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German Pages 220 Year 2000
Frauen auf dem Weg zur Elite
DEUTSCHE FÜHRUNGSSCHICHTEN IN DER NEUZEIT
Band 23
Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben Herausgegeben von Günther Schulz
Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag
Frauen auf dem Weg zur Elite
Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1998
Herausgegeben von Günther Schulz
Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag München 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fur diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich
© 2000 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D - 81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Gesamtherstellung: Digital Druck GmbH, 96158 Frensdorf ISBN 3-486-56429-3
Vorwort des Herausgebers
Die „Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte" umfassen Vorträge und Gespräche, die seit 1963 alljährlich unter der Schirmherrschaft der „RankeGesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V." und des „Instituts für personengeschichtliche Forschung (Bensheim)" im Schloß zu Büdingen (Oberhessen) stattfinden. Der Ertrag wird in der Reihe „Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit" publiziert. Die Beiträge des vorliegenden Bandes 23 sind aus der 36. Tagung 1998 hervorgegangen. Diese brachte Interessierte aus der Geschichtswissenschaft, der Soziologie und Politologie, der Volkskunde und den Wirtschaftswissenschaften sowie weiterer Gebiete zusammen, nicht zuletzt auch der Frauenforschung, und führte zu angeregten Diskussionen über die Grenzen der Wissenschaftsdisziplinen hinweg. Daß die Tagung erfolgreich verlief, ist vor allem den Referent(inn)en und den Diskutanten zu danken. Der Ranke-Gesellschaft, namentlich Herrn Professor Dr. Michael Salewski und Herrn PD Dr. Jürgen Elvert, sowie Herrn Lupoid von Lehsten vom Institut für personengeschichtliche Forschung bin ich für organisatorische und finanzielle Unterstützung verbunden, ferner Frau Dr. Kathrin Menzel für wertvolle Hinweise sowie Herrn Dr. Klaus-Peter Decker und Frau Bettina Hinterthür für ihre Hilfe bei der Organisation der Tagung. Mein besonderer Dank gilt S.D. Fürst Wolfgang-Ernst zu Ysenburg und Büdingen für seine Gastfreundschaft im Büdinger Schloß, dessen Bibliothek den sehr angenehmen Rahmen für die Gespräche bot. Das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst hat die Drucklegung des Bandes durch einen Zuschuß ermöglicht. Dafür bin ich ihm sehr zu Dank verpflichtet. Für Unterstützung bei der redaktionellen Betreuung des Bandes und bei der Herstellung der Druckvorlage danke ich schließlich, doch nicht zum wenigsten, Frau Bettina Hinterthür, Frau Julia Franke und Frau Barbara Lengsfeld.
Köln, im Dezember 1999
Günther Schulz
Inhalt
GÜNTHER SCHULZ
Zur Einfuhrung BARBARA VOGEL
Eliten - ein Thema der Frauenforschung? MARITA METZ-BECKER
Adelige und bürgerliche Frauen vor 1871. Auf dem Weg zur Elite? CHRISTINA KLAUSMANN
Die bürgerliche Frauenbewegung im Kaiserreich - eine Elite? HEIDE-MARIE LAUTERER
„Neulinge", „Novizen" und Berufspolitikerinnen. Parlamentarierinnen in der Weimarer Republik. Wahlrecht, Wahlbeteiligung und Wahlergebnis 1919 ANGELIKA SCHASER
Die „undankbaren Studentinnen". Studierende Frauen in der Weimarer Republik LEONIE WAGNER
Perspektiven von Frauen 1933-1945 HELMUT STEINER
Frauen in der Politik und Wirtschaft der DDR KARIN HILDEBRANDT
Wissenschaftlerinnen in der DDR BIRGIT MEYER
Frauen in der Politik und Wirtschaft der Bundesrepublik
CHRISTINE DÜMMLER
Frauen in der Wissenschaft und Kultur der Bundesrepublik
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes
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Zur Einfuhrung VON GÜNTHER SCHULZ
Die Büdinger Vorträge stehen seit 1963, als sie zum ersten Mal stattfanden, unter dem Oberthema „Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit". Man würde heute vielleicht eine andere Formulierung wählen als in den sechziger Jahren - der Sache nach aber war und ist es das Ziel der Tagungsreihe, die gesellschaftlichen Eliten auf den Feldern der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in historischer Perspektive zu untersuchen: die Bedingungen ihrer Entstehung, ihre Positionierung und Kennzeichen sowie deren Grundlagen, ihre Ziele, ihre Selbstbehauptung, ihren Wandel und gegebenenfalls ihren Untergang. Eine besonders intensive Phase der Eliteforschung waren die späten 1960er Jahre. 1966 erschien Wolfgang Zapfs empirische Untersuchung Wandlungen der deutschen Elite. Etwa zur selben Zeit publizierte Urs Jaeggi sein Buch Die gesellschaftliche Elite. Eine Studie zum Problem der sozialen Macht (2. Aufl. Stuttgart 1967). Wenige Jahre zuvor war Hans P. Dreitzels Buch Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse (Stuttgart 1962) erschienen, ferner ein grundlegender Aufsatz von Wolfgang Schluchter Der Elitebegriff als soziologische Kategorie} Seither hat die sozialwissenschaftliche Eliteforschung nicht nachgelassen, den normativen Ansatz, der auf die inhaltliche Analyse des Elitebegriffs zielt, ebenso zu verfolgen wie den eher deskriptiv-empirischen Zugriff, der auf die Quantifizierung und Typisierung von Eliten zielt. Als Beleg seien hier lediglich zwei neuere Arbeiten angeführt: Gernot Stimmer, Eliten in Österreich 1848-1970 (Wien/Köln/Graz 1997) sowie ein von Louis Dupeux, Rainer Hudemann und Franz Knipping herausgegebener Band mit vergleichenden Beiträgen über Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen (Band 2, München 1996). Die Reihe dieser Untersuchungen ließe sich weiter fortsetzen. Sie zeigen: Die Erforschung der „Führungsschichten in der Neuzeit" ist unverändert aktuell und wichtig. Dies gilt auch für weitere Ziele der Büdinger Gespräche: Zu ihnen gehört es, geschichtswissenschaftliche Themen und Fragestellungen aus dem engeren
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 15 (1963), S. 233-256.
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Kreis der Fachwissenschaftler heraus einem breiteren interessierten Publikum vorzustellen, dabei interdisziplinär zu verfahren und Vertreter/innen sowohl der Historie als auch ihrer Nachbarwissenschaften und überhaupt der beim jeweiligen Thema engagierten einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen einzubeziehen und nicht zuletzt auch ausgewiesene Forscher/innen mit Nachwuchskräften zusammenzubringen. Einige Themen und methodische Ansätze sind in Büdingen bislang noch gar nicht bzw. zu wenig aufgenommen worden. Dazu gehören beispielsweise die Professionalisierung und im weiteren die technischen bzw. mathematischnaturwissenschaftlichen Eliten, ferner auch eine Reihe von Aspekten der Bürgertumsforschung. Die Frauenforschung hingegen wurde hier schon thematisiert: Bereits 1989 war eine Büdinger Tagung dem Thema „Unternehmerinnen im 19. und 20. Jahrhundert" gewidmet. Leider sind die Beiträge dieser Tagung nicht publiziert worden. Dies hat gewichtige und sicherlich verständliche Gründe, ist aber gerade mit Blick auf die jetzige Tagung sehr bedauerlich. Seit den achtziger Jahren hat die Frauenforschung gewaltig expandiert. Sie hat ein solches Niveau und eine solche Breite erreicht, daß es geboten, ja geradezu erforderlich erscheint, „die Frauen" nun erneut zum Gegenstand der „Büdinger Gespräche" zu machen. Dies geschieht unter dem Büdinger Oberthema der „Führungsschichten" in Hinblick auf drei Aspekte: Erstens ist zu fragen, ob die Eliteforschung die Kategorie des Geschlechts bislang hinreichend berücksichtigt hat. Und umgekehrt: War „Elite" bislang ein Thema der Frauenforschung und kann sie es künftig sein? Es ist offenkundig, daß Frauen in der Vergangenheit in den Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stark unterrepräsentiert waren und es bis zur Gegenwart sind - wenn auch in abnehmendem Maße. Kann die Frauenforschung angesichts dieses Sachverhalts Aspekte wie die Entstehung und Rekrutierung, die Abschottung und Öffnung, Kontinuität und Wandel von Führungsschichten zu ihrem Gegenstand machen? Kann sie dabei herkömmliche Elitevorstellungen und überkommene Begrifflichkeiten übernehmen oder muß sie sie unter ihren spezifischen Fragestellungen neu bestimmen? Zweitens ist zu fragen, auf welchen Feldern und unter welchen Bedingungen Frauen Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft übernahmen und übernehmen - und wo dies nicht der Fall war und ist, wo Erfolge und wo Defizite auf dem Weg der Frauen zur Partizipation an Elitefunktionen zu finden sind. Dies könnte man als nüchterne Bestandsaufnahme der historischen Partizipation von Frauen an Elitefunktionen bezeichnen. Drittens ist nach den retardierenden und fördernden Bedingungen und Kräften zu fragen. Gab es zum Beispiel gezielte, nachdrückliche Unterstützung von Frauen beim Weg in Elitepositionen und -funktionen? Wie war sie beschaffen,
Zur Einführung
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funktionierte solche Art Frauenförderung oder nicht - und was waren die jeweiligen Ursachen? Schließlich soll diese Tagung auch dazu beitragen, daß Forschungen über „Frauenthemen" ihren angemessenen und selbstverständlichen Platz im Wissenschafts- und Forschungsbetrieb erlangen. Dies setzt allerdings voraus, daß die Frauenforscherinnen dies auch selbst zulassen und das Forschungsfeld nicht exklusiv für sich reklamieren. Die Beschäftigung mit „Frauenthemen" in der neueren Geschichtsschreibung scheinen vornehmlich drei Entwicklungen zu kennzeichnen: (1) Es gibt einen breiten Strom von biographischen Einzeldarstellungen herausragender bzw. herausgehobener Frauen wie Maria Theresia, Katharina die Große, die deutschen Kaiserinnen, Liselotte von der Pfalz, Bettina von Arnim, Berta von Suttner und Lise Meitner. Als Beispiel fur eine große Monographie über eine Herrscherin sei die Arbeit von Sylvia Krauss-Meyl über die letzte bayerische Kurfurstin genannt, über Maria Leopoldine, ein „enfant terrible" des Königshauses. Die Darstellung hebt typischerweise darauf ab, daß hier die Biographie einer außergewöhnlichen Frau geschrieben wird: „einer der interessantesten und aufregendsten Frauengestalten an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert".2 Als Beispiel für eine Zusammenstellung von Miniaturen sei der Band „Bavarias Töchter" angeführt: Hier werden rund 80 bayerische Stifterinnen und Regentinnen, Ehefrauen und Mätressen, Unternehmerinnen, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, Rebellinnen, Frauenrechtlerinnen und Politikerinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart kurz porträtiert.3 Auf dem Buchmarkt finden sich neben differenzierenden, gewichtigen, geschichtswissenschaftlich innovativen Studien auch viele triviale Darstellungen, die von der Kolportage nicht weit entfernt sind. Man darf beides nicht in einen Topf werfen. Es scheint, daß der dominierende Typus eine Form von Hagiographie der „großen Frau" ist. Er scheint besonders stark in der älteren Literatur verbreitet zu sein, doch er ist auch in der jüngeren anzutreffen. Er scheint in der breiten Öffentlichkeit, außerhalb der spröden, eher trockenen Wissenschaftlichkeit, große und anhaltende Resonanz zu finden und kommerziell sehr erfolgreich zu sein. Es ist der Typ Literatur über Sissy und Lady Di. Neben handwerklich soliden Arbeiten steht die biographische Kolportage, wie es sie natürlich auch bei „Männerthemen" gibt.
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Sylvia Krauss-Meyl: Das „Enfant Terrible" des Königshauses. Maria Leopoldine, Bayerns letzte Kurfurstin (1776-1848). Regensburg 1997, S. 5, 13. Marita A. Panzer/Elisabeth Pößl: Bavarias Töchter. Frauenporträts aus fünf Jahrhunderten. Regensburg 1997.
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Günther Schulz
(2) In jüngerer Zeit haben zahlreiche Quellen und Darstellungen Verbreitung gefunden, bei der Frauen in den Blick rücken, die unbekannt oder nur wenig bekannt sind. Dies umfaßt die Unternehmerin ebenso wie die Angestellte und die Arbeiterin, die Bäuerin ebenso wie die Dienstmagd. Es schlägt sich in einer wachsenden Zahl von Autobiographien4 wie auch von biographischen Beschreibungen durch Dritte5 nieder. In ihnen dominiert meist der erfahrungsgeschichtliche Ansatz und stehen der Lebens- bzw. Alltagszusammenhang im Zentrum des Interesses. Das Leitmotiv der Autobiographien und ähnlich auch der Biographien ist oft das Bewußtsein, daß sich die Protagonistin gegen viele Widerstände und unter Schwierigkeiten durchgesetzt, daß sie viel geleistet hat und neue Wege gegangen ist. Dennoch sind die Hauptpersonen in der Regel nicht durch die Auffassung geprägt, herauszuragen und etwas Besonderes, Einzigartiges zu sein oder geleistet zu haben. Das Hauptcharakteristikum ist vielmehr die Auffassung der Protagonistinnen, daß sich in ihrer speziellen Biographie Typisches zeige, daß ihr Einzelschicksal Ausdruck allgemeiner Entwicklungen sei - vornehmlich in Bezug auf ihre Rolle als Frau und ihr Handeln und Leiden in einer überwiegend männlich bestimmten Umwelt. (3) Daneben gibt es eine große und wachsende Zahl von Studien über einzelne Berufsgruppen von Frauen wie die Verkäuferinnen und die Dienstmädchen, die Sekretärinnen und die Behördenangestellten.6 Anfangs überwogen soziologische Untersuchungen, inzwischen hat sich auch die Geschichtswissenschaft diesen Themen stärker zugewendet. Die Studien wurden mitunter von den Interessenverbänden angeregt und unterstützt; meist sind es Dissertationen und Habilitationsschriften. Viele - vor allem die älteren - hatten einen verbandssoziologischen bzw. institutionengeschichtlichen Schwerpunkt, manche waren sozialstatistisch geprägt, die jüngeren rücken meist den Lebenszusammenhang der untersuchten Gruppe in das Zentrum des Interesses und versuchen, die verbreitete Trennung zwischen der häuslichen und der außerhäuslichen Sphäre zu überwinden. Viele Autorinnen der frühen Studien über weibliche Berufsgruppen orientierten sich am Leitbild der Männerarbeit und schlugen einen defensiven, moralisierenden Grundton an. Als die Frauenforschung stärker wurde, wurden die Stimmen offensiver, gelegentlich aggressiv. In dem Maße, in dem die Frauenforschung sich etablierte und an Breite gewann, wurde die Beschäftigung mit
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Siehe als Beispiel für die Erinnerungen einer profilierten, eigenständigen Frau (Dr. rer. pol., Kölner Arbeits-/Sozialverwaltung) Rosa Maria Ellscheid: Erinnerungen von 18961987. Köln 1988. Als Beispiel siehe Cornelia Julius: Dora D., Dienstmädchen. In: Wolfgang Ruppert (Hg ): Lebensgeschichten. Zur deutschen Sozialgeschichte 1850-1950. Opladen 1980, S. 157-173. Siehe zum folgenden Günther Schulz: Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 54). München 2000, S. 71-82.
Zur Einfuhrung
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Themen der Frauengeschichte mehr und mehr selbstverständlich. Allerdings beschäftigen sich auch heute noch weitaus mehr Frauen als Männer mit der historischen Untersuchung von „Frauenthemen". Insofern soll die Erforschung von „Frauen auf dem Weg zur Elite" zugleich ein Stück Wegs in die Normalität sein: zur Überwindung des Geruchs von Exotik oder Sektiererinnentum, der „Frauenthemen" mancherorts noch anhaftet. Möge dieser Band einen Beitrag dazu leisten, daß die Geschichte der Frauen auch beim Studium von Eliten mehr Aufmerksamkeit findet und daß sie zu den selbstverständlich akzeptierten und von Männern wie Frauen gleichermaßen untersuchten Themen wird!
Eliten - ein Thema der Frauenforschung?* VON BARBARA VOGEL
Die Historikerin Ute Frevert nimmt - zweihundert Jahre „Frauen-Geschichte" bilanzierend - die „Machtbalance" zwischen Frauen und Männern in den Blick und fragt, „ob das Geschlechterverhältnis trotz aller unbestreitbaren Wandlungsprozesse im Kern hierarchisch und herrschaftlich geblieben" sei.1 Macht, die Teilhabe an Macht in unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen, steht im Mittelpunkt aller Elitetheorien, gleich ob „realistische" oder „demokratische", immer geht es um Machtbeziehungen und Machtfunktionen. Insofern berühren sich Frauen- und Eliteforschung: Denn Zugangsmöglichkeiten in die Domänen, in denen Macht ausgeübt wird, Einflußchancen auf Entscheidungen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Medien sind Gegenstand sowohl der Frauenforschung als auch der Eliteforschung. Ute Frevert endet ihre Bilanz jedoch mit der Feststellung, daß bis heute die „strukturell ungleiche Position der Geschlechter sowohl im außerhäuslichen Arbeitsleben als auch in Politik, Kultur und Öffentlichkeit immer wieder neu zementiert" werde2, so daß ihre Antwort auf das Tagungsthema „Frauen auf dem Weg zur Elite" negativ ausfiele. Demnach hätten Frauen- und Eliteforschung nichts miteinander zu tun. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die Forschung, daß Elitetheorien oder auch nur Begriffe von „Elite" in der Frauenforschung keine Rolle spielen und daß umgekehrt in den Elitetheorien Frauen als soziale Gruppe oder als Individuen in aller Regel nicht vorkommen. Einzig Vilfredo Pareto, einer der Väter der Elitetheorien, spricht 1916 in seinem Werk Trattato sociologia generale berühmten Kurtisanen die Qualität zu, in ihrem Tätigkeitsbereich in die Elite
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Für kritische Durchsicht des Manuskripts und fördernde Ratschläge danke ich Dr. Kirsten Heinsohn, Mitarbeiterin an dem in Anm. S3 genannten Projekt „Geschlechtergeschichte der Politik". Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit (Neue Historische Bibliothek, edition suhrkamp 1284). Frankfurt am Main 1986, S. 288. Ebd., S. 312.
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Barbara Vogel
aufzusteigen. Die Stelle bei Pareto klingt hübsch und ist im übrigen durchaus aussagekräftig für das Thema: „Der politisierenden Frau (la femme politique), die sich wie die Aspasia des Perikles, die Maintenon Ludwigs XIV. oder die Pompadour Ludwigs XV. der Liebe eines mächtigen Mannes zu vergewissern weiß und an seiner Leitung der Staatsgeschäfte teilhat, werden wir eine hohe Bewertungsziffer wie etwa 8 oder 9 zubilligen; der Dirne (gourgandine), die lediglich die Sinne solcher Männer befriedigt und nicht den geringsten Einfluß auf die Staatsgeschäfte ausübt, werden wir eine Null geben."3 Seine Traumnote, nämlich die 10, enthält Pareto den politisierenden Frauen vor, doch bis zur 9 schaffen sie es immerhin! Das Beispiel zeugt davon, daß Frauen gewöhnlich in Beziehung auf einen Mann begriffen wurden und daß diese Beziehung sexuell definiert ist. Das Thema, inwiefern die berühmten Mätressen Macht innehatten oder an ihr partizipierten, ist derzeit in der historischen Frauenforschung hochaktuell. Dabei erweist es sich als erforderlich, sich zunächst einmal von den Bildern des bürgerlichen 19. Jahrhunderts zu befreien, die in einer Mätresse vornehmlich das moralisch anstößige Geschlechtswesen und eben nicht eine femme politique sahen. Daß zum Beispiel die Madame Pompadour einen offiziellen Titel führte: nämlich maitresse en titre, verdient zweifellos eine Untersuchung darüber, welche Funktion und Machtbefugnis bei Hofe die Mätresse inne gehabt hat.4 Es wird deutlich, daß der Zusammenhang zwischen Elite- und Frauenforschung zumindest äußerst ambivalent ist: Weder hat die Eliteforschung sich für die Abwesenheit von Frauen in den Eliten interessiert noch die Frauenforschung das Denkmodell Elite thematisiert. Dennoch oder gerade deswegen lohnt es sich, dem Zusammenhang zwischen beiden nachzugehen. Zunächst werden einige Überlegungen zur Kategorie „Elite" vorgestellt, um Anhaltspunkte fur deren potentielle Brauchbarkeit für die Frauenforschung zu gewinnen (Teil I). Anschließend sollen im zweiten Teil einige Schwerpunkte und Fragestellungen der historischen Frauenforschung darauf hin untersucht werden, ob sie ausdrücklich oder unterschwellig von Elitemodellen beeinflußt
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Zitiert nach Wilfried Röhrich: Eliten und das Ethos der Demokratie (Beck'sche Reihe 457). München 1991, S. 32 f. Andrea Weisbrod: Im Spiegel der Inszenierungen. Die Stellung der „maitresse en titre" im 18. Jahrhundert in Frankreich im Spannungsfeld zwischen politischem Amt und informeller Macht. Eine Untersuchung am Beispiel der Madame de Pompadour. Hamburg, Univ., Diss., 1999.
Eliten - ein Thema der Frauenforschung?
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sind oder ob sie aus dem Konstrukt Elite Gewinn ziehen könnten. Dabei wird Frauenforschung vornehmlich als historische Frauenforschung behandelt. Allein darauf beschränkt sich meine Kompetenz; aber diese Sichtweise ist auch durch die Themenstellung dieser Tagung gerechtfertigt. Das Thema erlaubt oder verlangt es sogar, die ausgewählten Gegenstände der historischen Frauenforschung auf die letzten zweihundert Jahre einzugrenzen (Teil II). Frauenforschung hat sich immer sowohl mit der Geschichte von Frauen als auch mit der Geschichte der organisierten Frauenbewegung beschäftigt, so daß beides berücksichtigt werden soll. Insbesondere für die engagierten Frauen in der Frauenbewegung könnte es erkenntnisfördernd sein, sie als Elite aufzufassen. Die seit den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gewachsene neue Frauenbewegung wird heute in elitetheoretischen Überlegungen bisweilen unter der Kategorie der „Gegenelite" (wie andere soziale Protest- oder Oppositionsbewegungen auch) eingeordnet.5 Hier besteht also eine direkte Bezugnahme zwischen Elite und Frauenforschung.
I. Bündnis der Eliten heißt ein Buch des Historikers Fritz Fischer6, in dem er die Kontinuität der Führungszirkel in Wirtschaft, Militär und Bürokratie vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in das „Dritte Reich" verfolgt, die über verfassungsrechtliche Umbrüche und Systemwechsel hinweg Bestand hatten. Fischer verwendet den Begriff Elite so alltagssprachlich, wie es in der Geschichtswissenschaft verbreitet ist. Dabei erfährt der Begriff allerdings eine negative Konnotation im Anschluß an Ralf Dahrendorfs Wendung von den „versäulten" Machteliten.7 Erst neuerdings findet die Frage nach Eliten auch in der Geschichtswissenschaft ein systematisches Interesse. Als Grundproblem nicht nur für die historische Forschung stellt sich die Definition heraus: Eine Typologie von Eliten aufzustellen, um dem Begriff die hinreichende Aussagekraft und Trennschärfe zu geben, ist schwierig. Eine Begriffsbestimmung ist jedoch Voraussetzung, um die Frage des Wandels von Eliten oder die Frage ihrer Rekrutierung aufzu-
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Roland Roth: Eliten und Gegeneliten. Neue soziale Bewegungen als Herausforderer „demokratischer Elitenherrschaft". In: Thomas Leif/Hans J. Legrand/Ansgar Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand. Bonn/Berlin 1992, S. 364-390. Fritz Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945. Düsseldorf 1979. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965.
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greifen - Fragen, die für die historische Forschung verständlicherweise besonders relevant sind. Zu der immer wieder erwähnten und beklagten Diifusität des Begriffs tritt seine Ideologielastigkeit hinzu.8 Eliteforschung entstand in kritischer Auseinandersetzung (oder wohl auch Abgrenzung) mit Demokratisierungsprozessen moderner Gesellschaften seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Skepsis oder Abneigung gegenüber dem naturrechtlichen Postulat der Gleichheit aller Menschen und das Problem der politischen, kulturellen „Führung" in einer „Massendemokratie" beantworteten die Elitetheoretiker (Pareto, Mosca, Michels) mit der konservativen These, daß die Unterscheidung oder der Gegensatz zwischen einer zahlenmäßig kleinen Elite und der großen Masse von universeller Gültigkeit sei. Die Theorie, daß es notwendig immer nur kleine Gruppen von auserlesenen Führern seien, die den Weg von Völkern bestimmten, entfaltete im europäischen Faschismus - insbesondere im Italien Mussolinis und im deutschen Nationalsozialismus - große, plebiszitäre und diktatorische Herrschaft legitimierende Wirkung. Begriff und Gegenstand der Eliteforschung waren seitdem diskreditiert. In der Bundesrepublik setzte Eliteforschung erst in den sechziger Jahren wieder ein.9 Sie folgte, unter dem Eindruck der historischen Vorbelastung, der Fragestellung nach dem Verhältnis von Demokratie und Elite. Die Funktion von Eliten im politischen System nahm infolgedessen den größten Raum in der Eliteforschung ein. Seit den späten achtziger Jahren firmiert die politische Elite in der öffentlichen Diskussion als „politische Klasse".10 Der Zugang zur „politischen Klasse", die Diskrepanz zwischen postulierter und im Verfassungssystem normativ festgeschriebener Offenheit des Zugangs einerseits und die beobachtete Kontinuität und Homogenität der Führungsgruppen in Parteien, Parlamenten und Regierungen andererseits, gab der Forschung immer wieder neue Impulse. Diese kritische, in Bewertungsfragen eher distanzierte Auseinandersetzung diversifizierte sich mit der Betonung eines existierenden Elitenpluralismus. Elite wurde dadurch gleichsam ein Begriff positivistischer Wissenschaft und verlor tendenziell seine gesellschaftsphilosophische Einbindung, nämlich in das Spannungsfeld zwischen dem Aufklärungskonzept der natürlichen Gleichheit aller Menschen und dem historistischen Grundsatz von der sich immer wieder neu erweisenden Ungleichheit der Menschen. Als sozialwissenschaftliche Kategorie wird nach Eliten in unterschiedlichen Bezugsgruppen gesucht, nicht nur in den .klassischen' Bereichen politischer Machtausübung: neben den politischen Institutionen und Organisationen wur* 9 10
Wolfgang Felber: Eliteforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Analyse, Kritik, Alternativen (Studienskripten zur Soziologie 129). Stuttgart 1986. Ebd. LeifTLegrand/Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland (wie Anm. S).
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den wirtschaftliche Führungskräfte, militärische Führungskräfte, wissenschaftliche Eliten, Meinungsmacher der Untersuchung unterzogen.11 Elitenpluralismus gilt insbesondere als Schlüsselbegriff für demokratische Gesellschaften, zumal in Verbindung mit einer postulierten Chancengleichheit, die jedem ermögliche, in eine Eliteposition aufzusteigen.12 Die Diffusität des Begriffs erhöht sich dann abermals, wenn jeweils die Spitzenkräfte' in allen möglichen Bezugsgruppen als Elite aufgezählt werden. Meinhard Miegel, einer der „Chefdenker" in Kurt Biedenkopfs Modernisierungs- und Zukunftskommission, hat zum Beispiel für eine arbeitsteilige Gesellschaft Mitglieder der ,Leistungselite' in allen Berufszweigen ausgemacht: „So steht ein lange ausgebildeter Universitätslehrer, der seinen Studenten das einmal Gelernte jahrzehntelang weitergibt, aus meiner Sicht der Leistungselite nicht näher als beispielsweise ein vergleichsweise kurz ausgebildeter Installateur, der mit viel Geschick und Findigkeit die Anlagen eines verwinkelten Altbaus erneuert. Die Tätigkeit des letzteren ist im Zweifel innovativer und kreativer als die des ersteren."13 Die Wertung zwischen dem Universitätslehrer und dem Installateur, die Miegel hier vornimmt, ist pfiffig: wer wollte ihr widersprechen; jedoch wird der Begriff Elite in diesem Sprachgebrauch jeder Machtbeziehung oder Machtfunktion in der Gesellschaft entkleidet, er verliert seine gesellschaftspolitische Relevanz und ist für eine sozialwissenschaftliche Elitetheorie unbrauchbar. In der Geschichtswissenschaft fand zunächst der theoretisch fundierte Begriff Elite vornehmlich für vorindustrielle Gesellschaften große Resonanz. Die Adelsforschung sah sich mit einer natürlichen, geborenen Elite konfrontiert. Wirtschaftliche, politische, kulturelle und soziale Macht waren beim Adel vereint. Es wurde folglich eine spannende Frage, wie der Elitenwandel im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft stattgefunden hat, ob er als revolutionärer Bruch zu betrachten ist oder als evolutionärer Wandel mit vielen Kontinuitätsmerkmalen. Die Adelsforschung hat mit Rudolf Brauns These vom 11
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Urs Jaeggi: Die gesellschaftliche Elite. Bern/Stuttgart J 1967; Wolfgang Schluchter. Der Elitebegriff als soziologische Kategorie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 15 (1963), S. 233-256; Wolfgang Zapf (Hg.): Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919-1961. München 21966. Wilfried Röhrich (Hg.): „Demokratische" Elitenherrschaft. Darmstadt 1975; Dietrich Herzog: Politische Führungsgruppen. Probleme und Ergebnisse der modernen Elitenforschung. Darmstadt 1982. Meinhard Miegel: Nachdenken über Eliten. In: Leif/Legrand/Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland (wie Anm. 5), S. 66-82, hier 76.
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„Obenbleiben" des Adels im 19. Jahrhundert durch eine Strategie der Anpassung und der Beharrung14 nicht nur einen Beitrag zur Eliteforschung gegeben, sondern zugleich die These vom 19. Jahrhundert als Zeitalter der bürgerlichen Gesellschaft ,aufgemischt'.15 Trotz dieser Ansätze überwiegt bisher ein theoretisch nicht reflektierter Gebrauch des Wortes Elite in der historischen Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert, wenn nicht überhaupt statt dessen von „Oberschicht" (sozialgeschichtliches Stratifikationskriterium) die Rede ist oder von „Führungsschicht" oder ,,-gruppen" (politikgeschichtliches Merkmal). Bei aller Diffusität gibt es gleichwohl immer wieder Versuche, den Begriff Elite zu definieren. Die Geschichtswissenschaft profitiert hier von der Soziologie. Weithin zustimmungsfähig ist die Definition Hans-Peter Dreitzels aus dem Jahre 1962: „Eine Elite bilden diejenigen Inhaber der Spitzenpositionen in einer Gruppe, Organisation oder Institution, die auf Grund einer sich wesentlich an dem (persönlichen) Leistungswissen orientierenden Auslese in diese Positionen gelangt sind, und die kraft ihrer Positions-Rolle die Macht oder den Einfluß haben, über ihre Gruppenbelange hinaus zur Erhaltung oder Veränderung der Sozialstruktur und der sie tragenden Normen immittelbar beizutragen oder die auf Grund ihres Prestiges eine Vorbildrolle spielen können, die über ihre Gruppe hinaus das Verhalten anderer normativ mitbestimmt."16 Diese Definition ist kompliziert; sie ist jedoch für die Frage nach der Elitenzugehörigkeit von Frauen nützlich, weil sie einen Pluralismus von Eliten annimmt, weil sie die Zugehörigkeit zu einer Elite an Leistung, eine errungene Position in der Gesellschaft und/oder ein bestimmtes vorbildhaftes Prestige knüpft und weil sie als Kennzeichen der Elitenzugehörigkeit Teilhabe an Macht oder Einfluß auf die Gesamtgesellschaft verlangt. Sie bietet insofern die Möglichkeit, über die Positionierung von Frauen - einzelnen oder Gruppen - in einer Gesellschaft nachzudenken. Dreitzels Definition zielt auf Systematisierung; gleichwohl betont er nachdrücklich die Historizität des Begriffs mit dem Hinweis, Elite sei „ein moder-
Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg ): Europäischer Adel 1750-1950 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 13). Göttingen 1990, S. 87-95. Arno J. Mayer: Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914. München 1981. Hans-Peter Dreitzel: Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse. Stuttgart 1962, S. 71.
