des dreitaktigen Orchestervorspiels beginnt auftaktig in den Violinen und Bratschen mit drei aufwärts gerichteten Achteln (Dreiklangsbrechung als Sextakkord), Celli und Kontrabässe steigen in Sekundschritten aufwärts; die Melodie des Soprans (T. 4–5) ist ebenfalls von aufwärts gerichteten Sekundschritten (D²–A²) geprägt und wird von einer über zwei Oktaven aufsteigenden Dreiklangsbrechung in Oktavparallelen der pizzicato spielenden Celli und Kontrabässe begleitet (Abb. 18). Dazu erklingen Soli der Holzblasinstrumente (Oboe, Flöte, Klarinette), die die Dreiachtel-Figur der Orchestereinleitung aufgreifen und fortspinnen, in Takt 8 steigt die Klarinette aus einer tiefen Lage empor, anschließend die Flöte. Der besondere Charakter der musikalischen Gestaltung des 5. Satzes liegt in seiner aufwärts gerichteten Faktur. Darin eingebunden sind kurze Seufzermotive (T. 5) und ein ‚Klopfmotiv‘ (T. 12), das als schicksalshaftes Pochen aufgefasst werden kann. Brahms hebt die Stärke der Trauer hervor, indem er sie dreimal
494
Vgl. BWV 21, 32, 49, 140, 145, 152, 172. Bach setzt den Sopran als „Seele“ ein, die sich als „Braut Christi“ mit Jesus, ihrem Bräutigam (Bass), vermählen möchte. Auch Nonnen sprechen von sich als der „Braut Christi“ und gehen einen ehelichen Bund mit ihm ein. Zu bedenken ist ebenso, dass zur Bach-Zeit die Sopran-Partien in den Kantaten von Knabenstimmen gesungen wurden (vgl. hierzu Dame: Zingend lichaam, S. 127–137).
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Abb. 18
5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45, T. 1–5
„wiederholt mit sukzessiv intensivierter Chromatik und verminderten Intervallen (T. 9ff).“495 Ein zweimaliges „aber“ leitet den Umschwung ein: Der Sopran singt die tröstenden Worte „ich will euch wiedersehen“ mit der aufwärts gerichteten
495
Heinemann: Requiem, S. 90.
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Dreiklangsbrechung aus der Orchestereinleitung und gibt der instrumentalen Einleitung nachträglich ihre semantische Bedeutung,496 von den Streichern espressivo unterstützt (auch hier Sekundaufgang des Basses). Der Chor („Ich will euch trösten“) greift diese Figur mit augmentierten Notenwerten auf und verleiht ihr eine choralartige Überhöhung.497 Somit wird das „Wiedersehens-Motiv“ (auftaktige, aufwärtsgerichtete Dreiachtelfigur mit Dreiklangsbrechung) bereits an dieser Stelle mit dem mütterlichen Trost verknüpft. Im B-Teil (T. 27–48) deutet die Modulation nach H-Dur (T. 32f) mit langen Notenwerten in der Singstimme auf den Worten „großen Trost“ an, dass der Trost nicht von dieser Welt sein wird, die Streicher begleiten mit Dreiklangsbrechungen, die an das „Wiedersehens-Motiv“ erinnern. Die Größe des Trostes zeigt sich auch darin, dass bei der variierten Wiederholung (T. 38–46) mit dem A² des Soprans ein Spitzenton erreicht ist, der nur noch durch das B² (T. 56; auf „Traurigkeit“) übertroffen wird. Im dritten Teil (Reprise des A-Teils) schildert der Sopran die Traurigkeit in einer gesteigerten Form (B² als Spitzenton), begleitet von vermehrten Seufzermotiven in den Bläsern (T. 50f) und dem ‚Klopfmotiv‘, alternierend gespielt von den Hörnern, tiefen Streichern und Fagotten (T. 55f) – vielleicht ein letztes Aufschluchzen, bevor der Schmerz durch den Trost eingedämmt werden kann (Abb. 19). Die Freude beim versprochenen Wiedersehen wird wiederholt und ausgeschmückt (T. 65–69). Verklingend versichert der Chor den Trost, als Hintergrund für die ebenfalls verklingenden Wiedersehens-Rufe des Soprans. Auf einem Diminuendo in den Streichern „nimmt die Klarinette den Schluß der Singstimme auf, übergibt den lichten Ton der Flöte“498, und in einem Pianissimo-Akkord in hoher Lage verliert sich der Satz (perdendo). Dabei gestaltet Brahms die Finalbildung im Sinne der Hoffnung versprechenden Textaussage, indem er erst in Takt 79 den Grundton der Tonika erreicht, ihr jedoch durch ein F in den Bratschen dominantische Wirkung verleiht, die nicht nach C-Dur aufgelöst wird (Abb. 20). Brahms bleibt in G-Dur und verweigert „damit die vom Ohr geforderte ‚regelgerechte‘ Auflösung [...]. Komponiert ist für Satz V kein eigentlicher Schluss, sondern ein ‚offenes‘ Ende.“499 Tröstender Zuspruch muss einfühlsam und sanft vermittelt werden, um die Trauernden zu erreichen: So trägt der Satz die Vortragsanweisungen dolce und espressivo und verzichtet auf den Einsatz der Pauke und der Blechblasinstrumente, die Violinen spielen den gesamten Satz über con sordino, die Lautstärke bleibt im
496 497 498 499
Vgl. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 530. Vgl. Heinemann: Requiem, S. 90. Heinemann: Requiem, S. 92. Bolin: Traditionen im ‚Deutschen Requiem‘, S. 212.
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Piano-Bereich, der durch häufige Diminuendi zu Pianissimo und Piano-Pianissimo – bis auf ein einmaliges Mezzoforte in Takt 33 (auf die Worte „großen Trost“) – sehr zurückgenommen wirkt. Die Tonart G-Dur hat „in keiner Weise semantischen
Abb. 19
5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45, T. 51–57
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bzw. tonartensymbolischen Bezug zum Affekt-Bereich des Traurigen“ und wirkt in ihrer „klanglichen Inszenierung [...] wie ein ausinstrumentiertes lontano, mit seiner gebrochenen ‚instrumentalen Präsenz‘ nicht ganz von dieser Welt.“500 Nur in diesem Satz ist der Solo-Sopran gefordert, die Sätze eins, zwei, vier und sieben sind reine Chorsätze, in den Sätzen drei und sechs kommt ein Bariton-Solo hinzu. Der Sopran erreicht in seiner Melodie immer wieder Spitzentöne (G², A², As² und B²) und verbleibt insgesamt in einem hohen Register. Das „WiedersehensMotiv“, die Begleitung sowie das melodische Material des Soprans sind von einer aufsteigenden Melodik geprägt. Damit erreicht Brahms eine klangliche Aufrichtung, eine aufwärts gerichtete musikalische Öffnung. Die Niedergeschlagenheit der Trauer, die mit einer abwärts gerichteten Körperhaltung verbunden ist, wird so klanglich umgewendet. Der Blick – bzw. das Ohr – wird von der Musik nach oben geführt. Das tröstende Aufrichten eines Menschen erfolgt musikalisch durch eine aufwärts gerichtete Musiksprache, die die theologische Verheißung eines Lebens nach dem Tod und eines Wiedersehens ‚im Himmel‘ klanglich umsetzt und so die Trauer in innere Zuversicht und Festigkeit umwandelt. Insgesamt können eine religiöse und eine sozialpsychologische Dimension benannt werden, die den Prozess des Tröstens und die Umwandlung der Traurigkeit in innere Festigkeit und Zuversicht betreffen. Die religiöse Dimension ergibt sich aus der Auffassung der ‚Stimme‘ des Chores als ‚Stimme Gottes‘. Der tröstende Zuspruch liegt in dem von Brahms entworfenen Gottesbild, das hier neben väterlichen Attributen eine mütterliche Seite aufweist: Gott ist für die Gläubigen nicht nur Vater, sondern auch Mutter. Konsequenterweise ‚spricht‘ Gott mit der Stimme eines gemischten Chores. Dass die chorisch vorgetragene ‚Stimme Gottes‘ als Fundament den gesamten Satz durchzieht, deutet auf die tröstende Basisfunktion einer väterlich-mütterlichen Gottesvorstellung hin. Der Sopran als die hohe, ätherische Stimme der verstorbenen Person, als ihre Seele, die sich tröstend an die Hinterbliebenen wendet, verspricht ein Wiedersehen im Himmel. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod gibt den Hinterbliebenen Trost und lässt die Trauer über den Verlust geringer werden. Fasst man den Chor als Gemeinschaft der Gläubigen auf, die mütterlichen Trost spendet und Erinnerungen aus der Kindheit aufruft, so eröffnet sich im Sinne eines Empowerments eine sozialpsychologische Dimension des Trostes, durch die die eigenen Ressourcen und Selbstheilungskräfte angeregt werden. Dieser Trost wird immer wieder vom Chor ausgesprochen, wie eine Beschwörung durchzieht er den Satz und kann als tröstendes Fundament angesehen werden. Das heißt, ohne das in der Kindheit entwickelte Urvertrauen, das das Kind durch die Zuwendung der Mutter erfährt und an das der trauernde Mensch anknüpfen kann, können die
500
Fladt: Bedeutung der Bedeutung, S. 236.
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tröstenden Prozesse nicht greifen. Die musikalische Faktur ist geprägt von einem aufwärts gerichteten, aus der Tiefe in die Höhe sich entwickelnden Klang, der auch
Abb. 20
5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45, T. 75–82
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durch das hohe Register des Soprans den Blick bzw. das Ohr nach oben richtet und die körperliche und seelische Niedergeschlagenheit umwendet. Dadurch wird die religiöse Dimension, die in den Bibeltexten enthalten ist, musikalisch unterstrichen. Der besondere Klangcharakter richtet den trauernden Menschen durch ein akustisches Emporheben auf, so dass sich die Trauer in Hoffnung und Zuversicht verwandeln kann. Inhaltlich greift Brahms auf die intuitiven Erinnerungen an die tröstende Mutter zurück und überträgt dieses Konzept von Mütterlichkeit dem Chor, der als ‚Stimme Gottes‘ sowohl männlich-väterliche als auch weiblich-mütterliche Anteile besitzt und der – auf einer zweiten Interpretationsebene – als Personifikation der menschlichen Gemeinschaft zum Ausdruck bringt, dass das Spenden von mütterlichem Trost nicht auf weibliche Personen beschränkt ist. Kollektiv ausgesprochener Trost trägt das trauernde Individuum in besonderer Weise. Dabei erhebt die aufwärts gerichtete Faktur des Satzes den trauernden Menschen musikalisch von der irdischen Traurigkeit hin zum himmlischen Heilsversprechen eines Wiedersehens – die „Trösterin Musica“ (Luther) besitzt in Form von „mütterlichem Trost“ eine besondere Wirksamkeit. Die trostspendende Funktion wird häufig als ein Grundzug der brahmsschen Musiksprache genannt, so schreibt Gustav Falke: „Musik ist für ihn [Brahms] Trost und als die Urform des Trost [sic] gilt ihm das Wiegenlied. Im Wiegenlied tritt somit das Wesen der Musik zutage.“501 Ähnlich pointiert meint Jan Brachmann in seiner am „Fall Brahms“ orientierten religionssoziologischen Untersuchung zum 5. Satz des Requiems: „Wie im traditionellen Wiegenlied sind hier exemplarisch Trost und Mutterschaft zusammengebracht.“502 Anhand seines wohl populärsten Liedes, seines Wiegenlieds op. 49/4, Guten Abend, gute Nacht, soll eingehender beleuchtet werden, inwiefern und mit welchen musikalischen Mitteln Brahms in seinem Wiegenlied Trost spendet und welches Konzept von Mütterlichkeit dem zugrunde liegt. 4.2.2
Das Wiegenlied op. 49/4
Das Singen eines Wiegenliedes stellt eine Tätigkeit dar, die im 19. Jahrhundert als ‚natürliche‘ und für das weibliche Geschlecht spezifische Tätigkeit aufgefasst wurde. In mütterlicher Liebe und Fürsorge singt die Frau ihr Kind in den Schlaf. Ihr Gesang beruhigt, wenn das Kind aus Angst vor der Dunkelheit nicht einschlafen kann oder wenn es aufgrund von Krankheit oder Schmerzen getröstet werden
501 502
Falke: Brahms, S. 163f. Brachmann: Kunst – Religion – Krise, S. 319.
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muss. Im Bild von der „Mutter an der Wiege“503 vereinigen sich zahlreiche Vorstellungen von Weiblichkeit – angefangen von der ‚natürlichen‘ Bestimmung der Frau zum Gebären und zur Aufzucht von Kindern, die eine Mutter an der Wiege pflichtbewusst erfüllt, über die selbstlose Liebesfähigkeit der Frau, die sich in durchwachten Nächten und in der mühseligen Pflege der Kinder äußert, bis hin zur Vorstellung eines trauten Heimes, für das die Frau Sorge zu tragen hat. Um die Assoziationen und Intuitionen zu verstehen, die mit dem Hören eines Wiegenliedes verbunden sind, ist die entwicklungspsychologische Bedeutung der mütterlichen Stimme zu beachten. Hierzu schreibt Karen M. Bottge in ihren Ausführungen über Brahms’s ‚Wiegenlied‘ and the maternal voice: “The pleasure deriving from the earliest interactions between the child and its mother can be powerfully enhanced by the voice of a mother who sings.”504 Die Stimme der Mutter sei für das Kind eine Quelle der Intimität und des Vergnügens – ohne dass die Bedeutung der gesungenen Worte eine Rolle spiele. Lawrence Kramer nennt dieses Phänomen „songfulness“ und definiert es als eine “fusion of vocal and musical utterance judged to be both pleasurable and suitable independent of verbal content.”505 „Songfulness“ ist nicht auf frühkindliche Musikerfahrungen beschränkt, sondern tritt als eine emotionale Erfülltheit beim Singen auf, wie etwa bei Jugendlichen, die den Text eines (englischen) Popsongs nicht verstehen, aber dennoch leidenschaftlich mitsingen, oder bei KlassikliebhaberInnen, die behaupten, dass es für ihren Hörgenuss unerheblich sei, was gesungen werde bzw. wovon die Oper oder das Lied handele. Die Bedeutung des Textes ist im Vergleich zur Intimität, die zwischen HörerIn und dem imaginierten Subjekt hinter der Stimme besteht, zweitrangig. Möglicherweise greift diese Art des sinnlichen Singvergnügens auf die positiven Erfahrungen der Kindheit zurück, indem das Glück aufgerufen wird, das Objekt mütterlicher Liebe und Fürsorge zu sein. Dieses archaische Moment teilt ein Wiegenlied mit: “This music recovers that mythical moment of our past and allows us as listeners to reexperince the lost dyadic relationship with the mother.”506 Bedeutsam ist weiterhin, dass das Kind die Stimme der Mutter bereits im Mutterleib wahrnimmt und sie nach der Geburt aus anderen Stimmen wiedererkennt – die des Vaters aber zunächst nicht.507 So kann das Singen eines Wiegen
503 504 505 506 507
Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die kunstreligiösen Abbildungen von Maria als „Mutter Gottes“ mit ihren soziokulturellen Konstruktionen von Mütterlichkeit. Bottge: Wiegenlied, S. 198. Kramer: Meaning, S. 53. Bottge: Wiegenlied, S. 198. Vgl. Oerter/Montada: Entwicklungspsychologie, S. 185. Dieser Befund lädt dazu ein, der mütterlichen Stimme eine besondere Relevanz zuzusprechen. Dennoch kann nach der Geburt auch die väterliche Stimme diese Funktion erfüllen und damit ähnliche
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liedes das Kind beruhigen und trösten – es wird wie in eine akustische Decke508 eingehüllt. Der mütterliche Gesang ermöglicht somit körperliches Wohlbefinden, Minderung von Angstzuständen und akustisches Vergnügen. Dabei ist es allein der Klang und nicht die semantisch-inhaltliche Ebene des Wiegenliedes, der beruhigt oder tröstet. Beim Singen eines Wiegenliedes geht es auf Seiten des Kindes – betrachtet man die funktionale Ebene des Liedes – um den psychologischen Effekt, der über die auditive Wahrnehmung des mütterlichen Gesanges hervorgerufen wird. In entwicklungspsychologischen Theorien (mit psychoanalytischem Schwerpunkt) wird demzufolge der Ursprung der sozialen Kommunikation und der geistigen Vorstellungsfähigkeit in den akustischen Rückkopplungsreaktionen zwischen Mutter und Kind gesehen.509 Aber auch für die Mutter hat das Singen von Liedern während der Pflege des Kindes und konkret das Singen eines Wiegenliedes neben dem kommunikativen auch einen psychologischen Effekt: Das Singen kann Stress abbauen, der durch die körperliche und seelische Belastung hervorgerufen wird, und bei der Bewältigung der Angst um das Leben des Kindes helfen. Dabei spielt für die Mutter der klanglich-musikalische Ausdruck des Liedes ebenso eine Rolle wie die semantische Ebene des Textes. Das soll anhand des Wiegenliedes op. 49/4 von Johannes Brahms gezeigt werden. Das Bild von der „Mutter an der Wiege“ fand in der Musik seinen Niederschlag in einer Vielzahl von Volks- und Kunstliedern. Auch Brahms griff auf diesen Topos in seinem Wiegenlied aus den Volks-Kinderliedern WoO, die er den Kindern Robert und Clara Schumanns widmete und 1858 veröffentlichte, und in seinem Geistlichen Wiegenlied op. 91/2 zurück, das er für Joseph und Amalie Joachim komponierte und 1884 veröffentlichte. Ebenfalls zu erwähnen sind die von Brahms als „Wiegenlieder meiner Schmerzen“510 bezeichneten Drei Intermezzi für Klavier op. 117. Dem ersten Intermezzo stellte Brahms als Motto das Wiegenlied einer unglücklichen Mutter voran: Schlaf sanft, mein Kind, schlaf sanft und schön.
508 509 510
Bedeutung gewinnen, wenn sie vom Kind mit Fürsorge, Liebe und Bedürfnisbefriedigung verbunden wird. Bottge: Wiegenlied, S. 187. Vgl. ausführlich das Kapitel Die Lauthülle in: Anzieu: Haut-Ich, S. 207–226, hier S. 216f. Brahms schreibt: „Es geht leider durchaus nicht, daß man das Ding als Wiegen- oder Schlummerlied ausgibt. Es müßte dann ja dabeistehen ‚Wiegenlied einer unglücklichen Mutter‘ oder eines trostlosen Junggesellen, oder mit Klingerschen Figuren: ‚Singet Wiegenlieder meinem Schmerze!‘ Nr. 1, 2 und 3.“(Brief vom 16.12.1892, Brahms: Briefe an Simrock, Bd. 2, S. 89).
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik Mich dauerts sehr, dich weinen sehn.511
Das populärste Lied von Brahms, das als Beispiel für ein zum Volkslied gewordenes Kunstlied angeführt werden kann, ist sein Wiegenlied op. 49 Nr. 4, das aus zwei Strophen besteht: Die erste Strophe stammt aus Des Knaben Wunderhorn und die zweite aus den Alten und neuen Kinderliedern von Georg Scherer, die Brahms in abgeänderter Form hinzufügte. Die beiden Strophen lauten bei Brahms: Guten Abend, gut Nacht, Mit Rosen bedacht, Mit Näglein besteckt Schlupf unter die Deck: Morgen früh, wenn Gott will, Wirst du wieder geweckt. Guten Abend, gut Nacht, Von Englein bewacht, Die zeigen im Traum Dir Christkindleins Baum. Schlaf nun selig und süß, Schau im Traum’s Paradies.
In der Originalfassung von Georg Scherer lautet die zweite Strophe: Guten Abend, gute Nacht, Von Englein bewacht! Die zeigen im Traum Dir den Christkindleinsbaum Droben im Paradies – Schlaf’ nun selig und süß!512
Inhaltlich fallen in der ersten Strophe die beiden Metaphern „mit Rosen bedacht“ und „mit Näglein besteckt“ auf. Als Erklärung findet man den Hinweis, dass „bedacht“ so viel heißt wie „mit Rosen als Dach bedeckt“ und „Näglein“ „Nägelken“, also Nelken bedeuten.513 „Das Wort Nelke ist im Niederdeutschen aus Nägelchen entstanden und bezieht sich auf die getrockneten Blütenknospen des Gewürz-
511 512 513
Hierbei handelt es sich um das Wiegenlied einer unglücklichen Mutter in Johann Gottfried Herders Übersetzung von Lady Anne Bothweill’s Lament aus Thomas Percys Reliques of Ancient English Poetry. Scherer: Kinderlieder, S. 44f; Ernst Klusen gibt im Gegensatz zu Margit McCorkle an, dass die 2. Strophe nicht von Scherer sei (Klusen: Deutsche Lieder, S. 822; McCorkle: Brahms-Werkverzeichnis, S. 196). Vgl. Friedländer: Brahms-Lieder, S. 62.
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nelkenbaumes, die wie kleine Nägel aussehen.“514 Ebenso wie die Rose gilt die Nelke als Liebessymbol,515 so dass auf einer ersten semantischen Ebene in den Zeilen der ersten Strophe besungen wird, wie das Kind in einem übertragenen Sinne liebevoll zu Bett gebracht und zugedeckt wird. Soweit stimmt also die Idylle an der Wiege. Aber schon in den nächsten beiden Zeilen bekommt die Idylle Risse, denn das Aufwachen am nächsten Morgen ist allein von Gottes Wille abhängig. Hier deutet sich eine gedankliche Nähe zur Auffassung vom Schlaf als dem leiblichen Bruder des Todes an.516 Die zweite Strophe beginnt mit dem Bild der Engel, die den Schlaf des Kindes bewachen und ihm im Traum den weihnachtlichen Tannenbaum zeigen. Die von Brahms geänderten beiden letzten Zeilen können so aufgefasst werden, dass das Kind in seinem selig-süßen Schlaf vom Paradies träumen soll. In der originalen Fassung von Scherer wird der paradiesische Christkindleinsbaum dem Kind im Traum gezeigt, erst dann wird abschließend seligsüßer Schlaf gewünscht. Im Wiegenlied op. 49/4 besingt die Mutter, wie sie ihr Kind liebevoll zudeckt und ihm süße Träume vom Weihnachtsbaum und vom Paradies wünscht. In der ersten Strophe ist eine Gefährdung der idyllischen Situation angesprochen, die darin besteht, dass das Kind am nächsten Morgen nicht erwachen könnte. Die Mutter legt also das Leben des Kindes in Gottes Hände. Vergegenwärtigt man sich, dass im 19. Jahrhundert die Gefahr, ein Kind zu verlieren, als ständige Bedrohung präsent war,517 so besitzt das Wiegenlied vor allem durch den Gesang der Mutter als Klangquelle und durch die musikalische Gestaltung eine beruhigend-beschützende Funktion sowohl für das Kind als auch für die Mutter. Denn der Klang der Musik sowie die Assoziationen und intuitiven Erinnerungen an den tröstend-beschützenden, Sicherheit vermittelnden Gesang der eigenen Mutter lassen „songfulness“ erfahrbar werden. So kann Zuversicht zurückkehren und die unsichere, angstbesetzte Situation – vor allem bei Krankheit des Kindes – ausgehalten werden, weil im Singen der Angst vor dem Tod des Kindes die emotional-positive Kraftquelle der Mutter-Kind-Einheit entgegengesetzt wird. Das Singen des Wiegenliedes wirkt angstmindernd und tröstend – ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Trost“ –, weil eine innere, seelische Stabilisierung eintritt.
514 515 516 517
Jantzen: Amors Pflanzenkunde, S. 14f.; auch das Grimm’sche Wörterbuch erklärt den Begriff „Näglein“ oder „Nägelein“ als „gartennelke (dianthus) oder eine nelkenartige blüte“ (Bd. 13, Sp. 264). Vgl. Jantzen: Amors Pflanzenkunde, S. 14f; Danckert: Symbol, Teil 3, Pflanzen, S. 1237–1246. Im 14. Gesang, Zeile 231der Ilias von Homer heißt es in der voßschen Übersetzung: „Dort nun fand sie [Hera] den Schlaf, den leiblichen Bruder des Todes.“ Die Kindersterblichkeit lag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei etwa 25% (vgl. Razum/Breckenkamp: Kindersterblichkeit, Grafik 1).
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Das Wiegenlied op. 49/4 von Johannes Brahms ist ein Strophenlied, es steht in Es-Dur, 3/4-Takt mit der Vortragsanweisung „zart bewegt“. Bis auf zwei kurze Crescendi mit sofortigen Decrescendi (T. 5–6, 13–14) verbleibt das Lied im PianoBereich. In jedem Takt erklingt im Bass auf der ersten Taktzeit ein ostinates, orgelpunktartiges großes Es, dem ein großer Sprung nach oben in die Tonlage der kleinen Oktave folgt (Abb. 21). Bis auf einen kurzen Durchgang von Takt 10 zu 11 und parallel in der Wiederholung von Takt 14 zu 15 durch ein eingefügtes Des², das als Zwischendominantseptakkord zur Subdominante aufgefasst werden kann, verbleibt das Lied kadenzierend in Es-Dur. Die einfache Kadenzharmonik erfährt jedoch durch das ostinate Es und die synkopiert in den folgenden Akkord hinübergezogenen Klänge der Melodie in der Klavierbegleitung besondere klangliche Effekte. Nach einem zweitaktigen Vorspiel des Klaviers setzt die Singstimme ein. Sie beginnt immer auftaktig und mit einer aufwärts gerichteten Melodie.518 Der Ambitus beträgt eine Oktave (Es¹ bis Es²), die diatonische Melodie ist rhythmisch eingängig mit einer eindeutigen Betonung der schweren Taktzeit. Auf- und abschwingende Achtelbewegungen wechseln mit Vierteln, punktierten Vierteln und halben Noten ab. Bis auf die zweite und letzte Zeile wird die Melodie am Ende der Zeile mit einem Sekundschritt oder Terzsprung nach oben geführt. Die Melodie hat „überhaupt das Streben nach oben, nach einem Weithinklingen, nach Freude und mütterlichem Glücksgefühl,“519 stellte Max Friedländer fest und verquickte musikstrukturelle Kriterien mit einer genderkonnotierten Interpretation. Besonders der Oktavsprung zu Beginn der vorletzten Zeile auf „Morgen früh“ (in der zweiten Strophe auf „Schlaf nun selig“) hebt den Text besonders hervor. Ob man diesen als Weckruf520 auffasst – was innerhalb eines Wiegenliedes ohnehin ein Paradox ist und das nicht nur in der zweiten Strophe –, oder ob man ihn als musikalischen Ausdruck des Traums vom Paradies auffasst, in den das Kind sanft hinübergleitet,521 hängt von der semantischen Bedeutungsschicht des Textes ab, von der aus man die Musik interpretiert. Die letzten beiden Gedicht-Zeilen werden refrainartig wiederholt und erfahren dadurch eine Betonung. Die Musik wiederholt die ersten beiden Takte (T. 15 und 16) ebenfalls identisch, nur in den letzten beiden Takten tritt eine Änderung ein: Die Singstimme wird jetzt vom As¹ zum Es¹ schrittweise hinab geführt, dabei einen letzten Aufschwung durch einen von oben angesetzten Schleifer vor dem G¹ nehmend. Die Melodie im Klavier dagegen wird schrittweise aufwärts geführt und endet im Sopran auf dem Es². 518 519 520 521
Terz- und Oktavsprünge, aber auch einen Sextsprung, der durch eine eingefügte Terz erreicht wird (T. 5 und 9) und in Takt 6 Sekundschritte. Friedländer: Brahms-Lieder, S. 63. Schmidt: Brahms-Musikführer, S. 268f. Wagner: Liedschaffen, S. 76.
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Abb. 21
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Wiegenlied op. 49/4
Der ostinate Bass und die Melodieführung der Singstimme rücken das Lied in Volkslied-Nähe. Diese wird durch eine raffiniert eingearbeitete Melodie im Klavier jedoch durchbrochen. Von Takt 1 bis 11 windet sich eine synkopisch angesetzte Melodie wie ein Kontrapunkt um die Melodie der Singstimme. Die Synkopen bewirken zum einen eine rhythmische Verschiebung der betonten Taktzeiten, was mit der leichten Schaukelbewegung beim Wiegen eines Kindes verglichen werden
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kann bzw. was den Impuls des Wiegens beim Singen des Liedes unterstützen kann. Zum anderen führen sie zu den bereits erwähnten harmonischen Klangeffekten, die durch das Hinein-Klingen in den nächsten Akkord entstehen. Rhythmische Eindeutigkeit wird erst in Takt 12 erreicht. Auf dem Wort „will“ der Zeile „Morgen früh, wenn Gott will“ fallen Singstimme, Bass und Melodie des Klaviers zum ersten Mal gemeinsam auf die erste Taktzeit, ebenso bei der Wiederholung, wodurch der Wille Gottes besonders hervorgehoben wird. In der zweiten Strophe wird das Wort „süß“ der Zeile „Schlaf nun selig und süß“ durch die metrische Eindeutigkeit betont, damit auf die dem Kind gewünschten lieblichen Träume vom Paradies verweisend. Auf einem Bass, der metrisch eindeutig und harmonisch stabil für ein sicheres Fundament sorgt, erklingt die einfache, innig ergreifende und aufwärtsstrebende Melodie der Singstimme. Erst durch die kontrapunktische Melodie in der Klavierbegleitung entsteht ein „Moment des Artifiziellen“, das dennoch „die Wirkung von spontaner Natürlichkeit“522 nicht beeinträchtigt. Diese Melodie steht in einem bedeutungsvollen Zusammenhang mit der Entstehung des Liedes, das Brahms im Juli 1868 zur Geburt des zweiten Sohnes von Arthur und Bertha Faber geschrieben und Bertha Faber gewidmet hat: „An B. F. in Wien“. Die Wienerin Bertha Faber, geb. Porubszky, war während ihres Hamburger Sommeraufenthaltes im Jahr 1859 Mitglied im Hamburger Frauenchor. Mit ihr wechselte Brahms während seiner Verpflichtungen am Detmolder Hof Briefe, in denen gegenseitige Sympathie spürbar ist.523 Später heiratete sie den Wiener Industriellen Arthur Faber. Brahms hat – so ist anzunehmen – von Bertha Faber Wiener Volkslieder kennen gelernt, wahrscheinlich auch den österreichischen Walzer von Alexander Baumann, dessen Melodie von Brahms als Begleitmelodie für sein Wiegenlied verwendet wurde. Die erste Liedzeile des Walzers lautet „Du moanst wohl, du moanst wohl, die Liab läßt si zwinga“524 (Abb. 22). Ob aber Bertha Porubszky ihm damals mit diesem Lied einen Korb auf sein Liebeswerben gegeben hat – wie vielfach behauptet525 – ist Spekulation. Vielmehr muss es die Melodie des Liedes gewesen sein, die Brahms als eine Art „songfulness“ nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist, so dass er sie bei der Komposition des Wiegenliedes als eine persönliche Reminiszenz einfügte. Im Brief vom 15.7.1868 schrieb er nämlich: „Übrigens täte mir
522 523 524 525
Schmidt: Brahms-Musikführer, S. 267. Vgl. die Briefe, die Brahms an Bertha Porubszky und ihre Zimmerwirtin, Auguste Brandt, in Hamburg schrieb, in: Schumann-Reye: Brahms, S. 64–69; ebenso Huschke: Frauen um Brahms, S. 149–153 und Drinker: Brahms’s women’s choruses. Das Lied trägt den Titel „S’is Anderscht“; vgl. Kahler: Wiegenlied. So z. B. Moser: Deutsche Lied, S. 173; Wagner: Liedschaffen, S. 75; Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 2, S. 550.
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Abb. 22
Gebirgs-Bleamln von Alexander Baumann, Nr. 1: S’is Anderscht
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Frau Bertha einen Gefallen, wenn sie mir besagtes Liebeslied ‚Du meinst wohl, Du glaubst wohl‘ einmal in Noten und Text verschaffte. Mir summt es nur so beiläufig in den Ohren.“526 Brahms scheint also den genauen und vollständigen Text des BaumannLiedes527 nicht mehr erinnert zu haben, er kannte auch den eigentlichen Titel des Liedes (S’is Anderscht) nicht oder nicht mehr. Relevant ist, dass Brahms das Lied als ein „Liebeslied“ erinnerte. Folgende Anmerkung von Brahms an die Eheleute, wie er sich die Aufführung seines Wiegenliedes im Hause Faber vorstellte, ist für das Verständnis seiner kompositorischen Intention besonders aufschlussreich. Am 15. Juli 1868 schickte Brahms das Lied auf einem Doppelblatt mit Randdekor an „Arthur und Bertha Faber zu allzeit fröhlichem Gebrauch.“ Weiter heißt es in dem Begleitbrief an Arthur Faber, dem er damit einen Hinweis gab, wie er sich die häusliche Szene beim Singen des Wiegenliedes vorstellte: „Frau Bertha wird nun gleich sehen, dass ich das Wiegenlied gestern ganz bloß für ihren Kleinen gemacht habe; sie wird es auch, wie ich, ganz in Ordnung finden, dass, während sie den Hans in Schlaf singt, der Mann sie ansingt und ein Liebeslied murmelt.“528 Und da ihm der ursprüngliche Text des Walzers nicht geläufig war und er ihn anscheinend auch nicht für relevant hielt, schlug Brahms vor: „Sie aber müssen nun Verse, passende, dazu machen! Mein Lied paßt so gut für Mädel wie für Jungen, und brauchen Sie nicht jedesmal ein neues zu bestellen.“529 Die Situation im Hause Faber ist demnach folgende: Die Frau sitzt an der Wiege des Kindes oder hält das Kind im Arm und singt die Melodie des Wiegenliedes. Der Mann sitzt am Klavier, begleitet den Gesang der Frau und singt zu der Melodie im Klavier ‚sein Liebeslied‘, dessen Melodie seine Frau an ihre Jugend, an die gemeinsame Zeit mit Brahms im Hamburger Frauenchor erinnert. Jedoch singt der Mann zur Melodie des ‚anderen‘ seine eigenen Verse, die er der ehelichen Situation anpassen kann. In der nur in der Musik möglichen Gleichzeitigkeit verschmelzen dann mütterliche Sorge um das Kind, Jugenderinnerungen und die Liebe des Mannes zu seiner Frau, die er in der Erfüllung ihrer mütterlichen Pflichten musikalisch begleitet. Brahms entwirft mit seinem Aufführungshinweis eine familiäre Situation, in die er sich selbst durch die Allusion des ‚Liebesliedes‘ hinein
526 527
528 529
Zit. nach Friedländer: Brahms-Lieder, S. 61. Du moanst wol, du moanst wol, / di Liab last si zwinga, / du glaubst wol, du glaubst wol, / I war so a Bua, / du denkst wol, du denkst wol, mi wikelst um d’Finga, / und moanst wol, und moanst wol, i lach nur dazua, / do glaub ma, s’is Anderscht / valas di nur drauf, / denn zertritst wo a Bleaml / steht’s nimmer mehr auf / la la la ... (zit. nach Bottge: Wiegenlied, S. 195). Zit. nach Friedländer: Brahms-Lieder, S. 61, Hervorhebung im Original. Zit. nach Friedländer: Brahms-Lieder, S. 61.
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komponiert und in der er mütterlich-sorgendes Verhalten sowie vergangene und aktuell verehrende männliche Liebe inszeniert hat. Beim Singen des Liedes, durch das die Frau an klangliche Kraftquellen anknüpft und „songfulness“ erlebt, um so die Angst um das Leben des Kindes zu bewältigen, bleibt sie – gemäß der ‚natürlichen‘ Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern – allein. Brahms lässt den Mann nicht unterstützend ihren Gesang aufgreifen oder ihn in ihren Gesang einstimmen, sondern er greift auf ein Lied zurück, das er durch Bertha Faber kennen gelernt hat. Die gemeinsame Erinnerung an die (sorgenfreie) Zeit des Hamburger Frauenchores holt er so in die Elternschaft der Eheleute zurück. Dem Mann weist Brahms die Aufgabe zu, für das „Liebeslied“ „passende“ Verse zu dichten und so der Frau, die ihre Mutterpflichten durch das Singen des Wiegenliedes erfüllt, seine Liebe zu versichern. Es ist genau diese Liebesmelodie in der Klavierbegleitung, die dem eher volkstümlichen Idiom von Bass und Singstimme einen artifiziellen Charakter verleiht und die damit das Volkslied zu einem Kunstlied macht. Die vermeintliche ‚Natürlichkeit‘ der Bestimmung der Frau zur Mutter drückt sich also in der einfachen musikalischen Faktur von Bass (ostinater Orgelpunkt, Kadenzharmonik) und Singstimme (Diatonik, innige und eingängige Melodik ohne Alterationen, Chromatik und rhythmische Komplexität) aus. Erst in der Vereinigung mit der begleitenden Liebesmelodie des Mannes, die ebenfalls auf einem volkstümlichen Gesang beruht, aber durch Synkopierungen und Einschaltungen rhythmische und harmonische Raffinesse erhält, verschmilzt die mütterliche Melodie zu einem Kunstlied, wird das ‚natürliche‘ Verhalten der Frau durch die musikalische Begleitung des Mannes ästhetisch erhöht. „Ein Einziges auf Erden ist nur schöner und besser als ein Weib ... Das ist die Mutter.“530 – Die Bedeutung, die Brahms der Mütterlichkeit beimisst, hat er nicht nur in seinen Schatzkästlein festgehalten, sondern er hat ihr auch musikalisch Ausdruck verliehen. Mit seiner Auffassung von Weiblichkeit – hier in ihrer höchsten Form der Mütterlichkeit – hat er sich am gesellschaftlichen Geschlechterdiskurs in einer affirmativen Art und Weise beteiligt. Im Wiegenlied zeigt sich die Frau als Mutter in vollkommener Erfüllung ihrer Weiblichkeit. Was demgegenüber einen ‚echten Mann‘ auszeichnet, welches Konzept von Männlichkeit und von männlichem Verhalten Brahms entwirft, steht im Mittelpunkt des nun folgenden Kapitels und wird anhand der Rinaldo-Kantate op. 50 diskutiert.
530
Krebs: Schatzkästlein, S. 30.
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4.3
Gefährdung und Sicherung der männlichen Identität in der Rinaldo-Kantate op. 50
Brahms begann mit der Komposition der Rinaldo-Kantate im Jahr 1863, weil er am Kompositionswettbewerb der Aachener Liedertafel, einem 1832 gegründeten Männergesangsverein, teilnehmen wollte. Dieser hatte 300 Taler für eine Komposition für Männerchor und Orchester ausgeschrieben. Im Juni 1863 erwähnte Brahms in einem Brief an Joseph Joachim erstmalig seine Ambitionen zur Teilnahme. Das Werk wurde jedoch bis zum Einsendetermin (1. Oktober) nicht fertig; es blieb sogar weitere fünf Jahre liegen. Erst 1868 beendete Brahms die Arbeit und gab das Werk unter dem Titel Rinaldo von Goethe. Kantate für Tenor-Solo, Männerchor und Orchester als sein op. 50 heraus. Die Uraufführung fand am 28.2.1869 im Großen Redoutensaal in Wien mit dem Akademischen Gesangsverein, dem Wiener Hofopernorchester und dem Solisten Gustav Walther statt, Brahms dirigierte aus dem Manuskript. Obwohl es sich um eine nicht-szenische Kantate531 handelt, ist Rinaldo das bedeutendste dramatische Werk von Brahms, der bekanntlich keine Oper geschrieben hat. Im Rinaldo nutzt Brahms die dramatische Wirkung von Musik und Text, ohne die Illusionen einer Theaterinszenierung einzusetzen.532 Gleichwohl lässt sich die im ‚Handlungsgeschehen‘ und in der musikalischen Gestaltung implementierte Darstellung der Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit untersuchen. 4.3.1
Libretto und Handlung
Das Libretto der Kantate schrieb Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1811. Man kann durchaus von einem Libretto sprechen, weil Goethe das Gedicht als eine Auftragsdichtung für den kunst- und musikbegeisterten Prinzen Friedrich von Sachsen-Gotha und Altenburg schrieb, der die Titelpartie des Rinaldo in der durch Peter von Winter (1754–1825) vertonten Fassung selbst sang. Das Gedicht basierte wiederum auf dem 16. Gesang des Kreuzzugepos Das befreite Jerusalem / Gerusalemme liberata von Torquato Tasso (1581/1562).533 Dort wird die erfolgreiche Eroberung Jerusalems durch Gottfried von Bouillon im Jahr 1099 geschildert.
531 532 533
Zur Gattungsbezeichnung Kantate / dramatische Kantate vgl. Schwanbeck: Dramatische Chorkantate; Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 137; Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 2, S. 558. Vgl. Botstein: Audience, S. 58. Tasso: Das befreite Jerusalem. Bereits 1562 war die Rinaldo-Episode beendet, 1581 das komplette Epos.
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Darin eingebettet sind verschiedene Nebenhandlungen, darunter die für den Erfolg des Kreuzzugs ausschlaggebende Rinaldo-Episode. Zur Handlung: Auf dem Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems erliegt der Ritter Rinaldo dem Charme der Zauberin Armida, er lässt sich von ihr verführen und genießt ein amourös-erotisches Abenteuer auf ihrer Insel. Armida hält ihn aus bewusster List mit einem Zauberbann gefangen, um dem Heer der Kreuzzug-Fahrer den wichtigsten Ritter vorzuenthalten. Rinaldos Gefährten wollen ihn aus den Fängen der Zauberin retten und halten ihm zur Selbsterkenntnis einen diamantenen Schild vor, in dem sich sein eigenes Bild, nämlich das eines ehrlosen Ritters, widerspiegelt. Entsetzt über den Anblick, besinnt sich Rinaldo seiner Pflichten und bricht gemeinsam mit seinen Freunden zur Fortsetzung des Kreuzzuges auf. Armida rast vor Wut und zerstört die Insel, während die Ritter den Aufbruch feiern. Vergleicht man die konzeptionelle Anlage des Dramas bei Tasso534 und Goethe535, so stellen sich bedeutende Unterschiede heraus. Tasso stellt die Gefühle der verlassenen Armida in den Mittelpunkt, die zwischen Klagen und Flehen, Verzweiflung und Rachgier schwankt und bei Rinaldos Abfahrt in Ohnmacht fällt. Als sie aufwacht, zerstört sie die künstlichen Paläste und entschließt sich, vor Jerusalem gegen die Christen zu kämpfen. Dementsprechend steht in vielen Armida-Rinaldo-Opern Armida als verlassene Frau im Mittelpunkt des Operngeschehens.536 Dagegen lässt Goethe nur Rinaldo und die Gefährten auftreten, Armida erscheint lediglich in der Erinnerung und Beschreibung Rinaldos. Goethe verlegt die Handlung in das innere Seelenleben Rinaldos und stellt seine Rettung als einen psychischen Entscheidungs- und Loslösungskonflikt dar. Abbildung 23 stellt die unterschiedliche Konzeption des Rinaldo-Stoffes durch Tasso und Goethe gegenüber. Die Kantate beginnt mit dem Chor der Gefährten, die sich angesichts der ‚besonderen‘ Atmosphäre der Insel Mut zusprechen:
534
535 536
Vgl. Tasso: Das befreite Jerusalem. Im Verlauf des Epos begegnen sich Armida und Rinaldo vor den Toren Jerusalems während des Kampfs zwischen den Kreuzfahrern und den Muslimen. Armida nimmt aktiv am Kampf teil, unterliegt aber Rinaldo, worauf hin sie den Freitod wählt, aber von Rinaldo an der Durchführung gehindert wird. Rinaldo begehrt Armida noch immer und nimmt sie zu „seiner Magd“. Im Folgenden zitiert nach Brahms: Sämtliche Werke, Bd. 18 (Chorwerke mit Orchester II), Wiesbaden 1965. Z. B. in Armide (1686) von Jean-Baptiste Lully; Rinaldo (1711) von Georg Friedrich Händel; Armide (1777) von Christoph Willibald Gluck; weitere Rinaldo-ArmidaOpern von Niccolò Jommelli (Armida abbandonata, 1770), Joseph Haydn (Armida, 1783)), Antonio Salieri (Armida, 1771), Carl Heinrich Graun (Armida, 1751), im 19. Jahrhundert Giaccomo Rossini (Armida, 1817) und Antonin Dvorak zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Armida, 1902/03). Vgl. Lentzen: Tassos Armida-Stoff.
168
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Abb. 23
Vergleich Tasso – Goethe
Chor Zu dem Strande! Zu der Barke! Ist euch schon der Wind nicht günstig, Zu den Rudern greifet brünstig! Hier bewähre sich der Starke: So das Meer durchlaufen wir. Die Gefährten haben Rinaldo also bereits gefunden. Dieser hat sich von Armida getrennt und ist zur Rückkehr bereit. Er steht mit den Gefährten am Ufer. Bevor er die Insel verlässt und das Boot besteigt, hält er inne und lässt die Zeit mit Armida noch einmal vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Er bittet seine Gefährten um einen Moment des Alleinseins und schwelgt in seinen Erinnerungen. Rinaldo O laßt mich einen Augenblick noch hier! Der Himmel will es nicht, ich soll nicht scheiden. Der wüste Fels, die waldumwachsne Bucht Befangen mich, sie hindern meine Flucht. Ihr wart so schön, nun seid ihr umgeboren, Der Erde Reiz, des Himmels Reiz ist fort. Was hält mich noch am Schreckensort? Mein einzig Glück, hier hab ich es verloren. Stelle her der goldnen Tage Paradiese noch einmal, Liebes Herz! Ja schlage, schlage! Treuer Geist, erschaff sie wieder!
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Freier Atem, deine Lieder Mischen sich mit Lust und Qual. Bunte, reich geschmückte Beete Sie umzingelt ein Palast; Alles webt in Duft und Röte, Wie du nie geträumet hast. Rings umgeben Galerien Dieses Gartens weite Räume; Rosen an der Erde blühen, In den Lüften blühn die Bäume. Wasserstrahlen! Wasserflocken! Lieblich rauscht ein Silberschwall; Mit der Turteltaube Locken Lockt zugleich die Nachtigall.
Zunächst zeigen die Kameraden Verständnis für seine Reaktion, sie wünschen ihm Heilung und Trost und spenden ihm aufmunternde Worte: Chor Sachte kommt! Und kommt verbunden zu dem edelsten Beruf! Alle Reize sind verschwunden, Die sich Zauberei erschuf. Ach, nun heilet seine Wunden, Ach, nun tröstet seine Stunden Gutes Wort und Freundes Ruf.
Aber Rinaldo scheint die Gefährten kaum wahrzunehmen, er schwelgt weiterhin in seinen Erinnerungen und Gedanken: Rinaldo Mit der Turteltaube Locken Lockt zugleich die Nachtigall; Wasserstrahlen, Wasserflocken Wirbeln sich nach ihrem Schall. Aber alles verkündet: Nur sie ist gemeinet; Aber alles verschwindet, Sobald sie erscheinet In lieblicher Jugend, In glänzender Pracht. Da schlingen zu Kränzen Sich Lilien und Rosen, Da eilen und kosen In lustigen Tänzen Die laulichen Lüfte, Sie führen Gedüfte,
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik Sich fließend und suchend, Vom Schlummer erwacht.
Die Gefährten greifen zum letzten Mittel („Nein! Nicht länger ist zu säumen, / Wecket ihn aus seinen Träumen, / Zeigt den diamantnen Schild!“), sie halten ihm einen diamantenen Schild entgegen. Rinaldo ist entsetzt, sieht und fühlt sich durch den eigenen Anblick erniedrigt („Weh! Was seh ich? Welch ein Bild!“ / „Soll ich also mich bespiegeln, / Mich so tief erniedrigt sehn?“). Die Gefährten fordern ihn zu einer gefassten Haltung auf („Fasse dich, so ist’s geschehn.“), wozu Rinaldo sich nun durchringt: Er will den Ort und Armida verlassen („Ja, so seis! Ich will mich fassen, / Will den lieben Ort verlassen / Und zum zweitenmal Armiden – / Nun, so seis! So seis geschieden!“). Daraufhin rufen die Gefährten zur Abfahrt (Einige: „Zurück nur! Zurücke / Durch günstige Meere! / Dem geistigen Blicke / Erscheinen die Fahnen, / Erscheinen die Heere, / Das stäubende Feld.“ / Chor: „Zur Tugend der Ahnen /Ermannt sich der Held.“) Die Gefährten zeichnen ein Bild von dem, was Rinaldo nun erwartet: Fahnen, Heere, ein Kampffeld, auf dem sich der Held tugendhaft wie die Ahnen ermannen und seine Männlichkeit unter Beweis stellen kann. Aber Rinaldo zaudert erneut, zum zweiten Mal erinnert er sich an Armida, die „Frau der Frauen“, wie sie angesichts der Trennung gejammert und geweint hat; er fühlt sich schuldig und möchte sie retten und ihr Unglück abwehren: Rinaldo Zum zweitenmale Seh ich erscheinen Und jammern, weinen In diesem Tale Die Frau der Frauen. Das soll ich schauen Zum zweitenmale? Das soll ich hören, Und soll nicht wehren Und soll nicht retten?
Jetzt werden die Gefährten ungehalten, sie bewerten das abermalige Zögern eindeutig negativ: Rinaldo ist in „unwürdigen Ketten“ gefangen. Er jedoch erinnert sich an den Anblick, wie Armida in ihrer Wut und Verzweiflung die Paläste, die Schönheiten der Insel zerstört hat: Rinaldo Und umgewandelt Seh ich die Holde; Sie blickt und handelt Gleich wie Dämonen, Und kein Verschonen Ist mehr zu hoffen.
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Vom Blitz getroffen Schon die Paläste! Die Götterfeste, Die Lustgeschäfte Der Geisterkräfte, Mit allem Lieben Ach, sie zerstieben!
Die Gefährten greifen wiederholt Rinaldos Erinnerung auf und bekräftigen sie („Ja, sie zerstieben!“). Erst jetzt, nachdem Rinaldo begreift, dass eine Umkehr zu Armida unmöglich ist, gibt er dem Drängen der Gefährten nach und ist bereit, die Insel zu verlassen. Aber die Freude der Gefährten kann er nicht teilen, er formuliert sie in eine Negativaussage um, die seinem Gefühlszustand entspricht: Einige Schon sind sie erhöret, Gebete der Frommen. Noch säumst du zu kommen? Es fördert die Reise Der günstigste Wind. Chor Geschwinde, geschwind! Rinaldo Im Tiefsten zerstöret, Ich hab euch vernommen: Ihr drängt mich zu kommen. Unglückliche Reise! Unseliger Wind!
Während die Gefährten sich über den günstigen Wind freuen, bezeichnet Rinaldo ihn als „unseligen Wind“ und die bevorstehende Reise als „unglücklich“. Im anschließenden Schlusschor, in dem Rinaldo schrittweise in den Gesang der Gefährten einstimmt, wird die Reise und das Meer, werden die Wellen und Delphine besungen. Für Rinaldo kann so die Erinnerung an das Vergangene verblassen, er ist bereit, den begonnenen Kreuzzug fortzusetzen: Das Ziel ist die Eroberung Jerusalems (Solyma) mit Gottfried von Bouillon (Godofred). Einige mit Rinaldo Das erfrischet Und verwischet Das Vergangne. Dir (mir) begegnet Das gesegnet Angefangne.
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Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik Alle Wunderbar sind wir gekommen, Wunderbar zurückgeschwommen: Unser großes Ziel ist da! Schalle zu dem heiligen Strande Losung dem gelobten Lande: Godofred und Solyma!
Goethe gestaltet in der Kantate den inneren Ablösungsprozess Rinaldos von seiner Bindung an Armida und beschränkt sich dafür „auf eine Szene zwischen Männern; die Frauenstimme, mit der die Männerstimmen sich auseinandersetzen müßten, fehlt.“537 Der Verlauf der Ablösung wird von zwei Faktoren bestimmt: Zum einen ist dort der Chor der zur Abfahrt drängenden Ritter, die Rinaldo auf das gemeinsame Ziel verpflichten. Zum anderen ist es die individuelle Erinnerung des Helden an Glück und Schmerz, an seine Liebe zu Armida. Diese beiden Kräfte, die Rückerinnerung an die amouröse, antiheroische Episode und die Neuorientierung auf die gemeinsame heroische Tat, prägen den Konflikt von Goethes Rinaldo.538 Aufschlussreich ist es, noch einen genaueren Blick auf das Männerkollektiv Chor und sein taktisches Vorgehen bei der ‚Rettung‘ Rinaldos zu werfen, denn der Chor bezeichnet es als seinen „innersten Beruf“, Rinaldos Wunden zu heilen und ihn zu trösten. Dafür lässt er dem Individuum seine Erinnerungen (an den Palast, den Garten, das visualisierte Auftreten Armidas, dann an die verlassene klagende Frau) – mit dem Ergebnis: „Indem Rinaldo das verlorene Paradies ‚noch einmal‘ retrospektiv imaginiert, durchlebt er seinen Verlust ‚zum zweiten Mal‘ und gewinnt so Abstand zum ‚Vergangne[n] [...].‘“539 Außerdem begleitet der Chor Rinaldo bei seiner Erinnerungsarbeit. Er greift in seine Monologe ein, um ihn schrittweise in seine Gemeinschaft aufzunehmen, ihn zu ‚resozialisieren‘: Im ersten Monolog setzt der Chor ein, um seinen Auftrag zu benennen. Dann reißt er Rinaldo unsanft aus seinen Träumen („Nein! Nicht länger ist zu säumen!“) und zwingt ihn mit dem Schild zur Selbstbesinnung. Bei der zweiten Rückwendung Rinaldos reagiert der Chor zunächst abwertend („unwürdige Ketten!“), aber dann teilt er sich auf und wiederholt Worte von Rinaldo („Kein Verschonen ist zu hoffen“; „Vom Blitz getroffen schon die Paläste“; „ja, sie zerstieben“), was man durchaus als eine Art bestätigende Spiegelungstechnik im Sinne einer klientenzentrierten Gesprächsführung bezeichnen könnte. Jetzt gibt der Chor die Schlussverse vor, die von Rinaldo aufgegriffen, aber deutlich umgewertet werden. „Im Schlusschor dominiert das Kollektiv dann völlig. Um den Helden in seine Reihen aufzunehmen, spaltet sich der Chor in Einzelstimmen auf und erreicht so, dass Rinaldo seine Worte
537 538 539
Pietzcker: Goethes Rinaldo, S. 669. Vgl. Martin: Goethes Rinaldo, S. 6. Martin: Goethes Rinaldo, S. 6.
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übernimmt, im kleinen Dreierverbund wiederholt und schließlich in ihm aufgeht.“540 Auf Parallelen des Rinaldo-Sujets mit der Odysseus-Sage sei an dieser Stelle kurz hingewiesen, da sie für die Geschlechterkonzeption interessante Aspekte aufzeigt. Rinaldo befindet sich ebenso wie Odysseus auf einer Irrfahrt, das heißt, er ist vom ‚richtigen‘ Weg abgekommen. Hatte Odysseus nach vollbrachten Kämpfen in Troja die Heimfahrt zu seiner Frau Penelope angetreten, so wird Rinaldo bereits auf dem Weg zur kämpferischen Auseinandersetzung von Armida an der Weiterfahrt und an der Teilnahme am Kreuzzug gehindert. Während Odysseus mehrfach von schönen Frauen wie der Zauberin Kirke, den Sirenen oder der Okeanide Kalypso in Versuchung geführt bzw. aufgehalten wird und mehr als zehn Jahre benötigt, um zu seiner Frau zurückzukehren, ist es bei Rinaldo ‚nur‘ die Zauberin Armida, die ihn mit bewusster Hinterlist auf ihrer Insel festhält. Damit lässt sich Armida in die Reihe der mythologischen Frauenfiguren einreihen, die aufgrund ihrer (oft exotischen) Schönheit, ihrer Zauberkräfte oder ihres lockenden Gesanges die Männer in den Untergang ziehen.541 Brahms griff mit der Rinaldo-Kantate den Topos der verführerischen und für den Mann gefährlichen Femme fatale auf, die aber in der Libretto-Fassung von Goethe – anders als bei Tasso und auch im Kontrast zur Odysseus-Sage – nicht körperlich oder stimmlich präsent ist, sondern lediglich in den Erinnerungen und Imaginationen des Helden erscheint, was für die Gefährten die Rettung des verirrten und verwirrten Helden letztlich umso schwieriger macht. Die Frage nach der Attraktivität des Rinaldo-Stoffes für Brahms wird in der Literatur mit dem Hinweis auf seine “conflicted feelings about Agathe von Siebold”542 beantwortet. Carl Grabau sah eine Parallele zwischen Brahms und Rinaldo, denn auch Brahms’ Gedanken sollen oft „nach jenem Haus und Garten am Tor“ in Göttingen gewandert sein, wo er vor wenigen Jahren einen Traum geträumt hatte, aus dem ihn Freundeswort schonungslos hatte wecken müssen.543 Der Konflikt
540
541
542 543
Martin: Goethes Rinaldo, S. 7. Martin hebt hervor, dass Goethes Text „darauf angelegt [war], dass die Worte nicht nacheinander, sondern simultan erklingen. Er verfasste keinen nachträglich vertonten Sprechtext [...], sondern ein Libretto, das die Simultancharakterisierung und -vertonung als Spezifika der Musik einkalkulierte.“ (ebd.). Schließlich war die „Faszination der Wasserfrauen und weiblichen Elementarwesen [...] um 1900 auf einem Höhepunkt angelangt. Gerade an den amphibischen Phantasiegestalten konnte das Problem der Andersartigkeit der Frau thematisiert werden. Die romantische Idealisierung des reinen Undinen-Geschöpfes wich einer Dämonisierung unterschiedlicher Intensität: von einer sensiblen Andersartigkeit bis zur bedrohlichen Aggression.“ (Unseld: Man töte dieses Weib, S. 54; vgl. auch Karentzos: Kunstgöttinnen). Hess: Menschenbild, S. 69. Vgl. Grabau: Rinaldo, S. 7.
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zwischen Liebessehnsucht und Pflichterfüllung habe ihn auch in den folgenden Jahren immer wieder eingeholt, wenn er für schöne Sängerinnen schwärmte: Zur Entstehungszeit des Rinaldo soll er „in den Fesseln einer dunkeläugigen Armida“ geschmachtet haben, die Max Kalbeck in der Sängerin Luise Dustmann auszumachen glaubte.544 Brahms’ persönliche Situation scheint also eine gewisse Prädisposition für die Identifikation mit dem Libretto von Goethe nahe zu legen. Aber unabhängig von möglichen biographischen Parallelen ist Rinaldo als ein Werk aufzufassen, in dem Brahms Konzeptionen von Weiblichkeit und weit ausführlicher die von Männlichkeit musikalisch bearbeitete. Er griff zu einem Libretto, das die sinnliche Liebe eines Mannes als zu überwindende sittliche Selbsterniedrigung darstellt und die autoritäre Durchsetzung gesellschaftlicher Geschlechternormen zeigt. In einem ‚Resozialisierungsprozess‘ löst sich das männliche Individuum von seinen inneren Sehnsüchten, Erinnerungen und Imaginationen des Weiblichen, die in der Figur der Armida repräsentiert sind und die, da es sich um männliche Projektionen handelt, konsequenterweise keine eigene Stimme besitzt. Die Frau ist das Objekt männlicher Sehnsüchte und kein Subjekt mit eigener Stimme. So sieht Malcolm McDonald in der Figur der Armida ein Frauen-Symbol schlechthin – “as objects of veneration and lifelong devotion”545 – und er betont: Rinaldo is a work about masculinity, about the arousal of the will and the bittersweet triumph of mastering one’s destiny; it strives to give archetypal expression to concepts of male comradeship, of virility first nullified by female enchantment and later – through the decisive energy of the choral finale – given its full (but never full happy) scope and freedom.546
4.3.2
Musikalische Analyse
Goethes Libretto, seine „Dichtung über Dichtung“547, setzt die Kenntnis der Armida-Rinaldo-Handlung beim Publikum voraus, da der psychologische Gehalt in Form eines innerpsychischen Entscheidungsprozesses erst zutage tritt, wenn man sie auf das Epos bezieht. Brahms schien sich dieser Schwierigkeit bewusst zu sein, denn er fügte einen Auszug aus Tassos Originalgedicht548 in das Programmbuch der Uraufführung ein, welches er auch der Erstveröffentlichung beigab:
544 545 546 547 548
Kalbeck: Brahms II, S. 65. McDonald: Brahms, S. 188. McDonald: Brahms, S. 189, Hervorhebung im Original. Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 137. Aus dem 14. Gesang, 75. und 76. Stanze, hier zitiert nach Brahms: Sämtliche Werke, Bd. 18.
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Ein Garten liegt inmitten dieser Auen, Wo Liebeshauch von jedem Zweige rinnt. Dort werdet ihr, im Schoß der grünen Auen, Die Zauberin und ihren Ritter schauen. Hat sie hernach aus jenem Lustgefilde Fern vom Geliebten, ihren Schritt gewandt: Dann nahet ihm, bewaffnet mit dem Schilde, Den ich euch gab, aus hellem Diamant; Daß er sich selber schau im Spiegelbilde, Gehüllt in weich unmännliches Gewand, Voll Zorn und Scham wird er sich dann ermannen Und schnöde Lieb aus seiner Brust verbannen.
Trotz dieser einführenden Worte bereitete es dem Publikum Schwierigkeiten, das ‚Geschehen‘ richtig aufzufassen. Viele Kritiker gingen davon aus, dass Armida tatsächlich stumm erscheine und dies die letzte Prüfung des Helden sei. In einem Brief an Simrock setzte sich Brahms mit den Publikumserwartungen auseinander: Es ist eine alte Erfahrung, daß die Leute immer etwas Bestimmtes erwarten und ebenso von uns immer etwas ganz andres kriegen. So hoffte man denn diesmal jedenfalls ein crescendo des Requiem und bestimmt eine schöne aufgeregte, geile Venusberg-Wirtschaft bei der Armide.549
Auch die orchestrale Einleitung erfüllte nicht die Erwartungen, wie Philipp Spitta in einem Brief vom 21.2.1870550 an Brahms bemerkte. Brahms sah sich genötigt, sein Vorgehen ausführlich zu erläutern: Ich meine also, daß ein bloß frischer Chor nicht passend wäre, nicht genügen dürfe. Der Musiker [...] muß uns durchaus die ganz eigne Luft athmen lassen, die auf der Insel der Zauberin weht. Auch den Rittern darfs gern etwas schwül werden und sie mögen einen gelinden Schauer empfinden, wenn sie singen: / Hier bewähre sich der Starke! / Eigentlich glaubte ich dies den Leuten mitzutheilen, indem ich auch bei der Aufführung einen Vers aus dem Tasso dem Text vordrucken ließ. / Es mag Spielerei sein, daß das Motiv der Einleitung Armiden auch bei der Zerstörung hilft. Eine schildernde Einleitung und hierauf ein frischer Chor der Ritter, die sich von der schönen Zauberin ganz unberührt zeigen, gefiele mir aus manchen Gründen nicht. / Ich erinnere freilich sehr gut, daß ich eigentlich nichts von diesem dachte, als ich das Gedicht vornahm. Ich war eben von selbst mit den Rittern auf der Insel und kann das heute auch noch nicht so dumm finden.551
Wie Brahms nun die Textvorlage in Musik umsetzt, wie er die Personen musikalisch charakterisiert, den inneren Konflikt und psychischen Entscheidungsprozesse von Rinaldo darstellt, wie er den Chor in diese Prozesse eingreifen lässt und welche Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit darin impliziert sind, das soll
549 550 551
Brahms: Briefe an Simrocks, Bd. 1, S. 68f, Hervorhebung im Original. Brahms: Briefwechsel mit Spitta, S. 32. Brahms: Briefwechsel mit Spitta, S. 34f.
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anhand exemplarischer Analysen gezeigt werden. Dazu zählen die orchestrale Einleitung inklusive des Eingangschores, die Schildszene und die von Rinaldo erinnerte Zerstörung der Insel, der Schlusschor sowie die an der virtuellen Handlung beteiligten Personen Rinaldo, Armida und die Gefährten. Abbildung 24 bietet
Abb. 24
Verlaufsschema Rinaldo-Kantate op. 50
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einen Überblick über den formalen Ablauf des knapp 1500 Takte umfassenden Rinaldo. Die orchestrale Einleitung soll gemäß der Erläuterung von Brahms an Spitta die „schwüle“ Atmosphäre auf der Insel der Zauberin spürbar machen. Der Beginn ist zunächst ‚diffus‘: Ein Pizzicato der Streicher auf einem ausgehaltenen B-Oktavklang der Hörner eröffnet das Werk, im zweiten Takt setzen die Fagotte, im dritten Takt die Soloklarinette mit einem Oktavsprung ein, der über zwei Takte ausgehalten wird (Abb. 25). Sie bilden so eine Klangfläche auf dem Ton B. Mit dem Einsatz der Flöten im vierten Takt beginnen ebenfalls die Streicher, die bis Takt 48 einen unruhig bewegten Klangteppich bilden: pianissimo bleibend setzen Bratschen und Violinen Synkopen gegen die Viertel der Celli und Kontrabässe. Im fünften Takt führen die Flöten und hohen Streicher ein G ein, das einen g-Moll-Akkord andeutet, in Takt 8 wird mit dem Es in den Bässen vermeintlich die vorgezeichnete Tonart Es-Dur erreicht. Es zeigt sich aber, dass das für den ersten Teil der Orchestereinleitung zentrale Armida-Thema tonal von B-Dur-Klängen eingerahmt ist und Es-Dur eher subdominantisch aufzufassen ist. Auf dem rhythmisch verschwommenen Klang der Streicher stützen ausgehaltene Klänge der Flöten und des Horns die Solo-Klarinette, die das Armida-Thema präsentiert: Ein Oktavsprung B–B¹ wird durch einen Terzsprung abwärts zunächst abgeschlossen, dann diminuiert wiederholt und schließlich in einer Kantilene mit Terz- und Quartsprüngen zum Hochton B² weiter gesponnen, um dann in Viertelnoten (T. 7–11) wieder über zwei Oktaven hinab geführt zu werden, dabei Töne der b-Moll-Skala nutzend (T. 11–13). Nach einem abschließenden Staccato-Ton von Klarinette und Horn in Takt 14 eröffnet ein Pizzicato der Streicher die um eine Terz tiefer sequenzierte Wiederholung des Themas (T. 16–31), jetzt aber wird in Takt 24 von den Oboen, dann in Takt 26 von den Flöten der Nachsatz des Themas variierend fortgeführt. In Takt 32 beginnt das zweite Thema, das eine Steigerungsgruppe bildet und von einem Piano langsam crescendierend zu einem Fortissimo in Takt 47 geführt wird. Die Steigerung wird durch den additiven Einsatz der hohen Streicher, Holzblasinstrumente, Hörner, Pauke und Trompeten unterstützt. Ein viertöniges Motiv (H-B-F-B; Ces-B-F-B) wird von allen Instrumenten unisono gespielt, durch verkürzte Notenwerte ab Takt 39 tritt eine zusätzliche Steigerung ein, die durch die synkopierten Streicher noch unterstützt wird. Dieses Motiv ist im Eingangschor den Ritter-Worten „Hier bewähre sich der Starke“ unterlegt (T. 183–199). Da zudem der Eingangschor mit der Steigerungsgruppe aus der orchestralen Einleitung endet, kann der zweite Teil der Orchestereinleitung als Ritter-Thema aufgefasst werden. Er steht zum ersten Teil in einem Gegensatz: „Die Steigerungsgruppe lässt Kraft und vor allem Entschlossenheit assoziieren. Zudem wirkt sie sehr zielbetont.“552
552
Hofmann: Rinaldo-Kantate, S. 98.
