Frauen erzählen Geschichte: Historische Romane österreichischer Autorinnen von der Ersten zur Zweiten Republik [1 ed.] 9783737014359, 9783847114352


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Frauen erzählen Geschichte: Historische Romane österreichischer Autorinnen von der Ersten zur Zweiten Republik [1 ed.]
 9783737014359, 9783847114352

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Schriften der Wiener Germanistik

Band 8

Herausgegeben von Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Aneta Jachimowicz (Hg.)

Frauen erzählen Geschichte Historische Romane österreichischer Autorinnen von der Ersten zur Zweiten Republik

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn, Polen. Gutachter: Prof. Edward Białek © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Eda Yukov, Titel: Dama z pupilem. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-7766 ISBN 978-3-7370-1435-9

Inhalt

Aneta Jachimowicz (Olsztyn) Literarische Geschichtsdarstellungen in historischer Prosa der Schriftstellerinnen von der Ersten zur Zweiten Republik Österreich – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Johann Sonnleitner (Wien) Historische Romane aus Österreich über Katharina die Große. Zu Marta Karlweis’ »Gastmahl auf Dubrowitza« und Elisabeth Freundlichs »Der eherne Reiter« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Veronika Hofeneder (Wien) Historischer Roman und (Individual-)Psychologie: Macht und Ohnmacht in Gina Kaus’ »Katharina die Große« (1935) . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Jasmin Grande (Düsseldorf) Zur Geschichts- und Raumtransformation in Maria von Peteanis »Das Glück der Hanne Seebach. Eine Liebesgeschichte aus den Biedermeiertagen« (1920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Kira Kaufmann (Wien) Von Palästen, Kaiserinnen, Engeln und Eunuchen – Byzanz bei Alma Johanna Koenig und Bertha Eckstein-Diener . . . . . . . . . . . . .

73

Renata Trejnowska-Supranowicz (Olsztyn) Gisela Berger und die Elemente des Fantastischen anhand ihres historischen Romans »Der wandelnde Tod« . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Susanne Blumesberger (Wien) »Schreiben, was mir am Herzen liegt« – ein Blick auf historische Werke von Hertha Pauli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6

Inhalt

Justyna Górny (Warszawa) »Der Kampf ist ausgekämpft, die Liebe bleibt« – die Protagonistinnen in den Romanen von Maria Krück von Poturzyn . . . . . . . . . . . . . . . 133 Tadeusz Skwara (Warszawa) »Stephana Schwertner« Enrica von Handel-Mazzettis – ein Vorbild für österreichische Schriftstellerinnen der Zwischenkriegszeit? . . . . . . . . 145 Petra-Maria Dallinger (Linz) Letzten Endes keine historischen Romane? Enrica von Handel-Mazzetti, »Die Waxenbergerin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck) Der historische Roman als Heimatroman – Henriette Schrott-Pelzel

. . . 177

Sigrid Schmid-Bortenschlager (Salzburg / Crocq) Edith Gräfin Salburg. Die Entwicklung eines Ideologie-Konglomerates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Viktoria Pötzl (Grinnell) Antisemitische und philosemitische Geschlechterkonstruktionen im historischen Kontext am Beispiel von Grete von Urbanitzkys »Mirjams Sohn« (1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Dagmar Heißler (Wien) »Meister, Bürger und Rebell. Das Lebensbild Tilmann Riemenschneiders« (1937): Luise G. Bachmanns Bauernkriegsroman als Appell zur politischen Positionierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Clara Huber (Wien) »Désirée« – eine von uns. Die »Neue Frau« in Annemarie Selinkos historischem Tagebuchroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Biogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Aneta Jachimowicz (Olsztyn)

Literarische Geschichtsdarstellungen in historischer Prosa der Schriftstellerinnen von der Ersten zur Zweiten Republik Österreich – eine Einleitung

1.

Prämissen

Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte der historische Roman in Österreich, wie im ganzen deutschsprachigen Raum, eine unerhörte Konjunktur, so dass diese Gattung mit über 370 Romanen von österreichischen Autoren und Autorinnen, die zwischen 1918 und 1938 entstanden sind,1 als ein typisches und epochenspezifisches literarisches Genre dieser Zeit gelten kann. Keine andere Gattung weckte solche Kontroversen wie der historische Roman, dem das Odium anhaftet, rückständig, nicht realitätsbezogen, obsolet, trivial, höchstens unterhaltend zu sein. Der Großteil dieser Romane erscheint heute weder literarisch anspruchsvoll noch unterhaltend oder erzählerisch attraktiv, dagegen – oftmals im altmodischen Sprachduktus geschrieben und von der konservativ-katholischen Kulturpolitik geprägt oder mit der Blut-und-Boden-Ideologie belastet – antimodern, weltanschaulich schlicht und einfach, nicht der wissenschaftlichen Mühe wert. Die Breite der zeitgenössischen Rezeption zeigt jedoch, dass der historische Roman ein primäres gesellschaftliches Medium allgemeiner weltanschaulicher und politischer Fragen sowie Orientierungen war. Deswegen erscheint es – nicht nur rezeptionsgeschichtlich und literatursoziologisch gesehen – sinnvoll, sich anzusehen, wie in der historischen Prosa, und vor allem dem historischen Roman, historische Erfahrungen und Ereignisse umgedeutet und angenommen, welche Verfahrensweisen verwendet und schließlich welche Weltdeutungsmuster damit dem breiten Leserkreis angeboten wurden. Der vorliegende Band schließt an das 2018 bei Königshausen & Neumann erschienene Buch »Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht«2 an und ergänzt eine seiner auffälligsten Lücken, und zwar 1 Aneta Jachimowicz, Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht, Würzburg 2018, S. 8. Zum Verzeichnis der deutschsprachigen historischen Romane von 1780 bis 1945 siehe auch die Online-Datenbank: Projekt »Historischer Roman« mit dem Verzeichnis von: https://www.uibk.ac.at/germanistik/histrom/. 2 Vgl. Jachimowicz 2018.

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das weibliche Schreiben von historischen Romanen. Erweitert wird dies um andere Formen historischer Prosa wie kulturhistorische Abhandlungen, Biografien und Erzählungen sowie um zwei historische Romane, die nach dem Zweiten Weltkrieg herausgegeben wurden, sich aber in die Tradition und gesellschaftlichen Stimmungen der Zwischenkriegszeit einfügen lassen. In der genannten Monografie zum historischen Roman der Ersten Republik, deren zentrales Anliegen nicht nur die Erstellung einer vollständigen Bibliografie der österreichischen historischen Romane und die deskriptive Darstellung ihrer historischen Stoffe, sondern vor allem die Erfassung der bedeutungsstiftenden Artifizialität von historischen Vermittlungen war, wurde zwar der Versuch unternommen, ein vollständiges Verzeichnis von historischen Romanen – auch der österreichischen Schriftstellerinnen – zu liefern, doch im analytischen Teil, der präsentiert, wie historische Stoffe von der nachzeitigen Position perspektiviert wurden, wurde lediglich auf zwei Romane von Frauen Bezug genommen – auf Enrica von Handel-Mazzettis »Der deutsche Held« von 1920 und auf Alma Johanna Koenigs »Der heilige Palast« von 1922. Da diese Studie aufzeigen sollte, wie man im historischen Roman der Ersten Republik die Geschichtsentwürfe als Instrument für die Kommentare zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lage Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg verwendet hat, wurde der analytische Teil nicht nach historischen Stoffen gegliedert, sondern nach aktuellen Themen, die für die Erste Republik Österreich grundlegend waren, wie z. B. der Anschluss an Deutschland, die Einstellung zu den Habsburgern und der Revolution sowie das Spannungsverhältnis zwischen Katholizismus und Protestantismus. Es scheint aber sinnvoll zu sein, sich ebenfalls der Darstellung der weiblichen Geschichtserfahrung zuzuwenden und zu untersuchen, wie die Schriftstellerinnen mit dem Quellenmaterial umgegangen sind, um mit ihren Geschichtstransformationen3 an den aktuellen Diskursen teilzunehmen, ihr Geschichtsbewusstsein und die Geschichtsauffassung narrativ zu gestalten oder der androzentrischen Historiografie ein Gegenbeispiel zu liefern. In der Forschung zum historischen Roman, nicht nur der Ersten Republik Österreich, wird die weibliche Stimme weitgehend übersehen,4 was einerseits 3 Den Begriff der Geschichtstransformation verwende ich hier in Anlehnung an das Buch von Sonja Georgi u. a. (Hg.), Geschichtstransformationen. Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption, Bielefeld 2015. Mit der Geschichtstransformation hat man es dann zu tun, wenn »[d]er Akteur bzw. die Akteure […] einen Wirklichkeitsausschnitt aus einer zeitlich späteren, nachzeitigen Position, die dem vorherrschenden Geschichtsbewusstsein sowie den geschichtskulturellen Wertvorstellungen der jeweiligen Zeit verpflichtet sind«, perspektivieren, S. 17–18. 4 Gemeint sind hier nicht die Einzelstudien zur schriftstellerischen Arbeit, darunter zu den historischen Romanen, gewählter Autorinnen, sondern die übergreifenden Untersuchungen zum Thema. Nur als Beispiel sollte man die Studie von Bettina Hey’l zum historischen Roman der Weimarer Republik angeben, in der allein zwei Romane von Frauen behandelt werden. Vgl.

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damit zusammenhängt, dass diese Literatur in die oft als minderwertig, höchstens unterhaltend begriffene Frauenliteratur rubriziert wurde; andererseits ist dies mit der quantitativen Repräsentation von historischen Romanen weiblicher Autorschaft verbunden. Schaut man sich die literarische Produktion von Geschichtsromanen in der Ersten Republik Österreich an, so wird ersichtlich, dass es unter den annähernd einhundertfünfzig ermittelten Autoren und Autorinnen historischer Romane ca. dreißig Frauen gibt, wobei einige von ihnen in der Zeit von der Ersten zur Zweiten Republik auf dem literarischen Markt relativ bekannt waren, heutzutage aber weitgehend vergessen sind. Das mag in manchen Fällen auch gute Gründe gehabt haben. Einige Autorinnen, wie die in diesem Band genannten Grete von Urbanitzky, Edith Gräfin Salburg und Luise G. Bachmann, haben wegen ihrer antisemitischen, völkischen oder nationalsozialistischen Haltung selbst verschuldet, dass sie in Vergessenheit geraten sind,5 einige, wie z. B. Henriette Schrott-Pelzel, wurden schon zu ihrer Zeit marginal rezipiert, nicht außerhalb eines bestimmten Milieus gelesen, waren nur mit regionalen Verlagen verbunden, der schlichten Heimatliteratur verpflichtet oder disqualifizierten sich wie Enrica von Handel-Mazzetti durch ihre tendenziöse und antimoderne Weltbetrachtung oder Erzählweise weitgehend selbst,6 so dass ihre Werke heute eher von literaturdokumentarischem Wert sind; andere wiederum, wie Marta Karlweis, Gina Kaus oder Hertha Pauli, wurden Opfer der politisch geprägten Kulturpolitik, gingen ins Exil, aus dem sie nie wieder nach Österreich zurückkehrten, wurden irrtümlich als Autorinnen der trivialen Frauenliteratur Bettina Hey’l, Geschichtsdenken und literarische Moderne: zum historischen Roman in der Zeit der Weimarer Republik, Tübingen 1994. In der Arbeit Hans Vilmar Gepperts über den historischen Roman vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Postmoderne, die sich mit zahlreichen Romanen der deutschen, englisch-amerikanischen und französischen Literatur beschäftigt und ihn als »transnational angelegte Gattungsgeschichte« (Umschlagtext) begreift, wird keine Schriftstellerin behandelt. Vgl. Hans Vilmar Geppert, Der Historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009. Im Buch von Hugo Aust, Der historische Roman, Stuttgart 1994 werden Frauen repräsentiert, der historische Roman wird aber nicht als imaginativer Ort von weiblichen Erfahrungen beschrieben. Einen kleinen Beitrag dazu liefert der Band von Georgi u. a., in dem nicht nur die weibliche Perspektive, sondern auch weibliche Subjekte sichtbar gemacht werden (vgl. Georgi u. a.), sowie die ausgezeichnete Diplomarbeit von Corina Prochazka, Geschichte weiblich: der historische Roman österreichischer Schriftstellerinnen von der Ersten zur Zweiten Republik, Diplomarbeit, Universität Wien 2019. 5 Vgl. dazu die Beiträge von: Viktoria Pötzl, Antisemitische und philosemitische Geschlechterkonstruktionen im historischen Kontext am Beispiel von Grete von Urbanitzkys »Mirjams Sohn« (1926), von Sigrid Schmid-Bortenschlager, Edith Gräfin Salburg. Die Entwicklung eines Ideologie-Konglomerates, und von Dagmar Heißler, »Meister, Bürger und Rebell. Das Lebensbild Tilmann Riemenschneiders« (1937): Luise G. Bachmanns Bauernkriegsroman als Appell zur politischen Positionierung?, alle drei Romane in diesem Band. 6 Vgl. dazu Sigurd Paul Scheichl, Der historische Roman als Heimatroman – Henriette SchrottPelzel, und z. B. Petra-Maria Dallinger, Letzten Endes keine historischen Romane? Enrica von Handel-Mazzetti, »Die Waxenbergerin« in diesem Band.

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etikettiert, sodass sie sich keinen festen Platz mehr in der Literaturgeschichte verschaffen konnten,7 oder wurden während des Zweiten Weltkriegs, wie Alma Johanna Koenig, in einem Konzentrationslager ermordet. Das Exil bedeutete für die Autorinnen meistens ein Vergessen und die Unmöglichkeit, im Literaturbetrieb zu verbleiben, da sie – im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen – nicht so stark literarisch oder politisch vernetzt waren. Somit bedeutete der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg für viele Schriftstellerinnen das Ende ihrer literarischen Karriere, die Unmöglichkeit, an ihre mehr oder weniger großen Erfolge in der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen.8 Das Ziel dieses Bandes ist doppelt angelegt: Vordergründig geht es um das Aufzeigen der – im Unterschied zu dem in der Forschungsliteratur omnipräsenten historischen Roman männlicher Autorschaft – peripher eingestuften weiblichen Produktion von historischen Romanen, ohne die die Forschung in seiner Gesamtheit nicht komplett ist. Beim Ergänzen dieser Forschungslücke um die weibliche Perspektive zielt dieser Band nicht so sehr auf feministische oder gender-orientierte Ansätze ab, auch wenn der feministische Zugang für einige Beiträge eine Denkbasis schaffen, sondern vielmehr auf die neuesten Forschungen zu fiktionaler Geschichtsdarstellung9, Geschichtsrepräsentationen10 und -transformationen.11 Es wird hinterfragt, wie die Schriftstellerinnen in ihrer historischen Prosa fremde Geschichte in das eigene oder ubiquitäre Denksystem einfügen. Außerdem will dieser Band einen Beitrag zur Kanon-Debatte liefern und Anlass geben, sich jenseits der kanonisierten Literatur umzusehen, wobei es nicht in allen Fällen um die Rehabilitierung der jeweiligen Schriftstellerinnen geht – mit solchen Autorinnen wie Henriette Schrott-Pelzel, Luise G. Bachmann, Edith Gräfin Salburg oder Grete von Urbanitzky wird hier sogar der Gegenteil geleistet –, sondern um das Aufzeigen von literarischen Tendenzen und Präferenzen dieser Zeit. In den Blick rücken die Fragen, mit welchen historischen Stoffen und Figuren die Schriftstellerinnen unterschiedlicher politischer Couleurs oder literarischer Traditionen ihre Werte promulgieren, inwieweit die historische Prosa für sie ein Medium der zeitgenössischen gesellschaftlichen Entwicklungen war, ob sie in Inhalt und Form das Fiktionale der Geschichte 7 Beispielhaft dafür sind Martha Karlweis, Hertha Pauli, Gina Kaus. Vgl. dazu die Beiträge in diesem Band von: Veronika Hofeneder, Historischer Roman und (Individual-)Psychologie: Macht und Ohnmacht in Gina Kaus’ »Katharina die Große« (1935), Susanne Blumesberger, »Schreiben, was mir am Herzen liegt« – ein Blick auf historische Werke von Hertha Pauli. 8 Vgl. Christa Gürtler / Sigrid Schmid-Bortenschlager (Hg.), Österreichische Schriftstellerinnen 1918–1945. Fünfzehn Porträts und Texte, Salzburg 2002, S. 16, 22. 9 Vgl. Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zur historiographischer Metafiktion, Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier 1995. 10 Vgl. Daniel Fulda / Silvia Serena Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin 2002. 11 Vgl. Anm. 3.

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hervorheben und damit ein historisches Bewusstsein ausbilden, oder ob sie den Leser mit ihren suggestiven Geschichtsbildern für die politischen Ziele der Gegenwart manipulieren. Dieser Band legt außerdem Verfahrensweisen der Geschichtsaneignung sowie Selektionsverfahren nahe und zeigt auf, inwieweit die Autorinnen mit ihrem Geschichtssinn in der historischen Prosa Kritik an historischen und aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sowie Geschlechterverhältnissen geübt haben.

2.

Der historische Roman der Ersten Republik Österreich12

Warum schrieb man aber in der Zwischenkriegszeit so gern historische Prosa? Um sich an den Geschmack des breiten Lesepublikums anzupassen? Aus eskapistischen Gründen? Als Reflex zeitgeschichtlicher Erfahrungen und als eine kreative perspektivierende Antwort auf die spezifische Situation der geistigen und politischen Krisenzeit vom Anfang der Ersten bis zur Zweiten Republik? Über die Gründe der Popularität der historischen Stoffe in der Zwischenkriegszeit reflektierte im Jahr 1930 schon Siegfried Kracauer in seinem Essay »Die Biographie als neubürgerliche Kunstform«, in welchem er den Ursprung des historischen Soges in dem aus der sozioökonomischen Krise resultierenden Bewusstseinswandel des Bürgertums, in seiner Identitätskrise nach dem Zusammenbruch der alten Welt, in der Sehnsucht nach Stabilität im Zeitalter des politischen Chaos sowie in der Krise des in der Moderne obsolet gewordenen Individuums sah. »Die Geschichte […] taucht als Festland aus dem Meer des Gestaltlosen, Nichtzugestaltenden auf«13 und sättigt den Wunsch der Bürgerlichen nach Kontinuität. Vom »Bedürfnis nach Geschichte«, das vor allem für die Zeit nach 1918 und für die 1930er Jahre in Österreich kennzeichnend war, sprach der Wiener Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler. Auch er sah die Gründe des gestiegenen Interesses für Geschichte in der »Verzweiflung an der Gegenwart«, die durch die »tiefe Unsicherheit« nach dem Ersten Weltkrieg bedingt war.14 Die Gründe für den lebhaften Aufschwung der historischen Gattung mögen auch in der allgemeinen Krise der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, der Entwicklung von Psychologie und Soziologie, der Krise des Romans sowie in

12 Ich beziehe mich bei den folgenden Ausführungen im großen Teil auf das Buch über den historischen Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht, vgl. Jachimowicz 2018, S. 7–60. 13 Siegfried Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, in: Ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1977, S. 75–80, hier S. 76. 14 Wendelin Schmidt-Dengler, »Bedürfnis nach Geschichte«, in: Ders., Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit, Wien 2002, S. 92–110, hier S. 92.

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der sich paradoxerweise auf den Aufschwung der historischen Belletristik (Biografie) auswirkenden Historismuskrise liegen.15 Das gestiegene Interesses für historische Prosa musste also keine eskapistischen Gründe haben, wie es Krakauer behauptete, denn sie erschien nicht als Verweigerung der Gegenwart, sondern funktionierte als eine Antwort auf diese Gegenwart, die politischen und sozialen Umwälzungen sowie auf aktuelle Veränderungen im Alltagsleben.16 Der historische Roman versuchte ähnliche Themen anzusprechen und dieselben Probleme zu lösen wie die nicht-historische Literatur. »Mit Geschichte will man etwas«17 stellte 1936 Alfred Döblin in seinem Aufsatz »Der historische Roman und wir« fest, und diese intentional motivierte Geschichtstransformation war für die Produktion von historischen Romanen, die sich meistens vom Objektivitätsanspruch distanzierte, grundlegend. Mit dem historischen Roman veranschaulichte man dieselben grundsätzlichen Problemfelder der Zeit, nahm Stellung zu denselben aktuellen Diskursen und setzte sich kritisch mit denselben gesellschaftlichen Phänomenen auseinander, um die es auch in den Zeitromanen der Zwischenkriegszeit ging. Die Verfasser und Verfasserinnen der historischen Romane thematisierten zeitaktuell sowohl die Konzeption des Realitätsbegriffs und die Konzeption von Person und Identität als auch die Ideen von Ethik und sozialem Zusammenleben, und sie wandten sich – was mit der Spezifik dieser in der Geschichte verankerten Narrationen zusammenhängt – verstärkt der Auffassung von Geschichte und geschichtlichem Ablauf zu. Das historische Material wurde von den österreichischen Autoren und Autorinnen aller politischen und weltanschaulichen Couleur als Instrument für ihre Kommentare zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lage Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg verwendet. Hinsichtlich der dramatischen politischen und ökonomischen Zäsur, die die Erste Republik nach dem Ersten Weltkrieg erlebte, bietet sich an, die historische Prosa dieser Zeit separat und in absichtlicher Abgrenzung zum historischen Roman der Weimarer Republik zu untersuchen. In der Geschichte, vor allem der österreichischen, suchten die österreichischen Autoren und Autorinnen am Anfang der Republik nach analogen Situationen, durch die sie ihre Einstellung ausdrücken konnten – zum Untergang der Habsburgermonarchie, dem Zerfall des Vielvöl15 Vgl. Hans Dahlke, Geschichtsroman und Literaturkritik im Exil, Berlin 1976, S. 9–12. 16 Ähnlich drückte sich Wendelin Schmidt-Dengler über die arrivierte Literatur und die sog. Höhenkammliteratur dieser Zeit aus, der der Eskapismusvorwurf gemacht wurde, und plädierte für eine Revision der hohen Literatur im Hinblick auf die Eigentümlichkeit der Ersten Republik. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, Abschied von Habsburg, in: Bernhard Weyergraf (Hg.), Literatur der Weimarer Republik 1919–1933, Bd. 8: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1995, S. 483–548, hier S. 486. 17 Alfred Döblin, Der historische Roman und wir, in: Ders., Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. v. Erich Kleinschmidt, Olten 1989, S. 291–316, hier S. 302.

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kerstaates, zu den separatistischen Bestrebungen der Nationen, der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit, der Revolution der Massen, der entstehenden Republik, den Anschlusshoffnungen sowie der gesellschaftlichen Rolle der Frau, den Veränderungen im weiblichen Rollenverständnis und dem Einfluss der historischen Frauengestalten auf kulturelle und politische Entwicklungen. Je nach weltanschaulicher Ausrichtung positionierten sich die Autoren und Autorinnen in ihrer historischen Prosa zu diesen Erscheinungsformen entweder affirmativ oder kritisch und kreierten die erzählte Welt so, dass diese Einstellung für ihre zahlreichen Leser und Leserinnen sofort erkennbar war. Mit dem historischen Stoff wurde der Leserschaft ein Erklärungsmuster angeboten, mit dem man die äquivalenten Situationen in der Realität finden und sich anhand dessen die Handlungsangebote für seine Zeit projizieren konnte. Der historische Roman galt also als ein Medium kritischer Gesellschaftsanalyse, die darauf abzielte, die herrschenden Zustände für die Zukunft zu verändern und zu verbessern. Da sich historische Prosa großer Popularität erfreute, ließ sich davon eine breite lesende Öffentlichkeit fesseln, die sich mit dem Zeitgeschehen kritisch auseinandersetzte und dieses Zeitgeschehen bestimmen konnte. Mit historischen Romanen sollte einerseits Hoffnung auf eine bessere Zeit geweckt werden, andererseits sollten sie vor möglichen zukünftigen Sachverhalten oder Lösungen warnen. Es wäre deswegen nicht verfehlt zu behaupten, dass die historischen Romane der Zwischenkriegszeit in Österreich durch ihre erkennbaren Zeitkommentare mehr als Zeitromane und weniger als historische Romane aufzufassen sind.18 Da der literarische Betrieb in der Ersten Republik sehr eng mit Politik und vieles, was auf dem literarischen Feld vonstattenging, mit der ideologischen Grundhaltung und den politischen Ansichten der Autoren und Autorinnen verbunden war, ist die Zugehörigkeit zu verschiedenen weltanschaulichen und politischen Lagern eine der Eigentümlichkeiten der literarischen Szene dieser Zeit. Auch wenn viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu Beginn der Republik sich für unpolitisch hielten,19 so dominierte doch die Selbstbeschreibung als humanistisch, deutschnational, katholisch oder liberal, was ihre politischen Vorlieben vorausbestimmte. Diese politischen Lager bestimmten außer dem intellektuellen auch das Alltagsleben, so dass man von einer total ideologisierten 18 Hiermit eröffnet sich die Frage nach der Gattungsbestimmung und den Gattungsgrenzen, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Verwiesen wird aber auf den Ansatz von David Roberts, der sich für einen übergreifenden »Zeit-Roman« einsetzt und die Trennung zwischen historischem Roman und Zeitroman aufhebt. Vgl. David Roberts, The Modern German Historical Novel. An Introduction, in: Ders. / Philip Thomsan (Hg.), The modern German historical novel: paradigms, problems, perspectives, New York 1991, S. 1–17. Mehr zum historischen Roman als Zeitroman vgl. Jachimowicz 2018, S. 28–37. 19 Vgl. Hans-Edwin Friedrich, Österreichische Literatur 1918–1945. Der Untergang Alteuropas, in: Herbert Zeman (Hg.), Literaturgeschichte Österreichs. Von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart, Freiburg i.Br. 2014, S. 633–712, hier S. 635.

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»Lagermentalität«20 oder »Ghetto-Kulturen« sprechen kann,21 die den literarischen Markt mit dem gesamten Kommunikations-, Distributions- und Förderungssystem weitgehend determinierten. Die historische Prosa und vor allem der historische Roman wurden zum populären Medium der meinungsbildenden Positionen, denn die Geschichte mit ihrem »transformativen Spenderbereich«22 konnte durch den selektiven Umgang mit dem historischen Geschehen sehr einfach in den Dienst der politischen Lager gestellt werden. Die Autoren und Autorinnen unterschiedlicher Gesinnungen, die – genauso wie ihre Verleger – weniger an der Vergangenheit als an der Gegenwart interessiert waren, gelangten also ohne große Hindernisse an die breite Leserschaft, um ihre politischen oder sozialen Ansichten zu propagieren. Als erstaunlich relevant erweist sich in der historischen Prosa der Ersten Republik die Idee des Anschlusses Österreichs an Deutschland sowie die – je nach ihrer ideologischen Ausrichtung – affirmative oder kritische Einstellung zu den abgedankten Habsburgern oder der Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus. Der Anschluss Österreichs an Deutschland wurde – schon während des Ersten Weltkrieges, aber auch unmittelbar danach – in historischen Romanen vor allem von völkischen und deutschnationalen Schriftstellern und Schriftstellerinnen kolportiert,23 womit man versuchte, das Bedürfnis nach einem politisch und kulturell zentralistischen Einheitsstaat zu wecken. In den 1930er Jahren arbeitete man an der Anschluss-Idee weiter, indem man in der Geschichte u. a. nach solchen Stoffen suchte, die die Habsburger – im Ständestaat zum Inbegriff des Österreichertums und der österreichischen Identität evoziert – ins schlechte Licht stellte. Im Gegensatz dazu förderten in ihrer historischen Prosa die katholischen Autoren und Autorinnen, in Anlehnung an die ständische Kulturpolitik, den Habsburgischen Mythos, denn dieses Literaturkonzept betrachtete man einerseits als Mittel im Kampf gegen die Anschluss-Idee der Deutschnationalen und für die Entwicklung eines österreichischen Staatsbe20 Ernst Fischer, Literatur und Ideologie in Österreich 1918–1938. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft, Tübingen 1985, S. 183–255, hier S. 190. Der breitangelegte Aufsatz Fischers zeigt die Sonderstellung der österreichischen Literatur der Ersten Republik im Kontext der damals herrschenden Ideologien auf und animierte damit zu weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen im Hinblick auf die Besonderheit der literatursoziologischen Phänomene. 21 Friedrich Heer, Kultur und Politik in der Ersten Republik, in: Norbert Leser (Hg.), Das geistige Leben Wien in der Zwischenkriegszeit. Ringvorlesung 19. Mai – 20. Juni 198 im Internationalen Kulturzentrum Wien, Wien 1981, S. 300–309, hier S. 301. 22 Georgi u. a., S. 20. 23 Jasmin Grande zeigt in ihrem Beitrag, dass der Anschluss-Gedanke auch im historischen Roman Maria von Peteanis, die mit dem deutschnationalen Lager gar nicht zu verbinden ist, zu finden wäre. Vgl. Jasmin Grande, Zur Geschichts- und Raumtransformation in Maria von Peteanis »Das Glück der Hanne Seebach. Eine Liebesgeschichte aus den Biedermeiertagen« (1920), in diesem Band.

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wusstseins und Nationalgefühls, andererseits als einen Gegenentwurf zu der habsburgerfeindlichen Kulturpolitik der Sozialdemokratie.24 Ein beachtenswerter Aspekt, der in österreichischen historischen Romanen massiv berührt wurde, war das Spannungsverhältnis zwischen Protestantismus und Katholizismus, Reformation und Gegenreformation, das die aktuellen Konflikte zwischen Liberalismus und Konservatismus widerspiegelte.25 Die Funktionalisierung von konfessionellen Fragen war in Bezug auf den aktuellen politischen Hintergrund in Österreich der Ersten Republik insofern von Bedeutung, als man mit diesen literarischen Geschichtstransformationen ebenfalls fruchtbaren Boden für den Anschluss vorbereiten wollte, denn der darin positiv gezeigte Protestantismus wurde in der Ersten Republik stark mit Deutschland identifiziert, an das sich die deutschnationalen Kreise anschließen wollten. Die Gegenreformation wurde dagegen als blutig verlaufende Maßnahme der Habsburger wiedergegeben, womit man die Einstellung gegen die Christlichsozialen und gegen deren katholisch geprägte Kulturpolitik in der Ersten Republik zum Ausdruck bringen wollte. Und während die deutschnationalen Autoren und Autorinnen in ihren historischen Romanen ein positives Bild von den österreichischen Vertretern des lutherischen Bekenntnisses entwarfen und in der Geschichte nach Übeltaten der Habsburger und der katholischen Kirche den Protestanten gegenüber suchten, verfassten die katholischen Autoren und Autorinnen eine Reihe von Romanen, die die Zeit der Rekatholisierung thematisierten. Die katholische Kirche wurde als Hüterin des einzig wahren, also des katholischen Glaubens gezeigt, wobei die Protestanten dabei nicht selten als Ruhestörer, Randalierer und Verräter der Religion, Tradition und als Herrscherdynastie dargestellt wurden. Weil die konfessionellen Fragen in der Zwischenkriegszeit ein eingängiges Narrativ war, sind die historischen Romane über Reformation bzw. Gegenreformation, Glaubenskämpfe sowie die damit eng verbundenen Bauernkriege die zahlreichsten unter den Geschichtsromanen der Ersten Republik. In ihrer Form sind diese ideologisch geprägten Romane ganz konventionell und die in ihnen angewandten Erzählstrategien traditionell. Störende und »entautomatisierende Momente« sind ihnen fremd,26 die geschichtlichen Kräfte 24 Friedrich Heer schreibt sogar vom »Habsburg-Kannibalismus« der Sozialdemokraten, der dem Habsburger-Komplex der Nationalsozialisten in nichts nachgestanden habe. Vgl. Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien 1981, S. 333. 25 Zur deutschnationalen Perspektive und Funktionalisierung dieses Spannungsverhältnisses siehe Sigurd Paul Scheichl, Reformation und Gegenreformation im historischen Roman der Ersten Republik (Ludwig Mahnert, Karl Itzinger, Maria Veronika Rubatscher), in: Aneta Jachimowicz (Hg.), Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich, Frankfurt am Main 2017, S. 387–406. 26 Vgl. Helmut Vallery, Führer, Volk und Charisma. Der nationalsozialistische historische Roman, Köln 1980, S. 141–142.

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werden polarisiert und die Feindbilder bestimmen die Darstellung von Konflikten. Während aber in den völkischen historischen Romanen der Drang zur Tat und das Warten auf einen Führer die Handlung motivieren, sind es in den Romanen der katholischen Autoren und Autorinnen meistens die ethischen Probleme, die die Figuren vorantreiben. Nichtsdestotrotz zielen sie mit ihren Geschichtsdarstellungen auch darauf ab, die Leserschaft für ihre christlichkonservative Gesinnung zu gewinnen, wodurch sie – vor allem im Ständestaat – zum Werkzeug der konservativen Propaganda angewandt wurden. Da in der Zwischenkriegszeit die Tageszeitungen den größten Einfluss auf den Lesergeschmack hatten und deswegen – in enger Zusammenarbeit mit den Verlagen – das Interesse der Öffentlichkeit steuern konnten, erschienen in der Presse zahlreiche Empfehlungen von historischen Romanen sowie historische Romane in Fortsetzungen. Und da die Tageszeitungen der Ersten Republik die Interessen der jeweiligen Parteien oder der weltanschaulich polarisierten Lager repräsentierten und sich deswegen an eine bestimmte politisch-ideologisch verbundene Lesergruppe richteten, wurden in den sozialdemokratischen, bürgerlich-liberalen, deutschnationalen und christlichsozialen Zeitungen solche Romane auf ihre Empfehlungsliste gesetzt, die ihren Werten entsprachen.27 Obwohl die meisten historischen Romane ein grundsätzlich triviales und ideologisch geprägtes Erzeugnis waren, distanzieren sich viele dezidiert thematisch, ästhetisch und narrativ von der Tradition des realistischen historischen Romans oder vom ideologisch belasteten Erzählen. Sie thematisieren historische Spannungen, konterkarieren den von den völkischen Autoren und Autorinnen propagierten Männerkult und zeigen, dass sie dem historischen Wandel erhöhte Aufmerksamkeit schenken, sich aber gleichfalls den modernen Fragen der »metahistoriographischen Fiktion«28, der Konstruktivität und Narrativität von Geschichte sowie der Identitätskrise zuwenden, also Themen, die auch für die nichthistorischen, modernen Romane dieser Zeit charakteristisch waren.

3.

Krise des Historismus und andere Krise-Erfahrungen versus modernes Geschichtsdenken

Der moderne historische Roman resultiert – als Medium zum Ausdruck der Wiederholbarkeit und Zufälligkeit der Geschichte oder zum Ausdruck des Zweifelns an der objektiven Darstellbarkeit der geschichtlichen Prozesse – aus 27 Vgl. das Kapitel »Bedürfnis nach Geschichte« im Spiegel der Presse in Jachimowicz 2018, S. 61–202. 28 Der Begriff stammt von Ansgar Nünning, Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion, in: Fulda, S. 541–569.

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der Krise des Historismus,29 die ihren Ursprung in Nietzsches Kritik historischer Bildung in »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« (1874) und der Ansicht vom Konstruktcharakter der Geschichte hat. Die Krise des Historismus, die die Fundamente der Geschichtswissenschaft erschütterte, resultiert aus der Ansicht, dass die traditionelle Auffassung von der als zeitlich-kausale Folge von Ereignissen begriffene Geschichte nicht mehr haltbar ist und die Geschichte sich nicht objektiv darstellen lässt. Diese Ansicht fand auch in der Literatur und in der historischen Prosa ihre Anwendung: Die modernen Autoren und Autorinnen zeigten in ihren Romanen durch verschiedene Repräsentationsmodi, dass die Geschichte ein Konstrukt ist, und dass nicht nur die fabulierte Geschichtsschreibung, sondern auch die von der akademischen Historiografie betriebene Wissenschaft Sinnstiftungsprozessen und poetologischen Kategorien unterliegt. Während in einem traditionellen Geschichtsroman die Fiktion den historiographischen Erkenntnissen und Ansprüchen untergeordnet war und man versuchte, die Vergangenheit glaubhaft darzustellen, zielten die Autoren und Autorinnen der modernen historischen Prosa nicht auf die Authentizität an sich, sondern auf die Darstellbarkeit von Authentizität ab. Dass hier das schreibende Subjekt auch in seiner weiblichen Form erwähnt wird, hat seine Gründe nicht nur im geschlechtergerechten Sprachduktus. Vielmehr soll damit wieder eine Forschungslücke hervorgehoben werden: In Bezug auf die narrativ gestaltete Fiktionalität des Geschichtssinnes im modernen historischen Roman werden nämlich meistens nur die Autoren genannt, während die Autorinnen – mit einigen Ausnahmen – weitgehend vergessen werden, obwohl zu dieser Zeit auch sie die Narrativität und Fiktionalität der Geschichte mit ihren historischen Fiktionen hervorhoben und ihren Geschichts- und Historiografie-Skeptizismus ausdrückten. Wie in diesem Band gezeigt wird, sind die Geschichtsdarstellungen von Marta Karlweis, Alma Johanna Koenig, Sir Galahad, Gina Kaus und Elisabeth Freundlich auch in diesem Kontext zu lesen. Auf die Gestaltung des in den modernen historischen Romanen vermittelten Geschichtsdenkens hatten ebenfalls andere Krisen-Erfahrungen einen großen Einfluss, und zwar solche, die mit der Krise des Historismus einhergingen und die seit der Jahrhundertwende und verstärkt seit dem Ersten Weltkrieg diagnostiziert wurden, wie die Krise des Realismus und der Wirklichkeitsauffassung sowie die Krise der Persönlichkeit und der Individualität. In der modernen historischen Prosa dieser Zeit thematisiert man das Identitätsproblem, das – mit dem ins Wanken geratenen Konzept von Person – zu einem der auffälligsten 29 Zur Krise des Historismus vgl. Gregor Streim, Krisis des Historismus und geschichtliche Gestalt. Zu einem ästhetischen Geschichtskonzept der Zwischenkriegszeit, in: Fulda, S. 461– 488 und Ulrich Kittstein, »Mit Geschichte will man etwas«. Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918–1945), Würzburg 2006, S. 63–115.

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Narrative der modernen Literatur schlechthin geworden ist. Laut Michael Titzmann, der die Krise der Identität in der Literatur um 1900 beschrieb, unterscheidet sich das moderne Konzept von Person von der Person-Auffassung der Goethezeit oder des Realismus dadurch, dass das Subjekt in der Moderne nie ein definitiv erreichter Zustand und nie ein statisches System sei, sondern immer ein unabschließbarer Wandel und ein prozessuales System: »›Person‹ ist nie eine irgendwann erreichte Sicherheit, sondern ein immer erneut Infragegestelltes, ein Risiko.«30 Diese Bestandsaufnahme Titzmanns lässt sich auch auf die PersonGestaltung in der modernen Literatur der Zwischenkriegszeit übertragen, auch auf die der historischen Prosa. Während für den Historismus die selbstbestimmende Individualität in Form einer großen Persönlichkeit, eines Staates oder einer historischen Epoche grundlegend war – deswegen beschrieb man im Historismus die Geschichte der Sieger und stellte affirmativ die geschichtlichen Ereignisse dar –, wird in der Moderne die »repräsentative[] Persönlichkeit als erkenntnistheoretische[] Leitfigur fiktionaler Wahrnehmung und Sinnstiftung«31 dekonstruiert, werden die herkömmlichen Garantien für Realitäten wie herausragende Persönlichkeiten und der starke Staat kritisch oder ironisch gestaltet oder überhaupt verworfen. Deswegen stehen viele moderne Geschichtsromane im kritischen Dialog mit den in den zwanziger und dreißiger Jahren dominierenden völkischen historischen Romanen, wie – um nur das österreichische Terrain zu nennen – denen von Strobl, Jelusich oder Hohlbaum, die mit ihrem Pathos des Heldentums eine Präfiguration der nationalsozialistischen deutschen Gegenwart darstellten. Der moderne historische Roman, der geläufige Wirklichkeits- und Geschichtsauffassungen kritisch beleuchtete und die überkommenen Werthaltungen in Frage stellte, schaffte mit seiner Subjektgestaltung oder der Vermittlung von historischen Ereignissen, bei denen nicht der Wille der großen Persönlichkeit, sondern das blinde Schicksal und der Zufall konstitutiv sind, ein Gegenbeispiel zu den völkischen historischen Romanen.32 Zu den Darstellungsmodi gehören die unzuverlässige Erzählweise, mit der die Erzählerinstanz in seiner historiographischen Funktion und der Status der Erzählung problematisiert wird, sowie Ironie, Psychologisierung der Figuren und ästhetische Brüche. 30 Michael Titzmann, Das Konzept der ›Person‹ und ihrer ›Identität‹ in der deutschen Literatur um 1900, in: Manfred Pfister (Hg.), Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, Passau 1989, S. 36–52, S. 48. 31 Hey’l, S. 43. 32 Dies exemplifizierte Wendelin Schmidt-Dengler am Beispiel der historischen Romane von Leo Perutz, Joseph Roth, Rudolf Brunngraber und Robert Neumann. Vgl. Schmidt-Dengler 2002 sowie ders., Der Autor Leo Perutz im Kontext der Zwischenkriegszeit, in: Brigitte Forster, Hans Harald Müller (Hg.), Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 9–22.

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Dass der moderne historische Roman der Zwischenkriegszeit ein Ausdruck der verschiedensten Krise-Erfahrungen war, ist die These von Bettina Hey’l. Sie postuliert, in Anlehnung an Hans Vilmar Gepperts These aus den 1970er Jahren über den »üblichen« historischen Roman, der im Verdacht der Trivialität steht und auf den völkischen und faschistischen Roman hindeutet,33 und den »anderen« historischen Roman, der den »Hiatus zwischen Fiktion und Geschichte«34 ästhetisch-produktiv ausnutzt, dass dieser Hiatus nicht nur für den »anderen« historischen Roman kennzeichnend ist, sondern ein Merkmal der gesamten literarischen Epoche der Weimarer Republik ist. Charakteristisch für die Moderne ist nämlich der »krisenhafte[] Widerspruch zwischen der historischen Realität und den Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung und Darstellung«.35 Hey’l betrachtet die historischen Romane nach dem Ersten Weltkrieg als Dokumente und Zeugnisse »einer allgemeinen Erfahrung des Zerbrechens eines konventionalisierten Haltes zwischen narrativer Sinngebung und kollektivem Verständnis des historischen Prozesses«.36 Der moderne historische Roman nimmt Bezug auf die nach dem Ersten Weltkrieg allgemeingültige Krise des Historismus, die dazu führte, dass selbst in den Texten, die sich – um die ideologische Absicht zu verschleiern – als übliche historische Romane präsentieren wollten, die Inkohärenz zwischen dargestellter Geschichte und Narration augenfällig ist. Auch wenn nicht alle in diesem Band gesammelten historischen Texte von Frauen auf die »Objektivitäts-Illusion«37 und die realistische Narration zugunsten der Hiatusakzentuierung verzichten und trotzdem als kostümierte Kommentare zum Zeitgeschehen betrachtet werden wollen, trifft die These Hey’ls auf die meisten der hier präsentierten Geschichtsdarstellungen zu.

4.

Historische Prosa von Frauen von der Ersten zur Zweiten Republik

Die im Band präsentierten Autorinnen entstammen unterschiedlichen ästhetischen und literarischen Traditionen, wie – um den größten Kontrast zu zeigen – dem Realismus und der realistischen Erzählweise, dem Expressionismus, der Neoromantik oder der Wiener Moderne. Sie sind ästhetisch unterschiedlich orientiert, vertreten unterschiedliche politische Ansichten und hegen nach dem Untergang der alten Welt ungleiche Hoffnungen, die in ihre historische Prosa 33 Hans Vilmar Geppert, Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976, S. 152. 34 Ebd., S. 34. 35 Hey’l, S. 319. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 21.

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mehr oder weniger einfließen. Auffallend ist, dass diese Autorinnen – nur mit wenigen Ausnahmen – dem Ende der Habsburgermonarchie nicht nachtrauern.38 Zu einer dieser Ausnahmen gehört die in katholischen Kreisen sehr erfolgreiche und an den Habsburgern – als den Hütern des Katholizismus – und der österreichischen Identität hängende Enrica von Handel-Mazzetti. Nicht auszuschließen sind auch die katholisch gesinnte Henriette Schrott-Pelzel, die ab 1919 in dem von Österreich abgetrennten Südtirol lebte, sowie Maria Krück von Poturzyn, die Autorin von zwei romanhaften Biografien aus den dreißiger Jahren über Kaiser Joseph II. und die Kaiserin Maria Theresia, die als eine Verbeugung gegenüber dem austrofaschistischen, den habsburgischen Mythos fördernden Literaturbetrieb zu lesen sind. Die Palette der in diesem Band behandelten Autorinnen ist also – hier nur mit großer Vereinfachung präsentiert – breit angelegt: von den konservativ-katholischen (wie Enrica von Handel-Mazzetti und Henriette Schrott-Pelzel) über die bürgerlich-demokratischen und/oder liberalen (wie Marta Karlweis, Gina Kaus, Alma Johanna Koenig, Maria von Peteani, Herta Pauli) bis hin zu den nationalsozialistisch gesinnten (wie Grete von Urbanitzky, Edith Gräfin von Salburg, Luise G. Bachmann). Eine Zuordnung vorzunehmen ist sehr schwierig, denn die Konturen zwischen den Lagern verliefen nicht immer deutlich und die gesamte Periode der Ersten Republik ist als ein kulturpolitischer Prozess zu verstehen.39 Auch nicht alle Werke der hier präsentierten Schriftstellerinnen, die als liberal oder fortschrittlich bezeichnet werden können, sind des Lesens wert. Bertha Eckstein-Diener beispielsweise, die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der Frauenbewegung als vorfeministische Autorin wiederentdeckt wurde, verabscheute nicht rassistische oder antisemitische Tendenzen und hatte auch keine Zweifel, der Reichsschrifttumskammer beizutreten und in der Nazi-Zeit auf dem deutschen Markt präsent zu sein.40 Grete von Urbanitzkys Werk dagegen präsentiert ein reiches Spektrum von verschiedenen Ideen und Zugriffen: von der homoerotischen oder feministischen Literatur über die völkische bis hin zu der von den Nationalsozialisten als »entartet«

38 Ähnlich ist es mit den im Buch »Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918–1945« präsentierten Schriftstellerinnen. Vgl. Gürtler / Schmid-Bortenschlager 2002, S. 7. 39 Den Versuch, die AutorenInnen historischer Romane nach literarischen Lagern zu unterteilen, habe ich in meinem Buch über den historischen Roman in der Ersten Republik Österreich unternommen, wobei ich auf die hier genannten Schwierigkeiten bereits hingewiesen habe. Bei diesem Selektionsverfahren war mir die zeitgenössische Presse-Rezeption behilflich. Vgl. Jachimowicz 2018, S. 339–347. 40 Evelyne Polt-Heinzl betont die »politische Naivität und die Uneindeutigkeiten« der Positionen Eckstein-Dieners. Vgl. Evelyne Polt-Heinzl, Neun Porträts. Von der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin Deutschlands, Wien 2005, S. 58–75.

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gebrandmarkten Literatur.41 Ähnlich sieht die Situation mit Edith Gräfin von Salburg aus, die – adeliger Herkunft – vor dem Ersten Weltkrieg u. a. in der als Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie geltenden »Arbeiter-Zeitung« publizierte; in den 1920er Jahren kam aber ihre nationale Haltung stärker zur Geltung – sie unterzeichnete den Gründungsaufruf des Kampfbunds für deutsche Kultur, ab 1933 war sie Mitglied des Reichsverbandes deutscher Schriftsteller und ab 1937 auch der Reichsschrifttumskammer.42 Genauso schwierig ist es, Gisela Berger einem bestimmten Lager zuzuordnen: Sie stammte aus einer bürgerlichen Familie mit konservativen Tendenzen (ihr Onkel, an dem sie stark hing, war Burgtheaterdirektor und ihr Vater ein Wiener Rechtsanwalt), sie publizierte ihre frühen Werke bei dem renommierten S. Fischer und dem weltoffenen Rikola-Verlag, wurde von der katholisch-konservativen »Reichspost« wegen der in ihrem Werk zum Ausdruck kommenden »verderbenbringenden Modernisierungstendenzen«43 nicht positiv aufgenommen, was sie aber nicht gestört hat, in den frühen dreißiger Jahren mit den im Austrofaschismus ziemlich prominenten Schriftstellern wie Max Mell, Franz Karl Ginzkey oder Josef Friedrich Perkonig zu verkehren und 1933 in Ragusa den österreichischen P.E.N.Club zu verlassen, um das Unbehagen gegen die Proteste anderer Schriftsteller und Schriftstellerinnen angesichts der Bücherverbrennung zu äußern.44 Maria Krück von Poturzyns institutionelle und literarische Verbundenheit ist bislang zu wenig erforscht, um sie einem bestimmten Lager zuzuordnen: Einerseits steht sie mit der realistischen Erzählweise ihrer Romane, die auf die Objektivitätsillusion ausgerichtet zu sein scheinen, dem traditionellen, illusionistischen historischen Romantypus nahe, andererseits entwirft sie die zwischen dem Traditionalismus und der Modernität stehenden weiblichen Gestalten in ihren Romanen, die als ein Gegenpart zu jenen historischen Romanen betrachtet werden können, in denen der Aufstieg der männlichen Gestalten mit entsprechenden Führerqualitäten dargestellt werden. Die gewählten Texte umfassen ein weites Spektrum des weiblichen Schreibens von der Geschichte. Geschichtspolitisch betrachtet wird der Bogen von der frü41 Vgl. Verena Humer, Das vergessene Werk der Grete von Urbanitzky. Eine (Ausnahme-)Frau zwischen Anpassung und Subversion, in: Jachimowicz 2017, S. 315–325. 42 Vgl. Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems, Bd. 3: Oberösterreich, Wien 2014, S. 350–355. Diese ideologische Entwicklung Salburgs schildert auch Sigrid Schmid-Bortenschlager in ihrem Beitrag »Edith Gräfin Salburg. Die Entwicklung eines Ideologie-Konglomerates« zu diesem Band. 43 –n. –r., Von neuen Büchern: »Der wandelnde Tod« von Gisela Berger, in: Reichspost, 16. Juni 1922, Nr. 162, S. 5. 44 Zum institutionell-literarischen Leben Bergers in den dreißiger Jahren und in der Nazi-Zeit vgl. Uwe Baur / Karin Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems, Bd. 4: Wien, Wien 2018, S. 73–75. Vgl. auch den Beitrag von Renata Trejnowska-Supranowicz in diesem Band.

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hen Phase der Ersten Republik (mit Handel-Mazzettis Roman »Stephana Schwertner« wird sogar ein Seitenblick auf die Zeit vor 1918 geworfen) über den katholischen ›Ständestaat‹ und die Nazi-Zeit bis hin zum Anfang der Zweiten Republik geschlagen – wobei in diesem Band die Zeit von 1918 bis 1938 am häufigsten im Fokus steht –, literaturtypologisch gesehen vom Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit, der Heimat-, Berg-, oder Bauernliteratur über die Neuromantik mit ihren mystisch-mythischen und metaphysischen Dimensionen bis hin zur schönen Historiografie, Biografie und historischen Belletristik sowie der faschistischen und antifaschistischen Literatur. Die Schriftstellerinnen, deren historische Prosa in diesem Band vorgestellt wird, werden als »österreichisch« betrachtet, auch wenn nicht in allen Fällen ihr Wirkungsort Österreich war. Henriette Schrott-Pelzel, geboren 1877 in Innsbruck, lebte beispielsweise ab 1919 in Südtirol, das seit den Friedensverhandlungen zu Italien gehörte. Wie Sigurd Paul Scheichl in seinem Beitrag aufzeigt45, publizierte sie nur selten in österreichischen Verlagen und nahm in ihrer literarischen Tätigkeit keinen Bezug auf die Situation in Österreich, jedoch scheint ihre Präsenz in diesem Band berechtigt zu sein, da sie in der Habsburgermonarchie geboren wurde und in Südtirol lebend auf Deutsch ihre historischen Tiroler-Romane verfasste. Alle Schriftstellerinnen sind in der Habsburgermonarchie geboren, ihre wichtigste Wirkungszeit ist aber in den meisten Fällen die Zwischenkriegszeit, obwohl viele schon vor dem Krieg entweder literarisch aktiv waren oder ihre ersten schriftstellerischen Versuche unternahmen. Die älteste, Edith Gräfin von Salburg (geb. 1868), tritt schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit ihren Gedichten in die Öffentlichkeit und die Hälfte von ihren vierzehn historischen Romanen erscheinen von 1906 bis 1914. Enrica von Handel Mazzetti (geb. 1871) publiziert ihren ersten historischen Roman im Jahre 1900 und ist 1918 schon eine berühmte Autorin, die sich vier historischer Romane rühmen kann, deren Auswirkungskraft so groß war, dass sie für viele weitere in der Ersten Republik schreibende österreichische Autorinnen von historischen Romanen katholisch-konservativer Prägung – wie die in Innsbruck geborene Fanny Wibmer-Pedit (geb. 1890), die Niederösterreicherin Emmy Feiks-Waldhäusl (geb. 1899), die Kärntnerinnen Gertrud Schmirger (geb. 1900) und Dolores Viesér (geb. 1904) – als Vorbild galt.46 Den großen Erfolg ihrer früheren histo45 Sigurd Paul Scheichl, Der historische Roman als Heimatroman – Henriette Schrott-Pelzel, in diesem Band. 46 In der christlich-sozialen Zeitung »Reichspost«, die die Romane Handel-Mazzettis in Fortsetzungen druckt und sie in ihre Empfehlungslisten setzt, stellt z. B. 1931 eine Rezensentin anlässlich des Erscheinens des vielbesprochenen Romans von Dolores Viesér die Frage: »Wer könnte im deutschen Literaturbereich innerhalb der nächsten fünfzig Jahre einen historischen Roman schreiben, der von den Fußspuren der großen Epikerin gänzlich abseits ginge?«

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rischen Romane kann Handel-Mazzetti in der Ersten Republik mit ihren neuen Romanen allerdings nicht mehr wiederholen, obwohl sie sowohl von der christlich-sozialen und konservativen Presse als auch vom katholischen Literaturbetrieb sehr stark gefördert wird.47 Die ein bisschen jüngere Henriette SchrottPelzel (geb. 1877) tritt auch schon vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrem ersten Tiroler-Roman in die Öffentlichkeit, historische Romane verfasst sie jedoch erst zwischen 1920 und 1939. Im Jahre 1907 erscheint die erste Buchveröffentlichung von Gisela Berger. Ebenfalls Alma Johanna Koenig (geb. 1887) versucht sich schon seit 1910 in der Lyrik, aber erst in den zwanziger Jahren wird sie als Romanautorin erfolgreich. Bertha Eckstein-Diener (geb. 1874), die unter dem Pseudonym nach dem Tafelritter von König Arthus Sir Galahad publiziert, Marta Karlweis (geb. 1889), Gina Kaus (geb. 1893) und Grete von Urbanitzky (geb. 1893) unternehmen ebenfalls ihre ersten mehr oder weniger bescheidenen literarischen Versuche noch unmittelbar vor dem Kriegsausbruch oder während des Krieges, aber ihre eigentliche schriftstellerische Tätigkeit setzt erst in den frühen zwanziger Jahren ein. Maria Peteani (geb. 1888) beginnt erst nach dem Krieg zu schreiben, genauso wie Krück von Poturzyn (geb. 1896), Luise George Bachmann (geb. 1903), Elisabeth Freundlich (geb. 1906) und Hertha Pauli (geb. 1909), die ihre schriftstellerische Laufbahn wegen ihres jungen Alters erst in der Ersten Republik einschlagen können. Annemarie Selinko (geb. 1914) veröffentlicht ihren ersten Roman 1937, doch ihr einziger, 1951 erschienener historischer Roman »Désirée« fällt nicht in den Zeitrahmen der Ersten Republik. Auch wegen der räumlichen Distanz zu Österreich ist – ähnlich wie bei Schrott-Pelzel – ihre Zuordnung zu diesem Band problematisch. Selinko lebte ab 1938 in Kopenhagen, wo auch ihr in diesem Band besprochener Roman entsteht. Da sie aber in der Ersten Republik Österreich sozialisiert wurde und der Roman sich in die gesellschaftlichen und literarischen Stimmungen der Zwischenkriegszeit einfügt, scheint auch ihre Präsenz in diesem Band nicht unberechtigt zu sein. Von den fünfzehn genannten Schriftstellerinnen sind es Enrica von HandelMazzetti, Edith Gräfin von Salburg, Henriette Schrott-Pelzel, Maria Krück von Poturzyn, Luise George Bachmann, teilweise auch Bertha Eckstein-Diener und Alma Johanna Koenig, die sich mit dem Genre des historischen Romans und den historischen Themen verbunden fühlten und sich lebenslang mit historischen Stoffen beschäftigten. Die Vielschreiberin Salburg verfasste ca. vierzehn historische Romane, Handel-Mazzetti zehn, wobei die meisten Romane HandelMazzettis zwei- oder dreibändig sind.

Josefine Widmar: »Der Gurnitzer«. Ein neuer Roman von Dolores Viesér, in: Reichspost, 25. Juni 1931, Nr. 174, S. 2. 47 Vgl. dazu auch den Beitrag Petra-Maria Dallingers in diesem Band.

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Henriette Schrott-Pelzel veröffentlichte von 1920 bis 1939 vier historische Romane, aber auch danach interessierte sie sich für geschichtliche Themen. Maria Krück von Poturzyn gehört zu den Autorinnen, deren literarische Tätigkeit von historischen Stoffen weitgehend geprägt ist. Sie verfasste in dem sehr kurzen Zeitraum von 1933 bis 1936 fünf romanhafte Biografien, unter anderem über Kaiser Joseph II., die mittelalterliche Königin Mathilde, Kaiserin Maria Theresia und Lady Hester Stanhope, schrieb ein geschichtliches Buch über die Frauen Heinrichs VIII. sowie weitere nach 1938 erschienene historische Romane und historische Abhandlungen über Giuseppe Garibaldi, Jeanne d’Arc, die Templer und die Reformation. Auch für das Werk Luise G. Bachmanns sind historische Themen ausschlaggebend: Von 1937 bis in die sechziger Jahre hinein schrieb sie zahlreiche, hauptsächlich historisch-biografische Künstlerromane, z. B. über Johann Sebastian Bach, Anton Bruckner, Franz Peter Schubert, Walter von der Vogelweide und über herausragende Persönlichkeiten des katholischen Glaubens. Bertha Eckstein-Diener interessierte sich für geschichtliche Themen schon in ihrer frühen Schaffensphase. Ihr erstes im Jahre 1913 veröffentlichtes Buch – »Im Palast des Minos« – ist ein archäologisches Reisebuch über die Ausgrabungen in Kreta. Auch in den Kulturgeschichten »Mütter und Amazonen« von 1932, »Byzanz. Von Kaisern, Engeln und Eunuchen« von 1933, auf die in diesem Band eingegangen wird, sowie in dem der Seide gewidmeten kulturgeschichtlichen Buch von 1940 sind die Untersuchungen des historischen Quellenmaterials zentral. Doch den ersten historischen Roman im engeren Sinne,48 »Bohemund. Ein Kreuzfahrer Roman«, verfasst Eckstein-Diener erst 1938. Einige Jahre später, und zwar 1943, folgt der Richard-Wagner-Roman »Der glückliche Hügel«, der wegen der zeitlichen Perspektive zu seinem Stoff nicht eindeutig als historischer Roman betrachtet werden kann. Alma Johanna Koenig verfasste vier historische Romane. Der erste und in diesem Band behandelte, »Der heilige Palast«, erschien 1922, danach folgte 1924 der Wikingerroman »Die Geschichte von Half dem Weibe«, 1928 die Nachdichtung des alten Volksepos »Gudrun. Stolz und Treue« und 1947 ihr letzter, als eine Parabel auf Hitler gedachter historischer Roman über Nero, »Der jugendliche Gott«, der von Koenigs ehemaligem Lebenspartner Oskar Jan Tauschinski nach der Ermordung der Schriftstellerin in einem Konzentrationslager herausgebracht wurde. Für das literarische Schaffen aller anderen in diesem Band behandelten Autorinnen sind historische Stoffe nicht ausschlaggebend, wenn nicht sogar marginal, was zeigen mag, dass sich die Schriftstellerinnen von der bestimmten Mode nur vorübergehend angezogen fühlten, an den Geschmack der Leserschaft anknüpften und sich in der historischen Prosa versuchen wollten, auch um 48 Der 1920 erschienene Roman »Kegelschnitte Gottes« ist genreumstritten; als ein zivilisationskritischer Schlüsselroman weist er auch die Merkmale des Historischen auf.

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finanziell voranzukommen, schließlich aber diese Liaison mit Geschichte nicht hinreißend genug, nicht zeitgemäß und ebenso nicht als entsprechendes Mittel zur Gestaltung der sie interessierenden Themen fanden. Viele von diesen Romanen sind auch gattungsbezogen sehr umstritten, denn sie fungieren als ein geschickt komponiertes Konglomerat von Genres. Gisela Bergers erster Roman ist ein historischer Roman, aber dieser ist auch der einzige historische Roman in ihrer schriftstellerischen Karriere. Das heute völlig vergessene Buch »Der wandelnde Tod« von 1922,49 erschienen im Wiener Rikola Verlag, weist Elemente sowohl des historischen als auch des phantastischen Genres auf und knüpft mit seinen metaphysischen Motiven an die in den zwanziger Jahren so populären und in der Tradition der Neoromantik oder der Wiener Moderne mit ihrem Hang zum Metaphysischen verfassten historisch-phantastischen Romanen an, die zu dieser Zeit unter anderem von Karl Hans Strobl, Leo Perutz oder Gustav Meyrink geschrieben wurden. Auch die in der Ersten Republik Österreich tätige Maria Peteani, eine Erfolgsautorin von Frauen- und Gesellschaftsromanen, in denen die Geschlechterund Machtverhältnisse gezeigt werden, beginnt ihre ziemlich späte literarische Laufbahn 1920 mit dem in diesem Band behandelten historischen Roman »Das Glück der Hanne Seebach. Eine Liebesgeschichte aus den Biedermeiertagen«, der ihr einziger historischer Roman ist. In diesem Roman bilden sich aber schon die thematischen Schwerpunkte rund um die Geschlechterverhältnisse heraus, die für ihre weiteren Romane ausschlaggebend sein werden. Marth Karlweis’ einziger historischer Roman entstand in der ziemlich frühen Schaffensphase der in der Zwischenkriegszeit dank ihrer avantgardistischexpressionistischen Romane bekannten, nach dem Krieg völlig vergessenen und heute wiederentdeckten Autorin.50 Der Roman »Das Gastmahl auf Dubrowitza«, der 1921 im prominenten Fischer Verlag erschien und über die russische Zarin Katharina die Große und ihr Umfeld erzählt, ist kein historischer Roman im engeren Sinne, denn mit diesem historischen Stoff dekonstruiert und torpediert Karlweis auf moderne Weise und in Anknüpfung an den Diskurs rund um die Krise des Historismus sowohl das in den völkischen Romanen propagierte männliche Herrschaftsbild als auch die traditionelle Historiografie mit ihrem illusionistischen Objektivitätsanspruch; darüber hinaus thematisiert sie ganz im Sinne der Wiener Moderne die Krise von Person und Identität, stellt die objektive Wirklichkeitsdarstellung sowie die mimetische Funktion von Literatur in Frage. 49 Der Roman ist im Online-Katalog »Der historische Roman« nicht verzeichnet. Der Grund dafür mag sein, dass es in den Bibliotheken nur wenige Exemplare von dem nie wieder neuaufgelegten Roman gibt. 50 Marta Karlweis wurde vom Wiener Germanisten Prof. Johann Sonnleitner wiederentdeckt, der ihre drei Romane, darunter auch den historischen Roman, im Wiener Verlag Das vergessene Buch herausgebracht hat.

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Hertha Pauli debütierte 1936 mit dem in diesem Band im Fokus stehenden biografisch-historischen Roman »Toni. Ein Frauenleben für Ferdinand Raimund«, wonach Romane über Bertha von Suttner, im Exil über Alfred Nobel und 1966 die Biografie von Erzherzog Franz Ferdinand »Das Geheimnis von Sarajewo« folgten. Für Gina Kaus’ Schaffen sind historische Stoffe ebenfalls nicht von Belang. Ihr sehr erfolgreiches 1935 erschienenes Buch über die Zarin Katharina die Große ist kein historischer Roman, sondern eine historische Biografie und die einzige aus der Geschichte schöpfende Buchveröffentlichung der zu dieser Zeit schon sehr bekannten Autorin. Nicht auszuschließen ist, dass Kaus mit ihrem KatharinaBuch den gleichen Erfolg wie die berühmt gewordene Biografie Marie Antoinettes von Stefan Zweig von 1932 erreichen wollte, was ihr auch gelang.51 Die Biografien Zweigs und Kaus’ sind mit ihren stark psychologisierten weiblichen Figuren auf jeden Fall keine Biografien von traditionellem Schlag. In dem ziemlich umfangreichen Werk Grete von Urbanitzkys sind nur drei historische Romane zu verzeichnen. Der erste, »Mirjams Sohn«, der auch in diesem Band behandelt wird, erschien 1926, als Urbanitzky schon eine erfahrene und – da sie 1923 den Wiener P.E.N.-Club mitbegründete – in der literarischen Szene sehr einflussreiche Schriftstellerin war. Die zwei anderen historischen Romane – »Unsere liebe Frau von Paris« und »Der große Traum« – folgen erst 1938 und 1942. Annemarie Selinko verfasst nach den ersten erfolgreichen Zeitromanen, die in Dänemark verfilmt wurden, »Désirée«, ihren einzigen historischen Roman, der 1951 erscheint und zum internationalen Bestseller wird, nicht zuletzt dank dem Welterfolg von der Hollywood-Verfilmung des Romans mit Marlon Brando und Jean Simmons in den Hauptrollen.52 Und auch Elisabeth Freundlichs Roman »Der eherne Reiter«, den sie 1960 veröffentlicht, ist – wenn man den Roman »Der Seelenvogel« nicht in Betracht ziehen will – der einzige wirklich historische Roman der Autorin.53 Bei dieser Analyse fällt auf, dass unter den genannten historischen Romanen historische Biografien oder biografische Romane unter den österreichischen Schriftstellerinnen sehr populär waren. Mit diesem Genre war – da man mit den großen Helden der Geschichte einfacher an das breitere Publikum kam – oftmals der literarische und auch finanzielle Erfolg gewährleistet. Unterschiedlich ist aber die literarische Qualität dieser biografisch angelegten historischen Romane: Während z. B. Luise G. Bachmann mit den überragenden Helden der Geschichte 51 Zu der weiteren Schreibmotivation siehe auch den Beitrag von Veronika Hofeneder in diesem Band. 52 Vgl. Polt-Heinzl, S. 166. 53 Der 1980 erschienene Roman »Seelenvogel«, in dem Freundlich auf die Geschichte ihrer Familie im 19. Jahrhundert zurückgeht, wodurch der Roman eine historische Dimension erhält, wird von Corina Prochazka auch als historischer Roman betrachtet. Vgl. Prochazka, S. 56.

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und Kunst bestimmte Identifikationsfiguren entwirft und dadurch ihren Lesern und Leserinnen eine konkrete ideologische Vorlage anbietet, zeigen die Romane »Toni« Hertha Paulis über die Lebensfreundin des Dichters Raimund sowie »Methild und das Reich der Deutschen« und »Maria Theresia« Maria Krück von Poturzyns mehr Interesse an ihren Frauenfiguren und der Stellung dieser Frauen in ihren Sujets. Das Unterhaltende bei der historischen Prosa aller Schriftstellerinnen ist nicht zu verkennen, jedoch sind hinter diesen spannenden Erzählungen nicht selten Erzählwelten mit besonderem Stellenwert verborgen. Anknüpfend daran drängt sich die Frage nach der literarischen und ästhetischen Wertung der hier im Fokus stehenden historischen Prosa auf. Der Roman Martha Karlweis’ »Das Gastmahl auf Dubrowitza« ist alles andere als ein biografischer Roman, auch wenn im Zentrum der Handlung die Zarin Katharina die Große steht und ihre im Jahre 1787 von Potemkin organisierte Reise in die südlichen Provinzen. Der Roman weist mit seiner Ironie, Erzählweise und Konstruktion der Figuren die Merkmale des modernen historischen Romans auf, die man auch im fast zu derselben Zeit veröffentlichten Werk »Wallenstein« (1920) von Döblin erkennt, der als Pionier des modernen historischen Romans per excellence gilt. Die »in den apokalyptisch anmutenden Sequenzen des Verfalls, des Niedergangs, des tausendfachen Todes«54 erkennt man expressionistische Themen. Karlweis versuchte ursprünglich den Roman im expressionistischen Wolff-Verlag zu veröffentlichen. Der Verlag nahm das Buch jedoch nicht an, was zeigt, dass der Verleger sich wahrscheinlich vom historischen Stoff irren ließ und den Roman seinem Profil nach nicht passend fand. Auch Alma Johanna Koenigs »Der heilige Palast« trägt in Sprache und Stil starke expressionistische Züge. Der eigenwillige Schreibstil der kulturgeschichtlichen Abhandlung »Byzanz« Eckstein-Dieners wiederum zeugt von der außergewöhnlichen Kunstfertigkeit der Autorin, lässt sich aber nur schwer einem bestimmten Stil zuschreiben. Gisela Bergers Roman »Der wandelnde Tod« ist zwar in seiner Erzählweise konventionell, doch er steht mit seinem deutlichen Faible zum Phantastischen, Magischen und Symbolischen in der neuromantischen Tradition. In ihrer Schreibtechnik bleiben auch die historischen Romane »Das Glück der Hanne Seebach« Maria Peteanis und »Toni« Hertha Paulis der Tradition verhaftet. Durch die Einführung des Personalerzählers, der das Geschehen aus der Perspektive der im Konflikt stehenden weiblichen Figuren zeigt, wird eine Identifikationsmöglichkeit und der sozialkritische Blick auf historische und zeitgenössische Frauenprobleme angeboten, wodurch thematisch viel der Diskussion um die Geschlechtergleichberechtigung 54 Johann Sonnleitner, Historische Fassadendemontage. Zu Marta Karlweis’ »Das Gastmahl auf Dubrowitza«, in: Marta Karlweis, Das Gastmahl auf Dubrowitza, Wien 2017, S. 179–211, hier S. 205. Vgl. auch Johann Sonnleitner, Expressionistische Prosa österreichischer Autorinnen nach 1918, in: Jachimowicz 2017, S. 301–314.

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vorweggenommen wurde. Die historischen Romane Handel-Mazzettis sind zwar traditionelle, aber in ihrer Form anspruchsvollere Romane mit einer künstlich historisierenden oder dialektischen Sprache. Obwohl Handel-Mazzetti »als Paradigma für eine ›neue‹ katholische Literatur diente«55, deren Ziel es war – im Unterschied zu der traditionalistischen provinziellen katholischen Literatur wie der Schrott-Pelzels –, den Gegensatz zwischen Kirche und moderner Welt zu überwinden (ihre Frauenfiguren beispielsweise können nicht als eindeutig konservativ kategorisiert werden), bildete sie als eine katholische und an der altösterreichischen Tradition hängende Autorin die Opposition zu der bürgerlichen literarischen Öffentlichkeit. Der in ihren ersten Romanen thematisierte Kampf zwischen Protestantismus und Katholizismus, mit dem Handel-Mazzetti zum Kirchenkampf dieser Zeit Stellung nimmt, wird teilweise auch in ihren historischen Romanen der Zwischenkriegszeit aufgegriffen. Thematisch sind die historischen Romane der österreichischen Schriftstellerinnen sehr breit angelegt – vom Altertum über das Mittelalter, die Türkenkriege des 15. und 16. Jahrhunderts, Glaubenskämpfe, Koalitions- und Befreiungskriege bis hin zu den biografischen Romanen über herausragende Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Das Mittelalter erfreute sich unter den Autorinnen großer Popularität. In dieser Epoche sind angesiedelt: Alma Johanna Koenigs »Der heilige Palast« (1922) und der in der isländischen Wikingerzeit spielende Roman »Die Geschichte von Half dem Weibe« (1924), Maria Krück von Poturzyns »Methild und das Reich der Deutschen« (1934), Grete von Urbanitzkys »Unsere liebe Frau von Paris« (1938), Sir Galahads »Bohemund« (1938) sowie Romane von Schriftstellerinnen, die zwar in diesem Band nicht in separaten Beiträgen behandelt werden, die aber in der Ersten und am Anfang der Zweiten Republik als Autorinnen von historischen Romanen bekannt und in den konservativen Kreisen sehr erfolgreich waren. Zu den Werken dieser Autorinnen gehören z. B. »Hemma von Gurk« (1938), ein Roman über eine Kärntner Heilige, Kirchen- und Klostergründerin von Dolores Viesér (eigentlich Wilhelmine Aichbichler), der biografische Roman über die heilige Notburga »St. Nothburg, die Dienstmagd Gottes« (1935) Fanny Wibmer-Pedits sowie der Roman »Der Zauberer« (1933), der sich mit dem Lebensweg des Papstes Silvester II. beschäftigt, der Kreuzzugroman »Der König« (1936) und der in Arabien spielende Roman »Mohammed« (1938) der unter dem männlichen Pseudonym Gerhart Ellert publizierenden Gertrud Schmirger. Der zur Zeit der Karolinger spielende Roman »Geschlecht im Advent« (1937) Gertrud Fusseneggers wurde von den Nationalsozialisten sehr empfohlen, denn im Roman wird der Untergang und Neubeginn eines germanischen Geschlechts geschildert. Im Mittelalter spielen auch die historischen Erzählungen Mela Hartwigs: die mittelalterlichen Juden-Pogrome thematisie55 Bernhard Doppler, Katholische Literatur und Literaturpolitik, Königstein/Ts., S. XII.

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rende und deshalb zeitaktuelle Erzählung »Das Wunder von Ulm« (1936) und die im Exil entstandene und erst 1960 erschienene »Georgslegende« über den Märtyrertod eines Auserwählten im Kampf gegen den Widersacher Gottes. Von Aberglauben und Hexenwahn erzählt auch der monumentale Roman »Der Fürst der Welt« (1940) der zur ›Inneren Emigration‹ zugerechneten Erika Mitterer,56 dessen Handlung im ausgehenden Mittelalter spielt. Die Autorinnen interessieren sich oft für das Mythische, das Religiöse dieser Epoche, für die Kreuzzüge, für Sagen und Volkserzählungen, sittliche und gesellschaftliche Krisen, politische und soziale Wirren sowie das weibliche Prinzip und seine Funktion in der Gesellschaft oder in verschiedenen Machtkonstellationen. Interessanterweise gibt es nur wenige Romane, darunter von Dolores Viesér und der katholischen Schriftstellerin Emmy Feiks-Waldhäusl, die zur Zeit der Freiheitskämpfe und Türkenkriege des 15. Jahrhunderts spielen. Dieses Thema war unter den Autoren ein populärer Stoff für historische Romane in Österreich. Viesér schildert in ihrem einfühlsamen Roman »Gurnitzer« (1931) die schwierigen kärntnerisch-slowenischen Beziehungen in der Zeit der Türkenkriege sowie das Spannungsverhältnis zwischen den christlichen Kärntnern und den heidnischen Slowenen, ohne allerdings in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen. Die Reformation, Gegenreformation, Glaubenskämpfe und Bauernkriege des 16. Jahrhunderts sind vor allem Themen von Romanen der konservativ-katholischen Autorinnen wie Henriette von Schrott-Pelzel oder Maria Veronika Rubatscher. Die Handlung von Rubatschers Roman »Das lutherische Joggele. Roman aus der Marterbuch der deutschen Seele« (1935) schildert das konfessionelle Spannungsverhältnis zwischen den Protestanten und den Katholiken, doch obwohl Rubatscher selbst katholisch ist, wählt sie ausgerechnet einen Lutheraner für die positive Heldengestalt, wodurch ihr Roman – so Sigurd Paul Scheichl – aus heutiger Sicht beinahe »ökumenisch« wirkt.57 In dieser Zeit spielen auch die Romane Gertrud Schmirgers, Fanny Wibmer-Pedits sowie der unter den Pseudonymen Hans Knobloch oder Hilda Torthofer publizierenden Vielschrei56 Vgl. Herwig Gottwald, Der Beitrag österreichischer Autoren zur Literatur der ›Inneren Emigration‹, in: Frank-Lothar Kroll / Rüdiger von Voss (Hg.), Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der ›Inneren Emigration‹, Göttingen 2012, S. 297–315. Vgl. auch Aneta Jachimowicz, Kontroverse um die Innere Emigration in Österreich. Erika Mitterer als Fallbeispiel, in: Marcin Gołaszewski u. a. (Hg.), Zwischen Innerer Emigration und Exil. Deutschsprachige Schriftsteller 1933–1945, Berlin 2016, S. 161–176. 57 Vgl. Scheichl, Reformation und Gegenreformation, S. 387–406, hier S. 401. Zu Rubatscher siehe auch Sigurd Paul Scheichl, »Der Venediger« im »Lutherischen Joggele«, in: John Butcher (Hg.), Die ersten fünfzig Jahre der Südtiroler Literatur 1918–1968. I primi cinquant’anni di letteratura altoatesina, Meran 2021, S. 193–207; siehe auch Wolfgang Strobel, »Sie brauchen einen, der stärker ist als das Feuer.« Politische (Erlösungs-)Theologie im Roman »Das lutherische Joggele« (1935) der Maria Veronika Rubatscher, in: Österreich in Geschichte und Literatur 57 (2013), S. 85–90.

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berin aus der Untersteiermark Hilda Knobloch. Das Spannungsverhältnis zwischen den Protestanten und Katholiken ist in der Ersten Republik immer als das Spannungsverhältnis zwischen Österreich und Deutschland zu verstehen, wird deswegen auch von den katholischen Autorinnen, die sich mit der österreichischen Tradition identifizieren, gerne aufgegriffen. Da die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts eng mit den Glaubenskämpfen verbunden sind, wird auf diesen Stoff sehr oft von den ideologisch geprägten Autorinnen eingegangen, wofür Luise G. Bachmann mit ihrem Roman »Meister, Bürger und Rebell. Das Lebensbild Tilman Riemenschneiders« (1937) als Beispiel gelten kann.58 In der Reformationszeit spielt die Handlung der expressionistischen Erzählung Mela Hartwigs »Die Hexe« (1928), die eine weibliche Kasper-Hauser-Geschichte darstellt59 und in der »der Hexenwahn auf seine sexuellen, materiellen und antiweiblichen Wurzeln zurückgeführt wird«.60 Der Dreißigjährige Krieg wurde zum Thema unter anderem des Romans »Wallenstein« (1937) Gertrud Schmirgers und »Die Leute auf Falbeson« (1940) Gertrud Fusseneggers. Auffallend ist, dass die österreichischen Autorinnen sehr selten die Handlungen ihrer historischen Geschichten in diese sonst in historischen Romanen sehr populäre historische Zeit verlegten. Die Türkenkriege des 17. Jahrhunderts und die Belagerung von Wien im Jahre 1683 wurden zum Thema und Schauplatz von »Die große Liebe der jungen Sibylle. Ein Frauenschicksal« (1934) Anna Hottner-Grefes – einer Autorin von zahlreichen historisch-biografischen und Liebesromanen – sowie von dem in diesem Band ausführlicher behandelten Roman »Die Waxenbergerin« (1934) Enrica von HandelMazzettis. Dieser Stoff wurde unter den österreichischen Autoren und Autorinnen relativ häufig aufgegriffen, vor allem in den 1933 oder 1934 erschienenen historischen Romanen, die zum 250. Jahrestag der Belagerung von Wien verfasst wurden. Viele biografische Romane spielen im 18. Jahrhundert, darunter über Kaiser Josef II., z. B. Krück von Poturzyns »Kaiser Joseph der Deutsche« (1933), und die Kaiserin Maria Theresia, was das Aufblühen des Habsburgischen Mythos – vor allem im Ständestaat – nur bestätigt und die Anpassung der Autorinnen an den Geschmack des austrofaschistischen Literaturbetriebs zeigt. Über Maria Theresia 58 Dies zeigt Dagmar Heißler im Beitrag »›Meister, Bürger und Rebell. Das Lebensbild Tilmann Riemenschneiders‹ (1937): Luise G. Bachmanns Bauernkriegsroman als Appell zur politischen Positionierung?« in diesem Band. 59 Vgl. Sigrid Schmid-Bortenschlager, Exil und literarische Produktion: Das Beispiel Mela Hartwig, in: Charmian Brinson / Richard Dove (Hg.), Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933–1945, München 1998, S. 88–99, hier S. 91. 60 Sigrid Schmid-Bortenschlager, Der zerbrochene Spiegel. Weibliche Kritik der Psychoanalyse in Mela Hartwigs Novellen, in: Modern Austrian Literature, Vol. 12, Nos. 3/4 (1979), S. 77–95, hier S. 79.

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handeln folgende Romane: Maria Krück von Poturzyns »Maria Theresia, Frau und Königin« (1936), Edith Gräfin von Salburgs »Friedrich und Maria Therese« (1936) sowie Fanny Wibmer-Pedits »Eine Frau trägt die Krone. Lebensroman der Kaiserin Maria Theresia« (1937). Die Kaiserin wird in diesen Romanen meistens als eine innerlich gespaltene Figur dargestellt, die im Konflikt zwischen ihren Rollen als Frau, Mutter und Herrscherin steht, die aber diese Spaltung zu überwinden weiß und eine große Kaiserin wird. Über die Zarin Katharina die Große handeln nur der bereits erwähnte Roman Marta Karlweis’ »Das Gastmahl auf Dubrowitza« (1921) und die romanhafte Biografie Gina Kaus’ »Katharina die Große« (1935) – erkennbar ist also, dass die Zarin als historischer Stoff weniger attraktiv als Maria Theresia war, die als österreichische Kaiserin für die Autorinnen in Österreich als eine plakative Identifikationsfigur galt. Ebenfalls im 18. Jahrhundert spielen der Roman »Das Singerlein« (1928) von Dolores Viesér, mit dem die Schriftstellerin in katholischen Kreisen einen enormen Erfolg verzeichnen konnte und von der konservativen Presse hochgelobt wurde, der Roman-Zyklus »Frau Maria« (1929–1931) Handel-Mazzettis, Gisela Bergers phantastischer Roman »Der wandelnde Tod« (1922), Fanny Wibmer-Peddits Vatermord-Geschichte »Heimkehr zur Scholle« (1938), Luise G. Bachmanns Roman »Der Thomas-Kantor. Introduktion. Toccata und Fuga über B-A-C-H« und der Roman »Die Liebeschronik Seiner Durchlaucht« Hilde Knoblochs. Unter den Autorinnen erfreute sich das 19. Jahrhundert der größten Popularität, wobei die Künstlerromane wie der Roman über die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient »Vox humana« (1927) der Wienerin Therese Rie-Andro, der Liszt-Roman »Susanne Heßler« (1928) der Salzburgerin Amalie Greipel-Goltz, das Werk »Der Lusenberger« (1930) über den Südtiroler Bildhauer und Maler Josef Moroder der Südtirolerin Maria Veronika Rubatscher, der bereits erwähnte und in diesem Band behandelte Ferdinand-Raimund-Roman »Toni« (1936) von Hertha Pauli, der Roman über den deutschen Komponisten Ludwig Spohr von Edith Gräfin von Salburg (1936), der Bruckner-Roman »Bruckner. Der Roman der Sinfonie« (1938) von Luise G. Bachmann sowie andere biografische Romane wie z. B. Krück von Poturzyns Roman »Lady Hester Stanhope. Eine Frau ohne Furcht« (1936) oder die Trilogie Handel-Mazzettis über den radikalen deutschen Burschenschafter Karl Ludwig Sand, den Mörder August von Kotzebues (1924– 1926), einen großen Teil der im 19. Jahrhundert angesiedelten Romane ausmachen. Auffallend ist, dass ein Großteil der biografischen Romane im die volkserzieherischen Werte fördernden Ständestaat entstanden sind, was verdeutlicht, dass die Autorinnen versuchten, an den aktuellen Literaturbetrieb anzuschließen. Zur Zeit der Koalitions- und Befreiungskriege spielt der in der Presse der Zwischenkriegszeit vielbesprochene und großes Aufsehen erregende Roman »Das Grimmingtor« (1926) der steirischen Schriftstellerin Paula Grogger. Der

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Roman, dessen Handlungsort die Steiermark ist, gilt als eine gewaltige literarische Erscheinung (innerhalb nur eines Jahres erschienen zwanzig Auflagen61). Er ist eine Mischung aus Heimatdichtung, Mystik und Romantik, angesiedelt in der Alpenlandschaft mit vorchristlichen Traditionen, wodurch der Roman als Blutund-Boden-Literatur rezipiert werden kann, ohne aber die typischen Merkmale dieser Richtung der völkischen Literatur auszuweisen.62 Zwölf Jahre nach den Befreiungskriegen, in der Zeit, als in Wien die Nachricht vom Tod Napoleons auf St. Helena eintrifft, spielt der in der katholischen Presse großangekündigte Roman »Der deutsche Held« (1920) Handel-Mazzettis. Obwohl Napoleon in diesem Roman als Figur nicht auftritt, wird er im Kontext der Frage nach dem wahren Heldentum mehrmals genannt. Über die Liebesgeschichte zwischen einem Bürgermädchen und dem Kaiser Napoleon Bonaparte erzählt der Roman »Die Hundsgräfin« (1934) der Grazer Autorin Sophie von Khuenberg. Interessanterweise gibt es in der Ersten Republik außer diesem keinen anderen Roman einer österreichischen Autorin, der vom französischen Kaiser handeln würde, obwohl es ca. ein Dutzend Romane österreichischer Autoren gibt, in denen Bonaparte als Stoff behandelt wird.63 Über Napoleon Bonaparte erzählt der Roman Annemarie Selinkos »Désirée« (1951), dem in diesem Band ein Beitrag von Clara Huber gewidmet ist. In der Biedermeier-Zeit spielt der Roman Maria Peteanis »Das Glück der Hanne Seebach« (1920), während der Revolution von 1848 »Der hölzerne Pflug« (1938) der nationalbewussten Thusnelda Henning, der vom Kampf der tapferen Siebenbürger Sachsen erzählt und die Volkstreue der deutschen Siedler in Siebenbürgen schildert. Die »österreichischen« Themen kommen in den Romanen der österreichischen Autorinnen des Öfteren vor, am häufigsten jedoch bei den Erzählerinnen, die sich der altösterreichischen Tradition, der Regionalgeschichte und der Heimatdichtung verpflichtet fühlten. Die Romane der Tirolerinnen Schrott-Pelzel und Wibmer-Pedit, der Kärntnerin Viesér, der Niederösterreicherin FeiksWaldhäusl, der aus Böhmen stammenden Fussenegger, fast die Hälfte der historischen Romane Handel-Mazzettis, der Roman »Das Grimmingtor« der Steirerin Grogger spielen in österreichischen Regionen. Diese Romane haben oftmals eine volksbildende Funktion, propagieren meistens christliche oder traditionelle Werte, Frömmigkeit, Vaterlandsliebe, Traditionsverbundenheit, Ehre, weibliche Keuschheit, Autoritätsanerkennung, patriotischen Heroismus und die Loyalität den Habsburgern als Schützern der katholischen Kirche gegenüber und entwerfen patriotische Identifikationsbilder. 61 Vgl. Heinrich Dr. Hofrat Güttenberger, Schöne Literatur. Paula Grogger, in: Reichspost, 6. Februar 1928, S. 8. 62 Mehr dazu bei Sigrid Schmid-Bortenschlager, Lesarten von Paula Groggers Roman »Das Grimmingtor«, in: Neohelicon 23/2 (1996), S. 249–263. 63 Vgl. Jachimowicz 2018, S. 107.

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Die Handlung vieler Romane ist in verschiedenen historischen Krisensituationen angesiedelt, anhand derer man versinnbildlichte, dass diese Krisen vorübergehend sind und nach der Zeit der schweren Bedrängnis das Vaterland wieder emporsteigen wird. Am Beispiel dieser Krisensituationen konnten die heldenhaften Schicksale der Protagonisten und Protagonistinnen, ihr Läuterungsweg, die geistige Entwicklung und Selbstüberwindung sowie das Heranwachsen zu einer Tat gezeichnet werden. Die Krisensituationen mit ihren politischen, religiösen und ökonomischen Erschütterungen, begleitet von Werteverlust und geistigem Verfall, galten auch als Folie für die Beschreibung der anbrechenden neuen Ordnung, wie es z. B. im Roman der »Fürst der Welt« Erika Mitterers der Fall ist. Hier mischt sich die Hilflosigkeit des Humanismus mit dem religiösen Fanatismus, dem Aberglauben und dem klerikalen Bildungsmonopol. Gegensätze brechen aus, d. h. in einer scheinbar harmonischen Gesellschaft kommen allmählich die verdeckten negativen Instinkte wie Neid, Hass, Hinterlistigkeit, Rachesucht, Bigotterie und notorischer Drang zu Denunziationen zum Ausdruck, bis sie in einem Massenwahn – der Verbrennung von unschuldigen Frauen als Hexen – explodieren. Mitterer schildert in ihrem Roman psychoanalytisch die kollektiven Mechanismen, denen sie die individuelle Psychologie ihrer weiblichen Figuren entgegenstellt. Die historische Krisenzeit fungiert in diesem Roman als Verschlüsselung der aktuellen Situation im Dritten Reich – der 1940 erschienene Roman lässt wegen der Zuspitzung der politischen Lage auch keine andere Lesart zu. Darüber hinaus gilt sie als Versinnbildlichung der fortschrittskritischen Geschichtsphilosophie Mitterers, nämlich dass die Historie keine Fortbewegung im Hegelianischen Sinne, sondern eine prinzipielle Wiederholung des Gleichen im scheinbar Ungleichen ist.

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Zum Schluss: Geschichte und Weiblichkeitsdiskurs

Schließlich kommt man zur Frage nach der Gestaltung des Weiblichkeitsdiskurses in literarischen Geschichtstransformationen. Es zeigt sich, dass die historische Prosa für alle Autorinnen ein sehr gutes Medium war, nach dem Ersten Weltkrieg, also in der Zeit des politisch-sozialen Umbruchs und des Wandels der weiblichen Selbstbestimmung, das weibliche Prinzip und die Geschlechterverhältnisse darzustellen, sich in die Diskussion um die gesellschaftliche Vormachtstellung der Frauen in der Weltgeschichte, ihre Partizipation an der Politik, die den geschichtlichen Ablauf konstituierende Rolle und die Wirkungsweise in verschiedenen Machtkonstellationen einzuschalten. Die Autorinnen vermittelten mithilfe der Darstellung eines weit zurückliegenden historischen Sujets – je nach gesellschaftlicher Orientierung – liberale und moderne oder traditionelle Frauenbilder, versinnbildlichten die (Un)Möglichkeit der Identitätskonstruktion

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für eine Frau in der Gesellschaft, zeigten die Veränderungen im weiblichen Rollenverständnis sowie die Konflikte zwischen den Rollen als Frau und Mutter auf. In einigen historischen Romanen und Erzählungen, wie in denen von Alma Johanna Koenig oder Mela Hartwig, rückt ein psychologisches Bild des weiblichen Denkens in Bezug auf die Sexualität in den Blick, mögliche Liebes- und Sexualitätsentwürfe werden angeboten, wodurch der Angriff auf die bürgerliche Lebenswelt mit dem feministischen Diskurs verbunden wird. Auch bei Gina Kaus rückt die Psychologisierung der Frauengestalt in den Vordergrund. Während Karlweis, Sir Galahad, Koenig, Krück von Poturzyn und Kaus mit ihren weiblichen historischen Figuren nach Spuren weiblicher Macht und politischen Errungenschaften von Frauen in der Weltgeschichte suchen, diesen Erfolg auch als Folge des Konflikts mit der männlichen Vormachtstellung (auch in der durch männliche Übertragung dominierten Geschichtsdarstellung) entlarven, entspricht in den Romanen der traditionellen und katholischen Erzählerinnen, deren katholisches Milieu das Frauenbild prägt, das Weibliche den idealisierten Vorstellungen von einer frommen, reinen, fleißigen und in Fragen des Glaubens einer dem Katholizismus unbeirrbar ergebenen Frau, die mit ihrer Güte und Frömmigkeit vermag, den von den Männern bestimmten Gang der Geschichte zu ändern, die Fehler der Männer wiedergutzumachen oder auf ihre verderbenbringenden Entscheidungen einen positiven Einfluss auszuüben. Beispielhaft dafür sind die Romane Handel-Mazzettis »Der deutsche Held« und »Die Waxenbergerin«, Schrott-Pelzels »Iduna Robiat« und Dolores Viesérs »Der Gurnitzer«. Deswegen erscheint es paradox, dass die dem Traditionalismus verhafteten Autorinnen in ihrer Weiblichkeitsgestaltung mehr Glauben an den Fortschrittsoptimismus aufweisen als es z. B. Karlweis oder Mitterer tun, die die Ohnmacht der Aufklärung oder des Humanismus in ihren Romanen preisgeben. In vielen historischen Romanen und Erzählungen der österreichischen Autorinnen sind es jedenfalls weibliche Protagonisten – fiktive oder historische Gestalten –, aus deren Blickwinkel die Geschichte und Geschichten erzählt werden, so dass sie erzähltechnisch gesehen den Erzählvorgang steuern und dadurch zu Geschichte-Macherinnen im doppelten Sinne des Wortes werden.

Johann Sonnleitner (Wien)

Historische Romane aus Österreich über Katharina die Große. Zu Marta Karlweis’ »Gastmahl auf Dubrowitza« und Elisabeth Freundlichs »Der eherne Reiter«

Als ich der Herausgeberin dieses Bandes meinen provisorischen Arbeitstitel nannte, war von Annahme geleitet, dass es eine ganze Reihe historischer Romane aus weiblicher Feder über die russische Zarin geben müsse. Dem ist aber nicht so, denn durch die zeitliche, gattungsbezogene und geografische Begrenzung auf Österreich bleibt eigentlich nur der 2017 neu aufgelegte Roman »Gastmahl auf Dubrowitza« aus dem Jahr 1921 von Marta Karlweis. Denn das populäre Werk »Katharina die Große« von Gina Kaus ist eine glänzend geschriebene Biografie, die allerdings ihre gründlich recherchierten Quellen nicht preisgibt, und ist erst 1935 im renommierten Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange erschienen, Teilabdrucke des Buches waren im Frühjahr 1935 im »Neuen Wiener Tagblatt1 zu lesen. Veronika Hofeneder kann sich in ihrer Monografie über Gina Kaus hinsichtlich des Genres nicht recht entscheiden: Mehrfach bezeichnet sie das Buch – und das scheint mir korrekt – als »historische Biografie«2, einige Zeilen darunter wird der Text dann aber mehrfach als Roman apostrophiert, wogegen begründet Einspruch erhoben werden muss. Ich zitiere kurz aus dem Beginn der Biografie, der das Singuläre dieser politischen Karriere Katharinas antizipiert und auch hinsichtlich der Gattungsfrage eine Entscheidungshilfe bietet: Die Frage nach dem Woher liegt in der Natur des menschlichen Verstandes. […] Ist aber keiner was anderes als das Kind seiner Eltern, dann muß sich alles, was er ist, bei seinen Eltern finden, und es begreift sich, daß der Forscher, angesichts einer großen Persönlichkeit, emsig ihre Ahnenreihen durchforscht und geflissentlich, Stück für Stück, jenes Erbgut zusammenzutragen sucht, aus dem sie geschaffen wurde. Es gibt wenige Persönlichkeiten der Geschichte, die diesen professoralen Bemühungen so offen Hohn sprechen, wie die der großen Katharina. […] Schon zu ihren Lebzeiten fiel es den Leuten schwer, die »Semiramis des Nordens« mit jener kleinen deutschen Anhalt-Zerbst’schen Prinzessin in Verbindung zu bringen, als die sie geboren wurde.3 1 Veronika Hofeneder, Der produktive Kosmos der Gina Kaus: Schriftstellerin, Pädagogin, Revolutionärin, Hildesheim 2013, S. 246. 2 Ebd. 3 Gina Kaus, Katharina die Große, Esslingen am Neckar 1977, S. 9.