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ner Begriff und [...] [könne] als solcher nicht beliebig auf andere geschichtliche Epochen angewandt werden."17 Diese Geltungsbegrenzung weist insofern auf ein zentrales Problem für die Frauenforschung, als dort zur Debatte steht, ob, inwiefern und seit wann Frauen überhaupt als zur .Gesellschaft' gehörig wahrgenommen werden. Karin Hausen hat sprachanalytisch den Artikel Frauenfrage aus Meyers Konversationslexikon von 1908 untersucht. Dort heißt es über die Frauenfrage, es gehe um nichts Geringeres als um eine „Neuregelung der Beziehungen des Weibes zur übrigen Gesellschaft". Die Sprache impliziere - so Karin Hausen - , daß Frauen nicht zur Gesellschaft gehören, sondern zur Gesellschaft in Beziehung gesetzt werden müssen.18 Wenn Günter Endruweit knapp und bündig formuliert: „Zur Elite gehören alle Mitglieder eines sozialen Systems, die aus einem Selektionsprozeß als den übrigen Mitgliedern überlegen hervorgingen."19 - so stellt sich für die Frauenforschung die konsequente Frage, seit wann „Frauen auf dem Weg zur Elite" überhaupt schon akzeptierte „Mitglieder des sozialen Systems" waren bzw. als Mitglieder wahrgenommen wurden. Für historische Forschung erscheint es sinnvoll, den Elitebegriff zu differenzieren, womöglich auch die für das 20. Jahrhundert typische Fixierung auf die Spitzenstellungen im politischen System zu überwinden und gesellschaftliches Prestige mit entsprechendem meinungsbildenden Einfluß auf jeden Fall einzubeziehen. Für das umfangreiche Forschungsprojekt „Eliten im Übergang vom Ancien Rigime zur Moderne", das Anja V. Hartmann vorgestellt hat, wird hervorgehoben, daß Führungsschicht und Elite nicht deckungsgleich seien. Führungsschichten gehören demnach zwar immer zur Elite, aber umgekehrt müssen Eliten nicht immer Führungsschicht genannt werden.21 Allerdings sind Zweifel angebracht, wie sinnvoll es ist, „wenn man ,Elite' lediglich als soziale Gruppe versteht, d.h. als ein soziales Gebilde, in dem das ,Gemeinschaftsver-
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Karin Hausen: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (Beck'sche Reihe 276). München 21987, S. 9-22, hier 10 f. Günter Endruweit: Elitebegriffe in den Sozialwissenschaften. In: Zeitschrift für Politik 26 (1979), S. 30-46, hier 34. Anja Victorine Hartmann: Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? Eliten im Übergang vom ancien regime zur Moderne. Eine Standortbestimmung. In: Zeitschrift für Historische Forschung 25 (1998), S. 1-32. Ebd., S. 18.
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hältnis den Charakter des Ganzen bestimmt'."22 In solcher Allgemeinheit verlöre der Begriff jede Trennschärfe; das Kriterium der Teilhabe an Macht (in weit verstandener Bedeutung) oder der Überlegenheit über andere sollte unverzichtbares Defmitionsmerkmal sein. Hervorhebenswert ist, daß Elite quer zu Stand, Schicht oder Klasse verortet wird. Hans-Ulrich Wehler definiert in seiner Gesellschaftsgeschichte: „Innerhalb von Schichten, Ständen und Klassen bilden sich häufig Eliten heraus, d.h. strategisch postierte, repräsentative Minderheiten mit speziellen Kenntnissen und Fähigkeiten zur Wahrnehmung wichtiger Funktionen in der Gesellschaft." Die unzulängliche Erfaßbarkeit von Frauen in solchen soziologischen Kategorien ist seit langem gesicherte Erkenntnis der Frauen- und Geschlechtergeschichte.24 Eine an Schicht- oder Klassenmodellen orientierte Sozialgeschichte hat keinen Blick für Frauen, berücksichtigt nicht die Frage, ob Frauen innerhalb ihrer Klasse oder Schicht speziellen Bedingungen unterworfen sind. Insofern könnte die an Leistung, Funktion und Position anknüpfende Eliteforschung Frauen eher einschließen. Differenzierungen des Elitebegriffs sind unter verschiedenen Aspekten vorgenommen worden.25 Einmal geht es um eine Kategorisierung auf der Ebene der Gruppenzugehörigkeit: Elite als Führungsschicht in einer Gesellschaft oder (im Plural) Eliten als Führungsschichten innerhalb einer Gesellschaft. Es ist dieser Elitebegriff, der in der Politikwissenschaft, aber auch in der Soziologie in der Regel zugrunde gelegt wird, insofern hier nach Macht und Herrschaft gefragt wird. Offen bleibt dabei die genauere Bestimmung von Macht, insbesondere welche Bedeutung „informeller Macht" zukommt. Zum anderen geht es um den inneren Zusammenhalt einer Elite genannten Gruppe durch gemeinsame Überzeugungen, Einstellungen und Ziele. Diese Definition ist für historische Fragestellungen, bei denen sozialer Wandel, Verschiebungen innerhalb der Einfluß- und Prestigestrukturen innerhalb einer Gesellschaft erforscht werden sollen, besonders brauchbar, weil sehr weit gefaßt. Die
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Ebd. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära. 1700-1815. München 1987, S. 137. Ute Frevert: Klasse und Geschlecht - ein deutscher Sonderweg? In: Logie Barrow/Dorothea Schmidt/Jutta Schwarzkopf (Hg.): Nichts als Unterdrückung? Geschlecht und Klasse in der englischen Sozialgeschichte (Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft 4). Münster 1991, S. 259-270. Zum Folgenden vgl. Hartmann: Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? (wie Anm. 20), S. 18 ff.
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„soziale Gruppe", die als Elite bezeichnet wird, sollte aber spezifiziert sein in dem Sinne, daß sie in diesem Wandel eine strategische Position innehat oder eine strategische Funktion ausübt. Dann erlaubt diese Definition es zum Beispiel, die seit dem späten 18. Jahrhundert sich ausbreitenden Vereine und Assoziationen unter das Elitekonzept zu subsumieren; denn die Vereine nahmen eine wichtige Position im Prozeß der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als Staatsbürgergesellschaft ein. Bei diesem Begriffsverständnis könnten dann die sich im 19. Jahrhundert in verschiedenen Zeiträumen verstärkt bildenden Frauenvereine nach ihrer möglichen Elitefunktion untersucht werden. Dabei ist freilich die jeweilige Bezugsgruppe für eine solche Elite zu benennen: Bilden die deutsch-katholischen Frauenvereine26 der späten vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine Elite zur Bezugsgruppe Frauen oder innerhalb der nach politischer Teilhabe strebenden bürgerlichen Gesellschaft? Ein dritter Typ von Eliten schließlich wird als „kumulative Elite" bezeichnet; gemeint ist damit eine Summe von Individuen, die weder eine Führungsposition einnehmen müssen noch durch eine mentale Kohäsionskraft ausgezeichnet sind. Offensichtlich können solche kumulativen Eliten nur in besonderen zeitlichen und räumlichen Konstellationen entstehen. Ein Beispiel dafür wären die kleinen, sozial heterogenen Personenkreise innerhalb der bürokratischen Apparate während der napoleonischen Reformära in vielen deutschen Staaten; sie wirkten als eine kumulative Elite.27 Für ihre Elitenposition war freilich nicht ihr Gruppenzusammenhalt, sondern ihre Einbindung in die Institution Ministerialbürokratie ausschlaggebend, was sich durch die wiederholten Angriffe auf die sogenannten Außenseiter oder „Quereinsteiger" in dieser Gruppe bestätigt. Innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung des späten 19. Jahrhunderts könnte es ein ertragreicher Ansatz sein, die kleine Anzahl besonders aktiver Frauen in der Führung einzelner Vereine als kumulative Elite zu untersuchen; manche Strategieentscheidungen und manche Kontroversen in der Frauenbewegung - zum Beispiel die ständigen Auseinandersetzungen, die in der Forschung stereotyp als Gegensatz zwischen „Gemäßigten" und „Radikalen" eingeordnet werden28 - können besser erklärt werden. In der empirischen Forschung stellt sich immer ein Identifikationsproblem: Nach welchen Kriterien gehört jemand zur Elite? Am einfachsten ist es, Inhaber von bestimmten Positionen als Elite auszumachen. Dieser Positionsansatz Sylvia Paietschek: Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841-1852 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 89). Göttingen 1990. Zu Preußen vgl. Barbara Vogel: Reformpolitik in Preußen 1807 1820. In: Hans-Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg ): Preußen im Rückblick (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6). Göttingen 1980, S. 202-223. Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 46). Göttingen 1981.
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wird in der Politikwissenschaft verfolgt, wenn als Eliten Parlamentarier, Parteivorstände, Regierungsmitglieder sowie Gewerkschafts- und Verbandsführer angesehen werden. Unter dem Aspekt der Frauen- und Geschlechtergeschichte fällt auf, daß die empirischen Studien über diese Gruppen der „politischen Klasse" fast immer die geschlechtsspezifische Zusammensetzung dieser Elitegruppen unberücksichtigt lassen.29 In einer empirischen Analyse der Zusammensetzung und Rekrutierung der „SPD-Elite" von 1988 bis 1991 benutzt der Autor ein Raster, das ihn die Alters- und Generationsstruktur der Personen, die Schul- und Berufsbildung sowie die Berufsstruktur beachten läßt; nach dem Zahlenverhältnis von Männern und Frauen fragt er - in einer Zeit heftigster Auseinandersetzungen um die „Quote" - nicht.30 In seiner Berufsstatistik taucht zwar die „Hausfrau" auf - damit sind vermutlich ausschließlich weibliche Personen gemeint - , doch ob bei den anderen Berufsbezeichnungen außer Männern auch Frauen impliziert sind, wird nicht gesagt. Wie wenig Beachtung der Autor der Kategorie „Hausfrau" schenkt - man kann auch sagen, wie tief in einer sozialen Skala die „Hausfrau" bei ihm rangiert - , zeigt sich übrigens daran, daß er die Hausfrauen wie Arbeiter und Rentner den unteren Sozialschichten zuordnet.31 Der Positionsansatz ist zwar leicht operationalisierbar, doch er berücksichtigt nicht, ob alle Inhaber von Positionen gleichermaßen real Einfluß ausüben; ebenso wenig kann er einflußreiche Personen, die keine herausgehobene Position innehaben, sondern im Hintergrund wirken, erfassen („graue Eminenz"). In diesem Zusammenhang könnte man an die „kluge", die Karriere ihres Gatten lenkende oder befördernde Ehefrau denken. Die Frage „informeller Macht" von Frauen ist bisweilen ein Thema der Frauenforschung gewesen.32 In jedem Fall ist es für historische Forschungen wohl unabdingbar, außer dem objektivierenden Positionsansatz subjektive Einschätzungsfaktoren im Elitebegriff zu beachten. Zur Elite könnte demnach gehören, wer sich selbst zu ihr rechnet oder von anderen zu ihr gerechnet wird (Reputationsansatz). Die Frage nach einem elitären Selbstbewußtsein bei fuhrenden Vertreterinnen der Frauenbewegung verdient zum Beispiel Beachtung. Eine besondere Wichtigkeit nimmt in den Elitekonzepten die Funktionsbestimmung von Eliten ein: Gerade das Grundproblem des Verhältnisses von Demokratie und Elite in der modernen Eliteforschung wirft die Frage auf, wie 29
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Bei Leif/Legrand/Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland (wie Anm. 5) nimmt die Frage nur einen marginalen Raum ein: In zwei von 28 Beiträgen eigens (als Sonderthema) thematisiert; in zwei weiteren gibt es kurze Erwähnungen. Wilhelm Weege: Zwei Generationen im SPD-Parteivorstand. Eine empirische Analyse. In: ebd., S. 191-222. Ebd., S. 210 f. Barbara Schaeffler-Hegel (Hg.): Frauen und Macht. Der alltägliche Beitrag der Frauen zur Politik des Patriarchats. Berlin 1984.
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weit Führungsschichten durch ihre Funktion und ihre Aufgaben legitimiert sind. Rekrutierung von Eliten und Machtverteilung innerhalb von Führungsschichten sind deshalb bevorzugte Forschungsfelder in der Eliteforschung. Wertelite, Leistungselite und Funktionselite sind die wesentlichen Stichworte in dieser Debatte. Als Wert- oder auch Leistungselite ließe sich das frühe Bildungsbürgertum in seiner Funktion für den gesellschaftlichen Wandel vom späten 18. zum 19. Jahrhundert bestimmen.33 Das Bildungsbürgertum trat als Träger und Erzieher von Werten auf, die das Normensystem der Gesellschaft prägten. Auch und gerade die Familie und hier die Mutter ist als Institution zur Tradierung bürgerlicher Werte entdeckt worden.34 Die Funktionselite wird definiert durch den entscheidenden Einfluß, den sie auf gesellschaftliche Prozesse und Entscheidungen ausübt, wodurch sie den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft überlegen ist.35 Der Ausdruck Funktionselite steht in größter Nähe zur Positionselite, insofern als Funktion oft aus einer Institution oder einem Amt heraus wahrgenommen wird. Die Frage bei diesen Definitionen ist freilich immer, was unter Leistung, was unter Werten verstanden wird, wenn sie zur Legitimierung der Elitenrekrutierung herangezogen werden. Derzeit kann seit längerem beobachtet werden, daß Leistungen, gemessen an Schulabschlüssen, aber auch an Universitätsabschlüssen, überproportional stark von Frauen und Mädchen erbracht werden. Dieser Leistungsbegriff hat sich bisher nicht in einer entsprechenden Rekrutierung von Frauen in Führungspositionen niedergeschlagen. Dafür lassen sich viele Gründe anführen - eine Erklärung liegt in der jeweiligen Definition von Leistung. Vor einigen Jahren schlug der renommierte, bis dahin als liberal bekannte Jurist Rudolf Wassermann (damaliger Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig) Alarm, weil bei der Richter- und Verwaltungsbeamtenrekrutierung nach den grundgesetzlichen Kriterien der „Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung" (Art. 33, 2 des Grundgesetzes) in allzu großer Zahl Frauen zum Zuge kamen wegen ihrer besseren Studienabschlüsse. Er forderte, weitere (Leistungs-)Kritierien aufzunehmen, um diese vermeintlich gesellschaftlich unzuträgliche Benachteiligung von männlichen Bewerbern abzugleichen. Diese in den Überblick über Elitetheorien eingestreuten Beispiele sollen nur nebenbei dem Amusement und der Auflockerung dienen. Wichtiger ist es, daß sie Indizien dafür enthalten, wie weitgehend die theoretischen Implikationen
Hertmann: Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? (wie Anm. 20), S. 8 ff. Jürgen Kocka: Bürger und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten. In: Ders. unter Mitarbeit von Ute Frevert (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. 3 Bände. München 1988, Band 1, S. 11-76, hier 45 f. Hartmann: Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? (wie Anm. 20), S. 23.
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der Elitebegriffe ohne einen Gedanken an deren geschlechtsspezifische Prägungen vorgenommen wurden. Die Elitekonzepte sind auf männlich zusammengesetzte soziale Gruppen hin entworfen, allerdings ohne Beachtung oder gar Reflexion dieser Vorgehensweise. Vielmehr wird von Elite - wie von den meisten gesellschaftlichen Formationen - geschlechtsneutral geredet, genauer: ohne Berücksichtigung des Faktums, daß es in der menschlichen Gesellschaft zwei Geschlechter gibt, während in dieser oder jener gesellschaftlichen Gruppe jedoch ausschließlich oder nahezu ausschließlich Männer anzutreffen sind. Wenn Eliteforschung für die Frauenforschung nutzbar gemacht werden soll, wäre es erforderlich, die Konzepte „demokratischer Elitenherrschaft", um die es heute geht, unter dem Ansatz, daß es sich bei ihnen um eine Form von „Männerherrschaft" handelt, zu erforschen. Bei Elitenbildung wie zum Beispiel auch bei Professionalisierungsvorgängen des 19. Jahrhunderts handelt es sich um „gendering-Prozesse". Für Geschlechterforschung sind erst noch Strategien und Fragestellungen soziologischer und historischer Untersuchungen zu entwickeln. Bisher gibt es lediglich einzelne Studien im Rahmen von Frauenforschung, die aufzeigen, daß sich Frauen auf dem Wege in Führungspositionen immer wieder als Fremde vorkommen. Sie erfahren sich als Ausnahmeerscheinung und werden auch von ihrer Umwelt als Ausnahmeerscheinung behandelt. Geschlechtergeschichtliche Forschung ist in den Elitekonzepten ein Desiderat. Das Dilemma sowohl in der Selbsteinschätzung als auch in der Fremdwahrnehmung von politisch aktiven Frauen drückt Bärbel Schöler-Macher in einer Untersuchung über Parlamentarierinnen in der Bundesrepublik treffend und zugespitzt aus: „Die gesellschaftlichen ,Normalkonstruktionen' von Weiblichkeit und Männlichkeit [wirken] immer wieder neu daraufhin [...], daß Frauen das Urteil droht, entweder keine ,richtige' Frau oder für das politische Geschäft ungeeignet zu sein."36
II. Die moderne Frauenforschung in der Bundesrepublik ist durch die neue Frauenbewegung in den frühen siebziger Jahren angestoßen worden. Wichtigster Anlaß war die unverändert vorhandene Diskriminierung von Frauen trotz rechtlich weitgehend hergestellter Gleichberechtigung von Männern und Frau36
Bärbel Schöler-Macher: Elite ohne Frauen. Erfahrungen von Politikerinnen mit einer männlich geprägten Alltagswirklichkeit in Parteien und Parlamenten. In: Leif/Legrand/Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland (wie Anm. 5), S. 405422.
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en: Diskriminierung im Erwerbsleben, in der Wirtschaft, im Kulturbetrieb wie in der Wissenschaft, in den Parlamenten, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften. Für die neue Frauenbewegung wie für die Frauenforschung stand die Frage nach den Gründen für diese Kluft zwischen der Gleichberechtigungsnorm und der auffälligen Unterrepräsentation von Frauen in sämtlichen Führungsetagen unseres gesellschaftlichen Systems im Mittelpunkt. Dieser Befund schien um so verblüffender, als sich im sekundären Bildungswesen allmählich eine Proportionalität zwischen weiblichem und männlichem Geschlecht herausgebildet hatte. Der schließlich sogar auftretende Bildungs- und Leistungsvorsprung von Schülerinnen verschärfte noch einmal das Bewußtsein von der Diskrepanz zwischen Norm und Realität, da nach dem Selbstverständnis eines demokratischen Gemeinwesens das Kriterium Leistung das best legitimierte, weil funktionelle ist. Die Abwesenheit von Frauen in den „Führungsetagen" ist gleichwohl kein Thema der Eliteforschung. Neuerdings kommt in der Öffentlichkeit die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen zur Sprache, aber ausschließlich nur dann, wenn diese Diskussion von Frauen gefordert wird - ein Indiz dafür, daß die verstärkte Beteiligung oder Nichtbeteiligung von Frauen in erster Linie ein Politikum ist und nicht den Rang einer Forschungsfrage zuerkannt erhalten hat (außer in der Frauenforschung). Die Frauenforschung stand bisher unter Erkenntniszielen und war getragen von Erkenntnisinteressen, die eindeutig Gegenmodelle zur Eliteforschung darstellen: nämlich Emanzipation, Partizipation, Gleichberechtigung und Demokratisierung. Diese schon fur die Diskussion im Zeitalter der Aufklärung zentralen Grundbegriffe gehören in ein Gesellschaftskonzept, das die „natürliche Gleichheit" aller Menschen gegen die historisch überkommene und durch Privilegienordnungen abgesicherte Ungleichheit nach Geburt und Stand ins Feld führte. Politisches Ziel war es, die Voraussetzungen zu finden, die mehr Gleichheit würden ermöglichen können, und Wege dahin zu bahnen. Die Frauenforschung fragte nun nach den Emanzipationserfahrungen von Frauen in diesem Prozeß bzw. danach, warum Frauenemanzipation nicht oder lange nicht stattfand. Bei dieser Fragestellung stellen sich vielfältige Beziehungen zum Thema weiblicher Eliten her (a). In einem weiteren Feld der Frauenforschung ging es um die Stellung der Frau zur Familie und in der Familie. Den Ausgangspunkt bildete oft die Auseinandersetzung mit dem Konzept der bürgerlichen Gesellschaft, das eine private und eine öffentliche Sphäre voneinander abgrenzte. Männern und Frauen wurden auf diese Weise nicht nur verschiedene Handlungsräume zugewiesen, sondern der dem Manne eignende Bereich des öffentlichen Raumes war der hierarchisch übergeordnete, in ihm wurden bürgerliche und politische Rechte
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verortet.37 Dieses Modell führte dazu, daß zum Beispiel von der Geschichtswissenschaft lange Zeit überhaupt nicht nach Frauen gesucht wurde, weil sie in öffentlichen Räumen, die mit dem Gegenstand der Geschichte gleichgesetzt wurden, nicht präsent waren. Ebenso wenig wurden Männer übrigens in der Familie gesucht, nachdem es eine konsequente Folge des nur Männer einschließenden bürgerlichen Gesellschaftsmodells geworden war, den Bereich der Familie zu den „natürlichen", d. h. außer- oder metahistorischen Phänomenen zu erklären.38 Auch dies schloß Frauen als Gegenstand der Eliteforschung aus, denn Eliten gehören der öffentlichen Sphäre an (b). Auch andere Themenkomplexe bisheriger Frauenforschung stehen nicht mit der Frage nach möglichen weiblichen Eliten in Verbindung. In den Theoriedebatten zur Bestimmung des gesellschaftlichen Standortes von Frauen ging es schwerpunktmäßig um das Spannungsverhältnis zwischen den Kategorien Geschlecht und Klasse,39 nicht aber um eine soziale Gruppe „Elite". Die Frage nach dem Hierarchiegefälle zwischen Männern und Frauen wird in der Frauenforschung unter den Aspekt des Geschlechterverhältnisses gestellt, nicht als Verhältnis zwischen elitärer Minderheit von Herrschenden und großer Masse von Beherrschten. Solange Männer und Frauen verschiedenen räumlichen Sphären zugeordnet verstanden werden, paßt das Bild von herrschender Minderheit und beherrschter Mehrheit nicht. Seitdem aber Frauen in öffentlichen Räumen präsent sind, befinden sie sich überall, wo einflußreiche Positionen zu besetzen sind, in einer deutlichen Minderheit der Bewerber und der Erwählten - und gehören dennoch nicht zur Elite. Dieser Minderheitsstatus wird auch allgemein nicht als elitäre Auszeichnung, sondern als Außenseiterposition wahrgenommen. Der Zusammenhang mit Elitevorstellungen scheint jedoch auf, wenn es in der Kritik an Auslesevorgängen immer wieder heißt, daß eine Frau deutlich besser sein müsse als alle männlichen Bewerber, um eine Chance zu bekommen. Es handelt sich bei dieser Minderheitsposition weder um „strategisch postierte" noch um „repräsentative Minderheiten", die nach Wehlers Definition zu den Eliten zählen.40 (a) Vor dem Hintergrund unaufhaltsamen sozioökonomischen Wandels verbreitete sich im 19. Jahrhundert die Aufklärungsutopie einer bürgerlichen Gesellschaft von prinzipiell Gleichen, deren politische Ideologie, der Libera-
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Ute Frevert: „Mann und Weib, und Weib und Mann". Geschlechter-Differenzen in der Moderne (Beck'sche Reihe 1100). München 1995. Gunilla-Friederike Budde: Das Geschlecht in der Geschichte. In: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg ): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte (Beck'sche Reihe 1211). München 1997, S. 125-150. Hanna Schissler (Hg.): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel (Geschichte und Geschlechter 3). Frankfurt am Main/New York 1993. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 23).
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lismus bzw. Frühliberalismus, bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein zu einer mitreißenden politischen und gesellschaftlichen Oppositionsbewegung gegen die Kräfte der Beharrung - gegen die absolutistischen oder scheinkonstitutionalistischen Regierungssysteme und gegen die auf Ungleichheit der Rechte basierenden ständischen Gesellschaftsmodelle - anwuchs.41 Entlassung aller Menschen aus der Unmündigkeit war in allgemeinster Formulierung die Parole dieser Bewegung: Emanzipation, Recht auf Ausbildung aller individuellen Talente und Kräfte und - entsprechend der erreichten Mündigkeit - Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinwesens, d. h. Staatsbürgerrechte, waren die Kernforderungen. Die historische Frauenforschung nahm die Herausforderung dieser Ideologie zum Ausgangspunkt ihrer Fragen. Denn auf den ersten Blick schon - der gleichwohl in der Geschichtswissenschaft bis dahin nicht getan worden war war ersichtlich, daß in diese umfassende Emanzipationsbewegung Frauen nicht eingeschlossen waren. Es ist inzwischen bekannt, wie seit der Aufklärung ein bürgerliches Gesellschaftsmodell entworfen und verinnerlicht wurde, welches die bürgerliche Unmündigkeit der Frau festschrieb.42 Maßgebend für das Menschenbild der Aufklärung war die naturrechtliche Idee der natürlichen Gleichheit aller Menschen; daraus wurden, verstärkt seit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und der Französischen Revolution, Bürgerfreiheit und politische Rechte eines jeden Menschen abgeleitet, allerdings von Anfang an unter der Bedingung der Mündigkeit der in diese Rechte einzubeziehenden Menschen. Ihre sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse schlossen deshalb viele Gruppen (zumindest vorläufig) von der Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft freier und mündiger Menschen aus, zum Beispiel Kinder, leibeigene Bauern, Gesellen, Dienstboten, Knechte, aber auch Juden als religiös-kulturelle Minderheit. Besonders umständlich war der Argumentationsaufwand, um Frauen, die schließlich Menschen seien, den Bürgerstatus abzuerkennen43 Die historische Betrachtung konnte darauf verweisen, daß Frauen in den Haushalt gehörten, dem ein Bürger als Herr vorstand. Der Familienhaushalt ging als eine Untereinheit in den Entwurf der aus freien Bürgern bestehenden Gesellschaft ein; Haushalt und Familie erhielten die Qualität des Privateigentums zugesprochen, auf die folglich der Staat keinen Zugriff besaß. In seiner Eigenschaft als Herr über die Privatheit seines Hauses und
Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland (Neue Historische Bibliothek, edition suhrkamp 1286). Frankfurt am Main 1988. Frevert: „Mann und Weib, und Weib und Mann" (wie Anm. 37). Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 77). Göttingen 1988, S. 17-48.
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seiner Familie bestätigte sich die Freiheit des Bürgers. Wie historisch gewachsen der reale Befund für diese Konstruktion auch war, sie kollidierte doch mit dem Grundsatz der „natürlichen Gleichheit" aller Menschen. Es ließen sich auch schon um und sogar vor 1800 vereinzelt Stimmen vernehmen, weibliche wie männliche, die gegen diese Ungerechtigkeit protestierten.44 Angesichts dieser Situation wirkte es als treffliche Rechtfertigung, daß Philosophen und Pädagogen mit zum Teil geradezu lyrisch ausgestalteten Bildern die Einbindung der Frau in Haus und Familie mit deren naturgegebenen Geschlechtseigentümlichkeiten erklärten. Stellvertretend sei die Kernaussage eines Buches von Johann Heinrich Campe genannt, weil sie auf eine Formel brachte, was in die Zukunft hinein als erfolgreichstes Konstrukt der bürgerlichen Gesellschaft wirkte: Campe handelte in seinem Erziehungsbuch Väterlicher Rath für meine Tochter von der „dreifachen Bestimmung des weiblichen Geschlechts zur Hausfrau, Gattin und Mutter" 45 In diesem Konstrukt einer naturgegebenen Bestimmung blieben auch die Frauen gefangen, die sich in Zorn oder Verzweiflung gegen die weitgehende Beschränkung ihrer Kräfte und Talente auflehnten. Die Frauenbewegung, die sich nach einem ersten Aufschwung in der Revolution von 1848/49 seit Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts ausbreitete, stieß immer wieder an gedankliche, mentalitätsgeprägte Grenzen dieser „dreifachen Bestimmung", ob es sich um das Recht der Frauen auf Erwerbstätigkeit und auf höhere Bildung handelte oder ob es um die Rechtsstellung der Frau in der Ehe oder bei einer Ehescheidung ging. In der Historiographie zur Frauenbewegung entsteht bisweilen fälschlicherweise der Eindruck, als ob das polare Geschlechtermodell mit seinem den Handlungsspielraum von Frauen begrenzenden Frauenbild von der Frauenbewegung selbst erfunden oder propagiert worden wäre. Das ist irreführend, denn tatsächlich ist die Frauenbewegung mit dieser Gewißheit über die .natürlichen' Eigenschaften von Mann und Frau aufgewachsen. Die philosophische Grundlegung durch die „bürgerlichen Meisterdenker" (Ute Frevert) setzte sich fort und erhielt gleichsam höhere Weihen durch die aufsteigenden Naturwissenschaften, von Biologen, Ärzten, Psychologen, die eine Inferiorität der Frauen gegenüber den Männern mit biologischen und folglich unveränderbaren Geschlechtseigentümlichkeiten begründeten. Die Definitionsmacht der Naturwissenschaft war umfassend; Auflehnung schien nur gegen manche diskriminierende Ableitungen, nicht gegen das Axiom selbst möglich 46
Z.B. Theodor von Hippel: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792). Berlin 1828 (ND 1981); Amalie Holst: Uber die Bestimmung des Weibes zur höheren Geistesbildung. Berlin 1802. Johann Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1789. Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt am Main/New York 1991.
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In Folge ihrer fehlenden Gleichstellung blieben Frauen in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein von allen Institutionen ausgeschlossen, die der Formierung und Rekrutierung von Eliten dienten: von den Gymnasien, der Universität, dem studentischen Verbindungswesen, dem höheren Staatsdienst in Justiz und Verwaltung. Indirekt wirkte der Ausschluß auch gegen führende Positionen von Frauen in der Wirtschaft; die Industrielle Revolution schuf Arbeitsplätze für Frauen nur als Arbeiterinnen und, zunächst langsam, seit den achtziger Jahren dann schnell steigend, als Angestellte in unteren, selten mittleren Positionen. Der Zugang zur Börse blieb Frauen lange verwehrt.47 Die Rechtsstellung der Frau legitimierte im 19. Jahrhundert einen Ausschlußmechanismus in allen öffentlichen Bereichen.48 Er perpetuierte sich und wurde in gewisser Hinsicht verschärft durch die Unterscheidung zwischen verheirateten und alleinstehenden Frauen im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900. Die Rechts- und Geschäftsfähigkeit von Ehefrauen waren eingeschränkt, gesetzlich bis 1977. Das bürgerliche Geschlechtermodell, das die Frau auf ihre „dreifache Bestimmung" verpflichtete und beschränkte, bildete nach wie vor den gesellschaftlichen Grundkonsens, den nicht nur Männer, sondern auch die meisten Frauen hinnahmen. Die Errungenschaften in Sachen qualifizierter Ausbildung und Erwerbstätigkeit, die seit den sechziger Jahren durch die Frauenbewegung in langsamen, kleinen Schritten erreicht wurden, wurden erst vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums sowie des sozialen und wirtschaftlichen Wandels möglich.49 Dadurch hatten sich die bürgerlichen Lebensverhältnisse so weit umgestaltet, daß die traditionelle Versorgung unverheiratet bleibender Töchter als irgendwo im Haushalt lebende sog. ,alte Tanten' für viele Familien nicht mehr finanzierbar war. Dieser ökonomische Druck traf sich mit dem Wunsch vieler dieser Töchter, dem Schicksal als mehr oder weniger geduldete ,alte Tante' zu entgehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Erwerbstätigkeit und die für eine qualifizierte Erwerbstätigkeit erforderliche Schulbildung erwiesen sich als die wichtigsten Bedingungen für bürgerliche Selbständigkeit. Aus dem Wunsch, tätig zu werden und für die Gesellschaft nützlich zu sein, wuchsen die moralischen Antriebskräfte dieser Frauengeneration. Insofern lag hier der Ursprung der Frauenbewegung in den sechziger Jahren. Angesichts der sozialen Probleme der bürgerlichen nicht heiratenden Töchter übernahm die junge Frauenbewegung die strikte Unterscheidung von ver-
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Frevert: Frauengeschichte (wie Anm. 1). Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997; Dies.: Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht. München 1990. Brigitte Kerchner: Beruf und Geschlecht. Frauenberufsverbände in Deutschland 18481908. Göttingen 1992.