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Abb. 25
Rinaldo-Kantate op. 50, T. 1–10
Am Ende des Steigerungsverlaufes erklingt jedoch nach dem B-Dur-Akkord in Takt 47 nicht das erwartete Es-Dur, sondern ein trugschlüssig aufzufassendes GesDur, so dass die Steigerung in sich zusammen zu fallen scheint: „da ist es, als wehten nach dem männlichen Aufraffen der Ritter plötzlich lockende Liebesstimmen und berauschende Düfte herüber, die wiederum alle Kraft gefangen nehmen“553, schrieb Philipp Spitta in seinem Antwortschreiben an Brahms auf
553
Brahms: Briefwechsel mit Spitta, S. 36.
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dessen Erläuterungen. Die Ritter nehmen also die besondere Atmosphäre der Insel durchaus wahr, Armidas Zauber ist noch nicht gebannt.554 In Takt 48 beginnt der dritte Abschnitt der Orchestereinleitung, der Rinaldo zugeordnet werden kann, denn er wird von einer Oboen-Melodie geprägt, die dem Anfang von Rinaldos erstem rezitativischem Gesang („O laßt mich einen Augenblick noch hier“, T. 201ff) entspricht. Piano und espressivo sind die Vortragsanweisung für die in Sekundschritten (Halb- und Ganzton) und synkopisch aufwärts geführte Melodie (G¹–Es²), die Töne aus der as-Moll-Zigeunertonleiter nutzt und mit einem Terzsprung (Es–Ces) abschließt. Ein Paukenwirbel im Pianissimo und Haltetöne der Fagotte sorgen für eine orgelpunktartige spannungsvolle Grundierung. Das Motiv bricht nach drei Takten ab, Fortissimo-Akkordschläge des Orchesters erinnern an das „Ritter-Thema“, wieder erklingt die Melodie in der Oboe, eine Quarte aufwärts sequenziert, wieder gefolgt von Akkordschlägen. Auf einem Es-Orgelpunkt (Pauken und Hörner) spielen nun die beiden Oboen eine in Terzen und Sexten geführte Melodie mit Tönen aus der fis-Moll-Skala, in die das Fagott Motive des Armida-Themas kontrapunktisch einknüpft. Das Rinaldo-Thema ist dadurch gekennzeichnet, dass seine lyrische Melodie mit Elementen des Armida- und des Ritter-Themas verbunden und verarbeitend zusammengeführt wird.555 Somit treffen in der Person des Rinaldo die Welten der Zauberinsel und der Kreuzfahrer aufeinander und machen seinen Entscheidungskonflikt aus. Versteht man den Konflikt allgemeiner, so kann man von einem Aufeinandertreffen der männlichen und weiblichen Sphäre oder der abend- und morgenländischen Kulturkreise sprechen. Zu diesem Zeitpunkt sind Rinaldos Gefühle noch stark mit der Armida-Sphäre verbunden (Motive des Armida-Themas als Kontrapunkt), die Gefährten können ihn zwar unterbrechen, aber noch nicht erreichen (Akkordschläge des Ritter-Themas). Die Differenz im musikalischen Material des Ritterund des Rinaldo-Themas zeigt die unterschiedlichen emotionalem Befindlichkeiten und Charaktereigenschaften an. Brahms nutzt also die Orchestereinleitung sowohl zur Einführung in die faszinierende Zauberwelt der Armida als auch zur Verdeutlichung der Gefühlslage, in der sich Rinaldo zu Beginn der Kantate befindet. Im Eingangschor (T. 63ff) präsentiert sich die Ritterschaft zunächst von ihrer starken und zuversichtlichen Seite: Die Verse werden in einem homophonen syllabischen Stil vierstimmig vorgetragen. Rhythmisch prägnant, die schwere Taktzeit betonend, harmonisch eindeutig (B-Dur) erfährt der wiederholte Vers („Zu dem Strande! Zu der Barke“) in Takt 69 durch die Punktierung zusätzlichen Nachdruck. Violinen und Bratschen unterstützen die Steigerung durch Achteltriolen, die bis zum Forte crescendierend die B-Dur-Tonleiter durchschreiten und in Takt 71
554 555
Vgl. Hofmann: Rinaldo-Kantate, S. 98. Vgl. Hofmann: Rinaldo-Kantate, S. 99.
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den Hochton B² mit dem Forte des Chores und der Bläser erreichen. Celli, Kontrabässe und Holzblasinstrumente werfen alternierend den Beginn des ArmidaThemas (Oktavsprung) ein. Auf dem erreichten Forte setzt sich die energische Stimmung des Chores fort (T. 72–167), lediglich die Holzblasinstrumente erinnern immer wieder mit motivischem Material an die Stimmung der Einleitung: Noch „scheinen die Ritter, im übertragenen Sinne, Mühe zu haben, sich vom ‚Armidenthema‘ zu lösen und ihr eigenes musikalisches Idiom zu finden.“556 In Takt 167 bricht die Welt der Zauberinsel in die Rittersphäre ein: Das Armida-Thema der Orchestereinleitung wird wiederholt (T. 167–182), ihm folgt wie in der Orchestereinleitung das Ritter-Thema (T. 183f), dem jetzt die Verse des Chores („Hier bewähre sich der Starke“) unterlegt sind. Durch die subtile Verknüpfung und Wiederholung des Armida-Themas macht Brahms die im Brief an Spitta erläuterte „schwüle“ Stimmung und verführerische Atmosphäre auf der Insel deutlich, angesichts derer sich die Gefährten Mut zusprechen müssen. Daran schließt sich die rezitativisch vorgetragene Bitte des Rinaldo an (T. 201ff), ihn noch einen Augenblick allein zu lassen – in Parallele zur Orchestereinleitung das dort präsentierte melodisch-motivische Material (Sekundschritte aufund abwärts) aufgreifend. Die musikalische Gestaltung der Ritterschaft zeichnet sich durch rhythmische, melodische und harmonische Schlichtheit aus, damit Zielstrebigkeit und Entschlossenheit signalisierend, die jedoch durch den Eintritt und das fortwährende Aufscheinen des Armida-Themas gefährdet erscheinen. Rinaldos Gefühle werden durch Sekundauf- und -abgänge (zum Teil chromatisch) musikalisch dargestellt. Seine andauernde Verbundenheit zur Welt der Armida (so begleitet das Armida-Thema auch den Arioso-Teil, T. 223ff) macht zudem deutlich, dass die Trennung von Armida nicht abgeschlossen ist und die Ritter sich ihres Erfolges noch nicht sicher sein können. Rinaldos Gefühlswelt und seinen inneren Ablöseprozess von Armida schildert Brahms ausführlich in drei großangelegten Arien: „Stelle her der goldnen Tage“ (T. 282–431, As-Dur), „Aber Alles verkündet“ (T. 496–602, C-Dur) und „Zum zweitenmale seh ich erscheinen“ (T. 853–924, a-Moll). Die erste Arie beginnt mit einem viertaktigen Vorspiel der Holzblasinstrumente, dolce espressivo und piano, die Oboe intoniert die Melodie, die von Klarinetten und Fagotte umspielt wird. Rinaldos Gesang wird von den Streichern begleitet, zunächst ohne Kontrabass, unterstützt von Flöten und Oboen. Der A-Teil der Arie verbleibt dynamisch im Piano, kurze Crescendi sinken wieder zu einem Pianissimo ab, gegen Ende verklingt der Gesang (diminuendo; pianissimo). In getragenem Tempo (Poco Adagio) drückt Rinaldo in einer sehnsuchtsvollen Melodie seine Gefühle aus, von Lautma-
556
Hofmann: Rinaldo-Kantate, S. 101.
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lereien verstärkt (z. B. das Herzklopfen in T. 293). Im B-Teil belebt sich das Tempo zu einem Un poco Allegretto (T. 309), die Schönheiten der Zauberinsel (Beete, Palast, Düfte, Galerien, Garten, blühende Bäume und Rosen, Wasserstrahlen, Turteltauben, Nachtigall) werden von Rinaldo geschildert und von der Musik untermalt. Bis dahin haben die Gefährten Rinaldo in seinen Erinnerungen schwelgen lassen, jetzt unterbrechen sie ihn sanft (T. 443ff). Ihren energisch, entschlossenen Habitus des Eingangschores haben sie abgelegt, was auch in der Tonart E-Dur zum Ausdruck kommt. Dynamisch bleiben sie im Piano-Bereich, nur ein kurzes Mezzoforte bei der bestätigenden Wiederholung, dass ihn ein gutes Wort der Freunde trösten solle (T. 476f). Fagotte und Hörner spielen in den Gesang der Gefährten melodische Reminiszenzen aus dem B-Teil der Rinaldo-Arie, auch ihr Gesang besitzt Anklänge an diese Melodie. Espressivo (T. 457) und dolce espressivo (T. 462) als wiederholte Vortragsanweisungen unterstreichen, dass sie sich der Gefühlslage des Freundes angepasst haben und große Empathie zeigen. Aber Rinaldo scheint sie gar nicht wahrgenommen zu haben, schon beim letzten Ton der Gefährten greift er seine letzten Verse wieder auf (T. 481, „Mit der Turteltaube Locken“), in einem von Sechzehntel-Pausen unterbrochenen und beschleunigten Duktus, der an atemloses Seufzen denken lässt. Zu Beginn der zweiten Arie beschleunigt sich das Tempo wieder, bis in Takt 496 ein Allegro erreicht wird. In strahlendem C-Dur, forte und mit einer aufwärtsstrebenden Achtel-Passage zunächst in den Streichern, die dann von Rinaldo als ‚Anlauf‘ zum Hochton seiner Melodie aufgegriffen wird, deutet Rinaldo die zuvor besungenen Schönheiten der Insel als Verkündigung der Schönheiten Armidas, und er besingt nun erneut mit großer Emphase die Genüsse der Insel und seine Liebe zu Armida. In den beiden ersten Arien unterbricht der Chor den Gesang von Rinaldo nicht, er lässt ihm seine Erinnerungen. Aber mit der nun beginnenden „Schildszene“, die das Zentrum und der Wendepunkt der dramatischen Entwicklung ist, ändert er seine Taktik. Nach Rinaldos zweiter Arie fassen die Ritter den Entschluss, den diamantenen Schild einzusetzen. Vor dem Einsatz des Schildes schlägt zunächst die Stimmung um, das C-Dur der Arie moduliert ab T. 612 zu c-Moll, in Takt 616 unterstreichen Staccato-Akkorde der Bläser und Streicher im Fortissimo den Entschluss der Ritter („Nein, nicht länger ist zu säumen!“). Unisono, forte und in lang ausgehaltenen Tönen tritt der Chor als geschlossenes Kollektiv auf, von den Hörner colla parte unterstützt. Das Thema des „nachhelfend-autoritären“557 Chorfugatos (T. 624–654) vermittelt durch seinen punktierten Rhythmus wieder ritterliche Entschlossenheit, die Chorstimmen werden von einzelnen Instrumenten verdoppelt, die nacheinander einsetzenden Stimmen finden sich in Takt 634 zu einem homo-
557
Torkewitz: Brahms’s Rinaldo, S. 712.
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phonen Abschluss (fortissimo) zusammen, der von den Streichern mitgetragen wird und so den Entschluss erneut als einen kollektiven bekräftigt: „Zeigt den diamantnen Schild!“ (T. 636) Daran schließt sich ein zweites, variiertes Chorfugato an, dessen bestätigender Abschluss diesmal von allen Orchesterinstrumenten homo-
Abb. 26a Rinaldo-Kantate op. 50, Schildszene, T. 652–659
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rhythmisch intoniert wird. So eingestimmt greift der Chor zum Gegenzauber, um Rinaldo vom Zauber der Insel und der verführerischen Armida zu befreien. Sie halten ihm den diamantenen Schild vor und lassen dann den so mit der Realität Konfrontierten und Desillusionierten nicht mehr allein, sprich: Sie unterbrechen
Abb. 26b Rinaldo-Kantate op. 50, Schildszene, T. 660–666
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und kommentieren von nun an seinen Gesang, treten in einen Dialog mit ihm und ziehen ihn schrittweise in ihre Gemeinschaft. Bei der Präsentation des Schildes bricht der energisch-entschlossene Bewegungsdrang ab, die Lautstärke fällt von Forte in ein plötzliches Pianissimo, auf einem Orgelpunkt der Streicher über vier Oktaven auf Des (dreigeteilte Violinen, zweistimmige Bratschen, ein Violoncello) intonieren wie aus weiter Ferne zunächst die Trompeten, dann die Posaunen ein Fanfaren-Motiv im Piano bzw. im Pianissimo (Abb. 26a/26b). Das Motiv wandert durch die Instrumente (Pauke, Flöte und Piccoloflöte, wieder Trompeten, Posaunen und Pauke), es begleitet den Blick, den Rinaldo in den diamantenen Schild wirft. Nach dem energischen und vorwärtsdrängenden Gesang der Gefährten zeigen die leisen Fanfaren-Klänge, wie weit sich Rinaldo von den alten, ehrenhaften Zeiten als tapferer Ritter entfernt hat. Das ‚schwirrende‘ Des der Streicher macht die Zauberkraft des Schildes deutlich: „[...] mich blendete es förmlich bei der Stelle“558, schrieb Joachim in einem Brief an Brahms. Rinaldo ist von seinem Anblick entsetzt: in fis-Moll intoniert er über einem Des-Orgelpunkt zunächst einen Halbtonschritt Fis–G, von dem eine abwärts fallende Linie bei der Wiederholung von „welch ein Bild!“ auf dem Wort „Bild“ den tiefsten Ton (cis) der Solopartie in der gesamten Kantate erreicht. Die Pauke sorgt mit einem PianissimoWirbel auf Des für Spannung, hinzu kommen Pizzicato-Töne der zweiten Violinen, Bratschen, der übrigen Violoncelli und Kontrabässe. In einem Akt der Selbsterkenntnis wird Rinaldo bewusst, wie ‚tief‘ er gefallen ist. Aber noch ist er nicht in der Welt der Gefährten angekommen, denn er deutet das Des in ein Cis um und zwingt die Musik zu einem Wechsel nach fis-Moll. Der Zauber des Spiegels dauert an (Orgelpunkt auf Des bis T. 682), erneute Fanfarenklänge leiten den Chor ein, der leise und mit rhythmischer Punktierung in einer Art homophonen Sprechgesang auf den Tönen des Des-Dur-Akkordes bekräftigt: „Ja, es soll den Trug entsiegeln.“ Die rezitativisch abfallende Melodielinie wird von Rinaldo variierend wiederholt, jetzt dreimal einen Hochton anzielend, aber wieder zum Cis abstürzend. Danach wiederholen sich die Fanfarenklänge und auch der Chor setzt wieder ein, diesmal mit den Worten „Fasse dich, so ists geschehn.“ Verklingende Fanfarenklänge und das im dreifachen Piano sich auflösende Des der Streicher beenden den Zauber der Schildszene. In der sich anschließenden Szene bekräftigt Rinaldo seinen Entschluss, aber immer noch verbleibt er in fis-Moll und drückt damit seinen Schmerz angesichts der eigenen Erniedrigung aus. Außerdem signalisiert fis-Moll, dass Rinaldo sich noch nicht endgültig gelöst hat. Der Chor greift seinen Entschluss auf und signalisiert ab Takt 710 bis Takt 829 eine freudige Aufbruchstimmung („Zurück nur!“ ADur), die sich gegen Ende etwas verflüchtigt. Die Stimmung verdüstert sich (a-
558
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 2, S. 14.
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Moll), in einem 6/8-Takt, Andante con moto erscheint in der Erinnerung von Rinaldo die weinende und jammernde Armida (Sekundgänge aufwärts und abwärts in der ersten Violine, dann in der Oboe), worauf die Gefährten ungehalten reagieren und ihm zweimal laut und deutlich „Unwürdige Ketten!“ entgegenwerfen. Der Chor kommentiert und wertet das Verhalten Rinaldos eindeutig negativ. Jetzt sinkt die Stimmung weiter ab: Das Orchester schildert die Zerstörung der Insel durch Armida (T. 944ff). In c-Moll, Allegro con fuoco zeigt sich das Armida-Thema von seiner aggressiven Seite. Anstelle leichter Winde hört man in den orchestralen Ausbrüchen und verzerrenden Chromatismen, in den Crescendi, Fortissimo-Sforzati und hinabstürzenden Läufen der Streicher einen zerstörerischen Sturm (Abb. 27). Das Eingreifen des Chores wird massiver, mehrfach übernimmt er Verszeilen von Rinaldo, wodurch Brahms die Einflussnahme des Chores im Vergleich zum Libretto noch unterstreicht: „Kein Verschonen ist zu hoffen“, „Vom Blitz getroffen schon die Paläste“ und „Ja, sie zerstieben!“ Jeder dieser Phrasen wird musikalisch unterschiedlich gestaltet, vom leisen, aber scharfen Staccato-Stil (T. 974ff) bis hin zu lang ausgehaltenen Tönen im Fortissimo und Piano (T. 994ff). Die Resozialisierung Rinaldos hat begonnen. Rinaldo wird angesichts der zerstörten Insel gewahr, dass an eine Rückkehr nicht mehr zu denken ist – eine für ihn schmerzhafte Erkenntnis (c-Moll, chromatische Alterationen in der Melodie). Die Gefährten greifen die langsam einsetzende Realitätseinsicht auf, gehen aber nicht auf die schmerzhafte Erkenntnis ein, sondern setzen ihre Sicht (kontrastierende musikalische Gestaltung) dagegen. Ein langes Orchesternachspiel (T. 1057–1087) bringt noch einmal das Armida-Thema, das mit schroffen Staccato-Akkorden der Bläser und einem hinabstürzenden Lauf der hohen Streicher verklingt: Die Welt der Armida ist damit endgültig untergegangen. In einem kurzen choralartigen Gesang (C-Dur) danken die Gefährten, dass ihre Gebete erhört worden sind (T. 1088ff). Jetzt sind sie es, die das motivische Material vorgeben, das nun von Rinaldo aufgegriffen, aber umgewertet wird (c-Moll). Rinaldo geht zwar von nun an schrittweise in die Welt der Ritter auf, aber ein Rest an Trauer bleibt bestehen: So sind seine letzten eigenen Worte am Ende immer noch in c-Moll intoniert; er bezeichnet den Wind, der ihn von Armida wegtragen wird, als „unselig“; und erst sein letzter Ton bringt statt eines Es ein E, zuvor haftet er – bis auf kurze Strecken – am Es und macht damit seinen Widerstand gegen das strahlende C-Dur der Gefährten deutlich. Letztlich fügt Rinaldo sich in sein Schicksal, ihm bleibt keine Wahl angesichts der zerstörten Insel. Die Gefährten drängen zur Eile („Geschwinde, geschwind!“), sie wollen die Insel schnellstmöglich verlassen. Ihr Gesang (C-Dur) wird von Sechzehntel-Sextolen der Violinen und AchtelTriolen der tiefen Streicher angetrieben, sämtliche Blasinstrumente und die Pauke
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Abb. 27
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Rinaldo-Kantate op. 50, Beginn der Zerstörungsszene, T. 944–954
drängen ebenso mit punktierten Rhythmen und Triolen dem Ende zu, das mit kurzen akzentuierten Tutti-Akkorden des Orchesters erreicht wird. Im folgenden Schlusschor, dem Brahms den Titel Auf dem Meere gegeben hat, bekräftigen die Gefährten die Rettung Rinaldos. Sie malen in leuchtenden Tönen
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die Schönheiten der Rückfahrt: schwellende Segel, grüne, schaumgekrönte Wellen, Delphine und die Weite des Meeres. Über repetierenden Vierteltriolen der Violinen und Streicher im Forte, die später (ab T. 32) in Skalen auf- und abgeführt werden, beginnen die ersten Tenöre mit einer prägnanten Dreiklangsmelodik, dann setzen in Takt 5 die anderen Stimmen ein, unterstützt von den Holzblasinstrumenten und den Hörnern ebenfalls im Forte und mit einer auf- und abwärtsgeführten Dreiklangsmelodik. Die Dreiklangsmelodik des Chores wird in Terz- und Sextparallelen geführt, alles besitzt einen emphatisch-ausholenden Gestus. Diese neuntaktige Phrase („Segel schwellen! Grüne Wellen“) wird zweimal wiederholt, vom ersten fMoll, über c-Moll wird bei der zweiten, variierten und erweiterten Wiederholung B-Dur (T. 18–28) erreicht. Eine chromatische Rückung (T. 29) nach h-Moll, gefolgt von c-Moll dient im Verbund mit einer Rücknahme der Dynamik zum Piano als Ausgangsbasis für einen erneuten Spannungsaufbau, dessen Höhepunkt nach einem Crescendo in allen Stimmen in Takt 39 (B-Dur und fortissimo) erreicht wird. Die homorhythmische Behandlung des Chores über ausgehaltenen crescendierenden Bläserakkorden trägt zum emphatischen Eindruck bei. Anschließend wird der gleiche Text („Segel schwellen! Grüne Wellen“) mit einer markanten (marcato als Vortragsanweisung der Blasinstrumente), von Staccato-Noten geprägten Melodie gestaltet (ab T. 43), die das vorgezeichnete Es-Dur erreicht. „Klanglich dominiert ein prachtvoller Bläsersatz, der mit seiner Brillanz und prägnanter Rhythmik einen symphonischen Charakter hat.“559 In den Takten 194–281 spaltet sich der ansonsten kompakt auftretende Chor auf: Zunächst singen „Einige“ – so die Angaben in der Partitur – erste Tenöre und Bässe, sowie zweite Tenöre und Bässe zweistimmig, dann „Andre“: „Das erfrischet und verwischet das Vergangne“. Rinaldo, der ad libitum den ersten Tenören zugeteilt ist, trägt in Takt 218 in einer textlichen Differenzierung zum Chor „Mir begegnet das gesegnet Angefangne“ vor, während die Gefährten ihn direkt ansprechen: „Dir begegnet das gesegnet Angefangne“. Damit wird deutlich, dass Rinaldo der Adressat des gemeinschaftlichen Lobpreises ist. Um ihn zu überzeugen, preisen die Ritter die Schönheiten des Meeres und halten ihm die Fortsetzung des Kampfes als Vollendung der begonnenen Taten vor Augen – sie ziehen damit seinen Blick, der sich bis dahin selbstreflexiv auf den inneren Schmerz gerichtet hat, wieder nach außen.560 Brahms schreibt eine Beteiligung von Rinaldo am Schlusschor jedoch nicht zwingend vor („Ad libitum Rinaldo“), vielleicht weil – neben einer aufführungspraktischen Rücksichtnahme auf den Sänger der anstrengenden Rinaldo-
559 560
Hofmann: Rinaldo-Kantate, S. 128. Vgl. Pietzcker: „Hierbei folgt er [Goethe] einem Verlaufsschema, das bei ihm immer wieder begegnet: der Ablösung von der Geliebten durch den Wechsel des Blicks von außen nach innen und wieder nach außen.“ (Goethes Rinaldo, S. 673).
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Partie – seinem Empfinden nach der Konflikt zwischen dem ‚im Tiefsten zerstörten‘ Rinaldo und den zur Kriegspflicht rufenden Gefährten noch immer besteht und seine vollständige Integration in die Gemeinschaft zu diesem Zeitpunkt unglaubwürdig, weil zu überraschend wäre,561 oder: „Die ‚Heilung‘ Rinaldos durch seine kollektive Einbindung [...] findet nicht statt.“562 Später erfolgt eine Aufteilung in zwei vierstimmig geführte Chöre („Wunderbar sind wir gekommen [...] unser großes Ziel ist da“), die sich in Takt 261 zu einem achtstimmigen Chor vereinigen und das letzte Finale vorbereiten. In diesem Finale (T. 282–346) schmettert der Chor die Losung des Kreuzzuges („Schalle zu dem heiligen Strande / Losung dem gelobten Lande / Godofred und Solyma“) in einem durchgängigen Forte und in einer homorhythmisch punktierten Melodik. Aufwärtsstrebende Achteltriolen oder Tremoli in den Streichern sorgen für einen bewegten Klangteppich im Forte bzw. ab Takt 302 im Fortissimo, auf dem die Bläser colla parte mit dem vierstimmig Chor geführt werden. „Es herrschen ein in diesem Zusammenhang martialisch wirkender, punktierter Rhythmus und eine kadenzierende Melodiebildung vor.“563 Ab Takt 303 setzen die Posaunen und die Pauke (ab T. 306) ein und verstärken so die finale Emphase bis zum triumphalen Schluss. Brahms charakterisiert die zentralen Figuren der Kantate – Armida, Rinaldo und der Chor der Gefährten – durch besondere musikalische Idiome: Zwar tritt Armida in der Kantate nicht auf, dennoch ist sie im Armida-Thema der Orchestereinleitung und in der musikalischen Charakterisierung im Rahmen von Rinaldos Arien präsent. Ihr Thema besitzt eine in großen Intervallschritten (Oktave, Quarte, Terz) aufstrebende Melodik mit großem Ambitus (zwei Oktaven), die mit Tönen einer Moll-Skala abwärts geführt wird. Sie baut sich auf einem rhythmisch unruhigen Klangteppich (Synkopen) auf. ‚Leere‘ Oktavklänge bilden eine Klangfläche, die Harmonik changiert und ist nicht eindeutig (B-Dur statt des vorgezeichneten Es-Dur). Der Klang wird von Holzblasinstrumenten geprägt, die in der Instrumentencharakteristik der Zeit eher zum Ausdruck zarter, sanfter oder anmutiger Gefühle564 eingesetzt wurden, also dem weiblichen Geschlechtscharakter nahe stehen. Daneben setzt vor allem das Horn klangliche Akzente, das mit Natur, Freiheit und Jagd assoziiert wird, während Trompeten, Posaunen und die Pauke schweigen. Dynamisch bleibt das Thema im Piano bzw. im Pianissimo. Brahms spielt auf subtile Art und Weise mit Elementen von musikalischen Orientalismen, ohne jedoch plakativ auf musikalisches Lokalkolorit zurückzugreifen. Bedenkt man, dass
561 562 563 564
Vgl. Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 137. Torkewitz: Brahms’s Rinaldo, S. 716. Hofmann: Rinaldo-Kantate, S. 133. Vgl. Berlioz: Instrumentationslehre, S. 112: Klarinetten in der Mittellage haben für Berlioz einen weiblichen Klang, in dem „sich eine Art von Stolz ausprägt, gemildert durch edle Zartheit [...].“
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im 19. Jahrhundert Exotismus (ebenso wie Folklorismus) als Differenz zur artifiziellen Musik Europas mit der Tradition des musikalischen Naturbildes verknüpft wurde,565 dann wird die Figur der Armida mit Natur (Zauberinsel) gleich- und der Kultur entgegengesetzt. Denn: „Die in Töne gefaßte Natur ist primär negativ bestimmt, und zwar dadurch, daß sie vom Zwang des Entwicklungsgedankens, der im 19. Jahrhundert – jedenfalls im Hauptstrom der Kompositionsgeschichte – sowohl die thematisch-motivische als auch die harmonisch-tonale Struktur der Musik beherrscht, ausgenommen ist.“566 Während in der Orchestereinleitung die lyrisch-weiche und verführerische Seite von Armida hervorgehoben wird, zeigen die Takte 944ff ihren aggressiven und zerstörerischen Charakter: Crescendi vom Piano zum Fortissimo und hinzutretende Blechbläser und Pauken ergeben einen vollen Orchesterklang; eine diminuierte Gestaltung des Themas und herabstürzende Achtelpassagen der Streicher sorgen für einen energiegeladenen Bewegungsdrang. Ohne Klangflächen, rhythmische Synkopierungen und ohne Tonmaterial einer harmoniefremden Skala, aber mit einer akzentuierten, eindeutigen Metrik verliert das Armida-Thema seinen Naturcharakter und zerstört damit das Bild und die Erinnerungen: “Creation and destruction of pleasure”567 und Natur – zu beidem ist Armida laut männlicher Projektion fähig. Die Gefährten sind durch punktierte Rhythmen, eine Dynamik im Forte-Bereich sowie durch Tutti-Klangflächen charakterisiert. Ihr musikalisches Idiom ist prägnant, markant und militärisch, was durch Staccato und Akzente unterstrichen wird. Der Chor wird häufig homorhythmisch geführt: “the chorus is a powerful, unified and aggressive group, represented in a predominantly homophonic texture, with insistent and animated rhythmic figuration.”568 Dieter Torkewitz fasst das musikalische Idiom der Chöre so zusammen: „die musikalische Orientierung für die Chöre bedeutet Gleichschaltung, Verzicht auf Individualität, auch da, wo Brahms – den Weisungen Goethes folgend – die Chöre gelegentlich aufspaltet.“569 Das musikalische Idiom von Rinaldo ist anfänglich durch eine chromatischgefühlvolle und kleinschrittige Melodie gekennzeichnet, die charakteristischerweise von der Oboe570 vorgetragen wird und so Rinaldos Nähe zur weiblichen Sphäre Armidens und ihrer Zauberinsel klanglich zum Ausdruck bringt. Des
565 566 567 568 569 570
Vgl. Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 252–261. Dahlhaus: Musik des 19. Jahrhunderts, S. 257. Ingraham: Rinaldo, S. 53. Ingraham: Rinaldo, S. 328. Torkewitz: Brahms’s Rinaldo, S. 713. Vgl. Berlioz: Instrumentationslehre, S. 96: Die Oboe „hat einen pastoralen, zarten, ja ich möchte sagen schüchternen Charakter. [...] Den Tönen der Oboe ist Jungfräulichkeit, naive Anmut, stille Freude oder der Schmerz eines zarten Wesens angemessen.“
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Weiteren sind Töne der Moll- bzw. Zigeunermoll-Skala und Elemente des ArmidaThemas eingeflochten. Seine Arien zeichnen sich durch einen lyrischen Gesangsstil aus. „Die Melodiebildung spannt einen Bogen von rezitativischen über ariose bis hin zu expressiven Momenten [...]. Chromatische Durchgänge, Verwendung des Neapolitaners, Seufzermotive und Wendungen in Moll kennzeichnen sie.“571 Der schwärmerisch-drängende und expressive Ausdruck zu Beginn entwickelt sich im Verlauf zu einem klagend, resignierenden Tonfall. Nur in den ersten beiden Arien kann Rinaldo seinen Gefühlen ohne Eingriffe des Chores Ausdruck verleihen. Sein musikalischer Ausdruck steht zu Beginn in einem großen Kontrast zu dem des Chores. Nach der Entzauberung in der Schildszene beginnt die langsame und schrittweise Aufnahme in den Chor, der als handelndes Kollektiv immer präsenter wird, in einen Dialog mit Rinaldo tritt und dann als Sieger den Schauplatz verlässt. Die Resozialisierung des sentimental-verweichlichten unmännlichen Rinaldos zeigt sich darin, dass er sich schrittweise dem musikalischen Idiom des Chores annähert. Dennoch besteht am Ende des ersten Teils weiterhin eine gewisse Kluft zwischen ihm und den Gefährten, die sich in einer Mollfärbung (T. 1098–1103) niederschlägt. Im Schlusschor übernimmt Rinaldo vollständig das Idiom des Chores – wenn auch nur „ad libitum“. Er verliert seine Individualität und verschmilzt im Kollektiv des Männerchores. Die weibliche Figur repräsentiert die orientalisch-fremde Welt mit ihren verführerisch-gefährlichen Zauberkräften, der Chor der Gefährten die christlichabendländische Kultur. Er steht für Tatenkraft, Ehre, Heldentum und Pflichterfüllung. Aus der christlich-abendländischen Welt kommend hat Rinaldo die Genüsse des Orients kennen gelernt und sich verführen und verzaubern lassen. Er hat seinem – aus Sicht der Gefährten egoistischen – Wunsch nach Liebe nachgegeben und dabei seine soziale Verantwortung für das Gelingen des gemeinschaftlichen Projektes vernachlässigt. Nur durch Zuhilfenahme von Magie (Schild) und letztlich durch den beharrlichen und entschlossenen Einfluss der Gefährten kann er zur Rückkehr überredet werden. Im Abschlusschor hat er das musikalische Idiom der Ritter übernommen, behält aber noch seine ‚eigene Stimme‘ (ad libitum). Erst am Ende stimmt er mit dem Chor in den gemeinsamen Lobgesang auf Gottfried von Bouillion und Jerusalem ein. Er gibt seine individuellen Wünsche und Sehnsüchte zugunsten der Gemeinschaft auf. Das heißt: Auch er verliert seine individuelle Stimme und ist – ebenso wie Armida – als Individuum stimmlich nicht mehr präsent. Gewonnen hat dagegen die Gesellschaft in Gestalt des Männerkollektivs, dem es gelungen ist, ein männliches Individuum, das sich der weiblich-emotionalen Sphäre angenähert hat, in seinen männlich geprägten Wirkungs- und Aufgabenkreis zurückzuholen. Rinaldo hat sich ermannt, gewinnt aber seine Männlichkeit nur um
571
Hofmann: Rinaldo-Kantate, S. 137.
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den Preis seiner Individualität und durch Verzicht auf seine emotionalen Bedürfnisse zurück. Von der ‚realen‘ Armida hat sich Rinaldo bereits zu Beginn der Kantate getrennt, daher tritt Armida, die zentrale und einzige weibliche Figur, nur in den Erinnerungen, Phantasien. Sehnsüchten und Imaginationen von Rinaldo in Erscheinung. Diese Gefühle und nicht die Person der Armida halten Rinaldo von der Abreise ab. Es geht also um den innerpsychischen Konflikt in der Seele des Mannes, der seine emotionalen Sehnsüchte und Projektionen bzw. seine Imaginationen des Weiblichen abwehren und überwinden muss, bevor er den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen genügen und als ehrenhaftes, vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft der Männer aufgenommen werden kann.
4.4
Männerleben – Frauenliebe – Mütterlichkeit
Johannes Brahms entwirft in den hier untersuchten Vokalmusikkompositionen vielschichtige und facettenreiche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die die „Ordnung der Geschlechter“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl bestätigen als auch relativieren und differenzieren: In den Magelonen-Romanzen op. 33 und auch in der Rinaldo-Kantate op. 50 präsentiert Brahms einen (ritterlichen) Mann, der in die Welt aufbricht, um sich zu bewähren bzw. um der gesellschaftlichen Verpflichtung seiner Teilnahme am Kreuzzug nachzukommen. Trotz widriger Schicksalsschläge und Verführungen (Armida, Sulima) meistern letztlich beide die ihnen gestellten Herausforderungen. Beide Männer erleben im Verlauf ihrer Aventure-Fahrt ihre weiche und emotionale Seite: Peter ist verunsichert im Umgang mit seinen Gefühlen, und Rinaldo zieht ein amouröses Abenteuer den Verpflichtungen gegenüber den Gefährten vor, weshalb er von seinen Gefährten als unmännlich kritisiert wird. Letztlich finden beide zu einem gesellschaftlich akzeptierten männlichen Verhalten zurück, was im Fall von Rinaldo schmerzhaft und mit inneren Verletzungen verbunden ist. Er hat sich von der Zauberin Armida verführen lassen und kann nur durch den beharrlichen Einfluss der Gefährten und durch einen Gegenzauber (Spiegelung seiner Unmännlichkeit in der Schildszene) in die Gemeinschaft zurückkehren. Es werden also in beiden Fällen „Lehrjahre der Männlichkeit“572 geschildert, die zur Entwicklung einer stabilen bzw. gesellschaftlich akzeptierten männlichen Identität führen. Ebenso wie der Held der tieckschen Erzählung entspricht auch die weibliche Protagonistin der Romanzen zu Beginn nicht uneingeschränkt der damaligen Geschlechternorm, sondern gerade sie ist zu Beginn der Liebesbeziehung die aktivere und selbstsicherere Person, die auf Peter zugeht, ihm den ersten Kuss gibt
572
So die Überschrift des Hauptkapitels in Friedrich Schlegels Lucinde.
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und die Flucht aus ihrem Elternhaus vorschlägt. Erst nachdem sie den geliebten Mann verloren hat, versinkt sie in Passivität und Resignation. Im ersten Lied der Magelonen-Romanzen (Nr. 1: Keinen hat es noch gereut) entwirft Brahms zunächst ein affirmatives Männer- und Frauenbild: Der Lebensentwurf eines Ritters ist von Aktivität, Mut, Erfolg und Tapferkeit geprägt. Er bewältigt die Aufgaben des Lebens, wählt seine Frau, um dann glücklich mit ihr zu leben und seine Erfahrungen an den Sohn weiterzugeben. Musikalisch unterstreicht Brahms die ‚typisch‘ männlichen Eigenschaften und Empfindungsweisen des Helden durch einen aktiven galoppierenden Rhythmus (Nr. 1) oder aufsteigende Hornquinten (Nr. 1 und 3). Die emotionale Erregung nach dem ersten Kuss (Nr. 7) betont er in der Klavierbegleitung durch wogende Achtelbewegungen mit einem nachschlagenden Rhythmus. Zudem hebt Brahms die zentralen Begriffe (süße Lippen, Augen, Liebe, Verlangen) durch Phrasenhochtöne hervor. Ein glückliches Frauenleben zeichnet sich aus männlicher Perspektive dadurch aus, mit Schönheit den Mann zu erfreuen und darauf zu warten, von ihm erwählt zu werden, zu heiraten und ihm einen Sohn zu schenken. Die Wahl der Frau durch den Mann wird musikalisch durch eine chromatische Melodielinie über leeren Oktavklängen angekündigt, während das Erreichen der Medianttonart sowie sequenzierende Wiederholung und das Auftreten des höchsten Tons im Lied die Relevanz der Wahl betont. Auch im Umgang mit ihrem Schicksal zeigen sich geschlechtstypische Rollenzuweisungen, die in der Vertonung von Brahms noch unterstrichen werden: Nach der Trennung von Peter akzeptiert Magelone resignierend ihr Schicksal, während Peter aufbäumend nach den Gründen fragt. Magelones Resignation betont Brahms in seiner Vertonung, indem er ein variierendes Motiv – oft über einem Orgelpunkt – wiederholt. Das heißt, solange Magelone um die Erfüllung ihrer Liebe kämpfen konnte, war sie aktiv und selbstbestimmt. Wenn ihr diese Liebe jedoch genommen wird, ist ihr Lebensentwurf gescheitert. Sulima, die ‚andere‘ Frau, der Peter auf seiner Irrfahrt begegnet, will wie Magelone ihre Liebe aktiv gestalten. Sie schlägt ihm ebenso wie Magelone vor, mit ihm zu fliehen, und ist bereit, alles aufzugeben, um mit ihm ein gemeinsames Leben in seinem Heimatland führen zu können. In dieser ausschließlichen Ausrichtung ihres Lebens auf den geliebten Mann ist sie mit Magelone zu vergleichen. In ihrem Empfinden und in ihrer Wirkung auf Peter macht Brahms’ Musik (Nr. 13) jedoch deutlich, dass sie nicht viel mit Magelone gemein hat. Allein die Tonarten, in der ihr Lied (E-Dur) und das Lied Magelones (f-Moll) stehen, machen deutlich, dass zwischen diesen beiden Frauen Welten liegen. Sulima wirkt im Gegensatz zu Magelone befremdend, weil sie ihre innere Unruhe, ihre lustvollen Gefühle und ihre leidenschaftliche Erregung kaum mehr beherrschen kann. Die richtige Wahl der Partnerin als zentrale Entscheidung im Leben eines Mannes – die musikalische
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Gestaltung des Liedes Nr. 1 unterstreicht dies – wird hier stellvertretend getroffen: Magelone statt Sulima, treue Liebe statt leidenschaftliches Begehren. Damit sind Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte benannt, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Geschlechterpolarisierung entwickelt haben: aktiver, mutiger, Erfahrung suchender und sich bewährender Mann und passiv wartende, auf die Liebe und den häuslichen Bereich beschränkte, körperlich attraktive und emotionale Frau. Gleichwohl werden beim Mann – hier stellvertretend durch Peter – Wesenszüge geschildert, die der Norm des Männlichkeitskonzeptes zuwiderlaufen, bzw. die die polare Geschlechterdichotomie abschwächen. In zahlreichen Liedern zeigt Brahms, wie emotional Männer sein können, wie sehr sie an ihrem Liebeskummer leiden. Es sind dies oft gefühlsbetonte Botschaften voller Empfindsamkeit und Schmerz wie im Lied Die Kränze op. 46/1. Das Empfinden der Liebe lässt den Mann unsicher werden, er schwankt zwischen Freude, Angst und Zweifeln (op. 33/3: Sind es Schmerzen, sind es Freuden), sein weiteres Schicksal hängt von der Gunst der Frau ab, die ihm durch eine Ablehnung den Tod bringen oder durch ihre Gegenliebe Leben, Hoffnung und Glück schenken kann. Das heißt, die Liebe der Frau wird hier in ihrer Funktion für den Mann beschrieben: Sie nimmt ihm seine Unsicherheit, sie erlöst ihn von seinen Ängsten und lässt ihn Erfüllung finden. Brahms thematisiert in seinen Liedern eine weitere Dimension im Verhältnis von Mann und Frau, nämlich die leidenschaftlichen Erfahrungen. Viele seiner Lieder zeichnen sich durch ihre – für die damalige Zeit – erotische Direktheit aus. In ihnen besingt Brahms sinnliches Begehren und sexuelles Verlangen (op. 71/4) sowie die körperliche Attraktivität der Frau. Die Lieder handeln von nächtlicher Liebesglut und – in Unbewegte, laue Luft op. 57/8 – dem sehnlichen Wunsch, sich gegenseitig „himmlisches Genüge“ zu geben. Dieser offene Umgang mit sexuellen Wünschen empörte bzw. rief moralisierende Kritik hervor („vielverketzert“573), da Brahms nicht in metaphorischen Andeutungen verblieb, sondern ihnen in seinen Klavierliedern musikalischen Aus- und Nachdruck verlieh. Die Leidenschaften brodeln unter der Oberfläche und führen in den Magelonen-Romanzen zu einer Trennung der Liebenden, sie setzen das Paar, vor allem den Mann, der Gefahr aus, durch Lust und Verlangen die ‚wahre‘ Liebe zu zerstören. Die leidenschaftliche Liebe wird auch in der Figur der Sulima, der ‚anderen‘, orientalischen Frau verkörpert; sie steht ebenso wie die Zauberin Armida in der Rinaldo-Kantate für die sinnlichen Elemente der Liebe und für die sexuell aktive Frau. Sie kann zwar zunächst Aufmerksamkeit erwecken, wirkt aber insgesamt – so unterstreicht es die Vertonung durch Brahms – unangenehm und kann letztlich den Mann nicht endgültig an sich binden. Wenn es diesem gelingt, sich ihrem verführerischen Einfluss zu
573
Brahms: Briefwechsel mit H. und E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 39.
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entziehen, wird er wieder zum aktiven Mann, der zur ‚wahren‘, das heißt, ehrbaren Liebe zurückfinden kann. Der rein sinnlichen Liebe setzen Peter und Magelone ihre treue Liebe entgegen, die das sinnliche Verlangen in „himmlische Lust“ verwandelt. Zur Komplettierung der ‚wahren‘ Liebe gehören darüber hinaus die Gründung einer Familie und gemeinsame Kinder. Schon im ersten Lied hatte der fahrende Sänger das heimische Idyll beschrieben, das den Mann erwartet, wenn er seinem Sohn von den eigenen Heldentaten berichten kann: „Sind Jahre verschwunden, / erzählt er dem Sohn / In traulichen Stunden / und zeigt seine Wunden, / der Tapferkeit Lohn.“ Gewinnt der Vater durch die Bewunderung seines Sohnes noch im Alter Identität und Ruhm, so erfüllt die Frau in ihrer Mutterrolle ihre ‚natürliche‘ Bestimmung. Mütterlichkeit als die höchste Vollendung eines sinnerfüllten Frauenlebens im Sinne der bürgerlichen Geschlechterordnung wird von Brahms ebenfalls thematisiert. Er setzt die besondere Emotionalität und Intensität der mütterlichen Zuwendung ein, wie sie auch in entwicklungspsychologischen Theorien immer wieder hervorgehoben wird – freilich ohne die damit implizierten Genderkonnotationen kritisch zu überdenken –, um im 5. Satz seines Deutschen Requiems op. 45 den trauernden Hinterbliebenen im Sinne eines selbstbefähigenden Empowerments zu trösten. Indem ein gemischter Chor den mütterlichen Trost spendet, weist Brahms darauf hin, dass sowohl männliche als auch weibliche Mitglieder einer Gemeinschaft tröstend auf die Trauernden einwirken können. Fasst man den Chor als die von männlichen und weiblichen Stimmen sich äußernde Gottesstimme auf, so zeigt sich darin ein Gottesbild, das sowohl väterliche als auch mütterliche Anteile berücksichtigt. Im Wiegenlied op. 49/4 hingegen verehrt Brahms die Frau in Erfüllung ihrer mütterlichen Pflichten. Die „Mutter an der Wiege“ ist das Idealbild einer tugendhaften Frau schlechthin, die ihrer ‚natürlichen‘ Bestimmung nachkommt und sich der bürgerlichen Geschlechterordnung unterwirft. Mütterlich-sorgendes Verhalten inszeniert Brahms in einer häuslichen Szene, in der die Volksliedmelodie des Wiegenliedes zur ‚natürlichen‘ Betätigung der Mutter erst durch die liebend verehrende und musikalisch komplexe Begleitmelodie des Mannes zum Kunstlied avanciert. Die Schilderung einer glücklichen Liebesbeziehung wie die von Peter und Magelone bleibt im brahmsschen Liedschaffen eher die Ausnahme.574 Viel öfters verkehren in seinen Liedern „Menschen mit Menschen, mit aller Lust und mit allem Leid, welche damit verbunden sind. Er steht stets mit zwei Füßen auf dem
574
So z. B. in Junge Lieder op. 63/5, In Waldeseinsamkeit op. 85/6, Minnelied op. 91/5 oder Wir wandelten op. 96/2.
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Boden, aber erhebt sich dafür auch nie so hoch wie etwa Schubert oder Schumann.“575 Im brahmsschen Liedschaffen gibt es eine ganze Reihe einsam gebliebener, verlassener oder betrogener Frauen, deren Leben durch eine unglückliche Liebe zerstört ist: Neben der bereits erwähnten Magelone, deren Liebesleid nur vorübergehend ist, und Sulima, die aufgrund ihrer überschwänglich leidenschaftlichen Gefühle ihren Liebsten abschreckt und verliert, tritt in op. 3/1, Liebestreu, ein verlassenes Mädchen auf, das nicht in der Lage ist, ihre liebenden Gefühle für den Mann aufzugeben. Auch in diesem Lied ist es die Musik, die die Unumstößlichkeit der festverankerten Treue der liebenden Frau beschreibt, gleichzeitig aber auch deutlich macht, dass diese Treue mit Leiden verbunden ist. Die ausschließliche Ausrichtung des weiblichen Lebensentwurfes auf Liebe entspricht dem bürgerlichen Frauenbild des 19. Jahrhunderts, wonach die Lebensaufgabe einer Frau darin bestand, einen Ehemann zu finden, Kinder zu gebären, aufzuziehen, den Haushalt zu versorgen sowie dem Mann eine treuliebende Gattin zu sein. Wenn die (Liebes-)Heirat scheiterte bzw. niemand zur Heirat gefunden wurde, war die Grundlage weiblicher Existenz bedroht, stand der Sinn ihres Lebens zur Diskussion. Diese existentielle Gefährdung eines weiblichen Lebensentwurfes durch gescheiterte Liebe verdeutlicht Brahms in seiner musikalischen Interpretation der Gedichte, indem er keine (musikalische) Weiterentwicklung (op. 33/11) zulässt und sie in ihrer Situation verharren, stagnieren lässt. Ein Ausbruch aus ihrer Situation, eine aktive Bewältigung ihres Schicksals kommt für alle diese Frauenfiguren nicht in Frage, es gibt für sie außer der Liebe nichts Sinnvolles zu tun. Die Ausrichtung auf den einen und einzigen geliebten Mann besitzt auffällige Parallelen zu Robert Schumanns Liederzyklus Frauenliebe und -leben op. 42, dem Adalbert von Chamissos gleichnamiger Gedichtzyklus zugrunde liegt. Ein wütendes Aufbegehren oder zumindest unterschwellig empfundener Zorn kommt für einsame oder verlassene Frauen nicht in Frage. Diese Art des Umgang mit Schicksalsschlägen und die damit verbundenen Empfindungen finden sich in ‚Männerliedern‘ wie Kein Haus, keine Heimat op. 94/5. Hier schleudert der im Leben gescheiterte Mann der Welt seine Wut und Verachtung entgegen, musikalisch von Brahms auf anschauliche Weise durch kurze Staccato-Schläge untermalt. Grund dieser Weltverachtung ist das Nichterreichen der für ein erfolgreiches Männerleben als notwendig erachteten Ziele. Genannt werden ein eigener Hausstand, der Heimatgefühle vermittelt, und eine eigene Familie mit Frau und Kind. Ergänzen lassen sich diese Ziele durch weitere Werte, die zum Entwurf eines erfolgreichen Männerlebens gehören: beruflicher Erfolg und Ruhm sowie Siege über Konkurrenten (vgl. op. 33/1).
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Bernet-Kempers: Emanzipation des Fleisches, S. 28f.
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Ebenso wie in den Schatzkästlein festgehalten, ist das Männlichkeitskonzept in den Liedern von Brahms geprägt von Eigenschaften wie Aktivität, Rationalität, Kraft und Energie, wobei ein stärkeres gefühlsmäßiges Ausleben schmerzhafter Affekte aufzufinden ist, als in den eher kühle, sachliche Rationalität vermittelnden Eintragungen der Schatzkästlein. Sein Konzept von Weiblichkeit weist sowohl in seinem Liedschaffen als auch in seinen Exzerpten mehrschichtige Facetten auf: Neben die treuliebende Magelone und leidenschaftliche Sulima tritt ein Reigen von Mädchen, die an ihrer unglücklichen Liebe leiden bzw. nicht wiedergeliebt werden, und von Frauen, die den Mann verführen, abweisen oder ihm körperliche Befriedigung gewähren. Die in den Schatzkästlein häufig vertretenen bissig-spöttischen Bemerkungen über Frauen sind in den brahmsschen Liedern die Ausnahme. Zu nennen wären hier Unüberwindlich op. 72/5 auf ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe – ein Wortspiel zwischen „Flasche“ und „Falsche“ zeigt die Abhängigkeit des Mannes von beiden – und In den Beeren op. 84/3 auf ein Gedicht von Hans Schmidt: Die Mutter will als eine Art Vogelscheuche die Verehrer der Tochter vertreiben. Brahms beschreibt in seinen Liedern Frauen- und Männerfiguren, die mit ihren Stärken und Schwächen, mit Fehlern und Ängsten umgehen müssen, deren Liebe scheitert und deren gesamte Existenz in Frage gestellt wird. Er thematisiert in seinen Liedern neben den idealen Imaginationen das psychologisch Wahrscheinliche. Dieser realistische Zug ergänzt bzw. relativiert die idealen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Auch seine Vorliebe für Gedichte mit erotischsinnlichem Inhalt, ein Aspekt, der bereits in den Ideen der frühen Romantik vorgedacht war und von Brahms durch Vertonung von Gedichten aus dieser Zeit in das bürgerliche Geschlechterkonzept aufgenommen wurde, ist kennzeichnend für seine Liebesauffassung: Nur in einer gelungenen Synthese von geistiger und körperlicher Liebe gelingt die beglückende Liebesbeziehung. Damit fußt Brahms in seiner Auffassung der Geschlechter sowohl auf frühromantischen Liebeskonzeptionen als auch auf den bürgerlichen Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit seiner Zeit, die er um realistische Aspekte erweitert. Die orientalische Welt mit ihren exotischen, außergewöhnlichen Reizen, wie sie von Brahms in der Sulima-Episode der Magelonen-Romanzenentworfen und in der Rinaldo-Kantate op. 50 wieder aufgegriffen wird, war im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert ein beliebtes Sujet in Literatur, Kunst, Theater und Musik.576 Die Handlungen zahlreicher Opern – von Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) über Schumanns Das Paradies und die Peri (1843), Saint-Saëns Samson und
576
Vgl. Schmitt: Exotismus; Gradenwitz: Musik zwischen Orient und Okzident; Colvin: Rhetorical feminine; Locke: Constructing the oriental ‚other‘; siehe auch Mayer: Außenseiter, hier das Kapitel „Judith und Dalila“, S. 31–167.
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Dalila (1868) bis hin zu Richard Strauss’ Salome (1905) – spielen in diesem Kulturkreis.577 Im Zuge des englischen und französischen Kolonialismus entwickelte sich ein Interesse an orientalischen Mythen, an Geschichten und auch an orientalischer Musik (Janitscharen-Musik), das durch die Weltausstellungen in London (1851), Wien (1873) und Paris (1878) noch verstärkt wurde. Die ‚andere‘ Welt des Orients faszinierte, aber sie wurde gleichzeitig als Gefährdung empfunden, die es zur Etablierung der eigenen kulturellen Überlegenheit abzuwehren galt – ebenso wie das ‚andere‘ Geschlecht sowohl faszinierte als auch die männliche Hegemonie zu bedrohen schien. Hieran zeigt sich „die strukturelle Analogie von Frauen und Fremden, wie sie schon durch Freuds berühmt-berüchtigtes Diktum von der Frau als dem ‚dunklen Kontinent‘ hervorgehoben worden war.“578 Sulima und besonders Armida, die Protagonistin der Rinaldo-Kantate, stellen als orientalische Frauen eine Gefahr dar, weil sie den Helden von seinem eigentlichen Lebensglück, der Wahl der ‚richtigen‘ Frau, und seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen abhalten. Armida als die Repräsentantin des Ostens plant sowohl den Untergang von Rinaldo (Verlust seiner Männlichkeit) als auch den der Kreuzfahrer (Niederlage im Kampf gegen die Ungläubigen). Die orientalisch-weibliche Welt muss zur Sicherung der eigenen kulturellen (christlich-abendländisch) und geschlechtlichen (männlichen) Identität abgewehrt und zerstört werden. Wie ein männliches Subjekt seine gesellschaftlich sanktionierte Geschlechtsidentität in einem Akt der Resozialisierung und Konstituierung zurückerhält, ist Thema der Rinaldo-Kantate op. 50. Ein gefühlvolles, lyrisch-emotionales männliches Individuum (Rinaldo), das seine sinnlich-erotischen Bedürfnisse auslebt, verzichtet auf seine Emotionalität und Individualität, weil ihm sein Verhalten vom Männerkollektiv des Chores als erniedrigend, weil ‚unmännlich‘ gespiegelt wird. Die männlich dominierte Gesellschaft, die für Tatenkraft, Ehre, Heldentum und Pflichterfüllung steht, setzt ihre Geschlechternorm autoritär durch, indem sie das abweichende Individuum schrittweise in die Gemeinschaft zurückführt und gleichschaltet. Männlichkeit bedeutet in diesem Sinne soziale Pflichterfüllung und Abwehr der kulturell und geschlechtlich ‚anderen‘ Anteile und Imaginationen. Diese ‚andere‘ Welt ist die kulturell und geschlechtlich ‚anders‘ imaginierte Welt eines verführerisch-weiblichen Orients. Armida, die begehrenswerte, aber auch geheimnisvoll-gefährliche Zauberin, ist zum einen als die personifizierte Imagination des ‚Anderen‘ das Objekt der männlichen Begierde und Sehnsucht, zum anderen gefährdet sie die Ziele des Männerkollektivs und die Entwicklung einer gesellschaftlich eingeforderten männlichen Identität auf Seiten Rinaldos: Ihre ‚natürlich‘körperhafte Erotik und Individualität wird hier polarisierend zur Kultur des männ-
577 578
Vgl. zum Zusammenhang von Orientalismus und Literatur Lowe: Critical terrains. Hof: Kulturwissenschaften und Geschlechterforschung, S. 331.
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lich dominierten Abendlandes inszeniert. Somit symbolisiert der Konflikt zwischen Orient und Okzident den Konflikt zwischen emotionaler Individualität und rationalem Gemeinschaftssinn. Das männliche Individuum muss sich entscheiden, ob es seine emotionalen Anteile abwehrt, um als ‚vollwertiges‘ Mitglied in eine männlich geprägte Gesellschaft aufgenommen und anerkannt zu werden, oder ob es seinem Wunsch nach Emotionalität nachgibt, dafür aber Sanktionen wie den Makel der Unmännlichkeit oder Verzicht auf gesellschaftliche Integration in Kauf nimmt. Die Konstituierung eines männlichen Subjekts mit gesellschaftlich sanktionierter Geschlechtsidentität erfolgt in der Rinaldo-Kantate durch Abwehr des ‚Anderen‘ und zwar des kulturell und geschlechtlich ‚Anderen‘. Sie macht deutlich, „wie rassische Unterscheidungen operieren, um bestimmte gesellschaftlich bedrohliche sexuelle Überschreitungen abzuwehren.“579 Das männliche, christliche Subjekt muss sich ‚ermannen‘ und wird mit allen Mitteln in die Gemeinschaft zurückgeholt. ‚Verweiblichte‘, emotionale Männer, denen Liebe und sexuelle Erfüllung wichtiger ist als der an sie gestellte gesellschaftliche Auftrag, dürfen nicht sein, weil der Fortbestand der christlich-abendländische Kultur davon abzuhängen scheint. Kulturelle Identität und Geschlechtsidentität sind demnach eng miteinander verbunden. Weil die männliche Geschlechtsidentität in einem Prozess der ‚Ermannung‘ zu erringen ist, kann sie nicht als ‚natürlich‘ vorausgesetzt werden. „Das ‚Geschlecht‘ wird immer als eine unentwegte Wiederholung vorherrschender Normen hergestellt. Diese produktive Wiederholung kann als eine Art Performativität gedeutet werden. Die diskursive Performativität produziert offenbar das, was sie benennt [...].“580 Der diskursive Prozess des Zitierens, des Aufzeigens der Abweichungen und des Einforderns der gesellschaftlichen Normen bringt zwar „kulturell lebenstüchtige sexuelle Subjekte“581 hervor, er ist aber auf Seiten des Subjekts ein schmerzhafter, denn Brahms schildert die Herstellung und Sicherung der männlichen Geschlechtsidentität (Sozialisation) – im Fall von Rinaldo eigentlich die Wieder-Herstellung, also die Resozialisierung – als einen Prozess, der mit großer Trauer und seelischer Verletzung („im Tiefsten zerstöret“) verbunden ist.582 Er setzt zur musikalischen Darstellung dieses Prozesses differenzierte Gestaltungsmittel und musikalische Idiome ein, die die unterschiedlichen Kulturkreise und damit die Geschlechterdichotomie sowie die Macht der diskursiv eingeforderten gesellschaftlichen Normen deutlich machen. Am Ende feiert er den Chor der Gefährten,
579 580 581 582
Butler: Körper, S. 46. Butler: Körper, S. 154. Butler: Körper, S. 154. Im Gegensatz hierzu spricht Carl Pietzcker von einem „Heilungsprozess“, den Rinaldo durchlaufe, weil er seine Leidenschaften überwinde und zu einem produktivtatkräftigen Mann werde (Goethes Rinaldo, S. 672).
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also die männlich dominierte Gesellschaft, mit großer triumphaler Emphase. Die Trauer um den Verlust des ‚Anderen‘ und um die inneren Verletzungen scheint – vom Meereswind – wie weggeblasen, zumindest geht sie im Triumph der Gesellschaft unter und ist nicht mehr wahrnehmbar. Der Sieg der Gesellschaft bleibt dennoch ein teuer erkaufter.
5
Instrumentalmusik
In den bisherigen Analysen wurden Wort-Ton-Verbindungen der brahmsschen Vokalmusik auf Implikationen von Männlichkeit und Weiblichkeit untersucht: Die im Gedicht dargestellten Situationen, seien sie emotionaler oder narrativer Art, und die in ihnen enthaltenen Genderkonnotationen wurden in ihrer kompositorischen Ausgestaltung beschrieben. Auf diesem Weg wurden Aussagen über Geschlechterkonzepte in der Vokalmusik von Johannes Brahms getroffen. Außermusikalische Bedeutung entsteht in der Vokalmusik demnach durch die intermediale Verknüpfung von Text und Musik. Eine ähnliche intermediale Bezugnahme liegt vor, wenn der Komponist seinem Werk ein Programm zugrunde legt oder ihm einen programmatischen Titel gibt – so wie Liszt es in seinen sinfonischen Dichtungen getan hat. Der mit dem Titel verbundene und assoziierte Inhalt (Hamlet, Tasso, Faust, Prometheus) gibt die Richtung der vom Komponisten intendierten Bedeutung vor. Ein dem Musikstück vorangestelltes Gedicht, ein Motto oder der Verweis auf ein Gemälde wie bei der Hunnenschlacht legen den inhaltlichen Bedeutungsrahmen des musikalischen Geschehens ebenso fest. Wird der Inhalt einer Komposition durch außermusikalische Hinweise ‚festgelegt‘, dann verdeutlichen musikalische Malerei (Schlachtengetümmel, Jagdmotive, Gewitter, Tierrufe), leitmotivische Arbeit, musikalische Affektdarstellung, Stimmungsbilder oder Personencharakterisierung die im Gedicht oder Drama vorkommenden Handlungsabläufe, Geschehnisse, Ereignisse und Personen. Dabei fügt die Instrumentalmusik – wie in der Vokalmusik – eine weitere Erzähl- und Bedeutungsebene hinzu. Fragt man grundsätzlich nach dem ‚Inhalt‘ so genannter absoluter Musik, dann tritt man in einen musikästhetischen Diskurs ein, der seit dem 19. Jahrhundert von heftigen Diskussionen zwischen Formal- und InhaltsästhetikerInnen geprägt ist. Im Zentrum der kontroversen Diskussion stand und steht das semantische Problem musikalischer Referenz, das heißt, es geht um die ‚Sprache‘ der Musik und ihren Bedeutungsgehalt: Auf welche außermusikalischen Inhalte kann Musik verweisen? Besitzt Musik überhaupt einen Sprachcharakter? Welche Inhalte vermittelt sie? Ist Instrumentalmusik frei von konkreten Bedeutungen, artikuliert sie höchstens das Unsagbare und ermöglicht transzendente Erfahrungen? Oder steht Musik ebenso wie Literatur und Kunst in gesellschaftlichen Bezügen, nimmt sie – in ihrer spezifischen ästhetischen Ausdrucksform – an gesellschaftlich relevanten Diskursen teil? Constantin Floros vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, „daß die Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts zu allen Bereichen des geistigen Lebens, insbesondere zur Literatur und Philosophie, in einer engeren
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201
Beziehung steht, als gemeinhin angenommen wird.“583 Diese Beziehung und die Beteiligung der Musik als Ergebnis kultureller Praktiken an gesellschaftlichen Diskursen, konkret am Geschlechterdiskurs, soll anhand der Instrumentalmusik von Brahms dargelegt werden.
5.1
Annäherung an die musikästhetische Position von Johannes Brahms
Brahms’ musikästhetisches Selbstverständnis ist vor dem Hintergrund des Parteienstreits zwischen der Neudeutschen Schule, den so genannten ‚Zukunftsmusikern‘, und den ‚Konservativen‘ zu diskutieren. Inmitten dieser Polarisierung, die nicht nur das Musikleben, sondern das gesamte Geistesleben der Zeit beherrschte,584 vollzog sich sein Komponieren, und in diesem Kontext sind seine Werke ästhetisch zu verorten. Beide Parteien stritten über die Richtung des musikalischen Fortschritts: Während die Anhänger der ‚Zukunftsmusik‘ diese in den neuen Gattungen sinfonische Dichtung und Musikdrama sahen, vertraten die Verfechter der als ‚konservativ‘ bezeichneten Position die Ansicht, dass eine musikalische Weiterentwicklung innerhalb der traditionellen Formen und Gattungen, hier vor allem der Sinfonie und des Streichquartetts, erfolgen müsse. Der Streitpunkt lässt sich – stark vereinfachend – auf den Gegensatz zwischen Formal- und Inhaltsästhetik bzw. zwischen Autonomie- und Heteronomieästhetik585, auf die Opposition von absoluter und programmatischer Musik zuspitzen. Brahms wirkte im Frühjahr 1860 an der Verfassung einer musikpolitischen Stellungnahme gegen die Neudeutschen mit und widersprach als einer der vier Unterzeichner586 der Behauptung, dass die Zukunft der Musik zugunsten der Neudeutschen entschieden sei. Des Weiteren wies er in dem Manifest die musikästhetischen Grundsätze der Gegenpartei „als dem innersten Wesen der Musik zuwider“587 zurück. Sein Urteil über die Protagonisten der Zukunftsmusik, Franz Liszt und Richard Wagner, blieb dennoch differenziert. Ablehnend stand er dem kompositori-
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587
Floros: Literarische Ideen, S. 14. Vgl. Floros: Brahms – poetische Musik, S. 103. Vgl. Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare, S. 255–264. Neben Brahms unterzeichneten Joseph Joachim, Julius Otto Grimm und Bernhard Scholz die Erklärung. Durch eine Indiskretion erschien der Protest im Berliner Echo, bevor weitere Gesinnungsgenossen ihre Zustimmung erklären konnten: Woldemar Bargiel, Max Bruch, Albert Dietrich, Carl Graedener, Carl Reinecke, Franz Wüllner und andere (vgl. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 307). Kalbeck: Brahms I, S. 405.