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Meine eigenen bibliografischen Nachforschungen haben, nach der Durchsicht des Registers aus der beeindruckenden Arbeit von Aneta Jachimowicz über den »Österreichischen historischen Roman der Zwischenkriegszeit«, auch nichts Neues zutage gefördert, sogar mein Exemplar Elisabeth Frenzels »Stoffe der Weltliteratur« musste ich wieder zuschlagen. Gefunden habe ich lediglich zwei dürftige Texte, nämlich die Erzählung »Die Fürstin reitet. Roman aus dem Rußland Katharinas II.« von Ina Seidel, die zwar eine Nazi-Dichterin, aber keine Österreicherin war. Gertud Fussenegger, die in ihren jungen Jahren zwar auch eine Nazi-Dichterin und eine Österreicherin war, hat spät aber doch ihre feministische Ader entdeckt und 1991 das etwas biedere Buch »Herrscherinnen: Frauen, die Geschichte machten« bei der Deutschen Verlagsanstalt veröffentlicht, in dem sie auf vierzig Seiten die Zarin Katharina porträtiert, wobei die Darstellung von Kindheit und Jugend der späteren Zarin einen breiten Raum einnehmen. Es ist anzunehmen, dass sie das Werk der jüdischen Emigrantin Kaus auch als Quelle benutzt hat. Dass es so wenige Texte über die russische Zarin gibt, mag damit zusammenhängen, dass die Habsburgerin Maria Theresia, die offensichtlich einem konventionellen Frauenbild eher entsprach, mehr Interesse und Sympathien der SchriftstellerInnen auf sich ziehen konnte: »Es war mir auch eine sehr werte und erfreuliche Erscheinung, diese Regentin von der Feder einer weiblichen und liebevollen Hand, der Mistreß Jameson in ihrem Buche: The Female Sovereigns, ganz nach ihrem wahren Wert erkannt und geschildert zu sehen, so daß sich ihr Bild weit über Katharina II. und sogar über Elisabeth von England erhebt«, so Caroline Pichler in ihren »Denkwürdigkeiten«.4 In diesem Beitrag möchte ich auch auf den Roman einer weiteren Emigrantin zu sprechen kommen, nämlich auf Elisabeth Freundlichs »Der eherne Reiter«, der zwar erst 1960 im Wiener Globusverlag erschien und seit den 1980er Jahren im Inselverlag – auch als Taschenbuch – mehrfach neu aufgelegt wurde. Wann genau Freundlich diesen Roman verfasst hat, ist bislang noch nicht eruiert. In ihren Erinnerungen »Die fahrenden Jahre« erwähnt sie lediglich, dass sie während ihrer Arbeit im New Yorker Exil die Anregung dazu erhalten hätte: Ich bekam durch diese Ausbildung [als Bibliothekarin] eine Stellung im Metropolitan Museum. Ich mußte die Nummern auf den Karten, auf denen die Kunstwerke verzeichnet waren, mit einem scharfen Messer auskratzen und neue Nummern einsetzen, eine höchst uninteressante Tätigkeit, die mich ganz und gar nicht zufriedenstellte. Trotzdem haben mich viele um diese Arbeit beneidet. Das Museum, an der 5th Avenue gelegen, sah aus wie ein Schloß, und Alfred Polgar kam manchmal hin, um zu lesen. Das war dann eine schöne Abwechslung. Auch auf das Thema eines späteren Romans, in 4 Vgl. Caroline Pichler, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, hg. v. Karl Blüml, Bd. I, München 1914, S. 28. Es handelt sich um Anna Brownell Jamesons (1794–1860) Buch »Memoirs Of Celebrated Female Sovereigns«. Die entsprechende Fußnote des Herausgebers Blüml ist an dieser Stelle unzutreffend, sie bezieht sich auf Therese von Artner.

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dem ich die wechselvolle Geschichte des Standbilds Peters des Großen in St. Petersburg gestaltete, stieß ich im Metropolitan Museum.5

Im nächsten Absatz erwähnt Freundlich ihre Bridgepartien mit Gina Kaus, »die lange vor der Emigration eine Biografie über die Zarin Katharina geschrieben hatte.«6 Also von einem Roman ist da keine Rede. Es hätte nun seinen Reiz gehabt, fiktionale Texte über die Zarin Katharina aus dem 19. Jahrhundert auszugraben, aber auch da ist die Ausbeute gering, man findet ein unsägliches Original-Schauspiel der Unterhaltungsdramatikerin Charlotte Birch-Pfeiffer mit dem Titel »Katharina II. und ihr Hof«, eine Überarbeitung der »Günstlinge«.7 Die Werbung des Reclam-Verlages verrät uns, dass dieselbe Autorin auch eine Erzählung mit dem Titel »Aus dem Leben Katharinas der II.« vorgelegt hat. Von anderer Qualität sind allerdings manche Erzählungen von Leopold Sacher-Masoch aus der zwischen 1870 und 1890 mehrfach aufgelegten Sammlung der »Russischen Hofgeschichten«, wobei Haupttitel und Textzusammenstellung immer wieder verändert wird. In diesen Erzählungen, die eher zu den schwächeren Texten Sacher-Masochs zu zählen sind, dominieren allerdings erotische Anekdoten um die Zarin und ihr weibliches Umfeld, womit der Autor die Klischees um die ›Semiramis des Nordens‹ verfestigt. Während die Historiografie des 19. Jahrhunderts umfangreiche Forschungen und Dokumentationen zur Zarin Katharina vorgelegt hat, bleibt also das historisch-belletristische Feld in Sachen Katharina weitgehend unbestellt, wenn man von den wenigen, oben genannten Büchern der Birch-Pfeiffer und Sacher-Masochs absieht. *** Nach dieser ernüchternden tour d’horizon durch die deutschsprachige fiktionale Literatur über die Zarin Katharina möchte ich mich grundsätzlichen Fragen zuwenden, um auch für mich zu begründen, weshalb es sinnvoll scheint, dem Zusammenhang zwischen weiblicher Autorschaft und historischer Belletristik in Form des historischen Romans nachzugehen, der ja eine ausschließlich männliche Domäne zu sein scheint und der im Gefolge der Rezeption von Walter Scott vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Felix Dahn, Georg Ebers, und Gustav Freytag besondere Popularität erreicht. Einschlägige Untersuchungen blenden allerdings den weiblichen Beitrag zu diesem Genre völlig aus, ich 5 Elisabeth Freundlich, Die fahrenden Jahre. Erinnerungen, hg. v. Susanne Alge, Salzburg 1992, S. 118. 6 Ebd. 7 Charlotte Birch-Pfeiffer, Gesammelte dramatische Werke 16: Katharina II. und ihr Hof, Leipzig 1877.

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verweise auf die zum Teil sehr umfangreichen historischen Romane der Caroline Pichler wie »Die Belagerung Wiens«, »Die Schweden in Prag«, »Die Wiedereroberung von Ofen«, die allesamt in den 1820er Jahren erscheinen, qualitativ der oben genannten Herrenriege überlegen ist, ohne ihre Historiendramen zu erwähnen. In diesen Texten machen zwar die Mädchen und Frauen nicht Geschichte, dominieren über weite Strecken die Handlung an der Seite dieser sogenannten mittleren Helden und begnügen sich keineswegs mit der Rolle der gefügigen Tochter oder Ehefrau. Diese konservativen Positionen vertritt Pichler ostentativ in ihren Essays über weibliche Erziehung, aber das mag auch eine Finte oder eine Strategie gewesen sein, um von der Zensur unbehelligt zu bleiben. 1840 veröffentlicht sie im Hinblick auf das Genre des historischen Romans gleichsam einen Zwitter, nämlich die »Zeitbilder«, die man als fiktionalisierte Kulturgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts lesen könnte. Dieses auffällige weibliche Interesse an Geschichte setzt sich auch nach Pichlers Tod fort: 1860 veröffentlicht Marie von Ebner-Eschenbach ihr Drama »Maria Stuart von Schottland« (Wien: Meyer), denen weitere historische Tragödien über Marie Roland und Richelieu folgen. 1878 legt Minna Kautsky ebenfalls ein Stück über »Madame Roland« (Leopold Rosner) vor, wobei der weibliche Vorname der Verfasserin diskret verheimlicht wird. Dass sich hinter dem M. eine Minna oder eine Marie verbirgt, bleibt dem damaligen Leser vorenthalten. Man kann also festhalten, dass auch Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts wie ihre männlichen Kollegen der Geschichte großes Interesse entgegenbrachten. Nun wäre es naiv, die Entstehung des deutschen historischen Romans der ScottRezeption anzulasten, sondern es müssen auch andere Begründungszusammenhänge vorgebracht werden. Hans Blumenberg überschreibt das dritte Kapitel seiner voluminösen Untersuchung »Arbeit am Mythos« mit der Formulierung »Prometheus wird Napoleon, Napoleon Prometheus«.8 Blumenberg konzentriert sich darin ausufernd auf die Wahrnehmung Napoleons durch Goethe, wobei er die wirkliche Tragweite seiner Überlegungen außer Acht lässt, nämlich die bemerkenswerte Lust an der Geschichte, die ja in der möglich gewordenen bürgerlichen Selbstermächtigung als historisches Subjekt begründet scheint, welche die habsburgische Zensur ja nachhaltig bekämpft hat. Man denke an Grillparzers Schwierigkeiten mit seinem »Ottokar«-Drama. Man denke an Grabbes Historiendramen, die ja oft auf die Dekonstruktion der vermeintlichen historischen Größe hinauslaufen, oder an Georg Büchners »Dantons Tod« usf. Pichler und andere Autorinnen vor allem der deutschen Romantik partizipieren nun an diesem Bedürfnis nach Geschichte, indem sie die historische Imagination und Phantasie umbesetzen und die gängige Denunziation der weiblichen Herrscherin 8 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1971, S. 504–566.

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und die Verunglimpfung weiblicher Partizipation an der Politik, wie sie etwa Friedrich Schiller in seiner Ballade »Lied von der Glocke« praktiziert, revidieren oder prominenten weiblichen Erscheinungen in der Geschichte den angemessenen Platz wieder zurückerobern. Werden diese Autorinnen nun von der Kritik oder den männlichen Kollegen respektiert oder sogar bewundert, dann wird ihnen zumindest metaphorisch das männliche Geschlecht zugestanden: Pichler schreibe wie ein Mann, so Joseph Schreyvogel über Pichlers Roman »Olivier«9, oder Grillparzer bezeichnet Betty Paoli als »den ersten Lyriker Österreichs«10. *** Von Marta Karlweis (1889–1965) habe ich inzwischen drei Romane aus der Zwischenkriegszeit und einen Erzählband neu aufgelegt. Ich halte sie für eine der herausragendsten und aufregendsten Romanautorinnen dieser Periode. Wie viele ihrer jüdischen Kolleginnen wurde sie nach dem erzwungenen Exil in England und Kanada im deutschen Sprachraum völlig vergessen. Der Roman um die Zarin Katharina »Das Gastmahl auf Dubrowitza«, 1921 im S. Fischer Verlag erschienen, hat die Kritiker im Großen und Ganzen überzeugt. Ich greife nur ein Beispiel heraus, in dem natürlich die Metapher der Männlichkeit bemüht wird, um die Qualität der Autorin hervorzustreichen: Dieses Buch ist eine große Überraschung, und zwar eine der erfreulichsten Art. Mit männlicher Kraft und Kühnheit ist hier die Fahrt der großen Katharina nach der Krim geschildert; ein Gemälde von riesigen Dimensionen und von unerhörter Kraft der Farbe rollt vor dem Leser ab. Asiatischer Prunk, von dem despotischen Günstling Potemkin in die russische Steppe gestellt, ein Siegeszug vergoldeter Barbarei, und hinter diesem Zuge in furchtbares Massenelend, der Hungertod von Tausenden. An Jakob Wassermann muß man denken und seine Schilderung des Zuges nach Babylon. Ueber Tausende von zuckenden Menschenleibern hinweg schreitet das Symbol asiatischer Despotie, ein goldener Götze mit unbeweglichen Zügen, blind und taub für alles, was nicht der eigenen Lust, dem eigenen Ehrgeiz dient. Und während vom Ufer des Dnepr fernher das Todesröcheln der Bauern verklingt, die man hergetrieben hat, um die »Potemkinschen Dörfer« für einen Tag errichtet. Zu besiedeln, wälzt sich auf den vergoldeten Schiffen der Kaiserin barbarische Ueppigkeit auf seidenen Pfühlen. Es ist ganz merkwürdig, wie sehr es der Verfasserin gelungen ist, sich in die Zeit der großen Katharina einzuleben, und wie sie es versteht, diese Zeit auch vor unseren Augen lebendig werden zu lassen. Es ist wirklich, als ob das Russland von damals neu erstünde und unserem Empfinden näher rückte. Dazu kommt eine Sprache von großer Wucht und Eindringlichkeit und Fülle. 9 Josef Schreyvogels Tagebücher 1810–1823, hg. v. Carl Glossy, 2 Bde., Berlin 1903, S. 266–267 (Eintrag vom Dez. 1813). 10 Vgl. Helene Bettelheim-Gabillon, Feuilleton. Betty Paoli, in: Neues Wiener Tagblatt, 5. 07. 1924, Nr. 184, S. 2–4, hier S. 3.

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Mit diesem Buche tritt die Dichterin – man darf sie ruhig als solche bezeichnen – in die allererste Reihe deutschen Schrifttums. A.11

Lediglich Arthur Schnitzler notiert am 25. 9. 1921 abschätzig ins Tagebuch, wobei ihm allerdings ein Schnitzer passiert, der real existierende Ort Dubrowitza wird in Branicka unbenannt, das ist der Name einer Hofdame der Zarin und einer Nichte des Fürsten Potemkin: »Las neulich Martha Karlweis ›Gastmahl der Branicka‹ – ihre Afferei geht ins geniale; ein Simili Wassermann stellenweise von täuschendem Glanz. (recte: das Gastmahl auf Dubrowitza).«12 Das ist nicht der einzige Lapsus, der Schnitzler in Sachen Karlweis unterläuft. Man muss Schnitzler schon verstehen, es gibt im Roman tatsächlich ungeheuerlich viele historisch verifizierbare Namen, vor allem aus dem weiblichen Hofstaat der Zarin, die in der Regel ohnmächtige Objekte männlicher Begierden sind. Die Intrigen, Solidaritäten, Tapferkeit und Loyalität dieser weiblichen Entourage der Zarin dominieren jene Welt der Üppigkeit der Pracht und des ostentativen Reichtums, den Katharina und Potemkin den staunenden diplomatischen Gästen auf der Reise ausstellt. Eigentliche Hauptfigur oder weiblicher Konterpart der Kaiserin ist eine gealterte und verwitwete Hofmarschallin, die im Roman zweimal mit der Kaiserin in Berührung kommt. Einmal, als die Zarin im Laufe ihrer Reise mit ihrem Gefolge auf dem Gut der Hofmarschallin übernachtet, und das zweite Mal auf der Rückreise der Zarin in Dubrowitza, wo das im Titel genannte Gastmahl und der dramatische Showdown zwischen Katharina und Alexei Orlow stattfindet, wobei etwas überraschend die Hofmarschallin der heftig attackierten Zarin beisteht, die sich eben von den potemkinschen Dörfern blenden ließe, wie ihr Orlow vorwirft. Katharina hätte immer schon alles gewusst, so die von der Hofmarschallin vorgebrachte überraschende und nicht weiter begründete Verteidigung. Das Gut Tschertschersk ist abgebrannt, das die Hofmarschallin wieder aufbauen möchte. Um die dafür nötigen Mittel aufzutreiben, plant sie, der Zarin ihr zweites Gut Dubrowitza zu verkaufen. Deshalb reist sie der Zarin nach, in der Hoffnung, sie einzuholen. Während sich die Zarin auf ihren Schiffen angeblich durch die beweglichen Dorffassaden blenden lässt, erfährt die auf Bauernwägelchen reisende und zu Fuß wandernde Hofmarschallin das ungeschminkte Elend in der südrussischen Provinz, über das sie der Zarin die Augen öffnen möchte. Sie nimmt aber dann, was nicht weiter motiviert wird, davon Abstand, als die Zarin von Orlow massiv angegriffen wird – wohl aus weiblicher Solidarität und Respekt vor der Institution der Monarchie. Nicht nur die begründeten Angriffe Orlows gegen die höfische Verschwendung, sondern vor allem die Erfahrung weiblicher Solidarität führen ein Umdenken in der Politik der Zarin 11 NN, Von neuen Büchern, in: Neues Wiener Tagblatt (Abendblatt), 13. 09. 1921, S. 44. 12 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1920–1922, Wien 1993, S. 231.

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herbei, so könnte man den überraschenden Schluss deuten, über den sich auch die Germanistin Christine Touaillon kritisch äußert, die aber trotz allem voll des Lobes ist: »Doch dieser Einwand beeinträchtigt nicht mein Endurteil über das ausgezeichnete Buch. Es ist ein wirkliches Kunstwerk, wie nicht viele in den letzten Jahren erschienen sind: voll Kraft und Wahrheit, voll Geist, der nicht an unrichtiger Stelle hervortritt, sondern der in der Anlage und Durchführung der Handlung waltet.«13 Touaillon weist auch nachdrücklich auf das Unkonventionelle dieses Romans hin, die Autorin breche »mit der literarischen Tradition«: »Sie gibt die alten Formen des Romans auf und kennt keine ›Helden‹. Nur gelegentliche Streiflichter heben einzelne überragende Individualitäten aus dem Menschengewoge der Erzählung heraus. Der Handlung fehlen alle alten Motive und Motivenverknüpfungen.«14 Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber in der Tat tritt das, was man als vor allem weiblich besetzte Alltagsgeschichte bezeichnen könnte, gegen die chronikale, in der Regel männlich besetzte Geschichte in den Vordergrund, mit einer manchmal schrill anmutenden Kontrastierung von Reichtum und Armut. Der Roman ist sicherlich auch eine der ersten literarischen Aufarbeitungen des Traumas des ersten Weltkrieges mit seinen Millionen Toten und Verwundeten, mit seinen Vertriebenen und Flüchtlingen. Karlweis hatte viele Freunde, die als Soldaten und Offiziere auf den Kriegsschauplätzen im Osten zum Einsatz gekommen waren und darüber berichteten. Abschließend sei noch auf die zentrale historische Quelle hingewiesen, aus der Karlweis ihre detailreichen Informationen über den Verlauf der Inspektionsreise der Zarin in die südlichen Provinzen im Jahr 1787 bezieht. Es handelt sich um das anonym veröffentlichte Buch »Taurische Reise der Kaiserin von Rußland Katharina«.15 Als Verfasser dieser Schrift gilt der deutsche Mediziner Melchior Adam Weikard (1742–1803), der von 1784 bis 1789 als Leibarzt der Zarin in Petersburg arbeitete, aber nicht an der Reise teilgenommen haben soll, d. h. seine Aufzeichnungen basieren nicht auf einer authentischen eigenen Anschauung, sondern auf Berichten von Bekannten und Freunden, die an der Reise teilgenommen haben.16 13 In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 24, Okt. 1921–Okt. 1922, S. 1488–1499, hier S. 1489–1490. 14 Ebd. 15 Melchior Adam Weikard, Taurische Reise der Kaiserin von Rußland Katharina II. Aus dem Englischen übersetzt, Koblenz 1799. Die deutschen Verbundkataloge führen teilweise als Verleger Andreä (Frankfurt am Main) an. Vgl. dazu mein Nachwort zur Neuauflage des Romans (Wien: DVB Verlag 2017): Historische Fassadendemontage. Zu Marta Karlweis’ Gastmahl auf Dubrowtza, S. 179–211. 16 B. von Bilbassoff, Katharina II, Kaiserin von Rußland im Urtheile der Weltliteratur, Bd. 2, Berlin 1897, S. 65. Auf weitere Quellen verweist die exzellente Diplomarbeit von Corina Prochazka, Geschichte weiblich: Der historische Roman österreichischer Schriftstellerinnen von der Ersten zur Zweiten Republik, Wien 2019.

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Elisabeth Freundlichs historischer Roman »Der eherne Reiter« – auch über Katharina – erfreut sich einer gewissen Popularität – es gibt im Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher unzählige Einträge, während in der Bibliografie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft keinerlei Arbeiten zu diesem bemerkenswerten Roman zu finden sind. Die Bezeichnung der Statue »Der eherne Reiter« geht übrigens auf ein gleichnamiges Gedicht von Alexander Puschkin zurück. Auch hier spielt die Zarin keineswegs die Hauptrolle, sondern eigentlich der Pariser Bildhauer Étienne Maurice Falconet (1716–1791) und seine Mitarbeiterin und Schülerin Maria Anne Collot. 1757–66 war F. Direktor der Porzellanmanufaktur zu Sèvres, wo er z. T. nach Bildern Bouchers eine Reihe von figürlichen Einzel- und Gruppenplastiken arbeitete, in denen sich gepflegte rokokohafte Grazie schon mit zurückhaltender Natürlichkeit und Anmut mehr klassizistischer Art verbindet. Das bekannteste Werk F.s aus dieser Zeit ist die dem Bade entsteigende Nymphe (»Baigneuse«, 1757, Paris, Louvre), durch viele SèvresPorzellan- und Bronzereproduktionen bekannt geworden. Durch die Vermittlung Diderots, der die Pygmaliongruppe (1763, Leningrad, Ermitage) begeistert lobte, von Katharina II. 1766 nach Petersburg berufen, schuf F. sein Hauptwerk, das Reiterstandbild Peters I. (der »Eherne Reiter«, 1766–82, auf gewaltigem Granitblock), durch das sich bäumende Pferd ein sowohl technisch wie gestalterisch eindrucksvolles Monument.17

Das hier zitierte »Lexikon der Kunst« verrät allerdings nichts über die Mitarbeiterin Falconets namens Marie-Anne Collot (Paris 1748–Nancy 1821), zu der es in der Bibliothèque nationale de France nur einen einzigen Bildeintrag gibt, der eine Büste des Zaren Peter zeigt. Es handelt sich dabei allerdings nicht um den Kopf der Reiter-Statue. *** Der hintergründige Roman Elisabeth Freundlichs »Der eherne Reiter« verschränkt verschiedene Handlungsstränge, die sich aber in der berühmten Reiterstatue bündeln, die ursprünglich dem ermordeten Gemahl Katharinas, Peter dem Dritten, zugedacht war. Die Statue versteht Katharina als symbolische Wiedergutmachung, deren Errichtung sie gegen den Widerstand der einflussreichen Orlow-Brüder durchsetzt. Die beharrliche Zarin vollzieht damit eine der ersten Selbstbehauptungen gegen die allmächtig scheinenden Günstlinge, denn Katharina war ja auch verdächtigt worden, mitschuldig und mitverantwortlich für Tode ihres ersten Mannes zu sein. Hofintrigen verzögern und beeinträchtigen 17 Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrielle Formgestaltung, Kunsttheorie. Neubearbeitung. Begründet von Gerhard Strauß, hg. v. Harald Olbrich, Bd. 1–7, Leipzig 1987–1994, hier Bd. 2, S. 418.

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immer wieder die Fertigstellung. Die Statue wird erst Jahre nach der Abreise der französischen Bildhauer aus Petersburg auf dem Isaak-Platz aufgestellt, dann allerdings Peter dem Ersten von der Katharina der Zweiten gewidmet, um die von Potemkin vorangetriebene Expansion des Zarenreiches in den Südosten zu legitimieren. Der Bildhauer Etienne-Maurice Falconet erfährt in den ersten Jahren seiner Arbeit an der Statue jegliche Unterstützung durch die Zarin, deren Interesse an dem kolossalen Monument aber bald schwindet. Seine junge Mitarbeiterin Anne Marie Collot ist es nun, die den Meister in den immer wiederkehrenden Phasen der Entmutigung und unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten vor allem beim technisch komplizierten Guss wieder aufrichtet. Anwesend ist auch der zwar begabte Porträtmaler, allerdings lebensuntüchtige und geckenhafte Sohn Falconets, den Anne Marie heiratet, sich aber wieder von ihm trennt, um eine Liebesbeziehung mit ihrem Meister einzugehen. Diese emphatische und aufopferungsvolle Liebe Collots zu Falconet kontrastiert die in der Regel berechnenden Beziehungen, die die Günstlinge zur Zarin unterhalten. Der Roman rückt eine im Schatten ihres Meisters stehende und von der Nachwelt zu Unrecht vergessene Bildhauerin und deren Leistungen ins Zentrum. Den Kopf der Statue, den Falconet entworfen hatte, wurde ja von Katharina abgelehnt, während sie den Entwurf Collots akzeptierte, in dem sie ihren verstorbenen Mann wiedererkennen würde. Man könnte darin auch eine ästhetische Progression erkennen, die vom heroisch-klassizistischen Modell zu einer bürgerlich realistischen Kunst hinführt. Der Roman unternimmt es also auch, die kunsthistorische Erzählung der europäischen Bildhauerei zu korrigieren und einer vergessenen Künstlerin zu ihrem verdienten Nachruhm zu verhelfen. Freundlich hatte auch die Sammlung »Sie wussten, was sie wollten: Lebensbilder bedeutender Frauen aus drei Jahrhunderten« (Herder, Freiburg 1981) veröffentlicht. Mit einem Anflug von Pathos endet der glänzend geschriebene Roman: Von den berühmten Reiterstandbildern der Epoche ist keines auf uns gekommen. Sie sind alle der Französischen Revolution zum Opfer gefallen. Nur im heutigen Leningrad bäumt sich das Roß Peters des Großen noch immer schäumend auf vor dem Abgrund und sprengt hinein in die Ewigkeit. Und gibt Kunde von blutbefleckter Schuld und dem Versuch der Sühne und von Kampf und Niederlage eines Bildhauers, der den Nachruhm verachtete. Es weiß auch zu berichten von seiner Gehilfin, die eine große Liebende gewesen ist, größer als Laura, inbrünstiger als Heloise, und von der es schließlich doch noch jemand aufgeschrieben hat.18

Gegen Ende des Romans gibt Freundlich als eine ihrer zentralen Quellen die einzige Biografie über die Porträtistin und Bildhauerin an, die ich aber nicht eruieren konnte. Es könnte sich um die 50seitige Broschüre von Antony Val18 Elisabeth Freundlich, Der eherne Reiter, Wien 1960, S. 386.

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abrègue19 handeln, auf die Bilbassoff verweist. Vielleicht hilft die Sichtung des Nachlasses der Autorin weiter. Auch weitere Quellen führt sie explizit an, u. a. einen hämischen Artikel des Publizisten Linguet in den »Göttinger Gelehrten Anzeigen« gegen das Reiterstandbild und einige der kunsttheoretischen Schriften Falconets. Auch werden seine Polemiken gegen die Antikomanie herangezogen, ein Streitgespräch über den Ruhm von Diderot und Falconet und weitere Schriften Diderots, der ja mit Falconet befreundet war, über die Skulptur, und darüber hinaus die üppige Memorienliteratur zu Katharina. Ich halte es grundsätzlich spannend, die Quellen, aus denen historische Romane ihre Faktenwissen schöpfen, zu rekonstruieren, als Rekonstruktion einer raffinerten Bricolage des Materials, das in neue und manchmal überraschende Zusammenhänge und Deutungen gefügt wird. Die beiden historischen Romane von Karlweis und Freundlich sind als beeindruckende literarische Korrekturen einerseits am zweifelsohne misogynen historischen Bild der Zarin und an der Ausblendung weiblicher künstlerischer Produktivität im Kontext des »ehernen Reiters« zu lesen. Marta Karlweis schreibt überdies gegen das sedimentierte und denunziatorische Bild einer Herrscherin an, die lediglich unter dem Aspekt ihrer intimen Beziehungen und Liebschaften literarisch gestaltet wird, wie es z. B. Leopold von Sacher-Masoch unternimmt. Hier tritt eine gealterte und zunehmend vereinsamte Zarin auf, die ihren absolutistischen Hof mit Nachsicht regiert und den westlichen Diplomaten und Gesandten ihre außenpolitischen Erfolge mit kostspieligem Aufwand zur Schau stellt. Ihre Herrschaft repräsentiert den historischen Übergang von einer hedonistisch geprägten feudalen Lebenskultur, die von einer neuen, vom aufklärerischen Diskurs geprägte Askese mit lebensfeindlichen Zügen abgelöst wird, gegen die Zarin allerdings immer wieder Vorbehalte anmeldet. Die politischen »Idealisten« hätten üble Liebesgewohnheiten, räsoniert einmal die Zarin lachend. Auch die zurückgezogen lebende Marschallin, die Gegenspielerin der Zarin, versagt auch ihren Untergebenen jedes noch so geringe Vergnügen, wodurch ja indirekt auch die Katastrophe des Brandes herbeigeführt wird. Sie betrachtet sich deshalb als »große Sünderin«20. In diesem skeptischen Blick auf den Fortschrittsoptimismus und den Rationalismus, den auch der habsburgische Kaiser Joseph II. verkörpert, lässt sich eine subtile Reflexion über die Dialektik der Aufklärung erkennen und die Hintergründigkeit des Romans erahnen.

19 Antony Valabrègue, Une artiste française en Russie, 1766–1778. Madame Falconet (1898), Paris 1898. 20 Marta Karlweis, Das Gastmahl auf Dubrowitzer, hg. v. Johann Sonnleitner, Wien 2017, S. 85 und 114.

Veronika Hofeneder (Wien)

Historischer Roman und (Individual-)Psychologie: Macht und Ohnmacht in Gina Kaus’ »Katharina die Große« (1935)

Als Gina Kaus von einer deutschen Feuilletonagentur für eine Serie von Artikeln über berühmte Liebespaare angefragt wird, beginnt sie fasziniert von der Beziehung Katharinas der Großen mit dem Grafen Orlow genauer über die Zarin zu recherchieren. In Katharinas Autobiografie liest Kaus über deren Kränkung, dass Katharinas Eltern bei ihrer Geburt nicht erfreut gewesen wären, da sie sich einen Sohn gewünscht hätten. Das erinnert Kaus sofort an das »Grundthema« ihrer eigenen Jugend und die zentrale Thematik ihres Dramas »Toni« (1926),1 in dem sie Geschlechterstereotypen dekonstruiert und für ein eigenständiges weibliches Selbstbewusstsein eintritt. Auch Katharinas Leben ist vom Wunsch, wie ein Mann, besser noch »[m]ehr als ein Mann, mehr als alle Männer«2 zu sein, bestimmt. Die Kränkung, »nur ein Mädchen« zu sein, prägt ihre Persönlichkeit und ihren Lebensweg entscheidend. Kaus’ historische Biografie der russischen Zarin entspricht der zeittypischen Begeisterung für starke Persönlichkeiten und steht in der literarischen Tradition der in der Zwischenkriegszeit höchst erfolgreichen Historienromane und Biografien, deren faktuale Präferenz und populärwissenschaftlicher Anspruch mit den poetologischen Forderungen der Neuen Sachlichkeit nach Tatsachenorientierung und literarischem Gebrauchswert korrelierten.3 So avanciert »Katharina die Große« innerhalb kürzester Zeit auch zum internationalen Bestseller4 und erfährt noch Jahrzehnte danach regelmäßige Neuauflagen.5 1 Gina Kaus, Von Wien nach Hollywood, hg. v. Sibylle Mulot, Frankfurt am Main 1990, S. 153f. 2 Dies., Katharina die Große [1935], Amsterdam 21936, S. 353. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe erfolgen unter der Sigle KdG mit nachgestellter Seitenzahl direkt im Text. 3 Evelyne Polt-Heinzl, Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision, Wien 2012, S. 208 und Gregor Streim, Einführung in die Literatur der Weimarer Republik, Darmstadt 2009, S. 84f. 4 Das Buch kommt 1935 bei Allert de Lange und Tal heraus, im selben Jahr erscheint es auch auf Englisch, Slowenisch, Dänisch und Norwegisch. In den USA hält sich die Biografie über mehrere Wochen an der Spitze der Bestsellerliste der New York Herald Tribune. Vgl. dazu auch Veronika Hofeneder, Der produktive Kosmos der Gina Kaus. Schriftstellerin – Pädagogin – Revolutionärin, Hildesheim 2013, S. 246.

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Kaus geht es allerdings weniger darum, alle historischen Daten und Fakten in Katharinas Leben korrekt nachzuerzählen oder diese – zeittypisch – als machthungriges Mannweib zu präsentieren, vielmehr zeigt sie Katharina als Produkt ihres persönlichen, sozialen und historischen Umfeldes.6 Ihren ehrgeizigen Charakter, ihren unbedingten Willen zur Macht und ihre übertriebene Selbstbehauptung (auch auf sexuellem Gebiet) betrachtet die Adler-Schülerin Gina Kaus aus der Perspektive der Individualpsychologie, die das Machtstreben als einen der Urtriebe der Menschheit ansieht. Adler zufolge gründen alle Neurosen im Macht- und Geltungsstreben, das dem Gemeinschaftsgefühl entgegensteht und Resultat einer durch verfehlte Erziehung bedingten misslungenen Kompensation kindlicher Minderwertigkeitsgefühle ist.7 Im Folgenden möchte ich ausgehend vom individualpsychologischen Machtverständnis die unterschiedlichen Gestalten und Funktionsweisen von Macht in Kaus’ Romanbiografie analysieren, um die Komplexität von Katharinas Persönlichkeitsstruktur, die im Laufe ihrer Herrschaft Veränderungen durchläuft, zu ergründen.

1.

Wille zur Macht

Adler beschreibt in seinem Artikel »Psychologie der Macht« (1928) den Wunsch nach Macht, nach dem »Mächtig sein!« als die »Sehnsucht aller Kleinen und sich klein Fühlenden«,8 die bereits den Kindern mit der Erziehung mitgegeben werde. Doch dem menschlichen Zusammenleben sei das Streben nach der persönlichen Macht nicht förderlich, da es das menschliche Zusammenleben »vergifte[]«.9 Es sei viel zu sehr auf das »Ideal« des »isolierte[n] Held[en]«10 hin orientiert und vernachlässige das Gemeinschaftsgefühl. In »Über den Nervösen Charakter« (1912) definiert Adler im Kapitel »Oben – Unten« den Willen zur Macht als »eine Form des männlichen Strebens«11 und stellt diesen damit in den Kontext des männlichen Protests, der die weibliche Orientierung an der männlichen Leitlinie 5 Ab 1961 wird das Buch bei verschiedenen deutschen Verlagen wiederaufgelegt, siehe auch die zahlreichen Wiederauflagen bei Ullstein und Langen Müller zwischen 1991 und 2006. 6 Vgl. hier grundlegend auch Christina Huber, Gina Kaus. Eine Monographie, Dipl. Wien 1994, S. 89 und Hildegard Atzinger, Gina Kaus: Schriftstellerin und Öffentlichkeit. Zur Stellung einer Schriftstellerin in der literarischen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit in Österreich und Deutschland, Frankfurt am Main 2008, S. 118. 7 Alfred Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, Frankfurt am Main 1989, v. a. S. 19–32. 8 Alfred Adler, Psychologie der Macht [1928], in: ders., Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937), hg. v. Gisela Eife, Göttingen 2010, S. 331–335, hier S. 331. 9 Ebd., S. 333. 10 Ebd., S. 335. 11 Ders., Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie [1912], hg. v. Karl Heinz Witte u. a., Göttingen 2008, S. 74.

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meint. Die weibliche Rollenzuweisung wird als »unten« und minderwertig empfunden und daher abgewehrt, während die als »oben« und stark angesehene Männlichkeit als erstrebenswertes Ziel betrachtet wird. Die für Überlegenheit, Kraft und Macht stehende Männlichkeit ist auch immer mit Aggressivität verbunden. In dieser Privilegierung des Männlichen sieht Adler letztendlich das Hauptproblem der die Geschlechter ungleich behandelnden Gesellschaftsordnung. So entspringt auch Katharinas kompromissloser Herrscherwille der Unzufriedenheit mit der eigenen Geschlechterrolle, die durch ihre Erziehung noch verstärkt wird und sich als roter Faden durch ihr gesamtes Leben zieht: Ungerecht gescholten, gedemütigt, in einen Winkel gestellt, züchtet sie schweigend den großen Trotz gegen die Mutter, gegen ihr Schicksal, gegen die Natur: sie will ein Mann sein, soviel wie ein Mann und mehr als Mann. M e h r a l s e i n M a n n ! Das ist die erste, dem eigenen Bewußtsein vielleicht verborgene, aber eisern festgehaltene und bis in den Tod nicht verlassene Leitlinie dieser einzigartigen F r a u e n p e r s ö n l i c h k e i t . (KdG, S. 16f.)

172912 kommt sie als Tochter von Christian August von Anhalt-Zerbst und Johanna Elisabeth, geborene Fürstin von Holstein Gottorp, zur Welt und wird auf den Namen Sophie Auguste Friederike getauft. Enttäuscht über ihr weibliches Geschlecht schiebt sie die Mutter zu einer Amme ab, die im Weiteren für die Pflege und Erziehung des Mädchens zuständig ist. Die maßlose Freude der Eltern bei der Geburt ihres kleinen Bruders ist für die kleine Sophie ein einschneidendes Erlebnis. Sie verlebt eine unglückliche Kindheit ohne elterliche Zärtlichkeiten, dafür mit andauernder Bevorzugung des jüngeren Bruders. Als dieser 13-jährig stirbt, hält sich ihre Trauer in Grenzen. Auf den zahlreichen Reisen mit ihren Eltern lernt sie Peter Ulrich, Enkel Peter des Großen und Mündel ihres Onkels, kennen. Er ist Aspirant auf den schwedischen sowie den russischen Thron und wird dementsprechend mit militärischem Drill erzogen. Jedes der Kinder verkörpert das Wunschbild des anderen, er ist ein Knabe mit der Aussicht auf Herrschaft, sie kann sorglos im Park spielen. Im Jänner 1744 reist Sophie mit ihrer Mutter auf Einladung der russischen Zarin Elisabeth nach Russland, Peter ist inzwischen offizieller Thronfolger geworden und soll Sophie heiraten. Mit dem Übertritt zur orthodoxen Kirche wird Sophie auf den Namen Katharina 12 Kaus’ Datumsangaben sind nicht immer genau, Daten aus dem julianischen und dem – zu Katharinas Zeit in Russland gültigen – gregorianischen Kalender verwendet sie nebeneinander. Da die genauen Daten für die Romanbiografie letztlich unerheblich sind, verzichte ich in der Folge auf die Wiedergabe von exakten Datumsangaben und nenne nur Jahreszahlen. Für detaillierte Daten und eine Darstellung Katharinas aus historischer Sicht siehe z. B. Erich Donnert, Katharina II. die Große (1729–1796) Kaiserin des Russischen Reiches, Regensburg 1998 oder Claus Scharf (Hg.), Katharina II., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung, Mainz 2001.

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getauft, rasch macht sie sich mit der russischen Sprache und Kultur vertraut. Die Hochzeit wird wegen Peters Krankheiten und seiner Kindlichkeit immer wieder hinausgeschoben, auf Elisabeths Drängen findet sie schließlich im Sommer 1745 statt. Die Ehe verläuft jedoch alles andere als harmonisch: Peter interessiert sich überhaupt nicht für seine Frau, im Ehebett spielt er lieber mit Puppen und findet Gefallen daran, Katharina mit Geschichten über seine Liebschaften mit diversen Hofdamen zu quälen und zu demütigen. Katharina, endlich dem eifersüchtigen Einfluss ihrer Mutter entronnen, steht nun unter der despotischen Willkür Elisabeths, die die Mutter ihres künftigen Thronerben rund um die Uhr maßregeln und bespitzeln lässt. Katharina macht ihre Not zur Tugend, der Einsamkeit und Langeweile entflieht sie durch das Studium der französischen Aufklärer Voltaire und Montesquieu sowie der antiken Autoren Plutarch und Tacitus. Sie beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit dem Grafen Saltykow, die vom Hof stillschweigend geduldet wird, um einen Thronerben zu sichern. Der kleine Paul, den Peter als seinen Sohn anerkennt, wird Katharina nach seiner Geburt von Elisabeth sofort entrissen. Katharina erholt sich nur langsam von der schweren Geburt, nach ihrer Genesung geht sie öffentlich auf Distanz zu Peter, um ihren eigenen Interessen, der Alleinherrschaft über Russland, nicht zu schaden. Während Peter mit seinen holsteinischen Soldaten exerziert, gelingt es ihr mit einfachen Taten, das russische Volk auf ihre Seite zu bringen. Auch Elisabeths Kanzler Bestushew protegiert Katharina als potentielle Thronanwärterin. Als Elisabeth stirbt, ohne die Nachfolgefrage zu Ungunsten Peters abgeändert zu haben, wird Zar Peter III. vereidigt. Mithilfe seiner Berater bleibt er zumindest in seiner ersten Regierungszeit noch einigermaßen populär, doch zahlreiche sinnlose Beschlüsse und Reformen sowie seine Verehrung für alles Preußische tragen wenig zu seiner Beliebtheit bei. Unterstützt von der russischen Garde, der auch Katharinas aktueller Liebhaber, Gregor Orlow, sowie dessen Brüder angehören, lässt sich Katharina zur Kaiserin von Russland ausrufen und Peter entmachten. Dieser wird gefangen genommen und bald darauf ermordet, Katharina zur Zarin gekrönt. Mit dem Sturz Peters entledigt sie sich gleich eines zweifachen Feindbilds: Sie verwirklicht nicht nur ihr Ideal, den Herrschaftsanspruch auf Verdienst und nicht auf Abstammung zu begründen, sondern überwindet auch ihr Kindheitstrauma, als Mädchen geboren worden zu sein: Aus der unbewußten Tiefe ihrer frühesten Kindheit weht ein ahnendes Erinnern, und was sie erlebt, ist Symbol ihrer ersten Wunschträume: nun sitzt sie wie ein Mann zu Pferde und ist mehr als irgendein Mann im Land und zieht mutig dem FeindlichMännlichen entgegen, dem Manne, der durch Geburt und Geschlecht, nicht durch Verdienst zu ihrem legitimen Herrn eingesetzt ist […]. (KdG, S. 304)

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Katharina weiß, dass sie eigentlich als Usurpatorin gilt, deswegen glaubt sie, ihren Machtanspruch immer wieder durch Verdienste und Leistungen legitimieren zu müssen. Doch diverse sozialpolitische Reformideen zugunsten des Volkes, denen der Plan der Abschaffung der Leibeigenschaft zugrunde liegt, scheitern in der Realität, Unruhen und Revolten sind die Folge. Von ihrem Liebhaber Orlow trennt sie sich, als ihre Liebe für ihn zu mächtig zu werden droht, da sie von nichts und niemandem abhängig sein will. Mit Potiomkin, der sie leidenschaftlich liebt, verbindet sie der gemeinsame Machthunger, zusammen betreiben sie eine expansive Außenpolitik. Als die Leidenschaft zwischen ihr und Potiomkin abkühlt, setzt er selbst seinen Nachfolger bei Katharina ein, die Folge ist die Periode sexueller Ausschweifungen, die Katharinas Ruf als erotomane femme fatale begründet. Ihr letzter Liebhaber, der blutjunge Fürst Zubow, ist Potiomkin nicht genehm, seine Abberufung wird nur durch Potiomkins Tod verhindert. Die alt und milde gewordene Katharina verzeiht Zubow jegliches Ungeschick, das seine politischen Unternehmungen mangels Qualifikation und Talent kennzeichnet. 1796 stirbt Katharina in St. Petersburg.

2.

Macht und (sexuelle) Lust

Kaus stellt Katharina keineswegs als rein liebestolles Mannweib dar, sondern als »Frau mit einem männlichen Leitideal, aber durch und durch eine Frau.« (KdG, S. 283) Das entspricht Kaus’ Positionierung in der zeitgenössischen Feminismusdebatte, in der sie auf der spezifischen Eigenart der Weiblichkeit beharrt und vermännlichten Frauentypen kritisch gegenübersteht.13 So verurteilt sie in zahlreichen Feuilletons die Mode der »Vermännlichung«, die Frauen dazu zwang, männlich zu agieren und auszusehen, um beruflich erfolgreich zu sein. In der Gegenwart der ausgehenden 1920er-Jahre ist das nun nicht mehr notwendig; die berufstätige Frau darf weiblich sein, sich hübsch anziehen und schminken: »Sie hat keine Attribute der Männlichkeit nötig, und wenn sie kurze Haare und kurze Kleider trägt, ist sie bloß praktisch, wie ihre Mutter in ihrer Art für ihre Zeit praktisch war.«14 Kaus kritisiert die Pariser Haute Couture, die versucht aus dieser Bewegung eine Mode zu kreieren, sowie jene Frauen, die den Kampf für die Frauenrechte wie ein modisches Accessoire an- oder abstreifen: Die Mode der »Vermännlichung« wirkt wie eine schlechte Parodie auf die notwendige und gesunde Entwicklung der Frau zur Leistung, Verantwortung und Selbständigkeit. 13 Vgl. dazu ausführlicher Hofeneder, S. 270–276. 14 Gina Kaus, Die Frau von gestern – die Frau von heute [1929], in: dies., Heute wie gestern. Gebrochene Herzen – Moderne Frauen – Mutige Kinder, hg. v. Veronika Hofeneder, Hildesheim 2013, S. 222–224 , hier S. 223.

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Lächerlich und unwürdig ist es, wenn eine Frau, die nie etwas anderes geleistet hat, als Geld auszugeben, das ihr Vater oder ihr Gatte verdient, »Männlichkeit« posiert – als ob Männlichkeit gleichbedeutend wäre mit Leichtsinn, Vergnügungssucht, kurzen Haaren und Sport.15

In »Katharina die Große« destabilisiert Kaus männliche und weibliche Stereotypen16, der russische Zarenhof, an dem die Geschlechterordnung Kopf steht, bietet ihr die passende Kulisse: Seit 1726, dem Tod Peters des Großen, wird Russland – vom kurzen Interregnum Peters III. abgesehen – von Frauen regiert. In diesem vom preußischen König Friedrich II. verächtlich als »Weiberregiment« (KdG, S. 50) bezeichneten Hof putzen sich die Männer mit prächtigen, figurbetonten Kleidern als männliche Kurtisanen heraus, während sich die Frauen Bildung und Kultur angeeignet haben. Elisabeth findet Gefallen daran, Männerkleider zu tragen, und stellt Maskenbälle bei Hof unter das Motto des Geschlechtertausches, wobei insbesondere die geladenen Männer nur wenig Freude daran haben, in unpraktischen Reifröcken aufzutreten. Das zwiegespaltene Verhältnis zwischen Elisabeth und Katharina nimmt auf einem dieser Bälle auch erotische Formen an, als Elisabeth, von Katharina ob ihrer Männerverkleidung bewundert, gesteht, dass sie, wäre sie wirklich ein Mann, keine andere als Katharina zur Geliebten erwählen würde. Katharina hat jedoch keinerlei homoerotische Interessen, die verliebte Leidenschaft der Fürstin Daschkow nimmt sie mit Belustigung zur Kenntnis. Dafür trägt auch Katharina zuweilen Männerkleider: Um ihren Geliebten Poniatowsky heimlich zu treffen, schleicht sie sich als Mann verkleidet aus dem Palast. Zur Bestätigung ihrer eigenen Weiblichkeit sucht sie sich anfänglich als Liebhaber »[n]ur Männer, die ganz sicher im Bewußtsein ihrer robusten Männlichkeit ruhen und denen für alle anderen Werte die Wertung fehlt«, denn nur sie »sind imstande, in einer Frau wie Katharina nichts als die Frau zu sehen […]« (KdG, S. 250). Im Lauf der Zeit aber tritt ein übertriebener Zug an Männlichkeit in Katharinas Liebesleben hervor, in der Periode ihrer sexuellen Ausschweifungen kehrt sie das herkömmliche Rollenverständnis wieder um. Katharina hat Angst vor dem Weichen, Zärtlichen, vor dem »Weiblichen«, das abhängig macht und versklavt. Das Pendel schlägt nach der anderen Seite und zeigt die ganze Amplitude ihrer zwiespältigen Natur: sie kann auch »wie ein Mann« lieben, männlicher als ein Mann, sie kann den Partner in die weibliche Rolle drängen, sie kann ihn demütigen, ihn nehmen, indem sie sich ihm schenkt. (KdG, S. 423)

15 Gina Kaus, Ich möchte ein Mann sein [1930], in: Dies., Heute wie gestern, S. 265–267, hier S. 267. 16 Vgl. auch Luísa Afonso Soares, Vicky Baum and Gina Kaus: Female Creativity on the Margins, in: Christiane Schönfeld (Hg.), Practicing Modernity: Female Creativity in the Weimar Republic, Würzburg 2006, S. 324–341, hier S. 337.

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Nach Adler ist auch die Sexualität ein Ausdrucksfeld von Machtbedürfnissen, die Lust an der Macht ist immer mit sexueller Lust verbunden, was sich bei Machthabern und Machthaberinnen in übersteigerter, auffälliger Sexualität äußern kann. Da diese Sicht Adlers auf seiner Geschlechtermetaphorik gründet, der zufolge das Streben nach Macht mit dem Streben nach Männlichkeit gleichgesetzt wird, stehen Machtstreben und sexuelles Verhalten nicht in einem Kausalverhältnis, sondern haben die gleiche Bedeutung und das gleiche Ziel.17 In diesem Kontext ist auch Peters Sexualneurose zu sehen, der sowohl als Herrscher als auch als Ehemann völlig versagt und durch seine Vorliebe für die Demütigung seiner Mitmenschen – auch auf sexuellem Gebiet – versucht, das eigene Selbstwertgefühl zu bestätigen. Kaus, die seine voyeuristischen und sadistischen Neigungen ausführlich beschreibt, erklärt diese individualpsychologisch: »Aber Neurose ist nur ein Wort, ein kaltes, wissenschaftlich klingendes Wort. Nur dem Kundigen verrät es, daß dahinter die innere Leidensgeschichte eines jungen Menschen steckt, der aus seiner tiefen Einsamkeit den Weg zum Mitmenschen, zum ›Du‹ nicht finden kann.« (KdG, S. 131) Und auch Katharina verliert mit zunehmendem Hunger nach Macht und Sexualität den Bezug zu ihren Mitmenschen. Ihre Liebeswut, besonders im fortgeschrittenen Alter, wird von ihren Zeitgenossen als unpassend empfunden, und auch Kaus’ Erzählerkommentar ist diesbezüglich eher ernüchternd: Wie bei anderen großen Männern triumphiert ihre erotische Phantasie über die Verfallserscheinungen ihres Körpers; wie andere große Männer glaubt sie an die ephemere Möglichkeit, durch geistige Werte körperliche Liebe zu entflammen; wie andere große Männer unterliegt sie mit all ihrem klaren Verstand den plumpen, aber beseligenden Lügen einer geschickten, kleinen Kurtisane. (KdG, S. 508)

Mit Potiomkin, ihrem ehemaligen Liebhaber und nun als Kriegsminister an ihrer Seite kann sie ihre außenpolitischen Machtgelüste befriedigen. Gemeinsam mit Joseph II. plant sie ein Bündnis, um ihr Reich und ihren Einfluss zu vergrößern. Ein Staatsbesuch auf der Krim folgt der Inszenierung Potiomkins, die Armut und Leid im Land zu kaschieren weiß, sodass Joseph II. beim Gipfeltreffen in Katharina »die stärkste Macht der Welt, den reichsten, den unabhängigsten, – den souveränsten Monarchen Europas« (KdG, S. 467) erkennt. Der sexuellen Machtmetaphorik entsprechend ist dies dann auch »der zweite Höhepunkt in Katharinas Leben.« (KdG, S. 467)

17 Vgl. auch Almuth Bruder-Bezzel, Die verschwiegenen Wege der Lust an der Macht. Adlers Hofrat Eysenhardt, in: Pit Wahl u. a. (Hg.), Macht – Lust, Göttingen 2009, S. 154–172, hier S. 165.

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Macht und Ohnmacht

Eng mit der Macht ist aber auch die Ohnmacht verbunden bzw. die Angst vor dem Machtverlust. Macht bedarf der Anerkennung und der Zustimmung; so ist letztendlich der Machtinhaber von seinen Untergebenen abhängig, die seine Machtposition akzeptieren müssen. Manès Sperber, früherer Adler-Schüler und späterer -Dissident, beschreibt diese Abhängigkeit des Herrschers und dessen Angst vor dem Sturz in seiner »Analyse der Tyrannis« (1939). Der Mächtige lebt in ständiger Unsicherheit, dessen Angst nennt Sperber »aggressive Angst«, die als »affektive Aggression« auftritt und aus der kompensatorisch der Wille zur Macht erwächst.18 In Kaus’ Romanbiografie ist es zunächst Katharinas Stiefmutter Elisabeth, die als noch herrschende Zarin geradezu panische Angst vor ihrem Sturz hat und deswegen nicht in der Nacht schläft, sondern erst am Vormittag. Sie versucht ihre Macht durch den raschen Aufbau eines Thronfolgers (Peter!) inklusive Ehefrau abzusichern. Dass sich dieser als absolut ungeeignet, jene dafür als Idealbesetzung erweist, ist Elisabeths Plänen nicht gerade zuträglich. Sie lässt Katharina einsperren und durch ihre Bediensteten überwachen. Katharina nutzt die unfreiwillige Gefangenschaft, um sich mit Literatur und Geschichte zu beschäftigen, und interessiert sich besonders für die Unterdrückten und Menschenrechte. Außerdem hat sie den Ehrgeiz möglichst gut Russisch zu lernen; beim Sprachstudium, das sie bloßfüßig bis in die Nacht hinein fortsetzt, zieht sie sich eine lebensbedrohliche Lungenentzündung zu – diesen Einsatz werden ihr ihre späteren Untertanen sehr hoch anrechnen. Und generell erscheint Katharinas Herrschaftsanspruch, der ein absolutistischer ist, in einem positiven Licht, da sich Katharina für die Machtausübung durch ihre Charaktereigenschaften legitimiert: »Ihr Anrecht auf den Thron entspringt ihrer Persönlichkeit, nicht ihren Personalien.« (KdG, S. 338) Der ob seiner Abstammung zum Zaren bestimmte Peter »ist keineswegs der Halbkretin oder Bösewicht, als den wir ihn häufig dargestellt sehen: er ist nichts als ein Durchschnittsmensch, der vor eine viel zu große Aufgabe gestellt ist.« (KdG, S. 77) In individualpsychologischer Tradition erklärt Kaus Peters neurotischen Charakter durch seine Erziehung und Umgebung, die ihn zu übermäßigem Ehrgeiz motivierten. Peters Ideal ist es, als kleiner holsteinischer Soldat zu dienen; die Aussicht, das russische Reich zu regieren, schreckt ihn ab. Wie fatal die Auswirkungen sein können, wenn eine »kleine« Persönlichkeit mit einer zu großen Aufgabe betraut wird, hat Kaus mehrfach am eigenen Leib miterlebt – die

18 Manès Sperber, Zur Analyse der Tyrannis. Ein sozialpsychologischer Essai [1939], hg. v. Wilhelm W. Hemecker, Graz 2006, S. 42. Vgl. auch Bruder-Bezzel, S. 162.

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Anfrage, über Kaiser Franz Joseph eine Biografie zu verfassen, lehnt sie mit einer Begründung ab, die frappant an ihre Charakteristik Peters erinnert: Franz Joseph war keine faszinierende Persoenlichkeit. Man kann ihn drehen und wenden wie man will, er bleibt ein biederer Bureaukrat und steifer Militaer, alles in kleinem Stil. Er hat durchaus Zuege der Guete und Menschlichkeit – alles in kleinem Stil. Interessant ist bloss zu zeigen – und es ist bereits ganz gut gezeigt worden – wie katastrophal es war, dass diese kleine Persoenlichkeit mit den gigantischsten Problemen konfrontiert war.19

Auch Katharinas letzter Favorit, Zubow, versagt auf dem politischen Parkett – er vereitelt beispielsweise durch mangelndes diplomatisches Geschick die für Katharinas außenpolitische Interessen bedeutsame Verlobung ihrer Enkelin mit dem schwedischen König –, da er nur ein durchschnittlicher Offizier [ist], der den moralischen Anforderungen der Macht nicht gewachsen ist. Es ist natürlich, daß er seine Position, die er keinem wirklichen Verdienst verdankt, durch Freunde verstärkt, die wiederum kein anderes Verdienst haben, als ihm ergeben zu sein […]. (KdG, S. 504)

Die Verbindung von Macht und der damit verbundenen moralischen Verantwortung ist Kaus seit jeher ein Anliegen. Bereits in ihrem 1917 verfassten Essay »Gesetz und Gericht«,20 in dem sie mit dem herrschenden Justizsystem abrechnet, kritisiert sie, dass die Gesetzgebung vom Staat dazu missbraucht werde, die eigene Machtposition auszubauen, obwohl sie eigentlich die Interessen der Menschen schützen solle. So bleibt auch die absolutistisch herrschende Katharina im Grunde ihres Herzens immer Demokratin und Republikanerin. Schon als Kind hat sie im Stadtgarten mit den Kindern gewöhnlicher Bürger gespielt und bei diesen Spielen hat sie gelernt, ihren Platz durch eigene Tüchtigkeit zu behaupten. […] Niemals würde sie diese einfachen Leute mit solcher Sicherheit zu nehmen verstehen, hätte man sie dazu erzogen, sie zu beherrschen. (KdG, S. 34)

Katharinas Schlüssel zum Erfolg liegt in ihrem Umgang mit den einfachen Menschen, der auf Achtung der menschlichen Rechte und Würde beruht: »Sie hat die Fähigkeit, jene einfachen Handlungen und Gesten zu finden, die in einfachen Menschen das lebhafte, sympathische Bild einer Persönlichkeit entstehen lassen. Diese Fähigkeit teilt sie mit allen Lieblingen des Volkes, mit den gekrönten ebensowohl wie mit den revolutionären.« (KdG, S. 183) Zur Herrschaft ist sie durch Leistung und Verdienst berechtigt, nicht durch ihre Abstammung. 19 Gina Kaus an Barthold Fles, o. O., 4. 6. 1963, in: Nachlass Gina Kaus, Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt am Main. 20 Andreas Eckbrecht (d. i. Gina Kaus), Gesetz und Gericht, in: Summa. Eine Vierteljahresschrift, Zweites Viertel 1917, S. 163–170.

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Nichtsdestotrotz ist sie von der Notwendigkeit ihres absolutistischen Regimes überzeugt, denn sie hält das einfache Volk ohne kompetente Führung noch nicht für reif für die absolute Freiheit und Selbstbestimmung. Für die Welt der Realität, für die politische Welt, für die Welt der praktischen Lebensfragen eines Volkes ist es am besten, wenn es seinem Herrscher vertraut, wenn es unbeschwert und in Frieden seinen Geschäften nachgeht, seine Äcker bestellt und seine Familien betreut. (KdG, S. 332f.)

Kaus streicht Katharinas gütige Herzenswärme, ihre wohltätige Hilfsbereitschaft und integrativen Bestrebungen heraus und zeigt sie als russische »Mammuschka«21, die sich um die ihr Anvertrauten sorgt. Katharina ist sich aber auch des Zusammenhangs von Macht und Verantwortung bewusst, sie will diese Macht zur politischen Veränderung nutzen: Zum ersten Mal in der Geschichte Rußlands macht sich ein Herrscher Gedanken über das Volk, betrachtet ein Herrscher den kleinen Mann nicht als ein Objekt der Ausnutzung. Katharinas erste Maßnahmen richten sich gegen die Privilegierten: sie schafft den großen Teil der Monopole ab. (KdG, S. 341)

Schlussendlich scheitern Katharinas idealistische Reformpläne aber an der Realität: Da Katharina nichts über die soziale Schichtung des Volkes weiß, ihr der Dritte und Vierte Stand fremd sind, versteht sie nicht, dass in dieser untersten sozialen Schicht ihrer friedlichen bürgerlichen Revolution von oben ein feindliches Element gegenübersteht. Schließlich verabschiedet sie sich vom Ziel der Abschaffung der Leibeigenschaft und konzentriert sich auf Maßnahmen im Sinne der allgemeinen Menschlichkeit und Volksbildung.22 Doch auch Katharina ist, je länger sie an der Macht ist, wie ihre Vorgängerin Elisabeth nicht vor der Angst, diese wieder zu verlieren, gefeit. Dem Ausbruch der Französischen Revolution steht sie geradezu feindselig gegenüber, da sie deren Ziele als Gefahr für ihren Herrschaftsanspruch sieht. Auch der freien Meinungsäußerung sowie humanistischen, aufgeklärten und liberalen Positionen, die sie selbst früher gefördert und vertreten hatte, kann sie nichts mehr abgewinnen bzw. nur dann, solange diese unter Aristokraten auf geistiger Ebene

21 Vgl. auch Ester Saletta: Weiblichkeit – Macht – Literatur: Das Bild Katharinas der Großen in der Literatur, im Theater und in der Filmkunst der 1920er- und 1930er-Jahre, in: PrimusHeinz Kucher / Rebecca Unterberger (Hg.), Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹. Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918– 1938, Berlin 2019, S. 423–438, hier S. 430. 22 Vgl. auch die Meinung moderner Historiker: »Da Katharina II. das Rußland ihrer Zeit offensichtlich nicht für reif hielt, die Leibeigenschaft aufzuheben, schreckte sie letztlich vor der Befreiung des bäuerlichen Volkes zurück.« – Erich Donnert, Katharina II. die Große (1729– 1796). Kaiserin des Russischen Reiches, Regensburg 1998, S. 224.

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verhandelt werden und nicht Gefahr laufen, durch das Volk auch tatsächlich realisiert zu werden. Am Ende ihrer Herrschaft steht Katharina am Gipfel ihrer Macht, sie ist dort, wo sie immer schon hinwollte. Doch sie kann sich mit dem, was sie erreicht hat, nicht zufrieden geben, »[n]ichts in ihr hat sich besänftigt, und am allerwenigsten ihr Ehrgeiz.« (KdG, S. 498) Schlussendlich möchte sie ihre Macht immer weiter ausbauen und hat – wie alle Mächtigen – panische Angst vor deren Verlust. Spannend ist die weibliche Perspektive der Machtausübung und des Herrschens, die Kaus in dieser Romanbiografie eröffnet. Ausgehend von einem Machtwillen, der sich vorrangig in der Unzufriedenheit mit der eigenen Geschlechterrolle gründet, hat Katharina durch die eigene Erfahrung von Unterdrückung und Abwertung, hehre Ziele, die sie kraft ihrer Machtposition auch verwirklichen möchte. Sie ist sich der Verantwortung ihres Machtanspruchs und ihrer Machtausübung bewusst. Mit zunehmendem Machtgewinn erliegt sie allerdings der – vor Geschlechtergrenzen nicht halt machenden – Lust nach immer mehr Macht und erliegt damit – genauso wie ihre männlichen Herrscherkollegen – den Kollateralschäden ihrer Machtgier. Kaus zeigt Macht hier nicht als geschlechtsspezifisches Phänomen, sondern als ein soziales und postuliert damit einmal mehr ihren feministischen Anspruch als gesamtgesellschaftliches Anliegen. Individualpsychologisch inspiriert plädiert sie für das Recht eines jeden Menschen auf Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Ein Streben nach einer besseren Gesellschaft beinhaltet dementsprechend auch die Gleichstellung der Frau. Dem in der Zwischenkriegszeit medial inszenierten Bild der neusachlichen Powerfrau, die selbstbewusst ihr Liebesleben organisiert, die neuesten Mode-, Kosmetik- und Diättrends befolgt, erfolgreich im Berufsleben steht und nebenbei – so vorhanden – ihre Familie managt, steht Kaus ambivalent gegenüber. Sie beurteilt Erfolge der Emanzipation nicht pauschal positiv, sondern macht auf deren potentielle Schwachstellen aufmerksam. Das Selbstbewusstsein der Frau sieht sie nach wie vor von patriarchalischen Denkmustern bestimmt, entlarvt Forderungen und Erfolge der Feministinnen als kurzfristige Modeerscheinungen oder verweist auf die Ambiguität dieser Errungenschaften. Gerade in den ausgehenden 1920er-Jahren mit dem Aufkommen konservativer Ideologien war die anfängliche Euphorie der weiblichen Emanzipationsbestrebungen im Begriff, wieder traditionellen Frauen- und Mutterbildern zu weichen. Und so schreibt Kaus mit »Katharina die Große« nicht nur die Biografie einer karrierebewussten Frau, die sich nur an der Spitze des russischen Reiches ihre Selbstverwirklichung vorstellen kann und dies auch überzeugender ausführt als ihre männlichen Nachfolger, sondern liefert mit ihrem historischen Roman gleichzeitig einen wertvollen Beitrag zur Feminismusdebatte in einer Zeit, die dabei war, den Frauen hart erkämpfte Errungenschaften wieder abzuerkennen und sie auf ihre traditionellen Plätze zurückzuverweisen.

Jasmin Grande (Düsseldorf)

Zur Geschichts- und Raumtransformation in Maria von Peteanis »Das Glück der Hanne Seebach. Eine Liebesgeschichte aus den Biedermeiertagen« (1920)

Zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, ein Jahr nach dem Abschluss der Friedensverhandlungen von Versaille, an die u. a. die Frage anknüpfte, wie sich die zunächst als Deutsch-Österreich benannte Republik aufstellen würde, inmitten umfangreicher politischer Unruhen, Not und Hunger in der Bevölkerung, erschien 1920 Maria von Peteanis »Das Glück der Hanne Seebach. Eine Liebesgeschichte aus den Biedermeiertagen«.1 Die Autorin lebte seit 1913 wieder in Linz, der boomenden, sozialdemokratischen Landeshauptstadt der seit 1918 als »Oberösterreich« zusammengefassten Region an der Grenze zur Weimarer Republik. Die Publikationsgeschichte des Romans verzeichnet den Erfolg des Erstlings der Autorin: zunächst in Buchform beim Linzer Verlag Fidelis Steurer, 1920/21 als Fortsetzungsroman im »Salzburger Volksblatt: unabhängige Tageszeitung für Stadt und Land Salzburg«2 und ab Dezember 1925 im Linzer »Tagblatt. Organ für die Interessen des werktätigen Volkes«. Die Kritik war begeistert und begrüßte den Erstling der in Linz ansässigen Autorin: »Es war die Gabe eines echten Talentes, um so bewundernswerter für diejenigen, die wußten, daß Maria Peteani, die ja in unserer Stadt lebt, mit diesem ersten Buche ganz plötzlich fertig in die Literatur hineinsprang«, so der Rezensent der »(Linzer) Tages-Post« am 18. 11. 1921. Überhaupt ist Linz über den Zugewinn für die regionale Literatur begeistert: »Wenn ich hier über den verfügbaren Raum hinaus die ›lobsingende‹ Feder laufen ließ, geschah es auch deshalb, weil Peteani jetzt unsere Landsmännin ist und in unserem lieben Linz lebt!«3 Auch die folgenden Romane von Maria von Peteani werden Publikumserfolge, so wird der zweite Roman, »Die Liebesleiter«, bis 1948 200.000 Mal 1 Maria von Peteani, Das Glück der Hanne Seebach. Eine Liebesgeschichte aus den Biedermeiertagen, Linz 1920. Herzlichen Dank an Aneta Jachimowicz für die Empfehlung des Romans. 2 Das »Salzburger Volksblatt« gibt an, dass der Roman bereits 1919 in den »Neuesten Nachrichten« als Fortsetzungsroman erschien, wegen der Einstellung des Blattes die Reihe jedoch nicht abgeschlossen werden konnte, vgl. Salzburger Volksblatt, 28. 12. 1920, S. 5. 3 Hans Harry Pilz, Der göttliche Kuß, in: (Linzer) Tages-Post, 25. 10. 1923, S. 3–4, hier S. 3.

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gedruckt. Hier passiert, so ist man sich einig, regionale Literaturgeschichte von internationalem Rang: Das Schrifttum Oberösterreich läßt die Namen zweier Dichterinnen an seinem Himmel erglänzen, die weit über die Grenzen des Landes und Oberösterreichs bekannt geworden sind: zur rühmlichst genannten Handel-Mazzetti mit ihren historischen Heimatromanen gesellt sich Maria Peteani, der die literarische Zeitgeschichte bereits einen für sie und unser Land ehrenvollen Platz in ihren Annalen gesichert hat.4

Dabei bleibt festzustellen, dass die Handlung von »Das Glück der Hanne Seebach« in einer »stillen deutschen Kleinstadt«5 angelegt ist und alle regionalen und urbanen Wirklichkeitsbezüge nach Deutschland weisen, obwohl sich für die Verortung der Epoche Biedermeier durchaus auch Referenzen nach Wien geeignet hätten. Was sind es also für Räume oder Orte, die im Roman konzipiert werden? In welchem Verhältnis steht die Biedermeierzeit und ihre Rezeption 1920 zur Handlung? Wie lassen sich die wichtigen Erkenntnisse, die die Forschung mit einem gendertheoretischen Zugriff zu Maria von Peteani bereitgestellt hat, mit dem für die regionale und zeitliche Reflexion verbundenen diskurs- und raumtheoretischen Ansatz verbinden? Der Roman bietet also vielfache Ansatzpunkte, um die von Aneta Jachimowicz im Rahmen der Tagung und ihrer Habilitation aufgeworfenen Fragestellungen zur Literatur und insbesondere zum Historischen Roman von Frauen in der Zwischenkriegszeit in Österreich zu reflektieren. Über ihr schriftstellerische Selbstverständnis äußert Maria von Peteani 1945 in einem zu diesem Zeitraum unfassbaren Tenor der Leichtigkeit: Aber was immer ich schreiben werde, eines ist mir Leitmotiv: Ich möchte den Menschen Freude bringen! Sie nicht beschweren, sondern von ihren Sorgen ablenken. Ein wenig Licht in die Krankenstuben, ein wenig Heiterkeit nach des Tages ermüdender Arbeit. Darin erblicke ich den Zweck meines Lebens.6

Mit dem Interview drucken die »Oberösterreichischen Nachrichten« vom 31. 10. 1945 die Erzählung »Die rosenrote Brille« ab, die nicht aus dem Jahr 1945 stammt, sondern aus den Anfängen der schriftstellerischen Karriere Maria von Peteanis. Die Sorglosigkeit und die fehlende Bezugnahme auf ihre Zeit ähneln der Leichtigkeit, mit der Maria von Peteani 1920 das Umfeld ihres ersten Romans konzipiert – die katastrophale Gegenwart wird ausgespart. Die Parallelität motiviert 4 G.B., Bücherschau, in: Tagblatt, 11. 12. 1926, S. 8. 5 Karl Görner, Maria Peteanis Roman »Die Liebesleiter«, in: (Linzer) Tages-Post, 18. 11. 1921, S. 3. 6 E.W., Maria von Peteani. Mein Lebenszweck, den Menschen Freude zu bringen, in: Oberösterreichische Nachrichten. Unabhängiges Tagblatt österreichischer Demokraten, 31. 10. 1945, S. 6.

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dazu über bewusste Selbstinszenierung als Schriftstellerin, Eskapismus und/oder antiintellektuelles Programm nachzudenken und die Erkenntnisdimensionen zu reflektieren, die darüber hinausgehen.

Maria von Peteani in der Forschung Über die nahezu vergessene Erfolgsautorin Maria von Peteani bemerkt die Literaturwissenschaftlerin und Direktorin der Oberösterreichischen Landesbibliothek in Linz, Renate Plöchl: »Mit Auflagen von bis zu 200.000 Exemplaren und Werkverfilmungen würde Maria Peteani im heutige Literaturbetrieb ihren festen Platz in den Bestsellerlisten haben.«7 Insgesamt veröffentlicht Mara von Peteani 19 Romane, diverse Kurzgeschichten, Kritiken und Reportagen u. a. für das »Neue Wiener Tagblatt«, den »Getreuen Eckart« und die »Deutsche Allgemeine Zeitung«.8 In der Forschung wird Maria von Peteani seit den 1990er Jahren partiell wiederentdeckt. Angestoßen wurde dies von Renate Plöchl, die in ihren Aufsätzen über Maria von Peteani rezeptions- und gendertheoretische Ansätze verbindet und eine grundsätzliche Einordnung des Werks von Maria von Peteani als strukturell konventionell, in der Wahl der Themen jedoch innovativ und emanzipiert vornimmt.9 Justyna Górny fokussiert diese Fragestellung aus der Perspektive der Leserin, indem sie die Qualität der weiblichen role models untersucht, die Maria von Peteani in ihren Romanen konstruiert und Zusammenhänge zwischen dem Etikett Trivialliteratur und weiblichen Protagonistinnen aufzeigt.10 Viktoria Plötzl hat diesen Zugriff sowohl kultursoziologisch als auch literaturtheoretisch ausdifferenziert, indem sie den verfilmten Erfolgsroman der Schriftstellerin, »Der Page vom Dalmasse-Hotel«, mit der Methode des Queer Readings reflektiert. Sie zeigt, dass die biografischen Details, die Maria von Peteani über sich preisgibt und die es bis in ihren Wikipedia-Eintrag geschafft haben, Teil einer Legitimationsstrategie weiblichen Schreibens sind: 7 Renate Plöchl: Maria von Peteani, https://stifterhaus.at/stichwoerter/maria-von-peteani, [02. 01. 2021]. 8 Ebd. 9 Renate Plöchl, Das bloße Schauen ist, als täte man Verbotenes. Zu zwei Texten von Maria Peteani, in: Theresia Klugsberger u. a. (Hg.), Schwierige Verhältnisse. Liebe und Sexualität in der Frauenliteratur um 1900, Stuttgart 1992, 31–41; dies., Maria Peteani. Erfolgsschriftstellerin mit Publikationsverbot, in: Birgit Kirchmayr (Hg.), »Kulturhauptstadt des Führers«. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, Linz 2008, S. 197–202. 10 Justyna Górny, Ist das Weib ein Nichts? Vorbilder und Schreckbilder in den österreichischen Romanen von Frauen in der Zwischenkriegszeit, in: Aneta Jachimowicz (Hg.), Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich, Frankfurt am Main 2017, S. 327–346.

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It [biographische Notizen Maria von Peteanis von 1945, J.G.] also portrays an inherently and complicated androcentric society in which a woman can be labeled as an artist, but due to her sex and gender the way she is portrayed as a professional writer differs vastly from depictions of successful male authors of the same time.11

Dementsprechend dienen die Informationen zur Liebesheirat Maria Sauers mit dem Tenor Eugen Peteani Reichsritter von Steinberg 1908, seine Begleitung auf Tourneen, der Verlust seines Vermögens und der Umbau ihres Privathauses in Gorizia, damals Görz genannt und Teil des Kaisertums Österreich, in ein Hotel zu den Legitimationsstrategien ihrer Autorinnenschaft. Ebenso begründen ihre Herkunft aus einer Künstler_innenfamilie – »der Vater war königlicher Hofschauspieler in Berlin«12 – sowie der überraschende Tod des Ehemanns 1913 die Wahl der künstlerischen Existenz als ebenso zufällig wie schicksalhaft, also nicht intentional. Auch wenn das Erfolgsrezept der Romane, wie Renate Plöchl feststellt, in ihrer konventionellen Struktur liegt, zeigt Viktoria Plötzl die Komplexität auf, die die Themen im Text entwickeln: »Despite the author’s divergent intentions, the intention of the text […] is to question norms and to offer a reading in which deconstruction of the binary oppositions of gender and sex is possible.«13 Parallel nimmt Viktoria Plötzl eine Neubewertung der Rolle von Maria von Peteani im Nationalsozialismus vor, die den Fokus nicht auf das Schreibverbot lenkt, sondern auf die Versuche von Peteanis dieses Schreibverbot aufzuheben: Because Peteani earned her living as a writer, the Reichsschriftumskammer’s refusal placed her under financial duress; this fact does not, however, absolve her of the attempt to participate in the National Socialist cultural scene. […] Peteani, […] would have accepted membership if the Nazis had accepted her many petitions, which she signed with ›Heil Hitler.‹14

Die Frage nach dem Verhältnis zur Zeit lässt sich, auch für Maria von Peteani, also nicht einfach in Opfer und Täter auflösen. Nichtsdestoweniger ist ihr Vergessen Teil einer auf den Mann fokussierten Kulturgeschichte, zu der auch das Erstaunen der RezensentInnen in den 1920ern über die Themen gehört, denen sich Maria von Peteani annimmt:

11 Viktoria Pötzl, In-between Wars, in-between Genders: A Queer Reading of Maria von Peteani’s »Der Page vom Dalmasse-Hotel«, in: Monatshefte, vol. 112 no. 1 (2020), S. 38–55, hier S. 38. 12 Biografie von Maria von Peteani, in: Literatur in Österreich 1838–1945: Handbuch eines literarischen Systems, hg. v. Uwe Baur / Karin Gradwohl Schlacher, Band 3: Oberösterreich, Wien 2014, S. 356. 13 Pötzl, S. 53. 14 Ebd., S. 40.

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Ich habe vorhin von den großen, leuchtenden Augen dieser Frau gesprochen, und da muß ich denn doch betonen, daß in ihnen mehr verborgen liegt als der Glanz der nachschaffenden Sängerin, da leuchtete manchmal etwas aus Tiefen auf, die das heilige Chaos des aus dem Nichts Formenden erfüllt, neben einer schier unheimlich scharfen Klugheit, einer Kraft des Durchdringens und Durchschauens, wie sie sonst nur den Ärztinnen eigen ist, das einzig Maskuline an dieser sonst so erquickend weiblichen Frau. Dieses Männliche befähigt sie, ihre echt weiblichen Gedanken und Gefühle in eine straffe, nirgends überquellende Form zu gießen, nicht nur Fabuliererin, sondern auch Gestalterin zu sein, sich aus den verwirrenden Einzelheiten unserer Zeit ein Weltbild von einer Festigkeit und Klarheit zu bilden, darum sie mancher Mann beneiden könnte.15

Ein anderer Rezensent stellt fest, dass der zweite Roman, »Die Liebesleiter«, zwar »literarisch […] durchwegs ernst zu nehmen« sei, »künstlerisch vornehm in der ganzen Fassung und von hinreißendem Flusse der Darstellung, ausgezeichnet durch leuchtende und beleuchtende Form der Sprache«, für »Backfische eignet es sich allerdings nicht und manches hätte auch eine Milderung des Ausdruckes vertragen«.16 Die Irritation der RezensentInnen gegenüber den Themen und Handlungen ist kalkuliert. Maria von Peteani entwickelt ihre Geschichten über den Kontrast zwischen starren gesellschaftlichen Vorgaben und den Entscheidungen ihrer Protagonistinnen, die sie aus den Vorgaben herauskatapultieren. Erst über den Kontrast dieser beiden Dynamiken erhalten die Themen ihre Schärfe. Als Finale fungiert im »Glück der Hanne Seebach« ebenso wie in der »Page vom Dalmasse-Hotel« die Frage, ob die Protagonistinnen sich dennoch wieder in die Gesellschaft eingliedern oder nicht. Auf der Basis dieses Forschungsstands steht im Folgenden der Roman »Das Glück der Hanne Seebach« als Beispiel für »Historische Romane von Frauen in der Ersten Republik Österreich« im Fokus. Die mehrfache Aufnahme des Romans in den Zeitungen sowie die begeisterten Rezensionen zeigen, dass er die LeserInnen abgeholt hat. Der Ort der Handlung sowie das Stichwort Biedermeier, das den Roman sowohl historisch einordnet als auch eine Leseerwartung an die Gestaltung weckt, legen einen diskursanalytischen und raumtheoretischen Zugriff nahe, um herausarbeiten, welche »komplexe Antwort auf eben diese Gegenwart, die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche sowie die aktuellen Veränderungen im Alltag«17 der Roman 1920 bereit hielt und über den Eskapismus des »Freude bringen[s]«18 hinaus vermittelte.

15 Robert Hohlbaum, Maria Peteani, in: Radio Wien, 7. Jahrg., Heft 34 (22. 05. 1931), S. 6. 16 Görner, S. 3. 17 Vgl. den Ankündigungstext zur Tagung: (http://www.uwm.edu.pl/germanistyka/index.php? option=com_content&view=article&id=767&catid=16&Itemid=132, [02. 10. 2021]). 18 E.W., S. 6.

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Zum Roman Hanne Seebach ist das einzige Kind des Ehepaares Johanna Seebach, geborene Seibler, und Professor Amadeus Seebach, sie ist ein junges Mädchen, vornehmlich damit beschäftigt Tochter zu sein, im Verlauf des Romans beginnt sie hochzeitsvorbereitend eine Ausbildung als Näherin. Die Familie lebt etwas abseits des Zentrums von Mühlen am Erk, einer kleinen Stadt mit Schloss, Dom und Marktplatz. Hanne Seebachs Vater ist Lehrer am örtlichen Lyceum, die Mutter ist Hausherrin. Mit der Familie Seebach hat es eine Besonderheit, anerkannt und fleißig wie sie ist, unterscheidet sie sich dennoch von der übrigen Mühlener Bevölkerung, indem sie nicht gläubig lebt, den »Rheinischen Merkur« abonniert hat, während die restliche Bevölkerung die »Mühlener Wochenschrift« liest und regelmäßig in die Kirche geht. Dennoch ist Hanne Seebach verlobt und das ist ihr »Glück«,19 sie bereitet sich auf die Hochzeit mit Regierungskonzipist Friedrich von Pauer vor, dem Sohn des Mühlener Konsistorialrats Bernhard a.D. von Pauer. Friedrich – Fritz – von Pauer ist ein begehrter Junggeselle im Ort und Hanne sowie ihre Familie sehr zufrieden, dass er sie ausgewählt hat, obwohl sie keine umfangreiche Mitgift in die Ehe bringt. Während Fritz beruflich zum Zeitpunkt der Verlobung noch in Rakow gebunden ist, beginnen Hanne und seine ledige Schwester, Seraphine von Pauer, mit den Hochzeitsvorbereitungen, vor allem mit der Vorbereitung der gemeinsamen Wohnung. Hanne sieht einer Zukunft in Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung entgegen, die Hinweise auf ihre Rolle als Mutter und die Integration in das eher triste Familien- und Gesellschaftsleben der von Pauers lassen zwar ahnen, dass dieses Glück schwierig werden könnte und sie auf Freiheiten verzichten müssen wird, die ihr als Tochter im Haushalt der Eltern noch zustehen, als Ehefrau und Mutter in der Familie Pauer jedoch nicht mehr. Aber die Diegese des Romans legt nahe, dass das nicht außergewöhnlich ist und Hanne das bewältigen wird. Parallel zum Verlobungsfest trifft ein Brief von Professor Richard Gabriel aus Düsseldorf bei den Seebachs ein, der ankündigt, dass sein Sohn Gaston Gabriel, der u. a. an der Pariser Akademie studiert hat und das Pariser urbane Leben genießt, im Auftrag des Prinzen Otto Rokansky, nach Mühlen kommt, um für die St. Emerans-Hofkirche ein neues Altarbild zu schaffen. Die Erwartungen der Seebachs, dass ihnen mit dem Besuch des Künstlers und über den Kontakt zum Fürstenhaus ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich sein wird, sind groß. 19 »Und nun war sie verlobt, richtig und öffentlich verlobt, – wie Bomben hatten die ausgesandten Anzeigen eingeschlagen, ganz besonders in den mädchengesegneten Freundesfamilien, – und es gab durch ein paar Tage kein Kaffee-Kränzchen, keine Préferancepartie, keinen Abendschoppen und keine Erbauungsstunde, wo nicht über das Glück der Hanne Seebach geredet wurde.« Peteani, S. 21.

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Der schillernde, mittellose Künstler, Gaston Gabriel, erweist sich, wie erwartet, als kulturelles Ereignis und bereichert die Gespräche sowie den Musikgenuss im Hause Seebach. Dass er nicht bei den von Pauers verweilt, markiert den Unterschied zwischen dem kulturell interessierten Familienleben der Seebachs und dem konservativen der von Pauers. Auf etwa der Hälfte des Buches beginnt der Liebesroman, Hanne und Gaston Gabriel verlieben sich ineinander. Alle Versuche zu widerstehen werden überwunden, die beiden werden heimlich ein Paar. Hanne gerät zwischen die Räder der männlichen Verführung, ihrer Liebesvorstellung und der gesellschaftlichen Erwartungen. Als sie Gaston Gabriel vorschlägt, mit ihm durchzubrennen, lehnt er ab und sie erleidet am Fluss einen Schwächeanfall, halb rutscht sie hinein, halb lässt sie sich fallen und ertrinkt. Als konventionell weisen den Roman das chronische Erzählen und die weitgehende Nullfokalisierung der Erzählinstanz aus, die im Epischen Präteritum und extra-diegetisch die Handlung erzählt. Die erzählte Zeit reicht von Herbst 1838 bis Sommer 1839 und arbeitet sich in einer Kreisbewegung um die Handlung herum, in der immer wieder Hannes Perspektive ins Zentrum rückt, abgewechselt von Schilderungen von Wohnräumen, Kleidern, Orten in der Stadt, etc. Die Figuren um Hanne herum sind eher holzschnittartig gestaltet, bezogen auf ihre Rolle im Verhältnis zu Hanne: Die Mutter hantiert mit der Wäsche und sinnt auf die finanzielle Absicherung der Tochter, der Professor ist zerstreut und unkommunikativ, Fritz ist verliebt und egozentriert, die Familie Pauer ist, stellvertretend für die Mühlener Gesellschaft, dominant, konservativ und einengend. Der Roman lässt sich etwa hälftig trennen – die erste Hälfte setzt die Handlung in Szene, sie stellt das »Glück« der Hanne Seebach dar, ihre Jugend, die Verlobung, ihr Lebensumfeld, ihre Attraktivität und die Zukunft in gesellschaftlicher Anerkennung. Die zweite Hälfte inszeniert die »Liebe« zwischen Gaston und Hanne, das Nachdenken über die Konsequenzen und den Tod des alten von Pauers sowie Hannes Selbstmord. Während die Erzählinstanz im ersten Teil aus der Nullfokalisierung vor allem visualisiert, wechselt sie im zweiten Teil zeitweilig zur internen Fokalisierung und gibt lange Passagen der Gedanken von Hanne und Gaston wieder. Die in der Titelmatrix parallelisierten Begriffe Glück und Liebesroman beziehen sich also auf unterschiedliche gesellschaftliche Konzepte von Ehe: Glück meint die finanzielle Absicherung, Liebe meint eben dies nicht, sondern die individuelle Bindung zwischen Menschen. Die Liebe von Hanne und Gaston ist das Kontrastprogramm zum Glück der Verlobung mit Fritz. Mit dem Thema – von Glück zur Liebe – wechselt auch die Referenzstrategie: während die Darstellung der bürgerlichen Mühlener Lebenswelt Hannes in einer Reihe von Bildern, die die Details in den Fokus rücken, einzelne Szenen heraushebt und an den Film erinnernd aneinanderreiht, rein- und rauszoomt in die Stadt, hört diese Erzählstrategie auf, sobald die Liebesgeschichte an Dynamik

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gewinnt: die übrigen Figuren treten in den Hintergrund, seitenlang reflektieren Hanne und Gaston über ihre Möglichkeiten. Die Frage, nach welchem Konzept Hanne besser fährt – Liebe oder Glück –, bleibt offen, denn während sie als Verlobte im Glück über ihre neuen Handlungsmöglichkeiten reflektiert, wird sie als Liebende zur unkritischen Austrägerin ihrer Gefühle. Interessanterweise fällt dies mit der Hinwendung zum Glauben bei Hanne zusammen. Die sich sonst selbstbewusst und klug zu ihrem Vorteil verhaltende Hanne Seebach wird mehr oder weniger unmündig. Alle ihre Gedanken ordnet sie um die Liebe zu Gaston an. Gleichwohl gewinnt parallel die Überlast und Übergriffigkeit der Gesellschaft auf Hannes Leben an Sichtbarkeit, so z. B. wenn Seraphine von Pauer ohne zu fragen einen Brief an Hanne einsteckt, um ihn dem Vater zu zeigen. Wir haben es also hier mit einem Roman zu tun, der ein vertrautes Sujet aufgreift, um es aus einer weiblichen Perspektive vor den jeweiligen Rollenprofilen durchzuspielen.

»Vernacular Modernism«20 und »Das Glück der Hanne Seebach« Das Verhältnis von Zeit und Raum im Kontext von Moderne spielt seit dem spatial turn eine große Rolle bei der Frage, wie sich Artefakte zu ihrer Zeit verhalten und wie sie über das Blatt, den Text, das einzelne Werk hinaus wirken. Wie konstruiert sich eine Zeit, die, anschließend an die als Querelle bezeichnete Denkbewegung, die Perspektive auf sich selbst hin verschiebt? Forschungsansätze, diesen Zeitraum und seine Relevanz für die Gegenwart zu fassen, sind zunächst von der Dynamik der Großstädte ausgegangen und legen inzwischen den Fokus auf Moderne als Matrix für eine alle Lebensbereiche betreffende Verschiebung, die sich eher nicht in Kanons fassen lässt, sondern in vierdimensionalen Netzwerken. Bezugnehmend auf das 2005 von Bernd Hüppauf und von Maiken Umbach publizierte Konzept des »vernacular Modernism« hält Aleida Assmann fest: »Das international-universalistische Esperanto der Moderne ist also komplementär um die vielen lokalen Dialekte (»vernacular«) zu ergänzen, um der Komplexität und Ambivalenz der Moderne gerecht zu werden.«21 Im Plädoyer für ein an Bachtins Chronotopos angelegtes Verständnis von Zeiträumen, differenziert sie zwischen Orten und Räumen: 20 Maiken Umbach / Bernd Hüppauf (Hg.), Vernacular Modernism. Heimat, Globalization, and the Built Environment, Stanford 2005. 21 Aleida Assmann, Der Kampf um die Stadt als Identitätsverankerung und Geschichtsspeicher, in: Friederike Eigler / Jens Kugele (Hg.), Heimat: At the intersection of Memory and Space, Berlin 2012, S. 71–92, hier S. 73. Da Aleida Assmann hier von der Stadt als Ort ausgeht, fehlt das Konzept der Landschaft, wie es z. B. Gertrude Cepl-Kaufmann für eine Theorie zur

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Orte haben Namen und Geschichte bzw. Geschichten, sie bergen Vergangenheit; Räume dagegen sind primär abstrakt konzipiert und ablösbar vom Status Quo bestehender Bausubstanz; über das kontingent Bestehende wird hinweggesehen, womit sich Dimensionen des Planens öffnen, die in die Zukunft weisen.22

Während Assmann in diesem Beitrag über den »Kampf der Stadt als Identitätsverankerung und Geschichtsspeicher« über Architektur- und StadtraumKonzepte als Ansätze zur Bewältigung der Parallelität von Gegenwarten und Vergangenheiten nachdenkt, lässt sich auch nach den politischen Denkbewegungen und Handlungsimpulsen, den politics, von Raum- und Ortskonzepten in der Literatur fragen. Ein Liebesroman aus der Biedermeierzeit, der in einer Kleinstadt des Deutschen Bunds angelegt ist und inmitten der Diskussionen um den Anschluss 1920 in Linz erscheint, bietet sich hierfür besonders an.

Geschichtstransformation und Referenzstrukturen Der Roman »Das Glück der Hanne Seebach« arbeitet mit sowohl räumlichen als auch zeitlichen, mit sowohl faktualen als auch fiktionalen Realitätsreferenzen. So bewegt sich der Roman über einen realistisch anmutenden Stadtplan von Mühlen am Erk hinweg, genannt werden Schloss und Park, das Haus der Seebachs steht im Lindenweg 5, die Kindheitsfreundin Christa wohnt im Lindenweg 7, Familie von Pauer wohnt auf dem zentraleren Tillplatz, zu dem man über die Poststraße kommt, es gibt einen Severinsplatz, einen Domplatz, eine Färberstraße, usw. Der Ort Mühlen am Erk hat allerdings keine Entsprechung in der außertextuellen Realität. Er scheint mit allen Straßen und Plätzen eine Erfindung der Autorin zu sein. Die Geburtsstadt Gaston Gabriels – Düsseldorf – gibt es dagegen tatsächlich, auch die künstlerische und gesellschaftliche Nähe vom Rheinland aus zum Elsass und nach Paris23 ist eine faktuale Realitätsreferenz. Überhaupt erscheint DüsKulturtopografie des Regionalen entwickelt hat. Vgl. hierzu den im Erscheinen begriffenen Band. Gertrude Cepl-Kaufmann / Philipp Cepl, »Der senkrechteste Ort der Welt«. Zur Entdeckung der Künstlerkolonie Positano, Berlin (erscheint 2021), dies., Das Institut »Moderne im Rheinland«. Zum Forschungsprojekt und seinem identitätskritischen Ansatz einer »Rhetorik der Region«, in: Sikander Singh (Hg.), Identitätskonzepte in der Literatur (erscheint 2021); Jasmin Grande, Zur Erforschung von Regionen im Kontext ihrer ›Modernita¨ t‹. Das Institut »Moderne im Rheinland«, in: Stefanie Michels / Albert Gouaffo (Hg.), Koloniale Verbindungen, Bielefeld 2019, S. 31–50; dies., Kulturtopographien. Begriff, Geschichte und Theorie im Kontext der regionalen Literaturgeschichtsschreibung. Mit einem Fokus auf die Matrix »Moderne im Rheinland«, in: Sikander Singh (Hg.), Identitätskonzepte in der Literatur, Tübingen 2021, S. 65–76. 22 Ebd., S. 74. 23 Vgl. die Liebesheirat Richard Gabriels mit »der reizenden Demoiselle Marmont de Fabre, die, aus einer vornehmen Elsässer Familie stammend, sich rettungslos in den liebenswürdigen, jungen Historiker verschaut hatte.«, Peteani, S. 47.

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seldorf als Herkunftsort eines »Malers« in den 1830ern schlüssig. Mit dem Rheinischen Merkur wird zugleich ein intellektueller und politisch interessierter Haushalt bei den Seebachs inszeniert, der Assoziationen zu Joseph Görres »Rheinischem Merkur« in Koblenz von 1814–1816 und den Redakteuren der »Rheinischen Zeitung« Karl Marx und Friedrich Engels in Köln ab 1842 herstellen könnte. Rakow, die Stadt, in der Friedrich von Pauer positioniert ist, könnte sich auf den heutigen Stadtteil Raków von Cze˛stochowa in Polen beziehen oder auch auf die Gemeinde Rakov in Tschechien, beide Orte werden in Linzer Zeitungen erwähnt.24 Dagegen scheinen weder Prinz Otto Rokansky noch Fürstin Anna zu ReichReichenstein eine reale Entsprechung in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu haben. Eine Fürstin Anna zu Reich-Reichenstein lebte allerdings von 1707–1761 in Inzlingen. Die Datierung der Eisenbahnstrecken Berlin–Potsdam und Wien–Wagram und die Modernisierung und Urbanisierung von Landschaft, die sich daran knüpft, stimmt gleichwohl.25 Berichte Gaston Gabriels über musikalische Premieren in Paris lassen sich ebenso verifizieren, wenngleich hier die Zeitangaben nicht jahresgenau sind.26 Eine Vielzahl an Titeln – Konsistorialrat Bernhard a.D. von Pauer, Gubernialrat Löders, Frau Pastor Wiefang, Professor Seebach – weisen die strukturierte Gesellschaft aus, in der jeder Mann seinen Platz hat und die Frauen sich dem beiordnen. Das Milieu, also das Umgebungwissen, das den Roman ausstaffiert, wird abgerundet durch Einrichtungsgegenstände und Kleidungstücke, deren Bezeichnungen sie als Zeugen für den historischen Zeitraum ausweisen: Sinumbralampe,27 Pince-nez,28 seegrüner Filosch, Fichü,29 etc. Der Roman arbeitet also mit einem dichten Geflecht an Realitätsreferenzen, die einerseits Authentizität generieren und andererseits das eskapistische Potential der Fiktion nicht loslassen. Die Differenz von faktualen und fiktionalen Realitätsreferenzen stärken die Story und verhindern zugleich, dass sie Bezüge zur politischen Situation im Deutschen Bund herstellen. Dementsprechend gibt es in Mühlen am Erk kein Junges Deutschland, es gibt überhaupt 24 Vgl. zu Rakov die Mühlviertler Nachrichten vom 29. 03. 1919, S. 4; zu Raków das Tagblatt vom 24. 02. 1928, S. 4. Beide Zeitungen erschienen in Linz. 25 »In den letzten Jahren, seitdem durch die Verwendung von Dampfmaschinen Handel und Gewerbe zu Blüte gelangt waren und sich besonders kühne Köpfe sogar von der neumodischen ›Eisenbahn‹ als Verkehrsmittel – eben hatte man die Strecken Berlin–Potsdam und Wien–Wagram eröffnet – etwas versprachen, waren die Grund- und Bodenstücke allerorten um ein wesentliches gestiegen.« Peteani, S. 6. 26 Ebd., S. 83. 27 Ebd., S. 63. 28 Ebd., S. 37. 29 Ebd., S. 38.