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heirateten und alleinstehenden (ledigen, geschiedenen, verwitweten) Frauen. Vielleicht war es zunächst Pragmatismus, die Rede vom „eigentlichen weiblichen Beruf, Hausfrau, Gattin und Mutter zu sein, zu übernehmen, um damit Gehör für die Forderung nach qualifizierter Erwerbstätigkeit für die vielen nicht verheirateten Frauen zu finden. Die Argumentation hatte jedoch weitreichende Folgen: Berufliche Tätigkeitsfelder für Frauen besaßen nur eine Ersatzfimktion. Ein Beruf sollte der .Erfüllung' alleinstehender Frauen, die nicht das Glück ,eigener' Familie genießen konnten, dienen und ihre .Versorgung' sichern. Bis in die Weimarer Republik hinein galt der Grundsatz, daß berufliche Tätigkeit für die bürgerliche Frau nur bis zur Eheschließung statthaft war; das „Lehrerinnenzölibat", wie diese Regel in Anbetracht der Tatsache, daß Lehrerin der verbreitetste qualifizierte Beruf für Frauen im Kaiserreich war, genannt wurde, dauerte rechtlich für den öffentlichen Dienst bis zum Ende des Kaiserreichs, wirkte aber lange darüber hinaus, vor allem in schlechten wirtschaftlichen Konjunkturen.50 Auch in der Bundesrepublik wurden (und werden) Verschlechterungen des Arbeitsmarktes in der Regel mit dem Rückgriff auf Gesellschaftsentwürfe beantwortet, wonach der natürliche Platz der Frau in der Familie, bei ihren Kindern sei. In einer Denkschrift der CDUSozialausschüsse aus dem Vorwendejahr 1981 mit dem eingängigen Titel Die sanfte Gewalt der Familie heißt es zum Beispiel: „Emanzipationsbewegungen verbinden Ichsucht mit einem Gleichheitsideal, das auf die Einebnung aller Unterschiede gerichtet ist. Mann und Frau werden für austauschbar erklärt."51 Die alleinstehenden Frauen zugebilligten Emanzipationsschritte bestätigten die angenommene Regel, daß Frauen als Ehefrauen und Mütter nicht in die rauhe Welt des Berufs paßten. Diese Emanzipation wirkte, anders als von der Frauenbewegung intendiert, nicht - noch nicht - als prinzipielle Anerkennung der Mündigkeit der Frau als Bürgerin und Staatsbürgerin, sondern löste ein soziales Versorgungsproblem und fungierte als Kompensation für den entgangenen „eigentlichen Beruf'. Der sehr langwierige Weg der Frauen zu bürgerlichen Freiheitsrechten, der mit dem Recht auf höhere Schulbildung und dem Eindringen von Frauen in einige bis dahin Männern vorbehaltene Berufsfelder begann, ist also nur mit
Ursula Nienhaus: Vater Staat und seine Gehilfinnen. Die Politik mit der Frauenarbeit bei der deutschen Post (1864-1945) (Geschichte und Geschlechter 11). Frankfurt am Main/New York 1995. Zitiert nach Lottemi Doormann: Die neue Frauenbewegung: Zur Entwicklung seit 1968. In: Florence Herve (Hg.): Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Köln 4 1988, S. 255-294, hier 278.
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Einschränkungen als Emanzipation im Sinne der Aufklärung zu bewerten. Der Anspruch auf Gleichberechtigung war damit gerade nicht eingelöst. Die Nichtzugehörigkeit der Frauen zur bürgerlichen Gesellschaft manifestierte sich darin, daß ihnen die politischen Staatsbürgerrechte besonders unnachgiebig vorenthalten blieben. Mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 war Frauen für viele Jahrzehnte Beitritt und Mitarbeit, erst recht Gründung von politischen Vereinen und Parteien verboten worden.52 Auch von dieser Quelle für Elitebildung - als die das aufblühende Vereinswesen wegen seiner oftmals wahrgenommenen Meinungsführerschaft in der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet werden kann - blieben Frauen gesetzlich ausgeschlossen. Städtisches Bürgerrecht als Ausweis bürgerlicher und politischer Autonomie konnten Frauen nur in Ausnahmefällen erwerben; erst 1908 erlaubte das neue Reichsvereinsgesetz Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und Parteien; das Stimmrecht als wesentliches Kennzeichen politischer Gleichberechtigung erlangten die Frauen erst in der Novemberrevolution. Seitdem stellt sich die Kluft zwischen rechtlicher Möglichkeit und tatsächlicher Wahrnehmung dieses Staatsbürgerrechts als Forschungsproblem.53 Erste Forschungen über die Weimarer Republik zeigen, daß Frauen in der Politik der Parlamente und Regierungen weithin unsichtbar blieben. Sie besetzten selten Spitzenpositionen, und dort, wo sie doch eine Spitzenposition einnahmen, wie zum Beispiel die Sozialdemokratin Marie Juchacz als Gründerin der Arbeiterwohlfahrt, verringerte sich die Reputation der politischen Institution: die Arbeiterwohlfahrt war als bloße Fürsorgeeinrichtung gegenüber dem Politikbereich Sozialpolitik nachrangig.54 Es ist ein Zeugnis für die Fremdheit des Gedankens gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und Männern an der Staatsbürgergesellschaft, daß es großer Hartnäckigkeit der Sozialdemokratin Elisabeth Seibert im Parlamentarischen Rat bedurfte, um den Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" in die Verfassung aufzunehmen. Die Anpassung des mit diesem Verfassungsartikel im Widerspruch stehenden BGB zog sich über viele Jahre hin bis zu den Rechtsreformen der sozialliberalen Koalition 1977.55 Seitdem dreht sich die politische Auseinandersetzung, insbesondere
Ute Gerhard unter Mitarbeit von Ulla Wischermann: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 73 f. Hierzu läuft in der Universität Hamburg ein Forschungsprojekt unter Leitung von Barbara Vogel: Geschlechtergeschichte der Politik. Politische Entwürfe von Geschlecht, Nation und Gemeinschaft in politischer Praxis, Staatstheorie und Ikonographie. Susanne Zeller: Volksmütter - mit staatlicher Anerkennung. Frauen im Wohlfahrtswesen der Zwanziger Jahre. Düsseldorf 1987. Karen Hagemann/Jan Kolossa: Gleiche Rechte - Gleiche Pflichten? Der Frauenkampf fur „staatsbürgerliche" Gleichberechtigung. Hamburg 1990, S. 223 ff.
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angestoßen durch Initiativen der neuen Frauenbewegung, um den realen Nachvollzug dieser Verfassungsbestimmung. Eine interessante Nuance in Bezug auf Elitekonzeptionen enthält dabei der Streit um die sogenannte Quote.56 Die Quote wird vielfach abgelehnt, weil sie nicht die Auswahl der Besten gewährleiste, sondern mit der „Quotenfrau" vermeintlich billigen Durchschnitt befördere. Die Quotierung zu Gunsten verbesserter Chancen von Frauen wird demnach verunglimpft als Niveauverlust. Darin steckt das alte Argument aus der Elitendiskussion, Demokratisierung führe zu „Nivellierung". Im Kern wiederholen sich in dieser Argumentation die historischen Auseinandersetzungen um das ,allgemeine Wahlrecht': Damals wurde kritisiert, daß die Stimmen nur gezählt, aber nicht gewichtet würden. Diese die Erfolge der Emanzipationsforderungen eher skeptisch beurteilenden Erkenntnisse sollen nicht die ausschlaggebende Bedeutung von Emanzipationskonzepten für die Frauengeschichte in Frage stellen, sondern im Gegenteil unterstreichen, daß die Frauenforschung auf Emanzipations- und Gleichberechtigungskonzepten basiert. Der Anspruch auf Gleichberechtigung und dessen ausbleibende Erfüllung beherrschen einen großen Teil der Frauenforschung. Die Gegenposition, die theoretisch besonders in der Debatte über .Gleichheit oder Differenz' 57 vertreten wird, bedient sich ebenfalls des Emanzipationsbegriffs - mit einem Konzept, das nicht auf Gleichstellung mit den Männern, gewissermaßen auf Assimilation zielt, sondern Freiheit fur die Eigenart von Frauen fordert. Auch hier bestimmt die Vorstellung der Gleichheit das Konzept; für den Elitebegriff gibt es keine Ansatzpunkte. (b) Vielfältige Impulse für die Frauenforschung kommen aus der Bürgertumsforschung, die seit den achtziger Jahren in der Bundesrepublik einen großen Aufschwung genommen hat. Auf die zentrale Bedeutung des Emanzipationsbegriffs fur die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft wurde bereits hingewiesen, ebenso auf den Ausschluß der Frauen aus dem Entwurf einer Gesellschaft rechtlich freier und gleicher Staatsbürger. Das bürgerliche Frauenbild und das auf der Sphärentrennung basierende bürgerliche Familienmodell sind Ausgangspunkt für frauen- und geschlechtergeschichtliche Studien geworden. Forschungen zur Stellung der Frau in der bürgerlichen Familie haben dann auch zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Frauengeschichte
Inge Wettig-Danielmeier: Die Quote. Eine „Erfolgsstory" auf dem Prüfstand. In: Leif/Legrand/Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland (wie Anm. 5), S. 423428. Ute Gerhard/Mechtild Jansen/Andrea Maihofer/ Pia Schmid/ Irmgard Schultz (Hg ): Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Frankfurt am Main 1990.
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im 19. Jahrhundert nicht ausschließlich unter der Frage nach weiblicher Emanzipation betrieben werden darf: In der Frauenbewegung war nur eine Minderheit von Frauen aktiv; die Mehrheit der Familienfrauen lebte im Konsens mit den ihnen zugewiesenen Aufgaben in Haus und Familie. Diese Aussage bleibt auch dann richtig, wenn darauf hinzuweisen ist, daß ein beträchtlicher Teil der verheirateten Frauen nach der Familienphase im engeren Sinne öffentliche Aktivitäten in vielen Bereichen, auch im Rahmen von Vereinen, ergriffen. Welche Aufgaben innerhalb und außerhalb des engeren Kreises von Haus und Familie die Frauen übernahmen, könnte nicht nur einen Zugang zum Selbstverständnis des Bürgertums wie zur Funktion der bürgerlichen Familie eröffnen, sondern auch Erkenntnisse über ein mögliches Elitebewußtsein vermitteln. Die sozialgeschichtlich ausgerichtete Bürgertumsforschung58 arbeitete nicht mit dem Elitebegriff. Um soziale Differenzierungen zu markieren, benutzte sie eher den Ausdruck Oberschicht. Das gilt namentlich für das große von Jürgen Kocka geleitete Projekt zur Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums im internationalen Vergleich. Doch verdanken die Studien zu Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert in dem von Lothar Gall geleiteten Projekt dem Konzept städtischer Eliten und deren Wandel im 19. Jahrhundert Fragestellungen und Erkenntnisse. Der Zusammenhang von wirtschaftlicher Stärke, sozialem Prestige, kultureller Definitionsmacht und politischem Einfluß auf das Stadtregiment kann mit dem Begriff der Elite oder der Eliten untersucht werden. Bei dieser Aufzählung deutet sich schon an, daß Frauen in den zugrunde gelegten Elitekonzepten nicht mitgedacht werden. Es ist auffallend, daß selbst der Begriff der Familie - zum Beispiel in Galls Werk über die badische Familie Bassermann59 - Frauen marginalisiert: Familie erscheint in Galls großem Werk als Generationenfolge von Vätern und Söhnen.60 Es ist eine interessante Frage, ob nicht die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft ein Eliten- und Führungsproblem impliziert. Der Grundsatz der zu fordernden Mündigkeit als Voraussetzung, um bürgerliche und politische Rechte wahrzunehmen, enthält ein Distinktionskriterium für eine begrenzte Zahl an Partizipationsberechtigten von der großen Masse der (noch) Unmündigen. Der Gedanke, daß politische Partizipation in Form des Stimmrechts am Ende eines langen Bildungsprozesses stehen sollte, war auch in der Frauenbewegung ge-
Siehe dazu den Forschungsbericht von Utz Haltern: Die Gesellschaft der Bürger. In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 100-134. Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989. Karin Hausen: Geschichte als patrilineare Konstruktion und historiographisches Identifikationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall, Das Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989. In: L'Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 8 (1997), S. 101-131.
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läufig. Selbstbewußtes Elitedenken drückt sich sowohl in der Abgrenzung der Bürger ,nach oben', gegen den Adel, mit dem Kampfruf ,Leistungsadel statt Geburtsadel' aus, als auch in der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer virulenter werdenden Abgrenzung ,nach unten', gegen die unterbürgerlichen Schichten in Stadt und Land. Trotz dieses elitären Zuges, der dem Modell der bürgerlichen Gesellschaft anhaftet, ist jedoch festzuhalten, daß intentional dessen Grundidee den Anspruch auf Teilhabe und Einfluß tendenziell für alle Bevölkerungsschichten vorsieht und daß die bürgerlichem Selbstverständnis inhärente Verbindung von Individualismus und Gemeinsinn einen sozialen Imperativ darstellt, der sich an alle Bürger (und Bürgerinnen?) richtet. Die Forderung nach politischer Teilhabe wie auch die Pflicht, dem Gemeinwohl zu dienen, klammern das für Eliten relevante Führungsproblem übrigens weitgehend aus. Autonomie und Selbstbestimmimg des Individuums einerseits und Führung bzw. Herrschaft andererseits gehören unterschiedlichen Ebenen an. Die Vernachlässigung des Führungsproblems ist partiell als Folge der Dichotomie von Gesellschaft und Staat in Deutschland zu erklären, wodurch die politische Führung eine Sache des Staates und der staatlichen Bürokratie war. Die Bürokratie als Elite ist ein wichtiges Thema deutscher Sozial- und Verfassungsgeschichte und war oft ein Argument in der Debatte um den deutschen ,Sonderweg'. Frauen fanden in die Bürokratie erst besonders spät - nämlich erst in der Bundesrepublik - Zutritt, wenn man nicht annimmt, daß die einzelnen Frauen, die es in der Weimarer Republik geschafft hatten (zum Beispiel Gertrud Bäumer und auf Landesebene Emmy Beckmann61), bereits eine Trendwende markieren sollen. Enthält die Forderung nach der Mündigkeit eines Bürgers einerseits einen elitären Anstrich, begründet andererseits die stetige Ausdehnung der Emanzipation die Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Im repräsentativen Verfassungssystem finden mit dem Selektionsprinzip für politische Funktionen Elitevorstellungen Eingang in die politische Kultur. Für demokratische Theorien der Eliteherrschaft sind deshalb die Zugangsoffenheit und die Konkurrenz verschiedener Funktionseliten wichtige Bestimmungsfaktoren. In ihnen wird die Garantie für die Responsivität des politischen Systems auf sozialen Wandel gesehen.62 Im ersten Abschnitt wurde darauf hingewiesen, daß die „Zugangsoffenheit" unreflektiert Qualitäten verlangt, die traditionell Män-
Angelika Schaser: Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908-1933). In: Historische Zeitschrift 163 (1996), S. 641-680; Karen Hagemann: Emmy Beckmann: Hamburgs erste Oberschulrätin. In: Hans-Peter de Lorent/Volker Ulrich (Hg.): „Der Traum von der freien Schule". Schule und Schulpolitik in der Weimarer Republik. Hamburg 1988, S. 342- 350. Einleitung zu Leif/Legrand/Klein (Hg.): Die politische Klasse in Deutschland (wie Anm. 5), S. 10.
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ner mitbringen, und daß die „Konkurrenz" männliche Eigenschaften prämiert, so daß Frauen bisher lediglich als Ausnahmen in diesem demokratischen Ausleseprozeß bestehen können. Neue Erkenntnismöglichkeiten für den Zusammenhang von Frauen und Eliten bietet die Familienforschung, die der Funktion und Stellung der bürgerlichen Hausfrau und Mutter erstmals eigene Aufmerksamkeit widmet. Im bürgerlichen Familienmodell übernimmt die Frau vielfältige Aufgaben; die Sprache des bürgerlichen Geschlechtermodells nennt die Frau und Mutter die „Krone der Schöpfung" - die Metapher spricht ihr also eine Spitzenposition' zu. Untersuchungen zu bürgerlichen Familien - interessanterweise kommen Studien zu Familien im jüdischen Bürgertum zu ähnlichen Ergebnissen wie solche über Familien in christlicher Tradition - betonen die hervorragende Bedeutung der Frauen für den bürgerlichen Lebensstil, die Verinnerlichung von bürgerlichen Tugenden, die Leistungsorientierung - kurz, es seien die Frauen und Mütter diejenigen, die am meisten zur Herausbildung eines kulturellen Ideals von Bürgerlichkeit, in dem sich die heterogenen Sozialgruppen des Bürgertum vereint fanden, beigetragen hätten.63 Diese Untersuchungen sind nicht nur instruktive Beispiele für die Einbeziehung von Frauen in die Geschichte des Bürgertums, sondern erfüllen auch zugleich die Forderung, das Geschlecht als eigene Kategorie in sozialhistorischen Forschungen zu berücksichtigen.64 Sie ermöglichen zugleich Teilantworten auf die Frage, ob die bürgerlichen Familienmütter wegen ihrer großen Rolle in der Erziehung ihrer Söhne und Töchter und damit in ihrer Verantwortung für das anspruchsvolle Konzept der Bürgerlichkeit nicht nur für die zukünftigen männlichen Eliten prägend gewesen sind, sondern womöglich selbst zu einer Elite, die eigens, nämlich geschlechtsspezifisch, definiert werden müßte, gehörten. Diese Frage erhält ihre Relevanz nicht zuletzt aus der neuerdings aufgeworfenen Hypothese, daß gerade das kulturelle Konstrukt der Bürgerlichkeit die Einheit der heterogenen Gruppen des Bürgertums repräsentiere.65 Bürgerlichkeit als Elitenkonzeption würde damit auch in die Hände der bürgerlichen Frau gelegt. Diesem Gedanken nachzugehen, setzt voraus, Elite auch als weiblich zu definieren. In der bürgerlichen Frauenbewegung gibt es, wenn auch ohne den
Gunilla-Friedrike Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 6). Göttingen 1994; Marion A. Kaplan: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich (Studien zur jüdischen Geschichte 3). Hamburg 1997. Joan Scott: Von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte. In: Schissler (Hg ): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel (wie Anm. 39); Gisela Bock: Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven. In: Hausen (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte (wie Anm. 18), S. 24-62. Vgl. z.B. Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 63), S. 149 f.
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Begriff Elite zu bemühen, zahlreiche Ansätze dazu, die sich auf die Idee einer „geistigen Mütterlichkeit" konzentrieren. Gewöhnlich wird in der Forschung in dem Konzept der „geistigen Mütterlichkeit" nur ein Beleg für die Bescheidenheit der Frauenbewegung, für ihre defensive Emanzipationsstrategie gesehen.66 Tatsächlich basiert es auf der Anerkennung der enge Grenzen ziehenden „dreifachen Bestimmung" der Frau und ihres „eigentlichen Berufs", Mutter zu sein. Implizit scheint dieses Konzept auch eine mangelnde Eignung fur die männlichen Aktionsräume im öffentlichen Leben anzuerkennen. Doch schon bei dieser Feststellung ist Vorsicht geboten: Zum einen beanspruchten die Vertreterinnen des Konzepts der „geistigen Mütterlichkeit" Zutritt zu den männlichen Bildungsinstitutionen und zu den Männern vorbehaltenen Berufsfeldern, und zum anderen bestritten sie vehement, daß der öffentliche Raum allein Männern vorbehalten sei. Helene Lange als bedeutendste Vertreterin der sogenannten Gemäßigten in der Frauenbewegung propagierte unermüdlich auf der Grundlage der „geistigen Mütterlichkeit" die „besondere Kulturaufgabe der Frau" in der Gesellschaft sowie im öffentlichen Leben, auch in den politischen Institutionen.67 Die These von der besonderen Kulturaufgabe der Frau stellt zweifellos eine Selbstbeschränkung dar; aber sie widerspricht der geschlechtsspezifischen Sphärentrennung in private und öffentliche Räume und verlangt gleichberechtigte politische Teilhabe von Frauen ausdrücklich als Konsequenz aus der Verschiedenheit der Geschlechter, weil die Mitwirkung von Frauen an öffentlichen Angelegenheiten unverzichtbar für eine gedeihliche Entwicklung des Gemeinwesens sei. In der Formulierung der „besonderen Kulturaufgabe" der Frau ist der Gedanke einer weiblichen Elite enthalten, denn nach der Erwartung Helene Langes und ihrer Mitstreiterinnen würde die politische Mitwirkung von Führungspersönlichkeiten innerhalb der Frauenbewegung wahrgenommen werden. Dieses Denken entspricht dem bürgerlichen Leistungsprinzip, das in der Frauenbewegung unbestritten war. Die Binnenstruktur der Frauenbewegung sowie deren Initiativen - zum Beispiel die Einrichtung von Gymnasialkursen für Mädchen durch Helene Lange oder die Gründung der „Sozialen Frauenschule" durch Alice Salomon68 - zei-
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Bärbel Clemens: „Menschenrechte haben kein Geschlecht!" Zum Politikverständnis der bürgerlichen Frauenbewegung (Frauen in Geschichte und Gesellschaft 2). Pfaffenweiler 1988; Irene Stoehr: „Organisierte Mütterlickeit". Zur Politik der deutschen Frauenbewegung um 1900. In: Hausen (Hg ): Frauen suchen ihre Geschichte (wie Anm. 18), S. 225-253. Barbara Brick: Die Mütter der Nation. Zu Helene Langes Begründung einer .weiblichen Kultur*. In: Ilse Brehmer/Juliane Jacobi-Dittrich/Elke Kleinen/Annette Kuhn (Hg.): „Wissen heißt leben". Zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert (Frauen in der Geschichte 4). Düsseldorf 1983, S. 99-132. Ute Länge-Appel: Von der allgemeinen Kulturaufgabe zur Berufskarriere im Lebenslauf. Eine bildungshistorische Untersuchung zur Professionalisierung der Sozialarbeit (Studien zur Erwachsenenbildung 11). Frankfurt am Main 1993.
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gen durchaus ein Elitebewußtsein. Ungewohnt ist dieser Gedanke allerdings. Denn bisher haben Elitetheorien die Kategorie Geschlecht völlig vernachlässigt, und unter dem unreflektierten Verständnis einer Geschlechtsneutralität von Elite mutet eine separierte weibliche Elite fremdartig an. Aber es sind auch andere Einwände angebracht: Intentional stand die Forderung, Frauen die Erfüllung ihrer besonderen Kulturaufgabe zu ermöglichen, nicht unter dem Aspekt, damit in eine Eliteposition vorzudringen; vielmehr ging es um Gleichberechtigung unter Anerkennung der Andersartigkeit von Frauen. Die wenig reflektierte Bedeutung des Faktors Macht in diesem Gleichberechtigungskonzept macht im Übrigen die Verwendung des Begriffs Elite fragwürdig. Als ein Beispiel ex negativo können die Bestrebungen von Anhängerinnen der NSDAP angeführt werden, die aus ihrer Glorifizierung der Mutterfunktion von Frauen eine Zugehörigkeit zur politischen und gesellschaftlichen Elite ableiteten. Diesem Tenor folgt die von Sophie Rogge-Börner initiierte Denkschrift deutscher Frauen an Adolf Hitler von 1933. Darin war Teilhabe an der Macht gefordert. Die Denkschrift fand nicht nur keine Gnade vor Hitler, sondern der erhoffte Einfluß wandelte sich für die Verfasserin in das Gegenteil: Die von ihr herausgegebene völkische Zeitschrift wurde verboten und ihr ein Zugang zur Macht endgültig verschlossen.69 Ähnliches könnte für das Schicksal der in den ersten Jahren der Weimarer Republik sehr selbstbewußt auftretenden Landfrauenbewegung gesagt werden. Auch sie erhob, unter Berufung auf die gesellschaftlich bedeutende Funktion der Gutsfrau und Bäuerin, einen Anspruch auf Teilhabe an politischer Macht.70 Die konservativen und politisch ausgesprochen rechts stehenden Frauen erlebten, daß von der Familienmutter, so anspruchsvoll auch deren Aufgaben bestimmt wurden, kein Weg in die politische und gesellschaftliche Elite führte.
Fazit • Frauenforschung und Eliteforschung gehören ideologisch und methodisch zwei verschiedenen Lagern an. • Deshalb gibt es bisher wenig oder keine wechselseitigen Bezugnahmen.
Eva-Maria Ziege: Sophie Rogge-Börner - Wegbereiterin der Nazidiktatur und völkische Sektiererin im Abseits. In: Kirsten Heinsohn/Barbara Vogel/Ulrike Weckel (Hg.): Zwischen Karriere und Verfolgung. Frauen im nationalsozialistischen Deutschland (Geschichte und Geschlechter 20). Frankfurt am Main 1997, S. 44-77. Christina Schwarz: Elisabet Böhm und der landwirtschaftliche Hausfrauenverein. Hamburg 1991; Renate Bridenthal: Die Rolle der organisierten Landfrauen bei der konservativen Mobilmachung in der Weimarer Republik. In: Feministische Studien 12 (1994), S. 110-121.
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• Gleichwohl gibt es Anzeichen, daß ein Elitebewußtsein im Selbstverständnis und im Handeln der Protagonistinnen der Frauenbewegung vorhanden war. Allerdings darf diese Feststellung nicht dazu verfuhren, die eigentliche Intention der Frauenbewegung unterzubewerten, die auf Gleichberechtigung und Emanzipation zielte. • Frauen als soziale Gruppe haben bislang keinen Ort in den Elitetheorien. Die Ansatzpunkte, die sich bei einer Interpretation der Forderungen von Seiten der Frauenbewegung finden lassen, schweben deshalb zur Zeit im theoretisch luftleeren Raum. • Aus der Frauenforschung ergibt sich die Erkenntnis, daß Eliten bisher als männliche Konstrukte definiert sind, so daß auch die Konzepte „demokratischer Elitenherrschaft" als ,Männerherrschaft' erforscht werden müssen. • Die Eliteforschung muß das Geschlecht als grundlegende soziale Kategorie erfassen.
Adlige und bürgerliche Frauen vor 1871. Auf dem Weg zur Elite? VON MARITA METZ-BECKER
Zur Eliteforschung hat das Fach Volkskunde vordergründig wenig beizutragen. Der Volkskunde als Kulturwissenschaft ging es eher um die Menschen, die nicht unbedingt zu den .Großen' ihrer Zeit gehörten, da sie in erster Linie die sog. .kleinen Leute' ins Zentrum ihrer Betrachtungen gestellt hat und stellt. Das heißt jedoch nicht, daß allein in der Erforschung des Alltäglichen, jener Geschichte ,νοη unten', die Spezifik volkskundlicher Arbeit zu suchen sei. Als Wissenschaft von der Alltagskultur fragt die Volkskunde selbstverständlich auch nach spezifischen Gruppenkulturen, wie beispielsweise der Hofkultur oder der Bürgerkultur, wie sie um 1800 entstanden ist. Die biographische Erforschung der in verschiedenen Zeiträumen führenden, tonangebenden oder aktiven Schichten und Gruppen ist mithin ebenso ein volkskundliches Thema wie die Arbeiterkulturforschung, Familien- und Kinderforschung oder Frauen- und Geschlechtergeschichte. Was aber - wäre in einem zweiten Schritt zu fragen - hat Frauen- und Geschlechterforschung, ein Teilgebiet unseres Fachs, mit Elitetheorien zu tun? Die Erkenntnisinteressen der beiden Forschungsrichtungen sind nicht nur unterschiedlich, sondern stehen sich diametral gegenüber. Schließlich richtet die Frauen- und Geschlechterforschung ihr Hauptaugenmerk auf Emanzipation, Partizipation, Gleichberechtigung und Demokratisierung. Der Elitebegriff dagegen ist gekoppelt mit Hierarchie, Macht und Einfluß. Führungspositionen wiederum, in denen Macht und Einfluß geltend gemacht werden, sind gemeinhin in unserer Gesellschaft nicht von Frauen besetzt. Insofern scheint Frauen- und Eliteforschung inkompatibel. Daß Frauen trotz weitgehender rechtlicher Gleichstellung in unserer Gesellschaft weiterhin in Führungspositionen unterrepräsentiert sind, hat vielfaltige Ursachen, die mittlerweile eine mehr als 200jährige Geschichte haben. Ein polares Geschlechtermodell1, in der Zeit der Aufklärung entworfen, wies den Vgl. Karin Hausen: „Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben". In: Werner Conze (Hg.): Sozialge-
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Männern ihren Platz im öffentlichen Leben zu und sah den der Frau im häuslichen Drinnen mit ihrer dreifachen Bestimmung zur Hausfrau, Gattin und Mutter. Frauen hatten keine öffentlichen Räume, keine Berufsmöglichkeiten, keine Möglichkeiten politischer Partizipation, kein Wahlrecht, keinen Zugang zur Universität. Bildung und Leistimg avancierten zum männlichen Habitus, während es den Frauen oblag, eine gute Partie zu machen und sich damit über den gesellschaftlichen Stand des Mannes zu definieren und diesen nach außen zu repräsentieren.2 Dennoch treffen wir in der Geschichte immer wieder auf Frauen, die die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen für sich ablehnten und aus dem Schatten der Männer heraustraten. Die Biographien solcher Frauen wissenschaftlich zu untersuchen, ist schon deshalb von besonderer Relevanz, weil sie als Beleg dafür gelten können, daß die vorgeblich „natürlichen Geschlechtseigentümlichkeiten" der Frau kulturelle Konstrukte sind. So war keine Universität besucht zu haben, nicht unbedingt gekoppelt mit Unwissenheit, und nicht zu einer Führungselite zu gehören, bedeutete nicht automatisch, auch nicht aktiv teilgenommen zu haben an gesellschaftlichen Umwälzungen und Neugestaltungen.3 Im folgenden sollen die Biographien dreier Frauen vorgestellt werden, die zu einer Zeit öffentliches Parkett betraten, als Friedrich Schiller sie noch lieber ,drinnen als züchtige Hausfrau' gesehen hätte. Es sind Frauen, die keiner Elite zugehörig waren, wenngleich sie aus dem gehobenen Bürgertum stammten. Sie lebten zu einer Zeit, in der die bürgerliche Frauenbewegung noch nicht auf den Plan getreten war und konnten somit auch an deren Errungenschaften noch nicht partizipieren. Sie bahnten sich Wege, die für das frühe 19. Jahrhundert typisch sind: Sie brillierten in der Salonkultur, der Briefkultur, der Schriftstellerei. Sie avancierten damit zu Vorbildern auch für die nachgeborenen Frauen, denen es gerade daran mangelte. Darüber hinaus setzten sie Impulse und Diskurse in Gang, die noch 200 Jahre später nichts von ihrer kulturellen und gesellschaftspolitischen Brisanz eingebüßt haben. Als die ersten Meldungen aus dem revolutionären Paris 1789 nach Deutschland drangen, schreibt eine junge Frau: „Die heutigen Zeitungen enthalten so ungeheure Dinge, daß ich ganz heiß von ihrer Lektüre geworden bin." Der Sturm auf die Bastille, das Schleifen eines Symbols eher denn eines Bollwerks, da hier
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schichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363-393. Vgl. auch Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. Frankfürt/M./New York 1991. Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann: Frauenleben im 19. Jahrhundert. Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit. München 1983. Vgl. Carola Lipp (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Baden-Baden 1986.
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kaum noch Gefangene in Ketten schmachteten und dem einbrechenden Licht entgegen jubelten, gilt als symbolischer Akt und Auftakt jener Revolution, in der die menschlichen Anstrengungen der großen Emanzipationsbewegung des 18. Jahrhunderts gipfelten, sich aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit" (Kant) zu befreien. Die junge Frau, die von der Lektüre „ganz heiß" und von den Revolutionsereignissen ergriffen war, ist Caroline Schlegel-Schelling, eine der berühmtesten Persönlichkeiten der deutschen Frühromantik. Ihr Salon in Jena sollte eine Zeitlang das intellektuelle gesellige Zentrum deutscher Geistesgeschichte werden: Fichte, die Brüder Schlegel, Schelling, Schleiermacher, Hegel, Novalis, Tieck, Tischbein, Brentano entwickelten an ihrem Teetisch philosophische und literarische Gedanken für eine geistige Revolution in Deutschland, indem sie sich gegen das alte, „das verschimmelte Philisterland" - wie sie es nannten - wandten und mit den Waffen der Kritik, als „Jakobiner der Poesie", antraten.4 Die Französische Revolution machte die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, also die Gleichheit von Mann und Frau, Freiheit der Person und des Gewerbes und damit den Aufstieg des Bürgertums möglich, wobei andererseits nicht übersehen werden darf, daß sich die postulierte Gleichheit in der Realität nur für den Mann auswirkte. An der Wende zum 19. Jahrhundert wurde die Frau auf ein ganz anderes, nämlich das bürgerliche Frauenbild zurechtgestutzt. In Friedrich Schillers Lied von der Glocke (1797) wird dieses Bild klassisch beschrieben: „Der Mann muß hinaus / Ins feindliche Leben, Muß wirken und streben, / Und pflanzen und schaffen, Erlisten, erraffen, / Muß wetten und wagen, Das Glück zu erjagen. / Da strömet herbei die unendliche Gabe, Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Habe, / Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus. Und drinnen waltet / Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, / Und herrschet weise Im häuslichen Kreise / Und lehret dem Mädchen Und wehret dem Knaben / Und reget ohn' Ende Die fleißigen Hände / Und mehrt den Gewinn Mit ordnendem Sinn. / Und füllet mit Schätzen Die duftenden Laden / Und dreht um die schnurrende Spindel den Faden Und sammelt im reinlich geglätteten Schrein / Die schimmernde Wolle, den schneeigten Lein Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer / Und ruhet nimmer".