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schen Schaffen von Liszt588 gegenüber, während er dessen pianistische Fähigkeiten bewunderte.589 Die musikgeschichtliche Bedeutung Richard Wagners stellte er nie in Abrede, er studierte dessen Opern intensiv, besuchte Aufführungen und verteidigte sie gegen unsachliche Kritik.590 Er besaß autographe Notenblätter von Wagner-Opern (Rheingold, Orchestervorspiel des Tristan) und die erste Ausgabe von Wagners Klaviersonate B-Dur.591 Bemerkenswert ist auch, dass Brahms 1863 anlässlich einer bevorstehenden Aufführung der Meistersinger in Wien über Peter Cornelius anbot, Teile des Werkes zu kopieren – eine besondere Geste in Anbetracht des Manifestes und des Debakels drei Jahre zuvor. Brahms kritisierte Wagners Musiksprache, seinen Umgang mit der Zeit und die Fusion formaler Elemente,592 differenzierte jedoch und erkannte die kompositorische Qualität einzelner Werke durchaus an, wie er in einem Gespräch mit Richard Specht darlegte: Ich habe es einmal zu Wagner selbst gesagt, daß ich heute der beste Wagnerianer bin. Halten Sie mich für so beschränkt, daß ich von der Heiterkeit und Größe der ‚Meistersinger‘ nicht auch entzückt werden konnte? Oder für so unehrlich, meine Ansicht zu verschweigen, daß ich ein paar Takte dieses Werkes für wertvoller halte als alle Opern, die nachher komponiert wurden?593
Im Parteienstreit galt Brahms „als konservativ, weil er sich dem ‚Fortschritt‘ der ‚Neudeutschen‘, vor allem der Forderung nach konkret programmatischer Musik, nicht anschließen mochte, sondern statt dessen eine Tradition fortsetzte, die un-
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„Gestern ist Otten der erste gewesen, der in einem anständigen Konzert Werke von Liszt brachte. Loreley, ein Lied, und Lenore von Bürger mit melodramatischer Begleitung. Ich habe mich doch schändlich geärgert. Ich erwarte, daß er diesen Winter noch eine sinfonische Dichtung bringt. Die Pest wird immer weiter greifen, und jedenfalls verlängert und verdirbt sie doch die Eselsohren des Publikums und der komponierenden Jugend.“ (Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 294f). „Wer Liszt nicht gehört hat, kann eigentlich gar nicht mitreden. Er kommt zuerst, und dann nach ihm eine gute Weile niemand. Sein Klavierspiel war etwas Einziges, Unvergleichliches und Unnachahmliches.“ (Kalbeck: Brahms I, S. 90). In einem Brief an Clara Schumann vom 28.3.1870 schrieb er: „Ich schwärme nicht – weder für dies Werk [Meistersinger], noch sonst für Wagner. Doch höre ich mir’s so aufmerksam wie möglich an, d. h. so oft – ich’s aushalten kann.“ (Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 617). Kalbeck berichtet von einem 1897 geführten Gespräch zwischen Richard Specht und Brahms, in dem Brahms sich als den Musiker bezeichnete, „der heute Wagners Werke am besten versteht und jedenfalls besser als irgendeiner seiner sogenannten Anhänger“ (Kalbeck: Brahms III, S. 409, Anmerkung). Vgl. Musgrave: Cultural world, S. 18. Vgl. Musgrave: Cultural world, S. 20–21. Vgl. Kalbeck: Brahms III, S. 409, Anmerkung.
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mittelbar an Schumann und Mendelssohn anknüpft.“594 Dennoch ist zu bezweifeln, dass Brahms den musikästhetischen Gedanken seines Freundes Eduard Hanslick, der in seiner Schrift Vom Musikalisch-Schönen595 die Prämissen der Formalästhetiker auf den Punkt brachte und als theoretischer Wortführer der Konservativen galt, wirklich nahestand. Brahms beurteilte Hanslicks Schrift in einem Brief vom 15.1.1856 an Clara Schumann zunächst negativ: „Sein Buch ‚Vom MusikalischSchönen‘ [...] wollte ich lesen, fand aber gleich beim Durchsehen so viel Dummes, daß ich’s ließ.“596 Im Laufe der beginnenden Freundschaft urteilte Brahms dann diplomatischer. Als Hanslick ihm ein Exemplar der zweiten Auflage mit Widmung vom 27.4.1863 schenkte, bedankte sich Brahms mit den Worten: Großen Dank muß ich dir noch sagen für dein Buch vom Musikalisch-Schönen, dem ich genußreichste Stunden, Aufklärung, ja förmlich Beruhigung verdanke. Jede Seite ladet [sic] ein, auf das Gesagte weiter fort zu bauen, die schönsten Durchführungen zu versuchen, und da hiebei ja, wie du sagst, die Motive die Hauptsache sind, so verdankt man dir immer den doppelten Genuss.597
Das in Brahms’ Nachlass befindliche Exemplar weist keine brahmstypischen Gebrauchsspuren auf. Nur eine einzige Stelle ist angestrichen, nämlich am Rand auf Seite 38 mit blauem Blaustift neben dem zentralen Satz: „Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“.598 Gegenüber Clara Schumann unterschied Brahms in einem Brief vom 27.8.1895 anlässlich des bevorstehenden 70. Geburtstags von Hanslick zwischen den menschlichen Eigenschaften und dem musikästhetischen Denken seines Freundes: Ich kann nicht helfen, ich kenne wenig Menschen, für die ich so herzliche Zuneigung habe, wie für ihn. So einfach gut, wohlwollend, ehrlich, ernst bescheiden und was alles zu sein, wie ich ihn kenne, halte ich für etwas sehr Schönes und sehr Seltenes. Wie viel Gelegenheit hatte ich, ihn mit Freude, ja Rührung so kennen zu lernen. Daß er in seinem
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Steinbeck: Romantische und nationale Symphonik, S. 181. Jedoch stellt es ebenfalls eine Vereinfachung dar, Hanslick als reinen Formalisten zu sehen. Zwar spricht er davon, dass es jede Kunst zum Ziel habe, „eine in der Phantasie des Künstlers lebendig gewordene Idee zur äußeren Erscheinung zu bringen. Dies Ideelle in der Musik ist ein tonliches, nicht ein begriffliches, welches erst in Töne zu übersetzen wäre.“ (Hanslick: Vom Musikalisch Schönen, S. 66) Dennoch benutzt er in seinen Musikkritiken Begriffe, Assoziationen und auch genderkonnotierte Beschreibungen, um musikalische Verläufe zu verbalisieren, wie in Kapitel 6.2.1 dargelegt wird. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 168. Hanslick: Ende, S. 388. 2. verb. Aufl. Leipzig 1858; Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien; Sign. 2284/201, Hervorhebung im Original. Der Band weist nur wenige Kratzspuren auf.
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Fach ungemein tüchtig ist, darf ich um so eher sagen, als wir nach sehr verschiedenen Seiten aussehen – ich aber von ihm nichts Unberechtigtes verlange und erwarte.599
Es widerspricht somit der musikästhetischen Selbsteinschätzung von Brahms und stellt eine grobe Vereinfachung seines musikästhetischen Denkens dar, in ihm den Hauptvertreter der konservativen Musikpartei zu sehen, auch wenn diese Brahms als Repräsentanten ihrer musikästhetischen Auffassung gut instrumentalisieren konnte, so zumindest das Urteil von Friedrich Nietzsche: „Sein [Brahms’] Glück war ein deutsches Mißverständnis: man nahm ihn als Antagonisten Wagners – man brauchte einen Antagonisten!“600 Brahms selbst verortete sich und seine Musik weder in der Formalästhetik seines Freundes Hanslick,601 noch in der progressiven Neudeutschen Schule um Wagner und Liszt: „ich bin keiner, der dazu taugt, an die Spitze irgendeiner Partei gestellt zu werden, denn ich muß meinen Weg allein und in Frieden gehen und hab’ ihn auch nie mit einem anderen gekreuzt.“602 Kritisch gegenüber musikästhetischer Parteienbildung,603 sah Brahms seinen musikgeschichtlichen Auftrag darin, „dauerhafte Musik“604 zu schreiben, die, auf der Kenntnis der Traditionen fußend, aktuelle Strömungen und oberflächliche Moden überdauern sollte. Brahms erachtete das Spätere nicht für das Vollkommenere, die Werke Beethovens bedeuteten ihm nicht notwendigerweise eine Steigerung über Mozart hinaus. Vielmehr glaubte er daran, daß die Musik ihre größten Höhepunkte schon in der Vergangenheit erreicht hatte. Das erklärt seine retrospektive Haltung und auch seine übermäßige Verehrung der vergangenen Kunst [...].605
5.1.1
Brahms und das Poetische in der Musik
Brahms’ individuelles, keiner Musikpartei sich verpflichtendes musikästhetisches Verständnis zeigt sich in seiner toleranten Einstellung gegenüber poetischen Deutungen seiner Musik: Er sagte, in manchen Menschen stiegen eben immer Bilder auf beim Anhören von Musik, auch bei ihm sei dies, wenngleich seltener, der Fall. Joachim habe ihm ge-
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Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 2, S. 596. Nietzsche: Werke, Bd. 2, S. 934, Hervorhebung im Original. Vgl. Rienäcker: Auseinandersetzung unter Gleichgesinnten? Brahms gegenüber Richard Specht; Kalbeck: Brahms III, S. 409. Vgl. Musgrave: Cultural world, S. 26. Jenner: Brahms, S. 74f. Floros: Brahms – poetische Musik, S. 106f.; vgl. hierzu auch Heuberger: Erinnerungen, S. 93f.
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schrieben, beim Anhören des letzten Satzes seiner dritten Symphonie habe er das Bild von Hero und Leander nicht weggebracht, und es lasse sich ja hören.606
Sein Zugeständnis, dass ihm beim Hören von Musik poetische Bilder aufstiegen und diese in die Musik hineingehört werden könnten, lässt sich mit seinen Aussagen in Briefen an Clara Schumann belegen. Bezeichnenderweise teilte Brahms seine Assoziationen zur Musik anderer Komponisten mit, schwieg aber zu seinen eigenen Werken. So schrieb er am 14.8.1855: „Beethoven hat auch sehr gern Plutarch gelesen, und oft sieht man auch im Geist solchen Held ankommen bei seiner Musik.“607 Und am 23. 12.1892 erklärte er zum Andante mit Variationen op. 46 für zwei Klaviere von Robert Schumann: Es ist, als ob man an einem schönen sanften Frühlingstag spazierte, unter Erlen, Birken und blühenden Bäumen, ein sanft rieselndes Wasser zur Seite. Man wird nicht satt zu genießen die ruhige, nicht warm, nicht kalte Luft, das sanfte Blau, das milde Grün, man denkt nicht, daß es auch Aufregung gibt, und wünscht keine dunklen Wälder und schroffen Felsen und Wasserfälle in die schöne Einförmigkeit. [...] Man taucht unter und genießt die holde Musik wie die zarte erquickende Frühlingsluft und Landschaft.608
Die von Brahms angeführten Beispiele lassen eine Parallele zu den musikästhetischen Positionen seines Förderers Robert Schumann erkennen, dessen Schriften und Bibliothek Brahms während seiner Düsseldorfer Zeit intensiv studieren konnte. Schumann verknüpfte die Idee der absoluten Musik mit dem Poetischen, das für ihn die ideale, höhere Welt im Gegensatz zur prosaischen Alltagswelt darstellte. Poetische Musik609 verzichtet demzufolge auf äußerliche Virtuosität, sie ist romantische Musik, Seelensprache, charakteristisch, phantasievoll und phantasieanregend, originell und neu; sie führt in das Geisterreich der Kunst und in die Welt des Traums. Gedichte können Inspirationsquelle für poetische Musik sein, genauso wie poetische Musik zum Dichten anregen könne. Daher verstand Schumann „‚Textund Bildunterlagen‘ zur Musik als poetische, nicht aber als programmatische Notwendigkeit der ästhetischen Rezeption“610, die einen nachschaffenden Hörer verlange: Ich will nicht versuchen, der Symphonie [C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert, D 944] eine Folie zu geben, die verschiedenen Lebensalter wählen zu verschieden in ihren Text- und Bildunterlagen, und der achtzehnjährige Jüngling hört oft eine Weltbegebenheit aus einer Musik heraus, wo der Mann nur ein Landesereignis sieht, während der Musiker weder an das Eine noch an das Andere gedacht hat, und eben nur seine beste
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Kalbeck: Brahms IV, S. 11. Bericht der Stieftochter von Joseph Victor Widmann, Ellen Vetter, über den Thuner Aufenthalt von Brahms im Jahr 1886. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 124. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 2, S. 496. Vgl. ausführlich Floros: Literarische Ideen, S. 28–32. Tadday: Das schöne Unendliche, S. 38.
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Musik gab, die er auf dem Herzen hatte. Aber daß die Außenwelt, wie sie heute strahlt, morgen dunkelt, oft hineingreift in das Innere des Dichters und Musikers, das wolle man nur auch glauben, und daß in dieser Symphonie mehr als bloßer schöner Gesang, mehr als bloßes Leid und Freud’, wie es die Musik schon hundertfältig ausgesprochen, verborgen liegt, ja daß sie uns in eine Region führt, wo wir vorher gewesen zu sein uns nirgends erinnern können, dies zuzugeben, höre man solche Symphonie. [...] Und diese himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen.611
Anhand zahlreicher Quellenbelege zur Ästhetik, Kritik und Geschichte der romantischen Musikanschauung begründet Ulrich Tadday in seiner musikästhetischen Untersuchung „das ‚Poetische‘ als zentrale Kategorie der ästhetischen Reflexion“612 und zeigt auf, dass „die Musik als Produkt der kompositorischen Phantasie und Reflexion der Interpretation, d. h. der Aufführung und Auslegung bedürftig ist.“613 Damit kann das Poetische der Musik und seine Reflexion im Interpretations- und Rezeptionsvorgang als das eigentliche Kennzeichen absoluter Musik benannt werden. Der Idee der absoluten Musik, wie sie von Carl Dahlhaus formuliert wurde, läuft dieses am Begriff des Poetischen festgemachte romantische Musikverständnis diametral entgegen. So erkennt Dahlhaus die Theorie des MusikalischPoetischen als eine Ästhetik der absoluten Musik zwar an,614 lehnt aber eine poetisierende Hermeneutik als misslungenen Versuch ab, „in stammelnde Worte zu fassen, was sich Worten entzieht [...].“615 Unterbleibt jedoch die poetisch-ästhetische Reflexion absoluter Musik, dann verharrt der Rezeptionsvorgang auf einer formalstrukturellen Ebene, die dem poetischen Aussagegehalt der Musik nicht gerecht wird. Schumann selbst versuchte durch bildliche Reflexionen und narrative Deutungen, den poetischen Gehalt der Musik zu verbalisieren.616 Gleichzeitig war
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Schumann: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 7f. Tadday: Das schöne Unendliche, S. 136. Tadday: Das schöne Unendliche, S. 142. „Die Theorie des ‚Musikalisch-Poetischen‘ ist [...] eine Ästhetik der absoluten Musik.“ (Dahlhaus: Absolute Musik, S. 70). Dahlhaus: Absolute Musik, S. 71. Inwieweit das Konzept der absoluten Musik selbst als ein von Genderkonnotationen beeinflusstes aufzufassen ist, müsste differenziert diskutiert werden. Allein die Geschichte des Begriffes (von Wagner über Hanslick bis Dahlhaus) wäre zu problematisieren und kontextualisieren (vgl. Pederson: Absolute music). Wenn in der romantischen Musikästhetik des (frühen) 19. Jahrhunderts Instrumentalmusik mit dem Poetischen verknüpft wird, um das Unsagbare auszudrücken, so scheint eine Synthese zwischen formalästhetischen Aspekten und poetischer Idee intendiert, bei der (männlich konnotierte) absolute Musik und (weiblich konnotierte) poetische Musik zu einer Einheit verschmelzen. Vgl. z. B. Schumanns poetische Deutung seines Klavierstücks In der Nacht aus den Phantasiestücken op. 12. In einem Brief vom 21.4.1838 berichtet er Clara Wieck, dass er darin die Geschichte von Hero und Leander gefunden habe. „Spiel ich die ‚Nacht‘
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er sich darüber im Klaren, dass seine Bilder und Assoziationen subjektiv und relativ sind, da sie von verschiedenen Faktoren wie Alter oder Bildung beeinflusst werden. Des Weiteren führte Schumann das Poetische auch als Argument gegen die Programmmusik berliozscher Prägung an, dessen ausführliches und persönliches Programm zur Symphonie fantastique er ablehnte. Diese Haltung entsprang einem Widerwillen gegen programmatische Wegweiser, die er als unwürdig und scharlatanmäßig617 empfand, da durch sie die freie Assoziation kanalisiert, die Phantasie geknebelt werde. „Aus Schumanns Perspektive verhindert [...] das Literarische des Programms das Poetische der Musik.“618 Seiner eigenen Instrumentalmusik, einzelnen Sätzen und auch ganzen Klavierzyklen stellte er charakterisierende Überschriften als poetische Mottos voran, die zwar eine Assoziationsrichtung vorgaben und zu einem schnellerem Verständnis führen sollten, die dennoch der Musik kein festes Programm aufzwingen wollten (zum Beispiel Papillons op. 2, Carnaval op. 9, Kinderszenen op. 15, darin Sätze mit Titeln wie Hasche-Mann, Bittendes Kind, Ritter vom Steckenpferd usw., Kreisleriana op. 16). Schumann „ließ sich zur Komposition von literarischen Eindrücken anregen, assoziierte Literarisches und Visuelles mit Musikalischem, war von dem Gedanken einer ‚Oper ohne Text‘ fasziniert“619 und forderte als entscheidendes Beurteilungskriterium, dass die Musik auch ohne Text und Erläuterung an sich etwas sei und sie Geist besitze620, dasheißt, „daß auch die charakteristische und ‚poetische‘ Musik, für die er eintrat, in erster Linie als Musik zu beurteilen und zu bewerten sei.“621 Im Gegensatz zu Schumann hat Brahms bis auf das verunglückte Manifest seine Position zu musikästhetischen Fragen nicht weiter erläutert. Dennoch deutete er in seinen Briefen an Freunde und Verleger an, dass er in seiner Musik mehr als thematisch-motivische Arbeit betreiben oder formale Strukturen entwickeln wollte. Durch vorangestellte Gedichte, durch das Verwenden eigener oder fremder Zitate, durch Ton- und Buchstabenchiffren, durch Textierungen oder Allusionen622 fügte er seiner Musik poetische Bedeutungsebenen hinzu. In den letzten Jahren ist in der
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so kann ich dies Bild nicht vergessen – erst wie er sich in’s Meer stürzt – sie ruft – er antwortet – er durch die Wellen glücklich an’s Land – nun die Cantilene, wo sie sich in Armen haben – dann, wie er wieder fort muß, sich nicht trennen kann – bis die Nacht wieder alles Dunkel einhüllt“ (Schumann, Clara und Robert: Briefwechsel, S. 154, zit. nach Tadday: Das schöne Unendliche, S. 140). Schumann: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 107: „solche Wegweiser haben immer etwas Unwürdiges und Charlatanmäßiges.“ Riethmüller: Programmusik, S. 14. Floros: Literarische Ideen, S. 49. Schumann: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 110. Floros: Literarische Ideen, S. 50. Eine Übersicht bietet Heister: Semantisierungsverfahren.
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Brahms-Forschung dieser ‚programmatische‘ und expressive Gehalt verstärkt in den Blick623 genommen worden; das Brahms-Bild hat so eine entscheidende Revision und Erweiterung erfahren: Brahms war nicht der Formalästhetiker hanslickscher Coleur, sondern ein Komponist, für den „der ‚poetische‘ – freilich niemals programmatische – Charakter der musikalischen Prägungen“624 zentral war. Einige Beispiele für die verschiedenen poetischen Bezugnahmen sind im Folgenden zusammengestellt. Das Manuskript der Klaviersonate op. 1 C-Dur ist mit „Joh. Kreisler jun.“ unterschrieben und Joseph Joachim gewidmet. Der 2. Satz, ein Andante trägt die Überschrift „Nach einem altdeutschen Minneliede“625; das Gedicht lautet: [Vorsänger] Verstohlen geht der Mond auf, [Chor] blau, blau, Blümelein, [Vorsänger] durch Silberwölkchen führt sein Lauf, [Chor] blau, blau, Blümelein. Rosen im Thal, Mädel im Saal, o schönste Rosa!
Der Liedtext kann dem Thema des Satzes unterlegt werden, wobei Phrasierung und Wechsel der Besetzung zwischen Vorsänger und Chor der antiphonalen Anlage des Satzes entsprechen (einstimmig für den Vorsänger in Tenorlage, vierstimmig für einen gemischten Chor). Durch die Kenntnis des Liedes erschließt sich die Faktur des Satzes, während gleichzeitig der Stimmungsgehalt angedeutet wird. Des Weiteren sollen dem 6/8-Intermezzo im Finalsatz (T. 107ff) die Worte des Gedichts von Robert Burns My heart‘s in the Highlands zugrunde liegen.626 Mein Herz ist im Hochland, Mein Herz ist nicht hier, Mein Herz ist im Hochland, Im waldgen Revier! Da jag ich das Rotwild, Da folg ich dem Reh,
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Vgl. Bozarth: Brahms’s Lieder ohne Worte; Brodbeck: Brahms–Joachim counterpoint; Brown: Third symphony; Daverio: Crossing paths; Fink: Desire; Floros: Brahms und Bruckner; Floros: Brahms – poetische Musik; Gülke: Brahms – Bruckner; Heister (Hrsg.): Relativierung; Hull: Brahms the allusive; Knapp: Challenge; Parmer: Brahms the programmatic; Parmer: Brahms, song quotation; Parmer: Brahms and the poetic motto; Smith: Expressive forms; Thompson: Re–forming Brahms. Steinbeck: Romantische und nationale Symphonik, S. 189. Dieses Lied wurde von Brahms noch drei Mal vertont: für Vorsänger und Frauenchor, WoO 38 Nr. 20, für Vorsänger und gemischten Chor, WoO 35 Nr. 9 und für Vorsänger und gemischten Chor mit Klavierbegleitung, WoO 33 Nr. 49. Dietrich: Erinnerungen, S. 17.
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Mein Herz ist im Hochland, Wo immer ich geh.627
Der zweite Satz, Andante con espressione der Clara Schumann gewidmeten Klaviersonate op. 2 fis-Moll basiert auf dem Lied Mir ist leide des Minnesängers Kraft von Toggenburg.628 Mir ist leide, daß der Winter beide Wald und auch die Heide hat gemachet kahl. Sein Betwingen läßt nicht Blumen entspringen noch die Vöglein singen ihren süßen Schall.
In einem Brief vom 29.12.1853 an seinen Verleger Senff bat Brahms darum, das Gedicht Junge Liebe von C. O. Sternau in Parenthese dem zweiten Satz, Andante espressivo, der Klaviersonate op. 5 f-Moll voranzusetzen, da es „zum Verständnis des Andante vielleicht nötig und angenehm“629 sei. Das Gedicht lautet: Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint, Da sind zwei Herzen in Liebe vereint Und halten sich selig umfangen.
Außerdem besitzt der in Takt 144 beginnende Andante molto-Teil eine starke Ähnlichkeit mit einer Volksweise auf Zeilen des Gedichtes von Wilhelm Hauff Steh’ ich in finstrer Mitternacht, worauf bereits Adolf Schubring 1862 hingewiesen hat.630 Das Gedicht erzählt von einem Soldaten, der während des nächtlichen Wachdienstes an seine ferne Geliebte denkt. Der 4. Satz, Intermezzo, der aus fünf Sätzen (Allegro meastoso – Andante – Scherzo – Intermezzo – Finale) bestehenden Sonate trägt den Untertitel Rückblick und greift Elemente des Andantes auf. Damit wird angedeutet, worauf in diesem Satz zurück geblickt werden soll.
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Die weiteren Strophen lauten: Mein Norden, mein Hochland / Leb wohl, ich muß ziehn / Du Wiege von allem / Was stark und was kühn. / Doch wo ich auch wandre / Und wo ich auch bin, / Nach den Hügeln des Hochlands / Steht allzeit mein Sinn. Lebt wohl, ihr Gebirge / Mit Häuptern voll Schnee, / Ihr Schluchten, ihr Täler, / Du schäumender See, / Ihr Wälder, ihr Klippen, / So grau und bemoost, / Ihr Ströme, die zornig / Durch Felsen ihr tost! Mein Herz ist im Hochland, / Mein Herz ist nicht hier, / Mein Herz ist im Hochland, / Im waldgen Revier! / Da jag ich das Rotwild, / Da folg ich dem Reh, / Mein Herz ist im Hochland, / Wo immer ich geh. (Übers.: Ferdinand Freiligrath, online unter http://www.volksliederarchiv.de/text1961.html [15.09.2009]). Dietrich: Erinnerungen, S. 17f. Brahms: Briefe an Verleger, S. 5; zit. nach Parmer: Brahms, song quotation, S. 164. Schubring: Brahms, S. 103; vgl. Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 159–161.
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Der Hinweis „Nach der schottischen Ballade ‚Edward‘ in Herders ‚Stimmen der Völker‘“ ist der ersten Ballade, Andante, der Klavierballaden op. 10 vorangestellt, das Gedicht lautet: Dein Schwert, wie ists von Blut so roth? Edward, Edward! Dein Schwert, wie ists von Blut so roth, Und gehst so traurig her? – O! O ich hab geschlagen meinen Geyer todt, Mutter, Mutter! O ich hab geschlagen meinen Geyer todt, Und keinen hab ich wie Er – O!631
Die Liedzitate und vorangestellten Gedichte in Brahms’ Klaviermusik bieten ein „hermeneutisches Fenster“632, sie ermöglichen einen Einblick in die semantischen Spuren seiner vermeintlich absoluten Musik. Wird der literarische Kontext bei der Analyse und Interpretation berücksichtigt, so lassen sich anhand des narrativen Geschehens im Gedicht der Formverlauf des Satzes – oder wie im Fall von op. 5 der gesamten Sonate – und der Ausdrucksgehalt nachvollziehen.633 Der Text kann als eine Art zugrunde gelegtes Programm aufgefasst werden, das auf „angenehme“ Weise für das nötige Verständnis der Musik sorgt. So hat es auch Adolf Schubring in seiner Analyse des Andantes aus der Klaviersonate op. 5 gesehen: Es ist Programmmusik, eine der schönsten Mondscheinpoesien, die je gedichtet worden. Dieses selige Kosen der beiden Liebenden in der stillen Nacht, dieser über die ganze Scene gegossene Duft läßt sich mit Worten nicht beschreiben [...]. [Brahms lässt] seine Liebenden nach Herzenslust auskosen, wiederholt den zärtlichsten Abschied nehmen, sich die letzten Ade noch aus der Entfernung zurufen [...].634
In den obigen Beispielen ist das Gedicht als Verständnishilfe für die HörerInnen von Brahms bewusst gesetzt. Daneben gibt es jedoch eine Fülle an Zitaten und
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Der Dialog zwischen Mutter und Sohn setzt sich fort: Nachdem die Mutter die Erklärung des Sohnes zurückweist, gibt der Sohn zunächst an, sein Pferd erschlagen zu haben. Auch das glaubt die Mutter nicht. Schließlich bekennt der Sohn, den Vater erschlagen zu haben. Als Buße will er das Land verlassen. Die Mutter fragt nach, was aus seinem Haus und Hof, seiner Frau und seinem Kind werden soll. Diese überlässt er dem Verfall bzw. der Bettelei. Als die Mutter an seine Verpflichtungen ihr gegenüber erinnert, verflucht er sie, weil sie ihm zum Vatermord geraten habe. Brahms hat diese Ballade auch für zwei Singstimmen mit Klavierbegleitung (op. 75/1) komponiert. Kramer: Cultural practice, S. 9–10. Ausführliche Interpretationen finden sich in: Bozarth: Brahms’s Lieder ohne Worte; Parmer: Brahms, song quotation; Parmer: Brahms and the poetic motto; Kraus: Andante; Kraus: Brahms als Klavierkomponist, S. 29–34; Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 159–161, Finscher: Klaviersonate op. 5. Schubring: Brahms, S. 103.
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Allusionen eigener oder fremder Werke, die Brahms in seine Musik ‚hineingeheimnist‘ hat bzw. auf die er nicht explizit hingewiesen hat. Zum Teil handelt es sich um Werke ohne überlieferte Bezugnahmen, zum Teil um Werke, über die er im Briefwechsel Andeutungen gemacht hat. Auch hier können die Allusionen bzw. Zitate eigener oder fremder Werke in ihrer Verweisfunktion als Anknüpfungspunkte aufgefasst werden, um der Instrumentalmusik ein Plus an poetischem Gehalt zu verleihen. Zunächst einige Beispiele zur Erläuterung: • •
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In der Violinsonate Nr. 1 op. 78, der so genannten Regenliedsonate, greift Brahms auf musikalische Motive aus seinem Regenlied op. 59/3 zurück.635 Auch die als „Liedersonate“636 bezeichnete Violinsonate Nr. 2 op. 100 enthält poetische Bezugnahmen. Brahms verwendet melodisches Material aus folgenden Liedern: Wie Melodien zieht es op. 105/1, Komm bald op. 97/ 5 auf Gedichte von Klaus Groth und Immer leiser wird mein Schlummer op. 105/2 auf ein Gedicht von Hermann Lingg.637 Das Autograph der Sechzehn Variationen für Klavier über ein Thema von Robert Schumann op. 9 schenkte Brahms Clara Schumann zur Geburt ihres Sohnes Felix am 11. Juni 1854, während Robert Schumann bereits in Endenich behandelt wurde. Variationen über das erste Thema des ersten der fünf Albumblätter aus Schumanns Bunten Blättern op. 99 hatte bereits Clara Schumann (op. 20) geschrieben und ihrem Mann am 8. Juni 1853 mit einer Widmung zum Geburtstag geschenkt. Zwischen die zuerst fertiggestellten Variationen 1–9 und 10–14 setzte Brahms die Variationen 10 und 11.638 Die zehnte Variation zitiert in der Coda ein Thema von Clara Schumann (T. 265–267), nämlich die erste Zeile der Romanze op. 3, das Schumann bereits in seinen Impromptus über ein Thema von Clara Wieck op. 5 verarbeitet hatte. Die nachkomponierten Variationen Nr. 10 und 11 von Brahms’ op. 9 sind auf den ersten beiden Seiten eines Doppelblattes notiert, auf dem im Autograph die Überschrift „Rosen und Heliotrop haben geblüht“ vermerkt ist.639 Laut Kalbeck hat Brahms 1861 die Variationen für Klavier zu vier Händen über ein Thema von Robert Schumann op. 23 zum gemeinsamen Spiel von Clara und Julie Schumann komponiert, damit diese „eine intime Gedächtnisfeier für den geliebten [...] Meister“ begehen können.640 Das Thema von Schumann ist in den
Vgl. Brahms: Briefwechsel mit Billroth. S. 283f. Kalbeck: Brahms IV, S. 17. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 398f.; vgl. auch Kalbeck: Brahms IV, S. 536ff und Kalbeck: Brahms IV, S. 16f. McCorkle erwähnt im Gegensatz zum Hinweis im Brief an Billroth nicht op. 105/ 2 als poetische Bezugnahme, sondern nur die beiden Groth-Lieder (McCorkle: Brahms-Werkverzeichnis, S. 408). Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 59: „Zu meinen Variationen sind noch zwei neue gekommen, in der einen spricht Klara!“ (Hervorhebung im Original). Vgl. ausführlicher Danuser: Hommage-Komposition; Klassen: „Recht Brahms“. Kalbeck: Brahms I, S. 465; vgl. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 331.
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Instrumentalmusik Tagen seiner Erkrankung entstanden und gilt als sein letzter musikalischer Gedanke. In der ersten Fassung des Klaviertrios op. 8 verwendete Brahms im Adagio (T. 33–36) den Beginn von Schuberts Lied Am Meer aus Schwanengesang D 957, Nr. 12,641 während das zweite Thema des Finales „eine offenbare Umspielung der Beethovenschen Melodie: ‚Nimm sie hin denn diese Lieder‘ aus dem ‚Liederkreis an die ferne Geliebte‘“ sei.642 Bezeichnenderweise strich Brahms in der überarbeiteten zweiten Fassung des Klaviertrios von 1889 genau diesen Abschnitt.643 Beethovens Ode an die Freude gilt als Modell für den Hauptsatz des Finales der 1. Sinfonie op. 68 (ab T. 61). In der Akademischen Festouvertüre op. 80 stellte Brahms populäre Studentenlieder zusammen und verlieh dem Werk, das er zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Breslau am 11. März 1879 komponierte, einen humoristischen Unterton.
Die Liste der gefundenen Zitate, Reminiszenzen oder Allusionen macht deutlich, dass diese in der Musik von Brahms allgegenwärtig sind. Sie zeigt aber auch, dass lebensgeschichtliche Ereignisse und Kompositionsprozess miteinander verknüpft sind. Zentrale Personen im Leben von Brahms wie Joseph Joachim, Robert und Clara Schumann oder Agathe von Siebold und seine emotionale Beziehung zu ihnen finden musikalischen Ausdruck. Ebenso stehen viele Kompositionen in zeitlicher Nähe zu besonderen biographischen Ereignissen. So sollen zum Beispiel der erste Satz des ersten Klavierkonzerts op. 15 Schumanns Suizidversuch,644 das Horntrio op. 40 und das Deutsche Requiem op. 45 die Trauer um den Tod der Mutter645 thematisieren. Die Vier ernsten Gesänge op. 121 wiederum werden mit dem Tod ihm nahestehender Personen in Verbindung gebracht – auch wenn Brahms angab, er habe sich die Gesänge zu seinem eigenen Geburtstag (7.5.1896) komponiert.646 In den Jahren 1892 bis 1896 verstarben Elisabeth von Herzogenberg (7.1.1892), seine Schwester Elise Brahms (11.6.1892), sein Freund Theodor Billroth (6.2.1894), Hans von Bülow (12.2.1894), Philipp Spitta (13.4.1894) und am 20.5.1896 Clara Schumann. Als weitere Beispiele für den Zusammenhang von Biographie und Kompositionsprozess können angeführt werden:
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Kalbeck: Brahms I, S. 152. Kalbeck: Brahms I, S. 155. Zu den möglichen Beweggründen vgl. Hull: Brahms the allusive, S. 237f. Kalbeck beruft sich mit dieser Deutung auf eine persönliche Mitteilung Joachims; vgl. Kalbeck: Brahms I, S. 166. Vgl. für das Horntrio Kalbeck: Brahms II, S. 176 und 185f, für das Requiem Kalbeck: Brahms II, S. 251, Kalbeck: Brahms IV, S. 432f.
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Der zweite Satz, Adagio, des 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15 erhielt von Brahms in einem Brief an Clara Schumann folgenden poetischen Hinweis: „Auch male ich an einem sanften Porträt von Dir, das dann Adagio werden soll.“647 Im Autograph fügte er zu Beginn die Textierung „Benedictus, qui venit, in nomine Domini!“ ein. Das Streichsextett G-Dur op. 36 weist im ersten Satz, Allegro, ab Takt 162ff ein Sogetto cavato, A-G-A-(D)-H-E, für Agathe von Siebold, auf. Gegenüber Josef Gänsbacher soll Brahms erwähnt haben: „Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht!“648 Kalbeck nannte den Satz „eine tönende Erinnerung an seine Göttinger Liebe“649. Im zehnten Lied der Zwölf Lieder und Romanzen für vierstimmigen Frauenchor op. 44 benutzte Brahms das A-G-A-H-E-Motiv als Melodiebeginn zu den Gedichtzeilen von Paul Heyse: Und gehst du über den Kirchhof, Da findest du ein frisches Grab; Da senkten sie mit Tränen Ein schönes Herz hinab. Und fragst du, worans gestorben, Kein Grabstein Antwort gibt; Doch leise flüstern die Winde, Es hatte zu heiß geliebt.
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Das Klavierquartett Nr. 3 c-Moll op. 60 hat aufgrund brieflicher Hinweise den Beinamen Werther-Quartett erhalten. Brahms schrieb an seinen Verleger Simrock: „Außerdem dürfen Sie auf dem Titelblatt ein Bildnis anbringen! Nämlich einen Kopf mit der Pistole davor. Nun können Sie sich einen Begriff von der Musik machen! Ich werde Ihnen zu dem Zweck meine Photographie schicken! Blauen Frack, gelbe Hosen und Stulpstiefeln können Sie auch anwenden, da Sie den Farbendruck zu lieben scheinen.“650 Das Manuskript des Andante schenkte Brahms im Dezember 1877 Elisabeth von Herzogenberg als Versöhnung für einen „schlechten Witz“ (Brahms hatte sich über ihre Prüderie lustig gemacht).651 Nach seinem Bekenntnis an Clara Schumann – „In meinen Tönen spreche ich“652 –, das er eher hilflos in einem auf Missverständnissen beruhenden Streit formulierte, sandte er ihr wenige Tage später eine Karte, auf der er eine AlphornMelodie als Geburtstagsgruß notiert hatte, darunter die Worte: „Hoch auf’m Berg, tief im Tal, grüß’ ich dich viel tausendmal!“653 Diese Melodie verwendete er
Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 198. Vgl. Kalbeck: Brahms II, S. 157, Anm. 1. Kalbeck: Brahms I, S. 331. Brahms: Briefe an Simrock, Bd. 1, S. 201 (Brief vom 12.8.1875). Vgl. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 211 und Kalbeck: Brahms III, S. 12: „eine Illustration zum letzten Kapitel vom Mann im blauen Frack und gelber Weste.“ Vgl. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 28f, 35. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 595. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 597.
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Instrumentalmusik später an exponierter Stelle als markante Alphornweise in der langsamen Einleitung des 4. Satzes seiner 1. Sinfonie op. 68 (Piu Andante, T. 30ff).
In einigen Werken bietet Brahms sowohl durch Aussagen in Briefen als auch durch vorangestellte Gedichte bzw. Textierungen und durch Zitate eigener und anderer Werke mehrere Interpretationsansätze an. Erst im gemeinsamen Verbund machen sie den poetischen Gehalt des Werkes aus: Das Adagio des 1. Klavierkonzertes dMoll op. 15 zum Beispiel verfügt neben einem Briefhinweis auch über eine außermusikalische Textierung (Benedictus). Daneben enthält es noch ein BeethovenZitat, das Brahms in einem Brief an Joachim mit der im Adagio porträtierten Clara Schumann in Verbindung bringt.654 Auch die drei Intermezzi op. 117 sind in ihrem Aussagegehalt durch einen Brief von Brahms – diesmal an seinen Verleger Simrock – beschrieben worden.655 Zusätzlich ist den Klavierstücken ein Gedicht vorangestellt, so dass der von Brahms intendierte poetische Gehalt der Sätze auch vom rezipierenden Publikum wahrgenommen werden kann. Des Weiteren hat Brahms seiner Musik nicht nur durch vorangestellte Gedichte, Mottos, durch Zitate eigener oder fremder Werke oder durch Hinweise in Briefen, sondern auch durch Tonsymbole (Akronym, Sogetto cavato) einen außermusikalischen poetischen Bedeutungsgehalt verliehen. In diesem Zusammenhang rekurriert die Brahms-Literatur immer wieder auf die Frei-Aber-Einsam-Chiffre und ihren möglichen Bedeutungsgehalt. Das von Brahms beigesteuerte Scherzo zur F-A-E-Sonate WoO 2 für Joseph Joachim nimmt Bezug auf den von Albrecht Dietrich komponierten ersten Satz und behandelt die F-A-E-Chiffre relativ frei. Das Scherzo des Klavierquartetts op. 60 wiederum soll auf korrespondierende Teile dieses Satzes zurückzuführen sein.656 Im Seitenthema des Finales der Klaviersonate f-Moll op. 5 bringt Brahms die Tonfolge F-A-E jedoch in eindeutiger Gestalt (T. 39). Kalbeck behauptete nun, dass für Brahms anstelle des Frei, aber einsam-Motivs eine Frei, aber froh-Devise gelte, und spürte diese in transformierter Gestalt in vielen Werken auf:657 Die zweite Ballade op. 10 verwende das Motto in Gestalt der Tonfolge Fis-A-Fis, das Motto der 3. Sinfonie op. 90 transformiere es zum F-As-F658, das 2. Streichquartett op. 51 bringe die Chiffre in Gestalt der Tonfolge A-F-A, das mit Joachims Motto des F-A-E verwoben sei659 – um nur einige von Kalbecks ‚Fundstellen‘ zu nennen. Nach einer
654 655 656 657 658 659
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 64; vgl. ausführlich Kapitel 5.3.2. Vgl. die Anmerkungen in Kapitel 4.2.2 und Brahms’ Aussagen, dass es sich um Wiegenlieder seiner Schmerzen handele (Brahms: Briefe an Simrock, Bd. 2, S. 89). McCorkle: Brahms-Werkverzeichnis, S. 256. Kalbeck: Brahms I, S. 98f. Hierauf nimmt Susan McClary in ihrer narrativen Analyse der 3. Sinfonie von Brahms ebenfalls Bezug (McClary: Narrative agendas, Fußnote 32, S. 335). Kalbeck: Brahms II, S. 445.
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kritischen Bestandsaufnahme der F-A-F-Motive kommt Michael Musgrave jedoch zu dem Schluss, dass nur die F-A-E-Chiffre für Brahms belegbar sei.660 In einem Brief vom 5.3.1888 schrieb Brahms an Joachim: „Für mich ist f.a.e. ein Symbol geblieben, und darf ich es, trotz allem, wohl segnen.“661 Er fasste die Tonfolge F-AE demnach als ein Symbol, das heißt, als ein bedeutungsvolles Zeichen auf, das als Akronym, dessen Buchstaben für die Anfänge der Wörter „Frei, aber einsam“ stehen, auf seine Lebensphilosophie verweisen, nach der individuelle Freiheit in einer engen emotionalen Bindung an einen anderen Menschen nicht möglich und nur zum Preis von Einsamkeit zu haben sei. Dabei war Brahms hinsichtlich freundschaftlich-sozialer Kontakte kein Einzelgänger – im Gegenteil, er pflegte jahrelange intensive Freundschaften und suchte das gesellige Beisammensein mit Freunden in Gaststätten, privaten Salons oder auf Urlaubsreisen. Einsam blieb er jedoch in Bezug auf eine Liebesbeziehung zu einer Frau. 5.1.2
Exkurs: Zur Nicht-Existenz von Clara-Chiffren in der Musik von Brahms
Der von Eric Sams662 entwickelte Ansatz musikalischer Chiffrierungen, insbesondere der Clara-Chiffre in Werken von Robert Schumann, wurde in der SchumannForschung nie unkritisch und ungeteilt befürwortet.663 Nachdem Sams vermeintliche Clara-Themen664 auch in Werken von Brahms aufspürte, wurde dieser Ansatz jedoch begeistert von der Brahms-Forschung aufgenommen.665 Zwar benutzte Schumann ein Soggetto cavato in seinen Abegg-Variationen op. 1, in den Sechs Fugen über den Namen BACH op. 60 oder ein Akronym im Intermezzo aus der FA-E-Sonate, zu der Brahms das Scherzo beisteuerte, und auch Brahms setzte in seinem Streichsextett G-Dur op. 36 die Tonfolge A-G-A-(D)-H-E für Agathe von Siebold ein. Wie jedoch John Daverio stichhaltig nachweisen konnte, ist die Verwendung einer Clara-Chiffre weder für Schumann noch für Brahms eindeutig zu belegen:
660 661 662 663 664 665
Musgrave: Frei aber froh. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 2, S. 245. Sams: Schumann; Sams: Schumann ciphers; Sams: Schumann-Coda. Vgl. z. B. Temperley: Schumann and the cipher, S. 767f. Auch Bozarth setzt sich kritisch mit der Wahrscheinlichkeit der Clara-Chiffren auseinander (Brahms’s op. 15, Fußnote Nr. 39, S. 218). Sams: Clara themes. Vgl. z. B. Brodbeck: Brahms-Joachim counterpoint, S. 69ff; Brown: Third symphony, S. 436; Hull: Brahms the allusive, S. 205, 236, 256–263; Knapp: Challenge, S. 82f; McDonald: Brahms, S. 226; Musgrave: First symphony, S. 128; Parmer: Brahms, song quotation, S. 185–189; Phleps: Biographische Chiffren; Reynolds: Choral symphony, S. 3f, 20–22.
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Schumann’s invention of a cipher to encipher Clara is absolutely without foundation. [...] And having recognized Schumann’s Clara cipher as fiction, shouldn’t we do the same with Brahms’s, for how could Brahms have learned something from his mentor that never existed in the first place?666
Der überzeugende Gegenbeweis von Daverio in Bezug auf Brahms soll hier kurz nachgezeichnet werden, da er begründet, warum in der vorliegenden Untersuchung zu Gender-Konnotationen in absoluter Musik die Suche nach Clara-Chiffren nicht vorgenommen wurde.667 Anhand der als sicher geltenden Chiffren und ihrer Verwendung durch Brahms668 stellt Daverio folgende Regeln musikalischer Chiffrierungen seitens Brahms fest: •
• •
Eigennamen (Agathe, Brahms) oder das Akronym (F-A-E) erscheinen in ihrem exakten Tonstufenäquivalent entweder zu Beginn oder an einem zentralen Abschnitt des Werkes. Tonstufenwiederholungen treten nicht auf. Die Basisform der Chiffre, die das Stück oder den Abschnitt prägt, kann im Laufe des Stückes entwickelt, transponiert, kontrapunktisch verarbeitet, chromatisch alteriert werden, aber immer wird zuerst die Originalgestalt der Chiffre präsentiert.669
Ebenso wie die von Kalbeck angenommenen F-A-F-Chiffren lassen sich hiermit auch vermeintliche Clara-Chiffren widerlegen: Zunächst ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass es keinen dokumentierten Hinweis von Brahms auf diese Chiffre gibt. Dies wäre noch mit der überaus großen Zurückhaltung und Verschwiegenheit von Brahms zu erklären. Die vermeintliche Clara-Chiffre (C-H-AGis-A; D-Cis-H-Ais-H) wurde in zahlreichen Werken aufgespürt, so im Scherzo des Klaviertrios H-Dur op. 8, in den Variationen für Klavier op. 9, im Finale des 1. Klavierkonzertes op. 15, im 3. Satz der zweiten Serenade für Orchester op. 16, im Intermezzo des Klavierquartetts g-Moll op. 25, im ersten Satz des Klavierquartettes c-Moll op. 60 und auch im ersten Satz der 1. Sinfonie c-Moll op. 68. Daverio stellt jedoch fest, dass die Erscheinungsform der vermeintlichen Clara-Chiffre mindestens einer der üblichen Handhabungen seitens Brahms zuwider läuft, sei es, dass die Chiffre an einer nicht signifikanten Stelle erscheint (op. 8) oder dass sie in transponierter und nicht in originaler Gestalt eingeführt wird wie in op. 60.
666 667 668
669
Daverio: Crossing paths, S. 86f. Im Folgenden vgl. Daverio: Crossing paths, S. 103–124. Freier Umgang mit der F-A-E-Chiffre im 3. Satz, Scherzo, aus der F.A.E.-Sonate, WoO 2; F-A-E-Chiffre in der Klaviersonate Nr. 3 f-Moll op. 5, Takt 39; AgatheChiffre in Und gehst du über den Kirchhof op. 44/10; Agathe-Chiffre im Streichsextett G-Dur op. 36; Brahms-Chiffre in der Orgel-Fuge in as-Moll WoO 8. Daverio: Crossing paths, S. 108f.
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Die als sicher geltenden Chiffrierungen (F-A-E und A-G-A-(D)-H-E) interpretiert Daverio als „Hommage“-Kompositionen, wohingegen die außergewöhnliche Beziehung zu Clara Schumann auf eine verschlüsselt-tiefgründigere Art und Weise musikalisch ausgedrückt werde: “Like Schumann before him, Brahms almost surely attempted to embody Clara in tones. But [...] both composers must have done so in extraordinary ways, as would only befit a figure who played such an extraordinary role in their lives.”670 Die in Kapitel 5.3.2 durchgeführte Analyse des Adagios aus dem Klavierkonzert d-Moll op. 15 zeigt genau diese vielschichtige Kompositionsweise auf, mit der Brahms der Bedeutung Clara Schumanns für sein Leben und seiner komplexen Beziehung zu ihr musikalischen Ausdruck verliehen hat. Peter Gülke schätzt den poetischen Gehalt und die außermusikalischen Bezugnahmen in der Musik von Brahms folgendermaßen ein: Biographische Chiffren, Kassiber allenthalben, darunter gewiß viele nie mehr auffindbare und lesbare, und oft, weil mit dem Objektivierungszwang absoluter Musik schwer vereinbar und, als schäme Brahms sich ihrer als unerlaubter Sentimentalitäten, versteckt, verschlüsselt, vergraben in Strukturen [...].671
Die Beispiele zeigen, dass sich in der Musik von Brahms kunstvoll gearbeitete Komposition und poetischer Gehalt wechselseitig durchdringen, wobei die Beherrschung der Form wesentliche Grundvoraussetzung künstlerischer Gestaltung ist. So notierte bereits der junge Brahms folgendes Zitat von Johann Peter Eckermann in sein Schatzkästlein: Die Form ist etwas durch tausendjährige Bestrebungen der vorzüglichsten Meister Gebildetes, das sich jeder Nachkommende nicht schnell genug zu eigen machen kann. – Ein höchst törichter Wahn übelverstandener Originalität würde es sein, wenn da jeder wieder auf eigenem Wege herumsuchen und herumtappen wollte, um das zu finden, was schon in großer Vollkommenheit vorhanden ist.672
Musikalische Formgestaltung war jedoch für Brahms nicht reiner Selbstzweck, sondern Musik war in ihrer formalen Gestaltung Trägerin von Botschaften oder Ausdruck von Gefühlen, denn: „Es [das Notenpapier] sagt immer mehr als meine Worte.“673 Dabei bot ihm ‚absolute‘ Musik die Möglichkeit, begrifflich Greifbares zur Unbegrifflichkeit zu transformieren,674 Botschaften und Gefühle in musika-
670 671 672
673 674
Daverio: Crossing paths, S. 124. Gülke: Brahms – Bruckner, S. 38. Krebs: Schatzkästlein, S.143, Zitat 482 (Johann Peter Eckermann: Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung zu Goethe, Stuttgart 1824). Die Zitate Nr. 483 (Johann Wolfgang von Goethe) und Nr. 484 (Heinrich Laube) greifen ebenfalls das Formthema auf. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 75. Vgl. Eggebrecht: Verstehen von Musik, S. 129.
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lische Strukturen zu überführen, die als kunstvoll gearbeitete Formen in ihrer Materialität scheinbar auf sich selbst verweisen und die in ihrer unkonkreten Begrifflichkeit semantische Mehrdeutigkeit zur Folge haben. Hinter oder auch in der Form verbirgt sich die Botschaft bzw. die eigene Befindlichkeit und Emotionalität und ist dennoch ausgesprochen und formuliert: Nirgendwo vermag der Komponist seine Botschaft so verschlüsselt abzusetzen wie in kunstvoll gearbeiteter Instrumentalmusik. Hier darf er sich einerseits als Herrscher im Reich der autonomen Musik ausrufen lassen und andererseits Klopfzeichen extremer Not aussenden [...]. Der Instrumentalkomponist teilt den Hörern sein Inneres nur durch den Filter der Struktur mit; dadurch bleibt er Herr seiner Gefühle und läßt die Hörer im Dunkeln über deren Einzelheiten.675
Diese von Martin Geck genannten Kennzeichen absoluter Musik treffen auf den späten Brahms ganz besonders zu. In seiner frühen Schaffensphase ging er jedoch freizügiger mit Hinweisen, Anmerkungen und Äußerungen zu seiner Musik um. Dabei fällt auf, dass Brahms Einblicke in sein Denken und Fühlen, Verständnishilfen und Hinweise zum ‚eigentlichen‘ Gehalt seiner Musik nur in seinem engeren sozialen Umfeld gegeben hat. Es scheint ihm durchaus wichtig gewesen zu sein, dass seine Musik von FreundInnen und ihm wichtigen Personen auch hinsichtlich ihres tieferen Sinngehaltes verstanden wurde. Bevor ein Werk in die Öffentlichkeit trat, hat es im engeren Freundeskreis bereits kritische Anmerkungen, Korrekturen und oft genug auch Bewunderung erfahren. Das offizielle Musikpublikum jedoch ließ Brahms nicht so tief in sein Seelenleben blicken, es sind keine öffentlichen Erläuterungen von ihm zu seiner Musik vorhanden. In dieselbe Richtung weist das bewusste Vernichten von Skizzen und Entwürfen zu seinen Werken, soll doch so der Einblick in die Komponier-Werkstatt unmöglich werden. Es lassen sich demnach zwei von Brahms intendierte Wahrnehmungsebenen seiner Musik ausmachen: Die öffentliche Ebene, auf der Brahms sich als Komponist absoluter Musik präsentierte und wenig Einblick in seine Motivationen und emotionalen Beweggründe zur Komposition zuließ, und die private Ebene, auf der er in seinem sozialen Umfeld auf den poetischen Gehalt seiner Musik hinwies. Anhand einer ausführlichen Analyse der 4. Sinfonie von Brahms nimmt auch Kenneth Hull in seiner 1989 erschienenen Dissertation über Brahms the allusive eine Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Allusionen vor.676 In der allusiven Verwendung der Musik anderer Komponisten zeige Brahms, dass er sich der Tradition und der eigenen historischen Position bewusst sei. Allusionen können als Versuch angesehen werden, sich mit den eigenen Kompositionen in den existierenden musikalischen Kanon einzuschreiben. Das Erkennen einer Allusion setzt
675 676
Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 136. Hull: Brahms the allusive, S. 232–240.
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zunächst große und detaillierte Repertoirekenntnisse beim Publikum voraus, um die Parallelen und Assoziationen zwischen den Werken feststellen zu können. Eine öffentliche Allusion besitzt auffällige strukturelle Ähnlichkeiten, sie tritt an einer exponierten Stelle auf oder erscheint als melodische Hauptstimme: so zum Beispiel der Bezug zur Hammerklaviersonate von Ludwig van Beethoven im Beginn der Klaviersonate op. 1 von Brahms. Diese Allusion kann allein durch die Kenntnis der Werke identifiziert werden und verlangt keine weiteren Spezialinformationen über den Komponisten oder über den Entstehungszusammenhang des Werkes. Anders verhält es sich mit den privaten Allusionen, die größere musikalische Vorkenntnisse oder biographisches Detailwissen voraussetzen, um erkannt zu werden. Dazu zählen Informationen über den biographischen Hintergrund oder Aussagen des Komponisten über sein Werk im privaten Freundeskreis. Das Paradox einer privaten Allusion bestehe nun darin, dass sie vom Komponisten zwar gesetzt, aber gleichzeitig versteckt in das Werk verwoben werde. Hull erklärt dies mit dem notwendigen Impuls zur künstlerischen Produktion und Kommunikation, der bei Brahms von einem starken Interesse, sein persönliches Leben und seine Gefühle zu schützen, begleitet werde.677 Eine private Allusion ist ein outlet for those things which were intensely felt by the composer, but too personal to be spoken openly, providing a personal satisfaction, expressing a personal significance in a way which allowed the composer to communicate the intensity of the feeling in a very specific way without the necessity of revealing the personal experience of which that expression was a reflection.678
Um den expressiven Gehalt in den Werken nachspüren sowie die Frage nach der musikalischen Bedeutung und den potentiell in ihnen transportieren Genderkonnotationen erörtern zu können, ist es erforderlich, die Allusionen in der Musik und den mit ihnen verbundenen poetischen Hinweisen wie vorangestellte Gedichte und Mottos sowie den biographischen Hintergrund oder persönliche Aussagen zu einem Werk zu berücksichtigen.
5.2
Methodisches Vorgehen
Mit welchen musikalischen Mittel drückte Brahms den poetischen Gehalt in seiner Instrumentalmusik aus und mit welchen Analysemethoden ist das konkrete Werk zu untersuchen, um diesen Gehalt in den formalen Strukturen aufzuspüren? Die Fragen nach der musikalischen Bedeutung, nach außermusikalischen Inhalten bearbeitet unter anderen die Musiksemiotik bzw. die Musiksemantik. Unter Rückgriff auf linguistische Zeichenmodelle wird Bedeutung als der semantische Bezug
677 678
Hull: Brahms the allusive, S. 239. Hull: Brahms the allusive, S. 240.
220
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zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand verstanden. Hiermit öffnet sich das komplexe Theoriegeflecht semiotischer Zeichentheorien, die in sprachwissenschaftlichem Kontext entwickelt, aber auch für die Musik als einem Zeichensystem diskutiert wurden.679 Im Zentrum semiotischer Theorien steht das schwierige Verhältnis von Zeichen, Bedeutung und realweltlichem Objekt (Referent), das auf die Konzeption Ferdinand de Saussures (1857–1913) zurückgeht. Für Saussure680 besteht das Zeichen aus zwei Teilen: Auf der Inhaltsebene gibt es das Signifikat, das als rein gedankliches Konzept nur auf der Ebene des Denkens existiert und sich auf den materiellen Referenten (Gegenstand, Denotat, Designat) in der Wirklichkeit bezieht. Auf der Ausdrucks- und Formebene gibt es den dazugehörigen Signifikanten (Lautbild, das Bezeichnende). In den verschiedenen semiotischen Schulen werden unterschiedliche Begriffe für diesen Zusammenhang verwendet. So wird der Terminus Signifikat auch als Interpretant, Sinn, Begriff oder Designatum bezeichnet, der Terminus Signifikant als Zeichen, Symbol, zeichenhaftes Vehikel, Ausdruck oder Representamen. Ein Beispiel soll den Signifizierungsvorgang verdeutlichen: In einem gedanklichen Prozess werden die sprachlichen Zeichen H-U-N-D als Signifikanten bzw. Bezeichnende für das Bezeichnete (Signifikat: hier das gedankliche Konzept ‚Hund‘) aufgefasst, oder anders formuliert: Die Zeichenfolge H-U-N-D auf der Ausdrucks- und Formebene (Signifikant, Symbol) signifiziert auf der Inhaltsebene die gedankliche Vorstellung eines Objekts ‚Hund‘ (Signifikat, Designatum, Interpretant), die sich auf einen materiellen Referenten (Denotat, Designat) bezieht, der vier Beine, Fell und bellende Äußerungsformen aufweist. Nimmt man das linguistische Zeichenkonzept zur Grundlage einer musikalischen Semiotik, dann stellt sich die Frage nach der Verweisfunktion musikalischer Zeichen. Da musikalische Zeichen – anders als sprachliche Zeichen681 – nicht auf außermusikalische Objekte verweisen können, wird für die Musik gefolgert, dass sie keinen Zeichencharakter besitze. Konsequenterweise vertritt in der musikwissenschaftlichen Fachdebatte die Mehrheit der AutorInnen die Ansicht, dass die semantischen Anteile der Musik als gering einzuschätzen seien: „Denn
679
680 681
Vgl. Auswahl musiksemiotischer Theorien: Agawu: Signs; Cook: Theorizing; Faltin: Bedeutung; Faltin/Reinecke: Musik und Verstehen; Hatten: Musical meaning; Kaden: Zeichen; Karbusicky: Musikalische Semantik; Kneif: Musik und Zeichen; Kramer: Meaning; Molino: Fait musical; Monelle: Sense; Nattiez: Music and discourse; Robinson: Music and meaning; Tarasti: Signs; Tarasti: Musical signification; Tarasti: Existential semiotics; Tarasti: Theory. Saussure: Cours. Es sei angemerkt, dass der Verweischarakter sprachlicher Zeichen nicht so eindeutig ist, wie es im Vergleich mit musikalischen Zeichen zunächst erscheint.
Instrumentalmusik
221
Töne, Klänge, Geräusche [...] können nichts Bestimmtes benennen, bezeichnen, begreifen. Und wie immer sie organisiert sind, können sie doch nicht sagen: ‚Ich habe ein Loch im Strumpf.‘“682 Musik wird in dieser Sicht als eine ausschließlich selbstreflexive Kunstform aufgefasst, deren Zeichen nicht auf außermusikalische Objekte, sondern auf sich selbst verweisen. Diese Argumentation kommt einem formalästhetischen Verständnis von absoluter Musik sehr nahe. Hier ist Musik eine asemantische Kunst, die zwar formalstrukturelle Sinnhaftigkeit besitzt, deren Zeichen aber nicht auf außerhalb ihrer Selbst existierende Referenten verweisen können. Diese Auffassung wurde von Peter Faltin in einer paradox anmutendenden Formulierung zusammengefasst: „Es ist das Wesen der Musik, dass sie nichts bezeichnet, aber immer etwas bedeutet.“683 Dieses ‚Etwas‘ an Bedeutung beschreibt Faltin anhand eines Beispiels: Das Kunstwerk als Zeichen wird selbst zu einem Ding für eine Mitteilung und kein Mittel, das auf etwas anderes zeigen soll. Es zeigt ausschließlich sich selbst. Eine Farbfläche eines Gemäldes von Kandinsky, oder eine Folge von Akkorden bei Debussy, sind keine Zeichen im üblichen Sinne. Sie zeigen auf kein Denotat, das sie ‚künstlerisch‘ widerspiegeln oder symbolisieren; sie sind selbst die einzige bedeutsame Realität. Die Funktion der Farbflächen und Akkorde ist ostensiv: wir verstehen sie dadurch, daß wir sie uns ansehen, sie anhören.684
Musikalische Zeichen signifizieren laut Faltin keine außerhalb ihrer selbst liegenden Denotate und besitzen daher keine Zeichenfunktion. Sie sind selbst bedeutsame Realität, zeigen auf und bedeuten sich selbst. Ihre Bedeutung soll durch Anhören erschlossen werden können, indem im Sinne eines verstehenden Hörens musikalische Motive erkannt und ihre Funktion im Kontext des Werkes bestimmt werden. Ihre Bedeutung wird festgestellt, „ohne daß wir nach ‚etwas‘ suchen müßten, wofür es steht [...].“685 Musik bleibt im faltinschen Verständnis ein ästhetisches Produkt mit ausschließlich autoreflexivem Charakter. Dieses Verständnis übersieht wie jede formalstrukturell orientierte Ästhetik, dass Musik mehr bedeuten kann als sich selbst. Die Beispiele zur Musik von Brahms zeigen, dass im Kompositionsprozess Aussagen und Bedeutungen in die Musik hineingelegt werden und musikalische Zeichen durchaus als Signifikanten aufzufassen sind, die auf der Inhaltsebene ein gedankliches Konzept, ein Signifikat bezeichnen, dem ein Denotat oder Designat im Sinne eines außermusikalischen Referenten zuzuordnen ist. Dafür ist der Prozess der Bedeutungsgebung während der musikalischen Produktion in den Untersuchungsfokus zu stellen. Auf diesem
682 683 684 685
Eggebrecht: Verstehen von Musik, S. 113. Faltin: Bedeutung, S. 74. Faltin: Widersprüche, S. 209f. Faltin: Widersprüche, S. 207.
222
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Weg lassen sich die Besonderheiten des Zeichencharakters der Musik entwickeln und Aussagen zur musikalischen Bedeutung gewinnen. Zentral ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand: Das Wesen dieses vermittelten Zusammenhanges besteht darin, daß die Zeichen Träger und Mittel der Fixierung der gedanklichen Abbilder der bezeichneten Gegenstände sind. Die gedanklichen Abbilder der bezeichneten Gegenstände sind eben die Bedeutungen der Zeichen, und nur insofern die Zeichen gedankliche Abbilder fixieren, Träger von Bedeutung sind, dienen sie den Menschen im Erkenntnis- und Kommunikationsprozeß [...].686
Fixiert die komponierende Person ihre gedanklichen Abbilder (Signifikate) in einer Komposition, dann können die von ihr verwendeten musikalischen Elemente als Zeichen angesehen werden, die in diesem konkreten Fall zu Zeichenträger der in ihnen fixierten Bedeutung werden. Anstatt musikalischen Zeichen grundsätzlich ihren Zeichencharakter abzusprechen, kann am konkreten Beispiel der Bedeutungszuschreibung untersucht werden, welche musikalischen Mittel zur Fixierung der gedanklichen Abbilder im Kompositionsprozess eingesetzt werden. In diesem Fall werden an sich begriffslose musikalische Zeichen zu Bedeutungsträgern, mit deren Hilfe Aussagen gestaltet werden können. Gedankliche Abbilder werden in musikalisch sinnvollen Strukturen ‚form‘-uliert und erfahren so einen Prozess der EntBegrifflichung, das heißt, sie erscheinen in begriffloser Materialität687 und können im Analyse- und Rezeptionsvorgang in ihre Begrifflichkeit zurückgeholt werden. Musik, respektive musikalische Bedeutung, beschränkt sich nicht auf strukturellen oder formalen Sinn. Vielmehr „ist auch in der Musik der Gehalt die Ursache der Form. Der Ausdruck setzt ein Auszudrückendes, das Zeichen ein zu Bezeichnendes voraus.“688 Das musikalische Material wird in seiner formalen Gestaltung zu einem Mittel, um eine ‚Aussage‘ formulieren zu können. Demnach drückt sich musikalische Bedeutung je individuell in einem konkreten Werk aus und lässt sich nur in der individuellen musikstrukturellen Erscheinungsform und im jeweiligen Entstehungskontext auf der Basis der musikästhetischen Anschauungen der komponierenden Person erschließen. Weil musikalischen Zeichen kein allgemeinverbindliches, überzeitliches Designat zu eigen ist und sie ihre Bedeutung auf der Basis ihrer individuellen musikalischen Sinnhaftigkeit erhalten, werden anhand eines konkreten Werkes von Brahms, bei dem ein genderkonnotierter Gehalt anzunehmen ist, die musikalischen Zeichen in ihrer formalen Erscheinung mittels einer strukturellen Analyse untersucht. So kann die Zeichenhaftigkeit musikalischer Strukturen in Bezug auf mögli-
686 687 688
Resnikow: Erkenntnistheoretische Fragen, S. 29, Hervorhebungen im Original. Eggebrecht: Verstehen von Musik, S. 120. Eggebrecht: Verstehen von Musik, S. 122.