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kein Verhältnis zu Grenzen und Regionen jenseits der großen Städte Paris, Berlin oder auch Wien und dennoch wohnt dem Roman die Behauptung inne, sich auf eine außertextuelle Realität zu beziehen, auf eine Situation, die es so tatsächlich einmal gab.30 Eine Mainzer Nachwuchsforschergruppe hat den Begriff der Geschichtstransformation als methodisches Werkzeug vorgeschlagen, um z. B. eine kulturtheoretische Befragung von historischen Referenzen in Romanen vorzunehmen. Sie übernehmen darin literaturtheoretische Konzepte von Wolfgang Iser, Ansgar Nünning und Moritz Baßler. Als Geschichtstransformation wird ein ubiquitäres, transhistorisches sowie transkulturelles Phänomen begriffen, dessen Konkretisationen, die einzelnen Geschichtstransformationen, jedoch erst in bestimmten geschichtlichen, sozio-kulturellen sowie kommunikativen Kontexten bedeutungsstiftend werden.31

Oder, nochmal anders: [das] Kompositum der historischen resp. ästhetischen Grundbegriffe ›Geschichte‹ und ›Transformation‹ bezeichnet den Prozess der produktiven Rezeption sowie der formal wie inhaltlich variierenden Reproduktion von Geschichte als verifizierbarer faktischer Entität in unterschiedlichen Medien, Epochen, sozialen, kulturellen sowie kommunikativen Prozessen.32

Das Konzept der Geschichtstransformation verweist mithin auf das von Aneta Jachimowicz formulierte Forschungsdesiderat zu historischen Romanen von Frauen in der Ersten Republik Österreich: Die historischen Romane erschienen nicht als Weigerung, sich der Gegenwart zu stellen, sondern sie fungierten als eine sehr komplexe Antwort auf eben diese Gegenwart, die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche sowie die aktuellen Veränderungen im Alltag. Hinter dem Schleier der historischen Illusion positionierten sich die historischen Romane der Ersten Republik Österreich zu den zeitgenössischen Ereignissen, galten für ein Instrument der gesellschaftlichen Erkenntnis und wurden oft als ein wirksames politisches und ideologisches Werkzeug eingesetzt.33

30 Wien wird gleichwohl nur einmal im Roman genannt, S. 54. 31 Sonja Georgi u. a., Geschichtstransformationen. Medien – Verfahren – Funktionalisierungen, in: Dies. u. a. (Hg.), Geschichtstransformationen. Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption, Bielefeld 2015, S. 17–30, hier S. 17. 32 Ebd., S. 19. 33 http://www.uwm.edu.pl/germanistyka/index.php?option=com_content&view=article&id=7 67&catid=16&Itemid=132.

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Konstitutiv für das Konzept der Geschichtstransformation sind u. a.: – die Retrospektion, – das Faktizitätsgebot – »der Transformation muss ein außersprachliches Realitätskorrelat entsprechen, d. h. der historische Bezugspunkt muss eine Entsprechung in der Geschichte haben, die verifiziert werden kann: ein Wissenskollektiv begreift dies als wahr« –,34 – die »kategorische Hinterfragung des transformatorischen Akts«, also die »intentional motivierte« Adaption der historischen Bezugspunkte,35 – und die Adressatenbezogenheit der Geschichtstransformation, die »auf ein bestimmtes Rezipientenkollektiv, ein Zielpublikum hin konzipiert« ist.36 Welche Politik vertritt also das Erstlingswerk von Maria von Peteani? Die explizite Vereinnahmung der Autorin für die Linzer Literaturgeschichte als Autorin der Region Oberösterreichs spricht dafür, dass sie zunächst von RezipientInnenseite eine Nachfrage deckt, die parallel ent- und besteht: ein regionales ›Wir‹ zu konstruieren. Teil dieses ›Wir‹ ist 1920 der Blick nach Deutschland, der als scheinbar naives Setting in »Das Glück der Hanne Seebach« daherkommt und gerade in der Exklusivität der Blickrichtung, die zwischen fiktionalen und faktualen Referenzen ihre Idealisierung erst entwickelt, politisch wirksam wird. Hierbei dominieren schließlich nicht mehr der historische Rahmen – Biedermeier – den narrativen Appell, sondern die Verortung: Deutschland. Teil dieser Struktur ist die Visualisierung der Orte im Text, die insbesondere in den Anfangskapiteln bilderbuchartig daherkommt: Von den schwankenden Laternchen zum beleuchteten Stadtbild, vom Zentrum zum »Inselchen«, auf dem sich das Haus der Seebachs befindet: »ein kleines, behäbiges Dummerchen […]. Breit saß es da im Grünen und das ungefüge, braunrote Dach rutschte ihm wie eine warme Puddelhaube tief über die Ohren.«37 Die politics der Topografie im Roman, so wäre mit einem Bogenschlag zu Aleida Assmann festzuhalten, besteht nicht in der Konstruktion von Räumen, die es zu bespielen gilt, sondern von konkreten Orten, die besichtigt werden im Sinne einer geschlossenen Raumstruktur.38

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Georgi u. a., S. 19. Ebd., S. 19f. Ebd., S. 24. Peteani, S. 7. Vgl. Ansgar Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven, in: Wolfgang Hallet / Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 33–52. Nünning greift hier u. a. auf Manfred Pfisters Dramentheorie zurück: Das Drama. Theorie und Analyse, München 1977.

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Ästhetik und Kunst Maria von Peteani hat also in ihren Erstling einen politischen Appell zum Anschluss an Deutschland eingebaut, den die Linzer Zeitungen begeistert aufgegriffen haben und der durchaus in das jeweilige Programm passte. So finden sich z. B. in der »(Linzer) Tages-post« eine Reihe von Beiträgen, die von den Anschluss-Demonstrationen im Umland positiv berichten. Frauenrollen und Modernisierung sind weitere Aspekte, die der Roman reflektiert. So befindet sich Mühlen am Erk an der Schwelle zur Moderne, der Roman setzt mit dem Beschluss des Magistrats ein, die Straßenbeleuchtung auszubauen. Die Erzählinstanz nutzt diesen Modernisierungsentscheid jedoch zunächst für eine Darstellung der beschaulichen Noch-Gegenwart und ihres gesellschaftlichen Zuschnitts. Aus den bei Dunkelheit durch die Straßen getragenen »Laternchen« ergibt sich ein gemütliches und unaufgeregtes Stadtbild, das den Reigen der Bilderbuchbilder eröffnet: die schnellen und geraden, das waren junge Mädchen mit ihren Müttern, die von einem Lautenabend, vielleicht gar einem Kränzchen, ihrer Behausung zustrebten: die langsamen, oft stehenbleibenden hingegen leuchteten den politisierenden Herren Junggesellen, deren Heimkehr von keiner Gattin sehnsüchtig erwartet wurde; und die ungleich hin- und herschwankenden, – o weh, das konnten nur die vom Abendschoppen kommenden Honoratioren sein, denen der schäumende Gerstensaft und das funkelnde Rebenblut zur Hebung ihres seelischen, doch zum Nachteil ihres körperlichen Gleichgewichts gereicht hatten.39

Dieses Profil der Stadt ist zugleich die Kontrastfolie, vor der Hanne Seebachs Handeln zum Problem und zum Skandal werden kann. Erst das statische Bild der vorhandenen Gesellschaft, die ja auch die Kritik der Idylle und die immanente Anti-Idylle darstellt, ermöglicht Hannes Ausbrechen bzw. Herausfallen. Abschließend möchte ich nochmal den Verweis der Titelmatrix auf das Biedermeier thematisieren, der im Roman selbst nicht weiter vorkommt. Wenngleich sich Biedermeier zunächst aufgrund des Zeitraums zu erklären scheint, so ist doch interessant, inwiefern Biedermeier hier als Epoche oder als Stilbewegung verwendet wird. Als Projekt einer Engführung von Kunst und Leben, die weniger über den Stil als vielmehr über das Thema zusammengeführt wird, ist Biedermeier in der Kunstgeschichte rezipiert worden: Deshalb erscheint in der Malerei jene Richtung als biedermeierlich im engeren Sinne, die sich dem Bürger und seinem Lebensraum zuwandte, die darüber hinaus das Eindringen bürgerlicher Lebensformen und Lebensideale auch in die oberen Gesellschaftsschichten

39 Peteani, S. 2.

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dokumentierte und die schließlich das Leben der unteren Schichten mit den Augen des Bürgers sah und interpretierte.40

Darüber hinaus ist die Biedermeier-Rezeption Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Teil einer Aufwertung des Kunstgewerbes, mit der die Modernen von der Lebensreformbewegung, zum Werkbund, zum Bauhaus ihre Umgebung gestalten. Biedermeier ist dabei, so die Kuratorin der Ausstellung »Ist das Biedermeier? Waldmüller, Amerling und mehr« 2016/17 im Belvedere in Wien, eine Stilbezeichnung, die von Wien ausgeht: Den Ausschlag […] mag die große Wiener-Kongress-Ausstellung 1896 im Wiener Museum für Kunst und Industrie (heute MAK) gegeben haben, in der neben den Objekten des Empire auch Möbel der 1820er und 1830er Jahre zu sehen waren – zum ersten Mal in einem musealen Kontext, wodurch dem Besucher die für das frühe 19. Jahrhundert charakteristische hochwertige künstlerische Verarbeitung und außerdem das geschmackvolle Design bewusst werden konnten.41

Als Epochenbegriff des Bürgertums, als Stilbegriff im Kunstgewerbe zwischen Deutschland und Wien, Publikationen des Wiener Kunstkritikers Ludwig Hevesi42 und des Berliner Schriftstellers Georg Hermann43 lassen festhalten, dass der Begriff vor dem Weltkrieg im Diskurs war. Dabei ging es weniger um die Konstruktion einer historischen Epoche, wie Hermann festhält: Aber ich beabsichtige […] ebensowenig ein getreues Spiegelbild der Zeit zu geben … jener Biedermeierzeit, die wir seit ungefähr sechs, acht Jahren mit einer liebevollen Verehrung betrachten, die vielleicht nicht ganz gerechtfertigt sein könnte… Ihr, der wir eine leicht melancholische Hinneigung zollen, als sehnten wir uns zurück nach jenen Tagen, da der Großvater die Großmutter nahm.44

Als ästhetisches Konzept, ausgerichtet auf das Bürgertum (der Prinz tritt z. B. im Roman gar nicht auf) und mit einer Vorliebe für die Schilderung von Interieurs fungiert auch »Das Glück der Hanne Seebach« als melancholischer Blick auf eine inszenierte Vergangenheit. Bestimmend, und das ist der Anteil an Modernität im Roman, bleibt die Erzählung aus der Perspektive der Frau, die sich auch in der Erzählerinstanz keine Geste der Wertung von Hannes Seebachs Weg erlaubt, also nicht die Deutungshoheit übernimmt. 40 Willi Geismeier, Biedermeier. Das Bild vom Biedermeier. Zeit und Kultur des Biedermeier. Kunst und Kunstleben des Biedermeier, Leipzig 1979, S. 94. 41 Sabine Grabner, Biedermeier oder Nestroyzeit, in: Agnes Husslein-Arco / Sabine Grabner, Ist das Biedermeier? Amerling, Waldmüller und mehr, Wien 2016, S. 11–13, hier S. 12. 42 Ludwig Hevesi, Biedermeier und Komp, in: Ders., Altkunst – Neukunst. Wien 1894–1908, Wien 1909 (Der Aufsatz erschien erstmals 1901). 43 Georg Hermann, Der Biedermeier im Spiegel seiner Zeit, Briefe, Tagebücher, Memoiren, Volksszenen und ähnliche Dokumente, Berlin 1913. 44 Ebd., S. 4f.

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Darüber hinaus zeigt sich der Roman nicht von den parallel sich entwickelnden ästhetischen Strategien und Praktiken der Moderne beeinflusst, die mit der Avantgarde eine Verschiebung der Sparten von Kunst, Politik und Gesellschaft vornimmt, zu der z. B. die Sezessionen und KünstlerInnengemeinschaften gehören. Bewältigungsstrategien, Befreiungsmuster, wie sie in der Avantgarde zeitgleich entwickelt werden, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu unterwandern, aufzulösen, bietet der Roman nicht an: die Künste spielen zwar eine große Rolle und in diesem Sinne ist der Roman selbstreferentiell und poetologisch, aber sie alle haben ihren Platz in diesem Bild, sie dienen der Erbauung und Zerstreuung. Kunst ist nicht subversiv, sondern vom Talent geprägt und monumental: »Ich bin kein großer Künstler!«, äußert Gaston Hanne Seebach gegenüber, »Gewiß – ich habe Talent, aber etwas wirklich Abgeschlossenes, Großes, Reifes, das gelingt mir nicht und ich fürchte, es wird mir auch nicht gelingen!«45 Dementsprechend wird der Künstler, der eigentlich nur ein Mann ist, überflüssig, nachdem er die Handlung dynamisiert hat: Wir aber, wir verlassen ihn nun, ihn den liebenswürdigen, vornehmen und auch guten Gaston Gabriel, der zu schwach gewesen war, um aufrecht und fest den Weg zu Ende zu gehen, den er eben aus Schwachheit betreten hatte. Wir verlassen ihn in jener lauen Sommerstunde, als er, entblößten Hauptes, bang und von tausend Zweifeln zerrissen, die dunkle Schloßallee hinunter starte, ob da nicht irgendwo ganz unten ein weißes Kleid leuchte. Er kommt nicht mehr vor in Hannchens Leben, und wir wissen nicht, was weiter aus ihm wurde. Unsern Blicken entschwindet er in jener milden, freundlichen Maiennacht, als er, suchend und allein, durch das Dunkel lauschte….46

45 Peteani, S. 97. 46 Ebd., S. 190.

Kira Kaufmann (Wien)

Von Palästen, Kaiserinnen, Engeln und Eunuchen – Byzanz bei Alma Johanna Koenig und Bertha Eckstein-Diener

Alma Johanna Koenig und Bertha Eckstein-Diener haben beide Byzanz literarische Denkmäler gesetzt. Während Koenig die vergangene Kultur in Form ihres Romans »Der heilige Palast«1 (1921) wiederauferstehen lässt, wählt EcksteinDiener, alias Sir Galahad, für »Byzanz. Von Kaisern, Engeln und Eunuchen«2 (1936) die Form einer kulturhistorischen Abhandlung. Beide Gattungen lösen ähnliche formale Anforderungen auf unterschiedliche Weise, denn es muss sowohl sachlich berichtet als auch anschaulich erzählt werden. Ein Vergleich der spezifischen Darstellungsmodi und Erzähltechniken verdeutlicht die besonderen Herausforderungen, die das historische Sujet in der zeitgerechten Aufbereitung und Gestaltung durch zwei unterschiedliche Autorinnen an den Text stellt. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die »Anekdota« des Prokop von Cäsarea, eines Zeitgenossen Theodoras. Beide Autorinnen greifen durch ihre literarischen Texte in den Lauf der Geschichte ein. Sie nehmen Prokops maßgeblicher »Geheimgeschichte« das Geheime – grundlegender Faktor der inszenierten Skandalisierung durch den Historiographen. Die historische Dimension in der Darstellung einer Herrscherin erscheint zunehmend als Produkt einer Stimme, deren Artifizialität entdeckt und betont werden muss, die nicht mehr unangefochten als überzeitliche männliche über eine weibliche die Deutungshoheit beansprucht. Nach einer kurzen Hinführung zum Thema bzw. in den byzantinischen Denkraum soll zunächst auf Komposition und Entstehungskontext der beiden fokussierten Texte eingegangen werden (a). Ein punktueller Vergleich, der allerdings für das gesamte Arrangement des Textes relevant ist, zeigt auf, an welchen Stellen und auf welche Weise die beiden Texte in Dialog zueinander treten (b). Dieser Dialog verweist auf die komplexe Situation des Wieder- und Weitererzählens, die symptomatisch für den (konkreten sprachlichen, aber auch 1 Alma Johanna Koenig, Der heilige Palast, Wien 1922. [In Folge zitiert mit der Sigle DhP und der Seite]. 2 Sir Galahad, Byzanz. Von Kaisern, Engeln und Eunuchen, Leipzig 1936. [In Folge zitiert mit der Sigle B und der Seite].

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formalen) Umgang mit dem zunächst übermächtigen historischen Überlieferungsträger ist. In der Auseinandersetzung mit der »Anekdota« des Historikers Prokop bzw. mit Prokop, dem Verfasser der »Anekdota«, vollzieht sich die Umund Überschreibung der ebenso historischen wie literarischen Figur der Basilissa Theodora. Durch die Überschreibung des männlich konnotierten historischen Blicks auf die Herrscherin, zeigen Koenig und Eckstein-Diener ähnliche Ambitionen, eine Korrektur des historisch gewachsenen, tradierten Bildes betreffend (c). Sie werden hier, in der Relativierung der Deutungshoheit durch ein vielstimmiges Arrangement ein weiteres Mal vergleichbar, treten in ein Nahverhältnis, das aber auch erlaubt, die spezifischen Unterschiede in der konkreten literarischen Umsetzung zu erkennen (d). Bei all den Anknüpfungspunkten, die sich bieten, ist es dennoch nicht unproblematisch, die Texte dieser beiden Autorinnen voraussetzungslos zu vergleichen. Zum einen vergleicht man einen Roman mit einer kulturhistorischen Abhandlung, einer Kulturgeschichte. Dass der eigenwillige Stil Sir Galahads auch die Gattungsgrenzen dessen, was eine herkömmliche kulturhistorische Abhandlung zu sein hat, per se ins Wanken zu bringen sucht, soll hier noch eine Rolle spielen, wurde aber auch von Willy Haas im »Prager Tagblatt« bemerkt.3 Dem Ausdruck und Duktus der Autorin kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, sieht er »Byzanz« als ein »aufreizendes« Buch, das sich, »wenn man sich einmal im Sprachgestüpp zurechtgefunden hat, wie ein Roman lesen läßt.«4 Zum anderen muss auf die unterschiedlichen ideologischen und politischen Kontexte der beiden Autorinnen zumindest verwiesen werden, wobei hier insbesondere die Position von Bertha Eckstein-Diener schwer hinlänglich beschrieben werden kann. Während Alma Johanna Koenig nicht eindeutig einem politischen Lager zuzuordnen ist,5 verweisen doch einige Anhaltspunkte, wie etwa ihre publizistischen Tätigkeiten für unterschiedliche Wiener Blätter sowie ihre Familiengeschichte (der Vater war Hauptmann der k. u. k. Armee) auf eine liberale bürgerliche Haltung, deren konservative Tendenzen eher implizit vorhanden sind, und denen unter der Oberfläche ihrer literarischen Texte eventuell noch nachgespürt werden kann. Bertha Eckstein-Diener hingegen ist eine ideologische Grenzgängerin,6 die mit rechtem Gedankengut kokettierte und freundschaftliche 3 Der zeitgenössische Rezensent Willy Haas ortete eine Nähe zur Literatur. Er kritisierte u. a. die »romanhaft bunte Abenteuerlichkeit« und »eine Art expressionistische Ektase der Sprachgestaltung«, die zwar Objektivität vermissen ließe, aber doch eine einnehmende Wirkung entfalte: »Das Buch ist manchmal beinahe Dichtung, manchmal zügellose Belletristik.« Willy Haas, Byzanz, in: Prager Tagblatt, 26. 07. 1936, S. III. 4 Ebd. 5 Aneta Jachimowicz, Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht, Würzburg 2018, S. 290–291. 6 Evelyne Polt-Heinzl, Zeitlos. Neun Porträts. Von der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin Deutschlands, Wien 2005, S. 52–79, hier S. 59.

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Verbindungen etwa zu Jörg Lanz von Liebenfels, dem Begründer des rassistischen und sexistischen Neutempler-Ordens, oder auch zu Fritz von Herzmanovsky-Orlando, wie die Briefe zeigen, pflegte.7 Trotz ihres Bekenntnisses zu »reinem Blut« und zu klaren bis undurchlässigen sozialen Strukturen,8 wie es etwa im indischen Kastensystem der Fall ist, waren ihre Texte für die nationalsozialistischen Machthabenden ideologisch unbrauchbar. »Bohemund. Ein Kreuzfahrer-Roman«,9 der beispielsweise 1938 erscheinen konnte, ist kein verherrlichender, deutscher Heldenroman – und auch formal im Vergleich zu »Byzanz« der weniger spannende Text, wie Evelyn Polt-Heinzl verdeutlicht.10 Während Eckstein-Diener im Zweiten Weltkrieg publizieren kann und sogar Förderungen der Reichsschrifttumskammer erhält, wird Alma Johanna Koenig im Mai 1942 verhaftet, in das Ghetto von Minsk deportiert und noch im selben Jahr ermordet. Dokumenten der Israelitischen Kultusgemeinde zufolge war Alma Johanna Koenig im Alter von 34 Jahren am 03. 12. 1921, also zirka zeitgleich mit Erscheinen ihres Romans »Der heilige Palast«, aus derselben ausgetreten. Alma Johanna Koenig und Bertha Eckstein-Diener treffen einander in ihrer literarischen Hinwendung an die vielbesprochene, mythenumwobene Figur der Theodora, verrufen, verfemt, verteufelt. Theodora verkörpert die Spannungen eines versunkenen Ortes. In gewisser Weise ist Theodora Byzanz und Byzanz lebt in Theodora fort. Noch heute besucht man die Kirche San Vitale in Ravenna, um kurz einen Blick in die Vergangenheit werfen zu können. Es gilt das Wandmosaik in Ravenna als zeitgenössische Darstellung des Herrscherpaares und seines Gefolges.11 So muss sie also ausgesehen haben, denkt man, wenn man das Mosaik betrachtet. Bestimmend sind der zackige Faltenwurf ihres Kleides und der prächtige Kopfschmuck, der auch in Sarah Bernardts Kostüm bei ihrer Rolle in Victorien Sardous »Théodora«12 von 1884 nachempfunden wurde. Die Augen der insgesamt zehn Figuren an der südlichen Wand der Apsis zeigen in unterschiedliche Richtungen. Theodoras Augen sind auf die Betrachter und Betrachterinnen gerichtet, ihr hypnotisch anmutender Blick führt aber ins Leere. 7 Sibylle Mulot-Déri, Sir Galahad. Porträt einer Verschollenen, Frankfurt am Main 1987, S. 199– 205, 216. 8 Im Hintergrund dieser Positionen wirkt Sir Galahads umfassendes Matriarchats-Konzept, wonach die Wurzel aller Probleme und Unfreiheit der Frau der Jahrhundertwende darin liege, dass sie in der Suche nach dem Partner dem patriarchalen System völlig schutzlos ausgeliefert sei. Wahlfreiheit sei der »Irrtum einer Katastrophe«. Sir Galahad, Die Kegelschnitte Gottes, München 1920, S. 239. 9 Sir Galahad, Bohemund. Ein Kreuzfahrer-Roman, Leipzig 1938. 10 Polt-Heinzl, S. 60f. 11 The Oxford Dictionary of Byzantium, hg. v. Alexander P. Kazhdan u. a., New York 1991, S. 2036f. 12 Victorien Sardou, Theodora. Drama in fünf Aufzügen und acht Bildern. Deutsch von Hermann von Löhner. Leipzig 1896 (Reclam Nr. 3578).

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Eine ambivalente Aura umspielt ihre Gestalt, sie ist anwesend, in ihrer Präsenz aber zugleich entrückt. Während Bertha Eckstein-Diener »diese versunkene und doch bis heute auf uns einwirkende Welt zu einer Gesamtschau [aufbaut]«,13 bindet Alma Johanna Koenig die Beseelung einer literarischen Figur an Aufstieg und Niedergang eines konkreten Gebäudes, den im Titel aufgerufenen heiligen Palast, der die Sphäre ihres Einflusses bedingt und begrenzt und pars pro toto das gesamte Imperium versinnbildlicht. Zwei Lebenspole beherrschen die Gesamtheit von Byzanz: Hagia Sophia und Zirkus. Mitten zwischen beiden steht der »heilige Palast«; man könnte das eine magische Topographie nennen. Was im vorigen Kapitel an Lebenskreisen, Spannungen, Gegensätzen geschildert wurde, tritt zurück im Vergleich zu dieser Urpolarität. (B 103)

Mit diesen Worten beginnt Bertha Eckstein-Diener das sechste Kapitel ihrer 1936 erschienen Kulturgeschichte über Byzanz. Es handelt von den sogenannten »Zirkusparteien«, den »Blauen« und den »Grünen«, die das Hippodrom des spätantiken Byzanz bevölkerten und darüber hinaus für innerpolitische Spannungen sorgten. Sir Galahads »Byzanz« ist ein heterogenes Abbild eines heterogenen Gebildes. Ob Byzanz – später Konstantinopel, heute Istanbul – ein stabiles oder instabiles Gefüge war, lässt die Autorin offen, es steht allerdings fest, dass es bei aller Instabilität doch über fast 1100 Jahre lang kulturelle Vormachtstellung im Mittelmeerraum zu verzeichnen hat. Als opulenter Erinnerungsraum ist es heute noch lebendig: »byzantinisch« meint heute nicht nur einen spezifischen Baustil, sondern auch eine ausschweifende und überfeinerte Ausstattung in Ornament, Leben und Ritual. Bertha Eckstein-Diener ist es gelungen, all diese Widersprüche nicht nur nachvollziehbar, sondern auch auf sprachlich kunstvolle Weise aufzubereiten. In eingangs zitierter Textstelle ist von einer »magischen Topographie« zwischen den Institutionen die Rede. Konkret gemeint ist damit das Dreieck, das sich zwischen der Hagia Sophia, dem Zirkus und dem heiligen Palast entfaltet. Dieses Dreieck fügt sich nicht ohne Weiteres in die langläufige Aufteilung geistlicher und weltlicher Macht. Um die erwähnte »Urpolarität« zu verstehen, die Hagia Sophia und Zirkus gleichsam trennt und verbindet, braucht es den Cäsaropapismus. Dieser regierte nach seinen eigenen Gesetzen zwischen diesen drei Institutionen. Das besondere Gefüge von geistlicher und kaiserlicher Macht sowie der Macht des Volkes (symbolisiert durch den Zirkus, das Hippodrom) geht in Byzanz besondere Konstellationen ein, die sich wohl in keiner anderen Figur so aufregend und wirkungsvoll vereinigen, wie in Theodora, geboren im Jahr 497 in Konstantinopel oder Paphlagonie, gestorben am 28. Juni 548.14 Sie 13 Anzeiger für Buch-, Kunst- und Musikalienhandel 16 (1936), S. 86. 14 The Oxford Dictionary of Byzantium, S. 2036.

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wurde am 1. April 527 zur Kaiserin bzw. Basilissa von Byzanz gekrönt. Aufgewachsen im Zirkus, aufgestiegen im heiligen Palast, aufgegangen in der Hagia Sophia, die der Gemahl, Kaiser Justinian, während seiner Amtszeit im 6. Jh. erbauen ließ. Keine andere Figur der Geschichte verkörpert die »magische Topographie« von Byzanz wahrscheinlich so augenfällig wie Theodora, der – in der negativen Auslegung dieser Magie – etwas Dämonisches nachgesagt wurde.

a)

Komposition

Es gab viele Paläste in Byzanz, aber nur einen heiligen Palast. Wer hier geboren wird, ist porphyrogennetos (purpur-geboren), stammt aus dem aus Porphyr gehauenen Palast. Doch es ist nicht nur der Porphyr, der als kaiserliche Insignie die Gottähnlichkeit der byzantinischen Herrscher kennzeichnet, sondern auch – rote Schühchen. Diese kaiserlichen purpurnen Schühchen waren an keine genalogische Erbfolge gebunden. Eckstein-Diener beschreibt dieses Prinzip als märchenhaftes Gesetz, als »die Märchenform der alten Brautwahl« (B 142, vgl. 132) des spätantiken Byzanz: Jede Frau in Byzanz konnte Basilissa werden. Zudem wurde sie gekrönt, bevor sie geheiratet wurde. Das führte zu einer speziellen Dynamik im herrschenden Machtgefüge, und wir erkennen, was die Autorin der 1932 publizierten »Mütter und Amazonen«15 an Byzanz wohl vorrangig interessierte. »Mütter und Amazonen« ist die »erste weibliche Kulturgeschichte«, die sich »bemüht […], so einseitig wie möglich zu bleiben« – denn »[b]ewußt oder unbewußt bleibt die männliche Bühne das Lieblingsobjekt historischer Betrachtung«.16 Eckstein-Diener fokussiert also auch bei Byzanz die Spuren weiblicher Macht in der Geschichte der Hochkulturen.17 Und tatsächlich sind ihre Ausführungen in dieser Hinsicht nicht nur bemerkenswert, sondern unverzichtbar.18 Sie beleuchtet die Kulturgüter und politischen Errungenschaften von

15 Sir Galahad, Mütter und Amazonen. Ein Umriß weiblicher Reiche, München 1932. 16 Ebd., S. IX. 17 Im »Wiener Call Club« im ersten Wiener Gemeindebezirk hielt sie im Vorfeld der Veröffentlichung am 21. April 1936 einen Vortrag über »Die Herrinnen von Byzanz«. So angekündigt im Blatt »Gerechtigkeit«, eine Zeitschrift »Gegen Rassenhaß und Menschennot«, hg. v. Irene Harand, Nr. 137, 16. 04. 1936, S. 12. Eine anerkennende Nachbesprechung des Vortrags ist zu lesen in »Wiener Tag« vom 26. April 1936: Neben Theodora und Kaiserin Irene erzählte Sir Galahad davon, »[w]ie Frauen die Staatsbudgets in Ordnung brachten und den Handel hoben. Wie sie die Nationalepen dichteten, und die Diplomatie lenkten.« [e.], Die Schönheitsköniginnen von Byzanz, in: Der Wiener Tag, 26. 04. 1936, S. 7. 18 So auch der Tenor der zeitgenössischen Rezensionen: Der Satz »Dieses Buch füllt eine Lücke«, gelte wo, wenn nicht für Sir Galahads »Byzanz«, schreibt der »Anzeiger für Buch-, Kunst- und Musikalienhandel« 16 (1936), S. 86. Die Rezension des »Wiener Tages« lobt die lebendige, »plastisch[e] und eindringlich[e]« Schilderung eines wenig beachteten Kapitels der Weltge-

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Frauen in der Weltgeschichte ebenso anerkennend wie selbstverständlich und bewahrt sie somit vor dem Vergessen. Es ist etwa eine Frau, Kaiserin Irene, die den zwei Jahrhunderte tobenden Bilderstreit im 8. Jahrhundert beendet, bevor der Konflikt ein weiteres Mal aufflammt und wieder von einer Regentin, Theodora II. (842–856) gelöst wird (B 113–131). Im Kapitel »Aufruhr der Bilder«, das die Hintergründe des Ikonoklasmus beleuchtet, deutet sie die Beilegung des Streites als Triumph des »beseelten Stoffes«, der für den imaginären Raum der Anschauung als legitimer und notwendiger Erkenntnisimpuls erfolgreich verteidigt worden war. Die Bilder aber haben ganz gesiegt – für immer. Ihre Nebenregierung bleibt anerkannt. Von sechs Kaiserinnen befehdet, führen zwei Kaiserinnen sie im Triumph zurück. Hier ging es um das männliche und weibliche Prinzip an sich: Gegen den männlich-immateriellen Geist erhob sich ewig, zeitlos, weltenweit die Göttlichkeit beseelten Stoffes: das Prinzip der Frau. (B 131)

Sir Galahad interessiert also ganz generell das weibliche Prinzip und dessen Wirkungsweise in unterschiedlichen Machtkonstellationen, wobei sie das Dynamische gegenüber dem Statischen bevorzugt. Auf die Erbfolge zurückkommend bedeutet das beispielsweise, dass der Cäsaropapismus einen gottähnlichen Herrscher hat, die gottähnliche Herrscherin hingegen stammt aus dem Volk. Denn »[a]lles hat ja so ein Gralskönig, nur kein Königsblut, denn seine Macht ist ein Gebilde rein vom Geiste her, unermeßlich zwar und beispiellos, wie Konstantin der Große richtig sah und sich zunutze machte, doch stammt sie aus dem Unerforschlichen, ist transzendente Willkür: Gnadenwahl.« (B 168) Dieser Gegensatz zur »körperlichen Legitimität des Blutes« (Sir Galahad sieht hier »Urlicht« versus »Spermatozoon«) mag als Grund für politische Instabilität gelten (»Monarchie ruht in der Erbmasse«), führte aber darüber hinaus auch zu einer spannungsreichen Asymmetrie innerhalb des Herrscherpaares (B 301). Denn in Byzanz – einer Theokratie mit Gnadenwahlprinzip – stand der Kaiser »zu wenig auf Blutwurzeln in der Erde« (B 168); nicht so seine Gemahlin, die aus dem Volk erwählt wurde und darum mit diesem verbunden war: So blieb die Basilissa durch den Blutinstinkt des primitiver Volkhaften von unten her in Macht verwurzelt mehr als ihr Gemahl, ihm aber gleich als Inkarnation des Göttlichen vom Geist her durch den Akt der heiligen Krönung. (B 138)

So auch Theodora. Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich beschreibt Theodora in seiner »Kurzen Weltgeschichte für junge Leser« (1936) als »Zirkustänzerin«,19 Alma Johann Koenig ist hier von der ersten Seite an expliziter und spart auch das schichte durch Sir Galahad sowie die vielfältige Anlage des »Essai-Bandes«. [m.e.], Ein auserwähltes Volk, in: Der Wiener Tag, 10. 07. 1936, S. 4. 19 Ernst H. Gombrich, Kurze Weltgeschichte für junge Leser, Köln 92009, S. 145.

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Thema des Kindesmissbrauchs nicht aus (DhP 19). Ob darum »Weichheit und Wärme« gänzlich fehlen, wie Christine Touaillon dem Roman generell attestierte,20 kann in dieser Analyse nicht bestätigt werden. Vielmehr scheint die Konsequenz und die Schonungslosigkeit in der Darstellung der Tyrannis, die den menschlichen Körper als Ressource verschwendet, nämlich sowohl in der Sexualität als auch im Krieg, auf eine politische Botschaft abzuzielen. Dass Theodora, aus dem Volk kommend, die Menge zu führen und auch zu verführen weiß, macht sie zu jener spannungsreichen Figur, in der Macht und dramatische Kunst sich überblenden. In ihr werden empfundene und erlittene Schmach zurückgespiegelt, denn in der dreißigjährigen Herrscherin hat nicht zuletzt das missbrauchte Kind gelernt, sich zu behaupten: »Im gleichen Hippodrom, wo sie der grüne Mob als bettelnde Range eines Bärenwärters höhnte, empfängt die Herrin eines Weltreichs von der Kathisma aus die öffentliche Huldigung.« (B 187) Zudem würde man Byzanz nicht gerecht werden, ließe man das verschwenderisch Ausschweifende unbeachtet, denn gerade das orgiastische Moment bildete einen wesentlichen Aspekt der Machtausübung und – wie wir sehen werden – im Fall von Theodora auch einen Trumpf der Frau. Bevor sie bei Koenig als Herrscherin zu versagt droht, siegt sie »als Weib«. Was Bertha Eckstein-Diener als weibliches Prinzip in der Weltgeschichte interessiert, erarbeitet Koenig als ausschweifendes Lustprinzip mit politischen Implikationen. Sexualität ist bei ihr eine Waffe, eine göttliche, weiblich genutzte Kraft – bei Theodora im Dienst des eigenen Machterhalts stehend, wobei sie kein reines Mittel zum Zweck bildet, sondern mit geradezu kultischem Charakter zelebriert und inszeniert wird. Koenig schildert in insgesamt 78 Kapiteln den Aufstieg und Fall der Theodora. Der Roman beginnt mit ihrer Zeugung, ein »Augenblick sträflicher Lust« (DhP 344) zwischen einer Klosterschwester (der späteren Äbtissin) und einem Löwenkämpfer des Zirkus. Das Einvernehmen dieser Szene wird erst später aufgelöst, in Kapitel 75. Koenig lässt die Grenze von Leidenschaft und Gewalt, die die Begegnung zwischen der Klosterschwester und dem Löwenkämpfer bestimmt, zunächst durchlässig unbestimmt; wie so oft enthalten gerade die vermeintlich expliziten Stellen Leerstellen, die erst später analeptisch mit Bedeutung versehen werden und damit immer mit einer gewissen Verzögerung psychologische Motive plausibilisieren und Handlungen und Intentionen verdichten bzw. zu Gründe vervollständigen. So ist beispielsweise die genaue Herkunft Theodoras lange unklar und nur durch das mit Amethysten besetzte Kreuz präsent, das sie als Säugling um den Hals trug, als sie vor dem Zirkus aussetzt wurde. Die beiden widerstreitenden Prinzipien des Geistlichen (einer Klosterschwester) und Martialischen (eines Löwenkämpfers) sollen ihr Temperament bestimmen. – Auch 20 Christine Touaillon, Frauenromane, in: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 24 (1921/22), S. 1488–1499, hier S. 1489f.

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das einer der vielen Kunstgriffe des Romans, der darin besteht, dass die Plausibilisierung ihres Charakters psychologisch-ideologisch erst am Ende nachgereicht wird; zuvor erkennen wir sie ausschließlich als Produkt der sozialen Bedingungen. Denn Theodora ist bereits als Kind gezwungen, sich zu prostituieren. Ihr Ziehvater ist Bärenwärter. Als der Direktor des Hippodroms droht, ihre Familie zu entlassen (Hintergrund ist der Kampf zwischen der »blauen« und »grünen« Partei), verhindert sie es, indem sie als junges Mädchen, als Kind, durch Tanz und mehr die Zuschauer des Hippodroms in Rasen und Toben versetzt. Im Roman ist Theodora ihr Stiefbruder Burbo beigegeben, der sie durch die daran anschließende Zeit der Hafenbordelle begleitet. Dort wird sie von einem griechischen Edelmann entdeckt (einen Dichter namens Agathos), der sie sozial in den Rang einer Art Hetäre erhebt. Nun ist sie gefeiert und bekannt, natürlich verworfen, aber wer Theodora genossen hat, will keine andere mehr, lautet die vielversprechende Fama. Sie ist berühmt-berüchtigt als Meisterin ihres Fachs. Schließlich wird auch Kaiser Justinian auf sie aufmerksam. Im Roman eilt Theodora ihr Ruf voraus. Der Kaiser lässt nach ihr schicken, sie verweigert aber alle Geschenke. Erst als er persönlich bei ihr vorstellig wird und fragt, warum sie sich gerade ihm, dem Gottähnlichen verweigere, sich einem Matrosen aber für drei Münzen hingäbe, lautet ihre Antwort: »Diese drei Münzen sind alles, was er zu geben hat, Justinian!« (DhP 89) »Verlangst – du – – – immer alles …?« »Immer! Justinian.« Die Stille brach herein, wie ein herabpolternder Erdsturz. Man hörte nur Burbos keuchende Atemzüge. Plötzlich trat Justinian zu ihr, die da frei und aufrecht stand, und ihm selbst war die Stimme fremd, mit der er fragte: »Was hätte i c h dir also bieten müssen, Theodora?« Theodora schlug die Lider nieder und verharrte einen kurzen Augenblick gesenkten Hauptes. Dann hob sie langsam den Kopf zugleich mit dem Blick, und ohne Justinian anzusehen, mit einem weichen Lächeln, halb, als spräche sie im Scherz, sagte sie, sehr deutlich: »Deine Krone, Basileus von Byzanz!« (DhP 89f.)

Theodora fordert die Krone und wird Kaiserin. Vor der Krönung ist allerdings noch eine Gesetzesänderung notwendig, um den Bund zu legitimieren, denn es durften zuvor keine Ehen zwischen Patriziern und Prosituierten geschlossen werden. Nicht nur darum wurde Theodora als Schutzpatronin der Prostituierten bekannt und verehrt. Kaiser Justinian erlässt ein entsprechendes Gesetzt und fügt noch ein anderes, mindestens so wichtiges, hinzu, bedingt es doch die diskursive Transformation einer »Zirkusdirne« in eine »Herrscherin« (DhP 91). Justinian verspricht Theodora noch im Werbungsgespräch, dass er per Gesetz die Ver-

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leumdung und Schmähung der zukünftigen Kaiserin mit dem Tod sanktionieren würde: Sie sollen nicht über dich schwätzen! Ich will ihnen Maulkörbe umhängen, so wahr ich Kaiser bin! Bist du zufrieden, Theodora, wenn morgen auf allen Foren als Gesetz ausgerufen wird, daß, wer der Kaiserin Namen zu kränken wagt, gleich einem Mörder gehenkt wird, während sein Gut dem Staat anheimfällt? Ist dir dies genug? Du? O, sie sollen dir dienen, wie nie noch einer Königin! (DhP 92)

Dieses Gesetz, das ihren Namen schützen und ihre Geschichte verschweigen soll, bildet den Hintergrund der kommenden Gräuel, die Legitimation ihrer Durchgriffsrechte – und auch eine lukrative Einkommensquelle. Der Schwur über ihren Namen, in ihrem Namen, begründet zugleich den Mythos der Theodora, sie selbst erwirkt die Reglementierung ihres eigenen Diskurses. Zu dieser Schnittstelle, an der sich Roman und Hagiographie kreuzen, soll am Ende noch einmal zurückkommen werden. Denn wie Theodora als Herrscherin durch ihren Körper wirkt, so ist auch dieses Gesetz an denselben gebunden. Als sie stirbt, fällt auch das Gebot. Der Roman »Der heilige Palast« gliedert sich in zwei ungleich lange Teile. Anhand der Gesamtanzahl der insgesamt 78 Kapitel lässt sich der Mittelpunkt zirka mit dem Beginn des Nika-Austandes in Kapitel 40 bezeichnen. Theodora ist hier am Höhepunkt ihrer Macht angelangt, sie setzt sich für die Niederschlagung des Volksaufstandes ein. Der zweite Teil setzt mit Blick auf die Kapitel hingehen deutlich über der Hälfte ein (ab Kapitel 60). Justinian ist ihr von diesem Zeitpunkt an nicht mehr ergeben, es beginnt ihr Untergang, der in wahnhafte Ausbrüche am Ende gipfelt. Es wird gemordet, gedemütigt und gefoltert. Im vorletzten Kapitel schließlich kippt Justinian das Redeverbot, um vollständigen Bericht über die sündhaften, wahnhaften Szenen im Palastteil der Kaiserin erstattet zu bekommen. Alma Johanna Koenig schildert das Leben der Theodora chronologisch, von ihrer Kindheit bis zum Tod; im 19. Kapitel ist sie zwanzigjährig, »schön wie nie« (DhP 59). Die kurzen Kapitel erlauben ihr szenische Offenheit, es gibt Sprünge in Ort und Zeit, die der Chronologie der Abläufe Spannung verleihen. Nicht jede Intrige wird restlos auserzählt, es geschieht, dass man als Leser oder Leserin in der skizzenhaften Planung eines Komplotts beiwohnt, ein paar Seiten später erfährt man unvermittelt von der Verhaftung oder Ermordung der betroffenen Person. Die Härte, mit der Theodora gegen ihre Widersacher angeht, wirkt immer souverän und überlegen, wie ihr überhaupt bei aller Körperlichkeit zugleich übermenschliche Unantastbarkeit attestiert wird. Sie operiert – wie auch Justinian, der allerdings im Vergleich zur Strahlkraft ihrer Persönlichkeit geradezu blass und schwach erscheint, – auf göttlicher Ebene. Als bekennende Mo-

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nophysitin,21 also als Anhängerin jener Lehrer, die in Jesus die zwei Naturen verneint sieht und ihn als rein göttlich begreift, scheint sie den Orthodoxen suspekt, wenn nicht ob ihrer Frivolität sogar mit den Dämonen im Bunde. Man kann sich ihr und der Reichweite ihrer Macht kaum entziehen. Sie verkörpert unvereinbare Widersprüche (auch das ein systematischer Hinweis auf ihr tragisches Ende), Geist und Körper, religiöse Demut und ausschweifende Raserei. Ein dichtes Netz an Symbolen (Augen, Rosen, das Liebeslied des Agathos) hält die offene, zum Szenischen tendierende Konstruktion zusammen, narrative Spannungsbögen (wie zum Beispiel die Auflösung von Theodoras tatsächlicher Herkunft und Abstammung) durchbrechen die zeitliche Chronologie und verleihen dem narrativen Gefüge auf einer übergeordneten Ebene Kohärenz. Die Stärke in der Komposition wurde auch von der zeitgenössischen Rezension bemerkt und gelobt.22 Besonders hervorzuheben sind jene Kapitel, die dem Volksaufstand des Jahres 532 gewidmet sind (Kapitel 40–59). Wie Aneta Jachimowicz gezeigt hat, nimmt die Schilderung der Volkserhebung, auch Nika-Aufstand genannt, in der Gesamtkonzeption des Romans eine bedeutende Rolle ein, da die ausführliche und eingehende Schilderung der revolutionären Dynamik das historische Geschehen an den zeitpolitischen Entstehungskontext der 1920er Jahre bindet.23 Nicht weniger drastisch als die orgiastischen Szenen schildert Koenig die sozialen Missstände, die zu dem gewaltvollen Aufstand führen. Sie ist nicht nur im Prunkt gekonnt, sondern auch in der radikalen Darstellung sozialen Elends, in der Brutalität und scheußlichen Eskalation der aufgeheizten Stimmung. Eine für wechselnde personale Erzählinstanzen durchlässige auktoriale Stimme gewährleistet eine vergleichsweise nahe bis scheinbar unvermittelte Anteilnahme am revolutionären Geschehen, das am Ende 30.000 Tote fordern soll. Anhand der beiden Figuren Noemi (sie ist die jüdische Tochter der Tavernenbesitzerin Rahel) und der Patriziertochter Theodike zeigt Koenig die schrittweise Eskalation des Aufstands, sein Aufkommen, seinen Höhepunkt, sein Umschlagen in rohe Gewalt – und sein Scheitern. Während Noemi und Theodike als die letzten beiden Opfer des Aufstandes (vgl. DhP 196) ihr Leben gemeinsam selbst beenden, um den entweihten Körper zu sühnen (beide wurden vergewaltigt, Noemi hatte sich aber zuvor freiwillig »hingegeben«), siegt Theodora ein weiteres, allerdings 21 Die Auseinandersetzung Theodoras mit dem Monophysitismus beginnt bereits mit Kapitel 15 (DhP 43, 47). 22 Eugen Antoine lobt das Können der Autorin, das sich in »Komposition und Stil« zeige. Antoine hebt technische Aspekte hervor, an denen selbst »starke weibliche Talente« oft scheitern würden. In: Eugen Antoine, Der heilige Palast, in: Neues Wiener Journal, 8. 12. 1922, S. 9; Christine Touaillon spricht von überwältigendem Können der Autorin. Vgl. Touaillon, S. 1489f. 23 Jachimowicz, S. 289–297, insb. S. 289.

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vorerst letztes Mal. Sie ist es, die während des Aufstands mutmaßlich die Tore zu den Gehegen der hungrigen Tiere im Zirkus öffnen lässt. Wir erleben mit ihr die blutige Niederschlagung des Aufstands auf anderer Ebene; sie zieht mit den Aufrührern streng ins Gericht, verteidigt ihren Namen und die Krone ihres Mannes. Insgesamt zeichnet Koenig mit dem Nika-Aufstand ein düsteres Bild: das Volk ist blind und verführbar, die selbsternannten Befreier sind Lügner, die Mächtigen schrecken vor nichts zurück. Es eint sie allein das erbarmungslose Vorgehen gegeneinander, kein Friede ist in Sicht,24 nur eine durch Unterdrückung und bedingungslosen Gehorsam erwirkte Ruhe. Ebendiese Willku¨ r soll den Ruf des Herrscherpaares maßgeblich bestimmen.

b)

Dialog der Texte: Koenig – Prokop – Galahad

Alma Johann Koenig entfaltet die psychologischen, ökonomischen, soziologischen und in Sexualität und Gewalt nicht zuletzt körperlich artikulierten Facetten dieser auf Willkür basierenden Konstellation im Dienst des eigenen Machterhalts über einen kunstvoll komponierten Roman. Bertha Eckstein-Diener verzweigt und integriert diese Komponente über den gesamten Text hindurch, um sie im Kapitel zu Justinians Regentschaft in komprimierter Form zur Darstellung zu bringen. Das betreffende 11. Kapitel trägt den Titel »Goldenes Zeitalter«. Was ist ein goldenes Zeitalter? – »Ein goldenes Zeitalter ist jenes, dessen Schulden das nachfolgende blecherne bezahlen muß.« (B 181) Byzanz hat sogar drei goldene Zeitalter hervorgebracht, entfaltet und überstanden; das erste schon zwischen 527 und 565 unter Justinian, von dem es hieß, er sei auf vierfache Weise unsterblich geworden: durch Krieg, Jus, Architektur, Theologie. Begreiflich, daß die einundeinehalbe Milliarde an Reserven, vom Oheim-Erblasser in ereignisarmer Herrschaft eingespart, zur Budgetierung eines derart goldenen Zeitalters nicht reichen wollte und Prokopius in der berüchtigten »Anekdota« sagt, weniger durch Vereinfachung des Gerichtsverfahrens, dessen sich der Kaiser rühmte, sei unter ihm der Advokatenstand beinahe verschwunden, sondern weil kein Mensch Vermögen mehr besessen habe, um das zu prozessieren sich gelohnt. Prokopius, selber Advokat, wird hier besonders bitter. (B 181)

Hier sehen wir Sir Galahad (übrigens auch ein Gralsritter) wieder in ganzer Pracht, für manche Pointen braucht sie nur einen Satz, für andere ebenso – nur reicht dieser dann über fünf Zeilen oder gerne auch darüber hinaus. Die Kapitel 24 Auch Christine Touaillon konstatiert diese Erbarmungslosigkeit, interpretiert sie allerdings nicht als kalkulierte ästhetische Konsequenz einer kritischen Potenzialität, sondern vermisst in der gekonnten Anlage des Romans vielmehr das »Herz voll Liebe« (der Autorin): »Vielleicht verbirgt Alma Johanna Koenig ihre menschliche Anteilnahme nur hinter dem byzantinischen Stil ihres byzantinischen Romans«. Touaillon, S. 1490.

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sind nicht chronologisch angeordnet, sondern widmen sich unterschiedlichen Themenkomplexen. Insbesondere das Kapitel zum Bilderstreit und der damit in Zusammenhang stehende Konflikt die Trinität betreffend25 (Monotheismus vs. Gott-Vater, Sohn und Heiliger Geist) übertrifft vieles; sie liefert kulturhistorisch aufschlussreiche Informationen pointiert und beiläufig, wodurch den ebenfalls zum Szenischen neigenden historischen Begebenheiten eine hohe Informationsdichte verliehen wird, die nie ermüdend wirkt. So habe die Gotik nie einen anderen Jesus als den arianischen dargestellt, denn das Leiden am Kreuz sei menschlich, nicht göttlich (B 154). – Ein Gedanke, der auch das leidvolle Ende von Koenigs Theodora als ein menschliches hervorhebt und so die zuvor geschilderte übermenschlich anmutende Schönheit und Grausamkeit konterkariert. Die Bestialität sei letztlich zutiefst menschlich, also allgegenwärtig und omnipräsent, so unmenschlich sie auch wirken mag, scheint als Botschaft hinter Koenigs Theodora zu stehen. Eckstein-Diener erwähnt im obigen Zitat nicht nur die Misswirtschaft des Kaiserpaares, sondern auch Prokopius von Cäsarea, den Advokaten und berühmtesten Historiographen aus der Ära Justinians. Zu nennen sind seine Werke »Historien« und »Bauwerke«, die beide Mitte des 6. Jahrhunderts entstanden. Am bekanntesten ist er allerdings für seine »Geheimgeschichte«, jenen Text, der erst postum veröffentlicht wurde, allerdings zeitlich zugleich mit den oben genannten Schriften entstanden sein dürfte und eine Abrechnung mit Justinian und Theodora darstellt. Die »Anekdota«, wörtlich die »unpublizierten Geschichten«,26 deren ursprünglicher Titel nicht bekannt ist,27 oft »Geheimgeschichte« von historia arcana (oder in der deutschen Übersetzung von 1753 »Geheime Geschichte«28 genannt), brachte ihm den Titel »Geheimschreiber« ein. Der Hintergrund der zu den »Anekdota« zusammengefassten Erzählungen ist bis heute unklar. Sie nehmen allerdings aufgrund ihrer Drastik, Rätselhaftigkeit und Berühmtheit im Vergleich zu Prokops übrigen Werken eine Sonderstellung ein. Inhaltlich stehen sie in schroffstem Widerspruch zu den offiziell von ihm ge25 Siehe das neunte Kapitel in »Byzanz«, insb. S. 152, 154. Diese theologische Kontroverse findet sich auch bei Koenig, im 68. Kapitel wird ein Konzil beschrieben. Theodora, die Monophysitin, stärkt ihre Fraktion und bündelt konfessioneller Kräfte entgegen Justinians Position, der streng orthodox war. 26 Prokop, Anekdota. Geheimgeschichte des Kaiserhofs von Byzanz. Griechisch-deutsch, übers. u. hg. v. Otto Veh. Mit Erläuterungen, einer Einführung und Literaturhinweisen von Mischa Meier und Hartmut Leppin, Düsseldorf 2005, Kommentar, S. 359. 27 Erstmals so genannt in der »Suda«, einem um 970 entstandenen byzantinischen Lexikon. Die »Suda« wurde in den 1930er Jahren von einer der ersten Altphilologinnen, Ada Adler, kritisch ediert und herausgegeben; sie erarbeitete auch eine Systematik zur eindeutigen Kennzeichnung der einzelnen Artikel (Adler-Nummern). Lexicographi Graeci, Vol. I. Svidae Lexicon, hg. v. Ada Adler. Pars IV. Ed. stereotypa ed. primae (MCMXXVIII), Stuttgart 1971, S. 210f. 28 Procopii von Cäsarea, Geheime Geschichte. Johann Paul Reinhard P.P. hat sie aus dem Griechischen ins Deutsch übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert, Leipzig 1753.

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rühmten juridischen, architektonischen und militärischen Errungenschaften Justinians. Die Zielgruppe der LeserInnen ist unklar, die »Anekdota« müssen allerdings unter der Hand kursiert sein, »[d]enn was in der Schrift stand, war Hochverrat; sie hätte ihren Autor das Leben kosten können.«29 Der Kommentar spricht von einer aufschlussreichen Schrift, die allerdings schwer einzuordnen sei.30 Die »Anekdota« gelten als unvollendet, gliedern sich in insgesamt dreißig Kapitel und berichten episodenartig von den Verfehlungen und intriganten Verstrickungen der vier Personen, unterbrochen von biografischen Angaben und Charakterschilderungen, die mit der aufwändig beschriebenen Verwerflichkeit der geschilderten Handlungen korrelieren. Die vier zentralen Protagonisten sind der bereits in den »Kriegen« beschriebene Feldherr Basilarius und dessen Frau Antonina, eine Freundin von Theodora, die wiederum mit Justinian vermählt ist. Die beiden Paare verkörpern für Prokop in ihrer Hinterhältigkeit, Grausamkeit und Skrupellosigkeit eine Gefahr für das Imperium. Justinian sei der »Fürst der Dämonen«,31 auch Theodora sei mit diesen im Bunde, sie sei ein »dämonisches Wesen, deren ganzes Trachten darauf gerichtet ist, das Römische Reich zu verderben«.32 Theodora ist in Prokops undifferenzierter Darstellung durch und durch böse, von Natur aus grausam,33 sittenlos und vor allem schamlos. In ihrer Tyrannei stünden Justinian und Theodora einander in nichts nach (sie taten und verbrachen alles gemeinsam34). Während sich die Autorschaft bestätigen ließ, gilt Prokops Darstellung allerdings gemeinhin nicht mehr als haltbar.35 Demnach galten die »Anekdota« lange als die Referenzquelle schlechthin, das Leben und Wirken des Kaiserpaares betreffend, und so haben sie das Bild der Theodora nachhaltig geprägt – und geschädigt. Sir Galahad erkennt in Prokops Darstellung die diskreditierenden Absichten: Um die erste Jugend dieser Kaiserin summen Gerüchte wie Schmeißfliegen, den Rüssel naß von jedem Aas. Prokop, in der »Geheimgeschichte«, hat sie alle eingefangen, denn Theodora haßt er fast noch mehr als Justinian. Doch was er sagt, bleibt eigentlich nur Spießerschreck, das Schmutzigste daran ist seine eigene Absicht. Man sieht, wie ein sehr früh mißbrauchtes Zirkuskind, statt Flötenspielerin und Tänzerin zu werden, lieber 29 30 31 32 33

Prokop/Veh, Kommentar, S. 362. Ebd. Prokop/Veh, Anekdota, S. 234. Prokop/Veh, Kommentar, S. 361. In der Übersetzung von 1753 heißt es: »Theodora war von Natur zur äussersten Grausamkeit geneigt. Sie sündigte niemals auf Verhetzung und Anreizen anderer, sondern aus eignem Triebe, und was sie beschlossen hatte, das vollstreckte sie unverzüglich.« (Procopii von Cäsarea/Reinhard, S. 130f.) 34 In der Übersetzung von 1753 heißt es: »Nun muß ich berichten, was sie zugleich mit ihrem Gemahl gethan hat. Denn sie unternahmen alles gemeinschaftlich.« Procopii von Cäsarea/ Reinhard, S. 98. 35 The Oxford Dictionary of Byzantium, S. 2036.

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öffentlich erotisch-mythologische Szenen mit Tieren mimt, im dezentesten Fall mit Tauben. (B 186)

Bertha Eckstein-Diener misstraut Procopius von Cäsarea in seiner Darstellung sichtlich, seine »Anekdota« bleibt aber dennoch zentrale Referenzquelle. Das gilt auch für den Roman von Alma Johanna Koenig, die als Autorin ebenfalls vor dem Problem steht, eine historische Quelle zu bearbeiten, die die Protagonistin einerseits verunglimpft, ihr aber dadurch auch ihre Anziehung verleiht. Auf der Suche nach historisch ausgleichender Gerechtigkeit finden beide Autorinnen eigene Mittel, um den Mythos der Theodora sowohl zu rehabilitieren als auch die Faszination, die ja wesentlich an das Abgründige und Herausragende gekoppelt ist, aufrecht zu erhalten. *** Eckstein-Diener hat Koenigs Text gekannt. Die Entstehung von »Byzanz« fällt in die Jahre nach 1932, sie hat soeben die »Mütter und Amazonen« fertiggestellt und wagt sich nun an ihren neuen Stoff. Der Briefwechsel mit Fritz von Herzmanovsky-Orlando (zirka 1932–1936) legt nahe, dass er sie auf Koenigs Roman aufmerksam gemacht hat: Wo findet man das Porphyrogenita Hofceremoniell beschrieben? Gibt es Spezialwerke über die Geschichte der griechischen Inseln zur Kreuzfahrerzeit? Wo findet sich etwas über Trapezunt und jene mir so warm empfohlene Dame Stephanie von Armenien? Welche Quellen könnten Sie mir noch über Byzanz nennen? (›Kreuzfahrerbriefe‹, Prokops ›Geheimgeschichte‹, alle Werke von Charles Diehl, die englische Literatur über Anna Comnena kenne ich bereits!) Was hat denn A.J. König über Byzanz geschrieben? Sehr lieb wäre es, wollten Sie mir diese Fragen noch recht bald hierher beantworten, da meine Adresse gegen Ende des Monats wieder wechselnd sein dürfte[.]36

Eckstein-Dieners Recherchen waren so eingehend und ergiebig, dass gleich zwei weitere Publikationen daraus hervorgingen:37 1938 erscheint »Bohemund«, der bereits erwähnte »Kreuzfahrer-Roman« und 1940 eine weitere Kulturgeschichte, der Seide38 gewidmet. Auch in »Byzanz« befasst sich ein Kapitel mit dem Germanen Bohemund. Als Kreuzfahrer war er eigentlich ein Eindringling, EcksteinDiener schildert ihn durch die Augen der Historikerin Anna Comnena (1083– 1153/4), die mit der »Alexiade« ihrem Vater ein episches Denkmal setzte und sich 36 Zit. n. Sibylle Mulot-Déri, Sir Galahad, S. 216. 37 Polt-Heinzl, S. 60f. 38 Helen Diner [d.i. Bertha Eckstein-Diener], Seide. Eine kleine Kulturgeschichte, Leipzig 1940. Kaiser Justinian war es gelungen, das chinesische Monopol der Seiden-Produktion zu brechen und die Produktion auch nach Byzanz zu verlagern, indem er Seidenraupen aus dem chinesischen Reich nach Byzanz schmuggeln lässt. (B 184f.)

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von Bohemund sowohl angezogen als auch abgestoßen zeigt (sie wurde im Palast geboren, er stört ihre Geburt). Das Zitat aus dem Brief bietet Einblick in Bertha Eckstein-Dieners Recherchetätigkeit und zeigt Prokops Geheimgeschichte als eine Quelle unter anderen. Dass Porkops »Anekdota« allerdings bis in einzelne Formulierungen hineinwirkt, geben zwei aufschlussreiche Textbeispiele zu erkennen. Man arbeitet sehr nahe an Prokops Text und Stimme, die konterkarierende Distanznahme erfolgt – und das ist sehr spannend zu beobachten – auf narrativer Ebene. Der Umgang mit dem Intertext ist ein geeigneter Punkt, um die beiden Texte von Koenig und Galahad zu vergleichen. Das folgende Beispiel betrifft die Schilderung von Theodoras Aussehen und Gestalt, die an ihre als ausschweifend beschriebene Sexualität rückgebunden werden. Sir Galahad schreibt in »Byzanz«: Die Kleine ist entzückend zart gebaut, graziös, mit leuchtend schwarzen Augen im winzigen Gesichtchen und immer bleich vor Temperament. Sie wird zu allen Orgien mitgenommen, was man so eben in Arenakreisen treibt, denn wie vor Jahren in Paris Apachenbälle Mode waren, so damals Hunnenfeste in Byzanz. Horden junger Herren in beschmierten Schaftstiefeln, bedrohlich geschminkt, brechen in befreundete Paläste ein. Dort wird geliebt, gezecht und randaliert. Von Theodora, einer reinen Orientalin, heißt es, daß sie bei solchen Festen ein Dutzend stärkster Jünglinge erschöpfen konnte, um dann dreißig wartenden Diener draußen sich noch hinzugeben, wobei sie die so geizige Natur beschimpft, weil diese zu den übrigen Wegen der Wollust, nicht noch einen vierten am Busen erschließt. (B 186, Hervorhebungen von mir, KK)

Zum Vergleich dazu ein Zitat aus Koenigs »Heiligem Palas«, dem Beginn des 8. Kapitels: Theodora ward als Gesellschafterin der Spiele aufgenommen. Sie fehlte bei keiner der mimischen Darstellungen alter Göttermythen, die das Volk immer aufs neue forderte. Theodora liebte ihre Vollendung und stellte ihren Körper so unbedenklich zur Schau wie ein Gärtner seine Rosen. Sie trat aus dem Ring der abgeglittenen schwarzen Hülle heraus, die Hände unter dem immer wirren Gekräusel kurzer Locken im Nacken verschlungen, die atmenden Brüste tausend Wünschen entgegenwölbend, die lächelnden Lippen tausend Kußdürstenden bietend, und sie bedauerte es des Tages, daß das Gesetz des Zirkus ihr verbot, auch den goldenen Hüftgürtel fortzuwerfen, wie sie bei Nacht die Natur anklagte, dem Weibe nur drei Altäre gegeben zu haben, um Eros Opfer darzubringen. Sie stand lange im vollen Sonnenlicht, nackt und hingeschenkt wie eine der selig Schamlosen des Olympos. In ihren halbgeschlossenen Augen lag ein kalter Traum. Sie war nicht groß, noch sehr zart und die weiße der kaum erst entwickelten Glieder mahnte an Kirschblüten. Ihre Hände wurden gerühmt. Man sah ihnen die Wonnen an, die sie zu spenden vermochten. Etwas von der lautlosen Sicherheit, der behutsamen Kraft schöner, großer Katzen, die ihrer Kindheit Gefährten gewesen waren, lag in ihrer Gebärde. Theodora löste, während der Beifall hereinbrach, vom Triumph gestrafft, die Arme, kreuzte sie über den freien, runden, süßen Brüsten und sagte, sich tief vernei-

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gend, mit bis zum letzten Platz vernehmbarer Stimme: »Leda und der Schwan!« (DhP 27, Hervorhebungen von mir, KK)

Koenig entwickelt die Figur dynamisch gleichsam aus der tänzerischen Pose heraus; ihr gelingt es, ein bewegliches Porträt zu zeichnen, schildert Aussehen umfangen von Gesten, Charakter und Psychologie gebettet in Gestalt. Der noch kindliche Körper vollendet sich in der dargestellten Figurine »Leda und der Schwan« zur sexualisierten Projektionsfläche mit Wiedererkennungswert. Die atmenden, freien, runden, süßen Brüste sind den Blicken freigegeben, »tausend Wünschen [entgegengewölbt]« und bilden einen der fokussierten Teile, aus denen sich die Betrachtete zu einem Ganzen höherer Ordnung, zum Wunder, zusammensetzt. Die Beschreibung der Szene wird getragen vom bewundernden Blick der Beobachtenden, die Wirkung ist dem Faszinosum bereits in der Produktion des sprachlichen Bildes eingeschrieben. Während sich die Körperteile vereinzeln und so in den Dienst einer plastischen Darstellung genommen werden, vereinigen sie sich allein im Phantasma, das klimatisch auf eine orgiastische Aufhebung aller Grenzen im Rahmen der Verschmelzung der Körper gerichtet ist (wie etwa auch während der Volkserhebung im Mehllager bildhaft ausgeführt wird). Beim Anblick der tanzenden Theodora im Hippodrom erbebt das Volksganze, bevor es sich in der revolutionären Erhebung unter ihr als Herrscherin verausgabend in Raserei ausschüttet und in einer auf die Niederschlagung folgende, ernüchternde Phase der Bedeutungslosigkeit hinein verebbt. Mit Blick auf die dreißig Diener oder Sklaven sowie die drei Wege oder Altäre der Wollust stellt sich die Frage, wie die Nähe der beiden Textstellen zu erklären ist. Die Antwort liegt in Prokops »Geheimgeschichte«, die im Hintergrund wirkt: Nirgends war eine Frau jeder Art von Lust so unterworfen. Mit zehn oder mehr jungen Männern auf der Höhe ihrer Kraft, die selber Wollust als Tagewerk betrieben, ging sie oft zu einem gemeinschaftlichen Mahl und schlief dann bei sämtlichen Gästen die ganze Nacht hindurch. Wenn aber alle davon genug hatten, suchte dieses Weib noch deren Sklaven auf, etwa dreißig an Zahl, und schlief bei jedem einzelnen von ihnen. Auch dann bekam sie dieses Schandleben nicht satt. Einmal soll sie in einem vornehmen Hause während des Zechgelages vor aller Augen auf die Kante des Speisesofas gesprungen sein und hemmungslos die Kleider um die Füße emporgerafft und ihre Schamlosigkeit offen zur Schau gestellt haben. Obwohl sie mit drei Öffnungen ihrem Gewerbe nachging, machte sie der Natur doch bittere Vorwürfe, daß diese ihr nicht auch die Brüste so erweitert habe, um damit noch eine weitere Art von Beischlaf halten zu können. Immer wieder war sie schwanger, doch vermochte sie durch alle möglichen Kunstgriffe die Frucht sofort wieder abzutreiben.39

Ein Vergleich der drei Textstellen zeigt, mit welcher Stabilität konkrete Einzelheiten, bis hin zu Zahlen, in der Paraphrase überliefert werden. 39 Prokop/Veh, Anekdota, S. 89, Hervorhebungen von mir, KK.

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[…] Obwohl sie mit drei Öffnungen ihrem Gewerbe nachging, machte sie der Natur doch bittere Vorwürfe, daß diese ihr nicht auch die Brüste so erweitert habe, um damit noch eine weitere Art von Beischlaf halten zu können. (Procop/Veh) […] wie sie bei Nacht die Natur anklagte, dem Weibe nur drei Altäre gegeben zu haben, um Eros Opfer darzubringen. (Koenig) […] wobei sie die so geizige Natur beschimpft, weil diese zu den übrigen Wegen der Wollust, nicht noch einen vierten am Busen erschließt. (Galahad)

In allen drei Fällen ist es die Natur, der »vorgeworfen«, die »angeklagt« und »beschimpft« wird. Anklägerin ist jeweils die maßlose Frau, die vorwurfsvoll gegen sich selbst bzw. ihre Veranlagung die Stimme erhebt. Prokop versinnbildlicht Theodoras Hybris gegen die Natur und sexualisiert den Größenwahn, den er auch im von ihm verurteilten Herrschaftsstil im Bereich des ÖkonomischPolitischen am Werk sieht. Koenig und Sir Galahad greifen Prokops Bild auf und integrieren es in einen poetischen Kontext, der Prokops Vorlage nicht die Explizitheit, aber doch die implizierte Bitterkeit nimmt, die den Vorwurf der Frau als Vorwurf des Mannes erkennen lässt. Bertha Eckstein-Diener hat augenscheinlich beide Texte verwendet und verwoben; sie ersetzte die drei »Altäre« durch »Wege[] der Wollust« und ergänzt das abstrakte Verhältnis von drei zu vier um den »Busen«, den Koenig aus der Referenz an dieser Stelle herausnimmt, um ihn, wie oben erläutert, gleichsam in actionis zu zeigen, indem sie die »atmenden Brüste« im unmittelbaren Umfeld der Arena performativ wirksam werden lässt. In der wörtlichen Konkretisierung Brüste/Busen, die zugleich auch eine dezente Verschleierung ist, denn plötzlich wird synonymisch der gesamte Oberkörper zugleich mit ins Spiel gebracht (Sir Galahad hat die angedachte Erweiterung rhetorisch also bereits vollzogen), greift Eckstein-Diener eindeutig und erkennbar auf Prokop zurück. Es ist als Ironie der Geschichte zu werten, dass Prokop in der Schilderung des Verwerflichen genau diesem ein überdauerndes Denkmal gesetzt hat. Die als Obszönitäten ausgestellten Handlungen, symptomatischer »Spießerschreck«, – und sie werden tendenziell den Autorinnen bzw. deren Phantasie zugeschrieben40 – stammen letztlich von Prokop bzw. dessen bildhafter Sprache.

40 René Freund, Land der Träumer. Zwischen Größe und Größenwahn. Verkannte Österreicher und ihre Utopien, Wien 1996, S. 85.

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Männliche und weibliche Geschichtsschreibung

Während sowohl von Koenig als auch von Eckstein-Diener beinah andächtig mit Prokops Text umgegangen wird, muss er als Autor auf das etablierte Privileg, eine unhinterfragte historiographische Autorität zu sein, verzichten. Die Darstellung von Prokops »Geheimgeschichte« ist nur vollständig zu erfassen, wenn zugleich die ihm zugemessene Position in den Blick genommen wird. Darum muss der Akzent der Frage, was mit Prokops einflussreicher Vorlage in der literarischen Paraphrase geschehe, verlagert bzw. erweitert werden. Während die konkrete sprachliche Formulierung im Umgang mit dem Intertext eine Trennung von Autor und Werk vollzieht, führt das narrative Ganze die beiden Ebenen unverzeihlich zusammen, um eben in dieser Engführung zum Gegenschlag auszuholen. Die Frage lautet auf Eben der Komposition nicht mehr: Was geschieht mit Prokops Text? Sondern: Was geschieht mit Prokop? Prokop war Advokat, ein enger Mitarbeiter des Kaisers, Historiograph der Kriege, Befürworter der Reformen, zugleich verurteilt er aber die Misswirtschaft des Kaiserpaares, die Intrigen, die Enteignungen und natürlich Theodoras Herkunft und »dämonisches« Temperament (Prokop bringt sie noch viel enger als Koenig und Eckstein-Diener mit magischen Kräften und Zauberei in Verbindung)41. Prokops »Anekdota« ist ein merkwürdiger Text, rätselhaft bleibt insbesondere sein Hass.42 Eckstein-Diener und vor allem Koenig begegnen Prokops Hass in der Darstellung aktiv. Sir Galahad entlarvt seine Haltung und entkräftet seine Darstellung, indem sie ihm das Monopol als Quelle, als Historiker nimmt: Prokops »Anekdota« wird zu einem Text unter anderen, der Geheimschreiber Prokop wird zu einem Historiographen unter anderen, nämlich unter HistoriographInnen. Bertha Eckstein-Diener fördert in ihrem Fokus auf das weibliche Prinzip in der Weltgeschichte eine Reihe von Autorinnen ans Licht, die, ebenso wie Prokop, es nicht nur verdient haben, genannt zu werden, sondern eine deutliche Vorrangstellung in der Darstellung historischer Begebenheiten einnehmen. Sei das etwa die bereits erwähnte Historikerin Anna Comnena (1083–1153/4) oder die Gelehrte Eudokia Athenäis (408–450), aus deren Epos sie einige Strophen zitiert (B 282ff.). Ähnlich verfährt Alma Johanna Koenig. Sie integriert Prokop als Figur in ihren Roman. Sie plausibilisiert seine Missgunst, macht sie narrativ nachvollziehbar, 41 »Sie soll sich auch Justinian nicht so sehr durch Schmeichelei als vielmehr durch Zauberkraft gefügig gemacht haben«. Prokop/Veh, Anekdota, S. 203. In der Übersetzung von 1753 wird sogar Inkubat angedeutet, dort heißt es an anderer Stelle: »Einige von den alten Liebhabern Theodorae erzehlen, daß zu der Zeit, da sie noch Komödiantin gewesen, öfters in der Nacht ein böser Geist gekommen sey, die Galans verjagt, und die Nacht mit ihr zugebracht habe.« Procopii von Cäsarea/Reinhard, S. 117. 42 Prokop/Veh, Kommentar S. 362f.

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spart aber eine explizite Bewertung aus. Prokop taucht zum ersten Mal im zehnten Kapitel auf. Er erscheint gleich zu Beginn als unterwürfiger Handlanger des Kaisers (von dem wir zunächst nur seine Stimme hören, er diktiert Prokop, dem Geheimschreiber). Die hündischen Attribute teilt sich Prokop mit Burbo, Theodoras Stiefbruder, dem sie, nachdem sie sein Begehren niedergerungen und für ihre Zwecke instrumentalisiert hatte, den Eid abnimmt, ihr treu ergebener Diener zu sein – was er auch bleiben soll. Prokop, der Patrizier und neuernannte Geheimschreiber des Kaisers, hält im Zirkus eine Brandrede gegen »Buhldirnen« (DhP 31) – nicht weiter erwähnenswert, dass er zu Theodoras Hauptgegner avanciert, nachdem Justinian sie zu seiner Frau und Kaiserin von Byzanz erwählt. Als eines Tages Justinian ernsthaft erkrankt, erfährt Theodora, dass Prokop wider das kaiserliche Gesetz handelt und gegen sie hetzt, also ihre »verwerfliche« Herkunft und Vergangenheit eben nicht vergisst, sondern aktiv gegen sie vorbringt. Prokop fordert Theodoras Ermordung fordert, sobald Kaiser Justinian seiner Krankheit erlegen sein wu¨ rde. Sie heilt Justinian auf wundersame Weise und beschließt Rache. Mit Hilfe des Kaisers verführt sie Praxedis, die frisch angetraute Ehefrau Prokops in dessen Hochzeitsnacht – vor seinen Augen. Er wurde gefesselt und geknebelt und verurteilt, Theodoras Macht wirken zu sehen. Sie lässt ihr Macht wiederholt kraft ihrer Sexualität walten, für welche Prokop sie verurteilt und zutiefst verabscheut. Prokops Braut kann ihr aber ebenso wenig widerstehen wie der Rest von Theodoras Untergebenen. »Er sah die stillen Mädchenaugen verglast vor Lust, den schmalen Mund feucht von verwerflichen Küssen, die verschlossenen Glieder des letzten Geheimnisses beraubt, das sie seinem Manntum noch zu schenken hatten. / Es gab keine Praxedis mehr.« (DhP 133) Nach dieser durchwachten Nacht lässt Theodora ihm die Gründe ihrer Rache per Bote ausrichten. Prokop kehrt heim, schlägt seine Frau, die nicht widerstand, und ist ab diesem Zeitpunkt ein anderer Mensch: »Als er sich am nächsten Tag zu Justinians Dienst meldete, sah ihn der Basileus groß an und wandte sich ab. / Prokopius hatte ein neues Gesicht. / Das hämische, heimtückische, bittere Antlitz eines bösen, alten Mannes.« (DhP 135) Prokops hasserfüllte Darstellung Theodoras in dessen »Anekdota« erhält bei Koenig gleichsam eine persönlich-psychologische Grundlage. Theodoras Rache richtet sich gegen »Sittenpredigt, Verhalten und Schwur eines Narren« (DhP 134), Prokops Hass zunächst gegen ihr unsittliches, verwerfliches, dem heiligen Amt unwürdiges Verhalten – und schließlich gegen ihre Rache. Der/Die Leser*in kennt die »Anekdota«, zu keinem Zeitpunkt sieht man Prokop sie im Roman aber schreiben. Der Roman von Koenig ist also einerseits Paraphrase von Prokops Schrift, geriert sich aber zugleich als Subtext seiner Entstehung. Die Autorin nützt diese Konstellation, um unter Einsatz einer auktorialen Erzählinstanz, Prokop, die historische Figur und den eigentlichen Autor und Erzähler, als eine Figur unter anderen zu gestalten. In erzähltechnischer Hinsicht wurde er ent-

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thront. Charakterlich steht er sogar unter den treuen Dienern, denen allen mehr Persönlichkeit beigegeben wurde als dem bitteren Prokop (denn bei Koenig sind die Nebenfiguren so gut gelungen wie die Hauptfiguren). Er ist diebisch und heuchlerisch, selbst Justinian scheint sein trügerisches Verhalten zu durchschauen – er ist aber selbst nicht der Klügste. Theodora übertrifft alle.

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Schweigen und Sprechen

Dennoch muss sie untergehen. Wenngleich ihr Ende in eine Art negativen Triumph mündet und die Darstellungsmittel orgiastischer Ausschweifung noch einmal ein hohes Aufgebot erfahren, um die Dramatik für ein Finale zu steigern, so wird dennoch kein Zweifel daran gelassen, dass sie leidvoll fällt. Theodora wird ob der vielen Morde, die sie begangen hat, wahnsinnig; ihre Überlegenheit kippt in unverzeihliche Hybris, als sie die Kaiserkorne entweiht. Ausführlich und detailreich werden die letzten Tage und Nächte im Palast, die in einer von ihr inszenierten Groteske gipfeln, beschrieben. Bei allem Glanz muss sie schließlich doch sterben, Prokop allerdings bleibt. Er ist es, der dem Kaiser berichtet, was geschehen ist: Der Kaiser öffnete die Tür. »Was gibt es? Du Prokop?« Und er sah erstaunt das bittere, boshafte, vergrämte Gesicht, verjüngt von einem wilden Triumph. Der Geheimschreiber warf sich aufs Angesicht, zugleich mit Tzikka und einem Alten, der bei des Kaisers Anblick in Schluchzen ausgebrochen war. (DhP 354f.)

Er möchte zuerst in Form einer Fabel erzählen – denn »das Gesetzt besteht noch«, also das Gesetzt, wonach nichts Schlechtes über die Kaiserin gesprochen werden darf. Justinian befreit ihn davon und widerruft kurz danach das gesamte Gesetz. Nun erzählt Prokop von der Entweihung der kaiserlichen Tiara: Im Rahmen der letzten Orgie habe Theodora wilde Affen in den Saal eindringen und auf die dreihundert geladenen Frauen zugreifen lassen. Was als erotische Ausschweifung begann, mündet in ein blutrünstiges Gemetzel. Als die Wachen die grausame Szene aufzulösen versuchen, erblicken sie einen Affen, der die Tiara trägt und im Begriff ist, sie zu zerstören, berichtet Prokop seinem Kaiser: […] Als die Wachen Treibjagt auf die Bestie machten, fanden sie, je weiter sie in den Hain der Basilissa eindrangen, um so furchtbarere Verwüstung vor. Frauenleichen lagen grauenhaft zerfleischt im Gebüsch. Sie schaukelten an ihren Haaren von den Bäumen. Die Wachen traten in den blutigen Brei, der der Überrest von Körpern war. Man fand ein Häuflein von Frauen, halb irrsinnig vor Angst, in einer Badegrotte. Von dreihundert zu einem Fest der abscheulichsten Lust Zusammengetriebenen waren sie die einzig Überlebenden. (DhP 357)

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Justinian sieht sehr wohl die Flammen in den Augen des Prokop, die Genugtuung, die der berauschende Wahn bei Überbringung der Nachricht ihm verleiht. Denn als der Übermittler der Nachricht ist er – von höchster Stelle dazu legitimiert – auch der siegreiche Verkünder der Wahrheit. Erst mit dem Redeverbot fällt die Macht der Theodora, der auch er sich zu fügen hatte. Somit bildet Koenig am Ende den Triumph von Prokops männlich besetzter – und verurteilender – Geschichtsschreibung ab, sie tut dies aber im Rahmen eines Romans, der in der Artikulation dieses »Sieges« zugleich eine Gegendarstellung ist. Zudem lässt sie Prokops Bericht an den Kaiser nicht stehen, ohne ihn zu konterkarieren. Das letzte Wort hat nicht Prokop, sondern Jefraim, der jüdische Leibarzt Theodoras, der ihren Wahnsinn attestieren soll und Teil der Begehung des still gewordenen, verwüsteten Palastes ist. Er nützt das aufgehobene Redeverbot nicht dazu, die Verworfene ein weiteres Mal zu erniedrigen, sondern hält seinen Mantel schützend über sie. Für ihn ist die Tatsache, dass sie allein und verlassen sterben musste, Ausdruck ihres Leids und ihrer Bestrafung. Während die Wache den Leichnam ein weiteres Mal erniedrigt (ein Diener speit auf ihren toten Körper) und der Kaiser dem Anblick nicht standhält, blickt Jefraim, der Arzt, ein letztes Mal in ihr Angesicht und hat Mitleid. Mit dem Tod Theodoras fällt nicht nur das Redeverbot, sondern es vergeht auch der Palast. Alle Türen standen offen, man sah weithin durch Säle in Säle. Und alle waren leer und kalt und von eisiger Verlassenheit. Und wo sie vorbeikamen, sahen sie die Spuren dieses unerhörten, dieses panischen Grauens. […] Und über all den verlorenen Dingen lag der Staub, als wolle die Zeit sie mit ihrem Moder verschütten, lag ein Geruch wie Fäulnis und Tod, ein Geräusch wie von bröckelndem Mörtel und Gebälk, als sterbe der Palast zugleich mit seiner Herrin. (DhP 364f.)

Mit der Person stirbt am Ende des Romans die magische Topografie. Umgekehrt kehrt mit der beseelten literarischen Darstellung der historischen – magischen – Topografie auch die Person zurück. Wenngleich Prokops »Anekdota« in der Historiografie den längeren Atem haben sollte, worin sich das männliche Prinzip über das weibliche erhebt und es verurteilt, so bleibt sein Text doch Dokument zur Rekonstruktion einer herausragenden weiblichen Persönlichkeit, die Alma Johanna Koenig in all ihrer Strahlkraft und mit all ihrer geistigen Kraft, physischen Präsenz und sexuellen Energie gekonnt in Szene setzt und – nach Victorien Sardou, Felix Dahn und Charles Diehl – literarisch aktiviert. Der Roman »schluckt« als umfassende Rekonstruktion anhand lebendiger Gesten und einer komplexen psychologischen Struktur, die dem Körperlichen und Expliziten zum Teil eine rätselhafte Tiefe verleiht, die zur Phrase erstarrte historiographische Wendung – wie er alle Gattungen sich einverleibt. Hier allerdings schluckt der Roman nicht nur den Text, sondern auch den übermächtigen Autor.

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Koenigs Roman rehabilitiert in Theodora eine Herrscherin, die frei über ihre Kräfte verfügt, und erzählt die Geschichte einer selbstbestimmten und machtbewussten Frau bzw. ihren Weg zur Machtergreifung. Sie zeigt aber auch ihren Untergang; Willkür und Tyrannei werden ebenso wenig ausgespart wie die erotischen Abenteuer, die als kalkuliert eingesetzte, wesentliche Machtinstrumente inszeniert werden – was dem Unterhaltungswert des Romans zuträglich ist und auch sein skandalöses Potenzial bedingt. Mit dem erregten Volk zeigt Koenig eine Dimension der Massenpsychologie, die eine Engführung von sexueller und politischer Energie andeutet. Die Verführbarkeit des Volkes ist ebenso eine Tatsache wie das Hervorbrechen tiefster und niedrigster Instinkte im doppeldeutigen Zustand seiner Erregung. Koenig reflektiert darüber hinaus auch den Diskurs, der das Bild der Theodora erzeugte, und schafft Bewusstsein für seine Artifizialität: Theodoras Regentschaft wird von einem Redeverbot umrahmt, das dem offiziellen Bild als Bedingung zugrunde gelegt wurde. Somit macht Koenig deutlich, dass dieses legitime Bild nur durch Sanktionen, durch großen Kraftaufwand und körperlichen Einsatz als Bild »in eigener Regie« aufrechterhalten werden konnte. Theodoras Vergangenheit lässt sich in der Neukonzeption ihrer Geschichte nicht verbergen, nur auf Androhung der Todesstrafe verschweigen. Als offenes Geheimnis, gedeckt durch ein Redeverbot, regt es den Advokaten zum Widerspruch an, der sich mit den »Anekdota« oder der »Geheimgeschichte« über jedes Gebot hinwegsetzt, um nachhaltig Recht und Deutungshoheit in der Darstellung der Tatsachen zu beanspruchen. Theodoras Herkunft aus dem Volk, ihr großer Vorteil gegenüber dem durch Gottesgnaden gegebenen Basileus, ist zugleich Grund ihres Scheiterns.43 Letzteres bleibt bei aller Außerordentlichkeit ihrer Persönlichkeit strukturell bedingt. Im Roman rückt Koenig das überlieferte Bild zurecht, indem sie Prokop, den später in der Überlieferung übergeordneten Historiographen, als jenen Untergebenen zeigt, der er historisch war, und konfrontiert ihn – nunmehr eine Nebenfigur – mit eben jenen Kräften, denen er sich verweigert und die er verurteilt. Nur seiner Schrift, nicht aber seinem Schreiben wird Raum gegeben. Eine ähnliche Korrektur im historiographischen Diskurs unternimmt auch Bertha Eckstein-Diener, indem sie Prokops Stimme die Vorrangstellung nimmt, um ihn als eine unter vielen – männlichen und weiblichen – Stimmen zu montieren. In dieser relativierenden Montage, die in die kommende Geschichtsschreibung als Erzählung einwirken möchte, nähern sich die kultur43 Diese Opposition von Körper und Geist spielt auch – allerdings in ganz andere Hinsicht – eine entscheidende Rolle Hugo Balls »Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben« von 1923. Der Titel mutet hagiographisch an, die umfassende Studie beschreibt allerdings den geistigen Triumph über den Körper, wie ihn die christliche Ekstase – durch Askese – ermöglicht. Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, hg. u. komm. v. Bernd Wacker, Göttingen 2011.

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historische Darstellung und Roman aneinander an – und zeigen dabei nicht zuletzt die politische Dimension literarischer Verfahren.

Renata Trejnowska-Supranowicz (Olsztyn)

Gisela Berger und die Elemente des Fantastischen anhand ihres historischen Romans »Der wandelnde Tod«

Gisela (Maria Johanna) von Berger ist eine österreichische Autorin, die sich freilich im Literaturbetrieb der Zwischenkriegszeit durchsetzen konnte, die jedoch seitens der Forschung bisher keine bedeutende Beachtung fand. In die Geschichte der deutschen Literatur oder der Literatur der Weimarer Republik wird ihr Leben und Werk nicht aufgenommen. Auch in den auf zahlreiche wenig bekannte oder vergessene herausragende Autorinnen fokussierten Anthologien über schreibende Frauen der Weimarer Republik taucht ihr Name nicht auf. Bergers Kurzbiografie wird im biografisch-bibliografischen Handbuch »Die deutschsprachige Presse« (2005) vermerkt.1 Das Werk ist auf der Grundlage der in den Jahren 1995–2003 erschienenen zehnbändigen »Deutschen Biographischen Enzyklopädie« entstanden und umfasst zahlreiche Persönlichkeiten, die zumindest zeitweise journalistisch tätig waren. Die sich auf Gisela Bergers Arbeit in der Presse bezogene Episode wird im weiteren biografischen Teil des Beitrags erwähnt. Einige interessante Aspekte zu dem Werdegang der Autorin findet man im lexikalischen Nachschlagewerk »Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems« (2018) von Uwe Baur und Karin GradwohlSchlacher.2 Eine Wiederentdeckung der vergessenen Wiener Schriftstellerin wird dann im Buch »Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht« (2018) von Aneta Jachimowicz vollbracht.3 In Hinsicht auf die politische Ausrichtung der zeitgenössischen Presse, in der Bergers Lyrik, Feuilletons, Kurzgeschichten oder Rezensionen erscheinen, klassifiziert Jachimowicz die österreichische Autorin als eine bürgerlich-demokratische. Sie erwähnt den in Vergessenheit geratenen vom Rikola Verlag herausgegebenen historischen Roman »Der wandelnde Tod« (1922), der in Wien zu Zeiten des 1 Vgl. Hans Erich Bödecker, Berger, Gisela, in: Bruno Jahn (Hg.), Die deutschsprachige Presse. Ein biographisch-bibliographisches Handbuch, Bd. 1, München 2005, S. 80. 2 Vgl. Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems, Bd. 4: Wien 2018, S. 73–75. 3 Vgl. Aneta Jachimowicz, Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht, Würzburg 2018, S. 85, 171.

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Kaisers Joseph II. angesiedelt ist und führt im Zusammenhang damit sowohl eine im angesehenen liberalen Weltblatt »Neue Freie Presse« veröffentlichte lobende Rezension des Romans an als auch eine negative seitens der konservativchristlichen Tageszeitung »Reichspost«.4 Man erliegt wahrscheinlich keinem Irrtum, wenn man behauptet, Gisela Bergers Werk werde in literaturwissenschaftlichen Ansätzen nicht rezipiert. In diesem Beitrag wird grundsätzlich das Ziel verfolgt, in Bergers sentimentalem Unterhaltungsroman mit geschichtlichem Hintergrund aufzuzeigen, wie Berger die für die Wiener Moderne charakteristischen und an die Schwarze Romantik anknüpfenden Narrative wie der Ich-Zerfall, das Geheimnisvolle, Unerklärbare, Entfremdete und Metaphysische verwendet und dadurch sich einerseits der romantisch-fantastischen Erzähltradition verschreibt, andererseits einen beachtenswerten Beitrag zu der seit der Jahrhundertwende sehr populären Gattung des fantastischen Romans leistet. Ferner werden die Stimmungsbilder des habsburgischen Mythos aufgezeigt. Ich will auf die Motive eingehen, die im Roman einen metaphysischen Charakter erlangen und veranschaulichen, auf welche Weise die Autorin das Milieu, den Geist und den Zauber Wiens, der entschwundenen Welt des Kaiserreichs, wiederbelebt. Nicht zuletzt wegen Bergers Schreibstil, der in der Tradition der romantischen Literatur steht und von für die Wiener Moderne typischen Themen beeinflusst wird, kann ihr Roman zusammen mit fantastischen Romanen von Leo Perutz, Alexander Lernet-Holenia, Paul Busson, Gustav Meyrink, Alfred Kubin oder Karl Hans Strobl genannt und betrachtet werden. Bevor ich auf die von Berger eingeführten Fantasieelemente eingehe, die sich im Roman mit dem Wirklichen durchdringen, soll ein biografischer Überblick in Bezug auf Gisela Berger erfolgen. Hervorzuheben ist zugleich ihr vielfältiges Profil bezüglich des literarischen Schreibens, wodurch sie zu der Gruppe der vergessenen aber literarisch interessanten und wiederentdeckten Autorinnen zu zählen ist. Gisela Bergers Leben ist immer noch in Geheimnisse gehüllt und alle biografischen Informationen entstammen der »Deutschen Biographischen Enzyklopädie« (DBE), dem Handbuch »Literatur in Österreich 1938–1945« und ihrem Essay »Mein Onkel Albert Freiherr von Berger« aus dem Jahre 1925.5 Sie wird am 12. Dezember 1878 als Kind einer alten, wohlhabenden und einflussreichen Bürgerfamilie in Wien geboren und stirbt im Alter von 83 Jahren auch in dieser Stadt am 26. Januar 1961. Trotz der Informationsdefizite steht fest, dass sie die Enkelin des einflussreichen Politikers, Schriftstellers und Rechtsanwalts Johann 4 Vgl. ebd. 5 In vielen biografischen Details folge ich den Veröffentlichungen von: Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche biographische Enzyklopädie (DBE), Bd. 1, München 2005, S. 555; Karin GradwohlSchlacher, Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems, Bd. 4, Wien 2018, S. 73–74; Gisela Berger, Mein Onkel Alfred Freiherr v. Berger. 1925, Essay 85. In: https://scholarsarchive.byu.edu/sophnf_essay/85 (Zugriff 15. 10. 2021).