Eckart Kleßmann: Die Welt muß romantisiert werden ... . In: Städtische Museen Jena (Hg ): Romantikerhaus, Jena 1992, S. 7.
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Hier wird - trotz Aufklärung und Französischer Revolution - ein Frauenbild beschworen, in dem die Frau auf ihre .natürliche Bestimmimg' als Mutter, Eheund Hausfrau festgelegt wird. Mediziner, Pädagogen, Juristen und Philosophen beginnen nun, dieses Geschlechtermodell wissenschaftlich auszuformulieren und damit gesellschaftlich festzulegen. Insbesondere der naturwissenschaftlichen Hybris vermochte nun niemand mehr zu entrinnen, hatte man doch den Geschlechtern ihre sozialen Rollen als ,natürliche' auf den Leib geschrieben.5 Noch heute entbehrt dieses bürgerliche Geschlechtermodell nicht einer gewissen Leitbildfunktion, aller Emanzipationsbemühungen zum Trotz. Mit der Auflösung des ,ganzen Hauses', in dem Wohnen und Arbeiten unter einem Dach vor sich gegangen waren, entstand im Zuge der Industrialisierung die bürgerliche Klein- und Kernfamilie.6 Die vielfältigen und umfassenden Funktionen der einstigen Hausmutter reduzierten sich auf die weit geringeren Pflichten der Nur-Hausfrau, der allerdings nach dem mit der Revolution gebrachten neuen Familienrecht - theoretisch zumindest - der Weg zum emanzipierten Einzelwesen offenstand. Diese Möglichkeit wurde von den Frauen auch zunehmend genutzt, etwa in der neuen Kulturpraxis der Salons. Hier, in diesen geistigen Zentren, wie sie in Berlin, Jena, Weimar, Heidelberg etc. um 1800 entstanden, bildeten geistreiche Frauen wie Henriette Herz, Rahel Varnhagen, Bettina von Arnim, die Herzoginmutter Anna Amalia oder Caroline SchlegelSchelling den Mittelpunkt.7 In diesen Zirkeln erkannte man die intellektuelle Freiheit, die die neue Zeit gebracht hatte und versuchte, sie in den zu Gebote stehenden Möglichkeiten umzusetzen. Die eingangs zitierte Caroline Schlegel-Schelling galt Schiller jedenfalls schlichtweg als „Madame Luzifer", da sie ein Leben nach dem von ihr selbst kreierten Leitspruch wagte: „Wer sicher ist, die Folgen nie zu bejammern, darf tun, was ihm gut dünkt.'" Mit dieser Maxime setzte sie sich tapfer über gesellschaftliche Zwänge hinweg und streifte zum Entsetzen ihrer Zeitgenossen viele weibliche Fesseln ab. Was hatte diese Frau getan, daß man, wie die Frau des Professors Paulus 1797 riet, „das Zimmer ausräuchern müsse, in dem sich die Schlegel aufgehalten"?9 An den Lebensläufen von Caroline Schlegel-Schelling, Sophie Mereau und Bettina Brentano soll im folgenden exemplarisch deutlich gemacht werden, daß
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Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt am Main/New York 1992. Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt am Main 1974. Vgl. Verena von der Heyden-Rynsch: Europäische Salons. München 1992. Erich Schmidt (Hg ): Caroline - Briefe aus der Frühromantik. Erster Band. Leipzig 1913, S. 80. Vgl. Klaus Günzel: Romantikerschicksale. München 1988, S. 99.
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sich um 1800 eine ,neue Weiblichkeit* etablierte, die anders dachte, anders lebte und ein neues Weltbild entwarf. Diese Frauen befreiten sich aus der ihnen aufgezwungenen geistigen Unmündigkeit, und es gelang ihnen, ihre Zeit nachhaltig zu beeinflussen: Caroline Schlegel-Schelling brillierte in der zeitgenössischen Briefkultur wie keine andere, Sophie Mereau ging als erste deutsche Berufsschriftstellerin in die Literaturgeschichte ein, und Bettina Brentano entfaltete politische und soziale Aktivität in einem Ausmaß, daß sie polizeilich überwacht und der Verschwörung angeklagt wurde.
Caroline Schlegel-Schelling (1763-1809) Caroline Michaelis wurde am 2. September 1763 als Tochter des wohlhabenden, international bekannten Orientalisten Johann David Michaelis in Göttingen geboren. Die Professorenfamilie bewohnte eines der prächtigsten Häuser der Stadt und verkehrte ausschließlich in bildungsbürgerlichen Kreisen: Berühmte Gäste wie Lessing, Lichtenberg, Alexander von Humboldt oder Goethe dokumentieren augenfällig, daß man ein ,großes Haus' führte. In diesem, dem Selbstbewußtsein förderlichen Klima entwickelte Caroline früh ihre geistigen und künstlerischen Anlagen und auch die damit zusammenhängenden Ansprüche ans Leben. Daß der Vater fur sie keine Wissenschaftskarriere vorgesehen hatte, nahm sie als selbstverständlich hin. Gemäß dem Geist der Zeit war diese den Brüdern vorbehalten, während es ihr oblag, eine ,gute Partie' zu machen, obgleich Caroline hier anderer Ansicht war: „Ich würde, wenn ich ganz mein eigner Herr wäre, weit lieber gar nicht heiraten, und auf andre Art der Welt zu nutzen suchen."10 Dies allerdings ist in ihren Kreisen undurchführbar. Mit 21 Jahren heiratete sie 1784 den 30jährigen Berg- und Stadtmedicus Johann Franz Wilhelm Böhmer, einen Nachbarssohn, dem sie nach Claustal in den Harz folgte. In rascher Folge kamen drei Kinder zur Welt, von denen zwei bereits in den ersten Lebensjahren starben. Als auch Böhmer 1788 starb, ging Caroline, hochschwanger, zunächst zurück ins Göttinger Elternhaus. Dort hatte man bereits den nächsten Heiratskandidaten fur sie ausgesucht, doch wehrte sie eine neue Eheschließung ab. Schon die Ehe mit Böhmer war eine Ernüchterung gewesen: „Meine Zärtlichkeit für ihn trägt nicht das Gepräge auflodernder Empfindungen"11, schrieb sie ihren Freundinnen. Ihrer Schwester Lotte teilte sie aus
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Eckart Kleßmann. Caroline. München 2 1980, S. 53. Katja Behrens: Frauenbriefe der Romantik. Frankfurt am Main 1981, S. 258.
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Claustal mit: „Ich erwarte nichts mehr von einer rosenfarbnen Zukunft - mein Los ist geworfen."12 In Claustal wurden ihr „Bücher ein Ersatz fur die Welt". Sie las alles, was die Botenfrau aus Göttingen herbeibringen konnte, und beklagte ihr Los am Hochzeitstag „als Jahresfeier des Tages, der mich heut zwischen vier Wände, bei einem geheizten Ofen, wie eine Mistbeetpflanze, die Sonne und Luft nur durch Glas genießt, verbannt".13 - „Wo liegt außer Grönland so viel Schnee?", fragte sie. „Mit Trauer seh' ich den Schnee, die Scheidewand zwischen mir und der Welt."14 Doch diese Scheidewand war nicht nur der Schnee. Sie brauchte die Atmosphäre einer Universitätsstadt, brauchte Geselligkeit und geistigen Austausch. Als sie sich entschlossen hatte, zu ihrem Bruder, dem Medizinprofessor Michaelis, nach Marburg zu gehen, schrieb sie an ihre Freundin Luise Gotter: „Dort kann ich nützlicher und tätiger und freier sein für mich, und was mich eigentlich bestimmt, für die Erziehung meiner Kinder. Sie sind das Einzige, worauf ich sicher rechnen können muß, sie sind meiner Glückseeligkeit nothwendig."15 In Marburg warb August Wilhelm Schlegel um sie, doch auch fur ihn wollte sie ihre Unabhängigkeit nicht preisgeben. „Schlegel und ich! Ich lache, indem ich schreibe! Nein, das ist sicher - aus uns wird nichts"16, ließ sie ihre Schwester wissen. Anfang 1792 ging sie nach Mainz zu ihrer Jugendfreundin Therese Heyne, die hier mit dem berühmten Weltumsegler und späteren Jacobiner Georg Forster verheiratet war. „Ich wage mich mit getrostem Mut dahin, denn eine kleine Neigung habe ich doch zu Unternehmungen, die wie eine Aufgabe aussehen. [...] Außerdem ist Mainz eine Stadt, wo ich unbekannt leben und neben einer gewissen Einsamkeit Vergnügungen des Geistes und der Sinne genießen kann."17 Sie wohnte hier in der Welschnonnengasse, fünf Minuten vom Hause Georg Forsters entfernt, und ernährte sich und ihre Tochter Auguste mit Übersetzungen. Forsters sah sie oft: „Jeden Abend bin ich dort um Thee mit ihnen zu trinken, die interessantesten Zeitungen zu lesen, die seit Anbeginn der Welt erschienen sind - räsonieren zu hören, selbst ein bißchen zu schwatzen Freunde zu sehn usw."1' Forster schrieb damals an Lichtenberg: „Die Witwe Böhmer ist seit Anfang Mai hier und lebt sehr eingezogen und zufrieden, außer
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Ebd., S. 261. Kleßmann: Caroline (wie Anm. 10), S. 56. Ebd., S. 58. Schmidt: Caroline (wie Anm. 8), S. 179. Ebd., S. 191. Kleßmann: Caroline (wie Anm. 10), S. 81 ff. Sigrid Damm (Hg.): Caroline Schlegel-Schelling in ihren Briefen. Darmstadt/Neuwied 2 1981,S. 21.
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unserm Haus kommt sie nicht aus ihrer Wohnung. Es ist ein gescheutes Weib, deren Umgang unsern häuslichen Zirkel bereichert."1® Diesen „häuslichen Zirkel" bildeten freilich hochkarätige Persönlichkeiten. Am 5. November 1792 trat Georg Forster dem Jacobinerclub bei. Er trat neben dem Mediziner Wedekind und dem Publizisten Friedrich Ch. Cotta an der Spitze des Clubs. Die schlecht ausgerüsteten Sansculotten hatten am 20. September 1792 bei Valmy die starke preußische Armee besiegt, waren bis in die linksrheinischen Gebiete vorgedrungen und unter General Custine in Mainz einmarschiert. Goethe schrieb dazu: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen."20 In Mainz fielen die Ideen der Französischen Revolution - vorbereitet durch die Aufklärungsgesellschaften - auf fruchtbaren Boden. Der Adel verließ in Nachtund Nebelaktionen die Stadt, die Jacobiner pflanzten Freiheitsbäume, und Caroline schrieb: „Ich ginge ums Leben nicht von hier - denk nur, wenn ich meinen Enkeln erzähle, wie ich eine Belagerung erlebt habe, wie man einem alten geistlichen Herrn die lange Nase abgeschnitten und die Demokraten sie auf öffentlichem Markt gebraten haben - wir sind doch in einem höchst interessanten politischen Zeitpunkt, und das gibt mir außer den klugen Sachen, die ich abends beim Teetisch höre, gewaltig viel zu denken."21 Forster hatte ihr in seinem intellektuellen Zirkel vor allem die Revolutionsliteratur nahegebracht, ihr Mirabeau und Condorcet zu lesen gegeben, so daß sie sagen konnte: „Gelesen habe ich schon viel, und was mehr ist, viel Gutes."22 Das Statut des Jacobinerclubs sah zwar die Mitgliedschaft von Frauen nicht vor, aber wir dürfen annehmen, daß Caroline bei allen entscheidenden Ereignissen zugegen war, zumal sie sich mit dem Hause Forster im Zentrum des Aufstandes befand. Gerade aus ihrer Unterdrücktheit als Frau begrüßte und unterstützte sie die Ziele der Französischen Revolution, die Veränderungen des .ganzen Menschen' und seiner ethischen Wertvorstellungen. Ihr Enthusiasmus für Mainz brachte ihr später ein Aufenthaltsverbot ihrer Heimatstadt Göttingen und die soziale Ächtung vieler Freunde und Bekannten ein. Bei ihrem Weggang aus dem schon bald von den Preußen belagerten Mainz, den sie bis zuletzt hinauszögerte, geriet sie zusammen mit anderen Clubisten in Gefangenschaft. Sie wurde auf dem Königstein im Taunus eingekerkert und erlebte, wie Gefangene mißhandelt und ohne Prozeß verurteilt wurden. Sie schreibt an Gotter: „Sie scheinen den Aufenthalt in Königsstein fur einen kühlen Sommertraum zu nehmen, und ich habe Tage da erlebt, wo die Schrecken und Angst und Beschwer19 20
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Kleßmann: Caroline (wie Anm. 10), S. 86. Zitiert nach Horst Reber (Hg.): Goethe: „Die Belagerung von Mainz 1793". Ursachen und Auswirkungen. Mainz 1993, S. 7. Damm: Caroline Schlegel-Schelling (wie Anm. 18), S. 114. Ebd., S. 23.
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den eines einzigen hinreichen würden, ein lebhaftes Gemüt zur Raserei zu bringen. [...] Sie sprechen von Formalitäten, die setzen Anklage, Verteidigung, Untersuchung voraus - wo fand dergleichen statt? Räuberformalitäten übt man an uns. [...] Mir müssen sie es wenigstens nicht sagen, die ich 160 Gefangene sah, welche durch deutsche Hände gingen, geplündert, bis auf den Tod geprügelt worden waren."23 Durch solche Erfahrungen mit der Reaktion sah sie deutlich: „Königstein bildet eifrige Freiheitssöhne."24 Doch ihre Gefangenschaft war nicht das einzige Problem: Sie entdeckte im Kerker, daß sie schwanger war. Der Vater des „Kindes der Glut und Nacht" war der französische Jacobiner und Offizier Jean Baptiste Dubeois Crancö, den sie bei Forster kennengelernt hatte. Allem Anschein nach bestand kein Liebesverhältnis zwischen ihnen, und die Schwangerschaft war das Resultat einer einzigen Ballnacht. Die Quellen hierzu sind sehr spärlich, weil Caroline nicht wollte, daß die Sache publik wurde. Die wenigen enthüllenden Briefe kamen sogar erst 1913 (!) an die Öffentlichkeit.25 Ein Bekanntwerden der Schwangerschaft hätte ihr soziales und materielles Ende bedeutet. Man hätte ihr die Tochter Auguste genommen, die Witwenpension gestrichen und sie als ,Franzosenhure' geächtet. So besorgte sie sich Gift, um Auguste diese Schande zu ersparen. Im letzten Moment kam sie durch Bittschriften ihres Bruders Philipp an den König von Preußen frei. Im 6. Monat schwanger reiste sie mit Friedrich Schlegel, der brieflich über alles informiert war, in das abgelegene Städtchen Lucka in der Nähe von Leipzig, um dort unerkannt das Kind zur Welt zu bringen. Sie sah dieses Kind, das bereits nach einem Jahr starb, nie wieder. Vor allem auf Drängen ihrer Mutter willigte Caroline Böhmer dann 1796 in die Ehe mit August Wilhelm Schlegel ein, in erster Linie um sich zu „rehabilitieren". Als ,Professorin Schlegel" zog sie nun nach Jena und bildete dort in den nächsten Jahren den Mittelpunkt des allmählich um sie wachsenden frühromantischen Kreises. Eine intellektuelle Avantgarde, bestehend aus jungen Literaten und Philosophen, diskutierte zum ersten Mal die Stellung der Frau in der Gesellschaft und sah in deren Emanzipation den Grad der politischen Emanzipation überhaupt. Mit diesen kulturrevolutionären Gedanken unterschied sich die Jenaer Gruppe (Brüder Schlegel, Dorothea Veit, Novalis, Tieck, Schelling, Fichte und Schleiermacher) sei«· deutlich von der zunehmend restaurativ werdenden Spätromantik. Für die Frauen der Romantik bedeutete der neue Lebensentwurf eine Befreiung von den gesellschaftlichen Zwängen. Caroline war nicht nur der emotionale Mittelpunkt dieser Gruppe - zeitweise hatte sie mehr als 20
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Ebd., S. 32 ff. Ebd., S. 33. Vgl. Kleßmann: Caroline (wie Anm. 10), S. 115.
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Personen am Mittagstisch sondern gleichzeitig Kritikerin und letzte Instanz, da ohne ihren , Segen' kaum etwas im Athenäum, der gemeinsamen Zeitschrift, erschien. Sie selbst hat außer ihren Briefen, für die sie Berühmtheit erlangte, Rezensionen und Shakespeare-Übersetzungen keine eigenen Werke geschrieben, und doch war sie Zentrum des Kreises, hielt ihn mit ihrer starken Persönlichkeit, ihrer Souveränität zusammen. So entstand ihr berühmter Salon, in dem verkehren zu dürfen, eine Auszeichnung war.26 Im gleichen Ausmaß zog sie sich aber auch Kritik zu. Wegen ihrer spöttischen Bemerkungen zu Schillers Glocke bzw. zu seinem Gedicht Würde der Frauen - sie soll beim Lesen vor Lachen fast vom Stuhl gefallen sein - dämonisierten die Schillers sie zur „Madame Luzifer". Überhaupt schuf ihr die Konsequenz ihrer Lebensführung von vielen Seiten Feinde. So äußerte sich etwa die Würzburger Professorengattin Henriette von Hoven über sie: „Die Thörin! Es wäre zweckmäßiger für ihre Lage, wenn sie wüßte, wie man eine gute Suppe kocht und eine Wasch behandeln muß."27 Zu dem konsequenten Weg ihrer Selbstverwirklichung gehörte auch, daß sie die Jenaer Gruppe auf ihrem Höhepunkt verließ und sich ihre Liebe zu Schelling eingestand. Der junge Philosoph war 1798 nach Jena berufen worden und hatte Caroline sofort imponiert: „Ein Mensch, um Mauem zu durchbrechen", schrieb sie, „er ist als Mensch interessanter als Sie zugeben, eine rechte Umatur, als Mineralie betrachtet, echter Granit."2" Die von der Revolution hervorgerufenen Hoffnungen auf demokratische Veränderungen im eigenen Land hatten zu einer .Gemeinschaft freier Geister' geführt, die man als Modell für eine künftige Gesellschaft begriff und in der Geselligkeit als die Möglichkeit eines freien Umgangs vernünftiger, sich einander bildender Menschen angesehen wurde. Im freien Austausch der Gedanken, die als individuelle Äußerungen in einem gemeinschaftlichen Geist aufgehen sollten, sah man ein Ideal, das mit Begriffen wie Symphilosophieren, Sympoesie oder Symexistieren beschrieben wurde. Den theoretischen Beitrag dazu hatte Friedrich Schleiermacher 1799 mit seiner Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens29 vorgelegt. Das freie Spiel der Gedanken sollte alle Teilnehmer aufregen und belehren. Die gesellige Praxis des Kreises war eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft von Künstlern, Schriftstellern und Wissen-
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Vgl. Hartwig Schultz: Die „Neue Periode des deutschen Geistes". Der Romantikerkreis in Jena. In: Uwe Grüning/Hartwig Schultz/Heinz Härtl: Befreundet mit diesem romantischen Tal. Beiträge zum Romantikerkreis in Jena. Jena 1993, S. 21-49. Schmidt: Caroline (wie Anm. 10). 2. Band, S. 647. Behrens: Frauenbriefe (wie Anm. 11), S. 252. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Günter Meckenstock (Hg ): Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799. Berlin/New York 1984, S. 165-184.
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schaftlern, eine intellektuelle Gemeinschaft, zu der neben der literarischen Produktion auch Sprachstudien, Musik, Gesang, Wanderungen, Schauspielerei und gemeinsame Mahlzeiten gehörten. Ernsthafte Bildungsarbeit wurde mit lockerem Vergnügen verbunden, ästhetischer Genuß mit politischen Diskurs, geistige Tätigkeit mit körperlicher Erholung. Eine dem ganzen Leben verpflichtete Geselligkeit war die Maxime. An Schleiermacher berichtete Dorothea Veit, die spätere Frau Friedrich Schlegels, noch im Januar 1800 von dieser besonderen Wohngemeinschaft: „Ich lebe hier recht vergnügt und werde alle Tage klüger und geschickter. Wer es aber bei diesen und mit diesen Menschen nicht werden wollte, müßte von Stein und Eisen sein. Ein solches ewiges Concert von Witz, Poesie, Kunst und Wissenschaft, wie mich hier umgibt, kann einem die ganze übrige Welt und besonders das, was die übrige Welt Freuden nennt, leicht vergessen machen."30 Die konkrete gesellschaftliche Praxis außerhalb des Zirkels gestaltete sich jedoch zunehmend schwieriger. Auch Fichte, der dem Jenaer Kreis nahestand, wurde angegriffen: „Es ist nicht mein Atheismus, den sie gerichtlich verfolgen", schreibt er, „es ist mein Demokratismus. [...] Ich bin ihnen ein Demokrat, ein Jacobiner, dies ist's."31 Das Lebensmodell der Geselligkeit in dieser vehementen, fast radikalen Ausprägung - im Vergleich zu anderen Zirkeln, wie den Berliner Salons oder den Clubs und Lesegesellschaften der Zeit - führte zwar zu einer ungeheuren Produktivität des Kreises, mußte aber auch einem starken Druck von außen standhalten. So waren insbesondere die Frauen des Kreises das Ziel öffentlicher Angriffe und Verleumdungen. Frauen, die es wagten, mit überlieferten Denkmodellen zu brechen, gleichzeitig das Alltagsleben zu revolutionieren, das aufklärerische Programm also tatsächlich zu leben, konnten sich an keine Vorbilder anlehnen und fanden zunächst noch sehr wenig Nachahmerinnen. Im Gegenteil, ihr Nonkonformismus stieß bei den meisten Zeitgenossen eher auf Unverständnis und forderte zu kritischer Ablehnung heraus. Als Caroline mit Schelling im Jahr 1800 Jena verließ, zerbrach der Kreis endgültig, und das Jenaer Experiment konnte als gescheitert gelten. Es war Caroline auch nicht mehr vergönnt, einen solchen Zirkel ein zweites Mal zu begründen, obgleich sie in München noch darauf hoffte, als sie frohlockte: „Es läßt sich überhaupt dazu an, als würde sich hier ein Sammelplatz bilden, wie Jena war, eine Menge Fäden laufen hier wieder zusammen."31 Doch sie starb bereits 1809 im Alter von nur 46 Jahren. Schelling schrieb in tiefer Trauer an ihre Geschwister: „Es scheint, daß ein solcher Schmerz mit der Zeit eher zu- als
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Zitiert nach Klaus Schwarz: Der Romantische Aufbruch. Die Frühromantiker in Jena. Ein Museumsführer. Jena 1991, S. 3. Ebd., S. 16. Damm: Caroline Schlegel-Scheliing (wie Anm. 18), S. 66.
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abnimmt. In je größere Ferne sie mir tritt, desto lebhafter fühle ich ihren Verlust. Sie war ein eigenes, einziges Wesen, man mußte sie ganz oder gar nicht lieben. Diese Gewalt, das Herz im Mittelpuncte zu treffen, behielt sie bis ans Ende. [...] Wäre sie mir nicht gewesen, was sie war, ich müßte als Mensch sie beweinen, trauern, daß dies Meisterstück der Geister nicht mehr ist, dieses seltne Weib von männlicher Seelengröße, von dem schärfsten Geist mit der Weichheit des weiblichsten, zartesten, liebevollsten Herzens vereinigt. Ο etwas der Art kommt nie wieder!"33
Sophie Mereau (1770-1804) Zu den für ihre Salon- und Briefkultur bekanntgewordenen Frauen gehört auch Sophie Mereau, eine Zeitgenossin Caroline Schlegel-Schellings. Sophie Mereau war an der Inthronisierung einer eigenständigen weiblichen literarischen Kultur in Deutschland maßgeblich mitbeteiligt und gilt als erste Berufsschriftstellerin, die sich durch eigene Arbeit ernährte.34 Auch sie war ein ,Kind der nachrevolutionären Zeit', eine Frau, die sich Gehör verschaffen und die neuen Wertvorstellungen diskutieren und erproben wollte. Ebenso wie Caroline SchlegelSchelling ließ sie sich scheiden und nahm fur sich das Recht auf selbständige Wahl des Ehepartners in Anspruch, nicht mehr länger gesellschaftlicher Etikette gehorchend, sondern einzig und allein einem universalen Glücksanspruch verpflichtet. „Ursprilnglichkeit, Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit" waren die Forderungen, die die Liebesheirat von Gleichgesinnten beinhalteten, und viele Frauen handelten danach: Sophie Mereau trennte sich von ihrem Mann und heiratete Clemens Brentano; Caroline Schlegel heiratete Schelling nach der Scheidung von August Wilhelm; Dorothea Veit ließ sich protestantisch taufen, verließ nach 20jähriger Ehe den ungeliebten Mann und wurde 1804 die Frau von Friedrich Schlegel. In Friedrich Schlegels Roman Lucinde, in dem sich seine Beziehung zu Dorothea spiegelt, ist diese neue Geschlechterbeziehung dargestellt, in der die Frau als gleichberechtigte Partnerin hervortritt. Nicht ohne Grund heirateten die Romantiker gebildete, wesentlich ältere und erfahrenere Frauen: Schelling die 13 Jahre ältere Caroline, Brentano die acht Jahre ältere Sophie und Friedrich Schlegel die neun Jahre ältere Dorothea. Sie begriffen die Frau nicht nur als Geliebte oder Ehefrau, sondern vor allem als geistige Partnerin. Dies barg freilich auch die Gefahr, daß die Männer sich ihren Frauen unterlegen fühlten, wie etwa Clemens Brentano, den es - so in einem
Schmidt: Caroline (wie Anm. 8), S. 577 ff. Vgl. Dagmar von Gersdorff: Dich zu lieben kann ich nicht verlernen. Das Leben der Sophie Brentano-Mereau. Frankfurt am Main 1984, S. 12 ff.
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Brief an Achim von Arnim - immer schmerzte, etwas Gedrucktes von seiner Frau zu sehen.35 Das Leben der Sophie Mereau - und hierbei vor allem die wenigen Jahre ihres Zusammenseins mit Clemens Brentano - beleuchtet prototypisch eine ganze Bandbreite männlicher und weiblicher Lebenszusammenhänge in der sozialen Schicht des Bildungsbürgertums der Zeit nach der Französischen Revolution: Konformismus und Nonkonformismus mit der weiblichen Rolle, soziale Abhängigkeiten und patriarchate Zwänge und nicht zuletzt die desillusionierende Unentrinnbarkeit aus den zählebigen gesellschaftlichen Mustern, die häufig genug zur Verbitterung und Resignation fähren konnte. Wer war Sophie Mereau-Brentano? Wie lebte sie, welche Hoffnungen hegte sie in jener brisanten Epoche und inwieweit ließen sich ihre alternativen Vorstellungen tatsächlich realisieren? Beseelt von dem Wunsch, die durch die Französische Revolution geöffneten Freiheitstore zu durchschreiten, stieß sie bald an gesellschaftliche Grenzen, die ihr in ihrem Fall vor allem durch die Ehe mit Clemens Brentano gesetzt wurden. Sophie Mereau wurde am 28. März 1770 als Tochter des Steuerbeamten Gotthelf Schubart in Altenburg/Sachsen geboren. Sie erhielt gemeinsam mit ihrer Schwester Jette eine vorbildliche Ausbildung und zeigte früh große dichterische Begabung. 1793 heiratete sie den Juraprofessor Carl Mereau und ging mit ihm nach Jena. Die Ehe Schloß sie halbherzig und aufgrund äußeren Drucks. Mit ihren 23 Jahren galt sie bereits als ,spätes Mädchen', und die Möglichkeit, unverheiratet zu bleiben, war für Frauen nur um den Preis des sozialen Abstiegs denkbar. Ihre einzige Schwester, die allein blieb und sich mit Gelegenheitsdichtungen nur mühsam vorwärts brachte, lebte ständig am Rande des Existenzminimums und wurde von Sophie mehr als einmal finanziell unterstützt. In Jena versammelte Sophie Mereau die .geistige Elite' der Stadt um sich: Herder, Fichte, Goethe, Schiller, Schlegel, Schelling, Hölderlin, Jean Paul sowie den Verleger Frommann, den Physiker Ritter, den Kanzler von Müller, den Arzt Hufeland u.v.a. Sie war als überaus gebildete und charmante Frau bereits eine berühmte Erscheinung und wurde mit 23 Jahren „das Wahrzeichen Jenas" genannt.36 Ein Zeitgenosse beschreibt sie so: „Eine liebliche Erscheinung in jenen Zusammenkünften war die Professorin Mereau, eine reizende, kleine Gestalt, zart bis zum Winzigen, voll Grazie und Gefühl. Beides an einen rohen Gatten gekettet und verschwendet. [...] Damals war sie von allem, was
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Vgl. Sigrid Weigel: Sophie Mereau. In: Hans Jürgen Schultz (Hg.): Frauen. Porträts aus zwei Jahrhunderten. Stuttgart s 1987, S. 20-32, hier 31. Vgl. zum Bild der Frau in der Frühromantik: Hartwig Schultz (Hg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zur Theorie und Geschichte des Salons. Berlin/New York 1997. Vgl. von Gersdorff: Dich zu lieben (wie Anm. 34), S. 12.
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Sinn und Geschmack besaß, hoch gefeiert; wo sie erschien, drängte man sich um sie und fast um sie allein, ein dichter Schwann von Bewunderern, die nach einem Wort, einem Lächeln von ihr haschten, ringsumher schlossen noch die Gaffer einen undurchdringlichen Kreis."37 Die geistvolle und offensichtlich schöne Frau avancierte zur anerkannten Dichterin und war der umworbene Mittelpunkt der Jenaer intellektuell-literarischen Zirkel. Schon seit 1791 veröffentlichte sie in Schillers Thalia Gedichte. Auch Lyrik, Prosabeiträge und Übersetzungen erschienen u.a. in Schillers Hören (1795-1799) und Musenalmanachen (1796-1799). 1801 gab sie die eigene Zeitschrift Kalathiskos heraus. Ihre Romane Das Blüthenalter der Empfindung (1794) und Amanda und Eduard (1803) sowie das Versepos Seraphine (1802) tragen z.T. autobiographische Züge. Sie übersetzte spanische und italienische Novellen und wurde berühmt mit der von von Arnim „meisterlich" genannten Romanübersetzung Fiametta von Boccaccio (1806)." Neben ihre reiche Begabung für schriftstellerische Tätigkeit trat ein weiteres Arbeitsmotiv: Ihre Sehnsucht nach Unabhängigkeit von ihrem Mann und der Wunsch nach Selbstverwirklichung, den sie mit dem Wort „Selbstbestandheit" umschrieb. Sie nahm als einzige Frau an Fichtes Vorlesungen in Philosophie teil und erregte damit Aufsehen: „Eine von unsern Professorinnen [...], die Madame Mereau, macht Gedichte für den Schillerschen Musen-Almanach und studiert Kant und Fichte!"39, ereiferte sich 1796 der Philosophiestudent Herbart. Bis Frauen nämlich offiziell Zugang zur Universität hatten, vergingen noch mehr als hundert Jahre, so daß sich für Sophie Mereau auch keine Möglichkeit zu einem akademischen Abschluß ihrer Studien bot. Dabei eilte Jena der Ruf einer „Stapelstadt des Wissens" voraus. Die Epoche war so glänzend, schreibt Peter Brückner, „wie sie kaum jemals eine deutsche Universität erlebt hat. Vom Sommersemester 1794 bis zum Wintersemester 1807 lehren in Jena - teils gleichzeitig, teils aufeinander folgend Fichte, Schelling und Hegel".40 Sophie Mereau begriff nach ihrer Scheidung im Jahr 1800 die literarische Arbeit als Broterwerb. Schon 1796 wurde sie in einer Zeitschrift mit Claudius, Bürger, Goethe und Herder zu den beliebtesten deutschen Dichtern gezählt. Sie trat in ihren Werken für die weibliche Emanzipation ein und packte selbst so heiße Eisen wie die sexuelle Befreiung der Frau an. Das persönliche Glück ging ihr über die gesellschaftliche Anerkennung, was in ihren Romanen Amanda und Eduard und Das Blüthenalter der Empfindung sehr deutlich wird. Allerdings
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Gustav Poel (Hg.): Johann Georg Rist: Lebenserinnerungen. Teil 1. Hamburg 1968, S. 67 f. Vgl. von Gersdorff: Dich zu lieben (wie Anm. 34), S. 373. Zitiert nach: ebd., S. 61. Peter Brückner: „... bewahre uns Gott in Deutschland vor irgendeiner Revolution!". Berlin 1975, S. 9.