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che Genderkonnotationen herausgearbeitet werden, ohne im Analyse- und Interpretationsprozess Geschlechterkonzepte auf musikalische Strukturen zu projizieren und somit selbst die Geschlechterkonzepte zu rekonstruieren, die man belegen möchte. Anstatt also eine Theorie zur Semiotik oder Semantik der Musik689 auf die Kompositionen von Brahms anzuwenden, gehe ich von einem speziellen Werk aus und frage zunächst konkret nach der vom Komponisten Brahms intendierten Aussage. Dadurch wird der Zeitpunkt der Bedeutungsgebung berücksichtigt, der immer von der zeitlich-örtlichen Position und der individuellen Situation des komponierenden Subjekts abhängig ist. Die im Kompositionsprozess gewählten musikalischen Zeichen nehme ich als Bedeutungsträger wahr und untersuche ihre musikstrukturelle Gestaltung. Aufgrund der Kenntnis der von Brahms intendierten Aussage seiner Musik, die Ausgangspunkt und Motivation seiner kompositorischen Gestaltung war, die wiederum den poetischen Gehalt des Werkes begründet, interpretiere ich die gewählten musikalischen Zeichen als Bedeutungsträger und analysiere sie in ihrer Struktur und Erscheinungsform. Dann werden in einem weiteren Schritt diese musikstrukturellen Analyseergebnisse mit dem intendierten Aussagegehalt quasi ‚zurückverlinkt‘, das heißt: Auf der Basis der im Analyseprozess reverbalisierten musikalischen Zeichen kann der Bedeutungsgehalt der an
689
Reinhard Schneider urteilt kritisch über Anwendungsversuche semiotischer Theorien der Musik, er moniert „die Stillegung des dialektischen Prozesses zwischen Theorie und der Methode und Gegenstand“ und begründet damit „die Belanglosigkeit der wenigen ‚Ergebnisse‘ aus dem Bereich der musikalischen Semiotik.“ (Schneider: Semiotik, S. 101). Schneider hat sich in grundsätzlicher Art und Weise mit den theoretischen Ansätzen von Eco, Bengtsson, Faltin, Molino und Nattiez auseinander gesetzt. Auf dessen stichhaltige Argumentationen und Ausführungen zum musiksemiotischen Forschungsstand bis 1980 kann hier nur verwiesen werden. Darüber hinaus bietet der Aufsatz von William Echard einen kritischen Überblick über die musiksemantische Forschung der 1990er Jahre (Echard: Musical semiotics). Echard fasst seine Kritik an den musikanalytischen Ergebnissen wie folgt zusammen: “However, and ironically, several readers (myself included) have been unable to escape the impression that, for all its systematicity, the analysis produced by this method seem in some sense deeply arbitrary.” (Echard: Musical semiotics, S. 10). Vgl. hierzu auch den „Zeichen“-Artikel von Christian Kaden in der Neuen MGG: „Einer der neuralgischen Punkte moderner Musiksemiotik ist mithin die Entwicklung von Analysemethoden, die kategorial wie prozedural streng expliziert, insofern reproduzierbar sind – und doch musikalische Struktur unverletzt belassen, nicht überwuchern mit dem Ballast (pseudo-mathematischer Formulierungen [...].“ (Kaden: Zeichen, Sp. 2208). Den von Robert Hatten entwickelten Ansatz der „markedness“ (Markierung), der das bedeutungsstiftende Wechselspiel asymmetrischer Oppositionen wie „atypical/prototypical, figure/ground, or foreground/background“ (Hatten: Musical meaning, S. 35) auf die Musik überträgt, habe ich für meine Fragestellung nicht herangezogen, weil seine Anwendung die Gefahr der Konstruktion und Fortschreibung etablierter Geschlechterkonzepte birgt.
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sich begriffslosen Musik an die intendierte Komponistenaussage zurückgekoppelt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass musikalische Zeichen ihre Bedeutung während des Kompositions-, Rezeptions- und Analyseprozesses in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext erhalten und sie in ihrem Bedeutungsgehalt variabel sind. Anhand des zweiten Satzes des Klavierkonzertes op. 15 lässt sich zeigen, dass dieser Satz einen Konnex zum Geschlechterdiskurs seiner Zeit besitzt. Dabei nehme ich Brahms’ Aussagen zum Gehalt seiner Musik zum Anlass, den Entstehungskontext, die biographischen und musikalischen Bezugnahmen des Werkes in Relation zu seiner musikstrukturellen Erscheinungsform zu setzen, um so den genderkonnotierten Gehalt der Musik benennen zu können. Das gewählte Verfahren ist methodisch als ein hermeneutisches Vorgehen, das heißt, als Analyse und Auslegung musikalischer Inhalte unter Berücksichtigung des sozialgeschichtlichen Kontextes zu benennen. Dass dieser Weg der Analyse und des Verstehens als hermeneutischer Zirkel prozesshaft, veränderlich und wesenhaft subjektiv ist, lässt sich – wie in jedem Verstehensvorgang – nicht vermeiden. Das folgende Kapitel ist demnach eine hermeneutisch orientierte Strukturanalyse eines Stückes absoluter Musik, bei dem eine außermusikalische Bezugnahme seitens Brahms vorliegt. Damit wird die Gefahr der Re-Konstruktion der Geschlechterpolarität im Sinne der bürgerlichen Normvorstellungen des 19. Jahrhunderts verringert. An die Stelle einer spekulativen (Über-) Interpretation absoluter Musik soll eine Argumentation treten, die im musikalischen Material eines konkreten Werkes gründet und überprüfbare Analyse- und Interpretationskriterien kontextgebunden verwendet, denn: „das Problem, ob Musik Zeichen auspräge, Bedeutung habe, [...] [ist] beantwortbar nur über die Verschiedenheit der Epochen hin – und jeweils an Ort und Stelle, gattungsdifferenziert.“690 Und ich möchte ergänzen: personen- und werkdifferenziert.
5.3
Das Clara-Schumann-Porträt im Adagio des Klavierkonzertes d-Moll op. 15
Ich schreibe dieser Tage den ersten Satz des Konzerts ins Reine, erwarte den letzten Satz begierig von J. Auch male ich an einem sanften Porträt von Dir, das dann Adagio werden soll.691
In seinem Brief vom 30.12.1856 gab Brahms, der in Bezug auf programmatische Erläuterungen zu seinen Werken sonst eher zurückhaltend war, einen Hinweis darauf, welche gedanklichen und emotionalen Hintergründe ihn zur Komposition
690 691
Kaden: Zeichen, Sp. 2209f. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 198.
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des Adagios seines Klavierkonzertes inspiriert und während der Ausarbeitung begleitet haben. Um den Gehalt dieser Aussage und ihre Bedeutung für den Satz einordnen zu können, ist vor einer musikalischen Analyse des Adagios der biographische Kontext, in dem Brahms diese Aussage machte, zu konkretisieren.692 5.3.1
Exkurs: Biographischer Kontext der Entstehungszeit
Brahms’ Freundschaft zu Clara und Robert Schumann begann am 30. September 1853, als er auf Empfehlung Joseph Joachims im Hause Schumann in Düsseldorf vorstellig wurde. Die Begeisterung des Ehepaars Schumann über den jungen Komponisten zeigte sich sowohl in Schumanns Aufsatz Neue Bahnen, der am 28. Oktober 1853 in der Neuen Zeitschrift für Musik693 erschien, als auch in Clara Schumanns Tagebuchaufzeichnungen.694 Als Robert Schumann nach seinem Suizidversuch Ende Februar 1854 am 4. März in die Endenicher Heilanstalt bei Bonn eingewiesen wurde, bezog Brahms ein Zimmer in der Düsseldorfer Schadowstraße, um Clara Schumann in dieser kritischen Zeit unterstützen zu können. Ende September 1854 nahm Clara Schumann ihre regelmäßige Konzerttätigkeit wieder auf, da sie den Lebensunterhalt für ihre große Familie und die Behandlungskosten für Schumann aus eigenen Kräften bestreiten wollte, obwohl ihr von Freunden finanzielle Unterstützung angeboten wurde. Ihre größeren Kinder wurden in einem Leipziger Pensionat (Marie und Elise) und bei der Großmutter in Berlin (Julie) untergebracht, die kleineren (Ferdinand, Ludwig, Eugenie und Felix, geb. am 11.6.1854) blieben in Düsseldorf. Dort wurden sie von der Haushaltshilfe Bertha und von Johannes Brahms betreut. Erst Weihnachten kehrte Clara Schumann von ihrer Tournee zurück. Auch im folgenden Jahr reiste sie als konzertierende Pianistin durch Europa (u. a. Holland, Danzig, Berlin, Pommern), während Brahms in Düsseldorf blieb, sich um die Kinder kümmerte und Robert Schumann in Endenich besuchte. Im August 1855 zog Clara Schumann mit ihren Kindern in die Poststraße. Brahms bekam im Parterre dieses Hauses eine eigene Stube. Das Jahr 1856 begann für Clara Schumann mit einer Konzertreise nach Wien. Von dort reiste sie nach Budapest weiter und schloss eine erfolgreiche England-Tournee an. Brahms reiste ihr am 4.7.1856 entgegen, sie trafen sich in Antwerpen und machten am 5.7. einen Ausflug nach Ostende. Am 6.7. trafen sie wieder in Düsseldorf ein. Die Ärzte in Endenich hatten bisher einen Besuch Clara Schumanns verboten. Als sich jedoch Schumanns Ende abzeichnete, erlaubten sie am 27.7. ein erstes Wiedersehen – nach
692 693 694
Die folgenden Ausführungen orientieren sich an: Knechtges-Obrecht: Clara Schumann in Düsseldorf. Schumann: Neue Bahnen. Litzmann: Clara Schumann, Bd. 2, S. 280f.
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fast zweieinhalb Jahren. Am Nachmittag des 29. Juli 1856 starb Schumann. In Begleitung von Ludwig, Ferdinand und Brahms’ Schwester Elise unternahmen Clara Schumann und Johannes Brahms nach den Trauerfeierlichkeiten im August eine Erholungsreise in die Schweiz. Von dort zurückgekehrt, verließ Brahms Düsseldorf, während Clara Schumann Ende September wieder mit ihren Konzertreisen begann. Anfang Oktober 1857 verlegte sie endgültig ihren Wohnort von Düsseldorf nach Berlin. Der aus dieser Zeit erhaltene Briefwechsel zeigt die emotionale Entwicklung zwischen Clara Schumann und Brahms. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Jahr 1856 und auf die Darstellung der brahmsschen Gefühlslage. Den Konventionen der Zeit entsprechend war die Anredeform bis Mai 1856 das formale „Sie“, wenngleich Brahms in den Abschlusszeilen einiger Briefe das „Du“ verwendete, so zum Beispiel am 25.6.1855: „Nun, lebe wohl, liebe mich fort wie ich Dich immer und in alle Zeit hinaus. Ganz Dein Johannes.“695 Oder in seinem Brief vom 16. Mai 1856, in dem er vom „Sie“ zum „Du“ wechselte: „Ich freue mich, wenn Sie wiederkommen, mußt Du es [Shakespeare-Drama] immer laut vorlesen, und ich höre Dir zu [...].“696 Wahrscheinlich hatte Brahms Clara Schumann um das „Du“ gebeten oder es war ihm bereits in einem persönlichen Gespräch über die Lippen gekommen, denn er schrieb im gleichen Brief: „Ich will doch meine neuliche Überrumpelung nicht gleich wahrnehmen!“697 Er kam darauf im folgenden Brief vom 24. Mai noch einmal zurück, indem er – vermutlich auf Nachfragen von Clara Schumann – erläuterte: Die [Überrumpelung] mit dem ‚Du‘ nämlich. Ich dachte, ich wollte doch nicht Deine augenblickliche Güte und Liebe benutzen, es möchte Dir später nicht recht sein. Deshalb schreibe ich auch noch immer per Sie. Diese Belagerung und Eroberungsgeschichte hat denn auch wohl Zusammenhang mit der unbeantworteten Frage? Oder nicht?698
Die Beziehung zwischen Brahms und Clara Schumann erfuhr in dieser Phase eine Intensivierung. Brahms’ Gefühle für Clara Schumann waren jedoch schon von Beginn an mehr als rein freundschaftlicher Art gewesen. Bereits im Juni 1854 vertraute er seinem Freund Joseph Joachim an: Ich muss mich oft mit Gewalt halten, daß ich sie nicht ganz ruhig umfasse u. gar –: ich weiss nicht, es kommt mir so natürlich vor, als ob sie es gar nicht übel nehmen könnte. / Ich meine, ein Mädchen kann ich gar nicht mehr lieben, ich habe sie wenigstens ganz vergessen; die versprechen doch nur den Himmel, den Clara uns geöffnet zeigt.699
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Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 117. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 184. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 185. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 187. Holde: Surpressed passages, S. 314, Fußnote 1.
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Brahms’ Bewunderung und Zuneigung wandelte sich im Laufe der Zeit in Liebe, die er ihr jetzt nicht mehr verheimlichen konnte und wollte. Am 31. Mai [1856] eröffnete er den Brief an sie mit einer deutlichen Liebeserklärung: Meine geliebte Clara, ich möchte, ich könnte Dir so zärtlich schreiben, wie ich Dich liebe, und so viel Liebes und Gutes tun, wie ich Dir’s wünsche. Du bist mir so unendlich lieb, daß ich es gar nicht sagen kann. In einem fort möchte ich Dich Liebling und alles mögliche nennen, ohne satt zu werden, Dir zu schmeicheln. Wenn das so fort geht, muß ich Dich später unter Glas setzen oder sparen und in Gold fassen lassen.700
Brahms litt unter den Trennungen von Clara Schumann, die sich durch ihre häufigen Konzertreisen ergaben. Im Brief vom 24. Mai 1856 erwog er sogar, ihr nachzureisen: „Aber ich fürchtete das Unpassende. Es kommt ja alles in die Zeitungen. [...] Wie gern käme ich! Aber geht das? Wenn Bargiel hinginge, da könnten die Leute nichts sagen, aber es ist doch zu auffallend, wenn ich, ohne was zu tun zu haben, hinkomme.“701 Letztlich fuhr er ihr bis Antwerpen entgegen, und nach einem gemeinsamen Tag in Ostende kehrten sie am 6.7.1856 nach Düsseldorf zurück. Brahms begleitete Clara Schumann durch die Tage der Trauer um Robert Schumann. Auf ihrer gemeinsamen Reise in die Schweiz haben sie vermutlich über die veränderte Situation nach dem Tod von Schumann gesprochen. Brahms blieb bis zum 21. Oktober in Düsseldorf, dann reiste er nach Hamburg ab und schrieb ihr am 22. Oktober 1856 einen ersten Gruß aus der Ferne: „jedesmal mit mehr Liebe und Verehrung schreibe ich ihn Dir, könntest Du das recht empfinden und froh darüber sein. [...] Ich will viel an Dich denken, meine Clara, ich muß es. [...] Lebe recht wohl, und denke recht lieb und sicher an mich.“702 Der von Brahms angeschlagene Ton ist in diesem Brief von liebevoller Zuneigung geprägt, auch schwingen tröstende Gedanken mit. Am 28.10.1856 sprach Brahms diese tröstenden Intentionen deutlich aus: ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Dich trösten zu können, doch wie das? Mir kommt es ja selbst so unnennbar hart vor, was Du leidest, daß mir der Gedanke daran schwinden muß. Könntest Du nur fühlen, mit welcher Liebe ich so oft an Dich denke, Du wärest manchmal doch getröstet. Ich liebe Dich unsäglich, meine Clara, wie es mir nur möglich ist. Wie vieles hast Du aus meinem Herzen verdrängt, und tust es immer mehr, ich merke jedesmal mehr, wenn ich fern von Dir bin. Lass Dir das einen freundlichen Gedanken sein, daß Du mich jedesmal, wenn wir uns wiedersehen, mehr ganz hast. [...] Lebe wohl, meine Inniggeliebte. Dein Johannes.703
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Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 188. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 186. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 192–193. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 193–194.
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Das Weihnachtsfest verbrachte er mit Clara Schumann und vier ihrer Kinder in Düsseldorf, von dort schrieb er ihr, die sich wieder auf Konzertreise befand, am 30. Dezember 1856: Ich schreibe dieser Tage den ersten Satz des Konzerts ins Reine, erwarte den letzten Satz begierig von J. Auch male ich an einem sanften Porträt von Dir, das dann Adagio werden soll.704
Für das Phänomen einer musikalischen Personencharakterisierung finden sich zahlreiche Vorbilder. So porträtierte bereits Jean-Philippe Rameau die Cembalistin Anne-Jeanne Boucon,705 Carl Philipp Emmanuel Bach trug einige „FrauenzimmerCharakterisierungen“706 für das Musikalische Mancherley bei und Wolfgang Amadeus Mozart entwarf von der Tochter des Mannheimer Hofmusikers Christian Cannabich, Rose Cannabich, im mittleren Satz seiner Klaviersonate op. 4 Nr. 1 in C-Dur, KV 309, ein musikalisches Porträt707. Auch Robert Schumann porträtierte seine geliebte Frau musikalisch. Schumann schrieb am 14. April 1838 an seine Frau: seit meinem letzten Brief habe ich wieder ein ganzes Heft neuer Dinge fertig. ‚Kreisleriana‘ will ich es nennen, in denen Du und ein Gedanke von Dir die Hauptrolle spielen und will es Dir widmen – ja Dir und Niemanden anders – da wirst Du lächeln so hold, wenn Du Dich wiederfindest.708
Zwar widmete er die Kreisleriana schließlich Chopin, aber in einem späteren Brief betonte er noch einmal die persönlichen Gefühle, die er in dieses Werk gelegt hatte: „Eine recht ordentlich wilde Liebe liegt darin in einigen Sätzen, und Dein Leben und meines und manche Deiner Blicke.“709 Schumanns musikalisches Porträt seiner Frau scheint so deutlich ausgefallen zu sein, dass Brahms das Antlitz der Frau, die er verehrte und liebte, in der Musik Schumanns herausgehört hat, denn er schrieb am 27.8.1854 an Clara Schumann: „Ich sehe auch immer tiefer in ein Paar wunderbar schöner Augen, jetzt schauen sie
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Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 198. La Boucon, einer von Rameaus 65 Sätze für Cembalo, “is probably a portrait of the distinguished harpsichordist Anne-Jeanne Boucon, who became Mme de Mondonville” (New Grove, Bd. 15, S. 562). Für das Musikalische Mancherley aus dem Jahr 1762 verfasste C. P. E. Bach u. a. kleinere Charakterstücke, die er l’Hermann, la Buchholz, la Boehmer, la Stahl und la Gleim nannte (Vgl. Ottenberg: C. P. E. Bach, S. 141). Vgl. New Grove, Bd. 12, S. 696: “The first and most obvious echo of the Mannheim style came in the Piano Sonata K309/284b, written for Cannabich’s young daughter Rosa (its Andante was designed, Mozart said, to portray her)”. Litzmann: Clara Schumann, Bd. 1, S. 206. Brief vom 3.8.1838, in Litzmann: Clara Schumann, Bd. 1, S. 224.
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mich an aus den Davidsbündlertänzen und den Kreisleriana.“710 Und nicht nur in diesen Stücken erblickte er die geliebte Person, sondern auch an anderer Stelle: „Ich sehe Sie doch oft, so gut wie körperlich; z. B. bei der Trillerstelle im Andante der Cdur-Sinfonie711 bei den Schlußstellen, den Orgelpunkten in den großen Fugen, wo Sie mir mit einem Male wie die heilige Cäcilie erscheinen!“712 Brahms schrieb am 12.9.1854, einen Tag vor Clara Schumanns Geburtstag, an seinen Freund Joseph Joachim: ich habe ihr einen langjährigen Wunsch erfüllt, und das Quintett von Schumann zu vier Händen arrangiert. Während sie in Ostende war, habe ich das Manuskript heimlich aus dem Schrank genommen, so daß sie nichts ahnt. Ich habe mich immer tiefer hinein versenkt, wie in ein Paar dunkelblauer Augen (so kömmt’s mir nämlich vor).713
Brahms hörte und sah Clara Schumann in der Musik ihres Mannes, er nahm sie durch die Musik ihres Mannes wahr, so im Andante seiner Sinfonie; sie trat ihm in der Musik körperlich entgegen, wobei er sie mit der Schutzpatronin der Musik, der Heiligen Cäcilia, verglich. Seine brieflichen Äußerungen belegen, dass ihm der Gedanke von musikalischen Porträts im Allgemeinen und von Clara Schumann im Besonderen vertraut war. Es ist anzunehmen, dass Brahms in der Musik Schumanns den liebenden Blick auf Clara Schumann nachempfinden konnte. Seine Gefühle zu dieser besonderen Frau entwickelten sich sowohl durch die persönlichen Kontakte mit ihr als auch durch ein musikalisch vermitteltes Bild von ihr, das heißt, Brahms sah, hörte und erlebte sie ebenfalls aus der musikalisch festgehaltenen und im Prozess der Rezeption wieder erlebbaren emotionalen Perspektive Robert Schumanns. Wenn er dann im Dezember 1856 ebenfalls ein Porträt Clara Schumanns in Töne setzte, so stellte er sich in die Tradition dieser musikalischen ‚Clara-Bilder‘. 5.3.2
Analyse und Interpretation
Die Entstehungsgeschichte des Klavierkonzertes op. 15 ist kompliziert, war es doch ursprünglich als Sonate für zwei Klaviere konzipiert und wurde zwischenzeitlich mit Unterstützung von Julius Otto Grimm teilweise zur Sinfonie orchestriert, bevor es als Klavierkonzert seine endgültige Form fand. Brahms gab in seinem eigenhändigen Werkverzeichnis die Jahre 1856–57 als Entstehungszeit an, wobei nachzuweisen ist, dass die Anfänge bis ins Frühjahr 1854 zurückreichen. Das Adagio
710 711 712 713
Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 18. Robert Schumann: Sinfonie Nr. 2 op. 61 C-Dur, 3. Satz Adagio espressivo, T. 54–61 (Trillerstelle). Brief vom 8.12.1854, siehe Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 50. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 59.
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Abb. 28
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Autograph, Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit MendelssohnArchiv; Signatur: Mus.ms. autogr.J. Brahms 2
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selbst ist von Brahms auf Dezember 1856/Januar 1857 datiert.714 Es ist demnach in dem Zeitabschnitt entstanden, in dem Clara Schumann, vom Tod ihres Mannes erschüttert, tröstende und liebevolle Zuwendung durch Brahms erfuhr, sei es durch aufrichtende Worte in seinen Briefen, sei es durch seine Hilfe in familiären Angelegenheiten oder sei es durch seine Musik. Die spannende Frage lautet nun, welche musikalischen Motive Brahms in dieser speziellen Beziehungskonstellation benutzte, um das Porträt von Clara Schumann musikalisch zu zeichnen. Die Analyse des Adagios soll zeigen, welche musikalischen Zeichen (Signifikanten) Brahms als Signifikate für das Designat des ClaraSchumann-Porträts einsetzte. Dafür ist zu Beginn der Analyse auf eine Besonderheit im Autograph des Satzes hinzuweisen: Brahms hat im Klaviersystem in Klammern zur Melodie der Streicher die Benedictus-Worte aus dem Sanctus der Messliturgie eingefügt (Abb. 28), die als Textierung des beginnenden Streichermotivs zu lesen sind. In der Abschrift der Partitur wurden diese Worte zunächst notiert, dann wieder durchgestrichen und teilweise getilgt. In der Druckausgabe der Partitur, die im Dezember 1874 im Verlag Rieter-Biedermann erschien – also erst 15 Jahre nach der desaströsen Leipziger Uraufführung am 27. Januar 1859 –, sind sie nicht enthalten. Vermutlich diente das Autograph als Dirigierpartitur, worauf zahlreiche Eintragungen hinweisen. Nach einer Aufführung des Konzertes in Hamburg am 24. März 1859 durch Brahms unter Joachims Leitung lag die Partitur zunächst bei Grädener und wurde dann an Bronsart weitergegeben. Als Erinnerung und Dank für seine kritische Mitarbeit während des Entstehungsprozesses schenkte Brahms schließlich das Autograph seinem Freund Joachim.715 Neben Joseph Joachim nahm auch Clara Schumann intensiv am Entstehungsprozess Anteil.716 Sie wird Einsicht in die Partitur und damit Kenntnis von der Benedictus-Textierung gehabt haben. Seit 1861 gehörte das d-Moll-Klavierkonzert zu ihrem Konzertrepertoire, so spielte sie es am 3.12.1861 unter Brahms’ Leitung in Hamburg.717 Wie jedoch anhand der 1862 erschienen Ausführungen von Adolf Schubring in der Neuen Zeitschrift für Musik zum Adagio des Klavierkonzertes deutlich wird, kann die Benedictus-Textie-
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717
Vgl. McCorkle: Brahms-Werkverzeichnis, S. 49. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 242–244. Am 1. Oktober 1855 notiert sie in ihrem Tagebuchbuch: „Johannes hat einen prächtigen ersten Concertsatz componirt, der mich ganz entzückt durch seine Großartigkeit und Innigkeit der Melodien.“ Am 18. Oktober 1855: „Johannes hat seinen Concertsatz beendet – wir haben ihn mehrmals auf zwei Clavieren gespielt.“ (Litzmann: Clara Schumann, Bd. 3, S. 12 und 15). Vgl. Litzmann: Clara Schumann, Bd. 3, S. 112 und S. 622.
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rung als allgemein bekannt vorausgesetzt werden.718 Das heißt, dass ihre Kenntnis nicht von der Einsicht in das Autograph abhängig gewesen ist. Brahms schrieb im Februar 1856 an Clara Schumann, dass er „ein kleines Benedictus (kanonisch) für 4 Stimmen geschrieben“719 habe. Wahrscheinlich hat Brahms das im Brief erwähnte Benedictus im Zuge der Kontrapunktstudien mit Joachim ausgetauscht, denn Joachim teilte ihm am 1.5.[6.].1856 mit, dass er das Benedictus wegen seiner reinen Harmonie ganz besonders liebe, während ihn die stählernen Härten nicht stören, da sie etwas edel Feierliches besäßen.720 Brodbeck geht davon aus, dass das Benedictus “was soon to form a part of the Missa canonica and later to turn up in the motet ‚Warum‘ op. 74, no.1 [...].”721 Musikalische Bezüge zur Melodie der Benedictus-Textierung im Adagio des Klavierkonzertes sind – bis auf den 6/4-Takt – nicht festzustellen.722 Vor einer Interpretation der Benedictus-Textierung im Adagio des Klavierkonzertes ist kurz auf den liturgischen Kontext des Benedictus einzugehen, das in der katholischen Messe nach der Präfation (Hochgebet) angestimmt wird und Bestandteil des Sanctus ist. Im Benedictus der Messfeier wird Christus als derjenige, der im Namen des Herrn auftritt, hochgelobt. Dieser Ruf geht zurück auf den Einzug Jesu in Jerusalem, bei dem die Menschen ihn mit Jubelrufen begrüßten.723 In der Messliturgie tritt nach dem Benedictus die religiöse Zeremonie der Eucharistiefeier in das Heiligste ein: Brot und Wein werden in Leib und Blut Jesu Christi verwandelt.
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Schubring: Brahms, S. 119. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann , Bd. 1, S. 178. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 141f. Brodbeck: Brahms-Joachim counterpoint, S. 49. Vgl. Bozarth: Brahms’s op. 15; Brodbeck: Brahms-Joachim counterpoint; Floros: Brahms und Bruckner, S. 144–146; Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 159f, 164f, 237f; Reynolds: Choral symphony. Albert Dietrich berichtete in seinen Erinnerungen von einer fünfstimmigen, in kanonischer Form gehaltenen Vokalmesse, die nicht gedruckt wurde (Dietrich: Erinnerungen, S. 96). Brahms selbst erwähnte in einem Brief an Joachim eine fünfstimmige Messe in C-Dur, dessen Benedictus in FDur ihm bereits bekannt sei (Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 151). Kalbeck vermutete, dass diese Messe in einem Autodafé der 1880er Jahre in Flammen aufgegangen ist (Kalbeck: Brahms I, S. 263) – bis auf das zufällig erhaltene Benedictus in einem Stimmenheft des Hamburger Frauenchores (Drinker: Brahms’ women’s choruses, S. 3). Am Palmsonntag wird an den Einzug Jesu’ in Jerusalem erinnert. „Hosanna dem Sohne Davids. Gepriesen, der da kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe.“ Matthäus-Evangelium 21,9. Dieser Lobpreis geht zurück auf Psalm 118,26: „Gesegnet, der kommt im Namen Jahwes! Vom Hause Jahwes segnen wir euch.“
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Sanctus, Sanctus, Sanctus Dominus Deus Sabaoth Pleni sunt caeli et terra gloria tua.
Heilig, heilig, heilig, Herr, Gott der Heerscharen. Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit
Hosanna in excelsis. Benedictus qui venit in nomine Domine. Hosanna in excelsis.
Hosanna in der Höhe. Hochgelobt sei der da kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe.
Was hat Brahms veranlasst, den Lobpreis Jesu’ aus dem Kontext der Messliturgie als Textierung des einleitenden Orchestersatzes in das Autograph des Adagios einzufügen? Wer ist es, der dort im Namen welches Herrn angekündigt wird? Wie ist der Text mit der Aussage von Brahms, dass er im Adagio ein Porträt Clara Schumanns zeichne, zu verbinden und zu interpretieren? Bisherige Interpretationsansätze bringen die Benedictus-Textierung in Verbindung zu Robert Schumann. Max Kalbeck wies darauf hin, dass Schumann im privaten Kreis als „Mynheer Domine“ angeredet wurde, so auch von Brahms in einem Brief vom 29.11.1853.724 Kalbecks Interpretation lautete: Das Adagio aber scheint dem frommen Werke des jungen Freundes den weihevollen Segen zu geben, der im Namen des teuern Herrn ‚in nomine Domini‘ zu der verlassenen Domina und den ihres Vaters beraubten Kindern zurückkehrt, um ihnen in ihrem grenzenlosen Unglück beizustehen.725
Nach dieser Interpretation versteht sich Brahms als der von Schumann gesendete Retter. Argumentativ stützt Kalbeck seine Interpretation auf den prophetischen Aufsatz von Robert Schumann, der am 28. Oktober 1853 in der Neuen Zeitschrift für Musik unter dem Titel Neue Bahnen erschien: es würde und müsse [...] einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, [...]. Und er ist gekommen, ein
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Kalbeck: Brahms I, S. 166. Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 2. Brahms schrieb: „Mynheer Domine! Verzeihen Sie diese lustige Anrede dem, der durch Sie so unendlich glücklich und froh gemacht ist. Nur das Schönste und Beste habe ich Ihnen zu erzählen.” – nämlich seine Aufnahme in Leipzig bei Härtel und die geplante Drucklegung seiner Werke; er fragt an, ob er sein op. 2, die Klaviersonate in fis-Moll, Clara Schumann widmen dürfe. Kalbeck: Brahms I, S. 167.
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junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg [...].726
Durch die Verwendung der Benedictus-Textierung würde sich Brahms in Fortführung des oben genannten Interpretationsansatzes als der von Schumann Berufene bezeichnen, der gekommen sei, den Bahnen der Musik neuen, idealen Ausdruck zu verleihen. Schumann würde – in Übertragung des Messkontextes – mit Gott gleichgesetzt, Brahms selbst würde sich mit dem Erlöser Jesus Christus identifizieren. War Brahms mit 23 Jahren so anmaßend, sich als den Gebenedeiten zu stilisieren, der im Namen des Herrn (Robert Schumann) komponiert und auftritt? Das widerspricht seinem eher selbstkritisch-zurückhaltenden Charakter – vor allen Dingen bleibt zu fragen, welchen Bezug diese Interpretation noch mit dem von Brahms angekündigten Porträt Clara Schumanns hat? Eine Verbindung zwischen der Benedictus-Textierung und dem Clara Schumann-Porträt stellte Karl Geiringer her: Für ihn ist Clara Schumann die „gesegnete Persönlichkeit, die im Namen des Herrn kommt [...], die, nach dem Hingang des Gatten, sein Werk verwaltet.“727 In dieser Interpretation wird Brahms unterstellt, dass er Schumann als den göttlichen Heilsentsender verstanden habe, in dessen Namen Clara Schumann nun auftrete.728 Constantin Floros dagegen versteht die Benedictus-Textierung als Worte Clara Schumanns, „die Brahms, ein Porträt von ihr entwerfend, ihr gleichsam in den Mund legt!“729 Floros begründet seine Interpretation mit Tagebuchaufzeichnungen Clara Schumanns, in denen sie Brahms als „eine wunderbare Erscheinung“ beschreibt, die „kommt wie eigens von Gott gesandt!“730 Nach Robert Schumanns Selbstmordversuch trug sie im August 1854 in ihr Tagebuch ein: „Ich muß doch recht dem Himmel danken, daß er mir jetzt in meinem großen Unglück solchen Freund geschickt, der mich geistig nur erhebt, mit mir den teuren geliebten Mann verehrt und mit mir fühlt, was ich leide“.731 Für Floros spielt Brahms mit dem Benedictus-Zitat auf sein Verhältnis zu Clara Schumann an. Brahms drücke damit ihre Gedanken und Gefühle aus, die sie ihm in gemeinsamen Gesprächen wahrscheinlich mitgeteilt habe.732 Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass Brahms das Porträt Clara Schumanns nutzte, um sich in
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Schumann: Neue Bahnen, S. 185. Geiringer: Brahms, S. 264. David Brodbeck schließt sich in seinen Ausführungen zu den Kontrapunktstudien zwischen Brahms und Joachim dieser Argumentation an (Brodbeck: Brahms-Joachim counterpoint, S. 63). Dann müsste es aber grammatikalisch korrekt „Benedicta“ statt „Benedictus“ heißen. Floros: Brahms und Bruckner, S. 146. Eintragung am 1.10.1853, einen Tag nach Brahms’ Antrittsbesuch im Hause Schumann (Litzmann: Clara Schumann, Bd. 2, S. 280f). Litzmann: Clara Schumann, Bd. 2, S. 325. Vgl. Floros: Brahms und Bruckner, S. 144–146.
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einem Akt der selbstinszenierten Prophezeiung als von Gott gesendeten Tröster ausrufen zu lassen.733 Siegfried Kross sieht dagegen eine literarische Verbindung zu E.T.A Hoffmanns Figur des Kapellmeisters Johannes Kreisler. In Hoffmanns Roman Kater Murr steht der Benedictus-Gruß über dem Portal des Klosters Kanzheim, als dessen Gast Johannes Kreisler zu sich selbst und zur Ruhe findet. Damit markiere, so Kross, die Überschrift den Schritt von der Identitätssuche der Kreisler-Zeit zum gefestigten Selbstbewusstsein des eigenen Künstlertums. Als weitere Interpretationsebene böte sich die Verknüpfung mit dem Clara Schumann-Porträt an. Brahms mache damit deutlich, dass er seine Gefühle und seine leidenschaftliche Liebe zu Clara Schumann durch Resignation überwunden habe. Mit anderen Worten: Brahms-Kreisler habe in menschlich-charakterlicher Hinsicht seine Ruhe und Bestimmung gefunden.734 Nach einer ausführlichen und kritischen Übersicht über die bisherigen Deutungsversuche des Adagios unternimmt George S. Bozarth in seinem Aufsatz über die Entstehung und Bedeutung des ersten Klavierkonzertes von Brahms eine eigene Interpretation.735 Er stellt den Satz in den Kontext des Werkes und kommt zu dem Schluss, dass im Maestoso-Eröffnungssatz Spannungen und Konflikte der künstlerischen Existenz thematisiert werden, während im Adagio our protagonist had found temporary serenity through withdrawal from the world (Abbey Kanzheim) and through erhebende Andacht (to borrow Joachim’s characterization) to a erkorne Dame (Clara Schumann) [...]. But now in the Finale [...] our pianist/composer (Kreisler/Brahms) seems at last to be emerging as an individual, taking control over his musical fate [...].736
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Hier sei auf einen Irrtum von Floros hingewiesen: Floros eröffnet seine Ausführungen über das Adagio (Floros: Brahms und Bruckner, S. 144) mit einem Zitat aus einem Brief Clara Schumanns vom 18.9.1859: „Das ganze Stück hat etwas Kirchliches, es könnte ein Eleison sein.“ (Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 279). Aus dem vorhergehenden Brief von Brahms geht jedoch hervor, dass er etwas „über das Adagio aus der neuen Serenade“ (op. 16, A-Dur) von ihr hören möchte (ebd., S. 277). Auch die weiteren Kommentare Clara Schumanns machen deutlich, dass es sich nicht um das Adagio des Klavierkonzertes handeln kann, da sie von einem Menuett und einem Trio spricht. Des Weiteren findet sich das von ihr angeführte Notenbeispiel (ebd., S. 278) nicht im Klavierkonzert, sondern im Adagio der Serenade op. 16 (T. 70). Schon ihr Vergleich mit einem Kyrie eleison hätte wegen der im Autograph des Klavierkonzertes eingetragenen Benedictus-Worte stutzig machen müssen. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 165. Bozarth: Brahms’s op. 15. Bozarth: Brahms’s op. 15, S. 241f, Hervorhebungen im Original. Das Joachim-Zitat „erhebende Andacht“ entstammt einem Brief von Joachim an Brahms vom 12.1.1859 (Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 170).
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Die bisherigen Interpretationen diskutieren zwar den Sinn und Zweck der Benedictus-Textierung im Rahmen des von Brahms angekündigten Clara-Schuman-Porträts, sie untersuchen jedoch nicht, mit welchen musikalischen Mitteln Brahms ihr Porträt entwirft. Ich möchte mich daher zunächst der formal-strukturellen Analyse des Satzes und der Frage nach der musikalischen Gestaltung des Clara-SchumannPorträts zuwenden. Das Adagio in D-Dur, 6/4-Takt, beginnt im Piano der Streicher, die Vortragsbezeichnung lautet espressivo, e legato, die ersten und zweiten Violinen spielen mit Dämpfer, die beiden Solofagotte sogar im Pianissimo737 und Legato. Die Dynamik des Satzes bewegt sich insgesamt in einer eher verhaltenen Lautstärke. Von den 103 Takten stehen nur ca. ein Drittel im Forte oder Mezzoforte, wovon wiederum nur 2 Takte (T. 47 und 48) eine volle Orchesterbesetzung aufweisen, während die übrigen ‚lauten‘ Stellen mit einem reduzierten Orchester besetzt sind. Die einzige Fortissimo-Stelle des Satzes (T. 80–84) wird nur vom Soloklavier und den Holzbläsern intoniert. Auch die Instrumentierung des Satzes trägt zum verhalten-ruhigen Grundcharakter bei: Streicher, Holzbläser mit zwei Hörnern und das Soloklavier,
Abb. 29
737
Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, T. 1–7
Laut Revisionsbericht enthält nur die gedruckte Partitur von 1873 als dynamische Vorgabe ein Piano, in allen anderen Quellen findet sich ein Pianissimo (vgl. Brahms: 1. Klavierkonzert op. 15, S. XV).
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aber keine Blechbläser, die Pauken werden nur in den letzten beiden Takten des Satzes eingesetzt, bezeichnenderweise im Piano und Pianissimo. Die Vortragsanweisungen bewegen sich zwischen legato, (molto) espressivo und (molto) dolce. Im Vordersatz des A-Hauptthemas (Benedictus-Motiv), das mit einer in Terzen geführten, in Sekundschritten ab- und aufsteigenden Melodie der Fagotte eine Gegenstimme erhält, entwickelt sich das melodische Material im Laufe der ersten vier Takte über einem Orgelpunkt auf D der tiefen Streicher und ist gekennzeichnet durch einen auftaktigen Quartsprung D¹-G² auf die Eins des zweiten Taktes, nachdem das D¹ im ersten Takt auch von den melodieführenden Instrumenten (Violine I, II und Viola738) ausgehalten wurde (Abb. 29). Erst im zweiten Takt erhält die Melodie Struktur, indem sie vom G² in Sekundschritten abwärts geführt wird, wodurch die abwärts geführten Sekundschritte der Fagotte aus dem ersten Takt aufgegriffen werden. Elemente des A-Teils werden bereits im Nachsatz thematisch motivisch verarbeitet (T. 5–8) und direkt weitergeführt (T. 9–13). Der Einsatz des Soloklaviers in Takt 14 greift in einem improvisatorisch wirkenden Stil Teilmotive des Hauptsatzes auf – zum Beispiel die in Terzen abwärts geführten Sekundschritte. Es entsteht der Eindruck, als habe ‚das Klavier‘ nur träumend dem Orchester zugehört, griffe wahrgenommene Elemente heraus und füge sie phantasierend zusammen. Zuerst reagieren die Bläser, dann die Streicher auf das neue Material und machen kurze Einwürfe, die wieder vom Klavier aufgenommen werden (T. 19–26). „Bruchstücke des Themas, manchmal kaum kenntlich, sind in einen Kontext eingefügt, den eher der deklamatorische Gestus, der ‚redende Stil‘, als ein Periodenschema zusammenhält.“739 Das dialogische Element zwischen Klavier und Orchester (diesmal nur Streicher) wird in der Überleitung (T. 27–36) fortgeführt: Motivisches Material aus dem A-Teil,740 von den Streichern vorgestellt, wird vom Klavier in einer frei wirkenden Improvisation aufgegriffen und fortgeführt. Der Mittelteil wächst verschleiert aus dieser Fortspinnung im Solo-Klavier (Thema des B-Teils) heraus (T. 37), erhält dadurch noch stärker improvisatorischen Charakter und gewinnt erst durch den
738 739 740
Violine I und II spielen unisono, die Bratschen eine Oktave tiefer. Dahlhaus: Brahms. Klavierkonzert Nr. 1, S. 18. „Ein Modell, zusammengesetzt aus dem Baß von Takt 4 als Oberstimme und dem Baß von Takt 7 als Unterstimme, wird vom Orchester aufgestellt (T. 27) und sequenziert (T. 28), vom Klavier diminuiert (T. 29) und fortgesponnen (T. 30); und der ganze Komplex, der vier Takte umfaßt, wird von A-Dur nach h-moll versetzt.“ (Dahlhaus: Brahms. 1. Klavierkonzert, S. 18).
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Instrumentalmusik
Einsatz der Klarinetten, die in der Partitur durch die Bezeichnung „Solo“ hervorgehoben werden, mit einem markanten Thema (C-Teil, T. 45) an Kontur. Nach der Vorstellung des Themas des C-Teils durch die Klarinetten im Piano, begleitet nur von gebrochenen Sechzehntel-Arpeggien des Klaviers, wiederholen die Holzbläser dieses Thema im Forte, diesmal begleitet von gebrochenen Sechzehntel-Akkorden der Streicher und des Klaviers. Danach setzt das Klavier mit dem erneut variierten Thema des B-Teils (T. 49–52) ein, welches von der SoloOboe, dann von Klarinette und Fagott mit dem Thema des C-Teils beantwortet wird, wieder begleitet von virtuosen Akkordbrechungen im Klavier. Die anschließende Reprise der Orchesterexposition (Abb. 30) weicht im Vordersatz durch ihre Instrumentierung (Bläser statt Streicher) ab, der Nachsatz ist identisch. Demgegenüber ist die Reprise im Soloklavier sehr stark umgeformt,
Abb. 30
Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, T. 66–75
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Abb. 31
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Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, T. 96–103
dadurch den improvisierenden Gestus betonend. Die Fortspinnungen im Klavier werden ab Takt 74 vom Horn und den tiefen Streichern orgelpunktartig begleitet, ab Takt 80 greifen die Bläser den Quartsprung aus dem Hauptthema auf, der – von Akkordbrechungen und Trillern des Klaviers untermalt – das thematische Material bildet. Hier findet der Satz mit einem Fortissimo in den Bläsern und dem Klavier über vier Takte auch seinen dynamischen Höhepunkt. Die Überleitung, um einen Ganzton nach unten sequenziert, bringt wieder den Wechsel zwischen Streichern (diesmal ohne Violinen) und Klavier, aus dem heraus sich in weiterführenden Umspielungen die Kadenz (ad libitum) entwickelt (T. 95). Die Coda greift den Vordersatz des Benedictus-Themas (T. 96–98) auf, jedoch mit tiefalterierter siebter Stufe (c statt cis), fügt in erster Oboe und Flöten Quart- (bzw. Quint-)Sprünge in hoher Lage hinzu (T. 99–100) und wiederholt den Vordersatz des Benedictus-Themas ein letztes Mal in den Bratschen (Abb. 31). Nach der Sekund-Abwärtsbewegung treten in den letzten beiden Takten piano die Pauken mit sechs Schlägen hinzu und beenden den Satz gemeinsam mit allen Orchesterinstrumenten in einem pianissimo D-Dur-Akkord. Das unten folgende Form-
240
Instrumentalmusik
schema741 fasst die obigen Ausführungen zusammen und verdeutlicht die differenzierte Motivstruktur innerhalb der konventionellen A-B-A-Form des Satzes (Abb. 32). Bezeichnenderweise gestaltete Brahms das Clara-Schumann-Bild nicht in einem schnellen Satz, der ihm die Möglichkeit geboten hätte, sie als virtuose Pianistin zu porträtieren, sondern er wählte einen langsamen, sanglich-elegischen Satz, dessen Grundcharakter bereits weiblich konnotiert ist. Das Adagio besitzt den konventionellen Formprinzipien entsprechend eine A-B-A-Form, deren gestalterische Freiheiten Brahms nutzte, um aus differenziert kombinierten Mosaiksteinen das Porträt zusammenzusetzen. Der Grundcharakter des Adagios kann mit Adjektiven wie leise, still, stehend, schreitend, würdevoll, gemessen, gemäßigt, verhalten, zart und zärtlich, träumerisch, kontemplativ oder verklärt umschrieben werden – Brahms selbst hat das Porträt in seinem Brief an Clara Schumann ja auch als ein „sanftes“ angekündigt. Das Adagio ist gekennzeichnet durch • • • •
•
•
geringe dynamische Kontraste, harmonische Einfachheit vermittels Wahl verwandter Tonarten (D-Dur742, h-Moll, fis-Moll, G-Dur), eine in kleinen Schritten ab- und aufsteigende Melodielinie des A-Themas (Benedictus), improvisierende, träumerische Episoden des Klaviers, das in seinen Solostellen eher introvertiert auftritt und Virtuosität vornehmlich zur Begleitung und Untermalung des Orchesters einsetzt (T. 45f, 53–57, 80–84), einen ausgeprägten dialogischen Wechsel zwischen dem Klavier und den verschiedenen Instrumentengruppen des Orchesters. Dieser Dialog setzt sich zusammen aus den alleinigen Ausführungen des Klaviers (34 Takte oder 33%), den alleinigen Ausführungen des Orchesters (44 Takte oder 43%) und dem gemeinsamen Spiel der beiden ‚Gesprächspartner‘ (26 Takte oder 24%). Insgesamt spielt sich das Solo-Klavier nicht in den Vordergrund, sondern es tritt zurückhaltend auf, es agiert nicht und führt auch nicht an, sondern reagiert auf die Äußerungen der jeweiligen Orchesterinstrumente, greift diese auf und gestaltet sie improvisierend weiter.
Fasst man die musikstrukturellen Eigenschaften des Satzes in semantischer Terminologie als Signifikanten auf, die mit Hilfe ihrer inneren Organisation, sprich vermittels ihres musikalischen Sinns (Signifikat) den realweltlichen Referenten, hier das Clara-Schumann-Porträt als Denotat, bezeichnen, und führt man im
741 742
Vgl. Dahlhaus: Brahms. 1. Klavierkonzert, S. 17–19. Die Tonart D-Dur gilt in der brahmsschen Tonsprache als Natur-Laut, so in der 2. Sinfonie, D-Dur op. 73 (Heister: Semantisierungsverfahren, S. 28).
Instrumentalmusik
241
Rahmen der Analyse die unbegrifflichen musikalischen Zeichen in eine verbalsprachliche Begrifflichkeit zurück, dann kann der musikalische Sinn in seiner inneren Organisationsform mit dem intendierten Aussagegehalt verknüpft werden:
Abb. 32
Formschema Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15
242
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Der strukturelle Sinn der Musik wird in der Analyse dargelegt, quasi re-verbalisiert. Dabei werden die so gewonnenen Signifikate als musikalischer Sinn an den von Brahms angekündigten Gehalt des Adagios gekoppelt. Die verbalsprachliche Umschreibung der musikalischen Eigenschaften des Satzes (leise, still, stehend, schreitend, würdevoll, gemessen, gemäßigt, verhalten, zart und zärtlich, träumerisch, kontemplativ oder verklärt) lässt das Porträt einer Frau aufscheinen bzw. ‚erklingen‘, die eher weich als hart, eher sanft als aggressiv, eher leise als laut, eher reagierend als agierend und eher zurückhaltend als extrovertiert dargestellt wird. Zum einen sind die von Brahms gewählten musikalischen Gestaltungsmittel im Adagio gattungsspezifische Kennzeichen eines langsamen Satzes, zum anderen erhalten sie als Elemente eines von ihm angekündigten musikalischen Frauenporträts eine genderkonnotierte Bedeutung. Im Rahmen der folgenden Prämissen ist eine Korrelation zwischen musikalischen Strukturen und weiblichen Eigenschaften (gemäß der Geschlechterordnung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) herzustellen: •
•
•
Ein außermusikalischer Hinweis, nämlich die Aussage von Brahms zum Inhalt des Adagios als ein Porträt Clara Schumanns, dient als Interpretationsbasis. Ohne Kenntnis der Briefstelle besitzt das Adagio für die HörerInnen keine Genderkonnotationen, da die festgestellten musikalischen Eigenschaften des Satzes nicht a priori mit weiblichen Eigenschaften gleichzusetzen sind. Das heißt, nicht jedes Adagio mit vergleichbaren musikalischen Strukturen ist als Frauenporträt oder als weiblich zu interpretieren. Das von Brahms gezeichnete Porträt ist sein Bild und seine Wahrnehmung einer bestimmten Person in einer bestimmten biographischen und soziokulturellen Konstellation. Da es sich um Brahms’ subjektive Wahrnehmung handelt, ist damit nicht gesagt, dass Clara Schumann tatsächlich eine sanfte, passive, zurückhaltende oder bescheiden reagierende Person gewesen sein muss.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass sich Brahms zum Zeitpunkt der Komposition (Dezember 1856/Januar 1857) in einer komplizierten emotionalen Situation befand: Er liebte seit langem die Frau seines inzwischen verstorbenen Freundes und musikalischen Förderers Robert Schumann, er hat nach dessen krankheitsbedingtem Ausfall familiäre Verantwortung für dessen Kinder übernommen, er arbeitete an seiner eigenen musikalischen Karriere, die ihm durch Schumanns Aufsatz prophezeit wurde, und er malte – ebenso wie Schumann dies zum Beispiel in den Kreisleriana op. 16 getan hat – ein musikalisches Porträt der geliebten Frau. Seine emotionalen Bindungen an die porträtierte Frau, Klaviervirtuosin und Witwe mit sieben Kindern, ihre gesellschaftliche Situation und sein komplexes Verhältnis zum Ehepaar Schumann erklären möglicherweise die multiplen Interpretationsebenen des Satzes, denn in einem weiteren Analyse-Schritt sind die von Brahms gewählten musikalischen Gestaltungsmittel und die mit ihnen verbundenen Gender-
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Abb. 33
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Ludwig van Beethoven: Fidelio, Finale (Sostenuto Assai)
konnotationen in einen vertiefenden Kontext zu stellen. Für eine umfassende hermeneutische Interpretation ist noch ein weiterer musikalisch-semantischer Bezugspunkt des Benedictus-Themas zu berücksichtigen: Das musikalische Motiv des Benedictus-Themas enthält nämlich deutliche Anklänge an genau die Szene im Finale von Beethovens Fidelio, in der Leonore ihren Gatten von seinen Ketten befreien darf (Abb. 33). Hier untermalt nach einem Quartsprung (F²–B²) eine in Sekundschritten abwärtsgeführte Melodielinie (B²–C²) der Oboe den Ausruf Leonores „O Gott! O Gott! Welch’ ein Augenblick!“ (Sostenuto assai, F-Dur, 3/4-Takt, T. 4–6). Dieses Motiv (Quartsprung und Abgang in Sekundschritten) wird von Beethoven wiederholt (T. 10–12) und bei der Steigerung des Aufrufes durch den Chor von Horn, Klarinette, Oboe und Flöte aufgegriffen (T. 30ff), diesmal aber mit einem auftaktigen Quintsprung C²–G². Indem Leonore das Motiv an dieser Stelle mit Flöte und Oboe colla parte zu dem Text „O Gott, o welch’ ein Augenblick“, bei der Wiederholung zu dem Text „O unaussprechlich süßes Glück!“ singt – und in der Textdeklamation dem Chor folgt –, erhält das musikalische Material der Melodie
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einen semantischen Impetus. Da aus einem Brief an Joseph Joachim hervorgeht, dass Brahms die Finalszene der Beethoven-Oper genau kannte, hat Brahms vermutlich das musikalische Motiv mit seinem semantischen Gehalt bewusst aufgegriffen und in seinem Adagio eingesetzt. Brahms erinnerte sich nämlich an genau diese beethovensche Opernszene, als er Clara Schumann in einer für sie existentiellen Situation beobachtete. Nach fast eineinhalb Jahren erhielt Clara Schumann am 15.9.1854 den ersten Brief ihres Mannes aus der Endenicher Heilanstalt: Sie öffnete den Brief und konnte mir kaum zulallen ‚von meinem Mann‘; lesen konnte sie lange nicht. Dann aber, welche unaussprechliche Wonne, sie sah aus wie der F-dur¾ Satz im Finale vom Fidelio, ich kann’s nicht anders beschreiben, weinen kann man nicht darüber, aber das ganze Gesicht zieht sich zusammen vor stillem, wonnigem Schauer.743
Brahms erinnerte sich beim Anblick Clara Schumanns an diese spezielle Szene aus Beethovens Oper. Er drückte seine Wahrnehmungen und Gefühle, die er verbal nicht artikulieren konnte, mittels eines musikalischen Verweises aus. Den Anblick Clara Schumanns beim Öffnen des Briefes fasste er nicht in Worte, sondern er assoziierte Musik. Gehörte Musik, genauer eine spezielle musikalische Szene innerhalb einer speziellen musikdramatischen Situation, benutzte er somit als ein nonverbales Ausdrucks- und Kommunikationsmittel für die Verbalisierung seiner Emotionen, als er Clara Schumann in einer für sie existentiellen Situation beobachten konnte. Ein weiteres Beispiel zeigt, dass Brahms auch bei der Betrachtung eines gemalten Frauenbildes Musik assoziierte. So berichtete Richard Heuberger in seinen Erinnerungen, dass Brahms ihm Photographien der Werke Anselm Feuerbachs gezeigt und auf eines der Medea-Bilder deutend dazu gemeint habe: „So ein Adagio müssen Sie einmal schreiben! So traurig!”744 Für Brahms war demnach das Betrachten des (mythologischen) Frauenbildes synästhetisch mit einem musikalischen Satztyp, einem Adagio, verbunden. Eine Frau oder das gemalte Bild einer Frau zu betrachten, löste musikalische Assoziationen aus, im ersten Fall an eine Szene aus Beethovens Fidelio, im zweiten Fall eher allgemein an einen (noch zu komponierenden) Adagio-Satz. Ein menschliches (weibliches) Antlitz in Musik wahrzunehmen – wie die Augen von Clara Schumann in den Kreisleriana – oder durch Musik zu beschreiben – wie in seinem musikalischen Clara-SchumannPorträt –, wurde von Brahms synästhetisch miteinander verknüpft.In kontextueller Verbindung mit der beethovenschen Opernszene lässt sich die Benedictus-Textierung zunächst als eine konkrete Bezugnahme auf die oben beschriebene biographische Situation deuten. Brahms erinnerte sich während der Komposition des Porträts
743 744
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 64. Heuberger: Erinnerungen, S. 21.
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an den Anblick Clara Schumanns beim Öffnen des Briefes und an seine musikalischen Assoziationen. Er zeichnete demnach Clara Schumann mit seinen musikalischen Mitteln unter Verwendung thematischen Materials der Beethoven-Szene. Und in einfacher Übertragung kann dann der Brief derjenige sein, der in freudiger Erwartung begrüßt wurde („Benedictus“), weil er von Robert Schumann stammte, der ja als „Mynheer Domine“ angeredet wurde. Es ist aber auch eine tiefergehende Bedeutungsebene denkbar, die die dramatische Opernszene mit der biographischen Situation Clara Schumanns verbindet. Brahms assoziierte ihren Anblick mit genau der Szene aus der Beethoven-Oper, in der die treue Gattin den geliebten Mann aus seiner Gefangenschaft befreien darf, und er verwendete thematisches Material dieser Opernszene als Thema der Benedictus-Melodie. In der Oper wird zu den Worten „unaussprechlich süßes Glück“ eine bevorstehende Befreiungssituation besungen. Auch Brahms benutzte in seinem Brief an Joachim ähnliche Begriffe („unaussprechliche Wonne“), weil Clara Schumann beim Lesen des ersehnten Briefes Hoffnung auf Genesung oder auf ein Wiedersehen gehegt haben mag. Dass es letztlich nicht gelang, Robert Schumann aus den Fesseln der Krankheit zu befreien, wusste Brahms, als er im Dezember 1856 Motive der beethovenschen Opernszene in seiner Benedictus-Melodie verwendete. Indem er das Motiv jedoch zur musikalischen Charakterisierung einsetzte, machte er deutlich, dass er Clara Schumann in ihrer engen Bindung an den Ehemann sieht: als eine treu-liebende Frau, die ihrem Mann auch über den Tod hinaus emotional verbunden bleibt. Im Gegensatz zur glücklichen Rettung Florestans in der Oper konnte Robert Schumann nicht aus den Fesseln (der Krankheit) befreit werden. Am Ende seines Leidensweges war der seit langem erwartete Tod für alle Beteiligten eine Erlösung aus Elend und Hoffnungslosigkeit. Berücksichtigt man die Parallele zur Messliturgie, so besitzt die Benedictus-Textierung auch eine religiöse Konnotation: In der Eucharistiefeier, die an das letzte Abendmahl erinnert, bevor Jesus durch seinen Tod am Kreuz die Menschen erlöst, erklingt das Benedictus vor der Wandlung, in der aus Brot und Wein Leib und Blut Jesu Christi werden. Wenn der Tod sowohl für Robert als auch für Clara Schumann eine Form der Erlösung darstellte, so wies Brahms mit seiner Benedictus-Textierung nicht auf sich oder eine andere gebenedeite Person hin, sondern er bezog sich auf die liturgische Funktion des Benedictus. Da das Benedictus-Zitat im liturgischen Zusammenhang auf den Tod Jesu und seine erlösende Wirkung für die Menschen verweist, können damit auch tröstende Intentionen seitens Brahms verbunden sein. Eine religiös ausgerichtete Interpretation der Benedictus-Textierung nimmt auch John Daverio in seiner vergleichenden Studie745 zu den musikalischen Verkörpe-
745
Daverio: Crossing paths, S. 65–154.
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rungen Clara Schumanns in der Musik von Robert Schumann und Johannes Brahms vor. Er kommt zu dem Schluss, dass das Adagio des Klavierkonzertes von Brahms als ein Doppelporträt aufzufassen ist. Das einleitende Orchesterthema mit dem unterlegten Benedictus-Text und die weiteren Orchestereinsätze (mit und ohne Klavier) deutet er als ein Requiem für Schumann,746 während sich hinter den eingefügten Solostellen des Klaviers das Porträt von Clara Schumann verberge.747 Eine Interpretation (von Teilen) des Adagios als Requiem für Robert Schumann berücksichtigt den religiös-erhabenen Charakter des Satzes und besitzt darüber hinaus eine gewisse Folgerichtigkeit, da die Beschränkung des Clara-SchumannBildes auf die Solo-Klavierpassagen ihrer biographischen Ausrichtung auf das Klavier entspräche. Von frühester Kindheit an war ihr Leben auf das Klavierspiel ausgerichtet, woraus sie Erfüllung und Selbstbestätigung gewann, was ihr Kraft gab und sie – auch ökonomisch – überleben ließ. Ob das Adagio ein Requiem für Schumann mit eingeschobenen Clara-Schumann-Episoden oder allein das Bild der trauernden Clara Schumann darstellt, in beiden Fällen ist ihr Porträt nur in Verbindung mit Robert Schumann möglich. Brahms konnte Clara Schumann nur mit ihrem Mann, in einer Art Doppelporträt sehen, das Paar bildete für ihn auch nach Schumanns Tod eine untrennbare Einheit. Fazit: Bereits die Wahl eines langsamen, elegischen Satz besitzt genderkonnotierte Bedeutung in Bezug auf das von ihm angekündigte musikalische Frauenporträt; die verwendeten musikalischen Gestaltungsmittel im Adagio als gattungsspezifische Kennzeichen eines langsamen Satzes unterstreichen diese Bedeutung: Indem Brahms in seiner Musik diejenigen Eigenschaften aufnimmt und zum Klingen bringt, die sie seinem Empfinden nach dem Gezeigten, hier dem Clara-SchumannPorträt, ähnlich macht,748 wird diese als eher sanft und leise, als reagierend und zurückhaltend gezeichnet. In diesem ‚gespiegelten Porträt‘ wird Clara Schumann von Brahms als eine ruhige, kommunikative, verhalten re-agierende, introvertiertzurückhaltende Person dargestellt – unabhängig davon, ob sie tatsächlich diese Charaktereigenschaften besaß. Die von Brahms gewählten musikalischen Gestaltungsmittel verkörpern in ihrer inneren Organisationsform und vermittels der von Brahms gelegten semantischen Spuren (Benedictus, Zitat aus Beethovens Fidelio) eine Frau, deren Leben auch nach dem Tod des geliebten Mannes auf diesen ausgerichtet bleibt. Die untrennbare, treue Verbindung mit dem Leben des Mannes, auf die Brahms durch die Verwendung der Benedictus-Worte in Kombina-
746 747
748
Daverio bezieht sich auf Tovey: Musical analyses, Bd. 3, S. 117. “I will suggest that the elegiac passages for orchestra, or for orchestra and piano together, comprise Brahms’s Requiem music for Schumann, while the ‚gentle portrait‘ emerges in the soloist’s interpolated commentaries on the the orchestra’s music.” (Daverio: Crossing paths, S. 149). Vgl. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 143.
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tion mit dem Beethoven-Zitat hinweist, und die musikalische Personencharakterisierung entsprechen einem idealen Konzept von Weiblichkeit, wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Geschlechterdiskurs thematisiert und eingefordert wurde. Brahms zeichnete Clara Schumann mit den Zügen einer idealen Frau, indem er den Satz mit musikalischen Mitteln und semantischen Spuren gestaltete, die mit diesen ‚typisch weiblichen‘ Eigenschaften korrelieren.
6
Rezeption und Musikschrifttum
Musikalische Praxis als kulturelles Handeln erschöpft sich nicht in der Produktion von Musikwerken; vielmehr ist auch die Rezeption von Musik als eine musikbezogene Aktivität aufzufassen, die vom zeitgenössischen Gedankengut – und hier speziell von den kulturellen Deutungsmustern von Geschlecht – beeinflusst wird, aber selbstverständlich auch auf dieses zurückwirkt. Somit rücken die HörerInnen und die Vorgänge beim Hören von Musik in den Mittelpunkt: Im Rezeptionsvorgang nimmt die hörende Person musikalische Strukturen wahr und besetzt sie – je nach musikalischer Vorbildung und individueller Befindlichkeit – mit formalen Begriffen, assoziierten Bildern, Gedanken, vielleicht auch mit emotionalen Erinnerungen. Wie das hörende Subjekt seine ästhetischen Erlebnisse wahrnimmt, hängt davon ab, über welche Ausdrücke es verfügt, um die Hör-Erfahrung strukturieren und verbalisieren zu können.749 Hören und Verstehen von Musik vollziehen sich demnach in einem sprachlich vermittelten, begrifflichen Denken, sei es rein strukturell oder assoziativ. Die damit verbundenen Bedeutungszuweisungen entwickeln sich auf der Basis von individuellen und allgemeinen Erfahrungen sowie musikalischen Fähigkeiten und Kenntnissen, die wiederum in spezifische soziokulturelle Kontexte eingebettet sind.750 Dem liegt ein Kunstwerkbegriff zugrunde, der davon ausgeht, dass dem Werk eine mehrdeutige Botschaft eigen ist. Als offenes Kunstwerk751 besitzt es auf der Textebene eine materielle Form, deren Bedeutungsvielfalt unbestimmt bleibt und erst in der Rezeption realisiert wird: „Jede einzelne Interpretation ist die Aktualisierung einer in der Werkstruktur fundierten Sinnmöglichkeit.“752 Berücksichtigt man nun noch „die uneinholbare Geschichtlichkeit des je individuellen Rezipienten“753, dann kann nicht mehr von einer eindeutigen, für alle Zeiten feststehenden Bedeutung eines Werkes gesprochen werden. Außerdem gilt, dass sich die Bedeutung einer musikalischen Textur bereits durch die Tatsache ändert, dass sich der Text, das heißt die schriftlich fixierte Komposition, nicht ändert, während im Gegenzug die Hörpraxen bzw. die ‚Hörwelten‘754 der
749 750 751 752 753 754
Hubig: Rezeption, S. 40. Vgl. Kramer: Meaning, S. 8. Vgl. Eco: Kunstwerk, S. 8f und S. 27–59. Iser: Kritik, S. 330. Gratzer: Musikhören, S. 19. In Affinität zu Paul Ricoeur wird in der französischen Literaturwissenschaft von „Lesewelten“ gesprochen, womit die Geschichtlichkeit des Lesemediums (Buch, verlegerische Praxis) und des Lesevorgangs (in Gesten, Räumen und Gebräuchen verkörperte Praxis) sowie die Frage nach den historischen Verstehensbedingungen gemeint sind. In Analogie kann man auch von Hörwelten sprechen (vgl. Gratzer: Musikhören, S. 19).