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Nepomuk Berger und die Nichte des österreichischen Dramaturgen, Burgtheaterdirektors und Schriftstellers Alfred Freiherr von Berger ist. Mit neunundzwanzig erschien ihr erster Roman »Die Schlange. Die Geschichte einer Ehe« (1907). Sie ist auch Autorin der Novellensammlungen »Königskind Seele« (1913), »Die Schlange. Drei Novellen«(1925 mit einem Nachwort von Felix Salten), »Der alte Herr« (1926), »Glocken vom Jugendland« (1936) sowie des Romans »Die törichte Geschichte der Terpsichore Liebenreich« (1919), für den sie mit dem Ebner-Eschenbach-Preis ausgezeichnet wurde. 1916 veröffentlichte der Max Pfeffer Verlag Bergers fünfaktiges Drama »Der Sohn der Sonne«, welches im selben Jahr im Wiener Burgtheater zum ersten Mal auf den Spielplan gesetzt wurde. Unumstritten mag die Akzeptanz ihrer Werke im literarischen Betrieb sein, denn sie publizierte in solchen Verlagen wie Fischer Verlag, Max Pfeffer Verlag, A. Hartleben’s Verlag, Deutsch-Österreichischer Verlag oder Rikola Verlag, die zu den profilitertesten belletristischen Verlagen Österreichs gehören. Gisela Berger hat sich, wie viele Autorinnen des frühen 20. Jahrhunderts, nicht nur in der Literatur und den Verlagen etabliert, sondern war auch als Journalistin tätig. In ihrer beruflichen Laufbahn erweist sie sich als eine ungemein viel hervorbringende, selbstbewusste, selbständige und erfolgreiche Frau. Nach dem Tod ihres Vaters und Onkels arbeitete sie zunächst als Hauslehrerin, Sekretärin und in den Jahren 1929 bis 1930 als Redakteurin der Zeitschrift »Wiener Mode«. Dann war sie von 1931 bis zum Kriegsausbruch in Wien in der Theatersammlung der Nationalbibliothek bei Josef Gregor tätig. Berger gehörte mehreren Schriftstellerverbänden an und war gemeinsam mit Max Mell, Franz Karl Ginzkey, Josef Friedrich Perkonig und Karl Hans Strobl im Vorstand des SDSÖ aktiv. An ihr haftet der Makel, dass sie in der Zeit des Austrofaschismus Kontakte zu Autoren hatte, die teilweise an austrofaschistischem Gedankengut Gefallen fanden. 1933 verließ sie, wie andere AutorInnen, die die Anschauungen der Nationalsozialisten teilten, den österreichischen PEN-Club, nachdem dieser auf seinem XI. Kongress in Ragusa sich gegen die Bücherverbrennungen im Deutschen Reich ausgesprochen hatte. Den biografischen Verzeichnissen zufolge gibt es keine weiteren Informationen in Bezug auf jegliche Zusammenarbeit mit den Anhängern der Ideologie des Nationalismus. Während der Nazizeit publizierte Berger nicht, weil sie für ihre Familie sorgen musste und bis 1945 die Pressestelle im »Haus der Mode« in Wien leitete. Aufgrund mangelhafter Publikationen wurde sie 1941 aus der Reichsschrifttumskammer entlassen. Nach 1946 war sie Lektorin im Wiener Ring-Verlag, wo sie ihren letzten Roman »Der Arzt ohne Herz« (1946) veröffentlichte. Spannende Einblicke in ihr Privatleben ermöglicht die Autorin in einem ihrer mehreren Essays, den sie ihren Ahnen, hauptsächlich dem geliebten Onkel Alfred Freiherr von Berger, widmet. Dort gedenkt die sechsunddreißigjährige Gisela ihrer Jugendzeit, obschon sie nur noch schwache Erinnerungen daran hatte. Sie

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beginnt mit dem Geständnis, dass alle, die aus dem Hause Berger kommen, keine Lieblinge der Götter seien: Keine solchen, die auf der Liste des Glückes stehen und seine Rechnung mit einem Plus abschließen. Keine solchen, denen irgendetwas geschenkt, ja nur leicht gewährt wird. Solche sind sie, die ringen müssen und ertrotzen, wo andere warten dürfen und bloß die Hände auftun.6

Man kann vermuten, dass dieses Geständnis auch einen signifikanten Einfluss auf Giselas Leben hatte. Zur Bekräftigung dieser Ansicht mögen Worte ihres Vaters dienen, der ihr halb im Scherz erzählte, sie solle nicht vergessen, dass sie aus Tantalus’ Geschlecht stamme.7 Diese halbscherzhafte Anspielung auf den Sohn des Zeus und einer Nymphe, den Liebling und Vertrauten der Götter, der wegen seines Vergehens von ihnen in die Unterwelt gestürzt wurde, prägte sich wahrscheinlich fest in Giselas Gedächtnis ein. Sehr wahrscheinlich ist, dass sie in ihrem Leben Schweres hatte durchmachen müssen. In dem Essay gedenkt Gisela dem außergewöhnlichem Talent ihres Onkels, seiner großen Theaterliebe und unbegrenzten Wirkungsmöglichkeiten, aber auch den Hindernissen, die ihm im Laufe seiner Karriere begegneten. Damit meint sie seine misslungenen Bemühungen bei der Berufung auf die Stelle des Direktors im Wiener Burgtheater. In diesem Zusammenhang bringt Gisela Berger auch ihre kritische Einstellung zu Österreich zum Ausdruck und verdeutlicht das innere und äußere Problem des Österreichertums: In einem anderen Land, unter anderen staatlichen und gesellschaftlichen Bedingungen geboren, hätte vielleicht längst eine kluge, einsichtige Macht diese reiche Persönlichkeit an einen ihr selbst und dem Nutzen des Ganzen entsprechenden Platz zustellen gewusst. Aber Österreich – Österreich, dieses wunderliche, phantastische Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten, Österreich, das das Talent entstehen lässt und sich dann vor ihm fürchtet. Österreich, das den Genius hervorbringt, ihm aber niemals verzeiht und ihn nie verwendet – dieses Österreich bleibt seiner Satzung getreu und hat nicht Platz für seinen glänzenden Sohn. Der Weg des Genius in Österreich führ nach altbewährtem Beispiel in die Einsamkeit, in das Irrenhaus, zum Theater oder – in das Ausland.8

In dem Essay konzentriert sich die Autorin jedoch auch darauf, ihre unbeschwerte Kindheit in dem am See gelegenen Familienhaus nachzuzeichnen. In ihren Erinnerungen folgt sie den jährlichen Besuchen des Onkels, den sie mit überraschend kindlichen Augen betrachtet und etwas unaussprechlich Besonderes ihm gegenüber fühlt. Alfred von Berger, für Gisela ein Genius mit originellen Gedanken, blendenden Sentenzen, fruchtbaren Ideen und Einfällen, ein 6 Gisela Berger, Mein Onkel Alfred Freiherr v. Berger. 1925, Essay 85, in: https://scholarsarchi ve.byu.edu/sophnf_essay/85 (Zugriff 30. 10. 2021). 7 Vgl. ebd. 8 Ebd.

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Liebling des Lebens9, musste auf ihr literarisches Werk maßgeblich eingewirkt haben. Symptomatisch für diese Behauptung können Giselas regelmäßigen mehrwöchigen Besuche im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg sein, wo ihr Onkel zum ersten Direktor berufen wurde. Dort bejubelte sie enthusiastisch die »Aufführungen von einer Kraft und Gewalt des Eindrucks«10, das tiefe Verhältnis des Onkels zum Theater und den in der Szene erfassten Zauber, welcher Giselas Schreibstil eine elegante Sentimentalität und einen fast metaphysischen Charakter verliehen haben mag. Während Gisela Bergers privater Lebensweg in der Sekundärliteratur nur in sehr geringem Maße erwähnt wird, so wird das Bild der Autorin durch die Spuren ihrer aktiven Anteilnahme am österreichischen Geistesleben vervollständigt. In der zeitgenössischen Presse – hauptsächlich bestehend aus bürgerlich-demokratisch ausgerichteten Tageszeitungen wie der »Neuen Freien Presse«, dem »Neuen Wiener Journal«, dem »Neuen Wiener Tagblatt« und der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Wochenzeitung »Arbeiter-Zeitung« – in der Bergers Texte abgedruckt wurden, findet man meist ihr literarisches Talent lobende Rezensionen. Ich halte es für berechtigt, die Aufmerksamkeit auf die Besprechung Bergers literarischer Leistung zu lenken, nicht zuletzt deswegen, weil ihr Werk von mancherlei fantastischen Motiven, welche der Beitrag thematisiert, durchdrungen ist. Von den Kritikern wird sie als eine begabte Erzählerin und Lyrikerin bezeichnet und als eine der schreibenden Frauen, die auch etwas zu sagen haben, deren Werk interessante Konzepte und auch kreative Ideen liefern kann. Diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre des ersten Feuilletons eines unbekannten Autors namens »Das Novellenbuch einer österreichischen Dichterin«, welches Gisela Bergers Novellensammlung mit dem träumerischen Titel »Königskind Seele« gewidmet und im Deutsch-Österreichischen Verlag Wien und Leipzig erschienen ist. Der Artikel nimmt auf Alfred Bergers Aussage Bezug, der »[…] von dem aufstrebenden Talente seiner Nichte eine besonders hohe Meinung hatte, weil sie ihm nicht nur bluts-, sondern auch geistesverwandt war, und […] gelegentlich in einem Gespräch über die dramatische Begabung der Frauen lächelnd gesagt [hat], er habe die beste Absicht, ein Stück seiner Nichte am Burgtheater aufzuführen.«11 Der Autor vertritt auch die These, dass man in der literarischen Physiognomie Gisela Bergers manche Spuren finde, die auf die Familienzugehörigkeit mit ihrem Onkel hindeuten.12 Zur Bekräftigung der Behauptung beruft sich der Autor auf Alfred Bergers autobiografische Veröffentlichungen, in denen erzählt wird, dass die inneren Zu9 Vgl. ebd. 10 Ebd. 11 St-g., Das Novellenbuch einer österreichischen Dichterin, in: Neue Freie Presse, 8. 03. 1914, S. 32–33, hier S. 32. 12 Vgl. ebd.

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stände, die in Giselas Novellen auftauchen, wie »[…] leidenschaftliche Gemütsbewegungen, grüblerische Gedankenmonomanien, beglückende und marternde Träumereien«13 sein Leben entscheidend beeinflussten. Aus dem Text geht deutlich hervor, dass die im modernen Großstadtgewand angesiedelten und im Renaissancestil verfassten Novellen, die eine Mehrzahl von Seelengemälden enthalten, einen Reichtum an Farbennuancen zeigen und dem Leser eine Reihe merkwürdiger, nie zuvor dagewesener Alltagsgeschehnisse anbieten, nur hohes Lob und verdiente Anerkennung ernten können.14 Gisela Berger wandte sich ebenfalls dem Drama zu. Zwei Jahre später erschien im »Neuen Wiener Journal« ein Artikel über die am 20 Mai 1916 uraufgeführten Theaterstücke, bei denen es sich um Gisela Bergers Drama »Der Sonn der Sonne« und das einaktiges Trauerspiel »Oenone« von Alfred von Berger handelt. Der Autor des Textes und Chefredakteur des Tageblattes, Leopold Jacobson, der eine Reihe von Theaterund Operettenkritiken verfasst hat, steht dem Stück, in welchem die Dichterin meisterhaft moderne Gedanken in das alte Ägypten trägt und modernen Menschen fremde Masken aufsetzt15, skeptisch gegenüber. Er bestaunt einerseits Bergers technische Fähigkeiten und die Auswahl und Ausführung des Stoffes, gleichzeitig bemerkt er aber harsch: »Gisela v. Berger hat ihre Gedanken in Gefühle aufgelöst und alles schwimmt durcheinander: Königsgedanke, Staatsgedanke, Weibsteufelei und Engelhaftigkeit. Was sich dramatisch gegliedert hatte und zu äußeren Wirkungen zu führen schien, stürzt schließlich zusammen.«16 Im Schlusswort der kritischen Ausführungen wird Albert Heines kunstvoller Regie und der bildhaften Wirkung des Stückes Beifall gespendet, die der Dichtung wesentlich geholfen hätten.17 Am selben Tag erschien in der »Arbeiter-Zeitung« ein Feuilleton des Redakteurs und Theaterkritikers Engelbert Pernerstorfer, der nach der Aufführung von Gisela Bergers Drama im Burgtheater ihre außergewöhnliche dramatische Begabung wertschätzt. Er lobt die Fähigkeit, die Gedanken der Protagonisten reif und tief darstellen zu können, wie auch die technische Gewandtheit der Autorin.18 Bevor Pernerstorfer ausführlich auf die Handlung des Dramas eingeht, konstatiert er: »Es will schon etwas bedeuten, dass uns das Drama an manche Schöpfung großer Meister erinnert, ohne dass wir 13 Ebd. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. Leopold Jacobson, Burgtheater. (Zum erstenmal: »Der Sonn der Sonne«, ein Drama in fünf Akten von Gisela v. Berger, und neueinstudiert: »Oenone«. Trauerspiel in einem Akt von Alfred von Berger), in: Neues Wiener Journal, 21. 05. 1916, S. 5–6, hier S. 6. 16 Ebd. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Engelbert Pernerstorfer, Burgtheater. (Samstag den 20. d. zum erstenmal: »Der Sonn der Sonne«, Drama in fünf Akten von Gisela Freiin v. Berger. Vorher: »Oenone«. Trauerspiel in einem Aufzug von Alfred Freiherrn v. Berger), in: Arbeiter-Zeitung, 21. 05. 1916, S. 2–3, hier S. 2.

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von Nachahmung sprechen können.«19 Die nächste Rezension stammt aus der »Neuen Freien Presse« und betrifft Gisela Bergers 1919 im Fischer Verlag herausgegebenen Roman »Die törichte Geschichte der Terpsichore Liebenreich«. Den unbekannten Autor des Textes fasziniert die mit der zartesten Hand verfasste märchenhafte, unglückliche Liebesgeschichte, die mit zahlreichen seltsamen Zügen romanhafter Unwahrscheinlichkeit erhalten wird.20 Die leidenschaftliche Märchengeschichte zweier Menschen aus verschiedenen Welten ist für den Verfasser des Artikel eine rührende Romanze über Treue, Seelenqual und Herzenseinfalt, die noch keine Erfüllung der hochbegabten Dichterin ist, aber eine berechtigte Hoffnung dafür, »[…] dass hier auf deutschösterreichischem Boden eine Dichterin heranreift, ernst und unerschrocken genug, mit der Leuchte ihres Talents in seelischen Untiefen Klarheit und Helligkeit zu verbreiten.«21 Zwei zweideutige und für den Beitrag besonders wesentliche Rezensionen beziehen sich auf den historischen Frauenroman »Der wandelnde Tod«. Das in der »Neuen Freien Presse« erschienene umfangreiche Feuilleton von Walter Angel bespricht neben Gisela Bergers noch zwei andere historische Romane: den Debütroman »Der heilige Palast« (1922) mit erotischen inhaltlichen Aspekten von Alma Johanna Koenig und eine chinesische Liebesgeschichte von Gertrude Lent namens »Der Wels«. Walter Angel bezeichnet Bergers unheimliche Geschichte, die in dem alten Wien des Kaisers Joseph II. spielt, weder als das spannendste noch das angenehmste, aber als das wertvollste Buch. Der Rezensent vergleicht den Roman, der im Ton des Gespenstischen eine seltsame Liebesbeziehung zwischen einer leidenden, schönen Bürgerstochter und einem uralten sonderbaren Arzt, der ihr aus schwerer Krankheit das Leben gerettet und sie dem jungen Bräutigam entfremdet hat, mit einem Märchen für Erwachsene, in dem zwischenmenschliche Probleme eine zentrale Rolle einnehmen. Als rätselhafte Seite des Problems betrachtet Angel eine Begebenheit, die sich zum Symbol erweitert, nämlich den Sieg des Alters über die Jugend.22 Im Übrigen begeistert das Werk den Rezensenten »[…] wegen seiner vollendeten Form, der Ausbalancierung alles Stofflichen, dem Aufbau und der Geschicklichkeit, den einmal angeschlagenen Ton des Gespenstischen durch alle Situationen durchzutragen, in einer Sprache von edler Ausgeglichenheit.«23 Resümierend findet Walter Angel alle drei Romane, die den Leser in die Vergangenheit, das Exotische und Gespenstische entführen, die einer gesunden, frischen Fabulierlust entsprungen 19 Ebd. 20 -n.-r, Gisela Berger. Die törichte Geschichte der Terpsichore Liebenreich, in: Neue Freie Presse, 18. 02. 1920, S. 9. 21 Ebd. 22 Vgl. Walter Angel, Frauenromane, in: Neue Freie Presse, 17. 09. 1922, S. 31–32, hier S. 32. 23 Ebd.

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und von guter literarischer Haltung sind, obwohl sie keine Sensation und aufrüttelndes Erlebnis bieten, sehr geglückt und mit einem gewissen besonderen Charme versehen.24 Die konservativ-christliche Tageszeitung »Reichspost« veröffentlicht dagegen eine negative Rezension in Zusammenhang mit Bergers Roman. Hier wirft man der Autorin, die als bekannte Lyrikerin präsentiert wird, vor, mit ihrem Roman in »modern-mystischem Fahrwasser«25 zu segeln, was jedoch die »Verdaulichkeit des Romans«26 nicht fördere. Eine besonders wohlwollende Rezension über Gisela Bergers im A. Hartlebensverlag erschienenes Novellenbuch »Der alte Herr« schreibt für das »Neue Wiener Blatt« die österreichische Schriftstellerin, Lyrikerin und Dramatikerin Dora von StockertMeynert. Die Autorin beeindruckt die Feinheit der Erzählungen und ihre Wesensart, deren Besonderheit durch keine Modesucht oder »Originalitätshascherei«, sondern ausschließlich aus ihrem Inneren heraus bedingt wird.27 Ähnlich wie die vorhergehenden Geschichten bieten auch die Novellen eine Flucht aus der Wirklichkeit und führen in die düsteren unverständlichen Seiten der menschlichen Natur, die häufig der Vorstellungskraft des Menschen entspringen. Die Autorin schließt den Artikel mit Gisela Bergers Worten, die als Motto ihrer schriftstellerischen Arbeit gelten können: »Jeder von uns braucht tief in seiner Seele, an einer verborgenen Stelle ihres Gartens, den Winkel der Träume, der Fantasie, der Hoffnung, des Wunderbaren!«.28 Dieses Zitat steht auch in Verbindung mit ihren Gedichten, von denen viele bereits in Zeitschriften und Zeitungen, allen voran in der »Neuen Freien Presse« und im »Neuen Wiener Tagblatt« abgedruckt wurde. Die Rezensionen des 1936 in Wien im Europäischen Verlag erschienenen Gedichtbandes »Glocken vom Jugendland« von Berger sind voller Bewunderung ihres Talents. Fasst man die Besprechungen zusammen, so entsteht der Eindruck, dass diese den Stil ihres Schreibens und ihre Motive, die sich durch all ihre Werke ziehen, wiederspiegeln. Nicht ohne Grund hat sie es verdient, als eine Romantikerin und Träumerin bezeichnet zu werden. In allem, was Gisela Berger hervorbrachte, spürt man das Herz der Dichterin, das nach Dingen, die es nicht haben kann, strebt und eine Träumerin, die die tiefen Fragen in eine einfach natürliche Form kleidet und ihnen eine ungekünstelt bildhafte Gestalt verleiht.29 In diesem Geiste 24 Vgl. ebd. 25 -n.-r, Von neuen Büchern. »Der wandelnde Tod« von Gisela Berger, in: Reichpost, 31. 12. 1923, S. 5. 26 Ebd. 27 Vgl. Dora Stockert-Meynert, Giesela Berger: »Der alte Herr«, in: Neues Wiener Blatt, 17. 09. 1926, S. 6. 28 Ebd. 29 Vgl. Max Roden, Österreichische Lyriker »Tor aus dem Dunkel«, in: Volks-Zeitung, 31. 12. 1935, S. 8.

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ist auch der Roman »Der wandelnde Tod« geschrieben, der das Verborgene und Traumhafte mit sich bringt und der aufgrund seiner Wesenszüge und Ausdrucksformen als romantisch bezeichnet werden kann. Gisela Bergers Roman ist in der Modeströmung der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit verankert, in der die Idealisierung der habsburgischen Welt und die Flucht in die Sentimentalität bei der breiten Leserschaft beliebt war. Es handelt sich hier um ein Werk, das eine schon standardisierte Dimension eines Mythos wiederholt. Dieser bezieht sich auf das Milieu der Kaiserstadt, wird verkörpert durch traditionelle habsburgische Figuren, wie wunderschöne Frauen, elegante Offiziere oder treue Diener und zeigt die Begeisterung für die äußerlich farbenfrohesten Seiten der versunkenen Monarchie.30 Aus der Sicht des auktorialen Erzählers, der nur im ersten Kapitel in Form eines Ich-Erzählers in die geheimnisvolle Atmosphäre des alten Wiens einleitet, wird hier eine wundersame, unwirkliche und märchenhafte Liebesgeschichte erzählt, in der nicht die eigentliche Handlung, sondern manche Figuren und gewisse Einzelheiten der Geschichte eine Faszination und einen metaphysischen Charakter verleihen. Dieser Handlung fehlt es zwar an Spannung, jedoch gelingt es der Autorin durch die originelle Ausdrucksweise sehr anschaulich die Szenerie des wienerischen Gemüts zu schildern, Gefühle der Protagonisten meisterhaft darzustellen und vor allem die Stimmung eines Schauerromans, der mit einer düsteren Form der Detektivgeschichte assoziiert werden kann und den Leser, vor allem die Leserinnen, in die alte Epoche versetzt, zu erzeugen. In der seltsamen Geschichte, die sich in der alten Stadt abspielt, finden sich Anklänge an die Literatur der Schauerromantik, die sich in unzähligen Fällen dadurch auszeichnen, dass die Protagonisten sich auf ihre Gefühle und nicht auf das Analytische konzentrieren, dass sie das Emotionale über das Empirische stellen. Bevor Bergers Roman jedoch der Schauerromantik zugeschrieben wird, sollen zuvor die romantischen Motive im Allgemeinen erläutert werden. Im deutschen Sprachraum verbindet sich der Begriff Romantik mit der Heraufbeschwörung einer poetischen Welt voller Harmonie und Freiheitsräume, mit der Wiederentdeckung des Mittelalters, der Märchen und Volkslieder sowie der »Nachtseiten des Lebens«31. Mario Praz verbindet das Wort ›romantisch‹ nicht nur mit einer Gruppe von Begriffen wie magisch, suggestiv, sehnsüchtig, sondern auch mit Wörtern, die unaussprechliche Seelenzustände ausdrücken. Infolgedessen besteht für Praz das Wesen der romantischen Empfindung im Unaussprechlichen, wobei in extremen Fällen das Romantische sich mit dem 30 Vgl. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 2000, S. 292. 31 Brockhaus-Enzyklopädie in zwanzig Bänden, Bd. 17, völlig neu bearbeitete Aufgabe, Wiesbaden 1973, S. 113.

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Mystischen identifiziert.32 Die Popularität des Begriffes ›romantisch‹ ist also so groß, dass er in seiner Vielseitigkeit nicht mehr auf eine eingegrenzte Definition zurückgeführt werden kann. In unserer Zeit hat sich das Wort Romantik nicht weniger als die Schwarze Romantik verselbstständigt und entwickelt sich in verschiedenen Variationen. Die Unterströmung der Romantik, die Schwarze Romantik, die auch als ›Schauerromantik‹ bezeichnet wird, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht mehr mit dem Guten und Schönen, sondern mit der dunklen Seite der Psyche beschäftigt und insbesondere auf die Elemente des negativen und Bösen zurückgreift.33 Daher scheint das Romantische vor allem mit solch fantastischen Elementen wie dem Wunderbaren, Unheimlichen, Ungewöhnlichen und dem Übersinnlichen assoziiert zu werden. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs Romantik lässt sich auch in der Betrachtung des Schwarzen als Farbe analysieren. In der Kulturgeschichte wird schwarze Farbe oft mit den verborgenen Kräften wie Tod, Angst oder Trauer in Verbindung gebracht. Für Jürgen Klein, der das Schwarz auf die Literatur der Schwarzen Romantik überträgt, bedeutet dies: »Das Schwarze und Dunkle, ja auch der Schatten wird mit der Dämonie von Handlung, Ort und Protagonist verbunden über des Helden geheimnisvolle Herkunft, überhaupt mit Verdacht auf furchtbare Schuld, düstere Leidenschaften, melancholischen Ausdruck und geheimnisvolle Augen«.34 Für die Schwarze Romantik sind fantastische Elemente, also übernatürliche Geschehnisse oder Erscheinungen, konstitutiv. Dies wird auch von Marianne Wünsch so betrachtet, die in Bezug auf die Grundlage der fantastischen Literatur der frühen Moderne schreibt, dass schon ein Ereignis in Form eines Einbrechens des Irrealen in eine reale Welt ein Werk zu einem fantastischen mache.35 Alle aufgeführten unterschiedlichen Erscheinungsformen, die auf übernatürlichen Wesen, Ereignissen und anderen unerklärlichen Vorgängen beruhen, treten in Gisela Bergers Roman auf. Selbstverständlich ist die angesetzte Zeit der Handlung zu Lebzeiten des Kaisers Joseph II. kein Merkmal für die Fantastik, gehört jedoch zu den Elementen, die dem Buch einen deutlich schwarzromantischen Charakter verleihen, zusammen mit den übernatürlichen Phänomenen, die mit der wundersamen Liebesgeschichte einhergehen, die vielleicht erlebbar, aber nur schwer erfassbar sind. Hinzu kommt die geheimnisvolle Titelgestalt, die unter den Stadtbewohnern Todesangst verbreitet. Im Verhalten des Hauptprotagonisten, der für einen Hexenmeister gehalten wird, werden ebenfalls solche 32 Vgl. Marion Praz, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1994, S. 40–41. 33 Vgl. Rolf Wilhelm Brednich (Hg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 11, Berlin 2004, S. 1291. 34 Jürgen Klein, Schwarze Romantik. Studien zur englischen Literatur im europäischen Kontext, Frankfurt am Main 2005, S. 10. 35 Vgl. Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 1991, S. 16.

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Erscheinungsformen des Übernatürlichen deutlich, wie beispielsweise die Verbindung von Wissenschaft und Magie und das Motiv des angeblichen Teufelspaktes. Wesentlich für das Genre der fantastischen Literatur ist die Atmosphäre des Unheimlichen, welche sich aus dem Nicht-Erklärbaren und Nicht-Erfassbaren herleitet. Schon im ersten Kapitel spürt man den Schauder des Übernatürlichen und des Bedrohlichen, der mit der Emotion der Angst verbunden ist. Dieses Gefühl wird hier durch die Konfrontation des Lesers mit dem Hauptprotagonisten, im ersten Kapitel als der seltsame Wandler dargestellt, hervorgerufen und bleibt den ganzen Roman über bestehen. Die sonderbare Geschichte über Achatius Lebetanz hat sich »[…] in der alten Stadt, die heute unter dem glatten Asphaltpflaster versunken und verschwunden liegt, wie ein Märchen im tiefen See, dessen Wellen nichts von seinem Geheimnis verraten«36 ereignet. In Form eines Märchens, wo Elemente der modernen, realen und vergangenen, magischen Welt miteinander verwoben sind, beginnt der Roman und im Weiteren wird der Leser mit der Genese der geheimnisvollen Geschichte vertraut gemacht. Der Spaziergang des Erzählers »[…] über die weiße, starre Zauberseefläche des glatten Asphalts der heutigen form- und wesenzerronnenen Riesengroßstadt«37 beginnt in einer ganz besonderen Nacht, »[…] in der der Wunderstern des Märchens am Himmel stand. Der das Bild der heutigen Stadt verblassen machte in unwesenhaftem Schein und das Märchen der alten Stadt emportauchen ließ, wo es versunken war«.38 Wie verzaubert spürt er den spuckhaften Schritt, der ihn während des Spaziergangs zu verfolgen scheint. Er geht durch die Stadt, bis er in die kleine Gasse, in der er wohnt, einbiegt. In seiner Wohnung angekommen, betritt er das Arbeitszimmer, setzt sich an seinem Schreibtisch und bemerkt hinter sich den altmodisch, aber luxuriös gekleideten Arzt Achatius Lebetanz.39 Die eigentliche Handlung beginnt im zweiten Kapitel »Der Gast der Eßstube im Ochsenfuß« in einer Gastwirtschaft, wo Achatius Lebetanz das teuerste Gericht des Lokals verzehrt und von der Bedienung, die es vermeidet, unnötig in seiner Nähe zu sein, ehrfurchtsvoll behandelt wird. Bereits in der Einleitung wird der Leser an die unbekannten Sphären und die damit einhergehenden Mächte herangeführt. Allein durch Lebetanz’ fremdartige Physionomie spürt man eine direkte Emanation der irrealen, überirdischen und unerklärlichen Kräfte. Er erscheint wie ein Wesen aus der Unterwelt, aus anderen Dimensionen oder Zeiten, wie ein sonderbarer Mann mit geheimnisvoller Herkunft, der sich durch bestimmte Abnormalitäten auszeichnet. Besonders unbegreiflich ist sein wunderlich hohes Alter, das genau nicht zu berechnen ist. Die 36 37 38 39

Gisela Berger, Der wandelnde Tod, Wien 1922, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd. Vgl. ebd., S. 9–10.

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Stadtbewohner, von denen niemand ihn persönlich kennt, glauben an den baldigen Tod, wenn man ihm begegnet, und bekreuzigen sich unbemerkt dabei. Auch hat niemand den Mut, ohne einen geweihten Gegenstand bei sich zu tragen, an seinem verschlossenen Haus vorbeizugehen, denn man denkt, er braue dort Unheil: Er hat etwas an sich, was Vertraulichkeit und Gemeinschaft ausschließt. Schon, wenn wir so sagen dürfen, seine Art und Weise, alt zu sein. Er hat vor allem ein Alter, das nicht zu berechnen ist. Er sieht zuweilen wie hundert Jahre alt aus und dann wieder jung und nur wie früh vertrocknet. […] Wie auch Achatius Lebetanz’ Physiognomie und Erscheinung eine sonderbare ist. Ein Gesicht, in dem alles Menschliche ausgelöscht scheint wie alles Negative in dem steinernen Kratergerippe eines ausgebrannten Sternes. Das nichts erzählt von einem vergangenen Schicksal. Im Gegenteil alles Schicksal höhnend negiert. […] Eine Physiognomie, aus der ein spöttisch überlegenes Ignorieren alles Menschlichen spricht. Dass das wenige Menschliche, das im eigenen Wesen schier physisch nur etwa bestehen blieb, am liebsten bespeien möchte.40

Die dunkle Seite von Achatius Lebetanz’ Natur, seine unter den Bürgern einen Schauder erregende Beschaffenheit oder der Glaube an die dämonische Macht sind Elemente, welche die schwarzromantische Atmosphäre evozieren. Ein weiteres Element, welches das Schaurige gestaltet und das Gefühl des BedrohlichUnheimlichen hervorruft, ist der Einbruch einer teuflischen Kraft in die reale Welt. Es handelt sich hier nicht um einen wahrhaftigen Teufel, sondern eher um gewisse Erscheinungsformen des Satanischen, die charakteristisch für den Hauptprotagonisten sind und sich durch die ganze Handlung des Romans ziehen. Die Metamorphosen des Satanischen, die in der Schwarzen Romantik als häufige Motive auftreten und die Gisela Berger in ihren Roman einführt, sind Existenz nach dem Tode, eine Art des Teufelspakt, Nutzung schwarzer Magie und Verführung einer Frau.41 Achatius Lebetanz’ Alter, welches nicht als »menschlich einzureihen«42 ist, der Volksglaube an seine Zauberkräfte oder die Furcht der Stadtbewohner, mit ihm direkt in den Kontakt zu treten, sind Merkmale, die eine übernatürliche, beinahe teuflische Existenz verkörpern, die nicht der menschlichen Norm unterworfen ist. Das sind Elemente, die vom Erzähler im Darstellungsteil des Protagonisten nur kurz angedeutet werden, die jedoch im Verlauf der Handlung noch deutlicher hervortreten. Gisela Berger führt den Leser in einen ganz engen Kreis an Personen ein, in deren Leben Achatius Lebetanz auftaucht und ihr Schicksal radikal verändert. Im Lokal »Zum Ochsenfuß« begegnet er einem jungen, gutaussehenden, in Uniform

40 Ebd., S. 12–13. 41 Vgl. André Vieregge, Nachtseiten. Die Literatur der Schwarzen Romantik, Frankfurt am Main 2008, S. 88, 90, 97. 42 Berger, S. 12.

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gekleideten Soldaten namens Christian von Horst, der mit Freunden und Kameraden den Waffenstillstand mit Wein feiert. Viel Aufmerksamkeit wird seinem auffällig lauten Verhalten und seiner charmanten Naivität geschenkt, die man aufgrund seines unbekümmerten jungen Alters rechtfertigen kann und die ihn besonders unter den anderen lärmenden Kameraden auszeichnet: Christian von Horst war hübsch und jung und sprühte Jugend und Torheit aus, wo er ging und stand. Und nahm den Mund voll mit Worten, die klangen und deren Klang ihn entzückte, ohne daß er merkte, daß sie oft nur leere, bunte, leichte Gesätze waren, in denen kein Fünklein eines Gedankens glomm. Er mußte aber den Mund auftun und reden, denn er war glücklich, lebhaft und jung. Es erstickte ihn sonst. […] Jetzt war er inzwischen nur albern, aber es sei gesagt, er war reizvoll albern, weil seine Albernheit aus quellender Jugend sprang.43

Schon berauscht, hält er dort eine kurze Rede zu Ehren des jungen Kaiser Joseph II. und will, dass alle ein Prosit auf ihn ausbringen. Nur Achatius Lebetanz lehnt es voller Ironie ab, auf das Wohl des Kaisers ein Glas Wein zu trinken. Selbst im vierten Kapitel »Eine ungreifbare Persönlichkeit« wird deutlich, dass die Konfrontation der Protagonisten bedrohliche und fantastische Züge annimmt und das Übernatürliche in Erscheinung tritt. Auf den ersten Blick ist Achatius Lebetanz dem jungen Soldaten »als eine besondere Erscheinung«44 aufgefallen, mit seinem grauen, ausgebrannten Kratergesicht, das auf Christian von Horst hochmütig, bitter und widerlich zu wirken schien.45 Als symptomatisch für Achatius Lebetanz’ unerklärliches und einen Schauder erregendes Alter ist die Art und Weise anzusehen, wie er verweigert, einen Toast auf den Kaiser auszubringen: Kein Mensch ist berechenbar, bevor er tot ist. Wenn ich allen Menschen und Kaisern, die ich erlebt habe und die etwas versprachen – und ich versichere Ihnen, ich sah deren genug – so töricht zugejauchzt hätte, wie Sie jetzt dem Ihrem, so trüge ich heute eine zerbrochene Welt in mir oder wäre selbst lang zerbrochen.46

Das Kapitel endet mit einer für den Roman charakteristischen Erzählform, die dem Märchenstil gleicht, nämlich einer Ankündigung des weiteren Geschehens. Der Erzähler weckt die Neugier des Lesers, indem er verkündet, dass dem ersten zufälligen Treffen ein nächstes, aber von ganz anderer Art folgen werde. In den vorangehenden Kapiteln »Der Wandelnde Tod« und »Das Gespenst in der Stadt« steigt die Spannung jedoch, da sich die unheimliche Atmosphäre auszuweiten scheint. Von Beginn an ruft Achatius Lebetanz’ Blick Unbehagen hervor und dazu verbreitet sich in der Stadt das Gerücht, er habe eine tödliche Seuche, die er 43 44 45 46

Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 27.

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in einem Laboratorium kocht, über die Stadt gebracht. Für die Bürger ist er mit dämonischen Kräften ausgestattet und ausgesandt, um in der Stadt Unheil anzurichten, denn er solle Geschehnisse wie Krankheits- und Todesfälle manipuliert haben: Als etliche Tage danach der Ausbruch der Seuche bekannt ward, erinnerte man sich dieses seltsam gespenstigen Tuns des »Wandelnden Todes«, und es bestand für keinen gescheiten Menschen ein Zweifel mehr, daß er im Dämmern jenes Morgens mit seiner weitbauchigen Flasche das Unheil ausgegossen hatte über die Stadt. Ja, es wollte ihn nun sogleich die Phantasie des Nachts in den verschiedensten Teilen der Stadt bei gleichem Werke erkannt und gefunden haben. Er war der Schöpfer, der Lenker der Seuche und der, in dessen Macht allein im Ganzen und einzelnen ihre Abwendung lag.[…] Man glaubte, daß man sterben müsse, wenn man Achatius Lebetanz begegnete.47

Die Prophezeiung scheint sich zu bewahrheiten, nachdem in einem bürgerlichen Haus »auf dem Kornmarkt, der vornehmsten Straße der Stadt«48 eine unheimliche Krise, nämlich »das Gespenst des großen Sterbens«49 eintrifft. Eine schöne Bürgerstochter, Zypriane von Seewalt, Christian von Horsts Verlobte, ist plötzlich einer tödlichen Krankheit verfallen. Die Angst vor der übernatürlichen Macht, also vor dem durch die Stadt wandelnden Tod, wird sowohl der höheren als auch der niederen Dienerschicht mitgeteilt. Analysiert man alle Inhalte, die direkt Zyprianes Erkrankung entsprechen, wird deutlich, dass die stilistischen Mittel, die Gisela Berger anwendet, auf klassische Varianten der Gespenster- und Schauergeschichte verweisen. Formulierungen, die eindeutig eine Gruselatmosphäre verbreiten, signalisieren eine schwarzromantische Erzählung. Aufzuführen sind unter anderem der schwarze Tod, den Zypriane von Seewalt in sich trägt, die blau aufgeschwollen, wie ein lebendiger Leichnam in ihren Kissen liegt, Fräulein Eveline, eine Kammerjungfer, die so totenbleicher Schwäche ist, dass sie die nötigen Verrichtungen nicht leisten kann, die Kammerjungfer Marianne, die wie eine Wahnsinnige im Hause umherläuft, alles falsch macht und bei jeder Kleinigkeit hysterisch aufschreit, als spränge ihr ein Gespenst in den Nacken und trotz aller Liebe zu Zypriane kaum dazu zu bewegen ist, deren Gemach zu betreten, oder die anderen Bedienten, die vor Schrecken davon laufen und nicht aufzufinden sind.50 Als Zypriane von Seewalt auf dem Sterbebett liegt und die hervorragendsten Ärzte aus der Stadt entweder ihr Kommen für zwecklos erklären und ihre Behandlung aufgeben oder ohne in das Krankenzimmer eintreten zu wollen hoffnungsvolle Diagnosen aufstellen, ist nur Christian von Horst der einzige, der mit tobender Eifersucht auf Zyprianes nahenden Tod und des 47 48 49 50

Ebd., S. 47. Ebd., S. 48. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 54.

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Priesters heilige Handlung reagiert.51 Seine Entscheidung, den Hexenmeister und Unheilbringer, Achatius Lebetanz, den man geheimnisvoll für einen alten kenntnisreichen Arzt hält, um Rettung zu bitten, bildet den Höhepunkt des Romans. Die späteren Ereignisse können die zuvor aufgestellten Vermutungen über seine übernatürlichen Kräfte bestätigen. Denn Zypriane von Seewalt, bei der man schon »die Flecken der Verwesung auf Stirn und Händen«52 erkennen konnte, wird durch Achatius Lebetanz’ Kunst dem Tode entrissen. Nach ihrer Genesung verbringt Zypriane unter Aufsicht ihres Arztes viel Zeit in ihrem Haus, das ihr seitdem »wie verwandelt und verzaubert«53 erscheint. Auch fühlt sie, dass seit ihrer Krankheit das Leben ein zweites Mal neu und viel lebendiger in ihr aufblüht. Für Christian von Horst ist der Einfluss des Arztes auf Zypriane und jene große Veränderung, die seit der Krankheit mit ihr vorgegangen ist, ebenfalls bemerkbar. Er fühlt sich verdrängt, beiseite gestellt, zurückgesetzt und reagiert verärgert, wenn Achatius Lebetanz von Zypriane erwartet wird: Ihr ganzes Wesen war irgendwie anders geworden. Früher war sie von lachender Anmut, hell bis zum Grunde, heiter, verliebt und mädchenhaft wild in ihrer Zärtlichkeit, […]. Jetzt lag eine Weichheit um sie, der tiefere Ernst eines sinnenden Wesens, ein träumender, suchender Blick in den graublauen Augen.54

Zypriane entfremdet sich ihrem Bräutigam, ist tief zerstreut und scheint abwesend und verwandelt zu sein. Nachdem sie gestanden hat, Achatius Lebetanz so zu lieben, wie sie noch keinen Menschen geliebt habe und dass sie ohne ihn nicht leben kann55, fängt das unermüdliche Ringen der Rivalen um sie an. Achatius Lebetanz bittet Christian von Horst auf Knien, Zypriane ihm zu überlassen und erklärt dem jungen Bräutigam seine wunderliche Liebe zu der Frau, die er vom Tode erweckt hat: Heute hängt mein Herz an diesem wundersamen Geschöpf, wie ich nie hätte glauben können, dass dies alte, schlechte, zerstörte Ding an einem Menschen hängen könne. Nicht in der Art von Liebe, wie sie es meinen, Herr von Horst, aber so, wie jemals nur ein Vater an seinem Kinde hing, ein Künstler an seinem Werke oder – lassen sie es mich sagen, […] denn es ist ja doch so – wie Gott an seiner Schöpfung hängt! […] Sie ist mir wie ein feines, wundersames Instrument, das ich allein zu spielen weiß und das in fremden Händen zerbrechen muss.56

Christian von Horst bleibt jedoch unerbittlich und fünf Wochen später, nach der Abreise des Arztes aus der Stadt, vermählt er sich mit Zypriane. Lebetanz’ letzte 51 52 53 54 55 56

Vgl. Ebd., S. 56–59. Ebd., S. 83. Ebd., S. 90. Ebd., S. 105–106. Vgl. ebd., S. 152. Ebd., S. 164.

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Worte, dass er es vermag, Zypriane auch gegen seinen Willen ihm zu entreißen und an sich zu fesseln57, erweisen sich als prophezeiend. Zypriane ist in der Ehe unglücklich und Christian von Horst erscheint seine Frau oftmals abwesend, auch wenn sie im Raum anwesend ist: »Ihr Leben trat bis in ein mechanisches Abspiel der täglichen Gewohnheiten und Gepflogenheiten zurück. Nur ihre nächtlichen Träume schienen voll fernen, farbigen Lebens, aus denen sie dann mit umso fremderen Augen am Morgen in diese Welt zurückzukehren schien.«58 Nach der Hochzeitsreise stellt Christian von Horst fest, dass Zypriane aus ihm unerfindlichen Gründen ihr Herz vollständig von ihm abgewandt hat. Alle seine Bemühungen, sie für sich zu gewinnen, bleiben fruchtlos und alle Vergnügungen und Geschenke, mit denen er sie überhäuft, vermochten keine Änderung herbeizuführen. Nach zwei Ereignissen, dem Tod von Zyprianes Vaters und der Totgeburt ihres Kindes, verschlimmert sich die Situation. Zypriane stirbt, obwohl sie sich körperlich bester Gesundheit erfreute. Das Ende der wundersamen Liebesgeschichte gleicht einem Märchen. Es bleibt ungeklärt, ob Achatius Lebetanz ein Gaukler, Hexenmeister, Wahnsinniger oder ein geheimnisvoller Mensch war, der durch unergründbare Anlage oder fremdartige Eigenwirkungen des Wesens sich aus den sogenannten natürlichen Grenzen herausheben und übernatürliche Dinge vollbringen kann, die über die menschliche Vernunft hinausgehen.59 Sein Geheimnis überlässt die Autorin den Tiefen der habsburgischen vergangenen Stadtgeschichte, die im Roman einen sentimentalen und metaphysischen Charakter erlangt. Bei der Inhaltsanalyse wurde versucht, auf Gisela Bergers Darstellung einer düsteren, unheimlichen Atmosphäre und des undurchschaubaren, geheimnisvollen Arztes Achatius Lebetanz zu verweisen. Deutlich rücken hier die schauerlichen Elemente und Stimmungen in den Vordergrund und das Übernatürliche und Unerklärbare greift in das Menschenleben ein. Zu den anderen fantastischen Motiven der Schwarzen Romantik, die im Roman aufgezeigt werden und das Bild der schauerlichen Liebesgeschichte vervollständigen, gehören das Teuflische, welches eng mit dem Assoziationsbereich des Todes verbunden ist, das Motiv der magischen Kraft, der geheimen Wissenschaft und die Verführung durch das Böse. Ein fester Bestandteil der Literatur der Romantik ist außerdem die Liebe. Es ist ein Gefühl, welches in seiner Ursprünglichkeit solchen Tugenden wie Unschuld, Reinheit oder Frömmigkeit entspricht und in Bergers Roman in der Figur der schönen Zypriane von Seewalt seine Verkörperung findet. Das Motiv der Liebe, die hier als Gegenteil des Bösen auftritt, ist selbstverständlich nicht nur auf die Literatur der Schwarzen Romantik beschränkt. Das Element des Bösen wird 57 Vgl. ebd., S. 168. 58 Ebd., S. 193. 59 Ebd., S. 201–202.

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hier durch Achatius Lebetanz personifiziert, der wie ein schwarzromantischer Magier oder Wissenschaftler sich mit Bereichen beschäftigt, die über das menschliche Verständnis hinausgehen und dadurch bedrohlich erscheinen. Seine Zauberkünste, die sich mit der wissenschaftlichen Lehre überschneiden, bemerkt Christian von Horst auf der Schwelle zu Lebetanz’ unheimlichen Hauses. In einem hohen und elegant eingerichteten Zimmer befinden sich mächtige Bücherregale und der andere Raum scheint eine Art Laboratorium oder Zauberküche zu sein, wo große Kasten mit leeren und gefüllten Flaschen stehen. Nachdem Achatius Lebetanz von seinem Gast erfuhr, er habe die an der Seuche erkranke Braut berührt, befeuchtet er mit einer stark riechenden Flüssigkeit Horst’ Hände, Mund und Wangen und behaucht ihn von oben bis unten, seinen Hut und Handschuhe wie auch den vorher von ihm eingenommenen Sitz mit einer aromatisch riechenden Dampfluft.60 Dies sind die einzigen Indizien, die Christian von Horst davon überzeugten, er sei am rechten Ort beim wirklichen Arzt. Schnell haben sich jedoch des Volkes Gerüchte über seine unheimliche Macht bewahrheitet. Nachdem Achatius Lebetanz angefangen hat, dem Gast zu raten, sich von allem zu trennen, was krank, sterbend und menschlich ist, denn das Menschliche sei der Anfang von Krankheit und Tod, wird für Christian von Horst die ganze Umgebung des Hauses spuckhaft und grauenvoll.61 Lebetanz’ dämonische Kraft nimmt an Stärke zu, als er sich wie jemand aufführt, der das Geheimnis des langen Lebens erkannt und entdeckt hat und den Schleier seines Altersgeheimnisses lüftet: Ich will Ihnen mein Alter nicht nennen, damit sie mich nicht für einen Scharlatan halten. […], es beträgt eine Ziffer von Jahren, daß Sie auf die Erde hinsitzen müßten vor Staunen, wenn sie es hörten. Eine Ziffer, […], wie sie nur in der Bibel vorkommt und dort nur, weil man die Zeit unrichtig berechnete.62

Es ist auffällig, dass Achatius Lebetanz teilweise die Merkmale des Mythos eines ewig wandernden und heimatlosen Juden trägt. Mit dem Motiv des ewigen Juden verbindet ihn der ähnliche Name, Ahasver oder auch Ahasverus, seine unbekannte Herkunft oder seine grauenerregenden Gesichtszüge. Bergers Protagonist kann ebenfalls an Salignac, die furchterregende Figur mit den übernatürlichen Fähigkeiten aus dem historischen Roman »Der Marques de Bolibar« (1920) von Leo Perutz, erinnern. Ähnlich wie Achatius Lebetanz ist auch Salignac eine unsterbliche und absonderliche Figur mit befremdlichem Aussehen, die im Roman als eine undurchschaubare und erschreckende Gestalt beschrieben ist.63 60 61 62 63

Vgl. ebd., S. 66, 69–70. Vgl. ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Vgl. Veronica Jaffé Carbonell, Leo Perutz. Ein Autor deutschsprachiger phantastischer Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, München 1986, S. 89.

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Achatius Lebetanz als auch jemand, der sich »aus den Fesseln der Erde«64 befreien konnte und dessen Kunst als Arzt größer ist als je ein Mensch sie besessen habe und mit der er die Welt erobern konnte, erinnert an ein in der schwarzromantischen Literatur nahezu klassisches Motiv, welches sich in den meisten Texten, die das Motiv des Teufelspakts aufgreifen, finden lässt. Im Roman tritt der Protagonist nicht als Teufel auf, es finden sich jedoch einige Attribute, die bereits auf die sonderbare Identität des Mannes verweisen. Achatius Lebetanz’ Gestalt gebührt hier besondere Aufmerksamkeit. Obwohl sein unheimlich steinernes kraterhaftes65 Gesicht abschreckend wirkt, ist sein Äußeres gepflegt und von sorgfältiger Eleganz. Er kleidet sich altmodisch, aber alles, was er trägt und benutzt, ist »von ausgesuchter, fast luxuriöser Feinheit.«66 Einmal ist er in einen »schwarzsamten Schlafrock mit rotem Aufschlag gehüllt«.67 Die schwarzrote Farbgebung ist ein charakteristisches Merkmal, welches man traditionell mit dem Teufel assoziiert. Unterstützt wird dieser Eindruck durch Lebetanz’ ungewöhnliches Giebelhaus, das »mit seinem verschlossenen Tor und den verhängten Fenstern wie ein Gesicht aussieht, das auf mysteriöse und feindliche Weise Mund und Augen von der Außenwelt verschließt.«68 Aber er tritt hier nicht so auf wie der Teufel in Adalbert von Chamissos Kunstmärchen »Peter Schlemihls wundersame Geschichte«, der den Protagonisten mit dem Versprechen der Erlösung zu seinem Schatten lockt, sondern er zieht sich in die Isolation zurück und vereinsamt. Schließlich kann auch Zypriane von Seewalts wundersame Genesung auf das Eingreifen teuflischer Mächte deuten. Achatius Lebetanz nutzt, ähnlich wie die Figur des klassischen Teufels, seine überirdischen Kräfte und verführt die Frau. Nachdem Zypriane vor dem Tod gerettet wird, wendet sie sich von dem Geliebten ab und ist seitdem der Anziehungskraft des alten Mannes vollkommen verfallen. In Bergers Roman handelt es sich nicht um einen traditionellen Pakt, welcher Achatius Lebetanz mit dem Teufel eingeht, jedoch sind die Teufelsemanationen in Zypriane von Seewalts und Christan von Horsts Schicksal wahrnehmbar. In allen hier aufgeführten Motiven, die auf die fantastischen Elemente der Literatur der Schwarzen Romantik hindeuten, finden sich auch Verbindungen zu anderen Autoren dieser Gattung, wie zum Beispiel zu Ernst Theodor Amadeus Hoffmann oder Adalbert von Chamisso. Dies könnte Gisela Bergers Interesse an der Literatur bezeugen, in der das Irreale, Zauberhafte, Unheimliche, Traumhafte und Melancholische dominiert, obwohl es dafür in ihrer Biografie keine Prämissen gibt. Allerdings gelang es ihr mit diesem Roman nicht, die Grenzen 64 65 66 67 68

Berger, S. 74. Vgl. ebd., S. 38. Ebd., S. 13. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 64.

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eines sentimentalen Romans mit historischem Hintergrund zu überschreiten. Man könnte zu der Ansicht gelangen, dass Gisela Berger in ihrem Buch von dem Topos des idyllischen und sentimentalen Wiens deshalb nicht abweicht, da dieser Roman aus einem inneren Bedürfnis heraus entstand. Er ist auch ein Teil der Literatur der Wiener Moderne, die Motive wie Tod, Identitätskrise, Individualismus oder Einsamkeit aufweist. Das gesamte literarische Werk der Autorin ist sehr umfangreich und thematisch so vielfältig, dass man darin auch ihr anderes Gesicht finden kann. Besondere Aufmerksamkeit verdienen ihre Feuilletons, erschienen in der »Neuen Freien Presse«, in denen sie sich als eine moderne und emanzipierte Frau mit feministischen Ansichten offenbart. Alle diese Veröffentlichungen bilden ausreichend Material für eine separate wissenschaftliche Arbeit, die über das Thema der fantastischen Elemente dieses Beitrags hinausgeht.

Susanne Blumesberger (Wien)

»Schreiben, was mir am Herzen liegt« – ein Blick auf historische Werke von Hertha Pauli

Der folgende Beitrag fokussiert vor allem auf zwei historische Werke der mehrfach begabten, erfolgreichen und vielseitigen Hertha Pauli. Neben ihrer Karriere als Schauspielerin, Journalistin und Schriftstellerin ist vor allem ihr Schreiben für Kinder und Jugendliche in ihrem Exil in Erinnerung geblieben. Dabei hat sie, aus einer intellektuellen und zum Teil jüdischen Familie stammend, vor allem auch für ihre akribisch recherchierten und spannend erzählten historischen Werke positive Rezensionen erhalten, auf die hier näher eingegangen werden soll. Trotz ihres großen Bekanntheitsgrades in Österreich in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts – zahlreiche Rezensionen und Theaterkritiken in Tageszeitungen und Zeitschriften zeugen davon – und ihres beachtlichen Oeuvres, das in den USA nach ihrer gewaltsamen Vertreibung aus Wien entstand, ist sie heute der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, nur wenige ihrer Bücher wurden in letzter Zeit neu aufgelegt. Vor allem ihre Biografien über Ferdinand Raimund und seine große Liebe Toni Wagner »Toni. Ein Frauenleben für Ferdinand Raimund« (1936) sowie über Erzherzog Franz Ferdinand »The Secret of Sarajevo. The Story of Franz Ferdinand and Sophie« (1965), bzw. auf Deutsch »Das Geheimnis von Sarajevo« (1966), sollen hier im Fokus stehen.

1.

Hertha Pauli – unvergessen?1

Hertha Pauli wurde am 4. September 1906 in Wien in eine begabte und intellektuelle Familie, die im sogenannten »Cottage«, einem Villenviertel im Wiener Bezirk Döbling wohnte, geboren. Ihr Großvater Friedrich Schütz (1844–1908) war Schriftsteller und Redakteur der »Neuen Freien Presse«, ihre Großmutter Bertha Schütz (1847–1916), geb. Bertha Dillner von Dillnersdorf, Hofopernsängerin. Ihr Vater Prof. Wolf(gang) Pauli (1869–1955) war als Arzt und Biochemiker an der 1 NN, Ihre Bücher sind unvergessen. Vor einem Jahr verschied die Schriftstellerin Hertha Pauli, in: Sonntagsblatt Staatszeitung und Herold 9./10. 02. 1974.

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Universität Wien tätig. Ihre Mutter Bertha Schütz (1878–1927) war Journalistin bei der »Neuen Freien Presse« und in der Frauenbewegung aktiv. Das berühmteste Familienmitglied aber war ihr Bruder Wolfgang Pauli (1900–1958), der als Nuklearphysiker 1945 den Nobelpreis erhielt. »Hertha Pauli hat demnach außer geistig geklärtem Wienertum als persönliches Erbgut noch die Schärfe analytischen Denkens und die ewig lebendige Sehnsucht dichterischen Fühlens mitbekommen. Dies alles ist aber für sie nicht etwa ein Ruhekissen, auf dem sie sich sorglos und in blauer Romantik hineinträumen läßt, sondern mußte ihr die Grundlage sein zum Aufbau eines selbständigen, beruferfüllten Lebens und Sicherhaltens«2, schreibt über Hertha Pauli der Rezensent Hans Herrdegen 1937 in der Zeitschrift »Radio-Wien«. Paulis schriftstellerisches Talent zeigte sich schon sehr früh. Sie begann schon als Achtjährige Gedichte und Erzählungen zu schreiben und als sie nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Kindertransport nach Dänemark geschickt wurde, begann sie Märchen von Hans Christian Andersen zu dramatisieren. Gleichzeitig fühlte sich Hertha Pauli zur Schauspielerei hingezogen und nahm, gegen den Willen ihrer Mutter, die eine Lehrerinnenlaufbahn für ihre Tochter vorgesehen hatte, bei der bekannten Schauspielerin Hedwig Bleibtreu, die schon mit vier Jahren in Ferdinand Raimunds Stück »Der Verschwender« auf der Bühne stand, Unterricht, bevor sie die Schauspielschule in Wien besuchte. Sie wurde Schülerin von Jacob Feldhammer und trat bereits 1922 am Akademietheater auf. 1923 brach sie trotz glänzender Zensuren3 die Schule ein Jahr vor der Matura ab. Vom Intendanten Paul Barnay im März 1925 ans Breslauer Lob- und Thaliatheater geholt, spielte sie an den Wiener Kammerspielen und wurde 1927 von Max Reinhardt nach Berlin gebeten.4 Sie erhielt gute Kritiken, die »Wiener Morgenzeitung« schrieb am 18. August 1927 über die damals 21-jährige anlässlich ihres Auftritts im Stück »Sie darf keinen Sohn haben«: »Das junge Fräulein Hertha Pauli gibt ein Mädel von heute und ist recht laut und spielfreudig. Wir wollen hoffen, daß mit der Zeit auch ihr Spiel Freude macht.«5 Wie die weiteren Kritiken in den diversen Zeitungen zeigen, wurde sie gelobt und als sehr begabt bezeichnet, wenn auch noch als etwas unerfahren.6 1929 heiratete sie den Schauspielkollegen Carl Behr und ließ sich 1932 scheiden. Behr verstarb 1934. Die Jahre 2 Herrdegen Hans, Hertha Pauli, in: Radio-Wien, 26. 11. 1937, S. 3. 3 Vgl. Katrin Jilek, Hertha Pauli, »Nur in meinem Kopf«, in: Bernhard Fetz u. a. (Hg.), Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung, St. Pölten 2013, S. 140–149, hier S. 140. 4 Brigitte Dalinger, »[…] da kann man nix machen. Sie ist fürs Theater geboren«, in: Susanne Blumesberger / Ernst Seibert (Hg.), »Eine Brücke über den Riss der Zeit…«. Das Leben und Wirken der Journalistin und Schriftstellerin Hertha Pauli (1906–1973), Wien 2012, S. 73–89, S. 74f. 5 O. A., Bühne und Kunst, in: Wiener Morgenzeitung, 18. 8. 1927, S. 6. 6 Vgl. Dalinger 2012, S. 78.

Ein Blick auf historische Werke von Hertha Pauli

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bis 1933 sind nur spärlich dokumentiert. Pauli widmete sich in dieser Zeit, eventuell auch durch ihre Familie beeinflusst, vornehmlich dem Schreiben, wo sie selbst Charaktere schuf, anstatt in ihre Rolle zu schlüpfen. Sie schrieb 1928 ihr erstes Hörspiel, später Gedichte und Feuilletons und veröffentlichte u. a. im »Simplicissimus«, in der »Jugend«, im »Berliner Tageblatt«, in der Prager »Bohemia« und in »Tempo«. Mit dem Schriftsteller, Kabarettisten und Grafiker Peter Hammerschlag, der 1942 im Konzentrationslager Auschwitz umkam, verfasste sie mehrere Sketche für den »Lieben Augustin«. 1933 kehrte sie aufgrund der politischen Verhältnisse in Deutschland nach Wien zurück und betrieb mit dem Redakteur Karl Frucht, der sie ein Leben lang begleiten sollte, die »Österreichische Korrespondenz«, eine literarische Agentur, die jeden Monat eine Broschüre mit Beiträgen Prominenter herausgeben sollte und die Aufgabe übernahm, zwischen Zeitungen und Zeitschriften der ehemaligen k.u.k. Monarchie und österreichischen SchriftstellerInnen zu vermitteln. Besonders Carl Zuckmayer und Franz Theodor Csokor unterstützten das Projekt, das sich sehr erfolgreich entwickelte. Der Neuanfang in Wien dürfte dennoch recht schwierig gewesen sein, Briefe an Manfred Georg, die in der New Library der University of Albany, New York, liegen, belegen dies.7 Pauli schrieb weiterhin für Zeitungen und Zeitschriften unter anderem über das Theater, wie etwa den Artikel »Der Totenschädel des Apostels«, der am 25. März 1936 in »Der Wiener Tag« erschien. 1936 erschien ihr erster Roman. In »Toni« zeichnete sie die Liebes- und Leidensgeschichte zwischen Ferdinand Raimund und »Toni« Wagner nach. Mit diesem und mit dem nächsten, 1937 erschienenen Roman »Nur eine Frau«, der sich Bertha von Suttner widmete, hatte sie großen Erfolg.8 Der Bertha-vonSuttner-Roman, der auch als Hommage an ihre 1927 durch Selbstmord verstorbene Mutter, die in der Frauenbewegung sehr aktiv gewesen war, gelesen werden kann, wurde jedoch am 8. März 1938 in Deutschland auf die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« gesetzt. Am 13. März 1938 floh sie, dank einer Rettungsaktion von Mrs. Roosevelt und Thomas Mann für Antinazischriftsteller, mit Karl Frucht über die Schweiz nach Paris, wo sie noch den Tag vor Horváths Tod, in den sie sich bereits 1931 verliebt hatte, mit ihm verbrachte. Sie führte auch in Frankreich ihre literarische Agentur weiter und verfasste antifaschistische Texte, die, in harmlose, weitverbreitete Bücher eingebunden, nach Deutschland geschmuggelt wurden. Kulturpolitische Beiträge erschienen zwischen 1938 und 1939 in der »Pariser Tageszeitung«. 1940 ging sie nach Marseille und legte mit ihrer Unterschrift unter ein Telegramm an Thomas 7 Vgl. Evelyne Polt-Heinzl, Zeitlos. Neun Porträts. Von der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin Deutschlands, Wien 2005, S. 142. 8 Vgl. auch Ilse Korotin, Hertha Pauli als Biografin, in: Blumesberger / Seibert 2012, S. 197–209, hier 200–203.

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Mann einen Grundstein zur Gründung des Emergency Rescue Committees, das später, vertreten durch Varian Fry9, viele Leben von jüdischen KünstlerInnen und Intellektuellen retten sollte. Mit Karl Frucht kam sie über einen Schmugglerweg über die Pyrenäen nach Spanien und weiter nach Portugal. In der Nacht vom 3. auf den 4. September verließ Hertha Pauli auf der »Nea Hellas« Lissabon und kam am 12. September in New Jersey an. Ihre Flucht schilderte sie zunächst in Fortsetzungen in vier Folgen ab dem 11. Oktober 1940 im »Aufbau« unter dem Titel »Tagebuch einer Flucht«, erst 1970 erschien ihr Werk »Der Riß der Zeit geht durch mein Herz«. Sie konnte daraufhin ihre Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen erneuern und erhielt viele Aufträge. Außerdem arbeitete sie für die Wissenschaftsredaktion der Zeitung »PM« und war selbst im Emergency Rescue Committee tätig. 1941 ging sie nach Hollywood und wurde Sekretärin von Walter Mehring, der für die Filmgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer arbeitete. Ab 1942 lebte sie wieder in New York. Ihre Biografie »Alfred Nobel. Dynamite King – Architect of Peace« hatte großen Erfolg und wurde schließlich von E. B. Ashton, eigentlich Ernst Basch (1909–1983), den Pauli 1951 heiratete, ins Deutsche übersetzt. Eine Begegnung mit einem Amerikaner, der das Lied »Stille Nacht« für ein amerikanisches Volkslied hielt, führte dazu, dass sie die Geschichte des Liedes aufschrieb. Das Manuskript gelangte in die Jugendbuchabteilung von Thomas Manns amerikanischem Verleger Alfred A. Knopf. Damit begann ihre erfolgreiche Karriere als Kinder- und Jugendbuchautorin. Ihre an Kinder und Jugendliche gerichteten Werke handelten meist vom katholischen Brauchtum und von christlichen Legendengestalten. 1948 übersiedelte sie zusammen mit ihrem Mann, Walter Mehring und dessen Frau Marie-Paule Tessier, auf eine Tabakfarm in New England und 1952 in ein eigenes Haus auf Long Island. 1952 kam sie erstmals wieder nach Wien und von da an besuchte sie ihre Heimatstadt einmal im Jahr und unternahm zahlreiche Europareisen. Sie hielt oft Lesungen und Vorträge. Ihre Erinnerungen galten bald als Klassiker unter den Autobiografien. Pauli war nebenbei u. a. Mitarbeiterin des »Aufbau«, der »Praline«, und des »Reader’s Digest«. 1971 erkrankte sie an Krebs, die Ernsthaftigkeit ihrer Krankheit wurde ihr auf Wunsch ihres Ehemannes verschwiegen. So stellte sie mit ihm noch Texte und dokumentarisches Material für eine englischsprachige HorváthAnthologie zusammen und plante ein weiteres autobiografisches Werk unter dem Titel »Laterna Magica«. Das Manuskript ist in ihrem Nachlass zu finden. Im September 1972 hatte sie ihren letzten Auftritt in Wien im Rahmen einer Gedenkfeier für Peter Hammerschlag. Sie starb am 9. Februar 1973 in New York. Beerdigt ist sie, wie sie es sich gewünscht hatte, am Döblinger Friedhof. 9 Varian Fry, geboren 1907, studierte an der Harvard Universität, war Redakteur bei verschiedenen Kulturzeitschriften, 1940 Mitbegründer des »Emergency Rescue Committees«, auch nach dem Krieg dort Mitarbeiter, setzte sich für die politisch Verfolgten aus aller Welt ein.

Ein Blick auf historische Werke von Hertha Pauli

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Was ist von Hertha Pauli, die ab 1939 Mitglied des europäischen P.E.N.-Clubs war und ab 1956 Mitglied des US-amerikanischen P.E.N.-Zentrums, 1967 das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich erhielt, geblieben? Die »europäische Erscheinung«, wie sie Fritz Hochwälder nannte, ist heute in der Öffentlichkeit kaum noch präsent. Immerhin wurden zwei ihrer Werke kürzlich neu aufgelegt: ihr 1959 erschienener Roman »Jugend nachher10 der den Umgang mit der NS-Vergangenheit thematisiert, und ihr Buch »Stille Nacht«.11 Hertha Paulis Nachlass kam 1987 in die Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek. Er umfasst 36 Kartons und zeigt nicht nur, wie sorgfältig die »Vielschreiberin und Universalliteratin«12 gearbeitet hatte, sondern auch die Vernetzung mit anderen KünstlerInnen, unter ihnen, um nur einige zu nennen, Franz Theodor Csokor, Mimi Grossberg, Paul Frischauer, Karl Frucht, Lion Feuchtwanger, Fritz Hochwälder, Ödön von Horvath, Stella Kadmon, Gina Kaus, Hermann Kesten, Alma Mahler, Joseph Roth, an dessen Stammtisch im Pariser Café Tournon sie teilnahm, Friedrich Schreyvogel, Hilde Spiel und Franz Werfel. Sie war keinesfalls ausschließlich die Begleitung einiger berühmter Männer, sondern aktiver Teil eines bedeutenden Netzwerkes und – wie sie sich selbst sah – eine »Brückenbauerin«.13

2.

Hertha Paulis Blick in die Vergangenheit

»Hertha Pauli gehört zu jenen jungen österreichischen Dichtern, für die das Erbgut österreichischer kultureller Tradition der feste Boden ist, von dem aus sie sich das Weltbild der Gegenwart aufbauen«14, schreibt Hans Herrdegen anlässlich einer Lesung 1937 in der Zeitschrift »Radio Wien« und preist dabei ihre »sachliche Klarheit«.15 Ihre zentralen Themenbereiche waren »Frieden, Freiheit, Österreich und immer auch das Exil«.16 Wie ihre zahlreichen Manuskriptversionen, ihre umfangreiche Korrespondenz mit SchriftstellerInnen und Verlagen 10 2019 im Wiener Milena Verlag erschienen. 11 2009 unter dem Titel »Hertha Pauli. Das Lied vom Himmel: Die Geschichte des Liedes ›Stille Nacht, Heilige Nacht‹ und andere Weihnachtsgeschichten« in Wien in der Edition Gutenberg herausgegeben. 12 Clemens Ottawa, Österreichs vergessene Literaten. Eine Spurensuche, Wien 2013, S. 15. 13 Das Zitat stammt aus einer handschriftlichen Widmung an Karl Frucht in Hertha Paulis Buch »Gateway to America. Miss Liberty’s First Hundred Years«, das sich in der österreichischen Nationalbibliothek befindet. (1,170.699-B-Neu) 14 Herrdegen 1937, S. 3. 15 Ebd. 16 Guy Stern, Hertha Pauli, in: John M. Spalek / Joseph Strelka (Hg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2, T. 1, Berlin 1989, S. 752–771, hier S. 759.

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sowie ihre Aufzeichnungen zeigen, hat sie die Aufarbeitung der Vergangenheit sehr ernst genommen und für jedes Buch akribische Recherchen durchgeführt. Der Blick zurück, vor allem in ihre alte Heimat, war für Hertha Pauli sehr wichtig. Sie, die als »junges Talent in der Fremdsprache und auf fremden Gebieten neu durchbricht, abbricht und wieder durchbricht; in die Muttersprache zurückfällt, aber nie dabei bleibt, immer wieder anderswo aufblüht und doch nirgends zur Reife kommt«17, wie es der Germanist und Exilexperte Guy Stern, der 1937 selbst ins Exil geflohen war, als typisch für das Exil bezeichnet, hat die gewaltsame Vertreibung aus ihrer Heimat nie verwunden. Aufzeichnungen und Briefe zeigen dies, aber auch ihre Werke geben deutliche Hinweise darauf, dass das Nachexil Paulis nicht ganz freiwillig war.18 In einem Nachruf hieß es: »Wenn sie geheimnisvoll zwei Bögen in die Luft zeichnete, dann meinte sie damit den Kahlen- und den Leopoldsberg«.19 Mit scharfem Verstand, großer Einfühlsamkeit in ihre Figuren, was eventuell eng mit ihrem Erfolg als Schauspielerin zusammenhängt, lässt sie vergangene Zeiten wieder auferstehen, zeigt mit ihren in der Vergangenheit angesiedelten Texten jedoch deutlich auch zeitgenössische Tendenzen und Probleme auf, etwa in ihrem Roman »Toni«, der auf die damaligen Anforderungen auf Frauen verweist, auf Opferbereitschaft, Duldsamkeit und auf die Rolle der Unterstützerin der Männer.

3.

»Toni. Ein Frauenleben für Ferdinand Raimund«

Hertha Paulis Roman »Toni. Ein Frauenleben für Ferdinand Raimund« erschien 1936 im Wiener Zsolnay Verlag, drei Jahre nach der Rückkehr Paulis nach Wien, als die politische Situation schon sehr bedrohlich wurde und Pauli sich gemeinsam mit Walter Mehring im Rahmen der literarischen Agentur intensiv für geflüchtete SchriftstellerInnen einsetzte. Nicht auszuschließen ist, dass Pauli in diesem Roman ihre schwierige Liebe zu Ödön von Horváth, den sie nicht heiraten konnte und durch den Tod verlor, literarisch bearbeitet. Pauli spielte in Horváths »Geschichten aus dem Wienerwald«. Aus der Bekanntschaft wurde eine Liebesaffäre, die mit Paulis Selbstmordversuch endete, nachdem sie von seinem Vorhaben erfahren hatte, Maria Elsner zu heiraten.20 17 Ebd., S. 766. 18 Vgl. Susanne Blumesberger, Spuren des Nachexils in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich 1 (2020), S. 47–70. 19 In memoriam Hertha Pauli, in: Die Presse, 30/31. 10. 1973, S. 5. 20 Vgl. Nicole Streitler-Kastberger, Im Schatten einer Totenmaske, oder: »Liebe ist nur eine fixe Idee…« – Hertha Pauli und Ödön von Horváth, in: Blumesberger / Seibert 2012, S. 172–196, hier S. 177–181.

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Auf 298 Seiten erzählt Pauli aus dem Leben von Ferdinand Raimund und seiner großen Liebe Toni Wagner. Die Handlung beginnt im Jahr 1819. Toni, 18 Jahre alt, soll sich endlich verloben, der reiche und einflussreiche Rohrweck, dessen Familie eine Wiener Porzellanmanufaktur besitzt, wäre den Eltern, denen ein Kaffeehaus gehört, gerade recht. Doch Toni hat sich in den jungen mittellosen und zunächst auch erfolglosen Schauspieler Raimund verliebt. »Bist du verrückt, einen Menschen vom Theater ernst zu nehmen?« ist die erste Reaktion, als Antonia, von allen Toni genannt, ihrer Mutter ihre Liebe zu Raimund, der immer wieder das Kaffeehaus besucht, gesteht.21 Die Theaterleute schienen der Mutter als »ein sittenloses Pack« und Ferdinand Raimund hatte einen besonders schlechten Ruf, denn er war bereits wegen »Weibergeschichten«22 eingesperrt gewesen. Da die Mutter in der Familie ein strenges Regiment führte, dem sich sogar der Vater unterwerfen musste, bleibt ihr nur die Heimlichkeit. Sie trifft sich das erste Mal am Auferstehungstag, dem 10. April 1819 nach dem Kirchgang mit dem 29-jährigen. Anschaulich schildert Pauli aus der Sicht Tonis das gesellschaftliche Leben in der Stadt und beschreibt die Verehrung des Kaisers auf den Straßen von Wien. Zugleich lässt sie auch das Bild von Ferdinand Raimund neu erstehen, der den Verwünschungen seines Vaters zum Trotz zum Theater ging. Die häufig verwendete direkte Rede im Text lässt die LeserInnen nahe am Geschehen sein und an den ersten Erfolgen und Misserfolgen des labilen Komikers teilhaben. Toni, die bisher nur die Arbeit im Kaffeehaus gekannt hat, ist durch ihn wie verzaubert, wird aber auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als Raimund bei ihren Eltern um ihre Hand anhält und rüde abgewiesen wird. So verzweifelt Toni auch ist, aber sie rebelliert nicht, denn »Auflehnung lag nicht in ihrem Wesen«23. Raimund, tief in seiner Ehre getroffen, lässt sich daraufhin von Luise, eigentlich Aloisia Gleich, verführen. In der Folge täuscht sie ihm vor, dass das von ihr erwartete Kind von ihm ist. Die erzwungene Hochzeit macht eine gemeinsame Zukunft mit Toni unmöglich. Geschickt verbindet Pauli immer wieder die Gegenwart mit der Vergangenheit. So hat Raimund seit seiner Kindheit Angst, von einem tollwütigen Hund gebissen zu werden. Das wird zum ersten Mal deutlich, als er von seiner Frau bei einem Streit noch vor der Hochzeit in die Hand gebissen wird, das zweite Mal, als ihn ein Hund beißt und er fürchtet, er könne Tollwut haben, und das dritte Mal, als sein eigener Hund ihn beißt und er in Panik Selbstmord begeht. Als Raimund Luise heiratet, wenn auch von der Familie Luises mit List erzwungen, wird Toni klar, dass sie – anstatt sich zu fügen – hätte handeln müssen. Deshalb schlägt sie die Heirat mit dem reichen Fabrikanten Rohrweck aus, die ihr Sicherheit und gesellschaftlichen Aufstieg 21 Hertha Pauli, Toni. Ein Frauenleben für Ferdinand Raimund, Wien 1936, S. 8. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 44.

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verschafft hätte, und trifft sich mit Raimund heimlich. Nach seinem großen Theatererfolg von »Alpenkönig und Menschenfeind« 1828 gratuliert Toni Ferdinand Raimund. Die folgende Szene zeigt das Leiden und die Opferbereitschaft Tonis: Da umarmte sie Ferdinand vor Freude; er konnte manchmal wie ein Kind werden, der Ferdinand. Sie zog seinen Kopf an ihre Brust und streichelte liebkosend die strenge Stirn. Schweigend blieben sie so. Wie gerne hätte Toni ein Kind von ihrem Ferdinand gehabt. Das durfte wohl nie sein?24

Die lebenslange Liebe Tonis zu Raimund, die alle Hindernisse und die Zeit überdauert, wird von Pauli idealistisch, beinahe kitschig-romantisch dargestellt. In ihrem Roman, der einerseits aus der neoromantischen Tradition der Wiener Moderne schöpft, andererseits an die zu dieser Zeit besonders populären biografischen Romane anknüpft, bedient sich Pauli absichtlich der Mechanismen der Trivialliteratur, um den Unterhaltungsgeschmack ihrer Leserinnen zu treffen. Deswegen scheut Pauli auch bei der Gestaltung ihrer weiteren Frauenfiguren vor der pauschal begriffenen weiblichen Psychologie und ebenso selten vor der Schwarz-Weiß-Malerei zurück. Luise Gleich, die Zeit ihres Lebens zwischen den Liebenden steht, wird von Pauli als durch und durch verdorben geschildert. Von ihrem Vater mit 14 Jahren an einen reichen Gönner vermietet, empfindet sie keine Schuld oder Scham zu betrügen und Lügen zu erzählen. Als ihre kleine Tochter, die Raimund inzwischen ins Herz geschlossen hat, stirbt, scheint sie froh zu sein, das ungewollte Kind los zu sein. Therese Krones dagegen, die in den Stücken Raimunds brilliert und in Raimund heimlich verliebt ist, wird trotz ihrer Demut vom bösen Schicksal eingeholt. Ihre Liaison mit dem Raubmörder Severin von Jaroszynski endet mit seiner Hinrichtung. Sie zieht sich daraufhin aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und kann schließlich von Raimund wieder dazu bewegt werden, ans Theater zurückzukehren, bis sie, durch eine Lungenkrankheit geschwächt, nicht mehr auftreten kann. Ihr letzter Besuch gilt Raimund und Toni, die sich über dem Kaffeehaus von Tonis Eltern eine kleine Wohnung eingerichtet hatten und mit ein paar SchauspielerkollegInnen eine Einweihungsparty veranstalteten. Kurz darauf stirbt Therese Krones mit neunundzwanzig Jahren. Pauli schildert in ihrem Roman auch die Intrigen und Konkurrenzkämpfe zwischen den KünstlerInnen. Legendär war beispielsweise die Rivalität zwischen Nestroy und Raimund, die jedoch nicht in dem Maße nachweisbar ist, wie zu Lebzeiten der beiden kolportiert und von Pauli übernommen wurde. Als Johann Nestroy auch in Wien immer beliebter wird, entschied Raimund nach einem Besuch einer seiner Vorstellungen: »›Komm‹, sagte er kreidebleich, ›das kann ich 24 Ebd., S. 244.

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nicht, neben Nestroy bin ich nichts mehr, machen wir halt Platz.‹«25 Zur Sprache kommt aber auch die harte Wirklichkeit abseits von Bühne und Applaus, wie sie beispielsweise Therese Krones durchleben musste. Auch Franz Grillparzer, der sich aufgrund der damaligen Rahmenbedingungen nicht wirklich so entfalten konnte, wie er wollte, und ein steter Begleiter Raimunds war, kommt in Paulis Roman mehrmals zu Wort. Nach Raimunds Selbstmord widmet ihm Toni in Gutenstein ein Grabmal zum Andenken, bei dem sie nur ihre Initialen setzt: »[Sie] zog sich scheu aus aller Welt zurück und verbarg die Erinnerung an ihre Liebe sogar vor der eigenen Familie, der in Raimunds tragischem Ende eine Strafe des Himmels erblickte wegen seiner sündhaften, ohne kirchliche Weihe geschlossenen Verbindung mit Toni.«26 Toni, die nach dem Tode Raimunds seinen Nachlass verwaltet, wehrt sich gegen das Ansinnen, dass der Rivale Raimunds, Johann Nestroy, dessen unfertige Manuskripte vollenden sollte. Durch das Erbe reich geworden unterstützt Toni ihre Mutter, die in Geldsorgen geriet, bis sie selbst das ganze Vermögen verliert und auf die Unterstützung ihrer Geschwister angewiesen wird. Der Roman wurde zunächst von der Presse begeistert rezensiert. Unter dem Titel »Raimunds Toni« heißt es in »Der Wiener Tag« vom 27. September 1936: Hertha Pauli verarbeitet geschickt auch alles Anekdotische aus Raimunds Leben in dieses Bild seiner geliebten Toni. Man erfährt, wie die Krones entdeckt wurde, wie sie den Mörder Severin von Jaroszinsky, ihren Bräutigam, zum letzten Mal vor der Hinrichtung sieht, wie Grillparzer und Raimund zueinanderkommen, wie das erste Damenzimmer, durch eine Glaswand vom übrigen Raum getrennt, in einem Wiener Café geöffnet wurde. Es sind hübsch kolorierte, anspruchslose Bilder in der Art der farbigen Stiche, aus Bäuerles »Wiener Theaterzeitung«, die Hertha Pauli aneinanderreiht. Erst dahinter ist das Dämonische der Raimundschen Welt zu ahnen. […] Raimunds Toni aus der Vergessenheit ins Licht der so leicht undankbaren Wirklichkeit gestellt zu haben, ist ein Verdienst, das jeder Freund österreichischer Dichtung und Kultur gern anerkennen wird.27

»Toni war das geborene Opfer«28 heißt es weiter. Sie musste immer um ihren Raimund kämpfen, konnte nie seine Frau werden und verlor ihn schließlich an den Tod. Trotz des geerbten Vermögens, das sie an ihre Familie abtrat, lebte sie in Armut und wurde von ihren Geschwistern schlecht behandelt. Die Briefe von Raimund wurden nach dessen Tod als Makulatur an einen Greißler verkauft, der daraus Tüten machte. Durch Zufall wurde ihr Wert erkannt, die Korrespondenz konnte zum Teil gerettet und publiziert werden.

25 26 27 28

Ebd., S. 283. Ebd., S. 295. o.m.f, Raimunds Toni, Der Wiener Tag, 27. 09. 1936, S. 21. Ebd., S. 21.

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Eher den Fokus auf Raimund selbst gerichtet, schreibt Hans Herrdegen 1937 den damaligen sprachlichen Gepflogenheiten entsprechend in »Radio-Wien«: Eine Frau sieht mit männlich klaren Augen, geleitet von den Schwingungen einer Frauenseele, auf das wechselvolle und leidvolle Erleben der Liebe Raimunds zur Wiener Kaffeesiedertochter Toni Wagner. Ein Erleben, das dieses widerspruchsvolle Genie in seinem Innersten erschütterte, oft aus der Bahn zu werfen drohte, aber doch immer wieder in den schicksalsbestimmten Ablauf des kurzen Lebens zurückzwang. Ein Buch, das in weitesten Kreisen größte Beachtung gefunden hat.29

Für den Rezensenten steht damit Raimund selbst im Vordergrund des Romans. Toni ist nur ein Spiegel, durch den der Künstler betrachtet wird. Im »Allgemeinen Tiroler Anzeiger« vom 19. Juni 1937 heißt es noch emotionaler, doch auch in dieser Rezension steht Ferdinand Raimund und nicht das Leben der opferbereiten Toni Wagner im Mittelpunkt. Es wird niemanden geben, auf den die Innigkeit und Tragik des Verhältnisses zwischen Ferdinand Raimund und Toni Wagner keinen tiefen Eindruck macht. Hertha Pauli hat ohne Verbiegung historischen Tatbestandes in fesselnder Weise ein altwienerisches Kulturgemälde mit meisterhafter Lebensdarstellung des großen österreichischen Dichters und Schauspielers verbunden. Sein Leben und Leiden kommt uns in dem tragenden Mitleiden seiner Gefährtin im Leben ganz nahe. Man ist ergriffen von dem tiefinnigen Verstehen einer Frau, die durch eine Frau ihre Rechtfertigung erfährt. Ein versöhnender Schimmer aus himmlischen Höhen verklärt Schuld und Schmerz.30

Der biografisch-historische Frauenroman Paulis wurde trotz der guten Kritiken nicht mehr neuaufgelegt – während der nationalsozialistischen Zeit waren Paulis Werke verboten und nach dem Zweiten Weltkrieg ist Hertha Pauli im deutschsprachigen Raum in Vergessenheit geraten. Auch die Forschung hat sich des Toni-Romans wenig angenommen und die Literatur ist spärlich, nicht zuletzt aus dem Grund, dass der Roman einerseits der Unterhaltungsliteratur, andererseits dem eher verfemten biografischen Roman zugeordnet wurde. Die Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin Evelyne Polt-Heinzl betrachtet den Roman als »eine Kompromisslösung zwischen dem Geschmack des austrofaschistischen Literaturbetriebs und Hertha Paulis Interesse an Frauenfiguren«.31 Der Einschätzung Polt-Heinzls, »[f]ür das Erstlingswerk einer 27-jährigen ist das Buch im großen Bogen durchaus anspruchsvoll angelegt, von der Tendenz her wirkt es stark in der Zeit verhaftet«32, ist zuzustimmen. Toni, die Tochter eines Kaffeehausbesitzers, die sich bis zum tragischen Ende Raimunds rührend sorgt und auf 29 Herrdegen 1937, S. 3. 30 Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 19. 06. 1937, S. 8. 31 Evelyne Polt-Heinzl, Neun Porträts. Von der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin Deutschlands, Wien 2005, S. 144. 32 Ebd.

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alles verzichtet, wird der damaligen Zeit entsprechend zunächst als fügsam geschildert. Der Freiraum, in denen sich Frauen ihrer gesellschaftlichen Schicht bewegen durften, war sehr eng bemessen, was auch am obigen Zitat erkennbar ist, wenn beschrieben wird, dass selbst die Anwesenheit einer durch eine Glaswand von den männlichen Kaffeehausbesuchern getrennte Frau als unschicklich galt. Allen Verboten zum Trotz bricht Toni ein Stück weit aus diesem engen Korsett aus, wird die Lebensgefährtin Raimunds, zugleich aber auch geächtet, da den damaligen Bestimmungen nach, auch nach Beendigung der Ehe, diese aufrecht blieb. Aufgrund der Ehe Raimunds mit der Schauspielkollegin Luise, die als kalt und herzlos geschildert wird, hat Toni trotz Scheidung keine Chance auf eine Heirat und Kinder mit ihrem geliebten Ferdinand. Pauli ist damit nicht nur ein historischer Bericht gelungen, sie hat dabei auch die Situation der Frau am Ende des 18. Jahrhunderts geschildert und gleichzeitig, durch ihre eigenen Theatererfahrungen, die Welt des Theaters mit all den Intrigen und Abgründen sehr lebendig beschrieben. Wie Paulis Nachlass zu entnehmen ist, existierte kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten bereits ein Film-Exposé des Romans. Auf der Basis eines anderen Raimund-Romans wurde jedoch rasch ein anderes Filmmanuskript verfasst, der Drehbuchautor übernahm anscheinend Szenen aus Paulis Roman und es kam sichtlich zu einer Anschuldigung wegen Plagiats. Was wollte Pauli mit diesem Roman aussagen? Er erschien in einer Zeit, in der das Leben in Österreich bereits stark durch den aufkommenden Nationalsozialismus, durch Antisemitismus und durch den drohenden Zweiten Weltkrieg geprägt war. Das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Wien, das Pauli in ihrem Roman so eindrucksvoll schildert, ist Vergangenheit. Die Depression, mit der Ferdinand Raimund während seines gesamten Lebens zu kämpfen hatte, hat inzwischen viele Menschen erfasst. Die Komik reicht bei diesen politischen Zuständen nicht mehr aus. Bei der Betrachtung der Frauenfiguren in diesem Roman lassen sich Parallelen zur Gegenwart herstellen. Toni, die aus der Tradition auszubrechen versucht und sich gegen die Eltern stellt, ist jedoch machtlos gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen und bleibt bis ans Lebensende in ihrer Opferrolle, obwohl sie sich ansatzweise gegen Widerstände wehrt. Sie behält beispielsweise den Hund, der später indirekt zum Selbstmord Raimunds führt. Toni steht schließlich für die den Frauen aufgezwungene Rolle dieser Zeit, die nicht zuletzt auch mit dem stärker werdenden Nationalsozialismus wieder enger wurde. Therese Krones ist ebenfalls ein Opfer ihrer chronischen Krankheit, ihrer uneingestandenen Liebe zu Raimund und schließlich auch eines Mörders. Auf der anderen Seite sieht man Luise Gleich, der es gelingt, durch Tricks und Tücke ihr Leben so zu gestalten, wie sie es will, die genauso empathielos mit ihrem Geliebten verfährt wie mit ihrem ersten Kind, das wahrscheinlich aufgrund von Vernachlässigung stirbt. Tonis Mutter bleibt in diesem Roman meist im Hin-

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tergrund. Zunächst aus gesellschaftlichem Dünkel gegen die Hochzeit ihrer Tochter mit Raimund sieht sie ihren Fehler später ein und versucht ihre Fehler wieder gut zu machen. Am Ende nimmt sie Toni jedoch erneut alles weg, indem sie das Erbe ihrer Tochter für die Tilgung ihrer Schulden verwendet. Die Schilderung der Gesellschaft aus der Zeit Raimunds trifft aber auch den Nerv der damaligen Zeit und zeigt unter anderem die Rolle der Frau auf, der es nicht gelingt, die ihr auferlegten Schranken zu überwinden. Hauptmotiv des Romans ist das Schicksal, dem man nicht entrinnen kann, weder entkommt Raimund seinen zahlreichen Ängsten, die Familie Tonis nicht dem gesellschaftlichen Abstieg und Toni wird nie Raimunds Frau. Man könnte den Roman auch in die Wiener Moderne verorten, denn letztendlich strebt alles dem Verfall zu, wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Spannungen werden beschrieben, ebenso wird das Seelenleben der Menschen eingehend beschrieben, wo man auch den Einfluss von Sigmund Freud erkennen kann. Der Hundebiss deutet beispielsweise auf eine verdrängte Libido hin. Interessant ist jedenfalls, dass der Roman aus der Sicht von Toni geschrieben wurde. Hertha Pauli fühlte sich gut in diese liebende und alles Leid geduldig ertragene Frau ein und hat damit einen heute zu Unrecht vernachlässigten Frauenroman verfasst. Hertha Pauli skizziert neben einem Unterhaltungsroman und einer unglücklichen Liebesgeschichte zeitgenössische Frauentypen und weist auf gesellschaftliche Konventionen hin. Auf der einen Seite sind dies Frauen, die der Opferrolle entsprachen, wie etwa Therese Krones, die trotz ihres Erfolges unglücklich ist und früh stirbt, oder Toni, die ihre konventionell vorgegebene Rolle zu sprengen versucht, jedoch ebenfalls an ihrem Versuch scheitert. Auf der anderen Seite zeigt Pauli Luise Gleich, die als kalt, gefühllos, und ohne jegliche Mutterinstinkte geschildert wird, ihren eigenen Weg ohne Rücksicht geht, aber ebenso kein Glück findet. Auch Tonis Mutter, die zunächst eher auf gesellschaftliche Anerkennung als auf das Glück ihrer eigenen Tochter schaut, ist am Ende kein Glück beschieden. Aber auch die Männer finden in Paulis Roman keine Ruhe. Neben dem im Hintergrund gebliebenen Vater schildert Pauli vor allem Raimund als eine tragische sich selbst zerstörende Gestalt. In eine ungewollte Heirat getrieben, findet er nie mehr Ruhe.

4.

»Das Geheimnis von Sarajevo«

»The Secret of Sarajevo. The Story of Franz Ferdinand and Sophie« erschien zunächst 1965 im Verlag Appleton-Century-Crofts (New York, London). Bei Collins kam ein Jahr später eine zweite Auflage auf den Markt. Unter dem deutschen Titel »Das Geheimnis von Sarajevo« wurde das Werk 1966 im Verlag

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Zsolnay verlegt. 1970 erschien bei der Deutschen Buchgemeinschaft ein Band mit 22 Kunstdruckbildern, 1978 bei Bastei Lübbe (Bergisch Gladbach). Paulis Nachlass zeigt, dass sie weitreichende Recherchen für dieses Buch unternommen hatte, unter anderem im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, wie eine Auflistung der Bilder und Rechnungen beweist.33 Knapp dreißig Jahre nach dem Erscheinen von »Toni« griff Pauli erneut das Thema einer unglücklichen Liebe, die scheinbar alle Konventionen bricht und dennoch nicht siegen kann, auf. Pauli lässt in ihren Text zahlreiche historische Details einfließen, verknüpft damit jedoch auch die Schilderung der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht ohne auch auf Gerüchte und Spekulationen sowie die Reaktionen auf die Liebesverhältnisse der damaligen Herrschaft einzugehen. Auch hier setzt Pauli wieder die direkte Rede ein, um die LeserInnen möglichst nah am Geschehen teilhaben zu lassen, allerdings weniger als in »Toni«. Wenn auch auf anderer Ebene ähnelt das Motiv der nicht standesgemäßen Ehe jenem in »Toni«. War es dort die Mutter, eine Kaffeehausbesitzerin, die einen Schauspieler als nicht ebenbürtigen Partner für ihre Tochter ansah, wird in »Das Geheimnis von Sarajevo« die Ehe des Thronfolgers mit einer einfachen Gräfin als nicht standesgemäß, sogar als »ein Verhängnis für die Monarchie«34 gesehen. Franz Ferdinand, der Neffe des Kaisers, der von diesem nicht sonderlich geschätzt wird, sollte auf die Krone oder auf seine geliebte Sophie verzichten. Sophie Chotek erträgt Demütigungen und Ausgrenzungen, schafft es aber dennoch durch Selbstbeherrschung und Zähigkeit an die Seite ihres Geliebten, wenn auch nur in einer morganatischen, also nicht standesgemäßen Ehe, bei der die Kinder keinen Anspruch auf den Thron haben. Sophie wird zwar an ihrem Hochzeitstag in den Fürstenstand erhoben, gehört jedoch niemals dem Kaiserhaus an. Anschaulich schildert Pauli die Eheschließung und die davor notwendige Verzichtserklärung Franz Ferdinands. Auf alle, die der Zeremonie beigewohnt hatten, hinterließ sie den Eindruck einer »bitter-ernsten Trauerhandlung«, als habe der Thronfolger noch mehr verschrieben als Ehrentitel und Ansprüche für seine künftige Gattin und die noch ungeborenen Kinder. Vierzehn Jahre später, am selben Tage desselben Monates auf die Stunde genau, fielen die Schüsse in Sarajevo.35

Bis zu dieser Stunde schildert Pauli die Ehe als glücklich, wenn auch durch die Ausgrenzungen und Anfeindungen, die Sophie und auch Franz Ferdinand, der vom Volk und Kaiser nicht sonderlich geliebt wird, ertragen müssen, über33 Vgl. Susanne Blumesberger, Begegnungen – Freundschaften – Abschiede. Literarische Vernetzungen im Leben Hertha Paulis – gespiegelt in ihrem Nachlass, in: Blumesberger / Seibert 2012, S. 41–72. 34 Hertha Pauli, Das Geheimnis von Sarajevo, Wien 1966, S. 145. 35 Ebd., S. 167.

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schattet. Franz Ferdinand wird wie Raimund in »Toni« als depressiv beschrieben, auch wenn nicht in dem Maße wie Kronprinz Rudolf, der seinem und Mary Vetseras Leben selbst ein Ende bereitete. In der zeitgenössischen Presse wurde der Roman Hertha Paulis als penibel recherchierter zeithistorischer Text verstanden.36 Dem Exemplar, das Hertha Pauli Theodor Csokor widmete, ist eine ausführliche Danksagung an zahlreiche Persönlichkeiten, wie etwa dem Enkel Erzherzog Franz Ferdinands Dr. Georg von Hohenberg, dem Vizebürgermeister von Wien, Dr. Heinrich Drimmel, aber auch Wilhelm Schlag vom Austrian Institute in New York und den MitarbeiterInnen mehrerer Bibliotheken, vorangestellt, was nicht nur zeigt, wie gut Hertha Pauli vernetzt war, sondern auch auf ihre umfangreiche Recherche verweist. Im Prolog ihres historischen Romans erzählt sie, dass ihr Taufpate, der Hofreisedirektor Seiner Majestät am 28. Juni 1914 in der Villa ihrer Eltern anrief und vom Tod des Thronfolgers, der in ihrer Familie als »das Scheusal« bezeichnet wurde, und seiner Frau berichtete. Damit brachte Pauli sich und ihre eigene Familiengeschichte in den Roman ein. Die Meinungen und Werte ihrer eigenen politisch einflussreichen und intellektuellen Familie tangieren sozusagen das politische Geschehen in Österreich. Der Mord, der laut Pauli »den Sonnenuntergang einer Epoche bedeutete«37, steht am Ende des umfangreichen Romans. Pauli berichtet faktengetreu, mit 21 Schwarzweißbildern illustriert, und zugleich sehr anschaulich und spannend über den Werdegang des Thronfolgers Franz Ferdinand, über dessen trotzige Haltung, die ihn sämtliche Regeln des Hofes brechend, zu seiner großen Liebe stehen ließ, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Im Epilog schließt Pauli den Rahmen, den sie im Prolog geöffnet hat, und erzählt von den Kriegerdenkmälern von Franz Ferdinand und Sophie in Artstetten und gleichzeitig von der Verherrlichung des Mörders Gavrilo Princip als Märtyrer, der nach seiner Verurteilung als Neunzehnjähriger nicht das Todesurteil erhielt, sondern zu lebenslänglichen Kerker verurteilt wurde und nach zwei Jahren in der Festung Theresienstadt angekettet an Tuberkulose starb. Danach berichtet sie vom Schicksal der Kinder des ermordeten Paares, die nach dem Ende der Monarchie aus dem Schloss Konopischt ausgewiesen wurden, ohne dass der vierzehnjährige Ernst und der sechzehnjährige Max wenigstens persönliche Erinnerungsstücke mitnehmen durften. Geschickt flicht Pauli hier auch das weitere Schicksal der beiden unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ein, wobei sie – im Jahre 1966 in Österreich in der Literatur noch eher selten – detailliert von den menschenverachtenden Praktiken in den Konzentrationslagern erzählt, unter anderem 36 Zum Beispiel in der Rezension von Joseph M. Boonin am 1. 9. 1965 im »Library Journal New York«, S. 12. 37 Pauli 1966, S. 16.