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ist damit ein grundlegender Konflikt von Frauen nicht nur ihrer Zeit benannt, die ihre Vorstellungen von weiblicher Emanzipation und Selbstverwirklichung auch in ihrem eigenen Leben realisieren wollten. Immer wieder stießen Frauen dabei auf das männliche Unvermögen, sie als Geliebte und geistige Partnerinnen in gleicher Weise akzeptieren zu können. Einige lösten dieses Problem durch Liebesverzicht, andere unterwarfen sich sukzessive und unmerklich dem Partner. Der schwierigste Weg war der dritte, nämlich der ständige und häufig zermürbende Kampf um dieses Problem, den auch Sophie Mereau sich aufgeladen hatte. Ihre Ehe mit Clemens Brentano, die sie drei Jahre nach der Scheidung eingegangen war, nicht aus freien Stücken, sondern durch eine ungewollte Schwangerschaft erzwungen, war von diesem Konflikt bestimmt. Ungleich berühmter als ihr Mann, der acht Jahre jünger war und zu diesem Zeitpunkt noch kaum etwas veröffentlicht hatte, vermochte dieser ihre Erfolge nicht auszuhalten und machte Sophie und sich das Leben schwer.41 Die Ehe mit Brentano sei Himmel und Hölle zugleich, schrieb sie kurz nach der Verheiratung an ihre Freundin, die Dichterin Charlotte von Ahlefeld, aber die Hölle sei vorherrschend.42 Auch nahestehende Freunde bemerkten eheliche Konflikte, so daß Friedrich Creuzer, Altphilologe in Heidelberg und in den tragischen Tod der Günderode verstrickt, über Sophie schrieb: ,3ei der Freudlosigkeit ihres Lebens, das Clemens so oft trübt - oft mit recht raffinierten Künsten - muß man sie wirklich deswegen bedauern, wiewohl ihr Stolz nie ein Geständnis der Art erlaubt. Es ist ordentlich zum Lachen, wie derselbe Clemens manchmal dann wieder seine Frau hochpreist, ja vergöttert. Nebenbei wann sie nicht dabei und dessen nicht froh werden kann."43 Vor allem Sophies Freiheitsbedürfhis ängstigte Brentano, wenn sie ihm etwa 1803 brieflich mitteilt: „Ich liebe Dich, ich sehne mich auch herzlich nach Deiner Umarmung, doch will ich Dir nicht heucheln, es tut mir wohl, allein zu sein!"44 Er dagegen hatte ihr noch vor der Eheschließung nach Weimar geschrieben: „Nur durch Dich, ο geliebtes, kindisch geliebtes Weib, will, kann ich glücklich sein. - Gelt, liebes Kind, Du reitest nicht mehr, Du schminkst Dich nie wieder, mich lieben, mich beglücken, das soll Deine einzige Lust sein."45 Clemens Brentano machte Sophie und sich selbst zum Opfer seines gespaltenen Frauenbildes. Sophie Mereau sah die Ausweglosigkeit dieses Kampfes, indem sie in ihrem Tagebuch von einer „Ermüdung der Seele, von der schweren Vgl. dazu den von Heinz Amelung herausgegebenen Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau. Potsdam 1939. Vgl. ebd., S. 24. Zitiert nach: von Gersdorff: Dich zu lieben (wie Anm. 34), S. 362. Amelung: Briefwechsel (wie Anm. 41), S. 319. Ebd., S. 156 ff.
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und traurigen Anstrengung, die sie erlitten"46, sprach. Sie ertrug in der dreijährigen Ehe mit Brentano zusätzlich den Tod zweier ihrer Kinder im Säuglingsalter und eine Fehlgeburt. Bei der Geburt ihres fünften Kindes, des dritten mit Brentano, starb sie in Heidelberg - gerade 36 Jahre alt.
Bettina Brentano (1785-1859) Vor dem Hintergrund dieser tragischen Schicksale mutet es fast unwirklich an, daß es dennoch im frühen 19. Jahrhundert einer Frau glückte, über viele Schranken hinweg ein selbstbestimmtes Leben zu fuhren, individuelles Glück zu erfahren und gleichzeitig am öffentlich-politischen Diskurs der Zeit maßgeblich mitzuwirken: Diese Frau ist Bettina Brentano, verheiratete von Arnim. Ihr biographischer Werdegang ist vielfach beleuchtet und in zahlreichen Abhandlungen dargestellt worden. Dennoch soll hier nicht darauf verzichtet werden, auf diese bedeutende Persönlichkeit einzugehen, da gerade an ihr deutlich wird, welche Gratwanderung Frauen abverlangt wurde und wird, wenn sie Ehe und Familie mit beruflicher Selbstverwirklichung und gesellschaftspolitischem Engagement verknüpfen wollten. Bettina Brentano - wer assoziiert da nicht jenes romantische Zauberbild eines scheinbar alterslosen Wesens, koboldartig, unbezähmbar, eine romantische Schwärmerin, über die Caroline Schlegel-Schelling schrieb, sie sei eine, die „sich auf den Kopf stellt, um witzig zu sein, nicht ohne Geist, tout au contraire."47 „Unter dem Tisch", fährt sie fort, sei sie „öfter zu finden wie drauf, auf einem Stuhl niemals", und, „Du wirst neugierig sein, zu wissen", schreibt sie an Pauline Gotter, „ob sie dabei hübsch und jung ist, und da ist wieder drollicht, daß sie weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich, weder wie ein Männlein noch wie ein Fräulein aussieht."4' Hier ist die Rede von der jungen Bettina, deren weitere Metamorphosen die bereits 1809 verstorbene Caroline nicht mehr miterleben konnte. Denn im Grunde genommen gab es drei Bettinen: Jenes schwärmerische Geschöpf, das sich am liebsten in ein Kunstprodukt verwandelt hätte, eine zweite Mignon sozusagen, dann die Ehefrau von Arnims, mit einem gewöhnlichen Frauenalltag, der Mühsal von sieben Schwangerschaften und der Erziehung der Kinder, die ihr so ziemlich allein oblag, da sie das Leben in ihrer Berliner Stadtwohnung bevorzugte, während sich von Arnim einen Großteil des Jahres auf seinem Landgut in Wiepersdorf aufhielt. Und dann gab es die dritte Bettine, die nach dem frühen Tod ihres Mannes (1831) zu schreiben begann
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Weigel: Sophie Mereau (wie Anm. 35), S. 31. Behrens: Frauenbriefe (wie Anm. 11), S. 64. Ebd., S. 326.
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und sich leidenschaftlich mit der sozialen Frage befaßte, sich mit Unerschrokkenheit und beispiellosem Engagement für Benachteiligte und politisch Verfolgte einsetzte, wie etwa fur die ,Göttinger Sieben' und den badischen Revolutionär Kinkel, der in Berlin zum Tode verurteilt worden war und mit Bettinas Hilfe freikam. Mit ihren Königsbüchern und dem Armenbuch griff sie soziale Mißstände auf, so daß man sie gar der Urheberschaft des Schlesischen Weberaufstands bezichtigte. Bettina gehörte zu dem Personenkreis, der polizeilich überwacht und dessen Briefe erbrochen wurden. Doch sie ließ sich nicht beirren, griff weiterhin die versteinerten, restaurativen Verhältnisse in Preußen an, unterhielt in ihrer Wohnung in Berlin einen Salon für unabhängige Geister, scherte sich nicht um Bespitzelung, Zensur und Observation, kümmerte sich um Cholerakranke ebenso wie um die Armen im Vogtland vor den Toren der Stadt.49 Diese dritte, die .politische' Bettina, betrat ein für Frauen bis dahin völlig unzugängliches Terrain. Als reife Frau begriff sie ihre literarische Arbeit nicht mehr als romantische Schwärmerei, sondern als zutiefst demokratischen und kooperativen Prozeß. Welche Entwicklungen nahm das Leben dieser Frau, daß sie gesellschaftspolitische Verantwortung empfand und so unbequeme Themen aufgriff, daß man sie gar - im Zusammenhang mit dem Schlesischen Weberaufstand - zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilte? 1785 wurde Elisabeth Brentano - Bettine und Bettina sind ihre Rufhamen als Tochter eines reichen Kaufmanns in Frankfurt am Main geboren. Die Familie väterlicherseits stammte aus Tremezzo am Comer See, die Mutter Maximiliane, Brentanos zweite Frau, war die Tochter der Schriftstellerin Sophie La Roche. Doch bereits mit acht Jahren verlor Bettina ihre Mutter, die in der Ehe mit Brentano zwölf Kinder zur Welt brachte und bei der letzten Geburt 37jährig starb. Daraufhin heiratete der Vater ein drittes Mal - er zeugte in drei Ehen 21 Kinder - und gab die vier Schwestern Gunda, Lulu, Meline und Bettina in ein Kloster nach Fritzlar, in dem die Ursulinen insgesamt 24 Mädchen aus wohlhabenden Familien erzogen. Nach dem Tod des Vaters 1797 wurden die vier Töchter wieder nach Frankfurt am Main geholt, und Bettina kam zur Großmutter La Roche nach Offenbach, wo sie in einem sehr fortschrittlichen, intellektuellen Milieu heranwuchs, im Salon der Großmutter die interessantesten Zeitgenossen kennenlernte und zum ersten Mal so etwas wie Nestwärme erführ. Hier blieb sie bis zu ihrem 17. Lebensjahr, danach lebte sie abwechselnd in den Haushalten der älteren Geschwister in Marburg, Landshut und später in München. Oder sie hielt sich im Kronstättischen Stift bei ihrer Freundin Caroline von Günderode auf, mit der sie auch eine umfangreiche Korrespondenz führte, 49
Vgl. Christa Wolf: Bettina von Arnim. In: Schultz (Hg ): Frauen (wie Anm. 35), S. 4859.
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die sie viele Jahre später in Form eines Briefromanes herausgab50 Bettina heiratete für damalige Verhältnisse spät, erst mit 26 Jahren, .zigeunerte' bis dahin durch die Welt und mochte ihre Unabhängigkeit auch gar nicht preisgeben. Aus Marburg beispielsweise schrieb sie: „Die Frankfurter haben mir geschrieben und haben mich schon ausgepelzt mit allerlei verwunderlichen Prophezeiungen. - Erstens: Ich soll mir häusliche Tugenden angewöhnen. Zweitens: Wo ich einen Mann hernehmen will, wenn ich Hebräisch lern? - So was ekelt einen Mann. [...] An einen solchen Herd wird sich keiner niederlassen wollen, und eine Schüssel Mathematik, von einem alten schwarzen Juden asseisonniert, sei auch nicht appetitlich. [...]- Man spotte meiner allgemein, daß die Lullu eher geheiratet habe, und dann meint er ganz gutherzig, daß, wenn ich ebensoviel häusliche Tugenden geäußert hätte, ich gewiß auch einen Mann bekommen haben würde. Ich schrieb zurück, man soll nur immer mitspotten, denn es sei jetzt nicht mehr Zeit, mich zu ändern; und der ganz Jud [ihr Hebräischlehrer - M. M.-B.] sei nur in meine Tagesordnung einrangiert, um mich vor dem Mottenfraß der Häuslichkeit zu bewahren, und ich hätt gemerkt, daß man in einer glücklichen Häuslichkeit sonntags immer die Dachziegel gegenüber von Nachbar zähle; was mir so fürchterliche Langeweile mache, daß ich lieber nicht heiraten will."51 Angst vor dem „Mottenfraß der Häuslichkeit" - sie hatte längst begriffen und dazu brauchte sie sich nur in nächster Nähe umzusehen - was die Frauen jener Zeit in der Regel erwartete. Sich dem so lange wie möglich, u.U. gar völlig zu entziehen, schien ihr erstrebenswert. Und so inszenierte sie sich als die Unberechenbare, als Irrwisch, als Bürgerschreck: Exaltation als Lebenskunst gewissermaßen. Der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott nennt diesen Habitus „artistisches Ausreizen von Rollen im Leben"", das ihr ein größtmögliches Maß an Freiheit im Denken und Handeln eingebracht habe. Sie ließ sich in keine Raster pressen, auch nicht bei der Wahl des Ehegatten. Anders als bei den meisten ihrer Zeitgenossinnen wurde sie nicht von den Eltern oder Verwandten unter die Haube gebracht, sondern wählte selbst - und zwar den Dichter Achim von Arnim, den sie 1802 durch ihren Bruder Clemens kennengelernt hatte. Sie folgte von Arnim auf dessen Gut Wiepersdorf bei Berlin, wo nun die anstrengendste Zeit ihres Lebens begann: 1812 kam ihr Sohn Freimund zur Welt, 1813 Siegmund, 1815 Friedmund, 1817 Kühnemund; dann folgten die
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Bettina von Arnim: Die Günderode. Leipzig 1983 (Erstausgabe 1839). Zu ihrer Marburger Zeit vgl. auch: Marita Metz-Becker: Marburg um 1800. Eine kleine Kulturgeschichte zu Fuß. Marburg 1992, S. 45-56. Ebd., S. 453. Gert Mattenklott: Romantische Frauenkultur. Bettina von Arnim zum Beispiel. In: Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann (Hg): Schreibende Frauen. Frankfurt am Main 1989, S. 123-143, hier 128.
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Töchter Maximiliane (1818), Armgard (1821) und Gisela (1827). Aus dem Briefwechsel mit ihrem Mann geht hervor, wie schwer ihr dieses Leben ist. Sie leidet an Schwangerschaftsbeschwerden, an Erschöpfung, Schlafmangel, Erziehungssorgen und auch an Eheproblemen. Geheiratet hatte sie einen Dichter, und leben mußte sie mit dem Landwirt, den sie immer wieder davon überzeugen wollte, doch seiner eigentlichen Berufung nachzukommen und sich auf dem Gut entbehrlich zu machen: „Wenn ich nur einmal Dein Gewissen erwecken könnte und Dir fühlbar machen, was Du Dir schuldig bist, was Du an Dir selbst versäumst, bloß weil Du ängstlich bist und nicht anderen Geschäfte überläßt, an denen doch Deine Zeit Verschwendung ist. Du willst sparsam sein und verschwendest dabei Dein Bestes."53 Doch Achim von Arnim zog nicht in die Stadt und so lebte das Ehepaar die meiste Zeit getrennt.54 Als Achim von Arnim 1831 an einem plötzlichen Nervenfieber starb, zeigte sich die dritte Bettina, die ihr Leben im Griff hatte und sich der Forderung des Alltags stellte. Sie kümmerte sich um die Hinterlassenschaft ihres Mannes, setzte die erste Ausgabe seiner Werke in Gang. Insgesamt besorgte sie zwischen 1839 und 1857 in drei Ausgaben zu je rund 20 Bänden die Gesamtausgaben der Arnimschen Werke. Ihr politisches und schriftstellerisches Engagement, das in einer Zeit einsetzte, in der in Deutschland jede öffentliche und politische Diskussion unterdrückt wurde, zeigte einmal mehr ihre Unerschrockenheit und den Mut, genau die Rolle einzunehmen, die ihr gefiel, ohne nach den Folgen zu fragen. Christa Wölf meint dazu, daß Bettina den Vorteil zu nutzen gewußt habe, „der in dem Nachteil, Frau zu sein, in Männergesellschaften zeitweilig verborgen ist - falls die Betreffende und Betroffene es aushält, für leicht verrückt zu gelten. Darin hat sie sich beizeiten geübt. .Närrisch' hat sie sich selbst oft genannt."55 Diesen Spielraum nutzte sie nun zu einer soziologischen Analyse der Lebensbedingungen des vierten Standes am Beispiel der schlesischen Weber. Als kurz danach der Aufstand der Weber bekannt wurde, beschuldigte der Innen- und Zensurminister 1844 Bettina als Ursache des Aufstandes. Sie konnte das Armenbuch nicht veröffentlichen. Die Grenze war erreicht und der Staat zeigte ihr seine Instrumente: Wegen angeblicher Steuerhinterziehung wurde sie zu zwei Monaten Gefängnis - der Höchststrafe für Leute von Stand - verurteilt. Zwar erreichte ihr Schwager Savigny, daß das Urteil nicht vollstreckt wurde, doch Bettina hatte begriffen. Was blieb, war die innere Emigration. Sie kommentierte, plädierte und agitierte nun vorerst in der Halböffentlichkeit des Salons, den sie bis zu ihrem Tod 1859 führte. Behrens: Frauenbriefe (wie Anm. 11), S. 128. Vgl. zur komplizierten Ehe der beiden: Konstanze Bäumer/Hartwig Schultz: Bettina von Arnim (Sammlung Metzler 255). Stuttgart/Weimar 1995 sowie Dagmar von Gersdorff: Bettina und Actum von Arnim. Eine fast romantische Ehe. Berlin 1997. Wolf: Bettina von Arnim (wie Anm. 49), S. 54.
Adlige und bürgerliche Frauen vor 1871. Auf dem Weg zur Elite?
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Im Gegensatz zu ihrer Freundin Caroline von Günderode, die an ihren Lebensumständen scheiterte und den Freitod wählte, besaß Bettina Brentano das große Talent, sich mit Gegebenem zu arrangieren, ohne sich anzupassen und ohne zu resignieren. Nie verlor sie die Forderungen des Tages aus den Augen, so launisch und grillenhaft sie sich auch immer darstellen mochte. Und der Todessehnsucht der Günderode hielt sie die Sehnsucht nach Leben entgegen, wenn sie z.B. sagte: „Wer resigniert und sich zusammennimmt, der beweist nur, daß er mehr tot als lebendig ist. Ich bin aber nicht tot."56 *
Um 1800 und darüber hinaus bildeten die geselligen Zirkel, die Salons, das Forum all der Frauen, die intellektuelle Ansprüche, aber keine öffentlichen Räume hatten. Wenn selbst die Statuten des auf Freiheit und Gleichheit pochenden Jacobinerclubs die Aufnahme von Frauen nicht vorsahen, mußten sie sich diesen Raum selbst schaffen, eine Enklave, in der sie eigenen Geist und eigene künstlerische Talente herausbilden und nach außen vertreten konnten. Damit, so die Historikerin von der Heyden-Rynsch, war der Salon zugleich „Schauplatz einer Generalprobe der Emanzipation der Frau".57 Auch den hier vorgestellten Frauen war er Experimentierfeld und Handlungsbühne zugleich. Sie waren Frauen im Aufbruch zur Zeit der Romantik, die nicht mehr aristokratisch und noch nicht bürgerlich war. Die traditionellen Hierarchien und Wertvorstellungen des Anden regime verloren immer mehr an Geltung und machten neuen, anderen Gesellschaftsformen Platz. Dieser sich allmählich und äußerst zaghaft vollziehende Prozeß ergriff nicht sofort breite Bevölkerungsschichten, sondern zunächst eine intellektuelle Avantgarde, in der sich auch Frauen ihren Platz erobert hatten. Gleichwohl stellten sie keine Eliten dar, sondern fochten einen hartnäckigen Kampf gegen überkommene Moralvorstellungen, politische Rückwärtsgewandtheit und patriarchate Bevormundung, der vor allem im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis Auswirkungen zeigte: Fortan wurde die Geschichte auch von Frauen geschrieben.
Katja Behrens: „Wer nicht zweifelt, der denkt nicht". Bettina von Arnim. In: Hans Sarkowicz (Hg.): Die großen Frankfurter. Frankfurt am Main/Leipzig 2 1994, S. 119-125, hier 125. Vgl. von der Heyden-Rynsch: Europäische Salons (wie Anm. 7), S. 16-19.
Die bürgerliche Frauenbewegung im Kaiserreich - eine Elite? VON CHRISTINA KLAUSMANN
Bürgerliche Frauenbewegung, Elite, wilhelminisches Kaiserreich - läßt sich hier überhaupt eine Verbindung herstellen, und wenn ja, wie könnte sie aussehen? Auf den ersten Blick scheint es sich um etwas völlig Unvereinbares zu handeln, denn der Eintrag im Lexikon belehrt: ,„Elite' bedeutet soviel wie .Auslese', eine Minderheit, die jene Personen umfaßt, die in einzelnen Bereichen, wie z.B. Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport, eine herausragende Stellung einnehmen, wobei Elite nicht mit der jeweiligen Oberschicht einer Gesellschaft gleichbedeutend ist."1 Dieser Definition zufolge erübrigte es sich, nach einer weiblichen Elite im Kaiserreich zu fragen, oder besser: Die Frage wäre schnell negativ beantwortet. Es mangelte den Frauen schon an den Grundvoraussetzungen, um Spitzenpositionen in Gesellschaft und Staat einnehmen zu können. Ohne staatsbürgerliche Rechte waren sie politisch unmündig, hatten sie gemäß dem BGB einen ehe- und familienrechtlich untergeordneten Status, wurden sie bis 1908 nur im Einzelfall zu den Institutionen der höheren Bildung wie Universitäten und Akademien zugelassen und in der Berufswahl erheblich eingeschränkt. Sie konnten also weder die Qualifikationen erwerben noch die Leistungen erbringen, um auch nur annähernd in die Kreise jener Personen zu gelangen, aus denen sich die Führungskräfte in Politik, Wirtschaft und Kultur rekrutierten. Der Begriff der Elite impliziert die Ausübung von gesellschaftlicher und/oder politischer Macht und ist an den Maßstäben von männlichen Lebens-, Beziehungs- und Karrieremustern orientiert. In dieser Hinsicht können Frauen aufgrund ihrer untergeordneten Stellung nicht ins Blickfeld geraten. Auch die sogenannten Ausnahmefrauen bestätigen die Regel. Es waren individuelle ,Karrieren' auf ungesicherter Grundlage, weit entfernt von der Möglichkeit, Macht und Einfluß auszuüben. So praktizierten die ersten, noch im Ausland ausgebildeten Ärztinnen nur mit Duldung der Behörden und unter den skeptischen Blicken der ordentlich nach deutschem Recht zugelassenen Ärzte. Gerd Reinhold (Hg.): Soziologie-Lexikon. München/Wien 1997, S. 127.
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Den Gesetzen nach waren Frauen wie Franziska Tiburtius, eine der ersten in Berlin praktizierenden Ärztinnen, nichts anderes als Kurpfuscherinnen. Das änderte sich erst, als ab 1901 auch weibliche Ärzte die Approbation erlangen konnten. Sicherlich fanden auch einige Künstlerinnen Anerkennung, nachdem sie hartnäckig ihren Weg abseits der Akademien und männlichen Künstlerschmieden verfolgt hatten. Nach der Jahrhundertwende kamen Frauen aus dem Bürgertum zumindest auf dem Gebiet der akademischen Bildung ein Stück voran, doch waren sie noch weit von der Zugehörigkeit zur Bildungselite entfernt. Die erste Generation akademisch gebildeter Frauen durfte sich den Status einer „Bildungsbürgerin" aufgrund eigener Leistung zuschreiben. Ihre Zahl wuchs, als zwischen 1900 und 1908 endlich alle Universitäten Deutschlands den studierwilligen Frauen offenstanden.2 Doch gab es weiterhin zahlreiche Hindernisse. Manche taten sich erst nach dem Studium auf, denn die unüberwindlichen Hürden wurden nun etwas weiter gerückt. Die universitäre Laufbahn blieb den Akademikerinnen ebenso versperrt wie die Zulassung als Anwältin oder Richterin. Da es für Juristinnen kaum Felder der praktischen Berufsausübung gab, entschied sich nur eine Minderheit für ein Jurastudium. Eine andere Behinderung der freien Berufswahl lag in der Vorbildung der Studentinnen. Die höhere Mädchenbildung war in den meisten deutschen Ländern anders strukturiert als die höhere Bildung der Jungen und bereitete Mädchen auf anderen Wegen auf die Universität vor. So hatten beispielsweise in Preußen die angehenden Studentinnen überwiegend Lehrerinnenseminare (Oberlyzeen) absolviert, was sie nur für den Eintritt in die philosophische Fakultät qualifizierte. Der Beruf der Lehrerin blieb nach wie vor das ,Einfallstor' ins akademische Berufsfeld, und so verwundert es nicht, daß sich drei Viertel der Studentinnen in den philosophischen Fakultäten immatrikulierten. Diese einseitige Schwerpunktsetzung im Bereich der Geisteswissenschaften betrachteten schon Zeitgenossinnen wie Gertrud Bäumer als höchst problematisch. Möglichkeiten der praktischen Berufsausübung fanden Akademikerinnen hauptsächlich als Oberlehrerinnen an höheren Mädchenschulen - der Posten der Direktorin stand ihnen jedoch nur an den privaten Schulen offen - sowie als Ärztinnen, weshalb das Medizinstudium ebenfalls viele Studentinnen anzog.3 Diese Fortschritte und kleinen Etappengewinne im Bereich der Bildung sind nicht zuletzt Erfolge der bürgerlichen Frauenbewegung. Wenn man an der Frage, ob es im Kaiserreich eine weibliche Elite gegeben habe, festhalten, aber nicht nur Defizite konstatieren will, dann bietet es sich an, die Frauenbewegung Vgl. Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900-1945 (Bürgertum, Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 10). Göttingen 1996. Gertrud Bäumer: Die Frau in Volkswirtschaft und Staatsleben der Gegenwart. Stuttgart/Bern 1914, S.148.
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selbst unter dem Gesichtspunkt weibliche Elite zu betrachten. Nicht, weil es das vorrangige Ziel der Frauenbewegung gewesen wäre, gesellschaftliche Führungspositionen zu erobern und Frauen in die Elite einzureihen. Ihr Anliegen zielte auf etwas Grundsätzliches: Ganz in der Tradition der Aufklärung stritt sie für das Menschenrecht auf Selbstbestimmung und freie Entfaltung auch der weiblichen Persönlichkeit. Dem Persönlichkeitsrecht der Frau Geltung zu verschaffen, war - trotz der programmatischen Differenzen und Auseinandersetzungen zwischen dem sogenannten konservativ-gemäßigten und dem radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung - das ideelle Fundament, das den Forderungen nach höherer Bildung, nach Rechtsgleichheit, nach Abschaffung sexueller Doppelmoral und nach staatsbürgerlichen Rechten zugrunde lag. Der eng gesteckte Rahmen weiblicher Lebensperspektiven und der Handlungsspielraum sollten erweitert, neues Terrain in allen Bereichen der Gesellschaft erobert werden. Die gleichberechtigte Teilhabe durchzusetzen, hieß aber auch, die Gesellschaft insgesamt verändern zu wollen, denn der Anspruch der Frauenbewegung, dem „Kultureinfluß" der Frau überall Geltung zu verschaffen, stellte bestehende Normen und Gesellschaftsstrukturen in Frage. Das Einwirken auf die Gesellschaft und die Vorbildfunktion über die eigene Gruppe hinaus zählen zu den Merkmalen einer Elite. In diesem Verständnis ließe sich die Frauenbewegung insgesamt als weibliche Elite definieren, als eine Gruppe engagierter Frauen, die sich aus der Gesamtgruppe der Frauen abhebt. Doch läßt sich diese Bestimmung als Elite, der Definition Hans. P. Dreitzels folgend, präziser auf die sich innerhalb der Frauenbewegung herausbildende Führungsgruppe anwenden: „Eine Elite bilden diejenigen Inhaber der Spitzenpositionen in einer Gruppe, Organisation oder Institution, die auf Grund einer sich wesentlich an dem (persönlichen) Leistungswissen orientierenden Auslese in diese Positionen gelangt sind, und die kraft ihrer Positions-Rolle die Macht oder den Einfluß haben, über ihre Gruppenbelange hinaus zur Erhaltung oder Veränderung der Sozialstruktur und der sie tragenden Nonnen unmittelbar beizutragen oder die auf Grund ihres Prestiges eine Vorbildrolle spielen können, die über ihre Gruppe hinaus das Verhalten anderer normativ mitbestimmt."4 Was kennzeichnete die Inhaberinnen von Spitzenpositionen in der Frauenbewegung? Aus welchen sozialen Schichten stammten die Protagonistinnen? Welche Aufgaben nahmen sie innerhalb der Bewegung wahr? Über welche Eigenschaften und Fähigkeiten, über welches „persönliches Leistungswissen" verfugten sie, auf welche Weise rekrutierte sich diese Bewegungselite? Und schließlich als letztes eine Frage, die über die Binnenbeziehungen der Frauenbewegung hinausgeht und das Verhältnis zwischen organisierter Bewegung und Hans P. Dreitzel: Elitebegriff und Sozialstruktur. Eine soziologische Begriffsanalyse (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie 6). Stuttgart 1962, S. 71.
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Gesellschaft betrifft: Inwieweit gelang es den Protagonistinnen, die Themen und Ziele der Frauenbewegung in der Öffentlichkeit zu vermitteln oder durchzusetzen? Über die persönlich-biographische Ebene hinaus beziehen sich diese Fragen auf Aspekte des .inneren Funktionierens' der Frauenbewegung als sozialer Bewegung. Im folgenden wird versucht, diese Fragen in einem Blickwechsel zwischen lokaler und nationaler Frauenbewegung bzw. lokaler und nationaler Bewegungselite zu beantworten. Dabei dient die bürgerliche Frauenbewegung in Frankfurt am Main als Beispiel für eine lokale Bewegungselite. Die Charakterisierung der nationalen Bewegungselite erfolgt anhand der Stimmrechts- und Sittlichkeitsbewegung, des sogenannten radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung.5 Im Unterschied zur neuen Frauenbewegung in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die Frauenbewegung im Kaiserreich hierarchisch organisiert. Sie kannte und bekannte sich zu sogenannten Führerinnen, Vordenkerinnen und Wegbereiterinnen und war sich des Herausbildens einer Elite durchaus bewußt. Die Wiener Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder spricht in ihrem Aufsatz über den „Typischen Verlauf sozialer Bewegungen" - in einem heute etwas befremdlich wirkenden religiös-pathetischen Ton - vom „Aufreten des sozialen Genies, das die leitenden Ideen hervorbringt und ihnen durch Formulierung mitteilbare Gestalt verleiht. Ihre werbende Kraft bewährt sich zunächst an einer kleinen Zahl Auserwählter, die die ersten Mitteilungen empfangen und am weiteren Ausbau der Lehre Anteil nehmen. Diese Jünger sind es auch, die zu Trägern der ersten Propaganda werden, indem sie ihre Tätigkeit planmäßig auf die Erwerbung neuer Anhänger richten."6 Um die Jahrhundertwende bildete sich innerhalb der Frauenbewegung die Stimmrechts- und Sittlichkeitsbewegung als Teilbewegung heraus.7 An dessen Spitze stand ein kleiner Kreis von elf Frauen, die sich auf nationaler Ebene als Wortfuhrerinnen fur die Durchsetzung des Frauenstimmrechts und gegen sexu5
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Diese Auswahl ist bestimmt durch meine Forschungen zur Frankfurter Frauenbewegung im Kaiserreich im Rahmen des gemeinsam mit Ulla Wischermann im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften (Schwerpunkt Frauenarbeit/Frauenbewegung) der Universität Frankfiirt am Main durchgeführten DFG-Forschungsprojekts „Stimmrecht und Sittlichkeit - Zur Politik und Kultur der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende". Angeregt durch die methodischen Ansätze der sozialwissenschaftlichen Forschung zu den neuen sozialen Bewegungen ging es darum, die ,alte* Frauenbewegung in ihrem .Funktionieren* als soziale Bewegung zu untersuchen. Das Forschungsprojekt war als Vergleich von überregionaler und lokaler Bewegung angelegt. Rosa Mayreder: Der typische Verlauf sozialer Bewegungen. Wien/Leipzig 1926, S. 10. Zur allgemeinen Geschichte der bürgerlichen Frauenbewegung vgl. Richard Evans: The Feminist Movement in Germany 1894-1933. London 1975; Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894-1933. Göttigen 1981; Ute Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Reinbek 1990.