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individuellen RezipientInnen einer ständigen Verwandlung unterworfen sind, so dass von einer andauernden und nicht abschließbaren Bedeutungsgenerierung auszugehen ist.755 Des Weiteren hat eine musikbezogene Rezeptionsforschung die Spezifika ihres Untersuchungsobjektes zu berücksichtigen: Zum einen den Mangel an inhaltlicher Bestimmtheit des rezipierten musikalischen Materials sowie die besondere Qualität musikalischer „Leerstellen“756, zum anderen die Besonderheit der musikalischen Rezeption, die in ihrer „Zweistelligkeit“, dem doppelten Feedback der HörerInnen auf Interpretation und Werk,757 begründet ist. Ich klammere im Folgenden die Stufe der Interpretation aus und beschränke mich auf das Feedback der HörerInnen auf das Werk. Die damit verbundene Vereinfachung des komplexen Hörvorganges rechtfertigt sich dadurch, dass in einigen der anschließend diskutierten Beispielen eine Rezeption des Werkes im eigenen Klavierspiel oder anhand der Partitur (also ohne vermittelnde Interpretation der Musik) erfolgte. Außerdem lassen sich die Anteile der Interpretation am Hör- und Verstehensprozess bei den überlieferten Beschreibungen kaum mehr festmachen, da Informationen über die Art und Weise der Interpretation der jeweiligen Aufführung nicht vorliegen. Eine Komposition wird in einer rezeptionsästhetischen Perspektive nicht als ein unveränderlich in sich ruhendes Objekt verstanden, dessen Bedeutungsgehalt eindeutig und abschließend zu benennen ist. Vielmehr betont sie die historische Prozesshaftigkeit in der Interaktion von Wirkung und Rezeption, die sich in einer Vielfalt von Auffassungs-, Verstehens- und Kontextmodalitäten widerspiegelt.758 Das ‚opus perfectum et absolutum‘ wird ersetzt durch das dialektische Verhältnis von Werk, RezipientIn und Geschichte, in dem der musikalische und gesellschaftliche „Erwartungshorizont“759 der RezipentInnen bei der Bedeutungsgenerierung zentral ist. Wird die primäre Rezeption der zeitgenössischen HörerInnen unter-
755 756
757 758 759
Vgl. Gratzer: Musikhören, S. 21. Iser: Appellstruktur, S. 235f. Iser sieht in den Leerstellen eines literarischen Textes einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung und seinen Mitvollzug. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Leerstellenbetrag, der den Auslegungsspielraum und die verschiedenartige Adaptierbarkeit des Textes überhaupt erst ermöglichte.“ (ebd., S. 236). Kropfinger: Rezeptionsforschung, Sp. 209. Vgl. Kropfinger: Rezeptionsforschung, Sp. 201. Dieser Begriff wurde erstmals von Hans Robert Jauß in die Literaturtheorie eingeführt. Der Erwartungshorizont „besteht aus der Gesamtheit kultureller Annahmen und Erwartungen, Normen und Erfahrungen, die das Verstehen und die Interpretation eines literarischen Textes durch einen Leser in einem bestimmten Moment leiten. [Er] ist abhängig von zeitlichen und kulturräumlichen Faktoren einerseits und von individuellen Gegebenheiten in bezug auf den einzelnen Rezipienten andererseits.“ (Antor: Erwartungshorizont, S. 155).
250
Rezeption und Musikschrifttum
sucht, um Einsicht in konkrete Bedeutungszuweisungen zu erhalten, dann sind – soweit rekonstruierbar – die „jeweiligen sozialen, situativen, psychischen und kognitiven Voraussetzungen als Erklärungsfaktoren“760 zu berücksichtigen. Diese ‚Situiertheit der HörerInnen‘ ist in ihrer jeweiligen soziokulturellen Welt zu präzisieren, damit sie als ein entscheidender Faktor für den Verstehensprozess von Musik erfasst werden kann. Folgendes Zitat über musikalische Urteilsbildung besitzt ebenfalls Gültigkeit für Rezeptionsprozesse im Allgemeinen und fasst das oben Gesagte zusammen: Urteile über Musik sind singuläre Akte, die von langfristig erworbenen Bewertungsund Wahrnehmungsschemata beeinflusst werden. Die individuelle musikalische Urteilsbildung wird daher bestimmt durch Eigenschaften der Musik, den Kontext der Hörsituation, die momentane Befindlichkeit der Urteilenden, deren bisher verinnerlichte ästhetische Normen (Individualgeschichte, Ontogenese) sowie den zeitlichen Ort in der Kulturgeschichte (Zeitgeschichte, Phylogenese).761
In dem bereits zitierten Artikel von Klaus Kropfinger zur Rezeptionsforschung in der Neuen MGG wird jedoch ein für die (deutsche) Musikwissenschaft bezeichnendes Ressentiment gegen eine besondere, aber weit verbreitete Form musikalischer Rezeption deutlich. Kropfinger schlägt nämlich vor, dass es bei der Interpretation der so genannten „Leerstellen“ in der Musik „in erster Linie um musikalische Struktur- und Formbrüche, um die voids im musikalischen Gefüge gehen“ solle, während er es als „sehr problematisch“ ansieht, „verstünde man die jeweils offene Sinnkomplettierung automatisch als Lizenz zu einer programmatischen Hermeneutik [...].“762 Mit dieser Haltung steht er im (west-)deutschen musikwissenschaftlichen Diskurs nicht allein. Der Widerwille gegen die poetisierende Deutung von Musik wird damit begründet, dass das Unsagbare der Musik nicht in sprachliche Begriffe oder Allegorien zu pressen sei. Dabei kritisierte Ludwig Finscher bereits 1979, dass der Rückzug der Musikwissenschaft „auf die Formbeschreibung unter Verweisung der inhaltlichen Interpretationen in das Reich des Unsagbaren“763 die Probleme verschütte, statt sie bewusst zu machen. Er forderte daher, die – wie er es nannte – transmusikalischen Inhalte ernst zu nehmen und zur Sprache zu bringen, damit das Verhältnis von Form und Inhalt problematisiert werden könne. Eine Beschränkung der musikwissenschaftlichen Diskussion auf das analysierende Nachzeichnen der musikalischen Strukturen und Formen eines Werkes vernachlässige den Gehalt der Musik, der sich in deutenden und interpretierenden Aussagen von HörerInnen niederschlage. Damit werde ein wichtiger Aspekt des musika-
760 761 762 763
Barsch: Rezeptionsforschung, S. 573. Behne: Musikalische Urteilsbildung, Sp. 998. Kropfinger: Rezeptionsforschung, Sp. 209, Hervorhebung im Original. Finscher: Absolute und Programmusik, S. 104.
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lischen Geschehens ausgeblendet.764 Dass die poetisierende Deutung von Musik im 19. Jahrhundert den Gehalt von Musik zu fassen suchte, zeigen zahlreiche Be- und Umschreibungen ‚reiner‘ Instrumentalmusik, zum Beispiel durch Komponisten wie E.T.A. Hoffmann, Robert Schumann oder Richard Wagner, durch Musikjournalisten und Musikkritiker wie Carl Beyer oder Max Kalbeck sowie durch Musikwissenschaftler wie Hermann Kretzschmar, in deren Schriften zahlreiche poetisierende und narrativierende Beschreibungen für musikalische Formverläufe zu finden sind. Die musikästhetische Forderung des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, nur die musikalischen Strukturen, den musikalischen Formverlauf und nicht die interpretierten Inhalte als werkbestimmend zu untersuchen und das strukturelle Hören als einzig angemessene Rezeptionshaltung zu praktizieren, wertet die verbreitete Praxis, Musik inhaltlich zu deuten, als nicht relevant für die musikwissenschaftliche Forschung ab.765 Die subjektiven rezipientenseitigen Interpretationen und ausführlichen Narrativierungen besitzen in dieser Auffassung keinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, nur das strukturelle Hören sei dem Werk und den Intentionen des Komponisten angemessen. Wenn man jedoch die kulturellen Verflechtungen von Musik in gesellschaftlich relevante Diskurse aufzeigen möchte, dürfen diese Deutungen und Interpretationen auf Seiten der HörerInnen und MusikwissenschaftlerInnen – zu denken ist hier zum Beispiel auch an die hermeneutischen Beethoven-Interpretationen von Arnold Schering – nicht vernachlässigt werden, bieten sie doch einen Einblick in semantische Begriffsfelder, in die Gedankengänge und emotionalen Befindlichkeiten des musikrezipierenden Publikums und der musikwissenschaftlichen Disziplin. Sie zeigen, welche Themen bzw. welche kulturellen Codes zu welcher Zeit für welche Personengruppe so bedeutsam und virulent waren, dass sie während des Rezeptionsvorganges in die Musik hineingehört bzw. hineinprojiziert wurden. Sie weisen demnach auf die diskursive Verknüpfung von Musik mit dem zeitgenössischen Ideen- und Gedankengut hin, welche – so meine These – im 19. Jahrhundert (auch) vom dichotomen Denken in Geschlechterkategorien beeinflusst wurde. Leider betrachten die bisherigen Veröffentlichungen zur Brahms-Rezeption766 die Rezensionen, Werk- und Konzertkritiken in der Regel nur aus einer musikstrukturellen Perspektive. In der Untersuchung von Angelika Horstmann zur Brahms-Rezeption der Jahre 1860–1880 werden beispielsweise Aussagen der Kritiker zu Form, Instrumentation, thematischer Arbeit oder Harmonie zusammen-
764 765 766
Finscher: Absolute und Programmusik, S. 107. Vgl. Neubauer: Tales of Hoffmann, S. 117f. Fellinger: Brahms-Bild der AMZ; Siegmund-Schultze: Brahms-Rezeption 1853–1914; Horstmann: Rezeption op. 1–10; Horstmann: Brahms-Rezeption 1860-1880; Meurs: Brahms-Rezeption 1853–1868.
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gestellt. Der Charakter der Komposition, die Werkqualität und -bedeutung werden zwar ebenfalls berücksichtigt, aber stets mit einem strukturellen und nicht mit einem inhaltsanalytischen Interesse. Zur Verdeutlichung: Horstmann767 setzt sich mit der Werkkritik von Hermann Kretzschmar zum ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms768 auseinander, die 1874 im Musikalischen Wochenblatt erschien, aber sie verschweigt Kretzschmars inhaltliche Deutung769 des Klavierkonzertes. Die Nicht-Berücksichtigung programmatischer Interpretationen von Musik in der Rezeptionsforschung ist umso bedauerlicher, da gerade diese Deutungen Informationen enthalten, die für die Frage nach der Verflechtung von gesellschaftlichen und musikbezogenen Diskursen wichtig sind. Anders als die Brahms-Forschung kann die Beethoven-Forschung auf das grundlegende Werk von Hans Heinrich Eggebrecht zur Geschichte der BeethovenRezeption770 zurückgreifen. Einige der dort aufgeführten Begriffsfelder lassen „eine deutliche Affinität zum gängigen Männlichkeitsstereotyp“771 erkennen. Und auch in den Untersuchungen zur Konstruktion von Geschlecht in der Musik standen Ludwig van Beethoven und sein Werk bereits im Fokus einer genderzentrierten Rezeptionsforschung,772 während die Musik von Brahms kaum berücksichtigt wurde.773 Anhand der Musik von Brahms und ihrer Rezeption lässt sich jedoch zeigen, dass rezeptionsästhetische Verbalisierungen durchaus von Gender-Assoziationen und geschlechterdichotomen Implikationen beeinflusst sind. Die vorgenommene Untersuchung bezieht sich dabei auf ausgewählte Beispiele der BrahmsRezeption vom Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, da für diese Zeitspanne davon ausgegangen werden kann, dass Musikproduktion und Musikrezeption im gleichen „intellektuellen Kräftefeld“774 stattgefunden haben. Oder anders ausgedrückt: Die Untersuchung von Deutungen, die beim Hören von absoluter Musik entstanden sind, macht die Kommunikationsprozesse zwischen KomponistIn und ZuhörerInnen im soziokulturellen Kontext der beteiligten Diskurspartne-
767 768 769 770 771 772 773 774
Horstmann: Brahms-Rezeption 1860–1880, S. 287–289. Kretzschmar: Neue Werke, S. 5–7. Kretzschmar (Neue Werke, S. 5f) spricht von „Recken“, die in wilder Phrase schreien, er fühlt sich an die Szene im Beowulf erinnert, „wo das entsetzliche Moorungeheuer in der Methhalle erscheint“ (vgl. ausführlich Kapitel 6.2). Eggebrecht: Beethoven-Rezeption. Rösing: Männlichkeitssymbole, S. 11. Vgl. Bartsch/Borchard/Cadenbach (Hrsg.): Beethoven; Burnham: Beethoven hero; Borchard: Männlichkeitskonstruktionen; Pederson: Beethoven. Citron: Männlichkeit. Vgl. Bourdieu: Formen, S. 76: Das künstlerische Schaffen vollzieht sich als ein kommunikativer Akt in einem System sozialer Bedingungen; das intellektuelle Kräftefeld [...] bildet „nach Art eines magnetischen Feldes ein System von Kraftlinien“, in das der Schaffende eingebettet ist.
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rInnen fest775 und liefert Antworten auf die Frage, wie im späten 19. Jahrhundert poetisch-programmatische Deutungen in die Musik hineingehört wurden. Konkret ist zu fragen, welche Genderkonnotationen in diesen Auslegungen enthalten sind. Die Erforschung der Rolle der Musik bei der Vermittlung und Konstruktion von Geschlechterkonzepten ist daher nicht auf die bisherigen semantischen Zuschreibungen in einem Werk zu beschränken. Denn unabhängig von der Komponistenintention (soweit sie bekannt und als relevant anzusehen ist) wird Musik im Rezeptionsvorgang mit inhaltlichen Deutungen aufgeladen, in denen Vorstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert und mit der Musik in Verbindung gebracht werden. Anhand der Rezeption ‚reiner‘ Instrumentalmusik zur BrahmsZeit wird daher untersucht, welche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Rezeptionsprozess eingeflossen sind und an welchen musikalischen Strukturen sich diese genderkonnotierten Interpretations- und Verstehensprozesse festmachten. Das Ziel des Kapitels ist es, einen Einblick zu geben, welche genderkonnotierten Begriffe oder Inhalte der Musik angeheftet werden. Hierzu bieten sich die Verbalisierungen von Hör- und Rezeptionsvorgängen realer HörerInnen776 an, die zur Brahms-Zeit dessen Musik wahrgenommen und ihre Höreindrücke bzw. Analyseergebnisse in Briefen, Konzertkritiken sowie in Biographien, Konzertführern oder Werkbesprechungen verbalisiert haben. Die von ihnen produzierten Texte stellen als Ergebnisse einer kulturellen Praxis Quellenmaterial zur Verfügung, das auf die in ihnen verwendeten Begriffe, Assoziationen, Geschichten und Programme hin untersucht werden kann.
6.1
Briefwechsel: Private Diskurse über Musik
Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Briefwechsel von Johannes Brahms mit Joseph Joachim, Theodor Billroth, Heinrich und Elisabeth von Herzogenberg sowie mit Clara Schumann. Brahms legte großen Wert auf die Kritik und Anmerkungen seiner FreundInnen und sandte ihnen regelmäßig seine neuen Kompositionen vor einer Veröffentlichung zu. Seiner Bitte um Kritik kamen alle gerne und zum Teil sehr ausführlich nach. Daher finden sich in diesen Briefwechseln zahlreiche Beispiele dafür, wie diese Personen Musik rezipiert, verstanden und verbalisiert haben. An ihnen lässt sich untersuchen, wie Musik im privaten Umkreis von Brahms gehört, mit welchen Begriffen über Musik geschrieben und mit welchen Assozia-
775 776
Vgl. Tarasti: Signs, S. 87. Die Kategorie des realen Hörers steht hier im Gegensatz zu der des impliziten Hörers, der in Anlehnung an die literaturtheoretische Kategorie des impliziten Lesers als ein vom Autor gesetztes Kriterium des Lesens in den Textstrukturen eingebunden bleibt, die wiederum ein fiktiver (idealisierter) Leser einzulösen hat.
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Rezeption und Musikschrifttum
tionen, Gedanken und Inhalten sie versehen wurde. Die brieflichen Aussagen zur Musik von Brahms stehen ebenso wie die im nachfolgenden Kapitel besprochenen Konzertkritiken in zeitlicher Nähe zum entstandenen oder aufgeführten Werk. Das Besondere der Briefwechsel ist, dass sie ebenso wie die privaten Gespräche der direkten Kommunikation mit Brahms dienten. Dem gegenüber schreibt der Konzertkritiker für eine öffentliche, musikinteressierte Leserschaft. Die BriefschreiberInnen besaßen privates Hintergrundwissen, nämlich biographisches Detailwissen über die Entstehung, über eventuelle Schwierigkeiten im Entstehungsprozess oder über frühere Fassungen der Komposition. Hinzu kommt, dass die im Briefwechsel besprochene Musik oft noch vor einer ersten Aufführung kommentiert wurde, so dass es noch keine die Wahrnehmung vorstrukturierende Besprechung oder Bewertung der Musik gegeben hat, die das eigene Urteil hätte beeinflussen können. Zu berücksichtigen ist auch, dass die VerfasserInnen in einem freundschaftlichen Verhältnis zum Komponisten standen, sie wollten Brahms fördern, motivieren, ihm ein Feedback geben. Dass diese freundschaftliche Basis nicht zu undifferenzierten Lobeshymnen verführte, belegen die Briefe eindrucksvoll. Bei aller Begeisterung für die Musik von Brahms übten die BriefschreiberInnen Kritik, sie artikulierten zuweilen ihr Unverständnis oder schlugen Verbesserungen vor. Über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren war Johannes Brahms mit Clara Schumann und Joseph Joachim befreundet. In dieser Zeit schrieben sie sich zahlreiche Briefe – einige Pausen aufgrund von Spannungen und Konflikten ausgenommen. Bei Theodor Billroth und Elisabeth von Herzogenberg handelt es sich um Freundschaften, die erst Ende der 1860er bzw. in den 1870er Jahren geschlossen wurden. Die FreundInnen haben sich in der Regel anhand des von Brahms zur Verfügung gestellten Manuskripts oder der autographen Partitur (zuweilen auch anhand einer späteren Druckausgabe bzw. eines Klavierauszuges) intensiv mit der Musik auseinander gesetzt, sie selbst gespielt oder sich vorspielen lassen. Sie verfügten als BerufsmusikerIn (Joseph Joachim, Clara Schumann), gebildeter Musikkenner (Theodor Billroth) und hochbegabte Musikliebhaberin und -förderin (Elisabeth von Herzogenberg) über hervorragende musikalische Fertigkeiten und Kenntnisse. Sie besaßen das Vertrauen des Komponisten, der um ihre musikalische Kompetenz wusste und um eine Rückmeldung zu seinem Werk gebeten hatte. In Briefform berichteten sie über ihre Eindrücke und gaben dem Komponisten ein Feedback über das gehörte, im (eigenen) Spiel am Klavier erklungene oder nur gelesene Werk. 6.1.1
Joseph Joachim
Der kritische Austausch über Kompositionen fand zwischen Joseph Joachim und Johannes Brahms zunächst wechselseitig statt, von Februar bis Juli 1856 betrieben
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sie parallel regelmäßige Kontrapunktstudien – bei Androhung einer Strafe für denjenigen, der dieser Absprache nicht nachkam. In den späteren Jahren, als Joachim seine Karriere als Komponist zugunsten seiner Konzert- und Lehrtätigkeit zurückstellte, wurden nur noch die Kompositionen von Brahms besprochen. Neben dem Austausch über Kompositionen dienten die Briefe der Absprache von gemeinsamen Konzerten oder möglichen Treffen und dem Informationsaustausch über geplante Konzertreisen und Veröffentlichungen, über Konzerte, die sie gegeben oder gehört hatten, über die Reaktionen des Publikums sowie über Ereignisse im Leben gemeinsamer FreundInnen. Trotz des Geständnisses „man sagt schriftlich (ich wenigstens) doch immer nur unvollkommen, was man über Musik fühlt – ein Blick, ein Lächeln, ein Händedruck sind tausendmal mehr molto espressivo“777, antwortete Joachim ausführlich zu den Kompositionen von Brahms, während dieser auf die Kompositionen von Joachim eher wortkarg reagierte (das gilt ebenfalls für Brahms’ Anmerkungen zu den Kompositionen von Heinrich von Herzogenberg). Da davon auszugehen ist, dass Vieles und Wesentliches über die Musik des Anderen in vertrauten Gesprächen ausgetauscht wurde, stellt der Briefwechsel zwar einen begrenzten, aber überlieferten Ausschnitt aus der musikbezogenen Kommunikation zwischen Brahms und Joachim dar. In den Besprechungen der Werke standen häufig kompositorische Details und spieltechnische Fragestellungen (vor allem während der Entstehungszeit des Violinkonzerts D-Dur op. 77) im Mittelpunkt. Grundsätzlich ging Joachim stärker auf die formalstrukturellen Eigenschaften der Stücke als auf inhaltsästhetische Aspekte ein. Dennoch drückte er in der Regel seine Begeisterung über ein Werk mit aussagekräftigen Vergleichen, adjektivischen Bestimmungen oder Poetisierungen aus, die einen Eindruck dessen vermitteln, was er beim Studium oder Spiel des Stückes wahrgenommen und empfunden hat. Am 27.6.1854 teilte Joachim seine Assoziationen über die Klaviervariationen op. 9 mit, die Brahms über ein Thema von Robert Schumann geschrieben und Clara Schumann gewidmet hat:778 wie hat mich jeder Ton in den Variationen von Dir erwärmt, wie sonnte ich mich an dem Reichtum von Gefühl, von Geist, der darin liegt! [...] Jede Variation ist ein kleiner Tempel zur Verherrlichung des Geistes, der im Thema verborgen ruht – und so mannigfaltig auch ihre Architektur ist, mit gleicher Liebe durchweht er sie. [...] Könnte ich doch den lichten zweiten Teil [der 4. Variation] einmal von einer Oboe hören [...]! Das ist so rein, so keusch. Man hört die Dedikation durch! [...] die sechste Variation macht mir den Eindruck, als träte plötzlich ein stattlicher Staatsmann prunkhaft in eine Gesell-
777 778
Brahms: Briefwechsel mit Joachim,, Bd. 1, S. 57 (Brief vom 5.9.1854). Über den Entstehungskontext und die thematischen Bezugnahmen von op. 9 siehe Kapitel 5.1.1.
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schaft von Dichtern und Philosophen, in der er sich [...] etwas niedergedrückt fühlen muß.779
Joachim beginnt seine Betrachtungen über die Klaviervariationen mit einem religiös gefärbten Vergleich der Musik: Die Variationen seien Tempel, die in ihrer differenzierten Architektur den Geist des Themas von Robert Schumann verherrlichten. Damit verleiht Joachim der Musik eine religiöse Dimension und benennt gleichzeitig die Gütekriterien für sein begeistertes Urteil: Gefühl, Geist, Liebe und formale Komplexität. Dann wird er konkreter: In der vierten Variation höre er in dem reinen und keuschen Charakter des Satzes die Widmungsträgerin des gesamten Opus heraus, während ihm in der sechsten Variation ein Staatsmann entgegentrete. Bezeichnend sind hier die Adjektive „rein“ und „keusch“, mit denen er den musikalischen Charakter der vierten Variation beschreibt und sich wünscht, die Melodie von einer Oboe gespielt zu hören, sowie die Verbindung zur Widmungsträgerin, Clara Schumann und der personifizierende Vergleich der sechsten Variation mit einem Staatsmann, der an Eigenschaften wie Stärke, Macht, Rationalität oder Autorität denken lässt. Damit hebt sich die „staatsmännische“ sechste Variation von der „reinen“ und „keuschen“ vierten Variation ab. Zur 3. Sinfonie op. 90 machte Joachim an Brahms folgende Aussage: Der letzte Satz Deiner Sinfonie wirkt noch mächtig nach: ich fand ihn ebenso tief wie originell in der Konzeption, [...]. Und sonderbar, so wenig ich das Deuteln auf Poesie in der Musik in der Regel liebe, werde ich doch bei dem Stück [...] ein bestimmtes poetisches Bild nicht los: Hero und Leander! Ungewollt kommt mir, beim Gedanken an das 2te Thema in C dur, der kühne, brave Schwimmer, gehoben die Brust von den Wellen und der mächtigen Leidenschaft vors Auge, rüstig, heldenhaft ausholend, zum Ziel, zum Ziel, trotz der Elemente, die immer wieder anstürmen! Armer Sterblicher – aber wie schön und versöhnend die Apotheose, die Erlösung im Untergang.780
Dieses Zitat verdeutlicht eindrucksvoll den poetisierenden Impuls, der von der Musik ausgeht und gegen den sich selbst ein strukturell Hörender wie Joachim nicht wehren konnte. Joachim hörte in der Musik eine Geschichte, in der es um eine an übermächtigen Kräften scheiternde Beziehung geht.781 Ganz konkret brachte er das zweite Thema mit dem männlichen Protagonisten der Erzählung in Verbindung und belegte es mit Eigenschaften (kühn, brav, mächtig, leidenschaftlich, rüstig, heldenhaft, zielstrebig), die den Vorstellungen von Männlichkeit im 19. Jahrhundert entsprachen. Er ließ aber offen, ob das erste Thema oder ein
779 780 781
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 48ff. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 2, S. 212 (Brief vom 27.1.1884). Hier ist der Kontext des Briefes zu berücksichtigen: Joachims Ehe war aufgrund seiner übermäßigen Eifersucht geschieden worden. Es kam zu einer Krise der Freundschaft zwischen den beiden Männern, weil Brahms sich auf die Seite von Amalie Joachim stellte.
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anderes musikalisches Motiv die Figur der Hero verkörpere. Denkbar wäre es auch, dass Joachim das Finale insgesamt als Kampf Leanders gegen die Urgewalt des Meeres gehört hat. Dann könnte das erste Thema das Brausen und Toben des Meeres symbolisieren. Festzuhalten bleibt, dass Joachim ein zweites Thema mit männlichen Konnotationen belegte und seine Interpretation dem von Susan McClary entworfenen narrativen Schema der Sonatensatzform („gendered sonata form“)782 widerspricht. Joachim interpretierte und narrativierte Musik nicht schematisch gemäß der marxschen Kompositionslehre und dem daraus entwickelbaren narrativen Programm,783 sondern er betrachtete das Werk individuell. Seine Genderkonnotationen beschränkten sich darüber hinaus nicht auf Musikstücke, die in der Sonatenform stehen, sondern sie flossen auch in Sätzen mit anderen Formverläufen ein – wie Joachims Assoziationen zu den Variationen op. 9 gezeigt haben. Welche Faktur weist nun die genderkonnotierte Musik auf? Lassen sich musikalische Strukturen und klangliche Besonderheiten finden, an denen Joseph Joachim die weiblichen und männlichen Eigenschaften festmacht? Sind diese als semantische Zeichen für die wahrgenommene Genderkonnotation aufzufassen? Die sechste Variation op. 9 in fis-Moll, die Joachim an einen Staatsmann denken ließ, ist mit Allegro überschrieben, steht im 6/8-Takt und bewegt sich
Abb. 34
782 783
Schumann-Variationen op. 9, Nr. 6, T. 152–155
Vgl. Kapitel 2.3. Susan McClary geht davon aus, dass das Modell des narrativen Schemas der Sonatensatzform die Komposition und Rezeption von Musik ubiquitär durchdrungen habe (vgl. McClary: Narrative agendas, S. 342f).
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Rezeption und Musikschrifttum
dynamisch zwischen mezzoforte und fortissimo, nur in den Takten 172 und 173 wird ein Piano erreicht, von dem aus ein Crescendo zu einem abschließenden Fortissimo führt (Abb. 34). Der Bass wird in Achtel-Noten, die mit Akzenten versehen sind, in großen Intervallsprüngen (Quarte, Oktave, Undezime) geführt. Im B-Teil der Variation (ab T. 160), der in entlegenere Tonartenregionen führt,784 wechselt der Bass für vier Takte in virtuos-großräumige Sechzehntel-Akkordbrechungen, bevor er wieder in die Achtel-Staccato-Schläge mündet (ab T. 167). Das variativ umgeformte Thema liegt in der Oberstimme, es entwickelt sich als oberste Note der Sechzehntel-Figuren (Schein-Polyphonie). Diese SechzehntelFiguren ‚rasen‘ durch die gesamte Variation, zu ihnen tritt der Bass im B-Teil in Gegenbewegung, wodurch „der Impuls der Virtuosität in einem großangelegten Bewegungsdrang ausgetragen und bereits zu einem Höhepunkt gesteigert“785 wird. Das zweite Thema (C-Dur) aus dem Finale der 3. Sinfonie op. 90 wird zunächst vom Solo-Horn und den Celli vorgetragen (Vordersatz T. 52–55), begleitet von den beiden Fagotten, Violinen I, Bratschen und Kontrabässen (Abb. 35). Die Melodie entwickelt sich dynamisch vom Forte ausgehend, crescendiert und decrescendiert. Sie wird von Vierteltriolen geprägt, die Dreiklangsbrechungen mit einem ausholenden Gestus im Rahmen einer Sext ansetzen, kurz absetzen (Viertelpause), erneut ansetzen, zu einer Oktave ausholen und dann das thematische Material fortführen. Fagotte und Kontrabässe bilden mit ihren Viertelnoten (mezzoforte, pizzicato bzw. staccato) das Fundament, auf dem die Begleitung der Violinen und Bratschen im
Abb. 35
784 785
4. Satz, 3. Sinfonie op. 90, T. 52–55
Über ais-Moll, umgedeutet als b-Moll, zu F-Dur, dann ein Verweilen auf G-Dur (T. 162–164), das als Septakkord dominantisch auf C-Dur hindeutet, aber in Takt 165 enharmonisch umgedeutet wird und wieder zu fis-Moll führt. Danuser: Hommage-Komposition, S. 98.
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Piano als eine Folge von Achteltriolen, Achtel und Achtelpause für eine rhythmische Verschiebung zur Solomelodie sorgt. Im Nachsatz (T. 56–69) treten Flöten und Oboen hinzu, greifen gemeinsam mit den beiden Fagotten und der ersten Geige die Melodie auf, gestalten sie variativ aus und spinnen sie modulierend fort. Beiden Beispielen ist eine im Forte-Bereich angesiedelte Dynamik gemeinsam. Das melodische Material im Finalsatz und die Begleitung in der Variation sind durch einen großen Ambitus (Oktave und Undezime) aufgrund von Dreiklangsbrechungen gekennzeichnet; virtuoser Bewegungsdrang bzw. rhythmisch differenzierte Abläufe kommen neben einer weiträumigen Harmonik als weitere Gestaltungsmerkmale hinzu. Das Horn als dem Tätigkeitsfeld der Jagd klangsymbolisch zugehörig setzt im Finalsatz einen männlich konnotierten Akzent. Die strukturellen Gemeinsamkeiten der als männlich benannten Musikbeispiele stimmen in wesentlichen Aspekten mit den in der Literatur786 diskutierten Kriterien für das Prinzip des Heroischen, Majestätischen, Männlichen überein. Folgende musikalische Mittel werden dem männlichen und weiblichen Prinzip zugeordnet: männlich:
große Intervallsprünge, große Lautstärke, Sforzati, großer Tonumfang, Oktavgänge, Blechblasinstrumente, Schlagzeug, volle Orchesterbesetzung, Staccato, rhythmische Prägnanz, tiefe Lage;
weiblich:
kleinschrittige Intervalle, geringe Lautstärke, geringer Tonumfang, Flöte, Harfe, kleine Besetzungen, Legato (gebunden), rhythmisches Gleichmaß, hohe Lage.787
Ein kurzer Blick auf die vierte Variation aus op. 9 (Abb. 36), in der Joachim den reinen und keuschen Charakter der Widmungsträgerin Clara Schumann hörte, zeigt, dass sie dem oben formulierten weiblichen Prinzip nahe steht. Die Variation ist mit Poco più molto, espressivo legato überschrieben, sie verharrt dynamisch im Pianissimo-Bereich – bis auf ein kurzes Crescendo (T. 96), das aber an seinem Höhepunkt mit einem Dolce als Vortragsanweisung relativiert wird. Die variierte Melodie beginnt mit einem Oktavsprung als Auftakt. Dieser auftaktige Sprung gibt dem Satz sein charakteristisches Gepräge, erreicht mit einem Nonensprung in Takt 97 den Höhepunkt des Satzes, der mit dem oben genannten Crescendo besonders betont wird. Hingetupft wirkende Sechzehntel, die zwischen dem Bass in der linken Hand und den Mittelstimmen alternieren, begleiten die Melodie. Die Vortragsanweisung leggiero gibt den leichten und ungezwungenen Charakter an, der die kantable Oberstimme als kontinuierlich fließende Begleitfigur tragen soll. Keine
786 787
Reinecke: Allgemein-Vorstellungen von Musik; Rieger: Frau, Musik und Männerherrschaft, S. 105–150; Rösing: Männlichkeitssymbole – Spurenlese; Rösing: Männlichkeitssymbole – Beethoven. Rösing: Männlichkeitssymbole – Beethoven, S. 10.
260
Abb. 36
Rezeption und Musikschrifttum
Schumann-Variationen op. 9, Nr. 4, T. 85–108
Rezeption und Musikschrifttum
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kontrastierende Gestaltung, sondern eine stabile Syntax mit einer kurzen Steigerungsphase im Mittelteil, die auch harmonisch eine kurze Ausweitung788 erfährt, prägt diese Variation.789 Kann man nun die genderkonnotierten Interpretationen von Joseph Joachim als Beleg dafür heranziehen, dass grundsätzlich bestimmte musikalische Motive semantisch als männlich bzw. weiblich aufzufassen sind? Dies käme einer vorschnellen Schlussfolgerung gleich, denn nicht bestimmte musikalische Strukturen sind männlich oder weiblich, sondern das Verstehen von und das Sprechen über Musik ist in gesellschaftliche Kontexte und Diskurse wie den Geschlechterdiskurs eingebunden. Dadurch werden im Rezeptions- und Verbalisierungsakt die Bedeutungsinhalte der Kategorien männlich/weiblich an bestimmte musikalische Strukturen gebunden, die als kongruent mit dem jeweiligen Geschlechterkonzept empfunden werden. So werden die inhaltlichen Leerstellen der Musik mit Gender-Bedeutung gefüllt, ohne dass der Musik selbst diese Bedeutung inhärent sein muss. Zentral für die genderkonnotierte Bedeutungsgenerierung von Musik ist also die enge Verknüpfung von Musik- und Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert. Weitere Rezeptionsbeispiele aus den Briefwechseln verdeutlichen, dass das Verstehen von und das Sprechen über Musik von gesellschaftlichen Diskursen, hier dem Geschlechterdiskurs, geprägt ist. Die Rezeption von Musik ist zwar eine äußerst individuelle und subjektive Tätigkeit, die zu den unterschiedlichsten Bedeutungen und Assoziationen führen kann, sie ist aber in allen Fällen in bestimmte soziokulturelle Kontexte und gesellschaftliche Diskurse eingebunden. Diese prägen die Rezeption und lassen sich an der verbalisierten Bedeutungszuschreibung ablesen. Die Rezeptionsbeispiele zeigen zunächst nur, dass Joseph Joachim bestimmte musikstrukturelle Eigenschaften eines Satzes oder eines Themas mit Hilfe von Personifikationen und Narrationen verbalisierte, die sich in ihrem Bedeutungsgehalt an der Geschlechterdichotomie des 19. Jahrhunderts orientierten. In den Klaviervariationen op. 9 wurden von Joachim eine konkrete Person (Clara Schumann als Widmungsträgerin) sowie eine allegorische Figur (Staatsmann) und in der 3. Sinfonie eine mythologische Figur (Leander) ‚hineingehört‘, so dass über die Geschlechtszuschreibung der in der Musik wahrgenommenen Person oder Figur eine genderkonnotierte Verknüpfung stattfand. Darüber hinaus wies Joachim in einigen Briefen an Brahms der Musik ganz explizit männliche Eigenschaften zu. Als Beispiele dafür können seine Aussagen über das Klavierquintett fMoll op. 34 und über das Streichquintett Nr. 1 F-Dur op. 88 angeführt werden: Im Klavierquintett sah Joachim „ein Stück von tiefster Bedeutung, voll männlicher
788 789
Über A-Dur als Parallele der Molltonika wird in Takt 100 die Doppeldominante GisDur (Septakkord) erreicht, die über Cis-Dur zu fis-Moll zurückführt. Vgl. Danuser: Hommage-Komposition, S. 97.
262
Rezeption und Musikschrifttum
Kraft, und schwungvoller Gestaltung. Alle Sätze bedeutend, sich ergänzend“790. Und vom ersten Streichquintett berichtete er am 20.10.1896: „Das Stück hat mich von neuem durch den männlich heitern Ernst des ersten Satzes, der melancholischen, zuletzt verklärten Tiefe des Adagios und das sprudelnde Leben des Finale gefangen genommen [...].“791 Vergleicht man die Eigenschaften, die Joachim hier für die ersten Sätze explizit als männlich bezeichnete, nämlich Kraft und Ernst, so sind das genau die Eigenschaften, die er auch in seiner Besprechung für das Klavierquartett c-Moll op. 60 verwendete: Das Quartett mit seinem herben Ernst im ersten Satz, dem innig tiefen Andante und der gedrängten Leidenschaft im konzisen Finale habe ich oft, zu immer neuer Freude durchgegangen und danke dafür, daß es mir gegönnt war, es nach flüchtiger Bekanntschaft tiefer kennen zu lernen. Mensch! was für kühne, tiefe Kraft und geniale Kombinations-Gabe ist in dem ersten Allegro. Wahrhaft staunenswert.792
Ernst, Kraft, Innigkeit und Leidenschaft – mit diesen Begriffen, die mit einer adjektivischen Bestimmung (herb, kühn, tief, gedrängt) präzisiert wurden, gab Joachim die von ihm wahrgenommene Eigenschaft eines jeden Satzes von op. 60 wieder. Am ersten Satz rühmte er darüber hinaus als ein kompositorisches Merkmal dessen geniale Kombinationen, womit er den Satz auch formalstrukturell charakterisierte. Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei um allgemein-menschliche Eigenschaften, die einem bestimmten Satz zugeordnet werden. Vergleicht man diese Begriffe mit den explizit als männlich titulierten Beschreibungen, so zeigt sich, dass Eigenschaften wie Ernst oder Kraft in ihrem spezifischen soziokulturellen Kontext wiederum in einem genderkonnotierten Verstehens- und Bedeutungszusammenhang stehen. Auch in den ersten Beispielen waren Ernst und Kraft die Charakteristika der Sätze – allerdings männlich heiterer statt herber Ernst und männlich kühne statt tiefe Kraft. Jedoch weisen sie in die Sphäre, die im 19. Jahrhundert als männlich definiert wurde. Auch die musikalische Faktur der Werke weist musikstrukturelle Parallelen zu den bereits genannten Rezeptionsprinzipien für Männlichkeit auf. Die folgende Betrachtung beschränkt sich auf die Darstellung der Exposition des ersten Satzes, da in ihr das thematisch-motivische Material präsentiert wird, das maßgeblich für den Grundcharakter ist.
790
791 792
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 324 (Brief vom 5.11.1862). Dieses Urteil traf Joachim anhand der früheren Streichquintett-Fassung des Werks, fügte aber nach einigen Proben kritisch hinzu, dass es ihm an Klangreiz fehle. Nach einer Umarbeitung als Sonate für zwei Klaviere erhielt es schließlich seine endgültige Form als Klavierquintett, das 1865 bei Rieter-Biedermann erschien (vgl. McCorkle: BrahmsWerkverzeichnis, S. 121f). Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 2, S. 307f. Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 128f (Brief vom 19.4.1856).
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Das Hauptthema des ersten Satzes des Klavierquintetts f-Moll op. 34 setzt sich aus zwei kontrastierenden Elementen (ABA0) zusammen (Abb. 37). Das erste Motiv (A, T. 1–4) beginnt auftaktig mit einem Quartsprung, dem ein punktierter Rhythmus (Viertel–Achtel) und Achtelnoten (Dreiklangsbrechung) folgen, es wird unisono von der ersten Geige, dem Cello und dem Klavier im Mezzoforte-Bereich und im Tempo eines Allegro non troppo exponiert und sofort leicht variiert wiederholt (Auslassung des Auftaktes, Versetzung der punktierten Note um einen Quartsprung nach unten in Takt 2), die anschließenden Achtelfolgen (T. 3–4) als Dreiklangsbrechungen bewirken eine kurzzeitige Beschleunigung, werden aber im vierten Takt durch ein Ritendendo abgefangen, den ausholenden Gestus und den Bewegungsimpuls damit unerwartet abbrechend. Nach der Fermate sorgen Akkordbrechungen im Klavier in großer Lautstärke (forte) in Sechzehntel-Oktavgängen der linken und rechten Hand dafür, dass die gerade gestaute Bewegung eine ge-
Abb. 37
1. Satz, Klavierquintett op. 34, T. 1–8
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steigerte Beschleunigung erfährt, die jedoch durch Generalpausen immer wieder unterbrochen und erneut aufgenommen wird. Die Streicher werfen Akkordschläge (forte) ein, die im achten und neunten Takt durch sforzato-Akzente noch gesteigert werden. Der dynamisch und agogisch aufgeladene B-Teil des Hauptthemas mit seinem aufgewühlt-erregten Charakter erzeugt durch sein Verweilen im Dominantbereich zusätzliche Spannung. Nach einem gewaltigen Arpeggio des Klaviers über drei Oktaven (T. 11) setzt das erste Thema in Takt 12 (A0) wieder ein – erst an dieser Stelle ausharmonisiert. Nun wird das A-Thema unisono von den Streichern im Fortissimo vorgetragen, begleitet von Akkordbrechungen des Klaviers, die als Achtelfolgen von der Höhe in die Tiefe stürzen (T. 12–17). Nach einer Überleitung führt die Schlussgruppe ab Takt 23 das motivische Material des A-Themas in variierter Umformung und geändertem Stimmungsgehalt (piano, espressivo und dolce espressivo) fort, so den Einsatz des zweiten Themas vorbereitend, dessen kantable Melodie durch die Stimmen wandert. Ein weiteres markantes Thema (T. 74f), das sich durch scharfe Akzentuierung auszeichnet, schließt die Exposition ab, die ihre „männliche Kraft“793 und ihr „pulsierendes Atmen“794 durch einen vielfachen Wechsel des thematischen Materials, durch Dynamisierungen und Stauungen sowie durch den klanglichen Kontrast zwischen Klavier und Streichquartett gewinnt.795 Am Streichquintett Nr. 1 op. 88 F-Dur hatte Joachim den „männlich heiteren Ernst“ hervorgehoben. Sein erster Satz trägt zu Beginn die Vortragsanweisung Allegro non troppo ma con brio, ein Poco forte wird in allen Stimmen gefordert (Abb. 38). Die Melodie des Hauptthemas wird von der ersten Violine vorgetragen: punktierte Viertel, dann ein Quartsprung aufwärts zum F¹, dem im zweiten Takt Achtel-Sekundschritte aufwärts zum C² folgen; die anschließenden zwei Takte führen die Melodie mittels des punktierten Motivs zum Ausgangston C¹ zurück. Aber sofort schwingt sich die Melodie wieder auf, unterstützt nun von der zweiten Geige, die – eine Oktave höher als die erste Violine – der Melodie zusätzlichen Glanz und eine Intensivierung des Ausdrucks verleiht. Die erste Bratsche begleitet in Form einer kontrapunktischen Melodie, die zweite Bratsche und Cello begleiten mittels rhythmischer Fundierung (Cello) und Synkopierung (2. Bratsche) und unterstützen so den vorwärtsdrängenden Impuls (T. 1–8). Der Themenkopf wird nun in D-Dur variiert, wieder oktaviert. Nach einem gemeinsamen Crescendo in allen Stimmen spaltet sich die Achtelfolge des Hauptmotivs ab. Durch Sforzati auf unbetonter Zeit entsteht ein rhythmisch-dynamisches
793 794 795
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 324 (Brief vom 5.11.1862). Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 440. Vgl. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 1, S. 440.
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Drängen (T. 13–14), das durch ein weiteres Crescendo noch gesteigert wird. Die Spannung entlädt sich in Takt 16 in einer Variante des Themas in d-Moll (più forte sempre), die weitergeführt wird. Takt 22 bringt eine Ableitung aus dem Kopfthema, aber in schroffen Punktierungen mit Staccato-Sechszehntelsprüngen, die in Kontrast zum Charakter des Hauptthemas stehen.
Abb. 38
1. Satz, Streichquintett op. 88, T. 1–23
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Die erste Bratsche intoniert das Seitenthema (T. 46) nicht in C-Dur, sondern im terzverwandten A-Dur. Die Vortragsanweisungen lauten hier piano für alle Instrumente, con anima für den Vortrag der Melodie, leggiero für die begleitenden Achtel der ersten Violine; Cello und 2. Violine erinnern durch ihr Pizzicato-Spiel an Lautenklänge, während die zweite Bratsche als kontrapunktische Begleitstimme konzipiert ist. Der von Joachim festgestellte „männlich heitere Ernst“796 des Streichquintetts kann mit dem vollen Wohlklang und der Sextenseligkeit des Kopfsatzes sowie mit dem klassischen Ebenmaß des Themas797 begründet werden, wohingegen das männlich kraftvolle Klavierquintett op. 34 von starken Kontrasten und Brüchen geprägt ist. Dem Klavierquartett op. 60 c-moll798 liegt nach Brahms eigener Aussage eine Werther-Stimmung zugrunde,799 und bereits die Tonart weist auf den tragischen Charakter des Werkes hin. Das Klavier eröffnet mit leeren C-Oktavklängen im Forte-Bereich über vier Oktaven und für die Dauer von zwei Takten den ersten Satz. Dann präsentieren die Streicher im Piano das melodische Material800, setzen zunächst zweimal mit einem Seufzermotiv Es¹–D¹ an, das durch ein Decrescendo besonders betont wird, bevor in Takt 5 die erste Geige in Sekundschritten zum kleinen G abwärts führt – auch hier ist ein zweimaliges seufzerartiges Ansetzen C¹–h auffällig, das durch eine Synkopierung für zusätzliche Stagnation sorgt (Abb. 39). Erneut leere Oktavklänge im Klavier (auf D) wechseln mit einer Sequenzierung des Themas um eine Sekunde nach unten (T. 13). Erst ab Takt 22 spielen Streicher und Klavier in einem augmentierten Sekundabgang (Katabasis) zusammen, jedoch in einem Decrescendo, das sempre diminuendo zum Pianissimo führt. Die Bewegung kommt quasi zum Erliegen. Markante Pizzicati der Violinen (T. 28ff) bringen neuen Fluss, die Energie entlädt sich explosionsartig in einem Forte, in dem Sechzehntel-Läufe der Streicher
796 797 798
799 800
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 2, S. 307f (Brief vom 20.10.1896). Vgl. Kross: Dokumentar-Biographie, Bd. 2, S. 867. Die lange und komplexe Entstehungszeit des Werkes umfasst fast 20 Jahre. Der erste Satz soll schon 1855 zusammen mit den Klavierquartetten op. 25 und 26 entstanden sein, stand zu diesem Zeitpunkt aber noch in cis-Moll. 1869 arbeitete Brahms erneut an diesem Werk und plante eine Veröffentlichung als op. 54, aber erst 1873/74 erhielt es seine endgültige Gestalt. Im Sommer 1875 nahm Brahms letzte Änderungen vor (vgl. McCorkle: Werkverzeichnis, S. 255f). Vgl. ausführlich Kapitel 5.1.1. Ob es sich bei der Folge es-d-c-h-c (T. 5f) um das nach c-Moll transponierte ClaraMotiv (c-h-a-gis-a) handelt, sei dahingestellt. Weder Joachim noch Clara Schumann thematisieren diesen motivischen Zusammenhang. Ich schließe mich der Argumentation von John Daverio an, dass Brahms seine komplexe und außergewöhnliche Beziehung zu Clara Schumann nicht in so offensichtlichen Chiffren exponiert hat (vgl. Kapitel 5.1.2 und Daverio: Crossing paths, S. 103–124).
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Abb. 39
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1. Satz, Klavierquartett op. 60, T. 1–26
durch Staccato-Akkordschläge des Klaviers unterbrochen werden. Takt 34 bringt im Klavier neues thematisches Material, präsentiert in oktavierter c-Moll-Melodie und begleitet von Sforzati-Akkorden und Achtelrepetitionen der Streicher. Die so aufgebaute Spannung steigert sich zu einem Fortissimo in Takt 42, Akkordschläge im Klavier wechseln mit Sechzehntelfiguren der Streicher ab, werden dann zusammengeführt. Takt 50 überrascht mit einem plötzlichen Abfall der Lautstärke ins Piano, die Vortragsanweisungen lauten tranquillo und dolce. Das Seitenthema in der Tonikaparallele wird in Takt 70 vom Klavier präsentiert, es besitzt einen kantablen Charakter, ist aber ebenfalls wie das Hauptthema durch eine abwärtsgeführte Melodielinie geprägt. Beim Spielen des Satzes hatte Joachim herben Ernst und kühne, tiefe Kraft empfunden. Dass er diese Empfindungen nicht mit dem Adjektiv männlich belegte,
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hängt möglicherweise damit zusammen, dass dieser Satz durch seinen seufzenden, abwärtsgerichteten Beginn introvertiert und weniger energisch wirkt sowie einen eher düster-tragischen Charakter besitzt, der durch Seufzermotive, abwärtsgeführte Melodielinien (vorwiegend in Moll), stagnierende Sekundabgänge (Katabasis), Decrescendi, Akkordschläge, explosionsartigen Spannungsabbau und plötzlichen Abfall der Dynamik hervorgerufen wird. Bringt man die von Joachim genannten Eigenschaften des Satzes mit der von Brahms offenbarten Werther-Stimmung in Verbindung, dann handelt es sich um den Gefühlskreis eines männlichen Subjekts, das sich aufgrund einer hoffnungslos-tragischen Liebe und verzweifelten Lebenssituation für Suizid entscheidet. Dagegen weisen die Expositionen der von Joachim explizit als männlich bezeichneten Sätze (op. 34 und op. 88) folgende musikstrukturellen Merkmale auf: • • • • • • •
punktierte, aufwärtsstrebende Melodik, Dreiklangsbrechungen, Dynamik im Forte-Bereich, Dynamisierungen, Wechsel des thematischen Materials, Stauungen und klangliche Kontraste.
Diese musikalischen Charakteristika entsprechen den bereits für die 6. Variation op. 9 und für das 2. Thema aus dem Finale der 3. Sinfonie festgestellten Merkmalen einer als männlich bezeichneten bzw. einer mit männlichen Figuren assoziierten Musik. 6.1.2
Theodor Billroth
Der berühmte Chirurg und leidenschaftliche Laienmusiker801 Theodor Billroth (1829–1894) schrieb während seiner Züricher Jahre (1860–1867) für das Musikfeuilleton der Neuen Zürcher Zeitung.802 Brahms und Billroth lernten sich 1865 in Zürich kennen, nach Billroths Wechsel an die Wiener Universität im Jahr 1867 entwickelte sich zwischen den beiden eine langjährige Freundschaft, worüber der umfangreiche Briefwechsel Auskunft gibt. Viele Werke von Brahms wurden im
801
802
Billroth spielte Violine, sattelte später auf Bratsche um, um im Rahmen der Hausmusikabende ein Streichquartett komplettieren zu können. Auch waren seine pianistischen Fähigkeiten mehr als durchschnittlich, so dass Brahms oder Hanslick mit ihm vierhändige Ausgaben der brahmsschen Kompositionen spielten (vgl. Nagel/ Schober/ Weiß: Billroth, S. 134, 186, 190). Vgl. Nagel/Schober/Weiß: Billroth, S. 121–140.
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Salon von Billroth zunächst im kleineren Kreis vor ausgewähltem Publikum aufgeführt. Billroth lernte die 1. Sinfonie op. 68 von Brahms, in der er einen ähnlichen Stimmungsgehalt wie in der 9. Sinfonie von Beethoven empfand, aus der Partitur kennen, wobei sich ihm der vierte Satz als erster erschloss, den er als „weihevollen Hymnus, erhaben über allem wie verklärt liegend“803 umschrieb. Im Zusammenhang mit der Erstaufführung der 1. Sinfonie war sein Feedback über eine Probe am 15.12.1876 jedoch merkwürdig verhalten: Anstelle des eigenen Hör-Erlebnisses beschrieb er die emotionalen Reaktionen des weiblichen Publikums beim Hornsolo im vierten Satz: „Ich sah in meiner Nähe, wie alle zumal weiblichen Herzen mit den sordinierten Violinen um die Wette zitterten.“ Auch seine Frau „hat wärmsten Anteil an Deinem neuen Werk, dessen Sturm und Drang und sichere Kraft sie mächtig ergriff.“804 Meiner Auffassung nach verbirgt sich hinter der Beschreibung der Musikrezeption der Hörerinnen eine diskrete Kritik an der (zu) starken Emotionalität und Sinnlichkeit der entsprechenden Stelle. Gegenüber Brahms wollte oder konnte er diese Kritik nicht eindeutig aussprechen, aber gegenüber Eduard Hanslick gab Billroth eine kritischere Rückmeldung zur Sinfonie. Er sprach zunächst von „Kühnheit der Gestaltung“ und verglich den ersten Satz mit einem daherbrausenden gewaltigen Sturmwind. Dennoch waren ihm die Motive des Satzes „trotz aller Energie und Leidenschaft nicht sympathisch; sie sind rhythmisch sehr langatmig und harmonisch von allzu herbem Trotz, wenn auch wieder von aufregendster Sehnsucht; es ist eine Art Faustouverture.“ Dagegen enthalte der zweite Satz klare himmelblaue Schönheit, auch der dritte Satz sei „einfach, anmutig und netto schön“, und der vierte Satz sei „überwältigend. Beim Hornsolo zittern alle Herzen mit den Geigen um die Wette.“805 Noch Jahre später, als Billroth sich erneut mit der Sinfonie beschäftigte, betonte er die emotional-sinnliche Wirkung des Hornsolos im vierten Satz: „Was nützt die vollendete, klare Schönheit des Hauptmotivs in seiner thematisch geschlossenen Form. Zuletzt kommt doch wieder das Horn mit seinem schwärmerischen Sehnsuchtsschrei wie in der Einleitung, und alles zittert in Sehnsucht, Wonne und übersinnlicher Sinnlichkeit und Seligkeit!“806 Auch Theodor Billroth verband wie Joseph Joachim sein Hör-Erlebnis mit einem literarischen Sujet, hier der Faust-Figur. Faust ist der Prototyp des nach Erkenntnis suchenden und seine Grenzen überschreitenden Menschen; er symbolisiert eine titanische Persönlichkeit, die nach Selbstverwirklichung und Wissen strebt. In die Gelehrten-Tragödie eingebunden ist die Gretchen-Tragödie: Die Liebe
803 804 805 806
Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 225 (Brief vom 10.12.1876). Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 228. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 228, Fußnote1. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 451 (Brief vom 5.3.1890).
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zu Faust stürzt Margarethe ins Unglück; sie wird als Kindsmörderin zum Tod verurteilt. Faust lässt die Verzweifelte im Kerker zurück. Indem Billroth den ersten Satz der 1. Sinfonie von Brahms als „Faustouverture“ bezeichnete, verwies er auf die Faust-Legende und holte die ProtagonistInnen der Handlung in die Musik hinein. Eine „Faustouverture“ ist ihrem Sinne nach ein programmmusikalisches Werk, das das Geschehen der Tragödie und die handelnden Personen musikalisch charakterisiert. Berücksichtigt man jedoch die musikästhetischen Positionen im Brahms-Umkreis, so ist anzunehmen, dass Billroth seine Charakterisierung weniger im Sinne einer Sinfonischen Dichtung oder einer programmatisch angelegten Ouvertüre als vielmehr im Sinne einer Widerspiegelung der Grundstimmung des Satzes gemeint hat. Diese benannte Billroth als faustisch und implizierte damit Eigenschaften wie Wissens- und Erkenntnisdrang, Rationalität, Rastlosigkeit und, im Hinblick auf sein Verhalten zu Margarethe, die Unfähigkeit, eine dauerhafte Liebesbeziehung einzugehen. In einem späteren Brief an Brahms nahm Billroth eine dazu passende Negativbeschreibung vor, denn er beschrieb den gemeinsamen Freund, Eduard Hanslick, als unfaustisch: Der ganze Faustsche, Bachsche, Beethovensche Geist des Stückes ist ihm [Hanslick] nicht sympathisch; er hat nichts vom Faust in sich, sondern ist ja gerade durch seine Bescheidenheit ans Leben so liebenswürdig; er besitzt die beneidenswerte Eigenschaft, sich an dem Schönen, was sich ihm bietet, voll und warm zu erfreuen, ohne sich den Lebensgenuß durch die zehrende Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem verkümmern zu lassen! Glücklicher Mensch!807
Hanslick als unfaustischer Mensch, der zudem noch über die weibliche Eigenschaft verfügte, nicht legato spielen zu können,808 wurde von Billroth als bescheiden, liebenswürdig, das Leben genießend, glücklich und zufrieden beschrieben. Einem faustischen Geist, den Billroth auch bei Bach und Beethoven, seinen musikalischen Fixsternen, sah, fehlen diese Eigenschaften, er verzehrt sich vielmehr in seinem rast- und ruhelosen Streben nach höheren Zielen, nach Grenzüberschreitungen, nach Erkenntnis und persönlicher Weiterentwicklung. Indem Billroth den Satz als Faustouvertüre umschreibt, überträgt er in einem inhaltlichen Transfer die faustischen Eigenschaften auf den ersten Satz der 1. Sinfonie. Er nennt konkret Energie und Leidenschaft als Kennzeichen der Motive, hinzu kommen langatmige Rhythmik, herb-trotzige Harmonik und aufregendste Sehnsucht – und dennoch sind ihm die Motive nicht sympathisch, vielleicht weil sie in ihrer Präsentation und Entwicklung nicht die Erwartungen erfüllen, die Billroth an einen Sinfoniesatz stellte.809
807 808 809
Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 248f (Brief vom 8.11.1877).. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 403. In der Exposition präsentiert Brahms weniger scharf umrissene Themen oder Themengruppen, vielmehr entwickelt er ein dicht geknüpftes, motivisch-thematisch und kontrapunktisch ausgearbeitetes thematisches Netz.
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Die Besonderheit des Satzes – sein individueller, non-konformer Umgang mit den musikalischen Motiven, die beständige Weiterentwicklung des thematischen Materials, die fehlende Kontrastierung der Themen – kann durchaus als eine musikalische Charakterisierung der Faustfigur aufgefasst werden. Indem Billroth – ebenso wie Joachim in den vorherigen Beispielen – die formalstrukturellen Besonderheiten mit einer literarischen Figur verknüpfte, die bestimmte Charakter- und auch Geschlechtseigenschaften repräsentiert, füllte er die inhaltlichen Leerstellen der Musik und schrieb den musikalischen Strukturen und Formverläufen Genderkonnotation ein. Theodor Billroth benutzte in seinen brieflichen Kommentaren an Brahms nicht ausdrücklich die Umschreibung männlich oder Männlichkeit, aber er verwendete männlich konnotierte Begriffe: Über die Cellosonate op. 99 F-Dur und die Violinsonate op. 108 d-Moll schrieb er: „Brüder, fast Zwillinge, doch beide gleich kräftig.“810 Entgegen des grammatikalischen Geschlechts – da es sich um Sonaten handelt, deren Genus weiblich ist – vergleicht er sie mit Zwillingsbrüdern und transportiert darin genderkonnotierte Ausdruckskriterien. Sein ausführliches Urteil über die Cellosonate op. 99 lautete: Der Anfang der Cellosonate ist fast gefährlich à la Rubinstein. Doch die Gefahr ist bei Dir nicht groß. Du weißt in der Folge noch mehr durch ruhige Schönheit zu fesseln als durch die leidenschaftliche Erregung des Anfangs. [...] der gemütliche letzte Satz beruhigt über die Aufgeregtheit des leidenschaftlichen Jünglings, der im ersten Satz seine ganze leidenschaftliche Liebe dem sympathisch miterregten Hörer offenbart.811
In diesem Zitat personifiziert Billroth den Ausdrucksgehalt des ersten Satzes der Cellosonate mit einem aufgeregten, leidenschaftlichen Jüngling. An anderen Stellen spricht er von „großen malerischen Linien“, vom „Ausfluß der allerreichsten Phantasie“812, von „prächtigen Stücken, schön und interessant“813 oder von einer Empfindung, die sich „zu fast abstrakter religiöser Schwärmerei“814 verkläre. Möglicherweise hängt Billroths Verzicht auf ausführliche poetische Deutungen und Narrativierungen damit zusammen, dass er „in betreff des sogenannten ‚Inhaltes‘ der Musik [...] ganz auf dem Standpunkte [steht], den Hanslick in seinem Buch vom ‚Musikalisch-Schönen‘ entwickelt hat.“815
810 811 812 813 814 815
Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 400 (Brief vom 18.8.1886). Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 407f (Brief im Oktober 1886). Über die 4. Sinfonie op. 98, Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 388. Über die Klavierstücke op. 76, Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 269. Über die Regenlied-Sonate op. 78, Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 284. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 380 (Brief vom 6.1.1886).
272 6.1.3
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Clara Schumann
Ebenso wie Joseph Joachim und Theodor Billroth gibt auch Clara Schumann in ihren Briefen Auskunft über den von ihr wahrgenommenen Aussagegehalt der Musik. Anhand ihrer Aussagen und der von Elisabeth von Herzogenberg soll der Frage nachgegangen werden, wie musikalisch gebildete Frauen im Umfeld des Brahms-Kreises über dessen Musik gesprochen haben und ob bzw. welche Genderkonnotationen vorzufinden sind. Zunächst einige Beispiele: Zum Adagio der Serenade op. 16 A-Dur schrieb Clara Schumann in einem Brief vom 18.9.1859: Dasselbe zu zergliedern wird mir schwer, ich muß mir recht was Schönes dabei denken, das ich’s gern tue, etwa, als ob ich die Staubfäden einer seltnen schönen Blume einzeln betrachtete. Es ist wunderbar schön! Wie schreitet der Bass gleich so sanft und würdevoll, wie eine hehre Gestalt, Bachisch, einher, wie beginnt das 2. Thema so wehmutsvoll [...] Aber von da an wird’s einem so himmlisch zumute [...] so unbeschreiblich mild und rührend ist das, und der Schluß, wie’s so still wird – das zieht einem die Seele so ganz mit hinein – da kann ich wirklich nichts mehr sagen. Das ganze Stück hat etwas Kirchliches, es könnte ein Eleison sein.816
Zum Streichquartett g-Moll op. 25: die Stelle nach dem 2. Motiv, wo es so warm wird [...] entzückt mich, die Begleitung so wogend. [...] Wie so warm und innig, herrlich mit fortreißend die wehmütige Stelle [...] ... das Stück möchte ich mir immer und immer wieder spielen können. [...] aber in dem C moll-Stück, da kann ich so schön sanft träumen, mir ist, als ob die Seele sich wiegte auf Tönen. [...] die schönen Verwebungen des Themas [...] – das schlingt sich immer so schön ineinander und entwickelt sich wieder ebenso eines aus dem andern.817
Zur ersten Fassung des Klavierquintetts op. 34: welche Wonne [...] und ist mir das Herz ganz voll davon! Das wird ja immer schöner, herrlicher! Welch innere Kraft, welcher Reichtum in dem ersten Satze, wie gleich das erste Motiv so ganz einen erfassend! [...] Wie ist da wieder alles so wundervoll ineinander gewoben. Wie kühn ist der Übergang beim Buchstaben B, wie innig das zweite erste Motiv, [...] wie da die Instrumente sich so wunderbar verschmelzen, und am Schluß die träumerische Stelle, dann das accell. Und der kühne, leidenschaftliche Schluß – ich kann’s nicht sagen, wie’s mich rührt, so mächtig ergreift. Und welch ein Adagio, wonnig singt und klingt das bis zur letzten Note!818
Später dann zur zweiten Fassung von op. 34: Das Werk ist so wundervoll großartig, durchweg interessant in seinen geistvollen Kombinationen, meisterhaft in jeder Hinsicht, aber – es ist keine Sonate, sondern ein Werk, dessen Gedanken Du wie aus einem Füllhorn über das ganze Orchester aus-
816 817 818
Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 278f (Brief vom 18.9.1859). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 371f (Brief vom 29.7.1861). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 407 (Brief vom 3.9.1862).
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streuen könntest – müßtest! [...] Mir ist nach dem Werk, als habe ich eine große tragische Geschichte gelesen!819
Am Thema des Streichsextetts op. 36 findet sie „wieder wunderschön“, wie Brahms es versteht, „es so aufs reizendste und geistvollste mit Motiven zu umkleiden, die immer darum herum spielen und sich ineinander schlingen wie eine Kette lieblicher Gedanken. Mir ist die Stimmung des Satzes außerordentlich lieb, so weich und sanft.“820 Über den ersten Satz der 3. Sinfonie op. 90 schreibt sie: Wie ist man von Anfang bis zu Ende umfangen von dem geheimnisvollen Zauber des Waldlebens! [...] Im ersten [Satz] entzückt mich schon gleich der Glanz des erwachten Tages, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume glitzern, alles lebendig wird, alles Heiterkeit atmet, das ist wonnig!821
Zur 4. Sinfonie op. 98 heißt es bei ihr: Eine schöne Stunde hat sie mir geschaffen und mich ganz gefangen genommen durch Farbenreichtum und ihre Schönheit sonst. Kaum weiß ich, welchem Satz ich den Vorzug geben soll: dem ersten träumerischen mit seiner herrlichen Durchführung und den wunderbaren Ruhepunkten, dabei der sanft wogenden inneren Bewegung – (es ist, als läge man im Frühling unter blühenden Bäumen, und Freude und Leid zöge durchs Gemüt) oder den letzten so großartig aufgebauten mit seiner ungeheuren Mannigfaltigkeit, und trotz der vielen großen Arbeit so voll tiefer Leidenschaft, die in der Mitte so wunderbar besänftigt, dann aber wieder mit neuer Gewalt auftritt!822
Im ersten Satz behagt ihr das zweite Motiv nicht, das so eigensinnig und so gar nicht sich anschmiegend an das Vorhergehende, während sonst doch gerade bei Dir immer eines aus dem andern sich so wunderbar schön entfaltet. Es ist, als ob Du plötzlich bereutest, sehr liebenswürdig gewesen zu sein. Abgesehen von der Starrheit des Motivs erscheint es mir auch nicht nobel.823
Die zusammengestellten Beispiele zeigen: Clara Schumann assoziierte beim Spielen und Hören der Musik Naturerlebnisse wie Sonnenaufgang, Liegen unter Bäumen, Waldleben oder rankende Schlingpflanzen. Außerdem verglich sie das Ineinandergreifen der verschiedenen Themen und Motive mit „Verwebungen“ und stellte somit eine Assoziation zu handwerklichen Kunstfertigkeiten her – interessanterweise mit dem Geschick einer typischen Handarbeit von Frauen. Ihr Eindruck, beim Hören der zweiten Fassung vom Klavierquartett op. 34 eine tragische Geschichte verfolgt zu haben, deutete an, dass auch sie den musikalischen Verlauf narrativ nachvollzog. Dabei ließ sie offen, welche handelnden Personen in dieser
819 820 821 822 823
Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 461 (Brief vom 22.7.1864). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 487f (Brief vom 1.1.1865). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 2, S. 273 (Brief vom 11.2.1885). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 2, S. 296 (Brief vom 15.12.1885). Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 2, S. 296 (Brief vom 15.12.1885).