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auch, welchen physischen und psychischen Torturen der Kabarettist Fritz Grünbaum ausgesetzt war.

5.

Fazit

Hertha Pauli hat stets geschrieben, was ihr am Herzen lag, sie hat dabei keine Anstrengungen gescheut und profitierte von dem literarischen Netzwerk, das sie selbst auch tatkräftig mitgestaltete. Die beiden vorgestellten Romane zeigen, obwohl knapp dreißig Jahre zwischen den Entstehungsdaten lagen, eine tiefe Verbundenheit mit Österreich, mit der Sprache und der Kultur. In beiden Romanen, wie auch in anderen hier nicht erwähnten historischen Werken Paulis, stehen Frauen im Mittelpunkt, die nicht aus den für sie vorgesehenen Bahnen ausbrechen können und schließlich Verliererinnen werden. Toni Wagner verliert nicht nur ihren geliebten Ferdinand Raimund, sondern auch ihr gesamtes Vermögen und Sophie Chotek sogar ihr Leben, weil sie freiwillig an der Seite ihres geliebten Mannes bleiben wollte. Beide Romane sind aus mehreren Perspektiven zu lesen, als gut recherchierte und nahe an der Wirklichkeit verfasste historische Romane und auch als Dokumente aus einer Zeit, die auch in ihrer Entstehungszeit gewisse Botschaften vermitteln wollten. Als »Toni« 1936 erschien, war die Welt für die Frauen durch die nationalsozialistischen Strömungen wieder enger geworden. Das zeigt sich auch in Paulis Roman. Obwohl die Karriere als Schriftstellerin wahrscheinlich nicht von Hertha Pauli geplant war, hat sie der Nachwelt einige Werke hinterlassen, die auch heute noch gewinnbringend zu lesen sind.

Justyna Górny (Warszawa)

»Der Kampf ist ausgekämpft, die Liebe bleibt« – die Protagonistinnen in den Romanen von Maria Krück von Poturzyn

Maria Krück von Poturzyn (Pseudonym von Maria Krück-Kunert, 1896–1968) war Autorin und Pädagogin, die sich für die anthroposophisch inspirierte Heilpädagogik engagierte.1 Sie debütierte mit dem Buch über Kaiser Joseph II. und schrieb vorwiegend historische Romane. Es war vielleicht dieses gelungene Debüt, das sie zum Verfassen weiterer Bücher veranlasste, die man der Kategorie der »historischen Biografie« zuordnen kann.2 Es ist für Krück von Poturzyn charakteristisch, dass sie sich große Persönlichkeiten vorgenommen hat, um die Verflechtung zwischen der großen Geschichte und dem privaten Leben zu zeigen. Außer dem Roman über Joseph II. schrieb sie z. B. auch über Giuseppe Garibaldi und britische Abenteurerin Lady Hester-Stanhope.3 Mich interessieren drei andere »historische Biografien« von ihrer Hand, in denen sie sich drei Frauen aus unterschiedlichen Epochen zuwendet: »Methild und das Reich der Deutschen. Die Geschichte einer Frau zwischen Deutschland und Britannien« (1934), »Maria Theresia. Frau und Königin« (1936) und »Die Sendung des Mädchens Jeanne d’Arc« (1961).4 Krück von Poturzyn hat sich darin für die Beschreibung von drei Protagonistinnen entschieden, die über beeindruckende politische Macht verfügten, worin sie sich auch von ihren Zeitgenossinnen unterschieden. Die Spannung zwischen ihrer exponierten Stellung und ihrem Geschlecht wird von 1 Sie gab ein Erinnerungsbuch über Rudolf Steiner heraus: Maria Krück von Poturzyn, Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler, Stuttgart 1956. Biografische Informationen nach: Christiane Haid, Maria Krück-Kunert, http://biographien.kulturimpuls.org/de tail.php?&id=261 (Letzter Zugriff 4. 02. 2021). 2 Hugo Aust, Der historische Roman, Stuttgart 1994, S. 31. 3 Maria Krück von Poturzyn, Kaiser Joseph der Deutsche, Stuttgart 1933; dies., Lady Hester Stanhope. Eine Frau ohne Furcht, Stuttgart 1936, dies., Garibaldi, Stuttgart 1941. Andere Beispiele: Dies., Antonius und der Grieche, Stuttgart 1935; dies., Die Frauen Heinrichs VIII., Hamburg 1937. 4 »Methild und das Reich der Deutschen. Die Geschichte einer Frau zwischen Deutschland und Britannien«, Stuttgart 1934, (weiterhin zitiert als M); »Maria Theresia. Frau und Königin«, Hamburg 1936 (weiterhin MT); »Die Sendung des Mädchens Jeanne d’Arc«, Stuttgart 1961 (weiterhin JdA).

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Justyna Górny

der Autorin thematisiert und diskutiert, was übrigens bereits in den Titeln sichtbar ist: Methild steht zwischen zwei Völkern, über die sie herrschte, wird aber im Titel als Frau und nicht etwa als Königin oder Kaiserin bezeichnet. Maria Theresia ist wiederum Frau und Königin zugleich. Und Johanna d’Arc, auch wenn sie einerseits ihre Sendung erfüllt, bleibt andererseits nur ein Mädchen. Die Hervorhebung des Geschlechts der Protagonistinnen in den Titeln ist bezeichnend, es verweist auf eine bestehende Diskrepanz zwischen dem Frau-Sein und der großen Geschichte, die in den drei Romanen diskutiert wird.

1.

Der Kampf und die Liebe

Die drei Romane, auch wenn sie entfernte Epochen behandeln, weisen inhaltliche Parallelen auf. Der Titelzitat »Der Kampf ist ausgekämpft, die Liebe bleibt«, stammt aus dem Roman über Maria Theresia, er würde aber zu den zwei anderen genauso gut passen. Denn jedes Mal geht es um das Schicksal einer besonderen Frau, die eine Kämpferin im Namen der Liebe ist, wobei die Liebe als das Hauptmerkmal der Weiblichkeit verstanden wird. Der Kampf wird nicht nur metaphorisch, sondern auch – oder sogar vordergründig – konkret, als militärische Handlung aufgefasst: Jeanne d’Arc führt ein Heer an, Maria Theresia kämpft um ihre Thronfolge und Methild ist in einen jahrelangen Bürgerkrieg um den Thron nach dem Tod ihres Vaters und ihres Bruders verwickelt. In allen drei Romanen ist die Spannung zwischen dem Geschlecht der Protagonistin und ihrer kämpferischen Biografie sichtbar. Auch wenn keine von den drei Frauen eigenhändig tötet (was in Bezug auf Jeanne d’Arc besonders hervorgehoben wird, da sie ja an den Schlachten persönlich teilnahm), stehen die drei Figuren durch ihre öffentliche Funktion im Wiederspruch mit der Vorstellung von Weiblichkeit als dem lebenspendenden Prinzip. Das bedeutet aber nicht, dass diese Vorstellung verneint wird. Auch wenn sich Krück von Poturzyn für außergewöhnliche Frauenleben interessiert, wird die binare Geschlechterordnung in ihren Romanen nicht untergraben. Ihre Auffassung der Geschlechterordnung wurde wahrscheinlich von den anthroposophischen Ideen beeinflusst, es ist, zumindest in den drei analysierten Romanen, eine moderne Version der bürgerlichen Geschlechterordnung, die zwei Geschlechter mit entgegensetzen Attributen unterscheidet.5 5 Über die bürgerliche Geschlechterordnung vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: dies., Gesellschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte, Göttingen 2012, S. 8–49 und über die Konstruktion der binaren Vorstellung des Geschlechts seit dem 18 Jh. Vgl. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter: Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt am Main 1991. Über das Verständnis des Geschlechts in der Theosophie vgl. Joz Dixon,

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Maria Theresia zeichnet sich durch mütterliche Liebe aus. Als sie den Thron übernimmt, »schwört sie Mutter zu sein – für ganz Österreich!« (MT 17). Ihre Rolle als Mutter wird aus der Sphäre des Privaten in ihre öffentliche Funktion als Kaiserin verschoben, was unterschiedliche Konsequenzen hat. Das Kriegswesen sei ihr zum Beispiel fremd geblieben, was sie in ihrem Amt als Kaiserin sogar benachteiligt haben soll: Da sie darauf verzichtete, das Heer persönlich anzuführen, sei sie »von ihren Generälen abhängig« (MT 60) gewesen.6 Als Mutter von ganz Österreich muss sie sich erst überwinden, um in den Krieg zu ziehen und die Söhne ihres Volkes auf das Schlachtfeld zu kommandieren: »Im Grunde ihres Herzens hatte sie Mitleid mit den Soldaten, die für sie kämpfen mussten.« (MT 60) Als Mutter des Volkes wird Maria Theresia nicht über die anderen Frauen erhoben, sondern als eine von vielen Müttern dargestellt. Als die Kaiserin um ihren erkrankten Sohn bangt, ermahnt sie sich: »Bluten nicht auf den Schlachtfeldern Böhmens Hunderte von Söhnen? Weinen nicht mir ihr Mütter, deren Kinder gefallen sind für ihr Land? Will sie weniger opfern als die letzte ihrer Untertanen?« (MT 82) Das Leid der Kaiserin wiegt genauso schwer wie das Leid jeder anderen Mutter auch. Maria Theresia ist zwar Kaiserin, doch sie betrachtet die ihr gebührende Macht über das Leben der Soldaten als eine Bürde, die mit ihren mütterlichen Gefühlen im Widerspruch steht. Krück von Poturzyn beruft sich bei ihrer Darstellung der mütterlichen Kaiserin auf das von der kaiserlichen Propaganda konzipierte Bild Maria Theresias als »mater castorum«, indem die eine Schaumünze erwähnt: »Mater castorum« nannte man sie auf den Münzen. Mutter war und blieb sie, auch wenn es sich um »das Generalkriegskommissariat« oder »das Oberste Militärwirtschaftsamt« (MT 60) handelte. Diese Münze zeigt auf der einen Seite das Profil der Kaiserin und auf der anderen Seite die aus der Antike stammende Darstellung der »Mater castorum«: Pallas Athene, die ihr Heer mustert. Auch der flüchtige Blick lässt den Eindruck entstehen, dass hier nicht »Mütterlichkeit«, sondern im Gegensatz das Militante hervorgehoben wird. Der Eindruck wird auch von der Forschung bestätigt. Wie Michael Speidel feststellt, kann der antike Titel »Mater castorum« als Ausdruck eines Wandels in der Mentalität der römischen Eliten und als Ende des Zeitalters der »häuslichen Sexology and the Occult: Sexuality and Subjectivity in Theosophy’s New Age, »Journal oft he History of Sexuality«, Bd. 7 (1997), Nr. 3, S. 409–433. Dort auch Bemerkungen zu Unterschieden zwischen den in der Theosophie anerkannten Konzepten des »dritten Geschlechts« und der »Uranier« einerseits und der heterosexuellen Binarität von Rudolf Steiners Geschlechtervorstellung andererseits, vgl. S. 416. 6 Diese Einschätzung Poturzyns mag der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft entnommen sein, heute wird sie hinterfragt. Bettina Braun weist darauf hin, dass Maria Theresia sich gerne mit Militärwesen beschäftigt und es nie ganz an einen Bevollmächtigten (u. a. ihren Sohn) abgetreten habe. Vgl. Bettina Braun, Herrscherin aus eigenem Recht und Kaiserin, in: Bettina Braun, Katrin Keller, Matthias Schnettner (Hg.), Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen der Frühen Neuzeit, Wien 2016, S. 211–228, hier S. 221–222.

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Kaiserin« verstanden werden. Seiner Meinung nach zeuge die Darstellung davon, dass Frauen »[…] neue und umfassende Macht erringen [konnten], die zudem in der sonst ausschließlich Männern vorbehaltenen Welt des Militärs wirksam gewesen sein soll«7. Es geht also um Hervorhebung der militanten Macht, die der Herrscherin zusteht und nicht, wie Poturzyn das zu verstehen scheint, um die Einschränkung derselben durch Verweise auf die mütterlichen Eigenschaften der Kaiserin. Poturzyns Interpretation, die den zeitgenössischen geschichtswissenschaftlichen Beschreibungen entnommen sein mag, blendet den militanten Aspekt aus. Dadurch wird Maria Theresia einer binaren Geschlechterordnung zugeordnet, in der die mütterliche Liebe dazu benutzt wird, das Bild der Kaiserin als Kriegsherrin zu neutralisieren. Auch im Falle von Jeanne d’Arc bildet die Liebe den leitenden Wert. Es handelt sich um eine vergeistigte Liebe, diesmal ist es eine Jungfrau, die aus Liebe zu Gott und zu Vaterland handelt. Jeanne wird als Vertreterin einer universellen Liebe, die an kein spezielles Objekt gebunden ist, dargestellt. Die Quelle dieser Liebe ist, wie die Erzählinstanz kommentiert, »die Begabung, Inspirationen zu empfangen. Um uns alle wogt und brandet das Meer des Geistigen, doch nur Auserwählte haben die Kraft, Gehörtes und Geschautes bewußt und exakt über die Schwelle des irdischen Seins zu tragen« (JdA 129). Diese Einschätzung kann man als Ausdruck des Interesses an anthroposophischen Ideen betrachten, wobei Krück von Poturzyn den Gedanken, Jeanne d’Arc sei Inkarnation eines Kriegshelden, ausdrücklich ablehnt. Wie das gerade angeführte Fragment bezeugt, geht es der Autorin eher darum, dass ihre Protagonistin eine effiziente Brücke zwischen der materiellen Welt und den höheren »Wesenheiten« ist. Ihr Geschick als Kriegsherrin ist dafür ein Beweis genauso, wie die Liebe, von der sie sich leiten läßt. Jeanne d’Arc ist zwar französische Patriotin, aber ihre Liebe umfasst auch englische Soldaten. Es wird im Roman beschrieben, wie sie nach einer Schlacht um die gefallenen Ritter, auch die englischen, weint: »[…] ihr Visier war hochgeklappt, das gerötete Gesicht naß von Tränen. […] ›So viele Tote‹« schluchzte das Mädchen, »›und wenn sie mit ihren Sünden gestorben sind, bin ich schuld‹«. Sie weinte, »wie Kinder weinen, trostlos und verzweifelt« (JdA 127). Jeanne d’Arc weint um englische Soldaten, weil sie sie nicht nur als Feinde sieht. Auch die Erzählinstanz betont, dass Engländer, mit denen die Jungfrau von Orleans kämpfte, keine Aggressoren waren, weil sie sich inzwischen mit Frankreich verbunden fühlten und eigentlich aus Liebe zum Land kämpften (vgl. JdA 81). Jeanne versteht das und mehr noch: indem sie die Engländer aus Frankreich 7 Michael Alexander Speidel, Faustina – mater castorum. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte, »Tyche. Contributions to Ancient History, Papyrology and Epigraphy« 27 (2012), S. 127–152, hier S. 130n. Online zugänglich: https://tyche-journal.at/tyche/index.php/tyche/article/view/ 42/html_24 (Letzter Zugriff:16. 03. 2020).

Die Protagonistinnen in den Romanen von Maria Krück von Poturzyn

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verdrängt, ermöglicht sie, dass sie zu einer Weltmacht werden.8 Ihre militärischen Erfolge zeugen einerseits von der Echtheit ihrer Sendung, sind andererseits aber problematisch: Töten, auch wenn es im Namen des Vaterlandes geschieht, ist schwer mit dem Bild einer sensiblen Frau, die Eingebungen von den »geschauten Wesenheiten« (JdA 129) empfängt, zu vereinbaren. Der militärische Aspekt wird im Roman auch neutralisiert, es wird z. B. betont, dass Jeanne d’Arc nie eigenhändig getötet habe (vgl. JdA 118, 128 u. a.). Sie wird als eine geniale Kriegsstrategin gezeigt (sogar Napoleon habe ihre strategischen Entscheidungen gelobt!), aber keine rachedurstige Mörderin. Sie ist quasi eine Liebende, die Armeen anführt. Die Weiblichkeit der Protagonistin funktioniert als Träger und Verstärker der Liebe: Die Jungfräulichkeit Jeannes evoziert die Vorstellung einer reinen, höheren Liebe, wodurch ihre Verbindung mit den »geschauten Wesenheiten« hervorgehoben und bestätigt wird. Auch die Protagonistin des Romans über Methild, eine »Frau zwischen Deutschland und Britannien« ist eine kämpferische Anführerin. Die Biografie von Methildis, einer mittelalterlichen Königin, mutet wie ein Abenteuerroman an: Herrschaftsbereiche, Männer und politische Pläne wechseln, die gescheiterten Vorhaben werden durch ständig neue Projekte ersetzt. Poturzyn gibt sich anscheinend große Mühe, diese Anreihung von Ereignissen, Personen und Entscheidungen als eine schicksalshafte Mission der Protagonistin darzustellen. Sie beruhe darin, die Germanen und die Briten zu vereinigen, was auch die Kritik anerkennend vermerkt hat.9 In der Sprache des Romans heißt es: »[…] die Germanen der Mitte und die Germanen des Westens unter einem Kaiserpaar vereinen.« (M 101) Als Kaiserpaar sind Methild, die Tochter des Königs von England, und ihr deutscher Ehemann, Kaiser Heinrich V. gemeint: Er gehört zu den Germanen der Mitte und sie zu den Germanen des Westens. Die Vereinigung aber, von der im Roman die Rede ist, erweist sich als eine sehr komplizierte Angelegenheit. Sie wird von Methild bewerkstelligt, die ihrem Sohn, der auch Heinrich heißt, die englische Krone sichert. Die Komplikation besteht darin, dass sie den Sohn gar nicht mit dem deutschen Kaiser, sondern mit dem angevinischen Fürsten, Gottfried von Anjou, hatte. Da sie selbst Tochter des englischen 8 Vgl. der Kommentar am Ende des Romans: »Die Engländer fanden, erst nachdem Frankreich für sie verloren war, zum Welthandel und Weltreich […] Johannas Taten haben nicht nur Frankreich gerettet, sondern auch England Wege gewiesen.« (JdA, 308) 9 Aneta Jachimowicz vermerkt, dass der Roman im Moment der Veröffentlichung durch dieses positive Bild der Engländer einen politischen Charakter hatte, da zu dieser Zeit die österreichische Position gegenüber England und im Gegensatz zu der deutschen positiv war. Dafür sei der Roman über Methild auch von der Kritik gelobt worden. Vgl. Aneta Jachimowicz, Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht, Würzburg 2018, S. 114. Diese positive Einstellung gegenüber England ist auch in dem Nachkriegsroman über Jeanne d’Arc bemerkbar. Anscheinend hatte die Autorin diese Einschätzung Englands verinnerlicht oder hatte auch andere, nicht unbedingt politische Gründe für ihre Sympathie.

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Königs war, könnte man eine durchaus berechtigte Frage stellen, wo es denn hier eine Verbindung zwischen den Deutschen und den Briten gebe. Die Brückenmission Methilds fußt im Roman darauf, dass sie im Auftrag der Liebe handelt, und zwar, der Liebe zu ihrem ersten, verstorbenen Ehemann, Kaiser Heinrich dem V. Ihr Sohn, der zukünftige Heinrich II. von England, wird quasi als geistiger Sohn des verstorbenen Ehemannes geschildert, der mit seinem wirklichen Vater, mit dem Fürsten von Anjou, so gut wie nichts gemeinsam habe. Methild habe nur den ersten, nicht aber den zweiten Ehemann geliebt, sie habe also symbolisch dem verstorbenen kaiserlichen Gemahl die Treue gehalten. Ihr Kampf um die Erbschaft mündete übrigens in einen Bürgerkrieg, der mit unterschiedlicher Intensität fast zwanzig Jahre lang dauerte, und der in der britischen Geschichte als die Zeit der ›Anarchy‹ bezeichnet wird. Das Ringen um die Krone verlangte sowohl militärischen, als auch politischen Aufwand. Methild bemühte sich um politische Verbündete und materielle Mittel, stritt mit der Kirche, um ihren Anspruch auf die Krone geltend zu machen. Als sie endlich gekrönt wird, denk sie während der Zeremonie an die kaiserliche Krönung ihres ersten Ehemannes: »Heinrich, sieht du die Krone von England auf meinem Haupt? Du, du hast es gewollt…« (M 174). Diese Krönung ist nur ein vorübergehender Erfolg, Methild wird vom Thron gestürzt und, wie gesagt, kann ihre Brücken-Mission erst dadurch erfüllen, dass sie die englische Krone für ihren Sohn erkämpft. Trotzdem ist ihre Reaktion während der Krönung bezeichnend – auch wenn sie rücksichtslos um die Macht kämpft, handelt sie aus Liebe. Liebe und Treue sind Eigenschaften, die das Gegengewicht zu Methilds Verbissenheit im Kampf um den englischen Thron bilden. Krück von Poturzyn hat sich für die Biografien von großen, geschichtstragenden Frauen entschieden. Das Handeln der Protagonistinnen überschreitet deutlich den Bereich, der den zeitgenössischen Frauen vorgeschrieben war. Sie sind an der Macht, und bemühen sich auch, daran zu bleiben. Maria Theresia und Methild kämpfen um ihre Position auf dem Thron, Jeanne d’Arc ist auch keine typische Sybille, die Gottes Nachricht nur überbringt. Den Referenzrahmen für den eigenwilligen Aktivismus der Protagonistinnen bildet trotzdem die binare Geschlechterordnung, die dem bürgerlichen Weiblichkeitsdiskurs entspringt.

2.

Die Machtsucht

Das betrifft auch die Beziehung der Protagonistinnen zu Macht, die in diesem Kontext fast noch problematischer als ihr militärisches Engagement erscheint. In den drei besprochenen Romanen ist die Frau an der Macht ein vordergründiges Thema und jedes Mal wird die Machtausübung als eine Tätigkeit gezeigt, die mit Weiblichkeit unvereinbar ist. Die Macht wird als Quelle der inneren Konflikte der

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jeweiligen Protagonistin beschrieben, weil sie mit ihrem jeweiligen Selbstbild in Widerspruch steht. Die Macht wird nur ergriffen, weil das zur Erfüllung des Auftrags nötig ist, der ihnen von Gott, von Geschichte oder, wie im Falle von Jeanne d’Arc, von »geschauten Wesenheiten« auferlegt wurde. Die Frauen handeln im fremden Auftrag und so wird die Machtausübung zu einer Art Nebenwirkung ihres Gehorsams. Methild, oder »Imperatrix Methildis«, wie sich die Protagonistin bis zu ihrem Tod nennt, hat – wie oben erwähnt – den Auftrag, »[…] die Brücke [zu] sein zwischen den Germanen des Westens und den Germanen in Europas Mitte. Denn die Jahrhunderte, die kommen, werden den Germanen gehören, wie die Zeit vor uns Rom und seinen Völkern!« (M 28) Diesen Auftrag hat sie von der Geschichte erhalten, formuliert hat ihn aber ihr Ehemann, Kaiser Heinrich V. Indem sie den Willen ihres verstorbenen Ehemannes und auch ihres Vaters erfüllt, bleibt sie fest im Gefüge der patriarchalen Ordnung. Davon zeugt auch, dass sie sich von der politischen Macht, die sie innehat, distanziert. Als ihr diese Distanz abhanden geht, wird sie unweiblich. Als Methild nämlich für einige Monate als Englands Königin ausgerufen wird, verwandelt sie sich in eine Despotin. Sie wird auch gegenüber den treuen Verbündeten misstrauisch. Ihre politischen Feinde aber auch die Bürger, die der anderen Partei anhängen, behandelt sie mit Grausamkeit. Ihr Handeln in diesen Momenten wird als eine Transgression gezeigt, die Methild ihrer Weiblichkeit beraubt und hässlich macht: »Methild lachte. Es war ein fürchterliches, erbarmungsloses Lachen, voll unerhörter Leidenschaft. Die Männer schwiegen und Gloucester [Methilds Halbbruder] wandte sich ab.« (M 171) Die Männer schweigen oder wenden sich ab, was vielsagend ist, weil sie sich bisher von der Mischung aus Macht und Weiblichkeit, die Methild verkörperte, angezogen fühlten. Methild verliert im Machtrausch vorübergehend ihre Weiblichkeit und wird dafür auch mit dem Verlust ihrer Position bestraft.10 Es ist also nicht ihr Geschlecht, das sie zur schlechten Herrscherin macht, sondern die fehlende Distanz zur eigenen Macht, die mit der Ausblendung ihrer weiblichen Mission des Gehorsams einhergeht. Auch Jeanne d’Arc handelt in Namen Gottes und eines männlichen Machtdisponenten, des zukünftigen König von Frankreich. Ihr Kampfruf ist: »›In Gottes Namen vorwärts‹.« (JdA 90) Sie gibt sich Mühe, die abgöttische Vereh10 Nach Krück von Poturzyn verlor Methild die Macht, weil ihr Despotismus die Bürger und die Ritter gegen sie aufbrachte. Die Angelegenheit erscheint in einem anderen Licht, wenn man die Beobachtung von G.G. Coulton, dem Autor einer 1938 herausgegebenen Geschichte Englands, berücksichtigt. Er bemerkte nämlich, dass England erst unter den im 16 Jh. herrschenden Königinnen aus der Dynastie der Tudoren, mit einer Frau auf dem Thron einverstanden war. Methild betrachtet er als Beispiel dafür, wie schwer sich die Engländer damit taten, einen weiblichen König zu akzeptierten, vgl. George Gordon Coulton, Panorama s´redniowiecznej Anglii, Warszawa 1976, S. 257.

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rung, die ihr die Franzosen entgegenbringen, abzuwehren (vgl. JdA 102). Aber auch die Heilige Johanna kann ein Machtwort sprechen: »›Der Rat Gottes, unseres Herrn ist weiser und sicherer als der Eure‹« […] sagt Johanna zu dem Fürsten von Orleans, als er ihrer Taktik widerspricht und es bleibt bei ihrem Plan, der Fürst muss sich fügen (vgl. JdA 72). Zwar heißt es, dass Jeanne d’Arc keine Befehle erteilt, sondern nur Gottes Worte übermittelt, aber im Roman wird mehrmals unterstrichen, dass ihre Verbindung zu der geistigen Welt für ihre Umgebung unzugänglich war und dass die Ritter letztendlich nur ihren Worten folgen konnten. Auch wenn die Macht, die sie über den Rittern und dem Volk hat, nicht als Ausdruck ihres eigenen Willens gezeigt wird, folgen die Menschen doch ihr und hören auf ihre Worte. Die Dialektik der unabhängigen Machtausübung und des Gehorsams gegenüber einem Auftrag kommt auch im Roman über Kaiserin Maria Theresia deutlich zum Ausdruck. Über die junge Kaiserin heißt es: »Ängstlich vermeidet sie alles, was einer ›mindesten Regierungssucht gleichsehen könnte« (MT 10). Am glücklichsten ist sie in ihrer Jugend als »einfache Fürstin von Toskana«: Dann, endlich ist sie mit ihrem Mann allein [endlich] darf sie in den Hintergrund treten, Frau sein für den geliebten Franz, Mutter der zwei kleinen Mädchen. Strahlend fährt sie mit ihm übers Land, zählt jedes Lächeln, das ihm gilt, und singt die hellen Lieder seines Neuen Volkes. […] Harmlos-glücklichere Gattin hat der Palazzo Pitti […] wohl kaum gesehen. (MT 12).

Als ihre Töchter heiraten, gibt sie ihnen Ratschläge mit auf den Weg, in denen das bürgerliche Verständnis der Rolle der Ehefrau seinen Niederschlag findet (vgl. MT 141). Das Motiv der Sehnsucht nach dem einfachen Leben einer untergeordneten bürgerlichen Ehefrau und Mutter kommt immer wieder im Roman zum Ausdruck. Gleichzeitig aber zeigt Poturzyn, wie ihre Protagonistin ihre Macht festigt, wie sie mit ihrer Funktion als Herrscherin zusammenwächst. Gleich am Anfang heißt es geradezu entwaffnend: »Wie gerne wäre sie nichts anderes als die unbekannte Fürstin eines kleinen Landes. Aber ›Gott hat sie zur großen Last der Regierung auserwählet‹; keinen Fuß breit von Schlesien wird sie abtreten!« (MT 23) Sie möchte also um Schlesien kämpfen, aber nicht um ihre Macht zu bestätigen, sondern weil sie angesichts des göttlichen Auftrags schlichtweg nicht anders kann. Es bleibt ihr als demütigte Frau nichts anderes übrig, als die Armee nach Schlesien zu schicken. Als ihr Ehemann stirbt, erklärt Maria Theresia mehrmals, dass sie abdanken und in ein Kloster gehen wird, was sie aber nicht macht. Poturzyn berichtet darüber, indem sie Quellenzitate anführt. Sie schreibt: »Das Herrschertum ist von ihr abgefallen, die ganze Welt starb mit Franz […].« Gleich danach zitiert sie eine Hofdame: »›Der Gedanke, zu resignieren, ist ihr nur im ersten Augenblick durch den Kopf gegangen; ihr Lebensgang wird derselbe bleiben, nur daß sie nicht so

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oft öffentlich erscheinen wird.‹ [Soviel die Hofdame. Und Kommentar der Erzählerin:] Eleonore Liechtenstein sollte recht behalten.« (MT 111–112) Poturzyn wiederholt also die Version, die zum Bild der liebenden Gattin und Königin wider Willen passt, verneint sie nicht direkt, verweist aber auf Dokumente und Tatsachen, die etwas anderes bezeugen. Die Beziehung der drei Protagonistinnen zu Macht ist dialektisch. Zum einen handeln sie im Auftrag der höheren Instanzen und der geliebten Männer, bezeugen auf jedem Schritt und Tritt ihr Gehorsam gegenüber Vater und Ehemann, übernehmen nur widerwillig führende Position. Zum anderen üben sie die politische Macht tatkräftig aus und wollen darauf nicht verzichten. Was daraus entsteht ist ein Balanceakt zwischen der weiblichen Unterwerfung und dem weiblichen Aktivismus. Es muss ein Gleichgewicht erhalten werden, denn, wie Methildis‹ Beispiel zeigt, seine Zerstörung führt zu Abnormität und hat negative Konsequenzen.

3.

Zwei Körper der Königin

In allen drei besprochenen Romanen wird das Private von dem Öffentlichen getrennt. Privat können Frauen geschlechtliche Wesen sein, in ihrer öffentlichen Funktion muss ihre Sexualität ausgeblendet werden. Kaiserin Maria Theresia hat zwei Gestalten: sie ist hilflose, gedemütigte Liebhaberin in der Nacht und souveräne Herrscherin am Tag. Die betrogene Ehefrau verwandelt sich bei Bedarf in eine effiziente Kaiserin: »Dieselbe Frau, die fassungslos durch lange Stunden der Nacht um die Treue ihres Gatten gebangt, stand am Morgen auf, um jene Taten zu tun, die heute auf langen Seiten gedruckt, geordnet, kritisiert oder gutgeheißen, in unseren Büchern stehen.« (MT 57) In der Ehe der österreichischen Kaiserin zeichnet sich Asymmetrie ab: Während sie eine treue und liebende Gemahlin bleibt, hat er viele Mätressen. Als liebende Frau bleibt auch die Kaiserin ihrem Mann unterworfen. Auch Methilds Geschichte zeigt eindrucksvoll die doppelte Körperlichkeit der Königin/Geliebten. Vorübergehend streift Methild ihre königliche Persona ab und wird zu einer Geliebten. Sie hat eine Affäre mit einem ihrer Ritter, Brian Fitzpatrick: In diesen Wochen ist sie ihm Weib und nichts sonst. Schwach und glücklich, dumpf und fraglos, liegt sie unter der blauen Seide des Baldachins. Vergessen ist alles, was bisher war, vergessen die Herrschaft über England, vergessen das Kind, vergessen, vergessen Heinrich und sein Kaisererbe. […] »Wie süss das ist: schwach sein… Was machen andere Frauen, wenn sie schwach sind?« Fragte sie in sein Ohr. (M 187–188)

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Ihr Verhältnis endet nach einem Traum, in dem Methild Deutsch spricht und von Kaiser Heinrich, ihrem ersten Ehemann träumt. Der Traum erinnert sie an ihre Mission und sie beendet die Affäre: Plötzlich stemmte sie die Hände gegen das Bett und sprang auf. […] »Morgen reiten wir nach Bristol!« »Morgen schon?« Fragte Brian erschrocken. »Ja, Brian, es ist aus… Ich habe heut nacht von Heinrich geträumt.« (M 187)

Der Liebhaber reagiert darauf mit Verständnis und beide kehren in die Normalität zurück, in der Methild um Herrschaft über England kämpft (vgl. M 187– 188). Die symbolische Treue zu dem verstorbenen Ehemann und zu dem von ihm erhaltenen Auftrag macht sie wieder zur öffentlichen Person. Die saubere Trennung von Sexualität und öffentlicher Präsenz der Frauen wird in den Romanen deutlich angestrebt, doch immer wieder findet man Szenen, die etwas anderes bezeugen. Maria Theresia bekommt viel Geld von der Kirche, weil einem Prälaten angesichts ihres schönen Halses die Gegenargumente ausgingen (vgl. MT 18). Johanna wird von den rauen französischen Raubrittern verehrt, die Verehrung, mit der sie umgeben wird, ist zwar ein Kult der Jungfräulichkeit und Askese, das Erotische ist in ihm aber in verneinter Form präsent. Um diese Verneinung zu vollziehen muss ihr hungernder, asketischer Körper in einer tagelang nicht abgenommenen Rüstung versteckt werden. Dadurch wird verhindert, dass er zum Objekt der Begierde wird. Auch Jeannes männliche Kleidung signalisiert, dass sie kein geschlechtliches Wesen ist. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Vorfall im Gefängnis, wo Jeanne gezwungen wird, einen Rock zu tragen: »Ich sah doch selbst, wie einer unserer Ritter sich an ihr vergreifen wollte, am letzten Freitag, als sie den Rock anzog. Sie hat sich tapfer gewehrt […] danach wollte sie wieder Hosen anziehen.« (JdA 295) Weibliche Körperlichkeit muss ausgeblendet werden, denn durch sie werden die Frauen den Männern unterworfen.

4.

Fazit

Die binare Geschlechterordnung wird in Poturzyns Romanen erhalten, aber auch um Elemente des weiblichen Aktivismus erweitert. Das war wohl angesichts der beschriebenen Frauenbiografien, die deutlich aus dem zeitgenössischen Rahmen springen, unumgänglich, aber immerhin muss anerkannt werden, dass in den Romanen von Poturzyn das öffentliche, politische Leben als eine mögliche, wenn auch nicht übliche Variante der weiblichen Biografie geschildert wird. Die immer wieder wiederholten Beschwörungen der Unterwürfigkeit und Demut werden auch von Zeit zu Zeit unterbrochen. Eine von

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den Figuren im Roman über Methild, eine Fürstin von Toskana, stellt fest: »Ich bin ein Weib. Weiber machen nicht die Geschichte.« (M 33) Zwei Seiten weiter, nachdem sie Kaiser Heinrich den V. zum Erben von Toskana eingesetzt und somit gegen den Papst gehandelt hat, heißt es aber »[…] sie hatte den Rebellen zum Erben eigesetzt, den Sohn des geächteten Kaisers… Es war ihr, als stünde sie vor dem großen Buch der Geschichte und zeichnete ihr eigenes Leben ein wie längst vergangenes Geschehnis.« (M 35) Also: doch! Auch in den Romanen von Maria Krück-Kunert, können Frauen Geschichte machen.

Tadeusz Skwara (Warszawa)

»Stephana Schwertner« Enrica von Handel-Mazzettis – ein Vorbild für österreichische Schriftstellerinnen der Zwischenkriegszeit?

Enrica von Handel-Mazzetti (1871–1955) gehörte zu den meistgelesenen österreichischen Schriftstellerinnen der letzten Jahre der Habsburgermonarchie. Obwohl sie schon als junges Mädchen Theaterstücke verfasste, begann ihre große literarische Karriere erst nach dem Erscheinen der Romane »Die arme Margareth« (1910) und »Stephana Schwertner« (1912/1914). Ihre Popularität im gesamten deutschen Sprachraum (sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern) dauerte relativ kurz. Nach dem Untergang der Habsburgermonarchie hörte sie allmählich auf, obwohl Handel-Mazzetti auch in der Ersten Republik sehr viel »produzierte«. Sie erfreute sich damals großer Beliebtheit in katholischen und konservativen Kreisen. Für ihre Werke, in denen die katholische Weltanschauung dominiert, typisch ist auch eine von der Autorin bewusst archaisierte Sprache. In den 1920er und 1930er Jahren entstanden u. a. die historischen Romane »Der deutsche Held« (1920), »Das Rosenwunder. Ein deutscher Roman« (1924–1926), »Frau Maria. Ein Romanzyklus aus der Zeit August des Starken« (1929–1931), »Die Waxenbergerin. Ein Roman aus dem Kampfjahr 1683« (1934) sowie »Graf Reichard. Roman aus dem deutschen Siegesjahr 1691« (1939–1940). Nach 1940 erschien kein neues Werk der Schriftstellerin, die in der totalen Einsamkeit lebte. Heute scheinen ihre Romane in Vergessenheit geraten zu sein, obwohl sie u. a. mehrmals für die Bühne bearbeitet und in den 1940er und 1950er Jahre in Österreich und in der Schweiz neu aufgelegt wurden. In meinem Beitrag beschäftige ich mich mit der in der Zeit der Gegenreformation in Steyr spielenden Trilogie Enrica von Handel-Mazzettis unter dem Titel »Stephana Schwertner« (1912–1914), die zwar vor dem Ersten Weltkrieg erschien, doch als Vorbild eines historischen Romans für die katholischen AutorInnen und deren historischen Romane gelten kann. Da in der Zwischenkriegszeit viele historische Romane, die »im Banne« dieses zu jener Zeit sehr berühmten Werkes der Autorin standen1, erschienen sind, entsteht die Frage, inwieweit man von einer »Schule« 1 Bernardus Willem Speekman nennt »Stepahan Schwertner« in seiner Dissertation »Quellen und Komposition der Trilogie Stephana Schwertner von E. von Handel-Mazzetti«, die 1924 an

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Handel-Mazzettis sprechen kann – eine Frage, auf die im letzten Teil dieses Beitrages eingegangen wird. In der Roman-Trilogie »Stephana Schwertner«, deren Handlung 1615 spielt,2 fanden die religiösen Kämpfe der Gegenreformation in Steyr ihren literarischen Ausdruck. Da die Macht der Habsburger im 16. Jahrhundert, vor allem wegen der Türkenkriege, geschwächt war, konnte sich die Reformation in dieser Region problemlos entwickeln. Die Blütezeit endete 1599 mit den Erlässen Rudolfs II., die u. a. die Teilnahme an evangelischen Gottesdiensten verbaten. Infolge des Machtkampfes zwischen Rudolf und seinem Bruder Matthias sah sich dieser zu Konzessionen gegenüber den Lutheranern gezwungen. Zum Symbol seiner toleranten Politik wurde die sog. Religionskapitulation (1609), die den Städten die freie Ausübung der neuen Religion gewährleistete. Da aber dieses wichtige Zeugnis der kaiserlichen Gnade nur in mündlicher Form existierte, konnte der Nachfolger von Matthias, Ferdinand II., es ignorieren und ab 1619 die Politik der Rekatholisierung Steyrs einführen. »Stephana Schwertner«, die zuerst wie fast alle damaligen Romane der Autorin als Fortsetzungen in meistens katholischen Zeitschriften und dann im katholischen Verlag »Kösel« erschien, handelt von einem lutherisch-katholischen »Dreieck«. Joachim Händel, der streng lutherische Richter von Steyr, sein Sohn Heinrich, ein »edler« Lutheraner, der seinen katholischen Nächsten zu helfen versucht, und Stephana Schwertner, eine mutige und fromme katholische Jungfrau, in die sich Heinrich verliebt – die Schicksale dieser Protagonisten sind miteinander so stark verwickelt, dass man sie nicht voneinander trennen kann. Da ich mich in meinem Beitrag auf das oben erwähnte »Dreieck« konzentrieren werde, möchte ich zunächst die Handlung der Trilogie kurz zusammenfassen: Stephana Schwertner organisiert (trotz des Verbotes des Richters) eine Pilgerfahrt nach Weng, in eine von der Pest bedrohte Gegend. In einem sich dort befindenden Wallfahrtsort möchte sie Gott um Hilfe gegen die Epidemie bitten.3

der Universität Groningen verteidigt wurde, das wichtigste Werk Handel-Mazzettis. Vgl. Anton Dörrer, Die religiöse und literarische Wirkung von Handel-Mazzettis Dichtung auf ihre Zeit, in: Paul Siebertz (Hg.), Enrica von Handel-Mazzettis Persönlichkeit, Werk und Bedeutung, München 1931, S. 458. Diese These muss heute angesichts der Tatsache, dass sich die Forschung für das Werk der Dichterin nur begrenzt interessiert, aufmerksam erörtert werden. 2 Vgl. Enrica von Handel-Mazzetti, Stephana Schwertner. Ein Steyrer Roman, Bd. I, Luzern 1948, S. 226. (»Dies, Steyrer, ist das neue Pestgesetz, geben im 1615ten im März«). Weiter als Stephana mit Band- und Seitennummer. 3 Die Charakterisierung der Frömmigkeit Stephanas durch den österreichischen Schriftsteller und katholischen Aktivisten Rudolf Henz (1897–1987) (»[…] ihr Glaube ist über jeden Zweifel und alles Weltliche erhaben. Was kümmert sie die Hygiene: wenn die Pest droht, muß man wallfahren und wenn es auch ins Pestgebiet geht«. Vgl. Rudolf Henz, Das gesamte Schaffen Handel-Mazzettis, in: Siebertz, S. 133) zeigt, dass der Konflikt zwischen Händel und der Jungfrau einfach unvermeidlich war. Vor allem deswegen, weil sich hier zwei Mächte (die

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Sie wird verhaftet und von Joachim Händel zum Pranger verurteilt. Von dieser demütigenden Strafe wird sie von Heinrich, der sich allmählich in sie verliebt, gerettet. Gleichzeitig kämpfen die Katholiken im Roman aktiv gegen die Epidemie. Pater Albertus, der Beichtvater Stephanas, pflegt in einem abgelegenen Turm einen pestkranken Soldaten, um durch seine Aufopferung die ganze Stadt vor dem Unheil zu schützen. Da ihn Stephana dabei aktiv unterstützt und ihn oft im Turm besucht, beginnen Klatschgeschichten über die angebliche Liebesaffäre zwischen der Jungfrau und dem Mönch zu kursieren. Heinrichs Liebe zu Stephana, der von diesen Vorwürfen nichts weiß, wird immer größer: Dieses Gefühl zwingt ihn sogar vor dem Kaiser, die Interessen der von seinem Vater verfolgten Katholiken zu verteidigen. Als er aber von seinem Vater über die »Liebesaffäre« zwischen Stephana und Pater Albertus erfährt, tötet er sie in einem Wutanfall. Nachdem sich Heinrich zu seiner Schuld bekannt hat, wird er zum Tode verurteilt. Sterbend konvertiert er zum Katholizismus. Nach seinem Tod wird die von seinem Vater geschlossene katholische Kirche wieder geöffnet. In der Dissertation Caecilia Dopplers »Reformation und Gegenreformation in ihrer Auswirkung auf das Steyrer Bürgertum« (1968), in der die religiösen Kämpfe in Steyr analysiert wurden, kann man leider fast keine Informationen über die im Roman beschriebenen Ereignisse und Personen finden. Joachim Händel wird z. B. zwei Mal kurz erwähnt (als überzeugter protestantischer Kirchenverwalter4 und als Bürgermeister der Stadt5). Die eucharistischen Prozessionen der Katholiken wurden von Lutheranern abgelehnt,6 über Verbote der frommen, »römischen« Praktiken schreibt Doppler nichts. Trotz des Konfliktes war aber die Zusammenarbeit zwischen beiden Konfessionen möglich: Der Lutheraner Berthold Händel schenkte den Kapuzinern 12.000 Ziegel zum Bau ihres neuen Klosters in Steyr.7 Die Konfrontation der fiktionalen und wissenschaftlichen Vergangenheitsbilder scheint die These Moriz Enzingers zu bestätigen, dass die Handlung des Romans Handel-Mazzettis frei erfunden sei.8 Man kann aber diese »Verfälschungen« der historischen Wirklichkeit als ein bewusstes Mittel interpretieren. Die Vergangenheit dient hier nämlich, wie ich noch zeigen werde, zur Darstellung der weltanschaulichen Spannungen, die vor dem Ersten Weltkrieg in der Habsburgermonarchie stattfanden.

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kirchliche und die weltliche) trafen, die entgegengesetzten Werten große Bedeutung beimaßen (Seelenheil jedes Menschen vs. seine Gesundheit). http://steyr.dahoam.net/?p=2512 [Zugriff: 24. 09. 2021], S. 50. Ebd., S. 52. Ebd., S. 51. Ebd. Im Roman wird er als Vetter Joachims erwähnt. Stephana, I, S. 187. Vgl. M. Enzinger, Steyr im Werke der Enrica von Handel-Mazzetti http://steyr.dahoam.net/wp -content/uploads/2017/06/Steyr_im_Werke_der_Enrica_von_Handel-Mazzetti_aus_Heft_24. pdf (Zugriff: 24. 09. 2021).

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Besonders interessant und gleichzeitig primär wichtig für die Entwicklung der Fabel ist der Kampf zwischen Stephana und Joachim, der auf einem einfachen Kontrast basiert: Auf der einen Seite steht ein »Erzketzer«, dessen Ziel es ist, die katholische Kirche in Steyr zu zerstören, wobei seine wichtigsten Beweggründe die Liebe zu seinem »teutschen« Glauben9 und gleichzeitig eine ehrliche Sorge um seine Heimat Steyr sind. Auf der anderen Seite steht Stephana, die in ihrem Verhalten und ihrem Aussehen einer Heiligen gleicht.10 Während Joachim alles macht, um seine wichtigste Feindin zu demütigen, verspürt sie ihm gegenüber keinen Hass. Beide Protagonisten scheinen aus Vorurteilen zu bestehen, obwohl man gleich sagen muss, dass sich Enrica von Handel-Mazzetti darum bemüht, wie Sigurd Paul Scheichl in seinem Beitrag über historische Romane der Ersten Republik konstatierte, nicht in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen und ihre evangelischen Figuren nicht ausschließlich negativ zu zeichnen.11 Stephana ist nicht nur außerordentlich fromm, sondern vor allem sehr mutig (als die einzige Bewohnerin der Stadt erlaubt sie ihrer Mutter nicht, die Fenster ihres Hauses anlässlich des triumphalen Einzugs des neuen Richters in die Stadt zu schmücken),12 sie wird häufig zu einer Anführerin ihrer Glaubensgenossen.13 Auch der Lutheraner Händel ist von Mazzetti als ein tüchtiger und mutiger Mann gezeigt, der bereit ist, sogar vor dem Kaiser um die Interessen der Lutheraner zu kämpfen. Seine Wutausbrüche, denen ein leicht komischer Charakter anhaftet, resultieren u. a. aus seinem Hochmut und sind deswegen sehr ehrlich. Im Roman gibt es auch Stellen, an denen Händel zu einem Objekt des Spottes wird, wie z. B. während eines lutherischen Gottesdienstes, an der sehr wenige Steyrer teilnehmen, was seine Überzeugung Lügen straft, dass die ganze Stadt eine lutherische Hochburg sei.14 Diese humoristische Situation, die für Händel einen Moment der großen Demütigung und Enttäuschung bildet, beweist, dass es Kräfte gibt, die sogar er, der mächtige Richter von Steyr, nicht beherrschen kann. Händel will seine Pläne, trotz solcher Niederlagen, um jeden Preis verwirklichen, 9 Vgl. Stephana, III, S. 9. Joachim nennt die Wiedereröffnung der protestantischen Kirche den »Tag der teutschen Glaubensweihe«. Vgl. auch Stephana, I, S. 210. Händel will aus Steyr »eine teutsche evangelische Stadt« machen. 10 Vgl. z. B. Stephana, I, s. 102. Ebenda, S. 143. Nach Henz sollen die in der St. Michaelskirche in Steyr aufbewahrten »Gebeine« der Märtyrerin Euphemia Handel-Mazzetti zum Verfassen des Romans bewogen, deren Handlung sie später in die Zeit der Gegenreformation ansiedelte. Der Mord an einem unschuldigen Mädchen aus dem Jahr 1909 war dieser Interpretation zufolge der Faktor, der zur Entstehung des Romans direkt beitrug. Vgl. Henz, S. 132–133. 11 Sigurd Paul Scheichl, Reformation und Gegenreformation im historischen Roman der Ersten Republik (Ludwig Mahnert, Karl Itzinger, Maria Veronika Rubatscher), in: Aneta Jachimowicz (Hg.), Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich, Frankfurt am Main 2017, S. 391–392. 12 Vgl. Stephana, I, S. 82. 13 Vgl. Stephana, III, S. 17. 14 Vgl. Stephana, II, S. 171.

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aber seine Motive sind nicht immer klar wie z. B. im Falle der von ihm ergriffenen Maßnahmen gegen die Pest. Sollten sie Steyr wirklich vor einer Epidemie schützen oder bilden sie einen Vorwand um die einzige katholische Kirche der Stadt, in deren undichten Grüften viele Leichen verwesen und die einen ungesunden Geruch ausstoßen, einfach zu schließen?15 Wie kompliziert die Einstellung Joachims Stephana gegenüber ist, zeigt uns das folgende Zitat in dem sich der Richter bewusst wird, dass sich sein Sohn in die Katholikin blind verliebte und ihm keinen absoluten Gehorsam mehr leisten wird: »Wäre sie [Stephana] jetzt da mit ihrer scheinheilig weißen Fratze, hier, vor den Augen seines betörten, unglücklichen, geschändeten Kindes wollte er sie erwürgen und für solchen Mord mit Wollust auf das Rad sich legen lassen.«16 Joachim möchte Stephana töten, weil sie eine Kraft besitzt, die seine ganze Welt ruinieren kann: Sie zerstört nicht nur Händels Ansehen als Richter von Steyr oder seinen Wunsch, die Stadt zu »lutheranisieren« (vor allem das, wie es scheint, gleicht für ihn einer Schande), sondern auch die Ruhe seiner Familie, indem sie es wagt, seinen Sohn zu »verführen« und ihn gegen seinen Vater negativ einzustellen. Aus diesem Grund ist seine Vorgehensweise logisch: Sie muss aus Steyr verschwinden. Trotz dieser spezifischen Logik scheint das Verhalten Joachims vordergründig eine verzerrte Wiederspiegelung der indirekt gegen seine Politik gerichteten Aktivität Stephanas zu sein. Während aber alle Schritte der Jungfrau von ihrer Religiosität diktiert werden, ist für Joachim der Hass seine Richtschnur. Und gerade dieses Gefühl, das Händel diabolische Züge verleiht, verwandelt ihn einerseits in einen interessanten, komplexen Protagonisten, in einen lebendigen Mann mit all seinen Schwächen und Lastern. Im Gegensatz zu ihm erscheint Stephana blass, fast unmenschlich in ihrer Güte. Bernhard Doppler weist in seiner Besprechung des früheren Romans Handel Mazzettis »Jesse und Maria« (1906) darauf hin, dass es im Werk dieser Autorin, die sich für die psychologische Entwicklung eines Individuums nicht interessiert, zwei Hauptthemen gibt: Die Konversion eines Sünders und »die Schilderung standhafter Bekenner gegenüber einer feindlichen Welt.«17 Stephana ist ein Beispiel für die zweite Haltung, aber gerade ihr »Kampf« gegen den Richter erlaubt beiden, sich zu entwickeln: Stephana wird zur mutigen Anführerin ihres Volkes, der Richter muss erkennen, 15 »Vor Alters her waren das Gewölb und der Estrich [der Gruft in der katholischen Kirche] wie aus ewigen Felsen gehauen; es ist aber im Brand die Kirche äußerst beschädigt worden. [….] [D]en Katholiken war ihr Geld zu lieb, so daß alles verelendet blieb [….]. Ich will nicht, daß das Volk in seiner Angst [….] in diese Kirche sich dränge, die an schwülen Tagen voll des Totendunstes ist, und daß daraus die Pest entstehe, noch bevor sie von Johnsbach kombt«. Stephana, I, S. 211. 16 Vgl. Stephana, III, S. 217. 17 Vgl. Bernhard Doppler, Katholische Literatur und Literaturpolitik: Enrica von HandelMazzetti: eine Fallstudie, Königstein/Ts. 1980, S. 37.

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dass seine Macht nicht unbegrenzt ist. Andererseits bildet dieses Zitat nicht nur die Bestätigung einer banalen These, dass das Böse viel attraktiver als das Gute ist. Die oben zitierte Stelle veranschaulicht dagegen die Grenzen der HandelMazzettischen literarischen Darstellungskraft. Sie stilisiert Händel zu einem zu allem fähigen Verbrecher, was von der Fabelsituation gerechtfertigt ist: Sein Sohn wird zum Beschützer der steirischen Katholiken. Leider ist Händel zu »diabolisch« und, aus der heutigen Perspektive, lächerlich. Zu sehr erinnert der grausame Richter an den Protagonisten eines kitschigen Romans (was man in der Vision einer von ihm erträumten und blutigen Hinrichtung nach dem vollzogenen Mord an Stephana sieht)18, damit dieser Blick in sein Inneres ihn als eine glaubwürdige und volle Persönlichkeit charakterisieren lässt. Im Roman wird Händel auch als ein innerlich zerrissener Mensch beschrieben, in dessen Seele gegensätzliche Gefühle einander bekämpfen: [Stephana] Die Viper an seinem Herzen – der Dorn in seinem Fleisch – die Heuchlerin, die seinen Sohn durch ihre Tränen zum Treubrecher machte – sie schwärmt bei Nacht, sie krallt in die Klausur der Mönche. Die furchtbarste doppelschneidige Waffe ist jetzt in Händels Hand. […] Ist’s Händels wert, Ohrenbläser anzuhören und auf das Zeugnis solcher hin das Mädel als Metze zu verdammen, weil er sie als Rebellin wider das Pestgesetz nicht erschlagen konnte? Nein! Nein! Nein! Das wäre unwürdig Spiel!19

Das Gerücht, dass Stephana, die sich in seiner Vorstellung in ein Monster verwandelt (wieder ein ungeplanter komischer Effekt), den Mönch Albert in seinem Turm besucht, ist in den Händen Händels eine todbringende Waffe, mit deren Hilfe er das Ansehen der verhassten Jungfrau ruinieren kann, indem er ihre Verlogenheit (d. h. ihre angebliche Liebesaffäre mit dem Mönch) der Öffentlichkeit zeigt. Sein Hochmut und sein Gerechtigkeitssinn erlauben ihm aber nicht, an diese Geschichte zu glauben. Nicht seine Tugenden, sondern die Sorge um den guten Ruf seines Amtes und seiner Familie verursachen, dass er auch eine edlere Seite seines Charakters zur Schau stellt. Nachdem ans Licht gekommen ist, dass Heinrich Stephana tötete, zeigt sein Vater offen seine Gefühle: In Haß habe ich sie an den Pranger geschickt, denn sie beschimpfte und bedrohte mein Werk. In Haß habe ich den Zeller gehenkt und die Gesetze gegeben wider euch Papisten, euch zum Spott, denn euch auszurotten und eure Kirche zu töten, war mein Begehr. In Haß habe ich beim Kaiser euch abermal die Kirche geweigert, doch dieser Mann, der hier in seinem Blut steht, hat wider mich und meinen Zorn euch eine Kirche errungen. […] [W]o ist Gerechtigkeit, sagt das, ihr papistischen Männer, wenn der stirbt, der verführt und in den Mord gestoßen ward, der andere aber, der seiner Tat die Ursach ist, 18 Die Nähe der Werke Handel-Mazzettis zur Trivialliteratur betonte Petra-Maria Dallinger. Vgl. https://www.ooegeschichte.at/themen/kunstundkultur/literaturgeschichteoberoesterreichs/l iteraturgeschichte-ooe-in-abschnitten/1900-1945/enrica-von-handel-mazzetti/ [Zugriff: 14. 12. 2019]. 19 Stephana, III, S. 19.

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unverletzt bleibt – papistische Männer von Steyr, sein [Heinrichs] war die Tat, aber mein [Joachims] war der Wille.20

Diese letzte Rede Händels ist besonders dramatisch und pathetisch, was völlig verständlich ist, wenn man ihren Kontext berücksichtigt. Der stolze Richter von Steyr erleidet hier die größte Niederlage seines Lebens: Er muss seinen eigenen und einzigen Sohn zum Tode verurteilen. Seine Selbstanklage ist nur eine Bestätigung dessen, dass er die römische Kirche aus seinem ganzen Herzen hasst. Es geht ihm hier aber um etwas mehr. Indem Joachim Händel die ganze Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich lenkt, will er das Leben seines Sohnes retten. In diesem Moment zeigt uns der grausame Richter von Steyr sein wahres Gesicht: Nicht nur das eines liebenden Vaters, sondern auch das eines sehr mutigen Mannes, der für seinen geliebten Sohn und für die Zukunft seiner Familie alles, sogar sein eigenes Leben, aufopfern kann. Einerseits stellt diese Szene eine Art Apotheose Händels dar, der über sich selbst triumphieren kann (obwohl diese Selbstüberwindung logisch aus seinem früher betonten Hochmut und Stolz resultiert), andererseits kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Hinrichtung seines Sohnes eine gerechte Strafe gerade für Joachims Hochmut bildet. Gleichzeitig muss Joachim als gläubiger Christ wissen, dass der Tod kein Ende bedeutet, da er Heinrich in einer besseren Welt wieder treffen wird. Im Roman dominiert aber die Trauer des verzweifelten Vaters um seinen zum Tode verurteilten Sohn, was Händel in einem anderen Licht stehen lässt und dazu führt, dass der Leser letztendlich mit diesem gebrochenen Mann sympathisiert. In dieser Szene beweist Enrica von Handel-Mazzetti nicht nur ihre ambivalente Einstellung diesem Mann gegenüber, sondern vielmehr ihren Versuch, das konfessionelle Spannungsverhältnis zwischen den Katholiken und Protestanten möglichst objektiv zu zeigen, was ihr selten gelingt. In diesem Kontext scheinen die Bemerkungen Dopplers, der betont, dass Handel-Mazzetti in ihre historischen Romane immer Anspielungen auf die aktuelle politische Situation »hineingeheimnisst« habe, interessant. In »Jesse und Maria« kann man nach Doppler – gerade weil die Schriftstellerin die Zeit der Gegenreformation wählte – die Kritik an der Los-von-Rom-Bewegung, den Deutschnationalen und an der Aktivität der liberalen Grafen von Amstetten finden.21 Im Falle Händels kann man sich fragen, ob sein Hass gegen die katholische Kirche ausschließlich aus seinem orthodoxen Luthertum wächst. Vielleicht soll er auch die Kräfte symbolisieren, die vor dem Ersten Weltkrieg die katholische Kirche bekämpften, als wessen Ausdruck das immer wieder im Text zurückkehrende Motiv seiner Liebe zum »teutschen Glauben« gedeutet werden kann. 20 Stephana, III, S. 446–447. 21 Vgl. Doppler, S. 35.

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Zwischen diesen beiden Schlüsselprotagonisten wirft sich Heinrich, der gutaussehend ist und sich unter seinen Soldaten beider Konfessionen großer Beliebtheit erfreut, hin und her. Dasselbe Motiv eines jungen und von allen geliebten Offiziers sehen wir in den anderen Romanen Handel-Mazzettis. Wie Michaela Klosinski ausführt, wird z. B. der junge Reichard (Protagonist der »Starhemberger«-Trilogie) auf vielfache Weise als Held dargestellt und vor allem vom Volk gefeiert.22 Obwohl Heinrich als Enkel Calvins aus einer »erzketzerischen« Familie stammt,23 ist er im Gegensatz zu seinem Vater und ähnlich seiner verstorbenen Mutter, die einen katholischen Mönch unterstützte, kein Fanatiker. Mit Heinrich als Romanfigur versucht Handel-Mazzetti, die sich einerseits zum Fortbestand eines katholischen Habsburgerreiches bekannt, andererseits sich jedoch in ihrem Werk um konfessionelle Verständigung und christliches Humanitätsdenken bemüht hat,24 ökumenisch zu wirken. Heinrichs Offenheit für die Postulate der Katholiken resultiert nicht nur aus seinem edlen Charakter, vielmehr unter dem Einfluss Stephanas verwandelt er sich aus einem gehorsamen Unterstützer seines Vaters in einen Beschützer ihrer Glaubensgenossen. Eine Wende in seinem Verhalten verursacht der Anblick der leidenden und öffentlich gedemütigten Stephana, die von seinem Vater zum Pranger verurteilt wurde, weil sie es wagte, seine Pestgesetze zu missachten. Im Falle dieses grausamen Urteils ging es primär nicht um die Sicherheit der Stadt, sondern darum, dass eine Katholikin frech genug war, um Joachim Händels Position als den »absoluten« Herrscher über seine Stadt öffentlich in Zweifel zu ziehen. Als Hauptmann von Steyr erhält Heinrich von seinem Vater eine wichtige Aufgabe: Er soll den katholischen Mönch Albert, der zusammen mit Stephana die Pilgerfahrt organisierte, den kirchlichen Richtern zuführen. Als katholischer Geistlicher durfte Albert nicht von Händel verurteilt werden. Ja, er hat’s getan, er hat seinen Glauben in Steyr bezeugt. Gerade darumb, meine Herren, habt ihr aber Grund, ihn hochzuhalten, sowie wir, ihn zu hassen; ich verstehe nicht, wieso ihr ihn anklagen könnt. Die Askese, die er trieb, und die Predigten, die er gegen uns hielt, sind doch in Augen frommer Papisten gottwohlgefällige Taten; oder nicht? Wenn ihr also ihn straft, schlagt ihr euch selbst und eurer Religion ins Gesicht. Ich

22 Vgl. Michaela Klosinski, Katholische Literatur zwischen Anpassung und Widerstand. Enrica von Handel-Mazzettis Starhemberger-Romane im Kontext von Austrofaschismus, katholischer Literaturtradition und Moderne, in: Jachimowicz, S. 413. 23 »Der Palika hat mir erzählt, daß Eure Großpapa unser großehrwürdiger Vater Calvinus gewesen ist«. Stephana, III, S. 179. 24 Vgl. Walther Killy / Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 4, München 1996, S. 366.

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glaube auch, eure Kirche hat nicht solchen Überfluß an Kämpfern, daß sie sich es leisten könnte, die besten außer Gefecht zu setzen.25

Diese Verteidigungsrede Heinrichs zugunsten Alberts stellt eine Erfüllung seines Versprechens, das er Stephana gab, dar, was indirekt zeigt, wie groß seine Liebe zu ihr bzw. ihr Einfluss auf ihn waren. Seine Verteidigung, die man auch als Ausdruck seiner ehrlichen Überzeugung lesen kann, basiert auf einer »Umkehrung« der protestantischen Vorwürfe. Die Askese, die in der lutherischen Frömmigkeit keine Rolle spielt, und die Predigten gegen Lutheraner verwandeln sich in große Tugenden des katholischen Mönches. Der Kontext dieser Rede hilft, sie besser zu verstehen: Heinrich spricht mit katholischen Prälaten, für die nur katholische Werte zählen. Auf diese Weise wird aber ein anderes Ziel erreicht. Ein Lutheraner lobt den katholischen Glaubenseifer des Mönches, was seiner Aussage einen »objektiven« Charakter verleiht und den Lesern sehr überzeugend beweist, welche Religion die bessere ist. Als erfahrener Kämpfer formuliert auch Heinrich eine banale Wahrheit: Wenn es an Soldaten fehlt, muss man jene benutzen, die man hat. Ein Lutheraner zwingt dadurch die katholischen Würdenträger, den Mönch zu begnadigen. Heinrich benimmt sich so, weil er in Albert einen gleichrangigen Feind sieht, den er – getreu den ritterlichen Regeln – respektvoll behandeln möchte. Während seines Besuches in Wien, den Heinrich mit seinem Vater im Interesse ihrer Glaubensgenossen unternehmen, hält jener eine mutige Rede vor dem Kaiser Matthias, in der er sich das zweite Mal Joachim widersetzt und eine kleine Kirche für steirische Katholiken erbittet, was zu einem Bruch mit dem Richter führt.26 Diese Entscheidung, die für alle Protagonisten des Romans verheerende Folgen haben wird, bildet einen Wendepunkt im latenten Vater-Sohn-Konflikt, der – was Michaela Klosinski betont – zu den häufig thematisierten Motiven im Werk Handel-Mazzettis gehört.27 Stephana will ihn aber nicht heiraten, weil er ein Lutheraner ist und sie das Leben einer Braut Christi wählt. Heinrich, der sie einer Liebesaffäre mit ihrem Beichtvater, Pater Albertus, verdächtigt, tötet sie. »Jesus! Mutter! […] Herr Heinrich, was tut Ihr? Denkt an Ewer Seel, an die Sünd!« – »Denk du an deine.« Der Gottverlassene hob den Dolch – der zuckte wie ein Blitz durch die Luft und irrte nicht und traf sein Ziel, das reine Herz der Braut des Herrn. Stephana griff mit matter Hand nach dem Herzen und wankte, sank auf die Knie und dann ganz 25 Stephana, III, S. 61. 26 »Ich bin Hauptmann von Steyr und als solcher rede ich. Mein Vater spricht von 28 Katholiken. Recht, das sind Bürger. Doch eines hat mein Vater vergessen. Steyr nämlich hat eine große Miliz, unter der viel Katholiken sind. Hier in Wien habe ich 48 Papisten mit; in Steyr blieben noch dreimal so viel zurück. Und die Papisten, wie ich als ihr Hauptmann – obwohl Lutheraner – offen sagen muß, sind sehr gute Soldaten. Ich denke mir schon lange, es ist hart für sie, daß sie kein Gotteshaus haben.« Stephana, III, S. 206. 27 Vgl. Klosinski, S. 412.

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zu Boden. Eine leise, wehe Klage: »Jesu – tu ihms verzeihen – nimb mi auf ….. in dein Reich.« Und Stephanas Seele, den jungfräulichen Leib verlassend, schwingt sich zu den Engeln auf.28

Besonders in diesem Moment wird Stephana zu einer Heiligen stilisiert, die dazu vor ihrem Tod dem Täter vergibt. Ihr Martyrium, das einem Opfer gleicht, ist aber deswegen notwendig, da es die Rettung von Heinrichs Seele (d. h. seine Konversion) ermöglicht. So erfüllt sich ihre Liebe auf einer anderen Ebene. Heinrich dagegen, der an dieser Stelle als Täter beschrieben wird, wird auch gleichzeitig von einem Teil seiner Schuld befreit. Die Tatsache, dass Stephana seine Liebe ablehnt, ist für ihn, der ihretwegen mit seinem Vater bricht, eine große Enttäuschung. Das Gerücht von einer möglichen Liebesaffäre zwischen Stephana und Pater Albert, die ihm bewusst vom Vater und seinen Mitarbeitern erzählt wurde, trägt auch zur Entstehung seines Hasses bei. So muss der junge Mann für die Intrigen anderer Menschen zahlen. Im Schatten dieses Mordes darf ein weiteres Problem, das indirekt zu dieser Tragödie beiträgt, nicht missachtet werden. Heinrichs Mord an Stephana ist nämlich die Folge eines »literarischen« Missverständnisses. In einem Saal, in dem sie sich mit ihrem Beichtvater traf, ritzt Stephana an der Wand eine Inschrift: »Mein Gelibter ist mein vnd ich bin sein.«29 Der wirkliche Adressat dieser Worte, die aus dem Hohelied stammen, ist Jesus. Heinrich versteht sie aber als eine Liebeserklärung an Pater Albert und gerade diese Worte werden für ihn zum Tropfen, welcher den Becher der Bitterkeit überflutet. Primär kommt hier die Perfidie der oben erwähnten antikatholischen Gerüchte zum Ausdruck, in diesem Kontext erscheint aber die Tatsache viel wichtiger, dass es hier zu einer unbewussten Verwechslung zweier Liebesdiskurse (eines weltlichen und eines religiösen) kommt. Die naive Stephana glaubt so stark an Jesus als ihren wirklichen Bräutigam, dass sie dabei zu vergessen scheint, dass er ein Gottessohn ist und ihre wirkliche Vereinigung erst nach dem Tode möglich sein wird. Ihr von der tiefen Frömmigkeit verursachter starker Glaube an diese Liebe erklärt aber, warum sie die Worte des Hoheliedes wählt. Eine andere Möglichkeit, ihre Gefühle in Worte zu kleiden, kennt sie nicht. Heinrich, der wegen Mordes an Stephana zum Tode verurteilt wird, konvertiert kurz vor seiner Hinrichtung30 zum Katholizismus. Diese Konversion eines reuigen Sünders stellt ein zentrales Thema im Werk Handel-Mazzettis dar, was nicht verwundert, da für die katholische 28 Vgl. Stephana, III, S. 354. 29 Vgl. ebd., S. 332. 30 »Heilige Stephana, Braut Christi. Bitte für mich Sünder«. Stephana, III, S. 470. Doppler unterstreicht den speziellen Charakter des Todes in der christlichen Vorstellung. Der Sterbende sieht sein ganzes Leben und erst dann entscheidet sich, ob diese Existenz etwas wert war. Vgl. Doppler, S. 37. Diese Beobachtung erklärt (mindestens teileweise) den großen Wert, der in Handel-Mazzettis Romanen dem Tod beigemessen wird.

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Schriftstellerin das Seelenheil eines jeden Menschen das wichtigste Anliegen sein musste. Gleichzeitig muss man aber betonen, dass diese Konversion einer Katharsis gleicht. Der Täter wird gerecht bestraft, was die von ihm zerstörte soziale und ethische Ordnung wiederherstellt. Gleichzeitig ist sogar er aus der Gemeinschaft der von Gott geliebten nicht ausgeschlossen. Seine Reue erlaubt ihm nicht nur, seine Seele zu retten, sie bildet auch eine weitere Bestätigung der Heiligkeit Stephanas und hilft, auch wenn indirekt, anderen Katholiken in ihrem Kampf um ihre Rechte. Auf der geistigen Ebene hat man hier mit einem Happy End zu tun. Interessant scheinen hier die Bemerkungen von Rudolf Henz, der betont »daß sich [in den Werken Handel-Mazzettis] der Sünder erst immer nach dem Todesurteil wirklich bekehrt«. Die Hinrichtungsszenen, die »Kernpunkte der Wirkung«, in denen sich »das Primat der unsterblichen Seele über den Leib [manifestiert]«, bleiben seiner Meinung nach »gewollte oder ungewollte Apologien für die Abschaffung der Todesstrafe«. Auch wenn diese Brutalität der Atmosphäre der Epoche entsprach, fragt Henz berechtigt, ob die Begnadigung der Sünder und ihre Sühne zugunsten der Gesellschaft nicht eine bessere Lösung wären. Die oftmalige Wiederholung der Hinrichtungsszenen, was bestimmt der tiefen Religiosität der Autorin entsprach, weckt begründete Zweifel beim Kritiker, weil dadurch die Handlung der Romane immer eintöniger wird.31 Die Interpretation von Henz, obwohl sie in den 1930er Jahren geschrieben wurde, bleibt bis heute interessant, auch wenn man es dahingestellt lässt, ob die Hinrichtungsszene im besprochenen Werk als eine Mahnung zur Abschaffung der Todesstrafe gelesen werden kann. Henz wies nämlich auf ein Prinzip in der Kunst Handel-Mazzettis hin, deren Werke ständig um dieselben Probleme kreisen. In vielen ihrer Romane wiederholt sich dasselbe Schema, wenig variiert (meistens ändert sich nur die historische Umrahmung). Die religiösen Wurzeln des ständig wiederkehrenden Motives, auf die sich die Dichterin beruft, können leider seine Schwäche nicht verbergen. Gleichzeitig werden in ihren Romanen Probleme thematisiert, die zwar wenig mit der religiösen Thematik verbindet, die aber aus ihr resultieren. Es muss hier vor allem auf die Rolle hingewiesen werden, die im Werk HandelMazzettis die Gewalt gegen Frauen spielt. Dieses Problem wurde von ihr schon im Roman »Die arme Margareth« (1910), in dem eine Lutheranerin zum Opfer des katholischen Soldaten wurde, thematisiert.32 Viel wichtiger ist aber für HandelMazzetti im Falle der »Stephana-Trilogie« der Täter, Heinrich, erst dessen Ver31 Vgl. Henz, S. 131. 32 »Katholische Geistliche wandten sich mit Entrüstung dagegen, daß die Katholikin in der ›Margaret‹ eine protestantische Heilige geschaffen habe […]. Man sah nicht, daß ›Margaret‹ eine Heilige nicht so sehr deshalb ist, weil sie als brave Protestantin lebt und wirkt, sondern weil sie sich an die Evangelien hält.« Dörrer, S. 449.

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brechen die Erlösung seiner Seele ermöglicht. Das ist ein weiterer Schritt zur Apotheose Stephanas, die als Symbol der katholischen Kirche postum über ihre Gegner triumphiert. Stephana scheint auch (und gerade diese Eigenschaft macht sie so interessant), eine von ihrer Liebe zu Jesus tief durchdrungene Frau zu sein. Trotz der Bitten ihrer Mutter möchte sie den reichen und gutaussehenden Lutheraner nicht heiraten und als Braut Christi leben. Dieser Wunsch trägt indirekt zu ihrem Tod bei, der sowohl die Konversion Heinrichs als auch den Triumph des Katholizismus ermöglicht. Auf indirekte Art und Weise kommt aber an dieser Stelle die Frage zum Ausdruck, ob ein Individuum sein Leben selbst gestalten kann, ohne auf die Wünsche und Vorstellungen seiner Umgebung zu achten. Vielleicht muss Stephana getötet werden, weil sie zur weltlichen Ordnung ihres Milieus nicht passt, durch ihr Verhalten »unterminiert« sie ihre Fundamente und Grundwerte, indem sie zeigt, dass man anders leben kann. Im Falle von Stephana und Joachim haben wir es mit zwei starken Persönlichkeiten zu tun, von denen keine bereit ist, auf ihre Prinzipien, die keinen menschlichen, sondern religiösen Charakter tragen, zu verzichten, was zweifellos zu einem Konflikt führen muss. Auf der literarischen Ebene ist Händel als ein Despot charakterisiert, der Steyr um jeden Preis in eine lutherische Stadt verwandeln möchte und der dabei keinen Widerstand duldet sowie nicht willens ist, Wünsche und Sorgen der steirischen Katholiken zu verstehen,33 was man als eine Folge der früheren Verfolgungen seitens der Katholiken, die im Roman nur am Rande erwähnt werden, interpretieren kann.34 Als mächtigster und reichster Mann der Stadt besitzt Händel aber in seinen Händen alle Mittel, um den Konflikt mit den Katholiken zu beenden. Das Verhalten Heinrichs dagegen wurde literarisch nicht überzeugend gerechtfertigt: Wie viele Protagonisten bei Handel-Mazzetti hat sein Verhalten und sein Zorn, obwohl er sich von der Frau, die er liebte, betrogen fühlt, etwas Künstliches. Vielleicht deswegen, weil sowohl der Tod Stephanas als auch seine Hinrichtung in der Logik des Romans einfach notwendig waren: Nach ihrem Martyrium kommt Stephana direkt in den Himmel, von wo sie ihre Glaubensgenossen unterstützt und indirekt zur Konversion Heinrichs d. h. zur Errettung seiner unsterblichen Seele beiträgt. Der Einzige, der 33 Stephana, III, S. 9. 34 »Und nun hob tatsächlich die Reaktion schon an….nun würde man bald die Bibeln eingraben müssen wie zur blutigen Jahrhundertwende vor 15 Jahren….«. Stephana, III, S. 15. »Und während in den beiden vorhergehenden Werken [»Jesse und Maria«, »Die arme Margareth«] der Machtapparat katholischer Politik brutal zugreift und die Größe der katholischen Idee sich nicht im Glaubenskampf […] sondern nur, trotz dieser Machtmittel, in der Liebe manifestieren konnte, ersteht in Stephana Schwertner die Größe der Kirche unbefleckt, demütig und doch sieghaft. Die stärksten weltlichen Machtmittel, nicht einmal die größten Ungeschicklichkeiten der Katholischen, können den Sieg der Kirche durch eine heiligmäßige Jungfrau und Märtyrerin verhindern!«. Vgl. Henz, S. 132.

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wirklich bestraft wird, ist der politisch besiegte Richter von Steyr, dessen einsame Existenz nach dem Tode seines Sohnes einer Hölle gleicht. Weil nur seine Gefühle ehrlich sind, ist er der einzige Protagonist, dessen Verhalten nachvollziehbar ist.35 Die Frage danach, ob die vor 1918 veröffentlichten Werke Handel-Mazzettis (u. a. »Stephana Schwertner«) eine Art »Wegbereitung« für die Aktivität zahlreicher österreichischer Schriftstellerinnen in der Zwischenkriegszeit bildeten, scheint im Kontext dieses Bandes besonders interessant zu sein. Diese These vertrat in einem 1931 herausgegebenen und Handel-Mazzetti gewidmeten Band Anton Dörrer: Die Wirkung der Handel-Mazzettischen Dichtung auf ihre Zeit ist im einzelnen schwer fassbar; sie wird derzeit mehr gefühlsmäßig empfunden werden: die Wiedererweckung des historischen Romans, der als erste Große Ricarda Huch verpflichtet ist; […] die vollständige Umwälzung in der Art der Darstellung kulturhistorischer Epochen; die damit im Zusammenhang stehende lebhafte Parteinahme für und gegen das Barocke, die Erneuerung der Legendengattung und die Ausbreitung der Opfermystik – das sind unzweifelbar Auswirkungen des Handel-Mazzettischen Schaffens.36

In diesem Zitat ist vor allem der Kontrast zwischen der Betonung ihrer großen Rolle in der Entwicklung der deutschsprachigen Literatur und der allgemeinen, »gefühlsmäßigen« Besprechung ihres Einflusses auf das Schaffen anderer Dichter, sehr gut sichtbar. Dörrer zählt zwar zahlreiche Autoren auf, deren Werke von der Kunst Handel-Mazzettis literarisch »befruchtet« wurden, diese Auflistung bildet aber keine aufmerksame Analyse ihrer Werke und ist deswegen wenig überzeugend.37 Dörrer schreibt weiter: »[D]ie reiche und starke Entwicklung des katholisch-künstlerischen Schrifttums nach dem Krieg wäre [ohne HandelMazzetti] kaum möglich gewesen«, muss aber mit Bedauern feststellen, »daß dies 35 Doppler unterstreicht die Tatsache, dass bei Handel-Mazzetti historische Konflikte nicht in Auseinandersetzung, sondern in Konversion gipfeln. Das bedeutet seiner Meinung nach im Falle von »Jesse und Maria«, dass »politische Bemühungen nur als kindische Lausbubereien heruntergespielt werden«. Vgl. Doppler, S. 37. In »Stephana Schwertner« zeigt aber HandelMazzetti ein anderes Gesicht der Politik, ihre schrecklichen Folgen für Händel und seinen Sohn. 36 Vgl. Dörrer, S. 463. 37 »Die barocken Elemente aus der reichen Tradition des katholischen Kloster- und Volkstheaters treten heute ganz deutlich zutage, besonders bei Mehl und Hofmannsthal [….]. Eine gewisse ›formlose‹ Geräumigkeit zeichnet Sigrid Undset ebenso wie Paula Grogger aus«. Ebd., S. 464. In diesem Kontext ist die Tatsache interessant, dass man in Sigrid Undsets (die 1929 den Nobelpreis in Literatur erhielt) bekanntestem Werk »Kristin Lavranstochter« Anspielungen auf Szenen aus »Stephana Schwertner« zu finden glaubte: »Nicht nur Paul Grogger ist der Ansicht, daß auch Sigrid Undsets Dichtungen ohne die der Handel-Mazzetti nicht gut denkbar wären; im besonderen ist schon manchem Leser die Pestschilderung in ›Stephana Schwertner‹ neben der in ›Kristin Lavranstochter‹ aufgefallen«. Ebd., S. 468. Indem Dörrer Undset mit Handel-Mazzetti verglich, wollte er bestimmt die Bedeutung der österreichischen Schriftstellerin auf dem literarischen Markt betonen.

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Tadeusz Skwara

[ihre Rolle] heute so gern außer acht gelassen wird.«38 In seinem Essay stellt er die Frage, ob man »Juliane von Stockhausen, Paula Grogger, Dolores Viesèr, Maria Weronika Rubatscher […] in eine ›Schule‹ der Handel-Mazzetti zwängen darf ?«39 In seiner Antwort schreibt Dörrer, dass man im Falle der hier erwähnten Schriftstellerinnen, die sich in der Ersten Republik Österreich mit ihren historischen Romanen entweder völkischer oder katholischer Prägung bekannt machten, von einem ausgesprochenen Nachahmungstrieb der Handel-Mazzetti nicht sprechen dürfe. Sie würden alle von ähnlichen Ausgangspunkten kommen und würden eine in geistiger Nähe und ähnlicher Einsamstellung gereifte Künstlerkraft entfalten.40 Dörrers Meinung ist aber wieder so allgemein formuliert (was man in seinen Worten »geistige Nähe« oder »ähnliche Einsamstellung« sieht), dass ich zur These neige, diese Autorinnen ließen sich nur oberflächlich von Handel-Mazzettis Werk inspirieren, sie blieben im Grunde genommen unabhängige Schriftstellerinnen, denen der (nicht nur) kommerzielle Erfolg der älteren »Kollegin« bei ihrem Erscheinen am literarischen Markt half. In diesem Zusammenhang darf man nicht das Ziel des Beitrages Dörrers vergessen. Er und andere Autoren des mehrmals zitierten Bandes hatten vor, eine große katholische Schriftstellerin zu ehren, deren hervorragende Rolle in der Entwicklung der modernen deutschsprachigen und europäischen Literatur, ihrer Meinung nach, verkannt ist. Diesem Ziel dienen sowohl die vage formulierte Betonung ihres Einflusses auf andere zeitgenössische Schriftsteller, als auch die im Buch zitierten Aussagen ihrer jüngeren Kolleginnen. Obwohl dieser Band 1931 herausgegeben wurde, also in der Zeit, in der sich Handel-Mazzettis Romane außerhalb Österreichs und des dortigen katholischen Publikums keiner so großen Beliebtheit unter den Lesern und Kritikern erfreuten,41 behält die These Dörrers eine gewisse Glaubwürdigkeit vor allem in Bezug auf eine konkrete Gruppe von Schriftstellerinnen. Was sich nämlich z. B. im Falle Sigrid Undsets nicht beweisen lässt, scheint dagegen für die nach 1918 debütierenden österreichischen Schriftstellerinnen zu gelten, weil sie u. a. in demselben Milieu funktionierten, oft Klosterschulen besuchten und dieselbe Weltanschauung vertra38 Ebd., S. 466. 39 Ebd. 40 Ebd. Dörrer betont, dass »[Stockhausens] Erstling ›Das große Leuchten‹ viele Anklänge an ›Jesse‹ und an ›Meinrad‹ aufwies«. Obwohl seiner Meinung nach auch »das Singerlein von Dolores Viesèr die stärksten Anklänge an Meinrad und noch stärkere an Stephana auf[weist]«, muss er feststellen, dass es sich auch in diesem Fall mehr um »Äußerlichkeiten [handelt], die das sich entfaltende Talent ganz unbewußt für seinen Wort- und Requisitenschatz erworben hat«. Ebd. 41 Diese These scheint die Bemerkung Aneta Jachimowicz zu bestätigen, die die wachsenden Auflagezahlen ihrer Bücher im Ständestaat, im Unterschied zur Ersten Republik, betont. Vgl. Aneta Jachimowicz, Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht, Würzburg 2018, S. 47, Anm. 50.

»Stephana Schwertner« Enrica von Handel-Mazzettis

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ten,42 worin aber dieser Einfluss im Einzelnen bestand, bedürft einer aufmerksamen Untersuchung.43 Obwohl die Frage nach ihrem direkten Einfluss auf die österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit ein wissenschaftliches Desiderat bleiben muss, kann die vor dem Ersten Weltkrieg herausgegebene Roman-Trilogie Enrica von Handel-Mazzettis »Stephana Schwertner« als eine Vorwegnahme der weltanschaulichen Spannungen gelesen werden, die auch nach 1918 das literarische Leben in der jungen Republik bestimmten. Wie Sigurd Paul Scheichl feststellte, erlebte Österreich-Ungarn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seinen Kulturkampf zwischen der katholischen Kirche, die ihre Privilegien verteidigte, und den Liberalen und Deutschnationalen, die die »deutschfeindliche« Politik der Kirche anprangerten und im Luthertum die »deutsche« Form des Christentums sahen.44 Dieser Konflikt hinterließ seine Spuren auch in der Ersten Republik. Angesichts der Dominanz der Christlichsozialen und der katholischen Kirche im öffentlichen Leben Österreichs entstanden damals viele Romane, in denen Gegenreformation angeprangert wurde und Protestantismus mit Deutschland, dem man sich anschließen wollte, gleichgesetzt wurde.45 Auf die antihabsburgischen und antikatholischen Tendenzen dieser Werke antworten die Katholiken mit der Verherrlichung der Gegenreformation.46 In dieser Hinsicht kann man Enrica von Handel-Mazzetti, die in »Stephana Schwertner« der lutherisch-katholische Konflikt, in dem die von den Lutheranern verfolgten Katholiken über den »teutschen« Glauben triumphieren, als zentrales Problem thematisierte, nicht nur als aufmerksame Chronistin der Spannungen aus den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, sondern vor allem als Vorläuferin der Tendenzen sehen, die in der österreichischen Belletristik nach 1918 dominieren werden.

42 »Paula Grogger nennt die Dichterin des ›Meinrad Helmperger‹ ein andermal die Magistra magna des modernen deutschen Schrifttums und gesteht, sie selbst habe als Jungmädel im Salzburger Kloster besonders den Deutschen Helden als tiefstes Erlebnis zu verzeichnen gehabt.« Vgl. Dörrer, S. 467. 43 Es soll hier daran erinnert werden, dass Lion Feuchtwanger, einer der wichtigsten deutschen Exilschriftsteller, Enrica von Handel-Mazzetti in seinem Essay über die historische Dichtung »Das Haus der Desdemona« (geschrieben 1958 und erst nach seinem Tode als Fragment herausgegeben) mit einem gewissen Respekt erwähnte: »Ich habe wohl damals die Romane der Handel-Mazzetti sehr überschätzt und vor dem sentimentalen, abgelegt Glaubensseligen die Augen zugemacht. Aber die Romane dieser Dichterin, wiewohl auf weite Strecken wolkig und verschwärmt, sind lebendig, ihre historische Genauigkeit im Detail ist nicht pedantisch, sie ist gestaltet.« Vgl. Lion Feuchtwanger, Das Haus der Desdemona oder Größe und Grenzen der historischen Dichtung, München 1984, S. 182. 44 Scheichl, S. 390–391. 45 Scheichl, S. 392. 46 Jachimowicz, S. 320–332. Die Autorin bespricht diese Thematik ausführlich am Beispiel des Romans »Das Mädchen von St. Veit« (1922) von Reimmichl.

Petra-Maria Dallinger (Linz)

Letzten Endes keine historischen Romane? Enrica von Handel-Mazzetti, »Die Waxenbergerin«

Die 1871 in Wien geborene, 1955 in Linz verstorbene Schriftstellerin Enrica von Handel-Mazzetti, die nicht ganz zu Unrecht gewöhnlich als ›katholische‹ Autorin rubriziert wird, konnte sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts mit historischen Romanen im gesamten deutschsprachigen Raum bei einer großen Leserschaft etablieren, die über dezidiert katholische Kreise weit hinausreichte.1 Unter anderem auch mit etlichen Mehrfachbearbeitungen desselben Stoffes behauptete sie erfolgreich ihre Position auf dem Markt und erzielte anhaltend hohe Auflagen. Für den einflussreichen deutschen Publizisten und Herausgeber der reformkatholischen Kulturzeitschrift »Hochland«, Carl Muth, verkörperte sie eine literarische Position, die er im ›Katholischen Literaturstreit‹ gegenüber der starken Präsenz protestantischer Dichtung auf dem deutschsprachigen Buchmarkt für durchaus konkurrenzfähig erachtete.2 In der Behandlung konfessioneller Fragen, die Handel-Mazzetti häufig thematisiert, verzichtet sie auf Eindeutigkeit in der Charakterisierung und Zuordnung ihrer Figuren; moralische Qualität ist für sie nicht zwangsläufig bzw. nicht ausschließlich mit dem richtigen – d. h. dem katholischen – Glauben verknüpft. Ihre großteils im traditionsreichen Münchner Kösel-Verlag erschienenen Bücher sind, ausgestattet mit gängigen Versatzstücken der Trivialliteratur, für ein breites – auch protestantisches – Publikum attraktiv.3 Die Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichen, ja teilweise konträren Erwartungshaltungen ihrer LeserInnen 1 Der Roman »Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr« war 1900 als Buch erschienen, davor in Zeitschriften; es folgten die Rita-Romane, »Jesse und Maria«, »Die arme Margaret« usw. 2 1898 hatte Muth unter dem Pseudonym Veremundus seine programmatische Schrift zur Frage »Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?« veröffentlicht. Vgl. auch Bernhard Doppler, Katholische Literatur und Literaturpolitik. Enrica von Handel-Mazzetti. Eine Fallstudie, Königstein/Ts. 1980, S. 10–51. 3 Handel-Mazzetti publizierte etwa auch im 1874 von Julius Rodenberg gegründeten liberalen Journal »Deutsche Rundschau«; mit Rodenberg verband sie ein freundschaftlicher Briefwechsel. Vgl. dazu Nicole Streitler, Verehrte Frau Baronin! Zu den Briefen Julius Rodenbergs an Enrica von Handel-Mazzetti, in: Petra-Maria Dallinger (Hg.), Enrica von Handel-Mazzetti. »und küsse Ihre Busipfötchen«. Ein Leben in Briefen, Linz 2005, S. 77–86.

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Petra-Maria Dallinger

machte Handel-Mazzetti allerdings manchen Kreisen verdächtig, sodass sie kurzzeitig auch ins Zentrum der Modernismusdebatte geriet. Dem Vorwurf einer nicht ausreichend prinzipienfesten Haltung und der drohenden Indizierung begegnete Handel-Mazzetti mit einer in der Presse verbreiteten Erklärung vom 23. September 1910, in der sie auf die Enzyklika ›Pascendi‹ von Pius X Bezug nimmt und sich der Autorität des Papstes auch in ästhetischen Fragen unterwirft.4 Zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres Romanes »Die Waxenbergerin«, zu Jahresende 1934 bei Kösel, waren Bedeutung und Strahlkraft der über 60-jährigen Schriftstellerin bereits am Verblassen.5 Der Literaturbetrieb mit seinen konkurrierenden Teilkulturen hatte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs neu formiert;6 allenthalben entstanden neue, häufig auch politisch orientierte Allianzen, konfessionelle Fragen traten in den Hintergrund. Handel-Mazzetti war Mitglied des Katholischen Schriftstellerverbandes,7 aber auch des 1923 gegründeten österreichischen (Wiener) PEN-Clubs. Nach dem Kongress des Internationalen PEN in Ragusa/Dubrovnik (25.–28. Mai 1933), auf dem eine Resolution gegen die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 in HitlerDeutschland beschlossen worden war, trat sie, gemeinsam mit einer Reihe deutschnationaler und nationalsozialistischer AutorInnen Österreichs am 4. Juli 1933 aus dem PEN-Club aus.8 In den öffentlich ausgetragenen Kontroversen und bei der drauf folgenden Spaltung des österreichischen PEN spielte sie keine Rolle. 4 Siehe zum Beispiel in: Steyrer Zeitung, 25. 9. 1910 u. a. 1912 wurden ähnliche Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Plagiatsstreit zwischen Handel-Mazzetti und Karl Schönherr neuerlich laut, vgl. Paul Nieborowski, »Die arme Margaret.« Ein Denkmal katholischer Selbsterniedrigung, in: Zeitschrift des Volksvereins für das katholische Deutschland, März 1912. 5 Doppler spricht davon, dass sich bereits in den 1920er Jahren eine Absetzbewegung katholischer Kreise von Handel-Mazzetti abzuzeichnen begann, da man ihren Stil als veraltet empfand. Bernhard Doppler, Die Öffentlichkeit einer Heimatschriftstellerin. Beobachtungen zu Handel-Mazzetti-Feiern, in: Petra-Maria Dallinger (Hg.), Enrica von Handel-Mazzetti. »und küsse Ihre Busipfötchen«. Ein Leben in Briefen, Linz 2005, S. 131–168, hier S. 157. Enzinger sieht die größte Beliebtheit Handel-Mazzettis und die »Höhe ihrer Leistung« im Zeitraum zwischen 1900 und 1930, spricht aber auch davon, dass ihr Erfolg bereits in den 1920er Jahren zurückging und im darauffolgenden Jahrzehnt rasch abnahm. Moriz Enzinger, Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts 20. Jg. (1971), Folge 1/2, S. 9–55, S. 10 und S. 46. 6 Vgl. Ernst Fischer, Zur Geschichte österreichischer Schriftstellerorganisationen in den dreißiger Jahren. Überlegungen und Thesen, in: Klaus Amann / Albert Berger (Hg.), Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Institutionelle Voraussetzungen, Fallstudien, Wien 1985, S. 147–149; Gerhard Renner, »Hitler-Eid für österreichische Schriftsteller?« Über österreichische Schriftstellerorganisationen der dreißiger Jahre, in: Amann / Berger 1985, S. 150–163; Klaus Amann, Zahltag. Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich, Bodenheim 1996, S. 63. 7 Friedbert Aspetsberger, Literarisches Leben im Austrofaschismus. Der Staatspreis, Königstein/ Ts. 1980, S. 100, Anm. 390. 8 Vgl. Klaus Amann, P.E.N. Politik. Emigration. Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub, Wien 1984, S. 37 und S. 44.