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eile Doppelmoral engagierten. Ihr organisatorischer Mittelpunkt war der 1888 in Berlin gegründete Verein Frauenwohl, an dessen Spitze Minna Cauer (18411922) stand. Ihr gelang es, die Fäden in der Hand zu halten und in den Auseinandersetzungen um Ziel und Inhalt der Vereinsarbeit ihre Führungsposition zu verteidigen. In den ersten Jahren seines Bestehens trafen sich im Verein Frauenwohl Wortfuhrerinnen aller Richtungen. In den neunziger Jahren kam es zu zwei programmatischen Weichenstellungen, die jeweils zum Austritt der unterlegenen Gruppe führten: 1894 veranstaltete der Verein als erster bürgerlicher Frauenverein eine öffentliche Stimmrechtsversammlung. In einer Zeit, da in Preußen das politische Organisationsverbot für Frauen galt, war das eine gezielte, Mut erfordernde Grenzüberschreitung. Diese politische Ausrichtung führte zur Trennung von Helene Lange (1848-1930), der Leitfigur des sogenannten gemäßigten Flügels der Frauenbewegung, und von deren Anhängerinnen. Kurz vor der Jahrhundertwende spaltete sich der Verein abermals, weil die Positionen in der Sittlichkeitsfrage, d.h. der staatlichen Reglementierung der Prostitution, völlig unvereinbar geworden waren. Bei der Vorstandswahl unterlag Hanna Bieber-Böhm, Vorsitzende des Vereins Jugendschutz, die ein rigides Verbot der Prostitution und harte Bestrafung der Prostituierten wie des Freiers befürwortete, den Abolitionistinnen, die jede Form staatlicher Reglementierung grundsätzlich ablehnten. Von diesem Zeitpunkt an war der Verein Frauenwohl Sammelpunkt des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, ein „pre-existing network", aus dem andere Initiativen und Zusammenschlüsse hervorgingen.8 Im Zentrum dieses Netzwerks stand Minna Cauer. Sie war erst mit 47 Jahren zur Frauenbewegung gekommen, lange Jahre nach dem Tod ihres Ehemannes, des Stadtschulrats Eduard Cauer, der sich als Verfechter einer Reform der Mädchenbildung einen Namen gemacht hatte. Durch ihn hatte Minna Cauer liberale Politiker wie Ludwig Bamberger oder Karl Schräder kennengelernt. Cauer gehörte wie auch ihre spätere entschiedene Gegnerin Helene Lange zum Kreis um die Witwe Kaiser Friedrichs, Viktoria, die engagiert die liberalen Bestrebungen für eine moderne Mädchenbildung unterstützte. Höhere Töchterschule und Lehrerinnenexamen waren die formalen Grundlagen ihrer (Aus-)Bildung, darüber hinausgehende Kenntnisse erwarb sich Minna Cauer - wie die meisten Protagonistinnen der Frauenbewegung - als Autodidaktin. Ihre Beschäftigung mit der Frauenfrage war zunächst rein theoretisch, erst 1888 begann ihre ,Bewegungskarriere' als Mitbegründerin des Vereins Zu den Ergebnissen der überregionalen Teilstudie des DFG-Forschungsprojekts, auf die ich mich im folgenden beziehe, vgl. Ulla Wischermann: Sittlichkeit und Stimmrecht Zur Politik und Kultur der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende. Abschlußbericht zur überregionalen Teilstudie des DFG-Projekts. Unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt am Main 1996, S. 114 ff.
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Frauenwohl. Sie wirkte als Organisatorin, mehr noch aber als Publizistin und Ideengeberin der Frauenbewegung. Die von ihr von 1895 bis 1919 herausgegebene Zeitschrift „Die Frauenbewegung" wurde zum einflußreichen Presseorgan des radikalen Flügels. Eine besondere Fähigkeit Minna Cauers lag darin, einen Kreis von engen Mitarbeiterinnen und Vertrauten - die „kleine Zahl Auserwählter" in Rosa Mayreders Worten - um sich zu scharen, dessen Zusammensetzung sich mehrmals veränderte. Eine solch enge Arbeitsfreundschaft entstand Ende der neunziger Jahre mit Anita Augspurg (1857-1943), sie sollte ein gutes Jahrzehnt andauern. Auch Augspurg entstammte dem Bildungsbürgertum, hatte, ohne Neigung und Absicht den Beruf auszuüben, das Lehrerinnenexamen absolviert und sich nach ereignisreichen Jahren als Schauspielerin und Mitinhaberin eines Fotoateliers fur ein Jurastudium in Zürich entschieden. 1897 kehrte sie als erste promovierte Juristin Deutschlands aus Zürich zurück. Fest entschlossen, sich politisch zu engagieren und ihr juristisches Wissen für die Frauenbewegung einzusetzen, ließ sie sich in Berlin nieder, denn ihr war klar, daß eine politische Betätigung den Aufenthalt im politischen Zentrum, und das hieß in Berlin, erforderte.9 Und das hieß, Augspurg wurde Mitglied im Verein Frauenwohl und kam 1899 in den Vorstand, als die Gruppe um Hanna Bieber-Böhm nach den Auseinandersetzungen um die Reglementierung der Prostitution hinausgewählt worden war. Einig in der Sache und in freundschaftlicher Weise einander zugeneigt, zogen Minna Cauer und Anita Augspurg an einem Strang. In ihren Lebenserinnerungen beschreibt Lida Gustava Heymann sehr anschaulich die Bedeutung dieser Freundschaft für die Frauenbewegung und ihre Wirkung auf die Anhängerinnen: „Minna Cauer und Anita Augspurg ergänzten einander, gaben eine schöne Einheit. [...] Auf ein Jahrzehnt bildeten sie den Mittelpunkt der erfolgreichen radikalen Frauenbewegung und des politischen Lebens der außerhalb der Parteien stehenden Frauen. Bei Minna Cauer und Anita Augspurg fanden wir jüngeren radikalen Frauenrechtlerinnen für unsere Pläne, Vorschläge und Wünsche niemals eine Absage, noch die Ernüchterung von tausend Wenns und Abers, sondern Rat, tatkräftige Ermunterung und erfreuliche Unterstützung. Minna Cauer war eine ausgezeichnete humorvolle und wenn erforderlich energische Versammlungsleiterin. Wer sie als solche und Anita Augspurg als Rednerin erlebte, hatte seine helle Freude an soviel kraftvoller Harmonie und fröhlicher Energie."10 Beide Frauen übten wichtigen Einfluß als Organisatorinnen aus, aber noch bedeutender für die Frauenbewegung war ihre publizistische Arbeit. Augspurg
Vgl. Lida Gustava Heymann/Anita Augspurg: Erlebtes - Erschautes. Frankfurt am Main 1992, S. 32. Ebd., S. 34.
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redigierte ab 1901 eine Beilage zu Cauers Zeitschrift „Die Frauenbewegung". Im Titel dieser Beilage, „Parlamentarische Angelegenheiten", drückt sich das von beiden geteilte Verständnis der .Frauenfrage' aus: Für beide war eine verbesserte Stellung der Frauen in rechtlicher, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Sicht an eine Demokratisierung der Gesellschaft insgesamt gebunden und das Stimmrecht, das politische Staatsbürgerrecht, die grundlegende Voraussetzung, daß Frauen sich wirkungsvoll für ihre Angelegenheit einsetzen können. Anita Augspurg vermittelte sehr engagiert die Ideen der Frauenbewegung nach außen in der breiteren Öffentlichkeit und versuchte, durch Beiträge in der allgemeinen Presse Einfluß auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Sie leitete u.a. die Redaktion der Frauenbeilage in der Tageszeitung „Der Tag" und veröffentliche zahlreiche Beiträge fur Fachzeitschriften wie die „Deutsche Medicinische Wochenschrift" oder in Periodika wie der Zeitschrift „Europa". Auch die linksliberalen Demokratischen Vereine boten ihr ein Forum, um für das Frauenstimmrecht zu werben." Diese breite publizistische Tätigkeit von Augspurg, wie auch anderer schriftstellerisch begabter Protagonistinnen, verschaffte der .Frauenfrage' ein öffentliches Echo. Die Debatte über die Anliegen der Frauenbewegung blieb keineswegs auf die publizistische Gegenkultur der Frauenbewegungspresse beschränkt, sondern erhielt ihren Platz auf der Agenda einer allgemeinpolitischen Öffentlichkeit. Aber Einfluß auf die öffentlichen Diskussionen sind das eine, konkrete Erfolge bei der Durchsetzung von Zielen das andere. Gerade am Beispiel des Frauenwahlrechts wird deutlich, daß es nicht nur einer wohlgestimmten öffentlichen Meinung bedarf, sondern auch auf die politischen Rahmenbedingungen ankommt. Denn erst nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie konnte die politische Gleichberechtigung der Frauen in der neuen republikanischen Staatsordnung durchgesetzt und die langjährigen Kampagnen der Frauenbewegung in dieser Frage erfolgreich beendet werden. Im Verein Frauenwohl überschnitten sich alle persönlichen und organisatorischen Verbindungen der Protagonistinnen der Stimmrechts- und Sittlichkeitsbewegung. Als beispielsweise Anita Augspurg gemeinsam mit Lida Gustava Heymann 1902 in Hamburg den Verein für Frauenstimmrecht gründete, holte sie Minna Cauer in den Vorstand. Und der Vorstand des neugegründeten nationalen Dachverbandes des radikalen Flügels, des Verbands Fortschrittlicher Frauenvereine, war mit dem Vorstand des Berliner Frauenwohl weitestgehend identisch. Berlin war der Ausgangspunkt, die ,Schaltzentrale', auch wenn die Protagonistinnen nicht alle hier ihren ständigen Wohnsitz hatten. So pendelten beispielsweise Anita Augspurg und ihre Lebensgefährtin Lida Gustava HeyZu Augspurg vgl. Wischermann: Sittlichkeit und Stimmrecht (wie Anm. 8), S. 110 f.
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mann (1868-1943) jahrelang zwischen München und Berlin. Im Berliner Frauenwohl liefen die Fäden zusammen, wurde Vereins- und Verbandspolitik gestaltet und in die .Provinz' getragen. Die an Zahl überschaubare Elite der Stimmrechts- und Sittlichkeitsbewegung - es sind elf Protagonistinnen - war der ,Motor' der Bewegung. Unermüdlich begaben sich Protagonistinnen wie Anita Augspurg oder Lida Gustava Heymann auf Vortragsreisen durch Deutschland, warben für die Forderungen, initiierten neue lokale Organisationen und besuchten nationale und internationale Frauenkongresse, um organisatorische und persönliche Verbindungen aufrechtzuerhalten bzw. neue zu knüpfen. Die aufreibende Tätigkeit für die Frauenbewegung verlangte eine unabhängige Lebensform. Auch wenn nicht mehr ftir alle elf Protagonistinnen in gleichem Maße biographische Daten zu finden sind, so lassen sich doch aufgrund des vorhandenen Materials einige Merkmale erkennen, die diese Führungsriege kennzeichnen.12 Die meisten stammten aus dem Bildungsbürgertum und waren relativ gut ausgebildet (Lehrerinnenexamen, drei absolvierten ein Studium und schlossen es mit der Promotion ab). Viele der Protagonistinnen lebten von einem Erbe, teils aber auch von ihrer publizistischen Tätigkeit. Gänzlich angewiesen auf diesen Erwerb war Helene Stöcker (1869-1943), die Gründerin und Vorsitzende des Bundes für Mutterschutz. Sie mußte Engagement und Erwerbsnotwendigkeit verbinden und lebte daher nicht nur für, sondern auch von der Frauenbewegung. Das Gegenteil verkörperte Lida Gustava Heymann. Sie stammte aus einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie - ist also eine der wenigen, die nicht aus dem Bildungsbürgertum kommen - und investierte ihr Erbe in die Initiativen der Frauenbewegung. Aber von diesem materiellen Gesichtspunkt abgesehen ist das auffalligste Kennzeichen dieser Bewegungselite, daß für sie die Frauenbewegung Lebens- und Arbeitszusammenhang zugleich war und zwischen privatem Leben und frauenpolitischem Engagement kaum Grenzen gezogen wurden. Die Frauen blieben auch in ihren persönlichen Beziehungen überwiegend unter sich oder lebten in einer engen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft wie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann. Zumindest war keine der elf Protagonistinnen in traditioneller Weise durch familiäre Verpflichtungen gebunden." Gehörte es zu den Aufgaben der nationalen Führungsriege, die Begeisterung für die Frauenbewegung in der ,Provinz' zu wecken - was rhetorische Fähigkeiten und den Mut zum öffentlichen Auftritt voraussetzte, wenn nicht gar auch ein gewißes Charisma so kam den lokalen Protagonistinnen die Aufgabe zu,
Ebd., S. 123ff. Von den elf Frauen war nur Adele Schreiber verheiratet, Helene Stöcker lebte in nichtehelicher Lebensgemeinschaft. Beide hatten keine Kinder.
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den Faden aufzunehmen und das Begonnene erfolgreich weiterzutreiben. Denn, wie eine Aktivistin 1901 schrieb: „Was hilft die Begeisterung, die z.B. eine auswärtige Rednerin entzündet, wenn nicht gleich an Ort und Stelle Kräfte vorhanden sind, die das Feuer weiter schüren, die gebotenen Anregungen aufgreifen, sie in die That umzusetzen verstehen".14 Solche Kräfte waren 1895 in Frankfurt am Main vorhanden, als es darum ging, eine Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) zu gründen." Mitte der 90er Jahre nahm die Frauenbewegung insgesamt einen neuen Aufschwung. Zahlreiche neue Organisationen entstanden, und Zug um Zug bildete sich ein weitverzweigtes Organisationsnetz heraus, das seinen Knotenpunkt wiederum 1894 in einem nationalen Dachverband, dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) fand. Der ADF war die älteste Organisation der Frauenbewegung. 1865 von Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt in Leipzig gegründet, blickte der ADF auf eine 30jährige Geschichte zurück, als er im Oktober 1895, eingeladen vom Frankfurter Frauenbildungs-Verein, seine Generalversammlung nach Frankfurt einberief. Die allgemeine Aufbruchstimmung in der Frauenbewegung schlug sich auch in Frankfurt nieder. Die Anregung der Generalversammlung, Ortsgruppen des ADF zu gründen, die sich der auf lokaler Ebene brachliegenden programmatischen Arbeit widmen sollten, wurde von einer Gruppe engagierter jüngerer Frauen bereitwillig aufgenommen. Sie brachten jene Fähigkeiten mit, die auch auf lokaler Ebene erforderlich waren, um eine soziale Bewegung erfolgreich zu organisieren: Außer dem Interesse an den Inhalten der Frauenbewegung verfugten sie über ausreichend Geld, Zeit, Bildung und rhetorische Fähigkeiten, um die Vereinsarbeit zu gestalten, Diskussionen zu fuhren und zu leiten sowie Referate zu halten.16 Die Frankfurter ADF-Ortsgruppe entwickelte sich zum Zentrum der lokalen Frauenbewegung. Von ihr gingen die Initiativen fur andere Organisationen aus, wurden alle maßgeblichen Themen aufgenommen, die in den folgenden Jahren auf die Agenda der Frauenbewegung kamen: 1896 betei-
Elsbeth Knikenberg: Agitation in der Frauenbewegung. Vortrag, gehalten auf der 21. Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins zu Eisenach am 1. Oktober 1901. Bonn 1901, S. 16. Vgl. zum folgenden Christina Klausmann: Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich. Das Beispiel Frankfurt am Main. (Geschichte und Geschlechter 19). Frankfurt am Main/New York 1997. Wie entscheidend diese Faktoren waren, wird im Vergleich mit der sozialdemokratischen Frauenbewegung deutlich. Der Aufbau und Erhalt ihrer Organisationen scheiterten in Frankfurt lange Zeit nicht allein an den äußeren Bedingungen wie dem restriktiven preußischen Vereinsrecht, das die Arbeiterinnenvereine ständiger polizeilicher Überwachung aussetzte, sondern auch an bewegungsinternen Bedingungen. Es mangelte bis zur Jahrhundertwende an Persönlichkeiten, die der Aufgabe, eine Bewegung zu organisieren, gewachsen waren und über ausreichende Bildung, Zeit und materiellen Rückhalt verfügten.
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ligte sich die Ortsgruppe am „Frauenlandsturm", den massiven Protestaktionen gegen die frauenfeindlichen Paragraphen im Familien- und Eherecht des BGB, mit denen die Frauenbewegung die Verabschiedung im Reichstag zu verhindern versuchte. Dies mißlang, aber in der Frankfurter Frauenbewegung war das Bewußtsein geweckt worden, daß Rechtsfragen wichtig und Rechtskenntnisse notwendig waren, und daher wurde 1897 der Verein Rechtsschutzstelle gegründet. Im folgenden Jahr fand das Thema gymnasiale Bildung und Frauenstudium das engagierte Interesse der ADF-Mitglieder und führte zur Gründung einer Ortsgruppe des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium. Innerhalb von zehn Jahren schafften es die Akteurinnen, daß an einem der städtischen Knabengymnasien ein gymnasialer Zweig für Mädchen eingerichtet wurde. Nicht jedes Thema führte jedoch zur Organisationsbildung aus den Reihen des ADF, aber in diesem Kreis wurden die Themen in Vorträgen und Versammlungen bekannt gemacht und diskutiert, auch die des radikalen Flügels wie Reglementierung der Prostitution oder das Frauenstimmrecht. Die ADF-Ortsgruppe war das organisatorische Fundament der sich nach 1895 herausbildenden Bewegungselite der lokalen Frauenbewegung, gebildet aus den 23 Protagonistinnen, die ab 1895 als Vereinsvorsitzende agierten. Drei Viertel von ihnen war Mitglied der ADF-Ortsgruppe, die meisten zählten zu deren Gründungsmitgliedern. In ihrer Funktion als .Schaltzentrale' der lokalen Bewegung war die ADF-Ortsgruppe dem Berliner Verein Frauenwohl durchaus vergleichbar. Die Frankfurter Bewegungselite zeichnete sich dadurch aus, daß fast ebensoviele verheiratete wie alleinstehende Frauen Führungsaufgaben übernahmen, wobei die Mehrheit der verheirateten Frauen kinderlos war oder bereits erwachsene Kinder hatte und dadurch in geringerem Maß durch familiäre Pflichten gebunden und persönlich unabhängiger war. Die überwiegende Mehrheit gehörte dem Bildungsbürgertum an und etwas weniger als die Hälfte hatte eine Ausbildung oder übte einen Beruf aus. Die Frankfurter Bewegungselite ist besonders dadurch gekennzeichnet, daß ein großer Teil der Frauen aus dem jüdischen Bürgertum stammte und die Protagonistinnen nicht nur auf lokaler Ebene in eine Vielzahl von Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Frauenbewegung involviert waren, sondern häufig auch zu den Akteurinnen der nationalen Frauenbewegung zählten.17 Am Beispiel von Anna Edinger und ihrer .Bewegungsbiographie' lassen sich einige Kennzeichen dieser lokalen Bewegungselite aufzeigen." Wo sich Edingers Wege mit anderen Protagonistinnen kreuzen, sollen auch diese in wenigen
Klausmann: Politik und Kultur (wie Anm. 15), S. 316 ff. Ebd., S. 332 ff.
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Worten vorgestellt werden, um auf diese Weise einen Eindruck von dem personellen Geflecht des überschaubaren Kreises der Frankfurter Protagonistinnen zu vermitteln. Anna Edinger (1862-1929), Tochter des Bankiers Benedikt Moritz Goldschmidt, heiratete 1886 den Neurologen Dr. Ludwig Edinger, mit dem sie drei Kinder hatte. Sie war an Naturwissenschaften interessiert und arbeitete sich unter Anleitung ihres Mannes in dessen Forschungsgebiet ein. Es ist nicht bekannt, ob Anna Edinger darunter litt, nicht mehr als die Bildung einer höheren Tochter bekommen zu haben, aber, glaubt man der Darstellung des Ehemannes, betrieb sie die gemeinsamen Studien mit einem Eifer, der unschwer als Ausdruck eines ungestillten Bildungshungers und als Wunsch nach einem Studium zu deuten ist. Sie unterstützte maßgeblich die Bestrebungen des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium, vermutlich aus diesem persönlichen Motiv, künftigen Generationen die Umwege und das Autodidaktentum zu ersparen. Das Ehepaar führte ein großbürgerlich-geselliges Leben, wozu die Geselligkeiten im Hause des Vaters, des Bankiers Goldschmidt, gehörten. Hier trafen sich namhafte Persönlichkeiten der Frankfurter Gesellschaft ein- bis zweimal wöchentlich, und oft waren die Ärztin Elisabeth Winterhalter und ihre Lebensgefährtin, die Porträtmalerin Ottilie W. Roederstein, zu Gast. Mit beiden war Edinger eng befreundet und mit Elisabeth Winterhalter verband sie zudem das Engagement für das Frauenstudium. Elisabeth Winterhalter (1865-1952) gehörte zur ersten Generation von Ärztinnen, die noch in Zürich studiert hatte." Seit Beginn der 1890er Jahre hatte sie sich als erste Frauenärztin in Frankfurt erfolgreich etabliert und Anerkennung in der Frankfurter Ärzteschaft gewonnen. Sie übernahm den Vorsitz in der 1898 gegründeten Frankfurter Abteilung des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium und setzte sich zielstrebig für die Errichtung von Gymnasialkursen ein. Anna Edingers Weg in die Öffentlichkeit begann in der traditionellen jüdischen Wohlfahrtspflege und verlief in den ersten Jahren vergleichbar dem ihrer Cousine Bertha Pappenheim.20 Beide waren Mitglied im Israelitischen Frauenverein sowie im Frankfurter Frauenbildungs-Verein und gehörten 1895 zu den Mitbegründerinnen der ADF-Ortsgruppe. Während Bertha Pappenheim sich ab der Jahrhundertwende zielstrebig dem Aufbau einer jüdischen Frauenbewegung und der Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels widmete, nahm Edinger zunehmend Funktionen in der interkonfessionellen Frauenbewegung wahr. Für einige Monate übernahm sie den Vorsitz der ADF-Ortsgruppe, verlagerte aber dann den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten in die überregionalen Organisationsgremien des ADF, wo sie 1903 und 1905 in die Propaganda19 3
Ebd., S. 93 ff. Ebd., S. 169 ff.
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Kommission gewählt wurde. Weitaus mehr engagierte sie sich jedoch im Bund Deutscher Frauenvereine. Seit 1899 gehörte sie unterschiedlichen BDFKommissionen an und zwischen 1902 und 1910 hatte sie das Vorstandsamt der Schatzmeisterin inne. 1910 zog sie sich aus dem Vorstand des BDF zurück, vertrat den Dachverband jedoch mehrfach auf internationalen Frauenkongressen. Anna Edinger war eine überzeugte Pazifistin. Sie gehörte dem Frankfurter Friedensverein an und wurde zu einer Mittlerin zwischen der Friedens- und der Frauenbewegung. Sie blieb konsequent in ihrer Haltung, als im Ersten Weltkrieg die nationalistisch-chauvinistischen Emotionen andere Überzeugungen nicht mehr zuließen und auch in der Frauenbewegung die Pazifistinnen verurteilt und ausgegrenzt wurden. Auch sie wurde zur Landesverräterin gestempelt, nachdem sie entgegen dem »Verbot' von Helene Lange und Gertrud Bäumer 1915 zum internationalen Frauenfriedenskongreß nach Den Haag gereist war. Die Sozialreform war ein weiterer Schwerpunkt im Wirken Anna Edingers, nicht zu trennen von ihrem Engagement in der Frauenbewegung, d.h. geprägt durch die Erkenntnis sozialer Notlagen von Frauen. Aufgrund ihres Engagements in der privaten Sozialfürsorge wurde sie 1907 als weibliches Mitglied in den Armen- und Waisenrat der Stadt berufen. Es war das erste Mal, daß in Preußen einer Frau eine halbamtliche und stadtpolitische Funktion zugestanden wurde. Edinger gehörte dem 1892 durch Hella Flesch und deren Schwager, den Sozialreformer und Stadtrat Karl Flesch, mitbegründeten Hauspflege-Verein an und beteiligte sich 1898 an der Gründung des Stadtbundes der Vereine für Armenpflege und Wohltätigkeit sowie 1899 an der Gründung der Zentrale für private Fürsorge. Die letztgenannte Organisation war Teil des .StiftungsImperiums' des Unternehmers Wilhelm Merton, der die Unternehmungen der Frauenbewegung finanziell förderte bzw. dessen Wohlfahrtsprojekte mit Frauenprojekten wie dem Verein Rechtsschutzstelle kooperierten. Als ehrenamtliche Mitarbeiterin der »Zentrale' half Edinger nach der Jahrhundertwende, Maßnahmen gegen die Erwerbslosigkeit von Frauen zu organisieren, beispielsweise gegen die saisonbedingte Erwerbslosigkeit von Näherinnen in den Sommermonaten. Dadurch kam sie mit Henriette Fürth zusammen, die einige Zeit in der Zentrale fur private Fürsorge angestellt war. Henriette Fürth (1861-1938) gehörte ebenfalls zur lokalen Bewegungselite, war aber in gewisser Weise auch eine Außenseiterin, zum einen weil sie eine Grenzgängerin zwischen der sozialdemokratischen, jüdischen und interkonfessionell-bürgerlichen Frauenbewegung war, zum anderen weil sich ihre Lebensumstände sehr von der Mehrheit der Frankfurter Protagonistinnen unterschieden. Sie war nicht nur Mutter von sieben Kindern, sondern auch erwerbstätig. Durch den geschäftlichen Konkurs ihres Ehemannes gezwungen, zum Familieneinkommen beizutragen, wirkte sie mit Veröffentlichungen und Vortragen u.a. zu den Themen Frauenerwerbsarbeit
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und Mutterschutz publizistisch für die Frauenbewegung und gehörte zu den durch Deutschland reisenden Referentinnen.21 Anna Edinger und Henriette Fürth vereinbarten mütterliche Aufgaben und frauenpolitisches Engagement - gehörten folglich beide zu der Minderheit der Mütter unter den Protagonistinnen im Unterschied zu Fürth war Edinger jedoch äußerst wohlhabend. Sie investierte nicht nur ein großes Maß an Zeit in die Bewegung, sondern trug auch mit ihrem Vermögen großzügig zur Finanzierung zahlreicher Projekte der Frauenbewegung bei. Anna Edinger unterstützte mit erheblichen Summen auch andere Zwecke wie die Gründung der Universität und handelte in der Tradition jüdischen Stiftungswesens für das Gemeinwohl der städtischen Gesellschaft. Ohne die individuellen Aspekte in der .Bewegungs-Biographie' Anna Edingers außer acht lassen zu wollen, wird an ihrem Beispiel deutlich, was die lokale Bewegungselite Frankfurts in ihren Grundzügen kennzeichnete: Die Protagonistinnen waren in den überregionalen Zusammenhängen der bürgerlichen Frauenbewegung präsent und hatten die Funktion von Vermittlerinnen zwischen lokaler und nationaler Ebene. Diese Funktion wirkte in zwei Richtungen, denn sie nahmen nicht nur den,Impuls von außen' auf und setzten die auf nationaler Ebene vereinbarte Politik um, sondern gestalteten diese inhaltlich mit, indem sie z.B. Anträge und Vorschläge der Ortsgruppen bei den Treffen der Dachverbände und auf den Generalversammlungen einbrachten. Gleichzeitig engagierten sie sich auf lokaler Ebene nicht nur in den Zusammenschlüssen der Frauenbewegung, sondern auch in anderen Bereichen, vor allem in der Sozialreform. Hier kam ihnen als zweite Funktion zu, zwischen der Frauenbewegung und der liberalen (stadt)bürgerlichen Öffentlichkeit zu vermitteln und um Unterstützung zu werben. Auf lokaler Ebene überschnitten sich persönlich-informelle Bekanntschafts-, Freundschafts- und Familienbeziehungen mit formellorganisatorischen Verbindungen zwischen den Protagonistinnen einerseits sowie mit sozialreformerischen Kreisen andererseits. Die Frankfurter Protagonistinnen waren zumeist in ein überschaubares soziales und kulturelles, entscheidend durch das jüdische Großbürgertum geprägtes liberales Milieu fest eingebunden, das für gesellschaftlichen Wandel und Reformen aufgeschlossen war. In diesem Kreis fanden sie notwendige ideelle und finanzielle Unterstützung, um eine bewegungskulturelle Infrastruktur, ein rechtliches, ökonomisches und soziales Unterstützungsnetzwerk aufzubauen und zu unterhalten. Die Frauenbewegung blieb zwar eine weitestgehend von Frauen selbst finanzierte Bewegung, aber Selbsthilfeprojekte wie die Frauenrechtsschutzsteile oder das Heim des Bundes für Mutterschutz konnten langfristig nur mit zusätzlichen 21
Ebd., S. 341 ff.
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Geldern aus der öffentlichen Kasse oder von privaten Mäzenen aufrecht erhalten werden. Obgleich die jeweils vorgestellten Bewegungseliten nur Teile der bürgerlichen Frauenbewegung repräsentieren und wenn insbesondere fur die lokale Ebene im Vergleich zu anderen Orten zu klären wäre, was verallgemeinerbar ist und was Frankfurter Besonderheiten sind22, lassen sich doch verschiedene Beobachtungen festhalten: • Die wichtigste Funktion der kleinen sich auf nationaler Ebene herausbildenden Bewegungselite war, die Ideen der Frauenbewegung zu formulieren und in Vorträgen und Artikeln zu verbreiten sowie um Unterstützung zu werben. Von ihnen kamen in der Regel die Anstöße, vor Ort Organisationen zu gründen. Demgegenüber war die zentrale Funktion der lokalen Bewegungselite, für den erfolgreichen Aufbau und Erhalt dieser Organisationen zu sorgen. Hinsichtlich dieser unterschiedlichen Schwerpunkte könnte man von einer Arbeitsteilung zwischen Ideengeberinnen und Wortfuhrerinnen auf der einen und Organisatorinnen auf der anderen Seite sprechen. • Das Engagement für die Frauenbewegung wurde auf nationaler Ebene zum Hauptberuf, verlangte die ganze Frau weit mehr als eine Führungsrolle auf lokaler Ebene. Bertha Pappenheim, die als Wörtfuhrerin im Kampf gegen den Mädchenhandel und als Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes eher zur nationalen Bewegungselite zählte denn zur lokalen, verwandte in einem Reisebrief an ein Vorstandsmitglied des Vereins Weibliche Fürsorge einmal den Ausdruck von den „im Grunde nur nebstbei"23 engagierten Frauen. Sie markierte damit deutlich den Unterschied zwischen sich, die sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden psychischen und physischen Kraft der Aufgabe widmete, und den anderen Vorstandsdamen der weiblichen Fürsorge. • Im Unterschied zu der Mehrheit der lokalen Protagonistinnen war für die meisten der nationalen Führungspersonen die Frauenbewegung Lebens- und Arbeitszusammenhang zugleich und waren auch die privaten Beziehungen vorwiegend in Frauenkontexten angesiedelt. Etliche Protagonistinnen wie Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, aber auch Protagonistinnen des gemäßigten Flügels wie Helene Lange und Gertrud Bäumer, waren einander in einer engen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verbunden. Der Kreis
Die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen für die Organisierung wird z.B. durch die Studie Kirsten Heinsohns über Hamburger Frauenvereine bestätigt. Vgl. Kirsten Heinsohn: Politik und Geschlecht. Zur Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 52). Hamburg 1997. Brief an Frau F. aus Lodz, 3. Mai 1912. In: Bertha Pappenheim: Sisyphus-Arbeit. Reisebriefe aus den Jahren 1911 und 1912. Leipzig 1924 (unpaginiert). Zitiert in: Klausmann: Politik und Kultur (wie Anm. 15), S. 177.