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Geschichte auftreten, wie die musikalischen Motive personifiziert werden könnten. Im folgenden Beispiel jedoch wurde sie konkreter, denn sie verglich den dritten Satz der Violinsonate op. 108 mit einem jungen Mädchen, das bis auf ein kurzes Aufflackern der Leidenschaft unschuldig mit ihrem Liebsten flirtet: Wie wunderbar schön ist sie [die Sonate] wieder, welche Wärme, Kraft der Empfindung, wie durch und durch interessant, im ersten Satz so ein herrlicher Orgelpunkt, und wie fein er am Schlusse wiederkehrt, wie sich da alles ineinander verschlingt, wie duftende Ranken! Sehr lieb (ja, was ist mir denn nicht sehr lieb?) ist mir der 3. Satz, ein liebliches Kind, anmutig spielend mit ihrem Geliebten, in der Mitte einmal ein Aufleuchten von tieferer Leidenschaft, dann wieder das anmutige Schäkern, das aber doch so ein wehmütiger Hauch durchzieht! Prachtvoll der letzte Satz, so leidenschaftlich bewegt, man tut sich da ordentlich eine Güte!824
Wieder sind es duftende Ranken, die sich im ersten Satz ineinander verschlingen – und keine programmatischen Deutungen gemäß dem von McClary aufgestellten narrativen Schema einer „gendered sonata form“. Dafür belegte Clara Schumann den dritten Satz, ein Scherzo mit der Vortragsbezeichnung Un poco presto e con sentimento, mit Genderkonnotationen, indem sie das unschuldige, anmutige Schäkern eines jungen Mädchens mit ihrem Geliebten aus dem Wechselspiel zwischen Violine und Klavier heraushörte. Im Adagio der Serenade A-Dur op. 16 bezeichnete sie den sanft und würdevoll schreitenden Bass als eine hehre, bachische Gestalt. Ansonsten benutzte sie häufig Naturbilder, um ihren Eindruck von einem Stück wiederzugeben. Oder sie assoziierte glitzernde Sonnenstrahlen im Wald bei Tagesanbruch (erster Satz der 3. Sinfonie) und träumendes Verweilen unter blühenden Bäumen im Frühling (erster Satz der 4. Sinfonie). Mit diesen Natur-Assoziationen stand sie nicht allein. Auch Theodor Billroth verglich die Musik von Brahms mit Naturphänomenen, so die 2. Sinfonie op. 73 : „Das ist ja lauter blauer Himmel, Quellenrieseln, Sonnenschein und kühler grüner Schatten! Am Wörther See [Entstehungsort der Sinfonie] muß es doch schön sein! Wenn die Instrumentierung nicht gar zu keusch ist, werden die Wiener noch ihre ganz besondere Freude aus diesem Stück herausfühlen!“825 In einem späteren Brief schrieb er: „Eine glückliche wonnige Stimmung geht durch das Ganze, und alles trägt so den Stempel der Vollendung und des mühelosen Ausströmens abgeklärter Gedanken und warmer Empfindung.“826 Und auch die 1. Sinfonie hatte er bereits als brausenden Sturmwind827 beschrieben. Aber im Gegensatz zu Billroth und Joachim bezeichnete Clara Schumann an keiner Stelle die Musik als männlich, und sie benannte keine männlichen Protagonisten, um den Charakter von Themen oder ganzen Sätzen zu be-
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Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 2, S. 367f (Brief vom 23.11.1888). Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 251 (Brief vom 14.11.1877). Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 253 (Brief vom 4.12.1877). Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 228, Fußnote 1.
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stimmen. Bis auf die vage Andeutungen, eine tragische Geschichte (op. 34) oder eine „hehre Gestalt“ gehört zu haben, lassen sich keine männlich konnotierten Zuschreibungen von Musik finden. Die einzig konkret von ihr benannte Figur ist ein mit ihrem Geliebten flirtendes Mädchen, das heißt, eine Narrativierung von Musik mit einer weiblichen Protagonistin. Diese Feststellung legt den Gedanken nahe, dass Musik von Männern und Frauen womöglich unterschiedlich wahrgenommen und verbalisiert wurde. Während Joseph Joachim – und in geringerem Maße auch Billroth – männliche Figuren und Sujets mit der Musik assoziierten, so waren es bei Clara Schumann vorwiegend Naturerlebnisse bzw. eine weibliche Figur. Der Gedanke einer geschlechterdifferenten Wahrnehmung und Verbalisierung von Musik soll anhand eines zweiten Briefwechsels, dem zwischen Johannes Brahms und Elisabeth von Herzogenberg, überprüft werden. 6.1.4
Elisabeth von Herzogenberg
Von 1877 bis zu ihrem Tod im Jahr 1892 schickte Brahms regelmäßig seine neuen Kompositionen an Elisabeth von Herzogenberg. Er bat sie um ihre Kritik, betonte aber auch, wie wichtig es ihm war, positive Rückmeldungen zu bekommen. Elisabeth von Herzogenberg erfüllte diese Bitte gerne; musste sie längere Zeit auf ein neues Werk von Brahms warten, so fragte sie ungeduldig nach. Sie fühlte sich durch die Anerkennung ihrer musikalischen Urteilsfähigkeit geehrt, machte aber sich und ihre Meinung immer wieder klein und relativierte sie, so wie in dem Brief vom 10.11.1888: „Denken Sie doch nur, wieviel Recht ein Mann wie Sie einem Frauenzimmer wie mir gegenüber im Grunde hätte, einfach ungeduldig zu werden und zu sagen: ‚Halt die Snute, dumme Brahe.‘“828 Sie redete schlecht über eitle, oberflächliche Frauen und fügte Sprüche in ihre Briefe ein, die sich über die Eigenschaften von Frauen lustig machten. So berichtete sie Brahms von einem ihm ergebenen Fräulein, das beim Eröffnungskonzert des neuen Gewandhauses in Leipzig die Bemerkung einer jungen Dame aufschnappte: „Ach! es hört sich doch noch einmal so schön dekolletiert zu!“829 Ihr erstes kritisches Urteil zum ersten Satz der 4. Sinfonie wollte sie mit einem „gewissen Sprüchlein über die Weiber“ von Goethe wieder zurücknehmen: „was sie lieben und hassen, wollen wir ihnen gelten lassen, wenn sie aber urteilen und meinen, wird’s oft gar wunderlich erscheinen.“830
828 829 830
Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 221. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, 124 (Brief vom 26.2.1886); Brahms antwortete darauf: „Ihre Anekdote ist reizend, und ich werde sie, wie gewöhnlich, zu lange erzählen.“ (ebd.). Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 80 (Brief vom 31.9.1885).
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Und sie bat mit einem italienischen Sprichwort um Entschuldigung, dass sie ihm zum Dank für seine Lieder (op. 86) nur einen geschwätzigen Brief anbieten könne, aber: „Le parole sono feminine e i fatti sono maschi!“831 Antje Ruhbaum stellt in ihrer Dissertation über Elisabeth von Herzogenberg fest, dass sie „in keinem anderen Briefwechsel so stark wie in dem mit Brahms ihre Konformität mit dem traditionellen weiblichen Geschlechtscharakter betonte. Möglicherweise wollte sie damit ihr Verhältnis zu dem Komponisten ausbalancieren, wollte Brahms als Mann die Ratschläge als Frau annehmbarer machen.“832 Denn trotz dieser abwertenden Meinung über Frauen, in die sie sich selbst (leicht kokettierend) einreihte, wusste sie um ihre musikalische Kompetenz und antwortete ausführlich auf die Anfragen von Brahms. Ihr Vorgehen bei der Annäherung an ein neues Werk von Brahms verglich Elisabeth von Herzogenberg mit der Besichtigung einer Kirche und der beeindruckenden räumlichen Erfahrung sakraler Architektur: Zuerst habe ich nur einen kostbaren Stimmungseindruck, wie beim Eintritt in das Schiff einer Kirche, etwa bei Sonnenuntergang: lauter Licht und Farbe und eine Ahnung herrlicher Kunst, die Ursache der wunderbaren Einheit des Eindrucks sein muß – um aber wirklich schauen zu lernen, was ich da sehe, dazu brauche ich Ruhe und Licht und Zeit.833
Auch bei der Violinsonate d-Moll op. 108 stellte sie einen Vergleich von Musik und Architektur her, denn die Sonate sei „wunderbar geschlossen übersichtlich wie die Fassade einer romanischen Kirche“.834 Wie Clara Schumann zog Elisabeth von Herzogenberg Naturvergleiche heran, um ihre musikalischen Eindrücke in Worte zu fassen: Der Schluß des langsamen Satzes [Streichquintett op. 88], der zum letzten hinüberleitet, war wie eine Offenbarung; ich habe zum ersten Male die Stelle in ihrer ganzen Größe verstanden, nebelhaft wie eine Insel aus traumhaftem Meer stieg das d moll hervor.835 Das Andante [der 4. Sinfonie op. 98] zwang mir die Tränen ab, die man gerne weint. [...] und wie dann das wunderbare E dur losgeht wie ein sanfter Orgelklang aus der Ferne [...] das ist mit das Ergreifendste, was ich kenne, wie ich denn überhaupt mit diesem Satz leben und sterben möchte. Das ist Alles Melodie [...], es ist wie ein Wan-
831 832 833 834 835
„Die Wörter sind weiblich, die Taten männlich.“ Brahms: Briefwechsel mit H. und E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 186 (Brief vom 24.7.1882). Ruhbaum: Elisabeth von Herzogenberg, S. 197. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 69 (Brief vom 10.8.1878). Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 216f (Brief vom 6.11.1888). Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 103 (Brief vom 30.10.1885).
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deln in idealer Landschaft bei Sonnenuntergang, immer wärmer werden die Töne, immer purpurner.836
Weiterhin ist festzustellen, dass Elisabeth von Herzogenberg Kompositionen personifizierte. Die Lieder op. 84 bezeichnete sie „als herzige Racker“: „wie einfach geben sie sich, wie kindlich schauen sie einen an, aber wie Kinder vornehmster Art, wie Kinder Schuberts und Beethovens.“837 Bei den Ungarischen Tänzen (Heft III und IV) fühlte sie sich „unter die Kerls“ versetzt838, die 3. Sinfonie op. 90 sei ihre beste Freundin839 und die Violinsonate d-Moll op. 108 „ist so besonders einheitlich, die vier Sätze sind wirklich Glieder einer Familie; eine Gesinnung herrscht unter ihnen, es gehört alles einer Farbenskala an, wie mannigfaltiges Leben auch darin herrscht.“840 Das Trio op. 101 bezeichnete sie sogar als das musikalische Abbild von Brahms: „es ist besser als alle Photographien und so das eigentliche Bild von Ihnen.“841 Im Briefwechsel finden sich nur zwei Stellen, in denen Elisabeth von Herzogenberg ausdrücklich von Männlichkeit spricht. An der einen Stelle bemüht sie sich um eine Wiederannäherung zwischen Joseph Joachim und Brahms, sie schreibt: „Sehen Sie, er ist Ihnen doch ergeben, wie keiner es mehr sein kann, und seine Art hat nichts Halbes und nichts Unmännliches; er gehört wahrhaftig zu den Wenigen, die künstlerische Überzeugung haben und Geschmack, an Stelle der jetzt üblichen Vielheit der Geschmäcker.“842 Im Besitz eines männlichen Charakters zu sein, wie sie ihn Joachim zuschreibt, gilt also als Voraussetzung für eine Freundschaft zu Brahms. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ‚unmännliche‘ Personen einen freundschaftlichen Kontakt zu Brahms nicht verdienten. Damit setzte Elisabeth von Herzogenberg die Charakterisierung männlich als ein Gütekriterium ein, das über den Wert eines Mannes Auskunft gab. In ihrer ausführlichen Besprechung der 4. Sinfonie op. 98 benutzte sie den Begriff Männlichkeit ein zweites Mal. Zunächst verglich sie in einem Brieffrag-
836 837 838 839 840 841 842
Brahms: Briefwechsel 3.2.1886). Brahms: Briefwechsel 24.7.1882). Brahms: Briefwechsel 23.7.1880). Brahms: Briefwechsel 11.2.1884). Brahms: Briefwechsel 30.10.1888). Brahms: Briefwechsel 9./10.1.1887). Brahms: Briefwechsel 20.10.1885).
mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 116 (Brief vom mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 188 (Brief vom mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 125 (Brief vom mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 21 (Brief vom mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 211 (Brief vom mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 144 (Brief vom mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 93 (Brief vom
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ment vom 8.9.1885 ihre erste Begegnung mit der Sinfonie mit der Wahrnehmung eines dämmerigen Sternenhimmels: „je tiefer ich hineingucke, je mehr vertieft auch der Satz sich, je mehr Sterne tauchen auf in der dämmrigen Helle, die die leuchtenden Punkte erst verbirgt“. Dennoch kamen ihr gewisse Zweifel, da das Werk „zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet“ sei, sie hörte darin „Schlinggewächse geistreicher Detailkombinationen“ und gestand, „daß ich einige Stellen erst mit den Augen entdeckt“ habe. Die Durchführung gefalle ihr am besten, weil das der Ort ist, wo man gefaßt ist auf die wildverwachsenen dunklen Zweige, wo man Gespenster (Revenants) im Dunkeln sehen will, die wilde Jagd all der zerrinnenden und wieder zusammenfließenden bekannten Gestalten – aber: Anfang und Ende zu reich mit Feinheiten bedacht, büßt etwas ein von seiner Macht.843
Dieses Fragment legte sie ihrem Brief vom 31.9.1885 bei. In den dazwischenliegenden Tagen hatte sie sich intensiv mit der Sinfonie befasst, der Eindruck der Kompliziertheit hatte sich verloren: „Ich empfinde jetzt so deutlich die Hügel und Täler in dem Satze“844. Nun sah ihr Urteil über den ersten Satz und speziell über die Durchführung anders aus: Überhaupt die Durchführung hat mir’s ganz und gar angetan in ihrer Gedrungenheit und Männlichkeit, und wie sie so ganz mit Stimmungselementen operiert. – Warm und saftig klingt gewiß auch das schöne zweite Thema, das ich mir etwas länger wünschte in seinem Gesangscharakter. [...] Prachtvoll ist auch die Koda. [...] alles höchst schwunghaft zum Schlusse drängend, leidenschaftlich und packend. Mächtiger im Stil, als man anfangs von dem mehr lyrisch angehauchten ersten Thema erwartet.845
Bereits in ihrer ersten Stellungnahme zur Sinfonie war Elisabeth von Herzogenberg ganz besonders von der Durchführung begeistert, weil hier die detailreiche Kombination der verschiedenen musikalischen ‚Gestalten‘ zu erwarten war. Die besondere Ausprägung des ersten Satzes, nämlich „die Ausbreitung der motivischthematischen Arbeit auf alle Formteile und [...] das von Brahms zu einem ersten Höhepunkt geführte Verfahren der ‚entwickelnden Variation‘“846, erschwerte ihr den ersten Zugang zu diesem Satz. Nach einem längeren Studium der Partitur gelang es ihr aber, den Formverlauf nachzuvollziehen, den sie dann als eine gebirgige Landschaft mit Tälern und Hügeln, quasi als Orientierungspunkte im „Dschungel der Schlinggewächse“, beschrieb. Die besondere Intensität der thematisch-motivischen Arbeit in der Durchführung847 hob sie daraufhin mit den
843 844 845 846 847
Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, 86f. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 80. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 2, S. 82f. Schmidt: Brahms. Sinfonie Nr. 4, S. 256. So wird in der Durchführung (T. 137–246) das Hauptthema viermal variiert sowie das Seitenthema verarbeitet und mit einem B-Teil, der deutlich auf das Hauptthema Bezug nimmt, kontrastiert (vgl. Schmidt: Brahms. Sinfonie Nr. 4, S. 263).
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Attributen „Gedrungenheit“ und „Männlichkeit“ hervor. Damit sprach sie zum einen ein Qualitätsurteil aus und zum anderen verknüpfte sie die mit dem männlichen Geschlechtscharakter implizierten Eigenschaften mit der Musik. Elisabeth von Herzogenberg griff ebenso wie Clara Schumann überwiegend zu Naturassoziationen (Sternenhimmel, Insel im Meer, Wandeln in idealer Landschaft bei Sonnenuntergang), um ihre musikalischen Wahrnehmungen zu verbalisieren. Darüber hinaus stellte sie Vergleiche mit sakraler Architektur an (Musik ist wie der Eintritt in ein Gotteshaus oder wie die Fassade einer romanischen Kirche). Sie personifizierte die Musik, indem sie sie als Kinder oder Glieder einer Familie bezeichnete, und thematisierte damit möglicherweise ihre eigene ungewollte Kinderlosigkeit und ihren Wunsch nach einer Familie. Die Begriffe männlich/weiblich setzte sie ein, um ein Qualitätsurteil sowohl über Männer als auch über die Musik auszusprechen. Nach der Betrachtung der vier Briefwechsel bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass die beiden Rezipientinnen im Vergleich zu Joseph Joachim und Theodor Billroth weniger zu genderkonnotierten Narrativierungen oder Etikettierungen von Musik neigten. Wenn Joachim und Billroth die Musik mit einem poetischen Inhalt oder einem literarischen Sujet verbanden, dann war es in der Regel eine männliche Figur (Staatsmann, Leander, Faust) – bis auf die Assoziation der Reinheit und Keuschheit in der vierten Variation op. 9, in der Joachim die Widmungsträgerin der Variationen heraushörte. Aber auch Joachim und Billroth waren in ihren Narrativierungen eher vorsichtig andeutend als eindeutig plakativ (im Gegensatz zu manchen poetisierenden Ausdeutungen eines Max Kalbeck848). In keinem der vier Briefwechsel wurde das von Susan McClary entwickelte narrative Schema der Sonatensatzform aufgegriffen, um den in der Musik wahrgenommenen Inhalt zu verbalisieren. Diese vier Personen, BerufsmusikerIn, gebildeter Musikkenner und musikalisch hochgebildete Adelige, haben das von McClary als für die Zeit virulent eingeschätzte narrative Schema nicht benutzt, um über die Musik von Brahms zu schreiben. Das legt die Vermutung nahe, dass das Schema in diesem Personenkreis nicht allgegenwärtig und damit für das Verstehen von Musik weniger zentral war als von McClary angenommen. Bei den Briefwechseln handelt es sich um einen privaten Gedankenaustausch über Musik, also um einen speziellen Ausschnitt aus einem privaten Musikdiskurs. Demgegenüber bedienten Konzertkritiken, Werkbesprechungen, Konzertführer und Biographien ein öffentliches Interesse an Information und Kommunikation über Musik. Das folgende Kapitel untersucht nun anhand der Werke von Johannes Brahms das öffentliche Sprechen über Musik und die im öffentlichen Musikdiskurs transportierten Genderkonnotationen.
848
Vgl. Kapitel 6.2.2.
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6.2
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Musikkritiken, Konzertführer und Biographien: Öffentliche Diskurse über Musik
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedienten Berichte und Kritiken das Bedürfnis des stets wachsenden Konzertpublikums nach Informationen über Musik und das musikalische Leben in der eigenen und in anderen Städten. So wuchs seit Mitte der 1860er Jahre in Wien die Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften explosionsartig: Zählte das Wiener Postamt 1848 noch 3,5 Millionen Zeitungsauslieferungen im Jahr, so waren es 1868 20,5 Millionen und 1887 51 Millionen849, wobei jede führende Tageszeitung auch über das Musikleben berichtete.850 Mitte der 1880er Jahre befassten sich von den mehr als 500 Zeitschriften in Wien 20 mit Kunst.851 Das gesteigerte Interesse an Musik und die wachsende Teilnahme am öffentlichen Konzertleben hingen damit zusammen, dass musikalische Bildung und eigenes Klavierspiel als wichtige Status- und Bildungssymbole des gehobenen Bürgertums galten. Die sich vergrößernde Kluft zwischen dem Bildungsniveau eines Großteils des Publikums und den Anforderungen an die MusikhörerInnen wollte man durch eine pädagogisierende Musikliteratur ausgleichen. The newer generation [geboren nach 1850] became the consumers of lexica, concert guides, and journalistic accounts – genres that experienced enormous success in the 1880s and 1890s. Hermann Kretzschmar’s famous concert guide, which first appeared in 1887 [...] gives a glimpse of the standard of education in the late nineteenth century. [...] The Vienna Philharmonic first felt the need in the 1890s to introduce written descriptive program notes. In both these notes and Kretschmar’s guide, narrative description functioned as a translating mechanism, designed to enable the hearer to follow and remember by offering a descriptive narration akin to prose fiction, travel guides, or journalistic reportage.852
Der Besuch eines Konzertes und das für den Hausgebrauch bestimmte eigene Klavierspiel setzten als erstrebenswerte Statussymbole keine umfassende musikalische Bildung oder großes pianistisches Talent voraus. Für die Teilnahme am Konzertleben war die Fähigkeit gefragt, musikalische Verläufe verfolgen, Abweichungen von der Norm erkennen und musikalische Motive erinnern sowie benennen zu können. (Vereinfachende) Klavierauszüge ermöglichten es, das Gehörte im Rahmen des häuslichen Musizierens zu reproduzieren. Grundsätzlich war (und ist) der Nachvollzug eines Werkes und das Sprechen über ein Konzert oder ein bestimmtes Musikstück auch ohne Notenkenntnisse möglich. Um die KonzertgängerInnen auf ein Konzert vorzubereiten und mit den Informationen zu versorgen, die
849 850 851 852
Botstein: Music and its public, S. 874. Vgl. Botstein: Music and its public, S. 863. Botstein: Music and its public, S. 874. Botstein: Time and memory, S. 7–8.
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als wichtig für das Verständnis des Werkes angesehen wurden, begann man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, pädagogisch ausgerichtete Konzertführer zu verfassen. Deren Verkaufserfolg war ein Indiz für das Bedürfnis nach Informationen und Wissen über ein Musikwerk. Die steigende Nachfrage nach Literatur über Musik spiegelte sich ebenfalls in wissenschaftlichen Biographien und Abhandlungen zur Musikästhetik und Musikgeschichte, in Handbüchern zur Gehörbildung, zum Instrumentalspiel, zur Noten-, Harmonie- und Kontrapunktlehre sowie in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen über Komponisten oder SängerInnen, in Programmheften ebenso wie in Musikperiodika für professionelle MusikerInnen, KonzertgängerInnen und Laien wider.853 Das Ausmaß an Visualisierungen in Form von Noten, Partituren oder Klavierauszügen und an Verbalisierungen in Form von Vorworten, begleitenden Kommentaren und von schriftlich nachgelieferten Analysen prägten das Verstehen musikalischer Vorstellungen in weit größerem Ausmaß, als das bis dahin der Fall gewesen war854 – mit dem Ergebnis: “the superficial, foreground habit of hearing, recognizable in program notes and guides, became the norm.”855 Werkbesprechungen in Musikzeitschriften oder in Konzertführern dokumentieren eine subjektive Reaktion des Verfassers auf die Musik, sie stellen ein zeitgebundenes Urteil über Musik dar, das gegenüber einer bestimmten LeserInnenschaft abgegeben wird. Derartige Besprechungen übersetzen die musikalische Wahrnehmung in ‚verstehbare‘ Sprache; das musikalische Erlebnis wird literarisiert, während gleichzeitig das Vokabular und die Art und Weise der Erläuterung die Hör-Erwartung des Publikums beeinflussten: Reading about music and adopting the language of description and judgement influenced the aural expectations of the audience and their sense of what constituted coherence, form, beauty, symmetry, and the logic of musical argument and speech. The audience [...] listened to music through the medium of prose translations of the musical experience which helped define the emotional and intellectual meaning of the music heard by the audience in concert [...].856
Angesichts des rapide wachsenden Interesses und angesichts der (sinkenden) Geschmacksstandards entstand trotz – oder gerade wegen – der pädagogisch ausgerichteten Literarisierung der Musik ein Unbehagen in weiten Teilen des sich elitär wähnenden Publikums. Hierfür bietet die Kritik von Elisabeth von Herzogenberg an dem „weiblichen, kaum konfirmierten, prüden und langweiligen“857 Publikum ein eindrucksvolles Beispiel.
853 854 855 856 857
Vgl. Botstein: Listening, S. 131. Vgl. Gratzer: Musikhören, S. 17. Botstein: Time and memory, S. 8. Botstein: Music and its public, S. 878. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 172.
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Neben den populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen für das musikinteressierte Publikum etablierte sich in dieser Zeit auch das wissenschaftliche Schreiben über Musik. An der Wiener Universität wurde bereits im Jahr 1861 die erste Lehrkanzel für Musikwissenschaft gegründet und mit Eduard Hanslick858 besetzt. Weitere Gründungen folgten 1866 in Berlin (Heinrich Bellermann), 1869 in Prag (August Wilhelm Ambros) und 1875 in Straßburg (Gustav Jacobsthal). Für den fach- wie für den populärwissenschaftlichen und journalistischen Diskurs gilt jedoch gleichermaßen: Wie über Musik geredet, geschrieben oder durch Sprache Musik unterrichtet wird, beeinflusst die Wahrnehmung und die Bedeutung der Musik. Denn in Rezensionen, Konzertkritiken oder Werkbesprechungen, in Konzertführern und in der Fachliteratur geht es nicht nur um bloße Vermittlung von Musik-Informationen und positivistischem Fachwissen, sondern auch um Kommentierung und ästhetische Beurteilung. Kritiken, Konzertführer und fachwissenschaftliche Abhandlungen offenbaren, wie und mit welchen Begriffen im öffentlichen Diskurs über Musik gesprochen, nach welchen Kriterien Musik beurteilt wird. Sie stellen ein musikbezogenes kulturelles Handeln dar, das Texte produziert, die als Quellenmaterial selbst zum Untersuchungsgegenstand werden.859 In ihnen spielt sich ein Großteil des öffentlichen Diskurses über Musik ab, der wiederum in den soziokulturellen Kontext und die gesellschaftlichen Diskurse der Zeit eingebettet ist.860 Die Inhalte, die verwendeten Begriffe und Narrationen der verbalisierten Hör- und Reflexionsprozesse vermitteln und beeinflussen die Bedeutung der Musik und die Hör-Erwartungen des Publikums.861 Sie stehen mit einem genderzentrierten Erkenntnisinteresse im Mittelpunkt der nun folgenden Betrachtungen. 6.2.1
Musik- und Konzertkritik: Hanslick und Kollegen
Eduard Hanslick, der ‚Kritikerpapst‘ des 19. Jahrhunderts und Begründer des Feuilletons, schrieb seine Konzertkritiken vornehmlich für die Neue freie Presse, also für die wichtigste und größte Tageszeitung Wiens. Sein Urteil war entscheidend für die Annahme oder Ablehnung eines Werkes. Zwischen 1870 und 1900 erschienen seine gesammelten Kritiken als Kompilationen, daneben verfasste er in den späten 1860er Jahren eine zweibändige Geschichte des Konzertlebens in Wien, 1894 erschien seine zweibändige Autobiographie. Hanslick veröffentlichte 1854 seine Streitschrift Vom musikalisch Schönen und entwickelte in ihr die Grundzüge seiner musikästhetischen Maximen. Danach sei es das Ziel eines jeden künst-
858 859 860 861
Vgl. Krones [u. a.]: Artikel Wien, Sp. 2011. Vgl. Huber: Meisterwerkanalyse, S. 139. Vgl. Tadday: Musikkritik, Sp. 1368. Vgl. Botstein: Listening, S. 130.
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lerischen Werkes, eine „in der Phantasie des Künstlers lebendig gewordene Idee zur äußeren Erscheinung zu bringen. Dies Ideelle in der Musik ist ein tonliches; nicht etwas begriffliches, welches erst in Töne zu übersetzen wäre.“862 Nehmen also die Töne die Idee des Künstlers in sich auf, „so prägt sich die geistige Kraft und Eigentümlichkeit dieser bestimmten Phantasie dem Erzeugnis als Charakter auf.“863 Demnach könne man zurecht „ein musikalisches Thema als großartig, graziös, innig, geistlos, trivial [bezeichnen]; all diese Ausdrücke bezeichnen aber den musikalischen Charakter der Stelle.“864 Zwar stammten die gewählten Begriffe häufig aus dem Gefühlsleben (traurig, zärtlich, leidenschaftlich, sehnsuchtsvoll), sie seien aber ebenso aus anderen „Erscheinungskreisen“ zu wählen, wie zum Beispiel: „duftig, frühlingsfrisch, nebelhaft, frostig [...].“865 Auf der Folie dieser musikästhetischen Grundanschauung sind seine Kritiken zu betrachten und dahingehend zu befragen, aus welchen „Erscheinungskreisen“ Hanslick die Begriffe wählte, mit denen er über Musik sprach. Denn zum einen: „Literatur über Musik ist kein bloßer Reflex dessen, was in der musikalischen Praxis der Komposition, Interpretation und Rezeption geschieht“, vielmehr entsteht Musik „erst durch kategoriale Formung des Wahrgenommenen“866; sie bedarf der bewussten Wahrnehmung und begrifflich-kategorialer Reflexion. Und zum anderen: Die Begriffe, mit denen über Musik gesprochen wurde und hier konkret mit denen Hanslick über die Musik von Brahms sprach, zeigen, in welchen Kategorien über Musik nachgedacht wurde, und sie zeigen, dass musikalischer Sinn nicht außerhalb gesellschaftlich relevanter Diskurse begrifflich vermittelt werden kann. Das wird daran deutlich, dass Genderkonnotationen im Sinne der im 19. Jahrhundert virulenten bürgerlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit als begriffliche Kategorien zur Beschreibung und Beurteilung von Musik benutzt werden. Im ersten Satz der 1. Sinfonie von Brahms hörte Hanslick leidenschaftliches Pathos und faustisches Ringen, das Andante sei ein langgezogener, edler Gesang, wohingegen dem Thema des Scherzos melodische und rhythmische Reize fehlten. In der langsamen Einleitung des vierten Satzes hebe sich der klare und süße Gesang des Waldhorns aus dunklen Gewitterwolken hervor. „Da zittern alle Herzen mit den Geigen um die Wette.“867 Insgesamt bewertete er den von Brahms beschrittenen Weg in der Gattung der Sinfonie wie folgt:
862 863 864 865 866 867
Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 66. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 65, Hervorhebung im Original. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 67, Hervorhebung im Original. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 67. Dahlhaus: Absolute Musik, S. 66f. Hanslick: Concerte, S. 166. Vgl. die Faust-Assoziation und die fast wörtliche Beschreibung von Billroth in einem Brief an Hanslick (Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 228, Fußnote 1).
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So erinnert denn Brahms in dem eigenthümlich geistigen oder übersinnlichen Ausdruck und durch die schöne Länge seiner Melodien, durch die Kühnheit und Originalität der Modulation, durch die polyphone Gestaltungskraft, vor allem durch den männlichen hohen Ernst des Ganzen an Beethovens symphonischen Styl.868
Leidenschaftliche Gefühlsäußerungen – so die Bedeutung des griechischen Begriffs páthos869 –, gepaart mit faustischen Eigenschaften, waren für Hanslick charakteristische Kennzeichen des ersten Satzes der 1. Sinfonie. Den bedeutenden vierten Satz belegte er mit einer Naturassoziation (Gewitterwolken) und beschrieb die empathische Reaktion des Publikums auf die Alphornmelodie. Er erwähnte grundsätzliche musikstrukturelle Besonderheiten (Melodien, Modulationen, Polyphonie), einen speziellen geistig-übersinnlichen Ausdruck sowie eine männlich hohe Ernsthaftigkeit, die in ihrer Gesamtheit Parallelen zu Beethoven-Sinfonien aufweisen. Hanslick vermischte in seiner Kritik also verschiedene Hörweisen miteinander: strukturelles Hören, assoziatives und emotionales Hören gehen ineinander über, um den Eindruck der Musik, ihre Besonderheiten wiederzugeben. Die von ihm gewählten Begriffe stammen aus dem menschlichen Gefühlskreis (Leidenschaft), sie verleihen der Musik einen poetischen Inhalt aus dem Ideenkreis der Natur (Gewitter) und der Mythologie (Faust), wodurch die Musik zugleich literarisiert und durch ihre anthropomorphe Anlehnung mit Genderkonnotationen belegt wird. Gleichzeitig benannte Hanslick den Ausdruck der Musik als geistig-übersinnlich. Und in seiner Beschreibung der Modulationen, also einer formalstrukturellen Eigenschaft, wählte er das Adjektiv „kühn“, das auf besondere menschliche Eigenschaften im Sinne von mutig, stark, erfahren und weise verweist. Zur Spezifizierung seines Gesamturteils benutzte Hanslick abschließend den Begriff „Ernst“, der von dem aus dem Mittelhochdeutschen stammende Substantiv ernest abstammt und so viel wie Kampf, Festigkeit und Aufrichtigkeit bedeutet.870 Die im Begriff „Ernst“ positiv konnotierten Bedeutungen werden durch zwei aufeinander bezogene Adjektive noch doppelt ausgezeichnet: im Adjektiv männlich subsumieren sich Charaktereigenschaften wie Kraft und Rationalität, während das Adjektiv hoch hier im Sinne von erhaben den Rang und die Würde ausdrückt. Ihre Krönung erhält die Sinfonie mit dem Beethoven-Vergleich, durch den Hanslick der Sinfonie höchste musikalische Qualität und ästhetische Bedeutung zusprach. Ähnliche Metaphern und Begriffe verwendete Hanslick bei der Besprechung der 2. Sinfonie, er schrieb: „Der Charakter derselben ließe sich ganz allgemein bezeichnen, als ruhige, ebenso milde als männliche Heiterkeit, welche einerseits zum vergnügten Humor sich belebt, andererseits bis zu nachsinnigem Ernst sich
868 869 870
Hanslick: Concerte, S. 168. Duden: Herkunftswörterbuch, S. 593f. Duden: Herkunftswörterbuch, S. 186.
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vertieft.“871 Das Adjektiv männlich benutzte Hanslick hier in Kombination mit „ruhig und mild“, um den heiteren Charakter der Musik zu präzisieren. Unter Heiterkeit ist hier eine frohe Gemütsstimmung zu verstehen, die sich in der Sinfonie in zwei Richtungen entwickelt: zum einen in Richtung einer gesteigerten Heiterkeit, die bis zum Humor reichen kann, zum anderen in den besonnenen Gefühlskreis der Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit. Humor ist hier zu verstehen als eine scherzhafte Stimmung872, aber auch als eine heitere Gelassenheit angesichts der Unzulänglichkeit der Welt.873 Man kann anhand der gewählten Adjektive den Kontrast zur 1. Sinfonie deutlich erkennen: An die Stelle von Leidenschaft, Pathos oder Kühnheit treten hier Ruhe, Milde, eine frohe Gemütsstimmung und heitere Gelassenheit. Dass es sich nicht um oberflächliche Gefühle und Tändeleien handelt, wird durch das Adjektiv männlich und durch den Verweis auf eine nachdenkliche Ernsthaftigkeit deutlich gemacht. Die im Begriff der Männlichkeit konnotierte Bedeutung sichert somit den kompositorischen und poetischen Wert der Sinfonie. Auch zur 3. Sinfonie war Hanslicks Besprechung nicht frei von Begriffen, die sich an einem männlich geprägten Geschlechterbild orientierten: Der Grundton der 3. Sinfonie sei selbstbewusste, tatenfrohe Kraft, wenn auch das Heroische ohne einen kriegerischen Beigeschmack auskomme. Zwei dröhnende Kraftakkorde der Bläser eröffnen den 1. Satz, dem sich das „kampflustige Thema“ anschließe.874 Hanslick verzichtete hier auf eine explizite Bezugnahme auf den im Begriff der Männlichkeit enthaltenen Ideenkreis, die verwendeten Adjektive und Begriffe (selbstbewusst, tatenfroh, Kraft, heroisch, kampfeslustig) lassen aber eine Anknüpfung durchaus zu. Für das Violinkonzert op. 77 D-Dur wählte Hanslick wieder eine männliche Genderkonnotation, das Konzert war für ihn ein „Werk von hohem, starkem Wuchs, dabei von jener ruhigen, echt männlichen Heiterkeit, die zu unserer Freude immer mehr Boden gewinnt im Gemüte des Komponisten.“875 Ein Beispiel für die Literarisierung und Personifizierung von Musik findet sich in Hanslicks Besprechung des Doppelkonzertes für Violine und Cello op. 102. Dort heißt es: So ein Doppelkonzert gleicht einem Drama, das anstatt eines Helden deren zwei besitzt, welche, unsere gleiche Teilnahme und Bewunderung ansprechend, einander nur im Wege stehen. Wenn man aber von einer Musikform behaupten darf, daß sie auf der Übermacht eines siegreichen Helden beruht, so ist’s das Konzert. Haben wir nicht etwas Ähnliches in der Malerei? Die Künstler wehren sich gegen Doppelporträts, mögen nicht gern Mann und Frau auf einer Leinwand verewigen. Gleiche Instrumente [...] fügen sich
871 872 873 874 875
Hanslick: Concerte, S. 255. Grimm’sche Wörterbuch, Bd. 10, Sp. 1907. Duden: Herkunftswörterbuch, S. 349. Hanslick: Concerte, S. 362–363. Hanslick: Concerte, zit. nach: Ders.: Musikkritiken, S. 287.
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[...] schon leichter zu einem Konzert als zwei Prinzipalstimmen von so unterschiedlicher Tonhöhe wie Violine und Violoncell. [...] So empfangen wir [...] den Eindruck eines Theaterstückes, in welchem alle Personen sehr gescheit und geistreich sprechen, wo es aber zu keiner Handlung kommen will.876
Hanslick entwirft das narrative Schema des Solo-Konzertes, wonach das Soloinstrument einen Kampf mit dem Orchester austrage und am Ende als siegreicher Held hervorgehe. Die Personifizierung (Soloinstrument/Held) überträgt er auf das Doppelkonzert und vergleicht es mit einem Drama oder Theaterstück, in dem zwei unterschiedliche Helden bzw. ein Held und eine Heldin auftreten – sein Vergleich mit einem Doppelporträt von Mann und Frau deutet auf eine geschlechtliche Unterscheidung hin. Das Auftreten von zwei Personen führe im Doppelkonzert jedoch dazu, dass die Handlung zum Stillstand komme und sich die Personen im Wege stünden. Die hier zum Ausdruck kommende Kritik verdeutlicht, dass Hanslick den Formablauf eines Konzertes allgemein als ein Handlungsgeschehen auffasste, in dem Soloinstrument und Orchester als Protagonisten einander begegnen, ihre Kräfte messen oder – neutral formuliert – einen Dialog bzw. ein Streitgespräch miteinander führen, an dessen Ende der Sieger gekürt werde. Der Auftritt von zwei Soloinstrumenten führe im Doppelkonzert zu Komplikationen im formalen Ablauf, den Hanslick als einen Handlungsstillstand narrativ umschreibt. Soloinstrumente und Orchester sind demnach handelnde Personen, deren Geschichte im Konzert erzählt werde. Das unterschiedliche Stimmregister von Violine und Cello wecke Assoziationen an das unterschiedliche Stimmregister von Männern und Frauen, was sich an dem Vergleich und den konzeptionellen Problemen mit einem Doppelporträt von Mann und Frau in der Malerei ablesen lässt. Das heißt, dass für Hanslick die Musik etwas darstellt und erzählt, dass er musikalisches Geschehen mit einem Handlungsgeschehen von Personen gleichsetzt. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt Fred Maus in seiner Auseinandersetzung mit Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen, er stellt fest: “Hanslick attributes a story-like quality to music [...]. These descriptions depict music [...] as sound that is understood the way one understands other people, by attributing thoughts and by following a succession of responses to situations.”877 Schon Werner Abegg hat in seiner Abhandlung über Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick hervorgehoben, dass sich gerade bei Werken von Johannes Brahms Besprechungen der Musik finden, in denen Hanslick seinen eigenen ästhetischen Grundsätzen widerspricht, da sie von Gefühlen in der Musik
876 877
Hanslick: Tagebuch, zit. nach: Ders.: Musikkritiken, S. 290. Maus: Hanslick’s animism, S. 279. An anderer Stelle (S. 282) heißt es: “Hanslick animates musical events, hearing themes, harmony, melody, and interacting lines as characters whose behavior a listener may follow. [...] And his animism is sometimes eroticized, in its references to embodiment or in its descriptions of musical motion.”
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handeln oder den Ausdruck der Musik benennen und dabei auf außermusikalische ‚Inhalte‘ verweisen.878 Eine Werkbesprechung von gehaltvoller Musik wie der von Brahms beschränkte sich auch bei Hanslick nicht auf das reine Nachzeichnen musikalischer Formverläufe oder auf die Beschreibung des musikalischen Materials, denn der sich in der formalen Gestaltung ausdrückende Sinngehalt von Musik kann nicht mit analytisch-technischem Fachvokabular erschöpfend beschrieben werden. Die sich im musikalischen Geschehen ausdrückende Idee versuchte Hanslick mit Begriffen, adjektivischen Bestimmungen, Metaphern und Assoziationen einzufangen. Dabei war er auf Begriffe und Formulierungen angewiesen, die zu seiner Zeit kursierten, die seinem Empfinden und Verstehen Ausdruck verliehen und von denen er annehmen konnte, dass sie vom Publikum verstanden wurden. Dazu gehörte in auffallender Weise auch der im Begriff der Männlichkeit implizierte Bedeutungsgehalt, mit dem Eigenschaften des männlichen Geschlechtscharakters auf den Charakter der Musik übertragen wurden. Hanslick benutzte den Begriff männlich und genderkonnotierte Personifizierungen nicht nur für die Beschreibung von Musik, sondern auch, um musikalische Fertigkeiten, um gattungstypische Unterschiede und um den Personalstil von Brahms zu präzisieren und zu bewerten. So beschrieb er das Klavierspiel von Brahms: da spielt ein wahrer, aufrichtiger Künstler, ein Mann von Geist und Gemüth und anspruchslosem Selbstgefühl. [...] Seine Technik ist wie ein kräftiger, hochgewachsener Mann, der aber etwas schlendernd und nachlässig gekleidet einhergeht. Er hat eben wichtigere Dinge im Kopf und Herzen, als daß er unablässig auf sein Äußeres achten könnte. Brahms‘ Spiel ist immer herzgewinnend und überzeugend.879 Ein Meister, welcher eigenartigen, modernen Inhalt in klassischer Form zu gestalten wußte. Nebenbei ein Klaviervirtuose in großem Stil, dessen männlicher, geistvoller Vortrag sich frei über einer riesigen Technik erhebt.880
Im Zusammenhang einer Besprechung der Serenaden von Brahms stellte Hanslick einen grundsätzlichen Vergleich zwischen den Gattungen Serenade und Sinfonie an: Die Serenade sei anspruchsloser, einfarbiger, bürgerlicher. Sie sei ein „Spielplatz idyllischer Träume“ und „leichtbewegten Frohsinns“, also eher eine Symphonie des Friedens. [...] Eine befriedigte, abendliche Ruhe liegt sanft über dem Ganzen, nur leicht bewegt zu freudigem Hoffen oder süßer Sehnsucht. Die Empfindung ist nicht einsam grübelnd, sich verzehrend, sondern gleichsam schon in Verse gebracht, und mit einer gewissen Festlichkeit dargereicht der Dame des Herzens.881
878 879 880 881
Abegg: Hanslick, S. 64ff. Hanslick: Concertsaal, S. 258. Hanslick: Leben, S. 222. Hanslick: Concertsaal, S. 260.
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Indem Hanslick bei der Beschreibung des Serenadenstils den Aufführungsrahmen im Sinne einer Nachtmusik, die der geliebten Dame zur Verehrung dargeboten wird, benannte, gab er einen Hinweis darauf, dass es sich um Gefühle des Hoffens und der Sehnsucht eines männlichen Verehrers handele, die in der Musik erklingen. Den sanften, zarten, ruhigen und leichten Charakter einer Serenade kontrastierte er mit den inhaltlichen Maßstäben einer Sinfonie: Sie verlange „das leidenschaftliche Kämpfen, das erhabenste Pathos“, man müsse wie „Faust und Hamlet in Einer Person“ empfinden und „von ‚der Menschheit ganzem Jammer‘[...]“882 angefasst sein. Die Ideen- und Gefühlskreise von zwei männlichen Protagonisten der Weltliteratur verschmelzen zu einer dramatisch-tragischen Empfindungsweise von Leidenschaft, Kampf und Verzweiflung. Und Hanslick ging noch weiter: Nicht nur den Gefühlen einer Reinkarnation von Hamlet und Faust, sondern dem Leid und Elend der ganzen Menschheit müsse man in einer Sinfonie gegenübertreten können. Damit erhebt er für die Gattung der Sinfonie einen ästhetischen Geltungsanspruch, der an Größenvorstellungen nicht mehr zu überbieten ist. Auf dieser Folie erhalten der „männlich hohe Ernst“, aber auch die „männliche Heiterkeit“ als Charakterbestimmung der Sinfonien von Brahms noch einen zusätzlichen qualitativen Bedeutungszuwachs. Beim Vergleich von Serenade und Sinfonie bestimmte Hanslick mit Hilfe von Genderkonnotationen deren Ausdrucksgehalt. Auch für die Beschreibung des Personalstils von Brahms zog Hanslick einen genderkonnotierten Vergleich heran, indem er mit Bezugnahme auf Beethoven die Musik von Brahms in Relation zu der von Schubert setzte: Allein während Schubert das Weiche, Mädchenhafte (nach Schumanns Ausdruck) das ‚provençalische Element‘ Beethovens selbständig weitergebildet hat, hält sich Brahms an die männliche, pathetische Seite, an das germanische Element des Meisters. Schubert ist ungleich reizvoller, melodiöser, sinnlicher als Brahms, er wirkt viel unmittelbarer; hingegen waltet in den großen Compositionen von Brahms mehr von jener zusammenhaltenden Kraft und strengen Logik der Gedanken, welche Beethovens Schöpfungen den Charakter innerer Nothwendigkeit ausgeprägt.883
Obwohl Beethoven am Ende des 19. Jahrhunderts prinzipiell als der männlichste aller Komponisten galt884, sprach Hanslick ihm hier männliche und weibliche
882
883 884
Hanslick: Concertsaal, S. 260. Hanslick greift hier auf ein Zitat aus Goethes Faust zurück: In der Kerker-Szene begegnet Faust Margarethe ein letztes Mal und ist bereits vor der Kerkertüre von der Grausamkeit des Ortes ergriffen: „Mich fasst ein längst entwohnter Schauer, / Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an. / Hier wohnt sie, hinter dieser feuchten Mauer, / Und ihr Verbrechen war ein guter Wahn!“ (Goethe: Faust, S. 131). Hanslick: Concerte, S. 111. Vgl. Borchard: Männlichlichkeitskonstruktionen, S. 65.
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Eigenschaften zu, die er unterschieden nach Geschlecht in der Musik von Brahms und Schubert weiterentwickelt sah. Weich, mädchenhaft, reizvoll-sinnlich und melodiös – diese Charakteristika verlieh er der schubertschen Musik, während die Musik von Brahms männlich, pathetisch (im Sinne von leidenschaftlich), kräftig und logisch sei. Hervorzuheben ist an diesem Zitat die Verknüpfung von musikalischer Genderkodierung mit nationalen Zuschreibungen. Weiblich-sinnliche Musik à la Schubert wird dem südländisch-provençalischen Kulturkreis885 zugeschlagen, wohingegen die Musik von Brahms in ihrem kraftvollen und männlich-logischen Grundzug die nordisch-germanischen Werte des deutsch-nationalen Kulturkreises enthalte. Im Musikdiskurs werden somit Genderkonnotationen nicht nur genutzt, um musikalische Urteile über bestimmte Werke oder Komponisten zu fällen, sondern auch, um vermittels des genderkonnotierten Musikurteils Aussagen über den Musikstil verschiedener Nationen bzw. Kulturkreise zu treffen. Damit diente die Musik bzw. das genderkonnotierte Sprechen über Musik sowohl der Etablierung des propagierten Geschlechtermodells als auch der nationalen Identitätsfindung und Abgrenzung.886 Marcia Citron formuliert bezüglich der Verknüpfung von Männlichkeit und Nationalismus in der Brahmsrezeption folgende Vermutung: In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Brahms’ Sinfonien alle nach der Reichsgründung 1871 entstanden sind. Bedeutet dies, dass sie die ‚vollendete männliche‘ Entwicklung und den Sieg über die ‚weiblichen‘ Sinfonien der romantischen Vorgänger darstellen? [...] Indem Hanslick eine verlockende Trinität von Brahms’ Sinfonie, nationaler Einheit und ‚männlicher‘ Vollendung konstruiert, drückt ihm zufolge die ‚Männlichkeit‘ der ersten Sinfonie auch die Kraft der neuen deutschen Nation aus.887
Hanslick war nicht der einzige, wenn auch der bedeutendste Musikkritiker, der zur Präzisierung seines Musikurteils auf die Implikationen von Männlichkeit und Weiblichkeit zurückgriff. Semantisch aufgeladene Inhalte der damaligen Geschlechterdichotomie finden sich in auffallend vielen Kritiken der Zeit, hierzu einige Beispiele – ausschließlich aus der Brahms-Rezeption: Ferdinand Peter Graf von Laurencin888 gab 1868 in der Neuen Zeitschrift für Musik ein durchaus kritisches Urteil über Johannes Brahms, Joseph Joachim und Arthur Rubinstein ab, von denen Joachim „der durchgeprägteste, echteste Charak-
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Siehe auch Dittrich: Schubert. Über die deutschnationalen Implikationen in Brahms’ Musik siehe Beller-McKenna: Brahms and the German spirit. Citron: Männlichkeit, S. 364, Hervorhebung im Original. Der in Wien tätige Musikschriftsteller Ferdinand Peter Graf von Laurencin (1818–1890) publizierte vor allem im Illustrierten Musik- und Theater-Journal und in der Neuen Zeitschrift für Musik (vgl. Horstmann: Brahms-Rezeption 1860–1880, S. 343).
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ter“889 sei. Aber trotz aller Kritik sei ihnen als Klaviervirtuosen wie als Komponisten ein „Lebensmoment gemeinsam [...]: es ist das durchgängig Mannhafte, Unangekränkelte, stets auf den Kern der Sache Lossteuernde und von diesem Gesichtspuncte aus jedes noch so unscheinbare Detail Befruchtende“. Obwohl sie hinter dem Zeitwillen (Neudeutsche Schule) zurückblieben, proklamierte er sie als „vollberechtigte Gegenwartssöhne vor aller Welt.“890 Der anonyme Verfasser der Konzertkritik im Abendblatt der Wiener Zeitung zur Aufführung der 1. Sinfonie op. 68 von Johannes Brahms in Wien am 17.12.1876 behandelte zunächst grundsätzlich in einem emphatischen Stil die Bedeutung von Brahms, die musikästhetische Parteienbildung der Zeit und bewertete dann die einzelnen Sätze: Die ersten drei Sätze konnten ihn nicht überzeugen – er sprach von „kurzen und dünnen thematischen Ästchen“, von einem „gestaltlosen Empfindungsnebel“ im Adagio, und einem schwächlichen Allegretto – lediglich der vierte Satz sei überzeugend: Mächtig hebt er sich über das Niveau seiner drei Vorgänger empor, wie ein Bergriese über ihn umgebende Hügel. [...] Nach einer tief elegischen Klage der Contrabässe ermannt es [das Finale] sich plötzlich zu einem ungestümen Pizzicato der Streichinstrumente, wie der Mensch, der sich von wühlender Pein durch Entschluss zu einer That befreien will. Diese schwergeborne Männlichkeit versinnlicht ein machtvoller Paukenschlag mit dem folgenden Chorale der Bläser in wahrhaft großartiger Weise. Bei seinem Klange beschleicht den Hörer eine helle Empfindung, wie beim Aufgange der Sonne nach leidvoll durchwachter Nacht. Die letzten Nebelstreifen fliehen vor dem einbrechenden Lichte und eine starke, durch und durch gesunde Heiterkeit, der Triumph der wiedergewonnenen Männlichkeit (Allegro con brio 4/4) beschließt den Satz in glorreicher Weise. Die Geschichte eines edlen, schwer geprüften, aber siegenden Menschenherzens klingt so vernehmlich und ergreifend aus diesem grandiosen Tongemälde, daß man sie niederzuschreiben vermöchte. Hier verschwimmen die Grenzen der Ton- und Dichtkunst unterscheidungslos in einander und der musikalische Eindruck ist zugleich ein unmittelbar poetischer.891
Im Vergleich zu dieser ausführlichen inhaltlichen Ausdeutung besprach der Rezensent der Wiener Allgemeinen Zeitung die Uraufführung der 3. Sinfonie op. 90 am 2.12.1883 knapper, benutzte zur präzisen Beschreibung des ersten Satzes aber ebenfalls eine Genderkonnotation. Die 3. Sinfonie berge „eine Fülle von kräftigen, anmuthigen und elegischen Gedanken“, die diesmal fest, durchsichtig und knapp dargeboten werden. Der 1. Satz wechsle „zwischen mannesmuthigem Ringen und naiver Grazie [...].“892
889 890 891 892
Laurencin: Virtuosenconcerte, S. 147. Laurencin: Virtuosenconcerte, S. 148. Anonym: Brahms’ erste Symphonie, S. 3f. Dömke: Uraufführung 3. Sinfonie, S. 1.
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In einer zusammenfassenden Würdigung der bis dahin erschienenen Werke von Brahms schrieb Louis Ehlert893 über das 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15 1880 in der Deutschen Rundschau: Das Clavierconcert gehört zu den männlichsten Stücken des Künstlers. [...] Es ist schneidig, schroff, unangenehm mitunter wie erste Berührungen und wie der Meisterschlag, aber von unverhohlener Großartigkeit, was absolute Genialität anbetrifft.894
Auch Hermann Kretzschmar895 ging in seinem Artikel über Neue Werke von Brahms ausführlich auf das 1. Klavierkonzert ein, im Stil seiner später geschriebenen Konzertführer schrieb er eine narrative Interpretation im Sinne eines epischen Dramas. Vor allem der erste Satz wurde dezidiert ausgeleuchtet: Alles ist im Orchester ausser sich, Recken schreien in wilder Phrase; [...] Es ist dies eine Stelle [Trillerkette vom gesamten Streichorchester], die man nie vergessen kann; wer seinen ‚Beowulf‘ gelesen hat, der muss unwillkürlich an die Scene denken, wo das entsetzliche Moorungeheuer in der Methhalle erscheint. [...] Das sieht aus wie Worte wüthendster Entschlossenheit [...]. Stets von Neuem steht der finstere Held vor uns, der diese ersten, grausen Takte sang, eine Natur gewaltig und todeskühn, aber mit einem Hang zum Düsteren, das Auge stets gerichtet auf die ewige Erbärmlichkeit des menschlichen Seins. Die freundlichen Weisen, er hört sie, die liebenden und lockenden Bilder, er sieht sie: sobald er aber weilen möchte, da kommen die Mahner. [...] Kain, Furien und ähnliche Bilder werden Viele beim Hören dieses Satzes begleiten. Es ist im Princip derselbe psychologische Process in diesem Satz zu verfolgen, wie in aller musikalischen Form: das ewige Kämmerchenvermiethen zwischen Florestan und Eusebius, oder wie sie im Jean Paul heissen: Vult und Walt. Mit den beiden arbeitet doch Jeder [...].896
Kretzschmar beschrieb den ersten Satz des Klavierkonzertes, indem er der Musik die Beowulf-Legende897 zugrunde legte. Somit personalisierte er das musikalische Material mit einem männlichen Individuum und setzte den musikalischen Formver-
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894 895 896 897
Louis Ehlert (1825–1884), Musikschriftsteller und Komponist, war Schüler von Felix Mendelssohn und Robert Schumann am Leipziger Konservatorium (1845). Er publizierte in der Deutschen Rundschau und in der Neuen Berliner Musikzeitung (vgl. Horstmann: Brahms-Rezeption 1860–1880, S. 345f). Ehlert: Brahms, S. 350. Hermann Kretzschmar (1848–1924), Dirigent und Musikgelehrter, veröffentlichte seine Werkbesprechungen vornehmlich im Musikalischen Wochenblatt (vgl. Horstmann: Brahms-Rezeption 1860–1880, S. 324f). Kretzschmar: Neue Werke, S. 5f.. Das altgermanische Heldenlied aus dem sechsten Jahrhundert erzählt den heroischen Kampf von Beowulf, einem südschwedischen Gautenfürsten. Der junge Recke Beowulf macht sich mit 14 Gefährten auf, um dem dänischen König beizustehen, der von einem Ungeheuer (Grendel) bedrängt wird. Beowulf tötet das Ungeheuer und in einem zweiten Kampf dessen rachsüchtige Mutter. Im zweiten Teil der Sage ist Beowulf König von Dänemark, dessen Reich von einem Drachen bedroht wird, dem Beowulf im Kampf unterliegt.
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lauf mit dem heroischen Kampf des Helden gleich. Dieser musste die an ihn gestellten Forderungen erfüllen und durfte sich nicht durch Verlockungen davon abbringen lassen. Die freundlich-liebend-lockenden Bilder – im Klavierkonzert festzumachen an den lyrischen Episoden (z. B. T. 26–62) oder dem Klaviersolo nach der Orchesterexposition (ab T. 91) – wurden von Kretzschmar nicht explizit mit Weiblichkeit oder einer konkreten verführerischen Frau belegt. Er verwies vielmehr auf zwei charakterliche Grundprinzipien, die jede Person in einem psychologischen Reifeprozess zu integrieren habe und die Kretzschmar mit dem musikalischen Formverlauf gleichsetzte. Dabei bezog er sich auf die schumannschen und jean-paulschen Personalisationen dieser Charaktere. Da ist zum einen Florestan, ein extrovertierter, stürmischer Charakter und zum anderen Eusebius, der eher elegisch und kontemplativ auftritt.898 Bei Jean Paul verkörpert das ungleiche Zwillingspaar Vult (unkonventionell) und Walt (ruhig und bodenständig) die unterschiedlichen psychischen Dispositionen. Handelt es sich also einerseits um männliche Phantasiefiguren, so lassen sie sich andererseits als Pole einer charakterlichen Doppelnatur auffassen, deren Integration den Mann erst zu einer harmonischen Persönlichkeit mache. Indem Kretzschmar betonte, dass im musikalischen Formverlauf des ersten Satzes „im Prinzip derselbe psychologische Prozess“ wie in allen musikalischen Formen zu verfolgen sei, dass also immer die Begegnung und Konfrontation gegensätzlicher Charaktere dargestellt werde, zeichnete er ein narratives Schema, in dessen Zentrum ein (männliches) Individuum steht, das seine gegensätzlichen Anteile integrieren muss, um als ‚ganzer Mann‘ angesehen zu werden. Hier scheint ein narratives Schema durch, das vielen Werkbesprechungen zugrunde lag und das im anschließenden Kapitel (6.2.2) anhand der Erläuterungen von Carl Beyer ausführlicher auf seine musikstrukturellen Bezugnahmen betrachtet werden soll. Es lässt sich feststellen, dass es vorwiegend große Gattungen (Sinfonie, Konzerte) waren, die von der Musikkritik mit Genderkonnotationen belegt wurden. Das kann daran liegen, dass repräsentative und für ein großes Publikum konzipierte Werke in einem größeren Umfang kritisiert und rezipiert wurden. Die Intention der Musikkritiker‚ eine allgemeinverständliche Einschätzung und qualitative Einordnung der Werke abzugeben, ließ sie nach entsprechenden Formulierungen suchen und in den kursierenden Geschlechterzuschreibungen von männlich und weiblich offensichtlich auch finden. Dass in den meisten Fällen den Sinfonien und Konzerten von Brahms Männlichkeit attestiert wurde und seltener weibliche Elemente wie zum Beispiel „naive Grazie“ genannt wurden, ist hervorzuheben und
898
Zur Bedeutung von Florestan und Eusebius im Leben und im Werk von Robert Schumann vgl. u. a. Kramer: Carnaval; Biddle: Policing masculinity; Köhler: Polare Symbolik.
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legt die Schlussfolgerung nahe, dass die großen, repräsentativen Gattungen grundsätzlich als männliche Gattungen angesehen wurden. Erinnert sei an dieser Stelle an den genderkonnotierten Vergleich der Gattungen Serenade und Sinfonie von Eduard Hanslick. Zwei Kritiken zur Kammermusik bzw. zu den Klaviersonaten von Brahms sollen die Analyse von Musikkritiken abschließen. Louis Ehlert schrieb in dem bereits erwähnten Rückblick (1880) über die Kammermusik von Johannes Brahms: Neben dem Männlichen und Trotzigen steht in dieser Gattung seiner Musik fast immer die Grazie. Es ist nicht die Grazie Mozart’s, die uns wie ein Kuß von schönen Lippen zugeworfen wird, es ist die Grazie eines geistreichen Menschen mit einem leisen ironischen Anflug, wie er sich sonst bei keinem Musiker findet.899
Ehlert war weit davon entfernt, die Kammermusik von Brahms als weiblich zu bezeichnen, aber er verwies auf zwei gegensätzliche Grundzüge dieser Gattung in ihrer Ausprägung bei Brahms: männlich/trotzig versus graziös. Dabei differenzierte er zwischen einer eher weiblich konnotierten Grazie (wie ein Kuss von schönen Lippen), die er in der Musik von Mozart wiederfindet, und zwischen einer eher männlichen Grazie der Musik von Brahms, die geistreich und ironisch sei. Mozart gehöre also wie Schubert zu den Komponisten, bei denen weibliche Eigenschaften aufzufinden seien, während Brahms ein durch und durch männlicher Komponist sei, bei dem selbst die weiblichen Anteile noch männlich ausgeprägt erscheinen. Bereits 1854 hatte sich Louis Köhler900 mit den ersten sechs erschienenen Werken von Brahms auseinander gesetzt. Zum ersten Satz der Klaviersonate op. 1 schrieb er: „Ein Anfang voll Kraft und Schwung! ... Das Thema dieser Sonate zeigt sich übrigens schmiegsam, [...] bis es mündet in einen Melodiesatze voll weiblich edler Klage [...].“901 Vor allem die 3. Klaviersonate f-Moll op. 5 erfuhr eine intensive inhaltliche Ausdeutung mit Genderkonnotationen. Der erste Satz beeindrucke ihn durch seine wuchernde Kraft in Erfindung und Gestaltung [...]. Diejenigen von hervorstehend rhythmischer Natur sind so gedrungen und kräftig, daß sie ähnlich auf das Gehör wirken, wie eine muskulöse Herkulesgestalt auf das Auge. [...] Kraft ist in dieser Sonate im beständigen unruhvollen Kampfe, sie ist hier der starke Mann inmitten der Lebensstürme; ihm entgegen tritt dann das milde Weib, voll bezaubernder, adeliger Sanftheit.902
899 900 901 902
Ehlert: Brahms, S. 353. Louis Köhler (1820–1886) war Komponist, Klavierlehrer (in Königsberg) und Autor der Signale für die musikalische Welt, Berliner Musikzeitung und der Neuen Zeitschrift für Musik. (Vgl. Krebs: Köhler). Köhler (Ker): Brahms’ sechs erste Werke, S. 146. Köhler (Ker): Brahms’ sechs erste Werke, S. 149.
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Das Andante setzte er mit „zartester Mondscheinnatur“ gleich und auch das spätere Motiv (Des-Dur 3/4-Takt) „ist von wonnigklarer Milde, wie der still durch die sternen helle Nacht dahinziehende Mond.“ Das Finale stelle ein „Kampf-Spiel“ dar, es bildet „einen trefflichen Gegensatz zu dem ersten Satze, der einen sehr ernsten Kampf um Leben oder Untergang kämpft.“903 Die Wirkung des rhythmisch markanten ersten Themas, das im Forte-Bereich erklingt und durch Akzente noch betont wird, verglich Köhler mit den Eindrücken beim Betrachten des muskelbepackten Herkules.904 Dieser zeichnet sich durch seine körperliche Stärke, Tapferkeit, Härte und Ausdauer aus, besitzt Eigenschaften wie Gutmütigkeit, Edelmut sowie Abenteuergeist, er ist aber auch für seinen Jähzorn und seine Wollust bekannt.905 Die mit der Figur des Herkules verbundenen charakterlichen Eigenschaften lassen sich durch die Assoziation des Kritikers auf den musikalischen Formverlauf übertragen. Während die musikalischen ‚Ereignisse‘, die thematisch-motivische Arbeit, die Umgestaltung des ersten Themas in der Durchführung mit dem Lebenskampf des Mannes gleichgesetzt werden, wird das zweite Thema als die Begegnung mit einer milden, bezaubernden, sanften Frau interpretiert. In der Musik treffen demnach die personifizierte Männlichkeit (Herkules, der starke Mann) und Weiblichkeit (das milde Weib) aufeinander, im Zentrum des Satzes steht aber der schicksalshafte Überlebenskampf des Mannes: Köhler entwirft anhand des musikalischen Materials und des formalstrukturellen Verlaufs ein androzentrisches Handlungsgeschehen. Zwar nennt Köhler auch den weiblichen Gegenpart in Form des zweiten Themas oder spricht von „edler, weiblicher Klage“ (1. Satz der Klaviersonate op. 1), damit wird jedoch nicht die Sonate ingesamt feminisiert. Köhler versteht sie als Ausdruck eines männlichen Individuums und seiner äußeren wie inneren (Seelen-)Kämpfe. Außerdem reduziert Köhler seine genderkonnotierten Implikationen nicht auf den Begriff männlich oder Männlichkeit, so wie Hanslick das zur qualitativen Bestimmung der Werke von Brahms getan hat, sondern er gibt eine ausführliche poetische Deutung. Auch Hermann Kretzschmars Besprechung des 1. Klavierkonzertes ist ein Beispiel für eine inhaltliche Interpretation von Musik im Rahmen einer Musikkritik, die in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde. Sie nähert sich in ihrer Form den Werkbesprechungen in Konzertführern oder Biographien an: Die Grenzen zwischen journalistischer Musikkritik und pädagogisch intendierter bzw. (populär-)wissenschaftlicher Werk-
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Köhler (Ker): Brahms’ sechs erste Werke, S. 149. Herkules (lat. für Herakles) ist der berühmteste und volkstümlichste der griechischen Heroen; er war der Sohn des Zeus und der Alkmene. Sein Name bedeutet wörtlich „Heras Ruhm“ und widerspricht dem unversöhnlichen Hass Heras aufgrund ihrer Eifersucht auf Zeus’ Liebschaft mit Alkmene (Grant/Hazel: Lexikon der antiken Mythen, S. 185). Vgl. Grant/Hazel: Lexikon der antiken Mythen, S. 185.