Enrica von Handel-Mazzetti, »Die Waxenbergerin«

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Im selben Jahr noch trat sie dem österreichischen Ableger des ›Reichsverbands deutscher Schriftsteller‹ (RDS) bei, der wichtigsten, unter der Patronanz von Propagandaminister Joseph Goebbels stehenden schriftstellerischen Berufsvereinigung des Dritten Reichs. Handel-Mazzettis stärkstes Motiv, dem RDS beizutreten, war wohl die Aussicht, damit den Zugang zu dem für sie wichtigsten und lukrativsten Absatzgebiet, den deutschen Markt, nicht zu verlieren.9 Nach dem ›Anschluß‹ Österreichs an das Dritte Reich wurden die österreichischen Mitglieder des RDS der ›Gruppe Schriftsteller‹ in der Reichsschrifttumskammer eingegliedert; Handel-Mazzetti wird mit Eintritts- (bzw. Übernahme-)datum 1. Juli 1938 geführt.10 Im Zuge der Versuche einer ›zeitgemäßen‹ Neuformulierung der österreichischen Literaturtradition durch nationale und nationalsozialistische Literaturfunktionäre, Germanisten und Kritiker gewannen spätestens seit Anfang der 1930er Jahre die Heimatliteratur und der historische Roman eine dominierende Stellung.11 Die Thematisierung des (deutsch-)österreichischen Raumes und seiner Geschichte in der Literatur wird zunehmend bedeutsam – nicht zuletzt für eine Einschätzung der ideologischen Ausrichtung der Schreibenden und für ihre Akzeptanz durch die (Kultur-)Politik, für die austrofaschistische ebenso wie für die nationalsozialistische. Literatur wird zu einem wichtigen Instrument politischer und ideologischer Selbstvergewisserung und Propaganda. Für Handel-Mazzetti scheint damit eine nahezu ideale Situation gegeben zu sein: der historische Roman, angesiedelt in Landschaften Österreichs, ist seit Jahrzehnten ihr bevorzugtes Genre. Mit ihm hatte sie sich ihren Namen gemacht, mit ihm hatte sie auch ihre größten (Verkaufs-)Erfolge.12 Der oberösterreichische Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner etwa sah HandelMazzettis Werk aus demselben »Keimboden […] erwachsen, […] aus dem politisch unser neues Österreich sich bildet«.13 Unser »neues Österreich« war im Jahre 1935 der austrofaschistische Ständestaat, bereits unterwandert und durchsetzt von Nationalsozialisten, die eine Vereinigung mit dem Dritten Reich 9 Vgl. Amann, Zahltag, S. 68f und S. 74, Anm. 218. Im Nachlass Enrica von Handel-Mazzetti im OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich (im Folgenden zitiert unter der Sigle NL EHM) findet sich der Lichtbildausweis Handel-Mazzettis für den Reichsverband deutscher Schriftsteller, Mitgliedsnummer 109, mit eingeklebten Quartalsmarken ab dem 4. Quartal 1933. 10 In einem Schreiben der Reichsschrifttumskammer an EHM vom 18. 3. 1941 wird die Übernahme der Mitgliedsnummer vom Reichsverband in die Reichsschrifttumskammer – A 109 – mit dem Aufnahmedatum 1. 7. 1938 bestätigt: und auch, dass der »Abstammungsnachweis […] nach dem Kriege erbracht werden« könne, NL EHM. 11 Amann, Zahltag, S. 84–87. 12 Vgl. »Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr« (1900), »Jesse und Maria« (1906), »Die arme Margaret« (1910), »Stephana Schwertner« (1912–1914). 13 Linzer Volksblatt, 21. 2. 1935.

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auch unter Anwendung von Gewalt anstrebten. Handel-Mazzetti selbst betont in ihrer Dankrede anlässlich der Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens der Republik die Analogie von Kunst und Politik. Zäsuren und Brüche in der Geschichte des Staates versucht sie in einer Gleichsetzung von »Alt- und NeuÖsterreich« zu harmonisieren, die sich im »Volkstum« zeige.14 Mit dem 1934 innerhalb nur weniger Monate entstandenen und noch im selben Jahr publizierten historischen Roman »Die Waxenbergerin« eröffnet Handel-Mazzetti ihre Reihe von »Starhemberg-Romanen«. An »Die Waxenbergerin« schließt ab 1939 die »Graf Reichard«-Trilogie an, deren letzter Band erst nach dem Ende des Krieges (1950) erscheinen wird.15 Angesichts der Wahl des Stoffes für die vier Romane stellt sich die Frage, ob darin eine absichtsvolle Reaktion auf die neue politische Situation in den 1930er Jahren zu erkennen ist, oder ob die Dichterin nur daran interessiert war, ein literarisches Modell, mit dem sie in vielerlei Hinsicht vorteilhafte Erfahrungen gemacht hatte, auch unter veränderten politischen Umständen mehr oder weniger unreflektiert fortzuschreiben. *** Zuerst erscheint mir die Gestalt, die Szene, bildhaft-körperlich, ich sehe alles mit einer Art der Vergangenheit zugewendeten Divination. Ich arbeite dann die Szene, die mir in dieser Art durch Inspiration gleichsam von Gott geschenkt wird, aus, und dann beginne ich – empirisch und synthetisch – an Hand der zeitgenössischen Quellen die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu prüfen.16

Den historischen Hintergrund des ersten Bandes der Starhemberg-Tetralogie, »Die Waxenbergerin«, bildet die Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1683. Als unmittelbaren Schreibanlass bezeichnet Handel-Mazzetti die 250. Wiederkehr des Ereignisses.17 Offizielle »Türkenbefreiungsfeiern« unter Betei14 [Linzer] Tages-Post, 13. 6. 1929. 15 Enrica von Handel-Mazzetti, Graf Reichard. Der Held vom Eisernen Tor. Roman aus dem deutschen Siegesjahr 1691, München 1939. Graf Reichard. Im stillen Linz, München 1940 und Graf Reichard. Held und Heiliger, mit Genehmigung des Rex-Verlages Luzern, Wien 1950. Klosinski spricht von einer Tetralogie, die über zentrale Protagonisten verbunden sei. Michaela Klosinski, Katholische Literatur zwischen Anpassung und Widerstand. Enrica von Handel-Mazzettis Starhemberg-Romane im Kontext von Austrofaschismus, katholischer Literaturtradition und Moderne, in: Aneta Jachimowicz (Hg.), Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich, Frankfurt am Main 2017, S. 407–428, hier S. 410. 16 EHM an Dr. Leifle, nach Enzinger, S. 41, Anm. 108, Enzinger zitiert Maria Brachtl ohne Quellenangabe, vermutlich bezieht er sich auf Maria Brachtl, Quellen, Aufbau und Stilmittel der Romantrilogie »Frau Maria« von Enrica von Handel-Mazzetti, Diss. Wien 1937. 17 Vgl. Enrica von Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, München 1934, Nachwort, S. [293] (In der 1950 im Herold Verlag Wien erschienenen Ausgabe fehlt das Nachwort).

Enrica von Handel-Mazzetti, »Die Waxenbergerin«

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ligung von Kanzler Engelbert Dollfuß und Bundespräsident Wilhelm Miklas fanden im September 1933 in Wien statt. Im Rahmen des in die Feierlichkeiten integrierten Katholikentages erfuhr die Erinnerung an den Kapuzinerpater Marco D’Aviano (1631–1699) als Held der Belagerungszeit besondere Aufmerksamkeit.18 Heimwehrführer Ernst Rüdiger Starhemberg (1899–1956) nützte die Gelegenheit einer Kranzniederlegung beim Denkmal seines Vorfahren Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg (1638–1701), der als Wiener Stadtkommandant die Verteidigung der Stadt während der Zweiten Türkenbelagerung geleitet hatte, im Wiener Rathauspark für eine Rede, in der er die sozialdemokratische Stadtregierung heftig angriff.19 Handel-Mazzetti, die ihre Wohnung auf der Spittelwiese in Linz seit Anfang der 1920er Jahre kaum mehr verließ, dürfte durch Zeitungsberichte über die Feierlichkeiten in Wien gut informiert gewesen sein. Auf die von Präsident Wilhelm Miklas in seiner Rede betonte »hohe Sendung von Wien als Bollwerk […] Schild und Schutzwall der abendländischen Christenheit« nimmt sie in »Die Waxenbergerin« direkt Bezug.20 Das Aufeinandertreffen konkurrierender Glaubensrichtungen war von Handel-Mazzetti mit Blick auf Protestantismus und Katholizismus in früheren Werken wiederholt gestaltet worden. Im »Roman aus dem Kampfjahr 1683« (so der martialische Untertitel der »Waxenbergerin«) werden Konfessionsfragen – etwa zwischen Katholiken und Hugenotten – nur beiläufig angesprochen; der Islam, den es abzuwehren galt, wird im Hinblick auf seine religiöse Dimension lediglich gestreift.21 Die belagernden Türken sind gewissermaßen nur am Horizont sichtbar. Zwei Aufmarsch-Szenen, in denen sie (inklusive nackter »Mohren«) »sichtbar« werden,22 geraten nach dem Muster von Kostümfilmen. Erst in den »Graf Reichard«-Romanen wird der Gegensatz zwischen Katholizismus (Graf Reichard, Sohn Starhembergs) und Protestantismus (Cornelia/Nele de Vry) in bewährter Manier über eine Liebesgeschichte entfaltet.

18 Handel-Mazzetti widmete D’Aviano einen Beitrag im Franziskuskalender 1933, in dem auch Bundespräsident Miklas vertreten war. Marco d’Aviano in Linz. Studie, in: Franziskuskalender 1933 (Linz), S. 65–90. 19 Vgl. Silvia Dallinger, Projekt Tuerkengedaechtnis, online, www.oeaw.ac.at/tuerkengedaecht nis (11. 1. 2021). 20 Enrica von Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, Wien 1950, S. 127. 21 Anlässlich des Sterbens des christlichen Prinzen Ghika, der auf der Seite der Türken steht, werden die beiden Religionen eher anekdotisch charakterisiert: »Im übrigen sei des Mohammeds Lehr dem Wunsch und Willen eines aufrechten Mannes viel gerechter als das Christentum. Die Türken hätten ein sehr schönes Paradies […], die Christen hätten eine überaus fade ewige Glückseligkeit. […] [E]ine einzige Houri sei alle seine [des Bischofs] gescherten Heiligen wert.« Zur angekündigten Konversion Ghikas kommt es nicht. Ebd., S. 287. Abwertende Kommentare finden sich an mehreren Stellen, so etwa »Mustapha […] Galan von tausendfünfhundert Weibern, […] Halbmensch Ali [der] Mohr«. Ebd., S. 62. 22 Vgl. etwa ebd., S. 100f und S. 348.

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Im Zentrum des Romans »Die Waxenbergerin«, der die Vorgeschichte der »Graf Reichard«-Bücher erzählt, steht die als Laienschwester oder auch als Kandidatin bezeichnete Aloysia Silbereyß, gebürtig aus der kleinen Ortschaft Waxenberg im oberösterreichischen Mühlviertel.23 Im Wiener Kloster der Ursulinen in der Johannesgasse in der Inneren Stadt betreut sie die mutterlosen Kinder des »hugenottischen« Heerführers de Vry, Nele und Piet. Im Gegenzug dafür erfahren die Nonnen besonderen Schutz durch de Vry. Außerdem kündigt der Hauptmann an, eine Kuh aus der Büffelherde der türkischen Belagerer zu erobern, um das Kloster mit Milch zu versorgen. Eine vertrauliche Geste de Vrys, dem Aloysias unschuldige Frische nicht verborgen bleibt, sowie seine Anwesenheit in der Klausur empören die junge Mühlviertlerin. Sie verfasst einen Protestbrief an die Oberin, die aus Sicherheitsgründen Wien verlassen hat, und steigt anschließend auf den Kirchturm, um de Vry bei der Entführung der Milchkuh beobachten zu können. Durch ein Fernrohr verfolgt Aloysia, wie der Überfall auf die Türken scheitert und de Vry gefangen genommen wird. Er weigert sich, seinem Glauben abzuschwören; das Angebot, eine Verbindung mit der ihm vorgeführten schönen Türkin Laila einzugehen, schlägt er aus. Gegen das Verbot des Stadtkommandanten Starhemberg läutet Aloysia die Sturmglocke, um die belagerten Truppen zu alarmieren. Im Glockenhäuschen verliert sie einen Schuh, der auf die Bastei hinunterfällt. Die Enthauptung de Vrys kann sie mit dem Geläute nicht verhindern. Um dem durch die Türken lebensbedrohlich verletzten Starhemberg beizustehen, wird Aloysia – Tochter eines Apothekers und offenbar bereits stadtbekannt – in die Burg gerufen. Es gelingt ihr, einen vergifteten Pfeil aus der Schulter Starhembergs zu entfernen, er erholt sich erstaunlich rasch von seiner schweren Verwundung. Durch den aufgefundenen Schuh wird Aloysia als ›Glockenläuterin‹ identifiziert und streng gemahnt. Während ihrer Befragung verschafft sich ein auf türkischer Seite dienender christlicher Prinz, Alexander Ghika, Zugang zur Burg. Ghika versucht Starhemberg zum Überlaufen auf die Seite der Türken zu überreden. Als dies misslingt, zückt der Prinz einen im Ärmel verborgenen Dolch. Aloysia, die sich mit einigen von Starhembergs Getreuen im Nebenzimmer aufhält, beobachtet im Spiegel die Szene, ergreift beherzt ein Schwert und fügt Prinz Ghika einen tödlichen Hieb zu. Auf dem Rückweg ins Ursulinenkloster wird Aloysia Zeugin der Beerdigung von Kindern, die in der belagerten Stadt verhungert sind. Schließlich muss Aloysia neuerlich in die Burg, sie wird dem sterbenden Prinzen Ghika auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin zugeführt. Man nötigt sie, Ghika zweimal zu küssen. 23 Noch heute befinden sich das kleine Schloss Waxenberg und die Burgruine in der gleichnamigen, zur Marktgemeinde Oberneukirchen gehörenden Ortschaft im Besitz der Familie Starhemberg.

Enrica von Handel-Mazzetti, »Die Waxenbergerin«

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Sie erhält von ihm einen Schlangenring und die Zusicherung, dass drei Milchkühe aus der Herde seines Bruders wie auch der Leichnam de Vrys übergegeben würden. Bedenken Aloysias angesichts der an ein Eheversprechen gemahnenden Kuss-Szene mit Ghika werden von Starhemberg kalt abgewehrt,24 selbst der Bischof findet Argumente für die Notwendigkeit ihres ›Opfers‹. Ghika stirbt mit einem »Jesus und Maria« auf den Lippen. Dem zeremoniellen Austausch der Toten und der Übergabe der Kühe kann Aloysia als Mann verkleidet beiwohnen. Die Kühe treibt sie selbst im Triumph durch die Stadt und misst nach dem Melken den Frauen Wiens ihren Anteil an der Milch zu. Der Bischof spricht die sich abzeichnende Rettung Wiens durch Starhemberg indirekt Aloysia zu (»propter illam ancillam«). Damit endet der Roman. *** Der Romantypus bleibt sich fast immer gleich. Ihre Romane sind eigentlich zum Roman ausgebaute Großlegenden.25

Im Aufbau der »Waxenbergerin« folgt Handel-Mazzetti ihrem mehrfach erfolgreich eingesetzten Roman-Modell mit einer zentralen weiblichen Gestalt im Titel und in der Handlung. Anders allerdings als in »Die arme Margaret« (1908/ 10) oder in »Stephana Schwertner« (3 Bde., 1912/14) misslingt die Verknüpfung eines historisch motivierten (Religions-)Konflikts mit der Heldin und mit ihrer Stellung innerhalb des Geschehens. Die Waxenbergerin scheint sich hineinzudrängen, wo es eigentlich keinen Platz für sie gibt.26 Eine schlüssige Integration der Laienschwester in die Vorgänge des alles entscheidenden »Kampfjahr[s] 1683« findet nicht statt und ihre Stilisierung zur Retterin Starhembergs, des Retters des christlichen Abendlandes, überzeugt nicht. Nicht zuletzt auch, weil vom eigentlichen Kampfgeschehen kaum mehr als der gelegentliche Einschlag von Petarden berichtet wird. Ein schlüssiges, handlungstragendes Gegensatzpaar 24 Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, S. 297–300. »Meine Tochter, was ist es, einen Herrn küssen und ihm den Namen Bräutigam geben, dessen er begehrt? […] Und wenn du meinst, du gibst deine Jungfrauschaft hin, so bist du wohl recht töricht, denn das Ding, was du meinst, ist anders geschaffen.« Zit. S. 299. 25 Enzinger, S. 44. 26 In der Verlagswerbung wird gerade das zum Beweis des Könnens der Autorin: »Hier hat sich der gerade an Enrica von Handel-Mazzettis Kunst bekannte Vorgang wiederholt, daß aus einer geringfügigen Begebenheit eine monumentale Dichtung erwächst, daß ein Mensch, dessen Name das Buch der Geschichte nur in sehr kleinen Lettern verzeichnet, der Nachwelt ein Heldenleben vorlebt, sobald nur der Stift der Dichterin zu zeichnen beginnt.« Verlagsanzeige Die Waxenbergerin, Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet, München, NL EHM. Enzinger bezeichnet die »Erzählung« als »geradliniger […] und mit weniger historischen Details beladen«; die Handlung sei vielfach konstruiert; Unwahrscheinlichkeiten würden sich zunehmend häufen, S. 37.

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fehlt. Aloysia verdoppelt gewissermaßen die Figur Starhembergs, dessen Mission als etwas Selbstverständliches, geradezu Naturgegebenes offenbar außerhalb jeder Begründung liegt. Ein Wissen um die historischen Umstände der Belagerung wird vorausgesetzt, oder eher noch: Es ist unerheblich für die Lektüre, weil das Historische nur Dekor, nur Kulisse ist. In der Zeichnung ihrer Heldin überfrachtet Handel-Mazzetti das durchaus strapazierfähige Genre des historischen Romans mit zahlreichen Elementen aus der Trivialliteratur und aus Heiligenviten, ja sie hebelt es geradezu aus.27 Aloysia ist Handel-Mazzettis vielleicht einfältigste Protagonistin, ein scherenschnittartig gezeichnetes »Landkind«,28 kraftvoll in der Bewältigung der Anforderungen des Alltagslebens, keineswegs demütig oder bescheiden in ihrer eindimensionalen Weltsicht, eher scheint sie in sturer Selbstgerechtigkeit ständig gefährdet sich zu verrennen. Ihre impulsive Handlungsbereitschaft leitet sich aus einem naiven Glauben her, der nicht selten in Opposition zu Regeln, Hierarchien und Obrigkeiten steht. Als Werkzeug der Vorsehung, das sich seiner selbst nicht bewusst ist, kann sie eine Sonderstellung behaupten, tritt aber – wiewohl mit Jeanne d’Arc und Judith (und auch albanischen Helden-Jungfrauen) verglichen29 – nicht aus ihrer letztlich untergeordneten Stellung heraus. Allenfalls »läutert sie sich empor«, das behauptet zumindest der Verlagsprospekt.30 Der abschließende Triumph im Akt des Melkens und der Milchverteilung zeigt das in unfreiwilliger Drastik. Auch die nebenbei gesprochenen Worte des Bischofs – »propter illam ancillam« – ändern nichts daran.31 Ein allfälliger verborgener emanzipatorischer Gehalt ist nur auf Umwegen aufzuspüren – etwa im Aufblitzen des Topos der ›virago‹, der mannhaften Heldenjungfrau, die sich jenseits der Amtskirche auf Gott beruft und damit selbst ermächtigt. Gleichzeitig verweist die Geschichte rund um den verlorenen Schuh als ›umgekehrte‹ Märchenerzählung Aloysia auf

27 Klosinski verweist auf Prägungen der katholischen Literatur und nennt den Einfluss eines ganzen »Gattungsspektrum« von »aus der Mode gekommenen« Formen wie Kalendergeschichte, Lehrstück, Märtyterlegende u. a. Vgl. Klosinski, S. 422. 28 Verlagsanzeige, NL EHM. Enzinger bezeichnet Aloysia als die »gelungenste volkstümliche Figur« Handel-Mazzettis, vgl. Enzinger, S. 36. Klosinski meint, die Übertragung von Heldentopoi auf Aloysia feststellen zu können, vgl. Klosinski, S. 415. 29 Den Vergleich mit Judith und Jeanne d’Arc beansprucht Aloysia selbst für sich: »Daß i den falschen Kerl hab mit dem Schwert geschlagen, dössel war gut und treffli, hat jo aa d’Judith ön Holafernes ön Kopf aghaut und eine Jungfrau in Frankrei die Engelländer tani prügelt.« Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, S. 221. Starhemberg spricht ihr hingegen ab, eine kriegerische »Virgen« zu sein. Vgl. ebd., S. 280. Das bei Handel-Mazzetti sonst zentrale Motiv der Erlösung durch Liebe wird in Aloysia nicht wirksam. 30 Verlagsanzeige, NL EHM. 31 Für die Ursulinen ist Aloysia vor allem eine Dienstbotin. Vgl. Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, S. 240; zum Melken vgl. ebd., S. 362.

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ihr bäurisches Milieu und konterkariert Emanzipationspotential.32 Auf das erotische Begehren von de Vry und von Prinz Ghika reagiert die Waxenberegerin mit Empörung; das Guidos, des Neffen Starhembergs, wird von ihr ignoriert, er selbst sublimiert es – immerhin ein wenig Erotik kommt ins Spiel, aber nicht in Frage.33 Zur Identifikationsfigur eignet Aloysia sich letztlich wohl nur eingeschränkt.34 Die historische Bühne um Aloysia – deren Namen sie im Totenbuch der Linzer Ursulinen fand35 – arrangiert Handel-Mazzetti routiniert nach vielfach erprobter Manier: dazu betreibt sie umfassende Recherchen,36 etwa durch die Konsultation von Fachliteratur; manches versucht sie auf anderem Wege zu klären, so beispielsweise durch Anfragen bei Franziska Starhemberg, die allerdings bei Details aus der älteren Familiengeschichte passen muss und ihrerseits auf Literatur bzw. das Familienarchiv verweist; offenbar interessierte Handel-Mazzetti sich dafür, wo sich die Familie Starhembergs während der Belagerungszeit befand.37 Zu den ›Schreibfetischen‹, mit denen sich die Autorin gerne umgab, dürften zwei Fe32 Eine Nonne borgt Aloysia, die ihren eigenen Schuh beim Glockenläuten verloren hat, einen bestickten Seidenpantoffel. Vgl. ebd., S. 119; in der Burg wird die so extravagant und – weil der zarte Schuh sie drückt – dann einseitig Beschuhte als Besitzerin des auf der Bastei gefundenen Schuhs identifiziert und damit als diejenige, die das Verbot, die Sturmglocke zu läuten übertreten hat. Starhemberg äußert sich abfällig über die von den Soldaten geäußerte Idee, der Schuh – ein »Treter« – könne der Lieben Frau gehören. Vgl. ebd., S. 167. 33 Guido, der Aloysia zur »diva civitas« erklärt, hebt sie bei anderer Gelegenheit »kurzerhand« in die Sänfte, deren Gobelins Handel-Mazzetti mehrfach die Möglichkeit zu versteckt erotischen Anspielungen geben. Vgl. ebd., S. 202, S. 217, S. 270, S. 274. 34 Klosinski begründet die typisierte Figurenkonzeption mit der »teleologisch ausgerichteten einsträngigen Handlungsführung«, Klosinski, S. 422. 35 Enzinger, S. 36, Anm. 87, Enzinger zitiert eine schriftliche Mitteilung Handel-Mazzettis an Brachtl, vom 18. 5. 1936. 36 Im Roman werden einige Fakten zur Geschichte des Wiener Ursulinenklosters angesprochen, so etwa die Gründung (auf Initiative von Kaiserin Eleonore) durch Lütticher Nonnen (darunter Mutter Alexia), die 1663 ein Haus in der Inneren Stadt (1. Johannesgasse 8) bezogen und sukzessive weitere Gebäude (darunter zwei Häuser aus dem Besitz der Familie Starhemberg) erwarben; die Kirche entstand 1673–1675, die von Handel-Mazzetti erwähnte Klosterapotheke (mit dem Ölgemälde Christus als Apotheker) – Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, S. 87f und S. 260 – dürfte allerdings 1683 noch nicht bestanden haben. Christine Riglerin – ebd., S. 224 und S. 231 – deren erzähltechnisches Potential die Autorin verschenkt, ist für die Zeit von 1648–1705 verbürgt, Handel-Mazzetti erläutert Rigler selbst im Glossar. Vgl. ebd., S. 382. 37 Siehe Fanny Starhemberg an EHM, 20. 11. 1933 und 14. 12. 1933, NL EHM. F. Starhemberg (1875–1943), Mutter des Heimwehrführers Ernst Rüdiger Starhemberg, engagierte sich in der Christlichsozialen Partei und in karitativen Einrichtungen; sie verweist Handel-Mazzetti auf »Erwin Weil, Das Bollwerk Gottes«; korrekt: Erwin Weill, Gottes Bollwerk. Ein Starhemberg Roman aus der Türkenzeit, Wien 1933. Weills Starhemberg-Roman ist stärker an den Schauplatz und den Kontext der Kampfhandlungen gebunden; die Heldin Maria zieht ihres Geliebten (Erasmus von Handel) wegen als Mann verkleidet in den Krieg und tötet den Türkenführer Hogia Ogli. Weill, geboren 1885 in Wien, starb 1942 im KZ Riga-Kaiserwald.

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derzeichnungen zum Schauplatz Ursulinenkloster gehören;38 dessen Sozialstruktur bildet sie vermutlich aus eigenen Erfahrungen als ehemalige Schülerin der »Englischen Fräulein« nach.39 Einen wesentlichen Anteil am ›Kolorit‹ des Romans bildet die künstlich historisierende Sprache – in der Erzählstimme und vor allem in den Dialogen.40 Die teilweise abenteuerlichen Übergänge zwischen Französisch und Deutsch, die vor allem bei den gebildeten brabantischen Nonnen und für das Milieu des Militärs eingesetzt werden, dienen weniger der Charakterisierung einzelner Figuren als dem Aufbau von Stimmung. Der Verlag rät explizit von dieser bei HandelMazzetti durchaus üblichen sprachlichen Ausstaffierung ab – in gar nicht so diskreter Anspielung auf die politische Situation; so meint Dr. Paul Siebertz, Handel-Mazzettis langjähriger Ansprechpartner bei Kösel: Ich weiß sehr wohl wie sehr bei Ihnen gerade dieses Französisch, andererseits die mundartlichen und holländischen Spracheinschiebsel, zum Gesamtkolorit des Kunstwerkes gehören […]. Die Menschen von heute verstehen nicht oder wollen nicht verstehen, daß auch in einem deutschen Buche Dialekt, ebenso wie fremdsprachliches Gedankengut am Platze ist und je mehr man auf diese Einstellung der heutigen Menschen Rücksicht nimmt, desto nachdrücklicher wird man den Erfolg des Ganzen fördern.41

Augenscheinlich konnte der Verlag sich bei der Autorin nicht durchsetzen. Die Hauptfigur Aloysia wird sprachlich charakterisiert durch eine an den Dialekt des oberösterreichischen Mühlviertels angelehnte Fantasiesprache, deren zum Teil frei erfundenes Vokabular das ländliche Milieu, aus dem die Protagonistin stammt, evozieren soll, und deren archaisierende Formen offenbar den historischen Abstand das Geschehens markieren. Dieser teils sehr derbe, teils unfreiwillig komische Kunstdialekt42 wird von Aloysias Umgebung als reizend, 38 Siehe Verlagskorrespondenz zur Rückstellung der Zeichnungen des Einganges zur Gruft der Ursulinen und des Columbariums (der Grabkammer, Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, S. 27), an EHM 31. 10. 1934, NL EHM. 39 Enrica von Handel-Mazzetti verbrachte das Schuljahr 1886/87 gemeinsam mit ihrer Schwester Elvira im Institut der »Englischen Fräulein« in St. Pölten. 40 Enzinger, S. 42 und S. 45. 41 Vgl. Verlagskorrespondenz, Dr. Paul Siebertz an EHM, 16. 8. 1934, NL EHM. Die Erstausgabe erläutert fremdsprachige Begriffe und Wendungen in Fußnoten, in der von Dr. Franz Berger 1950 im Herold Verlag Wien besorgten Wiederauflage finden sich die Angaben – wie von Dr. Siebertz in seinem Schreiben vorgeschlagen – in einem Glossar. 42 Vgl. Jakob Ebner, Freiln – Fräul’n – Fräulein. Der Einsatz von Sprachschichten als literarisches Verfahren bei Enrica von Handel-Mazzetti, in: Petra-Maria Dallinger (Hg.), Enrica von Handel-Mazzetti, S. 118–130 und Petra-Maria Dallinger, »Bestimmt einige Kraftausdrücke von Cilli«. Zu den »Cilli«-Notizen im Nachlass Enrica von Handel-Mazzetti, in: Marcel Atze / Volker Kaukoreit (Hg.), »Gedanken reisen, Einfälle kommen an«. Die Welt der Notiz. Sichtungen 16./17. Jg. 2017, S. 350–353. Klosinski sieht in Handel-Mazzettis Sprachgestaltung den Einfluss der Heimatkunstbewegung, vgl. Klosinski, S. 422. Grau betont (neben dem Quel-

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eigentümlich heimelig wahrgenommen. Prinz Ghika bringt »das Silber der Jungfrauenstimme« Kindheitsbilder seiner albanischen Heimat zurück.43 Graf Starhemberg versucht sie in ihrer (auch ihm vertrauten) Sprache zur Geduld mit dem sterbenden Ghika zu bewegen: »sitz di no a Randl her«, heißt er Aloysia.44 Nur an wenigen Stellen konfrontiert Handel-Mazzetti die Leserin mit der Realität des Krieges: Da sind zum einen die verhungerten Kinder und Mütter, auf die de Vry in der Wiener Innenstadt stößt,45 oder auch das Bild der toten Kindern, die in Kalkgruben gelegt werden46 – beide Situationen werden ungewöhnlich drastisch dargestellt. Und da ist zum anderen der Bäcker Wisor, der den Kopf eines toten Türken am Gürtel trägt, einem Schrumpfköpfchen ähnlich; sein fast schon fröhlicher Bericht über die »ebnermaßen ersprießlich Arwett«47 des Tötens vermag nicht recht zu erschrecken. Durch die beinahe leidenschaftslose Gestaltung des Glaubenskonfliktes bleiben Gründe und Anlass für den Krieg eigenartig unmotiviert: »wie auf einem alten Kupferstich erscheinen vor dem Hintergrund der belagerten Stadt und den Zelten der Osmanen Starhemberg, die scharf profilierten Offiziere seiner Umgebung […] und Aloysia, die Heldin selbst«.48 Krieg und Kampf werden am ehesten noch über die Notwendigkeit verständlich, die Belagerung wegen der großen Belastungen für die Bevölkerung zu beenden.49 In der männlich geprägten Gegenwelt zum Rückzugsort der Nonnen herrscht uneingeschränkt Graf Starhemberg, der Retter nicht nur Wiens, sondern Europas. Der »Führer und Heilige«50 trägt sakrale, ja gottähnliche Züge. Für Aloysia ist er ein Stellvertreter Gottes.51 Seine auch für seine Umgebung teilweise unver-

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lenstudium) Handel-Mazzettis »feinstes Einfühlungsvermögen und unbewusste Treffsicherheit« in der sprachlichen Gestaltung der Charaktere, »zeitlich, räumlich und sozial«, Herbert Grau, Die Mundartelemente in Enrica von Handel-Mazzettis »Arme Margaret«, in: Franz Berger / Kurt Vancsa (Hg.), Enrica von Handel-Mazzetti. Festschrift zur 75. Jahrfeier, Linz 1946, S. 137–48, hier S. 137. Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, S. 283f. Ebd., S. 302. Trotz des Lobes für Aloysias Sprache kann sich die Erzählstimme eines leisen Tadels nicht enthalten, wenn sie etwa anmerkt: »Aloysia, hättest Du Dich befleißigt, wie Mère de Cupres immer sagte, so verständest Du jetzt die Herren.« [Sie sprechen französisch.] Ebd., S. 332. Ebd., S. 51f, S. 65: »die Mutter mit dem Kinde an der leeren Brust ist auch ein Sinnbild von Wien, Vienna dolorosa«, und S. 132. Ebd., S. 222. Ebd., S. 180f: Starhemberg ermahnt Wisor, keine Gefangenen zu töten, die sich mit der Parole »Aman« (Pardon / Quartier) ergeben würden. Verlagswerbung, NL EHM. Schlachtenszenen finden sich im letzten Band der Graf Reichard-Romane: Graf Reichard. Held und Heiliger. Roman aus dem Siegesjahr 1691, Wien 1950, S. 303–325. Doppler, Die Öffentlichkeit einer Heimatschriftstellerin, S. 147, 164; vgl. auch Klosinski, S. 413. Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, S. 214.

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ständliche Härte begründet er tautologisch mit Anklängen an das biblische ›Ich bin der ich bin‹. »Weißt du denn nicht, daß nur mein Wille und meine Unbeugsamkeit mich zu dem macht, der ich bin? – Der Wien und Europa wert ist? Weißt du es nicht, daß mein Gesetz mein Gesetz und mein Wort mein Wort ist?«, weist er seinen Neffen Guido, der sich für Aloysia einsetzt, zurecht.52 Er fordert unbedingte Gefolgschaft; Aloysias Widerstreben »verdrießt und erzürnt« Starhemberg, der sie – eine Braut Gottes – jederzeit einem von ihm als nötig erachteten Zweck preis gibt, ohne auch nur ihr Opfer zu achten.53 Die bezeichnenderweise unter Tag angesiedelte Welt der Nonnen ist nur soweit geschützt, als sie Starhembergs Kriegsräson nicht in die Quere kommt. Fast scheint es, als würde die Autorin in ihrer Begeisterung für Starhemberg ihre eigentliche Heldin Aloysia gelegentlich im Stich lassen. *** Mitten in die Wiedergeburt unseres Vaterlandes fällt symbolhaft der 75. Geburtstag unserer großen Österreicherin. Nachdem sich während der tückisch erzwungenen Zugehörigkeit Österreichs zum Dritten Reich der Schleier des Schweigens über die Dichterin gelegt hatte, schickt sich ihre Heimat an, ihrer in aller Öffentlichkeit und in allen Ehren zu gedenken.54

Enrica von Handel-Mazzetti operierte auf unterschiedlichen Feldern des literarischen Lebens gleichzeitig: dem einer bürgerlichen Bildungsliteratur und dem des konfessionellen Schrifttums. Hoher geistiger und kultureller Anspruch und Trivialliteratur treffen bei ihr recht unvermittelt aufeinander.55 In ihrem Selbstbild – Heimatdichterin und Volksschriftstellerin mit Sendungsbewusstsein – unternimmt sie den Versuch eines Ausgleichs. Er wird begünstigt durch eine Kulturpolitik, die den geistigen Führungsanspruch von Dichtkunst unterstützt (aber auch kontrolliert), um sie für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.56 Wie gekonnt Handel-Mazzetti unterschiedliche Formen der Selbstinszenierung und Selbstvermarktung bedienen konnte,57 zeigt auch das kleine »Nach52 Ebd., S. 205. 53 Auf die bange Frage Aloysias, was im Falle der Gesundung Ghikas zu erwarten wäre, antwortet Starhemberg: »[…] Und wenn er wird, du bist nicht die einzige. Viel heilige Weiber der Historie hatten den Sinn fürs Kloster; die Vorsicht wollt es anders haben.« Ebd., S. 300. 54 Ernst Koref, Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz, [Vorwort], in: Franz Berger / Kurt Vancsa (Hg.), Enrica von Handel-Mazzetti. Festschrift, S. [11]. 55 Vgl. Doppler, Die Öffentlichkeit einer Heimatschriftstellerin, S. 134 und S. 138. 56 Vgl. ebd., S. 146 und S. 135. 57 Vgl. dazu etwa Rezensionen, die Handel-Mazzetti zu ihren eigenen Werken verfasste oder auch die Korrespondenz mit Marguerite Anklin, mit der sie Vermarktungsstrategien berät

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wort«, das dem Roman »Die Waxenbergerin« in der ersten Auflage beigegeben ist. Darin bettet Handel-Mazzetti den literarischen Schaffensprozess in einen zwischen Religion und Politik changierenden Kontext ein: Die Niederschrift sei, so die Dichterin, zwischen den katholischen Feiertagen Christi Himmelfahrt (10. Mai 1934) und Mariä Namen (12. September 1934) erfolgt; letzteres Datum verbindet sie mit der »Türkenbefreiungsfeier« ein Jahr zuvor.58 Ihrer Titelgestalt wünscht sie: »Nun sei Gott mit Dir, Waxenbergerin, auf der Fahrt durchs deutsche Land«.59 Oft geübte Strategien der Ambivalenz, ein grundsätzliches, vielleicht absichtsvolles Motivierungs- und Deutungsdefizit, ermöglichen unterschiedliche Lesarten,60 ein Vorteil, den die wohl nur vorgeblich naive HandelMazzetti nützen wollte. In ökonomischen Belangen war sie äußerst geschickt, auf die Erfüllung der mit dem Kösel-Verlag getroffenen Vereinbarung über monatliche Zahlungen in Höhe von 2000 RM für die Abtretung der Rechte an ihrem Werk pocht sie gegenüber dem Verlag wie gegenüber den Behörden.61 Wirtschaftliche Interessen erklären unter Umständen auch den Mangel an Abgrenzung in politischen Belangen, der sich in Huldigungsgedichten für Kanzler Engelbert Dollfuß wie auch für Klara Hitler, die Mutter Adolf Hitlers, zeigt,62 ebenso wie in der geradezu wahllosen Verteilung von Widmungsexemplaren, etwa der »Waxenbergerin«, die an verschiedenste Persönlichkeiten gehen, darunter Bundespräsident Wilhelm Miklas, Erzherzog Eugen, Kardinal Theodor Innitzer und den Reichskanzler Adolf Hitler – sowie, auf Empfehlung des Verlages, an Franz von Papen, seit 1934 Deutscher Gesandter in Wien.63 Tatkräftig unterstützt wird ihre ›Öffentlich-

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u. a.m., NL EHM; Petra-Maria Dallinger, »Löwenschwesterchen«. Zu Briefen der Marguerite Anklin an Enrica von Handel-Mazzetti, in: Petra-Maria Dallinger (Hg.), Enrica von HandelMazzetti, S. 63–76. Enrica von Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, München 1934, S. [293]. Auf dem Manuskript finden sich Datierungen vom März und Mai 1934, NL EHM. In der Korrespondenz mit dem Verlag wird gleichfalls der Kirchenkalender zitiert: Dr. Paul Siebertz nimmt die Lektüre des Manuskripts »vor dem Marienfeiertag« auf; an EHM, 16. 8. 1934, NL EHM. Enrica von Handel-Mazzetti, Die Waxenbergerin, München 1934, S. [293]. Klaus Amann, Dichter und die Politik. Essays zur österreichischen Literatur nach 1918, Wien 1992, S. 161. Zu Fragen von Geldausfuhr und Steuern vgl. den entsprechenden Schriftverkehr mit dem Verlag und dem Finanzamt; in Folge der Probleme im Devisenverkehr und wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Verlags verzichtet Handel-Mazzetti 1934 auf die Hälfte der ihr zustehenden Summe, NL EHM. Davor entsprachen die monatlichen Einkünfte allein von Seiten des Verlags in etwa dem Jahreseinkommen eines Lehrers. Vgl. Amann, Zahltag, S. 202. Manuskript »Gebet für den Bundeskanzler«, datiert mit 4. 10. 1933, »Klara Hitler. Namengedicht« zum »St. Klaratag 1937« (=11.8.), NL EHM. Ein Schreiben des persönlichen Referenten des Reichskanzlers Adolf Hitler zum Empfang eines Exemplars von »Die Waxenbergerin« wird in der Verlagskorrespondenz erwähnt, an EHM, 18. 1. 1935; Dr. Wilhelm Spael schlägt vor, über die von EHM genannten Adressaten hinaus auch von Papen ein Widmungsexemplar zu senden, an EHM, 3. 1. 1935, NL EHM.

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keitsarbeit‹ von der Verlagsleitung, die sich 1935 ernsthaft um eine Nominierung Handel-Mazzettis für den Nobelpreis bemüht. Federführend ist bei Kösel nach Dr. Paul Siebertz nun Dr. Wilhelm Spael tätig, der sich als Reichsdeutscher mit besten Verbindungen nach Österreich klar positioniert.64 Zum unbedingten Bekenntnis zu Österreich, das Fanny Starhemberg in ihrem Schreiben an Handel-Mazzetti 1933 formuliert: »Unser Oesterreich darf nicht zugrunde gehen. Es muss bis in die fernste Zeit hinaus der Mittelpunkt christlichen und deutschen Kulturlebens bleiben«,65 scheint all das doch in einem gewissem Widerspruch zu stehen. Ihr Verständnis von Österreich spricht Handel-Mazzetti in einem ebenfalls 1934 erschienenen Bändchen – »Die Heimat meiner Kunst« – an: Die eigenen familiären Wurzeln (»diese seltsame Blutmischung«) verknüpft sie mit einer besonderen Würdigung des »deutschen Wesens«, nennt ihre Dichtung »deutsch, und zwar deutsch in österreichischer Prägung«, sich selbst »mit Stolz deutsche Dichterin österreichischer Nation; und dieses österreichisch ist qualifiziert: oberösterreichisch, landlerisch«.66 Gegenüber dem Präsidenten der Reichsschrifttumskammer argumentiert sie im Mai 1936: »[…] ich hatte meine Gesundheit und besonders meine Augen förmlich zugrundegerichtet im Dienst des deutschen Schrifttums, des deutschen Volkes und meines braven deutschen Verlages«.67 Trotz ihrer forcierten Bemühungen, sich alle Seiten gewogen zu machen bzw. gewogen zu halten, ist ab 1940, wohl aufgrund ihres Klerikalismus und ihres Monarchismus, eine Distanzierung offizieller Stellen von Handel-Mazzetti zu bemerken.68 Ansuchen auf Papierzuteilung des Verlages für Veröffentlichungen von und zu Handel-Mazzetti werden abgelehnt.69 Zum 70. Geburtstag musste die »Schlesische Zeitung« mitteilen, dass: »Aus Gründen, die uns unbekannt sind, […] Gedenkartikel […] unerwünscht« sind.70 Auch Kösel berichtet, dass sich mancher einer öffentlichen

64 Die »Nobelpreisangelegenheit« wird Anfang 1935 geradezu generalsstabsmäßig eingefädelt. Als maßgebliche Persönlichkeiten werden Prof. Josef Nadler und Kulturrat Guido Zernatto genannt, dazu Staatssekretär Hans Pernter (Unterrichtsministerium). Kardinal Theodor Innitzer und Zernatto würden sich um Oswald Redlich (Präsident der Akademie) bemühen; »um nichts zu versäumen« wird in Linz Herr theol. Josef Renhardt ersucht, bei Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner die notwendige Eingabe zu erbitten; Renhardt leitet den Auftrag weiter an Hofrat Dr. Franz Berger. »Staat und Kirche, Kunst und Wissenschaft sind mobil gemacht« vermeldet Dr. Spael, an EHM, 24. 1. 1935, NL EHM; vgl. Doppler, Die Öffentlichkeit einer Heimatschriftstellerin, S. 159. 65 Fanny Starhemberg an EHM, 14. 12. 1933, NL EHM. 66 Enrica von Handel-Mazzetti, Die Heimat meiner Kunst, Saarlouis 1934, S. 13f. 67 EHM an Reichsschrifttumskammer, 1. 5. 1936, NL EHM. 68 Vgl. Doppler, Die Öffentlichkeit einer Heimatschriftstellerin, S. 147. 69 Kösel Verlag, Dr. [Vorname nicht ermittelt] Winkler an Dr. Franz Berger, 10. 3. 1941, NL EHM. 70 Ablehnung des Abdruckes eines Aufsatzes, Schlesische Zeitung an Ludwig Wehse, 10. 1. 1941, NL EHM. Der Aufsatz erschien 1946 in der »Festschrift zur 75 Jahrfeier«, herausgegeben von

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Grußadresse verweigere.71 Im Zusammenhang mit einem Beitrag für das »Jahrbuch der Stadt Linz« für 1941 – Handel-Mazzetti schlägt Passagen aus »Reichard« vor – entspinnt sich ein Schriftwechsel mit Dr. August Zöhrer, der expressis verbis mitteilt: »Noch verfänglicher ist es, wenn Sie von Österreich reden lassen. Diese Stelle möchte ich in der Veröffentlichung im Jahrbuch nicht aufscheinen lassen. Es würde[n] uns bestimmt aus dieser Stelle von irgend einer Seite her Schwierigkeiten bereitet werden.«72 Solche Vorfälle erlauben es Handel-Mazzetti, sich nach 1945 als Opfer zu stilisieren. Im Nachwort zum dritten, 1950 erschienenen Band der »Graf Reichard«-Romane lässt sie ihre Leserschaft wissen: Der Nationalsozialismus, der in meiner ausgeprägt katholischen, altösterreichischen Kunst eine gefährliche Feindin sah, hat […] meine Kunst und meine Persönlichkeit boykottiert. Kein Werk aus meiner Feder durfte gedruckt werden, keines im Buchladen aufliegen; mein Name durfte in den Blättern nicht genannt, mein Jubiläum nicht gefeiert werden.73

Die Nachkriegszeit reklamierte Handel-Mazzetti für ein konservatives Kulturprogramm.74 Die Hoffnung auf entsprechende Resonanz oder eine Renaissance wird noch in einer Festschrift zum 100. Geburtstag der Autorin als nicht eingelöst bezeichnet.75 Die Konjunktur des historischen Romans – auch die »neuromantische nach dem Vorbild Walter Scotts«76 – war deutlich abgeflaut. Enthistorisierte Geschichte wird zur Requisitenkammer,77 allerdings nicht zwangsläufig zu (guter) Literatur.

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Franz Berger und Kurt Vancsa, Ludwig Wehse, Enrica von Handel-Mazzetti und Schlesien, S. 134–136. In Bezug auf die Vorbereitung einer »Geburtstagsmappe« mit einer »Briefauslese« teilt Dr. [Vorname nicht ermittelt] Winkler vom Kösel Verlag Dr. Franz Berger bedauernd mit: »Es war mein stiller Schmerz, dass Kräfte am Werk sind, die das Verdienst der grossen österreichischen Dichterin nicht mehr sehen […]. Ausdrücklich habe ich darauf verzichtet, davon zu schreiben, […] weil ich für eine direkt ergangene Weisung in dieser Hinsicht keine genauen Unterlagen hatte […]«; etliche der Angeschrieben haben sich »versagt«. Das Ansuchen auf Papierzuteilung für den Almanach wird abgelehnt; an Dr. Franz Berger, 28. 1. 1941 und 10. 3. 1941, NL EHM. Korrespondenz mit dem Oberbürgermeister der Gauhauptstadt Linz, gezeichnet August Zöhrer, an EHM, 24. 7. 1941, NL EHM. Der Historiker und Schriftsteller Dr. August Zöhrer (1888–1971) war zwischen 1938 und 1945 Leiter des städtischen Kulturamtes, seine Pensionierung erfolgte nach Dienstenthebung 1945 im Jahr 1948. Zwischen 1940 und 1943 fungierte Zöhrer als Schriftleiter der »Stilleren Heimat«, dem Jahrbuch der Stadt Linz, heute »Facetten«. In den Jahrgängen 1940 bis 1942 ist Handel-Mazzetti nicht vertreten. Enrica von Handel-Mazzetti, Graf Reichard. Held und Heiliger, Wien 1950, Nachwort, S. 475. Doppler, Die Öffentlichkeit einer Heimatschriftstellerin, S. 147. Vgl. Enzinger, [Vorwort] Landeshauptmann Dr. Heinrich Gleißner, S. [5]. Enzinger, S. 41f. Amann, Zahltag, S. 91.

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Handel-Mazzettis »Die Waxenbergerin« zeigt beispielhaft, dass der historische Roman zwar keinen Aufschluss über die darin beschriebene Vergangenheit und schon gar keine Antwort auf die Fragen der Gegenwart geben kann, dass die Verbindung mit zeitgenössischen politischen Entwicklungen aber dennoch eine sehr enge ist.78 Das Entstehen einer autoritären Struktur zeichnet sich im Roman in der Figur des Grafen Starhemberg ab, dem eine vollkommen unhinterfragte Erlöserfunktion zugesprochen wird. Rettung erfolgt nicht rational, nicht demokratisch, sondern durch Wirkungen von Zufall und gottgläubigen Eigensinns, im Sinne der Erfüllung eines göttlichen Heilsplanes. Das Bekenntnis zu seinem Sohn in der »Graf Reichard-Trilogie« macht dies noch deutlicher: »Wir marschieren mit dem Reichard, Reichard Starhemberg, er ist unser Führer und keine Gewalt der Erde noch Hölle kann uns schaden, wenn er uns führt. Keinen Sutsch noch Gisola als Kummandant wir brauchen, Reichard allein soll unser Führer sein.«79 LeserInnen wird etwa die eigenartige Überblendung des Grafen Starhemberg der Türkenbelagerung mit seinem namensgleichen Nachfahren, dem Führer der Heimwehr und Vizekanzler unter Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg, aufgefallen sein. Der Schatten des zeitgenössischen Starhemberg – ein Faschist – fiel wohl auf seinen Vorfahren, den historischen Starhemberg und die Rezeption von Handel-Mazzettis Werken. Sie hatte mit ihrem Helden vielleicht auf das falsche (historische) Pferd gesetzt.

78 Enzinger resümiert: »[…] so daß man sagen muß, es geht ihr eigentlich doch nicht letzthin um das Historische, ja es sind ihre Romane letzten Endes keine historischen Romane, weil sie die Geschichte nur als Hilfsmittel für die Gestaltung ihrer eigentlichen Problematik benützt […]. Wie immer es sei, auch für Handel-Mazzetti wird die Geschichte, ohne das direkt zu betonen, irgendwie zum Spiegel ihrer Gegenwart«. Enzinger, S. 42. 79 Enrica von Handel-Mazzetti, Graf Reichard. Held und Heiliger, S. 20.

Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck)

Der historische Roman als Heimatroman – Henriette Schrott-Pelzel

Ganz konventionell beginne ich mit einigen Fakten zur Biografie der wenig bekannten Henriette Schrott-Pelzel.1 Sie wurde 1877 als Tochter eines vermögenden Hoteliers und Pioniers des Tiroler Fremdenverkehrs2 in Innsbruck geboren; einen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie in den väterlichen Hotels und Schlössern in Südtirol, die Schule besuchte sie bei den Ursulinen in Innsbruck. Ihre Mutter, Marie Schrott, hat eine Broschüre über Schloss Vorst (heute: Forst), eines jener Hotels, geschrieben,3 ihr Bruder war ein zumindest lokal bekannter Bildhauer. Literarisch trat Henriette Schrott 1908/09 an die Öffentlichkeit,4 zuerst durch kurze Erzählungen im »Allgemeinen Tiroler Anzeiger«, einer betont katholischen Innsbrucker Tageszeitung, die ihr Werk weiterhin freundlich begleitete und gelegentlich ihre Bücher besprechen ließ, von niemand Geringerem als von Bruder Willram (Anton Müller), einem in Tirol als Lyriker sehr prominenten Priester. Erzählende Kurzprosa von ihr steht immer wieder in (hauptsächlich lokalen) Zeitungen, Zeitschriften, auch Kalendern. Ihr erstes Buch, »Jakob Brunner. Ein Tiroler Roman«, die Geschichte eines Priesters, erschien 1910 in einem kleinen Innsbrucker Verlag, wurde aber 1911 vom Berliner WarneckVerlag übernommen, einem offenbar christlichen Unternehmen (allerdings protestantischer Prägung), in dem bis 1926 die meisten ihrer Bücher herauskamen. 1912, für die Zeit der Jahrhundertwende relativ spät, heiratete sie einen österreichischen Offizier und veröffentlichte seither unter dem Namen Henriette Schrott-Pelzel; das Adelsprädikat ihres (1936 verstorbenen) Gatten, Edle von 1 Nach https://literaturtirol.at/lexikon/805. 2 Nach Alois Schrott ist in Innsbruck eine Straße benannt. 3 Marie Schrott, Schloß Vorst bei Meran, Südtirol. Kurze Beschreibung und Abriß der Geschichte des Schlosses. Meran 1892. Das etwa sechzigseitige Büchlein ist eine Mischung aus Werbebroschüre und Reiseführer. 4 Die erste Veröffentlichung, die ich nachweisen kann, ist allerdings schon »Ein Weihnachtsmärchen« in der Beilage zu den »Bozner Nachrichten« vom 24. 12. 1905.

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Staffalo, führte sie als Literatin kaum. Sie und ihr Mann waren prominent genug, dass die Nachricht von ihrer Verlobung und Hochzeit selbst in Wiener Blättern stand. Viel ist über ihr Leben nicht bekannt, ein Aufsatz zum siebzigsten Geburtstag5 deutet einige Schicksalsschläge an. Sie lebte bis zu ihrem Tod in Südtirol, zeitweise in Innichen – ob sie österreichische Staatsbürgerin geblieben ist und daher um 1938 für einige Jahre nach Nordtirol übersiedeln musste (wofür einige Indizien sprechen), konnte ich nicht herausfinden – , gestorben ist sie 1962 in hohem Alter in Meran. Ihre Bücher sind in kleinen oder regionalen Verlagen erschienen und wohl kaum außerhalb eines katholischen Milieus gelesen worden, dem sie von Anfang an zugerechnet worden ist.6 Auffällig ist, dass Henriette Schrott-Pelzel nach dem Ausscheiden aus dem Warneck-Verlag ihre Verlage oft gewechselt hat. Ihre Romane sind in kleinen Auflagen erschienen,7 nur wenige sind ein zweites Mal gedruckt worden; die Ausnahme ist »Jakob Brunner« von 1910, der 1926 im 32. bis 34. Tausend vorlag. Rezensiert wurden sie selten8 und die wenigen Artikel über sie stehen wiederum vor allem in katholischen und speziell in Tiroler katholischen Zeitungen;9 Reaktionen in Deutschland habe ich nicht gefunden.10 Doch auch die regionale Rezeption ist nicht besonders intensiv, der ihr durchaus gewogene Innsbrucker Bibliothekar Anton Dörrer widmet ihr in seiner Broschüre über die Literatur in Südtirol nur wenige Zeilen.11 Henriette Schrott-Pelzel musste wohl nicht von den Einnahmen aus ihrer literarischen Tätigkeit leben.12

5 Maria Mühlgrabner, Henriette von Schrott-Pelzel, die Dichterin der schönen Menschenliebe, in: Der Schlern (Bozen) 21 (1947), S. 227f. 6 Vgl. Reichspost (Wien) 6. 1. 1911, S. 6. Vgl. auch den von Aneta Jachimowicz, Der historische Roman der Ersten Republik in ideologiekritischer Sicht, Würzburg 2017, S. 174, Anm. 489, zitierten Aufsatz von Anton Dörrer, Henriette Schrott v. Pelzel. Zum 50. Geburtstag der Meraner Romanschriftstellerin, in: Reichspost (Wien) 23. 7. 1927, S. 9. Die »Reichspost« war das Tagblatt der katholischen christlichsozialen Partei. 7 Antiquarisch wurden am 1. 11. 2018 insgesamt 35 Bücher von ihr angeboten, bei Weitem am meisten »Iduna Robiat«, vielleicht das Buch mit der größten Auflage; am 3. 12. 2019 war das Angebot mehr oder minder identisch. 8 Als Kuriosum verzeichne ich eine zufällig gefundene Besprechung von »Iduna Robiat« aus Estland, in: Revaler Bote 8. 5. 1928. 9 Nur ein – frühes – Buch wurde in der Wiener »Neuen Freien Presse« besprochen: Th. [Karl v Thaler], Henriette Schrott. Jakob Brunner, in: Neue Freie Presse 10. 7. 1910, S. 36f. 10 Da es in Deutschland kein dem ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek mit der Möglichkeit der Volltextsuche vergleichbares Projekt gibt, wäre die Suche sehr aufwändig gewesen. 11 Anton Dörrer, Deutsche Dichtung an Etsch und Eisack von 1918 bis 1935, Innsbruck 1935. 12 Der Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem Film Klaudi Geiser von 1917 mit Henny Porten in einer Hauptrolle und dem zuerst 1938 erschienenen Roman Claudi Geiser von Schrott-Pelzel besteht (vgl. u. a. Maria Mühlgrabner, Henriette Schrott-Pelzel. Zum 60. Geburtstag der Südtiroler Dichterin, in: Innsbrucker Nachrichten 24. 7. 1937, S. 7f, hier S. 7), kann ich nicht nachgehen.

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Heute ist sie völlig vergessen; selbst in der regionalen Presse wird sie – zu Recht – seit Jahrzehnten nicht mehr erwähnt.13 Kontakte zu LiteratInnen scheint sie nur in geringem Maße gehabt zu haben; in den in Frage kommenden Archiven ließ sich ein einziger Brief von ihr nachweisen.14 Wahrscheinlich sind Beziehungen zur katholischen Literaturszene Österreichs, deren prägende Gestalten Richard v. Kralik (1852–1934) und Enrica v. Handel-Mazzetti (1871–1955) gewesen sind. Geschätzt wurde sie offenbar vom schon genannten Bruder Willram (Anton Müller, 1870–1939) in Innsbruck, doch bleibe dahingestellt, ob der zu einer Literaturszene gehört hat. Einem eher zufälligen und mehr persönlichen als literarischen Kontakt der Autorin mit Karl May bin ich nicht nachgegangen.15 Im strengen Sinn gehört Henriette Schrott-Pelzel nicht zur Literatur der Ersten Republik, denn sie lebte im seit 1919 zu Italien gehörenden Südtirol und publizierte nur selten in österreichischen Verlagen, gelegentlich in österreichischen Zeitungen und Zeitschriften. Andererseits war sie wie die damals in Österreich lebenden und schreibenden SchriftstellerInnen unter den Bedingungen der k. u. k. Monarchie sozialisiert worden und hatte sich ein kleines Plätzchen unter den katholischen AutorInnen geschaffen. Auf die veränderten sozialen und politischen Bedingungen in der Republik Österreich nahm sie kaum Bezug. Südtirol ist in ihren Werken so präsent, als Schauplatz wie als Thema, dass kurz auf die Situation in diesem Land eingegangen werden muss. Italien hatte in den Friedensverhandlungen von 1919 die Verschiebung seiner Grenze an den Alpenhauptkamm erreicht, das rein deutschsprachige Gebiet um die Städte Bozen und Meran wurde von Österreich abgetrennt. Als in den frühen zwanziger Jahren der Faschismus an die Macht kam, setzte eine ziemlich brutale Italianisierungspolitik ein, die etwa zur Verordnung erfundener italienischer Ortsnamen – z. B. San Candido statt Innichen, Glorenza statt Glurns – , zum Verbot deutscher Vornamen, zur Schließung der deutschen Schulen und zur Entlassung ihrer Lehrer, zur Unterbindung der Kontakte zu Österreich, zur massiven Zuwanderung von Italienern usw. führte. Das Schicksal der Deutschen in Südtirol erregte in der für die deutschen Minderheiten außerhalb des Reichs überhaupt sensibilisierten Weimarer Republik Interesse und erst recht in Österreich, wo man den Verlust eines besonders schönen Lands betrauerte. Soviel zum aktuellen Hintergrund von Henriette Schrott-Pelzels historischen Romanen. 13 Überprüft im sehr vollständigen Katalog der Bibliothek des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum in Innsbruck. 14 An den Tiroler Autor Heinrich v. Schullern, 1924. 15 Vgl. dazu Anton Haider, Im Reiche des roten Adlers. Karl May und Tirol, hg. von Siegfried Augustin, Bamberg 2006, S. 152–177, mit Briefen von Karl und Klara May an Henriette Schrott.

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Ihr Werk besteht – neben zwei Gedichtbänden – fast ausschließlich aus Tiroler Romanen (und Erzählungen); Tirol steht als eine Art Markenzeichen oft im Untertitel. Ich gehe ein bisschen genauer auf zwei ihrer historischen Romane ein.16 Diesem Genre wendet sie sich in den späten zwanziger Jahren zu; die erfolgreichen historischen Romane Handel-Mazzettis waren für Schrott-Pelzel wohl Vorbild, ohne dass sie deren archaisierenden Stil übernommen hätte. Zwei Merkmale, die Hartmut Eggert für den historischen Roman mehr des 19. als des 20. Jahrhunderts festhält,17 sind bei ihr sehr ausgeprägt: die »patriotische [Tiroler] Gesinnungsbildung« und die Darbietung von ›Geschichte als Unterhaltung‹. Auch das Interesse an Regionalgeschichte hat Tradition im deutschen historischen Roman. Beide hier vorzustellenden Bücher spielen im 16. Jahrhundert: »Iduna Robiat. Historischer Roman aus Merans Vergangenheit« (1928)18 an dessen Anfang, »Geizkofler. Die Klein-Fugger von Tirol. Kulturhistorischer Roman aus großer deutscher Zeit« (o. J. [1938])19 in dessen zweiter Hälfte. Man beachte die Untertitel: In beiden Fällen wird explizit der Bezug zu Tirol hergestellt. Der Untertitel von »Geizkofler«: »aus großer deutscher Zeit« klingt nationalsozialistisch, ist es aber nicht. Das Attribut mag eine Konzession an den Zeitgeist sein (vielleicht des Verlags und nicht der Autorin), der Roman selbst weist aber keine nationalsozialistischen Elemente auf. Von der Handlung her wäre es leicht gewesen, judenfeindliche Szenen einzubauen, und die Hauptfigur, Hans Geizkofler, zu einer Führerfigur zu stilisieren. Diesen Versuchungen ist die Autorin, für die das gar keine Versuchungen gewesen sein mögen, jedenfalls nicht erlegen. Sie lebte ja außerhalb des direkten Machtbereichs der NSDAP, wenn der Roman auch im damals ›großdeutschen‹ Innsbruck erschienen ist und selbstverständlich auf LeserInnen im ›Reich‹ hoffte. Eine Bemerkung verdient die Form der Angabe des Autornamens: Henriette Schrott-Pelzel nennt sich auf dem Titelblatt beide Male »H. Schrott-Pelzel«, gibt sich also nicht sofort als VerfasserIN zu erkennen; das erinnert an die Unterhaltungsautorinnen des 19. Jahrhunderts, die – wie »E. Marlitt« – für Autoren gehalten werden wollten. Diese Abkürzung muss nicht auf die – damals ja doch nicht mehr (und noch nicht) ganz unbekannte – Autorin selbst zurückgehen, sie 16 Zu diesem Genre in Österreich in den zwanziger und dreißiger Jahren vgl. Jachimowicz; dieses Buch hat mich erst auf die Autorin aufmerksam gemacht. 17 Hartmut Eggert, Historischer Roman, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 2, Berlin 2000, S. 53–55. 18 Henriette Schrott-Pelzel, Iduna Robiat. Historischer Roman aus Merans Vergangenheit, München 1928. Aus diesem Roman zitiere ich mit der Sigle »IR«. 19 Henriette Schrott-Pelzel, Geizkofler. Die Klein-Fugger von Tirol. Kulturhistorischer Roman aus großer deutscher Zeit, Innsbruck o. J. [1938]. Aus diesem Roman zitiere ich mit der Sigle »G«. Der Roman war 1937 schon abgeschlossen (Dolomiten 24. 7. 1937, S. 6); das Jahr des Erscheinens übernehme ich aus den Bibliothekskatalogen.

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kann auch von den Verlagen vorgeschlagen worden sein. In früheren Werken hat sie den Vornamen ausgeschrieben.20 Die Abkürzung des Vornamens macht ihre Bücher nicht besser. Statt deren Sprache und Struktur im Detail zu analysieren zitiere ich den ersten Absatz von »Geizkofler«, um einen Eindruck von der stilistischen Unsicherheit und der unechten Poetisierung zu geben, die für Henriette Schrott-Pelzels Romane kennzeichnend sind und ihre Lektüre recht mühsam und unerfreulich machen. Der erste Tagesschimmer hat die Ostmauern Sprechensteins erklettert. Jubelnd und festgestimmt schmettern Fanfaren vom Turm, jählings dröhnen Freudenmörser in den Morgen hinein. Die Tore der Burg gehen auf, um edle Gäste einzulassen. Es ist Hochzeit. In feudal-mittelalterlichem Stolze und vornehmer Erwartung steht das tannenumgrünte Gemäuer, Eigentum der Trautson, auf einsamer Höhe und schaute hernieder auf das träumerische Moor, herab auf Reiffenstein und hinüber auf die Jöcher und Spitzen im Ridnaun. (G S. 9)

Das ist eher mehr als minder Kitsch, vor allem durch den allzu intensiven Gebrauch von Wörtern der gehobenen, wo nicht der poetischen Stilebene (»Tagesschimmer«, »jählings«, »tannenumgrünt«). Wenn dann dazwischen der historische Fachbegriff »feudal-mittelalterlich« auftaucht, ist das geradezu ein – funktionsloser – Stilbruch. Noch ein weiteres Beispiel für stilistisches Misslingen. In »Geizkofler« weist Hans Geizkoflers schöne blonde Frau Bärbel die Annäherungsversuche des lüsternen Dogen Gritti zurück (G S. 86): Ein kurzer vorwurfsvoller Blick Barbaras traf Gritti. Es war so, als neigte sich eine reine Blüte zum Straßenstaub hernieder. Aber auch der Doge verbeugte sich vor der scheidenden, lichten Frau […] Gleich geschmolzenem Metall stürzte seine Begierde in die kühle Flut der Ernüchterung zurück und der Mann wußte in diesem Augenblick klar wie noch nie in seinem Leben: Diese Nordlandskeuschheit vermochte nichts vom rechten Wege abzubringen, und er gab die Gedanken an ein Geschöpf auf, das durch Welten von ihm getrennt war.

Klischeehafter geht es wohl nicht – obwohl man in Schrott-Pelzels Romanen ohne große Mühe immer wieder vergleichbare Passagen finden kann. Diese stilistische Verkrampfung kann bis zu fehlerhaftem Sprachgebrauch gehen, der der Autorin nicht häufig, aber doch immer wieder unterläuft, etwa in »Iduna Robiat« (IR S. 102), in einer Erinnerung an die bedeutenden Tiroler Dichter des Mittelalters: »Vertrat diese Schar auserlesenster Sänger in ihrem Vaterlande und in der Dichtkunst des Mittelalters nicht einen ehrenvollen, weltberühmten Platz?« Die als Stilmittel an dieser Stelle ohnehin problematische 20 Henriette Schrott, Die von Edelspach, Graz 1912; Henriette Schrott-Pelzel, Doktor Urthaler, Berlin 1916. Ich habe nicht alle Bücher der Autorin in Hinblick auf die Abkürzung des Vornamens ausgewertet.

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rhetorische Frage hebt die missglückte Formulierung, eine Katachrese, noch zusätzlich hervor. Auch gegen die Logik verstößt die Autorin: »Die Adeligen gleichen Namens besaßen diese Scholle nicht mehr, weil sie mit so vielen anderen Adelsgeschlechtern des fünfzehnten Jahrhunderts erloschen [waren]« (IR S. 236). Dass das Aussterben einer Familie Verlust ihres Besitzes nach sich zieht, ist eigentlich recht selbstverständlich … Vor einigen allgemeinen Beobachtungen zu Schrott-Pelzels Erzählen möchte ich die beiden Bücher ganz knapp vorstellen. Iduna Robiat, die Heldin des gleichnamigen Romans, ist ab etwa 1510 Äbtissin des Meraner Clarissenklosters. Die schöne junge Gräfin ist Nonne geworden, weil ihr Bräutigam Egno von Fuchs sich kurz für eine andere Frau interessiert hat. Innerlich kommt sie trotz ihrer neuen Rolle nie ganz von ihm los – wie er seinerseits immer wieder, auch mit verwerflichen Mitteln, versucht sie ihren Gelübden zu entreißen. Zuletzt verzichtet auch er und lebt als Einsiedler; als solcher kann er schließlich Iduna vor den aufständischen, durch die Reformation zum Plündern der Klöster angestifteten Bauern retten. Der Roman endet fast legendenhaft mit der Trauer Egnos um die tote Äbtissin und mit seinem eigenen Tod, als er unter Wallfahrern ein Mädchen sieht, nein: erblickt, nein: einer Maid ansichtig wird, die der toten Iduna gleicht. Es ist nicht unwichtig, dass das an Iduna gemahnende »edelzüchtige« (IR S. 238) Mädchen die Tochter eines Schildhofbauern ist, also zu einer Tiroler Institution gehört, freien Bauern mit Sonderrechten im Passeier. Für den Versuch, »die Geschichte zweier gepeinigter Seelen« (IR S. 228) zu erzählen, erweist sich der historische Roman mit der für das Genre nötigen Fülle von Details als denkbar ungeeignet. Ganz abgesehen davon, dass die Autorin zu psychologischem Tiefgang nicht fähig ist. Eine Zuspitzung wie das Ende von »Iduna Robiat« kennt der stärker an die historischen Fakten gebundene Roman »Geizkofler« nicht. Seine Hauptfigur ist Hans Geizkofler, ein erfolgreicher Bergwerksunternehmer im damals reichen Südtiroler Städtchen Sterzing. Der Held, in besonders glücklicher Ehe mit Barbara verbunden, gleicht als Bürgermeister seiner Heimatstadt manche Konflikte aus, auch solche, die mit der Reformation zu tun haben. (Von dem zum Luthertum neigenden – und später zum Protestantismus übergetretenen – Sterzinger Stadtpfarrer Pfauser, später Hofprediger bei Kaiser Maximilian II., ist die Rede.) Geizkoflers geschäftliche Kontakte zu Augsburg und zu den Fuggern nützen seiner Heimatstadt wie ihm selbst; einige seiner zahlreichen Söhne arbeiten schließlich im Imperium der Augsburger Bankiers und Großkaufleute, von mehreren dieser Geizkofler wird berichtet, dass sie Lutheraner geworden sind. (Das Bild der Reformation ist in diesem Buch deutlich weniger negativ als in »Iduna Robiat«, wo sie aber nur ganz am Rande – als Ursache des Bauernaufstands – vorkommt.) Ein weiterer, mit den Geschicken der Geizkofler nur lose

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verbundener Handlungsstrang berichtet von einem Sterzinger Rittergeschlecht, dem alle schlechten Eigenschaften der spätmittelalterlichen Ritter eigen sind; einer der beiden Söhne bessert sich aber schließlich durch die Liebe zu einer tugendhaften – und engelsschönen – Adligen. Das letzte Sechstel von »Geizkofler« erzählt die Geschichte von Hans Geizkoflers Söhnen, Enkeln und Urenkeln im Überblick,21 bis zum Tod des letzten Nachkommen, der 1730 in Innsbruck gestorben ist. Es geht dabei um die allmähliche Auflösung der Familieneinheit, durch räumliche Trennung und konfessionelle Unterschiede. Das Schicksal der Geizkofler-Sippe wird dabei in Parallele gesetzt zum Niedergang des befreundeten Hauses Fugger. Auf diesen letzten 60 Seiten zerfällt der Roman bis zu einem gewissen Grad – Schrott-Pelzel ist nicht imstande die Schicksale der Geizkofler’schen Nachkommen zu synchronisieren, obwohl sie bei allen die fortdauernde Beziehung zu Sterzing unterstreicht. Der berühmteste Geizkofler, Zacharias (1560–1617), bekommt dabei recht wenig Raum, ebenso wie Lukas Geizkofler (1550–1620), dessen Selbstbiografie die Autorin aber verwendet, wie überhaupt, gewiss auch wegen der Quellen, manche Geizkofler mit ganz wenigen Sätzen, manche doch recht ausführlich vorgestellt werden. Die Autorin mag bei der Darstellung des Niedergangs der Familie Geizkofler an die »Buddenbrooks« gedacht haben, der Vergleich fällt nicht zu ihren Gunsten aus. Beide Romane sind etwa 300 Seiten lang, neben den erzählten Ereignissen bleibt viel Raum für historische Exkurse und für Landschaftsbeschreibungen. Die geschichtlichen Fakten stimmen mit dem Wissen der Historiker im Großen und Ganzen überein. Die Anordnung der Ereignisse ist streng chronologisch; allerdings springt der Erzähler gelegentlich abrupt von einem Handlungsstrang in einen anderen, insbesondere in »Geizkofler«, in dem die Verbindung zwischen den Handlungssträngen relativ locker ist. Über die Erzählperspektive dürfte sich Henriette Schrott-Pelzel nicht viele Gedanken gemacht haben. Wir haben es in beiden Büchern mit einem allwissenden Erzähler des 19. Jahrhunderts zu tun, der sich aber als solcher nie zu erkennen gibt. Im Übrigen ist er nicht nur all-, sondern in hohem Maß auch vielwissend und belastet die Leserin mit einer Unmenge von historischen wie geografischen Details ohne besondere Relevanz für die Handlung. »Feudalmittelalterlich« (G S. 9) ist nicht das einzige unpassende Fachwort, das aus Schrott-Pelzels Quellenstudium in den Romantext geglitten ist. Die Figurendarstellung tendiert zur Klischeehaftigkeit: Typisch ist die schon zitierte »Nordlandskeuschheit« von Hans Geizkoflers Frau (G S. 86); viel mehr erfahren wir von dieser Barbara nicht. Ähnliches gilt von den meisten anderen Figuren in den beiden Romanen. Selbst das Leiden Idunas und Egnos aneinander 21 Vgl. Friedrich Blendinger, Geizkofler, in: Neue Deutsche Biographie 6, 1964, S. 966f.

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wird mehr vom Erzähler berichtet als auch nur in Ansätzen aus der Innensicht der Figuren nachvollziehbar. Erotik und Sexualität bleiben weitgehend ausgespart, erscheinen aber dort, wo davon die Rede ist, sehr negativ (G S. 21: »Das Blut hetzte in seinem Leibe und er stürzte sich in die wilde Lust seiner Hochzeitsnacht.«) Positiv gezeichnete Frauenfiguren sind selbstverständlich immer schön; auch die Männer sind von edler Gestalt. Hingegen sind negativ gezeichnete Frauenfiguren in der Regel »voll Weltprunk und stolzen Reizen« (IR S. 28) wie Hilmtrud von Firmian in »Iduna Robiat«. Die abzulehnenden Männer werden mit Vorliebe als finster und roh vorgestellt, immer auch in Wertungen der Erzählinstanz und nicht nur durch ihr Reden und Handeln, etwa: »Waren die Reiffensteiner Junker die verkörperte Roheit […]« (G S. 113). Klischees dominieren besonders die Darstellung italienischer Figuren, die in »Geizkofler« mehrfach auftreten. Die Stelle, an der der lüsterne Doge Gritti die schöne blonde Frau seines Gastgebers begehrt, habe ich zitiert. Umgekehrt hat eine venezianische Schöne mit »korallenrotem Mund« (G S. 169) Lust auf einen von Geizkoflers Söhnen, selbstverständlich ohne dass ihre Verführungskünste erfolgreich wären. Über diese Gefährdungen hinaus sind die Erfahrungen von Söhnen Geizkoflers in italienischen Städten, in Bologna und Trient, auch sonst eher negativ. Keine Frage, dass diese negative Darstellung der Italiener aktualisierend zu lesen ist – in Hinblick auf die Bedrohung der authentischen deutschen Kultur Südtirols durch die Politik der Faschisten und auf das Verhalten mancher Italiener in der eroberten Provinz. Es ist wohl kein Zufall, dass diese italienkritischen Motive in »Iduna Robiat« noch fehlen – denn 1928 fing die italienische Entnationalisierungspolitik in Südtirol erst an. Noch einige Beobachtungen zu Besonderheiten von Henriette Schrott-Pelzels Erzählen. Typisch für sie ist das Nennen vieler Namen, ein Mittel, die Handlung ganz stark räumlich zu situieren. Das gilt besonders für die Erwähnung von aus der Tiroler Geschichte bekannten Adelsgeschlechtern an jeder nur irgend möglichen Stelle; am zitierten Beginn von »Geizkofler« ist von den Trautson die Rede. Neben den Namen der adeligen Familien nennt Schrott-Pelzel besonders gern die Namen ihrer Burgen; in der Tat ist Südtirol eine besonders burgen- (bzw. ruinen)reiche Landschaft, so dass die Erwähnung dieser oft eindrucksvollen Bauten wiederum zum Südtirolbild beiträgt. Im zitierten ersten Absatz von »Geizkofler« sind es, in einem Absatz, Sprechenstein und Reiffenstein in der näheren Umgebung der Stadt Sterzing, in welcher der Roman meistens spielt. In »Iduna Robiat« (S. 92–96) gelingt es Schrott-Pelzel, auf vier Seiten, die von einer erzwungenen Wanderung der Hauptfigur erzählen, die Burgen Fragsburg, Burgstall, Vestenstein, Wolfsturm, Maultasch, Greifenstein (»das romantische, schauerliche Feudalnest«, S. 95), Hoch-Eppan, Sigmundskron/Formigar, Le-

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benberg zu nennen,22 dazu die Adelsgeschlechter Niedertor, Spaur, Villanderser, Milser, Annaberger, Eppan, Fuchs, Firmian und noch zwei mittelalterliche Herrscher in Tirol: Margarete Maultasch und den der Handlung schon recht zeitnahen Sigismund den Münzreichen. Hier gestatte ich mir eine Notiz zur Darstellung des Adels in Schrott-Pelzels Romanen: Ihr Bild zumal der Ritter kann recht kritisch ausfallen, sie prangert deren Hang zur Brutalität und vor allem deren Umgang mit den Bauern an. Besonders ausgeprägt ist dieses Motiv in »Geizkofler« bei der Darstellung der auf Sprechenstein sitzenden Familie, deren Oberhaupt, »der Quälgeist der Bevölkerung«, schließlich von seinen Bauern erschlagen wird (G S. 236). Daneben kommen sehr positiv gezeichnete adlige Figuren vor, etwa in »Geizkofler« (S. 198ff.) Stacher von Völs zu Aicha und dessen Tochter – und selbstverständlich Iduna Robiat selbst. Die ästhetisch zumindest fragwürdige Häufung der Namen ist für das Thema ›Südtirol‹ wichtig, hat also immerhin eine Funktion, von der noch zu reden sein wird. Sie ist aber Folge auch einer anderen Intention: Die Autorin hat manifest die Absicht, ihre Leserinnen zu ›bilden‹, in dem Sinn, dass sie sie mit Wissen überhäuft (und mit ihren eigenen Kenntnissen protzt). Der Untertitel von »Geizkofler«: »Kulturhistorischer Roman« ist programmatisch, Schrott-Pelzel will erzählend Wissen vermitteln, das sie für wichtig hält. Bei deutschen und österreichischen historischen Romanen des 20. Jahrhunderts muss man selbstverständlich an das Muster Gustav Freytag denken, der auch in Österreich in jedem Lesebuch und in jedem bürgerlichen Haushalt stand, doch hat Henriette Schrott-Pelzel wohl eher die ja durchaus lesenswerten »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« im Kopf als »Die Ahnen«. Mit denen hat sie freilich die patriotische Absicht gemeinsam – der es aber nicht unbedingt förderlich ist, wenn die Leserinnen dadurch gelangweilt werden, dass die Äbtissin Iduna Robiat ausführlich aus der angeblichen Chronik ihres Klosters über die Entstehung des Clarissenordens und die Gründung von dessen Meraner Niederlassung vorliest (IR S. 35ff.) oder der Erzähler von »Geizkofler« Anton Fugger ausführlich die Geschichte seines Hauses referieren lässt (G S. 79–84, immerhin durch einige Fragen der Zuhörer unterbrochen). Passagenweise kippt da der Roman ins Sachbuch, was in der Unterhaltungsliteratur bis heute nicht selten ist; vielleicht kann man von einer Strategie der Selbstrechtfertigung sprechen. Die Authentizität des Erzählten unterstreicht die Autorin in beiden Büchern durch Quellenverzeichnisse, in »Iduna Robiat« zusätzlich durch Erläuterungen und durch einen Text aus der Zeit der Auflösung des Meraner Clarissenkonvents. Die ›bildende‹ Intention bringt, in »Geizkofler« mehr als in »Iduna Robiat«, auch immer wieder die Einführung von Handlungssträngen mit sich, die ins Ganze nicht oder 22 Aus meiner Kenntnis der Landschaft könnte ich die Liste der Burgen noch ergänzen.

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nur sehr lose integriert sind, wie etwa die Begegnung mit Paracelsus (G S. 70, S. 87–90) – dieser hielt sich tatsächlich in Sterzing auf – und Vigil Rabers Sterzinger Passionsspiel (G S. 130–143). Die behandelten Romane Henriette Schrott-Pelzels scheinen eine nähere Betrachtung nicht zu lohnen und schon gar nicht verdienen sie eine ›Wiederentdeckung‹ – abgesehen davon, dass es immer interessant ist zu sehen, dass in den dreißiger Jahren eben nicht nur »Die Schlafwandler« und »Die Kapuzinergruft« entstanden sind. Deren Qualität kann man kontrastierend viel besser beurteilen, als wenn man sie ohne Blick auf rundherum Entstandenes liest. Zu Schrott-Pelzel eröffnet der Südtirol-Bezug einen gewissen Zugang. Ihre Bücher wollen Interesse an diesem politischen Problem wecken und über das Land informieren, zumal über seine ›deutsche‹ Geschichte. Mag sein, dass die Autorin auch ein wenig von dem Interesse an ihrer Heimat profitieren wollte. Ebenso gut kann man von genuinem persönlichen Engagement für die lokale Geschichte und überhaupt von Lokalpatriotismus ausgehen, die sich bei Henriette Schrott-Pelzel auch noch nach 1945 in nur lokal verbreiteten Schlossgeschichten aus den verschiedenen Südtiroler Talschaften niedergeschlagen haben. Der besondere Südtirolbezug wird noch deutlicher, wenn man nicht den Text allein, sondern das Buch betrachtet, auf das in diesen Fällen in besonderem Maße zutrifft, dass das Buch mehr ist als der Text. Beide Romane sind illustriert, »Geizkofler« mit Federzeichnungen des damals zumindest lokal bekannten Innsbrucker Grafikers Oswald Haller, die vor allem mittelalterlich gebliebene Orte in Sterzing darstellen (also nicht Szenen der Handlung ins Bild umsetzen), »Iduna Robiat« mit einer recht großen Zahl von Schwarz-Weiß-Fotos Südtiroler Burgen und Landschaften, von denen die wenigsten einen direkten Bezug zur Handlung des Romans haben; auf dem Schutzumschlag des Buchs findet sich ebenfalls das Foto einer Südtiroler Burg.23 Man könnte diese Illustrationen von ihrer Funktion her als Paratexte bezeichnen. Gerade diese die beiden Bücher doch prägenden Bilder – Illustrationen ohne Bezug zur Handlung sind selten – lassen in Verbindung mit den vielen erwähnten Beschreibungen und Exkursen über Südtiroler Landschaften und über Südtiroler Geschichte erkennen, dass der historische Roman Schrott-Pelzels auch Heimatroman ist und auf die Wirkung des Bezugs zu einer schönen und (damals) in ihrer Identität bedrohten Landschaft spekuliert. Unfreiwillig kritisch bestätigt Maria Veronika Rubatscher in einer Besprechung diesen Aspekt von »Iduna Robiat«: »Die beigegebenen his-

23 Den Schutzumschlag kenne ich nur von Abbildungen; der Klappentext war mir nicht zugänglich. Des Schutzumschlags von »Geizkofler« konnte ich überhaupt nicht habhaft werden.

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torischen und Landschaftsbilder […] machen den Roman zu einem hervorragenden Heimatbuche.«24 Selbstverständlich fehlen beiden Büchern charakteristische Elemente des Heimatromans, vor allem kommen Bauern nur am Rande vor, die bäuerliche Arbeit so gut wie gar nicht. Die Figuren weisen keine besondere Bindung an die Heimat auf, wenn auch der gemeinsame Herkunftsort Sterzing die Geizkofler über Generationen miteinander verbindet. Dennoch haben die beiden historischen Romane Schrott-Pelzels etwas mit der Heimatliteratur gemeinsam: Sie rücken eine bestimmte Landschaft in den Mittelpunkt und machen sie geradezu zum geheimen Thema. Das ist in »Geizkofler« mit Sterzing ganz offensichtlich, aber Iduna Rubiat wandert auch nicht ohne Grund von Meran nach Brixen: Auf diese Weise kann von ganz Südtirol erzählt werden. Von der an sich untypischen einschlägigen grafischen Gestaltung der beiden Bücher ging schon die Rede. Diese Heimatzentriertheit der beiden Bücher ist obendrein politisch aktuell (wie viele historische Romane aus der Zeit der Ersten Republik). Das Schicksal des eben von Österreich abgetrennten Südtirol bewegte die Öffentlichkeit Österreichs und des Deutschen Reichs sowohl 1928, als die Italianisierung einsetzte, wie auch 1938, als Hitlers Deutschland die Deutschen Südtirols der Freundschaft mit dem faschistischen Italien opferte. Schrott-Pelzels Bücher, die sich wohl mehr an LeserInnen im Deutschen Reich und in Österreich richteten als an ein Südtiroler Publikum, sollten an Schönheit und Bedrohtheit des Heimatlands der Autorin erinnern. Mit einem anderen Schwerpunkt, aber mit ähnlicher Absicht aktualisiert zur gleichen Zeit der erfolgreichere und wesentlich anspruchsvoller gestaltete (aber im Grunde nicht besser gelungene) historische Roman »Das lutherische Joggele. Roman aus dem Marterbuch der deutschen Seele« (1935) von Maria Veronika Rubatscher (1900–1987) die Südtiroler Geschichte des 16. Jahrhunderts.25 Auf die Frage, warum österreichische Schriftstellerinnen in der Zwischenkriegszeit so gern historische Romane geschrieben haben, möchte ich über diese Überlegung hinaus nicht eingehen. Hinweisen möchte ich aber darauf, dass Henriette Schrott-Pelzel sich für die Rolle der Frau in der Geschichte interessiert. Ich habe den finsteren Reiffensteiner in »Geizkofler« erwähnt, der sich durch die Liebe zu einer edlen Adligen bessert, nicht ohne vorher Buße zu tun; in »Iduna Robiat« heißt es gegen Ende, kurz vor dem Tod des zum Eremiten gewordenen Egno von Fuchs: »Noch nie wie in diesem Augenblicke wünschte er der Abglanz dieser Frau [Iduna Robiats] zu werden. Sie war ein Leben lang den Weg des Lichts 24 Maria Veronika Rubatscher, [Besprechung von] Iduna Robiat, in: Der Schlern 10 (1929), S. 456. 25 Maria Veronika Rubatscher, Das lutherische Joggele. Roman aus dem Marterbuch der deutschen Seele, Heilbronn 1935.

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gegangen, während er durch Abgründe und Schlünde geschritten! –« (IR S. 232) Den Frauen gelingt es sozusagen die Männer edler zu machen. Frauen können edle Vorbilder sein … Noch ein weiteres Zitat zur Rolle der Frauen: Im Vorwort zu »Geizkofler« (G S. 7) spricht die Autorin von den großen Unruhen im 16. Jahrhundert. Doch: »Als Steuermann stand manch tüchtige Frau, die in der Kajüte der Häuslichkeit das Herz nicht verlor, wo mancher Mann den Kopf verloren hatte.« Und weiter: »In diese Zeit führt unser Buch. Nur in eine Kleinstadt, die aber Männer hervorbrachte, deren Tätigkeit bis in die große Welt hineinreichte, und die Frauen hatte, deren Segen in ferne Geschlechter langte.« Figuren wie Barbara Geizkofler und auch Iduna Robiat, so blass sie der Autorin geraten sind, entsprechen diesem Programm, trotz allen ästhetischen Mängeln der beiden Romane. Ob man Henriette Schrott-Pelzel deshalb auf dem Hintergrund der Frauenbewegung sehen sollte, wage ich trotzdem zu bezweifeln. Ans Ende stelle ich ein gut gemeintes Urteil des Sagenforschers Karl Felix Wolff aus einem Artikel zum 60. Geburtstag von Henriette Schrott-Pelzel,26 das deren Schwächen bloßstellt (und im Übrigen vielleicht einen von der Autorin intendierten Publikumsbezug trifft): [»Iduna Robiat«] halte ich für das beste der bisher von Schrott-Pelzel veröffentlichten Bücher. Es ist außerordentlich lebendig, enthält prachtvolle Stellen und eignet sich besonders als Geschenk für die weibliche Jugend.

Das hat schon etwas für sich; meinen Töchtern hätte ich »Iduna Robiat« trotzdem nicht geschenkt.

26 Karl Felix Wolff, Henriette Schrott v. Pelzel. (Zum sechzigsten Wiegenfeste der heimatlichen Dichterin), in: Dolomiten (Bozen) 24. 7. 1937, S. 6.

Sigrid Schmid-Bortenschlager (Salzburg / Crocq)

Edith Gräfin Salburg. Die Entwicklung eines Ideologie-Konglomerates

Ich bin den Werken von Edith Gräfin Salburg zu Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei meinen ersten Recherchen zur Literatur von Frauen begegnet, und habe die Vielschreiberin – immerhin 64 Buchtitel – rasch abgetan, da sie meiner damaligen Suche nach der écriture féminine so gar nicht entsprochen hat. In einem Artikel »Thema Faschismus«1 habe ich sie eindeutig dem nationalsozialistischen Lager zugeordnet. Natürlich sind die Sachen nicht so einfach, wie man mit Mitte Dreißig glaubt. Dass Salburgs Bücher in der »Arbeiter-Zeitung« in Fortsetzungen abgedruckt worden sind,2 hätte mich stutzig machen sollen. Und was ihre Bedeutung anlangt, so wurden und werden die allgemeinen Vorstellungen von Geschichte – neben dem Schulunterricht – vor allem von populären Romanen und Filmen bestimmt – »Ben Hur« und »Quo Vadis« sind für die Kenntnis des Römischen Reiches viel wichtiger als Mommsen und andere Historiker. Salburgs Werke umfassen nicht nur alle Gattungen – sie beginnt mit Gedichten und Dramen, die in Graz aufgeführt werden3 und die als naturalistisch bezeichnet werden können, schreibt in Roseggers »Heimgarten«; ihre Romane reichen von banalen Liebesgeschichten über sozialkritische Anklagen, historische Familienromane bis zu Biografien historischer Personen (Benedek, Karl

1 Sigrid Schmid-Bortenschlager, Thema Faschismus. Zu einigen Romanen österreichischer Autorinnen der dreißiger Jahre, in: Zeitgeschichte 8 (1981), S. 1–17. 2 Z. B. Edith Salburg, Kreuzwendedich, Leipzig 1903 (in »Arbeiter-Zeitung« von Nr. 159, 12. 6. 1910 bis Nr. 193, 16. 7. 1910) und dies., Das Priesterstrafhaus, Dresden 1910 (in »ArbeiterZeitung« von Nr. 231, 22. 8. 1909 bis Nr. 279, 9. 10. 1909). Ich danke Aneta Jachimowicz für die Hinweise auf die Quellen in der Wiener Stadtbibliothek. 3 Die biografischen Angaben stützen sich auf die Autobiografie Edith Gräfin Salburg, Erinnerungen einer Respektlosen, 3 Bde., Leipzig 1927, 1928, 1929, hier Bd. 1, S. 169. Das Buch ist zwar zeitlich als Biografie strukturiert, doch zerflattert es oft in kurze Einzelkapitel, die Erinnerungen an für die Autorin wichtige Personen oder Orte ohne internen Zusammenhang beschreiben.

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Peters, Ludwig Spohr, Hötzendorf 4) und zu einer Art Autobiografie in drei Bänden, die sie bereits 1927/29, lange vor ihrem Tod 1942, schreibt.5 Versucht man aus diesen Arbeiten eine Entwicklungslinie zu ziehen (ich muss gestehen, dass ich nicht alle 64 gelesen habe, sondern mich mit einer – auch durch die Erreichbarkeit bedingten – Auswahl aus verschiedenen Epochen begnügt habe), so zeigt sich eine Mischung aus verschiedenen Ideologemen, die durch die Person, ihre Umgebung und die Zeit bedingt sind. Sie geht – grob gesprochen – von einem klaren monarchischen Österreich-Patriotismus mit stark sozialkritischem, antikapitalistischem Einschlag aus und endet bei einem anti-semitischen Deutschnationalismus.

1.

Biografie

Um die Bedeutung der Ideologie-Puzzle-Stücke genauer zu erfassen, ist ein Blick auf die Biografie von Salburg notwendig. Wichtigste Quelle dabei sind, bei aller Problematik, die »Erinnerungen einer Respektlosen«, ihre Autobiografie. Sie stammt aus dem Hochadel, die Familie ist hoffähig, allerdings – nicht zuletzt durch die Verschwendungssucht ihrer Großmutter – verarmt. Der Vater, der Erbe des Majorats in Oberösterreich, muss die Mutter samt den jüngeren Geschwistern unter teilweises Kuratel stellen lassen, um den Besitz noch zu retten. Für die Familie reicht es nicht mehr zum Winteraufenthalt in der Residenz Wien, sie bezieht ein Haus in Graz, den Sommer verbringen sie in ihrem Schloss in Oberösterreich in der Nähe von Steyr. Schreiben scheint für Salburg, von frühester Jugend an, einen Ausweg aus der relativen Enge dieses Daseins zu bieten. In Graz findet sie Kontakt zu Literaten (Rosegger, Bartsch, Hamerling) und Wissenschaftlern, geht in die Bibliothek und bildet sich selbständig weiter. In Wien hätte sie wohl Kontakt zu Bahr, Jung-Wien etc. gefunden. Sie heiratet schließlich, schon 30 Jahre alt, 1898 den wohlhabenden Dozenten der Mathematik Dr. Franz Krieg von Hochfelden. Er ist elf Jahre älter und eine Art Vaterfigur, und er muss aus gesundheitlichen Gründen im Süden leben. Nach Reisen in Deutschland, der Schweiz und Italien kaufen sie ein Haus in Arco am Gardasee. Krieg von Hochfelden ist ein Neffe des Generals Benedek, der die österreichischen Truppen in der Schlacht von Königgrätz/Sadowa 1866 geführt hat und für die Niederlage verantwortlich gemacht worden ist. Als Hochzeitsgeschenk erhält die historisch interessierte Salburg den Nachlass des 4 Edith Salburg, Königsglaube, 2 Bde., Leipzig 1901; dies., Karl Peters und sein Volk. Der Roman des deutschen Kolonialgründers, Leipzig 1929; dies., Conrad von Hötzendorf, der Preuße Österreichs. Ein Feldherrn-Roman, Leipzig 1935; dies., Ludwig Spohr: ein Leben für deutsche Musik, Leipzig 1936. 5 Vgl. Anm. 3.

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Generals.6 Der Verrat der Habsburger an diesem General, die Wiederherstellung seiner Ehre, wird zu einem wichtigen Motiv ihres Schreibens und für ihre ideologische Entwicklung. Für die Rehabilitierung Benedeks wählt sie eine bemerkenswerte Doppelstrategie. Der bekannte deutsch-nationale Historiker und Journalist Heinrich Friedjung erhält den Auftrag, die Papiere Benedeks7 zu edieren, Salburg selbst schreibt gleichzeitig ein genremässig schwer einzuordnendes Buch »Königsglaube«. Sie stützt sich auf den Nachlass, beschreibt das Leben allerdings aus der Perspektive einer allwissenden Erzählerin, die Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der handelnden Personen hat; diese tragen alle fiktive, aber sehr leicht zu entschlüsselnde Namen. Das Buch erscheint im angesehenen Reißner Verlag in Dresden, ist sehr erfolgreich, wird allerdings nicht, wie von Salburg erhofft, verboten. Die Ehrenrettung scheint funktioniert zu haben, denn in heutigen Darstellungen wird, wie bei Salburg, betont, dass Benedeks Bedenken und Befehle von Wien ignoriert bzw. verändert wurden, er die Niederlage zwar nicht verhindert, aber immerhin einen Großteil der Truppen gerettet hat. In Arco wird die Tochter Valentine geboren und Salburg führt 15 Jahre lang das Leben einer Frau ihrer Gesellschaftsschicht. Die Erfahrungen des Lebens an der österreichisch-italienischen Grenze sind ein Motiv, das sich in mehreren ihrer Werke wiederfindet. Die Gesundheit ihres Mannes verschlechtert sich immer mehr, schließlich treffen sein Tod im Krankenhaus in München und das Ende des Krieges zusammen. Salburg erlebt die Münchner Räterepublik, die Enteignung ihres Hauses in Arco, den Verlust des gesamten Vermögens. Sie bringt sich als Vorleserin, Sprachenlehrerin, Journalistin bei einem Provinzblatt in Bayern durch, bis der nationale Hammer-Verlag ihre Bücher neu auflegt; mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus bessert sich ihre finanzielle Lage zusehends, sie lebt in Dresden und stirbt dort 1942. Aus dieser Biografie und aus den sozialen Umständen der Zeit ergeben sich folgende Ideologem-Felder, die Salburg in ihren Werken – auch in zeitlicher Entwicklung – unterschiedlich kombiniert.

2.