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dieser Wortfuhrerinnen erweckt daher eher den Eindruck, daß es sich um eine in sich geschlossene Gruppe handelte, deren Verbindung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen zufälliger und fragiler war. • Was den materiellen Lebensunterhalt betrifft, so zehrten viele von ererbtem Vermögen und investierten allein schon durch ihre unbezahlte Tätigkeit in die Frauenbewegung. Andere lebten nicht nur für, sondern auch von der Frauenbewegung. Einkünfte erbrachten die Honorare für Artikel - allerdings eher in der allgemeinen, weniger in der Presse der Frauenbewegung - und für Vorträge. Helene Stöcker, Henriette Fürth und Käthe Schumacher verkörpern diesen Typus der Frauenrechtlerin, die Engagement fur die soziale Bewegung und Erwerbsarbeit verknüpften - und verknüpfen mußten, da sie über keine anderen finanziellen Ressourcen verfügten. Sie nahmen für sich in Anspruch, Berufung und Beruf zugleich zu leben. • Das Geld wurde gelegentlich zum Konflikt zwischen der älteren und jüngeren Generation in der Frauenbewegung. Die Honorarforderungen der jüngeren Frauen stießen bei den älteren auf gereizte Abwehr. So galt Käthe Schumacher als besonders „teure" Referentin, was Helene Lange zu der Bemerkung veranlaßte, man möge Schumacher doch daran erinnern, daß ihr erst ein Stipendium des ADF das Studium ermöglicht habe. Ein hartes Ringen mit Helene Lange gab es auch um das Gehalt fur eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der in Frankfurt ansässigen Zentralstelle für die Gemeindeämter der Frau. Die Aufgabe der vom ADF unterhaltenen Zentralstelle war, Informationen über weibliche Beteiligung an der kommunalen Armen- und Waisenpflege, der Schulverwaltung usw. zu sammeln und sich dafür einzusetzen, daß die politischen Mitspracherechte in den Städten ausgeweitet wurden. Die ehrenamtliche Leiterin der Zentralstelle, Jenny Apolant, die sich autodidaktisch die nötigen Kenntnisse angeeignet hatte, suchte nach einer Mitarbeiterin mit juristischen oder volkswirtschaftlichen Fachkenntnissen, um diese Aufgabe auf Dauer angemessen leisten zu können. Helene Lange tat sich schwer, diese Veränderungen hin zu einer Verberuflichung des Engagements in der Frauenbewegung zu akzeptieren. Sie fühlte sich im ,Dienst der Idee', der Opfer verlangte und nicht durch Erwerbsinteressen getrübt werden sollte. Es herrschte Uneinigkeit darüber, ob solche persönlichen Interessen nicht einem Engagement schaden müßten, das immer als uneigennütziges betrachtet wurde. Der Unmut Langes ist insoweit zu verstehen, als die Gehälter und Honorare durch das in die Bewegung eingebrachte Geld der Mitglieder bzw. der nicht ohne Mühen bei Mäzenen eingeworbenen Gelder finanziert werden mußten. Nur einige soziale Frauenprojekte kamen in den Genuß geringer öffentlicher Mittel, die herbeizuschaffen das zielstrebige Vorgehen und die Kontakte der lokalen Protagonistinnen voraussetzte. Allerdings entzündete sich der Konflikt an der Entlohnung der
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Arbeit fur die Bewegung erst dann, als es um die Honorierung von Aufgaben in den Führungspositionen ging. Die Entlohnung beispielweise einer Sekretärin in einer Beratungsstelle war nie diskutiert worden. Hier deutet sich ein langsamer Wandel im Selbstverständnis der Protagonistinnen an. Das quasi religiöse Pathos, das der Überzeugung vom .Dienst der Idee' anhaftete, die ideelle Überhöhung des Handelns, macht einer sachlicheren Sicht Platz. Nicht mehr vorrangig Idealismus, sondern zunehmend Fachkenntnisse waren für eine erfolgreiche Vertretung von Fraueninteressen gefragt. Diese Entwicklung betrachtet Helene Lange skeptisch. Sie war hinsichtlich der Einstellung der Nationalökonomin in der Zentralstelle für die Gemeindeämter der Meinung, daß Jenny Apolant ihr Licht unter den Scheffel stelle und zuviel Respekt vor akademischem Fachwissen habe. • Neben die Ideengeberinnen und Generalistinnen, wie sie Helene Lange, Minna Cauer oder, wenngleich mit akademischen Weihen ausgestattet, Anita Augspurg verkörperten, trat ein neuer Typus der Frauenrechtlerin: die akademisch vorgebildete Fachfrau, für die sich in den Organisationen und Projekten der Frauenbewegung ein Berufsfeld auftat. Sie traten neben die Generalistinnen, ersetzten sie aber nicht, und sie unterschieden sich auch von Persönlichkeiten wie Helene Stöcker oder Henriette Fürth, die zwar mit der publizistischen Tätigkeit zur sogenannten Frauenfrage ihren Lebensunterhalt verdienten, aber beide keine Fachfrauen waren wie die bei der Zentralstelle für politische Gemeindeämter angestellte Volkswirtin. Trotz dieser sich andeutenden Veränderung im Selbstverständnis der fuhrenden Frauenrechtlerinnen blieben die ,Spitzenpositionen' in der Frauenbewegung den ,Generalistinnen' vorbehalten, genügte akademisches Fachwissen allein auch weiterhin nicht als Auswahlkriterium fur die Elite der Frauenbewegung. Bürgerliche Frauenbewegung und Elite sind - das läßt sich abschließend festhalten - keine Gegensätze. Im Gegenteil: In der bürgerlichen Frauenbewegung bildete sich eine weibliche Elite heraus. Ihre Protagonistinnen sind als jene Führungsgruppe zu erkennen, die - um nochmals Dreitzels Definition aufzugreifen - über das erforderliche Leistungswissen verfugten und darüber in ihrePosition gelangt waren. Fundierte Kenntnisse, organisatorische sowie rethorisch-publizistische Fähigkeiten, aber auch Verbindungen zu anderen gesellschaftlich wie politisch fuhrenden Kreisen verhalfen ihnen zu Einfluß auch über die Frauenbewegung hinaus. Die sogenannte .Frauenfrage' bzw. einzelne Aspekte wie Frauenstimmrecht oder Frauenstudium wurden in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs wahrgenommen und kontrovers diskutiert und Ansprüche vor allem im Bildungssektor und in der Sozialreform (wenn auch oft in kleinen Schritten) durchgesetzt. Nicht zuletzt spricht die Tatsache, daß sich die Gegner
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der Frauenbewegung herausgefordert sahen, 1912 einen lautstark auftretenden Deutschen Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation zu gründen, für ihre Wirksamkeit.24 Die Protagonistinnen brachten die Anliegen der bürgerlichen Frauenbewegung zur Geltung und gestalteten den gesellschaftlichen und politischen Wandel mit. In diesem Sinne verkörperten sie eine Elite in der Gesellschaft des Kaiserreichs.
Vgl. Ute Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 124) Göttingen 1998.
.Neulinge", „Novizen" und Berufspolitikerinnen. Parlamentarierinnen in der Weimarer Republik. Wahlrecht, Wahlbeteiligung und Wahlergebnis 1919 VON HEIDE-MARIE LAUTERER
Im Wahlkampf zur Nationalversammlung im Winter 1918/19 hatten alle Parteien, bis auf einige kleine Splitterparteien, Frauen aufgestellt. Sie trugen damit dem neuen Wahlrecht Rechnung, das der Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918 beschlossen hatte. Es wurde im Reichswahlgesetz vom 30. November 1918 rechtskräftig und enthielt das gleiche, geheime, direkte und allgemeine Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten Deutschen männlichen und weiblichen Geschlechts.1 Das neue Wahlgesetz dehnte das aktive und passive Wahlrecht nicht nur auf die Frauen aus. Im Gegensatz zum Reichstag im Kaiserreich wurden drei neue Bevölkerungsgruppen angesprochen: (1) Frauen über 20 Jahre; (2) die 20-25jährigen Männer; (3) die Angehörigen des Heeres und der Marine. Dies ist wichtig festzuhalten, weil man die Wahlbeteiligung und das Wahlergebnis gemeinhin vor allem der größten Gruppe, den Frauen, zuschreibt. Die Ausweitung auf diese drei Gruppen bewirkte insgesamt eine Verdreifachung der Stimmberechtigten. Das Wahlrecht zielte erstmals nicht mehr auf die männlichen Haushaltsvorstände und enthielt deshalb keine Beschränkung hinsichtlich des Geschlechtes. Darüber hinaus fehlten einschränkende Bestimmungen hinsichtlich Besitz, Stand und Konfession. Im Unterschied zum Mehrheitswahlrecht des kaiserlichen Reichstags wurde 1919 die reine Verhältniswahl eingeführt. Die Parteien stellten in den 37 Wahlkreisen sogenannte Wahlkreisvorschläge oder Listen auf, deren Reihenfolge von den Wählenden nicht geändert werden konnte. Die Mandate wurden im Verhältnis aller abgegebenen Stimmen auf die Parteien verteilt. Eine Reststimmenverwertung fand RGBl. 1918, S. 1345.
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zunächst nicht statt, wurde aber 1920 mit der Einführung der sog. Reichsliste für den Reichstag vorgesehen. Das Verhältniswahlrecht begünstigte die großen Parteien, die Listenwahl die Kandidatur von Verbands- und Parteimitgliedern. Wahlergebnis und Anteil der Frauen in den Fraktionen der Nationalversammlung in Prozent.2 Partei MSPD USPD Zentrum (BVP) DDP
DVP DNVP Versch. Parteien Parteien zusammen
Frauen in den Fraktionen 19 3 6 5 6 (30. 9. 1919) 1 3 -
37
Abgeordnete insgesamt 165 22 90 74
Frauenanteil in Prozent 11,5 13,6 6,6 6,8 8,1
22 42 7
4,5 7,14
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8,6
-
In die Nationalversammlung zogen sechs große Parteien ein. Die SPD war stärkste Fraktion, wenn auch nicht mit dem glänzenden Ergebnis, das sie erwartet hatte. Das katholische Zentrum war zweitstärkste Fraktion, gefolgt von der liberalen DDP. Die Rechte - DNVP und DVP - erhielt insgesamt 63 Sitze. Dazu kam eine Handvoll Sitze für kleinere, politisch unbedeutende Parteien. SPD, Zentrum und DDP bildeten mit der sog. „Weimarer Koalition" die Regierung. Unnötig zu sagen, daß Frauen nicht an der Regierungsbildung beteiligt waren. Von 308 Frauen, die sich als Kandidatinnen zur Wahl gestellt hatten,3 erreichte jede achte Bewerberin ihr Ziel - ein Mandat in der Nationalversammlung. Von den
Nach: Handbuch der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung. Weimar 1919, S. 114-116. Die Zahlen der Fraktionsmitglieder variieren in unterschiedlichen Untersuchungen je nach dem Stichtag der Zählung (mit oder ohne Nachrückerinnen, mit oder ohne den Ergänzungswahlen wie z.B. der im Osten stehenden Truppen am 2.2.1919). Ebd., S. 85. Verzeichnis der in den zugelassenen Wahlvorschlägen aufgestellten Bewerber. 2. Weibliche Bewerber.
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männlichen Bewerbern - hier gab es 1310 Kandidaten - zogen 386 Abgeordnete in die Nationalversammlung ein. Jeder dritte erreichte sein Ziel. Die USPD stellte mit 13,6 Prozent den höchsten Anteil weiblicher Abgeordneter. Es folgte die MSPD mit 11,5 Prozent, die jedoch absolut gesehen die höchste Anzahl von Frauenmandaten vergab. Obwohl die Frauenquote der SPD von 11,5 Prozent sowie die Quote beider sozialistischer Parteien von 11,7 Prozent die 8,5 Prozent Quote des Parlamentes überstieg, erscheint sie niedrig, wenn man bedenkt, daß die Sozialdemokratie als einzige Partei schon seit 1894 für das Frauenwahlrecht eingetreten war.4 Die Parteien rechts der SPD unterschieden sich hinsichtlich ihres Frauenanteiles nicht wesentlich voneinander. Dabei überrascht, daß die DDP - die Partei, der sich die Frauen der liberalen Frauenbewegung, organisiert im ,3und Deutscher Frauenvereine", zugehörig fühlten - bis zum 30. September 1919 sogar noch hinter der DNVP rangierte. Deren Mitglieder hatten sich 1918 mehrheitlich gegen das Frauenwahlrecht ausgeprochen. Der Frauenanteil der DDP-Fraktion erhöhte sich erst im September 1919, als Marie Elisabeth Lüders für den verstorbenen DDP-Abgeordneten Friedrich Naumann nachrückte, von 6,8 Prozent auf 8,1 Prozent. Die niedrigste Frauenquote wies die DVP mit 4,5 Prozent auf. Bei dieser Partei sowie bei den kleineren Parteien korrespondierte eine geringe Fraktionsstärke mit einem niedrigen Frauenanteil. Dies traf in der Nationalversammlung und später im Reichstag auch auf die Splitterparteien der Rechten zu. Die NSDAP, die bekanntlich bald keine Splitterpartei mehr war, machte nur insofern eine Ausnahme, als sie den Ausschluß der Frauen programmatisch betrieb und sich ausschließlich aus Männern zusammensetzte. Die Vermutung, daß die Ursache für die niedrigen Frauenquoten der Fraktionen einer niedrigen Wahlbeteiligung der Wählerinnen entsprach, trifft nicht zu - die Wahlbeteiligung lag bei beiden Geschlechtern bei ca. 83 Prozent. Während sich die Frauen in allen Altersgruppen gleich stark an der Wahl beteiligten, dominierten bei den Männern die über 25-jährigen Wähler. Männliche Erstwähler im Alter von über 20 Jahren hatten sich im Vergleich zu den jungen Frauen deutlich zurückgehalten.5 Hier wirkten sich einerseits die Kriegsfolgen aus - Kriegsopfer, Kriegsgefangene, noch nicht Entlassene - , aber andererseits zeigte sich hier, daß der Politisierungs- und Mobilisierungskampagne, die die Frauenverbände während des Wahlkampfes durchgeführt hatten, eine beachtliche Wirkung beschieden war. Die
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Vgl.: Karl Dietrich Bracher/Erich Matthias/Rudolf Morsey (Hg.):Die SPD in der Nationalversammlung 1919-1920. Eingeleitet von Heinrich Potthoff (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Dritte Reihe ). Düsseldorf 1986, S. XII. Ebd.
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Wählerinnen verknüpften mit der Wahl hohe Erwartungen und hofften, nun Einfluß auf die bisher von Männern dominierte Politik zu gewinnen. Im Gegensatz dazu hatten die Parteien im Wahlkampf kein besonderes Gewicht auf eine spezifische Politisierung der männlichen Neuwähler gelegt. Mit ihrem Anteil von 8,6 Prozent repräsentierten die Parlamentarierinnen rein numerisch betrachtet keineswegs die neuhinzugekommenen weiblichen Stimmberechtigten und noch weniger die weibliche Wohnbevölkerung im Deutschen Reich. Im Jahre 1919 kamen auf 100 Männer, die mehr als 20 Jahre alt waren, 117 Frauen desselben Alters. An den über 20-jährigen Wahlberechtigten hielten die Frauen einen Anteil von 54 Prozent, die Männer einen Anteil von 46 Prozent. Diesem Umstand hatten die Parteien bei der Kandidatenaufstellung keine Rechnung getragen. Zwar hatten fast alle Parteien Frauen aufgestellt und sie sogar auf „sichere" Listenplätze gesetzt, aber in jeder Partei und auf jeder Liste waren es nur wenige Kandidatinnen. Es kam nicht vor, daß mehrere Frauen zusammen eine Liste anführten oder etwa auf einer Liste gewählt wurden. Bei den in vorderer Position aufgestellten Politikerinnen handelte es sich um prominente Frauen, die sich schon vor 1918 in den Parteien profiliert hatten und die sich auf die Frauenverbände stützten. Doch trotz ihres Bekanntheitsgrades kam keine von ihnen auf den ersten Platz; die Parteien betrachteten diese „neuen" Frauen keineswegs als ihre Zugpferde. So wurden selbst so bekannte und beliebte Spitzenpolitikerinnen wie die Sozialdemokratin Marie Juchacz, die Zentrumspolitikerin Helene Weber und die DDP-Politikerin Gertrud Bäumer nicht dazu ausersehen, eine Liste anzuführen. Dieser Einstufung entsprach, daß sich die ersten Parlamentarierinnen als Neulinge fühlten und am Anfang einer langen Lehrzeit sahen. Die DDP-Abgeordnete Gertrud Bäumer bezeichnete die neuen Frauen im Parlament sogar als „Novizen"4. Dieser Begriff aus dem Klosterleben Schloß die ganze Existenz derjenigen ein, die sich auf Politik einließ. Es ging also nicht nur um das Einüben parlamentarischer Regeln. Gegen ein solches rein technisches Verständnis sprachen die hohen Erwartungen der Frauen beim Eintritt in die Nationalversammlung. So schrieb eine Sozialdemokratin: „Die Erwartung bedeutungsvoller Tage erweckt ein Gefühl der Spannung und Erregung. Über die ungeheure Bedeutung der nächsten Tage sind sich alle (zumal die Frauen) bewußt."7 Ihrer Parteikollegin Louise Schnieder blieb
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Gertrud Bäumer: Der erste Wahlkampf. In: Die Frau 26 (1919), S. 134. Dies: Rede zum sozialen Teil des Regierungsprogramms. In: ebd., S. 197. Elisabeth Kirschmann-Röhl: Tagebuchblätter aus Weimar. 4. Februar 1919. In: Die Gleichheit 29 (1919), S. 88.
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beim Eintritt in die Nationalversammlung fast das Herz stehen. Schroeder erinnerte sich an die Eröflnung als „etwas ganz Großes".' Unter den 24 Ländern, die bis 1919 das Frauenwahlrecht eingeführt hatten - wie etwa Australien für weiße Frauen 1902, Neu Seeland 1893, Kanada 1918, Polen 1918, Dänemark 1915, Finnland 19069 konnte das Deutsche Reich die höchste Frauenquote im Parlament für sich in Anspruch nehmen. In Österreich beispielsweise, das sich am 18. Dezember 1918 eine Wahlordnung für die Konstituierende Nationalversammlung gegeben hatte, die das Frauenwahlrecht einschloß, zogen elf weibliche Abgeordnete von insgesamt 170 Parlamentariern, 6,5 Prozent, in die Konstituierende Nationalversammlung ein.10 In den Niederlanden erreichte der Anteil der weiblichen Abgeordneten in der zweiten Kammer vor dem Zweiten Weltkrieg niemals mehr als 7 Prozent11 und in den USA, die 1920 das Frauenwahlrecht für US-Amerikanerinnen einführten, hat der Anteil der Frauen im Kongreß seit dem Zweiten Weltkrieg 6 Prozent nicht überschritten.12 Diese Zahlen zeigen, daß die Modernisierung des Wahlrechts, die nicht zuletzt im Frauenwahlrecht zum Ausdruck kam, noch keineswegs eine numerisch gleichberechtigte Beteiligung der Frauen im Parlament garantierte. Mit dem Frauenwahlrecht war zwar die Voraussetzung für die umfassende politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frauen gegeben, die Parteien sahen aber deren praktische Umsetzung in ihrer eigenen Arbeit nicht als Notwendigkeit an.
1. Biographische Voraussetzungen Die ersten Parlamentarierinnen waren durch ähnliche biographische Voraussetzungen geprägt. Im Folgenden werden fünf wichtige Aspekte näher untersucht: (a) die
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Louise Schroeder, zitiert nach: Brigitte Bosing: Drei Frauen der ersten Stunde. Politikerinnen im Vor- und Nachkriegsdeutschland. MS einer Sendung des Hessischen Rundfunks vom 25./28. Juli 1986, S. 3. Vgl.dazu: Doris Stevens: Countries in which Women Vote. In: Carol O'Hare (Hg.): Jailed für Freedom. American women win the vote. 1995, S. 204 sowie Joni Seager: Der Fischer Frauen-Atlas. Daten, Fakten, Informationen. Frankfurt am Main 1998, S. 88-89. Vgl. Gabriella Hauch: Vom Frauenstandpunkt aus. Frauen im Parlament 1919-1933. Wien 1995, S. 65, 96. United Nations Office at Vienna, Centre fur Social Development an Humanitarian Affairs (Hg.): Women in Politics and Decision Making in the Late Twentieth Century. A United Nations Study. New York/Dordrecht 1992, S. 23. Ebd., S. 26.
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geographische Herkunft; (b) der Bildungsstand; (c) das Interesse an der Lösung der sozialen Frage; (d) die Organisierung in der Frauenbewegung und den Parteien und (e) der Ausschluß aus der offiziellen Politik und dem Wahlrecht in der Zeit vor 1918. (a) Ein Großteil der Parlamentarierinnen, die 1919 in die Nationalversammlung gewählt wurden, stammte aus Städten, die in traditionsreichen Gewerbegebieten mit hoher Bevölkerungsdichte lagen und zu den Führungsregionen der Industrialisierung gehörten." Preußen besaß die meisten dieser Pioniergebiete mit der günstigsten „Ressourcenausstattung". Daß sich diese nicht nur auf Rohstoffe beschränkte, sondern auch „Humankapital"14 einbezog, das in die politische Führungsschicht einging, zeigte sich daran, daß die Abgeordneten vorrangig aus Preußischen Provinzen stammten. Unter den 388 männlichen Abgeordneten stammten 336 Abgeordnete (= 86 Prozent) aus Preußen.15 Ähnliches gilt für die 37 Parlamentarierinnen; von ihnen waren 29 in Preußen beheimatet, z.B. die DDPAbgeordneten Marie Elisabeth Lüders und Gertrud Bäumer, die Katholikinnen Helene Weber und Christine Teusch, die Sozialdemokratinnen Marie Juchacz und Toni Sender. Drei Parlamentarierinnen kamen aus Schleswig-Holstein, eine von ihnen war die spätere Oberbürgermeisterin von Berlin, Louise Schroeder; zwei stammten aus Sachsen; eine, die Sozialdemokratin Johanne Reitze, kam aus Hamburg. Als einzige stammte die Sozialdemokratin Toni Pfiilf aus Metz, im ehemaligen „Reichsland" Elsaß-Lothringen. Die süddeutschen Reichsteile waren nur durch eine Parlamentarierin, Marie Zettler, vertreten. Sie war Mitglied der Bayerischen Volkspartei und kam aus Mering, einem Dorf in Oberbayern. (b) Die ersten Parlamentarierinnen" gehörten einer Generation an, die bereits von den Errungenschaften der Frauenbewegung hinsichtlich Bildung und Ausbildung profitierten. So konnten Frauen aus (bildungs-)bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten bereits weiterqualifizierende Bildungseinrichtungen für Mädchen ausnutzen, die von Mitgliedern der liberalen Frauenbewegung, manchmal sogar von ihren eigenen Müttern, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geschaffen worden
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Vgl. Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1815-1845/49. München 1987, S. 632. Ebd., S. 635. Vgl. Bureau des Reichstags (Hg.): Handbuch der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung. Biographische Skizzen und Bilder. Berlin 1919, S. 120-293. Dies gilt auch für die ältesten, beispielsweise für die 1865 geborene Käthe Schumacher und die 1873 geborene Gertrud Bäumer, sowie für die 1874 geborene Marie Baum.
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waren. Dies gilt besonders für die politisch liberalen, die der DDP beitraten, z.B. Marie Baum, Gertrud Bäumer und Marie Elisabeth Lüders. Die meisten Sozialdemokratinnen hatten ihre Schulbildung in der achtklassigen Elementar-oder Volksschule erworben; jedoch gab es auch Ausnahmen wie Louise Schroeder, die die Mittelschule besucht hatte. Hervorzuheben aber ist, daß die genannten Sozialdemokratinnen und manche der späteren Kommunistinnen ihre allgemeine und politische Bildung im sozialdemokratischen Milieu unter Frauen erworben und ständig erweitert hatten. Die jungen Frauen wurden, wie etwa Marie Juchacz, Mitglied der „Frauen- und Mädchenbildungsvereine". Sie ergriffen alle sich bietenden Bildungsmöglichkeiten, um ihre in der Volksschule erworbenen Kenntnisse zu erweitern.17 Im ganzen gesehen verfügen die 37 Parlamentarierinnen der Nationalversammlung 1919 über einen hohen Bildungsstand. Zwölf von ihnen hatten das Lehrerinnenseminar besucht, acht ein Studium an einer Universität absolviert, drei waren promoviert worden. 14 der weiblichen Abgeordneten hatten nur die Volksschule absolviert. (c) Gemeinsam war den Parlamentarierinnen darüber hinaus das Engagement für die Lösung der sozialen Probleme ihrer Zeit, mit denen sie in den wachsenden Industriegebieten Preußens und Sachsens, in den Städten des Ruhrgebiets und in Berlin konfrontiert worden waren. Alle 37 Parlamentarierinnen hatten sich vor ihrem Eintritt in die Nationalversammlung beruflich oder ehrenamtlich mit sozialen Themen beschäftigt. Während die Politikerinnen bürgerlicher Herkunft in der Regel nach dem Studium einen sozialen oder pädagogischen Beruf ergriffen und sich in Verbänden sozialpolitisch betätigten, arbeiteten die Frauen aus den Arbeiterschichten zunächst in der sozial engagierten Frauenbewegung der Sozialdemokratischen Partei mit. Die Bedeutung und die Besonderheiten des weiblichen Einsatzes werden in einem Vergleich mit den sozialen Interessen der männlichen Abgeordneten deutlich. Unter den 389 männlichen Abgeordneten der Nationalversammlung beschäftigten sich nur 49 Parlamentarier mit sozialen Themen und/oder übernahmen soziale Ehrenämter." So betätigten sich etliche männliche Abgeordnete als Vorsitzende von Ortskrankenkassen oder arbeiteten in den Vorständen von LandesversicherungsanLouise Schroeder: Unsere Frauen in der deutschen Nationalversammlung. In: Die Gleichheit 29 (1919), S. 84. Vgl. Bureau des Reichstags (Hg ). Handbuch der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung (wie Anm. 15), S. 120. Die Numerierung in den folgenden Anmerkungen bezieht sich auf die fortlaufende Numerierung der einzelnen Biogramme im Handbuch.
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stalten mit." Andere engagierten sich als Mitglieder des städtischen Armenrates.20 Wieder andere unterstützten das „Rote Kreuz" als Mitglied in dessen Vereinsvorständen.21 Die Politikerinnen dagegen erschlossen sich aufgrund ihres sozialen Engagements und durch ihre soziale Tätigkeit vielfach eine berufliche Laufbahn in einem neuen Bereich und erweiterten damit die Berufsfelder für Frauen überhaupt. Die Männer entwickelten umgekehrt aus ihren Berufen und ihrer parteipolitischen oder gewerkschaftlichen Betätigung heraus ein Interesse für die „soziale Frage" und/oder übernahmen kommunale Ehrenämter oder Vereinsvorsitze. Doch dies geschah in weitaus geringerem Maße als bei den Frauen. (d) Bevor das Reichsvereinsgesetz von 1908 den politischen Parteien gestattete, weibliche Mitglieder aufzunehmen, hatten sich bereits einige der hier interessierenden Frauen in sozial- und gesellschaftspolitischen Frauenvereinen, die zur sozialdemokratischen, katholischen, protestantisch-konservativen oder liberalen Frauenbewegung gehörten engagiert. Für alle diese Frauen - vor allem aber für die vor 1890 geborenen - galt, daß sie in der Leitung der Vereine eigene Verantwortung übernahmen und über diesen Weg in öffentliche Aktivitäten eintraten.22 Parallel dazu arbeiteten die ersten Parlamentarierinnen schon früh in den politischen Parteien mit. Der Sozialdemokratie kam hier eine Vorreiterrolle zu. Seit dem Sozialistengesetz von 1878 waren Frauen in die praktische Parteiarbeit integriert gewesen. Nach der Neuorganisation der Partei im Jahre 1890 wurde die sozialdemokratische Frauenbewegung offiziell in die Parteiorganisation einbezogen. Viele Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung hatten sich schon vor 1908 den liberalen Parteien angeschlossen. Doch darf aus dieser Tatsache nicht geschlossen werden, daß die liberalen Parteien die Gleichberechtigung der Frau programmatisch vertreten hätten. Für alle Parteien gilt, daß sie Frauen zwar duldeten, sie aber niemals an Führungsaufgaben beteiligten und von sich aus nichts taten, um eine gleichberechtigte politische Partizipation der Frauen zu fördern. (e) Aufgrund der hier aufgezeigten Startvoraussetzungen können die ersten Parlamentarierinnen als eine relativ homogene Gruppe beschrieben werden, die aufgrund ihres Geschlechts sowie der gesellschaftlichen und politischen Beschränkungen, die daraus erwuchsen, Uber ähnliche gesellschaftliche und politi-
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Vgl. ebd., S. 27, 34, 45, 87, 113. Vgl. ebd., S. 87, 59. Vgl. ebd., S. 20,42, 113. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. Band I. München 1990, S. 442.
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sehe Erfahrungen verfugten. Dazu gehörte, daß sie bis 1919 vom Wahlrecht und der offiziellen Politik in den Parlamenten ausgeschlossen waren. Doch beschränkten sich ihre Erfahrungen keineswegs nur auf ausgrenzende Erlebnisse. Gemeinsam war diesen Frauen darüber hinaus die Erfahrung, daß sie aufgrund ihres Sachverstandes, ihrer beruflichen und politischen Qualifikation und ihrer Einsatzbereitschaft zu ihren verantwortlichen Stellungen in Verbänden, in der Sozialpolitik und der Verwaltung gekommen waren. Alle blickten auf einen zähen Kampf innerhalb ihrer Parteien um die Anerkennung der politischen Rechte der Frauen zurück. Weil dieser Kampf mit dem Eintritt in die Nationalversammlung zunächst erfolgreich endete, gelangten die Politikerinnen zu einer positiven Grunderfahrung, die sie für ihre weitere politische Arbeit motivierte. Ihr Ziel war dabei, das eigene Fortkommen mit dem Wohl der Gesamtheit zu verbinden. So etwa gab die Zentrumspolitikerin Hedwig Dransfeld als ihr politisches „Lebensziel" für die Arbeit in der Nationalversammlung an, sie wolle die „Entwicklung der Persönlichkeit im Dienste der Gemeinschaft" erreichen.23 Die DDP-Abgeordnete Marie Baum formulierte diese Haltung später, freilich bezogen auf ihr eigenes Verhalten innerhalb der Verwaltung, folgendermaßen: Sie habe sich vom Einsatz ihrer Kräfte die Überwindung der Schwierigkeiten zum Wohle des Ganzen erhofft.24 Entsprechend dieser Haltung vertraten die Politikerinnen die Ansicht, parlamentarische Arbeit sei mit der Ausübung eines lebenslangen Berufes zu vergleichen und stellten sich deshalb auf eine lange Lehrzeit ein.
2. Diäten und Berufspolitikerinnen In allen Fraktionen bildeten sich schließlich im Laufe der Weimarer Republik Berufspolitikerinnen heraus, die immer wieder kandidierten und ein Mandat erhielten. Wenn es den Typ der Berufspolitikerin im Max Weberschen Sinn: Frauen, die als angestellte Funktionärinnen in Verbänden und Parteien „von Politik lebten", bereits vor 1918 gegeben hatte, so strebten diese Frauen seit 1919 danach, aus ihrer Abgeordnetentätigkeit eine dauernde Einnahmequelle zu machen. Ermöglicht wurde diese Professionalisierung nicht zuletzt durch die sogenannten „Diäten".
Georg Maas: Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung. Lebensgang, Lebensarbeit, Lebensziele ihrer Mitglieder nach eigenen Mitteilungen und mit Bildnissen. Charlottenburg 1919, S. 25. NL Marie Baum. UB Heidelberg. Heid. HS 3675. Marie Baum an das Staatsministerium Baden am 28. Mai 1926.