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besprechung sind also in Bezug auf eine programmatische Ausdeutung von Musik fließend. Ein weiterer Aspekt verdient Beachtung: Die bisherigen Rezeptionsbeispiele zeigen, dass die Begriffe männlich/weiblich oder Männlichkeit/Weiblichkeit nicht nur genutzt werden, um musikalische Strukturen gemäß der Geschlechterordnung der Zeit zu charakterisieren und zu narrativieren, sondern dass in ihnen auch qualitative Aussagen über das entsprechende Werk mitschwingen. Die männlichen Kompositionen von Brahms besitzen – wie Hanslick dies in seinen Kritiken beschrieben hat – Ernsthaftigkeit, Kühnheit und Stärke, Rationalität und Würde, sie werden in den Rang eines Beethoven-Werkes gehoben. Auch in der Art und Weise, wie Joseph Joachim im Briefwechsel mit Brahms das Adjektiv männlich benutzte, schwang neben einer genderkonnotierten Charakterisierung ein Urteil über die Qualität des Satzes mit: So war das Klavierquintett op. 34 für ihn „ein Stück von tiefster Bedeutung, voll männlicher Kraft und schwungvoller Gestaltung. Alle Sätze bedeutend, sich ergänzend.“906 Dass es als eine anerkennende Beurteilung anzusehen ist, wenn Kompositionen von Frauen als männlich gewertet werden, hat beispielsweise Luise Adolpha LeBeau (1850–1927) in ihren Lebenserinnerungen festgehalten, sie schrieb: Professor Rheinberger sah öfters Kompositionen von mir durch; er fand meine Violin-Sonate Opus 10 ‚männlich, nicht wie von einer Dame komponiert‘ und erklärte sich nun bereit, mich als Schülerin anzunehmen, was eine große Ausnahme war, da er keinen Unterricht an Damen gab.907
Als Beispiel für den negativen Bedeutungsinhalt einer weiblichen Musik kann das Urteil von Eduard Hanslick über die Musik von Richard Wagner herangezogen werden. „Die ‚Lohengrin‘-Musik [ist] weichlich, marklos, oft geziert;“ für den Lohengrin schwärmen nur „die unmusikalisch-sentimentalen Seelen “, er „ist die Lieblingsoper aller gefühlvollen Damen.“ Der Tannhäuser ist „kräftiger, männlicher, natürlicher [...].“908 Auch wenn Hanslick nicht explizit von weiblicher oder unmännlicher Musik spricht – dadurch, dass er für den Tannhäuser die Komparativform männlicher wählt, bleibt der Lohengrin dennoch eine männliche Musik, wenn auch eine weniger männliche –, so wird dennoch durch die Adjektive weichlich, marklos, geziert und durch den Hinweis auf die negativ konnotierten gefühlvollen Liebhaberinnen dieser Musik der weibliche Ideenkreis deutlich angesprochen und damit die Musik von Wagner abgewertet. Der Musikkritiker der Wiener Allgemeinen Zeitung urteilte über den Komponisten Franz Liszt:
906 907 908
Brahms: Briefwechsel mit Joachim, Bd. 1, S. 324 (Brief vom 5.11.1862). LeBeau: Lebenserinnerungen, (online-Version ohne Seitenangaben). Hanslick: Leben, S. 217.
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Daß die Oberflächlichkeit, die weibliche Anempfindelei des Componisten Liszt ziemlich gleich bleibt im kleinen wie im großen Genre, in den sanften und elegischen wie in den stürmisch leidenschaftlichen Sätzen, lehrte recht augenscheinlich die Anreihung der sechs kleinen Consolations an jene in ihrer Zeit unerreichte [h-Moll] Sonate.909
Auch Brahms wurde von der Gegenseite mit den negativen Konnotationen des Weiblichkeitstopos abgeurteilt. Hugo Wolf phantasierte hämisch, wie Brahms – seiner Meinung nach – die Ideen zu seiner 3. Sinfonie op. 90 gefunden haben könnte: Endlich dämmert’s ihm: er gedenkt der guten alten Zeit, der alle Zähne ausgefallen, die wacklig und runzelig geworden ist und wie ein altes Weib schnarrt und plappert. Lange lauscht er dieser Stimme, diesen Lauten – so lange, bis es ihm endlich dünkt, als hätten dieselben sich zu musikalischen Motiven in seinem Innern gestaltet. [...] So wäre, nachdem Herr Brahms es unterlassen, zum besseren Verständnis seiner Symphonien ein Programm vorauszuschicken, für ein solches Sorge getragen.910
Und für Friedrich Nietzsche besaß Brahms „die Melancholie des Unvermögens; er schafft nicht aus der Fülle, der durstet nach der Fülle. [...] er ist Meister in der Copie –, so bleibt als sein Eigenstes die Sehnsucht [...]. In Sonderheit ist er der Musiker einer Art unbefriedigter Frauen.“911 In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass in den oben besprochenen Briefwechseln mit Joseph Joachim, Clara Schumann, Theodor Billroth und dem Ehepaar Herzogenberg an keiner Stelle die Musik von Brahms als weiblich beschrieben wurde. Dafür hefteten die BriefschreiberInnen anderen Personen des musikalischen Lebens das Etikett weiblich in kritischer und zuweilen abwertender Weise an. Theodor Billroth etwa schrieb über den gemeinsamen Freund Eduard Hanslick: „Er [Hanslick] besitzt außerdem die charakteristische weibliche Eigenschaft, nie legato spielen zu können.“912 Hier war es eine fehlende musikalische Fertigkeit, die als typisch weiblich kritisiert wird, während Elisabeth von Herzogenberg eine Musikkritik von Louis Ehlert über Johannes Brahms in den negativen Dunstkreis einer ‚Frauenzimmer‘-Arbeit brachte: Ist das eine seichte, kokette, hohle Art, über Produktion zu reden! Welch ein Linksliegenlassen der eigentlichen Aufgabe und ein billiges Sichabfinden mit geistreich sein wollenden Aperçus und Vergleichen! [...] Sagen Sie mir nur, haben die ‚Frauenzimmer‘ solches Unheil in der Welt gestiftet, oder reden die Männer aus eigenem Triebe solche Fadheiten?913
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Dömke: [ohne Titel], Morgenblatt Nr. 1479, vom 10.4.1884, S. 1–4. Hofmann/Hofmann: Über Brahms, S. 98. Hofmann/Hofmann: Über Brahms, S. 117, Hervorhebung im Original. Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 403. Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 120 (Brief vom 11.7.1880 über den Aufsatz von Louis Ehlert im Juniheft der Deutschen Rundschau).
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Nach einem erfolgreichen Konzert im Gewandhaus am 15.3.1882, in dem der dritte Satz der 4. Sinfonie op. 98 mit großem Jubel gefeiert wurde, fragte sie sich in einem Brief an Brahms, ob das begeisterte Publikum aus den gleichen Leuten bestand, die sonst seine Werke auszischten: „Aber es waren eben nicht dieselben, nicht diese furchtbare weibliche, kaum konfirmierte, prüde, langweilige Übermacht wie sonst; viel frische neue, wirklich zuhörende Gesichter [...].“914 Vergleicht man die positiven Konnotationen des Männlichkeits- mit denen des Weiblichkeitstopos, dann wird die polare Entgegensetzung deutlich. Männlichkeit steht für Originalität, Rationalität, Kraft und Energie, Weiblichkeit für Angepasstheit, Langeweile, Epigonalität, Inkompetenz und Oberflächlichkeit. Damit wurden Kompositionen, musikalische Fertigkeiten, das Schreiben über Musik, aber auch das rezipierende Publikum charakterisiert. Von Hörerinnen – und dabei noch „unbefriedigten“ – rezipiert und bevorzugt zu werden, zeugte im Sinne von Nietzsche von der qualitativen Schwäche der Komposition.915 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die billrothsche Beschreibung der Reaktionen des weiblichen Publikums während der Probe zur Erstaufführung der 1. Sinfonie, mit der er die (zu) große Emotionalität der Alphorn-Melodie zu charakterisieren versuchte. Bei Elisabeth von Herzogenberg bleibt unklar, ob sich die langweilige Publikumsübermacht nur aus Hörerinnen zusammensetzt oder ob sie mit dem Attribut weiblich nicht vielmehr eine oberflächliche, uninteressierte und unsensible Rezeptionshaltung meinte, die sowohl für männliche als auch für weibliche Zuhörende zutreffen kann. Mit ihrer Kritik an einem ungebildeten und oberflächlichen Publikum stand sie aber nicht alleine. Dem Problem wollte man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Konzertführer und Werkbesprechungen begegnen, mit denen auch den musikalischen Laien der Nachvollzug und das Verständnis der Musik nahe gebracht werden sollten. 6.2.2
Biographien und Konzertführer: Kretzschmar, Kalbeck und KollegInnen
Konzertführer und Biographien mit Werkbesprechungen sind im Gegensatz zu Musik- und Konzertkritiken von einem stärkeren pädagogischen oder bildungspolitischen Interesse geprägt. So ist vielen AutorInnen von Biographien der Wunsch gemeinsam, über das Leben zu informieren und in die Werke des jeweiligen Komponisten bzw. der jeweiligen Komponistin einzuführen, während die Verfasser der Konzertführer die LeserInnen auf ein Konzert vorbereiten wollen. Ziel ist es, das Verständnis für die Musik zu vertiefen und dem Publikum die
914 915
Brahms: Briefwechsel mit H. u. E. von Herzogenberg, Bd. 1, S. 172. Vgl. Kapitel 6.1.2.
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Kenntnisse zu vermitteln, die für den hörenden Nachvollzug der Musik im Konzert von Bedeutung sind. Schon zu Lebzeiten von Brahms erschienen Biographien und Werkbesprechungen, die den Werdegang des Künstlers schilderten und seine bis dahin erschienen Werke besprachen. Bereits 1875 veröffentlichte die Musikschriftstellerin La Mara916 den dritten Band ihrer Musikalischen Studienköpfe, in dem sie laut Titel eine „Charakterstudie“ von Komponisten der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart gab, darunter auch Brahms.917 Neben der englischen Pianistin Florence May918, der Klavierlehrerin Anna Morsch919 und der Liszt-Schülerin Lina Ramann, die zwischen 1880 und 1894 eine mehrbändige Liszt-Biographie920 veröffentlichte, war La Mara eine der wenigen Musikschriftstellerinnen im 19. Jahrhundert. Ihre Brahms-Studie und die Brahms-Biographie von Florence May können als Quellen einer Musikrezeption von Frauen im 19. Jahrhundert herangezogen und mit ausgewählten Beispielen und Ausschnitten aus Biographien bzw. Werkbesprechungen von männlichen Musikschriftstellern aus der Zeit bis 1907 verglichen werden. La Mara benutzte in ihrer Studie über Brahms ähnliche Begriffe, Formulierungen und Metaphern, wie sie schon in den Briefwechseln und in den Konzertkritiken festgestellt wurden. So schrieb sie beispielsweise zur Klaviersonate op. 1 in C-Dur: „Eine kühne, gewaltige Sprache redet der junge Geist, wie sie an Beethoven erinnert; [...] Noch ungebändigt ergießt sich der Strom der Leidenschaft, ein starkes,
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917 918 919 920
La Mara ist das Pseudonym der Musikschriftstellerin Marie Lipsius (1837–1927). Sie verfasste zahlreiche Artikel und Bücher, u. a. Studien über Schumann, Liszt und Chopin. Ihre Musikalischen Studienköpfe erschienen ab 1868 in Leipzig, dann in einer erweiterten Auflage 1875 bis 1882, die zahlreiche Wiederauflagen und Einzeldrucke erlebte (vgl. Deaville: Writing Liszt). La Mara: Musikalische Studienköpfe, 3. Florence May (1845–1923) war Schülerin von Clara Schumann und Johannes Brahms. Ihre zweibändige Brahms-Biographie erschien 1905 in London unter dem Titel The life of Johannes Brahms, die deutsche Übersetzung 1911 in Leipzig. Anna Morsch (1841–1916) veröffentlichte u. a. Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart (Berlin 1893) und Der italienische Kirchengesang bis Palestrina. Zehn Vorträge (Berlin 1887). Lina Ramann (1833–1912) verfasste zahlreiche Aufsätze in der Neuen Zeitschrift für Musik und veröffentlichte neben der Liszt-Biographie u. a. eine Studie über Liszts Christus-Oratorium (Leipzig 1881) (vgl. Rieger: Ramann; Deaville: Writing Liszt). Die Liszt-Biographie von Ramann steht nicht im Untersuchungsfokus, dennoch zeigt ein kursorischer Blick, dass Ramann häufig auf den Männlichkeitstopos zurückgreift, um die Persönlichkeit und die Musik von Liszt zu charakterisieren. Beispielsweise zeige schon der 14jährige Liszt eine „männliche Reife in Sachen der Kunst“ (Ramann: Franz Liszt, Bd. 1, S. 78). Die Festklänge Nr. 7 „beginnen mit Fanfaren. Sie sind gleichsam ihr Leitmotiv. [...] Das Gepräge des Heroischen [...] bleibt dem ganzen Werk zu eigen. Zwei Hauptthemen treten aus demselben hervor“, wovon das erste Thema „entschieden männlichen Charakter“ besitze (ebd., Bd. 2, S. 310f).
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fast übermäßiges Kraftgefühl macht sich geltend, eine Freiheit des Gestaltens [...].“921 Der Verweis auf Beethoven, Adjektive wie kühn, gewaltig, ungebändigt, stark und Begriffe wie Leidenschaft, Kraftgefühl, Freiheit deuten auf einen männlich konnotierten Bedeutungsgehalt hin, ohne dass dieser genannt wird. In ihrer poetischen Ausdeutung des ersten Klavierkonzert op. 15 griff sie auf ähnliche Formulierungen zurück.Das Klavierkonzert erhebe sich „als eine düstere Nachtgestalt, ein Gemälde voll entfesselter Leidenschaft und verzweifelten Kampfes um Sein und Nichtsein. In wilden Schmerzensrufen macht sich die gequälte Seele Luft; graus und schauerlich tönt ihr Gesang, rührend, wie unter der Last heimlicher Tränen, hinwiederum ihre leise Klage.“922 Dann argumentiert sie aus pianistischer Sicht, dass das Klavierkonzert „von Rechts wegen kein Konzert für Frauenhände“ sei, dass „nur die stärksten Spieler [...] ihm geistig und technisch beikommen [können]“923 und dass Brahms’ Klavierstil „der Männlichkeit und Kraft seines Spiels wie seines Schaffens“924 entspreche. Damit greift sie auf den Begriff der Männlichkeit (in Kombination mit Kraft) zurück, um den Klavierstil, die pianistischen Fertigkeiten und die kompositorischen Werke, kurz den ganzen Künstler Brahms mit diesem ‚Gütesiegel‘ auszuzeichnen. An keiner anderen Stelle ihrer Studie benutzte sie den Begriff der Männlichkeit erneut; aber auch ohne ihn explizit anzuführen, bewegte sie sich in diesem semantischen Bedeutungsfeld. Dazu zwei Beispiele: Der Charakter der 1. Sinfonie op. 68 „ist tragisches Pathos. Faustisches Ringen und Kämpfen führt in großartiger Steigerung zum jubelnden Triumphe. Als ihr leibhaftiger Gegensatz“ gelte die 2. Sinfonie op. 73, die „ungleich schlanker geformte“, voll duftiger Romantik. „Selbstbewußte Kraft eines mit sich und dem Schicksal zu Einklang Gelangten ist das Wesen der dritten, F-dur op. 90“, während die 4. Sinfonie op. 98 ganz „in Gefühlsschwere getaucht“ sei.“925 Wieder wird die mythologische Faust-Figur herangezogen, um den Charakter der Musik (op. 68) zu beschreiben, wieder wird Musik als Schicksalskampf eines (männlichen) Individuums aufgefasst. Wie schrieb nun die Brahms-Schülerin Florence May über dessen Musik? Welche Begriffs- und Bedeutungsfelder setzte sie ein, um den Gehalt der Musik zu verbalisieren? Anhand ihrer Ausführungen zum ersten Klavierkonzert und zu den Sinfonien soll der Vergleich mit dem Schreibstil von La Mara erfolgen. May schrieb zum ersten Satz des 1. Klavierkonzerts:
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La Mara: Brahms, S. 16f. La Mara: Brahms, S. 22f. Als Pianistinnen, die diesem Werk gewachsen seien, nannte sie Clara Schumann, Mary Krebs und Wilhelmine Clauß-Szarvady. La Mara: Brahms, S. 24. La Mara: Brahms, S. 41.
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Die Macht der Phantasie dieses Satzes ist kolossal. Er hat etwas Miltonsches in seiner Eigenart und führt die Gedanken an Rätsel – überwältigender und umfassender als die Tragödie von Schumanns Schicksal, mit der wir ihn in Zusammenhang bringen müssen.926
Zum einen klingt für sie das Schicksal von Robert Schumann, sein Suizidversuch und sein psychischer wie körperlicher Verfall in der Endenicher Heilanstalt an, also eine biographische Bezugnahme, die sie der Musik unterlegt, zum anderen führt die Musik über das konkrete Einzelschicksal hinaus, weil Größeres, Allgemeingültigeres ausgedrückt werde. Um dies zu präzisieren, nennt sie den berühmten englischen Dichter und Staatsphilosophen John Milton: also keinen deutschen Faust oder eine Figur der griechischen Mythologie, sondern eine historische Persönlichkeit, nämlich den nach Shakespeare bedeutendsten Dichter Englands. Was May möglicherweise mit der „Miltonschen Eigenart“ gemeint hat, erschließt sich aus dem Artikel über englische Literatur im Meyerschen Konversationslexikon, in dem Milton als „der einsame Riese“ bezeichnet wird, der die edle Seite des Puritanertums repräsentiere: Die Unsterblichkeit seines dichterischen Namens knüpft sich an das Hauptwerk seines Lebens, das Epos ‚The Paradise lost‘ (begonnen 1655, vollendet 1665). Milton hat in diesem Epos die störende Sklaverei des Reims abgeschüttelt, es bedurfte auch keiner bestechenden Form; denn an Größe, Erhabenheit, Schönheit der Beschreibung, Reichtum der Phantasie und Kraft des Ausdrucks wird es von wenigen übertroffen.927
Zur 1. Sinfonie op. 68 von Brahms schrieb Florence May: Die schrillen Dissonanzfolgen des Einleitungssatzes versetzen den Hörer sofort in die Atmosphäre der ernsten Größe, der Leidenschaft, des Mysteriums, die nicht dieses oder jenes Menschenleben, sondern das Dasein selbst umgibt, wie es der menschliche Verstand als solches begreift; und das Allegro, zu dem er führt, scheint der Verfasserin eine so nahe Analogie mit den Naturprozessen zu bieten, als sie die Kunst überhaupt zu erreichen vermag: aufgebaut – das erste und das zweite Thema und deren Bearbeitung – aus wenigen Noten, [...] aus Keimen, die erschaffen und umgeschaffen, geformt und umgeformt werden und sich zu einem großen organischen Ganzen entwickeln, von edler, lebendiger Melodie beseelt. [...] aber der Ton der Tragödie wird bei den ersten Klängen des wundervollen Adagios [Einleitung des vierten Satzes] wieder aufgenommen, [...]. Hier wächst [...] die Spannung des Gefühls, bis es endlich scheint, als hinge das Schicksal selbst in der Schwebe; dann [...] schlägt das Horn [...] an und, seinen seltsam leidenschaftlichen Ruf festhaltend, zerstreut es allmählich die Nebel des Zweifels und des Bangens, die den Hörer befangen hielten, und führt ihn hinauf zur erhabenen Freude, die das letzte Allegro durchflutet.928
926 927 928
May: Brahms I, S. 226. Meyers Konversationslexikon, Bd. 5, S. 647; http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=105057 [15.09.2009]. May: Brahms II, S. 163f.
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An einer späteren Stelle fasste sie die Eigenschaften der 1. Sinfonie noch einmal zusammen: „Natur des Epos“, „leidenschaftliche Intensität des Gefühls“, Erhabenheit im Schmerz und in der Freude sowie das Freudenthema des vierten Satzes, das nach Bekämpfung des Schmerzes „noch mit dem Pathos einer vergangenen Tragödie zu berühren scheint.“929 May hält ihre Beschreibung in Bezug auf eine exakte Gender-Benennung offen, es geht um die Menschheit, das Dasein schlechthin. Wer der Held oder die Heldin der erzählten Tragödie ist, gibt sie nicht preis, jede und jeder kann sich angesprochen fühlen. Ein zweiter Aspekt verdient noch Beachtung: May spricht von einer Analogie zu „Naturprozessen“ und von Keimen, die sich organisch entwickeln. Hierin sehe ich eine Nähe zu den Beschreibungen von Clara Schumann, die die Musik von Brahms mit rankenden Pflanzen, Schlinggewächsen und Naturerlebnissen verglichen hat. Beide Musikerinnen assoziieren musikalische Entwicklungen mit organischen Wachstumsprozessen. Für die 2. Sinfonie op. 73 wählte May Begriffe wie „ruhige Heiterkeit der Stimmung“ und „ein Idyll“, das durch den Geist reinen Glückes und sanfter, zarter Anmut belebt“ werde.930 Demgegenüber sei die 3. Sinfonie op. 90 leichter aufzufassen als die erste, sie besitze einen weiteren Horizont als die zweite: „Sie ist von wesentlich objektivem Charakter und gehört durchaus dem Gebiet absoluter Musik an.“931 Bei der 4. Sinfonie op. 98 enthält sich May eines eigenen Urteils, sie lässt den Musikkritiker des Hamburger Correspondenten, Joseph Sittard, über die Aufführung der Sinfonie in Hamburg (9.4.1885) sprechen: Kraft, Leidenschaft, Gedankentiefe, höchster Adel der Melodie und der Form sind die Eigenschaften, welche seinen [Brahms’] Schöpfungen die künstlerische Signatur geben. [...] Aber je öfter wir die Symphonie hörten, desto mehr enthüllten sich uns die großen Schönheiten, die Tiefe, Energie und männliche Kraft der Gedanken, die stets übersichtlich klare Form.932
Florence May griff in ihrer Darstellung des 1. Klavierkonzertes und der Sinfonien nicht selber auf das Adjektiv männlich zurück, aber sie wählte zur Erläuterung der 4. Sinfonie eine zeitgenössische Konzertkritik aus, die explizit von Männlichkeit sprach und die Begriffe aus dem männlich konnotierten Ideenkreis (Kraft, Leidenschaft, Gedankentiefe, höchster Adel, Tiefe, Energie, Klarheit, Schönheit) verwendete. La Mara knüpfte hingegen stärker an die Begriffe und Metaphern des öffentlichen Musikdiskurses an, sie schrieb als Autorin im von Männern dominierten Diskurs über Musik mit und benutzte, vielleicht um im Diskurs wahr- und ernstgenommen zu werden, genderkonnotierte Begriffe, Metaphern, Assoziationen,
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May: Brahms II, S. 179. May: Brahms II, S. 179. May: Brahms II, S. 223. Zit. nach May: Brahms II, S. 232f.
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Literarisierungen und Personifizierungen. Bei Florence May ist festzustellen, dass auch sie den Diskurs bediente, dass aber ihre – so meine Vermutung – im englischen Kulturkreis erfolgte Enkulturation eigene, individuelle Assoziationen bedingte. Beide Musikschriftstellerinnen waren im männlich geprägten öffentlichen Diskurs über Musik eingebunden, sie schrieben so – ebenso wie ihre männlichen Kollegen – an der im 19. Jahrhundert einsetzenden Heroen-Musikgeschichtsschreibung mit.933 Jedoch ist besonders die Biographie von Florence May in der Wahl ihrer sprachlichen Mittel und Genderkonnotationen weniger offensiv als ihre schreibenden Kollegen, wie ein Vergleich mit Werkbesprechungen aus Biographien und Konzertführern von Musikjournalisten und Musikwissenschaftlern belegen soll. Beginnen möchte ich die Reihe der Belege mit der 1880 erschienenen Abhandlung von Louis Köhler. In seiner 47 Seiten umfassenden Schrift Johannes Brahms und seine Stellung in der Musikgeschichte versuchte Köhler eine erste Einordnung der brahmsschen Musik; Maßstab der Einordnung war selbstverständlich Ludwig van Beethoven. War die Musik in Haydn das naive Kind, in Mozart ein geistig höher gestellter Jüngling, so ist in Beethoven der denkende, das Ganze um sich her aufnehmende Mann, der in seinen späten Werken als Philosoph und Seher empfindend schafft, zu erkennen. Dem Manne stand die weibliche Natur Franz Schuberts zur Seite, wie dem Epos die Lyrik. Mendelssohn, der Moderne, langte in die ältere classische Vergangenheit Händel-Bachs zurück; gleichzeitig griff Schumann voraus in die werdende neue Zeit. – So wird man denn auch die Brücke Brahms von Beethoven zu Schumann oder von Diesem zu Jenem hinüber nicht als Luftgebilde eines Einzelnen, sondern als das natürlich-solide Bauwerk historischer Fügung erkennen.934 Diese Art hohen ‚Weltschmerzes‘ ohne alle kleinliche Schmerzelei in Sentimentalität ist ein Stoff, der durch Beethoven zum ersten Male in die reine Instrumentalmusik gedrungen ist: im Banne des Irdischen gefangen, strebt das Individuum mit seinem schweifenden Wünschen in die Unendlichkeit. Diese von der Menschheit ganzem Jammer angefasste Faust’sche Seele und deren Sehnsucht nach Weltharmonie wurde erst durch Beethoven Musik, indem er die Weltdissonanz innerlichst durchlitt und bis zur Weltconsonanz durchlebte – in der Neunten.935
Ebenfalls im Jahr 1880 erschien in der Sammlung Musikalischer Vorträge ein Aufsatz von Hermann Deiters, der 1898 durch einen zweiten Teil ergänzt wurde. Deiters verglich darin die beiden Streichquartette op. 51 und brachte den Unterschied zwischen den beiden Quartetten wie folgt auf den Punkt:
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Zur Beteiligung von Frauen am beginnenden wissenschaftlichen Musikdiskurs des 19. Jahrhunderts vgl. Deaville: Writing Liszt. Köhler: Brahms, S. 35f, Hervorhebung im Original. Köhler: Brahms, S. 41f.
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Dem männlich ernsten, düstern Ringen dieses eigenthümlichen Tongemäldes [Nr. 1 cMoll] tritt in dem A-moll-Quartette weiblich weiche, schmerzliche Klage und Bitte gegenüber, welche im ersten Satze in dem einfachen, doch kunstvoll verarbeiteten Hauptthema und dem rührend bittenden zweiten tief gesättigten Ausdruck findet.936
18 Jahre später schrieb Deiters im zweiten Teil seiner Brahms-Abhandlung über das Streichquintett G-Dur op. 111: es athmet Stolz und feste Männlichkeit, die uns schon in den ersten kraftathmenden Gängen des Violoncells umfängt; siegesgewiß setzt der Meister den Fuß wie auf erobertes Gebiet und zwingt die Geister seiner Kunst unter sein Gebot.937
1888 erschien die Brahms-Biographie von Bernhard Vogel, der über die zweite Violinsonate op. 100 schrieb: Was früher bei Brahms an die rätselhafte Sphinx erinnerte, die vor sich hinbrütet und den Uneingeweihten in respektvoller Entfernung hält, das ist hier kaum in leisen Spuren mehr anzutreffen; es hat sich die Sphinx mit der Zeit verwandelt in ein schönes, klaräugiges Wesen, dem eine Huldgöttin schützend zur Seite steht. In dieser A-dur-Sonate deuten schon Hinweise über den Einzelsätzen wie ‚amabile‘, ‚tranquillo‘, ‚gracioso‘ auf die Essenz des Werkes hin; mehr weiblich-zarte, als männlich-kühne oder weitausholende Gedankenaussprache ist es, um die es sich hier handelt; aber auch sie entspringt einem Geiste, der nichts gemein hat mit den Modemächten der Gegenwart.938
Eine Studie über Johannes Brahms in seinen Werken mit Verzeichnissen seiner Instrumental- und Vokalkompositionen veröffentlichte Emil Krause im Jahr 1892. Das Streichquintett F-Dur op. 88 sei ein ungemein reiches Werk. Die Einheit der Sätze gründet sich auf den inneren Zusammenhang der gedankenreichen Harmoniefolgen. Klar und bestimmt, mit echt männlichem Bewusstsein, ertönt das einfache Hauptthema des ersten Satzes, aus dem sich der zweite Grundgedanke in A dur (also eine große Terz höher) entwickelt. Dieser Gegensatz ist ungemein wirksam und tritt im Verlaufe des Satzes wiederholt in die engste Beziehung zum Ausgangsthema.939
Ebenfalls 1892 erschien die Brahms-Studie des Musikwissenschaftlers und BachBiographen Philipp Spitta, der einen Überblick über die kompositorische Entwicklung und die stilistischen Eigenheiten von Brahms gab: In den ersten zehn Werken liegen alle Haupteigenschaften der Brahms’schen Musik deutlich erkennbar vor. Die bis zur Rauhheit gehende Männlichkeit, die Abneigung gegen bloße Stimmungsmusik, das herbe Zusammendrängen des melodischen Gehalts, die Lust am organischen Bilden, durch Mittel strengerer Polyphonie zumal, die mit dem freieren Beethoven’schen Stil zu ganz neuen Erscheinungen zusammenwirken. Die
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Deiters: Brahms I, S. 341. Deiters: Brahms II, S. 96. Vogel: Brahms, S. 36. Krause: Brahms, S. 49.
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ernste Grundstimmung und der Drang in die Tiefe, die durch eine edle Verschämtheit verschleierte warme Schönheit des Gefühls. Auch das Widerspruchsvolle: der Trotz, gewaltsam zu verkoppeln, was sich von Natur auszuschließen scheint, und die Laune, organisch-plastische Gliederung als ein höchstes Ziel zu verfolgen, doch aber deren Genuss durch dichtes Kreuz- und Quergeflecht der Gedanken zu erschweren.940
Für das Violinkonzert op. 77 griff Spitta auf Implikationen von Männlichkeit zurück, wenn er schrieb, dass es ein glänzendes Werk „von stolzer männlicher Haltung ist, das allerdings auch ein männliches Solospiel erfordert.“941 Aber seine Betrachtungen der beiden Klavierkonzerte und der vier Sinfonien kommen ohne dezidierten Rückgriff auf Genderkonnotationen aus: Beim 1. Klavierkonzert stelle sich der Eindruck einer „düstern Majestät“ her, die sich zu feierlicher Erhabenheit klärt und erst im letzten Satze der Menschheit freundlicher zulächelt. [...] Die ersten beiden Sinfonien [...] müssen wie ein Paar betrachtet werden, das aus einer und derselben tief verborgenen Wurzel aufgewachsen ist. [...] Der Anfangssatz der ersten steht da wie ein Berg in Wetterwolken und entwickelt sich mit einer furchtbaren Energie [...]. Das Andante ein Bild erhabener Innigkeit und edler Schwärmerei, im Allegretto jene ernste Grazie [...]. Dem Finale geht eine Einleitung vorher voll aufregender Phantastik, gemischt aus wilder Heftigkeit und prachtvollen Feierklängen. [...] Das Gegenbild, die zweite Sinfonie, leuchtet wie heller Frühlingssonnenschein bald in romantischer Waldfrische, bald auf freiem, festem Wanderpfad, bald lieblich schwebende Gestalten umfließend.942
1898, ein Jahr nach Brahms’ Tod, erschienen gleich zwei Biographien, zum einen eine Charakterstudie von Julius Spengel, zum anderen als Band 1 der Reihe Berühmte Musiker die Biographie von Heinrich Reimann, die aufgrund ihres Erfolges 1922 bereits in sechster Auflage vorlag. Spengel gab ähnlich wie Louis Köhler eine allgemeine Einschätzung zum Leben und Werk des Komponisten ab. Johannes Brahms ist, als Mensch betrachtet, in seiner schlichten kraftvoll-herben und doch auch zarten Männlichkeit im Grunde eine einfache, klare Natur. Trotz seines meist verschlossenen, zurückhaltenden Wesens liegt der Charakter offen und leicht verständlich da als der eines kerngesund empfindenden, unbedingt zuverlässigen Mannes.943
Heinrich Reimann wollte mit seiner Biographie, wie er im Vorwort der ersten Auflage mitteilte, „den Freunden und Verehrern des Meisters eine Handreichung zur richtigen Werthschätzung derselben [Werke] sein, und zugleich denen, die Brahms’ Werke noch nicht oder noch nicht genügend kennen, das Verständnis für
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Spitta: Brahms, S. 390f. Spitta: Brahms, S. 423. Spitta: Brahms, S. 425f. Spengel: Brahms, S. 1.
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seine Eigenart erschliessen.“944 Um dieses Ziel zu erreichen, benutzte er häufig genderkonnotierte Metaphern, Vergleiche, Symbole und Personalisierungen. Im 1. Klavierkonzert op. 15 bricht das mächtige, himmelanstürmende Hauptmotiv wie ein Gewittersturm los, ihm tritt ein immer noch herb und streng gehaltenes Gegenthema gegenüber; der zweite Satz ist ein milder und voll klingender, religiöser Gesang und das Finale „im Ausdruck trotzig herausfordernd. Voll kühnen Selbstbewussteins und in Erwartung sicheren Sieges stellt der kampfesmuthige Held seinen Gegner.“945 Zum zweiten Satz des Streichsextetts op. 18: „Die prachtvolle Steigerung des etwas düster gehaltenen, aber von edler, männlicher Empfindung getragenen Themas in den ersten drei Variationen hat ihr Gegengewicht in den beiden folgenden (D-dur), von denen die fünfte in sanften, reizenden Klängen allmählich im pp verhallt.“946 Zum Finale der 1. Sinfonie op. 68: „Das Bild des befreiten Prometheus und des jugendlichen, kraftstrotzenden Herakles [...] bildet wohl die treffendste Parallele zu diesem Meisterstück [...].“947 Zur Tragischen Ouvertüre op. 81: „Ihr liegt keine bestimmte tragische Heldengestalt als programmatischer Vorwurf zu Grunde; sie soll nur die im allgemeinen sich gleichbleibende Grundstimmung der Tragödie (etwa im Sinne eines Aristoteles oder Lessing) wiederspiegeln. Grösse, Erhabenheit, tiefer sittlicher Ernst sind Grundzüge eines tragischen Helden; schwere Verkettungen, die ein unerbittliches Schicksal ihm auferlegt, lassen ihn schuldig werden; die Schuld sühnt der tragische Untergang, der als eine ‚Reinigung der Leidenschaften‘ erschütternd, Furcht und Mitleid erweckend, auf die Menschheit wirkt, dem Helden selbst aber Versöhnung und Erlösung bringt.“948
Max Kalbeck, seit den 1880er Jahren in Wien als Musikkritiker tätig und dem engeren Brahms-Kreis zugehörend, legte 1903/04 den ersten Band seiner monumentalen Brahms-Biographie vor, die weiteren Bände folgten 1908/09, 1910/12 und 1914. Sie stellen den krönenden Abschluss einer ersten Phase der BiographieAufarbeitung und Werkinterpretation dar. Einen ebensolchen Höhepunkt bedeutet Kalbecks Biographie im Ausmaß einer genderkonnotierten Ausdeutung der Musik von Brahms. Kalbeck nahm im Zusammenhang seiner Deutung der 3. Sinfonie op. 90 Stellung zu der Frage nach der Berechtigung seiner Interpretationen und erklärte, daß wir nur Gegner poetisierender Musik sind, die uns ein Programm aufzwingen will, im Gegensatz zur poetischen, die uns eins ablockt. Es kommt nicht [...]darauf an, was der Komponist sich bei einem [...] Werke ‚gedacht‘ hat (meist wohl sehr wenig!), als
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Reimann: Brahms, Vorwort zur ersten Auflage. Reimann: Brahms, S. 26. Reimann: Brahms, S. 28. Reimann: Brahms, S. 61. Reimann: Brahms, S. 62f.
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vielmehr auf die Empfindungen und Vorstellungen, die sein Werk in den Zuhörern erregt.949
Interessanterweise spricht Kalbeck den Komponistenintentionen einen geringen Stellenwert zu – er unterstellt sogar, dass der Komponist im Kompositionsprozess eher wenig (poetisch-assoziativ) gedacht haben könnte. Wichtiger ist ihm die poetische Wirkung der Musik in der rezipierenden Person. Er gibt der poetischen Musik den Vorzug, die – mit dem Begriff der Narrativitätsforschung – „narrative Impulse“950 auslösen und Assoziationen ermöglichen kann. Dahingegen lehnte Kalbeck Musik ab, die diese Deutungen schon mitliefert, also programmatische oder – wie Kalbeck sie nennt – poetisierende Musik. Es war demzufolge auch nicht das Ziel seiner Interpretationen, die Komponistenintention aufzuspüren. Auf diesem Hintergrund bietet Kalbeck in seiner Brahms-Biographie zahlreiche ausführliche poetische Interpretationen an. Der erste Satz der 3. Sinfonie op. 90 löste folgende Deutungen bei ihm aus: Das Eröffnungsmotiv zu Beginn locke „den Helden aus dem Märchenwald der Romantik ins Leben zu Spiel und Kampf“, auf seinem abenteuerlichem Weg begegne ihm eine gefällige Schöne, die jedes Männerherz erobert! Sie scheint ganz Einfalt, ganz Unschuld, ganz Natur, [...]. Seht nur, wie sie tänzelt und schwänzelt, wie sie sich wendet und dreht und bei jeder anmutigen Bewegung ihrem biegsamen Körper neue Reize abgewinnt! [...] In dem meisterhaft gezeichneten weiblichen Porträt finden wir die Merkmale des Gattungscharakters, das Weib schlechthin. Der Gynäkophile [sic] wird es adorieren, der Misogyne die beleidigende Frage stellen, ob die holde Schäferin nicht etwa ein verkleidetes, mit Heugeruch parfümiertes Stadtfräulein sei, [...] Die reizende Verführerin braucht nur mit dem kurzen Röckchen zu schwenken, und der verliebte Tor ist von ihren Knixen so bezaubert [...].951
Kalbeck schilderte weiter, wie der verliebte Tor gerade noch rechtzeitig an einer Verehelichung mit der gerissenen Verführerin gehindert wird: „Die Wunde seines Herzens schließt sich. Idealere Freuden ziehen bei ihm ein.“952 Kalbeck interpretierte demnach den ersten Satz gemäß den Kriterien des narrativen Ablaufs einer genderkonnotierten Themenkonstellation der Sonatensatzform und thematisierte die Gefährdung der männlichen Identität durch die Verführungskünste einer Frau. Seine Interpretation ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie narrative Inhalte, die auf der ausgeprägten Geschlechtertypologie des 19. Jahrhunderts basieren, auf absolute Musik übertragen werden: Es ist der Sieg des HeroischMännlichen über das Verführerisch-Weibliche – also ein „Geschlechterkampf in
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Kalbeck: Brahms III, S. 413. Nattiez: Music and discourse, S. 127f. Kalbeck: Brahms III, S. 387–390. Kalbeck: Brahms III, S. 393.
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Tönen“953. Weitere Beispiele unterstreichen den musikalischen Geschlechterkampf. Über das Hauptthema des ersten Satzes der 4. Sinfonie op. 98 schrieb Kalbeck: Sie neigt sich und beugt sich und winkt mit blühenden Armen, halb Zauberspuk, halb Wirklichkeit, abgedämpft von einem dünnen Nebelschleier, ein Phantom, das Mächtigere angelockt, verführt und betrogen hat als einen fahrenden Poeten und verträumten Poeten. Wie wollen wir sie nennen? Sirene?954 [...] Die gefährlichsten Sirenen aber schwimmen weder auf dem Wasser noch sitzen sie am Strande, sondern nisten in der eigenen Brust. [...] Bekräftigend erkennt das Tutti des Orchesters die Macht dieses Eroberermotivs an. So ritterlich mutig, so heldenhaft entschlossen sprengte noch jeder Werber einher, der den Siegerwillen in der Mannesbrust fühlte.955 [...] Immer tiefer will ihn die schöne Nixe einspinnen, um ihm das Blut aus den Adern zu trinken, das Mark aus den Knochen zu saugen.956
In der Coda kommt es zur Entscheidung: „Furchtbar gerüstet tritt das Hauptthema [Frau/Nixe] dem Heldenmotiv [2. Thema] gegenüber und streckt es mit wuchtigen Schlägen zu Boden.“957 Mythologische Figuren finden sich auch in allen anderen Sätzen der Sinfonie: Helena, Cäcilia Metella oder eine edle Römerin im zweiten Satz; Faschingstreiben im dritten Satz, in dem Arlecchino seine Colombina sucht; im Finale feiere Brahms „den Würgengel als den Herrn und Meister einer Weltuntergangstragödie [...]. Brand und Mord, Krieg und Pestilenz, Springflut und Erdbeben haben ihm das Thema zu den Variationen des riesigen Passacaglio eingegeben.“958 Die Variationen stellen Bilder des Totentanzes dar, ihre Figuren sind Vertreter der Menschheit: in der elften Variation „tritt aus dem chorischen Reigen die schüchterne liebliche Mädchengestalt“959 hervor. Zur Cellosonate Nr. 2 in F-Dur op. 99 heißt es bei Kalbeck: „Aber der Kampf ist das Element seines Lebens; [...] es macht ihm Freude, dem Gegner die Stirn zu bieten.“ Im Adagio wogt ein Meer von Wohllaut. Sinneberückende Liebesklänge [...] wechseln mit Tönen dunkler Klage ab, der Tenorbariton des Violoncells singt von den erschütternden Erlebnissen einer Mannesseele, die zu stolz ist, um einer unwürdigen Leidenschaft nachzugeben. Dann tauchen wieder beide Instrumente in den lockenden Abgrund süßer Klänge unter, aus welchem es mit schimmernden Nixenarmen heraufwinkt.960
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Hoffmann: Geschlechterkampf. Kalbeck: Brahms III, S. 461f. Kalbeck: Brahms III, S. 464/466. Kalbeck: Brahms III, S. 467. Kalbeck: Brahms III, S. 468. Kalbeck: Brahms III, S. 476f. Kalbeck: Brahms III, S. 481. Kalbeck, Brahms IV, S. 34.
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Die Ballade g-Moll, Nr. 3 der Klavierstücke op. 118 wird folgendermaßen gedeutet: „Sein Held scheint gewohnt, den unbändigen und unbeugsamen männlichen Willen, der keine höhere Macht anerkennt, zu thyrannischer Willkür zu versteifen und zu verhärten.“ Ihm antwortet „ein leiser Mahnruf wie die beschwichtigende Stimme eines liebenden Weibes: [Notenbeispiel] Er steigert sich zu der flehentlichen Bitte [Notenbeispiel] und wächst mahnend und beschwörend an. Aber der Mann beharrt auf seinem finsteren Trotze.“961 Nicht immer schilderte Kalbeck einen Geschlechterkampf, aber in seinen poetischen Ausdeutungen finden sich immer wieder Anspielungen auf das Verhältnis der Geschlechter oder männlich und weibliche Personifikationen realer oder mythologischer Figuren. So spiegelte für Kalbeck das 1. Klavierkonzert op. 15 die tragische Entwicklung im Hause Schumanns wider und „stellt ein Seelenbild der von Brahms schaudernd miterlebten Katastrophe“962 dar. Die Beispiele zur Ballade Nr. 3 (op. 118) und der 2. Cellosonate zeigen überdies, dass Kalbeck seine ‚Geschlechterkämpfe‘ nicht auf die großen Gattungen beschränkte, Kammer- und Klaviermusik werden ebenso zum ‚Kampfplatz der Geschlechter‘ wie die repräsentativen großen Gattungen. Nur wenige Werke von Brahms fasste Kalbeck als weiblich auf. So wie Hermann Deiters den Unterschied der beiden Streichquintette op. 51 als männlich-weiblichen Gegensatz beschrieb, so verglich Kalbeck die beiden Serenaden (op. 11 D-Dur/op. 16 A-Dur) von Brahms. Die Serenade in ADur besitzt einen weiblichen Charakter. Ihr eignet die weichere und abgerundetere Form, das blühende Kolorit und die tiefere Seele. Von dem knabenhaften Trotz und Mutwillen der burschikosen Renommier- und Randaliersucht à la Florestan, von der starkknochigen Unbändigkeit des Bruders ist nichts in ihr zu finden. [...] Erkennen wir in dem durchaus vollendeten Werk die Krone und das Meisterstück der (damaligen) Brahmsschen Instrumental-Schöpfung, so erlauben wir uns die Analogie mit der Erschaffung des Weibes noch weiter auszudehnen und darauf hinzu weisen, daß der Instrumentalkörper des Werkes aus dem Anfange des Adagios der D-dur-Serenade entstanden sein mag, wie Eva aus der Rippe Adams.963
Vorläufiges Fazit: Kalbecks Deutungen der brahmsschen Musik gewähren einen tiefen Einblick in sein individuelles Denken und Fühlen, das die Wahrnehmung und das Verstehen von Musik maßgeblich beeinflusst und das trotz aller Individualität in die Ideen des Geschlechterdiskurses der Jahrhundertwende eingebunden war: Der Mann ist der (tragische) Held, der seinen Lebensauftrag zu erfüllen hat und sich nicht den verführerischen Verlockungen der Frau hingeben darf. Er ist stark, leidenschaftlich, unbeugsam, stolz, kämpferisch, zuweilen auch tyrannisch,
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Kalbeck: Brahms IV, S. 295f. Kalbeck: Brahms I, S. 166. Kalbeck: Brahms I, S. 369f.
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trotzig und mutwillig. Dagegen nutzt die Frau ihre körperlichen Reize, um ihn zu verführen und von seinem rechten Weg abzubringen, oder sie ist das besänftigende, liebende Weib, das zarte, weiche, beseelte Wesen an seiner Seite. Ähnlich wie die Brahms-Biographie von Max Kalbeck einen ersten Abschluss und Höhepunkt der Biographik darstellt, kann der Führer durch den Konzertsaal von Hermann Kretzschmar als erster Höhepunkt der Konzertführer-Literatur angesehen werden. Kretzschmar veröffentlichte zwischen 1887 und 1890 sein mehrbändiges Werk, das für die historische Rezeptionsforschung eine zentrale Quelle darstellt. Mit seinem Konzept verfolgte er die Absicht, auch musikalische Laien auf einen Konzertbesuch vorzubereiten. Mittel dieser Vorbereitung sollte eine hermeneutische Analyse der Musik sein. Deren Aufgabe bestand darin, „den Leser zum geistigen Verständnis der Komposition zu verhelfen“964, da immer häufiger das Publikum der im Konzert aufgeführten Instrumentalmusik nicht mehr folgen könne. „In seiner hermeneutischen Praxis ging es ihm [Kretzschmar] dementsprechend darum, den von einer Komposition zum Ausdruck gebrachten ‚abstrakten‘ Gefühlsverlauf in spontan assoziierten Bildern zu konkretisieren, um ihn dem ungeschulten Hörer mit Hilfe einer schriftlich fixierten Konkretisierung zugänglich zu machen.“965 Das Bedürfnis des Publikums nach ‚Übersetzung‘ der musikalischen Formverläufe und der in ihnen sich entfaltenden abstrakten Gefühle in konkrete, leicht verstehbare Bilder, Geschichten und Assoziationen scheint groß gewesen zu sein, denn der Konzertführer fand regen Absatz und erschien bereits 1921 in 6. Auflage. Seine als Konzertvorbereitung gedachten hermeneutischen Interpretationen wurden so „zum institutionellen Bestandteil öffentlicher Musikrezeption [...] und dürften [...] deshalb zur Fixierung des assoziativen Hörens beigetragen haben, das heißt zur Festlegung des Hörers auf bestimmte Bild-Assoziationen.“966 Anhand der hermeneutischen Analyse der vier Brahms-Sinfonien kann gezeigt werden, wie Kretzschmar das geistige Verständnis absoluter Musik zu erreichen versuchte und welche Rolle genderkonnotierte Interpretationen spielten. •
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Das erste Thema der 1. Sinfonie besitze einen verzweifelten Ton der Kampfesstimmung, es zeige dämonische Szenen voller Energie, Kraft und Schärfe, wohingegen das 2. Thema, klagend und sehnsuchtsvoll, den Stempel der Naturwahrheit trage. In der Durchführung walten leise und halb verborgen ernste Gedanken und Übersinnliches, gefolgt von Kraft, Frömmigkeit und einem erschreckendsten Ausdruck innerer Empörung. Die Reprise im pathetischen Stil zeige wieder dämonische Mächte, dann folge ein erschöpfter Abbruch mit rührenden Klageme-
Kretzschmar: Anregungen, S. 56. Reimer: Kretzschmars musikalische Hermeneutik, S. 218. Reimer: Kretzschmars musikalische Hermeneutik, S. 221.
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Rezeption und Musikschrifttum lodien, wehmutsvoll und elegisch. Der 2. Satz drücke Trost und Friede suchende Absichten, kindliche Zuversicht aus. Gedämpfte Heiterkeit, Betrübnis und Schmerz prägen den 3. Satz, sein Grundton ist kindlich herzlich, ein Naturklang. Das Finale fällt in die leidenschaftlich trübe Stimmung des ersten Satzes zurück, es ist schwermütig, die Phantasie irrt im dunklen Kreise – dann wie ein friedlicher Himmelsbote erklingt die Hornmelodie, dem ein kräftig freudiger Hymnus folgt: ein großartiges, dramatisch schwungvolles Bild einer Siegesstimmung, welche über alle Hindernisse hinwegschreitend bis zum Jubel anwächst.967 Der Grundton der 2. Sinfonie, der ‚Pastoralsinfonie‘, ist eine vornehme, zuweilen träumerisch und österreichisch gefärbte Heiterkeit. Eine freundliche Landschaft, in welche die untergehende Sonne erhabene und ernste Lichter hineinwirft, zeige der 1. Satz. In der Durchführung komme es zu erregten Bildungen, zu einer Stimmungskrisis mit leidenschaftlichem Aufschrei und Augenblicken der Resignation. Die Reprise schließt mit tiefster Klage und edelster Resignation. Im 2. Satz steigert sich der ungelöst gebliebene Rest pessimistischer Elemente, die Melodie sucht nach einem Ausweg aus dem Trübsinn, aus dem Kampf gegen Verwirrung und Fassungslosigkeit. Endlich erscheint ein freundliches Bild, das die Phantasie in die Jugendzeit, in die glücklichen Tage von Spiel und anmutigem Tanz zurückführt. Leidenschaftliche Stimmung, höchst erregte Ausbrüche des Pessimismus, Grabestöne folgen, Besonnenheit und Resignation schließen den Satz. Ein naiv-herziger Ton, eine schlicht anmutige Melodie, Humor und ungarische Musik sind die Elemente des 3. Satzes. Das Finale versprüht Lebens-Geist, „die behagliche Wirkung des zweiten Themas erhält in einer Reihe von Seitengedanken, patriarchalisch kräftig die einen, in losen Achtelfiguren tändelnd die anderen, nachdrückliche Unterstützung.“ Waldweben und Waldschatten in den Taunusgründen werden laut Hermine Spies in der Durchführung gezeigt, nach einer kurzen Verdunklung wendet sich die Reprise ins Helle und schließt stürmisch freudig.968
Sind explizite Genderkonnotationen in den hermeneutischen Analysen nicht (1. Sinfonie) bzw. kaum enthalten (2. Sinfonie), so hebt sich die Analyse der 3. Sinfonie davon ab. Sie ist wie die Deutung von Max Kalbeck ein Beispiel für den „Geschlechterkampf in Tönen“, denn Kretzschmar hört hier einen Helden, der sich weiblichen Verlockungen erwehren muss. Im Gegensatz zu Kalbeck ist es kein „raffiniertes Stadtmädchen“, das gezielt mit ihren Reizen den Mann einzufangen suchte, sondern es sind gleich mehrere verführerische „Dalila-Gestalten“. Und in seiner Analyse der 4. Sinfonie, die „von alten Zeiten und von dahingesunkenen Geschlechtern“969 erzählt, wird deutlich, dass es sich um Erinnerungen aus Sicht eines männlichen Individuums, handelt, denn das Thema der alten Zeit ist ein
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Kretzschmar: Führer, S. 739–744. Kretzschmar: Führer, S. 744–751. Kretzschmar: Führer, S. 757.
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„Ritterthema“. Beide Analysen werden im Folgenden in einer Kurzversion vorgestellt: •
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Die 3. Sinfonie von Brahms „zeichnet das Bild einer Kraftnatur, die trübe Gedanken und sinnliche Lockungen gleich entschieden abwehrt.“ Das Motto des 1. Satzes, das er als „Heldenmotiv“ bezeichnet, erscheint „als Stimme des Triumphes, des Kampfes, des Spiels und des Scherzes, der Ruhe und des Friedens“, während das Hauptthema kampfeslustig und ungewöhnliche Energie vorspiegelnd auftritt. Das Seitenthema möchte „mit zarten Regungen die kräftigen herkulischen Elemente der Komposition einzuschlummern suchen. Aber vergeblich: es folgen ihnen immer nur kühnere Äußerungen des starken Muts. Die verführerischste in dieser Gruppe von Dalilagestalten ist das zweite Thema“, das sich durch eine fast verwirrende Rhythmik und orientalisch wirkende Begleitung auszeichnet. Im Nachsatz „rafft sich die Stimmung zur Kraft und Entschiedenheit auf, und es kommt nun zu einem kleinen Kampf zwischen den härteren und den weichen Regungen.“ Im Andante der Sinfonie, das Ausdruck seelischen Friedens und einer leidenschaftslosen Haltung sei, ruht der Held „und träumt von der Kinderzeit und vom besseren Leben über den Sternen.“ Im Finale schließlich hat das heroische Element der Sinfonie „die Probe gegen harte und unfreundliche Gegner zu bestehen“ und „wie eine verklärte Erscheinung zeigt sich an der Ausgangsschwelle der Sinfonie noch einmal das heroische Thema des ersten Satzes.“970 Die 4. Sinfonie „ist ein großes Herbstbild, ein geschichtlich stilisiertes Lied von der Vergänglichkeit, eine Komposition über das Thema der menschlichen Nichtigkeit.“971 Das Thema der alten Zeit sieht Kretzschmar in dem sogenannten ‚Ritterthema‘, dem 2. Thema [ab T. 53] des ersten Satzes. Es ist „bald kräftig und gebietend, bald kosend und zärtlich, neckisch und heimlich, bald fern, bald nah, bald eilig, bald sich ruhig ausbreitend“. Am Ende der Durchführung hören wir eine Seele, „die aus der Betrübnis keinen Ausweg weiß.“ Der 2. Satz ist eine Romanze, in der die Ritterbilder des ersten Satzes zusammengedrängt werden. Der 3. Satz zeigt Bilder, die von Kraft und Leben schäumen und durch Näniengedanken unterbrochen werden. Heiterkeit steht neben schauerlichen Regungen. Das stürmische Wesen des Hauptthemas bringt die Ritterbilder wieder, das 2. Thema ist ein Sprössling jenes Ritterthemas, hier in Moll mit einem klagenden Grundton. Daraus ergeben sich Stimmungsgegensätze: „Die Musik jauchzt, sie schreit schmerzlich auf, stöhnt, sinnt liebevoll vor sich hin und versinkt in Brüten und Schweigen.“ Der Schlusssatz schließt die Phantasien und Betrachtungen über Menschenlos und Vergänglichkeit ab. Den Variationen werden unterschiedliche Charakter unterlegt: feierlich – erregte Stimmung – heftige Affekte – Klage – düstere Ideengruppe – haltloser Seelenzustand (Flötensolo) – breit, ruhig, trostvoll und fromm – Requiemgedanken – das Menschliche beugt sich vor dem, was ewig ist – Verzweiflung, wie ein gigantisches Reißen und Rütteln an Ketten – dämo-
Kretzschmar: Führer, S. 751–756. Kretzschmar: Führer, S. 757.
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Rezeption und Musikschrifttum nisch – milder, resigniert, auch hoffnungsvoll – feierliches Ende mit harten und trotzigen Kontrapunkten, „die wie im ‚deutschen Requiem‘ zu fragen scheinen: ‚Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?‘“972
Im Vorwort zur dritten Auflage (1898) seines Führers durch den Konzertsaal erklärte Kretzschmar: „Mein Bestreben ging dahin: anzuregen, ins Innre und Intime der Werke und der Künstlerseele zu führen und womöglich den Zusammenhang mit der Zeit, mit ihren besondren musikalischen Verhältnissen, mit ihren geistigen Strömungen aufzudecken.“973 Kretzschmars hermeneutische Analysen der vier Brahms-Sinfonien zeigen, was er selbst in der Musik wahrnimmt und ihr als Aussage zuschreibt. Es ist sein eigenes „Inneres und Intimes“ und nicht das von Brahms, weil musikalische Bedeutung immer erst im Ohr der RezipientInnen entsteht, dort ist sie existent. Die Verwobenheit in den zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext legen die Interpretationen jedoch offen: Der existentielle Lebenskampf, den Kretzschmar in der 1. Sinfonie schilderte, zeigt Verzweiflung, Klage und Schmerz. Ihn gilt es siegreich zu bestehen. Kretzschmar erinnerte damit an das „per aspera ad astra“, vom Dunkeln zum Licht der beethovenschen Musik (5. Sinfonie). Die Schopenhauersche These vom „Leben als Leiden“ wird zwar in ihrer pessimistischen Grundaussage aufgegriffen, dann aber im 4. Satz der Sinfonie überwunden und in einen Sieg umgewandelt. Auch die 2. Sinfonie legte Kretzschmar in diesem Sinne aus, wenngleich ihre Grundstimmung heiterer und träumerischer sei. Dennoch sprach er von pessimistischen Gedanken, von Resignation und Grabestönen, die jedoch durch positive Bilder (Jugenderinnerungen) gemildert werden. Ihre Extreme und Konflikte erscheinen weniger existentiell, sie sind im Finale einer Behaglichkeit (1. Thema) gewichen, zu der bemerkenswerterweise patriarchalisch-kräftige und tändelnd-leichte Unterstützung (Seitengedanken des 2. Themas) und Naturerlebnisse beigetragen haben. Am Ende siegt die positive Grundstimmung. Ketzschmar interpretierte also die ersten beiden Sinfonien im Sinne einer philosophischen Grundaussage über die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens. Er nahm in seiner Interpretation keine Geschlechtszuweisungen vor, so dass die genannten Stimmungen, Gefühle, Gedanken als allgemein-menschliche aufgefasst werden können, wenngleich im damaligen Verständnis der Mann das AllgemeinMenschliche und die Frau das Besondere repräsentierte. Das änderte sich in seiner Besprechung der 3. und 4. Sinfonie eklatant, denn hier personifizierte er musikalische Motive und Formverläufe mit männlichen und weiblichen ProtagonistInnen. Der dargestellte Kampf ist der Kampf eines Mannes, eines Helden, der sich energisch seinen Aufgaben stellt. Ihm begegnen immer wieder verführerische Ver-
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Kretzschmar: Führer, S. 757–762. Kretzschmar: Führer, S. V.
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lockungen, deren er sich im ersten Satz der 3. Sinfonie erwehren kann. Im zweiten Satz ruht er von diesen Strapazen aus, er erinnert sich seiner Kindheit, sammelt neue Kraft für den bevorstehenden Kampf gegen harte und unfreundliche Gegner im Finale, die nicht weiter spezifiziert werden, während die Versuchungen im ersten Satz ihre Personifikation in der Dalila-Figur974 finden. Dalila als verführerische, listige und habgierige Frau, der es gelingt, einen Giganten wie Samson zu vernichten, repräsentiert die Gefahr, die von der Frau für den Mann ausgeht. Gibt der Mann ihren Verführungen und Verlockungen nach, so riskiert er Entwürdigung und Verlust seiner Männlichkeit, eine symbolische Kastration. In der 4. Sinfonie geht es laut Kretzschmar um die Darstellung der alten Zeiten, die in Ritterbildern erinnert werden. Darin drücke sich die romantische Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘ des Mittelalters aus. Kretzschmars „Ritterbilder“ stehen symbolhaft für den starken, tapferen, heldenhaften Mann, der treu zu seinem Herrn steht, für ihn in den Kampf zieht und der von einer „hohen vrouwe“ zu wahrer „minne“ erzogen wird. Berücksichtigt man diese männliche Perspektive, dann lassen sich seine Betrachtungen über die Nichtigkeit des menschlichen Schicksals inklusive seiner feierlich-trotzigen Schlusshaltung als eine männliche auffassen. Kretzschmars hermeneutische Analysen zeigen die Einbettung der musikalischen Rezeption als Teil der musikalischen Praxis in den gesellschaftlich-kulturellen Kontext seiner Zeit, insbesondere in den Geschlechterdiskurs und das damit verbundene Denken über Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Wirkung seiner assoziierten Bilder und Ideenkreise auf die HörerInnen der damaligen Zeit ist nicht auszumachen. Die zahlreichen Auflagen belegen, dass der Konzertführer regen Absatz fand, dass er gekauft, gelesen und geschätzt wurde, wie ein zeitgenössisches Urteil in Meyers Konversationslexikon zeigt. Der Verfasser des Artikels über „Kretzschmar“ stellte fest: Kretzschmar schrieb „den vortrefflichen ‚Führer durch den Konzertsaal‘ (Leipz. 1887-90, 3 Bde.), eine durch Gediegenheit des Urteils ausgezeichnete Besprechung der symphonischen, kirchlichen und weltlichen Tonwerke mit Analysen [...].“975 Neben dem mehrbändigen Werk von Kretzschmar waren am Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls kleinere Hefte aus der Reihe Der Musikführer populär, die „gemeinverständliche Erläuterungen hervorragender Werke aus dem Gebiete
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Dalila war die Widersacherin und Verführerin des Samson, der das jüdische Volk aus der Knechtschaft der Philister befreien sollte. Samson verfügte über gigantische Kräfte – er steht somit in der heroischen Tradition eines Prometheus oder Herkules. Dalila entlockte ihm sein Geheimnis, dass ihm sein Haar unbegrenzte Kräfte verleihe. Sie verriet ihn gegen Geld an die Philister, die ihm die Augen ausstachen und ihn einsperrten (vgl. Altes Testament, Buch der Richter, Kapitel 13–16). Meyers Konversationslexikon, Bd. 18, Jahres-Supplement 1890–1891, S. 504, online unter: http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=118747; [15.09.2009].
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der Instrumental- und Vokalmusik“976 versprachen. Sie boten eine Kurzeinführung in das Werk und stellten die zentralen Themen eines Werkes vor. Die in diesem Zusammenhang von Carl Beyer977 vorgenommene programmatische Interpretation des 1. Klavierkonzertes in d-Moll op. 15 erschien zunächst als selbstständige Schrift unter dem Titel Johannes Brahms, Klavierkonzert in D-moll: Op. 15, erl. von Carl Beyer (Leipzig ca. 1895) als Band 18 der im Verlag Seemann herausgegebenen Reihe Musikführer. Später wurde sie in dem Sammelband mit dem Titel Johannes Brahms. Erläuterung seiner bedeutendsten Werke von C. Beyer [u. a.]. Nebst einer Darstellung seines Lebensganges mit besonderer Berücksichtigung seiner Werke. Von A. Morin in Frankfurt/M. (ca. 1897) bzw. Stuttgart (ca. 1905) publiziert. Im Folgenden zitiere ich aus der Stuttgarter Veröffentlichung. Die Erläuterungen von Beyer978 bieten sich für einen Transfer von poetischer Deutung und musikalischem Material an, weil sie – zumindest für die Exposition des ersten Satzes – die Narrativierung eindeutig und in relativ kleinen Taktabschnitten an die musikalischen Motive binden. Das Formschema (Abb. 40) stellt überblicksartig die von Beyer interpretierte ‚Geschichte‘ mit den musikstrukturellen Eigenschaften zusammen.
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So lautet der Untertitel der im Verlag Bechhold, Frankfurt/M. erschienenen Reihe Der Musikführer, die für 20 Pfenninge pro Heft erworben werden konnten. Karl Wilhelm Ernst Beyer (1856–1914) war Schüler des Leipziger Konservatoriums, Klavierlehrer in Charkow (Südrussland), am Hochschen Konservatorium in Frankfurt/M. und in Dresden. Er schrieb Aufsätze für mehrere Musikzeitschriften. Beyer: Klavierkonzert in D-moll. Die Seitenangaben sind in runden Klammern gesetzt.
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Abb. 40
1. Satz des Klavierkonzerts d-Moll op. 15: Formverlauf und Interpretation von Carl Beyer
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Beyer erzählt anhand des musikalischen Verlaufs die Geschichte eines kampfesmutigen, trotzigen Ritters, der von Liebe träumt bzw. sich nach seiner Geliebten sehnt. Diese Sehnsucht holt ihn immer wieder ein, aber die Gefährten rufen ihn zum Kampf, er befreit sich von seinem Liebesbann. Ritterlicher Stolz und das Gefühl männlicher Kraft kehren in ihn zurück. Voller Tatendrang stürmt er im heiligen Kampf der Pflicht entgegen. Die programmatische Ausdeutung weist deutliche Parallelen zum Plot der Rinaldo-Kantate auf und erinnert an die Erläuterungen, die Hermann Kretzschmar im Musikalischen Wochenblatt zum ersten Satz des Klavierkonzertes gegeben hat.979 Das narrative Grundschema der Geschichte – der Mann muss den Verlockungen des Lebens (in Form einer verführerischen Frau oder als eigene weibliche Anteile) widerstehen und die ihm auferlegten Pflichten erfüllen – wird an den formalstrukturellen Verlauf eines Satzes in der Sonatenform gebunden. Abbildung 41 gibt eine Übersicht, welche musikalischen Gestaltungsmittel Beyer im ersten Satz des Klavierkonzertes dem männlichen bzw. weiblichen Element zuweist. Der formale Strukturverlauf des Klavierkonzerts und das in ihm präsentierte musikalische Material werden durch die Narrativierung von Carl Beyer mit Gen-
Abb. 41
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Musikalische Gestaltungsmittel für Männlichkeit bzw. Weiblichkeit im 1. Satz des Klavierkonzertes d-Moll op. 15 in der Interpretation von Carl Beyer
Kretzschmar: Neue Werke, S. 5f.