Adel, Militarismus, Patriotismus

Die Positionen des Adels, des Herrschers, des Militärs in der Gesellschaft sind für Salburg natürlich im Sinne von Barthes, sie werden nicht hinterfragt. Adel zeichnet sich durch Tradition, Treue, Ehrenhaftigkeit, Anständigkeit, soziale 6 Das andere Hochzeitsgeschenk war wohl der falsche offiziell verlautbarte Hochzeitstermin, der die Rache an der Grazer Gesellschaft darstellte. (Salburg, Erinnerungen, Bd. 2, S. 9–10). 7 Heinrich Friedjung (Hg.), Benedeks nachgelassene Papiere, Leipzig 1901.

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Verantwortung, Kultiviertheit aus, die das Ergebnis einer jahrhundertelangen Auswahl und Prägung sind.8 Zwar können einzelne Mitglieder des Adels gegen diese Prinzipien verstoßen – und Salburg zeichnet sehr böse Bilder einzelner seiner VertreterInnen – aber sie sind immer nur die bedauerlichen Ausnahmen, ändern nichts am generell positiven Prinzip. Salburgs Position erinnert an die Unterscheidung zwischen dem Adel, wie er ist, und dem Adel, wie er sein soll, von Marie von Ebner-Eschenbach, die von Salburg allerdings gar nicht geschätzt wird.9 Patriotismus bedeutet Treue zum Herrscherhaus, also zu den Habsburgern. Doch diese Definition wird durch die Bestrebungen der verschiedenen Völker der Habsburger-Monarchie nach Sonderrechten, ja Unabhängigkeit problematisiert. Salburgs Haltung ist hier sehr inkonsistent – sie lobt die Ungarn, weil sie ihre nationale Identität nie aufgegeben haben, bezichtigt aber die Italiener, die diese Identität anstreben, als Vaterlandsverräter. Mit dem Benedek-Buch »Königsglauben« kommt es zu einem intellektuellen Bruch mit dem HabsburgerPatriotismus: Wenn ein König seine Pflichten gegenüber seinen Untertanen nicht erfüllt, so können diese seine Souveränität in Frage stellen. Die zunehmend Habsburg-kritische, und damit auch Österreich-Ungarn-kritische Haltung, wird durch zwei weitere Faktoren verstärkt: durch Salburgs entschiedenen Anti-Katholizismus sowie durch ihre zunehmende Bewunderung von Preußen. Aber noch 1936 erscheint im Buch »Friedrich und Marie Therese«10 – im Untertitel als Roman bezeichnet, aber auch mit einem Literaturverzeichnis versehen – Maria Theresia, die um ihre Rechte kämpft, durchgehend positiv, Friedrich wird ambivalent gezeichnet. Auch die Figur Kaiser Franz Josephs wird bei Salburg zwar kritisch (zu alt, von einer Camarilla umgeben, Krieg um jeden Preis vermeidend), aber im Großen und Ganzen positiv gezeichnet; seine Person manifestiert und erhält die Einheit des Reiches. Erst bei den Thronfolgern Rudolf, Franz Ferdinand und Karl überwiegt die Kritik klar – sie sind schlicht und einfach unfähig, Karl ist ein Verräter. Auffällig im Werk einer Frau ist ihr ausgeprägtes Interesse für das Militär. Sie hat nicht nur – familial bedingt – eine (verschlüsselte) Biografie des Generals Benedek geschrieben, sondern auch eine von Conrad von Hötzendorf. In beiden Fällen – und in anderen Werken – wird den konkreten Schlachtplänen, der Geografie, der Anordnung von Truppen, ihrer Bewaffnung etc. breiter Raum gewährt, mehr als den Motivationen und Gefühlen, der privaten Situation der Helden. Offiziere sind in Salburgs Welt tendenziell die idealen Menschen, mehr 8 Die gängige Formel »blaues Blut« verwendet Salburg, mit und ohne Ironie, in einigen ihrer Roman-Titel. 9 Eine vergleichbare, durch Auswahl geprägte Tradition schreibt sie auch den Juden zu, deren von außen aufgezwungene Fähigkeit in der Kompetenz für Geschäfte liegt. 10 Vgl. Edith Salburg, Friedrich und Marie Therese, Leipzig 1936.

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noch als die Adeligen, da ihr gesamtes Leben ein Dienst ist, der die Opferung des eigenen Lebens beinhaltet. Dienst wird geleistet für den Souverän, für die Heimat, aber auch für die Kameraden – die Offiziere müssen ihre Männer kennen, die Härten des Militärlebens mit ihnen teilen, daraus leitet sich ihre Autorität ab. Das Militär als Institution ist ähnlich natürlich wie Adel und Monarchie. Zwar sind auch im Militär Verrat, Karrierismus und Intrigen möglich – Benedek wie Conrad werden ihre Opfer – aber das sind nur Auswüchse, Verirrungen, sie stellen die Institution selbst nicht in Frage. Was sie bei Salburg in Frage stellt, sind lange Friedenszeiten – Krieg, Kampf sind notwendig, um, ja warum? Um Dekadenz hintanzuhalten?

3.

Katholizismus

Obwohl Religiosität und ein Glaube an Gott für Salburg wichtig sind, steht sie der Institution Katholische Kirche feindlich gegenüber. Sie wirft ihr vor, machthungrig zu sein, und sowohl einzelne Personen auszunützen und, wenn nötig, zu vernichten, als auch in politische Prozesse im Sinne ›Roms‹ einzugreifen.11 Ähnlich wie beim Adel, aber mit umgekehrten Vorzeichen, gibt es auch in der Kirche anständige, ja vorbildhafte Personen, Kaplane, Schwestern, doch diese ändern das negative Gesamtbild nicht, sie bleiben Ausnahmen. Das Verhältnis zum Protestantismus ist variabel, er erscheint in einigen Büchern als positiv im Vergleich mit dem Katholizismus – vor allem wenn er sich mit dem Oppositiv Österreich/Preußen verbindet –, wird aber nie als echte Alternative dargestellt.

4.

Sozialismus

Durchgehend findet sich ein starkes Interesse für das Volk, das geteilt erscheint in Bauern – die positiv dargestellt werden – und Arbeiter, die ambivalent erscheinen: einerseits sind sie – negativ – Knechte und Mägde, die die Bauern verlassen/verraten haben, andererseits fordert ihre schlechte materielle Lage und ihre harte Arbeit nicht nur Mitleid, sondern auch die Verantwortlichkeit der »besseren« Stände heraus. Salburgs Romane wurden, wie bereits erwähnt, teilweise in der »Arbeiter-Zeitung« in Fortsetzungen abgedruckt und positiv besprochen, sie war mit dem sozialistischen Abgeordneten Pernerstorfer einige Zeit befreundet, sie hat auch ein Buch über die Sensenschmiede in Oberösterreich mit

11 Ein Beispiel dafür ist der Roman »Das Priesterstrafhaus« von 1903.

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dem Titel »Der schwarze Adel«12 geschrieben. Hier zeigt sich deutlich der – trotz aller Offenheit – konservative Grundzug von Salburg: Manufakturmäßiges Handwerk erscheint ihr höchst lobenswert und ehrend, Fabriksarbeit hingegen lehnt sie – wie auch die Fabriken selbst – ab, auch wenn sie sich dabei des Öfteren in Widersprüche verstrickt. So lobt sie zwar den Aufschwung Deutschlands, vor allem auch seine Marine, doch zerstören die dafür nötigen Fabriken nicht nur den Rhein, sondern auch die deutschen Städte. Ihre Solidarität gehört auch hier Einzelpersonen, die sich gegen eine Macht auflehnen, nicht einer Klasse. Ihre persönlichen Erfahrungen während der Räte-Republik in München führen zu einer klaren Ablehnung nicht nur kommunistischer, sondern auch sozialistischer Bestrebungen.

5.

Anti-Kapitalismus

Ein ausgeprägter Anti-Kapitalismus zieht sich durch das Werk vom Anfang bis zum Ende, wahrscheinlich bedingt durch die Herkunft aus dem landbesitzenden Adel und die damit in der Familie direkt erfahrenen Schwierigkeiten der zunehmenden Pauperisierung. Für Salburg stellt sich die Gründerzeit und das Finde-Siècle Wien nicht als Aufschwung und Blüte, sondern als Dekadenz und Untergang dar. In der »Deutsch-österreichische Literaturgeschichte«13 von Nagl, Zeidler und Castle trägt das Kapitel über die Zeit von 1890 bis 1918 den Untertitel »Verdrängung der Deutschen aus der Vormachtstellung im Staate«, eine Diagnose, die Salburg sicher geteilt hat. Nationalklischees prägen viele ihrer Werke und werden mit der damals auftauchenden Wissenschaft der Eugenik verbunden. Parallel zum Anti-Kapitalismus finden sich die Verherrlichung des Bauernstandes und ein zunehmender Anti-Semitismus. Kapitalist und Jude sind für sie praktisch identisch. Dies ermöglicht via Anti-Kapitalismus eine Verbindung zum Sozialismus, als auch via Anti-Semitismus zum Nationalsozialismus.

12 Edith Salburg, Der schwarze Adel. Die Zunft der Sensenschmiede. Volk meiner Heimat, Leipzig 1937. 13 Josef Nagl u. a., Deutsch-österreichische Literaturgeschichte in vier Bänden, Wien 1914–1937, Bd. 3.

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6.

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Anti-Semitismus

Der Anti-Semitismus wird kontinuierlich stärker, Salburg geht hier ganz mit der Zeit. In den frühen Werken findet sich hie und da der Hinweis, dass eine Person israelitisch sei, ohne dass dies weiter ausgeführt wird. Religiös bedingter AntiSemitismus fehlt völlig; die Gleichung Jude = Kapitalist ist allerdings schon früh dominant. Besonders negativ wird, sowohl in Österreich als auch in Preußen, herausgestellt, dass sich Juden den Eintritt in die höchsten Adelskreise, ja an den Hof selbst erkauft haben. Einzelne Juden/Jüdinnen können sehr wohl anständig sein und gute, ja bemerkenswerte Taten vollbringen, doch sind das die Ausnahmen, nicht ethisch, sondern zufällig motiviert, ähnlich wie die positiv gezeichneten Kleriker. Bemerkenswert ist die Parallelisierung von Juden und Adeligen als Angehörige eines jeweils alten Geschlechtes, dessen Tradition sie prägt: beim Adel der Dienst an Herrscher und Volk, bei den Juden die GeldKompetenz. In »Hochfinanz«14 weist sie sogar darauf hin, dass es nicht zuletzt die Kaiser waren, die die Juden als Geldbeschaffer benötigten, um sie sich, wenn die Schulden zu groß geworden waren, durch ein leicht inszenierbares Pogrom wieder vom Hals zu schaffen. Doch mit der zunehmenden Verrohung des allgemeinen Diskurses werden auch die antisemitischen Passagen bei Salburg immer länger und brutaler.

7.

Eugenik

Die Vererbungslehre (zu ihrer Zeit die moderne Wissenschaft und laut Foucault die damalige Form des Sexualdiskurses) spielt eine wichtige Rolle; auch hier ist ihre adelige Herkunft ein günstiger Anknüpfungspunkt. Besonders in ihren Familienromanen bildet die Eugenik häufig die zentrale Struktur: Es kann sich dabei um Heiraten zwischen Juden und Ariern (diesen Begriff benutzt sie kaum), zwischen Österreichern und Welschen (Italienern), aber auch um solche zwischen Österreichern und Deutschen handeln. In allen Fällen – wir kommen noch genauer darauf zurück – teilen sich die Kinder, wie Mendels Erbsen, genau zwischen den Eltern auf, jeweils zwei rote und zwei weiße. Die rosa Variante tritt als ideale Kombination nur in »Deutsch zu Deutsch«15 auf.

14 Ursprünglich unter dem Titel »Die Psyche des Geldes. Das Buch eines Gewissens«, bei Reißner in Dresden 1918 erschienen, wurde es 1928 von Hammer unter dem neuen Titel »Hochfinanz« wieder aufgelegt. Die Titeländerung entspricht der Zeittendenz, denn gerade in diesem Buch gibt es auch eine sehr positiv und differenziert gezeichnete Jüdin. 15 Edith Salburg, Deutsch zu Deutsch: Deutschland und Österreich, zwei Völker – ein Blut, Leipzig 1933.

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Bemerkenswert ist, dass bei der wachen Rezipiererin Salburg die Psychoanalyse – neben der Eugenik eine der breit diskutierten neuen Wissenschaften – überhaupt nicht vorkommt. Generell muss man sagen, dass auch ihr Interesse für die psychologische Motivierung ihrer Gestalten gering ist. Was sie interessiert, sind Naturschilderungen, sind die militärischen und strategischen Details.

8.

Österreich – Preußen

Salburg repetiert hier die klassischen Klischees. Die Österreicher sind kultiviert, leichtsinnig, liebenswürdig, die Preußen ordentlich, pflichttreu, grob und ländlich. Beiden gemeinsam ist die Tapferkeit im Kampf, die bei den Österreichern zu Tollkühnheit werden kann. Salburg sieht diese Nationalklischees als erwerbbar, nicht ausschließlich durch die Geburt bedingt; so charakterisiert sie Conrad von Hötzendorf als den Preußen in Österreichs Heer, doch bleiben solche Bemerkungen eher marginal – sie entsprechen den persönlichen Ausnahmen, die sie bei jeder Einteilung, die sie trifft, zulässt, was ihre Bücher davor rettet, reine Propagandaschriften zu werden.

9.

Roman-Beispiel

Der Roman »Deutsch zu Deutsch« ist gleichzeitig ein politischer und ein historischer Roman. Wie häufig reagiert Salburg auf politisches Geschehen publizistisch sehr rasch – das 1933 erschienene Buch endet mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und bietet die Erklärung für dieses positiv gesehene Ereignis im Rückblick auf die Geschichte zweier Adelsgeschlechter: die österreichische Familie Rawetz und die preußische Eickenow, die den Sommer in ihren benachbarten Schlössern in Oberschlesien verbringen. Oberschlesien verlängert den historischen Zeitraum noch weiter zurück bis zum Konflikt Maria Theresia – Friedrich, den Salburg drei Jahre später behandeln wird. Die Kinder spielen miteinander, ignorieren die Grenze, bis 1866 der Krieg ausbricht und sich die beiden jungen Soldaten noch einmal stumm an dieser nun entscheidend gewordenen Grenze treffen, um sich dann zu den jeweiligen Heeren zu begeben und aufeinander zu schießen. Eickenow bleibt auch nach dem Krieg Offizier, heiratet eine Deutsche aus dem Rheinland und hat vier Söhne. Rawetz hingegen verlässt das Militär, wird Diplomat und heiratet in Berlin eine preußische Prinzessin, mit der er ebenfalls vier Kinder hat. Die beiden älteren Söhne werden österreichisch erzogen, die Tochter preußisch, der vierte, späte Sohn, bei dessen Geburt die Mutter stirbt, wird zuerst vom Vater in Österreich, dann von seiner älteren Schwester in Preußen erzogen.

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Es ist auffällig, dass immer von Preußen, nie von Deutschland die Rede ist. Das Erzählmuster mit den Erbgesetzen hat Salburg schon mehrmals verwendet, so in »Hochfinanz« zwischen österreichischem Adel und jüdischer Mutter, in »Das Haus an der Grenze«16 zwischen einer Deutschen und einem Italiener. In »Deutsch zu Deutsch« wird das Schema durch die im Untertitel angesprochene Frage kompliziert. Die Mischung österreichisch/preußisch steigt am besten aus. Ein Sohn der Eickenows begeht Selbstmord, da er das seinem Vater gegebene Ehrenwort, nie mehr zu spielen, bricht. Ein weiterer, der bei den rheinischen Verwandten für die Kaufmannslaufbahn ausgebildet wird, verlegt den Firmensitz nach England und kehrt im Ersten Weltkrieg nicht nach Deutschland zurück, begeht also Desertion. Einer fällt ehrenhaft als Soldat in der Marine, der letzte, Lothar, überlebt, psychisch völlig gebrochen, den Krieg und kann nur mühsam von seiner Frau – der Rawetzschen Tochter – und durch einen Aufenthalt bei seinem Schwiegervater in Österreich einem sinnvollen Leben wiedergewonnen werden. Die Schicksale der Kinder der österreichisch-preußischen Mischehe entwickeln sich – aus heutiger Sicht – positiver: Der Erbe macht politische Karriere in Wien, der zweite wird ein erfolgreicher politischer Karikaturist, der nach Paris geht – beide verstoßen damit aber gegen den Ehrenkodex des Adels – der älteste macht nicht nur Karriere, er ist ein Karrierist, es geht ihm immer nur um seine Person, nie um die Sache; kommerziell genütztes Künstlertum verletzt die Ehre, ist ein Abstieg in die Bohème. Als beide noch dazu Jüdinnen heiraten, streicht sie der Vater aus dem Stammbaum – ohne jedoch – bemerkenswerterweise – den Kontakt mit ihnen völlig abzubrechen. Die überaus positiv gezeichnete Tochter übernimmt das preußische Gut der Mutter, das sie musterhaft, selbst mitarbeitend, führt; ihre Ehe mit Lothar Eickenow kann diesen aber nicht aus seiner Depression retten, und auch das gemeinsame Kind kommt auf Abwege. Lediglich der Jüngste ist zum ›Helden‹ geboren. Er wird zwar auch im Ersten Weltkrieg – allerdings nur physisch – verwundet, doch lernt er dadurch seine spätere Frau, eine Tirolerin, kennen, mit der er auf sein preußisches Gut zieht. Sie nehmen die Herausforderung der Zeit an, arbeiten hart, glauben an die Zukunft, nehmen den problematischen Neffen auf und bringen ihn wieder auf den richtigen Weg, schicken Lothar zu seinem Schwiegervater, wo auch er durch die positive Einstellung der Österreicher geheilt wird. Salburg nimmt auch in diesem Buch zentral wieder das Jahr 1866, Benedeks und Österreichs Niederlage gegenüber Preußen, damit quasi das (zweite, endgültige) Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, auf. Aber hier 16 Vgl. dazu meine Analyse: Elite und Kampf bei Edith Salburg, in: Klaus Amann u. a. (Hg.), Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte, Wien 1989, S. 200–204.

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führt sie die Geschichte – in ihrem Sinne – positiv weiter bis zur Machtübernahme durch den ›neuen Bismarck‹ Hitler, der diesmal allerdings aus Österreich stammt. Bemerkenswert, wie immer, die Geschwindigkeit der Produktion von Salburg – das Buch erscheint bereits 1933, so wie auch das Buch über den Austritt Italiens aus dem Dreibund bereits 1915 erschienen ist. Bemerkenswert auch, wie sich die durchgehende anti-kapitalistische Haltung in ihrem Werk hier mit dem Deutschnationalismus bzw. Nationalsozialismus und nicht mehr mit dem Sozialismus verbindet, wobei auch plötzlich ein gewisser Lokalpatriotismus – Österreicher retten Preußen, Österreich doch als das bessere Deutschland – auftritt.

10.

Resümee

Salburgs Ideologeme lassen sich teilweise aus ihrer Biografie, teilweise aus den gesellschaftlichen Strömungen ihrer Zeit erklären. Ich verwende bewusst den Ausdruck Ideologem, da es sich nicht um eine Auseinandersetzung mit einem politischen Programm in seiner Totalität handelt, sondern um einzelne Anknüpfungspunkte, die eine Gefolgschaft ermöglichen. Die Herkunft aus dem Hochadel, die Salburg nie problematisiert hat, erklärt ihr Festhalten an hierarchischen Modellen, die sie auch im Militär findet. Politisch können sich diese Modelle zwar mit parlamentarischen Formen verbinden – immer wieder finden sich in ihren Romanen Abgeordnete, legitimiert teils durch ihre Herkunft, die Grundherrschaft, teils schon gewählt – doch sind diese Formen für sie nicht unbedingt notwendig. Die adelige Herkunft erklärt auch ihre volle Übernahme eugenischer Ideen, während – wie schon erwähnt – Psychoanalyse und auch Psychologie nicht aufgenommen werden. Sozialistischen Ideen und dem Sozialismus steht sie sympathisierend gegenüber, solange sie für soziale Gerechtigkeit eintreten; als republikanische Massenbewegung bleibt er ihr aber fremd. In Adel und Militär sieht sie den Dienst am Vaterland verwirklicht, für den Sozialismus spricht der Kampf gegen das soziale Elend, der Anti-Kapitalismus, seine Volksverbundenheit und sein Anti-Klerikalismus. Die Verbindung von Anti-Kapitalismus und Anti-Semitismus, die sie mit den Sozialisten teilt,17 führt über das Scharnier Eugenik zu ihrer Wendung zum Nationalsozialismus.

17 Zu dieser Verbindung vgl. z. B. die Plakate (nicht nur) der österreichischen Sozialisten, in denen der Kapitalist immer mit Bauch und Zigarre und einer ausgeprägt jüdischen Nase

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Nicht nur ihr Österreich-Patriotismus, sondern vor allem auch der Eid, der den Adel an das Herrscherhaus bindet, bereitet hier Schwierigkeiten. Sie werden dadurch gelöst, dass die Habsburger als Herrscher ihre politische und militärische Pflicht gegenüber dem Volk nicht mehr hinreichend erfüllt haben, und so ihrerseits diesen Eid gebrochen haben; der Anspruch auf Loyalität erlischt damit. Im Nationalsozialismus findet sie schließlich eine attraktive Kombination von hierarchischer politischer Struktur, sozialer Verantwortung, Anti-Kapitalismus/ Anti-Semitismus und Re-Habilitierung des Militärs.

dargestellt wird. Bildmaterial z. B. in Helene Maimann (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918–1934, Wien 1981.

Viktoria Pötzl (Grinnell)

Antisemitische und philosemitische Geschlechterkonstruktionen im historischen Kontext am Beispiel von Grete von Urbanitzkys »Mirjams Sohn« (1926)

Grete von Urbanitzky1 hat ihren historischen Roman »Mirjams Sohn« in der sogenannten Zwischenkriegszeit, einer Zeit, in der der Antisemitismus in Österreich immensen Zulauf erhielt und instrumentalisiert wurde, geschrieben und publiziert. Dies, und die Tatsache, dass Urbanitzky Verfechterin und Anhängerin des nationalsozialistischen Systems war, wirft die Frage auf, warum »Mirjams Sohn« bislang als philosemitischer Roman gelesen wurde. »Wie bereits von Wolfram Kinzig bemerkt, findet der Begriff ›Philosemitismus‹ zu Beginn vorrangig Anwendung in antisemitischen Redeformationen.«2 Friedrich Torberg sieht den Philosemitismus lediglich als »dialektische Kaschierung eines verschämten Antisemitismus«.3 Braungart und Theisohn wiederum widersprechen Torberg in ihrem Sammelband »Philosemitismus: Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte« (2017). Sie argumentieren gegen eine derartige Generalisierung und schreiben der philosemitischen Rede eine eigene Reflexivität zu: »sie ist keineswegs auf eine antisemitische Kippsemantik zu reduzieren.«4 Vielmehr fragen Braungart und Theisohn nach dem Textbegehren und sehen das »Judentum, wie es der philosemitische Diskurs imaginiert und inszeniert […] [, als] Phantas1 Grete von Urbanitzkys Nachlass wurde bereits von Ursula Huber im Rahmen ihrer Dissertation gesichtet, systematisiert und verarbeitet. (Vgl. Ursula Huber, Frau und doch kein Weib. Zu Grete von Urbanitzky. Monographische Studie zur Frauenliteratur in der österreichischen Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus, Dissertation, Wien 1990.) Aus diesem Grund fallen die Darstellungen zu ihrem Leben und Wirken vergleichsweise knapp aus. Biografische Darstellungen in diesem Kapitel wurden bereits in einer früheren Version in meinem Artikel publiziert. Vgl. Viktoria Pötzl, Lesbische Literatur und Zwischenkriegszeit. Mythos und Entmythifizierung am Beispiel »Der wilden Garten« von Grete von Urbanitzky, in: Journal of Austrian Studies 51 (2018), S. 63–82. 2 Marc Seifarth, Ambivalentes Begehren. Der Begriff ›Philosemitismus‹ im antisemitischen Kontext bei Otto Weininger, in: Georg Braungart / Philipp Theisohn (Hg.), Philosemitismus: Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte, Paderborn 2017, S. 295. 3 Georg Braungart, Philipp Theisohn, Die überspringende Rede. Philosemitismus als literarischer Diskurs, in: Dies. (Hg.), Philosemitismus: Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte, Paderborn 2017, S. 10. 4 Ebd., S. 10.

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Viktoria Pötzl

ma«.5 Daran anknüpfend frage ich hier nicht nach dem Begehren der Autorin – denn das spricht für sich selbst –, sondern nach einem Textbegehren und zeige auf, dass »Mirjams Sohn« mehrere antisemitische Elemente enthält und demnach auch das Textbegehren letztendlich als ein antisemitisches gelesen werden muss. Wird eine nationalsozialistische Autorin oder einer ihrer Texte analysiert, so muss auch das damit einhergehende notwendige Unbehagen besprochen werden. Einer nationalsozialistischen Autorin eine Bühne zu bieten, indem sie wissenschaftlich diskutiert wird, ist nur unter stetigen Verweisen auf ihr menschenverachtendes, rassistisches, antisemitisches und sexistisches Gedankengut möglich. Dieses tut die Autorin in unzähligen Artikeln und auch in ihrem literarischen Werk kund.6 Dennoch einen ihrer Romane öffentlich zu besprechen stellt den Versuch dar, Antisemitismus in einem als philosemitisch gehandelten Text zu diskutieren. Heute ist Grete von Urbanitzky, die Gründerin des österreichischen PENClubs, kaum mehr bekannt. Gürtler und Schmid-Bortenschlager bezeichnen sie als eine der »schillerndsten Gestalten der österreichischen Literaturszene des 20. Jahrhunderts«7. Sie wird am 9. Juli 1891 in Linz8 geboren. Sie genießt eine zur damaligen Zeit für Frauen eher ungewöhnlich gute Ausbildung: Nach ihrem Abschluss am Lyzeum in Linz, begleitet von Privatunterricht in Mathematik, Griechisch und Latein, lernt sie in einem Züricher Gymnasium und beginnt anschließend ein Studium der Philosophie und der Naturwissenschaften. 1909 bricht sie ihr Studium ab und übersiedelt nach Wien. 1911 heiratet sie gegen den Willen ihrer Eltern den Offizier Ludwig Woloszcuk. Im selben Jahr erscheint auch ihre erste Publikation »Sehnsucht«. Von da an ist sie als Romanautorin, Erzählerin, Übersetzerin und Journalistin tätig. Ihre Ehe wird nach einem Jahr wieder geschieden. 1920 heiratet sie Peter Passini, einen Prokuristen, auch diese Ehe wird wieder geschieden. Ab 1918 beginnt sie vermehrt publizistisch und literarisch tätig zu sein. Vorwiegend schreibt sie für deutschnationale Zeitschriften und Zeitungen. Zwischen 1911 und 1943 hat sie über dreißig Romane, Gedichtbände und Novellen publiziert. 1933 hat Grete von Urbanitzky trotz ihrer völkisch-nationalen und nationalsozialistischen Gesinnung9 bei den Nazis An5 Ebd., S. 11. 6 Eine genauere Darstellung zum völkisch-nationalem Denken und Wirken von Grete von Urbanitzky findet sich bei Huber, S. 53f und S. 165f. 7 Christa Gürtler / Sigrid Schmid-Bortenschlager, Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918–1945. Fünfzehn Porträts und Texte, Salzburg 2002, S. 136. 8 Claudia Kuderna nennt 1893 als Geburtsjahr und Wien als Geburtsort. Ursula Huber, Gürtler und Schmid-Bortenschlager und Hanna Hacker 1891. Auch Internetquellen nennen 1891 und Linz. (http://www2.onb.ac.at/ariadne/frauenwerke/urbanitzky_g.htm) 9 Zum politischen und kulturellen Zusammenhang von Nationalismus und Autorinnen vgl. Huber, S. 36f.

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stoß erregt und einige ihrer Bücher werden verboten – darunter auch »Mirjams Sohn«. Ihr Gesamtwerk wird 1941 indiziert. Noch vor Kriegsausbruch reist Urbanitzky mit ihrer Lebensgefährtin Mia Passini, der Schwester Peter Passinis, in die Schweiz.10 Nach 1945 versucht sie sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen, was ihr aus offensichtlichen Gründen nicht gelingt. Zwar werden ihre Werke von den NationalsozialistInnen verboten, doch ist sie bis zum Zeitpunkt ihres Exils Vertreterin und Anhängerin des nationalsozialistischen Systems und dessen Ideologie. Sie hilft mit, diese Ideologie im kulturellen Geschehen in Österreich zu verankern. Die sorgfältige »Sortierung« ihres Nachlasses erklärt sich aus ihrem Versuch als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt zu werden.11 Sie stirbt 197412 vereinsamt, vergessen und fast blind in Genf. Grete von Urbanitzkys Bemühungen, sich als Opfer darzustellen, sind beispielhaft für das Österreich nach 1945. So werden nicht nur eigene und persönliche Geschichten umgeschrieben, sondern auch die Geschichte Österreichs. Viel zu lange hat Österreich keine Verantwortung übernommen.

Sexualitäten und Geschichte(n) In beinahe allen literarischen Werken Urbanitzkys stehen Heldinnen im Zentrum, die in Hinblick auf die theoretische und inhaltliche Nähe Urbanitzkys zu Otto Weininger13 gelesen werden müssen. Die Figuren sind VermittlerInnen von Moralvorstellungen, Antisemitismus, Antifeminismus und Sexismus und vertreten in Monologen und Dialogen auch Weiningers Thesen. Erst 1931 distanziert sich Grete von Urbanitzky von seinen Theorien. »Das Werk Weiningers ist mit seiner Verschränkung von misogynen und antisemitischen Klischees repräsentativ für die Einstellung eines großen Teils der Wiener Intellektuellen um 1900.«14 Urbanitzky entlehnt nicht nur seine pseudowissenschaftlichen Theorien, sondern auch den Antisemitismus, Sexismus und Antifeminismus, allen voran in »Wenn die Weiber Menschen werden…Gedanken einer Einsamen« von 1913 und 10 Ebd., S. 45–48. 11 Ebd., S. 6. 12 Marti nennt als Todesjahr 1971. Vgl. Madeleine Marti, Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Marburg 1991, S. 280. Alle anderen Quellen jedoch 1974. 13 Weininger geht von einer grundsätzlich menschlichen Bisexualität aus und unterscheidet zwei sexuelle Typen: M und W. Jeder Mensch besitzt Anteile von M und W, wobei danach zu streben sei, dem Typos M zu entsprechen, W ist negativ konnotiert, M positiv. Vgl. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Wien 261925, S. 8, S. 17–18, S. 34. Die hier skizzierte Nähe Weiningers zu Urbanitzky wurde bereits in meinem Artikel publiziert. Vgl. Pötzl. 14 Seifarth, S. 293.

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im 1920 erschienenen Roman »Das andere Blut«. Auch in »Mirjams Sohn«, so wie ich hier zeigen werde, finden sich Antisemitismus und Misogynie. Huber vergleicht die hasserfüllte Selbstverleugnung Urbanitzkys als Frau und Schriftstellerin mit dem Antisemitismus des jüdischen Otto Weiningers: Durch die »Identifikation mit dem Aggressor« – der Übernahme der Ideen der Herrschenden – wird als Außenseiterstrategie eine Ideologie übernommen, die Antifeminismus und Antisemitismus als konstitutive Merkmale enthält. »Dem Juden«, »dem Weib«, wird das Negative, Böse schlechthin zugeschrieben, gemeinsam ist beiden Gruppen Ausschluss von der Macht.15

Führen wir uns knapp vor Augen, vor welchem Hintergrund der Roman »Mirjams Sohn« entstanden ist: 1918 wird das allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlrecht für StaatsbürgerInnen ab zwanzig Jahren eingeführt. Besonders verklärt werden die »goldenen Zwanziger Jahre«, in denen der Roman »Mirjams Sohn« entstand. Als Jahrzehnt der Befreiung mit Festen, Drogen und Sex in all seinen Erscheinungsformen mystifiziert, verschwanden patriarchale Strukturen jedoch nicht automatisch. Der Mythos der wilden zwanziger Jahre muss einer Realität weichen, die sich weniger glitzernd zeigt: Für viele Menschen in Österreich ist die Lage aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und Armut hoffnungslos. »Speziell die Emanzipation der Frau gilt als Übel der modernen Zeit, die der Krieg mit sich gebracht hat. […] Demokratie und »Gleichmacherei« wurden zu Feindbildern.«16 Das Bild der »neuen Frau« existiert beinahe ausschließlich in Magazinen und Modejournalen und bedient den Mythos der »freien«, emanzipierten Frau der Zwischenkriegszeit.17 In der Realität wird Sittlichkeit und Tugend propagiert, »Frauen wurden (und werden) vor allem nach ihrem sexuellen Verhalten beurteilt«.18

»Mirjams Sohn« – ein historischer Roman der Zwischenkriegszeit »Mirjams Sohn« ist ein Roman über »[d]as große tragische Schicksal eines jüdischen Rebellen, gezeichnet auf den farbigen Hintergrund des weltbeherrschenden Amsterdam des 17. Jahrhunderts.«19 So steht es auf dem Deckblatt der Erstausgabe von 1926. Pedro Benedeva ist ein reicher jüdischer Kaufmann im Amsterdam des 17. Jahrhunderts. Er verliebt sich in die Magd Mirjam, sie beginnen eine kurze Affäre und zeugen einen Sohn, Jehuda. Jehuda wächst mit dem 15 16 17 18 19

Huber, S. 95. Marion Wisinger, Land der Töchter. 150 Jahre Frauenleben in Österreich, Wien 1992, S. 83. Zu den früheren Darstellungen vgl. Pötzl. Wisinger, S. 97. Grete von Urbanitzky, Mirjams Sohn, Stuttgart 1926. Deckblatt.

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Glauben auf, sein Vater sei ein Fremder gewesen. Ob seines unehelichen Status erfährt er Diskriminierungen und kann nicht seinem Traum folgen, als Rabbiner ausgebildet zu werden. Als junger Erwachsener wird er Teil einer politischen Bewegung, die sich gegen die Reichen auflehnt. Als Anführer dieser Revolution erhält er messianische Züge und lernt eine junge Frau – Gracia – kennen. Die Revolution endet blutig, mit dem Tod vieler und auch Jehuda stirbt. Bis in unsere Gegenwart wurde »Mirjams Sohn« als philosemitischer Roman wie folgt beschrieben: »Mirjams Sohn (GU 1926) behandelt ein Sujet aus der jüdischen Geschichte, das Auftreten einer Führerfigur im Amsterdamer Ghetto im 17. Jahrhundert. Die Darstellung jüdischer und christlicher Figuren erfolgt differenziert und wertfrei, der rassische Gegensatz spielt dort kaum eine Rolle.«20 Diese Beschreibung ist in vielerlei Hinsicht problematisch und auch schlichtweg falsch, was ich im Laufe meiner Analyse aufzeigen werde. Wenn zuvor der historische Kontext zu Leb- und Schaffenszeiten Grete von Urbanitzkys besprochen wurde, so möchte ich nun auf mögliche Anknüpfungspunkte bezüglich des historischen Ortes – Amsterdam im 17. Jahrhundert – verweisen. 1602 wurde die erste sephardische jüdische Gemeinde gegründet. Dank der 1579 eingeführten Glaubensfreiheit, genossen Juden und Jüdinnen in Amsterdam, trotz strenger Regelungen, Freiheiten, die ihnen in anderen europäischen Städten verwehrt wurden. 1593 kamen größere Gruppen sephardischer Juden und Jüdinnen aus Portugal nach Amsterdam, nachdem sich bereits einige spanische Juden und Jüdinnen nach dem Alhambra-Edikt 1492 angesiedelt hatten. Meist waren es zwangskonvertierte Marranos, die die jüdische Religion nur im Geheimen hatten ausüben können.21 Seit etwa 1600 siedelten aschkenasische Juden aus Deutschland nach Amsterdam. Durch den Dreißigjährigen Krieg und nach den Massakern während des Chmielnicki-Aufstandes 1648 kamen viele Juden und Jüdinnen aus Osteuropa. Sie gründeten eigene Gemeinden und unterschieden sich von den Sephardim in religiöser Praxis, in ihren Sitten und Gebräuchen, der jiddischen Sprache und der Armut. Eine eigene Synagoge entstand 1639. Der Handlungsort in »Mirjams Sohn« ist Amsterdam im 17. Jahrhundert. Konkret die jüdische Gemeinde und die jüdischen Viertel. Beschrieben wird hauptsächlich das reichere, sephardische Viertel um die Breitegasse, doch wird auch das jüdische Armutsviertel, Flöhenburg, bewohnt von den Aschkenasim, Schauplatz einiger Handlungen. Die Aschkenasim in der Holzgasse sind arm und besitzen keinen Tempel.22 Die eindringlich beschriebene Armut hat einen blei20 https://litkult1920er.aau.at/portraets/urbanitzky-grete-von/ [21. 10. 2018] Mittlerweile wurde auf mein Anraten hin der Eintrag auf der Homepage geändert! 21 Israel Gutman u. a. (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust, München 1995, Bd. 1, S. 38. 22 Urbanitzky, S. 93.

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benden Effekt auf den Protagonisten Jehuda, Mirjams Sohn, und er beginnt Fragen nach Ungleichheit, Ausbeutung und Arbeit zu diskutieren.23 Jehuda könnte viele historische Vorbilder haben. Zum einen wird er messianisch, prophetisch skizziert und erinnert an Jesus, zum anderen an Schabbtai Zwi (1626– 1676, Osmanisches Reich), den Kabbalisten und jüdischen Messias. Letzterer wird sogar im Roman erwähnt, wenn auch ausschließlich negativ skizziert: Jehudas Cousin lernt Sabbatai Zwi in Hamburg kennen. Er wäre einer derjenigen gewesen, die sich selbst Messias nannten, machthungrig waren und andere ausbeuteten.24 Bereits Grimmelshausen nimmt sich der Geschichte des Schabbtei Zwi in Vogel-Nest II (1675) an und liefert eine problematische Darstellung der jüdischen Gemeinde in Amsterdam,25 wie wir sie auch bei Urbanitzky wiederfinden. Auch die im 17. Jahrhundert in Amsterdam lebenden Gelehrten wie Juan de Prado (1612–1670) oder Baruch de Spinoza (1632–1677) wurden von der jüdischen Gemeinde ob ihrer progressiven Lehren verbannt und auch sie erinnern an die literarische Figur Jehuda. Vorlagen für Urbanitzkys Jehuda gab es demnach zahlreiche, literarische wie auch reale. Der Protagonist Pedro Fernandez Benedeva wird bereits auf der ersten Seite des Romans als Fremder, der stätig Fragen nach Heimat aufwirft, eingeführt.26 Er ist Kaufmann und hat eine verwitwete Schwester Leonor/Marta, die mit ihren beiden Söhnen bei ihm im Haus lebt. Der sephardische Jude Benedeva musste seine spanische Heimat aufgrund von Verfolgungen verlassen,27 schreibt Urbanitzky. Die Vertreibungen der Sephardim durch Ferdinand II und Isabella von Kastilien wurde im 15. Jahrhundert (Alhambra Edikt von 1492) vollzogen, die Spielzeit des Romans ist allerdings das 17. Jahrhundert. Der Text referiert hier wohl auf die vererbte Erinnerung von Benedevas Vater: »er [Benedeva] hatte diese Erinnerung [der Vertreibung] von seinem Vater übernommen als ein kostbares Vermächtnis.«28 Dies kann im Sinne eines philosemitischen Textbegehrens gelesen werden, oder um es mit Braungart und Theisohn zu formulieren: »Die philosemitische Rede begehrt in diesem Fall das Opfer, weil sie dessen Standpunkt begehrt. (Was nicht bedeutet, dass sie zwingend Opfer sein will; aber zumindest Opfer gewesen sein will sie eigentlich immer.)«29 Urbanitzky bedient sich dieses philosemitischen Topos durch ihre empathische Beschreibung der Verfolgung der spanischen Juden und Jüdinnen. 23 Ebd., S. 96. 24 Ebd., S. 157–158. 25 Jörg Marquardt, Grimmelshausens Vogel-Nest II – ein philosemitischer Roman?, in: Braungart / Theisohn, S. 50. 26 Urbanitzky, S. 5. 27 Ebd., S. 6. 28 Ebd., S. 6. 29 Braungart / Theisohn, Die überspringende Rede, S. 17.

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Antisemitismus und Geschlecht Mirjam ist eine Magd, oder »eine junge, herrische Frau«30, in die sich Pedro Fernandez Benedeva verliebt. Bis zum Ende der Geschichte bleibt unklar, ob sie jüdisch ist, oder nicht. Sie wird jedenfalls als seltsam beschrieben31 und passt nicht so recht in die jüdische Gemeinde Amsterdams. Wie auch in anderen Texten von Urbanitzky, wird auch hier eine Ausnahmefrau konstruiert. So wird beschrieben, »daß sie von andrer Art sei als die Frauen, die er [Benedeva] hier kannte, anders als alle Frauen, denen er jemals begegnet war.«32 Patriarchale Strukturen und misogyne Denkschemata Grete von Urbanitzkys stellen auf den ersten Blick einen Widerspruch zu den Frauenfiguren in ihren Romanen dar. Die Autorin konstruiert Ausnahmefrauen, denen es gelingt, Selbstständigkeit und Eigensinn zu entwickeln, und umgeht somit diesem Widerspruch. Doch wie am Beispiel von Mirjam, kommt ihr als Ausnahmefrau die Rolle einer Außenseiterin zu – was wiederum misogyne Strukturen mehr festschreibt, als sie unterwandert. Die textinhärente Misogynie kommt vor allem bei der Skizzierung sexueller Akte zum Vorschein. Als Benedeva und Mirjam Sex haben, wird Mirjam als sehr erfahren beschrieben, was zugleich negativ konnotiert wird und darin mündet, dass Benedeva sie danach hasst und als Dirne bezeichnet.33 Nichtsdestotrotz entwickelt Benedeva eine Besessenheit nach dieser gemeinsam verbrachten Nacht. Er setzt ihr nach und gesteht ihr seine Liebe. Als er übergriffig wird, schlägt ihm Mirjam ins Gesicht.34 Bei ihrem nächsten Treffen erzählt sie ihm, dass sie schwanger sei.35 Mirjam bleibt lange bei ihrer Version, dass der Vater Jehudas ein Fremder gewesen sei.36 Sie zieht zu ihm als Magd und »duldete seine Leidenschaft, aber sie gab sie nicht mehr. An ihrer Kühle sank Benedevas Begierde so rasch in sich zusammen, wie sie emporgelodert war.«37 Pedro Benedeva verreist und lässt die schwangere Mirjam mit seiner Schwester zurück. Er könne sie nicht heiraten, weil sie vielleicht ja gar keine Jüdin sei,38 so seine Ausrede. Etwas später im Text heißt es, dass Benedeva die schwangere Mirjam heiraten wollte, doch wollte sie ihr Kind für sich haben.39 Dieser Widerspruch entwirft ein sehr selbstbestimmtes Frauenbild und vielleicht wird Mirjam gerade ob dieser durchgängigen Eigensinnigkeit negativ skizziert. Wir erfahren von einer Ge30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Urbanitzky, S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 20–21. Ebd., S. 23. Ebd., S. 27. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 118.

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sellschaft, von der sie wie eine Aussätzige behandelt und als »Hure« beschimpft wird, und gleichzeitig wird sie als eine, die über allem steht,40 gezeichnet. Dies muss folglich eine patriarchale Gesellschaft provozieren und destabilisieren. In diesem Sinne wird auch Mirjams Zurückweisung aller männlicher Avancen als arrogant interpretiert.41 Mirjam wolle weder die Frau Benedevas, noch die eines anderen Mannes aus der Breitegasse werden.42 In ihrer Selbstbestimmtheit ist sie allerdings antisemitisch, da sie betont, keinen Mann aus der Breitegasse heiraten zu wollen – in dieser Gasse leben nur Juden und Jüdinnen. Widerholt betont Mirjam, dass ihr die Menschen in der Breitegasse fremd sind43 und distanziert sich somit diskursiv. Wie bereits erwähnt, ist Mirjams Jüdisch-sein oder, besser gesagt, nicht Jüdisch-sein Thema des gesamten Buches. Die Geheimnisse um ihre Identität bereiten auch ihrem Sohn Jehuda einige Zerwürfnisse. Noch bevor wir erfahren, dass Mirjam getauft ist, gibt es einige Momente im Text, die darauf hinweisen, dass sie nicht jüdisch ist. Sie ist nicht in die jüdische Gemeinde integriert und eine Außenseiterin. Stetig wird sie als die Andere beschrieben, auch hätte sie nie »einen der Geschäftigen, immer auf Erwerb Sinnenden zum Manne nehmen können.«44 Dies muss einerseits als früher Verweis auf ihr nicht jüdisch sein gelesen werden und andererseits muss der Antisemitismus in dieser Bemerkung hervorgehoben werden: nämlich das gefährliche und falsche Stereotyp des geldgierigen Juden. Sooft Mirjam als nicht dazugehörig (nicht jüdisch) skizziert wird, findet sich ebenso oft die Verwendung eines antisemitischen Stereotyps und zwar das der »jüdischen Mutter«. Mirjam entspricht klar diesem Klischee einer überfürsorglichen, erstickenden, einengenden, kontrollierenden und herrischen Mutter, die sich lange in das Leben ihrer Kinder einmischt und ihre Kinder mit Schuldgefühlen zu kontrollieren versucht.45 Mirjam will nicht, dass Jehuda in die Schule geht, sie hat sogar Probleme, als er erste Schritte macht – da es Schritte weg von ihr sind, sie mag seine Unabhängigkeit nicht.46 Ein weiteres Klischee, das Mirjam als jüdisch zeichnet, ist ihre Darstellung als La belle juive (die schöne Jüdin) – ein vor allem im 19. Jahrhundert sehr beliebtes, literarisches Stereotyp. Eine Figur, die oft mit sexueller Lust, Versuchung und Sünde in Verbindung gebracht wird (was man bei der Darstellung von Mirjams 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 119. Ebd., S. 50–51. Ebd., S. 121. Ebd., S. 121. Ebd., S. 114. Rachel Josefowitz Siegel / Ellen Cole u. a. (Hg.), Jewish Mothers Tell Their Stories: Acts of Love and Courage, New York 2000, S. 4. 46 Urbanitzky, S. 55.

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erstem Sex mit Benedeva sehen kann, wenn sie als lustvoll und erfahren beschrieben wird). Auch die vielen Avancen der anderen Männer spielen dem Klischee der La belle juive zu. Miriams Skizzierung als »jüdische Mutter« spiegelt sich auch in ihren und Jehudas Gefühlen und Erfahrungen der Ausgrenzung wider. Der Knabe Jehuda versteht nicht, warum er von den anderen Kindern und Erwachsenen ausgeschlossen und wie ein aussätziger behandelt wird. So als würde er nicht dazu passen. Das daraus resultierende Trauma bewirkt eine Befragung des Ausgrenzens und der Ausgrenzenden.47 Weil es eben keine einer Logik folgenden Antworten gibt, müssen diese auch im Roman ausbleiben. Jehudas Ausgrenzung basiert auf Unehelichkeit und Klasse – er ist der Sohn einer ledigen Magd.48 Jehuda will Rabbiner werden und wird dafür verprügelt, als Bastard und Hurensohn beschimpft.49 Einer der Rabbis beschließt schließlich Jehuda auszubilden. Doch es kommt anders als geplant. Da angenommen wird, dass Mirjam ein getauftes Christenkind ist, darf Jehuda die Ausbildung zum Rabbi nicht machen.50 Jehuda plant daraufhin ein Rächer, ein »Anwalt der Bedrückten«51 zu werden, nicht nur, aber auch um Mirjam zu rächen: »Und alle würden sich dann vor ihm beugen, dem Sohne der ledigen Magd. Alle!«52 Nicht nur ist Mirjam die Hauptprotagonistin und Titelgeberin des Romans, es finden sich noch zwei weitere für den Handlungsverlauf notwendige Protagonistinnen: Michal und Gracia. Die Dunkellockige,53 wie Michal, die Tochter des reichen Tuchhändlers Aaron Dormido,54 eingeführt wird, wird Jehudas erste Liebe. In ihren Gesprächen geht es um Handel und Geld,55 was einerseits die Lebenswelt Michals widerspiegelt, andererseits ein antisemitisches Klischee bedient. Jehuda macht Michal einen Antrag, ihr Vater lehnt diesen allerdings ab, da Jehuda ein uneheliches Kind ist, das nicht wisse, wer sein Vater ist.56 Michal würde auf ihn warten und schließlich eröffnet Mirjam das Geheimnis über Jehudas Vaterschaft.57 Michal heiratet daraufhin einen reichen Juden.58 Über die Figuren Michal und ihres Vaters, Aaron Dormido, wird die Skrupellosigkeit des

47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 63. Ebd., S. 68. Ebd., S. 82. Ebd., S. 126. Ebd., S. 124. Ebd., S. 124. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd., S. 120. Ebd., S. 121–122. Ebd., S. 163.

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Geldmachens an der Amsterdamer Börse vorgeführt.59 In einer durchwegs kapitalistischen Gesellschaft kritisiert Jehuda allerdings nur die jüdischen Männer: »Auch ihre Stimmen vernahm er kreischen in den Hallen der Börse, auch ihre Antlitze sah er von Gier verzerrt. Ja, gerade sie schienen ihm am schamlosesten auf unredlichen Gewinn aus, auf Ausnützung der Arbeit andrer.«60 Jehudas fehlende Kritik an einer kapitalistischen Gesamtbevölkerung und seiner Kopplung Geld – Judentum ist ein durchgängiges, altes und gefährliches antisemitisches Stereotyp, wobei hier eine antikapitalistische Grundhaltung instrumentalisiert wird, um Antisemitismen zu reproduzieren. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, dass der Text sogar so weit geht zu sagen, dass die Juden, den Hass, der ihnen entgegengebracht wird, auch verdienten.61 Nachdem Michal dem Ruf des Geldes folgend, die Beziehung mit Jehuda beendet hatte, besuchte dieser die Bordelle der Stadt und lernte dabei Gracia kennen.62 Sie wird als besonders lasterhaft skizziert und soll einem Perser aus Italien gefolgt sein – im Orient hat sie demnach diese Laster gelernt.63 Gracia skizziert als die Verkörperung »der Fremden« ist anmutig, fordernd und initiativ.64 Sie sei von Mann zu Mann gegangen und endete bei einem reichen Scheich: »aber er hatte Gracia gefangen gehalten, wie ein weißes Wunder, das man bewahren mußte […].«65 Orientalistische Motive sind rassistisch, verkürzend und demnach auch sehr beliebt bei Urbanitzky. Vom Scheich kommt sie, oder wird sie gereicht (das macht der Text nicht klar) zu einem greisen Arzt, bei dem sie sehr viele (sexuelle) Freiheiten genoss: »Frei und wild hatte er sie blühen lassen und hatte ihr alles gewährt: die arabischen Knaben, die Liebkosungen kennen, um die Europa nicht weiß […]. Die Freundschaft schlanker Frauen hatte der Arzt ihr gewährt, deren Hände so kühl und so wissend sind, und deren Körper sich so tief nach Zärtlichkeit sehnen, von denen die allzu rasche Luft der Männer nicht weiß.«66 Hier bedient sich die Autorin dem orientalistischen Motiv des sexuell freizügigen Orients. Die Konstruktion der Fremden bei Urbanitzky ist dahingehend problematisch, als dass sie hiermit einen kolonialen, imperialen und rassistisch, exotifizierenden Voyeurismus bedient und in weiterer Folge instrumentalisiert. Doch kann Gracia als Fremde Themen ansprechen, die andere Frauen viel schwieriger thematisieren könnten. So adressiert Gracia Diskriminierungen und schlechte Behandlungen von Sexarbeiterinnen und ermutigt Je59 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., S. 130. Ebd., S. 131–132. Ebd., S. 160. Ebd., S. 167. Ebd., S. 168. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Ebd., S. 170.

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huda die Stimme der Unterdrückten, der Schwachen zu werden.67 Während er mit Gracia Sex hat, sagt sie zu ihm: »Du bist der Prophet!«68 Und dank ihrer Anrufung, wird er das auch. So wird Jehuda also vorerst zum Redner einer Gruppe unterdrückter, ausgebeuteter Menschen, die sich um ihn sammeln.69 Seine Ideen vertreten die Rechte der ArbeiterInnen, klingen marxistisch und seine Anhänger werden als »Genossen«70 bezeichnet. Viele der deutschen und polnischen (armen!) Juden und Jüdinnen schließen sich Jehuda an. Er predigt Enthaltsamkeit und ist der Auffassung, dass Almosen den Armen nicht helfen werden.71 Ein weiteres antisemitisches Motiv wird bedient und zwar das der Brunnenvergiftung: Ein Abgeordneter Amsterdams meint Jehuda probe den Aufstand deshalb, um von diesem Vorwurf abzulenken.72 Seine Revolution gewinnt an Momentum und seine Genossen setzen sich aus Menschen jedweder Religion zusammen und lassen ein Blatt mit der Überschrift »Forderung« drucken.73 Als deren Forderungen nicht erfüllt werden, brechen Chaos, Aufruhr und Brände in Amsterdam aus. Während die Massen Jehuda als König, als Prophet74 und jüdischen Heiland75 feiern, wird getrunken, geraubt und vergewaltigt: »Ist nicht auch die Liebe nur ein Gut der Reichen? – heute gehören alle Weiber allen!«76 Zu Beginn noch kritisiert Jehuda die Gewalt und die Gier der anderen, als Gracia allerdings meint, er könne bald an der Macht sein, verfliegt seine Kritik.77 Seine vermeintliche Macht genießt er nicht allzu lange und muss bald eingestehen, dass er von Hass geleitet, Menschen töten ließ und selbst tötete. Der Aufstand wird schnell niedergeschlagen und Jehuda vor den Rabbi gebracht.78 Gracia kann entkommen und versucht Jehuda zu befreien. Dabei trifft ein Stein Jehudas Kopf.79 Miriam läuft auf ihren verwundeten Sohn zu und sie wird beschimpft: »Da hast du deinen Hurensohn«.80 Jehuda stirbt und mit ihm auch die Revolution. Urbanitzky hat sich bei ihrer Vorlage zu Jehuda wohl auch Weiningers Theorien bedient, der »im Judentum die Möglichkeit [sieht], den Christ her67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Ebd., S. 174. Ebd., S. 172. Ebd., S. 136. Ebd., S. 137. Ebd., S. 146. Ebd., S. 233. Ebd., S. 226. Ebd., S. 263. Ebd., S. 233. Ebd., S. 258. Ebd., S. 260. Ebd., S. 278–279. Ebd., S. 282. Ebd., S. 283.

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vorzubringen«. Weininger glaubt, dass »der nächste Religionsstifter abermals erst durch das Judentum hindurchgehen«81 muss. Konfrontiert mit der uralten antisemitischen Rhetorik: »Die Christen sagen, wir hätten ihren Gott an das Kreuz geschlagen«82, muss auch Jehudas Tod in diesem Kontext gelesen werden. Gezeichnet als Messias, wird auch er von den Juden und Jüdinnen ermordet.

Schlussbetrachtung Die Kategorie Geschlecht spielt bei Urbanitzky dahingehend eine Rolle, als dass sie klaren misogynen Strukturen folgt. Lediglich hier diskriminiert sie nicht – alle ProtagonistInnen werden sexistisch und klischeehaft charakterisiert, was das Buch auch sehr langweilig macht. Die Geschlechterkonstruktionen sind jene eines Österreich der zwanziger Jahre (eines konservativen und misogynen Diskurses) und müssen demnach auch als solche und keineswegs als Repräsentationen von Juden und Jüdinnen im Amsterdam des 17. Jahrhunderts gelesen werden. Der Begriff Philosemitismus weist eine systematische, terminologische Nähe zum Antisemitismus auf.83 Auch in Hinblick auf komplexe Begrifflichkeiten hoffe ich aufgezeigt zu haben, dass der bislang als philosemitisch gehandelte Roman »Mirjams Sohn« sich sehr vieler antisemitischer Stereotype und Rhetorik bedient und die antimessianische Handlung an sich (Die Juden und Jüdinnen ermorden den Heiland) antisemitisch ist.

81 Weininger, S. 437f. 82 Urbanitzky, S. 154. 83 Braungart / Theisohn, Die überspringende Rede, S. 10.

Dagmar Heißler (Wien)

»Meister, Bürger und Rebell. Das Lebensbild Tilmann Riemenschneiders« (1937): Luise G. Bachmanns Bauernkriegsroman als Appell zur politischen Positionierung?

1937 erschien mit dem historischen Roman »Meister, Bürger und Rebell. Das Lebensbild Tilmann Riemenschneiders« das zweite Buch der 34-jährigen Luise George Bachmann1 im Paderborner Verlag Ferdinand Schöningh, der sich neben pädagogischen und theologischen Werken der katholischen Dichtung verschrieben hatte. Die musikalisch und literarisch interessierte Beamtentochter hatte sich bereits in ihrer Schulzeit an Novellen, Märchenerzählungen und Dramen versucht; während ihres Studiums an der staatlichen Lehrerinnenbildungsanstalt in der Wiener Hegelgasse, am Neuen Wiener Konservatorium (Orgel, Gesang, Musiktheorie) und an der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst (Orgel, Klavier, Harmonielehre) erschienen in Tageszeitungen erste Beiträge von ihr. Ab 1935 veröffentlichte Bachmann Aufsätze, Feuilletons und Kurzgeschichten zu künstlerischen Themen in Zeitschriften und Zeitungen, hielt Radiovorträge und schrieb Hörspiele. 1936 war ihr Debütroman »Der Thomaskantor« über Johann Sebastian Bach erschienen, der auch ins Englische übersetzt wurde (1938 »The heart ever faithful« bei Coldwell in London), 1937 folgte ihr Riemenschneider-Roman und 1938, rechtzeitig zum Internationalen Brucknerfest, »Bruckner. Der Roman einer Sinfonie«, der schon nach wenigen Monaten die dritte Auflage erreichte und ihr lobende Worte des Bruckner-Biografen Max Auer eintrug, über dessen Internationale Bruckner-Gesellschaft Bachmann ihr Buch auch beworben sehen wollte.2 Ihren Schriften liegen ausführliche Literatur- und Quellenstudien zugrunde, in ihre Musikerromane floss 1 Luise (George) Bachmann wurde am 20. August 1903 in Wien geboren, ihr Vater Georg war Beamter bei der Wiener Bezirkskrankenkasse, ihre Mutter Johanna kam aus einem alten Waldviertler Bauerngeschlecht. Mit acht Jahren versuchte sich Bachmann in der Volksschule Josefstädter Straße an einem Drama, in ihrer Mittelschulzeit an einem Schauspiel über den Architekten Hans Puchsbaum. – Alois Heinzel, Luise G. Bachmann. Ein literarisches Porträt, in: Erster Jahresbericht der Bundes-Lehrerinnenbildungsanstalt in Graz, Graz 1947, S. 5–9, hier S. 5. 2 Vgl. Luise G. Bachmann, Brief an Max Auer. Salzburg, 15. 9. 1938, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Musiksammlung, F31.Auer.199.

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ihre musiktheoretische Ausbildung ein. Die Rezensenten lobten diesbezüglich ihre Fähigkeit, »auf gründlichsten historischen Forschungen beruhend […] die Gestalten mit Blut und Leben zu erfüllen und gleichwohl ob Musik, Plastik oder Architektur die Werke der unsterblichen Meister auch für den Nichtfachmann zu deuten«3. Neben ihren Verbindungen im Musik-, Pädagogik- und Wissenschaftsbereich – sie unterrichtete bis 1938 Musikgeschichte am Pädagogischen Institut der Stadt Wien, war also in der Lehrerfortbildung tätig – war Bachmann vor allem in katholischen Kreisen bestens vernetzt. Für die Verbreitung und Bekanntmachung ihres Bach-Romans wandte sie sich beispielsweise an Adolf Dyroff, Professor für katholische Philosophie an der Bonner Universität.4 Im Januar 1937 hatte sie durch Joseph August Lux,5 den Leiter der katholischen Laienspieltruppe »Spielleute Gottes«, die unter dem Protektorat des Wiener Kardinalerzbischofs Piffl stand und deren dramatisch-theatrale Kunst als Mittel der kirchlichen Propaganda und Rekatholisierung eingesetzt wurde,6 Gelegenheit, den Roman in der katholisch-national ausgerichteten Richard-Kralik-Gesellschaft vorzustellen.7 Bei der Buchpräsentation in der Dichterakademie anwesend war der Salzburger Erzbischof Sigismund Waitz, der als einer der Väter des autoritären christlichen Ständestaates gilt und schon früh die Schaffung einer paramilitärischen christlichsozialen »Heimwehr« angeregt hatte.8 Auch bei einem Gedenkabend zu Kraliks drittem Todestag im Februar 1937 hielt Bachmann eine halbstündige Lesung aus eigenen Werken. Ein Jahr darauf stellte sie ihren Roman »Der Thomaskantor« in der Österreichischen Leo-Gesellschaft vor,9 einem nach Papst Leo XIII. benannten katholischen Verein zur Förderung von Wissenschaft, Publizistik und Kunst auf christlicher Grundlage mit 1800 Mitgliedern, darunter der Prälat und ehemalige christlichsoziale Bundeskanzler Ignaz Seipel. Mit der Leo-Gesellschaft, die über eine eigene sprach- und literaturwissenschaftliche Sektion verfügte, war Luise Bachmann seit spätestens 1934 verbunden. Von 3 Salzburger Volksblatt, 24. 10. 1940, S. 13. 4 Vgl. Luise G. Bachmann, Brief an Adolf Dyroff. Remscheid, 18. 9. 1936, Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Nachlass Dyroff, S 2822. – Dyroff war 1934 unter den Nationalsozialisten zwangsemeritiert worden. 5 Vgl. Joseph August Lux, Brief an Maia von Kralik. Anif-Salzburg, 12. 1. 1937, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Nachlass Richard Kralik, I.N. 108.066. 6 Die katholische Laienspielbewegung »verstand sich nicht als Kunstbewegung, sondern als Mittel zum Zweck der ideologischen Beeinflussung der Massen. Durch die besondere Nahestellung der katholischen Vereine zur Christlichsozialen Partei war dieser Anspruch zugleich ein politischer.« Pia Janke, Politische Massenfestspiele in Österreich zwischen 1918 und 1938, Wien 2010, S. 166. 7 Vgl. etwa Salzburger Chronik, 9. 1. 1937, S. 7. 8 Stefan Moritz, Grüß Gott und Heil Hitler. Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich, Wien 2002, S. 44. 9 Danzers Armee-Zeitung, 4. 2. 1938, S. 6; Wiener Tagblatt, 18. 2. 1938, S. 9.

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dieser Sektion aus sandte sie auf Anraten der ein bürgerliches Publikum ansprechenden Deutschen Buch-Gemeinschaft in Berlin, deren langjähriges Mitglied sie war, sechs Probekapitel ihres vermutlich zwischen 1930/31 und 1933/34 entstandenen Riemenschneider-Romans an den Verlag Cotta, dem sie das Manuskript unter dem Titel »Meister Till. Das Lebensbild des Würzburger Bildhauers Tilmann Riemenschneider« zur Veröffentlichung anbot.10 Darüber hinaus war sie seit 1936 Mitarbeiterin der »Salzburger Chronik«, einer katholischkonservativen Tageszeitung, die bereits ihren Künstlerroman »Der Thomaskantor« veröffentlicht hatte und im zweiten Halbjahr 1937 auch einen Vorabdruck ihres Riemenschneider-Romans brachte. Daneben machte Bachmann bei Lesungen, Vortragsreisen und Radiosendungen Werbung für ihr Buch, das beispielsweise zusammen mit jenen von Leo Weismantel und Karl Heinrich Stein im Radio vorgestellt wurde.11 Der Würzburger Bildhauer Tilman Riemenschneider, der von circa 1460 bis 1531 lebte, also in einer »geistigen Umbruchszeit«, war in den 1930er Jahren offensichtlich für mehrere Autoren von Interesse.12 Während sich Weismantel in seinem 1936 erschienenen Roman »Dill Riemenschneider« hauptsächlich den vier Ehen des Bildhauermeisters widmet, also ähnlich wie später Nora Wydenbruck (»Gothic twilight« 1946) eine historische Romanze vorlegt, ist Karl Heinrich Steins Riemenschneider-Buch als historischer Schlüsselroman zu verstehen. Der Wiener Rechtsanwalt Heinrich Steinitz, der als Schriftsteller unter dem Pseudonym Karl Heinrich Stein publizierte, galt seit 1934 als einer der engagiertesten politischen Verteidiger, der angeklagte Sozialdemokraten und Kommunisten vor Gericht vertrat. Er wurde 1938 von der Gestapo verhaftet und 1942 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. In seinem Buch steht Riemen10 Der Verlag lehnte es ungeprüft aufgrund anderer Verpflichtungen ab. Vgl. Luise G. Bachmann, Brief an den Cotta Verlag. Wien, 7. 4. 1934; Cotta Verlag, Brief an Luise G. Bachmann. Stuttgart, 9. 4. 1934, Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung), HS002634510 und HS004818740. – Der Roman erschien dann bei Schöningh, der bereits ihren Debütroman »Der Thomaskantor« herausgebracht hatte. 11 Sendung »Von neuen Büchern« am 26. 12. 1937 um 15.15 Uhr. Vgl. Linzer Volksblatt, 22. 12. 1937, S. 11. 12 Davor erschienen sind »Till Riemenschneider. Eine Erzählung aus dem 16. Jahrhundert« (1902) von C. Hirundo [d. i. Constanze Bomhard], »Der Bildschnitzer zu Würzburg« (1925) von August Sperl und »Tilman Riemenschneider. Novelle« (1928) von Ludwig Bäte. – Der österreichische Komponist Casimir von Pászthory schrieb, basierend auf Bachmanns Roman, die Oper »Tilman Riemenschneider« (Libretto von Dora von Pászthory) in zwei Teilen und sieben Bildern (Textbuch Zürich 1958). Die Partitur vollendete er 1942, doch noch 1945 harrte die Oper ihrer Aufführung (Oberdonau-Zeitung, 31. 3. 1945, S. 3). 1952 gab es während der Salzburger Festspiele eine Rundfunkproduktion des Musikwerks, die szenische Aufführung kam erst 1957 im Basler Stadttheater zustande. 2004 wurde die Oper anlässlich des 1300-jährigen Stadtjubiläums in Würzburg am Mainfranken-Theater wiederaufgeführt (dt. UA).

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schneiders politisches Engagement im Zentrum, daneben ist es auch als historisch-soziologische Studie über die Zeitenwende vom 15. zum 16. Jahrhundert zu verstehen. Die Bauernkriege galten als klassisches Thema der Arbeiterliteratur; Steinitz, Anhänger des Austromarxismus, richtet dabei den Bildhauermeister ideologisch an seinem Vorbild Otto Bauer aus.13 Eine andere Schwerpunktsetzung ist in den Riemenschneider-Romanen und -Erzählungen von Felix Wilhelm Beielstein (»Die große Unruhe« 1936), Max Wegner (»Die gebrochenen Hände« 1937) und Paul Johannes Arnold (»Der Lebensroman eines großen deutschen Meisters« 1938) auszumachen. Wegner identifiziert Riemenschneider mit den Zielen des Nationalsozialismus, sein Handeln habe rein dem Wiederaufleben Deutschlands als politischer Kraft gegolten; Beielstein thematisiert ebenfalls vor allem die Einheitsbestrebungen Deutschlands unter der Autorität eines Herrschers, eines Führers, dasselbe gilt für Arnold, dem die Riemenschneider-Geschichte als Projektion der Ambitionen des nationalsozialistischen Deutschlands in die Vergangenheit dient.14 Die Sujets des historischen Romans, der in den 1920er und 1930er Jahren eine Blütezeit hatte, waren schon ab 1910 im Sinne einer zunehmenden politischen Ideologisierung eingesetzt worden. Die literarischen Aussagen entsprachen, wie an den eben genannten Beispielen ersichtlich, politischen Strömungen, denen die Autoren selber nahestanden. Was macht also nun die bisher hauptsächlich in einem katholisch-konservativen Umfeld agierende Luise Bachmann aus dem »Riemenschneider-Stoff«, der an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit angesiedelt ist? Wie schildert sie die Bauernerhebungen der Jahre 1524 und 1525, die größte soziale Erhebung in Deutschland vor dem Zeitalter der Französischen Revolution? Und wie positioniert sie den Künstler Tilman Riemenschneider zu diesem Widerstand des Volkes gegen die feudale und kirchliche Unterdrückung, die aus der Verflechtung von weltlicher und kirchlicher Macht und dem Einfluss des hohen Klerus auf die Regierung des Reiches resultierte? Bachmann gliedert ihr knapp 500-seitiges Buch in drei Teile, die in Übereinstimmung mit dem Romantitel Riemenschneiders Leben in den Abschnitten »Meister«, »Bürger« und »Rebell« präsentieren. Der erste Teil fasst den Zeitraum von circa 1483 bis 1505 zusammen. Riemenschneider ist zu Beginn der Handlung bereits durch Heirat Bürger von Würzburg, hat die Meisterwürde erlangt und ist Mitglied in der Lukasbruderschaft, der Zunft bzw. Gilde der Maler, Glaser und Bildhauer der Stadt. Dieser erste Abschnitt mit dem Titel »Der Meister« widmet sich neben Riemenschneiders familiären Verhältnissen, wie seinen zwei Ehen mit 13 Karl Heinrich Stein, Tilman Riemenschneider im deutschen Bauernkrieg. Geschichte einer geistigen Haltung, Wien 1936. – Siehe auch Christina Pal, Heinrich Steinitz. Anwalt und Poet, Wien 2006, S. 131–138. 14 Vgl. dazu Keith P. F. Moxey, The Practice of Persuasion: Paradox and Power in Art History, London 2001, S. 42–65.

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jeweils älteren Witwen, auch seinem Kunstverständnis sowie seinen Bildhauerund Bildschnitzerarbeiten, die zum Teil sehr ausführlich beschrieben und interpretiert werden.15 Einen väterlichen Gönner und Mäzen findet Riemenschneider in Fürstbischof Rudolf II. von Scherenberg, erbitterte Gegner in dem ihm durch seine dritte Ehe verschwägerten Hans Bermeter und dem Domherrn Konrad von Thüngen. Letzterer macht den Bildhauermeister nach dem Tod Scherenbergs für das Scheitern seiner Wahl zum neuen Bischof von Würzburg und Herzog von Franken verantwortlich und entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu Riemenschneiders schlimmstem Feind. Der erste und mit 240 Seiten zugleich längste Teil des Romans endet mit der Erwähnung sozialer Spannungen und kirchlicher Probleme der Zeit, berichtet von Reformbestrebungen und ersten Bauernaufständen, um mit Tilmann Riemenschneiders Berufung in das Würzburger Ratskollegium zum zweiten Abschnitt überzuleiten, der »dem Bürger« Riemenschneider vorbehalten ist. Dieser Teil behandelt auf 90 Seiten Riemenschneiders Aktivitäten für das städtische Gemeinwesen. Der Bildhauermeister war von 1504 bis 1525 Mitglied des Stadtrats, zwischen 1509 und 1519 mehrmals im Oberen Rat der Stadt, 1520 wurde er für ein Jahr Bürgermeister von Würzburg, das damals circa 9000 Einwohner zählte. Als Ratsmitglied hatte er verschiedene Funktionen inne, so war er zeitweise für das Steueramt, das Bauwesen, die Bürgerspitalstiftung oder die Fischgewässer zuständig. Über die Aufnahme in den Rat der Stadt entschied der Bischof oder das Domkapitel anhand einer Vorschlagsliste. Riemenschneiders Bekanntheitsgrad und seine gesellschaftliche Stellung waren wohl für seine Wahl ausschlaggebend; in Bachmanns Roman wird sie darüber hinaus mit dem als brüderlich und freundschaftlich beschriebenen Verhältnis zwischen dem Bildschnitzer und Scherenbergs Nachfolger Lorenz von Bibra begründet. Mit dem Steueramt betraut, gelingt es ihm durch Bibras Unterstützung, eine neue Steuerordnung festzulegen, die auch die beiden reichsten Stände, also Adel und Klerus, zu Zinsen und Steuern bei Besitzerwerb verpflichtet, das heißt auf eine gerechtere Verteilung der Lasten und Pflichten abzielt.16 Als Bischof Lorenz von Bibra 1519 stirbt, wird Riemenschneiders Erzfeind Konrad von Thüngen zum neuen Landesfürsten ernannt. Riemenschneider ist von nun an bestrebt, die eigene Beliebtheit im Volk noch zu steigern, da nur sie ihm einen Schutz vor der 15 Das Buch enthält auch acht Abbildungen bzw. Schwarz-Weiß-Fotografien einiger Riemenschneider-Arbeiten aus Sandstein, rotem Marmor und Lindenholz. 16 In den meisten Städten stellten die Geistlichen zwar Ansprüche, leisteten aber keinen Bürgereid. Sie, ihre Dienerschaft und alle in den Höfen der Immunität lebenden Personen waren der Stadt nicht steuerpflichtig und unterstanden auch nicht der städtischen Gerichtsbarkeit. Auch in Würzburg spitzte sich das ganze Mittelalter hindurch der Konflikt zwischen den nach Unabhängigkeit strebenden Stadtbürgern und dem auch mit weltlichen Rechten ausgestatteten Bischof zu.

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Willkür des neuen Bischofs und Herzogs zu gewähren scheint, und benutzt seine jeweiligen Agenden dazu, die Position der Stadt gegenüber dem Herrscher auszubauen. Er lässt die Wehranlagen zu Land und zu Wasser verstärken, erneuern und erweitern. Durch die Befestigung Würzburgs erfreut er sich einer immer größeren Anhängerschaft, sind seine Maßnahmen doch zugleich als sichtbares Zeichen eines neuen Selbstbewusstseins der Bürgerschaft gegenüber dem Fürstbischof zu werten: Würzburg hat gegen den über der Stadt auf dem Frauenberg gelegenen Fürstensitz – Symbol bischöflicher Herrschaft – aufgerüstet und liegt ihm nicht mehr wehrlos zu Füßen. Gleichzeitig ist die Wehrhaftmachung der Stadt sinnfälliger Ausdruck des sich verschärfenden Gegensatzes zwischen Volk bzw. Bürgern auf der einen und dem Fürstbischof, seinen adeligen Domherren und dem hohen Klerus auf der anderen Seite. Inhalt des zweiten Romanabschnitts sind somit hauptsächlich die einsetzenden Emanzipationsbestrebungen sowie die Unzufriedenheit im Herzogtum und im Reich. Der Aufstand der Remstaler Bauern und der 1523 niedergeschlagene Aufstand von Teilen der südwestdeutschen Reichsritterschaft unter Franz von Sickingen sowie die kirchlichen Reformationsbestrebungen von Luther und seinen Anhängern werden ebenso thematisiert wie der sich verstärkende Gegensatz innerhalb der Stände und zwischen ihnen. Den zweiten Teil beschließt ein »Die Führer« betiteltes Kapitel, das die Anführer des Bauernaufstandes vorstellt, wobei die von Riemenschneiders Schwager Hans Bermeter für »die Sache« gewonnenen Mitstreiter wie Bernhard Bubenleben, Georg Metzler und Gottfried »Götz« von Berlichingen als zwielichtig, feig und egoistisch beschrieben werden, während die »Lichtgestalten« des Aufstandes, wie Florian Geyer, Wendel Hipler und Friedrich Weygandt, alle im Zusammenhang mit Riemenschneider in die Handlung eingeführt werden. Riemenschneiders Aktivitäten als Ratsherr wiederum weisen ihn als einen gegen das Bestehende Aufbegehrenden, zumindest aber als einen auf Veränderung bedachten Mann aus, womit der Übergang zum 165-seitigen dritten Romanteil »Der Rebell« hergestellt ist. Dieser setzt mit den Erhebungen der Bauern in Franken, Thüringen, Schwaben, am Bodensee, im Schwarzwald, in Tirol, Vorarlberg und der Schweiz ein, was sich bei Bachmann wie folgt liest: [Es] gärte und regte sich unwiderstehlich und unaufhaltsam die erdverbundene Kraft des Bauern zum trotzigen Kampf wider die Macht der Herren. Der Bauer […] begann im aufkeimenden Lenz nach Harke und Pflugschar zu greifen, […] um auf dem großen Acker der Menschheit die Freiheit aus den aufbrechenden Schollen zu pflügen, alles giftige Unkraut mit schwieliger Hand auszujäten, mit Sensen und Sicheln zu schneiden,

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was seiner Ernte heranreifen sollte, und mit hartem Dreschflegel den goldkörnigen Weizen freien Geistes und freier Scholle aus Stroh und Streu zu erdreschen.17

Im ersten Kapitel des dritten Teils (»Sturmzeichen«) werden die von den Bauern in Memmingen (Oberschwaben) im März 1525 aufgestellten »Zwölf Artikel« angeführt, die religiöse mit sozialrevolutionären Forderungen verbanden, sowie die von ihnen formulierte Bundesordnung, ein Modell für einen kommunalen, föderativen Gesellschaftsaufbau.18 Angestrebt wurde ein neues staatliches System, ein Mittelding zwischen bäuerlicher Republik und einem Staat mit einheitlicher politischer Führung, war das Reich doch damals in mehr als 300 Kleinstaaten und Reichsstädte zerfallen. Das Gros der Adeligen und Besitzenden jedenfalls reagierte ablehnend auf diese Forderungen, die ihren Herrschaftsanspruch als illegitim erscheinen ließen, ihn im Falle einer Umsetzung massiv beschränken und überhaupt zu einem Umsturz der bestehenden, nach ihrer Meinung gottgewollten Ordnung führen würden. Die größtenteils mit Spießen und Schwertern bewaffneten aufständischen Bauern verzeichneten zunächst einige beachtliche Erfolge, im Frühsommer 1525 kontrollierten sie weite Teile Süd- und Mitteldeutschlands. Die Romanhandlung folgt weitgehend chronologisch dem Verlauf der Bauernerhebung, wobei der Schwerpunkt auf der Stadt Würzburg und ihrem Manövrieren zwischen den Fronten liegt. Riemenschneider, der zunächst auf die Entwicklungen eher zurückhaltend reagiert hat, stellt sich nun endgültig und für alle sichtbar auf die Seite der Aufständischen. Er bewegt, auch weil sich der Druck der durch seinen Schwager Hans Bermeter aufgestachelten ärmeren Schichten der Stadtbevölkerung immer weiter verstärkt,19 den Würzburger Stadtrat zu einer Verbrüderung mit den Bauern und zu einem feierlichen Empfang des Bauernheeres. Bachmann schreibt ihrem Protagonisten hier und im weiteren Verlauf eine extrem aktive Rolle zu: Riemenschneider ist bei ihr maßgeblich daran beteiligt, dass sich Würzburg mit den Bauern verbrüdert, die »Zwölf Artikel« annimmt und sich als Freie Stadt deklariert, also eine weitgehend autonome Stadtgemeinde bildet.20 Es 17 Luise G. Bachmann, Meister, Bürger und Rebell. Das Lebensbild Tilmann Riemenschneiders, Paderborn 31939, S. 333f. 18 Vgl. dazu ausführlich Peter Blickle, Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 42016, S. 24–72; Ders., Die Revolution von 1525, München 42004, S. 24–89. Siehe auch Günter Jäckel (Hg.), Kaiser, Gott und Bauer. Reformation und deutscher Bauernkrieg im Spiegel der Literatur, Berlin 21983. 19 Konfliktlinien verliefen nicht nur zwischen Bürgern und bischöflichen Landesherren, es gärte auch in den Städten selbst: Es kam immer häufiger zu Revolten gegen das städtische Patriziat vonseiten der Unterschicht, der Handwerker, Tagelöhner und generell der Ärmsten, die ein gewisses Mitbestimmungsrecht durchsetzen und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu ihren Gunsten verändern wollten. 20 Da der Würzburger Stadtrat Gesetz und Recht nur dann durchsetzen konnte, wenn es dem Fürstbischof genehm war, verwundert es nicht, dass die Bürger schon im 14. Jahrhundert

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ist Riemenschneider, der eine Plünderung des Maidbronner Klosters verhindert; er ist es, der zum Bauernparlament nach Heilbronn zu Beratungen über den von Friedrich Weygandt verfassten Reichsreformentwurf gesandt wird; er ist es, auf dessen Betreiben hin ein Bauernlandtag in Schweinfurt einberufen wird. Er ist es, der nach dem erfolglosen Versuch der Bauern, die Festung Marienberg des Würzburger Fürstbischofs zu stürmen, und der Nachricht von der verlorenen Schlacht bei Königshofen den Bauernführer Florian Geyer dazu bringt, mit den verbliebenen Truppen dem vorrückenden siegreichen Truchsess von WaldburgZeil, dem Hauptmann des Schwäbischen Bundes, entgegenzuziehen. Als bekannt wird, dass die Bauern auch bei Sulzdorf und Ingolstadt vernichtend geschlagen wurden, ist Riemenschneider klar, dass der Freiheitstraum ein jähes Ende gefunden hat. Die Stadt Würzburg kapituliert am 7. Juni 1525, am nächsten Tag halten der Truchsess und der aus dem Exil zurückgekehrte Bischof Konrad von Thüngen Strafgericht: An die 70 Personen (Bauernhauptmänner, Bauern und Stadtbewohner) werden enthauptet, 200 auch prominente Bürger, darunter Ratsherren wie der 65-jährige Riemenschneider, der »als ärgster Feind des Bischofs in Würzburg« und als ein Rädelsführer des Aufstands gilt, werden ins Gefängnis geworfen. Das letzte Kapitel des dritten Teils ist als Epilog ausgewiesen und schildert auf knapp 20 Seiten Tilmann Riemenschneiders weiteres Schicksal: Gemeinsam mit 40 anderen Gefangenen wird er auf die Festung Marienberg gebracht, dort in Einzelhaft gehalten und Verhören und Folterungen ausgesetzt. Als die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen nicht mehr aufrechterhalten werden können, wird er, müde und gebrochen, nach zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen. Damit endet die Romanhandlung, abschließend wird noch Riemenschneiders Tod am 7. Juli 1531 verzeichnet. Entkleidet man den Roman von Zutaten wie der Liebesgeschichte zwischen Riemenschneider und seinem Mündel, den ausufernden Beschreibungen seiner Kunstwerke, den Unschärfen in Bezug auf Riemenschneiders Leben (bei Bachmann beispielsweise ist der Bildhauer nur drei-, nicht viermal verheiratet, sie verschmilzt Ehefrau 2 und 3 zu einer Person) sowie manchen historischen Ungenauigkeiten, die vermutlich Dramaturgie und Straffung geschuldet sind, und lässt man die Parallelszenen, die inflationär eingesetzten Naturmetaphern sowie die Träume und Visionen der Protagonisten, die auf den weiteren Handlungsverlauf schließen lassen,21 außer Acht, so sticht zunächst einmal der tendenziöse Prolog ins Auge. versucht hatten, Würzburg zur Freien Reichsstadt erklären zu lassen, denn dadurch wäre es dem Einfluss des Bischofs entzogen worden und hätte dem Kaiser direkt unterstanden. 21 Teil 1: Riemenschneider hat eine Vision von dem Verlauf der Schlacht bei Königshofen, die dann im 3. Teil geschildert wird; Scherenberg fühlt sich bei seiner Begegnung mit Riemen-

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Dieser setzt sich mit den Unterschieden zwischen der italienischen (›welschen‹) und der deutschen Kunst auseinander. Bachmann präsentiert Riemenschneider als einen Vertreter der deutschen Spätgotik, der sich gegen den aus Italien kommenden neuen Kunststil der Renaissance als etwas Fremdes, Zerstörerisches, von außen bewusst in das Land Hineingetragenes wendet, das gleichwohl der eigenen, deutschen, ›natürlichen‹ Kunst nichts anhaben und im Gegensatz zu ihr nicht bestehen kann. Das nicht aus dem deutschen Volk selbst Stammende wird in diesem Prolog als etwas Schädliches, Schlechtes gebrandmarkt (»der fremde Zug aus dem Süden war es, der ihm die Stätte verleidete und ihn zum Weiterziehen zwang«, und zwar »zum Rhein und dann nach Norden«22). Riemenschneider setzt sich in dieser Episode darüber hinaus für »das durch Christi Kreuztod auf ewig geheiligte« Holz als Werkstoff ein (»für mich schaffen die Welschen keine neuen Regeln«). Dass unliebsame Ideen, Weltanschauungen oder gar Kunstauffassungen als vermeintlich ›volksfremd‹ oder gar ›volksfeindlich‹ gegeißelt werden, impliziert, dass ›das Volk‹ als eine art- oder blutsverwandte Gemeinschaft gesehen wird, für die auch kulturelle Kriterien eine Rolle spielen. Das Bild der für die 1930er Jahre geltenden Gegensätzlichkeit von ›Welsch und Deutsch‹ mag Bachmann bei ihrem Riemenschneider in den Mund gelegten Angriff auf die ›welsche Kunst‹ vor Augen gestanden haben. Darüber hinaus ist diese Unterscheidung auch als Kritik interpretierbar, hatte sich Österreich doch nach dem Machtantritt des Nationalsozialismus in Deutschland aus innen- und außenpolitischen Gründen dem faschistischen Italien genähert, das eine Schutzfunktion für Österreichs Unabhängigkeit übernahm, was die Parteinahme für »die deutsche Kunst«, »das Deutsche« noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt. Durch ihre Akzentsetzung auf den an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert bestehenden Gegensatz zwischen der Kunst der italienischen Renaissance und der deutschen Spätgotik gleich im Prolog macht Bachmann einerseits auf die tatsächlich vorhandenen künstlerischen Spannungen dieser Zeit aufmerksam, andererseits gerät sie dadurch in das Fahrwasser einer nationalen Ideologie, indem sie dem unbeirrten »Gotiker« Riemenschneider als Vertreter des »deutschen Kunstgedankens« den Vorzug gegenüber den Anhängern des »welschen schneider an den Pfeifer von Niklashausen erinnert, hat dann auf seinem Sterbebett eine Vision vom kommenden Bauernaufstand und der Belagerung der Festung Marienberg. Teil 2: Riemenschneider hat auf dem Schloss des Ritters Wilhelm von Grumbach ein Traumgesicht, das auf das Ende des Bauernkrieges bzw. der Idee der Freiheit in einem großen Blutbad vorausweist (tatsächlich fielen bis zu 100000 Menschen der koordinierten Unterdrückungspolitik der Fürsten in den Bauernschlachten und durch Hinrichtungen zum Opfer). Teil 3 beginnt mit dem Bild des Frühlings als Metapher für das Aufkeimen der Freiheitsidee, des Freiheitskampfes. 22 Bachmann, Meister, Bürger und Rebell, S. 9f.

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Kults der Renaissance-Schönheitslehre« gibt. In den kunstgeschichtlichen Darstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Bachmann für ihr Quellenstudium heranzog, ist ein Bemühen zu erkennen, gewisse künstlerische Errungenschaften als »selbstständig deutsch« darzustellen (z. B. bei Hubert Schrade). Nach dem von Justus Bier begonnenen mehrbändigen Werkverzeichnis (Mitte der 1920er Jahre) entstanden vor allem nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die ersten umfassenden Monografien zu Riemenschneider. Seine Würdigung leitete sich darin in erster Linie aus seiner handwerklichen Tätigkeit als Bildschnitzer ab, die mit der handwerklichen Tätigkeit der Bauern gleichgesetzt wird, weswegen auch »die echte Volkstümlichkeit« (Theodor Demmler) seiner Kunst gelobt wird. Die Holzplastik wird als für das deutsche Volk bezeichnend angesehen und Holz als einheimisches, »deutsches« Material mit monumentalem, ewigem Charakter gewertet. Generell wurde Riemenschneider in diesen Darstellungen dann besonders hervorgehoben, wenn seine »Volksnähe« gefragt war: sei es als Handwerker oder als regionaler Vertreter der deutschen Kunst um 1500.23 Bachmann schildert in ihrem Roman Riemenschneiders Schaffen unter Gesichtspunkten einer eigenständigen deutschen Kunst, indem sie auch seine diesbezüglichen Innovationen und Neuerungen ins Treffen führt, betont seine Volksnähe aber auch in Hinblick auf seine Aktivitäten als Ratsherr. Riemenschneiders Konflikt mit dem Würzburger Bischof Konrad von Thüngen hat zunächst keine sozialen oder politischen Implikationen, er entsteht über eine persönliche Fehde bzw. den Kampf um eine Frau (in diesem Fall »eine zarte, blonde Maid«, selbstlos, bescheiden, »im Haus der gute Engel«, sich »wartend und erwartend« ihrem Schicksal fügend24). Erst als von Thüngens Schikanen es dem Bildhauermeister erschweren, sich auf seine Kunst zu konzentrieren, engagiert sich Riemenschneider zunehmend politisch, kämpft gegen die Willkür des Fürstbischofs auf allgemeinerer Ebene an und begehrt als Bürger gegen die Obrigkeit auf,25 die in diesem Fall nicht nur die weltliche, sondern auch die geistliche ist. Ab diesem Moment müssen Riemenschneiders Kunst und die Unversehrtheit seines Leibes und Lebens für die »Idee der Freiheit« zurückstehen, das Wohl des Einzelnen wird dementsprechend dem Volksganzen untergeordnet. Auffallend an der bachmannschen Schilderung ist weiters, dass sie Riemenschneider vor allem von den Anführern und Ideologen der Bauernbewegung – Intellektuellen, Adeligen, Beamten – begeistert sein lässt, weniger von den Personen, um deren Besserstellung und Anliegen eigentlich gekämpft wird. Vor 23 Jeannet Hommers, »Der zarte Tyrann aus der Sandsteinstadt Würzburg«. Ein Beitrag zur Riemenschneider-Rezeption, in: Bruno Reudenbach / Maike Steinkamp (Hg.), Mittelalterbilder im Nationalsozialismus, Berlin 2013, S. 75–87, hier S. 77, 79. 24 Bachmann, Meister, Bürger und Rebell, S. 17, 22f., 465. 25 Ebd., S. 346f.

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allem der Adelige Florian Geyer wird als eine Art bodenständiger ritterlicher Volksfreund und edler Held beschrieben, der verkündet: »Deutschland mueß frei sein vom römischen Joch und mueß sich selbst wieder ufrichten und in die Höh’ bringen. Seind noch allerwegs Mannskerl genung da, die die Sach in ihre harten Fäust’ nehmen kunnten.«26 Hier schwingt auch die Sicht auf die durch Fürstbischof von Thüngen verkörperte römische Kirche als Antipode des Deutschtums mit. Die Bauern, um die es sich ja letztlich dreht, werden als rohe, größtenteils saufende und fressende Haufen präsentiert, die am liebsten jedes Kloster plündern und niederbrennen würden, wenn sie nicht Führer wie Geyer in Zaum halten würden. Dieselbe führende Rolle kommt Riemenschneider in Bezug auf das Stadtproletariat zu. Die Aktionen der Bauern und der verarmten Stadtbevölkerung werden als kontraproduktiv gewertet, wenn Riemenschneider festhält: »Die Sach’ ist viel zu heilig, daß sie Gewalt beschmutzen dörft«27, und weiter: »Das Volk gibt die Macht, die Kraft der Bewegung. Der Kopf, der Führer ist es, der sie formt und richtig einfügt in das Geschehen. Wer aber Führer ist, der ist auch unter Brüdern kraft seines Geistes wie ein Herr.«28 Mit Florian Geyer, aber auch Tilmann Riemenschneider werden solche hemdsärmeligen, zupackenden Führer gezeigt, dem Volk dienende Revolutionäre. Neben den Anklängen an den NSFührerbegriff wird die Idee des »Volksdienertums« in Form eines Rebellentums beschworen, das die Traditionen seines Volkes zu retten sucht und sich mit jenem zusammen gegen ein reaktionäres System und erstarrte Strukturen wehrt.29 Indem Bachmann sich im Kontext der Bauernerhebung auf Riemenschneiders Heimatstadt Würzburg konzentriert, das zu Beginn des Juni 1525 als Ort der Entscheidung galt, wird der Fokus gleichermaßen auf eine Art frühbürgerliche Revolution gerichtet. Denn Würzburg symbolisierte den nicht nur bäuerlichen, sondern eben auch bürgerlichen Charakter des Aufstandes in Franken. Darüber hinaus ist die Geschichte der Bauernkriege prinzipiell die Geschichte einer Erhebung, einer Revolution, in der sich Bürger und Intellektuelle auf die Seite der unteren Schichten mit ihrem Veränderungswillen stellen, ein Kampf gegen die herrschende Klasse, die zum Großteil aus adeligem Klerus, aus Geistlichen besteht. Der Bauernkrieg ist also zugleich ein Bürgerkrieg. Mit den Schlagworten vom Bürgerkrieg und der weltlichen Herrschaft kirchlicher Kreise bzw. der Allianz von Thron und Altar sind schon zwei große Parallelen zum Ständestaat gegeben – der Zeit, in der Bachmann ihren Roman schrieb und publizierte –, die

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Ebd., S. 248. Ebd., S. 394. Ebd., S. 407. Vgl. dazu auch Gordon Wolnik, Mittelalter und NS-Propaganda. Mittelalterbilder in den Print-, Ton- und Bildmedien des Dritten Reichs, Münster 2004.

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u. a. ein Interesse an der Bauernkriegsthematik in den 1930er Jahren nahelegen können. Den Februar- und Julikämpfen 1934 in Österreich war bekanntlich die Aushebelung und Ausschaltung des Parlaments am 4. März 1933 vorangegangen, der das Verbot von KPÖ und NSDAP sowie die gewaltsame Ausschaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei folgten. Das sich selbst als autoritären Ständestaat definierende Staatswesen berief sich nun in der Präambel der am 1. Mai 1934 verkündeten Verfassung auf Gott, wodurch deutlich wurde, dass der politische Katholizismus, das katholisch-konservative Lager die staatliche Macht zur Gänze an sich gerissen hatte. Die enge Verflechtung von römisch-katholischer Kirche und Dollfuß-Schuschnigg-Regime war bereits 1933 mit dem zwischen der Regierung und dem Vatikan unterzeichneten Konkordat ersichtlich geworden. Dieses Bündnis ging mit der Abkehr des Ständestaates von einem säkularen Verständnis von Staat und Politik Hand in Hand und wurde durch die Repräsentation der Kirche bei staatlichen und kulturellen Veranstaltungen noch unterstrichen.30 Gegen dieses »alte Spiel der Gegenreformation, das Staat und Kirche zwischen 1933 und 1938 noch einmal spielten«31, gab es u. a. auch Widerstand der illegalen Nationalsozialisten in Österreich, die sich auf die revolutionären und reformatorischen Traditionen des Volkes beriefen. »Ihrer Interpretation nach standen sie auf der Seite des unterdrückten Volkes – gegen Staat und Kirche, gegen die Obrigkeit schlechthin. Die Berufung auf widersetzliche Traditionen gegen die Staatsrepression führte der illegalen Bewegung einen Teil ihrer Energie zu.«32 Nun sind aber die Geschichte des Bauernkrieges und das Lebensbild Tilmann Riemenschneiders, wie sie Luise Bachmann in ihrem Roman beschreibt, eben genau so eine Geschichte des Widerstandes gegen die weltliche und kirchliche Obrigkeit, und zwar sowohl des Widerstandes eines Einzelnen als auch des »Volkes«, das um 1500 von den Bauern mit einem Bevölkerungsanteil von über 90 Prozent gestellt wurde. Die Bauern waren bereits sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik pathetisch überhöht zum wirtschaftlichen, rassischen und moralischen Kern der Nation erklärt worden, was dann ja ebenso im »Dritten Reich« geschah. Auch die österreichische Kulturpolitik der 1930er Jahre präferierte und förderte eine »bodenverwurzelte, anti-urbane, provinzielle Kunst«, die die »Volksgemeinschaft« betonte, wodurch die Bauernthematik als Romanstoff naheliegend erscheinen mochte. Durch diese Schwerpunktsetzung 30 Vgl. Anton Pelinka, Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938, Wien 2017, S. 128, 133–135, 144f. 31 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994 (= Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram; Bd. 3: 1890–1990), S. 318. 32 Ebd.

Luise G. Bachmanns Bauernkriegsroman als Appell zur politischen Positionierung?