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Bei den „Diäten" im alten und neuen Reichstag handelte es sich per definitionem nicht um ein regelmäßiges Einkommen, sondern um eine Aufwandsentschädigung, die mit der Ausübung der Parlamentstätigkeit verbunden war. Die Diäten unterlagen deshalb nicht der Steuerpflicht.25 Andererseits trugen die Diäten den Charakter eines Unterhaltgeldes oder einer Besoldung. Dies zeigte sich in der Weimarer Republik in ihrer relativen Angleichung an die Beamtengehälter. Während die Beamtengehälter jedoch zur Bestreitung des gesamten standesgemäßen Lebensunterhaltes bestimmt waren, sollten die Diäten neben der eigentlichen Berufsausübung den Mehraufwand decken, den die Abgeordnetentätigkeit verursachte.26 Wie die Beamtengehälter wurden die „Diäten" der Inflation angepaßt und entsprechend erhöht.27 Die finanzielle Entschädigung zur Begleichung der Kosten betrug seit dem 1. Februar 1919 monatlich 1.000 Mark.2' Dazu kam für die Dauer der Wahlperiode freie Fahrt auf allen deutschen Eisenbahnen. Ein Tagegeld von 20 Mark wurde für die Teilnahme an Ausschußssitzungen fur den Fall gewährt, daß keine Plenumssitzungen stattfanden.29 Im Reichstagshandbuch hatten sechs der 37 weiblichen Abgeordneten, 16,6 Prozent der Parlamentarierinnen, angegeben, keinen „besonderen Beruf auszuüben. Dahinter verbargen sich vor allem Haus- und Ehefrauen ohne eigenes Einkommen. Für sie stellte die „ A u f w a n d s e n t s c h ä d i g u n g " ein höchst willkommenes Einkommen dar. Doch auch bei berufstätigen Frauen überstiegen die Diäten vielfach die Einkünfte aus eigener Berufstätigkeit.30 Im Vergleich mit den Gehältern im sozialen und pädagogischen Bereich, die auf die vermeintlichen Bedürfhisse alleinlebender Frauen zugeschnitten waren, richte-
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Vgl. Leonidas Pitamic: Das Recht des Abgeordneten auf Diäten. In: Wiener Staatswissenschaftliche Studien. Edmund Bernatzik/Eugen von Phillippovich (Hg.) Band 11. Wien/ Leipzig 1913, S. 49 sowie Christian Jansen: Selbstbewußtes oder gefügiges Parlament? Abgeordnetendiäten und Berufspolitiker in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 33-65. Pitamic: Das Recht des Abgeordneten auf Diäten. Ebd., S. 45. Gesetz über die Entschädigung der Mitglieder des Reichstags vom 10. Juli 1920. RGBl. 1920, Nr. 150, S. 1437. Erhöhung auf 1500 Mark. Vgl. Bureau des Reichstags (Hg.): Reichstagshandbuch. II. Wahlperiode 1924. Berlin 1924, S. 209. RGBl. 1919, Gesetz über die Entschädigung der Mitglieder des Reichstags. § 1, 2. Nr. 44, S. 241. Ebd., §1,1 sowie Pitamic: Das Recht des Abgeordneten (wie Anm. 25), S. 121. Vgl. Maas: Die verfassunggebende Nationalversammlung (wie Anm. 23), S. XLVI. Die Frauen übten zum großen Teil Berufstätigkeiten der unteren Gehaltsgruppen aus wie: Volks-und Mittelschullehrerinnen, Oberlehrerinnen, Schulvorsteherin (5); Vorstandsmitglied sozialer Vereine, Sozialsekretärin (9); Parteisekretärin (4); Schriftstellerin (5); Fürsorgerin (1); Etuisarbeiterin (1); Zigarrenarbeiterin (1); Gewerschaftssekretärin, Gewerkvereinsvorsitzende (2); Redakteurin (2); ohne besonderen Beruf (6).
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ten sich die Diäten nach den Gehältern männlicher Arbeitnehmer und Familienväter. Sie entsprachen schließlich 25 Prozent des (jährlichen) Grundgehaltes eines Reichsministers31 oder der vorletzten Gehaltsstufe etatmäßiger Professoren der Universität Heidelberg.32 Nach einer Erhebung, die die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Frauenberufsverbände 1928/29 durchführte, ergibt sich folgendes Bild: Hilfsschullehrerinnen erhielten ein jährliches Endgehalt von 5.300 Mark; Mittelschullehrerinnen 5.220 Mark; Rektorinnen an Schulen mit mindestens fünf Klassen 7.200 Mark. Die Parlamentarierinnen dagegen bezogen unabhängig von Geschlecht, Familienstand, Ausbildung, Bildung, sowie vorausgegangener Berufstätigkeit 1928/29 ein jährliches „Nettoeinkommen" von 9.000 Mark; hinzu kamen die freie Fahrt auf allen Strecken der Reichsbahn und besondere Tagegelder.33 In der Weimarer Republik gelang es nur wenigen Frauen, kontinuierlich ein Mandat wahrzunehmen und als Berufspolitikerin zu arbeiten. Es waren dies vor allem die gut ausgebildeten und berufstätigen Frauen. Von den 15 weiblichen Reichstagsabgeordneten der SPD hatten 1932 elf ein ununterbrochenes Mandat seit 1919/20 innegehabt. Dazu gehörten die Spitzenpolitikerinnen Marie Juchacz, Toni Sender, Louise Schroeder, Toni Pfülf, Clara Bohm-Schuch. In der Zentrumspartei hatten sich Christine Teusch, Agnes Neuhaus und, bis zu ihrem Tod im Jahr 1922, Hedwig Dransfeld ganz der Parlamentsarbeit verschrieben. Ihre Parteikollegin Helene Weber, die 1920 gegen ihren Willen nicht mehr für den Reichstag kandidiert hatte, verband seit 1921 die Tätigkeit als Ministerialrätin im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt in Berlin mit der Mitgliedschaft im preußischen Landtag. Seit 1924 kandidierte Weber wieder für den Reichstag und arbeitete weiterhin im preußischen Innenministerium. Thusnelda Lang-Brumann, Dozentin an der sozialen Frauenschule in München, war die einzige weibliche Reichstagskandidatin der Β VP. Auch sie übte von 1920 bis 1933 ihre Parlamentstätigkeit wie
Ein Reichsminister erhielt 1927 36.000 Mark nach Besoldungsordnung B, Besoldungsgruppe 2. Der Reichskanzler lag in Besoldungsgruppe B1 und erhielt 45.000 Mark. RGBl. 1 1927, Nr. 52. Besoldungsgesetz (16.12.1927), S. 388. Vgl. Christian Jansen: Vom Gelehrten zum Beamten. Karriereverläufe und soziale Lage der Heidelberger Hochschullehrer 1914-1933. Heidelberg 1992, hier S. 39, Tab. 17c, Stand 1. April 1927. Dazu kamen freilich die wandelbaren Bezüge. Vgl. S. 52, Tab. 22. Zum Vergleich. 1927 kosteten im Stadtkreis Berlin: 1 Ei: 16 Pfennig, 1 kg Bohnenkaffee: 690 Pfennig, 1 kg Landbutter: 370 Pfennig, 1 1 Vollmilch: 29 Pfennig, 1 kg Kartoffeln: 12 Pfennig, 1 kg Semmeln: 73 Pfennig, 1 kg Roggenbrot: 42 Pfennig. In: Preußisches Statistisches Landesamt in Berlin (Hg ): Preußische Statistik. Monats- und Jahrespreise wichtiger Lebens- und Verpflegungsmittel einschließlich lebenden Viehs in Preußen im Jahre 1927, Nr. 222. Berlin 1928.
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einen Beruf aus. In der DDP entschied sich Marie Elisabeth Lüders für den Beruf der Parlamentarierin, den sie von 1919 bis 1928 ausüben konnte. Sie war promoviert und Studiendirektorin an einer Frauenakademie gewesen. Gertrud Bäumer verband die Tätigkeit im Reichstag von 1920 bis 1932 mit ihrer beruflichen Tätigkeit als Ministerialrätin im Reichsministerium des Innern. Die KPD-Abgeordnete Clara Zetkin bezog seit 1920 Diäten für ihre Arbeit im Parlament, die sie ununterbrochen bis 1932 ausübte. In der KPD gab es auch „Berufsrevolutionärinnen", die keinen (bürgerlichen) Beruf hatten und zeitweise Einkünfte aus Diäten bezogen, wie etwa Elfriede Golke, geb. Eisner, genannt Ruth Fischer. Sie wurde 1924 in der III. Wahlperiode als Abgeordnete der KPD in den Reichstag gewählt. Dieser kurze Überblick zeigt, daß es in jeder Partei einige wenige Berufspolitikerinnen gab, die meist auch Mitglied der Vorstände ihrer Parteien waren. Im Reichstag arbeiteten sie in den parlamentarischen Ausschüssen mit. Darüber hinaus waren sie Vorstandsmitglieder oder Vorsitzende der Frauenorganisationen ihrer Parteien und/oder überparteilicher Frauenorganisationen. Die meisten dieser Frauen waren akademisch gebildet, viele von ihnen sogar promoviert. Der Vorstellung, Politik als Berufimg aufzufassen und Berufspolitikerin zu werden, stand in der Weimarer Republik die Stagnation und der verhältnismäßige Rückgang der Frauenmandate im Wege. Während sich die Zahl der Reichstagsmandate aufgrund gesteigerter Wahlbeteiligung insgesamt beträchtlich erhöhte, sank der Anteil der Parlamentarierinnen kontinuierlich. In der VIII. Wahlperiode im Jahre 1933 waren nur noch 27 Frauen in den Reichstag gewählt worden, während die Zahl der Sitze bei 566 lag. Dies hing nicht nur damit zusammen, daß die NSDAP, die seit der VI. Wahlperiode im Jahr 1932 die stärkste Fraktion stellte, es prinzipiell - und damit gegen den Gleichheitsgrundsatz der Reichsverfassung - ablehnte, Frauen aufzustellen. Sondern auch die übrigen Parteien - mit Ausnahme der KPD - hatten sich schon in der ersten Wahlperiode zunehmend unwilliger gezeigt, Frauen auf vordere Listenplätze zu stellen. Parallel zum Aufstieg der NSDAP verloren die liberalen Parteien an Stimmen. Wie beispielsweise an der DDP sowie der DVP zu sehen ist, wirkte sich der Stimmenverlust negativ auf ihre Bereitschaft aus, Frauen auf vordere Listenplätze zu setzen, obwohl gerade auch diese Parteien über hochqualifizierte, erfahrene und kompetente Politikerinnen verfugten. SPD und Zentrum gewöhnten sich im Laufe der Zeit an einzelne Spitzenkandidatinnen und stellten diese immer wieder auf. Die SPD vergab sogar seit 1930 in zwei Wahlkreisen die beiden ersten Listenplätze an Frauen. Die KPD stellte Klara Zetkin auf den ersten Platz im Wahlkreis Württemberg. Es ist jedoch auffällig,
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daß, bis auf die KPD, die ihre Kandidatinnen öfter auswechselte, in den bürgerlichen Parteien und der SPD keine neuen Spitzenkandidatinnen hinzukamen.
3. Handlungsmöglichkeiten Insgesamt gesehen gingen die Frauenmandate zurück. Diese Entwicklung war den Politikerinnen nicht verborgen geblieben. Helene Lange, Vorstandsmitglied der DDP und Seniorin der liberalen Frauenbewegung, machte in der zweiten Wahlperiode 1924 auf einen drastischen Rückgang von insgesamt 14 Mandaten für Frauen aufmerksam. Die Zentrumspolitikerin Hedwig Dransfeld wies bereits 1920 auf die Kluft zwischen der hohen Wahlbeteiligung von Frauen, der ihre Partei einen Großteil der Stimmen verdankt hatte, und der geringen Vertretung der Frauen in der Fraktion und in den Führungsgremien der Partei hin. Sie kritisierte die Praxis der Kandidatenaufstellung für die Parlamente sowie deren Begründung durch den Wahlleiter. Es komme einer „inneren Ablehnung der Gleichberechtigung" gleich, wenn die Parteien die Wahlkreislisten nach berufsständischen Kriterien auswählten. Es sei absurd, daß auch Frauen unter eine solche „Standesvertretung" fielen. Ein Geschlecht, d.h. die Hälfte der Menschheit, könne nicht mit einer Berufsgruppe gleichgesetzt werden. Gerade im Falle von Hedwig Dransfeld wird deutlich, wie die Parteien ihre Kandidaten auswählten. Die bekannte und beliebte Politikerin hatte 1920 auf einen als sicher geltenden dritten Platz auf der neu eingeführten Reichsliste verzichten müssen,34 weil ihr ein Mann vorgezogen wurde. Die Partei fühlte sich diesem verdienten Politiker, der in seinem Wahlkreis zurückgesetzt worden war, verpflichtet und wollte ihm mit dem dritten Platz „eine gewisse Genugtuung vor der Öffentlichkeit bereiten". Mit folgender Begründung glaubte man, Hedwig Dransfeld zurückstufen zu können. Der Parteivorsitzende Karl Trimbom schrieb ihr: „Wir haben zu Ihrem oft bewährten generösen Sinn das Vertrauen gehabt, daß Sie uns deswegen keine Schwierigkeiten machen werden." Obwohl die Politikerin dennoch ein Mandat erhielt, ärgerte sie sich über die Begründung ihrer Zurücksetzung. Der Vorstand hatte nicht aus Sach- und Kompetenzgründen entschieden. Die Übertragung der weiblichen Geschlechterrollenstereotype auf die Politikerin, wonach Frauen auch in der Politik friedliebend und harmonisierend sowie auf das
Zum folgenden vgl. Elisabeth Pregardier/Anne Mohr: Politik als Aufgabe. Engagement christlicher Frauen in der Weimarer Republik. Annweiler 1990, S. 204-206.
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Wohl des Ganzen bedacht agieren sollten, vertuschte eine höchst subjektive Entscheidung, bei der die Frauen das Nachsehen hatten. Nach solchen Erfahrungen sahen die Politikerinnen bald die Vergeblichkeit ihres Bemühens ein, an das Gerechtigkeitsempfinden der Männer zu appellieren. Deshalb schlugen sie drei Strategien ein: Um ihre Partizipation an der politischen Macht in den Parteien durchzusetzen, forderten sie erstens die Einfuhrung einer Frauenquote. So sollte etwa in der Zentrumspartei im Jahre 1920 in allen als „sicher" geltenden Wahlkreisen, d.h. in solchen, in denen das Zentrum bei den letzten Wahlen mindestens fünf Mandate errungen hatte, eine Frau an „sicherer", möglichst an zweiter Stelle aufgestellt werden. Einen ersten Listenplatz wagten die Frauen nicht zu fordern, weil sie dies für politisch nicht durchsetzbar hielten.35 Die Politikerinnen gründeten zweitens in ihren Parteien eigene Frauenorganisationen, die die Interessen der Frauen auf Teilhabe an den politischen Entscheidungen vertreten sollten. So schufen die Zentrumsfrauen 1922 den „Reichsfrauenbeirat", der sich als organischen Teil der Parteiorganisation verstand. Ziel dieses Beirates war es, die verständnisvolle Würdigung der weiblichen Mitarbeit in der Partei zu fördern und den Einfluß der Frau innerhalb der Parteiinstanzen zu sichern. Die dritte Maßnahme der Politikerinnen bezog sich auf die Wählerinnen. Um diesen ihre Einflußmöglichkeiten auf die Parteien bewußt zu machen, entwickelten etwa DDP-Frauen in Zusammenarbeit mit ihren (unabhängigen) Frauenverbänden seit November 1924 Strategien, um die Zahl der Frauenmandate zu erhöhen. Im Wahljahr 1928 schrieb Gertrud Bäumer, daß die Frauen und Wählerinnen politisch energischer auftreten müßten. Es seien zu wenig Frauen in den Parlamenten vertreten und die Solidarität der weiblichen Wählerschaft habe sich den Parteien gegenüber noch nicht deutlich genug ausgedrückt. Bäumer dachte hier an neue Unterstützungsformen. So schlug sie vor, die Kandidatinnen im Wahlkampf finanziell zu unterstützen, um den Parteien deren Beliebtheitsgrad bei den Wählerinnen zu verdeutlichen.36 Nach acht Wahlperioden in der Weimarer Republik vermochten die Parlamentarierinnen die Bedeutung solcher Frauenorganisationen realistisch einzuschätzen. Sie lernten beispielsweise, daß sichere Listenplätze weder verschenkt, noch aufgrund rationaler, allgemein durchschaubarer und akzeptierter Kriterien vergeben wurden, sondern immer wieder neu durchgesetzt und erkämpft werden mußten. 35 36
Helene Weber: Der Reichsfrauenbeirat der Deutschen Zentrumspartei. In: Die Frau 36 (1928/29), S. 262. Gertrud Bäumer: Wahljahr 1928. In: Die Frau 36 (1928/29), S. 193.
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Sie lernten, daß es bei der Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen oft weniger auf Sachlagen und Kompetenz ankam, sondern vielmehr darauf, ob man das Wohlwollen des Wahlkreis- und/oder Parteivorsitzenden besaß und ob die Frauen darüber hinaus über eine emstzunehmende Lobby verfügten. Diese Lobby hatten sich die Frauen mit ihren parteiinternen Frauenbeiräten oder Frauenausschüssen zu schaffen gesucht. Sie machten sich jedoch keine Illusionen über die Schlagkraft dieses Instruments. So stammt von der DDP-Abgeordneten Marie Elisabeth Lüders folgende sarkastische Bemerkung: „Sollten sich die Männer gegen die Vorschläge des Reichsfrauenausschusses bei der Wahl sträuben, dann wissen die Frauen jedenfalls, daß sich ihr Widerstand nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen uns als Frauen überhaupt richtet und daß auch bei uns der Herrenclub Trumpf ist."37 Deshalb betrieb der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) Lobbyarbeit in den Parteien, indem er die Mitglieder der Reichstagsfraktionen brieflich um Auskunft über ihre Stellungnahme zu den Frauenforderungen bat.3' Der Bund richtete an alle bürgerlichen Parteien ein Schreiben und fragte darin, ob die Parteien grundsätzlich die Gleichberechtigung der Frau anerkannten und ob und inwiefern sie diesen Grundsatz bei der Aufstellung von Wahllisten berücksichtigten.39 Der BDF, der mehr als eine Million Mitglieder zählte, wies gleichzeitig seine Verbände an „solche Kandidatinnen zu sammeln, deren Wahl für die Vertretung der weiblichen Wählerschaft einen Zuwachs an Energien und für die politische Arbeit im allgemeinen eine Bereicherung bedeutet".40 Die Liste des BDF enthielt schließlich 82 Namen, von denen 29 auf die DDP, 32 auf die DVP und 21 auf die DNVP entfielen.41 Ein Vorschlag bezog sich auf eine Kandidatin der Zentrumspartei bezogen, SPD-Politikerinnen wurden nicht erwähnt. Mit diesen Kandidatinnenlisten, an deren Aufstellung 38 Frauen- und Frauenberufsverbände beteiligt waren,42 sollte demonstriert werden, daß hinter den Politikerinnen weitaus größere 37
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Marie Elisabeth Lüders an (Frl.) Misch, 19. August 1932. In: BArch Koblenz, NL 15100 (Lüders). Vgl. Else Ulich-Beil: Frauenfragen an Reichstagsabgeordnete. In: Die Frau 32 (1924/25), S. 272-273. Die Stellung der politischen Parteien zu den Frauenforderungen. In: Die Frau 33 (1925/26), S. 121-123. Vgl. Antrag Μ. E. Lüders zur Versendung eines Schreibens an die Parteien. In: Landesarchiv Berlin. Fragebögen und Kandidatinnen. Listen für die Reichsstags-und Landtagswahl 1928. Film 53.243 4 . Um die Vorschläge verbindlich zu gestalten, sollte jede Kandidatin mit ihrer Unterschrift bestätigen, daß sie einer Wahl zustimmen werde. BDF an die Vorsitzende der dem BDF angeschlossenen Verbände am 15. Dezember 1928. In: Nachrichtenblatt der BDF 1928, Nr. 2, S. 12. Ebd. Ebd.
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Kreise politisch interessierter Frauen standen als nur parteipolitisch Organisierte. Eine Wahlliste, die sich durch qualifizierte Kandidatinnen auszeichnete, sollte bisher unentschlossene Bundesmitglieder dazu bewegen, ihre Stimme der Partei zu geben, die die meisten Kandidatinnen aufstellte. Dies wiederum sollte bei den bürgerlichen Parteien die Einsicht fördern, daß die fortwährende Benachteiligung von Frauen bei der Aufstellung von Wahllisten eine Abwanderung der Wählerinnen „zu benachbarten, in dieser Hinsicht besser beratenden Parteien zur Folge" haben werde43 und der Partei insgesamt schade. Darüber hinaus wollten die Bundesmitglieder dem weitverbreiteten Vorurteil entgegentreten, daß nicht genügend qualifizierte Kandidatinnen zur Verfugung stünden.44 Der Bund führte diese Kampagne zum letzten Mal vor den Reichstagswahlen am 5. März 1933 durch und wandte sich noch einmal brieflich an die Reichstagsfraktionen. Darüber hinaus rief er die Wählerinnen dazu auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, um sich mit ihren Stimmzetteln gegen eine Verdrängung der Frauen aus dem Staatsleben zu wenden. Im einzelnen wandte sich der Bund gegen eine Schwächimg des Wahlrechts, gegen die völlige Ausschaltung der Frauen bei der Gesetzgebung, gegen den Abbau sachkundiger Frauen in der Verwaltung.45 Von den angeschriebenen Fraktionen antworteten mit Ausnahme der KPD, der BVP sowie der Reichspartei des deutschen Mittelstandes alle Parteien einschließlich der NSDAP.46 Das Schreiben der Zentrumspartei, für die Helene Weber zeichnete, gab präzise die Zahl der Frauen an, die als Zentrumsabgeordnete fur den Reichstag sowie für den Preußischen Landtag aufgestellt worden waren. Sie bekannte sich zu dem Grundsatz in den Richtlinien ihrer Partei:„Die verantwortliche Anteilnahme aller Bürger an den Aufgaben des Volksstaates bedingt die politische Gleichberechtigung der Frau und die volle Auswertung der weiblichen Mitarbeit in Gesetzgebung und Verwaltung."47 Die SPD verwies darauf, daß sie als Partei traditionell fur die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frau gekämpft habe. Sie stellte heraus, daß die Einführung des Frauenwahlrechts den sozialdemokratischen Volksbeauftragten zu verdanken sei. Die SPD richte sich bei der Aufstellung von Kandidaten nicht nach Geschlecht und Herkunft, sondern allein nach der Befkhi-
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BDF an die Vorsitzenden der dem Bund angeschlossenen Vereine. In: Landesarchiv Berlin. Fragebögen und Kandidaturen. Vgl. Mitteilungen des Bundesvorstandes. In: Nachrichtenblatt des BDF Nr. 2 (1928), S.
11. „Deutsche Berufsfrau, deutsche Mutter! In: BArch Koblenz, NL 15100 (Lüders), Nr. 107. Die Antwortbriefe sind in einer Abschrift im Nachlaß Lüders BArch Koblenz, NL 15100, Nr. 107 enthalten. Ebd.
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gung. Ohne konkrete Zahlen zu nennen, beteuerte man, daß „in allen Wahlkreisen Frauen an sicheren Stellen kandidierten".4' Auch die Deutsche DSTP nahm für sich in Anspruch, eine der Hauptverantwortlichen für die Verleihung des Frauenwahlrechtes gewesen zu sein. Deshalb habe die Partei in allen Wahlkreisen Kandidatinnen aufgestellt auf deren konkrete Plazierung wurde jedoch nicht eingegangen. Auch die DSTP vertrat die „volle und uneingeschränkte staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frauen als tragende Grundlage des politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens".49 Ausgesprochen höflich antwortete die Reichstagsfraktion der NSDAP auf die Anfrage des BDF. Sie stellte „ergebenst" fest, daß für die Beantwortung der Fragen die Parteileitung in München zuständig sei. Da jedoch die Zeit dränge und man dem Bund gerne gefällig sein wolle, bemühe sich die Reichstagsfraktion um eine Antwort. Man gab zu, daß auf den Listen der NSDAP auch diesmal ausschließlich Männer kandidierten, weil „die vielen Tausende von Frauen, die in unseren Reihen in vollster staatsbürgerlicher Gleichberechtigung aktiv mitarbeiten, von jeher und entschieden für die etwas zweifelhafte Ehre dankten, sich in die Drecklinie des politischen Kampfes in den Parlamenten zu begeben. Im übrigen", so fuhr die NSDAP-Fraktion fort, „erkennen wir natürlich die Frau als vollkommen gleichberechtigte Gefahrtin des Mannes im politischen Leben unbedingt an und möchten vor allem ihre Initiative auf sozialem und kulturellem, besonders aber auf karitativem Gebiete nicht missen."50 Angesichts des extremen Rückgangs der Frauenmandate im Reichstag - nur Zentrum und Sozialdemokratie hatten die Zahl ihrer Kandidatinnen beibehalten, und die übrigen Parteien hatten keine oder nur eine Kandidatin in den Reichstag geschickt - kam den Antworten der Parteien nur deklamatorischer Charakter zu, der der Parlamentswirklichkeit kaum standhielt. Die Kampagne des BDF bildete zwar einen wichtigen Versuch, als außerparlamentarische Kontrollinstanz das Bewußtsein der Parteien für den Rückgang der Frauenmandate zu schärfen, doch trug die Kampagne nicht mehr dazu bei, den Anteil der Parlamentarierinnen im Reichstag zu erhöhen. Andere Versuche, diesem Problem abzuhelfen, erwiesen sich ebenfalls als ungeeignet. Das Heilmittel einer Frauenpartei, das Mitte der 20er Jahre vor allem im Umkreis der liberalen Frauenbewegung, in deren Organ „Die Frau", diskutiert wurde, versagte, weil die Parlamentarierinnen eng an ihre Parteien gebunden wa-
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ren und die Wählerinnen sich ihre Parteien nicht nach der Anzahl der von ihnen aufgestellten Kandidatinnen aussuchten. In diesem Kampf um die Aufrechterhaltung und Vermehrung der Frauenmandate sowie um die Erhaltung der Demokratie mischte sich zunehmend der Abwehrkampf gegen den Nationalsozialismus, der seit 1924 aus jeder neuen Wahl gestärkt hervorging und 1930 bedrohliche Ausmaße annahm. Es kam hinzu, daß die NSDAP, die anfangs vor allem von Männern gewählt worden war, in den letzten beiden Reichstagswahlen auch vermehrt Frauenstimmen anzog. Daß sich die NSDAP-Fraktion öffentlich dagegen aussprach, keine Frauen in ihren Reihen kandidieren zu lassen - eine politische Maßnahme, die deutlich der Verfassung widersprach - , hinderte die Wählerinnen offensichtlich nicht an ihrer Entscheidung. Das NS-Regime behielt nach 1933 das Frauenwahlrecht pro forma bei, aber in den weiterhin bestehenden Pseudoreichstag gelangten keine weiblichen Abgeordneten.
4. Fazit Die Weimarer Republik bedeutete für die Frauen einen politischen Lernprozeß, der auf Reichstagsebene etwa 150 Frauen und die weiblichen Abgeordneten in den Landtagen und Kommunalparlamenten einbezog. Er eröffnete ihnen eine - freilich begrenzte - Möglichkeit politischer Partizipation, die wiederum neue Erfahrungen schuf. 1933 war dieser Prozeß für die Frauen nicht nur beendet, er hatte auch nicht zu ihrer gleichberechtigten Partizipation in den politischen Entscheidungsgremien geführt. Aber er ermöglichte politische Erfahrungen, die langfristige Wandlungen im politischen Handeln und in der politischen Mentalität beider Geschlechter nach sich zogen. Zwar verwischten die nachfolgenden zwölf Jahre des NSGewaltregimes alle demokratischen und frauenpolitischen Ansätze, doch einzelne Parlamentarierinnen der ersten Generation, wie etwa die Zentrumspolitikerinnen Helene Weber, Christine Teusch, die Liberalen Marie Elisabeth Lüders und Marie Baum, die Sozialdemokratinnen Louise Schroeder und Anna Nemitz, konnten an diese Erfahrungen nach 1945 wieder anknüpfen.
Die „undankbaren" Studentinnen. Studierende Frauen in der Weimarer Republik VON ANGELIKA SCHASER
Als die bekannte Mädchenbildungsreformerin Helene Lange im Herbst 1907 einen Aufsatz zum Thema Die undankbaren' Studentinnen veröffentlichte, machten nur die Anfuhrungszeichen klar, daß Lange hier kein eigenes Urteil verbreiten wollte.1 Sie nahm die scharfe Kritik zweier prominenter Vertreterinnen der Frauenbewegung an den Studentinnen zum Anlaß, über das Verhältnis zwischen organisierter Frauenbewegung und studierenden Frauen zu räsonieren. Anita Augspurg und Minna Cauer2 warfen den Studentinnen Undankbarkeit vor: Sie würden zwar die Vorteile nutzen, die ihnen die Frauenbewegung mit der Öffnung der Universitäten erkämpft habe, sich aber nur in ganz geringer Zahl in den Vereinen der Frauenbewegung engagieren. Mit diesem Vorwurf näherten sich Augspurg und Cauer, die sich selbst für das Frauenstudium eingesetzt hatten, der allgemein ablehnenden, bestenfalls skeptisch-distanzierten Haltung der Wilhelminischen Gesellschaft gegenüber studierenden Frauen an. Helene Lange hielt dem entgegen, daß schließlich nicht für die einzelne Studentin ein Studienplatz erkämpft werden solle, sondern daß die Frauenbewegung im Sinne der Gleichberechtigung für die Öffnung der Universitäten streite. Wenn einzelne Vertreterinnen der Frauenbewegung die Universitätsöffiiung lediglich forderten, um der Frauenbewegung aktive Mitglieder zu gewinnen, könne hier auch nicht von Dank oder Undank gesprochen werden, sondern lediglich von erfüllten oder enttäuschten Erwartungen. Bereits 1907 sah Lange bezüglich des Frauenstudiums die „Epoche der Agitation" durch die „Epoche der Tat" abgelöst und ermunterte die Studentinnen, sich auf ihr Studium und ihre spätere Berufstätigkeit zu konzentrieren. „Vor etwa zwan-
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Helene Lange: Die „undankbaren" Studentinnen. In: Die Frau 15 (1907/08), S. 39-42. Wiederabgedruckt in: Helene Lange: Kampfzeiten. Aufsätze und Reden aus vier Jahrzehnten. 2 Bände. Berlin 1928, hier Band 1, S. 324-329. Anita Augspurg (1857-1943) hatte 1897 in Zürich ein Jurastudium mit der Promotion abgeschlossen. Zusammen mit Minna Cauer (1841-1922) hatte sie den Vorsitz des 1899 in Berlin gegründeten „Verband fortschrittlicher Frauenvereine" inne. Im Unterschied zum „Bund Deutscher Frauenvereine" (BDF) verfolgten Augspurg und Cauer während des Ersten Weltkrieges konsequent pazifistische Ziele.
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Angelika Schaser
zig Jahren war das Notwendigste, was in der Frauensache zu geschehen hatte, die Verbreitung der treibenden Ideen der Frauenbewegung. Heute sind es die Leistungen. Auch durch sie, und durch sie erst recht, wird man zur,Mitkämpferin der Frauenbewegung'." 3
1. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland Wer nun waren diese Frauen, die an deutschen Universitäten ein Studium aufnahmen? Frauen, die 1907 studierten, hatten ihr Studium meist in höherem Alter, oft nach einer seminaristischen Lehrerinnenausbildung, und zum Teil noch als Gasthörerinnen mit Einzel- und Sondergenehmigungen aufgenommen. Der Eintritt in die „heiligen Hallen" der Universität galt um diese Zeit noch als gewagtes Unternehmen. Obwohl Frauen in den meisten europäischen Ländern seit den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts studieren konnten, wurden sie in Baden erst 1899/1900 zur Immatrikulation zugelassen, 1903 in Bayern, 1904 in Württemberg, 1906 in Sachsen, 1908 schließlich auch in Preußen. Als letztes deutsches Land sprach Mecklenburg-Schwerin 1909 Frauen das Immatrikulationsrecht zu.4 Die Pionierinnen des Frauenstudiums hatten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr Studium im Ausland, vornehmlich in Zürich, oder als Gasthörerinnen an deutschen Universitäten aufgenommen. In diesem Status studierten in Preußen im Wintersemester 1896/97 bereits 223 Frauen, von denen allerdings nur 132 Deutsche waren (14 der Frauen kamen aus Rußland, 53 aus den USA). Unter schwierigsten Umständen - für alle Lehrveranstaltungen mußten bei den betreffenden Professoren Sondergenehmigungen eingeholt werden entwickelte sich aus diesen kleinsten Anfängen das Frauenstudium langsam, aber stetig. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs konnte unter den Immatrikulierten bereits ein Anstieg auf 6,6 Prozent Frauen (Sommersemester 1914)
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Helene Lange: Die „undankbaren" Studentinnen (wie Anm. 1), S. 326. Diese und die folgenden Fakten und statistischen Angaben nach Gertrud Bäumer: Krisis des Frauenstudiums. Leipzig 1932; Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900-1945 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 10). Göttingen 1996, S. 75-80; Michael H. Kater: Krisis des Frauenstudiums in der Weimarer Republik. In: Vierteljahrschrift für Sozial· und Wirtschaftsgeschichte 59 (1972), S. 207-255, bes. 207-219; Britta Lohschelder: „Die Knäbin mit dem Doktortitel". Akademikerinnen in der Weimarer Republik. Pfaffenweiler 1994, bes. 99-131. Vgl. dazu auch: Kristine von Soden: Auf dem Weg in die Tempel der Wissenschaft. Zur Durchsetzung des Frauenstudiums im Wilhelminischen Deutschland. In: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S. 617-632.
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