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derzuschreibungen belegt, die die musikalischen Charakteristika mit den im 19. Jahrhundert formulierten Geschlechtereigenschaften in eindeutiger Weise in Übereinstimmung bringen. Anhand des musikalischen Geschehens und der thematisch-motivischen Arbeit, der Abfolge und Kombination der männlichen und weiblichen Motive entspinnt sich ein Kampf zwischen eben diesen Elementen, der als ein Kampf des männlichen Protagonisten gegen zarte, weiche Regungen in ihm selbst, also gegen seine weiblichen Anteile, bzw. gegen Verlockungen einer weiblichen Verführerin aufgefasst wurde. Die Werkbesprechung von Beyer und viele der oben genannten Rezeptionsbeispiele zeigen, dass Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit im 19. Jahrhundert innerhalb des musikalischen Diskurses definiert und codiert wurden. Die Leerstellen der so genannten ‚reinen‘ Instrumentalmusik dienten den Rezipienten als Projektionsflächen, auf die Themen des Geschlechterdiskurses übertragen wurden. Musik in ihrer Wahrnehmung und öffentlichen Rezeption ist demnach ein diskursives Kommunikationsmedium, gerade weil musikalische Strukturen bedeutungsoffen und zunächst geschlechtsneutral sind.980 Da jedoch ein Kunstwerk immer nur im Auge, hier besser im Ohr der RezipientInnen existiert und dort mit Bedeutung aufgeladen wird, kann es „als eine Verwobenheit von Stimmen, von Geschichten, die sich die Rezipienten immer wieder neu erzählen“981, aufgefasst werden. Dabei ist für die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beachten: Die Stimmen und Geschichten im öffentlichen Musikdiskurs, in dem sich das öffentliche Denken und Sprechen über Musik vollzog, waren zum überwiegenden Teil die Stimmen und Geschichten von Männern, es handelt sich also um einen androzentrischen Diskurs, weil Männer die Bilder und Ideenkreise vorgaben, mit denen Musik rezipiert wurde. Im Rahmen des öffentlichen Musikdiskurses definierten sie die eigene männliche Identität, die von Kampf und Pflichterfüllung geprägt war, und griffen auf Weiblichkeitskonzepte zurück, wie sie im Geschlechterdiskurs der Zeit kursierten.
6.3
Musik – Narrativität – Gender
Die programmatischen Erläuterungen in den Briefwechseln, Konzert- und Musikkritiken sowie in den Werkbesprechungen im Rahmen von Biographien oder
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Im Gegensatz dazu vgl. Rösing: Männlichkeitssymbole – Beethoven, S. 5f: „bei Musik handelt es sich, im Gegensatz zu Bildern und Sprache, um ein nicht-diskursives Kommunikationsmedium. [...] Musik mit ihren Tönen, Klängen, Geräuschen, Harmonien und Rhythmen ist erst einmal und vor allem eins: geschlechtsneutral.“ Borchard: Männlichkeitskonstruktionen, S. 67.
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Konzertführern belegen den durch Musik ausgelösten Sog, gehörte musikalische Verläufe poetisierend-erzählend zu deuten. Assoziationen, Ideen- und Gedankenkreise oder ganze Handlungsabläufe werden im Rezeptionsvorgang auf das musikalische Geschehen übertragen. Die HörerInnen verspüren während der Musikrezeption den Impuls982, der Musik eine Geschichte zu unterlegen. Sie aktivieren und aktualisieren das erzählerische Potential der Musik.983 Mit anderen Worten: “music is not a narrative, but an incitement to make a narrative, to comment, to analyze.”984 Im Zentrum der musikwissenschaftlichen Diskussion um Narrativität von Musik, die 1987 mit einem Aufsatz von Anthony Newcomb985 begann, stand und steht auch hier das semantische Problem musikalischer Referenz. Die fehlende sprachliche Syntax und der uneindeutige Zeichencharakter der Musik machen einen konkreten Bezug auf außermusikalische Vorstellungsinhalte unmöglich, so dass der Aufbau einer heteroreferentiellen Erzählwelt in und durch Musik, die aus präzisen Settings, Figuren und Handlungen besteht, scheitern muss.986 Dennoch wird der Musik ein gewisses narratives Potential zugeschrieben: Musik selbst könne zwar nicht erzählen, aber sie könne Geschichten initiieren. Der französische Musikologe Jean-Jacques Nattiez fasste diesen Sachverhalt prägnant zusammen: “The narrative, strictly speaking, ist not in the music, but in the plot imagined and constructed by the listeners from funktional objects.”987 Die Rezeptionsbeispiele haben gezeigt, dass bestimmte musikalische Vorgänge und musikstrukturelle Gegebenheiten von den HörerInnen im 19. Jahrhundert anthropomorph interpretiert wurden. In den erzählten Geschichten zur Musik treten Personen auf, die geschlechtlich bestimmbar sind: Hero und Leander, Dalila,. Beowulf, Faust, Hamlet, Ritter und Helden, Sirenen und Nixen. Dabei ist feststellbar, dass markante, dynamische Motive als männliche Figuren, dass lyrische, leise Passagen als weibliche Figuren oder als weiche Regungen des männlichen Herzens aufgefasst werden. Entlang des musikalischen Formverlaufs werden fast ausschließlich die Abenteuer einer männlichen Figur geschildert. Nur in einem Fall konnte eine Narrativierung mit einer weiblichen Hauptfigur ausgemacht werden: das von Clara Schumann assoziierte flirtende Mädchen im 3. Satz der Violinsonate
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Nattiez spricht von „narrative impulse“ (Music and discourse, S. 127f). Wolf: Narrativität, S. 83. Nattiez: Music and discourse, S. 128. Newcomb: Schumann. Kritische Reaktionen blieben nicht aus, vgl. u. a. Neubauer: Tales of Hoffmann; Kramer: Musical narratology; vgl. weiterhin Abbate: Unsung voices; Pasler: Narrative and narrativity; Maus: Music as narrative; Hatten: On narrativity in music; Nattiez: Narrativity in music; McClary: Narratives of bourgeois subjectivity; Pederson: Methods of musical narratology. Vgl. Wolf: Narrativität, S. 78f. Nattiez: Narrativity in music, S. 249.
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op. 108. Die narrativierte Musik ‚erzählt‘, was die männliche Figur erlebt, erleidet und welche existentiellen Erfahrungen sie macht. Dabei wird der narrative Impuls nicht nur während der Rezeption von Sätzen in der Sonatensatzform ausgelöst, wenngleich diese Sätze wesentlich häufiger narrativiert werden als andere, sondern auch einzelne Variationensätze (Joseph Joachim zu op. 9), Scherzo-Sätze (Clara Schumann zum Scherzo aus op. 108) oder Sätze in der (Sonaten-)Rondoform (Joseph Joachim zum Finale der 3. Sinfonie op. 90) erfahren Narrativierungen, die die Minimalkriterien einer Definition von Erzählung bzw. Narration erfüllen: Erzählungen (im Gegensatz zu Abhandlungen, Beschreibungen und anderen Texttypen) sind Darstellungen „von Rudimenten einer vorstell- und miterlebbaren Welt, in der mindestens zwei verschiedene Handlungen oder Zustände auf dieselben anthropomorphen Gestalten zentriert sind und durch mehr als bloße Chronologie miteinander in einem potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zusammenhang stehen.“988 In seinem Aufsatz über Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie989 hat Werner Wolf Stimuli und Narrativitätskriterien entwickelt, durch die „die rezipientenseitige Applikation des Rahmens der Narrativität auf (Instrumental-)Musik und damit die Projektion von Geschichten auf Musik als mehr oder weniger erwartbar und daher auch ein Diskurs über die Narrativität bestimmter musikalischer Werke als mehr oder weniger plausibel erscheinen“990 können. Wolf unterscheidet zwischen werkexternen (kontextuellen) und werkinternen (paratextuellen) Faktoren. Zu den werkexternen Faktoren zählt er die kulturhistorische Situation der Entstehungszeit, die RezipientInnen und die KomponistInnen-Intention, während zu den werkinternen Rahmungen Werktitel, Satzbezeichnungen, zeitliche Dauer, musikalische Kontraste, prägnante musikalische Strukturen, die die Projektion von Figuren und einer narrativen Entwicklung gestatten, Instrumente, die als ‚Individuen‘ erlebbar sind, oder musikalische Intertextualität usw. gehören.991 Vor allem die werkinternen Faktoren erklären, warum romantische oder spätromantische Sinfonien, die einen Großteil der aufgeführten Stimuli aufweisen, eher narrativiert wurden und werden als ein kurzes Menuett aus einer barocken Suite. Sie erklären aber nicht, welches konkrete Handlungsgeschehen auf den musikalischen Formverlauf übertragen wird. Dabei kann – wie die Deutungen zur 3. Sinfonie von Brahms gezeigt haben – die Spannbreite sehr weit sein: von einem „Geschlechterkampf in Tönen“, in denen der
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Wolf: Narrativität, S. 51. Wolf bezieht sich hier auf eine Definition von Gerald Prince: The form and functioning of narrative. Berlin [u. a.] 1982, S. 4. Wolf: Narrativität, S. 24f. Wolf: Narrativität, S. 84. Wolf: Narrativität, S. 84–86.
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Held sich einer verführerischen Frau erwehren muss (Kalbecks und Kretzschmars Deutungen) über einen „Zauber des Waldlebens“ mit glitzernden Sonnenstrahlen (Clara Schumann) bis hin zur Feststellung von Florence May, die Sinfonie besitze „objektiven Charakter“ und gehöre der absoluten Musik an.992 Musik kann demnach nicht präzise auf außermusikalische Themen hinweisen, es bleiben Leerstellen und alternative Interpretationsmöglichkeiten; sie vermittelt vielmehr Hohlformen des Narrativen, die die HörerInnen im Rezeptionsprozess mit ihren eigenen Ideen, Themen und Assoziationen füllen können. Die Hohlformen werden also lebenssituationsspezifisch mit Inhalten angereichert und die musikalischen Motive kontextspezifisch entschlüsselt. Damit rücken die werkexternen Faktoren für die Erklärung und plausible Begründung einer konkreten Narration in den Mittelpunkt: Zum einen sind die kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, in denen die Musikrezeption stattfindet, zum anderen muss die soziale und individuelle Disposition der RezipientInnen selbst beachtet werden, da die Rezeption sowohl in einen soziokulturellen Kontext eingebettet als auch von der je individuellen Wahrnehmungssituation geprägt ist. Diese wiederum ist abhängig von den erworbenen musikalischen Kenntnissen und Fertigkeiten, von der ästhetischen Grundanschauung, von dem Eingebundensein in gesellschaftliche Diskurse und – so legen es die oben ausgeführten konkreten Rezeptionsbeispiele nahe – vom Geschlecht. Diese werkexternen Faktoren bedingen in maßgeblicher Art und Weise die musikalische Wahrnehmung und das Sprechen über Musik in dieser Zeit. Die konkreten Rezeptions- und Narrationsbeispiele vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zur Musik von Johannes Brahms haben gezeigt, dass im 19. Jahrhundert männliche Hörer Musik aus einer androzentrischen Perspektive deuten. Die Hauptfigur der Handlung ist in den allermeisten Fällen männlichen Geschlechts, weibliche Figuren spielen eine Nebenrolle. Als narratives Schema einer männlichen Musikrezeption kristallisiert sich ein Handlungsgeschehen (Plot) heraus, in dem der Protagonist, ein tapfer-trotziger Held, seinen kulturellen Status und seine männliche Identität dadurch erwirbt, dass er die Antagonistin erfolgreich
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Auch aktuelle Narrativierungsversuche von Musik zeigen, dass die Inhalte uneindeutig geraten, dass die Spannbreite der assoziierten Inhalte groß ist und sie somit beliebig bleiben. Die assoziierten Themen hängen von der jeweiligen gedanklichen, emotionalen, soziokulturellen, historischen Situation der Rezipierenden ab. Vgl. die Studie von Jean-Jacques Nattiez über Narrativierungen von Paul Dukas’ L’apprenti sorcier durch 300 jugendliche HörerInnen (11–14 Jahre) aus den 1970er Jahren (Nattiez: Narrativity in music, S. 246–248) und ausführlicher Nattiez: Diégèse musicale; ebenso Rösing: Männlichkeitssymbole – Spurenlese.
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überwindet993 und die ihm auferlegte Pflicht erfüllt. Entlang des narrativierten Formverlaufs eines Musikstückes werden so Vorstellungen von Männlichkeit inszeniert, reflektiert und hervorgebracht, die Parallelen zum hegemonialen Männlichkeitskonzept aufweisen. Genderkonnotierte narrative Deutungen von Musik zur Brahms-Zeit sind somit Teil des soziokulturellen Prozesses der Konstruktion von Geschlechterkonzepten.994 Bei der Formulierung verallgemeinernder Aussage zum Rezeptions- und Interpretationsverhalten von Hörerinnen der Brahms-Zeit ist einschränkend das geringe Datenmaterial zur Musikrezeption von Frauen in dieser Zeit zu berücksichtigen. Dennoch lässt sich als Tendenz feststellen, dass Hörerinnen die Musik von Brahms seltener als eine Geschichte, sondern eher als ein Erleben von Naturphänomenen oder als organische Entwicklung deuten; sie bleiben bezüglich der Figuren ‚genderoffen‘, indem sie nur andeuten („eine große tragische Geschichte“). Bei dem einzigen gefundenen Beispiel einer eindeutigen geschlechtlichen Bestimmung der narrativierten Person, handelt es sich um ein flirtendes Mädchen, also um eine weibliche Protagonistin (Clara Schumann zum Scherzo der Violinsonate op. 108). Ein narratives Schema im Sinne eines anthropomorphen Handlungsgeschehens lässt sich für die Rezeption der Musik von Brahms durch Hörerinnen nicht ausmachen. Hier wären weiterführende Recherchen zur Musikrezeption von Frauen erforderlich.995 Obwohl La Mara, Lina Ramann oder Florence May als Musikschriftstellerinnen und Biographinnen in Erscheinung traten und relevante Werke für die Brahmsbzw. Liszt-Forschung verfassten996, war der öffentliche Diskurs über Musik im 19. Jahrhundert ein vornehmlich von Männern geführter, deren genderkonnotierte Narrativierungen von Musik in Musikkritiken, Werkbesprechungen, in Biographien und Konzertführern institutioneller Bestandteil der öffentlichen Musikrezeption waren. Sie haben die Rezeption des Publikums beeinflusst, indem sie die Hörer-
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Vgl. Lauretis: Alice doesn’t, darin das Kapitel Desire in narrative, S. 103–157; grundsätzlich vgl. Nünning/Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies, darin das Kapitel Handlung, Plot und Plotmuster, S. 98–121. Im Gegensatz zur Literatur oder zum Handlungsgeschehen in Opern wurden keine Narrativierungen von Musik gefunden, in denen die narrativierte Handlung mit dem Tod der Protagonistin endet. Zum Zusammenhang von Tod, Weiblichkeit und Ästhetik vgl. Bronfen: Nur über ihre Leiche; Jung-Kaiser (Hrsg.): Das poetischste Thema der Welt; und für die Oper um die Jahrhundertwende: Unseld: Man töte dieses Weib. Vgl. Nünning/Nünning: Making gendered selves, S. 39; Kramer: Musical narratology, S. 143f. In diesem Zusammenhang wäre die stark ‚gegenderte‘ Musiksprache von Lina Ramann in ihrer Liszt-Biographie zu diskutieren und nach möglichen Erklärungsansätzen zu suchen. Vgl. Deaville: Writing Liszt.
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Rezeption und Musikschrifttum
Innen auf bestimmte Bilder, Gedanken und Themenkreise festlegten.997 Musik- und Geschlechterdiskurs stehen somit in einem reziproken Verhältnis zueinander: Die Inhalte des Geschlechterdiskurses fließen in den Musikdiskurs ein, das heißt, die musikalischen Leerstellen der Musik werden durch Interpretation und Narrativierung im Rahmen der privaten und öffentlichen Musikrezeption mit konkreten Gender-Inhalten gefüllt. Und es ist davon auszugehen, dass die narrativierten Inhalte des Musikdiskurses, hier in Form der öffentlichen Musikrezeption, auf den Geschlechterdiskurs, auf die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit eingewirkt haben. Die literaturwissenschaftliche Narrativitätsforschung betont, dass „das Erzählen von Geschichten ein anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen“998 sei, das sich nicht auf spezielle Diskursformen oder Textgenres beschränke. Die menschliche Suche nach Sinn, nach Erklärungen für existentielle Fragen äußere sich auch in dem Bedürfnis nach narrativer Sinnstiftung. So sei das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte für die individuelle Identitätsbildung bedeutsam und finde zum Beispiel in der Gattung der Autobiographie seinen literarischen Ausdruck. Aber auch in Tagebuchaufzeichnungen und Briefwechseln seien lebensgeschichtliche Erzählungen und personale Identitätsbildung eng miteinander verwoben. Neben der eigenen lebensgeschichtlichen Konstruktion sei auch das erzählende Kennenlernen der Lebensgeschichten anderer für die Identitätsbildung relevant. Nicht nur die eigene Identität, sondern auch große Bereiche der extrapersonalen Realität würden in narrativen Diskursen wie Geschichtsschreibung, Religion, Nachrichten und Reportagen oder Gerichtsverfahren wahrgenommen und konstruiert, so dass das Narrative gattungs-, medien-, kultur- und epochenübergreifend aufzutreten scheine.999 „Damit rückt die Frage nach der Bedeutung von Narrativität für die Auffassung und Darstellung von Wirklichkeit in den Mittelpunkt“1000 – wozu auch die Auffassung und Darstellung des soziokulturell geprägten Geschlechterverhältnisses zu zählen ist. Aus der Perspektive einer genderorientierten Rezeptionsforschung zur Musik kann ergänzend hinzugefügt werden: Am Ende des 19. Jahrhunderts definierten Hörer und Rezensenten in den narrativen Deutungen von Musik ihre männliche Geschlechtsidentität und schrieben die weibliche fest. Damit spiegelt sich die kulturhistorische Situation der Diskussion über die „Ordnung der Geschlechter“ im Diskurs über Musik, speziell in den Narrativierungen und Deutungen der Musik
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Vgl. Reimer: Kretzschmars musikalische Hermeneutik, S. 221. Reimers Ausführungen zu den Interpretationen im kretzschmarschen Konzertführer gelten grundsätzlich für das musikbezogene Schrifttum dieser Zeit. 998 Nünning/Nünning: Grenzüberschreitungen, S. 1. 999 Nünning/Nünning: Grenzüberschreitungen, S. 5. 1000 Nünning/Nünning: Grenzüberschreitungen, S. 6.
Rezeption und Musikschrifttum
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wider. Sie machen den Einfluss des kulturhistorischen Kontextes auf den Rezeptionsprozess und auf die inhaltliche Konkretisierung der musikalischen Hohlformen deutlich. Die musikalische Rezeption ist nicht von ihrer je soziokulturellen Einbindung zu lösen. Wie über Musik nachgedacht wird, welche Begriffe (männlich/weiblich) zur Begründung eines ästhetischen Werturteils herangezogen werden, welche Ideen- und Gedankenkreise, welche Bilder und Geschichten mit der Musik assoziiert werden, hängt maßgeblich vom kulturhistorischen Setting ab, in dem die Rezeption stattfindet. Musik als Ergebnis der unablässigen kulturellen Produktion, Reproduktion und Rezeption besitzt diskursive Bedeutung, ihr ist ein Geschlechterdiskurs inhärent.
7
Zusammenfassung und Ausblick
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit im Sinne einer ‚natürlichen‘ und hierarchisch strukturierten Geschlechterordnung in pädagogischen, philosophischen, medizinischen, religiösen und rechtlichen Diskursen erörtert und bestimmt. Daneben erhoben sich in der Geschlechterdebatte kritische Gegenstimmen, die entweder die Egalität zwischen den Geschlechtern mit allen politischen, ökonomischen und kulturellen Konsequenzen oder die besondere Kulturaufgabe der Frau im Konzept der „Geistigen Mütterlichkeit“ einforderten. Nimmt man mit aktuellen Geschlechtertheorien an, dass das Geschlecht ein zentrales Strukturmerkmal gesellschaftlicher Differenzierung und Hierarchisierung darstellt und dass jeder Mensch im Rahmen der aktuellen Geschlechterordnung seine eigene Geschlechtsidentität entwickeln, internalisieren und inszenieren muss, dann sind auf dieser Folie auch komponierende Menschen in ihrem Doing gender zu betrachten und die dem Handeln zugrundeliegenden Konzepte zu bestimmen, um die Ergebnisse einer gendersensiblen Werk- und Rezeptionsanalyse kontextualisieren zu können. Dies gilt nicht nur für KomponistInnen, sondern im gleichen Maße auch für InterpretInnen und RezipientInnen wie MusikkritikerInnen oder MusikwissenschaftlerInnen. Es geht also um die reziproke Verknüpfung von Geschlechterordnung und musikbezogenem Handeln bzw. von Musik- und Geschlechterdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die anhand der Musik von Johannes Brahms und ihrer Rezeption aufgezeigt wurde. Inwiefern spiegeln sich die kulturellen Geschlechtercodes ihrer Zeit darin wider, inwiefern werden Repräsentationen bestehender Geschlechternormen kreiert oder neue Codierungen entworfen? Die daraus entwickelten und anhand der Musik von Johannes Brahms konkretisierten Leitfragen der Untersuchung sollen daher im Folgenden aufgegriffen und zusammenfassend mit den Ergebnissen zur Vokal- und Instrumentalmusik sowie zur Rezeption und zum Musikschrifttum der Brahms-Zeit in Beziehung gesetzt und diskutiert werden, bevor dann ein Blick auf offene Fragen und auf die Relevanz der Ergebnisse für den aktuellen Musikdiskurs geworfen wird. Nach Durchsicht der Schatzkästlein und von Brahms gelesener bzw. empfohlener Literatur, nach kritischer Reflexion überlieferter Briefwechsel und Berichte von ZeitgenossInnen in Biographien und Erinnerungsliteratur kann festgehalten werden, dass das hegemoniale Konzept von Männlichkeit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner hierarchischen Geschlechterdifferenz, seiner Aufteilung in männliche und weibliche Lebensräume sowie der Heroisierung – und (ab 1870/71) auch Militarisierung – des Mannes einen wichtigen Bezugsrahmen für das Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzept von Johannes Brahms darstellte: Männlichkeit zeigt sich in Eigenschaften wie Rationalität, Aktivität, Souveränität, Auto-
Zusammenfassung
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nomie, Mut, Ausdauer und Kraft, die bei einem ‚idealen‘ Mann als einem vernunftbegabten Wesen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Er ist der Welt voller Tatendrang zugewandt und erfüllt mutig, geist- und phantasievoll seinen Lebensauftrag. Ebenso hat er sowohl seine Emotionalität als auch seine leidenschaftlich-erotischen Bedürfnisse unter Kontrolle. Äußerlich inszenierte Brahms mit Bart und tief gedrückter Stimme seine eigene männliche Identität, die Souveränität und Autorität ausdrücken soll. Die Erfüllung der dem eigenen Leben aufgegebenen Pflichten scheint wichtig für sein Selbstbewusstsein gewesen zu sein. Ihm schwebten als Basis einer ‚ordentlichen‘ Existenz bürgerliche Lebensziele wie beruflicher Erfolg, Heirat und Gründung einer Familie vor. Dass er ehe- und kinderlos geblieben ist, stellt gemäß des von ihm selbst umrissenen Lebensentwurfes ein gewisses Scheitern auf privater Ebene dar und unterstreicht die Bedeutung der beruflichen Leistung für die eigene Identität. Das Weiblichkeitskonzept von Brahms schwankte zwischen Verachtung und Verehrung, es ist äußerst ambivalent: Er entwarft auf der einen Seite das negative Bild oberflächlicher, ungebildeter, eitler und unsittlicher Frauen, die in ‚Frauenwitzen‘ verspottet wurden, auf der anderen Seite das verehrungswürdige Bild schöner, kluger, fleißiger, sittsamer und bescheidener Frauen – und Mütter. Brahms scheint dem bürgerlichen Konzept der „Geistigen Mütterlichkeit“ nahe gestanden zu haben; in der weiblichen Verantwortung für Partner und Kinder sah er ihre primäre, kulturstiftende Aufgabe und akzeptierte ihre künstlerische Berufstätigkeit als Interpretinnen zur eigenen oder der familiären Existenzsicherung, wohingegen ihm künstlerische Selbstverwirklichung von Frauen in der Musik unverständlich blieb; konsequenterweise lehnte er komponierende oder in seinen Augen ehrgeizige Frauen ab. •
Welche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit entwirft Johannes Brahms in seiner Vokalmusik durch Auswahl und Zusammenstellung der Texte sowie durch die Art ihrer Vertonung?
Zunächst muss betont werden, dass Lieder kein Abbild bürgerlicher GeschlechterWirklichkeit, wohl aber imaginierte Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit darstellen, in denen bürgerliche Geschlechter-Normen des 19. Jahrhunderts zitiert, aber auch erweitert werden. Brahms zeichnet in seinen Liedern Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die zwar in vielerlei Hinsicht der Geschlechterordnung seiner Zeit entsprechen, die aber die polare Gegenüberstellung von Mann und Frau in einigen Aspekten differenzieren. So ist das männliche Ich in zahlreichen Liedern zwar ein aktiver, das Leben erfolgreich meisternder Mann; es zeigt aber genauso seine empfindsam-weiche und emotionale Seite, ist bezüglich seiner Gefühle verunsichert, leidet an unglücklicher Liebe, reflektiert über Themen wie Heimatlosigkeit oder Tod, scheitert an den Zielen einer männlichen Existenz oder vergeht vor sehnsüchtig leidenschaftlichen Gefühlen.
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Zusammenfassung
Auch das weibliche Ich seiner Lieder ist nicht immer und ausschließlich passiv oder emotional, sondern zuweilen der aktive Part in der Liebesbeziehung, der souverän mit den eigenen und den Gefühlen des Partners umgeht. Die Frau wird in der Rolle der Retterin des liebenden Mannes gesehen. Wenn sie die Liebe des Mannes erwidert, finden beide ein sinnerfülltes Leben. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass das Unglück der Frauen in den Liedern immer Liebesleid ist, während Themen wie Todessehnsucht, Jugenderinnerungen oder Heimweh den Männerliedern vorbehalten sind. Wenn die Liebe scheitert und die Frau einsam, verlassen oder betrogen zurückbleibt, steht der Sinn ihres Lebens zur Diskussion, was Brahms in seiner musikalischen Interpretation der Gedichte unterstreicht, indem er – am Beispiel Magelones (op. 33/11) – keine (musikalische) Weiterentwicklung zulässt, sondern sie in ihrer Situation verharren und stagnieren lässt, oder indem er – wie in Liebestreu op. 3/1 – das abgrundtiefe Leid auch musikalisch hörbar macht. Darüber hinaus thematisiert Brahms die körperlich-erotischen Bedürfnisse als eine weitere Dimension im Geschlechterverhältnis. Nächtliches Freien und Beisammensein sowie der Austausch von Küssen oder das gegenseitige Schenken körperlicher Lust nehmen in den Liedern einen breiten Raum ein. Brahms verbleibt in seinen Liedern nicht in den Höhen geistiger Liebe, sondern ihm geht es ebenso um die Erfüllung sexueller Sehnsüchte. Hier wird eine Kongruenz zu den in den biographischen Quellen und den Schatzkästlein aufgefundenen Konzepten von Liebe und Sexualität deutlich. Denn die Quellen lassen den Schluss zu, dass Brahms in der menschlichen Sexualität ein ‚natürliches‘ Phänomen sah: Zur Liebe gehören ‚selbstverständlich‘ auch Erotik und Sexualität – allerdings nicht exzessiv, sondern kontrolliert. In vielen Liedern wird die körperliche Attraktivität der Frau besungen die den Mann schmachten und vor Sehnsucht vergehen lässt; sinnliche Reize, nächtliche Liebesglut, das sich gegenseitige Geben von „himmlischem Genüge“ (op. 57/8) oder erregtes Drängen zur Durchsetzung der eigenen erotischen Wünsche (op. 71/4) werden erstaunlich direkt thematisiert. Dabei setzen die Leidenschaften vor allem den Mann der Gefahr aus, durch Lust und Verlangen die ‚wahre‘ Liebe zu zerstören. Die leidenschaftliche Liebe geht aber ebenso von der Frau, verkörpert in der ‚anderen‘, orientalischen Frau, aus; sie steht für die sexuell aktive Frau, die den Mann zu sich locken will, die voll Qual und Lust nach ihm ruft. In der Vertonung durch Brahms (op. 33/13) wird sie jedoch negativ gezeichnet. Der rein sinnlichen Liebe setzt Brahms das Ideal der treuen Liebe entgegen, einer Liebe, die allen Gefahren trotzt, nicht zweifelt und zu „lieblicher, seliger und himmlischer Lust“ führen kann (op. 33/15). Seine Lieder mit erotisch-sinnlichen Themen können als ein realistischer Aspekt in seiner Liebesauffassung gedeutet werden. Dieser realistische Zug ergänzt bzw. relativiert die idealen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.
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Im 5. Satz seines Deutschen Requiems op. 45 setzt Brahms die besondere Emotionalität und Intensität der mütterlichen Zuwendung ein, um den trauernden Hinterbliebenen Trost zu spenden. Indem ein gemischter Chor singend mütterlichen Trost spenden will, werden sowohl weibliche als auch männliche Mitglieder in den Prozess des Trostspendens eingebunden. Hier verlässt Brahms das polare Geschlechterbild seiner Zeit, weil auch den Männerstimmen der Ausdruck von weiblicher bzw. mütterlicher Zuwendung übertragen wird. Fasst man hingegen den Chor als die von männlichen und weiblichen Stimmen sich äußernde Gottesstimme auf, so zeigt sich darin ein Gottesbild, das die rein männliche Vorstellung von Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist um weibliche Anteile erweitert. Im Wiegenlied op. 49/4 hingegen thematisiert Brahms im Idealbild von der „Mutter an der Wiege“ Mütterlichkeit als die höchste Vollendung eines sinnerfüllten Frauenlebens im Sinne der bürgerlichen Geschlechterordnung. Ganz dezidiert inszeniert Brahms mütterlich-sorgendes Verhalten in einer häuslichen Situation, in der zur ‚natürlichen‘ Betätigung der Mutter eine vom Mann zu singende Volksliedmelodie erklingt, die in ihrer größeren musikalischen Komplexität aus dem Volkslied ein Kunstlied macht, wodurch das ‚natürliche‘ Verhalten der Mutter kulturell überformt und erhöht wird. Wie ein männliches Individuum, das seine sinnlich-erotischen Bedürfnisse auslebt, durch Verzicht auf seine Emotionalität und Individualität resozialisiert wird und zu einer gesellschaftlich sanktionierten Geschlechtsidentität zurückfindet, zeigt Brahms in der Rinaldo-Kantate op. 50. Der Männerchor steht als männlich dominiertes Kollektiv für männliche Tatenkraft, Ehre, Heldentum und Pflichterfüllung, er übt einen diskursiven Druck auf Rinaldo aus, indem er ihn immer wieder an seinen männlichen Auftrag erinnert und seine Unmännlichkeit spiegelt. Er setzt seine Geschlechternormen autoritär durch und führt das deviante Individuum schrittweise in die Gemeinschaft zurück. Männlichkeit bedeutet in diesem Sinne soziale Pflichterfüllung sowie Abwehr der kulturell und geschlechtlich ‚anderen‘ Anteile und Imaginationen, die sich in der ‚anders‘ imaginierten Welt eines verführerisch-weiblichen Orients zeigen – verkörpert in der Figur der gefährlichen und verführerischen Zauberin Armida. Sie ist die personifizierte Imagination des ‚Anderen‘, sie gefährdet die Ziele des Männerkollektivs und die Entwicklung einer gesellschaftlich eingeforderten männlichen Identität auf Seiten Rinaldos: Ihre exotischen und erotischen Reize stehen konträr zur Welt des abendländisch-rationalen Männerkollektivs. Ihre ‚natürlich‘-körperhafte Erotik und Individualität werden hier polarisierend zur Rationalität, zum Kampf und zur Kultur des männlich dominierten Abendlandes inszeniert und musikalisch unterstrichen. Brahms macht in seiner Vertonung deutlich, dass die Abwehr des kulturell und geschlechtlich ‚Anderen‘ für das männliche Individuum schmerzhaft und mit Trauer und innerer Verletzung verbunden ist. Insofern lässt die Rinaldo-Kantate den ‚Preis‘ spürbar
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werden, den das männliche Individuum und letztlich auch die Gesellschaft für die Durchsetzung der Geschlechterordnung zahlen muss.1001 Festzuhalten bleibt: Brahms’ Männlichkeitskonzept ist zwar geprägt von Eigenschaften wie Aktivität, Rationalität, Kraft und Energie, aber in den Liedern ist ein starkes gefühlsmäßiges Ausleben schmerzhafter Affekte aufzufinden. Brahms zeigt die emotionale Seite männlicher Individuen – er weint die „große, dicke Männerträne“1002 – und macht in der Rinaldo-Kantate op. 50 die inneren Verletzungen deutlich, die die Erfüllung der Männlichkeitsideale für das Individuum mit sich bringt. Musik wird so zu einem Medium, in dem die ansonsten zurückgedrängte männliche Emotionalität und Verletzlichkeit ausgedrückt und kommuniziert werden. Somit ließe sich (Vokal-)Musik als ein Diskursmedium auffassen, in dem die im Geschlechterdiskurs ausgehandelten Merkmale von Männlichkeit und Weiblichkeit ergänzt und relativiert werden. Berücksichtigt man die Auf- und Ausführung der Lieder im Rahmen der Haus- und Salonmusik sowie im Konzertwesen, so leisten Lieder und auch Chorwerke „cultural work“1003, sie schreiben als eine kulturelle Praxis an gesellschaftlichen Diskursen wie dem Geschlechterdiskurs mit, erweitern ihn oder geben denjenigen Ideen eine ‚Stimme‘, die in anderen Diskursen nicht oder nur teilweise ausgedrückt werden können. •
Mit welcher Methode sind in Instrumentalwerken Genderkonnotationen aufzuspüren?
Musikalische Zeichen sind als Signifikanten auffassbar, die im Kompositionsprozess mit Bedeutung aufgeladen werden, so dass sie ein gedankliches Konzept, ein Signifikat bezeichnen, dem ein Denotat oder Designat im Sinne eines außermusikalischen Referenten zuzuordnen ist. Zentral ist hierbei der Prozess der Bedeutungsgebung während der musikalischen Komposition, denn „nur insofern die Zeichen gedankliche Abbilder fixieren, Träger von Bedeutung sind, dienen sie den Menschen im Erkenntnis- und Kommunikationsprozeß [...].“1004 Die komponierende Person – in diesem Fall Johannes Brahms – fixiert ihre gedanklichen Abbilder, das heißt ihre musikalische Aussage, in einer Komposition, so dass die von ihr verwendeten musikalischen Elemente als Zeichen anzusehen sind, die in diesem
1001 Möglicherweise ist die damit verbundene sublime Kritik am Männlichkeitskonzept mit ein Grund, warum die Rinaldo-Kantate nicht an den Erfolg des Deutschen Requiems anknüpfen konnte. 1002 Brahms: Briefwechsel mit Billroth, S. 208, Brief vom 16.10.1874. Billroth schreibt an Brahms: „Wenn Lübke ein melancholisches Lied von Dir hört, so pflegt er zu sagen: Der weint wieder einmal die große, dicke Männerträne, wie sie seit Bach und Beethoven nicht mehr vergossen wurde!“ 1003 Solie: Whose life?, S. 219. 1004 Resnikow: Erkenntnistheoretische Fragen, S. 29.
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konkreten Fall zu Zeichenträger der in ihnen fixierten Bedeutung werden. Am konkreten Beispiel der Bedeutungszuschreibung lässt sich dann untersuchen, welche musikalischen Mittel zur Fixierung der gedanklichen Abbilder im Kompositionsprozess eingesetzt werden. So werden musikalische Zeichen, die an sich begriffslos sind, zu Bedeutungsträgern, mit deren Hilfe Aussagen gestaltet, in musikalisch sinnvollen Strukturen formuliert und im Rezeptions- und Analysevorgang in ihre Begrifflichkeit zurückgeholt werden. •
Welche Aussagen können über die Gendercodes eines konkreten Instrumentalsatzes getroffen werden?
Der Hinweis von Brahms in einem Brief an Clara Schumann, dass er im Adagio seines 1. Klavierkonzertes op. 15 an einem „sanften Porträt“1005 von ihr male, war Ausgangspunkt für die Analyse dieses Instrumentalsatzes. Die musikstrukturellen Eigenschaften des Satzes werden als Signifikanten aufgefasst, die in ihrer inneren Organisation und vermittels ihres musikalischen Sinns das Clara-Schumann-Porträt bezeichnen. Im Rahmen der Analyse und Interpretation wurden die unbegrifflichen musikalischen Zeichen in eine verbalsprachliche Begrifflichkeit zurückgeholt und der musikalische Sinn in seiner inneren Organisationsform mit dem intendierten Aussagegehalt verknüpft. Brahms wählte keinen virtuosen Eröffnungs- oder Finalsatz für sein ClaraSchumann-Porträt, sondern einen – weiblich konnotierten – langsamen gesanglichlyrischen Satztyp, nämlich ein Adagio mit A-B-A-Form, und setzte aus differenziert kombinierten Mosaiksteinen sein Bild von Clara Schumann zusammen. Der Grundcharakter des Adagios kann mit Adjektiven wie leise, schreitend, würdevoll, gemäßigt, verhalten, zart und zärtlich, träumerisch, kontemplativ oder verklärt umschrieben werden und ist durch musikalische Elemente wie geringe dynamische Kontraste, harmonische Einfachheit, kleinschrittige ab- und aufsteigende Melodielinie des A-Themas (Benedictus), improvisierende, träumerische Episoden des Klaviers, das eher reagiert denn führend agiert, durch weitgehenden Verzicht auf Virtuosität und durch einen ausgeprägten dialogischen Wechsel zwischen dem Solo-Klavier und den verschiedenen Instrumentengruppen des Orchesters gekennzeichnet. In diesem ‚gespiegelten Porträt‘ zeichnen die musikalischen Strukturelemente das Bild einer ruhigen, kommunikativen, verhalten reagierenden, introvertiert-zurückhaltenden Person – unabhängig davon, ob Clara Schumann tatsächlich diese Charaktereigenschaften besaß. Die von Brahms gewählten musikalischen Gestaltungsmittel zeigen in ihrer inneren Organisationsform und vermittels der von Brahms gelegten semantischen Spuren (Benedictus-Thema, Zitat aus Beethovens Fidelio) eine Frau, deren Leben auch nach dem Tod des geliebten
1005 Brahms: Briefwechsel mit Clara Schumann, Bd. 1, S. 198 (Brief vom 30.12.1856).
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Mannes auf diesen ausgerichtet bleibt. Indem Brahms den Satz mit musikalischen Mitteln und semantischen Spuren gestaltete, die mit den typisch weiblichen Eigenschaften der Geschlechterordnung seiner Zeit korrelieren, zeichnete er Clara Schumann mit den Zügen einer idealen Frau. Auf dem Weg einer kontextgebundenen semantischen Analyse eines konkreten Satzes kann so deutlich gemacht werden, dass auch ‚reine‘ Instrumentalmusik an Geschlechterkonzepten mitschreibt und Musik- und Geschlechterdiskurs miteinander verknüpft sind. •
Mit welchen genderkonnotierten Begriffen und Narrationen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Musik von Johannes Brahms geschrieben?
Die vier untersuchten Briefwechsel aus dem Brahms-Kreis haben gezeigt, dass Joseph Joachim und Theodor Billroth in ihren Narrativierungen eher vorsichtig andeutend vorgingen. Wenn sie die Musik poetisch deuteten, assoziierten sie in der Regel eine männliche Figur (Staatsmann, Leander, Faust) – einzige Ausnahme: die Assoziation der Reinheit und Keuschheit in der vierten Variation op. 9, in der Joachim die Widmungsträgerin der Variationen (Clara Schumann) heraushörte. Dafür bezeichnete Joseph Joachim zuweilen Werke oder Sätze von Brahms explizit als männlich. Bei den beiden Rezipientinnen, Clara Schumann und Elisabeth von Herzogenberg, überwogen Naturassoziationen, Vergleiche mit Blüten und Pflanzen oder sie hörten ganz allgemein eine „tragische Geschichte“ (Clara Schumann zum Klavierquintett op. 34). Nur in einem Fall konnte eine genderkonnotierte Narrativierung festgestellt werden: Clara Schumann assoziierte ein flirtendes Mädchen im dritten Satz der Violinsonate op. 108. Diese vier Personen, Berufsmusiker und musikerin, gebildeter Musikkenner und musikalisch hochgebildete Adelige, haben das von Susan McClary als für die Zeit virulent eingeschätzte narrative Schema einer „gendered sonata form“ nicht benutzt, um über die Musik von Brahms zu schreiben. Mit anderen Worten: Das Schema war in diesem Personenkreis für das Verstehen von Musik nicht zentral. Gegenüber den privaten Diskursen der Briefwechsel bedienten Konzertkritiken, Werkbesprechungen, Konzertführer und Biographien ein öffentliches Interesse an Information und Kommunikation über Musik. Selbst der ‚Kritikerpapst‘ Eduard Hanslick verwendete in seinen Musikkritiken Genderkonnotationen („männlich hoher Ernst“1006); er fing die sich im musikalischen Geschehen ausdrückende Idee (auch) mit Begriffen, adjektivischen Bestimmungen, Metaphern und Assoziationen ein, die auf Geschlechterkonzepte seiner Zeit zurückgriffen. Dazu gehörte in auffallender Weise der im Männlichkeitskonzept implizierte Bedeutungs- und Qualitätsgehalt.
1006 Hanslick: Concerte, S. 168.
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Es ist hervorzuheben, dass den Werken von Johannes Brahms in der Regel Männlichkeit attestiert und seltener eine weibliche Eigenschaft wie zum Beispiel „naive Grazie“ genannt wurde. Die Begriffe männlich/weiblich wurden nicht nur genutzt, um musikalische Strukturen gemäß der Geschlechterordnung der Zeit zu charakterisieren und zu narrativieren, sondern auch, um qualitative Aussagen über das entsprechende Werk zu treffen. Die männlichen Kompositionen von Brahms besitzen – wie Hanslick dies in seinen Kritiken beschrieben hat – Ernsthaftigkeit, Kühnheit und Stärke, Rationalität und Würde, sie wurden in den Rang eines Beethoven-Werkes gehoben. Vergleicht man die positiven Konnotationen des Männlichkeits- mit denen des Weiblichkeitstopos, dann wird die polare Entgegensetzung deutlich: Männlichkeit steht für Originalität, Rationalität, Kraft und Energie, Weiblichkeit für Angepasstheit, Langeweile, Epigonalität, Inkompetenz und Oberflächlichkeit. Damit wurden Kompositionen1007, musikalische Fertigkeiten, das Schreiben über Musik, aber auch das rezipierende Publikum charakterisiert. Max Kalbeck erzählte ebenso wie Hermann Kretzschmar und andere Autoren entlang des musikalischen Formverlaufs Geschichten – zuweilen einen regelrechten „Geschlechterkampf in Tönen“1008 –, in denen das musikalische Geschehen anthropomorph interpretiert wurde: Es traten geschlechtlich bestimmbare Personen (Hero und Leander, Dalila, Beowulf, Faust, Ritter und Helden, Sirenen, Nixen) auf. Dabei ist feststellbar, dass markante, dynamische Motive als männliche Figuren, dass lyrische, leise Passagen als weibliche Figuren oder als weiche Regungen des männlichen Herzens aufgefasst wurden. Die narrativierte Musik ‚erzählt‘, was die männliche Figur erlebt, erleidet und welche existentiellen Erfahrungen sie macht. Die musikalische Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß also eine androzentrische Perspektive, weil es sich um öffentliche Musikdiskurse handelte, in denen zum überwiegenden Teil die Stimmen und Geschichten von Männern zu hören waren und Männer die Bilder und Ideenkreise vorgaben, mit deren Hilfe Musik rezipiert wurde. Als narratives Schema einer männlichen Musikrezeption zur Brahms-Zeit kristallisiert sich dabei ein Handlungsgeschehen heraus, das eine Nähe zu dem von McClary entwickelten Schema aufweist und in dem die Protagonisten starke, tapfer-trotzige Helden sind, die in ihrem Lebenskampf unbeeindruckt von weichen Regungen des eigenen Herzens oder einer verführerischen Schönheit ihre männliche Pflicht erfüllen. In diesem Plot werden entlang des narrativierten Formverlaufs eines Musikstückes Vorstellungen von Geschlecht inszeniert, reflektiert und hervorgebracht. Dabei konnte im Gegensatz zu vielen Plots von Opern für die Narrativierungen zur Musik von Brahms kein
1007 Brahms-Kritiker wie Hugo Wolf griffen auf den Weiblichkeitstopos zurück, um ihre Kritik an Brahms zu exemplifizieren. 1008 Hoffmann: Geschlechterkampf.
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Beispiel gefunden werden, an dem am Ende der ‚Geschichte‘ der Tod der weiblichen Protagonistin stand. Vielmehr ließe sich der narrative Plot mit Judith Lorber wie folgt beschreiben: „Frauen stehen für das sexuelle Verlangen und die Emotionalität, die die Männer verdrängen müssen, um wie ihre Väter zu werden – Männer, die sich und andere unter Kontrolle haben.“1009 Verallgemeinernde Aussagen zum Rezeptions- und Interpretationsverhalten von Frauen zur Brahms-Zeit sind aufgrund des geringen Quellenmaterials1010 nur eingeschränkt möglich. Tendenziell schildern Hörerinnen Musik seltener als eine Geschichte – und wenn, dann mit einer weiblichen Protagonistin –, sondern eher als ein Erleben von Naturphänomenen oder als organische Entwicklung; sie bleiben bezüglich der Figuren ‚genderoffen‘, indem sie nur andeuten („eine große tragische Geschichte“). Ein narratives Schema im Sinne eines anthropomorphen Handlungsgeschehens lässt sich für eine weibliche Musikrezeption nicht ausmachen. Hier wären weiterführende Recherchen zur Musikrezeption von Frauen erforderlich. Die genderkonnotierten Narrativierungen von Musik in Musikkritiken, Werkbesprechungen, in Biographien und Konzertführern der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren institutioneller Bestandteil der öffentlichen Musikrezeption. Sie beeinflussten die Rezeption des Publikums, indem sie die HörerInnen auf bestimmte Bilder, Gedanken und Themenkreise festlegten.1011 Dabei flossen die Inhalte des Geschlechterdiskurses in den Musikdiskurs ein, das heißt, die Leerstellen der Musik wurden durch Interpretation und Narrativierung im Rahmen der privaten und öffentlichen Musikrezeption mit konkreten Gender-Inhalten gefüllt. Und es ist davon auszugehen, dass die narrativierten Inhalte des Musikdiskurses, hier in Form der öffentlichen Musikrezeption, auf den Geschlechterdiskurs, auf die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit einwirkten: Musik- und Geschlechterdiskurs stehen somit in einem reziproken Verhältnis zueinander. Die Beispiele zur Brahms-Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen, dass Musik Hohlformen des Narrativen vermittelte, die lebenssituationsspezifisch und kontextspezifisch mit Inhalten angereichert wurden, so dass aus rezeptionsästhetischer Sicht die kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die gesellschaftlichen Diskurse sowie die sozialen und individuellen Dispositionen von zentraler Bedeutung sind, weil sie die Bedeutungsgenerierung von Musik im Prozess der Rezeption beeinflussen. Musik in ihrer Wahrnehmung und öffentlichen
1009 Lorber: Gender-Paradoxien, S. 166. 1010 Briefwechsel zwischen Brahms und Clara Schumann sowie zwischen Brahms und Elisabeth von Herzogenberg sowie die Veröffentlichungen von La Mara und Florence May. 1011 Vgl. Reimer: Kretzschmars musikalische Hermeneutik, S. 221.
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Rezeption ist wegen ihrer bedeutungsoffenen musikalischen Strukturen ein diskursives Kommunikationsmedium. Für die literaturwissenschaftliche Narrativitätsforschung ist „das Erzählen von Geschichten ein anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen“1012, das sich nicht auf spezielle Diskursformen oder Textgenres beschränkt. Aus der Perspektive einer genderorientierten Rezeptionsforschung zur Musik kann – in Bezug auf die Rezeption der Musik von Brahms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – ergänzend hinzugefügt werden: Männliche Hörer und Rezensenten setzten Musik und ihre narrative Deutung (auch) zur Etablierung und Absicherung ihrer männlichen und zur Definition der weiblichen Geschlechtsidentität ein. Damit spiegelt sich die kulturhistorische Situation des Geschlechterdiskurses im Musikdiskurs, speziell in den Narrativierungen und Deutungen der Musik wider. Sie machen den Einfluss des soziokulturellen Kontextes auf den Rezeptionsprozess und auf die inhaltliche Konkretisierung der musikalischen Hohlformen deutlich. Es bleibt festzuhalten: Die Wahl der verwendeten Begriffe, die Begründung eines ästhetischen Werturteils (männlich/weiblich), die aufgerufenen Ideen- und Gedankenkreise, Bilder, Assoziationen oder Geschichten zeigen, dass genderkonnotiertes Sprechen über und narratives Deuten von Musik zur Brahms-Zeit Teil des Musikdiskurses waren. Es ist davon auszugehen, dass Musik- und Geschlechterdiskurs in ihrer reziproken Verflechtung als soziokulturelle Prozesse an der Konstruktion von Geschlechterkonzepten beteiligt waren.1013 Da die diskursiven Aussagen über männliche Musik oder über androzentrische Narrativierungen der Musik nicht isoliert standen, sondern in die Strukturen des Geschlechterdiskurses und in den kulturellen Kontext der Zeit eingebunden waren, erhielten sie Sinn und Wirkungsmacht: Die Art und Weise, wie wir Dinge und Ereignisse interpretieren und sie innerhalb unseres Bedeutungssystems positionieren, hängt [...] von diskursiven Strukturen ab. Diese diskursiven Strukturen bestimmen, so Foucault, dass Dinge und Ereignisse uns real und materiell erscheinen.1014
Die Beschäftigung mit der Frage nach der Verflechtung von Musik- und Geschlechterdiskurs, konkret untersucht anhand der Musik von Johannes Brahms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gewährt Einblicke in die historische Situation der Entwicklung und Etablierung bürgerlicher Vorstellungen zum Geschlechterverhältnis in und durch Musik. Dabei sind die Reflexion auf das geschichtliche Gewordensein, die Einsicht in die vorausgegangenen Formen des
1012 Nünning/Nünning: Grenzüberschreitungen, S. 1. 1013 Vgl. Nünning/Nünning: Making gendered selves, S. 39; Kramer: Musical narratology, S. 143f. 1014 Mills: Diskurs, S. 54.
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Geschlechterverhältnisses und die soziokulturellen Ausprägungen in der Musik Voraussetzungen dafür, um die gegenwärtige Situation begreifen zu können.1015 Wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bürgerlichen Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit fest- und zum Teil auch umgeschrieben, so stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Geschlechterdiskurses in der heutigen, aufgeklärten, postmodern-liberalen und globalisierten Musikkultur. Zwar sind dekonstruktivistische Prozesse in musikkulturellen Praktiken festzustellen, angefangen von ‚neuen‘ Frauenfiguren im zeitgenössischen Musiktheater bis hin zu subversiven Inszenierungen in Performances und populärer Musik, aber die Literatur-und Kulturwissenschaftlerin Renate Hof musste 2005 feststellen: „Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch eine bisher nie dagewesene Flexibilität der gender-Konstruktionen bei gleichzeitiger Stabilität der Geschlechterordnung, die weiterhin den Anschein von Natürlichkeit erweckt.“1016 Demnach habe sich das binäre System der Geschlechtercodierung kaum verändert, so dass es ein paradoxes Nebeneinander von zunehmender sozialer Dysfunktionalität und einer beharrlichen Präsenz der Geschlechterdifferenz gebe.1017 – Hierzu seien drei Beispiele aus musikwissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre angeführt: •
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1015 1016 1017 1018 1019
Werner Wolf fragt 2002 in seinem Grundsatz-Artikel über eine intermediale Erzähltheorie, ob man nicht beim 2. Satz aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 „im Einklang mit einer trotz feministischer Kritik immer noch verbreiteten Tendenz, bestimmte Qualitäten wie kraftvoll und zaghaft mit männlichen bzw. weiblichen Eigenschaften zu verbinden [...] hier von zwei Protagonisten unterschiedlichen Geschlechts ausgehen [...]“1018 könnte? Nach einer ausführlichen Analyse der Sätze des Klavierquartetts op. 60 von Johannes Brahms schlägt Peter H. Smith 2005 vor, die drei Themen im Andante mit den drei zentralen Personen des Schumann-Brahms-Kreises in Verbindung zu bringen: “The solidity and consoling character of the main theme join the tessitura and timbre of the cello to endow the material not merely with masculine attributes, but also with a paternal tone appropriate for correlation with Robert.” Die beiden Themen des B-Teils werden mit Clara Schumann und Johannes Brahms personifiziert: „If we are to interpret these materials in terms of gender association, then the floating syncopated idea is the more obvious candidate for a feminine association and thus for correlation with Clara. This leaves the earnest dottedrhythm idea as part of a thematic representation of the young Brahms.”1019
Vgl. Knapp: Differenz, S. 504f. Hof: Einleitung, S. 31. Vgl. Hof: Einleitung, S. 31. Wolf: Narrativität, S. 91. Smith: Expressive forms, S. 220.
Zusammenfassung •
337
Wilhelm Seidel analysiert und narrativiert 2004/²2007 die Ballade op. 23 g-Moll von Frédéric Chopin folgendermaßen: Die erste Idee (T. 9–65) ist der Mann, sie „hat keine fest umrissene Gestalt, aber einen eigenen, durch unverwechselbare Motive getragenen Charakter.“1020„Die zweite Idee [die Frau] ist mehr als der Gegensatz der ersten. Sie ist das schlechthin Andere: ein Bild, ein Inbegriff musikalischer Schönheit. [...] Mit der zweiten Idee identifiziert sich der Zuhörer nicht. Sie nimmt er aus der Perspektive der ersten Idee wahr. Er staunt sie an, als käme sie aus einer anderen Welt. Sie hat alle Attribute, die man im 19. Jahrhundert mit einer jungen, begehrenswerten Frau verbunden hat.“1021 In der Durchführung kommt es dann zur Begegnung, die zweite Idee ist verändert, sich selbst entfremdet. In der Reprise erscheint die Frau wieder und kehrt sich dann ab. „Der Verlassene bäumt sich gegen sein Schicksal auf. [...] Der Einsame bricht in eine leidenschaftliche Klage aus. Ihr folgen Gesten der Empörung und des Schmerzes und die Figur eines willentlich forcierten Zusammenbruchs.“1022
Die Beispiele zeigen, dass musikwissenschaftliches Denken auch weiterhin von speziellen Wahrnehmungskontexten wie dem Geschlechterdiskurs geprägt wird, und sie legen die Vermutung nahe, dass der musikwissenschaftliche Diskurs1023 weiterhin an der Fortschreibung des binären Systems der Geschlechtercodierung beteiligt ist. Aber nur durch kritische (Selbst-)Reflexion können die Rekonstruktionen von binären Geschlechterkonzepten im Rahmen der unterschiedlichen musikalischen Aktivitäten wie Komposition, Interpretation, Rezeption oder musikwissenschaftlicher Analyse bewusst gemacht und überwunden werden. Dazu gehört auch ein geschlechtersensibler Umgang mit Sprache bei der Analyse und Interpretation von Musik. Wie im Zusammenhang mit dem Mansholt Report1024 gezeigt wurde, beeinflussen Diskurse unsere Interpretation von Texten und die Wahrnehmung der Realität, was für den Musikdiskurs bedeutet, dass dieser die Wahrnehmung und Interpretation und damit auch die Bedeutung, die der Musik zugewiesen wird, bestimmt. Und er beeinflusst ebenfalls die Codierung der Geschlechterkonzepte, wenn weiterhin unreflektiert rhythmisch prägnante, aggressive oder laute Musik als männlich oder männliche Figur und leise, kleinschrittige oder lyrische Musik als weiblich oder weibliche Figur gedeutet werden.
1020 1021 1022 1023 1024
Seidel: Chopin-Ballade, S. 41. Seidel: Chopin-Ballade, S. 45. Seidel: Chopin-Ballade, S. 57. Maus: Masculine discourse. Der marxistische Linguist Michel Pêcheux (Pêcheux: Language) gab zwei Gruppen von Studierenden einen wirtschaftswissenschaftlichen Text zur Lektüre. Der ersten Gruppe wurde gesagt, es handele sich um einen ‚linken‘, der zweiten Gruppe, es handele sich um einen ‚rechten‘ Text. Obwohl der Text eher gemäßigt formuliert war, konnte Pêcheux zeigen, „dass jede Gruppe ihn jedoch selektiv so las, dass er in den von ihm vorgegebenen politischen Rahmen passte.“ (Mills: Diskurs, S. 14).
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Zusammenfassung
Musik bzw. musikbezogene Handlungen sind nicht und waren nie eine von den gesellschaftlichen Kontexten unbefleckte ‚reine‘ Kunst – das macht gerade ihren anthropologischen Wert aus. Musik ist immer in soziokulturelle Kontexte, individuelle Hörwelten und lebensspezifische Situationen eingebunden, zu denen die fundamentalen Diskurse über Männlichkeit und Weiblichkeit unseres Kulturkreises zu zählen sind. Geschlechterkonzepte fließen in die musikalische Produktion ebenso ein wie in die Rezeption oder in das musikwissenschaftliche Arbeiten; dass es sich hierbei um ein die Jahrhunderte überdauerndes Phänomen handelt, dürften die Ausführungen zur Musik von Johannes Brahms ebenso wie die Ausblicke auf aktuelle musikwissenschaftliche Veröffentlichungen deutlich gemacht haben. Um diese rekonstruierenden Prozesse aufzubrechen, müssen die ‚Heroen‘ der Musikgeschichte, die vermeintlich überzeitliche, allgemeingültige, allgemeinmenschliche absolute Musik geschrieben haben, in ihre je individuellen sozialen Kontexte zurückgeholt werden. Auch sie ‚haben ein Geschlecht‘, betreiben ein Doing gender und sind in ihrem musikbezogenen Handeln von ihrer geschlechtlichen Identität und den Chancen und Grenzen des Geschlechterdiskurses geprägt. In der Musik der ‚großen Komponisten‘ hören wir ihre individuelle ‚Stimme‘, die (auch) vom Geschlechterdiskurs ihrer Zeit eingefärbt ist. Ihre Werke und die Rezeption derselben sind in gesellschaftliche Diskurse eingebettet, die darüber mitbestimmen, welche Musik komponiert und wahrgenommen wird, wie über Musik gesprochen und welche Bedeutung ihr beigemessen wird. Die Werke von Komponisten und Komponistinnen, die Rezeption ihrer Musik sowie das Schreiben und Sprechen über Musik müssen in einer geschlechtersensiblen, kulturwissenschaftlich orientierten, sozialhistorischen Aufarbeitung untersucht werden, und zwar nicht nur die klassisch-romantische Musik, sondern ebenso populäre Musik, Jazz, Film-Musik, Avantgarde-Musik oder Volksmusik usw. Nur so wird es möglich werden, nicht immer wieder neu den alten Hut der Geschlechterdifferenz im Musikdiskurs zu rekonstruieren. Dazu bedarf es eines Bewusstseins für die reflexive Verknüpfung von Musik- und Geschlechterdiskurs, wie sie für die Musik von Johannes Brahms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich gemacht werden konnte.
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8.2 Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20
Abbildungsverzeichnis Der 63jährige Brahms; Photographie im Kabinettformat, Wien, 15. Juni 1896, (letzte Photographie von Maria Fellinger), Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck. Der 29jährige Brahms; Photographie, Visitformat, Hamburg, 1862, Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/1, T. 1–25, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (107) 1. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/1, T. 117–142, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (111) 5. Kein Haus, keine Heimat op. 94/5, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 25, S. (160) 12. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/3, T. 44–59, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (122) 16. Die Kränze op. 46/1, T. 1–13, aus: BRAHMS, Johannes, Sämtliche Werke, Bd. 24, S. (18) 2. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/7, T. 1–19, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (147). Unbewegte laue Luft op. 57/8, T. 1–15, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 24, S. (104) 26. Unbewegte laue Luft op. 57/8, T. 61–70, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 24, S. (104) 26. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/11, T. 1–24, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (171) 65. Liebestreu op. 3/1, T. 1–10, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. 1. Liebestreu op. 3/1, T. 26–35, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. 3. Sulima. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/13, T. 1–19, aus: aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (178) 72. Willst du, daß ich geh? op. 57/8, T. 32–44, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 25, S. (56) 12. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/15, T. 1–12, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (189) 83. Romanzen aus L. Tiecks Magelone op. 33/15, T. 101–116, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. (194) 88. 5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45, T. 1–5, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 114. 5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45, T. 51–57, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 122. 5. Satz aus dem Deutschen Requiem op. 45, T. 75–82, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 17, S. 126.
Verzeichnisse Abb. 21
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Wiegenlied op. 49/4, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 24, S. (73) 11. Abb. 22 Gebirgs-Bleamln von Alexander Baumann, Nr. 1: S’is Anderscht, aus: KAHLER: Wiegenlied, S. 68. Abb. 23 Vergleich Tasso – Goethe. Abb. 24 Verlaufsschema Rinaldo-Kantate op. 50. Abb. 25 Rinaldo-Kantate op. 50, T. 1–10, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. (93) 3. Abb. 26a Rinaldo-Kantate op. 50, Schildszene, T. 652–659, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. (143) 53. Abb. 26b Rinaldo-Kantate op. 50, Schildszene, T. 660–666, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. (144) 54. Abb. 27 Rinaldo-Kantate op. 50, Beginn der Zerstörungsszene, T. 944–954, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 18, S. (172) 82. Abb. 28 Autograph, Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit MendelssohnArchiv; Signatur: Mus.ms. autogr. J. Brahms 2. Abb. 29 Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, T. 1–7, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 45. Abb. 30 Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, T. 66–75, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 51. Abb. 31 Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15, T. 96–103, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 54. Abb. 32 Formschema Adagio, 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15. Abb. 33 Ludwig van Beethoven: Fidelio, Finale (Sostenuto Assai), S. 627. Abb. 34 Schumann-Variationen op. 9, Nr. 6, T. 152–155, aus: BRAHMS: Schumann-Variationen op. 9 (Urtext), S. 6. Abb. 35 4. Satz, 3. Sinfonie op. 90, T. 52–55, aus: BRAHMS, Johannes: Sinfonie Nr. 3 op. 90, S. 89. Abb. 36 Schumann-Variationen op. 9, Nr. 4, T. 85–108, aus: BRAHMS: Schumann-Variationen op. 9 (Urtext), S. 4. Abb. 37 1. Satz, Klavierquintett op. 34, T. 1–8, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 1. Abb. 38 1. Satz, Streichquintett op. 88, T. 1–23, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 7, S. (95) 1. Abb. 39 1. Satz, Klavierquartett op. 60, T. 1–26, aus: BRAHMS, Johannes: Sämtliche Werke, Bd. 8, S. (236) 2. Abb. 40 1. Satz des Klavierkonzerts d-Moll op. 15: Formverlauf und Interpretation von Carl Beyer. Abb. 41 Musikalische Gestaltungsmittel für Männlichkeit bzw. Weiblichkeit im 1. Satz des Klavierkonzertes d-Moll op. 15 in der Interpretation von Carl Beyer.
Danksagung An dieser Stelle möchte ich den Menschen meinen ganz besonderen Dank aussprechen, deren Unterstützung für die vorliegende Arbeit bedeutsam war. Meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Freia Hoffmann danke ich für zahlreiche Gespräche, konstruktive Kritik und berufliche Förderung. Ihr DoktorandInnen-Kolloquium und meine Tätigkeit am Sophie Drinker Institut, Bremen, boten mir ein anregendes Diskussionsforum, das für wichtige Impulse gesorgt hat. Daneben möchte ich allen BeraterInnen und Teilnehmerinnen des Unabhängigen Forschungskolloquiums in der musikwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung (UFO 002) danken, mit denen ich meine Ideen diskutieren konnte, die kritisch nachgefragt und vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragt haben. Ein besonderer Dank geht an Frau Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr, die es als Mitherausgeberin möglich gemacht hat, dass meine Arbeit in der Reihe Musik–Kultur–Gender erscheinen kann, und an die Mariann Steegmann Foundation, die mir finanzielle Unterstützung in Form eines Druckkostenzuschusses gewährte. Elena Mohr und Sandra Hartmann vom Böhlau-Verlag Köln/Weimar waren mir bei der Drucklegung des Buches behilflich. Das Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck und die Staatsbibliothek Berlin haben freundlicherweise Abdruckgenehmigungen erteilt. Herrn Prof. Dr. Norbert Jers verdanke ich jahrelange unermüdliche freundschaftliche Unterstützung sowie kritische Begleitung während des gesamten Projektes. Mit Martina Oster verbindet mich eine kollegiale Freundschaft inklusive gegenseitiger Dissertationsunterstützung. Meine ehemalige UFO-Kollegin und zeitweilige Nachbarin Katrin Losleben hat unschätzbare Dienste während der Endphase der Arbeit geleistet, die sie durch Korrekturlesen und motivierende Gespräche erbracht hat. Nicht zuletzt möchte ich meiner Familie und meinen FreundInnen für ihre geduldige Begleitung und tatkräftige Unterstützung während des gesamten Projektes danken. Aber mein ganz besonderer Dank gilt meinem Mann, Uli Milde, und unseren beiden Kindern, Katharina und Johannes, die für ein aufregendes, zuweilen anstrengendes, aber immer ausgleichendes Leben neben der Dissertation gesorgt haben. Ihnen ist diese Arbeit von Herzen zugeeignet. Raeren, im Oktober 2009
Marion Gerards