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bot gerade der in den 1930er Jahren populäre historische Roman auch den deutschnationalen Kräften ein Einfallstor und bereitete auf das »Führererlebnis« vor. Insbesondere bei jenen Romanen, die das Bauernschicksal aus deutschvölkischer Sicht als Volksschicksal präsentieren, kann man von »Schulfällen unterirdischer Aktualisierung« sprechen, von Versuchen also, »am historischen Modell kollektive Verhaltensweisen vorzuführen, die sich für aktuelle politische Erfordernisse instrumentalisieren lassen«.33 In Bezug auf Bachmanns Roman lässt sich dies gut nachzeichnen; auch die Interpretationen ihres Buchs in Zeitungen und Zeitschriften veranschaulichen dies. In den meisten Rezensionen wurde eine Parallele zwischen dem Zeitalter der Reformation und des Bauernkrieges und der Gegenwart geortet, die darin gesehen wurde, dass es jeweils um die »große Auseinandersetzung zwischen deutschem und fremdem Wesen« gehe.34 Bachmann habe anhand zeitgenössischer Quellen gezeigt, dass »diese gewaltige Volkserhebung« ihre »Ursachen in der jahrhundertealten Sehnsucht des deutschen Bauern nach einem einigen großen Reich unter zentraler Führung und den Bedingungen von Blut und Boden hatte«.35 Bei Bachmann ist aber nicht nur das Bauernschicksal als Volksschicksal sowie eine soziale und politische Revolution Thema, sondern auch ganz wesentlich das Verhältnis des Künstlers zur Politik, zum politischen Engagement. Riemenschneider wird von Bachmann zunächst als jemand dargestellt, der rein für seine Kunst lebt, in ihr aufgeht und sich nicht in die Tagespolitik einmischt. Die immer deutlicher zutage tretenden politischen Spannungen und sozialen Konflikte lassen ihn als reformatorisch gesinnten Bürger, Handwerker und Angehörigen des gehobenen Mittelstandes dennoch nicht unberührt, und schließlich zwingen sein Pflichtbewusstsein, sein Gerechtigkeitssinn und sein Gewissen, aber auch sein gelebtes Christentum ihn dazu, Partei »für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zu ergreifen und »aus der Sphäre rein geistiger und ästhetischer Kunstbürgerlichkeit herauszutreten«.36 Diese Parteinahme für die Armen, sozial 33 Peter Zimmermann, Der Bauernroman. Antifeudalismus – Konservativismus – Faschismus, Stuttgart 1975, S. 133. 34 Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 10. 11. 1937, S. 9; Siebenbürgisch-deutsches Tageblatt, 18. 11. 1937, S. 7; Salzburger Volksblatt, 27. 11. 1937, S. 9; Illustrierte Kronen Zeitung, 8. 12. 1938, S. 9. 35 Salzburger Chronik, 5. 7. 1938, S. 7; ähnlich geartet die Besprechung in der »Wartburg« und im Reichsrundfunksender Frankfurt. Abweichend nur die Rezensionen in den »Christlichen Kunstblättern«, der katholischen »Reichspost« und der »Neuen Freien Presse«, die sich prinzipiell positiv zu dem Roman äußerten und entweder Riemenschneiders Religiosität oder sein »tatkräftiges politisches Wollen« herausstrichen. Christliche Kunstblätter, 1 (1938), S. 29f.; Reichspost, 16. 11. 1937, S. 11; Neue Freie Presse, 28. 11. 1937, S. 32. 36 Vgl. dazu Thomas Manns Einschätzung der Person Riemenschneider als Antipode Luthers in seinem 1945 in den USA gehaltenen Vortrag »Deutschland und die Deutschen« (Ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 11, Frankfurt am Main 1960, S. 1134f.). Mann, der 1943 Karl Heinrich Steins (Heinrich Steinitz’) Buch gelesen hatte, führt den im Grunde unpoliti-

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Schwachen, für die Rebellen, diese Entscheidung gegen die Obrigkeit stellte für ihn ein großes Risiko dar, noch dazu, da diese Obrigkeit in Form des Klerus zu seinen Hauptauftraggebern als Künstler gehörte.37 Riemenschneider dient Bachmann somit als Beispiel für den genuin unpolitischen Künstler, der nur durch die Umstände gezwungen wird, politisch zu handeln, Partei zu ergreifen und Farbe zu bekennen. Wie löst nun die Autorin und ausgebildete Musikerin Bachmann diesen von ihr formulierten Appell zu einer politischen Positionierung für sich selbst ein? Bis zum »Anschluss« Österreichs ans »Dritte Reich« tritt sie hauptsächlich im Rahmen katholischer Kulturveranstaltungen und Organisationen mit engen Beziehungen zum Ständestaat auf. Im März 1938 beendet sie ihre Lehrtätigkeit am Pädagogischen Institut der Stadt Wien und zieht als freie Schriftstellerin nach Salzburg, wo ihr Ehemann Josef Pistorius eine Fabrik leitet. Als dann im November 1938 Reichsjugendführer Baldur von Schirach nach Wien kommt, um im Rahmen der »Ersten Großdeutschen Buchwoche« in der Hofburg eine Rede zu halten, ist Luise Bachmann zum anschließenden Dichterempfang im Neuen Wiener Rathaus geladen. Neben dem Wiener Gauleiter, dem Reichsamtsleiter und dem Kreisleiter wohnten dem Empfang auch völkischnationale Autoren wie Colerus, Wenter, Spunda, Rainalter, Schreyvogl und Ginzkey bei, also Vorsitzende und Mitglieder des Bundes deutscher Schriftsteller Österreichs, der als Sammelbecken von NSDAP-Mitgliedern und -Sympathisanten auf den »Anschluss« im März 1938 hingearbeitet hatte. Im Dezember 1938 stellte Bachmann ihren Riemenschneider-Roman in der Wiener Urania im Beisein des SA-Brigadeführers und ehemaligen Wiener Vizebürgermeisters Thomas Kozich vor. Daran schließt sich bis 1944 nahtlos eine Reihe von Radiosendungen, Vorträgen, Lesereisen und Buchpräsentationen an, etwa in der »Führerschule des Gaues Hessen-Nassau« oder dem »Mütterheim des Kreises Groß-Frankfurt«.38 Bachmann, ehemals Mitarbeiterin der katholisch-konservativen »Salzburger Chronik«, publizierte nun in der »Oberdonau-Zeitung«, der amtlichen Tageszeitung der NSDAP in Oberösterreich; der »Völkische Beobachter«, das »Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands«, wies regelmäßig auf Bachmanns kulturelle Aktivitäten hin, etwa den Salzburger Dichterabend gemeinsam mit Karl Heinrich Waggerl oder Bachmanns Auftritt bei der »Kriegsbuchwoche 1941«. In den Jahren 1938 bis 1945 finden sich nicht schen Künstler Riemenschneider als Beleg dafür an, dass es in der deutschen Geschichte neben der von Luther verkörperten Hauptlinie der Obrigkeitshörigkeit eine Tradition des kämpferischen Humanismus und Widerstands gegeben hat. 37 Hans-Christian Kirsch, Tilman Riemenschneider. Ein deutsches Schicksal, München 1981, S. 15. 38 Vgl. z. B. Salzburger Chronik, 5. 7. 1938, S. 7; Salzburger Volksblatt, 5. 11. 1942, S. 5; Linzer Tagespost, 9. 11. 1942, S. 4; Salzburger Zeitung, 4. 7. 1943, S. 4.

Luise G. Bachmanns Bauernkriegsroman als Appell zur politischen Positionierung?

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nur kontinuierlich Beiträge von ihr in Zeitschriften und Zeitungen, Bachmann ist auch mit Hörspielen und Funkmärchen im Radio vertreten, absolviert im Auftrag des Deutschen Volksbildungswerkes öffentliche Vorträge und Lesungen, u. a. auch in Wehrmachtslazaretten, vor Soldaten, vor Verwundeten, vor Rüstungsarbeitern. Auch wenn ihr katholischer Hausverlag Schöningh, bei dem bis 1941 sieben ihrer Bücher erschienen waren, zunehmend unter politischen Druck geriet und schließlich 1943 die Verlagstätigkeit einstellen musste,39 so heißt das nicht, dass die Bedenken des Regimes gegenüber dem Verlag auch für Bachmanns Person gegolten hätten. Bachmanns Engagement in der NS-Frauenschaft Salzburg, ihre wiederholten Auftritte im Rahmen von offiziellen Kulturveranstaltungen weisen sie vielmehr als Befürworterin des nationalsozialistischen Regimes aus. Ihre Aufnahme in die NSDAP am 1. Mai 193840 deutet zudem auf ein bereits vor dem »Anschluss« bestehendes Naheverhältnis zum Nationalsozialismus hin, denn die auf den 1. Mai ausgestellten Mitgliedskarten waren für sogenannte Illegale reserviert, das heißt für Österreicher, die der NSDAP noch während der Verbotszeit (Juni 1933 bis März 1938) beigetreten waren und dann 1938 eine offizielle Mitgliedschaft beantragt hatten.41 Zugleich scheint sie jedoch ihre Bindungen an die katholische Kirche aufrechterhalten zu haben: Nachdem ihre Salzburger Wohnung im Herbst 1944 zunächst durch einen Bombenschaden ramponiert und dann am 25. April 1945 im Zuge der Kriegshandlungen durch einen Brand komplett zerstört worden war, Bachmann dabei nahezu ihren gesamten Besitz, also auch ihre Bücher, Arbeitsunterlagen und Manuskripte, verloren hatte, fand sie freundliche Aufnahme im Augustiner Chorherrenstift Sankt Florian. Das Stift blieb abwechselnd mit Wien ihr Wohnsitz, bis sie 1955 wieder endgültig nach Wien übersiedelte.42 Das Jahr 1945 bedeutete für Bachmann in Bezug auf ihre Publikationsmöglichkeiten keinen großen Einschnitt, denn bereits 1946 konnten mit Genehmigung der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung ihre Bücher erscheinen, 39 Agnes Blänsdorf, Lehrwerke für Geschichtsunterricht an Höheren Schulen 1933–1945. Autoren und Verlage unter den Bedingungen des Nationalsozialismus, in: Hartmut Lehmann / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren, Göttingen 2004, S. 273–370, hier S. 312. 40 Ch. Kanzler, Bachmann, L(o)uise (George), in: Österreichisches Biographisches Lexikon ab 1815. 2. überarb. Aufl. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, online. Zuletzt abgerufen am 1. 10. 2021 unter http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_B/Bachmann _Luise_1903_1976.xml. 41 Benjamin Hertlein, Die sudetendeutschen und österreichischen NSDAP-Mitglieder. Ein Vergleich mit den Mitgliedern aus dem Altreich, in: Jürgen W. Falter (Hg.), Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919–1945, Frankfurt am Main 2016, S. 319– 334, hier S. 321. 42 Vgl. dazu Luise G. Bachmann, Briefe an Max Auer. St. Florian bei Linz, 25. 3. 1946 und 21. 5. 1955, ÖNB, Musiksammlung, F31.Auer.199.

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auch ihre früheren Werke erlebten zahlreiche Neuauflagen. Möglicherweise waren hier ihre engen Verbindungen zur katholischen Kirche sowie zur Bruckner-Gesellschaft von Vorteil, eventuell auch ihre unpolitisch wirkenden Bücher, die sich hauptsächlich mit religiösen Fragestellungen und Problemen künstlerischer Kreativität befassen. Auch ihr Riemenschneider-Roman lässt sich in diese Richtung lesen, man kann ihn als Lebensbild eines Künstlers auffassen, der gegen alle Widerstände seinen Weg geht und die Kraft dazu in seiner Religiosität findet – ihn also ähnlich interpretieren, wie es der Großteil der Rezensenten bei ihrem Buchdebüt über Bach oder später bei ihrem Bruckner-Roman tat. Nach 1945 jedenfalls gesellten sich zu diesen Biografien bekannter Musiker und bildender Künstler vermehrt Lebensbeschreibungen von Persönlichkeiten aus der Geschichte der katholischen Kirche. Ihre Bücher erschienen nach wie vor in hauptsächlich katholisch ausgerichteten Verlagen, wie Schöningh, Styria und Pustet. Bachmann setzte ihre Publikationstätigkeit also ungehindert fort, schon 1946 sind wieder Beiträge von ihr in Zeitungen und Zeitschriften zu finden und auch ihre Vorträge und Aktivitäten im Rahmen diverser Kulturveranstaltungen setzen in diesem Jahr erneut ein;43 die einjährige Pause 1945 erklärte Bachmann selbst mit ihrem Gesundheitszustand.44 Bis zu ihrem Tod im Jahr 197645 erschienen mehrere Romane, Erzählungen, Novellen, dramatische Dichtungen und Festspiele von ihr. Luise Bachmann – 1903 noch in der Monarchie geboren und aufgewachsen, ausgebildet in der Ersten Republik – bereitete der Übergang von autoritärem Ständestaat zum »Dritten Reich« und schließlich zur Zweiten Republik offenbar keinerlei Schwierigkeiten, in all diesen politischen Systemen war sie schriftstellerisch erfolgreich.

43 Vgl. etwa Oberösterreichische Nachrichten, 18.5., 17.6. und 12. 10. 1946. 44 Vgl. Luise G. Bachmann, Brief an Max Auer. St. Florian bei Linz, 25. 3. 1946, ÖNB, Musiksammlung, F31.Auer.199. 45 Luise Bachmann starb am 17. Juni 1976 im oberösterreichischen Bad Ischl, am 29. Juni wurde sie auf dem Döblinger Friedhof in Wien beigesetzt. – Ihr letztes veröffentlichtes Buch stammt aus dem Jahr 1963, erschien bei Schöningh und trägt den Titel »Beethoven contra Beethoven. Geschichte eines berühmten Rechtsfalles«.

Clara Huber (Wien)

»Désirée« – eine von uns. Die »Neue Frau« in Annemarie Selinkos historischem Tagebuchroman

1.

Einführung Ich glaube, eine Frau kann viel leichter bei einem Mann etwas durchsetzen, wenn sie einen runden Busen hat. Deshalb habe ich mir vorgenommen, mir morgen vier Taschentücher in den Ausschnitt zu stopfen, um wirklich erwachsen auszusehen.1

Löst man diesen Romananfang aus seinem Kontext, liegt die Vermutung nahe, hier spricht ein »Backfisch«, vielleicht entstammt das Zitat einem Mädchenroman à la »Trotzkopf«,2 wenn auch etwas schlüpfriger. Der Blick auf die erste Seite des Romans offenbart hingegen mehr: Es handelt sich um einen Tagebucheintrag einer gewissen Eugénie Désirée Clary, datiert mit »Marseille, Anfang Germinal, Jahr 11«, in unserer Zeitrechnung »Marseille, März 1794«. So beginnt Annemarie Selinkos historischer Tagebuchroman »Désirée«, ein heute fast vergessener Welterfolg aus dem Jahre 1951. Der Roman wurde millionenfach verkauft und in 25 Sprachen übersetzt. Die Autorin Annemarie Selinko, neben Vicki Baum die erfolgreichste österreichische Schriftstellerin vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg, ist der Öffentlichkeit ebenso unbekannt. Erst in den letzten Jahren wurden neben »Désirée« zwei weitere ihrer vier Romane »Heute heiratet mein Mann« und »Ich war ein häßliches Mädchen« wieder verlegt.3 Selinkos Werk ist bis heute wenig erforscht. Einen essentiellen Beitrag hat Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl geleistet.4 Ebenso erwähnenswert ist das Kurzportrait von Renate Wagner.5 In den letzten Jahren hat Historikerin Marie-Theres Arn-

1 Annemarie Selinko, Désirée, Köln 2002, S. 11. 2 Vgl. Emmy von Rhoden, Der Trotzkopf, Wien 2003. 3 Annemarie Selinko, Heute heiratet mein Mann, Wien 2018; dies., Ich war ein häßliches Mädchen, Wien 2019. 4 Evelyne Polt-Heinzl, Annemarie Selinko, in: Dies., Zeitlos. Neun Porträts. Vor der ersten Krimiautorin Österreichs bis zur ersten Satirikerin Deutschlands, Wien 2005, S. 161–182. 5 Renate Wagner, Heimat bist du großer Töchter. Weitere Portraits, Wien 1995.

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bom vor allem in Bezug auf die biografische Recherche die Basis-Arbeit von PoltHeinzl mit vielen neuen Erkenntnissen bereichert.6 Désirée Clary, Tochter eines Kaufmanns aus Marseille, ist trotz ihrer interessanten Geschichte ebenfalls nicht besonders bekannt. Sie war in ihrer Jugend mit Napoleon Bonaparte verlobt, heiratete später den französischen General Jean-Baptiste Bernadotte, welcher vom schwedischen König adoptiert und schließlich selbst König von Schweden und Norwegen wurde. Die Dynastie Bernadotte bildet noch heute das schwedische Königshaus. Obwohl Selinkos Roman in räumlicher und zeitlicher Distanz zur Literatur der Zwischenkriegszeit geschrieben wurde,7 so verkörpert die Erzählerin und Hauptprotagonistin Désirée dennoch den Prototyp der ›Neuen Frau‹. Das »Übergangswesen«8 Désirée steht zwischen den Generationen, ist gefangen zwischen Emanzipation und Tradition. Dies führt dazu, dass sie eine von Ambivalenzen durchzogene brüchige Figur und der Roman von zahlreichen Spannungsfeldern geprägt ist. Da der Roman ein bisschen »Außerhalb« steht, stellt sich nun die Frage, wo die ›Neue Frau‹ Anfang der fünfziger Jahre zu verorten ist. Hat sie sich seit den zwanziger Jahren weiter- oder nicht doch zurückentwickelt? Ich möchte zeigen, dass »Désirée« zwar eine gewisse Prägung durch die traumatischen Ereignisse des zweiten Weltkriegs erhalten hat, der Roman sich aber nahezu idealtypisch in den Diskurs der ›Neuen Frau‹ und die gesellschaftlichen, wie literarischen Stimmungen der Zwischenkriegszeit einfügt. Betrachtet man Annemarie Selinkos vier Romane und vier ›neuen‹ Heldinnen9 in ihrer Gesamtheit, so kann »Désirée« als Abschluss einer Serie betrachtet werden, die in den dreißiger Jahren ihren Anfang hat.10 Die Autorin hat nach ihrem Welterfolg nichts mehr veröffentlicht.11 Durch seine Eigenschaft des »historischen Tagebuchromans« soll hier die auf den ersten Blick gegensätzliche Verbindung von modernem Frauentyp mit der Gattung des historischen Romans außerdem im Fokus stehen. Die ›Neue Frau‹ mit »Korsett und Krone«? Wie gestaltet sich diese Synthese? 6 Marie-Theres Arnbom, Was wär’ die Welt ohne Désirée? Annemarie Selinko, in: Dies., Damals war Heimat. Die Welt des jüdischen Großbürgertums, Wien 2014, S. 78–126. 7 Die Wienerin Annemarie Selinko lebte ab 1938 nach ihrer Heirat mit dem Diplomaten Erling Kristiansen in Dänemark und Schweden, wo sie Ende der vierziger Jahre mit der Arbeit zu Désirée begann. 8 Vgl. Kerstin Barndt, Sentiment und Sachlichkeit, Köln 2003. 9 Vgl. Annemarie Selinko, Ich war ein häßliches Mädchen, Wien 1937 (Annelies); dies., Morgen wird alles besser, Wien 1938 (Christiane); dies., Heute heiratet mein Mann, Amsterdam 1940 (Thesi). 10 Lässt man Zäsuren wie den Zweiten Weltkrieg weg, so sind die vier Romane in einem kurzen Zeitraum von nur vierzehn Jahren veröffentlicht worden. 11 Zu den Gründen, warum nach ihrem Bestsellerroman keine neuen Bücher mehr von Selinko erschienen sind vgl. Evelyne Polt-Heinzl, S. 166–167.

Die »Neue Frau« in Annemarie Selinkos historischem Tagebuchroman

2.

231

Die ›Neue Frau‹

Alexandra Kollontai fragte 1918 in ihrer Redensammlung »Die neue Moral und die Arbeiterklasse«: »Wer ist das, die neue Frau? Existiert sie überhaupt?«12 Sie thematisierte damit ein neues Frauenbild nach dem ersten Weltbild, welches für Entscheidungsfreiheit und Selbstverwirklichung in Liebe, Beruf und der äußeren Erscheinung stand. Bereits mit dem Aufkommen dieses neuen Typs entstanden viele öffentliche Kontroversen. Barbara Drescher sieht in der ›Neuen Frau‹ keinen absoluten Begriff, sondern eine aus diversen Perspektiven aufgeladene Idee.13 Der Versuch einer Erklärung kommt nicht ohne die unsichere Stellung zwischen den politischen Fronten aus: Die Diskussion um Geschlechterpositionen nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Kriegsinferno positionierte die Neue Frau im Schnittpunkt von Tradition und Moderne, von Klassengräben und Generationsunterschieden. Zwischen konservativer Sehnsucht nach bürgerlicher Geschlechterpolarität, linker Propaganda von der politisch wirksamen, kinderreichen Proletariermutter, sowie der bürgerlich-feministischen Idee von einer die geschäftsschädigende Technologie neutralisierenden, sozialen Mütterlichkeit saß die Neue Frau auf der Anklagebank der öffentlichen Meinung.14

Kerstin Barndt bekräftigt die Position der ›Neuen Frau‹ zwischen alten und neuen Weiblichkeitsentwürfen: »Personifizieren die neuen Frauenbilder einerseits Zeitenwandel und Aufbruch, müssen sie andererseits auch dafür einstehen, dass eine gewisse ›Balance‹ zwischen Modernisierung und Tradition gewahrt bleibt.«15 Indem vor allem viele junge Journalistinnen und Schriftstellerinnen16 den »kulturellen Mythos«17 in ihren Texten thematisierten, ist der Typus und sein öffentliches Image eng mit den Massenmedien der zwanziger und frühen dreißiger Jahre verknüpft. Von einer gänzlichen Vereinnahmung durch die Medien ist jedoch nicht die Rede. Atina Grossmann wertete Essays von Textilarbeiterinnen aus, aus welchen hervorging, dass sich diese zwar der Einschränkungen weiblicher Lebensperspektiven bewusst, aber gleichzeitig stolz auf ihre Freiheit und ihren Status als Single waren: »Widersprüchlichkeit der Individuationsfor-

12 Alexandra Kollontai, Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Münster 1978, S. 7. 13 Barbara Drescher, Die »Neue Frau«, in: Walter Fähnders (Hg.), Autorinnen der Weimarer Republik, Bielefeld 2003, S. 164. 14 Ebd., S. 168. 15 Atina Grossmann, Girlkultur oder Thoroughly Rationalized Female. A New Women in Weimar Germany?, in: Judith Friedländer / Blanche Wiesen Cook u. a. (Hg.), Women in Culture and Politics: A Century of Change, Bloomington 1986, S. 76. 16 Vicki Baum, Irmgard Keun oder auch Annemarie Selinko waren als Journalistinnen und Schriftstellerinnen tätig. 17 Drescher, S. 164.

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mation ›Neue Frau‹, die ein Nebeneinander von fremdbestimmter Regulation und selbstbestimmter Befreiung kennzeichnet.«18

3.

Eine von euch19

Zum Eingangszitat zurückkehrend wird mit Hilfe des Stilmittels Tagebuch unverzüglich sichtbar, dass die schreibende Ich-Erzählerin ihrer Leserschaft mit ihrer Offenheit und Authentizität ganz nahesteht. Mit ihrem kindlich-naiven Erfahrungshorizont lässt die Erzählerin nicht nur an ihrem »verführerischen Taschentuch-Busen«20 teilhaben, sie bedient sich auch am Inventar romantischer Liebesromane. So beschreibt Désirée ihren späteren Schwager Joseph Bonaparte schwärmerisch: »Er war ein richtiger Romanheld. Verfolgt. Heimatlos. Ein Flüchtling.«21 Oder in Hinblick auf Verliebtheit: »Heute weiß ich, dass man erst erwachsen ist, wenn man einen Mann schrecklich lieb hat.«22 Auch wenn der Text nicht ohne romantische Klischees auskommt, so dient die Tagebuchform, neben den Träumereien einer Halbwüchsigen, der Vermittlung einer von Männern gelenkten Weltgeschichte aus der Sicht einer Frau. Genau genommen handelt es sich um eine Zeitspanne von mehr als drei Jahrzehnten 1794 bis 1829. Anstoß für dieses Tagebuch der »Geschichte der Bürgerin Eugénie Désirée Clary«23 ist nicht sie selbst, sondern eine männliche Autorität, ihr Vater. Während Désirée glaubt, nichts zu erzählen zu haben, traut der Vater ihr zu, Teil der Geschichte zu sein, eine Geschichte zu haben. Später wird sie Napoleon dieses Geschichtsverständnis mitteilen: »Übrigens werde ich auch Weltgeschichte machen, Napoleone. […] Die Weltgeschichte besteht doch aus den Schicksalen aller Menschen, nicht wahr?«24 Dies entspricht auch Désirées Grundwerten, dem Hochhalten der Menschenrechte und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Ihre Bescheidenheit und die Versicherung, ganz gewöhnlich zu sein, bekräftigt sie auch noch als schwedische Kronprinzessin: »Ich werde sie enttäuschen, dachte ich, man stellt sich die Kronprinzessin wie eine Märchenfigur vor. Und ich bin doch nur die ehemalige Bürgerin Eugénie Désirée Clary.«25 Die Erzählung europäischer politischer Geschichte aus ihrer Sicht ist einerseits ein Blick auf Weltpolitik aus dem Privaten heraus, sozusagen eine »Backstage18 19 20 21 22 23 24 25

Barndt, S. 15. Vgl. Irmgard Keun, Gilgi – eine von uns. Roman, Berlin 1931. Selinko 2002, S. 23. Ebd., S. 35. Ebd., S. 83. Ebd., S. 11. Ebd., S. 62. Ebd., S. 497.

Die »Neue Frau« in Annemarie Selinkos historischem Tagebuchroman

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Erzählung«. Désirée erlebt die Weltgeschichte meist in ihrem Salon. Um andererseits dennoch Details aus Politik und von Kriegsereignissen erzählen zu können, muss die Erzählerin diese von handelnden Akteuren erfahren oder sie wird selbst Gegenstand zentraler historischer Ereignisse. Diese erzählerischen Mittel führen zu einer starken Fiktionalisierung des Stoffes, Widersprüchlichkeiten in Tat und Wort führt die Erzählerin/Protagonistin in besonderem Maße selbst herbei.

4.

»Ich bin dumm, unpolitisch, ungebildet.« (In-)Kompetenzen

Die ›Neuen Frauen‹ der Zwischenkriegszeit sind widersprüchliche Wesen. Ihre literarischen Vertreterinnen möchten unabhängig sein, einem Beruf nachgehen, sich unterhalten, um schließlich den eigenen Fähigkeiten doch nicht zu vertrauen und sich in die sichere Abhängigkeit der Ehe zu begeben oder gänzlich zu scheitern. Es geht um das Spannungsfeld der gesellschaftlichen Umstände und dem Vertrauen auf die eigenen Kompetenzen. Als historische Person des 18. Jahrhunderts bewegt sich Désirée in einem anderen sozialen Kontext, dennoch ist sie in Bezug auf ihre tiefgreifenden Widersprüchlichkeiten ihr weibliches Selbst- und Fremdbild betreffend eine ›Neue Frau‹. Da es im Laufe des Romans zu unzähligen Abwertungen ihrer Person durch Andere, aber vor allem durch sie selbst kommt, sollen einige davon nun aufgelistet werden: »Wenn ich etwas sage, macht es nie Eindruck.«26 / »Ich bin der Schandfleck unserer Familie.«27/ »Mein kleines, dummes Mädchen, das nie weiß, was es spricht.«28 / »Aber eine schwache Frau […] ist bestimmt nicht erwünscht.«29 / »Aber Sie, mein Kleines, Sie können weder regieren noch sonst irgendwas. Erweisen Sie wenigstens den Schweden den Gefallen und schauen Sie hübsch aus!«30 Es zieht sich wie eine rote Linie durch die Handlung, dass Désirée vor allem von ihrer Familie und ihrem Ehemann als ungebildetes, ungezogenes Kind gesehen und behandelt wird. Diametral entgegengesetzt dazu erscheint die Liste von Désirées heldenhaften Aktionen: Sie holt ihren Bruder aus dem Gefängnis, sucht die verwundeten Soldaten im Krankenhaus auf, interveniert viele Male bei Napoleon und verhindert schließlich ein Blutbad in Paris. Neben diesen punktuellen Taten operiert sie als zentrale Figur der Familien Clary und Bonaparte und empfängt in ihrem Salon wichtige Politiker wie Charles-Maurice de Talley26 27 28 29 30

Ebd., S. 13. Ebd., S. 21. Ebd., S. 441. Ebd., S. 454. Ebd., S. 582.

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rand-Périgord, Joseph Fouché oder sogar den Zaren von Russland. Im Zuge dieser Zusammenkünfte werden strategische Geheimnisse preisgegeben, militärische Taktiken besprochen und diplomatische Verhandlungen geführt. Obwohl Désirée dadurch zur politischen Schlüsselfigur wird, kann sie ihr Desinteresse nicht oft genug bekräftigen. »Ich höre immer diesen Gesprächen zu, um in Napoleons Nähe zu sein, obwohl sie mich entsetzlich langweilen.«31 / »Diese politischen Nachtmähler langweilen mich grenzenlos.«32 / »Ich befasse mich nicht mit Politik, Sire.«33 Nachdem die Erzählerin Désirée ihre »Langweile« und ihr apolitisches Wesen bestätigt hat, folgen lange lebhafte Passagen über Politik und aktuelle kriegerische Ereignisse. Sie widerlegt sich somit selbst. Désirée hört genau zu und verarbeitet diese Informationen in ihrem Tagebuch. Insgeheim weiß sie, dass ihr Tagebuch ein Politikum ist, denn als eine Hausdurchsuchung der Staatspolizei droht, lässt sie es verstecken. Ihre Argumentation dafür ist jedoch eine andere: »Es wäre undenkbar schrecklich für mich, wenn mein Tagebuch zuerst dem Polizeidirektor Fouché und dann Napoleon selbst in die Hände fallen würde. Die beiden würden sich halb totlachen…«34 Dass Selbst- und Fremdwahrnehmung in Bezug auf Désirées politische Kompetenz von den Tatsachen abweichen, ist auch in ihrer Ehe mit Jean-Baptiste Bernadotte der Fall. Obwohl es sich um die »große Liebe« handeln soll, ist die Beziehung der beiden von einer äußerst konservativen Hierarchie geprägt, die vor allem auf sprachlicher Ebene zum Ausdruck kommt; faktisch jedoch davon abweicht. Hier wird der Tagebuchroman zu einem Erziehungsroman. Bernadotte behandelt seine Frau wie ein Kind, sie ist bloß ein »dummes kleines Mädchen.«35 Ihre Aufgabe ist es, sich ihrer musischen Bildung zu widmen.36 Bernadotte quält Désirée mit seinem Wunsch nach Klavierunterricht: »›Es wäre so schön, wenn du Klavier spielen könntest, Désirée.‹ ›Ich glaube nicht, dass es schön wäre.‹ ›Aber du bist doch musikalisch‹, sagte er beschwörend.«37 Tatsächlich fungiert Désirée als engste Vertraute ihres Mannes, insbesondere in Fragen der Politik: »Wieder musste ich mich vor der Karte aufstellen. Aber ich sah nicht hin. Ich war tage- und nächtelang gereist, um meinen Mann zu pflegen, und anstatt ihn zu pflegen, musste ich mir Geographievorträge anhören.«38 An der Oberfläche ist Désirée von ihrem Unvermögen überzeugt und sieht sich in der klassischen Rolle der pflegenden Ehefrau. Die Verarbeitung der ihrer Meinung nach unliebsamen 31 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 60. Ebd., S. 177. Ebd., S. 551. Ebd., S. 237. Ebd., S. 390. Vgl. ebd., S. 94. Ebd., S. 205. Ebd., S. 393.

Die »Neue Frau« in Annemarie Selinkos historischem Tagebuchroman

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politischen- und geografischen Vorträge verweist dann aber auf die unbewusste Bedeutung, die die Figur diesen Handlungen insgeheim gibt. Vereinzelt offenbart Désirée auch ihrem Mann ihre eigentliche Rolle im Spiel der politischen Kräfte: »Jean-Baptiste – der Zar ist doch so stolz drauf, dein Freund zu sein. Und er versteht sehr gut, dass du die französische Krone nicht annehmen kannst. Ich habe ihm alles erklärt.«39

5.

Abwertung als weibliche Strategie

Die permanente Selbst-Abwertung, das Zuschaustellen weiblicher Schwäche, das Auftreten als Kind können auch als gezielte Strategie verstanden werden. Ich schluchzte auf. […] die Szene schien ihm sehr unangenehm zu sein. »Hören Sie doch auf zu weinen«, sagte er. »Nein«, schluchzte ich. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und stellte sich neben mich. »Hören Sie auf zu weinen, habe ich gesagt!« brüllte er. »Nein!«, schluchzte ich noch einmal.40

Désirées willensstarke Gefühlsausbrüche sorgen bei den männlichen Autoritäten für Irritation, gleichzeitig wird sie nicht ernst genommen, mit dieser Taktik kann sie viel durchsetzen. Mit der Häufung ihrer »politischen« Erfolge, wird sie jedoch auch durchschaut, wie folgende Unterhaltung mit Talleyrand zeigt: »›Mein Erscheinen oder Nichterscheinen ist ohne Bedeutung, Exzellenz. Ich verstehe nichts von Politik.‹ ›Wie seltsam, dass das Schicksal gerade Sie dazu ausersehen hat, eine so bedeutende Rolle zu spielen, Hoheit!‹«41 Und auch Napoleon blickt hinter ihre naive Mädchen-Fassade: »›Ich bin dumm, unpolitisch, ungebildet.‹ […] ›Das Ganze ist sehr einfach.‹ ›So einfach, dass ich es Ihnen nicht glaube, Madame‹.«42 Als hemdsärmelige ›Neue Frau‹ mutiert Désirée – bereits Kronprinzessin – in einer wirtschaftlichen Krise sogar zur Verkäuferin. In ihrem Stolz, kein Geld ausleihen zu wollen, sucht sie das Pariser Seidengeschäft ihrer Familie auf, um dort Ordnung hinein zu bringen und selbst zu verkaufen. Diese Episode ist nicht nur Hommage an den Prototyp der ›Neuen Frau‹, der Angestellten, mit ihrem kaufmännischen Geschick scheint Désirée auch in die falsche Zeit geboren zu sein. In Anbetracht Désirées permanentem Einsatz für Familie und Weltpolitik verwundern Passagen wie diese: »›Aber womit beschäftigst du dich eigentlich, Désirée?‹ ›Wirklich – mit gar nichts Richtigem‹, beteuerte ich verwirrt.«43

39 40 41 42 43

Ebd., S. 691. Ebd., S. 89. Ebd., S. 575. Ebd., S. 551. Ebd., S. 203.

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6.

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Mutterschaft

In Bezug auf ihre Mutterschaft steckt Désirée auch zwischen einer traditionellen Erwartungshaltung und ihrer Selbstverwirklichung fest. Bernadotte teilt ihr seine Wünsche bereits bei der ersten Begegnung mit: »Ich wünsche mir nämlich eine Frau und ein Kind.«44 Und auch Désirée sieht sich in einer klassischen Rolle: »Ich will versuchen, eine gute Hausfrau zu sein.«45 Als sie von ihrer Schwangerschaft erfährt, will sie das Kind in einem ersten Impuls nicht haben. Doch nach der Geburt wird Désirée ihrer Mutter-Rolle gerecht und bedient sich dabei der Stilisierung von Mutter-Kind-Beziehungen. »Ich möchte seine Hand halten und seine Wärme spüren. Sohn, du Teil meines Ichs.«46 Aber auch in dieser Funktion kämpft sie mit ihren Komplexen, nicht zu genügen: »Marie füllte sorgsam die verdünnte Milch, die Oscar jetzt zu trinken bekommt, weil seine Mama eine schlechte Mama ist und ihn nicht richtig satt bekommt, in eine Flasche.«47 Die ersten Jahre gibt es im Hause Bernadotte die klassische Rollenverteilung: Der Vater ist abwesend, die Mutter kümmert sich um die Erziehung des Kindes. Doch als die Familie an den schwedischen Königshof zieht, stellt Désirée ihre eigenen Bedürfnisse über ihre Mutterliebe. Da sie in Schweden unglücklich ist, lässt sie ihren Sohn zurück und lebt mehrere Jahre allein in Frankreich.

7.

Eine bürgerliche Königin

Désirée wechselt im Verlauf ihres Tagebuchs öfters die Rolle. So wird aus der Tochter eines wohlhabenden Seidenhändlers die Verlobte eines Generals, später die Gattin eines Marschalls, Kronprinzessin von Schweden und am Ende Königin. Im Spannungsfeld von Bürgertum und Aristokratie, Republik und Monarchie bleibt die Erzählerin/Romanheldin widersprüchlich. Als Ausgangpunkt findet sich das Trauma der Französischen Revolution und der strenge Fokus auf Republik und die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Désirée selbst versteht sich selbstbewusst als einfache Bürgerin Frankreichs. Selbst als Kronprinzessin besteht sie darauf, häusliche Tätigkeiten selbst auszuführen. Trotz aller volkstümlichen Bescheidenheit lebt der Roman aber vom Aschenputtel-Motiv: Eine Tochter eines Seidenhändlers wird Verlobte von Napoleon Bonaparte und später Königin von Schweden. Die Einführung Berna-

44 45 46 47

Ebd., S. 132. Ebd., S. 193. Ebd., S. 486. Ebd., S. 252.

Die »Neue Frau« in Annemarie Selinkos historischem Tagebuchroman

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dottes ist als Auftritt des prinzenhaften Retters gestaltet, der Désirée ruhig und beherzt abhält, aus Liebeskummer in die Seine zu springen. Auch wenn Désirée am schwedischen Hof von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt wird, so ist sie stolz auf ihren bedeutsamen Titel und weiß ihn bewusst einzusetzen. Annemarie Selinko findet für dieses Dilemma eine Lösung: Gekrönte Häupter sind per se nichts Negatives, solange sie von einer gewählten Volksvertretung erwünscht sind. Désirée sieht sich im Gegensatz zu ihrer Schwester Julie als rechtmäßige Königin, ihrer in ihren Augen ungeeigneten Schwester will als Königin von Napoleons Gnaden schon die Krone niemals passen.

8.

Das perfekte Äußere

Die starke mediale Präsenz der ›Neuen Frau‹ war in der Zwischenkriegszeit stark geprägt von Film und Werbung, der Anspruch junger Frauen, weiblichen Idolen nachzueifern, hatte einen großen Einfluss auf Mode und Kosmetik. Ute Frevert sieht den Umgang der Angestellten damit auch positiv: Der Zwang, hübsche Kleider zu tragen und immer gepflegt auszusehen, kam vielmehr ihrem Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Selbstbewusstsein entgegen. In der weiblichen Rolle, in Erotik und Mode konnten sie die demütigenden und deprimierenden Erfahrungen ihres beruflichen Alltags kompensieren und ein Stück Macht zurückgewinnen.48

In allen Romanen Annemarie Selinkos ist das Motiv der äußeren Erscheinung stark präsent. In »Ich war ein häßliches Mädchen« (1937) – eine moderne Pygmalion-Geschichte – ist es überhaupt das zentrale Thema. Aber auch in »Désirée« findet der Schönheitsdiskurs der Zwischenkriegszeit Eingang in das historische Frankreich Napoleons. Mode und vor allem Make-up stehen auch hier wieder in Verbindung mit Désirées Minderwertigkeitsgefühlen. Initialzündung ist hierbei die Begegnung mit Josephine Beauharnais, die für Désirée zum Inbegriff von Selbstbewusstsein und Schönheit wird. Bei der Präsentation von Kostüm und Kosmetik geht es weniger um eine historische Detailschilderung, sondern um Mode und Trends. Wie in einem Modemagazin beschreibt Désirée aktuelle Looks, an vorderster Stelle steht immer Josephine, die Stil-Ikone. Bei ihrem ersten Paris-Besuch reflektiert die jugendliche Désirée über ihre Kleidung: Ich hatte das schöne blauseidene Kleid an. Aber als ich durch den Garten der Tuilerien ging und dann weiter die Rue Honoré entlang, entdeckte ich, dass es für Pariser Begriffe

48 Ute Frevert, Kunstseidener Glanz, in: [k. A] Hart und Zart: Frauenleben 1920–1970, Berlin 1990, S. 19.

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ganz unmodern ist. Denn hier tragen die Damen Kleider, die wie Hemden aussehen und nur unter dem Busen von einem Seidenband zusammengehalten werden. Sie haben auch keine Fichus, obwohl es doch schon Herbst ist, sondern legen nur einen durchsichtigen Schal über die Schultern. […] Man trägt anscheinend keine Ärmel mehr, nur Schulterspangen. Ich schämte mich sehr, weil ich wie eine richtige Provinzgans aussehe.49

Die Beobachtungen von Trends im Salon der Madame Tallien könnten ebenso aus einer Modereportage stammen: Die Damen hier trugen nämlich gar keine richtigen Schuhe, sondern nur dünne Sohlen ohne Absätze. Und diese Sohlen waren mit schmalen Gold- oder Silberriemen an den Füßen befestigt und ließen die Zehen sehen, und die Zehennägel waren rosa oder silbrig lackiert.50

In diesem Rahmen wird auch Stil-Ikone Josephine vorgestellt: Der kleine Kopf mit den winzigen, nach aufwärts gebürsteten Löckchen war in den Nacken zurückgeworfen. Die Augen hielt sie halb geschlossen, auf den Augenlidern lag Silberschminke, ein schmales dunkelrotes Samtband ließ den Hals aufreizend weiß erscheinen…51

Später freundet sich Désirée mit ihrer Konkurrentin an und erhält von dieser eine umfassende Mode- und Kosmetikberatung, welche mit »Bei Josephine in Malmaison wurde gezupft«52 eingeleitet wird. Das Ergebnis liest sich wie die beliebten Vorher-Nachher-Geschichten aus Modemagazinen: Als ich aufsah, starrte mir aus dem Spiegel ein fremdes Gesicht entgegen. Große, schwermütige Augen unter vergoldeten Lidern. Eine Stupsnase, nicht wie sonst rosig, sondern bräunlich gepudert. Und geschwungene Lippen, tiefrosa wie Zyklamen. So kann ich also aussehen, so schön, so neu…53

Und dennoch wird auch dieser Moment gebrochen, denn während der Schönheitsbehandlung unterhalten sich die Damen über den Russland-Feldzug Napoleons und Désirée ist daran letztendlich interessierter als an ihrem Aussehen: »Ich senkte mein neues Gesicht wieder über das Zeitungsblatt. ›Und was wird jetzt geschehen, Madame?‹«54 Im Fall von Josephine, deren Schönheit ihr Kapital ist, liegt die Tragik darin, dass sie mit zunehmendem Alter, verblichener Schönheit und vor allem Unfruchtbarkeit politisch bedeutungslos wird. Kumpel Désirée, die sich als weder schön, noch gebildet präsentiert, baut sich im Laufe 49 50 51 52 53 54

Selinko 2002, S. 116. Ebd., S. 122. Ebd., S. 124. Ebd., S. 279. Ebd., S. 580. Ebd., S. 580.

Die »Neue Frau« in Annemarie Selinkos historischem Tagebuchroman

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der Jahre ein Netzwerk auf und wird erst als Großmutter zur Königin von Schweden gekrönt werden. Folgende Passage präsentiert den gezielten Einsatz von Make-Up als machtvolle Waffe der ›Neuen Frau‹. Hier dreht Désirée die Hierarchie in ihrer Ehe um. Als sich ihr siegreicher, jedoch körperlich geschwächter Ehemann der Öffentlichkeit präsentieren soll, besteht sie darauf, aus ihm mit der Hilfe von Rouge einen stark erscheinenden Sieger zu machen: Ich wies auf den Stuhl vor dem Toilettentisch. ›Setz dich!‹ Dann nahm ich mein Töpfchen Rouge und begann vorsichtig, sehr vorsichtig, die grauen Wangen zu schminken. ›Du bist verrückt, Désirée – ich will das nicht!‹ wehrte er ab. Sorgfältig verwischte ich das Rot, es sah ganz natürlich aus. ›So –‹ sagte ich zufrieden. ›Du kannst nicht mit totenblassem Gesicht an der Spitze deiner siegreichen Truppen über die Champs-Élysées reiten. Wenn du als Sieger einziehst, dann musst du auch wie ein Sieger aussehen.‹55

Kostüm und Mode sind auch Mittel, um die Persönlichkeiten der TrägerInnen zu entzaubern. Verkörpert Josephine Stil in Bezug auf Menschlichkeit und Auftreten, so zeigt sich die ewige Provinzialität der Familie Bonaparte – trotz ihrer großen politischen Erfolge – bei der Wahl ihrer Kleidung: Joseph und Louis: »In ihren weinroten Samtwesten, den weiten Kniekosen und den weißen Seidenstrümpfen sahen sie wie – ja, wie die Lakaien in einer Aufführung des Théâtre Francais aus.«56 Napoleon war in purpurroten Samt gekleidet, und als er ausstieg, sahen wir, dass er weite Pluderhosen trug und weiße mit Edelsteinen bestickte Seidenstrümpfe. In diesem Aufzug wirkte er völlig fremd und verkleidet, ein Opernbild mit etwas zu kurz geratenen Beinen; warum spanische Pluderhosen, Napoleon, warum Pluderhosen?57

Erzählerin Désirée widmet sich kaum der detailgetreuen Beschreibungen der Kleider anderer Damen, als Tochter eines Seidenhändlers erwähnt sie meist Farben und die Beschaffenheit der Stoffe. So dominieren die Farben rosa, hellblau, violett und weiß, wobei letztere als machtvolle Farbe Josephines eingeführt wird. Für Désirée ist es ein Akt von Macht und Selbstbewusstsein, dass sie später diese Farbe wählt, und zum Schluss lässt sie sich im weißen Brokatstoff ihres Vaters krönen. Die modischen Stoffe sind neben Brokat Seide, Musselin und Samt. Abgesehen vom Krönungsaufzug der Familie Bonaparte, tragen Männer Uniform: Paradeuniform, Felduniform und Galauniform.

55 Ebd., S. 696. 56 Ebd., S. 291. 57 Ebd., S. 325.

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9.

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»Aus halber Geschichte kann nie ein ganzer Roman werden…« – »Désirée« und die Literaturkritik

Annemarie Selinko, die selbst auch Geschichte studiert hatte, entdeckte die relativ unbekannte Geschichte der Désirée Clary während des zweiten Weltkriegs, als sie selbst Flüchtling in Schweden war. Die Begegnung mit Désirées Urenkel – Diplomat und Rotkreuz-Helfer – Folke Bernadotte 1945 bestärkten sie in ihrem Projekt. Schon damals wusste ich, dass ich eine große »Story« gefunden hatte. Und auch, welch irrsinnige Arbeit mit damit bevorstand. […] Aber gleichzeitig spürte ich, dass ich Désirée finden musste. Ganz einfach finden – auf Recherchen gehen, wie ich als Reporter auf Recherchen gegangen bin. Die Schlösser in Schweden, Paris, Marseille, die Reisen, die sie gemacht hat […]. Gleichzeitig aber – in diesen Monaten, in denen ich noch hoffte und wartete und wartete – habe ich gewusst, dass ich Désirée schreiben werde. Das arme ausgeblutete Europa, über das immer wieder, die marschierenden Stiefel trampelten, immer wieder einem Napoleon ausgeliefert, und ein Bekenntnis, das nie ungültig werden kann: die Menschenrechte.58

Dass Désirée eine Figur werden sollte, mit welcher sich die Leserschaft identifizieren können müsste, verdeutlicht Selinko anhand ihrer eigenen Erfahrung: »Als ich ihr Tagebuch schrieb, wurde ich Désirée – oder vielmehr so, wie ich mir vorstellte, daß Désirée gewesen war.«59 Mit dem großen Erfolg – allein in Deutschland wurden von 1952 bis 1960 1,8 Millionen Exemplare des Romans verkauft; 1954 wurde das Buch in Hollywood mit Jean Simmons und Marlon Brando verfilmt – stellten sich auch die abwertenden männlichen Kritiken ein. Es ist bezeichnend, dass dem Roman von namhaften Journalisten entweder die literarische Qualität oder die historische Akkuratesse abgesprochen wird. Sogar Rudolf Kalmar, ein Freund Selinkos, muss sein großes Lob ein bisschen relativieren: »Über der literarischen Leistung strahlt das Licht einer weltweit humanitären Gesinnung.«60 Viel mehr Gewicht hatte dann die Kritik des Literaturkritikers Friedrich Sieburg: Aus halber Geschichte kann nie ein ganzer Roman werden… Es wäre gegenüber solcher Willkür ein schlechter Trost, wenn man sagen wollte, daß die meisten Leser von den tatsächlichen Zusammenhängen nur eine sehr verschwommene Vorstellung haben… Die Geringschätzung des Publikums ist eine gefährliche Voraussetzung für jeden Schreibenden.61

58 Brief an Rudolf Kalmar, 13. Dezember 1951, zitiert nach: Arnbom, S. 112. 59 Die Kiepe. Literarische Hauszeitung des Verlages Kipenheuer & Witsch, 1. Jahrgang 1953, Nr. 1, S. 7, zitiert nach Arnbom, S. 115. 60 Rudolf Kalmar, Neues Österreich, 13. 01. 1952, zitiert nach Arnbom, S. 115. 61 Friedrich Sieburg, Désirée. Sie und verheiratet!, in: Der Spiegel 33 (1961), S. 53.

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Sieburgs vernichtende Einschätzung veranlasste den Verlag, die Dokumentensammlung »Désirée Clary« von Gabriel Girod de l’Ain62 herauszugeben. Eine Sammlung, die Selinkos Fehler in Bezug auf historische Fakten aufdecken sollte und vor allem die historische Person Désirée in ein sehr schlechtes Licht rückt. De l’Ain zitiert Désirées Zeitgenossen. Darunter sind die Beschreibungen wie jener von Paméla, der Tochter der Madame Genlis darunter: »schadhafte Zähne, ein von rotem, gelocktem Haar gerahmtes Hundegesicht«63 oder »ein häßliches kleines Weibstück«64 zu verzeichnen. Nochmals bekräftigend dazu die Meinung der schwedischen Königin Hedwig »[a]lles andere als hübsch; ohne die mindeste Haltung. Ihre Schüchternheit macht sie unhöflich. Sie ist von schwankender Laune und gibt sich keinerlei Mühe, sympathisch zu wirken. Kurzum: Ein verzogenes Kind.«65 Selinkos Abweichen von der Historie wird bereits mit einer von ihr veränderten Herkunft Désirées angeprangert. Vater Francois Clary war kein Seidenhändler, sondern ein wohlhabender Kaufmann, der mit Kolonialwaren handelte. Ist Desirée heute ein Begriff, so hat sich vermutlich Selinkos viel poetischere Tätigkeit des Seidengeschäfts durchgesetzt. Sieburg warf Selinko nicht nur die Fiktionalisierung historischer Fakten vor. Ihm Zufolge wäre eine romanhafte Erzählung ohnehin obsolet, denn die Zeitgenossen Napoleons seien »so schreibfreudig (gewesen), daß ein ganzes Leserleben bequem und spannend mit dem Studium der Dokumente ausgefüllt werden könnte.«66 Annemarie Selinko waren die gehässigen Zeitzeugnisse nicht unbekannt, aber sie wollte sich ihnen bewusst nicht anschließen: [Z]eitgenössische Memoiren gab es, Aufzeichnungen von Hofdamen, die sie dumm und ungebildet fanden, und die Tatsache – die alles überschattende Tatsache, dass sie viele Jahre nach ihrem Mann ganz allein auf Wunsch des Volkes gekrönt wurde. Keine Königin vor ihr (mit Ausnahme von Kristina natürlich, die als Thronerbin geboren wurde) und keine nach ihr ist jemals in Schweden gekrönt worden.67

Die negativen Persönlichkeitsbeschreibungen Désirées finden sich auch im Roman, in ihrer besonderen Ausprägung in der Geringschätzung ihrer Person am schwedischen Königshof. Aber genauer betrachtet finden sie Niederschlag im Fremd- und Selbstbild Désirées als ungebildeter, ungezogener Schandfleck, welches sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. 62 Gabriel Girod de l’Ain, Désirée Clary: Ein Lebensbild nach ihrem unveröffentlichten Briefwechsel mit Bonaparte, Bernadotte und ihrer Familie, Köln 1961. 63 Girod de l’Ain, S. 187. 64 Ebd., S. 187. 65 Ebd., S. 192. 66 Sieburg, S. 53. 67 Brief an Rudolf Kalmar, 13. 12. 1951, zitiert nach Arnbom, S. 111f.

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Den Kritikern muss entgegengehalten werden, dass es sich nicht um eine Biografie von Désirée Clary handelt, sondern als historischer Roman tituliert ist, welcher seine fiktionale Überformung nicht leugnet. Von einer Geringschätzung des Publikums kann auch nicht gesprochen werden, denn Selinko macht europäische Geschichte in unterhaltsamer Form für ein großes Publikum zugänglich und schafft gleichzeitig eine starke Frauenfigur mit Vorbildwirkung. Mit der Kritik an politischer Willkür, dem Hochhalten von Frieden und der Menschenrechte ist der Roman direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zeugnis der Humanität.

10.

Zwischen Emanzipation und Reaktion – Annemarie Selinko und ihre »Frauen«

Wie ist also Annemarie Selinkos Frauenbild? Aufschluss gibt erneut der Blick nicht nur zu »Désirée«, sondern auch zu den anderen Romanen der Autorin. Diese sind autobiografisch geprägt und stehen für die jeweilige Lebensphase Selinkos. »Ich war ein häßliches Mädchen« entstand in den dreißiger Jahren. Annemarie Selinko war in dieser Zeit eine junge Journalistin in einem intellektuellen Freundeskreis und hatte ein kompliziertes, mehr als freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Vorgesetzten. Die neuen Erfahrungen der Romanfigur Anneliese und ihre Beziehung zum Schauspieler Claudio Pauls erinnern stark an die damalige Lebensrealität der Autorin. Im Roman »Heute heiratet mein Mann« lebt die Wienerin Thesi durch ihre Heirat mit einem Dänen in Kopenhagen und erlebt den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Auch Annemarie Selinko zog nach der Eheschließung mit dem Diplomaten Erling Kristiansen nach Dänemark. Wie zuvor erläutert, liegt der Impuls für das Verfassen von »Désirée« neben der Entdeckung der historischen Person auch in den Erfahrungen der Autorin im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Wechselwirkung von Romanen und Figuren bei Selinko lassen den Schluss zu, dass nicht nur die Handlung, sondern auch die Figuren autobiografische Züge tragen. Neben dem Tagebuchroman »Désirée« ist »Ich war ein häßliches Mädchen« in der ersten Person verfasst. Zwar mag dieses Stilmittel Kalkül sein, um Authentizität zu erzeugen. Trotzdem verstärkt es den Eindruck der Identifikation zwischen Autorin und Figur. Ein weiteres Argument, wieso sich Annemarie Selinko in ihre Figuren »einschreibt«, ist die starke Ähnlichkeit ihrer Frauenfiguren. Sie alle sind in gewisser Weise »Kindfrauen«, die permanent zwischen Emanzipation und einem konservativen Frauenbild, zwischen Mut und Ängstlichkeit, schwanken. Zum Schluss steht immer ein bittersüßer Kompromiss. Die Verlegerin Vanessa Wieser, die mit ihrem Milena Verlag Selinkos Romane neu verlegt, bezeichnet Selinko in einem

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Artikel als »eine Feministin durch und durch«68, eine Aussage, die ich nur halb teile, denn bei Selinkos Frauen klaffen Werte, Wunschdenken und Wirklichkeit auseinander. Von dem Gespenst der Tradition kann sich keine Figur befreien. In den Romanen kommt es zwar zu vorübergehenden Emanzipationsversuchen durch Trennung vom Partner. Der Schluss mag dem Genre geschuldet sein, doch es nehmen alle Frauen brav den Platz neben dem Partner ein. Ich halte Annemarie Selinko für eine Frau mit feministischen Überzeugungen, die das Talent besitzt, Geschlechterbeziehungen zu durchschauen und auch satirisch zu reflektieren, selbst aber von ausgeprägten Unsicherheiten geprägt ist. Diese »Mélange« prägt die ambivalente Gestaltung, das Selbst- und Fremdbild der Figuren, deren Widerspruch zwischen Handlungsweisen und Selbsteinschätzung. Wenn Désirée sich also als »ungebildet« darstellt und von Bernadotte gemaßregelt wird, dann spricht hier eigentlich Annemarie Selinko zu uns. Nichtsdestotrotz hat die Autorin viel Vertrauen in ihr Geschlecht und traut ihrer Heldin zu, insgeheim Europa zu retten. Die Tragik der Schriftstellerin liegt darin, dass sie nach ihrem Welterfolg in die Unsichtbarkeit eines Lebens als Ehefrau eines bedeutsamen Mannes verschwand. In der Angst, ihrem erfolgreichen Roman nicht gerecht zu werden und auch durch die Verunsicherung männlicher Freunde im Literaturbetrieb, veröffentlichte sie keine Literatur mehr. Ein Agenturfoto, das sie 1964 mit ihrem Ehemann zeigt, ist betitelt mit »Erling Kristiansen Danish Ambassador To Uk And Wife At London Airport.«69

11.

Frau, Mutter, Königin. Ein kurzer Blick auf andere Herrscherinnen im historischen Roman

Ich möchte hiermit Désirée kurz mit der Gestaltung anderer historischer Frauen / Herrscherinnenfiguren historischer Romane der ersten bzw. zweiten Republik in Beziehung setzen. Zwei Romane erzählen vom Leben Maria Theresias: Fanny Wibmer-Pedit: »Maria Theresia« (1937) und Hilde Knobloch: »Maria Theresia. Roman ihres Lebens« (1946). Gina Kaus hat mit »Katharina, die Große« (1935) einen biografischen Roman verfasst. Widmer-Pedits Roman und seine Hauptprotagonistin tragen die Prägung eines national aufgeladenen Austrofaschismus und reihen sich selbstbewusst in die Riege Geschichte machender großer Österreicher ein. Maria Theresia ist hier stolze Thronerbin, die zwar mit politischen Krisen und Kriegen konfrontiert wird 68 Elisabeth Freundlinger, Heftige Bücher ebenerdig, in: Wiener Zeitung extra Fr./Sa., 14./15. 08. 2020, S. 34. 69 Shutterstock, Stockfoto von Anthony Wallace für redaktionelle Nutzung, 15. 04. 1964.

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und vor großen Entscheidungen steht, aber nicht an ihrer Wirksamkeit zweifelt: »Es gibt ein Elixier, das heißt Wille!«70 Ihr Gatte Franz Stephan ist zwar die große Liebe, hat aber nichts zu sagen: »Franz Stephan erkennt, seine Stunde ist nun wieder aus, seine Theres ist wieder jene stolze, starke Frau, die ihn nicht braucht, die er höchstens vertreten muß.«71 Auch die männlichen Berater haben großen Respekt und Bewunderung vor der weiblichen Regentin: »Hinausgehend denkt sich Khevenhüller: Wer hat nun referiert, ich oder die Königin? – Auf jeden Fall hat diese Frau so viel Mut wie wir alle zusammen.«72 Maria Theresias »männliche« Funktion wird jedoch zum Krisenfaktor in der Beziehung: »Ich zweifle nicht, ein Mensch bist du wohl, sogar ein männlicher Mensch, wie mich dünken will, aber an der Frau beginn ich zu zweifeln, und wenn meine geliebte Königin aufhören würde Frau zu sein, so müßt ich lieber verzichten, ihr gehorsamer König zu sein.«73 Das Spannungsfeld Königin, Ehefrau und auch Mutter ist auch hier vorhanden. Maria Theresia muss sich mit jeweils zugewiesenen »männlichen« und »weiblichen« Erwartungen auseinandersetzen, an ihrer hohen Wertigkeit wird jedoch niemals gezweifelt. Hilde Knoblochs Maria Theresia ist eine Andere. Eingeführt wird sie als zweifelnde überforderte junge Frau, welche ständig Rat bei ihrem Gatten oder im Gebet sucht. Minister und Berater verheimlichen ihr Fakten und versuchen an ihr vorbei zu regieren. Maria Theresias Eigenschaft der Mutter, als Mutter der Völker, wird hervorgestrichen. Seht eine Frau. […] Geschaffen aus zärtlichem Weibsstoff, ein heiteres Wienerkind, blüht in ihr die Landschaft, der sie entsproß. […] Eine wortmuntere Bürgerin, warmherzig und handfest, das wäre sie geworden, hätte ihr Los es gewollt. Doch das Schicksal setzte ihr eine Krone aufs Haupt.74 Maria Theresias Züge sind übergossen von plötzlicher Röte, sie dreht den Kopf nach dem Gatten und schaut ihn einen Augenblick an mit dem Ausdruck fragender Hilflosigkeit. So, als wollte sie sagen: »Was hab ich denn eben getan?«75

Noch ganz anders ist Gina Kaus’ Katharina. Diese Lebensbeschreibung bewegt sich in der Nähe der historischen Biografie, berücksichtigt Quellen und zeichnet ein differenziertes psychologisches Bild einer faszinierenden historischen Persönlichkeit. Katharina, als Sophie, Prinzessin von Anhalt-Zerbst geboren, ist »eine ganz gewöhnliche Erscheinung«76, aber »Mehr als ein Mann« will sie sein. 70 71 72 73 74 75 76

Fanny Wibmer-Pedit, Maria Theresia. Biographischer Roman, Wien 1980, S. 25. Ebd., S. 17. Ebd., S. 50. Ebd., S. 55. Hilde Knobloch, Maria Theresia. Roman ihres Lebens, Graz 1946, S. 7. Ebd., S. 24. Gina Kaus, Katharina die Große. Biographie, München 1995, S. 23.

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Sie vereint »die Herrschergabe eines Cäsar mit der Zügellosigkeit einer Messalina«.77 Es mag Zufall sein, aber die Werke von Kaus und Widmer-Pedit – entstanden vor 1938 – zeichnen ein ›moderneres‹ selbstbewusstes Frauenbild, mit der Relativierung, dass es sich um singuläre aristokratische Persönlichkeiten handelt und die Frauen dennoch immer mit Männlichkeit in Beziehung gesetzt werden. Bei Hilde Knobloch wird das Frauenideal der Nationalsozialisten auf Österreichs Herrscherin übertragen: Da wird sich Maria Theresia wieder ihres gesegneten Leibes bewußt. […] [W]ie ein geheimnisvolles Verbundensein da ist zwischen dem werdenden Leib im Mutterschoß und dem dämmerumsponnenen Schicksal der anderen Ungeborenen, welche die Zukunft des Volkes sind.78

Selinkos »Désirée« hat ähnliche Parameter wie die erwähnten Romane: historischer Roman, weibliche Autorschaft, weibliche Hauptfigur, gekröntes Haupt, und ist wie Knoblochs Roman nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Prägung durch das Trauma des Krieges findet bei Selinko in einer pazifistischhumanistischen Grundhaltung ihren Niederschlag, dennoch will Désirée mit ihrer Geschichte eine von vielen sein und hätte ebenso gut zwanzig Jahre früher erscheinen können. Indem der Roman als Ich-Erzählung in Tagebuchform verfasst ist, entsteht der Eindruck von Authentizität und Intimität. Aneta Jachimowicz attestiert dem historischen Roman der Zwischenkriegszeit ähnliche Themen und Probleme anzusprechen und zu diesen Stellung zu nehmen wie Zeitromane.79 Ich halte dies in Bezug auf »Désirée« für sehr zutreffend. Vor der Kulisse der napoleonischen Kriege werden Themen wie Identität, Rollenbilder und Lebensgestaltung behandelt und verhandelt. Während Désirée als heimliche Diplomatin für Innen- und Außenpolitik agiert, dreht sich ihr Leben gleichzeitig um Alltagsprobleme wie Familie, Partnerschaft oder Mutterschaft. In all diesen Bereichen entspricht Désirée mal einem konservativen, mal einem progressiven Frauenbild. Sie ist eine Kompromissfigur zwischen Altem und Neuem. Dass sie sich ihre eigene Position in der (Welt-)Geschichte erarbeitet, ist letztendlich auf ihre lebenslange Aufgeschlossenheit zurückzuführen: »›Kannst du mir eigentlich sagen, wie ich in die Weltgeschichte gekommen bin?‹ […] ›Neugierde, dachte ich, aus lauter Neugierde habe ich mir das alles eingebrockt.‹«80

77 Ebd., S. 23. 78 Knobloch, S. 51. 79 Vgl. Aneta Jachimowicz, Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht, Würzburg 2018, S. 26f. 80 Selinko 2002, S. 557.

Biogramme

Blumesberger, Susanne, Mag. Dr. MSc., geb. 1969. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft/Germanistik an der Universität Wien. Seit 2007 an der Universitätsbibliothek Wien und als Lehrbeauftragte an der Universität Wien tätig, ab Juli 2016 Leitung der Abteilung Repositorienmanagement PHAIDRA-Services an der UB Wien. Seit 2013 Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung (ÖG-KJLF); zahlreiche Beiträge in nationalen und internationalen Fachzeitschriften, Mitherausgeberin von »libri liberorum. Zeitschrift der österreichischen Gesellschaft für Kinderund Jugendliteraturforschung« und der »Schriftenreihe Kinder und Jugendliteraturforschung in Österreich«. Forschungsschwerpunkte: Biografieforschung, historische Kinder- und Jugendliteraturforschung. Der derzeitige Fokus liegt auf der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich zwischen 1933 und 1945. Zuletzt erschien »Kinderliteratur als kulturelles Gedächtnis. Beiträge zur historischen Schulbuch-, Kinder- und Jugendliteraturforschung II« (Hg. mit Wynfrid Kriegleder und Ernst Seibert). Wien Praesens 2021. www.blumesberger.at [email protected] Dallinger, Petra-Maria, Leiterin des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich / StifterHaus, Linz, beschäftigt sich mit österreichischer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, u. a. unter dem Aspekt von Fragen von Gedächtnis und Archiv und geschlechterspezifischen Fragestellungen; Kuratorin von Ausstellungen, u. a. zu Enrica von Handel-Mazzetti, Adalbert Stifter, Archivbeständen; Herausgeberin verschiedener Publikationen, darunter das Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes, Rampe – Hefte für Literatur; zuletzt erschienen: Franz Tumler – Nachprüfung von Aufschreibungen. In: Archive in / aus Literatur, Hg. Klaus Kastberger / Christian Neuhuber, Berlin: de Gruyter, 2021; Stifters Schädel. In: Pässe, Reisekoffer und andere »Asservate«. Sichtungen 18./19.Jg., Hg. Volker Kaukoreit / Tanja Gausterer, Wien: Praesens 2021. [email protected]

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Biogramme

Górny, Justyna, geboren 1976. Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin. Promovierte 2011 über Literaturkritik als Teil des Weiblichkeitsdiskurses. Als Übersetzerin arbeitet sie an wissenschaftlichen Texten zur polnischen und deutschen Sozial- und Kulturgeschichte. Ihre Schwerpunkte als Literaturwissenschaftlerin sind genderorientierte Forschung, Kulturtransfer und Rezeption. Seit Oktober 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Warschau, wo sie über neue Figurenkonstruktionen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Studentin und der Lesbierin, arbeitet. Zuletzt erschienen: »The image of educated women in two interwar Austrian novels by female authors«. In: Acta Poloniae Historica, 117, 2018, S. 131–158; Autoportret z antybohaterka˛. Negatywne postacie kobiece w powies´ciach o studentkach [Selbstbildnis mit Antiheldin. Negative Frauenfiguren in den Studentinnenromanen]. In: Wielogłos 2020, Nr. 2 (44), S. 67–90. [email protected] Grande, Jasmin, Dr. phil., Leiterin »Moderne im Rheinland. Zentrum für Rheinlandforschung« der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Forschungsschwerpunkte: Regionale Kulturgeschichtsschreibung, interdisziplinäre Wissenstheorie und interdisziplinäre Wissenspoetik, Moderne und Avantgarde im Rheinland und im Vergleich, Bonner Republik. Zuletzt erschienen: Hg. mit Gertrude Cepl-Kaufmann, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener: Die Bonner Republik 1960–1975. Aufbrüche vor und nach ›1968‹. Geschichte – Forschung – Diskurs, Bielefeld 2019; Hg. mit Eva Wiegmann und Kristin Eichhorn: Carl Einstein und die Avantgarde. Bielefeld 2021 (Expressionismus, Nr. 14); Hg. mit Eva Wiegmann, Maria Männig und Walter Delabar: Einstein. Ein Widerbesuch bei Carl Einstein mit philologischen Perspektiven, Fragen zum Wissen der Moderne, zur Ästhetik, Avantgarde und ihren medialen Praktiken, zum Kritiker und dessen Netzwerk und zu den inter- und transkulturellen Zugängen. Bielefeld 2021 (im Erscheinen) (= Juni-Magazin für Literatur und Kultur Nr. 59/60). [email protected] Heißler, Dagmar, Mag. Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Lektorin. Externe Mitarbeiterin FWF-Projekt »Österreichische Kultur und Literatur der 1920er Jahre« des österreichischen Wissenschaftsfonds (2016). Publikations- und Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit, Presse, Exilliteratur, Theater. Publikationen u. a.: Ernst Lothar. Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2016. [email protected]

Biogramme

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Hofeneder, Veronika, Mag.a Dr.in, Literaturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien (Österreich), forscht zur Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts, insbesondere zu den 1920erund 1930er-Jahren und zur Literatur von Frauen; arbeitet derzeit an einer hybriden Werkausgabe von Vicki Baum im Rahmen eines DACH-Projekts (FWF/ DFG, I I 5320-G). Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur, Literatur und Individualpsychologie, Feuilletonforschung, Editionsphilologie. Zuletzt erschienen: Hg.: Vicki Baum: Makkaroni in der Dämmerung. Feuilletons. Wien: Edition Atelier 2018, 22019; Zwei in Italien – Juliane Kays Romanze im Kontext der Literatur der 1950er-Jahre. In: Juliane Kay: Zwei in Italien. Wien: Milena 2021, S. 166–172; Hg. mit Julia Bertschik, Gustav Frank und Werner Jung: Text+Kritik. Sonderband: Vicki Baum. München: Text+Kritik 2022; Fiktionalität und Finalität – Individualpsychologie im Kontext erzählender Texte der Zwischenkriegszeit. In: Bernd Rieken (Hg.): Individualpsychologie, Erzählforschung, Literaturwissenschaft. Münster u. a.: Waxmann 2022. [email protected] Huber, Clara, Germanistin und Filmwissenschaftlerin. Neben ihrer Arbeit als Filmvermittlerin für Kinder und Jugendliche, beschäftigt sie sich mit österreichischer Film- und Literaturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Annemarie Selinko und ihren Romanen setzt sie sich bereits seit ihrer Diplomarbeit –»Es ist scheußlich, daß wir so modern tun müssen.« Die Ambivalenz der »Neuen Frau« in Romanen Annemarie Selinkos. (Universität Wien, 2008) – auseinander. Ein weiterer großer Forschungsschwerpunkt ist die Aufarbeitung des Nachlasses und Werks des österreichischen Regisseurs und Drehbuchautors Ernst Marischka im Rahmen eines Dissertationsprojekts. Dazu erschienen: The Country Girl, the Emperor and some Saltsticks. The Musical Film »Spring Parade«, its affinity to Viennese Operetta and the Changing Contexts of its Screen Adaptations. In: Massimiliano Sala (Ed): From Stage to Screen. Musical Film in Europe and United States (1927–1961) Turnhout: Brepolis 2012 (= Spectulum Musicae Volume XIX). [email protected] Jachimowicz, Aneta, Univ.-Professorin am Lehrstuhls für Literatur und Kultur der deutschsprachigen Länder an der Warmia und Mazury-Universität in Olsztyn (Polen), beschäftigt sich mit Literatur und Kultur des 20. und 21 Jahrhunderts, vor allem mit der Postmoderne und österreichischer Literatur der Zwischenkriegszeit; arbeitet aktuell am (Anti)Amerikanismus in Österreich nach 1918. Publikationsund Forschungsschwerpunkte: Postmoderne und Posthistoire, Literatur- und Kulturwissenschaftliche Implikationen, historische Romane der Ersten Republik Österreich, österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit außerhalb des Ka-

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Biogramme

nons, österreichische Presse der Zwischenkriegszeit. Letzte Buchpublikationen: Hg.: Gegen den Kanon – Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich. Frankfurt a.M.: Lang 2017; Hg. mit Alina Kuzborska: Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des Anfangs. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018; Der historische Roman der Ersten Republik Österreich in ideologiekritischer Sicht. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. [email protected] Kaufmann, Kira, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Seit 2022 Mitarbeit an der historisch-kritische Edition der gesamten Werke Sigmund Freuds (FWF); arbeitet aktuell an einem Dissertationsprojekt unter dem Titel: Zeugnisse des Okkulten. Literatur und Esoterik im Wiener Fin de siècle. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, österreichischer Literatur, Poetik, Subkultur. Zuletzt erschienen: Der Räuber-Roman von Robert Walser. Wien: new academic press 2015; Hg. mit Arno Dusini und Felix Reinstadler: Franz Grillparzer: Selbstbiographie. Wien: Jung und Jung 2017; Hg. mit Desiree Hebenstreit u. a.: Austrian Studies. Literaturen und Kulturen. Anlässlich der Emeritierung von Roland Innerhofer. Wien: Praesens 2020. [email protected] Pötzl, Viktoria ist Assistenzprofessorin für Deutsch-Jüdische Studien am German Studies Department des Grinnell Colleges, USA. Sie hat 2014 am Institut für Judaistik der Universität Wien promoviert. Neben Lehraufträgen an der Universität Wien und der Burjatischen Universität Ulan Ude, war sie Gastwissenschafterin am Center for Austrian Studies an der University of Minnesota und Lektorin der School of Applied Humanities and Languages der German Jordanian University (Amman). Ihre Forschungsschwerpunkte sind der moderne Nahe Osten, Deutsche und Österreichische Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Jüdische Autor*innen, Postcolonial Studies/Decolonial Studies, Feminismus, Queer Theory und Gender Studies. Zuletzt erschienen: Pötzl, Viktoria: »From Pan-Asianism to Safari-Zionism. Gendered Orientalism in Jewish-Austrian Literature.« In: Journal of Modern Jewish Studies. vol 19, issue 2. Spring 2020. Taylor & Francis (Routledge). pp. 205–223; Pötzl, Viktoria: In-between Wars, In-between Genders: A queer reading on Maria von Peteani’s »Der Page vom Dalmasse Hotel.« In: Monatshefte. vol.112.1. Spring 2020. University of Wisconsin Press. pp. 38–55; »Lesbische Literatur und Zwischenkriegszeit. Mythos und Entmythifizierung am Beispiel ›Der wilden Garten‹« von Grete von Urbanitzky. In: Journal of Austrian Studies. vol. 51, no 4: 2018. University of Nebraska Press. pp. 63–82. [email protected]

Biogramme

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Scheichl, Sigurd Paul, geb. 1942, emeritierter Professor für Österreichische Literaturgeschichte an der Universität Innsbruck. Studium der Germanistik und Anglistik in Innsbruck, Wien und als Fulbright-Stipendiat an der University of Kansas. 1967 bis 1971 Lektor für Deutsch an der Universität Bordeaux. Promotion und Habilitation in Innsbruck. 1983 Mitbegründer der Literaturzeitschrift »InN«. 2013 bis 2019 Obmann des Vereins »Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur«. Mitglied der Grazer Autorinnen- und Autorenversammlung. Forschungsschwerpunkte: Literatur Österreichs im 19., 20. und 21. Jahrhundert (besonders Karl Kraus, Grillparzer, Nestroy, Polgar, Perutz, Broch, Canetti, Probleme der österreichischen Literaturgeschichte), Literatur Tirols und Südtirols, Zeitschriften, sprachliche Analyse literarischer Texte. Veröffentlichungen u. a.: Zur Aktualität von Karl Kraus’ »Letzten Tagen der Menschheit«, 2012; Das perfekte Gedicht – Die schöne Buche [von Mörike], 2020. 2022 wird eine Sammlung meiner Aufsätze erscheinen. Mitherausgeber der Zeitschrift »Kraus-Hefte« (1977–1994) und der Anthologien »Literatur über Literatur. Eine österreichische Anthologie« (1996) »Sprachkurs. Beispiele neuerer österreichischer Wortartistik« (2001). [email protected] Schmid-Bortenschlager, Sigrid, geb. 1946, lehrte Neuere deutsche Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Komparatistik an den Universitäten Salzburg, Graz, Paris VIII, Paris XII, Utrecht. Forschungsschwerpunkte: Frauenliteratur, Literaturtheorie, Literatur des 20. Jahrhunderts, österreichische Literatur; Publikationen (Auswahl): Konstruktive Literatur. Bonn: Bouvier 1985, Eigensinn und Widerstand. Schriftstellerinnen der Habsburgermonarchie (gemeinsam mit Christa Gürtler) Wien: Ueberreuter 1999, ,Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918–1945. Salzburg: Residenz 2002 (gem. mit Christa Gürtler), Hermann Broch – éthique et ésthetique. Paris: PUF 2001, Österreichische Schriftstellerinnen 1800–2000. Eine Literaturgeschichte. Darmstadt: WBG 2009. [email protected] Skwara, Tadeusz, Dr. , Germanist und Kunsthistoriker, Lektor in der Fremdsprachenschule der Universität Warschau (Polen) [Szkoła Je˛zyków Obcych UW], beschäftigt sich mit der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts, vor allem mit Lion Feuchtwanger; arbeitet aktuell an der publizistischen und antinazistischen Aktivität Arthur Ernst Rutras. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: deutsche Exilliteratur und ihre Einstellung zur Sowjetunion, öffentliche Aktivität der Schriftsteller im österreichischen Ständestaat, deutsch-polnische Beziehungen in Literatur und Kultur. Zuletzt erschienen: »Pisarze i pisarstwo w twórczos´ci Liona Feucht-

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wangera«, Warszawa 2019 (Schriftsteller und Schriftstellerei im Werk Lion Feuchtwangers). [email protected] Sonnleitner, Johann, Ao.Prof. am Institut für Germanistik der Universität Wien. Faculty member des Doktoratskollegs Galizien (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF 2006–2012); Wissenschaftliche Leitung des FWF-Projekts Werkausgabe Anton Kuh (2005–2013) Wissenschaftliche Leitung des FWF-Projekts Kommentierte Werkausgabe Werner Kofler (2015–2018). Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur 18. bis 20. Jahrhundert. (Mit)Herausgeber der Werke von Philipp Hafner, Franz von Heufeld, Maria Lazar, Marta Karlweis, Werner Kofler und der Historisch-Kritischen Ausgabe Ferdinand Raimund. [email protected] Trejnowska-Supranowicz, Renata, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Literatur und Kultur der deutschsprachigen Länder an der Warmia und Mazury Universität in Olsztyn (Polen), beschäftigt sich mit der Regionalliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts, vor allem mit der vergessenen Literatur Pommerns und Masurens, arbeitet aktuell am Leben und Werk des in Ostpreußen (Kreis Lyck) geborenen Schriftstellers Friedrich Reck-Malleczewen. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Literatur Pommerns im Kontext des politisch-gesellschaftlichen Engagements, Vergangenheit und Gegenwart als Haupt- und Lebensthema in der Literatur Masurens sowie Selbstrealisierung und Identität in der deutschsprachigen Literatur von Frauen. [email protected]

Personenregister

Adler, Alfred 46–47, 51–52 Adler, Ada 84 Amann, Klaus 162f., 173, 175, 197 Andersen, Hans Christian 118 Angel, Walter 103 Arnbom, Marie-Theres 230, 240, 241 Arnold, Paul Johannes 216 Artner, Therese von 36 Ashton, E.B. (= Basch, Ernst) 120 Aspetsberger, Friedbert 163 Atze, Marcel 170 Bach, Johann Sebastian 24, 213f., 228 Bachmann, Luise George 9f., 20, 23f., 26, 30f., 213–228 Ball, Hugo 94 Barnay, Paul 118 Barndt, Kerstin 230–232 Basch, Ernst (= Ashton, E.B.) 120 Bäte, Ludwig 215 Baum, Vicki 50, 229, 231, 249 Baur, Uwe 21, 60, 97 Beauharnais, Joséphine 237 Behr, Carl 118 Beielstein, Felix Wilhelm 216 Berger, Albert 162 Berger, Alfred 98–102 Berger, Franz 170–172, 174–175 Berger, Gisela 21, 23, 25, 27, 31, 97–115 Berger, Johann Nepomuk 99 Bernadotte, Folke 240 Bernadotte, Jean-Baptiste 230, 234, 236, 243 Bernardt, Sarah 75

Bettelheim-Gabillon, Helene 39 Bier, Justus 222 Birch-Pfeiffer, Charlotte 37 Bleibtreu, Hedwig 118 Blumenberg, Hans 38 Blüml, Karl 36 Bohemund 24, 28, 75, 86f. Bomhard, Constanze [= Hirundo, C.] 215 Bonaparte, Joseph 232 Bonaparte, Napoleon 32, 230, 236, 241 Boucher, François 42 Brachtl, Maria 164, 169 Brando, Marlon 26, 240 Braungart, Georg 201, 206, 212 Brednich, Rolf Wilhelm 106 Broch, Hermann 251 Bruckner, Anton 24, 31, 213, 228 Bruder Willram (= Müller, Anton) 177, 179 Brunngraber, Rudolf 18 Büchner, Georg 38 Busson, Paul 98 Cabarrus, Thérésia (= Madame Tallien) 238 Chamisso, Adalbert 114 Chotek, Sophie 129, 131 Clary, Eugénie Désirée 229–245 Clary, Francois 241 Collot, Maria Anne 42f. Comnena, Anna 86, 90 Csokor, Franz Theodor 119, 121, 130 D’Arc, Jeanne

24, 133, 134, 136–140, 168

254 D’Aviano, Marco 165 Dahlke, Hans 12 Dahn, Felix 37, 93 Dallinger, Silvia 165 Demmler, Theodor 222 Diderot, Denis 42, 44 Diehl, Charles 86, 93 Döblin, Alfred 12, 27 Dollfuß, Engelbert 165, 173, 176, 224 Doppler, Bernhard 28, 149, 151, 154, 157, 161f., 171f., 174f. Doppler, Caecilia 147 Dörrer, Anton 146, 155, 157f., 159, 178 Drescher, Barbara 231 Drimmel, Heinrich 130 Dyroff, Adolf 214 Ebers, Georg 37 Ebner, Jakob 170 Ebner-Eschenbach, Marie von 38, 99, 192 Eckstein-Diener, Bertha (= Sir Galahad) 17, 20, 23f., 27f., 34, 73–95 Eggert, Hartmut 180 Elisabeth I. (von Russland) 47f., 50, 52, 54 Elisabeth von England (Königin) 36 Ellert, Gerhart (= Schmirger, Gertrud) 22, 28–30 Enzinger, Moriz 147, 162, 164, 167–170, 175f. Eudokia Athenäis 90 Falconet, Étienne Maurice 42–44 Feiks-Waldhäusl, Emmy 22, 29, 32 Feldhammer, Jacob 118 Ferdinand II. 146 Feuchtwanger, Lion 121, 159, 251 Fischer, Ernst 14, 162 Fouché, Joseph 234 Franz Ferdinand (Erzherzog) 26, 117, 128–130, 192 Franz Joseph I. 53, 192 Frenzel, Elisabeth 36 Freundlich, Elisabeth 17, 23, 26, 35–44 Freundlinger, Elisabeth 243 Frevert, Ute 237 Freytag, Gustav 37, 185

Personenregister

Friedrich II. 192, 196 Frischauer, Paul 121 Frucht, Karl 119–121 Fry, Varian 120 Fugger (Familie) 182f. Fugger, Anton 185 Fulda, Daniel 10, 16f. Fussenegger, Gertrud 28, 30, 32, 36 Garibaldi, Giuseppe 24, 133 Geizkofler (Familie) 183f., 187 Geizkofler, Hans 180–183 Geizkofler, Lukas 183 Geizkofler, Zacharias 183 Georg, Manfred 119 Georgi, Sonja 8f., 14, 67f. Geppert, Hans Vilmar 9, 19 Ghika, Alexander 165–167, 169, 171–172 Ginzkey, Franz Karl 21, 99, 226 Girod de l’Ain, Gabriel 241 Gleißner, Heinrich 163, 174f. Goebbels, Joseph 163 Goethe, Johann Wolfgang von 18, 38 Gombrich, Ernst H. 78 Gottfried von Anjou 137f. Gradwohl-Schlacher, Karin 21, 60, 97f. Greipel-Goltz, Amalie 31 Grillparzer, Franz 38f., 125, 250f. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 206 Grogger, Paula 31f., 157–159 Grossberg, Mimi 121 Grossmann, Atina 231 Gürtler, Christa 10, 251 Gutman, Israel 205 Haas, Willy 74 Haller, Oswald 186 Hammerschlag, Peter 119f. Händel, Berthold 147 Händel, Joachim 147 Handel-Mazzetti, Elvira von 170 Handel-Mazzetti, Enrica von 8f., 20, 22f., 28, 31f., 34, 58, 145–160, 161–176, 179f., 247 Hartwig, Mela 28, 30, 34

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Personenregister

Heer, Friedrich 14f. Heinrich II. (von England) 138 Heinrich V. (Kaiser) 137–139, 142f. Heinrich VIII (König) 24 Henning, Thusnelda 32 Henz, Rudolf 146, 148, 155f. Herrdegen, Hans 118, 121, 126 Herzmanovsky-Orlando, Fritz von 75, 86 Hey’l, Bettina 8f., 18f. Hirundo, C. (= Bomhard, Constanze) 215 Hitler, Adolf 24, 60, 162, 173, 187, 198 Hitler, Klara 173 Hochwälder, Fritz 121 Hofeneder, Veronika 10, 26, 35, 45 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 114 Hofmannsthal, Hugo von 157 Hohlbaum, Robert 18, 61 Horváth, Ödön von 119–122 Hottner-Grefe, Anna 30 Huber, Ursula 201f., 204 Innitzer, Theodor 173f. Irene (Kaiserin) 77f. Isabella von Kastilien 206 Itzinger, Karl 15, 148 Jacobson, Leopold 102 Jaffé Carbonell, Veronica 113 Jameson, Anna Brownell 36 Jaroszinsky, Severin von 125 Jelusich, Mirko 18 Joseph II. (Kaiser) 20, 24, 44, 51, 98, 103, 106, 133 Justinian (Kaiser) 77, 80–86, 90–93 Kadmon, Stella 121 Kalmar, Rudolf 240f. Karlweis, Marta 9f., 17, 20, 23, 25, 27, 31, 34, 35–44, 252 Katharina die Große (Katharina II. Zarin) 10, 25, 26f., 31, 35–44, 45–55, 243f. Kaukoreit, Volker 170, 247 Kaus, Gina 9f., 17, 20, 23, 26, 31, 34–37, 45–55, 121, 243–245 Kautsky, Minna 38 Kesten, Hermann 121

Keun, Irmgard 231f. Khuenberg, Sophie von 32 Killy, Walther 152 Kinzig, Wolfram 201 Kittstein, Ulrich 17 Klein, Jürgen 106 Klosinski, Michaela 152f., 164, 168–171 Knobloch, Hilda (= Torthofer, Hilda / Knobloch, Hans) 29–31, 243–245 Knopf, Alfred A. 120 Koenig, Alma Johanna 8, 10, 17, 20, 23f., 27f., 34, 73–95, 103 Kollontai, Alexandra 231 Koref, Ernst 172 Kotzebue, August von 31 Kozich, Thomas 226 Kracauer, Siegfried 11 Kralik, Richard von 179, 214 Kristiansen, Erling 230, 242f. Krones, Therese 124, 125, 127f. Krück von Poturzyn, Maria (= Krück-Kunert, Maria) 20–24, 27–31, 34, 133–143 Kubin, Alfred 98 Kucher, Primus-Heinz 54 Kuderna, Claudia 202 Lernet-Holenia, Alexander 98 Liebenfels, Jörg Lanz von 75 Lux, Joseph August 214 Madame Tallien (= Cabarrus, Thérésia) 238 Magris, Claudio 105 Mahler, Alma 121 Mahnert, Ludwig 15, 148 Mann, Thomas 119f., 225 Maria Stuart von Schottland (Königin) 38 Maria Theresia (Kaiserin) 133–136, 138, 140–142, 196, 243–245 Marie Antoinette (Königin) 26 Marquardt, Jörg 206 Marti, Madeleine 203 Mathilde von England (Kaiserin) 24 Matthias (Kaiser) 146, 153 Maultasch, Margarete 185

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Personenregister

Maximilian II. 182 May, Karl 179 May, Klara 179 Mehring, Walter 120, 122 Mell, Max 21, 99 Meyrink, Gustav 25, 98 Miklas, Wilhem 165, 173 Mitterer, Erika 29, 33, 34 Mohammed 28, 165 Müller, Anton (= Bruder Willram) Muth, Carl 161

177

Nadler, Josef 174 Neumann, Robert 18 Nieborowski, Paul 162 Nietzsche, Friedrich 17 Notburga (Heilige) 28 Nünning, Ansgar 10, 16, 67f. Orlow, Alexei

40, 42, 45, 48, 49

Paoli, Betty 39 Papen, Franz von 173 Paracelsus 186 Passini, Mia 203 Passini, Peter 202f. Pászthory, Casimir von 215 Pászthory, Dora von 215 Pauli, (Wolf)gang 117f. Pauli, Hertha 9f., 20, 23, 26f., 31, 117–131 Pelzel-Staffalo, Franz von 178 Perkonig, Josef Friedrich 21, 99 Pernerstorfer, Engelbert 102 Pernter, Hans 174 Perutz, Leo 18, 25, 98, 113, 251 Peteani, Maria von 14, 20, 23, 25, 27, 32, 57–71, 250 Peter der Große (Zar) 37, 42f., 47f., 50 Peter III. 42, 48, 50, 52f. Pfauser, Johann Sebastian 182 Pfister, Manfred 18, 68 Pichler, Caroline 36, 38, 39 Pius X. 162 Polgar, Alfred 36, 251 Polt-Heinzl, Evelyne 20, 26, 45, 74f., 86, 119, 126, 229f.

Porten, Henny 178 Potemkin, Grigorij (Fürst) 27, 39f., 43 Prado, Juan de 206 Praz, Mario 105f. Princip, Gavrilo 130 Prochazka, Corina 9, 26, 41 Prokop von Cäsarea (= Procopius) 73f., 83–94 Prometheus 38 Puchsbaum, Hans 213 Raber, Vigil 186 Raimund, Ferdinand 26f., 31, 117–131, 252 Redlich, Oswald 174 Reimmilch (= Rieger, Sebastian) 159 Reinhardt, Max 118 Renhardt, Josef 174 Rhoden, Emmy von 229 Richelieu, Armand Jean 38 Rie-Andro, Therese 31 Rieger, Sebastian (= Reimmilch) 159 Riemenschneider, Tilman 213, 215–228 Riglerin, Christine 169 Roberts, David 13 Roden, Max 104 Rodenberg, Julius 161 Roland, Marie 38 Rosner, Leopold 38 Roth, Joseph 18, 121 Rubatscher, Maria Veronika 29, 31, 148, 158, 186f. Rudolf II. 146 Sacher-Masoch, Leopold 37, 44 Salburg, Edith Gräfin 9f., 20–23, 31, 189– 199 Saletta, Ester 54 Sand, Karl Ludwig 31 Sardou, Victorien 75, 93 Schabbtai, Zwi 206 Scheichl, Sigurd Paul 9, 15, 22, 29, 148, 159 Schiller, Friedrich 39 Schlag, Wilhelm 130 Schmid-Bortenschlager, Sigrid 9f., 20f., 30, 32, 189, 202, 251

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Personenregister

Schmidt-Dengler, Wendelin 11f., 18 Schmirger, Gertrud (= Ellert, Gerhart) 22, 28–30 Schnitzler, Arthur 40 Schönherr, Karl 162 Schrade, Hubert 222 Schreyvogel, Friedrich 121 Schreyvogel, Joseph 39 Schröder-Devrient, Wilhelmine 31 Schrott, Alois 177 Schrott, Marie 177 Schrott-Pelzel, Henriette 9f., 20, 22–24, 28f., 32, 34, 177–188 Schubert, Franz Peter 24 Schuschnigg, Kurt 176, 224 Schütz, Bertha 117 Schütz, Friedrich 177 Scott, Walter 4, 9, 37f., 175 Seidel, Ina 36 Seifarth, Marc 201, 203 Selinko, Annemarie 23, 26, 32, 229–245, 249 Siebertz, Paul 146, 170, 173f. Sieburg, Friedrich 240f. Siegel, Rachel Josefowitz 208 Sigismund der Münzreiche 185 Silbereyß, Aloysia 166 Simmons, Jean 26, 240 Sir Galahad (= Eckstein-Diener, Bertha) 17, 20, 23f., 27f., 34, 73–95 Sonnleitner, Johann 25, 27, 252 Spael, Wilhelm 173f. Speekman, Bernardus Willem 145 Sperber, Manès 52 Sperl, August 215 Spiel, Hilde 121 Spinoza, Baruch de 206 Spohr, Ludwig 31, 190 Stanhope, Hester 24, 31, 133 Starhemberg, Ernst Rüdiger von (1638–1701) 165 Starhemberg, Ernst Rüdiger von (1899–1956) 165, 169 Starhemberg, Fanny / Franziska 169, 174 Starhemberg, Guido 169, 172

Stein, Karl Heinrich (= Steinitz, Heinrich) 215f., 225 Steiner, Rudolf 133, 135 Steinitz, Heinrich (= Stein, Karl Heinrich) 215f., 225 Stephanie von Armenien 86 Stern, Guy 121f. Stockert-Meynert, Dora 104 Stockhausen, Juliane von 158 Streim, Gregor 17, 45 Streitler-Kastberger, Nicole 122, 161 Strobl, Karl Hans 18, 25, 98f. Suttner, Bertha von 26, 119 Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice 235 Tauschinski, Oskar Jan 24 Theisohn, Philipp 201, 206, 212 Theodora (Kaiserin) 73–95 Titzmann, Michael 18 Torberg, Friedrich 201 Torthofer, Hilda (= Knobloch, Hans / Knobloch, Hilda) 29–31, 243–245 Touaillon, Christine 41, 79, 82f. Tschopp, Silvia Serena 10 Undset, Sigrid 157f. Unterberger, Rebecca 54 Urbanitzky, Grete von 9f., 20f., 23, 26, 28, 201–212, 250 Valabrègue, Antony 44 Vallery, Helmut 15 Vancsa, Kurt 171 Vieregge, André 108 Vierhaus, Rudolf 152 Viesèr, Dolores 22f., 28f., 31f., 34, 158 Vogelweide, Walter von der 24 Waggerl, Karl Heinrich 226 Wagner, Renate 229 Wagner, Richard 24 Wagner, Toni 117, 119, 123, 126, 131 Waitz, Sigismund 214 Wallace, Anthony 243 Wallenstein, Albrecht von 27, 30

258 Wassermann, Jakob 39f. Wegner, Max 216 Wehse, Ludwig 174f. Weikard, Melchior Adam 41 Weill, Erwin 169 Weininger, Otto 201, 203f., 211f. Weismantel, Leo 215 Werfel, Franz 121 Wibmer-Pedit, Fanny 22, 28f., 31f., 243f. Widmar, Josefine 23 Wieser, Vanessa 242

Personenregister

Wisinger, Marion 204 Wolff, Karl Felix 188 Woloszcuk, Ludwig 202 Wünsch, Marianne 106 Wydenbruck, Nora 215 Zeman, Herbert 13 Zernatto, Guido 174 Zöhrer, August 175 Zuckmayer, Carl 119 Zweig, Stefan 26